Die Mylius-Vigoni: Deutsche und Italiener im 19. und 20. Jahrhundert [Reprint 2015 ed.] 9783110935707, 9783484670082

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German Pages 160 [180] Year 1993

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Die Mylius-Vigoni: Deutsche und Italiener im 19. und 20. Jahrhundert [Reprint 2015 ed.]
 9783110935707, 9783484670082

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Heinrich Mylius (1769-1854): Unternehmer, Mäzen, Patriarch
Heinrich Mylius und die Società d’Incoraggiamento d’Arti e Mestieri in Mailand
Verluste und Kontinuität der deutsch-italienischen Familientradition in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Einige Beobachtungen zum deutschen politischen Italieninteresse vor 1870
Pippo Vigoni als Bürgermeister von Mailand
Der »Villino Mylius«, ein Beispiel herrschaftlicher Wohnarchitektur in Mailand zur Mitte des 19. Jahrhunderts
Lavinia Mazzucchetti (1889-1965)
Ignazio Vigoni (1905-1983)
Auszüge aus den Memoiren »Laudator temporis acti
Dokumente
Personenregister

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REIHE DER VILLA VIGONI Deutsch-italienische Studien Herausgegeben vom Verein Villa Vigoni e.V.

Band 8

Die Mylius-Vigoni Deutsche und Italiener im 19. und 20. Jahrhundert

Herausgegeben von Frank Baasner

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1992

Gedruckt mit Unterstützung des Vereins Villa Vigoni e.V. und der Daimler-Benz AG

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Mylius-Vigoni : Deutsche und Italiener im 19. und 20. Jahrhundert / hrsg. von Frank Baasner. - Tübingen : Niemeyer, 1992 (Reihe der Villa Vigoni ; Bd. 8) NE: Baasner, Frank [Hrsg.]; Villa Vigoni : Reihe der Villa ... ISBN 3-484-67008-8

ISSN 0936-8965

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen

Dem Andenken von Don Ignazio Vigoni Medici di Marignano (1905-1983)

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1

Frank Baasner (Tübingen) Heinrich Mylius(1769—1854): Unternehmer, Mäzen, Patriarch

5

Carlo G. Lacaita (Parma) Enrico Mylius und die »Società d'Incoraggiamento d'Arti e Mestieri« in Mailand

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RuthJakoby (Tübingen) Verluste und Kontinuität der deutsch-italienischen Familientradition in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

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Wolf gang Altgeld ( Karlsruhe) Einige Beobachtungen zum deutschen politischen Italieninteresse vor 1870 .

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Maurizio Punzo (Mailand) Pippo Vigoni als Bürgermeister von Mailand

67

Cristina Cenedella (Bellano) Der »Villino Mylius«, ein Beispiel herrschaftlicher Wohnarchitektur in Mailand zur Mitte des 19. Jahrhunderts

90

Johannes Hösle (Regensburg) Lavinia Mazzucchetti

100

Susi de Pretis (Mailand) Ignazio Vigoni (1905-1983)

110

Ignazio Vigoni Auszüge aus den Memoiren »Laudator temporis acti«

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Dokumente

143

Personenregister

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Einleitung

»Mit diesem Vermächtnis beabsichtige ich, der Tradition, die auf Heinrich Mylius und Goethe zurückgeht, Ehre zu erweisen und ihr neues Leben zu geben.« Der testamentarische Wunsch von Ignazio Vigoni Medici di Marignano ist in Erfüllung gegangen, die Villa Vigoni zu einem begehrten Treff- und Tagungsort all derer geworden, denen die Vertiefung und Entwicklung der deutsch-italienischen Beziehungen in allen gesellschaftlichen Bereichen ein besonderes Anliegen ist. Eine verpflichtende Tradition zu pflegen und neu zu beleben setzt eine genaue Kenntnis derselben voraus. 1 Ausgehend von dem in der Villa Vigoni erhaltenen Quellenmaterial sollten die Spuren der Familie in Frankfurt, Mailand und Sesto San Giovanni zurückverfolgt werden, um so Ursprünge und Ausprägungen dessen, was Ignazio Vigoni »Tradition« nennt, besser zu verstehen. Die vielschichtige Tätigkeit der Familien Mylius und Vigoni, die sowohl in politischer als auch wirtschaftlicher und künstlerischer Hinsicht bemerkenswert ist, machte zunächst eine sinnvolle Strukturierung des Vorhabens »Familiengeschichte« erforderlich. Die Villa Vigoni mit ihrem Park und ihren Kunstschätzen sollte Gegenstand von fachspezifischen Untersuchungen werden, da eine Verbindung aller Aspekte in nur einem Band der Komplexität des Gegenstandes nicht angemessen gewesen wäre. Paolo Cottinis Buch über den »Park der Mylius-Vigoni« ist das erste Ergebnis der Unterteilung des familienhistorischen Projekts, eine Studie zu den Kunstwerken der Villa Vigoni wird in Kürze erscheinen. Der vorliegende Band ist der Versuch, die Entwicklung der Familientradition von den Anfängen mit Heinrich Mylius bis zum Erblasser Ignazio Vigoni nachzuzeichnen und so die Arbeiten zur Geschichte der Familie Mylius-Vigoni zu einem - zumindest vorläufigen - Abschluß zu bringen. 2 Trotz der Dreiteilung der Untersuchungen sind die genannten Bücher als Einheit zu verstehen, da gerade im Zusammenwirken der einzelnen, in der heutigen Gesellschaft 1

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1988 bekamen Ruth Jakoby und ich den Auftrag, das Archiv der Villa Vigoni (in der Folge » A W « ) zu sichten und zu prüfen, in wieweit eine Erforschung der Familiengeschichte sinnvoll und erfolgversprechend sei. In einem 1990 veröffentlichten Vortrag haben wir die Linie der weiteren Untersuchungen abgesteckt, eine Linie, der auch der vorliegende Aufsatzband verpflichtet ist (»Lombardische Wahlverwandtschaften - eine kulturelle Biographie der Familien Mylius-Vigoni«, in Jahrbuch der Villa Vigoni 1985—1989, Niemeyer: Tübingen 1990, S. 165-182). Im weiteren Umfeld der Mylius-Vigoni ließen sich natürlich etliche historische, wirtschaftshistorische oder kunsthistorische Arbeiten anknüpfen, etwa in Form von Magisterarbeiten oder »tesi di laurea«. Dort wo im A W besonders ergiebiges Material vorhanden ist, weisen wir auf diese Möglichkeit ausdrücklich hin.

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Einleitung

meist getrennt organisierten Teilbereiche eine historiographisch interessante Eigenschaft der hier zu untersuchenden Tradition zu sehen ist. Eine Familiengeschichte, will sie nicht nur genealogisch arbeiten und damit für Leser außerhalb der Familie selbst von eingeschränktem Interesse bleiben, muß versuchen, die Aktivitäten der einzelnen Repräsentanten im Zusammenhang mit allgemeinen historischen Prozessen zur Darstellung zu bringen. Der Untertitel des vorliegenden Buches ist in diesem Sinn zu verstehen. Die hier versammelten Beiträge sollen auch einen Beitrag zur noch unvollständig erschlossenen Geschichte der deutsch-italienischen Beziehungen leisten. 3 Mit der beeindruckenden Figur des Heinrich Mylius wird eine Tradition begründet, die in den folgenden Generationen lebendig blieb, auch wenn nur selten eine gelungene Synthese von Ökonomie, Politik und Mäzenatentum erreicht wurde wie bei ihm. Den Blick auf das Miteinander wirtschaftlicher Aktivität und kunstfördernder Initiativen zu lenken ist Ziel des einleitenden Aufsatzes. 4 Carlo G. Lacaita stellt anschließend die Rolle Mylius' für die Gründung der noch heute existierenden Società d'incoraggiamento d'arti e mestieri dar. Aus italienischer Sicht war diese Initiative wohl die folgenreichste von Heinrich Mylius, begründete die Società doch die moderne naturwissenschaftlich-technische Ausbildung im Stil einer »Fachhochschule«, die für den Erfolg industrieller Neuerungen ausschlaggebend sein sollte. Inwieweit sich die Wege der Mylius' und der Vigoni nach dem Tode von Heinrich Mylius im Jahre 1854 trennten, welche neuen Elemente mit den Vigonis hinzukamen und wo eine von Heinrich Mylius vorgegebene Tradition lebendig blieb, zeigt Ruth Jakoby in ihrem Beitrag, der die Brücke von der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Beginn des 20. Jahrhunderts schlägt. Was Heinrich Mylius in seiner Person verband, lebte parzelliert in seinen Neffen, Großneffen und der Familie seiner Schwiegertochter, den Vigonis, weiter. Als Kunstmäzen und wirtschafts- und kulturpolitisch initiativer Unternehmer trat Federico Enrico Mylius in die Fußstapfen seines Großonkels. Sein Mailänder Palast, der Villino Mylius, gehörte zu den architektonisch bemerkenswertesten Privatbauten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Mailand. Cristina Cenedel-

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Natürlich gibt es zahlreiche ausgezeichnete Einzelstudien zur Entwicklung der deutschitalienischen Beziehungen, eine synthetisierende Darstellung aber steht aus. Daß dieses Thema historiographisch durchaus ergiebig ist, zeigt etwa Wolfgang Altgelds vor einigen Jahren erschienene Dissertation, in der Altgeld überzeugend nachweisen konnte, daß die bis dato vorherrschende Meinung, es habe vor der italienischen Einigungsbewegung seitens der Deutschen kein ausgeprägtes politisches Interesse an Italien gegeben, nicht haltbar ist. Bisher ist Heinrich Mylius vor allem als Mittler zwischen Weimar und Mailand gewürdigt worden, so etwas bei Hugo Blank: »Zwischen Mailand und Weimar von 1817—1832«, in Goethe und Manzoni. Deutsch-italienische Kulturbeziehungen um 1800, hrsg. von Werner Ross, Tübingen 1990 (Reihe der Villa Vigoni, 1), S. 1 - 1 3 .

Einleitung

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la situiert die Entstehung und Zerstörung des Baus in der Stadtentwicklung Mailands. In politischer Hinsicht ist diese Epoche (sowohl in Deutschland als in Italien) von der Bestrebung geprägt, die nationale Einheit zu erreichen. Die Vigonis sind in ihren politischen Handlungen ganz vom nationalen Gedanken beherrscht, von einem - bei der familiären Bindung durchaus denkbaren - Blick auf die in Deutschland parallel verlaufende Einigungsbewegung ist nichts zu spüren. Pippo Vigoni, der Kolonialpolitiker, erreichte den Höhepunkt seiner beachtlichen politischen Karriere in den Jahren an der Spitze der Mailänder Stadtverwaltung, denen der Beitrag von Maurizio Punzo gewidmet ist. Was in der Generation von Pippo Vigoni als »Leerstelle« der deutsch-italienischen Beziehungen erscheint, 5 ist jedoch nur ein Aspekt der historischen Wirklichkeit. Wolfgang Altgeld zeigt die Kehrseite der Medaille: Die Konzentration der politischen Kreise auf die jeweils nationale Einigungsbewegung führt nicht zu völligem Desinteresse an Entwicklungen, die zur eigenen vergleichbare Züge aufweist. Die gesamteuropäische Krise des ersten Weltkriegs traf die Familie vor allem in ökonomischer Hinsicht. 6 Politische Kommentare finden sich weder bei den Vigonis (Giulio war immerhin als Senator eng mit der politischen Entscheidungsfindung verbunden) noch bei den Mylius.7 Die Haltung des schon alten Giulio Vigoni und des jungen Ignazio gegenüber dem in Italien früh entstandenen Faschismus zeigt den Zwiespalt, in dem sich gerade die adeligen Familien befanden. Skepsis gegenüber einer populistischen Massenbewegung und Bewunderung für die ordnungspolitische Kraft Mussolinis hielten sich die Waage und führten zu einer toleranten Haltung, bevor mit dem Ausbruch des Kriegs einige Illusionen zerstört wurden. Die politisch dominante Achse Berlin—Rom überlagerte die lange gewachsenen Beziehungen zwischen deutschen und italienischen Künstlern. Daß auch in diesen schwierigen Zeiten die gute Tradition deutsch-italienischer Kontakte gerade auf kulturellem Gebiet gewahrt und gepflegt wurde, zeigt die beeindruckende Biographie der Mailänder Germanistin Lavinia Mazzucchetti, die Johannes Hösle in einem persönlichen Porträt in Erinnerung ruft. Lavinia Mazzucchetti war es bezeichnenderweise auch, die durch intensive Kontakte mit den Mylius-Vigoni mitten 5

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Für diese Epoche siehe etwa Rudolf Lili : »Aus den deutsch-italienischen Beziehungen 1869—1876«, in Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 46/ 1966, S. 399-454 und R. Lill/F. Valsecchi (Hrsg.): Il nazionalismo in Italia e in Germania fino alla prima guerra mondiale, Bologna 1983. Die von Heinrich Mylius zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegründete Privatbank überlebte die Wirtschaftskrise am Ausgang des ersten Weltkriegs nicht. Die deutsch-italienischen Beziehungen zu jener Zeit sind verhältnismäßig gut erforscht. Siehe etwa Alberto Monticone: »Die deutsch-italienischen Beziehungen während des Ersten Weltkrieges«, in Faschismus - Nationalsozialismus, Braunschweig 1964, S. 2 8 - 4 1 ; Josef Muhr: Die deutsch-italienischen Beziehungen in der Ära des Ersten Weltkrieges 1914-1922, Göttingen 1977; Wolfgang Schieder: »Italien und Deutschland 1914/1915«, in Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 48/1968, S. 244-259.

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Einleitung

in den Kriegsjahren 1940 und 1941 deren Interesse an der eigenen Familientradition neu belebte. Ihren Nachforschungen ist es u. a. zu verdanken, daß Ignazio Vigoni sich nach seinen persönlich erschütternden und politisch ernüchternden Kriegserfahrungen zunehmend der eigenen Herkunft und den in seiner Familie lebendigen Traditionen widmete. Verlust einer Weltsicht, die im wesentlichen auf den Idealen des Risorgimento und der expansiven Nationalpolitik des frühen 20. Jahrhunderts aufbaute, Rückzug aus dem politischen Leben und Pflege des Familienerbes - dies sind die Leitlinien, die Ignazio Vigonis Tun in den Nachkriegsjahren prägen. Die Entwicklung des faustisch nach Aktivität drängenden jungen Ignazio zum skeptisch-distanzierten Beobachter in späteren Jahren zeichnet Susi de Pretis nach. Der vorliegende Band schließt mit Auszügen aus Ignazio Vigonis Betrachtungen, die 1975 unter dem Titel Laudator temporis acti erschienen sind. Es sind teils Memoiren, teils Beobachtungen zur modernen Welt, die Ignazio Vigoni als distanziert-kritischen, aber sehr aufmerksamen Kommentator der ihn umgebenden Welt erkennen lassen. Ignazio Vigoni hat mit seinem Vermächtnis der Bundesrepublik Deutschland ein historisch äußerst wertvolles Kapital hinterlassen. Seine Entscheidung für dieses Legat war die Konsequenz aus seinen eigenen Bemühungen um eben dieses familiäre Erbe und aus der Erkennntnis, in heutiger Zeit könne kein Einzelner mehr den vielfältigen Aufgaben, die sich mit der Idee der Villa Vigoni verbinden, gerecht werden.

Frank Baasner (Tübingen)

Heinrich Mylius ( 1 7 6 9 - 1 8 5 4 ) : Unternehmer, Mäzen, Patriarch

Heinrich Mylius, der Begründer der deutsch-italienischen Familientradition, dem dieser Aufsatzband gewidmet ist (Abb. 3 und 9), gehörte zu jenen Personen, die in ihrem sozialen Umfeld prägende und historisch bedeutsame Spuren hinterlassen, ohne doch selbst historische Persönlichkeiten allerersten Ranges gewesen zu sein. Sich seiner Biographie widmen bedeutet also, ihn in seinem familiären und gesellschaftlichen Kontext zu situieren und zu zeigen, inwieweit seine Tätigkeit individuell einmalig, inwieweit sie für bestimmte soziale Konstellationen symptomatisch ist. Allein die Tatsache, daß in Mylius' eigener sowie in der angeheirateten Familie Vigoni der Geist seiner wirtschaftlichen und kunstfördernden Aktivitäten über 150 Jahre lang lebendig bleiben konnte, spricht für deren weitsichtige Überzeugungskraft. In einem ersten Schritt werden wir daher versuchen, die Art und Zielsetzung myliusscher Tätigkeit verständlich zu machen, um dann in späteren Kapiteln des Bandes der Fortentwicklung der Tradition in den jüngeren Generationen der Mylius und Vigoni nachzugehen.

Der Unternehmer Mylius' Vater Johann Christoph (Abb. 1) war 1741 aus Wien nach Frankfurt/Main gekommen, wo er im Bankhaus Neufville beschäftigt war. Nach der Eheschließung mit Dorothea Kraus 1 (Abb. 2) wurden insgesamt 13 Kinder geboren, von denen aber nur 5 älter als 5 Jahre wurden. 2 Der Sohn Johann Jakob trat in das schon vom Vater mitbetriebene Handelshaus »Mylius und Aldebert« ein und wurde bald zu einem erfolgreichen Geschäftsmann in Frankfurt. Das letzte der zahlreichen Kinder war Heinrich. 3 Nach nur kurzer Schulausbildung wurde er wie sein 13 Jahre 1

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Die Eheschließung mit Dorothea Kraus eröffnete die Verbindung der Familie mit Weimar. Dorotheas Bruder Georg Melchior war Direktor der Zeichenschule in Weimar, und zu seinen Schülerinnen zählte später auch Mylius' Frau Friederike Schnauss. Für Heinrichs späteres Wirken sind wichtig: Johann Jakob, dessen beide Söhne Heinrich und Georg Melchior später Teilhaber der Firma in Mailand wurden, und Katharina Elisabeth, die Isaac Aldebert heiratete, den Mitinhaber des Handelshauses, für das Heinrich als Filialleiter nach Mailand ging. Als familiengeschichtliche Quellen sind zu nennen: Josefine Rumpf-Fleck: »Heinrich Mylius. Ein Mittler zwischen Weimar und Italien«, in : Goethe-Kalender auf das Jahr 1942, S. 192—243; Eduard Rüppell: »Die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft und Heinrich Mylius senior. Auszug aus der bei dem letzten Stiftungsfest am 28. Mai 1854

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Frank Baasner

älterer Bruder im Handelswesen tätig. Für das Handelshaus Johann Jakob Mylius + Aldebert und dessen englische Partner reiste Heinrich in europäische Wirtschaftszentren, u. a. nach Italien, vor allem wohl in das für den Stoffhandel wichtige Mailand. Nur wenige Jahre später wurde dem erfolgreichen erst 23jährigen eine eigene Filiale in Mailand anvertraut. 4 1793 ins Handelsregister Frankfurt als Filiale des Stammhauses eingetragen, siedelte sich Heinrich Mylius mit seinem Geschäft zunächst in der Contrada S. Prospero 2364 an, wo das Geschäft bis 1808 blieb. In jenem Jahr erfolgte der Umzug in die zentral gelegene Via Clerici, wo das Stammhaus der Mylius bis zu seinem Verkauf 1935 blieb. 5 Schon die Geschäftsadresse allerersten Ranges läßt auf den großen Erfolg Mylius' in Mailänder Handelskreisen schließen. Systematisch baute er seine Tätigkeiten aus. Aus dem reinen Handelshaus wurde zusätzlich ein Bankhaus und eine Seidenfabrik. Schon 1811 machte sich Mylius selbständig und wandelte die einstige

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gehaltenen Rede des damaligen zweiten Direktors E.R.« (Original im Forschungsinstitut Senckenburg, Frankfurt/M.); Eduard Riippell: Die Familie Mylius in Mailand, 1852 (Original im Freien Deutschen Hochstift); Eduard Rüppell: Erklärende Notizen zu einer Reihenfolge bildlicher Darstellungen der Villa Mylius zu Loveno am Corner See und der benachbarten Gegend, Mailand 1852; Geschichte der Familien Mylius von Johann Carl Mylius, Buchstädt 1895 (hier wird teilweise wörtlich aus Rüppell abgeschrieben); Crepuscolo, anno V, No. 18: »Commemorazione Enrico Mylius«, Mailand 1854; Alfredo Comandini: L'Italia nei cento anni del secolo XIX, Milano 1900-1908. Jahresband 1854, S. 405: Kurzer Nekrolog auf Mylius und dessen Wohltätigkeit. Wann genau Mylius zum ersten Mal nach Mailand kam, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Die Familientradition, d.h. die mündliche Überlieferung, spricht von 1794. In Rüppells Nachruf allerdings heißt es, Mylius sei 19jährig nach Mailand gegangen, also im Sommer 1788. Andererseits aber erwähnt Rüppell, Heinrich sei erst nach dem Tod des Vaters (1791) nach Italien gekommen. Im Manuskript ist interessanterweise die Zahl »19« über eine andere Zahl geschrieben, nämlich »23«. Dann wäre Heinrich 1792, also tatsächlich nach dem Tod des Vaters, gen Mailand aufgebrochen. 1794 wäre jedenfalls ein sehr spätes Datum, da 1796 bereits, wie ebenfalls Rüppell berichtet, ein beachtliches Vermögen vorhanden war, das von den napoleonischen Truppen beschlagnahmt werden konnte. Zum Erwerb eines solchen Reichtums sind zwei Jahre eine knapp bemessene Zeit. Auch die im Archiv der Camera di commercio genannte Jahreszahl 1793 (Eintragung der Filiale) kann unterschiedlich interpretiert werden, da die Eintragung sehr wohl vor der Niederlassung, aber auch nach der ersten Reise erfolgt sein kann. Für 1794 spricht allerdings die biographische Information der Grabrede auf Julius Mylius 1830. Es ist bisher nicht gelungen, ein Foto des Hauses zu finden. Folgt man der Inventarliste der Nachlaßverwalter der Stadt Genf, so ergibt sich allein für den Kernbereich des Palastes eine beachtliche Größe. Das Erdgeschoß beherbergte die Büros, darunter ein »Fumoir«, ein Raucherzimmer, mit sage und schreibe 162 Gemälden, sowie Bewirtschaftungsräume. Darüber erhoben sich zwei Stockwerke mit privaten und repräsentativen Räumen. Sechs Salons und zwei weitere Räume im zweiten Stock, neun Schlaf-, Eß- und Wohnzimmer sowie ca. sieben Bewirtschaftungsräume inklusive Bäder im ersten Stock. Darüber hinaus war ein Teil des ersten Stockes an die Banca Ferri vermietet. Als das Haus 1935 von der Stadt Genf verkauft wurde, bezog sich der Kaufpreis auf eine Grundfläche von insgesamt 1740 m 2 .

Heinrich Mylius (1769—1854): Unternehmer, Mäzen, Patriarch

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Filiale in ein Haus »Enrico Mylius« um. 6 Die Intensität seiner Aktivitäten verlangte die Integration von Partnern: 1818 konstituierte sich die Firma als »Enrico Mylius + co.«. Heinrich hatte den Neffen Georg Melchior (Sohn seines Bruders Johann Jakob) und einen gewissen Giovanni Ettore Steinhauser als Teilhaber gewinnen können. 7 Sukzessive integrierte Mylius weitere Familienmitglieder und Personen seines Vertrauens. 1825 wurde sein Sohn Giulio gemeinsam mit dem Neffen Georg Melchior vollberechtigter Teilhaber. 1837 folgte Johann Jakobs anderer Sohn Heinrich, 1842 Emil Zorn, der Schwiegersohn des langjährigen Handelspartners Georg Friedrich Doerr. Als Leiter der Genueser Bankfiliale war Giovanni Federico Mylius seit ca. 1828 Mitglied des Firmenvorstands. Am Ende der 40er Jahre eröffnete die Firma Mylius eine weitere Niederlassung in Rom. 8 Interessant ist festzustellen, daß Mylius zwar eindeutig auf Expansion setzte, aber auch nicht zögerte, wenig rentable Zweige seines Unternehmens aufzugeben. 1833 wird der Manufaktur-Handel eingestellt und es bleibt bei Bank und Seidenproduktion. In seine »filanda« hatte Mylius viel investiert. Das Werk im tessinischen Boffalora war für den Erfolg seiner Unternehmensstrategie zentral. Dort erprobte er neue Herstellungsverfahren, die in enger Zusammenarbeit mit Antonio Kramer entwickelt wurden. Kramer war ζ. Β. in den Jahren 1836—37 regelmäßig für längere Zeit in Boffalora, um die dort mit viel Geld initiierten Reformen selbst zu überwachen. Auch der Schwiegersohn Ignazio Vigoni war sowohl vor als auch nach seiner Hochzeit mit Luigia Mylius geb. Vitali mit der Überwachung Boffaloras betraut. In den wenigen aus dieser Zeit erhaltenen Briefen Mylius' kommen Sorge um den Fortgang der Experimente und Freude über deren Erfolg direkt zum Ausdruck. 6

Alle Informationen zur Entwicklung des Unternehmens aus dem Archivio della Camera di commercio, ditte, bobina 328: Mylius e Aldebert. Prof. Angelo Moioli (Mailand) geht in mühsamen Archivrecherchen den wenigen greifbaren Spuren von Mylius' Wirtschaftstätigkeit nach und wird hoffentlich in Bälde Ergebnisse vorlegen können. Das hauseigene Archiv der Via Clerici wurde von Agnese Mylius teils vernichtet, teils 1927 an ihren entfernten Cousin Scheuermann vererbt. Sollte noch etwas erhalten gewesen sein, wurde das übrige Material beim Umbau des Hauses nach 1936 und dem nach dem Krieg erfolgten Neubau zerstört. Nur wenig Informationen gibt Stefano Angeli : Proprietari, Commercianti e filandieri a Milano nel primo Ottocento, Milano, F. Angeli 1982 (S. 122,142,145,155 kurz über Mylius und seine Bankaktivitäten, aber auch keine genauen Daten).

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Dies ist keine rhetorische Floskel. Es war offenbar nicht leicht, Familienmitglieder zur Mitarbeit in der Mailänder Firma zu überreden. In einem auch anderweitig aufschlußreichen Brief vom 21.12. 1815, den Mylius von Frankfurt/Main an seinen Neffen Heinrich junior nach London schickte, schildert Mylius seine Bemühungen um Erweiterung seines Unternehmens und um Partner. Die Neffen Jonas und Carl wollten nicht nach Mailand, Georg Melchior nur nach langem Zögern. Er zumindest kam 1818, sein Bruder Heinrich junior selbst war 1815 gerade erst mit der Leitung der englischen Geschäfte (mit Partnern hatte Mylius die Intensivierung des England-Standortes in Angriff genommen; Manchester und Edinburgh waren weltweit führende Zentren für Baumwoll- und Seitenimport sowie für die Manufaktur-Industrie) betraut worden. Er kam erst 1837, nachdem Mylius aus dem Manufakturwarenhandel ausgestiegen war.

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Dies geht aus seinem Testament vom 9.4. 1851 hervor.

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Frank Baasner

Am 7. Juli 1837 atmet er auf: die vor langen Jahren begonnenen Reformen beginnen nun endlich einen beachtlichen Gewinn abzuwerfen. 9 Angesichts des großen unternehmerischen Erfolgs des Firmengründers mag es erstaunen, daß er sich 1839 aus seinem Geschäft (das ihm weiterhin gehörte) zurückzog und die Leitung dem genannten Führungsgremium überließ. 10 Mylius war jedoch 70 Jahre alt geworden und wollte sich zudem dem 1838 beschlossenen Projekt einer Gesellschaft zur Förderung der Künste und Wissenschaften, der späteren Società d'incoraggiamento, widmen. Tatenlos war er im Alter nicht; in den erhaltenen Briefe seiner Frau klagt diese über häufige geschäftsbedingte Abwesenheit. Deutsche Unternehmer, genauer: Unternehmer aus deutschsprachigen Ländern Europas, hatten in Mailand eine großartige Tradition. In der Generation vor Heinrich Mylius sind vor allem Johann Adam Kramer und Friedrich Schmutz zu nennen. Kramer, der ebenfalls aus Frankfurt/Main stammte, hatte 1781 eine der größten Woll- und Stoffabriken Mailands übernommen und war jahrelang Präsident des Handelsgerichtshofs in Mailand. Friedrich Schmutz und Kramer waren die einzigen Unternehmer, die während der politisch unsicheren Jahre der französischen Revolution in die Erweiterung der Manufakturen investierten. Heinrich Mylius kam also in ein Handelszentrum Mailand, das viele wirtschaftliche Möglichkeiten bot. In den Jahren seiner Aktivität gab es neben ihm zahlreiche weitere deutsche (oder schweizerische) Familien, die in Mailand seßhaft wurden und für Generationen an die Lombardei gebunden blieben. An erster Stelle ist sein Freund und Partner in der 1841 gegründeten Società d'incoraggiamento per le arti e mestieri zu nennen, Antonio Kramer. Als Sohn des oben genannten Unternehmers machte er sich als Chemiker einen Namen und konzentrierte seine Forschungen auf anwendungsnahe Bereiche der Chemie (wie z.B. Stoffdruckverfahren). 11 Neben Kramer sind als Unternehmer die direkten Partner Mylius', Steinhauser, Zorn 12 und Doerr zu nennen, vor allem aber die schweizer Familie Vonwiller, die durch Heirat von Oskar Vonwiller und Luisa Mylius mit den Mylius' verwandt wurden. 13 Nur kurze

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Siehe die entsprechenden Briefe im A W , cart. Documenti famiglia I. Daß Mylius auch nach 1839 noch Einfluß auf die Geschäftsführung hatte, kann als sicher angenommen werden. Antonio Kramer (1806-1853) war zur Erziehung zunächst im Kolleg Willberg in Ebersfeld, dann in Gerlach in der Schweiz, nach kurzer Rückkehr nach Mailand 1824 zur wissenschaftlichen Ausbildung am Collège de France (1824—28). Nach hervorragender Ausbildung zum Chemiker und vielen Praktika in führenden Betrieben der Stoffverarbeitung in England und Frankreich war er bestens gerüstet, sowohl in der chemischen Forschung in Oberitalien schulbildend zu werden, als auch in der industriellen Anwendung neue Wege zu beschreiten. Zu seinem Lebens- und Ausbildungsweg siehe die ausführliche Grabrede des auch für die Familie Mylius zuständigen protestantischen Pfarrers Paolo Kind, 27.9. 1853 ( A W ) , sowie den Nekrolog in II crepuscolo IV, 1853, Nr. 40,2.10. 53. Zorn gehörte zur in Mailand und Sesto berühmten Familie Zorn, aus der zahlreiche Maler hervorgegangen waren. Ihre Anfang des 19. Jh. errichtete Villa in Sesto ist heute Sitz der Bibliotheca civica. Oskar war erstgeborener Sohn des Nicola, Luisa die Tochter des Neffen Heinrich Mylius.

Heinrich Mylius (1769—1854): Unternehmer, Mäzen, Patriarch

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Zeit nach Mylius hatte Nicola Vonwiller (1783—1854) seine Karriere als Vertreter des Handelshauses Schnell aus Burgdorf begonnen. 1819 dann konnte er sich selbständig machen und als Vonwiller + co. ins Handelsregister eintragen, wenig später gründete er wie Mylius eine eigene Bank, um das schwerfällige Kreditsystem und die komplizierten Währungsunterschiede zwischen den einzelnen am Handel beteiligten Ländern zu umgehen. 14 Die Gruppe deutscher meist protestantischer Unternehmer im erst katholisch-österreichisch regierten, dann unabhängigen Norditalien wurde zumindest auf regionaler Ebene zu einem beachtlichen Einflußfaktor. Sie partizipierte nicht nur am wirtschaftlichen Aufschwung der Lombardei, sondern prägte diesen wesentlich mit. Es mag Zufall sein, daß in einem wirtschaftswissenschaftlichen Artikel der Illustrazione italiana (1881, S. 174) ausgerechnet der Protestantismus als Triebfeder wirtschaftlicher Prosperität genannt wird - auf die uns hier interessierende Gruppe Industrieller trifft die Analyse zu: »L'industria si emancipa col diritto, si allarga con lo spazio, s'innalza col pensiero, trionfa coi Comuni, con Colombo, con Lutero, con la filosofia del secolo XVIII.« Wirtschaftlicher und politischer Einfluß lassen sich, damals wie heute, nicht voneinander trennen. Mylius war in Mailand lange Jahre Vizepräsident der Handelskammer, 1830 war er Assessore del I . R . Tribunale Mercantile e di Cambio in Mailand. Als Bewunderer Napoleons stand Heinrich Mylius der modernen, bürgerlich-liberalen Bewegung in Italien näher als dem österreichischen Hof. Spätestens seit der Heirat der früh verwitweten Schwiegertochter Luigia mit dem politisch patriotisch engagierten Ignazio Vigoni hatte Mylius zudem auch engen persönlichen Kontakt mit den Kreisen der Freiheitskämpfer bekommen. Carlo Cattaneo zählte seit den 40er Jahren zu seinem Freundeskreis, 15 und über seine Schwieger-

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Über die Bank Vonwiller siehe einen kurzen Artikel »S. A. Vonwiller - Milano« in M.V.Gastaldi (Hg.): / ricostruttori d'Italia, Milano, S. 2—3. Die Vonwillers blieben auch in späteren Generationen einflußreich: 1861 gab es für die Esposizione nazionale a Firenze eine Kommission, der u.a. anderen der Industrielle Giovanni Vonwiller angehörte (siehe Illustrazione Italiana 1881, S. 130). Ein Artikel über David Vonwiller (1794-1856; ein jüngerer Bruder von Nicola) in der Allgemeinen Deutschen Biographie (Bd. 40, Leipzig 1896, S. 297—8) berichtet vom Erfolg des Händlers und Bankiers in Neapel. Sein Weg war über eine Lehre im Bankhaus Gruber in Genua nach Süditalien gegangen, wo er in Wollproduktion und -vertrieb sowie ins Bankengeschäft einstieg.

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Zur Rolle Cattaneos in der Società siehe den folgenden Aufsatz von Carlo G. Lacaita. Laut Lacaita hat Mylius Cattaneo vor der Verhaftung gerettet und ihm somit die Flucht nach Lugano erlaubt. Zur Beziehung Mylius-Carlo Cattaneo siehe die erhaltenen Briefe im Archiv des Museo del Risorgimento. Cart. 5, plico 10, Brief vom 31.12.1844 von Mylius an Cattaneo, wo er ihm die Wahl zum Relatore mitteilt, in seiner Eigenschaft als Presidente del consiglio direttore; Cattaneo, cart. 1, plico 15:4.1.1845: Ernennung als socio promotore della cassa d'incoraggiamento; Unterschrift von Enrico Mylius; Cattaneo, cart. 5, plico 13; Brief vom 27.6. 47 von Mylius persönlich an Cattaneo: »mio pregiatissimo e venerato amico«; Cattaneo, cart. 5; plico 15, Brief vom 19.5. 1849 von Mylius: will Cattaneo Geld für seine früheren Dienste in der Cassa zahlen. Klagt über die Aufhebung der Aktivitäten der Cassa, wohl wegen der politischen Ereignisse im Jahre 1848.

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Frank Baasner

tochter Luigia Vitali war er mit deren Onkel Francesco Arese 16 in persönlichen Kontakt getreten. Massimo d'Azeglio schließlich, das geht aus einem Brief desselben an Gaetano Cattaneo hervor, 17 war spätestens seit 1833 über seinen Schwiegervater Alessandro Manzoni in stetem Kontakt mit Mylius. Kurz, Mylius gehörte trotz Verzichts auf eine eigene politische Karriere zum Kreis der Mailänder Liberalen und so ist es nicht verwunderlich, daß im März 1848 das »governo provvisorio« der Republik Oberitaliens, das bei den fünf Tage währenden Aufständen gebildet wurde, unter den Ministernamen auch denjenigen von Enrico Mylius enthielt. Aus Briefen namhafter italienischer Politiker und Persönlichkeiten des Risorgimento läßt sich ablesen, daß Heinrich Mylius in Mailand eine regelrechte Institution gewesen sein muß. 1 8 Dies hing nicht nur mit seinen wirtschaftlichen Tätigkeiten zusammen, sondern ergab sich aus der Vielzahl seiner bildungspolitischen und kulturfördernden Initiativen. Der Übersichtlichkeit halber müssen wir hier in drei Abschnitte trennen: Mailand, Frankfurt/Main sowie die besonders folgenreiche Vermittlung zwischen Weimar und Mailand.

D e r Mäzen Mailand verdankt Mylius eine Vielzahl von Einrichtungen, die teils heute noch bestehen und über lange Jahre zu festen Bezugspunkten der Mailänder Intellektuellen und Künstler wurden. Über die frühe Zeit, vor 1817, ist nur wenig bekannt. Fest steht, daß Mylius 1817 bereits so gute Beziehungen zu führenden Wissenschaftlern und Künstlern der lombardischen Metropole hatte, daß er dem Großherzog von Sachsen (und durch ihn Goethe) anläßlich von dessen Besuch entscheidende Impulse vermitteln konnte. Sein erster Landsitz in Sesto San Giovanni (Abb. 5) 19 muß ein Treffpunkt führender Köpfe aus Wissenschaft, Kunst und Politik gewesen sein. Aus Indizien (u.a. aus den erhaltenen Briefen Mylius' an den Großherzog in Weimar) läßt sich schließen, daß Mylius mit Vincenzo Monti nicht weniger eng verbunden war als mit Alessandro Manzoni. Der Astronom Barnaba Oriani, der genannte

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Francesco Arese ist einer derjenigen Freiheitskämpfer, die nach dem patriotischen Aufstand 1821 auf dem Spielberg inhaftiert waren. Epistolario, hrsg. von Georges Virlogeux, Turin 1987, Bd. I, S. 160: Brief vom 3.10. 1833, wo er von einem Bild spricht, das er im Auftrag Mylius' gemalt hat. Und am 11.5. 1835 schreibt er an seine Frau: »Je suis couru chez le bon Mylius, qui sortait pour venir chez toi.« Siehe den Beitrag über die Generation des Ignazio Vigoni von Ruth Jakoby sowie die im Anhang abgedruckten Briefe. Die Villa der Mylius in Sesto gehörte zu einer Gruppe von heute meist zerstörten Landsitzen. Die ehemalige Villa Mylius existiert noch, ist allerdings schon ab 1921 Eigentum der Stadt und Sitz der Stadtverwaltung gewesen. Heute sind dort die Vigili Urbani, die städtische Polizeibehörde, untergebracht. Auch die Vigonis wurden ab 1836 in Sesto ansässig, sie erwarben eine Villa aus dem 16. Jh. mit einem wunderbaren Park. Sie ist heute zerstört. (Abb. 13)

Heinrich Mylius (1769—1854):

Unternehmer,

Mäzen,

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Chemiker Kramer, der Numismatiker Gaetano Cattaneo sowie der Präsident der Accademia della Brera Bossi gehörten zu den engeren Freunden des Hauses. Besonderes Verdienst aber hat sich Mylius durch die maßgebliche Unterstützung eines Projektes erworben, das zu den bemerkenswertesten Ereignissen im wissenschafts- und bildungspolitischen Bereich gehört: die Gründung einer Gesellschaft zur Unterstützung der Künste und des Handwerks. Eine Gruppe von Industriellen hatte 1838 beschlossen, eine Gesellschaft zur Förderung neuer wissenschaftlicher Forschung und deren industrieller Anwendung ins Leben zu rufen. 1841 wurde die einer Fachhochschule ähnliche Einrichtung dann gegründet - sie hat kürzlich ihr 150jähriges Bestehen gefeiert. 20 Die Malerei förderte Mylius einerseits durch die individuelle Unterstützung einzelner Maler, vor allem durch Auftragsarbeiten. Daneben gründete er eine Schule für Freskomalerei in Monza, der Accademia delle Brera stiftete er zwei Preise. Es gibt bis heute einen »Premio Mylius«, der auch noch verliehen wird. Der erste der eigentlich zwei Preise wurde 1850 von Mylius in Form eines Legats in Höhe von 8000 Lire gestiftet, und zwar für »dipintura a buon fresco«. 1852 dann folgte ein weiterer Preis für »Pittura ad olio, paesaggio storico«, der ab 1854 ausgegeben wurde. 1850 war Mylius als Anerkennung für seine Schule für Freskomalerei zum »consigliere straordinario« der Akademie ernannt worden. 21 . Die Wahlheimat Mailand war das Zentrum der wirtschaftlichen und auch kulturfördernden Tätigkeit Mylius'. Und doch ist auffällig, wie eng er der Vaterstadt Frankfurt am Main verbunden blieb, und wie sehr er vor allem im Alter die Kontakte zu pflegen, ja zu intensivieren bemüht war. In zahlreichen historischen Teilstudien ist der myliusschen Wohltätigkeit in Frankfurt gedacht worden. 22 Nahezu vollständig zählt Eduard Rüppell (Abb. 12), Vizepräsident der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft, in seiner Gedächtnisrede die Stiftungen für Frankfurt bzw. in Frankfurt auf. In Mailand stiftete er eine vortreffliche Kleinkinderschule, und später überwies er einer in Frankfurt zu errichtenden ähnlichen Anstalt ein Capital von 20000fl., nachdem er wäh20

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Alles weitere zur Società d'lncorraggiamento im folgenden Aufsatz von Carlo G. Lacaita, siehe auch ders. : »E. Mylius e le origini della Società d'Incoraggiamento d'arti e mestieri di Milano«, in: Rivista milanese di economia 8/no. 31,1989, pp. 142-148. Dies haben Archivstudien in der Accademia braidense ergeben. Die Akten verzeichnen die Preisträger der einzelnen Jahre. Die Preise wurden nicht ganz regelmäßig, aber nie mit längeren Unterbrechungen verliehen. Giovanni Servi, der ein wichtiger Mann in der Verwaltung der Brera war, dürfte Mylius manchen Kontakt vermittelt haben. Schmidt-Scharf: Das Versorgungshaus in Frankfurt 1816-1924, Frankfurt/M. 1924; Kurt Göbel: 40 Jahre in der Richard-Wagner-Straße 7—13, Versorgungshaus und Wiesenhüttenstift zu Frankfurt am Main, 1967; Wolfgang Klötzer: 150 Jahre Dienst am Menschen: Das Versorgungshaus und Wiesenhüttenstift zu Frankfurt/M., 1967; Bruno Recke: »Heinrich Mylius zum Gedächtnis«, Frankfurter Zeitung 4.1. 1931; J.de Bary: »Kleinkinderschulen«, in: Festschrift Frankfurt/M. in seinen hygienischen Verhältnissen und Einrichtungen, 1881.

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Frank Baasner rend mehreren Jahren den bereits vorhandenen Schulen dieser Art nicht unbedeutende Geldbeiträge zugewendet hatte. Unserer naturforschenden Gesellschaft, welcher er auf meine spezielle Bevorwortung vom Jahre 1835 an zur Salarirung eines Custos Musei jährlich 400 fl. überwies, schenkte er im Jahr 1839 ein Capital von 10000 fl., um mit dessen Zinsen auch fernerhin diese Gehaltszahlung zu sichern, und ein anderes Capital von 5000 fl. verdanken wir ihm, mit dessen Jahreszinsen unsere wissenschaftliche Büchersammlung zu vermehren ist, damit ein angeblicher Mangel an Kupferwerken nicht als Vorwand benutzt werden könne, das reiche Material, welches in unsern Museums-Sälen aufgehäuft ist, unbenutzt zu lassen. Im Jahre 1836 schenkte er 30000 fl. dem hiesigen Versorgungshause zur Beendigung seines Hauptgebäudes. Dieses sind die größeren Geldgeschenke, welche die Stadt Frankfurt dem Wohlwollen von Heinrich Mylius zu danken hat; aber außerdem haben die meisten hiesigen wohltätigen Stiftungen zu verschiedenen Zeiten kleinere Beiträge von ihm erhalten, wie z.B. der polytechnische Verein, das Institut der Taubstummen, die Witwenkasse, die Pestalozzi-Stiftung, die naturforschende Gesellschaft durch seinen Beitritt als ewig beitragendes Mitglied. 23

Frankfurt, schließlich, war für Mylius stets auch die Heimat Wolfgang von Goethes. Als dieser 1832 gestorben war und sich die Stadt Frankfurt gar nicht recht zu einer angemessenen Ehrung des berühmten Sohnes durchringen konnte, war es Mylius mit zwei weiteren Mailändern, die eine Statue bei Pompeo Marchesi in Auftrag gaben, die im Eingang der Frankfurter Stadtbibliothek aufgestellt wurde. Unvergessen aber bleibt Mylius vor allem dank seiner Bemühungen um einen kulturellen Austausch jener intellektuellen Zentren, die in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts die deutsche und italienische Szene maßgeblich prägten: Weimar und Mailand. Über seinen Onkel mütterlicherseits, den Direktor der Zeichenschule Kraus hatte Heinrich Mylius Kontakt nach Weimar. 1799 ging er dort die Ehe mit der Tochter Friedrike (Abb. 4) des ehemaligen Geheimrats Schnauss ein. Daß der schon alte Herder das Paar traute, zeugt von den engen Bindungen der Schnauss (und der Mylius?) an die Weimarer Dichterkreise. Die Generation der zeitgenössischen deutschen Dichter, der Klassiker nicht weniger als der Frühromantiker, gehörte zum Bildungshorizont von Heinrich Mylius. Betrachtet man seine Bibliothek, die heute in der Villa Vigoni weitgehend erhalten scheint, so fällt die massive Präsenz von Autoren wie Schiller, Tieck, Goethe, Jean Paul, Schlegel, Heine u.s.w. auf. Der deutsche ältere Teil der Bibliothek, der dank des Ex libris eindeutig Mylius zugeordnet werden kann, ist nicht sehr groß - Mylius war kein Büchernarr und investierte vorwiegend in Schöne Kunst. Aber was erhalten ist, läßt doch erkennen, daß Mylius die deutsche zeitgenössische Literatur vertraut war. Nicht zufällig erinnerte er sich an einen Aufsatz Herders, als er dem Bildhauer Thorvaldsen für die Gestaltung der Nemesis im Gedenktempel für seinen Sohn Julius Vorgaben zur Konzeption der Schicksalsgöttin machen wollte. Weimar war für ihn nicht nur eine familiäre, sondern auch intellektuell-emotionale Bindung.

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»Auszug aus der bei dem letzten Stiftungsfeste am 28.5. (1854) gehaltenen Rede des damaligen zweiten Direktors der naturforschenden Gesellschaft, Herrn Dr. Rüppell«.

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Es ist hinlänglich bekannt und auch in jüngster Zeit detailliert dargestellt worden, wie intensiv Mylius und sein Partner Gaetano Cattaneo sich im brieflichen und materiellen Austausch mit Goethe und dem Großherzog von Sachsen engagierten. Hugo Blank hat in minutiöser Kleinarbeit alle noch verfügbaren Quellen aus den Jahren 1817 bis 1832 aufgespürt, sie in einer Bibliographie am Ende seiner Dissertation zusammengefaßt und ausgewertet. 24 Wir können uns hier somit auf das Wesentliche beschränken. Die Reise des Großherzogs nach Mailand 1817 wurde von langer Hand vorbereitet. Mylius, der den Weimarer Hof über seine Frau Friederike Schnauss gut kannte, konnte nicht gleichgültig bleiben bei der Vorstellung, der Großherzog von SachsenWeimar würde in die lombardische Metropole zu Besuch kommen. Briefe an den Großherzog aus der Zeit vor der Mailand-Reise sind nicht erhalten, aber Beziehungen zwischen Goethe und Mylius sowie Gaetano Cattaneo und dem Weimarer Hof konnte Blank nachweisen. Aufgrund eines im Archiv Vigoni erhaltenen ausführlichen Briefes von Heinrich Mylius an seinen Neffen Heinrich vom Dezember 1815 können wir mit Sicherheit sagen, daß Mylius mit seiner Frau (wohl ohne seinen Sohn) zum Jahreswechsel 1815—16 nach Weimar unterwegs war. 25 Eine Tagebuchnotiz Goethes bestätigt ihre Anwesenheit am 18. Januar. 26 Es gehört nicht viel Phantasie dazu sich vorzustellen, daß Mylius hier auch die geplante Reise des Großherzogs nach Mailand erörterte. Der genaue Anlaß für die Reise ist nicht mehr eindeutig zu ermitteln, 27 wohl aber, daß Mylius mit seinen Mailänder Freunden als Gastgeber und Stadt- und Museenführer des Großherzogs fungierten. In der Folge des Besuchs entspann sich nun ein reger Austausch, zahlreiche Briefe, Berichte und Pakete gingen von Mailand nach Weimar. Teils waren es kürzere Briefe vermischten Inhalts, teils aber auch ausführlichere Darstellungen, wie beispielsweise die »große Relation« von Gaetano Cattaneo über die kulturelle Situation in Mailand. 28 Goethe integrierte die ihm übermittelten Informationen über Manzoni und die italienische Romantikdiskussion in seine eigenen dramentheoretischen und ästhetischen Arbeiten. Selten war eine kulturelle Mittlertätigkeit von so unmittelbarem

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Goethe und Manzoni. Weimar und Mailand, Heidelberg 1988, S. 283-307. In dem oben genannten Brief Mylius' an seinen Neffen Heinrich junior berichtet er, daß er etwa Mitte Oktober 1815 in Frankfurt eingetroffen war, und für den Jahresbeginn 1816 die Weiterreise nach Weimar plante. »Ich bleibe nun wohl höchstens noch 14 Tage hier, um dann über Weimar u. Augsburg nach Mayland zurückzukehren, indem ich gegen Ende Jenner wohl gerne wieder in Mayland wäre.« A W Documenti famiglia 1. Blank S. 2 0 - 2 1 fragt sich, ob der Eintrag sich auf Heinrich Mylius oder einen anderen Frankfurter Mylius bezieht. Es kann nun als erwiesen angesehen werden, daß hier Heinrich Mylius gemeint ist. Vielleicht bezieht sich auch die Notiz des Ministers Voigt vom September 1817 auf den Besuch Mylius' 1816 (siehe Blank S. 27). Siehe Blank, S. 10-11. Der Text ist (teilweise) abgedruckt bei M.Mommsen/K.Mommsen: Die Entstehung von Goethes Werken. In Dokumenten, 2 Bde, Berlin 1958 sowie in M. Montinari: »Goethe und Manzoni«, in Studi Germanici IX/1971, S. 394-418. Blank (1988) kommentiert ihn ausführlich.

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Erfolg gekrönt worden, vergleichbare Fälle in genau denselben Jahren zeigen, daß nationale Kulturtraditionen sich oft als Hemmnis bei der Öffnung zu neuen Gesichtspunkten und Theorien erwiesen. 29 Mylius und Cattaneo können für sich in Anspruch nehmen, den deutschen Dichtern und Literaturkritikern das neue Italien erst zugänglich gemacht zu haben. Auch persönlich blieb Mylius in engem Kontakt mit Goethe und dem Großherzog. Eine Reise im Jahre 1818, auf der Sohn Julius die Eltern begleitete, führte sie erneut nach Weimar. Als Mylius' Sohn im April 1830 und wenig später Goethes Sohn im Oktober 1830 in Rom starb, sahen sich die beiden durch solch ähnliche Schicksalsschläge noch enger verbunden. Nach dem Tode des Großherzogs 1828 war im übrigen der Austausch zwischen Weimar und Mailand auf ein geringeres Maß zurückgegangen, den neuen Großherzog verband mit Italien keine persönliche Beziehung. Für das noch von Carl August und Goethe in Zusammenarbeit mit Mylius und Cattaneo konzipierte Stipendienprogramm für hervorragende Weimarer Maler, die auf Kosten des Hofes zu vierjährigen Studien erst nach Mailand, dann in andere italienische Städte geschickt wurden, wurde auch Loveno, noch vor dem Erwerb der heutigen Villa Vigoni, zu einem zentralen Ort. Der Großherzog hatte Mylius gebeten, die beiden Maler Friedrich Preller und Adolf Kaiser während ihrer ersten Etappe in Mailand zu betreuen und die Verwaltung der Stipendien zu übernehmen. Dieser nahm die Aufgabe ernst, führte die beiden in die Mailänder Künstlerwelt ein, besorgte ihnen Sprachlehrer, setzte ihre Aufnahme in die Akademie der Brera durch und vermittelte ihnen einen mehrmonatigen Aufenthalt am Comer See. Dies war 1826. Wenig später hatte sich Mylius entschlossen, selbst (mit seinem Sohn) einen Landsitz in Loveno zu begründen. Seine spätere Mäzenatentätigkeit ist überhaupt eng an Loveno gebunden, wo er nicht nur seinen familiären, sondern in den langen Sommermonaten auch seinen sozialen Mittelpunkt hatte.

D e r Patriarch in L o v e n o Da die Villa Vigoni mit den in ihr enthaltenen Kunstschätzen, Bibliothek und Archiv das einzige ist, was in direkter Linie seit Heinrich Mylius' Zeiten bis heute erhalten geblieben ist, kommt dem »Gesamtkunstwerk« Villa Vigoni bei der Rekonstruktion der Familientradition besondere Bedeutung zu. Sein Besitz in Loveno war Mylius vom Erwerb 1829 bis zu seinem Tod 1854 stets das persönlichste, mit seiner Familie am engsten verbundene Anliegen gewesen. Gehen wir zurück in die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Fest in Mailand und auf dem Landsitz in Sesto San Giovanni etabliert, konzentrierte sich die ganze 29

Man denke etwa an die Versuche des Deutsch-Spaniers Johann Nikolaus Böhl von Faber, der 1814 und dann erneut 1817—1820 bemüht war, die Überzeugungen der deutschen romantischen Literaturkritik in Spanien heimisch zu machen - mit mäßigem Erfolg.

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Sorge der Eltern auf den einzigen Sohn Giulio (Abb. 6). 30 Zunächst war er im Elternhaus von einem Dr. Kress erzogen worden, anschließend wurde er mit 13 Jahren nach Elberfeld geschickt, wo er mehrere Jahre blieb. Seine Ausbildung erfolgte teils beim Lehrer Dr. Wilberg, teils im Handelshaus Brinck. 1818 begleitete er seine Eltern auf einer Deutschlandreise, dann wurde er Assistent seines Vaters in Mailand. In Erinnerung an seinen eigenen Werdegang schickte ihn Heinrich zunächst auf ausgedehnte Handelsmissionen, die ihn durch ganz Italien (vor allem nach Genua und Messina), Deutschland und England (1819—1825) führten. Giulio war ein erfolgreicher Händler. Im Jahre 1825 wurde er dann vom Aufsichtsrat zum Mitinhaber des Hauses Mylius und Co. ernannt. 3 1 Nach seiner Rückkehr nach Mailand 1825 hatte Giulio Luigia Vitali (Abb. 7), eine junge Adelige aus altem lombardischem Hause, kennengelernt. Ihrer Eheschließung stand allerdings ein doppeltes Hindernis im Wege. Giulio war Protestant und bürgerlich. Als sich Luigias Mutter gegen die Ehe mit Giulio sträubte, konnte Enrico Mylius den Tutor der minderjährigen Luigia, Francesco Arese, dazu bewegen, bei sehr guten finanziellen und moralischen Bedingungen in die Heirat einzuwilligen. In Absatz 5 des Vertrags wird ausdrücklich zugesichert, daß die zukünftige Schwiegertochter in keinerlei Hinsicht von ihren Gepflogenheiten abweichen müsse - und vor allem nicht auf religiösem Gebiet. 32 Noch bevor die Ehe dann in Triest im April 1830, nur kurze Zeit vor Giulios tragischem Tod, 33 geschlossen wurde, hatte sich Heinrich Mylius gemeinsam mit seinem Sohn nach einem angemessenen Landsitz umgesehen. Loveno war Mylius gut bekannt, und möglicherweise hatte er dort bereits öfter bei Freunden Sommeraufenthalte verbracht. Zuerst dokumentarisch erwähnt wird Loveno in einem Brief Mylius' an Großherzog Carl-August vom 15.7. 1826: »Loveno ist ein kleiner Ort im

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Quelle der hier genannten Details aus Giulios Biographie ist vor allem die Grabrede, die bei der Beerdigung von Giulio Mylius von Augusto Enrico Medicus am 28.4.1830 gehalten wurde. Gedr. in Triest. »Estratto dalla biografia del defunto, letta dopo l'orazione funebre«, S. 2 7 - 2 8 . Sein Hobby waren die »arti mecchaniche«. Er verbesserte Herstellungsverfahren in der Seidenindustrie, die in Boffalora zum Einsatz kamen und von anderen Herstellern imitiert wurden. Giulo Mylius wurde zum Ehrenmitglied der königlichen preußischen Industriegesellschaft in Berlin ernannt. Die mündliche Tradition der Familie Vigoni berichtet in diesem Zusammenhang folgende Anekdote: »Si racconta che i due innamorati chiedessero udienza, per tranquilizzare le proprie coscienze, al cardinale Gaisruck. Questi li interrogò: »Vi volete bene? . . . S ì . . . E allora sposatevi.« E li mandò con Dio.« Er starb, wie es in zeitgenössischen Quellen heißt, an einem bösartigen Gallenfieber. Er wurde in Triest begraben und erst 1851, nur wenige Monate vor dem Tod seiner Mutter, nach Loveno auf den von Mylius errichteten Friedhof überführt. Heinrich Mylius hatte für ihn ein Grabdenkmal auf dem evangelischen Friedhof in Triest errichten lassen und zur Pflege desselben eine Stiftung begründet, deren Überschuß für die dortige evangelische Hauptschule gedacht war.

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Gebirge, oberhalb Mennaggio anerkannt als ein Mittelpunkt der schönsten, zumeist pittoresken, Situationen am Corner See.« 34 1829 erwarb Heinrich Mylius ein großes Terrain mit einigen Gebäuden und legte damit den Grundstock für das heutige Anwesen der Villa Vigoni. 35 Von Mai 1829 (noch bevor der Kaufvertrag notariell abgeschlossen war!) bis November 1830 veranlaßte Heinrich Mylius gemeinsam mit dem stark in Loveno engagierten Giulio 36 umfangreiche Bauarbeiten. Das Wohnhaus wurde völlig umgebaut, das ganze Obergeschloß neu gestaltet und die Anbauten rechts und links angefügt. Bis Oktober 1831 wurde zudem bereits ein Kernstück des Parks fertiggestellt, der sogenannte »tempietto« zum Andenken an Giulio Mylius. Der Mylius aus Mailand bekannte Architekt Gaetano Besia (1791 — 1871) leitete sowohl die Arbeiten am Gebäude als auch die erste Phase der Parkanlage. 37 In den kommenden Jahren investierte Mylius materiell und ideell sehr viel in seine Villa am Comer See. Er legte den Grundstock für die Außen- und Innengestaltung der heute noch in ihren wesentlichen Teilen unverändert erhaltenen Villa Vigoni sowie für den 8 Hektar großen Park. Ebenso wichtig aber ist, daß er seiner Familie, vor allem der Schwiegertochter Luigia Vigoni, deren Kindern, die er als eigene Enkel betrachtete, ein großes Bewußtsein für Familientradition vermittelte. Luigia nahm sich der Verwaltung Lovenos nach dem Tode ihres Mannes Ignazio Vigoni 1860 mit viel Kompetenz und Liebe an, erweiterte die Besitztümer stetig. Die Villa Vigoni war auch in späteren Generationen stets Anlaufpunkt für Familienmitglieder, sei es der Mylius, sei es der Vigoni. Heinrich Mylius konzentrierte einen großen Teil seiner Mäzenatentätigkeit auf die Ausschmückung Lovenos. Porträts zahlreicher Familienmitglieder, ausgeführt von dem großen Mailänder Maler Francesco Hayez, schmücken die Wände noch heute. Statuen schweizer und vor allem italienischer Bildhauer (Pompeo Marchesi, Luigi Manfredini, Giosuè Argenti, um nur einige zu nennen) stellen biblische oder mythologische Szenen dar, die Mylius gerne in Beziehung zu Begebenheiten seines eigenen Lebens und dessen seiner Familie setzte. Klassizistische Kunstauffassung und romantische Überhöhung persönlichen Erlebens finden zu einer Synthese. Besonders deutlich wird die Angewohnheit Mylius', selbst in die Gestaltung der Kunstwerke, die für seinen Wohnsitz in Loveno bestimmt waren, einzugreifen, am Falle der »Tempietto« genannten Gedenkstätte für seinen Sohn Julius. Als im 34 35

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Weimarer Staatsarchiv H A A175 Bl. 24 r + v . Siehe für die detaillierte Rekonstruktion des Ankaufs und die genaue Beschreibung des Geländes im Jahr des Ankaufs die Studie von Paolo Cottini: Il parco Mylius-Vigoni, Edizioni Lativa 1991, S. 2 5 - 4 1 . Dies geht aus einem Brief nach Weimar (in Goethe- und Schiller-Archiv 28/647) vom 2.6. 1830 an Goethe hervor. Wie Cottini nachweisen kann, steigt Giuseppe Balzaretto erst 1844 als Mitarbeiter von Besia ein. Umbau und Ergänzung erfolgten ab 1850 seitens Giovanbattista Rossi. 1855 dann gibt Luigia Vigoni Balzaretto den Auftrag zur weiteren Gestaltung des Gartens.

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November 1832 Bertel Thorvaldsen, den Mylius schon von Besuchen in Rom kannte, in Loveno zu Besuch war, wollte Mylius den berühmten Dänen dazu bewegen, ein Bas Relief zur Zierde des Tempietto und zum Trost der trauernden Eltern beizusteuern. 38 1833 kommt er in einem Brief vom 14. April an Karl Kolb, den Konsul des Königs von Württemberg in Rom, auf die Idee zurück, geht aber in seinen Wünschen nun schon weiter: Er denke an die »Nemesis Adrastea, nach unsers Herders Ansichten und Vorträgen«. Nachdem Thorvaldsen den Auftrag angenommen hatte, schickte ihm Mylius Auszüge von Herders Studie zur Nemesis Adrastea. Dagegen wünsche ich nun aber sehr, in einem der Leetüre, stillen Betrachtungen oder vertrauten Unterhaltungen bestimmten Kabinett, eine Nemesis von Ihnen und nach Ihrem Sinn ausgearbeitet, aufgestellt zu sehen, - ob als Basrelief? - ob als freystehende Figur? ob in einer Gruppe, oder wie sonst? - ist mir gleichviel. Ich überlasse Ihnen dieses ganz! einzig will ich Ihnen sagen, welche Nemesis es ist, die ich meyne und wie ein desfalsiger Wunsch mit einer moralischen Ansicht, mit einem - ich darf es wohl so nennen - religiösen Gefühl zusammenhängt. 39

Gegen Ende des Jahres 1835 wurde das Relief, das heute zu den wertvollsten Kunstschätzen der Villa Vigoni gehört, von Rom nach Loveno spediert. Aber Thorvaldsen war nicht der einzige Künstler, den Mylius zu einer Arbeit zum Thema der Nemesis animierte. In einem in der Villa Vigoni erhaltenen Album befindet sich u.a. eine Studie von Erwin Speckter, die auf Rom 1833 datiert ist. Speckter (1806—1835) war 1831 aus Hamburg zu einem dreijährigen Romaufenthalt nach Italien gekommen. Aus Speckters postum veröffentlichten Briefen 40 geht hervor, was es mit dieser zweiten Nemesis-Arbeit auf sich hat. In einem Brief vom 22.11. 1833 berichtet Speckter von einer »Concurrenz-Aufgabe für einen Mailänder, einen Privatmann, der in einer Nische eines Gesellschaftssaals in seinem Hause eine Nemesis malen lassen will, wozu er fünf italienische Künstler und mich einlud, zugleich den Theil von Herder's Werken mit der Nemesis Adrastea sendend. Die Zeichnung, en miniature, wird mit 6 Louisd'or bezahlt, das Bild aber, wenn mir anders die Nemesis günstig ist und ich über die Mitarbeiter siege, wird mir besser vergütet werden.« Mylius organisierte also - zusätzlich zu dem fest bei Thorvaldsen bestellten Basrelief - einen »concorso« für eine weitere Bearbeitung desselben Themas, diesmal in Form eines Bildes. Keiner der wettstreitenden Künstler scheint Mylius ganz zufriedengestellt zu haben, denn eine bildliche Darstellung der Nemesis ist nicht bekannt und hat auch im Palazzo Mylius der Via Clerici nicht existiert. 41

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Die folgenden Informationen entnehme ich einem Aufsatz von J0rgen B.Hartmann: »Alcune inedite italiane di Bertel Thorvaldsen e del suo cerchio«, in Analecta Romana Instituti Donici I, Kopenhagen 1960, S. 67—103. Prof. Brummack danke ich für den Hinweis auf diese Quelle. Zitiert nach Hartmann, S. 69. Briefe eines deutschen Künstlers aus Italien, Leipzig 1846. Dies geht u.a. aus der kompletten Inventarliste hervor, die von der Stadt Genf 1928 angefertigt wurde.

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Aber auch in kleineren Dingen, die ihn und seine Familie privat angingen, zeigt Mylius persönliches Engagement und beweist eine ausgezeichnete Kenntnis der Künstlerszene Mailands. Die im Anhang abgedruckten Briefe Mylius' an Servi und d'Azeglios an Servi mögen als Beispiele dafür dienen. Loveno war, das kann man wohl ohne Übertreibung und trotz der schlechten Quellenlage sagen, für Mylius der beliebteste Alterssitz. Ein großer und an illustren Namen reicher Freundeskreis, seine Familie, viele Besucher aus Deutschland gehörten zum Leben in der heutigen Villa Vigoni in den Sommermonaten. 42 Friederike Mylius berichtet in Briefen an ihre Schwiegertochter Luigia im Sommer 1843 von dauernden Besuchen befreundeter Familien. Kein Tag vergeht, ohne daß drei oder vier kleine Gruppen zu unangekündigten (!) Besuchen kamen und sich längere Zeit in Park und Haus aufhielten. Aber es kamen auch illustre Besucher aus Deutschland, die sich für Wochen, ja Monate einquartierten: im Herbst 1843 z.B. Bernard von Lindenau. Italienischer und deutscher Freundeskreis standen einander in nichts nach. Massimo d'Azeglio, der selbst eine Villa in Loveno besaß, kam vor allem in den 40er Jahren regelmäßig bei den Mylius' und Vigonis zu Besuch. In den Briefen an seine Frau Luisa Blondel erwähnt er mehrmals Heinrich Mylius43 und immer, wenn seine Frau auf Erholung in Loveno ist, läßt er stets Mylius und Vigoni grüßen. 44 Gemeinsam mit Ignazio Vigoni und Heinrich Mylius stiftet er Loveno einen Brunnen, der noch heute auf dem kleinen Platz im Zentrum des Ortes steht. 45 Auch als Maler war d'Azeglio für Mylius interessant. Ein im Archiv Vigoni erhaltener amüsanter Brief des damals schon zurückgetretenen Premierministers an den Malerprofessor Servi zeigt, wie ungezwungen der Umgang in Loveno war. 46 Besonders vertraut war Mylius nach dem frühen Tode Gaetano Cattaneos vor allem der erst 1826 nach Mailand gekommene und ab 1838 an der Brera lehrende Giovanni Servi. Über ihn liefen viele Kontakte mit den Künstlern der Brera, und Servi selbst lieferte zahlreiche Malerei- und Bildhauerarbeiten für Villa, Park und Friedhof. In seinem Testament bedachte Mylius den treuen Freund großzügig. Wohl auf Anregung Mylius' bereiste Servi zweimal Deutschland, die erste Reise 42

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Ignazio Vigoni: Menaggio und Umgebung, Como: Noseda-Verlag 1961; S. 35—37 über die Gesellschaft in Loveno, Vigoni erwähnt die dort verkehrenden Gäste. Wie sehr Familientradition auch Wunschdenken sein kann, läßt sich recht deutlich an zwei Beispielen ablesen. Bossi soll, heißt es auf S. 36, dort zu Gast gewesen sein (er starb 1815). Die Behauptung, auch Goethe sei dort eingekehrt, wird immerhin als Familienlegende bezeichnet. Epistolario, Bd. II, Briefe vom 12.11.1841 (an Mylius auf Französisch), 4.10. 1841, 15.10. 1841, 1.4. 1843, 10.4. 1843, 12.4. 1843. Am 4.10. 1841 heißt es etwa: »Ero invitato a pranzo dai Mylius, che arrivarono ieri l'altro. ( . . . ) Mylius m'ha dato a leggere il testamento del povero Cattaneo, che m'ha fatto piangere: realmente, non per modo di dire.« Aus Briefen wissen wir von d'Azeglios Anwesenheit im Oktober 1841,1842 und 1843. 13.9.1853: »Salutami gli amici di costi, Mylius, e Vigoni in specie.« 12.4. 1843 schreibt er über einen Plan, den er gemeinsam mit Mylius hat und der sich auf die Einfassung einer Wasserquelle bezieht. Es kann sich nur um den genannten Brunnen in Loveno handeln. Der Brief ist im Anhang abgedruckt.

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führte ihn 1847 nach Dresden und Prag, eine weitere 1850 nach Frankfurt am Main und Düsseldorf. Verbindungsglied nach der Heimatstadt Frankfurt war Eduard Rüppell, ein berühmter Geograph, der bekannte Reisebeschreibungen veröffentlicht hat. 47 Über ihn ließ Mylius die oben genannten Geschenke nach Frankfurt gelangen und ihm verdankte er die Aufnahme in die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft. Rüppell, G.Cattaneo, Kramer, Servi - sie alle sind neben den berühmteren Goethe, Manzoni und dem Großherzog von Sachsen-Weimar auf Porträts in der Villa Vigoni abgebildet. Einen Überblick über die »Großfamilie«, wie sie in Loveno oft zusammenkam, vermittelt das künstlerisch wohl weniger wertvolle »Gruppenbild« von Giovanni Servi, das heute in der kleinen Bibliothek im Erdgeschoß hängt. Heinrich Mylius hatte es nicht nur zu individuellem wirtschaftlichen Erfolg und Reichtum gebracht, sondern es gelang ihm auch, sowohl in seiner deutschen Familie, den Mylius, als auch in der ihm über seine Schwiegertochter zugewachsenen italienischen Familie, den Vigonis, den Grundstein für eine lange währende Tradition zu legen. Die Verbindung von ökonomischer Innovationskraft und einer breitgefächerten Mäzenatentätigkeit blieb genauso ein Teil dieser Tradition wie das Engagement für eine europäische, gerade deutsche und italienische Elemente einbeziehende Lebensweise. Der Fortentwicklung dieser Tradition in beiden Familienzweigen wird nachzugehen sein. Seine Neffen Georg Melchior und Heinrich waren ihm nicht nur als Handelspartner nach Mailand gefolgt, sondern hatten sich mit ihren Familien ebenfalls am Comer See eingerichtet - Georg Melchior am anderen Ufer in Blevio, Heinrich ebenfalls in Menaggio. Luigia, ihr Mann Ignazio und deren Kinder Giulio (geb. 1837), Enrichetta (1842), Giuseppe (1846) und Teresa (1851) waren ohnehin eng an Loveno gebunden und Ignazio zudem in die wirtschaftlichen Aktivitäten des Unternehmens Mylius integriert. Beide Linien seiner Familie testamentarisch gerecht zu bedenken war ein offensichtliches Anliegen des alternden Mylius. In seinem letzten bekannten Testament 48 vom 9. April 1851 kann man nachlesen, wie sich der weitsichtige Patriarch die Aufteilung seines beachtlichen Vermögens vorstellte. Das Testament war noch vor dem Tod seiner Frau verfaßt worden, so daß sie als erstes bedacht wurde. 49 Erben wurden zu gleichen Teilen die Neffen Georg und Heinrich. Aber auch deren Geschwister Carl (1790-1870), Susanna (1816-1884) und Jonas (1787-1866) bekamen die beträchtlichen Summen von 350000, 200000 und 300000 47

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Zur Biographie Rüppells siehe Robert Mertens: Eduard Rüppell, Leben und Werk eines Forschungsreisenden, Frankfurt/M. 1949. Bekannt wurde seine Abessinienreise, die er Heinrich Mylius widmet. Es gab frühere, so vom 25.9. 1849, das vom 9.4. 1851 hat. Prof. Moioli/Mailand im Archivio di stato finden können. Eine Kopie hat er dankenswerterweise dem A W zur Verfügung gestellt. Neben dem ausdrücklich genannten Pflichtteil wollte Mylius ihr 50.000 Lire austriache hinterlassen sowie die freie Benutzung aller seiner Häuser und Besitzungen sowie freies Verfügungsrecht über alle Möbel und Kunstgegenstände in Mailand und Sesto garantieren - nicht in Loveno, denn hier sollten Luigia und Ignazio bedacht werden.

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Frank Baasner

Lire. Ignazio und Luigia Vigoni erhielten 800000 Lire und Luigia (ausdrücklich sie, und nicht beide) die Villa und alle Besitztümer in Loveno sowie das gesamte Mobiliar in der Via Clerici in Mailand. Und dann folgt ein Satz, der zeigt, wie sehr Mylius am Erhalt seiner Häuser in Familienbesitz gelegen war: »Nel caso in cui i miei Eredi volessero passare alla vendita de' miei beni di Sesto S. Gio. o che la mia Nuora volesse alienare lo stabile di Loveno io li consiglio ad accordarsi reciprocamente la preferenza nel contratto a prezzo di equità, essendo mio desiderio di conservare possibilmente i detti stabili alla mia famiglia.« Auch für die Società sowie die dazugehörige Chemie-Schule sorgte er vor. 100000 Lire bestimmt er für den Ankauf von weiteren Grundstücken und Gebäuden. Verantwortlich für die gewissenhafte Fortführung dieses Bereichs seiner Tätigkeit sind die beiden Erben sowie Ignazio Vigoni. Daß die Generation nach ihm vielleicht nicht in gleicher Vollendung die deutsche mit der italienischen Kultur würde verbinden können, mag Heinrich Mylius gegen Ende seines Lebens klar geworden sein. Mit Luigia korrespondierte Friederike Mylius noch auf Deutsch, die Enkel konnten es wohl nicht mehr lesen. In einem Zusatz zum Testament vom 24.1. 1853 verfügt er: »Da von den laut § 12 meines Testaments vom 9. April 1851 als in sämtlichem Mobiliar einbegriffen, zu Gunsten meiner geliebten Schwiegertochter Frau Louise Vigoni und ihrer Kinder legierten in meiner Wohnung zu Mailand befindlichen Büchersammlungen, ein großer Theil aus deutschen Autoren oder Werken in deutscher Sprache besteht, die in der Vigoni'schen Familie höchst wahrscheinlich nur wenig zu Nutz und Frommen gereichen, dahingegen solchen Zwecken in einigen Zweigen Mylius'scher Abstammung vollkommen entsprechen dürfte, so will und verordne ich, daß meinen Neffen oder Großneffen in diesem Sinn die freie Auswahl überlassen bleibe, überzeugt, daß zu derselben auch Vigoni's freundlich und mit aufrichtiger Theilnahme die Hand bieten werden.«

Carlo G. Lacaita

(Mailand)

Heinrich Mylius und die Società d'Incoraggiamento d'Arti e Mestieri in Mailand

Ein Beispiel bürgerlicher Philanthropie Als sich am 23. April 1854 »unter strömendem Regen« eine trauernde Menschenmenge um den Sarg von Heinrich Mylius versammelte, wurde für alle offensichtlich, wieviel Hochachtung und Zuneigung die Mailänder Bürger dem Mann entgegenbrachten, der für die lombardische Hauptstadt zu einem regelrechten Symbol geworden war. Die Zeitungsberichte von der Beerdigung unterstrichen, daß noch nie »ein städtisches Begräbis so viel spontane Anteilnahme der Bevölkerung hervorgerufen habe«. Und in den berühmten Annali Universali di Statistica, einer der maßgeblichen Zeitschriften jener Zeit, die von ziemlich der gesamten Intellektuellenschicht Italiens gelesen wurde, schrieb ein damals sehr bekannter Publizist, daß die »große Menge guter Werke«, die auf den alten Mylius zurückging, seinen Namen zum »liebsten und populärsten Namen unserer Stadt Mailand« gemacht habe. Und gleich darauf fügte er hinzu: »Kaum daß er sich auf einer öffentlichen Zusammenkunft zeigte, wurde er sofort vom Volk umringt, das ihn feierte und beklatschte. Die Akademien, die wissenschaftlichen Gesellschaften und die obersten Gerichte stritten um die Gunst, ihn als Mitglied berufen und mit feierlichen Ehrungen überhäufen zu dürfen.« 1 Tatsächlich war Mylius seit langen Jahren der »Betreiber aller guten Werke gewesen«, stets bereit, mit großzügigen Geldspenden den unterschiedlichsten Einrichtungen zu helfen: Kindergärten oder Krippen für arme Kinder, einem Hilfswerk für Arbeiter und Handwerker (Drucker, Hutmacher, Ladenangestellte, Schreiner) sowie anderen Institutionen wie der Gesellschaft für die Unterstützung ehemaliger Häftlinge, dem Blindeninstitut und dem Institut für Taubstumme, und schließlich der Gesellschaft für künstlerische und berufliche Förderung (in der Folge »Società d'Incoraggiamento«). In den folgenden Ausführungen werden wir uns auf die letztgenannte Einrichtung beziehen, die in der Mailänder Geschichte eine herausragende und wirklich beachtliche Rolle gespielt hat. 2 1

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Giuseppe Sacchi: »Necrologia di Enrico Mylius«, in Annali Universali di Statistica, April 1854, S. 6 des Separatums. Das Andenken an Mylius ist innerhalb der Società d'Incoraggiamento stets lebendig geblieben. Dasselbe kann man von der Mailänder Stadtregierung nicht behaupten, die es in mehr als 100 Jahren nicht fertig gebracht hat, eine Straße nach ihm zu benennen. Zur Geschichte dieser Einrichtung, die von Mylius gegründet und geleitet wurde, habe ich ein umfangreiches Buch verfaßt, auf das ich für alle weiterführenden Fragen und Vertie-

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Carlo G. Lacaita

Innerhalb der Società d'Incoraggiamento ging Mylius' Rolle weit über die des großzügigen Wohltäters hinaus, auf die in den Gedenkreden so eindringlich hingewiesen wurde. Er wurde vielmehr zum Förderer und Leiter einer Einrichtung, die innerhalb weniger Jahre zum wichtigsten Zentrum kultureller und produktiver Kreise wurde, die am Modernisierungsprozeß des Landes wesentlichen Anteil hatten. Es fällt nicht schwer, hinter Mylius' philanthropischen Aktivitäten ein starkes ethisch-religiöses Motiv zu erkennen, das auf seine protestantische Herkunft zurückgeht und Ausdruck eines starken Pflichtgefühls gegenüber der Allgemeinheit ist, das sich vor allem mit Blick auf die schwächsten Glieder des Gemeinwesens als moralische Aufgabe dessen versteht, der im Leben herausgehobene Positionen bekleidet. Sein Engagement für die Società d'Incoraggiamento aber erklärt sich vor allem aus der Sicht des modernen Kapitalismus, der nicht nur auf möglichst effizient zu nutzende Gegebenheiten zu achten hatte, sondern sich auch den komplexen Problemen des Fortschritts, die sich in den dynamischsten Wirtschaftszentren des Kontinents herauskristallisierten, widmen mußte. Mylius, der vollendete Unternehmer, der sich sowohl im Seidenhandel, der Seidenherstellung als auch dem damit verbundenen Bankwesen engagiert, war gleichzeitig ein belesener Mann und mit Autoren vom Niveau eines Goethe oder Manzoni gut bekannt. Er nahm dank der engen Verbindungen, die er mit den fortschrittlichsten Produktionszentren Europas aufzubauen vermochte, intensiv an den wirtschaftlichen Entwicklungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts teil. Gleichzeitig befaßte er sich kontinuierlich mit der Frage nach den Faktoren, die diese Entwicklung ermöglichen. Die wirtschaftliche Entwicklung war für ihn sowohl Teil als auch Instrument des sozialen Fortschritts, eine Auffassung, die sich u.a. in seinen wiederholten Forderungen nach einer Erhöhung des kollektiven Vermögens und der Schaffung angemessener öffentlicher Strukturen ausdrückte, die in der Lage sein müßten, die neuen sozialen Bedürfnisse zu befriedigen und für alle ein höheres Niveau öffentlichen Lebens zu schaffen. Auf diesem Gebiet traf sich Mylius nicht nur mit den Fürsprechern philanthropischer Aktivitäten aus moralischen und religiösen Beweggründen, die jede Wohltat lediglich als Dankesbeweis gegenüber der Vorsehung, als Mittel zur religiösen Aufwertung des eigenen Lebens und als Rechtfertigung der eigenen Machtpositionen verstanden, sondern auch mit den Fürsprechern einer fortschreitenden Zivilisierung als Aufgabe des Gemeinwesens, deren Mailänder Anführer Romagnosi mit seinen treuesten Schülern war. Nicht zufällig waren es gerade diese Gruppen, die dem »faulen Patriziat« der Gegend vorwarfen, den eigenen Reichtum sozial unproduktiv zu verwalten, Heinrich Mylius hingegen als beredtes Beispiel einer hartnäkkigen Arbeitsmoral und einer »klugen und aufgeklärten Wohltätigkeit« bezeichneten, dessen Wohltaten nicht mehr dem Bedürftigen mit dem traditionellen Almosen fungen des Themas verweise: L'intelligenza produttiva. Imprenditori, tecnici e operai nella Società d'Incoraggiamento d'Arti e Mestieri di Milano (1838—1988), Mailand 1990.

Enrico Mylius und die Società d'Incoraggiamento

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helfen, sondern Werke schaffen wollten, um den »weisen Fortschritt des Landes« zu ermöglichen, die Ursachen der Armut zu beseitigen und die sozialen Errungenschaften dem Volk zugute kommen zu lassen. 3

Eine Einrichtung für den Fortschritt Wie bereits angedeutet wurde, hat man lange Zeit die Rolle von Heinrich Mylius unterschätzt, so als habe sich sein Verdienst um die Società d'Incoraggiamento auf die (an sich schon sehr bedeutende) Funktion des wichtigsten Geldgebers beschränkt, der dank zahlreicher großzügiger Spenden die Gründung und die Arbeit der Institution ermöglichte. Er war es jedoch auch, der im Sommer 1838 in seiner Eigenschaft als Vizepräsident der Handelskammer eine sehr stark besuchte Versammlung von Mailänder Händlern und Industriellen einberief (am 7. August 1838) und die in der Produktion tätigen Mailänder Kreise aufforderte, eine Instutition zu gründen, um mit ihr den »begonnenen Fortschritt« der verschiedenen ökonomischen Aktivitäten zu fördern. Er setzte dabei einerseits auf die Dynamik der lombardischen Wirtschaft der dreißiger Jahre, die durch steigende Seidenproduktion und eine Expansion des Textilbereichs allgemein gekennzeichnet war, und machte sich andererseits die Reise Kaiser Ferdinand I. zunutze, der in Mailand zum König der Lombardei und Venetiens gekrönt werden sollte. Und als schließlich die beantragte »Schutzherrschaft« des Kaisers zusammen mit der Genehmigung der Gesellschaftssatzung am 26. Dezember 1840 aus Wien eintraf, war es wieder Mylius, der die Società d'Incoraggiamento (so wurde die Gesellschaft bald genannt, wobei der ursprüngliche Name »Cassa d'Incoraggiamento per le Arti e Mestierei« leicht abgewandelt wurde) zu den ersten nennenswerten Experimenten bewegte. Die Hauptaufgabe der neuen Institution war vor allem die Verbesserung des Handwerks und der Manufakturen in der Provinz Mailand, die man anfangs durch

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Das Almosen - so argumentierten die Anhänger der neuen bürgerlichen Ethik - verdirbt denjenigen, der es empfängt. Es »reicht nicht mehr aus, blind wohltätig zu sein; man muß es mit Blick auf den größtmöglichen Nutzen sein, damit aus der aufgeklärten Wohltätigkeit des Reichen das Wohlergehen und die so sehr erwünschte Verbesserung der armen Klassen hervorgehe. Die Gabe muß Lohn für Arbeit sein, Ansporn zur Besserung, und nicht mehr Köder für die Schamlosigkeit des Bettlers oder Behinderung des industriellen Fortschritts. Das ziellos dem Bettler gegebene Almosen ist immer steril, eine traurige Nahrung des Untätigen, der Herumtreiberei, der Laster; während eine Spende für eine nützliche und gut gemeinte wohltätige oder volksbildende Institution stets ein fruchtbarer Samen in bestem Boden ist, eine Gewinnquelle für alle gesellschaftlichen Gruppen, ein ertragreiches Kapital.« Dies sind die Worte von Gottardo Calvi, dem Sekretär der wirtschaftlichen Fachkommission der Società d'Incoraggiamento. Das Zitat stammt aus Società d'Incoraggiamento per le arti e mestieri in Milano e della prima distribuzione de' premi fatta da essa il 25 aprile 1843. Cenni storico-critici, Mailand 1843, S. 154. Zum Problem der Caritas siehe auch Carlo Cattaneo: Scritti economici, hrsg. Alberto Bertolino, Bd. I, Florenz 1856, S. 343 - 4 0 0 und Scritti politici, hrsg. Mario Boneschi, Bd. III, Florenz 1965, S. 288-298.

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Carlo G. Lacaita

die Vergabe von Prämien, Förderpreise sowie einfache Unterstützung an Handwerker, Mechaniker oder Fabrikanten erreichen wollte. Ziel war es dabei, die Einführung neuer Methoden oder Maschinen zu erleichtern und die Lösung technischer Probleme, die der »heimischen Manufaktur zugute kommen«, zu ermöglichen. Diese Ausrichtung ist ganz offensichtlich auf die Industrie konzentriert und mit der Entwicklung der Manufakturen jener Zeit verbunden sowie mit dem wachsenden Interesse der fortschrittlichsten Kreise an den Technologien der industriellen Revolution. Die anfängliche Zielsetzung umfaßt aber auch, und das sollte von vornherein betont werden, die Entwicklung der übrigen, vor allem der landwirtschaftlichen Produktionsformen, die in der Tat wiederholt Gegenstand gezielter Maßnahmen der Società d'Incoraggiamento und ganz besonders von Heinrich Mylius waren. So empfahl Mylius in seinen an den Vorstand gerichteten Vorschlägen für die erste Ausschreibung der Preise im Jahre 1841, einige landwirtschaftliche Verbesserungen mit eigens dafür geschaffenen Förderpreisen anzuregen. 4 Er schlug vor allem vor, in erster Linie demjenigen einen Förderpreis zuzusprechen, »der neue landwirtschaftliche Verfahren, Produktionsformen oder Maschinen einführt und tatsächlich erprobt, deren Nutzen in anderen Ländern schon erwiesen ist«; ferner »jenen Familien«, die sich »durch blühende Bewirtschaftung ihrer Ländereien, durch besonderes Geschick bei der Seidenraupenzucht oder durch eine sinnvolle Beschäftigung ihrer Untergebenen in den Wintermonaten, während derer die Feldarbeit ruht«, hervorgetan haben. Und schließlich solle ein Förderpreis an denjenigen vergeben werden, »der die beste erläuternde Abhandlung über die verschiedenen in Frankreich angewandten Weinherstellungsverfahren sowie über die Filterung und Konservierung des Weines verfaßt« sowie an denjenigen, der »nachweislich die Einführung neuer nützlicher Haustiere wesentlich verbessert oder erst ermöglicht«. Und nachdem er angeregt hatte, »einige Preise oder Medaillen für die Einführung einer oder mehrerer exotischer Pflanzen« zu schaffen, »die in der Lombardei unter freiem Himmel gedeihen können und deren Früchte von landwirtschaftlichem oder sonstigem handwerklichem Nutzen sind«, fügte er hinzu, daß es sinnvoll sei, »den Erfinder der besten, den Bedürfnissen des Handelsplatzes Mailand angemessenen Lagerungsmethoden für Seide« auszuzeichnen, wobei auch »aufgezeigt werden müßte, wie man diese Verfahren in unserer Stadt zur Anwendung bringen könnte«. Aber das Dokument des Präsidenten, das sehr gut die von Anfang an leitende Funktion Mylius' zum Ausdruck bringt, verdient in seinen Grundzügen dargestellt zu werden. Ausgangspunkt war die Bemühung, zu einer besseren Kenntnis der Manufakturen und deren tatsächlicher Produktionsbedingungen zu kommen, um dann die zu 4

Der komplette Text, in dem der Präsident 1841 dem Verwaltungsrat der Società d'Incoraggiamento seine Vorschläge unterbreitet, ist abgedruckt in Carlo G. Lacaita: »Enrico Mylius e le origini della Società d'Incoraggiamento d'Arti e Mestieri di Milano«, in Rivista milanese di economia, Nr. 31, Juli-September 1989, S. 146—148.

Enrico Mylius und die Società d'Incoraggiamento

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behebenden Mängel und auszubauenden Schwerpunkte zu erkennen. Aus Mylius' Sicht war es außerdem erforderlich, die Schaffung von fehlenden aber möglichen Industriezweigen anzuregen sowie die bereits existenten durch Übernahme moderner, in anderen Ländern erfolgreich erprobter Technologien zu modernisieren. Ein besonderer Preis sollte seines Erachtens demjenigen zugesprochen werden, der entweder »nach Vorgaben der Società d'Incoraggiamento eine Maschine gebaut hat, die zur Übernahme in die Produktion als sinnvoll und geeignet befunden wurde« oder einige vom Vorstand in Absprache mit der technischen Kommission vorgegebene »Probleme« gelöst hat. Mit Bezug auf die beiden für jede Industrialisierung grundlegenden Rohstoffe Kohle und Eisen, die in der Lombardei nur in geringen Mengen zu gewinnen waren, spricht das Dokument von dem Bestreben, die vorhandenen Ressourcen besser auszunutzen. Es wird vorgeschlagen, die »Verbesserung der Holzkohlengewinnung« zu fördern, eine genaue Beschreibung »der rentabelsten Produktionsform in den Eisenhütten, die mit Holzkohle arbeiten«, anzuregen, damit »aus dem Holz der größtmögliche Nutzen gezogen werden kann« und die Verfahren verbessert werden, mit »denen der hiesige Torf getrocknet und karbonisiert werden kann, wodurch er seinen unangenehmen Geruch verliert und als Ersatz für Holz in den Öfen unserer Eisenhütten und vor allem unserer Seidenspinnereien dienen kann«. Und schließlich geht es um die Arbeiter, deren Probleme teils noch mit denen der Handwerker und der kleinen Unternehmer, die das Bild der Mailänder und lombardischen Manufakturen prägten, identisch waren. Hier zielt das Programm des Präsidenten darauf ab, nicht nur Unternehmer »untadeligen Verhaltens« auszubilden, sondern auch professionell geschulte Unternehmer, die in der Lage sind, »eine Arbeit zum erfolgreichen Abschluß zu bringen«, »technische Qualitäten oder Eigenschaften der Materie zu erkennen und zu unterscheiden« sowie »den verwendeten mechanischen Produktionsvorgang zu erklären«.

Die Rolle der wissenschaftlichen und technischen Ausbildung Die Ausbildung neuer Fähigkeiten, welche die fortschreitende Industrialisierung zunehmend erforderlich machte, war sicher eines der Hauptziele der Società d'Incoraggiamento. Ihre Wettbewerbe und Preisgelder zielten, ganz anders als die übrigen von der Regierung abwechselnd in Venedig und Mailand organisierten Ausschreibungen, nicht nur auf die Aktivierung der Erfinder, der Techniker und der innovationsfähigen Unternehmer, sondern auch einer größtmöglichen Anzahl Arbeiter, denen Beispiele von praktischer Intelligenz, Initiativkraft, Arbeitseifer, Solidarität und Zusammenarbeit mit den neuen Arbeitskollegen, die im ländlichen Umland rekrutiert worden waren und die mit ihnen kaum oder gar nicht bekannten Techniken konfrontiert wurden, gegeben werden sollten. Und tatsächlich finden sich ab 1843 in allen Wettbewerben viele Arbeiter und Vorarbeiter, die sich wie Georg Held aus Mainz (ein Mechaniker der Textilmaschi-

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Carlo G. Lacaita

nenfabrik Gamba) oder Josef Boehm (ein Färber bei der Firma Gebrüder Preyssl) oder Angelo Piazza (der aus Turin stammte, aber in Lyon ausgebildet worden war) neben ihren professionellen Fähigkeiten noch durch die Bereitschaft auszeichneten, anderen ihre Kenntnisse zu vermitteln. Vor allem Piazza erläuterte so engagiert den Funktionsmechanismus der Textilmaschinen, vor allem der Marke Jacquard, daß er Lehrer für Seidenspinnerei bei der Società d'Incoraggiamento wurde, als diese beschloß, ihr Hauptinteresse nunmehr der wissenschaftlich-technischen Ausbildung zuzuwenden. Es war erneut Mylius, der mit seiner weitsichtigen und klugen Leitung, die er während 15 Jahren ausübte, den Anstoß zu der strategischen Neuorientierung gab, die aus der Società d'Incoraggiamento in wenigen Jahren ein erstklassiges Zentrum für technische Ausbildung und somit einen Vorläufer der höheren technischen Schule (des heutigen Politecnico von Mailand) machte. Um eine Vorstellung von dieser Entwicklung zu bekommen, braucht man nur den Bericht des Präsidenten an den Verwaltungsrat vom 29. März 1842 zu lesen, in dem die neue, für die folgenden Jahre bedeutsame programmatische Orientierung der Società d'Incoraggiamento formuliert wird: Das beste Mittel zur Industrieförderung - so kann man dort lesen - ist die Befruchtung der Industrie durch Bildung. Man muß sie von den belastenden, eingefleischten Gewohnheiten befreien und sie in die Lage versetzen, alle genialen Erfindungen für sich nutzbar zu machen. Aber damit die Fachkräfte ausgebildet werden können, müssen sie zusammenkommen, mit den Gelehrten in Kontakt gebracht werden, um so eine Allianz von Praxis und Theorie zu schaffen. Also muß eine Gesellschaft geschaffen werden, um die Bildung wirkungsvoll zu gestalten, eine Gesellschaft, die dank ihrer Größe alle verstreuten Einzelerkenntnisse sammeln kann, um diese dann genauso schnell überall dort einzusetzen, wo ihre Anwendung von Nutzen sein kann.5

Mit solch einem Grundsatzprogramm, das die Anliegen der besten lombardischen Publizistik, deren bekanntestes Organ der Politecnico von Carlo Cattaneo war, in vielen Punkten aufnahm, schuf die Società d'Incoraggiamento in kurzer Zeit eine Reihe von Forschungs- und Ausbildungsstrukturen, spezialisierte Bibliotheken und Versammlungsräume, die sie zu einem treibenden Zentrum intellektueller und ökonomischer Initiativen machte, die alle darauf abzielten, die Entwicklung und Modernisierung des Landes voranzutreiben. An der Spitze der Gesellschaft standen neben Mylius zwei Vizepräsidenten und ein Sprecher-Sekretär, die von einem 24köpfigen Kuratorium gewählt wurden, das seinerseits zur Hälfte aus Vertretern der Handelskammern und zur anderen Hälfte aus Vertretern der Mitgliederversammlung bestand. Zur Unterstützung der Leitung gab es außerdem die technischen Kommissionen, die aus zahlreichen Exponenten der wissenschaftlichen und technischen Kreise Mailands sowie aus geeigneten Vertretern der verschiedenen Wirtschaftszweige bestanden und die immer dann konsultiert wurden, wenn die Programme oder Ausschreibungstexte formuliert, die eingereichten Arbeiten be-

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Der Bericht ist im Archiv der Società d'Incoraggiamento erhalten, Cart. 17.

Enrico Mylius und die Società

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wertet oder besonders komplexe und wichtige Probleme - wie etwa die Hydraulikpressen oder die Arbeit Minderjähriger in der Textilindustrie - gelöst werden mußten. Zur Mitgliedschaft der Gesellschaft ist zu sagen, daß die Anzahl der Mitglieder von den anfänglich ca. 100 ordentlichen Mitgliedern schnell auf 306 im Jahre 1845 und auf 536 im Jahre 1847 anstieg. Es handelte sich hierbei um sehr aktive Mitgliedschaften, was in der großen Teilnehmerzahl der technisch-wissenschaftlichen Kurse sowie in einer intensiven Benutzung der technischen Sammlungen und des Lesekabinetts, das die Società d'Incoraggiamento bald eingerichtet hatte, zum Ausdruck kam. Als regelrechter »leader« dieser dauernd wachsenden Gesellschaft war Mylius nicht nur jederzeit bereit, die besten Köpfe Mailands, vom Chemiker Antonio de Kramer über den Schriftsteller Carlo Cattaneo bis zum Publizisten Michele Battaglia und zu den zahlreichen anderen Wissenschaftlern, Technikern und Unternehmern, die in der Società d'Incoraggiamento aktiv wurden, für die Arbeit der Gesellschaft zu gewinnen, sondern er war auch bereit, die Vorschläge und Anregungen, die von diesen und anderen Personen ausgingen, aufzunehmen und in seine Arbeit einzubeziehen. Ein aufschlußreiches Beispiel hierfür ist die völlige Übereinstimmung zwischen der Forderung des von Carlo Cattaneo herausgegebenen Politecnico und einer Initiative Mylius'. Cattaneo, der damals noch nicht Mitglied der Società d'Incoraggiamento war, hatte im Frühjahr 1842 die Notwendigkeit herausgestellt, die technisch-wissenschaftliche Kultur in Italien durch die Einrichtung angemessener Bildungs- und Forschungsstätten, vor allem auf dem entscheidenden Sektor der Chemie, zu stärken. Und nur kurze Zeit später schlug Heinrich Mylius am 15. September 1842 dem Kuratorium der Gesellschaft vor, diesen Weg durch die Gründung einer Chemie-Schule mit einem geeigneten Labor zu beschreiten. Dabei schwebte ihm eine Institution vor, in der die mündlichen Vorlesungen zu den für die lombardischen Produktionsbedingungen technisch und ökonomisch wichtigsten Themen durch zahlreiche praktische Experimente ergänzt würden: Die Anwendungsgesetze der Dampfkraft, ihre Erzeugung, die Konstruktion der dazugehörigen Geräte, die wichtigsten Zweige der Metallindustrie, die unterschiedlichen Metallprüfungsverfahren, die Affination von Edelmetallen, die Glas-, Kristall- und Porzellanherstellung, die Fabrikation von einfachen und feinen Töpferwaren, von Geschirr und Ziegeln, die Herstellung von Säuren und anderen mineralischen Chemikalien, ( . . . ) die Gewinnung und Raffinerie von Zucker, die Erzeugung von Alkohol, Essig, Bier, Wein, Stärke und zahllosen anderen chemischen Produkten, Fragen der Beleuchtung mit Gas, Ölen, Fetten, Teer u.s.w., die Behandlung von Pelzen, die Papier- und Filzherstellung, die Bleiche, Färberei, das Druckwesen, die Seifenproduktion u.s.w. u.s.w.

Um der neuen Institution eine solide Grundlage zu geben, stattet Heinrich Mylius sie mit einer beträchtlichen einmaligen Stiftungssumme von 104732 Lire sowie einer zweiten Kapitalspende von 12000 Lire aus, wodurch die Gesellschaft mit einem regelmäßigen und dauerhaften Kapitalertrag rechnen konnte. Darüberhinaus stiftete Mylius die erforderlichen didaktischen und wissenschaftlichen Hilfsmit-

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tel. An die Spitze dieser Chemie-Schule wurde der 37jährige Antonio de Kramer berufen, Sproß einer deutschstämmigen Industriellenfamilie, die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Lombardei ansässig war und vor allem im Textilsektor arbeitete. 6 De Kramer war der bedeutendste Chemiker Mailands, und um nicht hinter der Großzügigkeit Mylius' zurückzustehen und die in der öffentlichen Meinung Mailands genährten Erwartungen nicht zu enttäuschen, verlegte er sein vorzüglich ausgerüstetes, mehr als 800 Teile umfassendes Labor sowie die 700 Bände umfassende Spezialbibliothek in die Società d'Incoraggiamento. Später kamen eine Sammlung chemischer Präparate hinzu, die zum großen Teil von den Schülern der neuen Chemie-Schule gestiftet wurden, ferner eine Sammlung natürlicher und künstlicher Stoffe, die Bezug zu industriellen Verfahren hatten, schließlich eine Serie von Zeichnungen und Modellen chemischer, physischer oder mechanischer Anwendungen. So entstand der erste und wichtigste Kern jenes Systems von technisch-wissenschaftlichen und beruflichen Schulen, welche die Società d'Incoraggiamento unter der Leitung von Heinrich Mylius in wenigen Jahren schuf. 1844 wurde ein ChemieLehrprogramm eröffnet, an dem neben den »50 von der Gesellschaft zugelassenen Lernwilligen« mehrere »Hundert hochgebildete Personen« teilnahmen. Kurz daraufkamen weitere Kurse hinzu: ein Kurs über industrielle Physik vor Luigi Magrini, der durch einige Entdeckungen zur Elektrizität bekannt war; ein Kurs über Geometrie und Mechanik von Giulio Sarti, der die Eisenbahn Mailand-Monza bauen sollte (er wurde später durch Paolo Jacini, den Bruder des späteren italienischen Ministers Stefano Jacini abgelöst); ein weiterer Kurs über Seidenweberei von Angelo Piazza, der schon als von der Società d'Incoraggiamento ausgezeichneter Handwerker erwähnt wurde. Dem Chemielabor wurde zudem eine Werkstatt zur Seite gestellt, wo den Interessierten die Modelle der neuesten industriellen Apparate zur Anschauung und zum Studium zur Verfügung gestellt wurden. Carlo Cattaneo, der auf Vorschlag von Heinrich Mylius Anfang 1845 zum Sprecher der Società d'Incoraggiamento ernannt worden war, schrieb mit Bezug auf diese letztgenannte Initiative mit der für ihn typischen Klarheit: Es ist eine neue Form der Förderung und Ausbildung, die fruchtbarer zu werden verspricht als irgendeine sonst. Denn sie reicht all den Lernwilligen die hilfreiche Hand, die bei der Auswahl der besten Produktionsformen meist zögern, die nur selten alle neuen Erfindungen kennen können und die fast immer unfähig sind zu beurteilen, welche der in anderen Ländern erfolgreichen oder gerühmten Erfindungen unseren Rohstoffen und unseren Bedürfnissen am besten entsprechen. Indem man ihnen genaue Modelle an die Hand gibt,

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Johann Adam Kramer (später »De« Kramer) aus Essenheim wurde in der Lombardei zu einem der maßgeblichen Textilunternehmer. Mit der Zeit erweiterten sich die industriellen Interessen der Kramer, und auch deshalb widmete sich der junge Antonio dem Chemiestudium, zunächst an der berühmten Genfer Akademie, wo er Lehrer wie De La Rive, Pictet, D e Candolle hatte, später dann in Paris an so bekannten Instituten wie der Ecole de perfectionnement oder dem Chemielabor des Collège de France unter Leitung von L. J.Thénard.

Enrico Mylius und die Società

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die leicht auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt werden können, die innere und äußere Teile der kompliziertesten Geräte in naturgetreuen Proportionen und in den erforderlichen Baustoffen nachbilden, indem man ihnen die detaillierte Gebrauchsanweisung sowie Reparaturanleitung und Hinweise auf Gefahren zur Verfügung stellt, bringt man die Industrie langsam aber sicher zu einem ganz neuen Vorgehen, das völlig rational und kalkulierbar ist; man kann gewissermaßen aus der Ferne allen Unsicherheiten, Rückschlägen, unnötigem Aufwand und Schäden aus dem Weg gehen, die sonst bei eigenen Experimenten unvermeidlich sind; es ist eine Form von Ausbildung, die sich nicht an Kinder richtet und somit erst in späterer Zeit ihre Früchte trägt, sondern die Männer im Eifer ihrer heutigen Arbeit leitet und ihnen Sicherheit gibt. 7

Was das Zielpublikum der neuen Initiativen, die bald ganz an die Stelle der ursprünglichen Wettbewerbe und Prämiensysteme traten, angeht, so muß ergänzt werden, daß sich der Kurs über Seidenweberei zwar in erster Linie an die Arbeiter richtete, die die neuen Maschinen bedienen sollten, die anderen genannten Kurse hingegen ein gemischtes Publikum ansprachen, unter dem sich auch viele junge Ingenieure befanden, die die neuen Technologien kennenlernen und anwenden wollten, weil die traditionellen universitären Fakultäten diese noch nicht in ihr Lehrprogramm aufgenommen hatten. Man kann also zurecht sagen, daß die Società d'Incoraggiamento mit ihrer Vielfalt an Unterricht, der im übrigen noch um andere technische Kurse wie den über Eisenbahnbau des Ingenieurs Giacomo Bermani erweitert werden sollte, die offensichtlichsten Lücken des existierenden Bildungssystems zu schließen vermochte. Damit gehört sie in die ganz Europa betreffende geistige und pragmatische Bewegung, die vor allem in den Regionen, die von der industriellen Revolution erfaßt wurden, zur Herausbildung neuer Bildungsstrukturen führte.

Im Einklang mit Europa Bezeichnenderweise bestand einer der ersten offiziellen Akte der Società d'Incoraggiamento gleich nach ihrer Gründung darin, mit vergleichbaren ausländischen Gesellschaften Kontakt aufzunehmen, darunter die Société d'Encouragement pour l'industrie nationale in Paris, das Institut für Industrie in Berlin, die Société industrielle in Mulhouse sowie die beiden Industriegesellschaften in Wien und Prag, um eine »brüderliche Korrespondenz« aufzubauen, die dem internationalen Austausch von Wissen und Fortschritt dienlich sein sollte. Wie bei vielen anderen Initiativen des Mailänder Gemeinwesens ist von Anfang an die Bestrebung erkennbar, die eigene Tätigkeit in den größeren Rahmen der in Europa entstehenden bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts einzuordnen und durch enge internationale Verbindungen an der Verbreitung der Kenntnisse und Erfindungen Teil zu haben, die man als treibende Kraft wirtschaftlicher Prosperität und zivilisatorischen Fortschritts ansah. 7

Carlo Cattaneo : Scritti scientifici e tecnici, hrsg. Carlo G. Lacaita, Florenz 1969, S. 448.

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Carlo Cattaneo, der mit Genugtuung die Ankunft zahlreicher Instrumente und Materialien aus ganz unterschiedlichen europäischen Regionen quittierte, die als Ergänzung der Mailänder Sammlung gedacht waren, hob neben dem materiellen auch den ideellen Wert solcher Geschenke oder Tauschobjekte hervor, die die Existenz einer internationalen Gemeinschaft der Intelligenz und der Neuerungsbemühungen unter Beweis stellte. Eine stattliche Liste war zusammengekommen: Glas und Porzellan aus Böhmen und Venedig, Stahl und Gußeisen aus der Steiermark und Österreich, Mineralien aus Chemnitz und dem Tirol, Porzellan und Glas aus Sèvres, gefärbte Seide aus Gobelins, Modelle und Zeichnungen aus Marseille, Proben von Borsäure mit Mineralien und metallischen Objekten aus der Toskana, Stahlproben aus Sheffield und darüberhinaus aus verschiedenen Städten Modelle von Lokomotiven, Dampfmaschinen, amerikanischen Brücken, Mörtelmischmaschinen u . s . w . Für Cattaneo waren all diese Gegenstände, mit anderen Worten, der Beweis dafür, daß sich das für die moderne Marktwirtschaft typische Konkurrenzprinzip sehr wohl mit einem Solidaritätsprinzip verbinden ließ, das für ganz verschiedene aber gleichermaßen am gemeinsamen Werk des Fortschritts beteiligte Kreise Gültigkeit hatte. »Genau so«, schrieb er, »müssen sich die zivilisierten Nationen die Früchte des Genies brüderlich teilen, anstatt sich gegenseitig durch protektionistische und restriktive Eifersüchteleien zu behindern.« 8 In demselben Geist nahm die Società d'Incoraggiamento an der Weltausstellung 1851 in London teil. Wie De Kramer anläßlich dieser Ausstellung schrieb, war die »Hauptstadt der modernen Zivilisation« nicht nur das Ziel profitorientierter Unternehmer, sondern auch und vor allem von Interessierten aus allen Weltteilen, die die für ihre jeweiligen Länder interessanten technologischen Neuerungen kennenlernen, studieren und übertragen wollten. Hiermit wurde eine Idee bestätigt, die Mylius stets am Herzen gelegen hatte und die dank Cattaneo zur Leitidee der institutionellen Tätigkeit der Società d'Incoraggiamento vor der Revolution von 1848 und in den unmittelbar folgenden Jahren wurde. Die Industrien - sollte 1856 Antonio Allievi unter Bezug auf Cattaneos Vorstellungen schreiben - erreichen heutzutage ihr Wachstum nicht allein aus dem alleinigen Antrieb des Profits: denn die ökonomischen Interessen selbst erwachen nicht, wenn ihnen nicht die Gärung des Gedankens vorausgeht; sie wissen zudem nicht in welche Richtung sie sich entwickeln sollen, wenn die Intelligenz sie nicht bei der Imitation leitet und bei den sinnvollen Versuchen unterstützt. Deshalb ist es wichtiger als alles andere zu sehen, zu studieren und zu lernen. D a s Feld der industriellen Erfahrung ist heute so groß, daß ein Verzicht auf die Früchte fremder Erfahrung einer Selbstverurteilung zur Unfähigkeit gleichkommt. 9

Gemäß ihrer Anweisungen erwarben die Vertreter der Società d'Incoraggiamento auf der Weltausstellung in London 1851 solche landwirtschaftlichen Geräte, die auf der italienischen Halbinsel leicht zugunsten der dortigen Landwirtschaft eingesetzt 8 9

Ebenda, S. 449. Akten der Società d'Incoraggiamento d'Arti e Mestieri 1858, Jahresbericht, S. 31. In der Folge zitiert als »Akten«.

Enrico Mylius und die Società d'Incoraggiamento

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werden konnten, während sie sich bei den komplizierteren und kostspieligeren Geräten auf den Erwerb genauer Pläne der wichtigsten technologischen Eigenschaften beschränkten, um diese zumindest zur Kenntnisnahme und als Beispiele zur Verfügung stellen zu können. Zugunsten der Seidenindustrie, die wie gesagt für die lombardische Wirtschaft von herausgehobener Bedeutung war und die man vor allem auf den Endstufen der industriellen Verarbeitung modernisieren wollte, untersuchten die Mailänder Abgesandten mit besonderer Aufmerksamkeit »jene besonderen Gründe«, die den Seidenstoffen einiger ausländischer Manufakturen eine offensichtliche Überlegenheit gegenüber den italienischen Stoffen verschafften, und noch mehr interessierten sie die »verbesserten Vorrichtungen«, die dem Produkt der Zwirnmaschinen »eine Qualität und einen Ruf eingebracht hatten, die zu imitieren der lokalen Industrie bislang nur unvollkommen gelungen ist«. 10 Um auf der »Höhe des universellen Fortschritts« zu bleiben und zu »den Völkern zu gehören, die mit dem Jahrhundert gehen und mit dem Jahrhundert unternehmerisch und mächtig sind«, mußte man sich nach Cattaneos Ansicht an die »allgemeinen Ideen in Europa anpassen« und sich die besten Errungenschaften der anderen Nationen zu eigen machen. »Die Völker«, schrieb er, »müssen sich gegenseitig dauernd als Spiegel dienen, denn die Interessen der Zivilisation sind solidarisch und gemeinschaftlich; denn die Wissenschaft ist unteilbar, die Kunst ist unteilbar, der Ruhm ist unteilbar.« 11 Und in diesem Sinne nahm die Società d'Incoraggiamento nach der Londoner Weltausstellung auch an allen späteren großen Industrieausstellungen teil, die die fortschreitende Industrialisierung begleiteten und deren Verbreitung in Europa und der Welt erleichterte. Aber die Teilnahme an der Ausstellung von 1851 ist auch aus einem anderen Grund wichtig, der gerade dem Präsidenten Mylius ein besonderes Anliegen gewesen war: die Einbindung anderer italienischer Organisationen in die Bemühungen um die Stärkung der innovativen Kräfte. Es war ihm gelungen, sich mit der Società d'Incoraggiamento in Padua sowohl über die nach Italien zu importierenden landwirtschaftlichen Maschinen als auch über deren Ausstellung in Mailand und Padua zu einigen. In den vorausgegangenen Jahren hatte er aber auch versucht, alle lombardischen Provinzen hinter sich zu bringen, um gemeinsam mit ihnen eine viel größere und effektivere Gesellschaft zu bilden. Aktive Teilnahme an den Entwicklungen in Europa hieß für Mylius und für seine engsten Mitarbeiter, auf der Höhe der Zeit zu sein und somit nicht nur sich den Neuerungen zu öffnen, sondern auch die reelle Möglichkeit und tatsächliche Fähigkeit zu besitzen, mit den Kräften in Europa in Wettstreit zu treten, die in dieselbe Richtung arbeiteten.

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Archiv der Società d'Incoraggiamento, Cart. 65, Rundschreiben vom 17.6. 1851. Und er fügte hinzu: »Die Nation der lernwilligen Menschen ist eine einzige: es ist die Nation von Homer und Dante, von Galilei und Bacon, von Volta und Linné und all derer, die ihrem unsterblichen Beispiel folgen; es ist die Nation der Intelligenz, die unter jedem Klima zu finden ist und alle Sprachen spricht.« Zu dieser und den anderen Zitaten siehe C. Cattaneo: Scritti filosofici, hrsg. Ν. Bobbio, Bd. I, Florenz 1960, S. 233-245.

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Carlo G. Lacaita

A u f d e r H ö h e d e r Zeit Das Kirchturmdenken und das ländliche Mißtrauen erlaubten es nicht, 1845 zu einer Koordinierung aller Initiativen innerhalb einer regionalen Organisation zu kommen. Aber die Società d'Incoraggiamento ließ in ihren Bemühungen nicht nach und versuchte im Rahmen des Möglichen, andere lombardische Provinzen in einige Initiativen einzubeziehen, auf die hier kurz eingegangen werden soll. Das erste Projekt betrifft die Eröffnung einer zweiten Schule für Seidenherstellung in Como, das mit seinen 34.000 Stoffballen sicher zu den wichtigsten Zentren gehörte - hinzu kamen noch die in den nah gelegenen Orten Cernobbio, Maccio, Caccivio, Albate und Cantù produzierten Mengen. Cattaneo hob in seinem Jahresbericht über die Aktivitäten der Società d'Incoraggiamento 1847 hervor, daß, ohne die mit der Pflege der Maulbeerbäume und der Raupenzucht beschäftigten Familien auf dem Land hinzuzurechnen, »innerhalb und außerhalb dieses emsigen Bienenstocks gut 10.000 Personen beiderlei Geschlechts und aller Altersstufen von der feinen Kunst der Seide leben konnten«. 12 Allerdings war der größte Teil der Produktion qualitativ noch recht einfach und deshalb weniger ertragreich, wogegen der bearbeitete Stoff, der auf dem Markt das Doppelte wie der einfache Stoff wert war, nur den vierzehnten Teil der Gesamtproduktion ausmachte. Ihnen die besseren Fertigungsmethoden beizubringen bedeutete also, den Herstellern die Möglichkeit zu geben, aus der eigenen Arbeit mehr Profit zu ziehen und gleichzeitig aus der entfremdeten Situation »beweglicher Werkzeuge einer Kunst, die sie nicht verstehen« herauszufinden. 13 Eine weitere erwähnenswerte Initiative der Società d'Incoraggiamento in ihrer Eigenschaft als Antriebskraft des Fortschritts in der ganzen Lombardei betrifft die Käseproduktion (vor allem des typischen Hartkäses, des sogenannten »Grana«). Käse gehörte nach der Seide zu den wichtigsten Exportgütern der Lombardei. Ausgehend von den Verbesserungsvorschlägen des traditionellen Systems, die Carlo Antonio Landriani vorgelegt hatte, der als »begeisterter Fachmann dieser Kunst« galt, bemühte sich die Società d'Incoraggiamento um die Überwindung der verbreiteten Scheu vor Neuerungen, um schließlich zu »rechtschaffenen Experimenten« zu kommen. Es scheint nun an der Zeit zu sein - schrieb hierzu die Leitung - die Sache, wenn sie der experimentellen Erprobung nicht standhält, ad acta zu legen; aber wenn an der Sache etwas dran ist, und sei es auch nur teilweise, soll sie als das anerkannt werden, was sie wert ist - denn es ist nicht sinnvoll, weiterhin einen (und selbst einen kleinen) Teil einer so immensen Summe durch Ausschußware zu verlieren, wenn man ein Mittel in der Hand hat, die Sache ohne weiteres zu beheben.

Im übrigen - so fährt das von Mylius und Cattaneo unterzeichnete Dokument fort »kann der Versuch nicht schaden und zu nichts verpflichten; und auch wenn er nicht 12 13

Akten 1847, Fortsetzung, S. 4. Ebenda, S. 5 - 6 .

Enrico Mylius und die Società d'Incoraggiamento

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vollständig gelingen sollte, könnte er vielleicht anderen den Weg zu anderen Verfahren weisen«.14 Mit dieser Auffassung stellt sich die Führungsgruppe der Società d'Incoraggiamento sowohl auf der Ebene kollektiven Verhaltens als auch bei konkreten Herstellungsverfahren in eine Linie mit den Anhängern experimenteller Methoden, die schon im Politecnico von Cattaneo wegen ihrer offensichtlichen theoretischen und praktischen Ergiebigkeit in philosophischer und kultureller Hinsicht gepriesen worden waren. Und nach demselben Grundsatz engagierte sich die Società d'Incoraggiamento für den von Antonio Reschisi vorgebrachten Vorschlag, eine große »landwirtschaftliche Institution« zu gründen, um die in der Landwirtschaft Tätigen zu zeitgerechten Facharbeitern auszubilden (Besitzer, Pächter, Verwalter, Bauern, Tagelöhner) und um alle für die Entwicklung der Landwirtschaft erforderlichen Veränderungen zu erproben und sie dann nach optimaler Prüfung in großem Maßstab mit Aussicht auf sicheren Nutzen zur Anwendung zu bringen. Nicht weniger bedeutsam war die einer speziellen Expertenkommission aufgetragene systematische Untersuchung der Kalkvorkommen auf lombardischem Gebiet, die einerseits zur Erzeugung einer zum Bau hydraulischer Werke geeigneten Zementsorte dienten, andererseits im landwirtschaftlichen Bereich dank der Mergelung zur Verbesserung der sterilen Böden der Hochebene beitragen konnten. Das Prestige, das die Gesellschaft schon bald durch ihre zahlreichen Initiativen zu erringen wußte, führte unter anderem zu dem offiziellen Regierungsauftrag, die Frage der Kinderarbeit zu untersuchen, die in der Lombardei wie anderswo als Folge der Entwicklung der Manufakturen neue Formen angenommen hatte. Schon 1843 waren einige Verbote eingeführt worden, denen zufolge Kinder unter neun Jahren nicht in Betrieben mit mehr als 20 erwachsenen Arbeitern beschäftigt werden durften, Kinder unter 12 Jahren nicht mehr als 10 Stunden täglich und die zwischen 12 und 14 Jahren höchstens 12 Stunden täglich arbeiten durften. Um zu einer vollständigen Ordnung dieser Angelegenheit zu gelangen, schalteten die betroffenen Regierungsstellen die Società d'Incoraggiamento ein, die ihrerseits 1845 ihre technischen Kommissionen beauftragte, die Frage zu diskutieren und dann ihre Ergebnisse zusammen mit den Überlegungen des Vorstands der lokalen Delegation Mailands zu übergeben. Sowohl die Kommission als auch der Vorstand waren sich einig über die Notwendigkeit öffentlicher Kontrolle in dieser Frage, um »diejenigen Eigentümer, die obige humanitäre Maßnahmen nicht kennen oder ignorieren und sich nicht freiwillig in diese Regelung fügen«, zur Beachtung der Gesetze zwingen zu können. Der Vorstand schlug in diesem Zusammenhang vor, die in der Lombardei weit verbreiteten Gemeindeärzte als Informanten einzusetzen, um so eine genaue und zuverlässige Kenntnis der Kinderarbeit zu erhalten. Weniger Übereinstimmung bestand in der Frage, wie man die »wirtschaftlichen Zwänge« mit den »humanitären Anliegen« verbinden könne, zumal da das Phänomen der Kinderarbeit auf zweierlei Motive zurückging: auf der einen Seite das 14

Akten 1846, Fortsetzung, S. 33.

Carlo G. Lacaita

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Interesse der Bauern- und Arbeiterfamilien, recht bald ihre Kinder irgendwie nutzbringend einzusetzen, auf der anderen das Interesse der Manufakturbetriebe an billiger Arbeitskraft, die ihre Nachteile gegenüber der ausländischen Konkurrenz wettmachen sollte. Zentral für die Società d'Incoraggiamento jedenfalls war der öffentliche Schutz der Kinder, damit ihre Gesundheit nicht ruiniert würde und »ihre moralische Erziehung und schulische Grundausbildung« nicht vernachlässigt würde. 15

Modernisierung und Freiheit Allein die Breite und Vielfalt der während Mylius' Präsidentschaft initiierten Projekte zeugt von der Rolle, die die Società d'Incoraggiamento in der ersten Phase ihrer Existenz als Antriebskraft innovativer Unternehmen und als Gravitationszentrum der Öffentlichkeit spielte. So war es nur natürlich, daß man, vor allem im politischen Klima jener Jahre, ausgehend von den Initiativen für Wirtschaftsförderung, für die Verbreitung einer technisch-wissenschaftlichen Kultur und für die Handelsfreiheit, 16 auch zunehmend zur Einforderung jener politischen Freiheiten kam, die kurze Zeit später während des Jahres 1848, als der Verhandlungsspielraum zwischen Regierung und Gesellschaft immer enger geworden war, 17 zum Banner der bewaffneten Mailänder Bevölkerung während des Aufstandes von 1848 wurden, ein Aufstand, an dem auch die Männer der Società d'Incoraggiamento zahlreich beteiligt waren. Wenn es in Folge des Aufstands von 1848 trotz der vorübergehenden Aussetzung aller Aktivitäten der Società d'Incoraggiamento nicht mit der Gesellschaft bergab ging, ist dies erneut ein Verdienst von Heinrich Mylius, dem es trotz seines fortgeschrittenen Alters gelang, die Institution am Leben zu erhalten und sie zu ihren anspruchsvollen Aufgaben zurückzuführen. Noch zu Lebzeiten erweiterte er die ökonomische Basis der Gesellschaft (die Chemie-Schule wurde im Testament großzügig bedacht) 18 und erlaubte ihr nicht nur, ihre Rolle als Zentrum der Verbreitung 15

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D e r Bericht zur Kinderarbeit ist in C.Cattaneo: Scritti scientifici e tecnici, S.480—488 veröffentlicht worden. D i e Mitglieder der Società d'Incoraggiamento forderten auch die Zoll- und Verkehrsfreiheit über den Po und den Lago Maggiore und damit den Ausbau der Transportwege im Inund Ausland. Siehe hierzu C.Cattaneo: Scritti politici, hrsg. M . B o n e s c h i , Bd. II, Florenz 1965, S. 2 6 0 - 2 6 7 . Cattaneo bekam dies am eigenen Leib zu spüren und wurde wegen einiger Äußerungen zur Militärerziehung fast ausgewiesen, wenn nicht Mylius mit seinem großen Einfluß auf die Regierungskreise interveniert wäre. Im Testament vom 9. April 1851, ausgestellt v o m Notar Giuseppe Alberti, legte Heinrich Mylius hierzu folgendes fest: »Ich will, daß unter Aufsicht meiner Erben und Ignazio Vigoni die Summe von 100.000 Lire für die Investition in Immobilien oder an andere Hypotheken auf den N a m e n der Società d'Incoraggiamento d'Arti e Mestieri in Mailand verwendet werden, damit die daraus resultierende Rendite jährlich und ausschließlich für

Enrico Mylius und die Società

d'Incoraggiamento

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technisch-wissenschaftlicher Kultur wieder ganz zu erfüllen, sondern sich auch in den vielen Jahrzehnten danach bis in die heutige Zeit an die neuen Erfordernisse anzupassen und die eigenen Tätigkeitsfelder stetig zu erweitern und zu modernisieren. D i e s ist unseres Erachtens der beste B e w e i s dafür, wie modern und vital das ursprüngliche Programm der Società d'Incoraggiamento war, dessen geistiger Vater und unermüdlicher Förderer Heinrich Mylius v o n Anfang an war.

den Erhalt der praktisch-industriellen Chemie-Schule eingesetzt werden. Dabei soll man sich an die im Gründungsartikel vom 10. Juli 1843 durch den Mailänder Anwalt Dr. Luigi Negri festgelegten Grundsätzen halten, kann dabei aber die nach Meinung des Verwaltungsrates der genannten Società d'Incoraggiamento für die bessere Entwicklung der besagten Schule und des dazugehörigen Labors nach Maßgabe der Umstände erforderlichen Veränderungen vornehmen. In Bezug auf die Verteilung der Rendite des genannten Kapitals zugunsten der ChemieSchule und des Labors sowie in Bezug auf die möglichen Veränderungen und die spätere Ausrichtung, erkläre ich, daß die genannten Gebrüder Mylius und Ignazio Vigoni die Wahrer meiner Ideen und meines Vertrauens sind, sodaß immer dann meine Gedanken richtig interpretiert sind und mein Wille wirklich in Erfüllung geht, wenn diese Personen in allen betreffenden Fragen konsultiert werden.« Staatsarchiv Mailand, Fondo notarile, Cart. 726.

Ruth Jakoby

(Tübingen)

Verluste und Kontinuität der deutsch-italienischen Familientradition in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Als Heinrich Mylius im Jahre 1854 im Alter von 85 Jahren starb, hinterließ er den beiden Zweigen seiner Familie, dem deutschen und dem italienischen, ein beträchtliches Vermögen und eine äußerst verpflichtende wirtschaftliche und kulturelle Tradition. Ihm war daran gelegen, das von ihm Geschaffene bei seinen Neffen und den Vigonis in guten Händen zu wissen, und sein Testament ist Ausdruck des Bemühens um gerechte Verteilung des Erbes mit der Absicht, den Zusammenhalt der Familien untereinander zu sichern. Sowohl die Erben Heinrich und Georg Melchior als auch die Vigonis geben in ihren Familien dieses Traditionsbewußtsein weiter, so daß die erneute Verbindung beider Familien in der Heirat von Catulla Mylius und Giuseppe Vigoni im Jahre 1904 keinesfalls zufällig zustande kam. Und doch entwickeln sich die beiden Familien Mylius und Vigoni zunächst in verschiedene Richtungen. In den folgenden Seiten wird dieser Entwicklung in den beiden auf Heinrich Mylius folgenden Generationen nachgegangen.

Ignazio Vigoni und die politische Neuorientierung Als Julius Mylius kurze Zeit nach seiner Heirat mit Luigia Vitali 1830 plötzlich starb, blieb die junge Witwe im Hause Mylius, wo sie wie eine Tochter behandelt wurde. Einige Jahre später ging sie eine zweite Ehe mit dem Mailänder Adeligen Don Ignazio Vigoni ein. Ignazio Vigoni (Abb. 11) brachte eine kulturell fortschrittliche, zudem ausgeprägt politische Tradition in die Familie ein. 1 Vigoni arbeitete schon vor seiner Eheschließung mit Luigia in der Firma von Heinrich Mylius.2 Die Vigonis waren eine angesehene Mailänder Druckerfamilie, die in erster Linie religiöse und musikalische Werke veröffentlichte, aber natürlich 1

2

Siehe den Stammbaum auf der Umschlaginnenseite. A m 20. November 1756 verleiht Maria Teresa den Neffen Antonio Pecis und Antonio Vigoni den Besitz Massalengo in der Provinz Lodi (Arch, di stato in Milano, prot. gen. η. 199). Den 4.6.1772 übernimmt Vigoni das feudo alleine, da Pecis keine männlichen Erben hat. Am 3.10. 1772 wird Vigoni mit einem Wappen ins Adelsregister eingetragen. Die Familie Vigone (i) ist seit 1660 in Mailand als Drucker bekannt, sowohl für Seidendruck als auch für Buchdruck, vorwiegend musikalische Werke. Siehe C.Sartori: Dizionario degli editori musicali italiani, Firenze 1958; M.Conà: La stampa musicale a Milano fino all'anno 1700, Firenze 1961. Ignazio wurde am 22.7. 1808 als Sohn von Paolo Vigoni und Giuseppa Mainoni geboren. Vor seiner Heirat hatte Vigoni in der Contrada dei Bigli η. 1241 eine Postadresse, an die zahlreiche Schreiben gerichtet wurden.

Verluste und Kontinuität der deutsch-italienischen Familientradition

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auch im Bedrucken von Stoffen erfahren war. Ignazio bereiste im Auftrag des schon gealterten Mylius dessen Geschäftseinrichtungen und Kunden in Ober- und Mittelitalien und nach der Heirat rückte er in den engeren Führungskreis der Firma auf. Sowohl die Kontrolle der wichtigen Seidenspinnerei in Boffalora als auch die Filialbetreuung in Genua vertraute Mylius dem Schwiegersohn an. Solange es ging, nahm Vogoni seine ganze Familie, d.h. Frau und Kinder, mit auf seine längeren dienstlichen Expeditionen. In Boffalora waren sie alle im Sommer 1837, in Genua im Jahre 1844.3 Um die geliebte Luigia stets in ihrer Nähe zu haben, kauften die alten Mylius ihr, gewissermaßen als Mitgift, für den stolzen Preis von 337.000 österreichische Lire 1836 eine herrliche Villa in Sesto San Giovanni, ein Haus aus dem 16. Jahrhundert mit einem prächtigen Park (siehe Abb. 13 und 14).4 Mylius mochte mit dieser Heirat, wie immer bei seinen Plänen, auch wirtschaftliche Ziele verfolgt haben. Die Unterstellung, Mylius habe eine reine Zweckehe stiften wollen, wird allerdings bei Lektüre der persönlichen Korrespondenz zwischen Luigia und Ignazio gegenstandslos. Wenn es denn eine Zweckheirat war, so erwies sie sich zumindest für die beiden Hauptbeteiligten als sehr glücklich. Ignazio übernahm nicht nur einen Teil der wirtschaftlichen Aktivitäten des alten Mylius, auch im Bereich der Kunst- und Wissenschaftsförderung trat er in dessen Fußstapfen. Von 1853 bis zu seinem frühen Tod 1860 war er, wie später sein erstgeborener Sohn Giulio, Vizepräsident der Società d'Incoraggiamento, eine Funktion, die er schon zu Lebzeiten Mylius' für ein Jahr (1845 —46) ausgeübt hatte. Bereits 1849 bis 1852 war er als Relatore ebenfalls für die Società tätig gewesen und hatte den Platz des exilierten Carlo Cattaneo übernommen. Einen eigenen Stil oder neue Schwerpunkte schuf er nach Mylius' Tod allerdings nicht, sondern konzentrierte sich ganz auf die Fortführung der übernommenen Aufgabe, wie sie Mylius auf den Weg gebracht hatte. In mancher Hinsicht erscheint Ignazio als ein Mensch, der in hohem Maße von der starken Autorität seines Schwiegervaters abhängig war, in der familieninternen Legende galt er als sanft, ja zahm. Sicherlich stand er im Schatten des Patriarchen, den er nur ganze 6 Jahre überlebte. Und doch hieße es das Verhältnis der beiden Männer zueinander, hieße es auch das Verhältnis der beiden Familien zueinander völlig falsch einschätzen, wollte man Ignazio zu einem unselbständigen Vollstrecker der myliusschen Gedanken degradieren. Ganz im Gegenteil: mit Ignazio Vigoni kam eine eigenständige, sehr ausgeprägte kulturelle und zudem eminent politische5

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Seine Frau und Kinder verbrachten mehrere Sommerferien in Morbegno. Die vorher der Familie Zappa gehörige Villa existiert heute nicht mehr, einige alte Fotos sind sowohl im A W erhalten als auch in einer Publikation zur Geschichte Sestos abgedruckt (Immagini di Sesto antica, Sesto 1980 und A . G. Spampinato: Profili di Sesto antica, Sesto 1980). Im 1. Weltkrieg überließ Catulla Vigoni das Haus der Armee als Lazarett. Vigoni hatte in Pavia von 1825/26 bis 1828/29 ein Studium im Fach »politico-legale« mit meist sehr gutem Erfolg absolviert.

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Tradition in die Familie, die auch in den folgenden Generationen fruchtbar sein sollte. Wer war dieser energische, etwas düster dreinblickende junge Mann, den wir von einem großen Porträt kennen, das noch heute in der Bibliothek des Hauses hängt? Schon das Porträt selbst gibt die ersten Hinweise. Ignazio Vigoni sitzt leicht vornüber gebeugt in einem Sessel, in der Hand eine Zeitung. Zudem trägt er einen Vollbart. Wenn man weiß, daß in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts dem Vollbart nicht nur eine modische, sondern auch eine weltanschauliche Zeichenfunktion zukommt, dann kann man Ignazio auf den ersten Blick als Liberalen, als aufgeklärten, fortschrittlichen Patrioten identifizieren. Die Zeitung weist zudem auf die Zugehörigkeit zu einer Konzeption des patriotischen, intellektuellen Bürgers, die mit dem Namen II conciliatore oder II politecnico eng verknüpft ist. Tatsächlich gehörte Ignazio zu den herausragenden Kreisen des lombardischen Risorgimento. Mylius dürfte auch diese politische Zugehörigkeit kein Geheimnis gewesen sein, als er den jungen Mann in seine Familie aufnahm. Ihm selbst war zwar politische Tätigkeit im Sinne von Parteizugehörigkeit völlig fremd - die patriotischen Liberalen aber kamen mit ihrem Drang zur politischen Einigung Italiens seiner Konzeption eines modernen, auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten florierenden Staates entgegen. Vigonis Familie war persönlich sehr eng mit anderen, wesentlich berühmteren Namen des frühen Risorgimento verbunden - ebenfalls übrigens die Familie der Vitali, also seiner Frau Luigia. Nur einige Beispiele mögen dies verdeutlichen. Die Cousine ersten Grades von Ignazio Vigoni, Maria, heiratete Luigi Confalonieri, den Halbbruder des Freiheitskämpfers Confalonieri. Luigias Onkel Francesco Teodoro Arese war auf dem Spielberg inhaftiert, nachdem er an den Aufständen 1821 teilgenommen hatte; ihr Cousin Francesco Arese war der bekannte, für die lombardische Geschichte zentrale Verbindungsmann zwischen Napoleon III. und Vittorio Emmanuele, bei ihm verbrachte Cavour den Abend in Mailand vor der entscheidenden Schlacht gegen die Österreicher. Und die Mutter dieses Francesco Arese war Antonietta Fagnani, die bekanntlich als Geliebte von Ugo Foscolo in die italienische Literaturgeschichte Eingang gefunden hat. 6 Im Hause Mylius dürfte Vigoni auch Gaetano und Carlo Cattaneo kennengelernt haben. Auf jeden Fall ist ein (bisher unveröffentlichter) Brief Carlo Cattaneos vom 30.12. 1853 erhalten, 7 worin dieser Vigoni gegenüber seine Befürchtungen äußert, 6

Auch Manzoni war Vigoni gut bekannt. Es ist ein kleiner autographischer Zettel von Manzoni überliefert, in dem dieser seinem Sohn Pietro einen Auftrag gibt - ohne Datum. Der Wortlaut ist: »Caro Pietro, il Sig. Ferrara, che ti consegnerà questo biglietto intende partire nella corrente settimana. Ti prego di vedere al più presto Lorenzo Litta, e Ignazio Vigoni, il quale m'ha anche fatto sperare qualche lettera di raccomandazione. Il tuo Papà.« A W D o c u m e n t i famiglia.

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Abdruck im Anhang. Der Brief ist in der Korrespondenz von Carlo Cattaneo bisher nicht veröffentlicht worden. Aufschlußreich ist die Haltung des exilierten Cattaneo zu den Vorgängen in seiner Heimat Mailand und in der Lombardei. D e r Brief Vigonis, auf den er hier antwortet, findet sich im Museo del Risorgimento, Cart. Cattaneo, cartella 6. D e r Brief Ignazios v o m 27.9. 1853 unterrichtet Cattaneo vom Tod Antonio Kramers. Er

Verluste und Kontinuität der deutsch-italienischen

Familientradition

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die Umstürze in die Lombardei seien viel zu hastig, zu radikal und verhinderten solide politische und wissenschaftliche Arbeit. Abgesehen von möglichen politischen Differenzen, die später zur Spaltung der patriotischen Bewegung in verschiedene Gruppierungen, in Frühformen politischer Parteien mündeten, waren alle Genannten einig in der Bestrebung, ein vereintes, autonomes Italien zu schaffen, die Fremdherrschaft der Österreicher zu beenden und ausgehend von der Lombardei und Venetien einen modernen Staat zu errichten. Ignazio Vigoni hatte nicht nur ideell die italienische Freiheitsbewegung unterstützt, sondern auch persönlich das ihm Mögliche getan. Als er im September 1831 zum Wehrdienst bei den österreichischen Truppen einberufen werden sollte, kaufte er sich von dieser Pflicht frei und schickte an seiner Stelle einen - dafür reichlich entschädigten - Mann namens Antonio Cannetta in die Armee. Das adelige Privileg war hier nicht eine Entscheidung gegen jedes militärische Engagement, sondern ein Zeichen gegen die österreichische Besatzung. Denn nur wenige Jahre später, als sich eine eigenständige patriotische Miliz bildete, trat Ignazio in die Guardia Nazionale della Città e provincia die Milano ein und wurde am 27.6. 1848 zum Capitano ernannt. Im März 1849 wurde er Inspektor der Guardia Municipale. Als 1859 französische Generäle mit den Truppen Napoleons nach Mailand kamen, kehrten einige von ihnen bei Vigoni ein, übernachteten bei ihm, übrigens auch in Loveno. Bei Ausbruch der Kampfhandlungen hatte Ignazio seinen ältesten Sohn Giulio, der 1837 geboren war, dazu bewegt, sich als Freiwilliger zu melden. Giulio nahm in den darauffolgenden Jahren an vielen Schlachten teil, wurde in nur zwei Jahren ebenfalls zum Capitano befördert. Das politisch-militärische Engagement der Vigonis sollte also, wie wir später noch sehen werden, zu einer Konstante der Familientradition werden. Was Mylius im Umgang und Gespräch mit seinen Mailänder Freunden zu Beginn des 19. Jahrhunderts allerhöchstem als Vision vor Augen gehabt hatte, wurde in der Generation seines Schwiegersohnes zur politischen Realität. Die Lombardei wurde mit der nationalen Befreiung und Einigung zu einem immer wichtigeren Scharnier wirtschaftlicher Entwicklungen. Ein neuer Markt tat sich auf, Zollbehinderungen wurden im Königreich Italien weitgehend hinfällig. Mit der Unabhängigkeit und der Vertreibung der Österreicher wurde jedoch zumindest vorübergehend ein anderes europäisches Land in Italien äußerst einflußreich, ein Land, das schon früher in Italien einen Satellitenstaat hatte errichten wollen: Frankreich unter Napoleon III. Tatsächlich war die gesamte Bewegung des Risorgimento zu großen Teilen an Frankreich orientiert, denn schon unter Napoleon I. war es den Patrioten lieber gewesen, einem modernen, das Erbe der Aufklärung transportierenden

schreibt an den »Ottimo amico«: »Pensi che colpo fu questo pel povero Sr. Mylius che lo amava tanto, e che non può non comprendere quanto questa sventura cada sull'istituzione a cui ambi, e lei pure tanto cooperarono: Egli seguitava dire ai fratelli che accorsero a vedere sul luogo perche non sono andato innanzi io com'era naturale e pianse a calde lacrime coi fratelli e con Panizza.«

Ruth Jakoby

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Despoten zu unterstehen, als den konservativen Habsburgern. Bildung und Ausbildung von Ignazio Vigoni machen in dieser intellektuell-politischen Orientierung an Frankreich keine Ausnahme. Die französische Sprache war ihm und seiner Familie näher als etwa die deutsche. Teile seiner Korrespondenz sind in Französisch verfaßt. Die spezifisch italienisch-deutsche Ausrichtung der Familientradition kam hier natürlich an eine praktische Grenze - denn wo keine Kenntnisse der anderen Sprache mehr vorhanden sind, kann keine Vermittlung, kann kein grenzüberschreitender Kontakt verwirklicht werden. Aber die Hinwendung zu Frankreich war für Ignazio Vigoni nicht nur sprachlich. Die Begeisterung für Napoleon I. als Förderer der italienischen patriotischen Bewegung spiegelt sich in einer beachtlichen Sequenz von Napoleon-Darstellungen, die zumindest teilweise wohl Ignazio Vigoni gesammelt hat, und die heute im Treppenhaus der Villa Vigoni zu sehen sind. Mit der Verehrung Napoleons kam das französische Denken des 18. Jahrhunderts zur Geltung. Die Werke aller großen Philosophen, d.h. aller aufklärerischen Geister der damaligen Zeit finden sich in der Bibliothek. Von Mylius stammen sie nicht. Dieser Teil der Bibliothek paßt hingegen genau zum liberalen Teil des italienischen Risorgimento. Aus Briefen wissen wir, daß Ignazio Vigoni tatsächlich französische Bücher suchte und kaufte, sei es selber, sei es durch einen Freund, der sich oft in Paris aufhielt. Stolz berichtet er vom Erwerb zweier Ausgaben von Voltaire und Rousseau, die heute Teil der Bibliothek sind. Als letztes Beispiel für Vigonis Frankreich-Begeisterung sei ein Brief von Lafayette erwähnt, ein kurzes Billett eigentlich, das der berühmte General dem noch relativ jungen Vigoni zukommen ließ. Außerdem erhielt Ignazio ein Porträt des Revolutionshelden mit eigenhändiger Widmung.

Giulio Vigoni Aus der Ehe mit Luigia Vitali gingen insgesamt fünf Kinder hervor: Giulio (1837-1926), Enriquetta (1842-1897), Teresa (1844-1848), Giuseppe (1846-1914) und Teresa (1851-1932). Giulio (Abb. 15) und Giuseppe (Abb. 16), genannt »Pippo«, machten beachtliche politische Karrieren und gehörten zur Spitze der liberalkonservativen Partei. Der älteste Sohn von Luigia und Ignazio 8 erlebte in seiner Kindheit noch recht bewußt den familiären Kreis in Loveno, wie er zu Heinrich Mylius' Zeiten existierte. Er war bereits 17 Jahre, als der Großvater Heinrich starb. Man kann also davon ausgehen, daß ihm die deutsch-italienische Welt zumindest vertraut war, auch wenn er in Ausbildung und späterem beruflichem Engagement ganz Italiener war. 9 8

9

Die folgenden Informationen über Giulio basieren auf den erhaltenen Dokumenten, die Ursula Wagner-Kuon im A V V i n mehrwöchigen Arbeiten ausgewertet hat. Es ist in einer handschriftlichen Notiz von Ignazio Vigoni jun. ein Spruch des jungen Giulio Vigoni überliefert: »Sono un Mylius Vigoni.« Dieses Bekenntnis bleibt allerdings steril, weil er nicht mehr dieser Devise gemäß lebt.

Abb. 1: Johann Christoph Mylius (1715-1791)

Abb. 2: Katharina Dorothea Kraus (1728-1784)

Abb. 3: Heinrich Mylius (1769-1854) im Jahre 1819

Abb. 4: Friederike Mylius Schnauss (1771-1851)

Abb. 5: Im Vordergrund die Villa Mylius in Sesto San Giovanni. Von diesem Turm aus machte Oriani seine astronomischen Beobachtungen (Foto aus dem Jahre 1867)

Abb. 6: Julius Mylius (1800-1830); Lithographie von Francesco Hayez

Abb. 7: Luigia Mylius Vigoni, geb. Vitali (1809-1884)

Abb. 8: Georg Melchior Mylius (1795-1857)

Abb. 9: Heinrich Mylius kurz vor seinem Tod (Foto ca. 1851)

A b b . 10: Die Kinder von Heinrich Mylius junior: Sophie Elise (1817-1848), Fanny (1818-1910); untere Reihe: Albert (1823-1847), John Frederick (1826-1897), Henry (1829-1835), Marie Louise (1824-1862), Hermann (1822-1890)

Abb. 11: Ignazio Vigoni (1808-1860)

Abb. 12: Eduard Rüppell, der langjährige Freund des Hauses (Foto aus dem Jahre 1865)

Abb. 13: Diese Villa in Sesto San Giovanni, die aus dem 16. Jahrhundert stammt und der Familie Zappa gehörte, erhielten Ignazio und Luigia von Heinrich Mylius zur Hochzeit. Sie existiert nicht mehr.

Abb. 14 : Die Villa Vigoni i n S e s t o a m E n d e d e s l 9 . Jahrhunderts

Abb. 15: Giulio Vigoni (1837-1926)

Abb. 16: Giuseppe »Pippo« Vigoni (1846-1914)

Abb. 17: Der berühmte Salon der Vigonis im Palazzo Firmian der Via Fatebenefratelli, wo Mozart während seines Mailandaufenthalts spielte

Abb. 18: Julius Mylius (1835-1914)

Abb. 19: Friedrich Heinrich Mylius (1838-1891)

Abb. 20: Friedrich Heinrich geht 30jährig die zweite Ehe mit Anna Richard ein

Abb. 21: Anna Richard (1851-1939)

Abb. 22: Bei Gaetano Braga (1829-1907) erhielt Catulla Musikunterricht

Abb. 23: Blick in den Hof des Villino Mylius, wo die Familie von Friedrich Heinrich Mylius ab 1866 lebte

Abb. 29 und 30: Villino Mylius: Natur außen und innen: Einbindung klassizistischer Architektur ' Gartenlandschaft

Abb. 32: Aufstände in Mailand 1898 (Porta Garibaldi)

Abb. 34: Begräbnis Pippo Vigonis 1914 unter starker Beteiligung der Bevölkerung

Abb. 35: Pippo Vigoni mit seinem Sohn Ignazio 1905 in Loveno

Abb. 36: Pippo mit seinem Sohn und seinem Bruder

Abb. 38: Ignazio in Loveno im Juli 1915

Abb. 37: Catulla mit Ignazio, ca. 1908

Abb. 41: Ignazio in Davos 1930, vorne links die von ihm beschriebene Lucia Morawitz

Abb. 42: Ignazio als Soldat 1941

Abb. 43: Im Zentrum des Interesses von Ignazio Vigoni nach dem Krieg: die Villa Vigoni (Foto aus dem Jahre 1957)

Abb. 4 4 , 4 5 , 4 6 , 4 7 : Steinerne Zeugen einer lebendigen Tradition deutsch-italienischer Verständigung: Antonio Kramer, Eduard Rüppell, Gaetano Cattaneo, Alessandro Manzoni

Abb. 48: Im April 1964 besucht Konrad Adenauer Loveno

A b b . 49: Ignazio Vigoni trifft zu einem Gespräch mit ihm zusammen (siehe S. 138ff.)

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Besonders Servi und Riippell, den langjährigen Hausfreunden, muß er sehr verbunden gewesen sein. 1865 widmet ihm Rüppell ein fotographisches Porträt seiner selbst (Abb. 12), offenbar anläßlich eines Besuches in Sesto. Und noch 1896 schickt ihm ein Freund aus Frankfurt eine Münze zum Gedenken an den Geographen mit der Bemerkung: »Sapendo che tu con pietà d'amore tieni in gran conto tutte le memorie che si annodano al vecchio signor Enrico Mylius.« Und aus einem Brief vom 3.6.1885 geht hervor, daß ihn der Tod Giovanni Servis schwer getroffen haben muß. Seiner Ausbildung im Mailänder Ginnasio S. Alessandro folgte ein MathematikStudium in Pavia, das er mit dem Titel eines Ingegnere abschloß. 1858 kaufte er sich, genau wie vor ihm sein Vater, vom Militärdienst unter den Österreichern frei. Als es dann aber ein Jahr später um den Befreiungskrieg ging, verpflichtete er sich freiw illig. Und in nur zwei Jahren war der junge Soldat zum Capitano d'artiglieria aufgestiegen und wurde für seine Teilnahme an der Schlacht von 1859 mit einer »Medaglia commemorativa della campagna d'Italia« sowie für besondere Tapferkeit bei der Belagerung von Gaeta 1861 auf Seiten Garibaldis mit einer Silbermedaille ausgezeichnet. Bis zur Konstitutierung des ersten italienischen (zunächst norditalienischen) Nationalstaats 1866 nahm er an weiteren Schlachten teil und wurde dann 1872 im Rang eines Capitano in die regionale Miliz von Mailand aufgenommen. Das Interesse an militärischen Fragen und Problemen begleitete seinen weiteren beruflichen Werdegang - so ist er 1908—1910 Mitglied in einer Heeres-Untersuchungskommission und ab 1904 leitendes Mitglied der Società italiana per prodotti esplodenti in Mailand. Nach dem Einigungskrieg wandte sich Giulio der Politik zu. Bereits 1866 wurde er Bürgermeister seiner Geburtsstadt Sesto, der er viele Jahre lang in dieser Funktion vorstand. Im Jahre 1889 zog er als Deputierter ins römische Parlament ein und nur zwei Jahre später wurde er zum Senator ernannt. 10 Wie vorher in Sesto und dann als »consigliere provinciale« im Stadtrat von Mailand setzte er sich auch in seiner Zeit als Senator in Rom für eine Vielzahl von Projekten ein. Wie eng dabei persönliche Interessen mit politischem Engagement verknüpft sind, zeigt sich beispielsweise beim Problem der Wasserversorgung. Als Besitzer von Ländereien in Lodi bei Mailand hatte sich Giulio ab 1891 in leitender Funktion bei der »Congregazione del canale Muzza« für eine gerechte Verteilung der Adda-Gewässer eingesetzt. Mit dieser Erfahrung und Kompetenz engagierte er sich als Senator im Großprojekt eines Aquädukts in Apulien. 11 Ein weiteres nennenswertes Beschäftigungsfeld war die Verkehrspolitik, hier vor allem der Eisenbahnausbau. 1884—86 ist Giulio Mitglied der nur zweiköpfigen italienischen Delegation bei den internationalen Verhandlungen zur Finanzierung der Gotthard-Bahn; als italienischer Vertreter wohnt er 1905 dem Durchstich des Simplon-Tunnels bei. Für den öffentli-

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Dekret des Königs vom 20.11. 1891. Siehe hierzu seinen Artikel in der Nuova Antologia vom 10.12.1924.

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chen Verkehr in Mailand arbeitete er an Expertisen für die dann wenig später von seinem Bruder Pippo eingeführte Straßenbahn. Wollte man das vielfältige politische Engagement mit einem parteipolitischen Etikett versehen, so träfe wohl am ehesten das eines gemäßigten Liberalen zu. 1 2 Wie sein Vater stellte er als im Risorgimento engagierter Patriot das Wohl des Vaterlandes (das für ihn sebstverständlich in Form einer Monarchie organisiert war) über alle anderen Werte. Dem Aufstieg der faschistischen Partei stand der alte Giulio skeptisch gegenüber, auch wenn er wie viele seiner Zeitgenossen den ordnungspolitischen Effekt von Moussolinis Politik guthieß. Sein Neffe Ignazio berichtet in seinen Memoiren (siehe weiter unten S. 137) über ein Treffen mit Ettore Conti im Jahre 1925, während dem Conti den damaligen Alterspräsident des Senats zur Bildung einer antifaschistischen Organisation aufrief. Giulio soll diese Bitte mit dem Hinweis auf sein hohes Alter (er war 88 Jahre und starb ein Jahr später) abgelehnt haben. Allerdings trat er am 29. September 1925 einer Associazione liberale di Milano bei, die sich als Opposition zum Faschismus verstand. Über das Privatleben des Giulio Vigoni ist wenig bekannt. Zunächst lebte er mit seinen Eltern bis zum Tode von Heinrich Mylius in dessen Palast in der Via Clerici. Als Nachfolger seines Vaters war er ab 1870 Mitglied des Vorstands der Società d'Incoraggiamento, von 1911 bis 1920 deren Präsident. In Sesto San Giovanni scheint Giulio viel Zeit verbracht und politische Energie investiert zu haben. Nach 1854 - der Palast in Via Clerici wurde den Neffen Heinrich und Georg Melchior Mylius vererbt - wohnte die Familie Vigoni lange in der Via Fatebenefratelli 21. Ursprünglich wurde dieser Familiensitz von einem Grafen Melzi erbaut. Zu Zeiten Maria Teresas lebte dort Graf Firmian, und im Salon des Hauses spielte Mozart während seines Mailand-Aufenthalts. Der Salon war mit Fresken von Knoller ausgemalt (Abb. 17). Mitte des 19. Jahrhunderts hatte es Giulios Tante Teresa Cavazzi della Somaglia geb. Vigoni (1815—1888) erworben und es dann einer wohltätigen Organisation, den figli della provvidenza, vererbt. Diese verkaufte das Haus an Giulio sowie Pippo und den Mann der Schwester Teresa, Filippo Mannati. 1 3 Aber auch Loveno bedeutete Giulio viel. Der Kindergarten in Loveno, der nach Luigia Vigoni benannt ist, geht auf wesentliche Mitwirkung Giulios zurück, und gemeinsam mit seinem Bruder unterstützte er die örtliche Kirche bei ihrer Gemeindearbeit. Auch wenn Giulio ganz in die italienische Politik integriert war und persönlich nicht in Deutschland gewesen zu sein scheint, geht aus der umfangreichen erhaltenen Korrespondenz doch ein gewisses Interesse für die Familientradition hervor. So verbanden ihn enge Freundschaftsbande mit Otto de Neufville, den

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In einem Brief vom 17.10.1901 bittet ihn ein Freund, finanziell zum Aufbau eines Giornale d'Italia beizutragen, eines »organo serio e indipendente del partito temperato liberale«. Nach d e m Tod Giulios 1926 kam das Haus ganz in den Besitz der Mannati, 1938 schließlich wurde es an den Grafen Orsi Mangelli verkauft. 1943 wurde das Haus fast vollständig zerstört.

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Generalkonsul Italiens in Frankfurt und Ehemann von Evelyne Mylius.14 Dieser schickte ihm 1896 aus Frankfurt die ein Jahr vorher erschienene Familienchronik der Mylius, über die sich Giulio sehr freute. Neufville berichtet ihm noch mehrfach aus Frankfurt über Begebenheiten, die mit Heinrich Mylius' Frankfurter Herkunft zusammenhängen. Und als 1904 sein Bruder Pippo die Ehe mit Catulla Mylius, der Enkelin von Heinrich Mylius' Neffen Georg Melchior einging, Schloß sich der Kreis.

Pippo Vigoni Der Werdegang von Giulios Bruder Giuseppe liest sich, vor allem im Kontrast zu den ruhigen Bahnen von Giulios Biographie, wie ein Abenteuerroman. Am 9. Juli 1846 in Sesto geboren, zog er gerade 20jährig wie sein Bruder für das Vaterland in den Krieg. 1867 dann Schloß er seine unterbrochenen Studien in Bologna ab. 15 Wenig später begann Pippo eine Reihe von ausgedehnten, abenteuerlichen Reisen, die ihn in fast alle Erdteile führten: zunächst, in Gesellschaft des Archäologen Alfonso Garovaglio, nach Afrika, Ägypten, Syrien, Palästina (1867—69). Danach folgte eine lange Reise durch ganz Amerika (1872—1873), teils unter sehr unbequemen Bedingungen. Außerdem bereiste Pippo Asien, und zwar auf dem Landweg durch Rußland, Armenien, Persien, anschließend auf dem Seeweg bis Indien. Kleinere Reisen wie 1871 nach Paris, 1872 nach Sardienien ergänzten die weltweite Besichtigungstour. Von einer Reise nach Deutschland ist bemerkenswerter Weise nichts bekannt. Was trieb den noch recht jungen Vigoni in die Ferne? Zunächst einmal mag das Beispiel des berühmten Geographen Eduard Rüppell als Vorbild gedient haben, der ihm von seinen ausgedehnten Reisen sicherlich, glaubt man dem literarischen Stil seiner Reisebeschreibungen, packend erzählen konnte. Abgesehen von diesem biographischen Ursprung war ausschlaggebend, daß Pippo Vigoni ein ungemein aktiver Mensch war, eine leidenschaftliche Natur. Das Engagement, mit dem er die unzähligen Länder durchreiste, war nicht (nur) das eines Touristen. In zahlreichen Berichten von seinen Reisen16 wird deutlich, daß die verschiedensten Motive eine Rolle spielten. Die physisch-psychische Herausforderung, 17 das Interesse an ethni14 15

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Evelyne (1856—1936) war Enkelin von Heinrich Mylius jun. Pippo studierte Mathematik in Turin und Pavia, in Bologna Schloß er 1867 im Fach »ingegneria civile e architettura« ab. Abgesehen von der berühmten Abessinien-Reise (Mailand 1881) seien hier stellvertretend genannt: »Per monti e per valli. Ricordi e confronti«, in: Universo. Geografia per tutti, Mailand 1898; Al di là del Giordano (gemeinsam mit A. Garovaglio), Roma 1884; »L'Italia e l'Islam in Libia«, in: L'esplorazione commerciale, Vol. XXVIII, 1913, S. 4 1 - 4 4 ; »Tripolitania e Cirenaica«, in: L'esplorazione commerciale 1911, 20 S; Massana e il Nord dell'Abissinia, Mailand 1888. Pippo war seit 1875 aktives Mitglied des italienischen Alpenvereins und später dessen Vizepräsident.

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sehen Differenzen, ein waches Auge für politische und ökonomische Möglichkeiten, und nicht zuletzt eine große Neugierde für alles Unbekannte. Als Pippo allmählich in Italien seßhaft wurde, nutzte er die Erfahrungen seiner Reisen, um seinen Weg in die damalige italienische Politik zu finden. Die zwar nicht längste, aber berühmteste seiner Reisen wurde die nach Abessinien im Jahre 1879.18 Der anschließend verfaßte Reisebericht in Buchform wurde ein wichtiger Text in der italienischen Diskussion um die Kolonialpolitik. Und gerade auf diesem Feld machte sich Vigoni einen Namen. 1 9 1885 wurde er Präsident der Società italiana di esplorazioni geografiche, einer Gesellschaft, die aufs engste mit kolonialistischen Kreisen der italienischen Politik und Wirtschaft verbunden war. Er blieb ihr Präsident bis zu seinem Tode im Jahre 1914. Als zu Beginn des Jahrhunderts die Besetzung Libyens erwogen wurde, redete er als Senator (zu dem er 1900 ernannt worden war) einer nicht militärisch-abenteuerlichen, wohl aber energischen Intervention das Wort: es gelte, so sagte er, »alle Vorkehrungen« zu treffen, »die geeignet sind, die Handelskontakte zu erweitern und zu beleben sowie das Bewußtsein der Italianität zu fördern«. 2 0 Neben dieser nationalpolitischen Linie, die ihn der sogenannen »gemäßigten« Partei zugehörig zeigt, steht die lokalpolitische Aktivität Pippos. Nach langjähriger Tätigkeit als Stadtrat in der Verwaltung Mailands wurde Pippo Vigoni 1892 zum Bürgermeister gewählt und blieb mit einer kurzen Unterbrechung bis 1899 im Amt. 2 1 Sowohl die unglaubliche Reiselust als auch die politische Betätigung Pippos lassen eines unschwer erkennen: Der Bezug zur deutschen Kultur und Sprache spielte in seinem Leben keine entscheidende Rolle. Das kosmopolitische Element der Aufklärung, dem Mylius verpflichtet war, hatte in der Generation Ignazios Ausprägung im politischen Befreiungskampf gefunden. Nun aber wurde der Patriotismus zum Nationalismus. Die anderen europäischen Staaten, vor allem England und Frankreich, waren Konkurrenten im Streit um gewinnträchtige Kolonien. Die Italianität hatte den ersten Rang in der Werteskala des Politikers Pippo Vigoni inne. Auch der Teil der Bibliothek, der auf Pippo zurückgeht, zeigt das Profil eines Ethnologen und Politikers, nicht das eines literarisch geschulten Europäers. Und obwohl alles darauf hindeutet, daß mit Pippo die Abkoppelung von der deutsch-italienischen Familientradition vollzogen wurde, so verdanken wir es doch gerade ihm, daß heute eine Tradition lebendig blieb, die eben nicht eng nationalistisch war. Wir verdanken es dem Menschen Pippo, der sich schon in fortgeschritte18

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Eduard Riippell hatte 1838/40 ebenfalls einen sogar zweibändigen Reisebericht über Abessinien veröffentlicht und ihn Heinrich Mylius gewidmet (Senior). Ein Exemplar mit dem Ex libris des Neffen Heinrich (Junior) befindet sich in der Bibliothek der Villa Vigoni. Pippo Vigoni regte die Veröffentlichung von zwei kolonialistischen Werken an und verfaßte selbst die Vorworte dazu : Paolo Revelli : Manuale coloniale, Mailand 1914 und Pionieri italiani in Libia. »Tutti i provvedimenti ( . . . ) atti a creare ed a ravvivare la corrente d'affari e ad affermare il sentimento di italianità.« Siehe den Beitrag von Maurizio Punzo.

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nem Alter, fast 60jährig, entschloß, eine Familie zu gründen. Seine Wahl fiel auf eine knapp 30jährige Frau aus bester Mailänder Familie, ihr Name: Catulla Mylius. In rührenden Briefen bemüht sich Pippo um die wesentlich jüngere Frau, und es gelingt ihm, ihre Zuneigung zu gewinnen. Catulla ihrerseits, so will es jedenfalls die mündliche Überlieferung, war von dem weitgereisten und erfolgreichen Pippo fasziniert. Die 1904 geschlossene Ehe 22 war kurz, aber für beide Seiten glücklich, wenn man den zahlreich erhaltenen Briefen glauben darf. Catulla Mylius stammte aus genau derselben Familie Mylius, unter deren Ahnherren Enrico Pippo aufgewachsen war.

Federico Enrico Mylius Wenden wir uns nun der Mylius-Linie zu. Georg Melchior (1795—1857, Abb. 8) und Heinrich (1792—1862, Abb. 10) hatten als Universalerben sowohl die Geschäfte als auch das Stammhaus in der Via Clerici sowie die Villa in Sesto übernommen. Georg hatte insofern ältere Rechte in der Firma, als er schon im Jahre 1818 in Mailand aktiv wurde, wogegen der ganz nach England orientierte Heinrich erst 1837 nach Mailand kam. 23 Georg erwarb für sich und seine Familie24 in Blevio, einem Vorort von Como, eine Villa, die er ab 1848 umbauen und vom Architekten Gottfried Semper ausstatten ließ. 25 Noch zu Lebzeiten von Heinrich Mylius war Georg Melchior zum Vorstandsmitglied der Società d'Incoraggiamento gewählt worden, ein Amt, das er von 1841 bis 1850 ausübte. Von Georgs Aktivitäten als Kunstmäzen ist wenig bekannt. Da er seinen Onkel nur um wenige Jahre überlebte, konnte er kein eigenständiges Konzept entwickeln. Bekannt geworden in Mailänder Kunstkreisen ist er als Sammler 22

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Daß Pippo in recht hohem Alter doch noch eine Ehe einging, verstimmte die Familie seiner Schwester Teresa, die deren Sohn als Universalerben vorgesehen hatte. Mit 20 Jahren ging er von Frankfurt nach England, wohl erst nach London. Dort wurde er englischer Staatsbürger und heiratete am 15.1. 1816 Sophie Mennet (1796 Paris—1874 Mailand). Seine Nachfahren blieben stark an England und später an den USA orientiert. Georg hatte am 15.7.1833 in Frankfurt die Tochter seines Bruders Heinrich geheiratet, die gerade 16 Jahre alt war. Von den sechs Kindern wurden nur drei älter als fünf Jahre. Seine Frau Sophie Elise starb bereits 1848, und Georg heiratete in zweiter Ehe 55jährig die Tochter des Bankiers Vonwiller, die 26 Jahre alt war. Über die Villa in Blevio informiert ein kurzer Artikel in Ville e Castelli d'Italia, Mailand 1907, Band über Lombardia e Laghi, dort auch die Semper-Erwähnung. Wann genau diese Bearbeitung stattgefunden haben soll ist unklar, wahrscheinlich jedenfalls dürfte sich Semper erst nach Rückkehr aus Frankreich und dem Beginn seiner Tätigkeit in der Schweiz für eine Arbeit am Comer See zur Verfügung gestellt haben. Federico Enrico, dem die Villa nach dem Tode seines Vaters gehörte, übertrug sie seiner Stiefmutter Sophie Vonwiller in der festen Annahme, nach deren Tod die Villa ohnehin zurück zu erhalten. 1895 jedoch vererbte diese den Besitz an die Familie Cramer, die über Federicos Schwester Eleonora in die Familie eingeheiratet hatte. Familienintern wurde die Angelegenheit stets als Erbschleicherei angesehen. Cramer verkaufte die Villa wenig später.

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von bronzenen und eisernen Türklopfern, seine Sammlung fand noch Jahrzehnte nach seinem Tod Beachtung. 2 6 Auch die noch 1929 im Palazzo der Via Clerici erhaltene Gemäldesammlung läßt den Schluß zu, Georg Melchior und Heinrich hätten die Sammlertätigkeit des Onkels fortgesetzt. Im Einzelfall ist schwierig zu entscheiden, ob Georg Melchior oder seine Söhne Giulio bzw. Federico Enrico Käufer der Bilder waren. Jedenfalls zeigt die ca. 320 Gemälde umfassende Sammlung Schwerpunkte, die nicht auf Heinrich Mylius sen. zurückgehen können. Vor allem Eleuterio Pagliano 27 scheint zum Hausmaler avanciert zu sein, er übernahm in gewissem Sinne die Funktion von Francesco Hayez als Porträtist der Familie. Besondere Schwerpunkte der Sammlung waren die Mailänder Maler Mosé Bianchi und Pompeo Mariani sowie eine beachtliche Menge flämischer und holländischer Maler (van Muyden, Achenbach, Andreas Schelfhout ist mit 10 Gemälden vertreten). Die junge Witwe von Georg Melchior machte nach dessen Tod 1857 die Häuser in Blevio und der Via Clerici zu brillanten Zentren gesellschaftlichen Lebens. 28 Ihre Söhne Julius (1835-1914, Abb. 18) und Friedrich Heinrich (1838-1891, Abb. 19, 20) hatten indessen die Geschäfte vom Vater übernommen. Der Generationswechsel blieb nicht ohne tiefgreifende Folgen in der Struktur des Unternehmens. 1861 zog sich Giorgio Zorn aus dem Unternehmen zurück. Giulio Mylius nahm seine Stelle ein und 1863 taucht auch sein Bruder in den Dokumenten als Teilhaber auf. 1872 dann löste Giovanni Federico, 29 Sohn von Heinrich jun., seine Genueser Anteile an der Firma heraus und leitete die einstige Filiale nun als unabhängiges Unternehmen. Aber damit nicht genug, auch der Mailänder Kern des mühsam von Heinrich Mylius zusammen gehaltenen Unternehmens sollte zerfallen. Wegen persönlicher und charakterlicher Differenzen trennten Giulio und Federico Enrico 1879 die verschiedenen Bereiche des florierenden Unternehmens und zerbrachen damit die Einheit, die Heinrich Mylius in kluger Strategie herbeigeführt hatte. Sie beschlossen, das Geschäft allein auf Giulio laufen zu lassen. Sein Bruder gründete mit diesem Datum eine eigene Firma, die Baumwolle herstellte und vertrieb.

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A. Balletti: La collezione Giorgio Mylius di battenti inferro ed in bronzo: note illustrative, Mailand: Allegretti 1905. Francesco Malaguzzi-Valeri: «Una collezione di antichi battenti in ferro e in bronzo a Milano«, in Illustrazione Italiana 1905, Nr. 30, S. 8 4 - 85. Von Pagliano (1826-1903) sind Porträts von Federico Enrico, Agnes und deren Schwester Sophie bekannt. Insgesamt verzeichnet die Inventarliste 23 Gemälde von Pagliano. Bei ihrem Begräbnis wird ihr Wirken gewürdigt: »Straniera die origine, tu amavi la tua seconda patria come noi l'amiamo; e se nell'accento tu conservavi ancora una lontana nota del natio tuo idioma, era tutto quanto Ambrosiano il tuo cuore, erano italiane e milanesi le tue abitudini, la tua vita. Tu avevi fatto della tua casa ospitale, per lungo volgere d'anni, il lieto ritrovo della gioventù e della eleganza, il nido dell'arte più squisita.« (Leopoldo Pullé: A raccolta. Articoli e recensioni. Discorsi. Commemorazioni. Poesie. Conferenze. Prose varie. Mailand 1911, S. 292) Er war auf den Namen John Frederick getauft worden (1826-1897). Als Erbe der Anteile von Heinrich jun. machte er sich mit seinen Genueser Anteilen an der Firma selbständig und lebte von da an in Genua. Eine Myliusstraße ist dort nach ihm benannt.

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Giulio, der 1860 Eugenie Marie Schmutziger geheiratet hatte, blieb im großen Haus der Via Clerici, während sein Bruder sich ab 1865 in der Via Montebello einen eigenen Palast errichten ließ (siehe hierzu den Beitrag von C. Cenedella und die Abb. 23 , 27—30). Giulio trat außerhalb seiner wirtschaftlichen Aktivitäten im kulturellen Leben Mailands nicht in Erscheinung - ganz anders Federico Enrico. Vor allem ihm ist es zu verdanken, daß die deutsch-italienische Erziehung in länderübergreifende Kulturförderung mündete und somit die Familientradition in diesem Punkt lebendig blieb. 30 Wie sein älterer Bruder Giulio wurde er zunächst von einem Prof. Fresenius im Hause unterrichtet und dann mit 8 Jahren nach Weinheim geschickt. Dort und in Elberfeld reichte seine Ausbildung bis zum Abitur. Aus der frühen Jugend Friedrichs sind zahlreiche Reisetagebücher erhalten, die er auf Reisen mit Lehrern und Mitschülern verfaßt hat. 31 Im Tagebuch der Reise nach Mailand aus dem Jahre 1850 beschreibt er, wie er auf der Durchreise in Loveno im Hause seines Großonkels Heinrich Station machte und von diesem und »Tante Luise« freundlich empfangen und bewirtet wurde. Anschließend hielt er sich in Blevio auf, wo sein Vater wenige Jahre vorher die Villa erworben hatte. Die Tagebücher sind vor allem mit Landschaftsbeschreibungen und Berichten über den Tagesablauf gefüllt, daneben finden sich schöne Zeichnungen malerischer Punkte. Nach dem Abitur besuchte er ab 1855 die Universität Heidelberg zum Medizinstudium. Als 1857 sein Vater starb und ihm gemeinsam mit seinem Bruder die Übernahme der Geschäfte angetragen wurde, ging er nach Antwerpen und besuchte dort eine Handelsschule. 1859 war er in London in einem Handelshaus angestellt, 1863 schließlich wurde er in den Vorstand des Hauses Enrico Mylius berufen. Die wahrlich europäische Ausbildung fiel bei ihm auf einen fruchtbaren Boden. Sein Name war in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Mailand synonym mit Kulturförderung und einer Vielzahl von Initiativen, die ihn als würdigen Nachfahren von Heinrich Mylius ausweisen. 1870 etwa gründete er den Deutschen Hilfsverein in Mailand und blieb 10 Jahre lang dessen Präsident. Besondere Verdienste um die Kunstförderung aber erwarb er sich durch die Gründung einer Gesellschaft, die den Bau eines eigenen Kunst-Palastes für die Esposizione permanente in Mailand im Jahre 1881 betrieb. Die Zeitgenossen honorierten sein Engagement. In einer Publikation Milano e l'esposizione italiana del 1881 heißt es: »II

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Die folgenden Ausführungen basieren z.T. auf den Vorarbeiten von U. Wagner-Kuon. Federico Enrico trat als Verfasser einer kunsthistorischen Reisebeschreibung in Erscheinung (Acht Tage in Holland. Reisenotizen Uber das Land und seine Kunstschätze. Mit Illustrationen nach Zeichnungen des Verfassers, Mailand 1878). 1847,1848,1850 nach Mailand!, 1851 in den Harz, 1852 in die Schweiz. Dann gibt es wieder Reiseaufzeichnungen, die er anläßlich von Ausflügen von Mailand aus mit Geschäftsfreunden gemacht hatte. Sie stammen aus der Zeit seiner zweiten Ehe mit Anna Richard, mit der er drei Kinder bekam.

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Mylius è un mecenate dell'arte. ( . . .)I1 Mylius è un esempio di quegli uomini i quali fra le pratiche commerciali tengono desto il sacro culto del bello.« 32 Mehr als 15 Jahre lang blieb er Präsident dieser Gesellschaft. Der Tradition seines Großonkels folgend, stiftete er testamentarisch in Besnati eine Kleinkinderschule. Als Kaiser Wilhelm I. 1875 nach Mailand kam, überreichte ihm Friedrich Heinrich mit einigen anderen in Mailand ansässigen Deutschen eine silberne Gedenkplatte, deren Ausführung er beaufsichtigt hatte. 1887 war ihm die italienische Staatsbürgerschaft verliehen worden. Seine zweite Frau Anna Richard (Abb. 21) stammte aus einer französisch-schweizerischen Familie, sprach selbstverständlich französisch und war zudem Protestantin. Sie hatte den Villino Mylius zu einem bedeutenden Treffpunkt der kulturellen und vor allem musikalischen Szene Mailands gemacht, hatte neben den deutschen Beziehungen ihres Mannes ein enges Netz künstlerischer Kontakte auch in den italienischen Kreisen aufgebaut. Ab den späten 60er Jahren galt der Salon Mylius als einer der bedeutendsten Musiksalons der Mailänder Kunstszene. 33 Diese Jahre fallen mit der großen Zeit Verdis zusammen. Aber auch in der Generation seiner Schüler war der Villino Mylius ein Begriff. So erhielt die Tochter Catulla zunächst Klavierunterricht bei Consolo, dann bei Braga (Abb. 22) und gab zwischen 1900 und 1906 mehrere Konzerte im Salon ihrer Mutter. Jeden Montag war im Salon Mylius in der Via Montebello Gesellschaftstag. Die Ausbildung der drei Kinder (Abb. 24, 25, 26) erfolgte nach dem alten Schema: Grundausbildung im Hause, höhere Bildung, und, für den männlichen Nachfahren, wirtschaftliche Ausbildung in England (1891—92). Als die Töchter ins heiratsfähige Alter kamen, wurden wohlklingende italienische Namen als mögliche Partner gehandelt. Camilla heiratete Teodoro di Castelnuovo, Catulla bekanntlich Pippo Vigoni, der damals schon Bürgermeister Mailands gewesen war und nun als Senator in Rom wirkte. Bezüglich der stets delikaten Frage der religiösen Erziehung der zukünftigen Enkel ist Anna Richard, auch dies ist eine gute Tradition, sehr tolerant. Nach dem Tode des Vaters übernahm Georg die Geschäfte. 1908 kaufte er die Villa Mylius in Varese. 34 Schlechte Beratung und wenig Geschick im wirtschaftlichen Handeln führten zu einem panikartigen Verkauf seines gesamten industriellen Besitzes in der Baumwollkrise nach dem ersten Weltkrieg. Mit den Unsummen Geldes, die er nun zu verwalten hatte, kam er genauso wenig zurecht. Sein einziger Sohn Enrico starb zudem 1926. 1935 begeht Giorgio Mylius in der fälschlichen Annahme, er sei wirtschaftlich ruiniert, Selbstmord. Nur zwei Jahre später ist seine Witwe gezwungen, das Haus in der Via Montebello wegen der faschistischen

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S. 40. Und weiter über ihn: »Nato a Milano, studiò all'università di Eidelberga (sic), poi apprese la technica del commercio nel Belgio, quindi la pratica a Londra.« Siehe hierzu Storia di Milano Bd. XVI, S. 706. Das Haus existiert heute noch. Insgesamt gab es also mindestens 6 Paläste bzw. Villen, die den Namen Mylius trugen: Via Clerici in Mailand, Sesto, Loveno, Blevio, Genua, Varese.

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Stadtplanung zu verkaufen. Ein glanzvolles Kapitel des Mailänder Fin de siècle ging zu Ende.

Fazit Was war von Heinrich Mylius' »Imperium« noch geblieben? Sein Großneffe Giulio vererbte bei seinem Tod 1914 die Bank und das Haus in der Via Clerici seinem einzigen Kind, der Tochter Agnese. 35 Agnese war somit 1915 alleinige Besitzerin der Firma und da sie sich herzlich wenig für wirtschaftliche Fragen interessierte, übertrug sie ihre Rechte einem Prokuratoren, Angelo Maria Cornelio. Im Annuario delle banche italiane von 1917—18 ist die Bank noch als Privatbank verzeichnet, in der Ausgabe 1921—22 allerdings nicht mehr. Während die wenig nach Mylius' Bank gegründete Banca Vonwiller nach dem Krieg 1920 an die Börse ging und das Grundkapital auf 20 Millionen Lire aufstockte, scheint Mylius einfach aufgekauft worden zu sein. 36 Als Agnese 1927 starb, vererbte sie zum großen Ärger der übrigen Familienmitglieder das Haus mit den schier unermeßlichen Kunstschätzen einem Cousin mütterlicherseits, Max Arthur Scheuermann. Als dieser kurz darauf selber stirbt, geht der Palast in der Via Clerici samt den Kunstschätzen in den Besitz der Stadt Genf über. 37 Die erhaltenen Inventarlisten zeigen, daß ein Großteil der seit Heinrich Mylius' Zeiten angesammelten Kunstschätze noch im Familienbesitz war. Ein Teil wurde von Genfer Museen übernommen, zahlreiche Objekte wurden in einer öffentlichen Versteigerung 1929 in Mailand veräußert. Hier gelang es Ignazio Vigoni, einige für die Familientradition besonders wichtige Stück zurückzukaufen, so etwa das berühmte Gemälde von Migliara, La filanda Mylius a Boffolora. Wenig war erhalten worden. Das wirtschaftliche Imperium hatte durch Teilung die Anpassung an die schnelle Modernisierung und die Wirtschaftskrise nach dem ersten Weltkrieg nicht überstanden, obwohl die Ausgangsbedingungen alles andere als schlecht waren. Während bis zum Tode von Federico Enrico 1891 bzw. von Sophia Vonwiller-Mylius 1895 die elegante Künstlerwelt des Decadentismo in der Familie Mylius bedeutende Förderer fand, konnte keines der Kinder an diese großartige Tradition anknüpfen. Nur in Loveno konnte dank der Heirat von Pippo Vigoni und Catulla Mylius die Kontinuität gewahrt bleiben. Pippo hatte bis zu seinem achten Lebensjahr noch selbst den alten Mylius dort erlebt und sich zeit

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Eine Schwester Sophie Anna war 1881 im Alter von nur 18 Jahren gestorben. Von wem? Evtl. von der Banca Ferri, die 1928 in der Via Clerici im 1. Stock eingemietet war, der Vertrag ging bis 1932. Oder von dem Banco Ambrosiano, der in Via Clerici 2 seinen Sitz hatte und den Palast über eine Società Immobiliare I.C. O. (Olivetti) erwarb. Jedenfalls hat Mylius + co. die Bankenkrise nach dem Krieg nicht überstanden. Die Akten dieser Erbschaft befinden sich im Stadtarchiv Genf, Dossier 03.AC.2683. An dieser Stelle sei Fabia Christen für ihre freundliche Mithilfe bei den Recherchen gedankt.

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seines Lebens, wie sein Bruder Giulio, an das Haus gebunden gefühlt. Catulla war mehrsprachig aufgewachsen und bemühte sich, in der Erziehung ihres einzigen Sohnes Ignazio das Bewußtsein der deutsch-italienischen Familie lebendig zu halten.

Wolfgang

Altgeld

(Karlsruhe)

Einige Beobachtungen zum deutschen politischen Italieninteresse vor 1870*

Es ist eine lange weitverbreitete, wenn nicht allgemeine Auffassung gewesen, daß sich die Deutschen vor 1848/49 für die politische Situation und Entwicklung Italiens kaum oder gar nicht interessiert haben: Das auf Goethe und andere hervorragende Vertreter deutscher Klassik und Romantik zurückgehende Italieninteresse habe den kulturellen Zeugnissen längst vergangener Zeiten, den Überresten antiker, hochmittelalterlicher und barocker Kunst und Baukunst, daneben noch dem vermeintlich unbeschwerten, freien italienischen Volksleben unter südlicher Sonne gegolten. Im Angesicht »der Reste von Monumenten und in volkstümlichen Sitten< (Croce) sei nach dem idealen Menschentum gesucht und dessen Aneignung im Zuge der individuellen >Selbstbildung< unternommen worden. Die Italienreise als Selbstbildungsreise, als konstitutives Moment in der Ausbildung der eigenen Individualität konnte deshalb, ja, mußte sogar von der Auseinandersetzung mit den politischen und sozialen Verhältnissen Italiens absehen - und dies umso leichter, als das Land und seine Menschen als der »Moderne abgestorben (Burckhardt) galten. Auf die Quellen klassisch-romantischer Italienbegeisterung und -sehnsucht (»Sehnsucht nach Italien«: so oder so ähnlich viele Buchtitel) wurde seither fast allein

* Der folgende Abriß beruht für die Zeit bis 1848 zunächst auf meiner Studie Das politische Italienbild der Deutschen zwischen Aufklärung und europäischer Revolution von 1848, Tübingen 1984 sowie auf meinen Aufsätzen »Zur Rezeption der Risorgimento-Literatur in Deutschland vor 1848, in: REHIC 3 (1982), S. 13—32«, »Giuseppe Garibaldi in zeitgenössischer Sicht von der Verteidigung Roms bis zur Niederlage bei Mentana (1848-1867): ebd., S. 169-199«, »Giuseppe Mazzini und Gottfried Kinkel (zusammen mit K.-H. Lucas), in: Jb. des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 2 (1985), S. 221-260«. Eine erste Übersicht aufgrund der Vorstudien zu meiner dann im Tübinger Verlag Niemeyer erschienenen Passauer Dissertation durfte ich im Trienter Institut schon vor über einem Jahrzehnt geben: »II movimento italiano per l'indipendenza e l'unità prima del 1848, visto dai liberali tedeschi in: Il Liberalismo in Italia e in Germania . . . , hg. von R.Lill/N.Matteucci, Bologna 1980, S. 347 —374«. Vgl. außerdem besonders Rudolf Lili, »Italia e Germania nel periodo della restaurazione«, in: Atti del XLVII congresso del Risorgimento italiano, Cosenza 1974, Rom 1976, S. 133-144; Sandro Bortolotti, »La stampa germanica nei riguardi del movimento nazionale italiano negli anni 1841-1847«, in: RSDR 25 (1938), S. 519-530; die einschlägigen Abschnitte in Franco Venturi, »L'Italia fuori d'Italia«, in: Storia d'Italia, Bd. 3: Dal primo Settecento all'Unità, Turin 1973, S.985-1481. Einige Aspekte deutscher Sicht der mittelalterlichen Geschichte Italiens im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts habe ich mit »Deutsche Romantik und Geschichte Italiens im Mittelalter«, in: Das Mittelalter im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland, hg. von R.Elze/ P. Schiera, Bologna - Berlin 1988, S. 193 - 2 2 0 behandelt.

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zurückgegriffen, wenn über die Bedeutung der deutschen Begegnung mit Italien in der neuesten Geschichte nachgedacht worden ist. Dabei konnte diese Annäherungsweise sowohl als Beleg einer besonderen kulturellen geistigen Begabung und humanen Vorrangstellung des deutschen Geistes wie umgekehrt als Hinweis auf einen gefährlichen, weil nur vermeintlich >unpolitischen< Geist der Deutschen und besonders des deutschen Bürgertums bewertet werden.

Ausmaß und Grundlagen der deutschen politischen Auseinandersetzung mit Italien 1814/15 bis 1848 Nun erweist freilich die Untersuchung der im eigentlichen Sinne politischen Literatur - die Untersuchung von Zeitungen und Zeitschriften, von politischen Broschüren und zeitgeschichtlicher Literatur, darunter manche Übersetzungen aus dem Italienischen, von lexikalischen Werken - , daß die politischen, sozialen, auch die wirtschaftlichen Probleme Italiens die deutsche Öffentlichkeit durchaus interessiert haben. Eine solche Feststellung bedeutet keine Verkennung der geistesgeschichtlich prägenden Wirkung jener klassisch-romantischen >unpolitischen< Italienbegegnung. Allein schon die Mühsal der Rekonstruktion des zwischen Aufklärung und europäischen Revolutionen von 1848/49 manchmal überwältigend großen politischen Italieninteresses gegenüber dem bis heute immer wieder bearbeiteten, zitierten, in Anthologien ausgebreiteten klassisch-romantischen Italienbild läßt jene immense Wirkung in der deutschen bildungsbürgerlichen Kulturgeschichte ermessen! Aber es ist eben doch so gewesen, daß parallel zu diesem Interesse sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, in der Spätaufklärung, ein neuartiges politisches Interesse an Italien ausgebildet hat. Das Vergessen jenes politischen, die einseitige Bewahrung des Italienbildes der Klassiker und Romantiker sind Symptome einer erst später durchschlagenden Idealisierung des >Unpolitischen< - und andererseits zum Teil auch das Resultat einer gewandelten Politikauffassung seit der Reichsgründungszeit, aufgrund derer dann z.B. Treitschke die inzwischen allerdings überholten älteren politischen Italienbilder als Ausdruck >unpolitischer< Politikbegriffe abgetan und diese unvermittelt in den großen Topf der apolitischen >schöngeistigen< Italienliteratur geworfen hat. 1

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»Die hochbegabte Nation galt in der Welt als ein Volk von Knechten, reich an Witz und Arglist, unfähig zu freiem Bürgerleben; die deutschen Blätter vornehmlich versündigten sich schwer an dem Nachbarlande, beteten gläubig alle Lügen der österreichischen Presse nach. Tausende von Fremden durchstreiften alljährlich die Halbinsel, bildeten sich ihr Urteil nach dem geschäftigen Völkchen der Facchini und Ciceroni, das sie feilschend umdrängte. Sie kamen in das Land der Myrten und Orangen, um auszuruhen von ihren schweren nordischen Gedanken, um die Pracht der Natur und der alten Kunst zu bewundern. Für die fürchterliche Prosa der italienischen Gegenwart hatte niemand ein Auge.« Heinrich von Treitschke, »Cavour« (zuerst 1869), in: ders., Historische und politische Aufsätze, Bd. 2, Leipzig s1921, S. 236-392, S. 242f.

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Neben dem allgemeinen Motiv aufgeklärt-politischer Weltaneignung, welches später im Bewußtsein gemeineuropäischer Probleme zwischen Fortschritt und Reaktion aufgehoben blieb, war der Aspekt der Vergleichbarkeit der deutschen und italienischen Situation - besonders im Hinblick auf die beiden westeuropäischen Großstaaten England und Frankreich - von Anfang an ein bedeutsames Stimulans des politischen Italieninteresses. Es scheint jedoch gerade dieses Wissen um die zumindest partielle Vergleichbarkeit die auch im Ganzen vorherrschende Tendenz einer eher distanzierenden und oft betont pessimistischen Ausmalung des politischen Italienbildes provoziert zu haben: Deutschland und Italien galten also in mancher Hinsicht für vergleichbar. Die deutschen Beobachter hielten die eigene Nation aber in allen wesentlichen Beziehungen für fortgeschrittener oder besser veranlagt, und so dienten düstere Situationsbeschreibungen und Prognosen wohl auch der deutschen Selbstvergewisserung. Das Thema der italienischen Dekadenz, des soziopolitischen und moralischen Verfalls der Italiener, ist bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert, noch vor der Französischen Revolution und übrigens vor allem im Anschluß an in England geführte Debatten gründlich entwickelt worden. Die These von der politischmoralischen Dekadenz Italiens, dabei insonderheit die der bürgerlichen Immoralität der Volksmassen, wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer aufgegriffen, wenn es galt, gegen bestimmte verfassungs- und nationalpolitische Bewegungen in Italien zu argumentieren - sowohl von Konservativen, etwa von Gentz und Metternich, wie späterhin dann auch von liberalnationalen Publizisten. Sie begründete Skepsis auch bei jenen - häufig wohl besser gesagt: sollte opportune Skepsis begründen helfen - , welche im Grundsatz vorbehaltlos die italienischen Freiheits-, Einheits- und Unabhängigkeitsforderungen zu akzeptieren bereit waren, so etwa bei E.M.Arndt oder Mittermaier. In den konservativen Argumentationen wurde nach historischen Ursachen und Gründen der unterstellten Dekadenz freilich nur selten gefragt. Deren >Erforschung< spielte hingegen bei allen deutschen Kritikern der bestehenden Ordnung eine zentrale Rolle: Neben, aber oft auch im Gegensatz zu historisch-anthropologischen, teils mit klimatologischen Vermutungen angereicherten Theorien über den unvermeidlichen Fall einstiger Hochkulturen sowie völkerpsychologischen Thesen eines überhistorischen individualistischen, in der Moderne asozial und apolitisch sich auswirkenden italienischen Nationalcharakters wurden auf dieser Seite einerseits der soziale und politische Einfluß der katholischen Kirche, andererseits korrupte und korrumpierende Regierungen für den gegenwärtigen Verfall verantwortlich gemacht. Letzteres ist von einigen nationalistischen deutschen Publizisten mit der These einer besonders demoralisierenden Wirkung der Unterwerfung unter fremde Herrschaft und fremde Interessen verbunden worden. Die italienische Nation als politische Un-Nation! Aus unterschiedlichen Auffassungen der Ursachen ergaben sich unterschiedliche Ideen zur Lösung der italienischen Probleme. Konservative, die äußerstenfalls sehr weit zurückliegende Verursachungen erkennen wollten, bestanden auf der Notwendigkeit bloß allmählicher,

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einzelner R e f o r m e n ; j e d e r Radikalismus, j e d e B e s c h l e u n i g u n g , gar R e v o l u t i o n m u ß t e n ins C h a o s f ü h r e n . 2 Gemäßigte Liberale - auch sie ängstigte das M e n e t e k e l einer italienischen R e v o l u t i o n , sie zeichneten es aber o f t g e n u g , u m dadurch die A u f g a b e durchgreifender Reformpolitik zu b e s c h w ö r e n - teilten diese A u f f a s s u n g recht weit, b e t o n t e n j e d o c h die Notwendigkeit der Zurückdrängung der katholischkirchlichen Einflüsse auf das öffentliche L e b e n , 3 v o n Regierungs- und Verwaltungsreformen, der Einführung rechtsstaatlicher Verhältnisse s o w i e besonders v o n B i l d u n g s r e f o r m e n , 4 darüberhinaus die Erforderlichkeit einer l o c k e r e n staatenbündischen Vereinigung Italiens, in den 1840er Jahren mehr n o c h die Nützlichkeit einer wirtschafts- und handelspolitischen Einigung nach d e m Vorbild d e s »Zollvereins«. W e r h i n g e g e n die italienischen Fürsten u n d R e g i e r u n g e n s o w i e die repressive österreichische Interventionsmacht hinter ihnen für alle Mißstände verantwortlich m a c h t e , k o n n t e nur, w i e A d o l f Stahr, 5 auf e i n e totale politische R e v o l u t i o n h o f f e n .

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»Ein Volk, halb barbarisch, von einer absoluten Unwissenheit, von grenzenlosem Aberglauben, heißblütig wie die Afrikaner, ein Volk, das weder lesen noch schreiben kann, dessen letztes Wort der Dolch ist, ein solches Volk bietet einen schönen Stoff für konstitutionelle Prinzipien.« Aus Metternichs nachgelassenen Papieren, hg. vor R.Metternich Winneburg, geord. von A . v . Klinkowström, 8 Bde., Wien 1880-1884, II/l, 1881, S.340 (17.7.1820). Heinrich Leo verlangte, »bei der Beurtheilung des Italieners den moralischen Standpunkt des teutschen oder überhaupt nordischen bürgerlichen Lebens (zu) vergessen«. Die Bedeutung der italienischen Nation liege in ihrer künstlerischen und lebenskünstlerischen Sendung, indessen »die Freiheit des Italiener keine sittliche Grundlage« habe. Heinrich Leo, Geschichte der italienischen Staaten, 5 Tie., Hamburg 1829-1832, T . l , 1829, S. 28,32.

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»Ist es denn nun ein Wunder, wenn unter der Herrschaft solcher Priester, die sich auch in alle weltlichen Händel außer ihrem eigentlichen Kirchenstaate mischten und die kein Mittel scheuten, ihre Absichten zu erreichen . . . , Italien nie zu irgendeiner politischen Einheit und Bedeutsamkeit gelangte; daß es immer bald so zerstückelt und die Stücke bald diesem bald jenem zugeworfen wurden; daß also auch diese einzelnen Staaten und Staatchen in beständiger Zwietracht lebten . . . ? « Wilhelm T.Krug, Hg., Porträt von Europa, Leipzig 1831, S. 62. Mittermaier sah die Kraft dieser Männer, »die ihr Vaterland lieben, vor allem darauf gerichtet, mit aller Energie zu wirken, daß jene Schranken fallen mögen, welche der geistigen Entwicklung wie dem Verkehre sich entgegenstellen, und daß die Elemente, welche die Bedingungen der Wohlfahrt eines Volkes sind, Volksbildung, Moralität und Entwicklung der reichen, im Volke liegenden herrlichen Kräfte in allseitiger Richtung benutzt werden«. Carl J . A . Mittermaier, Italienische Zustände, Heidelberg 1844, S. 57. Dagegen hat übrigens J.Burckhardt geschrieben, »daß fast all das Gute, welches Mittermaier der neueren Entwicklung Italiens nachrühmt, von den ausländischen Regentenhäusern Österreichs und Toskana's und von der nach ausländischen Mustern gebildeten Verwaltung Sardiniens den Italienern hat müssen aufgedrungen werden, und daß es sich auch wesentlich auf die betreffenden nördlichen Gegenden Italiens beschränkt«. Jacob Burckhardt, »Schilderungen aus Italien«, in: Kölnische Zeitung, Nr. 200, 201; 19., 20.7. 1846, zit. nach: Unbekannte Aufsätze Jacob Burckhardts aus Paris, Rom und Mailand, hg. von J. Oswald, Basel 1922, S. 135-149, S. 135.

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Adolf Stahr, Ein Jahr in Italien, 3 Bde., Oldenburg 1847-1850, B d . 2 , 1848, S.237, bezeichnete die gemäßigt-liberalen Ansichten als »unsägliche Naivität« angesichts der wirklichen italienischen politischen Verhältnisse. »Diese reißende Verschlechterung, die-

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Und wer - wie Ε. M. Arndt 6 - in der jahrhundertealten Unterwerfung unter fremde Herrschaft und Interessen den Hauptgrund der italienischen Misere sah, mußte für eine radikal-nationalistische Lösung plädieren: Heilung aller Schäden durch einen unabhängigen, zentralistischen, nach innen despotischen Einheitsstaat. Aber vor 1846/47 waren diese beiden Überzeugungen Minderheitenpositionen. Kaum jemand traute dem italienischen Volk zu, bürgerliche Freiheitsrechte in sittlicher Eigenverantwortung schon tragen und ertragen zu können. Und wie sollte gar ein Nationalstaat ohne den grundlegenden bürgerlich-politischen Nationalgeist begründet werden? Die Leidenschaft, vor allem das verletzte Selbstgefühl und der Haß gegen die Fremden, führt auch wohl größere Massen plötzlich zusammen. Dann mögen viele von gemeinsamen Taten des Ruhms und der Vaterlandsliebe träumen . . . Aber es fehlt an der innigsten Überzeugung des Herzens . . . Was nur der Sturm der aufbrausenden Leidenschaft zusammengeweht hat, wird sich eben so schnell wieder zerstreuen, sobald kein rascher Erfolg gewonnen wird. 7 Am Thema der italienischen Dekadenz erweist sich also eine gewisse Einhelligkeit quer durch die weltanschaulich-politischen Lager, und das übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern jenseits der Alpen. Diese Einhelligkeit ist am Ende der dreißiger Jahre in der sich nun rasch entwickelnden katholisch-politischen Publizistik in Frage gestellt worden: Hier wurde als Maßstab zur Bewertung der italienischen Nation eine spezifisch christlich-katholische Mission postuliert, die Frage nach den Möglichkeiten ökonomischer, sozialer und politischer Modernisierung, gar nationalstaatlicher Einigung aber verworfen oder als äußerstenfalls nebensächlich abgetan: Italien - Mittelpunkt der Weltkirche und von

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ser stürzende Verfall erscheint fast tröstlich, weil er zeigt, daß das jetzt herrschende System der Despotie . . . wirklich schlecht ist, und daß es endlich mit ihm zu einem Ende mit Schrecken kommen muß.« Aber »das Wie des Anders- und Besserwerdens ist hier nicht abzusehen« (ebd., S. 240). »Ein Land herrlich und schön, wie kaum ein anderes, mit allen Reizen und Hülfsmitteln der Bildung und Macht, ein Land von 22 bis 25 Millionen Menschen bewohnt,. .. liegt da in Ohnmacht und immer noch von fremdem Einfluß überherrscht, ein Volk mit allen Keimen und Anlagen des Großen und Schönen, dessen Ehre und Glanz vor dreihundert Jahren noch über Europa leuchtete; es liegt da zu viel verzweifelnd und zu viel hoffend, von den Eigenen schlecht regiert und von den Fremden verachtet, und man gewahrt auch in weiter Ferne noch keine Wahrscheinlichkeit der Wiederbelebung und der Wiedererhebung . . . Erzwingen der Einheit so lautet das harte Wort und die schwerste Aufgabe ...«, die nur ein Tyrann bewältigen könne von der Art des Staufers Friedrich. »Solch einen schöpferischen Helden ein halbes Jahrhundert, solche oder ähnliche Herrscher ein volles Jahrhundert als Nachfolger - dann träumt von einem italiänischen Volk, von italiänischer Einheit! Doch dann braucht ihr nicht zu träumen, dann habt ihr sie.« Ernst M.Arndt, Versuch in vergleichender Völkergeschichte, Leipzig 1843, S. 149,146. Wilhelm Schulz, »Italien«, in: Staatslexikon, Bd. 8, 1839, S. 394-434, S. 419 (auch in der ansonsten vielfach geänderten Fassung für die zweite Auflage des Staatslexikons, S. 526).

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Gott selbst bestimmte Heimat des Papsttums. 8 Guido Görres zeichnete seine »Bilder aus dem italienischen Volksleben« in diesem Sinne, welcher offensichtlich auch manches romantische Element deutscher Italienbegegnung in spezifisch katholischer Deutung aufbewahrt hat, und Görres stellte sich gegen diejenigen »unserer protestantischen Superintendenten, die ihre Vorteile gewöhnlich als ihre Reisekavaliere mitzunehmen pflegen«. 9 Hier wird, wie mir scheint, dann auch ein anderer wichtiger Gesichtspunkt recht deutlich: Jene Einmütigkeit in der Beurteilung der italienischen Nation vor der Moderne gründete nicht nur im gemeinsamen Erbe aufgeklärter Italienkritik, wie sie besonders Archenholtz 10 geliefert hatte, sondern dabei in spezifisch protestantischen, das heißt: aufgeklärt-säkularen protestantischen Maßstäben - so in Bezug auf spezifische Auffassungen katholischer Volksreligiosität und vernünftig-sittlicher Zivilreligion, auf damit zusammenhängende Begriffe von Arbeit und Produktivität sowie sittlicher Autonomie des Bürgers, um nur einiges zu nennen. Man konnte die Gültigkeit dieser Maßstäbe von einer katholisch-christlichen Position her verwerfen und so auch zu einem anderen politischen Italienbild gelangen. Man konnte, wie das besonders schön Heinrich Leo gezeigt hat, die Gültigkeit universeller Maßstäbe in der Beurteilung anderer Nationen, so auch der italienischen Nation ablehnen und dadurch zu differenzierten Urteilen kommen, was freilich weder bei Leo noch anderen zu günstigen Prognosen über die politische Zukunft Italiens geführt hat. Man konnte die Angemessenheit politischer Maßstäbe in der Auseinandersetzung mit Italien überhaupt bestreiten: so Goethe gegen Archenholtz oder später noch, im Nachhall der Romantik, Wilhelm Müller. 11 Aber das bedeutete eben auch Desinteresse am zeitgenössischen politischen Italien - und solche apolitische Italienbegegnung ist seit dem Erscheinen von Goethes »Italienischer Reise« zunehmend kritisiert worden. Die Aufhellung des deutschen politischen Italienbildes im letzten Jahrzehnt vor 1848 ist aber jenen Autoren zu danken, welche den

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Abbé H.Lacordaire, Der Heilige Stuhl, hg. von G. Görres, Regensburg 1838, S . l l f . : »Weil Gott Italien zum künftigen Sitze der katholischen Einheit vorherbestimmt hatte, gab er ihm auch eine Gestalt und Lage, die dieser großen Bestimmung entsprachen . . . In solcher Art von der Vorsehung geformt, lang, schmal, durch den Apennin in zwei Hälften getheilt, mit geringem Areal und mäßiger Bevölkerung, überall Grenzland und überall offen, war Italien wie ein Punkt ohne leiblichen Umfang, und unfähig, durch sich selbst ein mächtiges Reich zu seyn, dagegen wunderbar geeignet, das Centrum der Einheit der Welt zu werden . . . in der alten Römerzeit durch das Schwert, im Mittelalter durch Handel und Künste, endlich mit der katholischen Kirche durch die Religion.«

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Guido Görres, »Bilder aus dem italienischen Volksleben«, in: Historisch-politische Blätter 7/8 (1841), 11 (1843), hier 7 (1841) 327. Johann W. von Archenholtz, England und Italien, 3 Bde., Karlsruhe 31791 (zuerst 1785). Das Werk wurde von den Italienkritikern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch oft zitiert. Vgl. Johann W. von Goethe, Italienische Reise (zuerst 1816-1829), zit. nach: Goethes Werke. Autobiographische Schriften, hg. von H.v. Einem, Bd. 11/3, München 9 1978, S. 145 (Rom, 2.12.1786). - Wilhelm Müller, Rom, Römer, Römerinnen, 2Bde., Berlin 1820.

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wirklich Aufsehen erregenden Nachweis versucht haben, daß eine wachsende bürgerliche Mittelschicht sich an den erwähnten Maßstäben zu orientieren beginne!

Phasen deutschen politischen Italieninteresses Als Höhepunkt deutschen politischen Italieninteresses lassen sich die Jahre zwischen 1796/97 und 1804, das Jahr 1820/21, dazu, mit freilich geringerer Bedeutung, der Augenblick der europäischen Neuordnung 1814/15 sowie die Monate der mittelitalienischen Erhebungen 1831/32 erkennen. In den späteren 1830er Jahren hat sich sodann eine kontinuierliche, von spektakulären Ereignissen unabhängige, teils fast >politikwissenschaftlich< anmutende Auseinandersetzung entwickelt, die beachtliche Resultate u. a. in Mittermaiers italienischen Zuständen< erbrachte. Verbinden wir die Entwicklung des deutschen politischen Italienbildes in ihren dominierenden Tendenzen mit jenen erwähnten Höhepunkten, so ergibt sich, daß in französisch-republikanischer und napoleonischer Zeit die in der Aufklärung überwiegenden dunklen Farben aufgehellt wurden. Der Vorwurf etwa, Feigheit sei eine der schändlichen Erscheinungsformen des italienischen Individualismus und Egoismus, war nach den Leistungen italienischer Soldaten in den Schlachten Napoleons kaum noch zu hören. Auch war ja einzusehen, daß die deutsche Nation und der aufgeklärt-disziplinierte Militärstaat Preußen sich gegenüber Napoleon letztlich nicht besser behauptet hatten als die Italiener. Manche sahen im umgestalteten Italien eine neue >bürgerliche< politische Elite heranreifen, so daß wenigstens im oppositionellen Lager 1814/15 und dann beim Ausbruch der neapolitanischen Revolution den Italienern die Fähigkeit zugetraut wurde, das eigene politische Schicksal doch noch zu meistern. Wie der Strom der europäischen Geschichte - schrieb Ernst Moritz Arndt 1814 - seit der Aufräumung und Verwandlung der alten Welt gerollt ist, sind Italien und Deutschland die Zentralländer der neuen Welt geworden . . . Italien und Deutschland werden bald auch politisch wieder der Mittelpunkt werden und man darf wohl darauf hinweisen, daß sie es werden müssen. 12

Die überraschende Schnelligkeit und Art der neapolitanischen Niederlage, bald auch die der Piemontesen, hat jedoch bei den meisten liberalen und nationalen Sympathisanten der Revolution - einige von ihnen haben auch aktiv teilgenommen oder teilzunehmen versucht - zu einer Wiederbelebung der schlimmsten Vorurteile aus der Zeit vor 1789 geführt, wovon das deutsche politische Italienbild bis zu den Revolutionen von 1848 nachhaltig beeinflußt worden ist: Radikale, gar revolutionäre Ereignisse oder Bestrebungen wurden danach meist ironisch, höhnisch oder verärgert abgetan und als kindische Versuche verurteilt, welche jeweils nur einmal mehr die politische Unreife und mangelnde Selbsterkenntnis der Italiener bewiesen. 12

Ernst M. Arndt, Historisches Taschenbuch auf das Jahr 1814, Königsberg o. J., S. XV f.

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[Es] bedecken verfehlte Revolutionen mit Schande; nur die gelungenen werden verziehen. Es ist ein widerliches Schauspiel, Menschen zu sehen, welche Dinge unternehmen, denen sie nicht gewachsen sind. Unternehmen solche Menschen die Rettung der Staaten, so werden sie mit Recht als Verbrecher bestraft. 13

Der Carbonarismus, welcher bis zur Niederlage der Neapolitaner und Piemontesen sehr ernsthaft als erfolgversprechende italienische Widerstandsform diskutiert worden ist, erschien seither geradezu als Inbegriff italienischer politischer Unreife. Mazzinis Aktivitäten in den dreißiger und frühen vierziger Jahren wurden fast nur in dieser Perspektive zur Kenntnis genommen. Er selbst und seine politischen Ziele blieben in Deutschland nahezu unbekannt, so daß noch 1848 Andrea Luigi Mazzini mit ihm verwechselt werden konnte. Hier ist zu bedenken, daß das politische Italienbild insgesamt bis in die 1840er Jahre hinein ganz entscheidend von liberalen, teils sehr gemäßigt liberalen Publizisten geprägt worden ist. Es erübrigt sich, die deutschen politischen und besonders die pressepolitischen Verhältnisse, die Probleme der allzu regierungsnahen und darum in der Öffentlichkeit gerade in kritischen Situationen ziemlich resonanzlosen konservativen Presse, die Probleme der katholisch-politischen Publizistik zwischen emanzipatorischen Interessen und konservativen Orientierungen, schließlich die Probleme linksliberaler und frühdemokratischer Publizisten gegenüber einer insgesamt repressiven bundes- und einzelstaatlichen Pressepolitik eingehender zu beleuchten: Alle erwähnten Punkte haben das Übergewicht liberaler, gemäßigter Standpunkte gegenüber Italien bis in die 1840er Jahre hinein begründet. Die Ablehnung revolutionärer Bestrebungen, umgekehrt die Beschwörung reformistischer und vorsichtiger Wandlungsmöglichkeiten in Italien, wie beides gerade in den bekannten Publikationen der 1840er Jahre von Reumont, Raumer, Mittermaier oder Kölle 14 verbreitet worden ist, resultierte zumindest im selben Maße aus den eigenen gemäßigten Grundpositionen wie aus Einsichten in die Bedingungen politischen Wandels in Italien. Das ab Ende der dreißiger Jahre erhöhte und kontinuierliche Italieninteresse dieser Liberalen ergab sich, wie schon angedeutet, nicht zuletzt wiederum aus der Beobachtung, daß in den italienischen Einzelstaaten und in der italienischen Opposition reformistische Kräfte an Einfluß gewannen. Man bemühte sich, diese italienischen Reformbestrebungen, welche man nicht zuletzt während 13

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»Vertrauliches Schreiben eines in Italien reisenden Deutschen«, in: Allgemeine politische Annalen 8 (1822), S. 143-176, S. 161. Alfred von Reumont, Römische Briefe von einem Florentiner, 2Tie., Leipzig 1840; ders., Neue römische Briefe . . . , 2Tie., Leipzig 1844; Friedrich von Raumer, Italien. Beiträge zur Kenntnis dieses Landes, 2 Tie., Leipzig 1840; Mittermaier, Italienische Zustände·, 1844; Friedrich von Kölle, Italiens Zukunft, Stuttgart 1848. Von Reumont, Mittermaier, Kölle auch viele Aufsätze, von denen ich einige in meinem Buch angeführt habe. Raumers Italien wurde von Mazzini für das Machwerk eines Konservativen gehalten, in Preußen galt er aber als >Salon-JakobinerItalienreisen< hinauszugelangen. Bei alledem wurde aber übersehen, daß das italienische Bürgertum und der italienische Liberalismus keineswegs bereit waren, die Unabhängigkeits- und Einigungsforderung für alle absehbare Zeiten zu vertagen. 1820/21 hatten deutsche nationalpolitische Interessen in der liberalen Auseinandersetzung mit der neapolitanischen und mit der piemontesischen, explizit gegen Österreichs Stellung in Italien gerichteten Revolution keine Rolle gespielt. Prinzipielle Überlegungen zum Problem der Revolution selbst, zur Organisation der revolutionären Bewegung, zur Verfassungspolitik hatten die Stellungnahme bestimmt, nicht nationale Erwägungen zur Stellung der deutschen Macht< Österreich in Italien. Im Gegenteil, nicht wenige Liberale wünschten Österreich eine Niederlage, weil darüber sein reaktionärer Einfluß im Deutschen Bund geschwächt werden würde. Schon 1831/32, noch mehr seit Beginn der 1840er Jahre hatte sich die liberale Einstellung zu Österreichs italienischer Position gründlich gewandelt, und das unabhängig davon, ob im einzelnen groß- oder kleindeutsche nationalpolitische Zielrichtungen vertreten wurden. Auch für die meisten Anhänger einer kleindeutschen Nationalstaatsgründung ging es ja darum, das Habsburger Reich und einen zukünftigen deutschen Nationalstaat engstens zu verbinden. Sicherheits- und wirtschaftspolitische Überlegungen, dazu schon machtpolitisch-hegemoniale Träume hatten diesen Wandel bewirkt. Österreichs italienische Stellung - konnte Deutschland Sicherheit gegen Frankreich im Süden garantieren: »Italien als eine Vormauer Deutschlands«, so Clausewitz 16 - die Italiener als Frankophi15

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P.S.M., »Die deutschen Reiseschreiber über Italien«, in: DVS 3 (1840), S . 8 3 - 9 9 , S. 83; 90. Carl von Clausewitz, »Zuriickführung der vielen politischen Fragen, welche Deutschland beschäftigen, auf die unserer Gesamtexistenz (Juli 1831)«, in: ders., Politische Schriften und Briefe, hg. von H. Rothfels, Berlin 1922, S. 229-238, S.233. »Wir fragen die deutschen Weltbürger, ob sie lieber wollen, daß Italien geteilt und zum Teil fremder Macht unterworfen sei und Deutschland unabhängig, oder umgekehrt Deutschland unterjocht... und Italien unabhängig?« (S. 232)

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le, Frankreich selbst hatte 1832 mit der Besetzung Anconas und 1840 in der Rheinkrise an Napoleon und dessen Erfolge von Italien aus erinnert; - mochte dereinst selbst einen Absatzmarkt für deutsche Waren bieten, war aber jedenfalls als Transitraum an die Adria und in den Balkan, welcher soeben von einigen Publizisten als möglicher deutscher Kolonialraum entdeckt wurde, von dauernder Bedeutung; - konnte eine Bastion einer künftigen deutschen Hegemonialmacht in Mitteleuropa werden. Manche Liberale begriffen, daß sie in einem gewissen Dilemma zwischen deutschen nationalen Interessen und prinzipieller Solidarität mit den Einheits- und Unabhängigkeitsbestrebungen anderer europäischer Nationen - hier eben: der Italiener steckten. Und man gewinnt den Eindruck, daß die Artikulation andauernder Zweifel an der wirklich von den Italienern erlangten politischen Reife, die Verschiebung der nationalen Frage an das Ende eines langen, eben erst beschrittenen Weges allmählicher Reformen, die Verweisung auf das beispielgebende Lombardo· Veneto als Modell anderswo noch durchzuführender Reformen, auch der Harmonisierung von >Prinzipien< und >Interessen< gedient haben. Hören wir Heinrich von Gagern in einem Brief aus dem Januar 1846: Was Italien betrifft, so werden die deutschen Sympathien ebenfalls so lange auf Seiten Österreichs und seines Besitzes sein, als es sich um die Frage handelt : österreichischer oder französischer Einfluß? Diese Sympathien könnten, ja müßten konsequenterweise nur dann umschlagen, wenn das Einheitsstreben der Italiener Konsistenz gewänne. Aber dieses hat mit noch größeren Schwierigkeiten zu kämpfen als Deutschland. Welche geistigen und politischen Revolutionen müßten stattfinden, um die italienische Ländermasse inklusive des päpstlichen Territorialbesitzes zu verschmelzen ! 1 7

Die mehrheitliche Reaktion der liberalen Publizistik 1846/47 erscheint vor diesem Hintergrund verstehbar: Zustimmung zu den von Pius IX. eingeleiteten Reformen im Kirchenstaat, seit der Jahreswende zunehmende Sorge und Warnungen, scharfe Kritiken der nationalistischen Radikalisierung der politischen Bewegung in Italien seit dem Herbst 1847. Die Freunde Italiens, darunter Heinrich Stieglitz, der in Venedig während der Belagerung gestorben ist, und die aus Prinzip für die nationalen Rechte Italiens eintretenden >Linken< waren in der Minderzahl. Sie blieben eine Minderheit auch in den für Italien so enttäuschenden Debatten der Paulskirche. Denn die meisten Liberalen sind nicht anders als die konservativen Mitglieder der Frankfurter Nationalversammlung für Österreichs Besitz und starke Stellung >am Po< aufgetreten, haben sich an diesem entscheidenden Punkt also gegen die Ziele der italienischen Unabhängigkeits- und Einigungsbewegung gewandt. Sicherheitspolitische Interessen, wie wir sie schon in Clausewitz' Beitrag aus dem Jahre 1831 kennenlernten, Sorgen vor einem möglichen Bündnis des zukünfti17

Heinrich von Gagern an Fritz von Gagern, Monsheim, Januar 1846, zit. nach: Deutscher Liberalismus im Vormärz. Heinrich von Gagern«. Briefe und Reden 1815—1848, hg. von P. Wentzcke/W. Klötzer, Göttingen 1959, S. 317.

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gen italienischen Nationalstaats mit Frankreich wurden angeführt. Aber dabei sind die Wortführer der Mehrheiten gerade in der einzigen großen Italiendebatte der Paulskirche am 12. August 1848 nicht stehengeblieben. Vielmehr brachen unverhüllte Machtstaatsideen und Großmachtwünsche durch, wobei es an diesem Tag und in der Folge fast gleichgültig war, wie der einzelne Verfechter österreichischer Hegemonie und Herrschaft in Italien sich die Lösung des deutschen Nationalproblems Habsburger Monarchie vorgestellt hat. Man berief sich auf die Geschichte, auf das mittelalterliche Reich der Deutschen und seine Ausdehnung besonders in staufischer Zeit. Man stellte fest, daß >das Vaterland höher als die Anerkennung der Allgemeingültigkeit des nationalen Prinzips< stehen müsse; überhaupt nütze die deutsche Herrschaft ja auch den Italienern, denn es seien doch »die siegenden, die herrschenden Völker, welche die Menschheit vorwärts bringen«. 1 8 Deutschlands Führungsrolle in Mitteleuropa und auf dem Balkan bis an die Küsten des Schwarzen Meeres sollte mit Habsburgs Position in Italien begründet und geschützt werden. 1 9 Deshalb feierten die meisten Liberalen mit den Konservativen den Sieg des >Heldengreises< Radetzky bei Custoza über die Truppen Piemonte als »eines der glänzendsten Blätter in der deutschen Kriegsgeschichte«. 20 Die Stimmung riß im Augenblick sogar prominente Vertreter des demokratischen Flügels mit, darunter Levin Schücking oder Robert Blum. Wer dagegen anredete, wer das gleiche Recht der Italiener auf Freiheit und Einheit behauptete wie Emil Braun, früher Korrespondent der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« in Rom, im Parlament Arnold Ruge, der sah sich des »halben Landesverrats« 2 1 beschuldigt. Am deutsch-nationalen Italienstandpunkt der Mehrheiten in Frankfurt und in der deutschen öffentlichen Meinung haben diese Gegenstimmen ebensowenig zu ändern vermocht wie Appelle italienischer Abgesandter bei der Paulskirchenversammlung und aus dem Trentino stammender italienischer Mitglieder, wie Zuschriften von prominenten italienischen Liberalen an deutsche Freunde, so an Karl Mittermaier, der ja eine nicht unbedeutende Rolle in der Nationalversammlung gespielt hat, aber auf derar-

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Friedrich von Raumer, 12.8. 1848: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen konstituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main (St. B.), hg. von F. Wigard, Bd. II, Leipzig 1848, S. 1558. Vgl. auch Günther Wollstein, Das Großdeutschland der Paulskirche, Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848149, Düsseldorf 1977, S. 223 - 2 4 2 ; Karl-Georg Faber, »Nationalität und Geschichte in der Frankfurter Nationalversammlung«, in: Ideen und Strukturen der deutschen Revolution 1848, hg. von W.Klötzer u.a., Frankfurt 1974, S. 103—123 (beide mit der älteren Literatur); Federico Curato, Il Parlamento di Francoforte e la prima guerra d'indipendenza italiana, Florenz 1953 (Sonderdruck aus: Archivio storico italiano, 1952). Ich habe das in einem noch ungedruckten Vortrag zu meinem Habilitationskolloquium im Juli 1990 näher ausgeführt: »Deutsche Nation und Habsburger Monarchie. Die Entstehung des Mitteleuropagedankens vor 1848«. Joseph Maria Frhr. von Radowitz, 12.8.1848: St. B., II, 1848, S. 1566. Heinrich Laube, Das erste deutsche Parlament, 3 Bde., Leipzig 1849, Bd.2, S. 150. Vgl. auch Ferdinand Bilger, »Großdeutsche« Politik im Lager Radetzkys, in: Historische Blätter, 1931, H. 4, S. 3 - 3 6 .

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tige Schreiben offensichtlich gar nicht reagieren wollte. 22 Sie erreichten prinzipienfeste demokratische Linke, deren Sympathien aber wiederum der italienischen Demokratie, Mazzini und dem bald aufgehenden Stern Garibaldi und nicht den verfassungspolitischen Zielen des gemäßigt-liberalen Nationalismus in Italien galten. Wie breit aber auch die Kluft in der Gedankenwelt der deutschen und der italienischen bürgerlichen Demokratie gewesen ist, wie wenig sich eben auch die Demokraten beider Nationen jenseits allgemeiner Prinzipien politisch haben verständigen können, das wurde in den Begegnungen und Frustrationen der Exilpolitik besonders in England deutlich genug. 23 Kaum ein deutscher Beobachter der politischen Szenerie Italiens hat geahnt, daß sich die dortige Einheits- und Freiheitsbewegung nach den schweren Niederlagen der Jahre 1848/1849 so bald neu formieren und mit der nationalen Machtpolitik Piemonts so rasch zu solchen Erfolgen gelangen würde. Vielleicht ist in den 1850er Jahren allzu einseitig auf die spektakulären Fehlschläge mazzinianischer Erhebungsversuche gesehen worden und zu wenig auf die beharrliche innere Konsolidierungsarbeit und zielgerechte antiösterreichische Außenpolitik Piemonts und seiner gemäßigt-liberalen Regierungen. Ludwig August von Rochau, der vorerst ja wenig beachtete Künder deutscher nationalliberaler »Realpolitik«, gehörte zu den ganz wenigen Ausnahmen, auch wenn er wie viele andere vor ihm den tief eingewurzelten italienischen Regionalismus und Lokalpatriotismus für ein sehr hohes Hindernis auf dem Wege zur Nationalstaatsgründung gehalten hat. Aber Piémont, so Rochau, habe in der Katastrophe zumindest seine politische Ehre durch Behauptung seiner liberalen Verfassung von 1848 und damit das Vertrauen der Italiener bewahrt, dadurch endlich auch das Werden eines neuen Italiens eingeleitet. 24 1859 dann, als Cavours »Realpolitik« im Bündnis mit Napoleon III. Österreich auf das Veneto zurückwarf, waren die Mehrheiten in der überraschten öffentlichen Meinung Deutschlands zunächst eher noch heftiger gegen den italienischen Nationalismus eingestellt als im Jahr der europäischen Revolutionen. Nicht bloß die >Großdeutschen< jedweder Couleur verlangten das Eintreten des Deutschen Bundes und besonders des militärmächtigen Preußens an der Seite Österreichs, sondern auch die meisten jener Liberalen, welche sich für eine >borrussische< Lösung der eigenen nationalen Frage eingesetzt haben und denen deshalb vielleicht eine fühlbare Schwächung der Habsburger Monarchie hätte gelegen kommen müssen. Wie sehr ist Österreichs schneller Friedensschluß mit Frankreich und seine Abtretung der Lombardei, erste Säule der Einigung Italiens, weithin bedauert worden! Und wie tief war das Ansehen des beiseite gebliebenen Preußens gesunken! 22

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Vgl. Karl-Hermann Lucas, »Ein Brief Gino Capponis aus dem Jahr 1848. Stimmen aus Italien zu den deutsch-italienischen Beziehungen«, in: QFIAB 51 (1971), S. 606-617. Vgl. meine einleitende Untersuchung zu den zusammen mit Lucas herausgegebenen Briefen Mazzinis an Gottfried Kinkel (s. Hinweis zum Titel dieses Beitrags). Vgl. Ludwig August von Rochau, Italienisches Wanderbuch. 1850—1851, 2 Bde., Leipzig 1852, Bd. 1.S.28.

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Die Triumphe der piemontesischen und italienischen Nationalpolitik 1860 haben freilich die >kleindeutsch< orientierten Nationalliberalen zunehmend umgestimmt. 2 5 Nachdem schon ihr Deutscher Nationalverein 1859 mit dem Vorbild der nun so erfolgreichen Società nazionale von 1857 gegründet worden war, ließen sie sich nun schnell vom nationalen Erfolg Cavourscher »Realpolitik beeindrucken, zumal ja das Königreich Sardinien-Piemont jenes konstitutionell-parlamentarische System vorzuweisen hatte, um welches in Preußen noch aufs heftigste gerungen wurde. Im selben Jahr ist auch in Deutschland wie sonstwo in Europa und Amerika der Stern Garibaldis aufgestiegen, ist auch hierzulande der >Held zweier Welten< mit dem >Zug der Tausend< nach Sizilien zum populären Volkshelden geworden; verständlicherweise allerdings nicht im katholischen Milieu, galt sein Kampf doch immer wieder der Eroberung des päpstlichen Roms, um dem entstehenden neuen Italien die alte Hauptstadt zurückzugeben. Einige Zeit lang genoß der Gefolgsmann Mazzinis die rückhaltlose Bewunderung sogar der meisten Liberalen, besonders als er der Einheit zur größten Enttäuschung der deutschen Demokraten die vielleicht vom Süden her mögliche Republikanisierung Italiens geopfert hatte. Kurzum, zum Erstaunen vermeintlicher liberaler Italienkenner nicht anders als zu dem des großen Publikums war Italien auf der Bahn zur nationalstaatlichen Einigung weit vorausgegangen. Es hatte bemerkenswerte Beispiele zweckmäßiger Diplomatie und kluger Organisation, großartigen Heroismus und patriotischer Disziplin gegeben. Deutschlands nationalpolitische Diskussion wurde also nicht nur durch die italienischen Ereignisse von 1859/1860, durch den Krieg und dessen bundes- und außenpolitische Konsequenzen neu entfacht. Sie hat auch deutlich von den in Italien zu beobachtenden Modellen und Problemstellungen, so nicht zuletzt in der Reflexion des Verhältnisses von Zentralismus und Föderalismus im Nationalstaat, profitieren können. Treitschke oder Baumgarten nutzten nun den Hinweis auf die geschichtlich erwiesenen Defizite des früheren liberalen Italienbildes, um die >Traumwelten< des 1848er-Liberalismus und der gegenwärtigen antipreußischen Liberalen zu diskreditieren und für ihre Ideen liberaler nationaler >Realpolitik< in Deutschland zu werben.

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Für die deutsche Auseinandersetzung mit Italien im Jahrzehnt der nationalstaatlichen Einigung 1859-1871 vgl. Ernst Portner, Die Einigung Italiens im Urteil liberaler deutscher Zeitgenossen, Bonn 1959; Theodor Schieder, »Das Italienbild der deutschen Einheitsbewegung«, in: ders., Begegnungen mit der Geschichte, Göttingen 1962, S. 210-232; Adam Wandruszka, »Deutschland und das italienische Risorgimento«, in: Studi italiani, Köln 1961, S. 114—125; Leo Just, »L'Italia del Risorgimento nell'opinione pubblica germanica«, in: Rassegna storica toscana 6 (1960), S. 2 8 9 - 301; Franco Della Peruta, »Democratici italiani e democratici tedeschi di fronte all'unità d'Italia (1859-1861)«, in: Annali 3 (1960/ 1961), S. 11-121. Einen wichtigen Aspekt habe ich in »Giuseppe Garibaldi« (s. Hinweis zum Titel) darzustellen versucht. Neue Perspektiven vermittelt der vorzügliche Beitrag von Jens Petersen, »Risorgimento und italienischer Einheitsstaat im Urteil Deutschlands nach 1860«, in: HZ 234 (1982), S. 63 - 9 9 . Außerdem ders., »Garibaldi und Deutschland (1870-1871)«, in: REHIC3 (1982), S.233 - 2 5 1 .

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Niemals zuvor und nicht wieder bis zum Machtantritt des Faschismus ist das politische Italien in Deutschland derartig intensiv beobachtet worden. Es war in dieser Umbruchphase europäischer und deutscher Geschichte zwischen Solferino und Königgrätz ein zentrales, frontenbildendes Thema in der deutschen öffentlichen Meinungsbildung. Den in sich sehr gegensätzlichen Bekundungen liberaler und demokratischer Sympathien ist die konservative und die katholische Publizistik nicht weniger engagiert entgegengetreten. Verklärten viele Liberale das Italien Cavours zum Muster reformistischen Fortschritts in der geschichtlich notwendigen Entwicklung zum nationalen Verfassungsstaat, so denunzierten Konservative und Katholiken gerade anhand des italienischen Beispiels jene liberalnationalen Fortschrittsideen als Revolutionsdrohung gegen die Fundamente der sittlichen, sozialen und politischen Ordnung. Vor allem katholische Publizisten, die mit der politischen Unabhängigkeit des Papstes die Freiheit und damit den Bestand der Kirche gefährdet sahen, haben das Bild der innenpolitischen Zustände des neuen Italiens in den allerschwärzesten Farben gezeichnet, sicher in oft übertriebener Weise, aber teils doch auch mit Recht: Denken wir nur an den grausamen Krieg des italienischen Staates gegen den widerstrebenden Süden, in welchem bekanntlich viel mehr Menschen getötet und ermordet worden sind als in allen Verfolgungen und Kriegen des Risorgimento zusammen. Noch lange nach 1870 haben die Führer des deutschen Katholizismus bestritten, daß man überhaupt in nationalistischem Sinne von einem italienischen Volk reden dürfe, und die Radikalität liberaler Nationalpolitik gerade darin begründet gesehen, daß diese die Vorstellung eines einigen Volkes nun nachträglich mit sämtlichen staatlichen Machtmitteln erzwingen müßte. Ihnen galt Cavour eher noch als größerer, weil geschickterer, hinterhältigerer Verbrecher denn die Häupter der republikanischen Partei, Mazzini und Garibaldi. Sein früher Tod, kaum daß die inneren und äußeren Formen des italienischen Einheitsstaates erkennbar geworden waren, erschien wie ein Gottesurteil. Schlossen sich einige deutsche Demokraten den Garibaldinern an, so gingen noch mehr deutsche Katholiken nach Italien, um den restlichen Kirchenstaat gegen den Druck Italiens und die Attacken Garibaldis zu verteidigen. Und die in Deutschland zur Unterstützung des Heiligen Vaters durchgeführten Geldsammlungen wurden zu einem weiteren Punkt in der Formierung der Sozialform Katholizismus. 26 Dies verweist uns darauf, daß Italien in diesem Augenblick nicht allein Gegenstand und Anstoß allgemeiner weltanschaulich-politischer Debatten, sondern vielmehr ein ganz unmittelbares Problem innerdeutscher Entwicklungen gewesen ist. Da war die Deutschlands Regierungen und Öffentlichkeit spaltende Frage der Anerkennung des in Krieg und Revolution geborenen Königreichs Italien, zu der Berlin die Zollvereinsmitglieder drängte und die das neuerdings von Liberalen regierte Baden als erste vollzogen hat. Offensichtlich ging es hierbei um vorentscheidende innerdeutsche Weichenstellungen im Kräftespiel zwischen Österreich, 26

Vgl. u . a . Karl Buchheim, Ultramontanismus und Demokratie. Katholiken im 19. Jahrhundert, München 1963, S. 106ff. u . ö .

Der Weg der

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Preußen und den Mittelstaaten. 2 7 Da war die doppelte >römische Frage< des italienischen Nationalstaats: die von Cavour durchgesetzte liberalistische Lösung des Verhältnisses von katholischer Kirche und modernem bürgerlichem Staat einerseits, andererseits die Existenz des restlichen Kirchenstaates zwischen 1860 und 1870, das Problem Roms als Zentrum der Weltkirche und als ersehnte Hauptstadt des italienischen Einheitsstaates. Der protestantisch bestimmte und zum Kampf gegen die >internationale< katholische Kirche und den Katholizismus entschlossene Nationalliberalismus Deutschlands überzeugte sich da leicht, »daß die beiden Staaten Preußen und Piémont mit denselben Berufen dieselben staatlichen Ideen, dieselben Gegner und Freunde gemein hatten und daß zwischen beiden und der Kurie prinzipielle Gegnerschaft bestand«. 2 8 Das italienisch-preußische Militärbündnis von 1866 gegen die katholische Vormacht Österreich ist von ihnen gerade auch in dieser Perspektive gerechtfertigt, Österreichs Verdrängung aus Deutschland wie aus Italien als entscheidende Niederlage der katholischen Kirche bejubelt worden. Dem haben die katholischen Politiker und Publizisten in Preußen wie im ganzen Deutschland natürlich entschieden widersprochen, und bekanntlich sollte die parlamentarische Austragung dieses Gegensatzes 1871 zu den letzten Anlässen in der Auslösung des sogenannten Kulturkampfes in Preußen und im neuen Deutschen Reich gehören. 2 9 Das Jahr 1866 hat aber auch einen weiteren Wendepunkt in der Geschichte der deutschen Auseinandersetzung mit Italien gebracht. Einerseits ist vor allem durch Treitschkes großartige Cavour-Deutung (1869) im Zeichen des Gesamterfolges über Österreich die liberale Vorstellung paralleler Nationalstaatsbildung historiographisch gleichsam kanonisiert worden. Andererseits war dieser Gesamterfolg (wie endlich auch die Einnahme Roms 1870) durch den Sieg der preußischen (deutschen) Waffen errungen worden, indessen Italien sowohl zu Lande wie zu Wasser schwere Niederlagen erlitten hatte. Das früher allgemeine Überlegenheitsgefühl brach danach sehr schnell wieder vor: Italien rückte »von der Rolle des bewunderten Vorbilds in die schlichtere eines bloßen Vorgängers«. 30 Sattsam bekannte Behauptungen über den italienischen Volkscharakter wurden wieder aufgewärmt, um die relative Schwäche des staatlich nun fast völlig geeinten Italiens zu >erklärennatività< di Claino«, in Rivista archeologica 136-137/1954—55, S.69—77; »La scagliola«, in Arte lombarda, 11/1966, 225 -230.1983 erschien in Mailand, gemeinsam herausgegeben von I. V. und Piero Chiara: Il lago di Como, descritto e illustrato nell'800. Ignazio Vigoni: Menaggio und Umgebung, Como 1961. Die Bewahrung der natürlichen Schönheit des Comer Sees war ihm ein besonderes Anliegen. Testamentarisch überließ er dem Fondo per l'Ambiente di Milano, einer Umweltschutzorganisation, ein Terrain auf der Insel Capraia (Präsident Dr. Lahn sei für den Hinweis auf dieses Legat gedankt). Er verschenkte einige wertvolle Gegenstände: etwa 1974 10 Stühle und 2 Sessel aus dem Jahre 1930 an die Pinacoteca di Brera, ein Klavier ans Konservatorium u. s. w. Mitten im Krieg gab er 95 Bände politischen Inhalts dazu noch einige militärische Bücher an eine Mailänder Institution.

Ignazio Vigoni (1905-1983)

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Die Pflege der Familientradition wurde ihm zu einem wichtigen Anliegen. Die Erkenntnis, in der modernen Welt fremd zu sein, zwang ihn, seine Wurzeln in der persönlichen Vergangenheit seiner Familie und deren gesellschaftlicher Funktion zu suchen. Sowohl die aristokratische Tradition der Vigonis mit ihrem selbstlosen politischen Engagement für Italien als auch die praktisch-protestantische Tradition der Mylius mit ihrem kosmopolitischen Aufklärungskonzept sah er als prägende Pfeiler einer Gesellschaftsformation, deren Wert er stets unterstrich. In der Herrschaft Maria Teresas sah er ein schlagkräftiges Beispiel für seine These, es habe im paternalistischen Regierungssystem durchaus gute Phasen gegeben, wo es allen Teilen der Bevölkerung gut ging. Im Grunde ist es die Vorstellung des »juste milieu«, des harmonisierenden Ausgleichs von »Liberalismus« und »Autorität«, der gleichermaßen Tyrannei und Zügellosigkiet zu vermeiden weiß. Nostalgie führte zu den historischen Arbeiten Ignazios. Sowohl seine Publikationen als auch die mit viel Mühe erstellten Genealogien bezeugen dies. Aber er beschränkte sich nicht auf Lamentis, sondern wurde auch praktisch in der Villa Vigoni aktiv. 1957 machte er eine Bestandsaufnahme (mit Fotografien) aller Räume und ordnete dann die Kunstwerke neu. So legte er 1957 auch die für die Familientradition so wichtigen vier Büsten Manzonis, Cattaneos, Rüppells und Kramers an der Vorderfront der Villa frei, die lange Jahre unter rankenden Pflanzen verborgen waren (Abb. 43 —47). Die engen Beziehungen zur Familie führten am 14.3. 1951 zur Adoption Ignazios durch seinen Neffen Gian Angelo Medici di Marignano, einen Sohn seiner Tante Enrichetta Vigoni, der 37 Jahre älter war als Ignazio. Ignazio führte fortan stolz den Namen seines Adoptivvaters. Wann in Ignazio die Idee wach wurde, in seinem Testament ein Legat vorzusehen, um der ihm nun besser bekannten und vertrauten Familientradition neues Leben zu geben, ist unklar. Deutschland war ihm weiterhin nah, er unterhielt regelmäßig Korrespondenz mit entfernteren Familienmitgliedern in Frankfurt und anderen deutschen Städten, auch wenn, wie er selbst anläßlich seiner Schilderung des Adenauerbesuchs in Loveno ausführt, seine Deutschkenntnisse nicht perfekt waren. Ignazio muß bewußt gewesen sein, daß keine Einzelperson in unserer heutigen Zeit in der Lage gewesen wäre, das Anwesen in Loveno auch nur zu erhalten, geschweige denn, dort im Sinne der Familientradition initiativ zu werden. Seine Skepsis gegenüber den modernen Demokratien und Massengesellschaften wußte er zu überwinden, wo es um die Rettung einer sonst unweigerlich verlorenen Tradition ging. Ganz am Ende seiner Memoiren taucht dann auch zum ersten Mal ein Hoffnungsschimmer auf, der seinem Vermächtnis einen zusätzlichen Sinn gibt: »Ich habe auf die Fehler, die Beschränkungen, die Tabus der Welt, in der ich lebe, hingewiesen. Und doch glaube ich nicht, daß man sie en bloc in den Mülleimer werfen sollte. Eines vielleicht fernen Tages, vielleicht auch schon früher als man denkt, wird die Faszination des einfachen und reinen Lebens der guten alten Zeit, das frei von Flitterglanz und Illusionen war, neu entdeckt werden. Aber es wird viel mühsame Arbeit erfordern, die Werte, die von der heutigen Verantwortungslosigkeit zerstört wurden, wieder aufzubauen.«

Ignazio Vigoni

Auszüge aus den Memoiren »Laudator temporis acti«*

Davos Anfälligkeit und Robustheit, wenig Muskelkraft und beachtliche Zähigkeit standen sich in meinem Leben beständig gegenüber. Wider alle Erwartung bin ich, von schweren Krankheiten heimgesucht, mehr als einmal davongekommen und vielleicht mancher geheimen Hoffnung zum Trotz. In der Schutzhütte Tucket habe ich eine Blinddarmreizung überstanden, die der gute Führer zu lindern glaubte, indem er mir eine Flasche mit warmem Wasser auf den Bauch legte, und am darauffolgenden Morgen bin ich auf den Gipfel der Brenta gestiegen. Eine Bauchfell-Attacke hat man mit Kompressen aus in heißem Öl getränktem Filterpapier und mit wiederholter Gabe von Rizinusöl kuriert. Nach und nach hielt dem meine Gesundheit nicht mehr stand. Ich beendete das Gymnasium und nahm das Abitur im ersten Jahr in Angriff, in dem die Reform Gentile in Kraft trat. Ich Schloß mit mittelmäßigem Ergebnis im Juli ab, aber ich ziehe es vor, mich nicht an die Anstrengung zu erinnern, die mich das gekostet hat. Allzu optimistisch begannen die Ärzte, mich für einen Monat ins Gebirge oder ans Meer zu schicken, für zwei nach Rom, als ob dergleichen harmlose Heilversuche eine zutiefst verfahrene Situation hätten retten können. Schließlich wagte ich dem Zorn eines Teils der Familie zu trotzen, der es als Schande betrachtete, einen Sprößling an diesem anrüchigen Ort zu haben, und zog mich nach Davos zurück. Jacques de Bourbon-Busset behauptet, die Krankheit sei eine erzwungene Berufung. In vielen Fällen ist das richtig, jedoch nicht immer. Als ich mich in dieser durchscheinend dünnen Luft, von Schnee und Sonne umgeben, ausstreckte, empfand ich ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Ich begriff, daß ich gefunden hatte, was ich brauchte. Es war endlich die Befreiung von dem dumpfen, unentwegten, unterschwelligen Unwohlsein, das mich während meiner ganzen Jugend geplagt hatte. Als artiger, ernsthafter Junge war ich mit einem Koffer voller Bücher angekommen und hatte mich sofort ans Lernen gemacht: »um keine Zeit zu verlieren«. In Wirklichkeit verschwendete ich genau deshalb ein Jahr, bis ich mich entschloß, mich dem vegetativen Leben hinzugeben. Mit der psychischen Entspannung begann ich dann tatsächlich meine Gesundheit wiederzugewinnen.

* Deutsche Übersetzung von Ute Stempel.

Auszüge aus den Memoiren »Laudator temporis acti«

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Überflüssig zu sagen, daß ich in die Lektüre des »Zauberbergs« eintauchte. Aber ich habe ihn nie für das beste Werk Thomas Manns halten können. Da gab es wirklich anderes in Davos. Schlimmeres und Besseres. Abgründe, Schlünde und Gipfel. Der verzweifelte Lebenswillen der jungen, zum langsamen Tode Verurteilten. »Ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben!« Andere hingegen sehnten den Tod herbei. - Möge er schnell kommen - vielleicht sogar um der Familie die Pflegekosten zu ersparen. Und wenn einer starb, das Zahlen der Gebühr für die »Unannehmlichkeit« oder für die verursachte Störung. Der Kubaner, der die unvorstellbarsten Ferkeleien, die er mit seiner Frau macht (einem Vamp mit gelblicher Haut, schwarzen Augen und fliegender Mähne) in jedem Detail beschreibt und in bewunderndem Ton kommentiert: »Eine Frau wie die finde ich nie mehr.« Erotische Entfesselung zwischen zwei Rumäninnen, von denen die eine ihren einundzwanzigjährigen Sohn verloren hat. Die Sinne als Mittel, um den Kummer zu lindern. Eine makabre Version der Chanson de Bilitis. Sagt der Chefarzt zu einem armen Teufel, einem Verwandten meiner römischen Freunde, die ihn mir anempfohlen hatten: - Ihr Herz ist von der Höhe ziemlich angegriffen. Wenn Sie nicht sofort hinunter ins Flachland gehen, werden Sie nicht überleben. Der Herr Direktor: - Wenn Sie die Rechnung nicht bezahlen, lasse ich Sie nicht abreisen. - Und er flüstert mir zu: - Es ist mir peinlich zu sagen, aber wissen Sie, diese Italiener . . . - Ich bürge für ihn, veranlasse das Nötige, um mir von zu Hause die erforderliche Summe kommen zu lassen und entrichte sie innerhalb von achtundvierzig Stunden. Der Herr Direktor ergeht sich in Dankesbezeugungen, nennt mich »Herr Graf« und verneigt sich äußerst würdevoll. Aber als er mir seine Hand hinstreckt, stecke ich die meine in die Tasche. Unendlich traurig die Lage dessen, der von zu Hause kein Geld mehr bekommt, er wechselte vom Sanatorium in die Pension, von der Pension ins möblierte Zimmer - Stufe für Stufe, immer weiter abwärts - bis er es nicht mehr schaffte und man eines schönen Morgens auf seinem Nachttisch ein Röhrchen Schlaftabletten fand, und das war leer. Und die qualvolle Rückkehr der Besiegten: wenn einer einen letzten Versuch der Rückkehr ins Leben gemacht hat und dabei gescheitert ist. Dann war da noch die Fauna der Abgestumpften, inzwischen zu keiner moralischen Regung mehr Fähigen, die schon so weit waren, daß sie Gesundwerden als eine Kalamität betrachteten, quod Deus avertat: Das Leben eines Kranken ist doch so bequem, ohne Verantwortung! Ein sanfter feiner Zynismus: - »Garçon! Apportez-moi une bière, mais pas en bois!« - und eine nebulose Hoffnungslosigkeit. Aber auch, dem natürlichen kompensatorischen Bedürfnis folgend, eine ebenso unbestimmte Gedankenlosigkeit. Unkenntnis? Uneingestandenes Wissen und Verdrängung der Realität des ständig

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gegenwärtigen »memento mori«, eine Obsession? Oder ein rein biologisches Faktum, dem der letzten paroxystischen Blüte kranker Bäume entsprechend? Jeden Frühling und jeden Herbst stellte sich von neuem das Problem der Beurlaubung nach Hause. Jedesmal I looked forward to it, kostete vorab die Freude aus, und jedes Mal bemerkte ich, wie ich mich im Netz einer Illusion verfing. Aber was wäre das Leben, wenn es sich auf nackte Berechnung beschränkte. Die Art, wie ich empfangen wurde, war unterschiedlich und aufschlußreich: forschende Blicke voller Skepsis, Gefühlsüberschwang, Sarkasmus. Im Halbdunkel einer Kirche, die ich aufgesucht hatte, um die Messe zu hören, kam die Mutter zweier heiratsfähiger Töchter versehentlich in meine Nähe. Als sie mich erkannte, nahm sie ihre beiden kostbaren Jungfrauen bei der Hand und entfernte sich eilig. So weit wie nur möglich. Ich fühlte mich unendlich viel glücklicher, wenn ich unter meinesgleichen war, logés à même enseigne. Nach jeder Rückkehr aus den Ferien Aufzählung der Toten, Bestandsaufnahme der noch Lebenden. Wie an der Front. Und das Register der letzten größeren und kleineren Skandale. Die Alltagswirklichkeit gewann auch in ihren schäbigen Aspekten die Oberhand. Und wieder die regelmäßige Liegekur. Auswirkungen des entspannten Liegens auf das physische und psychische Befinden. Die Morawitz kam auf die Definition: »Wir, die Ausgestreckten.« Die Erfahrung von Davos ist vielleicht eine schmerzliche und harte gewesen insofern, als sie mich den Verlust der Jahre gekostet hat, die im allgemeinen als die besten im Leben eines Mannes gelten. Aber sie hat sich insofern als ein Geschenk erwiesen, als jede Erfahrung eine Bereicherung darstellt und man sich daher keiner entziehen sollte. Sofern ich dort gelitten habe, dann nur, weil ich mich vom aktiven Leben ausgeschlossen sah. Ich bin kein eigentlich dynamischer Typ. Dennoch habe ich im Dynamismus des Lebens, der sich in Arbeit, Kreativität und solidarischer Teilnahme an der Aktivität der anderen ausdrückt, immer zutiefst die Wirklichkeit sowie den humanen Anspruch, das Schöne und Poetische empfunden. Nur diese ungewollte Untätigkeit quälte mein Inneres (und gab in der Folge Anlaß zu verschiedenen und vielleicht nicht immer vernünftigen Reaktionen). Zwei hellgrüne Augen, Haut von ungewöhnlicher Blässe, weiße fliegende Mähne. Eine beeindruckende Ähnlichkeit mit Liszt. Als ich sie kennenlernte, war die Professorin Lucia Morawitz vielleicht in den Sechzigern. Tochter eines Wiener Rechtsanwalts und einer Venezianerin, sprach sie wer weiß wie viel Sprachen. Als junges Mädchen war sie von zu Hause ausgerückt, um Medizin zu studieren. Im habsburgischen Wien war es nicht üblich, daß eine Tochter aus gutem Hause die Universität besuchte und schon gar nicht diese Fakultät. Sie spezialisierte sich auf Psychoanalyse und war Schülerin von Freud. So hatte ich das Glück, manches über ihn zu erfahren und zwar von jemandem, der ihn persönlich gekannt hat.

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Am Ende ihres Studiums wurde sie krank und brüstete sich damit, ihre Eltern mit einem folgendermaßen abgefaßten Telegramm davon in Kenntnis gesetzt zu haben: »Bin schwindsüchtig, fahre nach Abbazia.« Sie hatte einen Mann, einen Schweizer, die Ehe war jedoch von kurzer Dauer. Sie war weder für die Familie noch für den Haushalt gemacht, geschweige denn für einen helvetischen Ménage, wo alles von dem unumschränkten und absoluten Grundsatz ausgehen muß, daß zwei mal zwei vier ergibt. Sie sparte tatsächlich nicht mit beißender Kritik an den Schweizern, an ihrer bodenständigen Art, die Dinge zu sehen und die Angelegenheiten anderer zu beurteilen, pries die Seiten, die Hermann Keyserling in Spektrum Europas, das in jenen Jahren erschienen war, über sie geschrieben hatte. Als der Philosoph zu einem Vortrag nach Davos kam, gingen wir gemeinsam hin, um ihn uns anzuhören, und die Morawitz begeisterte sich für seine elegante, subtile, ganz nüancierte Ausdrucksweise, die viel eher französisch als preußisch war. Sie kannte ganz Europa, hatte sich in Rußland und Italien aufgehalten, wo sie in den Kreisen der Serao-Scarfoglio, Donna Laura Minghettis und der Bülow-Gravina-Wagner verkehrte. Ich habe den unbestimmten Verdacht, daß ihre außerordentliche Ähnlichkeit mit Liszt eine Verwandtschaft mit Cosima verbarg. Sie zog wirklich heftig gegen D'Annunzio vom Leder, den sie für schuldig hielt, sich das Vittorale und dessen Bibliothek, die Tode gehört hatten, auf zweifelhafte Weise angeeignet zu haben. Wenn mein Aufenthalt in Davos nicht ganz trüb war und diese Jahre nicht völlig verloren, so verdanke ich das hauptsächlich der Morawitz - der »Mwz«, wie sie zu unterschreiben beliebte. Wegen ihrer umfassenden und tiefen Sicht der alten und neuen Probleme, nämlich eine freie, antikonventionelle, meist unbefangene Sicht, die immer auf einer außergewöhnlichen, sprühenden, funkengleich in ihren Gesprächen aufblitzenden Bildung basierte (Die nordische und slawische Erdschwere verbunden mit der lateinischen und vielleicht magyarischen Lebhaftigkeit). Wegen der Objektivität, mit der ich diese Probleme zu sehen lernte. Denn sie lehrte mich, meinen Lesestoff sorgfältig auszuwählen und zu verarbeiten. Man kam oft bei ihr zu Hause zusammen - in einer kleinen, mit häßlichen Möbeln und altmodischem Plüsch vollgestopften Wohnung: Alles war ein wenig schmuddelig, wie häufig bei Intellektuellen, den wahren, nicht den Snobs. Und man traf dabei Leute unterschiedlicher Herkunft und Mentalität. Es gab Diskussionen, und manchmal sogar heiße, über alle möglichen Themen. Niemals oberflächlich, niemals banal, niemals steril. Von jedem dieser Abende ging man geistig bereichert nach Hause.

Januar 1941 Einladung bei den B.s . . . »ganz gemütlich unter uns«, einige Abende vor der Abreise nach Albanien. Ich treffe auf zahlreiche Vertreter der antifaschistischen lombardischen Elite, zu der ich trotz mancher Meinungsverschiedenheiten immer

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die besten Beziehungen unterhalten hatte. Man empfängt mich mit einem »Ach! Wir hätten dich gern in Uniform gesehen.« Dann plaudert man in aller Ruhe. Der Hausherr rückt damit heraus: - Im Grunde werdet ihr Freiwillige für uns die Blitzableiter spielen. - Ich merke, wie dieser Satz, der eine verhohlene, wenn auch weit verbreitete Ansicht wiedergibt, allgemeine Zustimmung hervorruft. Einer, dem es plötzlich etwas unbehaglich wird, richtet sich von seinem Stuhl auf. Ich fing (ich habe immer ein feines Gehör gehabt) einige ganz leise hingemurmelte Sätze auf: - Ja, um ehrlich zu sein, mir würde es wenig behagen unterzugehen. Ich verstehe. Ich bin als »chair-à-canon« zum Ruhm der hehren frondistischen Politik bestimmt. Mai 1941 Wegen Krankheit nach dem Ende der griechisch-albanischen Kampagne wieder zu Hause, gehe ich in Uniform eines Abends in eine Komödie ins Teatro Nuovo. Ich setze mich in eine Ecke der Proszeniumsloge und ein bekannter Parteigänger des Antifaschismus schiebt mich mit Gewalt nach vorn. »Zeig dich, zeig dich! Es ist gut, wenn die Leute sehen, daß auch die Mitglieder unseres Zirkels ihre Pflicht tun!« 1945 Der gleiche Herr grüßt mich und wendet dabei seinen Kopf zur Seite. Nachdem sich der Wind gedreht hat, ist die »chair-à-canon« zu verdorbenem Fleisch geworden.

Krieg und Gefangenschaft Im November 1940, als die militärischen Ereignisse an der griechisch-albanischen Front gefährlich ins Rutschen kamen, faßte ich den Entschluß, mich als Freiwilliger aufstellen zu lassen. Als bescheidener, von Davos angeschlagener Unterleutnant. Irrsinn? Ich weiß nicht. Meinem Gesuch wurde stattgegeben und am Ende des darauffolgenden Januar wurde ich zusammen mit den Reservisten an diese Front geschickt. Wir sollten die beängstigenden Lücken schließen, die dort entstanden waren. Ich schiffte mich in Brindisi ein und tauchte sofort in die erregende Atmosphäre ein, die immer da herrscht, wo Soldaten in den Krieg ziehen. Ich war überrascht, wie sehr Dürres den Bildern Bellinis glich (B.Gentile: Die Predigt des Heiligen Franziskus vor dem Sultan), fuhr durch das große, staubige ausgedehnte Tirana mit seinen barock ausgeschmückten Moscheen (Wien, das Tor zum Balkan) und dem typischen levantinischen Gestank nach rohem Fleisch und süßlichen Gerüchen. Dann kamen die sumpfige und wildernde Küstenebene, die Hügel mit den jahrhundertalten, von den Venezianern gepflanzten Olivenbäumen, die alten Landauer

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und die großen zweirädrigen knarrenden und klapprigen, von zotteligen Kleppern gezogenen Karren (Atmosphäre des Rußlands Tolstois). Ich war froh, die Etappenstraßen mit all ihrem Schmutz bald weit hinter mir zu lassen und die große Erfahrung als Männer unter Männern zu erleben, indem ich die Freuden und Leiden eines jeden in diesem Geist der Brüderlichkeit teilte, den allein die für ein gemeinsames Ideal anvisierte drohende Gefahr hervorzurufen vermag. Das Glück, dieses Erlebnis in vollkommener Einsamkeit zu genießen: weil es bei gewissen Erlebnissen, wie dem Aufbruch in den Krieg, wichtig ist, sich innerlich zu sammeln, das eigene Nichts zu spüren und im Angesicht Gottes zu leben. Joyce, Ulysses. Jemand gliedert seinen Tag in unendliche cogitationes verba et opera. Gnadenlose Analyse. Dann kommt er zu einer Synthese, einer Gesamtschau des Menschen wie er ist, ohne jegliche Illusion noch Fiktion. Im Krieg erlebt jeder ein wenig vom Thema des Ulysses. Ich wurde einer Batterie des 14. Artillerieregiments, der Division Ferrara zugeteilt, die sich an einem Abhang des Gólico verschanzt hatte. Erste, vorderste Linie. Das Regimentskommando war inTepelenë, der Stadt, die Byron in Child Harold's Pilgrimage besungen hat. Nachts auf Posten. Allarmzustand. Tückische Sturmnacht. Zwiegespräch mit den Sternen, mit den rasend dahineilenden Wolken, mit dem Wind, dem Mond, der erscheint und verschwindet und wie das menschliche Glück wieder aufscheint. Mit großer Eindringlichkeit fällt mir Le vent von Verhaeren ein. Merkwürdig die Eindringlichkeit, mit der gewisse Ideen den Geist in schlaflosen Nächten erregen. Noch immer Schüsse in den Nächten. Gelbe und rote Flammen. Goethe, Faust. Wer weiß, weshalb ich daran denke. Die Paraphrase der Stelle aus dem Johannesevangelium: »In principio erat verbum« - und die Schlußfolgerung »Nein, am Anfang war die Tat!« Vorrang der Tat vor dem Gedanken, der ursprünglich tellurischen Dinge vor denen des Geistes in jedem »uranfänglichen Moment«. Warum bin ich in den Krieg gezogen? Oftmals habe ich mich das gefragt und geglaubt, viele Erklärungen gefunden zu haben. Zu simpel wenn nicht gar unaufrichtig die der patriotischen Begeisterung, vor allem im Fall eines innerlich nicht mitempfundenen Krieges. Da spielt sicher eine gewisse Reaktion auf meine blöde Situation als »Herrensöhnchen« eine Rolle. Aber vielleicht auch das unbewußte, kollektive Bedürfnis der heutigen Generation, sich zu »rehumanisieren« (Keyserling). »Leiden mit denen, die leiden.« Und weshalb nicht auch »oportet frumentum mori?« Ich habe es immer abscheulich gefunden, sich im Schneckenhaus des Egoismus abzukapseln, allein von der Sorge um das persönliche Wohl und die Wahrung des materiellen Besitzes getrieben, wenn das Vaterland - oder auch eine andere Entität, der man durch Geburt angehört - Erziehung, Religion, gemeinsame Gefühle - eine Krise durchmacht. Das Leben hat wenig oder gar keine Bedeutung ohne das »Erleben«. Man muß einfach an den historischen Ereignissen Anteil nehmen, sie verarbeiten. Nur auf diese Weise hat man die Erfahrung und die Sensibilität, die man braucht, um sich neuen Situationen zu stellen. Sonst haften

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unsere Wurzeln nicht mehr im menschlichen Humus, ohne den das Leben etwas Erbärmliches ist. Im vorliegenden Fall war ich zudem der Meinung, daß, würde eines Tages der Faschismus zur Rechenschaft gezogen (1940—41 sah man die totale débàcle noch nicht voraus), es ganz wichtig wäre, von einer starken Position auszugehen, die nur die aktive Teilnahme am Krieg mit allen dazugehörigen Risiken und Opfern würde garantieren können. Ich habe mich vielleicht geirrt, habe es aber nicht bereut. Mein Leben an dieser Front war von einem merkwürdigen Ereignis überschattet, das mir auf grausame Weise die Unbeständigkeit des Geschicks und die Eitelkeit unserer guten Absichten deutlich machte. Es geschah während eines Artilleriegefechts, in dem wir schwerwiegende Verluste hinnehmen mußten. Vom Gruppenkommando war der Befehl zum Einstellen des Feuers gekommen, als wir von einem unerwarteten, heftigen Hagel von Granatwerfern angegriffen wurden. Der Unterstand war gedrängt voll mit Männern und ich selbst halb drinnen und halb draußen vor dem Eingangsstollen. Da stürzte ein vom Schock erfaßter Artillerist herbei. Ich trat zurück, wie es sich für jeden Offizier gehört, überließ ihm den Platz und blieb draußen, überzeugt, daß nun mein Ende gekommen sei. Eine vermaledeite Granate explodierte am Rand des Stollens, die Splitter zischten wie verrückt herum und einer erwischte diesen armen Jungen, der tödlich getroffen in meine Arme fiel. Gerade er, den ich zu retten versucht hatte, indem ich ihn in Deckung gehen ließ! Als die Feindseligkeiten beendet waren, stieg ich eines Morgens zum Gólico hinauf, um nach einigen Toten zu suchen, die uns gemeldet worden waren. Ich durchquerte eine jener Gegenden, die zur Zerstörung und zum Gemetzel geradezu geschaffen zu sein scheinen. Steine, Steine, nichts als Steine. Fahler Mondschein. Bilder wie die Fresken im Camposanto von Pisa. In den Überresten einer in der Mitte getroffenen Feldschanze zwei Beine und ein verkohlter Rumpf. Von wem? Ein kniender Grieche, nach vorne geneigt, so daß er mit seinem Kopf den Boden berührte, die Hände ans Herz gepreßt, als ob ihn der Tod im Augenblick des höchsten Leidens versteinert hätte. Unweit davon, in der Enge eines Laufgrabens, die Überreste eines italienischen Offiziers. Übriggeblieben war sein zerfetzter Waffenrock, darin ein grünlicher Brei, der Kopf, den der Stahlhelm barmherzig verbarg, war vom Rumpf getrennt. Und dann dieser ausgestreckte Arm mit der in einer Verzweiflungsgeste erstarrten Hand. »Wenn ihr die Grauen der Verzweiflung sehen w e r d e t . . . « Im April begann es mir schlecht zu gehen, ich schwoll an wie ein Schlauch. Ich wurde in das scheußliche Hospital von Vlorë eingeliefert und dann wegen Nierenentzündung und einer Gesichtslähmung nach Hause geschickt. Anmaßung und Zynismus der »Vasellina«. Nach der Rekonvaleszenz eine lange, ruhige und öde Zeit bei einer Küstenbatterie in San Cataldo di Lecce. Dann wurde ich wegen meiner Fremdsprachenkenntnisse zum Kommando der VI. Armee nach Sizilien versetzt, wo ich von Zeit zu Zeit auch die Aufgabe hatte, gefangene Kommandos zu verhören. Das bot mir die Gelegenheit, die unterschied-

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lichsten Exemplare der Spezies Mensch, die man sich vorstellen kann, kennenzulernen, vom ganz jungen Helden bis zum schlimmsten Gauner. Aber als ich im Sommer 1943 den Zusammenbruch miterleben mußte, trauerte ich geradezu den in Albanien erlittenen Entbehrungen, der Kälte und dem Hunger nach. Dann kam die Gefangenschaft in Deutschland und in Polen, die hart aber gewiß nicht vergleichbar mit der entsetzlichen in den Vernichtungslagern war. Unangenehm die Transporte in den plombierten Viehwagen, vor allem wenn man sich, wie es uns auf dem Bahnhof von Braunschweig passierte, von der Eskorte während eines Luftangriffs im Stich gelassen sah. Keine Ausbruchsmöglichkeit. Phasen von Geistesverwirrung. Im Lazarett des Lagers von Alexisdorf, das jüdische polnische Ärzte leiteten. Liebenswürdig, höflich, menschlich. Einer sagt zu mir: - Ce sera dur pour toi prépare-toi à endurer de graves souffrances - mais cette absurde situation ne pourra quand-même pas durer longtemps - c'est contre toutes les lois humaines et divines!Eine wunderbare biblische Synthese. Zwischen Krakau und Prszemysl fuhr der Konvoi im hereinbrechenden Abend eines herrlichen Herbsttages an einem Waldessaum entlang. Es war meine erste Begegnung mit dem Wald im Osten, der so unendlich verschieden von den gleichförmigen, monotonen, geometrischen, aufgereihten teutonischen Tannenwäldern ist. Bäume jeder Art und jeder Größe in wildem Durcheinander und das sehr hohe, undurchdringliche Unterholz. Fast eine Replik des tropischen Regenwaldes. Der Zug fuhr im Schritt voran, die Tür des Viehwagens war entriegelt, ich lehnte am Balken und betrachtete dieses Dickicht und diese Dunkelheit. Ich stellte mir in meiner Phantasie Begegnungen mit wilden Tieren vor, die menschlicher als die menschlichen Bestien waren, ich träumte von einem Landstreicherleben, wo ich mich von Kräutern und Wurzeln ernährte, vom verstecken in irgendeiner abgelegenen Isba. Ich empfand die gleiche Art magnetischer Anziehungskraft, die man am Rande eines Abgrundes spürt. Ich fühlte mich im Bann der Lust, mich verschlingen zu lassen. Lieber die wilde Natur als die geistesgestörte Zivilisation. Lieber Unsicherheit und Risiko als die Gewißheit, wie eine Maus in der Falle zu enden. Ich wandte mich um, um mich zu vergewissern, daß es niemand bemerkte. Ein deutscher Kerl bewachte mich grinsend. Verdammt! Am Bestimmungsort, dem Lager von Nehribka bei Prszemysl angelangt und nachdem die Benommenheit, die auf die Gefangennahme und die Ortsveränderungen in den Wagons »Chevaux 8 - Hommes 40« folgte, überwunden war, konzentrierte ich mich, kaum daß ich einige Minuten Ruhe finden konnte, darauf, ein wenig über meine Lage nachzudenken. Ich machte mir keine Illusionen, sah der Realität ins Auge. Hinter mir lag der schöne Krieg in Albanien - schön wegen der dort vorherrschenden Brüderlichkeit, wegen dem Kitzel der ständigen Gefahr, weil man noch hoffte, daß unsere Opfer zu etwas nütze wären - dann die vegetative Phase bei der Küstenbatterie und die völlig reizlose beim Kommando der VI. Armee, die verhaßte Sizilienkampagne und deren unrühmliches Ende. Vor mir die lange und

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harte Gefangenschaft, mit der geringen Wahrscheinlichkeit, daß mein Organismus sie überstehen würde und außerdem die Gefahr vom Unheil, daß meiner Mutter in der allgemeinen Auflösung zustoßen könnte, ohne daß es mir möglich wäre, ihr zu Hilfe zu kommen. Und dennoch stellte ich mir das tägliche Gefängnisleben in all seiner Härte vor. Ich begriff, daß dieses Leben zur Hölle werden könnte, sobald ich der Ungeduld, der Verletzlichkeit und dem Egoismus freien Raum ließe. Die Vorsehung hatte mich dieser Prüfung unterziehen wollen und es wäre vergeblich gewesen, mich dagegen aufzulehnen. Keine Situation ist absolut gut oder vollkommen schlecht. In jeder muß man das Gute suchen und als Erfahrung herauslösen oder als Geschenk Gottes werten, das der eigenen Vervollkommnung dient. Ich machte also mein Programm: die mir gebotene Gelegenheit nutzen, um mich zu zwingen, in meinem kleinen Kosmos Tag für Tag das Gesetz des Evangeliums in die Tat umzusetzen: die Opfer auf sich nehmen, geduldig sein, Böses mit Gutem vergelten, niemanden hassen. Und das alles mit fröhlichem Herzen. Manchem Anschein zum Trotz bin ich ein skeptisches und kühles Temperament, wenig geneigt, mystischen Anwandlungen zu folgen. Nun, ich kann behaupten, daß sich auf mich eine so wärmende Tröstung, eine solche innere Heiterkeit senkte, daß dieses Gefängnisleben, das, wie ich schon sagte, leicht ein Inferno hätte werden können, mir hingegen eine beneidenswerte Gelassenheit bescherte.

Gefängnis. Die O p t i o n e n Zwischen Weihnachten und Neujahr wurde der Besuch einer Vertretung von Offizieren des Republikanischen Heeres angekündigt (die Bezeichnung »repubblichino« gab es damals noch nicht). An einem grauen Morgen kamen diese etwas unscheinbar und unbedarft aussehenden Herren an und wir mußten im Hof antreten. Der Chef der Mission hielt eine in Ton und Inhalt ernsthafte Ansprache. Indem er jegliche Anspielung auf den 8. September vermied, die auf uns hätte demütigend wirken können - vielleicht war ihm die schlechte Figur, die Oberst Carloni gemacht hatte, eine Warnung gewesen - erklärte er uns die damalige italienische Lage, die in militärischer wie politischer Hinsicht verheerend, ja katastrophal war. Das Land war zum Schlachtfeld der beiden feindlichen Kolosse geworden, die Wirtschaft in der Krise. Er unterstrich die schweren Rückschläge, deretwegen das Land darniederlag und die durch den Mangel an Männern bedingt waren, da diese zum Teil kämpften, zum Teil deportiert waren und so ihrer üblichen Tätigkeit nicht nachkommen konnten. Und er Schloß mit der Behauptung, daß die Option uns die Möglichkeit bot, uns dem Vaterland noch nützlich zu machen. Dies war die offizielle Rede. Danach wurden wir in Kenntnis gesetzt, daß der Leiter der Mission im Büro des italienischen Lagerkommandos war und wir zu ihm gehen könnten, um Näheres zu erfahren. Wir gingen tatsächlich in kleinen Gruppen hin, und er sagte uns Dinge, die er in Gegenwart der Deutschen nicht zu sagen gewagt hatte. - Ich

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hasse sie genauso wie ihr - infolge der Deportationen schleichen sie sich überall ein - und übernehmen alle eure Posten. Vor allem die älteren Jahrgänge unter euch, die entlassen werden, sollten nicht zögern zu optieren. Kehrt nach Italien zurück und blockiert den Deutschen den Weg. Das Problem zeigte sich unter einem neuen Aspekt. Seit dem Tag unserer Verhaftung hatten wir dem Vaterland nur passiv dienen können. Die Negation diente als Affirmation eines Prinzips und dieses Prinzip der Treue und der Solidarität hätte theoretisch sein Gewicht im Finale des Kampfes spüren lassen müssen. Nun wurde uns hingegen die Möglichkeit angeboten, noch in irgendeiner Weise nützlich zu sein ! Noch etwas für unser armes liebes Italien tun zu können ! Nach vier Monaten der Untätigkeit, während andere auf dem Kriegswagen kämpften, erschien uns diese Aufforderung wie das Morgenlicht nach einer langen Nacht. Ich weiß nicht, ob man in den Untersuchungen über die Psychologie des Gefangenen jemals in Betracht gezogen hat, zu welch gefährlichem Ratgeber die Langeweile und das Gefühl der eigenen Nutzlosigkeit werden können. Es gehört zu den Künsten des Teufels, daß er die schlechten Dinge rosarot färbt, die Objekt der Versuchung sind. Wenn die Option als absolut verwerflich anzusehen ist - Evil müssen wir zugestehen, daß die Gründe, die uns genannt wurden, nichts anderes waren als satanische Einflüsterungen. Und zweifelsohne waren es üble Einflüsterungen, indem sie die uns einende Solidarität zerstörten und uns in zwei Lager teilten. Da gab es welche, die sich von Anfang an weigerten, diese Gründe überhaupt in Betracht zu ziehen, andere hingegen machten daraus einen Gewissenskonflikt - oder, wenn wir so wollen, öffneten der Versuchung die Tür. Von den insgesamt mehr als zweitausend in Nehribka internierten Offizieren optierten ungefähr achthundert. Waren die alle Helden, die ihrem Eid treu blieben? Es widerstrebt mir, Schmutz auf Kameraden zu werfen, die ihre Soldatenpflicht buchstabengetreu erfüllt haben. Nichts liegt mir ferner. Aber die vorliegenden Aufzeichnungen, die den Charakter einer Chronik haben, die die Ereignisse auf exakteste und vollkommenste Weise wiedergeben will, verlangen, daß die ganze Wahrheit gesagt wird. Von den achthundert Optierenden war ein kleiner Prozentsatz fanatische Faschisten vom Typ MVSN, ein Teil gehörte den älteren Jahrgängen an, die von der niedrigen Altersgrenze im republikanischen Heer profitierten und damit rechneten, nach Hause geschickt zu werden. Wiederum ein Teil waren Kranke, die es nicht mehr aushalten konnten und dann gab es Leute, die guten Glaubens annahmen, dem Vaterland besser dienen könnten, wenn sie optierten und schließlich noch die Opportunisten. Man muß hinzufügen, daß sie überhaupt nichts von den Grausamkeiten wußten, die die Nazifaschisten begangen hatten. Von den Nicht-Optanten waren einige eingefleischte Antifaschisten, viele aktive Offiziere, die bemüht waren, ihre weitere Karriere nicht aufs Spiel zu setzen, andere für die die Bindung an ihr einmal gegebenes Wort jede andere Überlegung ausschloß, einige ganz junge, die mit Sicherheit in kämpfende Truppenteile aufgenommen worden wären »quod praecipue vitandum«, schließlich gab es eine beträchtliche Zahl von Leuten, die es müde waren zu kämpfen und die nur einigermaßen lebend das Kriegsende errei-

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chen wollten. Auf beide »Parteien« hatte die von ihren Vorgesetzten vertretene Meinung Einfluß. So erging es der Gruppe von Offizieren des Kommandos der VI. Armee, zu der ich gehörte, der das philogermanische Verhalten von Rosi und Guzzoni bekannt geworden war. In knappen Worten war das die Lage. Mein unruhiger Geist ließ mich zu denen gehören, für die die Option zum Gewissenskonflikt wurde. Ich war gewiß nicht deshalb als Freiwilliger angetreten, weil ich an den Nutzen und die Heiligkeit des Krieges glaubte, sondern vielmehr aus der Überzeugung heraus, daß sich alle Diskussionen verbieten, wenn das Vaterland in Gefahr ist und jeder seine Pflicht tun muß. Und darum beabsichtigte ich auch, meinen haarspalterischen antifaschistischen Freunden eine kleine Lektion zu erteilen - so sehr ich auch in der Gefangenschaft in Seelenruhe lebte, schien es mir doch schäbig, die sich mir bietende Gelegenheit zurückzuweisen, Italien noch dienen zu können. Nachdem nun keine Zweifel mehr über den Ausgang des Konflikts bestanden, erschien mir das als Opportunismus, was für die anderen eine deutliche und einfache Lösung des Problems darstellte. Die Worte Machiavellis, die dazu rieten, immer dem Schicksal des Stärkeren zu folgen, hämmerten unentwegt in meinem Hirn. Aber wegen einer seltsamen geistigen Inversion und Komplikation, eben weil ich niemals persönlichen Ehrgeiz (vielleicht viel zu wenig) gehabt habe, widerstrebte es mir, sie zu beherzigen. Ich Schloß von vorneherein die mich mit Abscheu erfüllende Möglichkeit aus, gegen meine Brüder zu kämpfen und Schloß auch das im abschätzigen Sinne des Wortes sehr italienische Partei ergreifen für die eine oder andere Faktion aus. Ich dachte an Italien, einzig an Italien, dem jeder die Pflicht hatte von sich zu geben, was er konnte. Ich nahm an, daß ich, indem ich mir die nun überschrittene Altersgrenze zunutze machte, zur Kategorie derer gehören würde, die man nach Hause schicken würde, wo ihre Anwesenheit sinnvoll sein könnte, um die deutsche Invasion aufzuhalten. Ohne irgendeine Vorstellung von Kollaboration zu haben, dachte ich, die Pflicht der Italiener, von denen das Schicksal gewollt hatte, daß sie sich in meiner Lage befanden, wäre die, eine wenn auch reservierte, so doch korrekte Haltung den Deutschen gegenüber einzunehmen in der Absicht, die Bestie zu beschwichtigen und unserem unglücklichen Vaterland Elend zu ersparen. Und das Problem der Eidestreue zeigte sich mir in einem besonderen Licht. Ich sah darin nicht so sehr den Buchstaben wie den Sinn, der für mich vor allem in der vollkommenen Hingabe an das äußerste Wohl Italiens lag. Deshalb schien mir das Ausmaß der Tragödie, in die Italien geraten war, so immens, daß es auch von mir dieses Opfer forderte, so sehr es mir auch zuwider war. Ich hielt den Augenblick für gekommen, in dem ich den Mut haben müßte, das Böse zu tun, insofern aus dem Bösen das Gute erwachsen kann. Deshalb stimmte ich gedanklich, ideell mit den Waffenbrüdern überein, die auf der anderen Seite der Barrikade kämpften. Obwohl wir unterschiedliche Wege gingen, kämpften und litten wir alle mit dem Blick auf das gleiche Ziel. Zu diesen Überlegungen kam das Problem der Gesundheit, die sich rapide verschlechterte. Zudem erfuhr ich, daß den zur Heimkehr bestimmten Offizieren nicht der gefürchtete Treueeid auf die Republik abgenommen werden würde. Die

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Formalitäten würden sich auf die Verpflichtung beschränken, keine feindlichen Handlungen gegen die deutschen Streitkräfte zu begehen. Dennoch verbrachte ich einige Tage innerer Qual. Ich werde niemals diese schlaflosen Nächte vergessen. Trotz aller moralischen Rechtfertigungen, die ich mir ausdachte und zusammenreimte, spürte ich, daß es sich um eine Versuchung handelte. Ich kämpfte gegen sie an, lehnte mich gegen sie auf und neue, überzeugendere Argumente kamen mir in den Sinn. Ich war an dem Punkt angelangt, an dem ich nicht mehr genau zu beurteilen vermochte, wo die Argumente mit einer realen moralischen Basis aufhörten und wo sie begannen »ad justificandum verba malitiae«. Ich wurde damit einfach nicht mehr fertig und warf mich dem Kaplan, Pater Lazzeri, zu Füßen; in meinem Inneren hoffte ich, er würde mir sagen: »Tu es nicht!« - Ich beichtete ihm meine ganze Qual, ließ auch etwas von der Vergangenheit meiner Familie durchblicken, die ich nicht entehren wollte. Aber er riet mir zur Option. Was für mich Konflikte waren, waren für ihn Dinge, die von der Entwicklung der Lage überholt worden waren. Ich kam von dem Gespräch deprimierter als je zuvor zurück. Also unternahm ich einen weiteren Schritt. Bevor ich mich engagierte, hielt ich es für sinnvoll zu wissen, inwieweit die Deutschen diese Option ernst nahmen. Ich wollte nicht »die Katze im Sack kaufen«. Im deutschen Lagerkommando war ein alter Major der Wehrmacht, ein anständiger Mann, ein Herr, der mit der Abwicklung der Optionsverfahren beauftragt war. Ich begab mich in sein Büro und inszenierte eine schamlose Komödie. Mit bewegtem Unterton sagte ich ihm, daß es mir immer widerstrebt hätte, als ein Verräter zu gelten, nachdem ich gemeinsam mit den Deutschen gekämpft hätte; daß ich genau deshalb, als Beweis meiner Treue, mit Freude das Angebot der Option angenommen hätte ; aber mein Gesundheitszustand erlaube es mir nicht, aktiv zu dienen; also sei ich von Skrupeln geplagt; ich hätte zu gern optiert, aber ich wollte es nicht einzig und allein tun, um daraus den Vorteil zu ziehen, nach Hause geschickt zu werden. Der gute Major sah mich an, dann griff er mit gleichgültiger Miene nach einem auf seinem Schreibtisch liegenden Packen hektografierter Formulare, schüttelte ihn und antwortete: »Ach, so ein Ding würde ich jedenfalls unterzeichnen!« Das reichte mir. Nun wußte ich, was ich zu tun hatte. Ich schlug die Hacken zusammen und schlüpfte zur Tür hinaus. Im Flur dann schämte ich mich richtig vor mir selbst wegen der großen Unverfrorenheit, die ich an den Tag gelegt gatte. Ich hätte mich dessen nicht für fähig gehalten. Aber ich erinnerte mich an den zynischen, wenn auch zutreffenden Kommentar eines Kameraden: - Sie haben mich mit List geschnappt, nun habe ich das Recht, ihnen mit List zu entwischen. - und ich lachte. Es war das einzige Lachen in diesen Tagen. Am folgenden Morgen präsentierte ich mich wegen der Formalitäten zusammen mit den Kollegen des Kommandos der VI. Armee. Einiges Wasser ist inzwischen den Fluß hinabgeflossen. Noch manchmal verweilen meine Gedanken bei dem schwierigen Fall der Optionen und alles, was so geschehen ist, bewegt mich zu diesen Schlußfolgerungen. In ähnlichen Situationen wie die, in denen ich mich befand, siegt die einfache, gradlinige Entscheidung. Es ist falsch, sich in Spitzfindigkeiten zu verzetteln, in

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Zerebralismen, die zweifelsohne zu nichts führen. Man muß kurzen Prozeß machen. Die getane Pflicht, die Opfer zählen in dem Maße, wie sie zum Erfolg des Unternehmens beitragen und in solch einem Fall werden sie auch über Gebühr gewürdigt. Im gegenteiligen Fall wird die ganze Vergangenheit entwertet, ausgelöscht und irgendwie zählt nur der letzte Akt. Keinem wird eine ehrenwerte Absicht unterstellt, weil man annimmt, daß jeder in unredlicher Absicht gehandelt hat oder zumindest aus Opportunismus. Der Rat Machiavellis, den ich aus Gewissensskrupeln nicht befolgen wollte, ist von La Fontaine in eine absolut unmoralische Maxime gefaßt worden, die nichtsdestoweniger unter den Vorzeichen der unterschiedlichen Regime und allen atlantischen Charten zum Trotz zutrifft: »La raison du plus fort est toujours la meilleure.« Ich habe immer die Schönheit der lombardischen Seen geschätzt - vor allem die des Comer Sees - vielleicht aus gefühlsmäßigen Gründen, vielleicht weil die Linien der Berge viel ausgeprägter sind, die Proportionen gleichmäßiger, ausgeglichener, die manchmal lebhaften, manchmal samtenen Farbtöne abwechslungsreicher, die alten menschlichen Siedlungen heimeliger und bis vor kurzem in ihrem unveränderten bescheidenen Aussehen genuiner und lebhafter. Aber es stört mich an diesen Seen die Trennung, die im 19. Jahrhundert zwischen der natürlichen Umgebung und der künstlichen Opulenz der Villen entstand. Ironischerweise geschah diese Einmischung manchmal im Zeichen Rousseaus und Buffons. Eine schlecht verstandene, gedankenlose und unbesonnene Begeisterung für die Pflanzen, die unvorbereitet ausbrach und wie ein Gewitter aus heiterem Himmel im Namen des Neuen verwirklicht wurde - das Neue um des Neuen willen und aus Gründen der Rivalität, - ist verantwortlich gewesen für diese Majestätsbeleidigung der Natur. Der Harmonie der Landschaft bis zum 18. Jahrhundert kam, davon bin ich überzeugt, eine viel größere kulturelle Bedeutung zu - als Wälder, Weingärten, Wiesen und Olivenhaine sich organisch bis zum Wasser hinabzogen und der grüne Teppich in seiner Natürlichkeit aus Elementen gewebt war, die durch ihre Herkunft aus gemeinsamen Wurzeln verbunden waren, als die kleinen, aus Steinen der Gegend errichteten Dörfchen mit ihren Kirchtürmen aus dem 13. Jh. das Bedürfnis des Volkes nach der Nähe Gottes ausdrückten, als der Rhythmus der Jahreszeiten und der Herzschlag des ländlichen Lebens mit der Folge der Saaten, der Ernten, dem Almauf- und abtrieb die Atmosphäre des Comer Sees prägte. Herbst 1949

Zurück von Mariette Lydis, die unerwartet nach Loveno gekommen ist, um die von ihrem Mann Giuseppino Govone vererbte Villa in Besitz zu nehmen. Sie, ausgerechnet sie, die an den Komfort, an das Raffinement, an den Chichi von Paris gewöhnt ist . . . (»J'avoue que j'aime un certain luxe«) schickt sich an, in diesem großen abbröckelnden Kasten zu überwintern. Keinerlei Angst. Mit einem

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unglaublichen Organisationstalent gelingt es ihr in wenigen Tagen, die alte Warmwasserheizung in Gang zu bringen und ein Bad einzurichten. Sie stellt mir Monsieur Gaspard vor, ihren graublauen Pudel, ein in dieser Zeit seltenes Tier, mit einem grünen Pappzylinder auf dem Kopf. - Tiens, il y a un pipi à ce radiateur - faut appeler l'ouvrier - vite, vite! - . Sie hat auch eine Hilfssekretärin mitgebracht : ein dick geschminktes Riesenweib mit rotgefärbten Haaren, herrlichen Brüsten und Schenkeln. Fritzy Grunelius ruft aus: Aber sie sieht aus wie ein Toulouse-Lautrec! - Nach einigen Monaten verschwindet sie unter Hinterlassung von Schulden. Mariette erzählt mir von ihrer Karriere als Künstlerin. Sie hat nie Stunden genommen. Mit 42 Jahren entdeckte man ihr Talent. Zufällig. Morgens schläft sie, steht zu Mittag auf, gegen zwei Uhr macht sie eine Mischung aus Frühstück und Mittagessen, dann Shopping und mondänes Leben. Am Abend großes Essen, ein wenig wie die Sänger. Gegen Mitternacht macht sie sich an die Arbeit und bleibt bis früh um vier oder fünf daran. - Ich vertraue Ihnen - sagt sie zu mir - ein Geheimnis an: Ich mache nie eine Skizze zu einem Bild. Ich beginne bei irgendeinem Punkt, einem Auge, einem Mund, einer Hand, und führe diesen dann gut aus. Der Rest kommt von allein, und es besteht keine Gefahr, daß mir ein Irrtum in den Proportionen oder in der Perspektive unterläuft. Ich kann mir wirklich nicht erklären, wie es geht. Aber es ist so. Manchen Dichtern strömen die Reime spontan aus der Feder, ohne daß sie je einen häßlichen Vers geschrieben hätten.

Die Parks Von Kindheit an habe ich die Natur, die Pflanzen und Tiere geliebt. Meiner Familie gehört ein Park, der die Hand eines guten Gartenarchitekten verrät - er ist in der Tat das Werk Balzarettos - und den einige seltene Bäume im weiteren Umkreis bekannt gemacht haben. Balzaretto war ein Freund des Hauses, und indem er meinen Onkeln und meinem Vater einige Geheimnisse seines Berufes anvertraute, weckte er in ihnen die Leidenschaft für den Gartenbau. So wuchs ich in einer Umgebung auf, wo dieser an den geruhsamen Herbstabenden um die Petroliumlampe eines der Hauptgesprächsthemen war. Wegen eines zu fällenden Baums, eines neu zu eröffnenden Ausblicks und des Kaufs irgendeiner besonderen Pflanze trat eine Art Familienrat zusammen. Daran nahm auch Riccardo teil, der in unserem Hause geboren war, da gelebt hatte und mit neunundachtzig Jahren gestorben ist: ein würdiger Mann mit besten Manieren, der wie alle damaligen Obergärtner die Weste ohne Jackett mit den unvermeidlichen Scheren in der Tasche trug. Und von Botanik verstand er so viel wie in Professor. Zudem war er der Doppelgänger Benedetto Croces. Als die Gräfin Leopolda Casati eines nachmittags von Arcore nach Loveno auf Besuch kam, nachdem der Philosoph bei ihr zu Gast gewesen war, war sie verblüfft.

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Während meines langen Aufenthaltes in Davos widmete ich mich dem Studium der Gartenarchitektur und habe vornehmlich damals wegweisende deutsche und englische Texte gelesen sowie einige Artikel für Zeitschriften geschrieben. Später begann man Gutachten bei mir einzuholen und mir Gartenprojekte anzutragen. Der liebe gute Riccardo blieb mein bester Lehrmeister. Ich konnte mich von der fundamentalen Bedeutung der Struktur beim Anlegen eines Parkes überzeugen, von der absoluten Notwendigkeit ihres Vorrangs vor dem Dekorativen in seinem Grundschema. Ein Strukturkonzept, das sich in der Präsenz eines Themas, eines Schwerpunkts konkretisiert und im Bemühen um geeignete, sie akzentuierende Kunstgriffe, ohne dabei der Versuchung zu erliegen, sie mit zahlreichen Details zu überfrachten. Das unbefriedigende Ergebnis vieler moderner italienischer Parks beruht ja gerade auf dem Fehlen eines Plans, auf der Tatsache, daß die Linearität von der Detailfülle erstickt wird. Die Aufmerksamkeit vieler Landschaftsplaner richtet sich mit detailbesessenem Blick ohne ein Gesamtkonzept auf Einzelheiten. Taktik statt Strategie. Die Mentalität des Dekorateurs, um nicht zu sagen des Tapezierers, überwiegt vor der des Architekten. Manche absurde Arrangements, Produkte einer wesentlichen Lücke in der humanistischen Kultur. Und dagegen aufgrund der Ärmlichkeit der Ideen und Kenntnisse viele versäumte Gelegenheiten, auch wenn das Angebot an Zierpflanzen niemals so reichhaltig war wie heute. Nur darf es nicht leichtsinnig genutzt werden. Bei einer Begegnung mit Monsignore Montini, dem damaligen Erzbischof von Mailand, kam das Gespräch auf Parks. Indigniert sagte er zu mir: »Wissen Sie, daß man um die (Villa) Caprarola eine Tannenschonung angelegt hat? Wissen Sie, was das heißt? Tannen an der Caprarola! Das ist eine Kulturschande!« Und außerdem: die Bedeutung des Raums. Schon Le Nôtre hatte dem italienischen Park, aus dem er doch keineswegs folgenlose Lehren gezogen hatte, räumliche Unzulänglichkeit vorgeworfen, die übertriebene Anhäufung dekorativer Elemente, den erstickenden Atem. Ein weiterer Umstand, dem nicht immer gebührend Rechnung getragen wird, ist der der Lage, des Eingliederns des Parkes in die Landschaft, ja seiner harmonischen Verbindung mit ihr. Einem überholten Konzept folgend, neigt man oft dazu aus dem Park ein »Stück« zu machen, ein (angebliches) Kunstwerk: die schöne, von einem berühmten Konditor hergestellte Torte. Manchmal findet man neben dem der Landschaft ein weiteres Element von großer Bedeutung: die von einer alten Tradition hinterlassene Spur ländlicher Zivilisation. Olivenhaine und wegen ihrer jahrhundertealten Patina wunderschöne, von schmucklosen Mauern gesäumte Terrassen. Es ist ein Verbrechen, sie zu zerstören. Der Beruf des Gartenplaners, der schon wegen der Schwierigkeit, die Ausmaße der später ausgewachsenen Pflanzen einzuschätzen, ein anspruchsvoller ist, ist vor allem in Italien kein leichter und immer angenehmer. Die Ignoranz vieler Leute läßt einen erstarren und dazu kommt eine unvernünftige Ungeduld, die Sucht nach

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Augenblickseffekten und frappanten Lösungen um jeden Preis. Man möchte den »Blickfang« (»Pour épater le bourgeois«). Der Geschmack nivelliert sich zusehends und da »der Klient immer Recht hat«, sind die Baumschulen auf die Massenproduktion der am meisten gefragten Arten ausgerichtet. Vulgarität. Der Klient, der erschöpft die Fertigstellung der Villa, die nicht selten die geplanten Kosten um das Doppelte überstiegen hat, erreicht hat, bemüht sich nun, die aufgestaute Wut am Dach auszulassen und versucht, ein bißchen Geld zu sparen. Oder er sieht, nachdem er lange vom Architekten bevormundet wurde, im Garten die ersehnte Möglichkeit, um nun endlich die eigenen fixen Ideen ausleben zu können. Nicht ohne die Unterstützung der Ehefrau, der Tochter oder der Geliebten, denen man keinen Wunsch abschlagen kann. Es passiert heute selten, daß man verständige Leute trifft, Leute, deren Hobby die Gartenkunst ist oder sogar die Spezialisierung auf einen ihrer Zweige, Leute, für die die Pflanzen keine reglosen Objekte sind, sondern lebende Dinge mit all ihren Anforderungen, aber auch mit dem Reiz lebendiger Kreaturen. Unter diesen wenigen Personen habe ich den Trost gehabt, ehrliche, tiefe, sehr liebe Freundschaften wachsen zu sehen.

Einige Dinge von denen manche Leute meinen sie seien »vornehm« 1) Das Besteck zwischen Daumen und Zeigefinger so weit vorne halten, daß der Griff nach oben heraussteht. 2) Ein Spitzendeckchen unter die Teetasse oder das Aperitivglas legen. 3) Die Milch noch vor dem Tee in die Tasse gießen und dabei betonen, daß das in England so üblich sei (in England machen es die kleinen Leute so). 4) Mit dem Löffel in der Tasse herumrühren, um den Zucker zergehen zu lassen. 5) Sagen: - Ich hatte ein leichtes Brennen im Magen und habe mir einen silbernen Löffel mit Magnesium-Bisurat bringen lassen - . 6) Zur »cena« einladen und damit das Abendessen meinen (die Cena ist die, die man um Mitternacht einnimmt; entspricht dem französischen »Souper« und dem englischen »supper«). Angewohnheit der römischen Kleinbürger, von denen aus Cinecittà verbreitet. 7) Einen Blumenstrauß in Cellophan gewickelt übergeben. 8) Vorm Hinsetzen die Schöße des Mantels, des cutaway oder des Fracks nach oben schlagen. 9) Mokassins mit dem cutaway anziehen. 10) Sich in der Öffentlichkeit à la Gronchi kämmen. 11) Wiederholt Diminutive benutzen. - Ich habe mir das Hütchen und das Mäntelchen angezogen, habe ein Gängchen gemacht und bin in ein kleines Caffechen gegangen, um zwei Törtchen zu essen. 12) »Mit Verlaub« sagen oder bescheidener »Erlauben« (Rest des faschistischen

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Ignazio Vigoni »Ihr«?) wenn man weggehen will; »Meine Herrin« oder noch schlimmer »Mein Fräulein«, oder »Ihre Frau Mutter« (eine wörtliche Übersetzung aus dem Deutschen); »werde ausrichten«, womit man die Grüße meint. Den Familiennamen der Frau vor den des Mannes stellen. Den Titel, oder noch schlimmer, das Adelsprädikat bei der Unterschrift in ein Gästebuch im Haus von Freunden vor den Namen setzen. Bei der Angabe der Adresse die Ausdrücke »Hochverehrter«, »Geschätzter«, »Eigene Villa«, und als Briefabschlußgruß »achtungsvolle Grüße«, »die besten Grüße an Sie und« verwenden. - Dinge von entschieden schlechtem Geschmack, doch immer noch der ungehobelten Unterlassung der Grüße vorzuziehen, verwenden wie sie erst seit kurzem Mode in Italien geworden ist, dem Ex-Land des »latin spirto gentil«. Die eigenen Angelegenheiten rühmen; eine unter den Italienern weit verbreitete Unsitte, sowohl bei öffentlichen Reden wie beim »Ranwerfen«, wenn man mit unbekannten Leuten ein Gespräch anknüpft. (An das deutsche Sprichwort denken »Eigenlob stinkt«). Sich die Handflächen ansehen zur Rechtfertigung der an die Hausherrn gerichteten Bitte, sich »die Hände waschen« zu dürfen. Den Penis - um Pipi zu machen - halten, »observa manu« mit ausgetrecktem Ringfinger und kleinem Finger.

Die europäische Zivilisation ist, unter anderem, das Ergebnis einer Summe von Formtraditionen - self-controle, gute Manieren, gegenseitiger Respekt unter den Menschen, Respekt gegenüber den Meinungen der anderen - , die sich aus sehr langen und äußerst ausdifferenzierten Erfahrungen herleiten. Eine Erfahrung, die sich von Anfang an in zwei Linien entwickelt, die dann vor allem dank der höfischen Gesellschaft zusammenkommen und sich vereinen: die urbane Linie im Mittelmeerraum und in Westeuropa, die ländliche Linie in Mittelund Osteuropa. Es wird interessant sein zu sehen, wieviel Zeit zum Wiederaufbau all dessen erforderlich sein wird, was der jüngste barbarische Windstoß, der sich »Protest« nennt, zerstört hat. Jeder Windstoß bringt frische Luft - aber um welchen Preis? Diese Zivilisation hat das Motto »noblesse oblige« geprägt. Die herausgehobene soziale Stellung nicht nur Quelle von Privilegien, sondern auch von Pflichten. Weisheit eines ausgewogenen Verhältnisses. Von der modernen Demokratie vergessene Dinge, die alles auf steuerliche Verhältnisse reduzieren will. Und die traditionslose Plutokratie profitiert davon. Erinnern wir uns aber daran, daß viele große englische Familien von Seeräubern, Piraten, Sklavenhändlern abstammen.

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1925 Wir unterhielten uns im Salon in Loveno, eine Art große Veranda, wo wir uns in den Sommermonaten aufzuhalten pflegen, als Ettore Conti 1 und donna Gianna auftauchten. Während diese sich mit meiner Mutter unterhielt, wandte er sich mit gedämpfter Stimme, gemeinsam mit Onkel Giulio, dem Thema der Politik zu. (Das Thema war noch brennend heiß, nach dem Matteotti-Attentat und der Rede vom 3. Januar.) Und ohne zu zögern schlug er meinem Onkel vor, in seiner Eigenschaft als Dekan des Senats den Vorsitz einer antifaschistischen Organisation zu übernehmen. Onkel Giulio hörte zu, stimmte zu, lehnte aber die Einladung mit Rücksicht auf sein Alter ab, das es ihm nicht erlaubt hätte, sich der Sache mit der erforderlichen Energie zu widmen. Er war 88 Jahre alt und sein Gesundheitszustand war nicht sehr stabil: in der Tat starb er im folgenden Jahr. Sein Verhalten war also nicht Ausdruck von Feigheit, sondern von Aufrichtigkeit. Im Jahre 1946 wurde Ettore Conti wegen »zugunsten des Regimes ausgeführten Handlungen« aus seinem Amt entfernt. Widersprüche der gegenwärtigen Zeit. Ein diffuser Hang zur Gleichheit, der alles nivellieren will, ausgeprägter vielleicht als je in irgendeiner Epoche der Geschichte. Und die gegenteilige Tendenz, sich in allem und um jeden Preis von den anderen Menschen unterscheiden zu wollen. Wirklich ein Widerspruch oder nicht eher Ausdruck des Kompensations-Gesetzes, das immer auf die Wiederherstellung des Gleichgewichts achtet? Schwanken der menschlichen Natur zwischen beiden extremen Polen, dem Individualismus und dem Kollektivismus (der sich ursprünglich nicht von dem gewisser Insektenarten und bestimmter Zugvögel unterscheidet). Von den Büchsen über die Kosmetik bis zu den Motorrädern, jede Firma schmückt sich gerne mit einem Wappen und einer Krone (während fast alle Staaten die Adelsbriefe abschaffen). Küchenjungen, die kaum lesen können und sich »Signore« nennen lassen. Ein Pflanzenzüchter bäuerlicher Herkunft, den ich nach dem Gesundheitszustand seiner Tochter gefragt hatte, die ich seit ihrer von vielen Krankheiten begleiteten Kindheit kannte, fährt mich mit düsterer Miene an: »Sie meinen wohl meine »Signorina«?! Und der Mann im Fiat 500 will unbedingt den im Jaguar überholen. Die absolute Gleichheit kann dort existieren und gedeihen, wo sie freiwillig und auf Gruppen beschränkt ist, die vom Geist eines und desselben Ideals beseelt sind. Der Malteserritter im Wartesaal für Blutspender, der neben einem Unità-lesenden Proletarier sitzt, fühlt sich vollkommen wohl. 1

Ettore Conti (1871—1973) war ein Pionier der hydroelektrischen Industrie, Senator, Staatssekretär, außerordentlicher Gesandter in der Sowjetunion. Er kam mit eigenen Mitteln für die zweifache Restauration (vor und nach dem Bombardement) der Mailänder Kirche Santa Maria delle Grazie auf.

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Aber wie Schafe der Herde folgen zu müssen, kann sich in eine Hölle verwandeln. Wir versinken unweigerlich in der Lächerlichkeit. Mit vollkommenem, unabänderlichem Ernst.

Gespräch mit Adenauer (siehe Abb. 48,49) Loveno, Villa Sticker, Donnerstag den 30. April 1964 Ich treffe um 10.55 Uhr ein und werde auf dem Platz von einem deutschen Herrn mittleren Alters empfangen, ich nehme an ein Polizeibeamter. Nachdem ich in den Garten geführt wurde, treffe ich eine kleine blonde Dame, die wie eine Sekretärin aussieht (es ist jene, die nach Adenauers Tod einen Memoirenband schreiben sollte) und die mir im Salon des Erdgeschosses rechts vom Hausflur einen Platz anbietet. Ich verstehe, daß seine Exzellenz sich im Zimmer links vom Flur aufhält, in dem, das zu Mylius' Zeiten als Abstellkammer diente und das momentan vom ehemaligen Kanzler als Büro benutzt zu werden scheint. Der Salon, in dem ich mich befinde, ist noch genau so wie er von den Stickers eingerichtet wurde. Alles unverändert - sogar die Familienfotos auf ihren Plätzen auf dem schönen Régence-Schreibtisch. Einzige Neuigkeit ein Plattenspieler, unzählige Schallplatten und Zeitschriften. Und viele Blumen. Nach wenigen Minuten kommt Er. Er schüttelt mir die Hand, brummelt etwas halblaut mit undurchdringlicher Miene und läßt mich neben ihm auf dem roten Sofa gegenüber dem Adams-Kamin Platz nehmen. Ich hatte mir vorgenommen mich darauf zu beschränken ihm zu sagen, daß ich ihm als Bürger Lovenos die Aufwartung machen wollte, daß ich mich gefreut hätte, wenn er meinen Park besichtigt hätte und daß, falls er ihm gefiele, ich ihm denselben gerne für die gewohnten Spaziergänge zur Verfügung gestellt hätte. Ich hatte mich auch darauf vorbereitet, mich mit ihm über historische und künstlerische Dinge der Gegend zu unterhalten und, da ich von seiner Liebe zu Gärten wußte, über die Villa Carlotta. Ich war entschlossen, nicht über Politik zu reden, ein heikles Thema, das den Verdacht auf mich hätte lenken können, das Ziel meines Besuches sei, mich wichtig zu machen. Aber der Mensch plant und Gott verfügt. Das Gespräch fand ausschließlich in deutscher Sprache statt, die Adenauer mit einem weichen, sehr angenehmen rheinischen Akzent spricht. Eine sympathische Stimme, sanft und tief. Teils aus Gewohnheit, die Sprachen zu mischen, teils aufgrund meiner beschränkten Deutschkenntnisse, rutschen mir bisweilen mitten im Gespräch französische oder englische, manchmal italienische Sätze heraus. Ich bemerkte, daß er mich kein einziges Mal nach ihrem Sinn fragte. Nachdem wir uns gesetzt hatten, gab es einen Augenblick des Schweigens, währenddessen Adenauer mich beobachtete. Das Gefühl von Röntgenstrahlen. Ich konnte feststellen, daß seine Augen die Farbe von Schleienhaut haben, die Haare

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kastanienblond mit silbernen Strähnen, leichte Geheimratsecken aber keine Glatze, gebräunte Haut mit vielen kleinen Falten und die berühmten, hervorstehenden Jochbeine: das Gesicht des prähistorischen Mädchens, das man vor ein paar Jahren in den Torfgruben von Jütland gefunden hatte. Schlanke Hände mit kurzen Fingern, die auf einen strengen Befehlsstil schließen lassen. Der linke Zeigefinger von einem weißen Stoffhandschuh bedeckt, vielleicht wegen einer Altershautkrankheit. Am Handgelenk eine goldene Uhr mit dem Zifferblatt zur Innenseite des Arms. Eisengrauer Anzug, Krawatte mit blauen und weißen Streifen. Der kurze Moment des Schweigens wurde von einer plötzlichen, unvermittelten Frage durchbrochen, wie von einem trockenen Donner im Sommer: - Und die Politik?! Ich antwortete, daß ich nur ein einfacher »man in the street« sei und daß ich ihm nur allgemeine Informationen geben könnte. Er sagte mir, daß Rumor und Moro ihn wenige Tage später besuchen wollten. Frage: - Was ist der Mann (Moro) nach London zu tun gegangen? - Das Mandat der Konservativen läuft bald aus und sie haben nur geringe Chancen, an die Macht zurückzukehren. Deshalb wiederhole ich meine Frage, was er dort oben machen will? Vielleicht um Geld bitten? Aber merkt er nicht, daß er sich in diesem Fall in den Augen seiner Nachfolger kompromittiert? - Und er fügt hinzu, daß »einige dieser Herren sollen in den nächsten Wochen nach Deutschland kommen«, um ihn um Rat zu fragen. Er fügt hinzu, daß »Wir« wegen der italienischen Situation sehr besorgt sind und er will etwas darüber erfahren. Ich informiere ihn über den geringen Unterschied der Stimmen von Mitte-Rechts-Parteien und Linksparteien, womit ich seine gerechtfertigte Besorgnis bestätige. Ich sage ihm in aller Offenheit, daß das italienische Volk kaum »back-boned«, skeptisch und Prinzipien gegenüber nachlässig sei und ungestraft mit den Kommunismus spielen zu können glaubt: In Mittelitalien wählen viele reiche Pächter die Kommunisten und wollen damit ganz schlau sein und sich jeden denkbaren Vorteil sichern, und andererseits haben sich, abgesehen von einigen Fanatikern, viele Parteibonzen bereichert oder tun dies gerade. Ich erzähle von dem ungarischen Flüchtling, der zu mir sagte: - Ihr Italiener habt das Pech, zu weit von den kommunistischen Ländern weg zu sein, und deshalb wißt ihr nicht, was der Kommunismus wirklich ist und meint, ein Regime à la »Don Camillo« errichten zu können. - Er bemerkt mit einem spöttischen Lächeln, daß die italienischen Kommunisten nun nicht wüßten, ob sie sich Kruschov oder Mao anschließen sollen. Ich erzähle ihm von den kommunistischen Stadtregierungen, die mit größter Korrektheit geführt werden, ganz im Gegensatz zu den christdemokratischen. - A c h , interessant! - . Und er lächelt als wolle er sagen: »diese Füchse«! E r fragt mich nach den Neofaschisten und aus einem seiner Sätze schließe ich, daß er annahm, mit dem endgültigen Begräbnis des Leichnams des Duce seien sie nun endgültig beruhigt. Ich versuchte ihm den Unterschied zwischen den Faschisten der ersten Stunde und den Anhängern von Mussolinis Republik, den sog. »repubblichini« zu erklären. Da der Faschismus ein tolerierbares Regime war, hatten viele der besten Bürger - hervorragende Vertreter der Industrie, der Finanz, der Politik -

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gemeint, kollaborieren zu können, auch um das Schlimmste zu verhindern, und sich dabei die Finger verbrannt. Und vielleicht kann man eine Ursache der aktuellen Mißstände gerade im daraus resultierenden Mangel an Männern suchen und diese somit dem Faschismus als indirekt der Nation zugefügten Schaden ankreiden. Während die schlimmsten keine Skrupel hatten, den Mantel nach dem Wind zu hängen, oder sich sogar von den Kommunisten anziehen ließen, die dabei eine aktive und sehr geschickte Taktik verfolgten, haben sich die besten aus der Politik zurückgezogen. Er antwortet: - Ja, der Mussolini war kein böser Mann. Hitler hat ihn verdorb e n - . E r spielt auf die traurige Odyssee an, die Mussolini Schritt um Schritt in die Arme Hitlers trieb, obwohl er ihn haßte, und ich entwerfe »pour cause« eine grobe Beschreibung des Italieners einfacher Herkunft wie Mussolini: schüchtern und gleichzeitig impertinent, um die eigene Unterlegenheit zu kaschieren, mißtrauisch, argwöhnisch, von der Angst beseelt, hereingelegt zu werden. Vielleicht, sage ich, wäre vieles anders gelaufen, wenn Eden seine herablassende Hochmut beiseite gelassen und sich Mussolini mit menschlichem Verständnis angenähert hätte. Er nickt. Bei einem Vergleich der jeweiligen lokalen Situationen sagt er, daß in Deutschland die Politiker zwischen 35 und 45 Jahren im Schnitt wenig taugen, während unter den jüngeren einige ausgezeichnete Köpfe sind. - Glücklicherweise - fügt er hinzu - ist De Gaulle auf dem Weg der Besserung: denn ohne ihn wären die Franzosen schlimmer als ihr - . Über die italienischen Arbeiter in Deutschland sagt Adenauer nur Gutes: er hält sie für intelligent, aktiv, sparsam, gesetzestreu. Er fragt mich, ob es wahr sei, daß Fiat die Zahl der Arbeitsstunden reduziert hat, eine seiner Ansicht nach schwerwiegende Maßnahme. Ich antworte, daß dies so sei, daß aber kein Grund zu übermäßiger Besorgnis sei, da solche Maßnahmen vorübergehend schon früher ergriffen wurden. Beunruhigender ist die Tatsache, daß etliche Zulieferbetriebe, die von Fiat leben, als Folge des Auftragsrückgangs so gut wie geschlossen sind. Und Lancia hat die Lager voll mit unverkauften Autos. Aber, so füge ich hinzu, der Sektor, wo sich die Krise am meisten auswirkt, ist das Baugewerbe. - Wieso? Hier wird überall gebaut! - Jawohl, Exzellenz, solange es sich um kleine Villen handelt, geht es noch - , aber Großbaustellen gibt es keine, und damit läuft nichts bei Zement, Stahl, Bauholz, Glas u.s.w. - Ach so, ich verstehe - . Ich nutze die Gelegenheit, um ihn daran zu erinnern, daß die Nachkriegsbauten in der Provinz Mailand zu 85% aus Privatinitiative stammen und nur zu 15% öffentliche Bauten sind. Die Nachricht interessiert ihn. Wir reden von der um sich greifenden Gewinnsucht und er sagt, daß noch nicht einmal Deutschland dagegen immun sei - und wir erinnern uns an die gute österreichische Bürokratie und an De Gasperi (den Adenauer schätzte), der in Österreich eine politische Ausbildung erhielt - . Ich war in Riva del Garda, als es noch zu Österreich gehörte, und alles schien so gut zu funktionieren - . Eine Anspielung auf Südtirol? Eigenartig, er scheint vom deutsch-österreichischen Vormarsch bis an

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den Piave nicht zu wissen und die Geschichte der Befreiung Trients und Triestes nicht genau zu kennen. Er versichert, es sei ein großer Fehler gewesen, die Österreich-ungarische Monarchie abzuschaffen. Ich erzähle, daß ich meine gelesen zu haben, es sei vor allem auf Betreiben der französischen und italienischen Freimaurer erfolgt. - Es kann schon sein, es kann schon sein - , sagt er nach einem Moment der Überraschung. Bei Papst Johannes vermißt er, trotz aller Bewunderung seiner Heiligkeit, jedes politische Gespür und sogar jedes Verantwortungsbewußtsein. Als er ihn besuchte, schied er »entsetzt« von ihm - erzählt er, wobei er jede Silbe einzeln betont und die Augen weit aufreißt - und ich schwor mir, dort nie mehr hinzugehen. Paul VI. hält er für »klug und vorsichtig« - leider ist er wenig gereist, kennt die Welt wenig, vor allem den Orient. Die Pilgerfahrt ins Heilige Land hat viel Staub aufgewirbelt. Er hat Pio XII. in bester Erinnerung und er erzählt eine Anekdote von ihm: Einmal erzählte der Papst ihm, daß er, falls er sicher sein wolle, daß ein von ihm in Auftrag gegebener Artikel von einiger Wichtigkeit im Osservatore Romano auch im von ihm gewünschten Wortlaut veröffentlicht wurde, höchstpersönlich in die Setzerei gehen mußte. Er glaubt, daß das Konzil, sofern es gut geleitet wird, für die Wiedergeburt der westlichen Zivilisation eine tiefe Bedeutung haben könnte. Johnson kennt er persönlich und schätzt ihn: intelligent, entschlossen, dynamisch und gleichzeitig vorsichtig. Leider fehlt es ihm an jedweder Ausbildung für die internationale Politik. Er ist ein Texaner, und die Texaner sind etwas besonderes. Ein großer Geschäftsmann, und seine Frau noch mehr als er. Im allgemeinen können die Amerikaner die Probleme der westlichen Welt nicht angemessen beurteilen, und das aus Mangel an humanistischer Bildung. Im übrigen ist der nordamerikanische Kontinent psychologisch in zwei geteilt: die Atlantikküste schaut nach Europa, und die Pazifikküste nach Fernost. Die Amerikaner sind grob, und ihnen gegenüber braucht man keine Rücksicht zu nehmen - im Gegenteil, man muß laut und deutlich reden, ohne Zurückhaltung, und wenn sie sich irren, muß man es ihnen offen ins Gesicht sagen. Eine Ausnahme war Foster Dulles - »der beste von allen« und das auch nur, weil er Philosophie studiert hatte und sich an Prinzipien hielt. Zypern beunruhigt Adenauer ernsthaft. Es könnte der Funke sein, der die Feuersbrunst auslöst. Schuld an allem sind die Engländer, die dummerweise die Türken daran erinnert haben (»divide et impera«), das es da jene winzige Gruppe von unter Fremdherrschaft stehenden Landsleuten gibt, die man längst vergessen hatte. - Makarios ist ein Schuft - . Leider hat er noch, wie viele griechisch-orthodoxe Bischöfe, alle Macht eines Feudalherren in seiner Gegend - wie es im europäischen Mittelalter war - und deshalb ist er bei sich zu Hause unangreifbar. - Ich kenne persönlich den Kruschov und den Bulganin. Wie Sie wissen, war ich im Jahre 1955 in Moskau . . . - und hier folgt eine nachdenkliche Pause. Ich glaube, er erinnert sich mit Bitterkeit an die Erniedrigungen, die er bei seinem damaligen Besuch über sich hatte ergehen lassen müssen. Dann fährt er fort: - Er (Kruschov) ist ein kluger Mann. Noch mehr: er kann warten - . Zeit hat in Rußland - sagt er einen anderen Wert als bei uns. Wir sind immer von der Eile geplagt und haben nur

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Angst davor, etwas auf morgen verschieben zu müssen, was wir heute erledigen können. In Rußland ist das anders. Und in der Politik ist es ungeheuer wichtig, warten zu können - . - Aber der Politiker muß überhaupt Mut haben. Mut! - Und er insistiert auf diesem Wort, mit lauter Stimme. Das Gespräch ist zu Ende. Als wir aus dem Salon treten, zeigt Adenauer auf den Legnone und fragt mich, ob der Schnee im Sommer ganz schmilzt. Ja, Exzellenz, außer ein paar kleinen Stellen ganz hinten im Tal dort oben. Sie wissen, daß eine Militärstraße bis zum Gipfel hinaufführt? - Was!? - Jawohl! - Und ich erzähle ihm von der Angst, die Marschall Cadorna erfüllte, die zentraleuropäischen Mächte würden die Überquerung der Schweizer Alpen versuchen und von der hastigen Errichtung von Verteidigungsbauten hier in der Gegend. Er lächelt geheimnisvoll und kommentiert: - Mit den heutigen Zerstörungsmitteln sieht das alles lächerlich aus! - . Er begleitet mich bis zum Tor, und als wir uns verabschieden ruft er, die Arme ausbreitend: Ja! Wir haben alles mögliche getan, den Westen zu retten und dann?!-.

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Dokument Nr. 1: Brief von Heinrich Mylius an Giovanni Servi, 7.10.1848 Sabbato, 7: Ottobre 1848 in Loveno Carissimo amico Servi: Le tue a me ben grate lettere del 4: e del 5: mi giunsero assieme ambidue jeri - e ti ringrazio per tutta la communicazione in esse contenuta, limitandomi a risposta breve, nella speranza di vederti in persona fra non molto, e di poter in allora più ampiamente soddisfare á reciproci e comuni nostri desideri - mia moglie è ben contenta dell'iscrizione proposta: 1 alla memoria di T. V . . . nata i l . . . morta i l . . . con l'aggiunta in pocchissime parole della dedica a disposizione da F.M. secondo quella che da te e dall' amico Zarditti (che vorrai in quest'occasione salutar anche in mio nome) verrà giudicato opportuna, ed adattato alla circostanza e con piena facoltà anche di tralasciar questa aggiunta in mancanza di congruo spazio, o per altro giudizioso motivo - il carattere o le lettere dell'iscrizione poi riteniamo le solite W O H L D I R OBGLEICH . . .

e non in quelle lettere come se non erro sono quelle della lapide eretta da Silva Cinizello alla memoria di Guttenberg, e in cui le parole qui sopra si presenterebbero Wohl Dir, obgleich . . . Passando da questo a quell'altro progetto 2 in cui cortesemente ed amichevolmente ti sei disposto a prestarmi la notevolissima tua assistenza, già da troppo tempo e troppo piacevolmente nutrito nella mia testa l'idea del Salmista per poterla ora tutta ad un tratto abbandonare, quindi persuasissimo di tutto quanto mi dici, relativamente all'esecuzione ad affidarne al Manfredini, ci consento di buon grado, pregan-

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Gegenstand des Briefes ist die Errichtung eines kleinen Denkmals in Form einer Vase, die im Park der Villa Vigoni aufgestellt werden sollte. Sie befindet sich noch heute etwas versteckt links oberhalb des Tempietto. Anlaß war der frühe Tod der 1844 geborenen Teresa Vigoni. Servi war mit der Ausführung des Projekts beauftragt worden, das auf eine Initiative von Friederike Mylius zurückging. Hier geht es um den Auftrag einer David-Statue, die 1850 fertiggestellt wurde und später auf dem von Mylius oberhalb Lovenos errichteten Friedhof aufgestellt wurde.

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doti di combinare e concertare ora tutto quanto occore per la buona e possibilmente sollecita esecuzione procurando se si può la conservazione del secreto relativamente al comittente nel miglior modo e per il maggior tempo possibile - mi sarebbe però grato una stipulazione del tempo per l'esecuzione, e che questa non sia protratta troppo - riflettendo a' 80 anni di vita, di cui il compimento mi si avvicina a grandi passi ! in quanto a termini di pagamento mi conformerò a quanto ne avrai convenuto ed in quanto alla ciffra o la somma dell'importo totale, lontanissimo dal voler tirar profitto di questa circostanza di attuale scarsezza - non nego pero che in origine il mio proponimento venisse anche incoraggiato dal riflesso, che nelle attuale critiche vicende, per qualche artista di merito, la proposizione ne potra esser con maggior buon animo accolta, ed eseguita a condizioni meno onerosi per il comittente di quelli soliti a praticare in stato di grande opulenza - sottomesso anch'io come socio al par di tutti in ogni classe a sacrifizii e ristrettezze nelle attuale critiche circostanze - questa osservazione presso di te mio pregiatissimo amico, non avranno bisogno di scusa, o giustificazioni e terminerò questo lungo discorso, desiderando che al tuo venir qui, mi sarai apportato su di un qualche disegno della propria immaginazione dello scultore, . . . (illeggibile) . . . poi c'intendremo definitivamente. - già siamo intesi, che non vorrei il Salmista giovine, secondo l'aveva figurato l'Imhoff a Roma, ma il ré canuto, in un atto di canto di rendimento di grazia per la salvezza da pericoli nel corso della vita, ed implorando mercé all' inventor d'imminente sciagure . . . Riippell ti saluta, ed è impaziente al par di me e di mia moglie nella speranza di vederti in compagnia di Vigoni . . . non ti parlo dei miei nipoti e delle loro famiglie, perche ne avrai tutte le interessanti relazioni a loro riguardo da Giorgio che ti avanzerà la presente - anche a questo mio nipote però, come finalmente a nissuno fuorché all'amico Rüppell, non ho fatto discorso per adesso degli oggetti di cui parla la presente letterina - giacche saremo sempre ancora in tempo in seguito di sentirne volendo la loro opinione, ed approvazione o biasimi secondo il beneplacido d'ognuno. ti abbraccio di tutto cuore qual sincero amico Enrico Mylius Lettera scrittami da Ignazio V. sabbato, ed oggi domenica 8 ottobre da me ricevuta, nel parlar della costruzione e del desiderio del V. a venir da noi, non mene precisa però il giorno; probabilmente non sarà che fra i 15 o 20 di questo mese, e che si fermeranno presso di noi sino al termine della vacanze de' ragazzi per ricondur poi questi nelle rispettive scuole - grandissimo è il desiderio di mia moglie, che il piccolo monumento alla memoria della povera Teresina possi essere allestito ed eretto qui, ancora durante la dimora de' genitori e goderebbe anticipatamente nella speranza di sifatta esecuzione.

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Dokument Nr. 2: Brief von Massimo d'Azeglio an Heinrich Mylius (Turin 28.2.1852) 1 Monsieur et ami Je n'ai appris le douloureux événement qui vous a frappé, que par l'envoi des discours prononcés sur une tombe chère, et venerée; envoi dont je vous suis bien reconnaissant, puisqu'il me prouve que vous etiez sur que ni le temps ni l'absence n'avaient pu altérer en rien les sentimens d'estime et d'amitié qui depuis bien des années m'unissent à vous et à votre famille. Je vous remercie de m'avoir bien jugé; et de mon coté, croyez qu'admis dans votre intimité, et à même de pouvoir apprécier combien était complet, venérable et touchant vôtre bonheur domestique je ne me fait qu'une trop juste idée de la triste époque que vous venez de traverser, et de l'état d'affaissement dans lequel elle doit vous avoir laissé. Les hommes n'ont pas de consolations pour des pertes aussi cruelles, mais Dieu en nous donnant l'esperance peut emousser de trop poignants souvenirs, et les échanger en aspirations vers une réunion future. Je le prie du profond de mon coeur de vous soutenir par ce sentiment dans cette cruelle epreuve, et vous meritez trop que je sois exaucé, pour que je puisse en douter. Veuillez serrer la main de ma part, à Ignace, à Louise, et me rappeler au souvenir de vos parens et de nos amis communs, et croyez au vif et invariable attachement de votre dévoué ami Massimo d'Azeglio.

Dokument Nr. 3: Brief von Massimo d'Azeglio an Servi, 4.12. 1853 Torino 4. Decembre 53. Caro Servi Ho ricevuto la tua del 7. Novembre, l'ho aperta, e vedendo in testa Stimai0 Signore e amico, ho detto chi diavolo mi scrive? Son corto alla firma, e visto il tuo nome, bagatella ho pensato, in che chicchera s'è messo il Sig. Servi! Siccome una volta mi davi di tu ho supposto che la modificazione accaduta fosse in onore del mio defunto ministero. Ora, non avendo tu mai avuto la fortuna di far il ministro, mi permetterai che ti tratti come temporibus illis, e credo che quest'esempio ti fara venir voglia di far altrettanto: e ciò premesso incomincio. Dunque mio dolce amico, hai dato al Sig. Mylius il saggio consiglio di farmi fare un quadro? Lodo ed approvo, ed accetto la commissione: ma non posso lodare la tua idea di domandarmi il prezzo senza parlarmi della grandezza, e se non me ne 1

Dies ist nicht der einzige Brief d'Azeglios an Heinrich Mylius, der erhalten ist. In der Ausgabe des Epistolario (1819-1866), hrsg. von Georges Virlogeux, Torino 1987, ist ein Brief vom 12.11. 1841 abgedruckt. Das »douloureux événement«, von dem die Rede ist, meint den Tod von Friederike Mylius, geb. Schnauss.

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parli come vuoi che ti possa io parlar di prezzo? Se si parla di pane, di coloniali, o simili, ovvero di panni, di tele ec. ec. ec. si sa che si tratta sempre a libbre o a braccia; e allora se si dice quanto la vostra farina (?)? o la vostra tela? S'è subito intesi ; ma in pittura ci vuol la (manca un pezzo di carta) flemme di dar la misura esatta, e di tanto resta pregato il caro Servi: Quando l'avrò ti risponderò subito, e ti dirò i miei prezzi. Mi piace molto il soggetto che hai scelto per te, e certo lo farai bene perche sei gentile di pensiero e di pennello. Quanto al mio se si vuol paese e macchiette, e che non siano storiche, bisognerà che mi s'aggiunga qualche indicazione di più. Se no, siamo troppo nell'indefinito. Per me e lo stesso un soggetto o l'altro, purché sappia se non altro se si vuol un quadro d'alberi, o d'orizzonte, chiaro o senza mattina o sera ec. ec. Ringrazia l'ottimo Mylius di Loveno, ed i Vigoni d'ambe i sessi della buona memoria che serbano di me. Anch'io dopo tante vicende e tante trasformazioni penso con piacere e desiderio a quella serena tranquillità di Loveno, ed a quella loro così cordiale ed amorevole convivenza. Mi ricordo anche di quelle visite fennalorie (?) che ti venivo facendo nel tuo studio . . . ma di troppe cose m'avrei a ricordare, e giacché la carta finisce profitto della favorevole occasione per darti un amplesso ed un addio. A.

Dokument Nr. 4: Brief von Carlo Cattaneo an Ignazio Vigoni, 30.12.1853 1 30 Xbre 1853 Egregio Signore Compio due doveri ad una volta. L'uno di fare i sinceri miei saluti pel nuovo anno a Lei e alla famiglia e al caro e venerato Sig. Mylius. L'altro di ringraziarla degli affettuosi particolari di che'ella mi ha favorito intorno al tristo caso dell'amico Kramer, 2 la cui perdita, aggiunta a tante altre, mi ha tanto più gravemente addolorato! Quanti sono mancati nel più prossimo cerchio delle mie conoscenze! Kramer, Litta, 3 Castiglioni,4 Piola,5 Rusconi, Durelli, Grossi, 6 Torti, 7 Giusti, 8 Berchet, 9 non esenti nemanco le giovani vite di Bermani, 10 Jacini, 11 Manara 12 ed altri ed altri; ed ambedue i miei fratelli. Quando certi momenti ricordo il mio domestico focolare, 1

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Auch dieser Brief ist m.W. bisher unbekannt geblieben, im Epistolario, hrsg. Rinaldo Caddeo, Florenz 1952, Bd. II, 1850-1856 jedenfalls ist er nicht enthalten. Antonio de Kramer (1806—1853) war am 27. September in Mailand auf dem Friedhof der Porta Comasina beigesetzt worden. Mit Heinrich Mylius hatte er im Zusammenhang mit der Società d'Incoraggiamento eine Fachschule für Chemie gegründet. Antonio Litta war 1843—1844 Mitglied des Vorstandes der Società d'Incoraggiamento. Paolo Castiglioni war einer der auch finanziell engagierten Mitbegründer der Società d'Incoraggiamento; 1841-1842 und erneut 1845 war er Mitglied im Vorstand. Gabrio Piola war als Mathematiker und Mitglied des Istituto Lombardo di Scienze, Lettere ed Arti in die Gründungskomission der Società d'Incoraggiamento gewählt worden. Tommaso Grossi (1790-1853) war ein in der Lombardei sehr bekannter Dialektdichter, der eng mit Manzoni befreundet war und sogar ab 1822 bei ihm im Haus lebte.

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o il laboratorio chimico o le sale di Brera, e m'imagino ancora nel mezzo agli amici, come cinque anni sono, mi sembra appartenere piuttosto ad una generazione di morti, che di viventi. Noi non eravamo temprati alla terribile prova sotto cui fummo d'improviso sospinti. Non si poteva balzare così ad un istante da una vita tutta benigna e molle ad una sanguinosa agitazione, senza averne turbamento in tutte le fonti della salute e della vita. Solo i malvagi e i feroci si trovarono nel loro elemento: essi che lo avevano lungamente desiderato. E ora siamo da capo più che mai; in balìa di sfrenate ambizioni, alle quali, trenta, sessanta, anche cento millioni di sudditi sono poca cosa. Penso alla guerra dei trent'anni; e siamo al quinto. Ed ogni cosa è ancora peggio di prima; e nessuno voto delle nazioni è compiuto! Per me son certo che se mi fossi trovato cogli amici in Milano, non avrei io pure potuto reggere a quella continua tristezza e ansietà, da cui mi ripara questa breve distanza, e il non vedere le cose cogli occhi proprj, e la vita solitaria che mi lascia sostare in altri pensieri, e che mi tiene lontani quei paragoni che aggraverebbero le mie domestiche calamità. Ho perduto parenti, averi, pensioni, il frutto quant'era delle mie fatiche e delle mie privazioni. Mi resta il coraggio e la calma dell animo. E così ho potuto ricominicare come trent'anni fa. L'anno scorso, di questi giorni, aveva già mandato a Milano un primo scritto per risuscitare il mio Politecnico in forma trimestrale. Mi era combinato col giovane Dr. Strambio, e avevo ottenuto l'assenso anche di Menini, ch'era stato il primitivo concessionario governativo. Sopravenne poi quella insensata esplosione del 6 febr. che mise a soqquadro ogni mio disegno. Ora si potrebbe forse 'tornare alle prova; ma pur troppo il mondo è più agitato che mai; e risurge il tempo dei sospetti; e così si consuma la vita in una inutile aspettazione. Mi consola molto il sapere che almeno la Istituzione Mylius è viva ancora, e ch'è in mani degne, e fo voti che il nostro buon vecchio voglia raccogliere i suoi sforzi ad assicurare sempre più questo beneficio inestimabile al paese e questo ricordo perpetuo del suo nome. A lei, Sig. Vigoni, tocca di animarlo e sostenerlo in questo pensiero. Noi qui siamo tranquilli, tranquillissimi. Il pane bianco, che qui è usato anche dai contadini, è a 45 centesimi di franco al chilogrammo, prezzo naturale, e 7

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Francesco Torti (1763-1842), Schriftsteller aus Perugia und Freund Montis. Torti polemisierte gegen den sprachlichen Purismus und stand somit der romantischen Bewegung in Italien nahe. Giuseppe Giusti (1809—1850) war ein toskanischer Dichter, der in Pisa 1845 den Salon der Luisa Blondel d'Azeglio frequentierte und 1845 eine längere Zeit bei Manzoni in Mailand verbrachte. Giovanni Berchet (1783-1851) war einer der führenden Literaturkritiker, die von 1817 an die Diskussion um eine romantische Reformierung der italienischen Literatur führten. Giacomo Bermani hatte in der Società d'Incoraggiamento vor der Revolution von 1848 eine Vorlesung über Eisenbahnbau übernommen. Paolo Jacini war der Bruder des bekannten Stefano, der nach den Befreiungskriegen Minister in der italienischen Regierung wurde. Luciano Manara (1825-1849) war ein lombardischer Freiheitskämpfer, der 1849 im Kampf erschossen wurde.

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senza aggravio delle communi. La miseria si vede solo in Val Colla, ma ora si darà loro a spese federali una strada e fra poco si sperano incominciati i lavori della gran via ferrata da Locamo a Coirà, ottenuto il qual punto, vi sarà occupazione oltro il bisogno. Il più grande infortunio è quello della mancata vendemmia, la perdita del solo distretto di Mendrisio si valuta a un millione e mezzo di franchi; e nell'anno precedente avevano già avuto la grandine. Intanto si fa una vastissima divisione di beni communali e patriziali, e si ristringono d'ogni parte la servitù di pascolo. L'agricultura fa un gran passo. Io ho promosso a tutto potere la bonificazione delle paludi di Magadino, eh' è cosa desiderata, ma difficile a svilupparsi per la moltiplicità degli interessi. La riforma degli studj è accolta con evidente gratitudine, anche dalle famiglie più timorate di Dio. Già si accorgono quanto fossero burlate dai frati; i quali insegnavano solo il latino; e con tanta perfezione, che un allievo, non dei più stupidi, presentandosi al corso di filosofia, tradusse al esame: Virtus est vitium fugere. La virtù è un vizio da fuggire. Il commercio, al di là del Ceneri, soffre poco o nulla; al di quà soffre molto, e massime il piccolo contrabando che nutre le botteghe dei droghieri e tabacchini; ma il contrabando in grande mi pare piutto[sto] cresciuto che scemato, sotto le influenze mili[tari]. Io le ho fatto una chiacchierata ben lunga e più che non fosse mia intenzione. Ora le rinuovo i saluti e li auguri dell'anno, e prego parteciparli alla Signora e ai figli, anche a nome di mia moglie. E mi richiami colle più affettuose parole alla memoria del Sig. Mylius. Si congratuli a mio nome con Susani e Chiozza. E mi favorisca ricapitare l'acchiusa. Affezionat.mo Dr. C. Cattaneo

Personenregister

Adamoli, R. 99 Adenauer, Konrad 138-142 Alberti, Giuseppe 34 Albertini, C. 96,97,99 Aldebert, Isaac 5 Alemagna, Emilio 93 Allievi, Antonio 30 Altgeld, Wolfgang 2,3 Andersch, Alfred 105 Anderson, Margaret L. 65 Angeli, Stefano 7 Archenholtz, Johann W. von 56 Arese, Francesco 38 Arese, Francesco Teodoro 10,15,38 Argan, Giulio Carlo 105 Argenti, Giosuè 16 Arndt, Ernst Moritz 53,55,57 Azeglio, Massimo d' 10,18,145,146 Balletti, Α. 46 Balzaretto, Giuseppe 16 Barinetti, E. B. 67 Bary, J. de 11 Battaglia, Michele 27 Baumgarten, Hermann 63 Bava Beccaris, Fiorenzo 88 Belinzaghi, Giulio 69 -71,70,73,74 Berchet, Giovanni 146,147 Berlusconi, Eugenio 98 Bermani, Giacomo 29,146,147 Bernacchi,E. 93 Bertolino, Alberto 23 Bertolotti, Sandro 51 Benito, Cesare 95,96 Besia, Gaetano 16 Betz, Harry 101 Beutler, Ernst 117 Bianchi, Gustavo 68 Bianchi, Mosé 46 Bilger, Ferdinand 61 Blank, Hugo 2,13 Blondel, Luisa 18,147

Blum, Robert 61 Bobbio, Noberto 31 Boehm, Josef 26 Böhl von Faber, Nikolaus 14 Boito, Carlo 90 Bonasí, Adeodato 81 Boneschi .Mario 23,34 Borgese, Giuseppe Antonio 100 Boriani, M. 99 Bossi, Giuseppe 11,18 Braga, Gaetano 48 Branca, Ascanio 85 Braun, Emil 61 Brecht, Bertold 103 Brummack, Jürgen 17 Buchheim, Karl 64 Burckhardt, Jacob 51,54 Caddeo, Rinaldo 146 Cahn, Wilhelm 65 Calvi, Gottardo 23 Cañavero, A. 68,87 Cannetta, Antonio 39 Cantoni, Remo 105 Carl-August, Großherzog von SachsenWeimar 10,13,14,19 Carossa, Hans 101,103 Casati, Gabrio 90 Casati, Leopolda 133 Cases, Cesare 108 Castellani, Emilio 105 Castelnuovo, Teodoro di 48 Castiglioni, Paolo 146 Cattaneo, Carlo 9,23,27 -34,37,38,146, 148 Cattaneo, Gaetano 10,11,13,14,18,19, 38,119 Cavallotti, Felice 86 Cavazzi della Somaglia, Teresa 42 Cavour, Camillo Benso 62-65 Cenedella, Cristina 2,47 Christen, Fabia 49

Personenregister

150 Chruschtschow, Nikita Sergeevic Cinizello, Silva 143 Clausewitz, Carl von 59 Comandini, Alfredo 6 Confalonieri, Luigi 38 Consolo, Ernesto 48 Conti, Ettore 42,137 Cornelio, Angelo Maria 49 Cottini, Paolo 1,16 Cramer, Corrado 45 Crispi, Francesco 68,80,87 Croce, Benedetto 51,133 Curato, Federico 61

141

D'Angiolini, P. 69 D'Annunzio, Gabriele 123 De Angeli 72 De Capitani 72,86 De Gasperi, Alcide 140 De Gaulle, Charles 140 Della Paruta, Franco 63 Doerr, Georg Friedrich 7,8 Dulles, Foster 141 Einaudi, Luigi 86 Einem, Herbert von Elze, Reinhard 51

56

Faber, Karl-Georg 61 Fagnani, Antonietta 38 Fallatis, Johann B. 58 Farinelli, Arturo 102 Farini, Carlo 80,87,88 Ferdinand I, Kaiser 23 Ferrano 84,85 Firmian, Conte 42 Fonzi,F. 68,79,81 Foscolo, Ugo 38 Frank, Leonhard 101 Friedmann, Sigismondo 101,104 Gagern, Fritz von 60 Gagern, Heinrich von 60 Garavaglia, Costantino 91 Garavaglia, M. 93 Garibaldi, Giuseppe 41,62-64,66 Garovaglio, Alfonso 43 Gastaldi, M. V. 9 Gentz, Friedrich 53 George, Stefan 104 Geppert, Rainer 90 Giolitti, Giovanni 67

Giusti, Giuseppe 146,147 Göbel, Kurt 11 Goethe, Wolfgangvon 1,10,12-14,16, 18,19,22,51,115,117,125 Görres, Guido 56 Govone, Giuseppino 132 Grossi, Tommaso 146 Hartmann-J0rgen Β. 17 Hauptmann, Gerhart 104,105 Hayez, Francesco 16,46 Held, Georg 25 Herder, Johann G. 12,17 Hesse, Hermann 101 Hitler, Adolf 140 Hösle, Johannes 3,102 Huch, Ricarda 101 Imhof, Heinrich Max

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Jacini, Paolo 28,146,147 Jacini, Stefano 28,147 Jakoby, Ruth 1,2,10 Johannes XXIII. 141 Johnson, Lyndon Β. 141 Joyce, James 125 Just, Leo 63 Kaiser, Adolf 14 Kandinsky, Wassily 106 Keyserling, Hermann 112,123 Kind, Paolo 8 Klabund 101 Klee, Paul 106 Klinkowström, A. v. 54 Klötzer, Wolfgang 11,60,61 Knoller, Martin 42 Kolb, Karl 17 Kölle, Friedrich von 58 Kramer, Antonio de 7,8,11,19,27,28, 119,146 Kramer, Johann Adam 8 Kraus, Dorothea 5 Kraus, Georg Melchior 5,12 Krug, Wilhelm T. 54 Kürner, Sabine 67 La Fontaine, Jean de 132 Lacaita, G.Carlo 2,9,11,24,29 Lacordaire, Abbé Η. 56 Lahn, Lothar 118 Landriani, Carlo Antonio 32

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Personenregister Laube, Heinrich 61 Leo, Heinrich 54,56 Lill, Rudolf 3,51,65 Lindenau, Bernhard von 18 Liszt, Antonio 122,123 Litta, Antonio 146 Lohner, Adelaide 102 Lucas,Karl-Hermann 51,62 Lydis, Mariette 132 Machiavelli, Niccolo 132 Magistretti, P. 98 Magrini, Luigi 28 Mainoni, Giuseppa 36 Malaguzzi-Valeri, Francesco 46 Malinverni, B. 69 Manara, Luciano 146,147 Manfredini, Luigi 16,143 Mann, Heinrich 104 Mann, Katja 107 Mann, Thomas 101,104,106,107,112 Manzoni, Alessandro 10,13,19,22,38, 119,147 Marchesi, Pompeo 12,16 Mariani, Pompeo 46 Masera, Giovanni 96 Matteucci,N. 51 Matteucci, Pellegrino 68 Mazzini, Andrea Luigi 58 Mazzini, Giuseppe 58,62,63,64 Mazzucchetti, Augusto 101 Mazzucchetti, Lavinia 3,100-109,117 Medici di Malignano, Gian Angelo 119 Medicus, Augusto Enrico 15 Melzi d'Eril, Lodovico 93 Mendelssohn, Peter de 107 Mengoni, Giuseppe 94 Mennet, Sophie 45 Mertens, Robert 19 Metternich, Klemens Fürst von 53,54 Mezzanotte, Paolo 99 Migliara, Giovanni 49 Mittermaier, Karl J. A. 53,54,57 Mitzky, Dora 100 Mohls, Robert 58 Moioli, Angelo 7,19 Mommsen, Katharina 13 Mommsen, Momme 13 Mondadori, Alberto 101 Mongeri, G. 90 Monti, Vincenzo 10,147 Monticone, Alberto 3

Montinari, Mazzino 13 Morawitz, Lucia 111,122,123 Morelli, E. 80 Moro, Aldo 139 Mozart, Wolfgang Amadeus 42 Muhr, Josef 3 Müller, Wilhelm 56 Mussi, Giuseppe 67,88 Mussolini, Benito 3,42,112-114,139,140 Mylius, Agnese 7,46,49 Mylius, Camilla 48 Mylius, Cari 7,19 Mylius, Catulla siehe Vigoni, Catulla Mylius, Eleonora 45 Mylius, Enrico (Sohn vonGeorg) 48 Mylius, Evelyne 43 Mylius, Friederike 5,12,13,18,143,145 Mylius, Friedrich Heinrich 2,45 -49,90, 91,97 Mylius, Georg 48 Mylius, Georg Melchior 5,7,19,35,36,42, 43,45,46 Mylius, Heinrich jun. 5,7,13,19,35,36, 42-46 Mylius, Heinrich sen. 1,2,3,5-37,39, 40-47,49,91,117,119,143-148 Mylius, Johann Christoph 5 Mylius, Johann Jakob 5 - 7 Mylius, John Frederick 7 Mylius, Jonas 7,19 Mylius, Julius (Sohn von Georg Melchior) 36,46,49 Mylius, Julius 7,12,14-16 Mylius, Katharina Elisabeth 5 Mylius, Luise 8 Mylius, Sophie 46,49 Mylius, Sophie Anna 49 Mylius, Sophie Elise 45 Mylius, Susanna 19 Napoleoni. 9,39,40,57 Napoleon III. 38,39,62 Negri, Gaetano 69,70-74,85,88 Negri, Luigi 35 Neufville, Otto de 42,43 Oriani, Barnaba

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Pagliano, Eleuterio 46 Paul VI. 141 Pavia, Angelo 96 Pelloux, Luigi 81,86,88

Personenregister

152 Pepe, Giovanni 98 Peroggi, Ricardo 133,134 Petersen, Jens 63,65 Piazza, Angelo 26,28 Pigeory, Feiice 90 Piola, Gabrio 146 Piotti, Domenico 96 Pisa, Ugo 88 Pius IX. 65 Pius XII. 141 Pocar, Ervino 101 Portner, Ernst 63 Preller, Friedrich 14 Pretis, Susi de 4 Pullé, Leopoldo 46 Punzo, Maurizio 3,44,88 Radowitz, Joseph Maria Frhr. von 61 Rascher 102 Raumer, Friedrich von 58 Rebora, Clemente 101 Recke, Bruno 11 Reschisi, Antonio 33 Restucci, A. 99 Reumont, Alfred von 58 Re velli, Paolo 44 Richard, Anna 47,48,91,97,98 Rochau, Ludwig August von 62 Rognoni, Eva 101,106 Rognoni, Luigi 101,105,106,108 Ross, Werner 2 Rossi, Giovanbattista 16 Rothfels, H. 59 Rovetta, Gerolamo 101 Rudinì, Antonio Straballa di 67,86,87 Ruge, Arnold 61 Rumor, Mariano 136 Rumpf-Fleck, Josefine 5,117 Rüppell, Eduard 5,6,11,12,19,41,43,44, 119,144 Sacchi, Giuseppe 21 Saldini 72 Sarti, Giulio 28 Scala, M. A. 74 Schelfhout, Andreas 46 Scheuermann,MaxArthur Schieder, Theodor 63 Schieder, Wolfgang 3 Schiera, Pierangelo 51 Schmidt-Scharf, Wolfgang Schmutz, Friedrich 8

7,49

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Schmutziger, Eugenie Marie 47 Schnauss, Friederike siehe Mylius, Friederike Schiicking, Levin 61 Schulz, Hans 102 Schulz, Wilhelm 55,58 Selvatico, P. 90 Semper, Gottfried 45 Servi, Giovanni 11,18,19,41,143,145, 146 Spampinato, A. G. 37 Speckter, Erwin 17 Stadien, Peter 106 Stahr, Adolf 54 Steinhauser, Giovanni Ettore 7,8 Stempel, Ute 120 Stendhal 90 Strich, Fritz 102 Terzaghi, Enrico 90 Thorvaldsen, Bertel 12,17 Torti, Francesco 98 Treccani, Giovanni 98 Treitschke, Heinrich von 52,63,65 Turati, Filippo 101 Valsecchi, F. 3 Venturi, Franco 51 Vercelloni, V. 99 Verdi, Giuseppe 48,101 Vigoni, Ca tulla 36,37,43,45,48,49,98, 110,113,116,117 Vigoni, Enriquetta 19,40,119 Vigoni, Giulio 3,19,37,39-43,50,68, 110,137 Vigoni, Giuseppe »Pippo« 3,19,36,40, 42 - 4 5 , 4 8 , 4 9 , 6 7 - 89,110, 111, 113 Vigoni, Ignazio jun. 1,3,4,18,42,49,50 Vigoni, Ignazio sen. 7,9,10,16,18-20, 35 -40,44,144-147 Vigoni, Luigia 7,9,15,16,18,20,36,37, 40,42,145 Vigoni, Paolo 36 Vigoni, Teresa 19,40,45 Vigoni, Teresa 143,144 Virlogeux, Georges 10,145 Vitali, Luigia siehe Vigoni, Luigia Vittorio Emmanuele 38 Vonwiller, David 9 Vonwiller, Giovanni 9 Vonwiller, Oskar 8 Voßler, Karl 102

Personenregister Wagner-Kuon, Ursula 40,47 Wandruszka, Adam 63 Warchex, Antonio 91 Wentzke, P. 60 Werfel, Franz 101,105 Wiechert, Ernst 101 Wigard, F. 61 Wölfflin, Heinrich 102 Wollstein, Günther 61

153 Zanardelli, Giuseppe 67 Zarditti 143 Zeugheer, Leonhard 91,92 Zorn, Emil 7,8 Zorn, Georg 46 Zweig, Stefan 101