Spur der Scherben: Die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth und der Niedergang der bundesdeutschen Mundglasbranche, 1969-1989 9783839463031

Im März 1970 übernahm die Belegschaft der Glashütte Süßmuth im nordhessischen Immenhausen selbst den Betrieb. Dieser in

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Spur der Scherben: Die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth und der Niedergang der bundesdeutschen Mundglasbranche, 1969-1989
 9783839463031

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Teil I: Die Entstehungsbedingungen der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth
1. Zwischen Handwerk und Industrie. Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)
Einleitung
1.1 Unternehmen und Branche im Überblick
1.2 Technik und Arbeit. Die Produktion als soziale Praxis
1.3 Süßmuthglas. Das Produkt als Medium form- und sozialgestalterischer Ansprüche
1.4 Unternehmensorganisation und -führung in der Glashütte Süßmuth
1.5 Gemeinschaft versus Kollektiv. Die Belegschaft und die Arbeitsbeziehungen
1.6 Vom Vorzeigeunternehmen zum Sanierungsfall. Die Krise der Glashütte Süßmuth
1.7 Zwischenfazit
2. Wem gehört der Betrieb? Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth (Frühjahr 1969 bis Herbst 1970)
2.1 Konkurrierende Versuche zur Rettung des Unternehmens
2.2 Die Politisierung der Auseinandersetzung
2.3 Probleme mit der Finanzierung und der Rechtsform
2.4 Zwischenfazit
3. Zwischen Solidarität und Abwehr. Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen
3.1 Das Land Hessen und die SPD
3.2 Die Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik
3.3 Neue Linke und die Medien
3.4 Die CDU und Arbeitgeberverbände
3.5 Die Banken und Bürgen
3.6 Zwischenfazit
Resümee Teil I
Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth
4. Offiziell versus informell. Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick
4.1 Die Praxis der Selbstverwaltung in der Theorie
4.2 Die Geschäftsführung und die Phasen der Selbstverwaltung
4.3 Die Belegschaft und ihre Gremien
4.4 Der Beirat als »graue Eminenz«
4.5 Zwischenfazit
5. Zwischen Expansion und Emanzipation. Die Produktion
5.1 Angepasste Technik
5.2 Der gerechte Lohn
5.3 Die Arbeitsorganisation und die Bedingungen von guter Arbeit
5.4 Die Arbeitsbeziehungen und das Geschlechterverhältnis
5.5 Selbstverwaltung als betriebliche Rationalisierungsstrategie? Chancen und Grenzen der demokratischen Praxis
5.6 Zwischenfazit
6. Von der Guten Form zur demokratischen Form? Die Produkte
Einleitung
6.1 Die Produkte und das Sortiment
6.2 Die Kundschaft, der Vertrieb und die Vermarktung
6.3 Vom Verkäufer- zum Käufermarkt? Chancen und Grenzen der demokratischen Praxis
6.4 Zwischenfazit
7. »Jetzt glaubt jeder Einzelne, darüber mitentscheiden zu können.« Die Unternehmensführung
Einleitung
7.1 Die Kostenrechnung
7.2 Zur Vermessung der Unternehmensentwicklung
7.3 Das Eigentumsverhältnis im Kontext der Verschuldung
7.4 Vom Management in zum Management der Selbstverwaltung. Chancen und Grenzen der demokratischen Praxis
7.5 Zwischenfazit
Resümee Teil II
Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth
8. An den Grenzen der Macht. Die Gründe für das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth
Einleitung
8.1 Konträre Problemanalysen. Von Zugangsbarrieren und Bewusstseinsdefiziten
8.2 Solidarität versus Loyalität. Von der Politisierung zur Moralisierung der (Macht-)Konflikte
8.3 Verantwortungsdiffusion und Krise der Repräsentation. Die Reproduktion alter Machtverhältnisse in neuer Form
8.4 Der Siegeszug der »ökonomischen Vernunft« und die Preisgabe der Selbstverwaltung
8.5 Zwischenfazit
9. Transformation und Niedergang. Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)
Einleitung
9.1 Der Preis der Flexibilität. Unternehmen und Branche im Überblick
9.2 Abschied von der Guten Form. Die Produkte
9.3 Zwischen Maschinisierung und Musealisierung. Die Produktion
9.4 Kooperation versus Konfrontation. Die Arbeitsbeziehungen
9.5 Vom basisdemokratischen Aufbruch in die Krise. Das Ende der bundesdeutschen Mundglasbranche
9.6 Die Glashütte Süßmuth – wieder ein »ganz normales Unternehmen«?
Resümee Teil III
Einordnung und Ausblick
Danksagung
Anhang
Abkürzungen
Tabellen
Personenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Archive und unveröffentlichte Quellen
Literatur und veröffentlichte Quellen
Filme

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Christiane Mende Spur der Scherben

1800 | 2000 Kulturgeschichten der Moderne Band 13

Editorial Die Reihe 1800 | 2000. Kulturgeschichten der Moderne reflektiert die Kulturgeschichte in ihrer gesamten Komplexität und Vielfalt. Sie versammelt innovative Studien, die mit kulturwissenschaftlichem Instrumentarium neue Perspektiven auf die Welt des 19. und 20. Jahrhunderts erschließen, die vertrauten und fremden Seiten der Vergangenheit, die Genese der Moderne in ihrer Ambivalenz und Kontingenz. Dazu zählen Lebenswelten und Praxisformen in Staat und Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft ebenso wie Fragen kultur- und sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. Die Reihe weiß sich dabei einer Verbindung von strukturalistischen und subjektbezogenen Ansätzen ebenso verpflichtet wie transnationalen und transdisziplinären Perspektiven. Der Bandbreite an Themen entspricht die Vielfalt der Formate. Monographien, Anthologien und Übersetzungen herausragender fremdsprachiger Arbeiten umfassen das gesamte Spektrum kulturhistorischen Schaffens. Die Manuskripte werden einem wissenschaftlichen Begutachtungsverfahren (Peer Review) durch die Herausgeber und externe Experten unterzogen. Die Reihe wird herausgegeben von Peter Becker, Alexander C.T. Geppert, Martin H. Geyer, Maren Möhring und Jakob Tanner.

Christiane Mende, geb. 1983, ist Historikerin und Lektorin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf Themen der Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte. Sie hat zur Geschichte der Arbeitsmigration in die DDR publiziert, ist am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam assoziiert und hat an der Universität Potsdam promoviert.

Christiane Mende

Spur der Scherben Die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth und der Niedergang der bundesdeutschen Mundglasbranche, 1969-1989

Diese Publikation ist eine gekürzte Fassung der im April 2020 bei der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam eingereichten, von Prof. Dr. André Steiner und Prof. Dr. Alexander Nützenadel begutachteten und am 11. Januar 2021 verteidigten Dissertation der Autorin. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Universität Potsdam.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: © hanspeterkruse.com, Belegschaft der Glashütte Süßmuth Immenhausen, Frühjahr 1970. Lektorat: Maria Matschuk Grafikgestaltung: Julia Schnegg (www.matthies-schnegg.com) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839463031 Print-ISBN 978-3-8376-6303-7 PDF-ISBN 978-3-8394-6303-1 Buchreihen-ISSN: 2747-383X Buchreihen-eISSN: 2747-3848 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Einleitung .....................................................................................9 Fragestellung und Aufbau ...................................................................... 12 Definition Selbstverwaltung .................................................................... 15 Forschungsstand............................................................................... 21 Analyseperspektive und Methodik.............................................................. 25 Quellen ....................................................................................... 35

Teil I: Die Entstehungsbedingungen der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth 1. Zwischen Handwerk und Industrie. Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969) .................................................................................... 39 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7

Unternehmen und Branche im Überblick.................................................... 41 Technik und Arbeit. Die Produktion als soziale Praxis .......................................57 Süßmuthglas. Das Produkt als Medium form- und sozialgestalterischer Ansprüche .......... 78 Unternehmensorganisation und -führung in der Glashütte Süßmuth ........................ 90 Gemeinschaft versus Kollektiv. Die Belegschaft und die Arbeitsbeziehungen................103 Vom Vorzeigeunternehmen zum Sanierungsfall. Die Krise der Glashütte Süßmuth ........... 129 Zwischenfazit ............................................................................146

2. Wem gehört der Betrieb? Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth (Frühjahr 1969 bis Herbst 1970) ....................................................................................149 2.1 Konkurrierende Versuche zur Rettung des Unternehmens .................................. 149 2.2 Die Politisierung der Auseinandersetzung .................................................163

2.3 Probleme mit der Finanzierung und der Rechtsform ....................................... 177 2.4 Zwischenfazit ............................................................................ 187

3. Zwischen Solidarität und Abwehr. Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen .......................................... 191 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Das Land Hessen und die SPD ............................................................. 191 Die Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik ........................................ 199 Neue Linke und die Medien................................................................ 211 Die CDU und Arbeitgeberverbände......................................................... 221 Die Banken und Bürgen ................................................................. 228 Zwischenfazit ........................................................................... 234

Resümee Teil I ............................................................................. 239

Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth 4. Offiziell versus informell. Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick ...... 247 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Die Praxis der Selbstverwaltung in der Theorie ........................................... 247 Die Geschäftsführung und die Phasen der Selbstverwaltung................................ 261 Die Belegschaft und ihre Gremien ........................................................ 274 Der Beirat als »graue Eminenz«.......................................................... 292 Zwischenfazit ............................................................................301

5. Zwischen Expansion und Emanzipation. Die Produktion ........................................................................ 303 Angepasste Technik ..................................................................... 303 Der gerechte Lohn ....................................................................... 325 Die Arbeitsorganisation und die Bedingungen von guter Arbeit ............................ 354 Die Arbeitsbeziehungen und das Geschlechterverhältnis .................................. 378 Selbstverwaltung als betriebliche Rationalisierungsstrategie? Chancen und Grenzen der demokratischen Praxis ...................................................... 394 5.6 Zwischenfazit ........................................................................... 406

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

6. Von der Guten Form zur demokratischen Form? Die Produkte .......................................................................... 409 6.1 6.2 6.3 6.4

Die Produkte und das Sortiment........................................................... 410 Die Kundschaft, der Vertrieb und die Vermarktung ........................................ 423 Vom Verkäufer- zum Käufermarkt? Chancen und Grenzen der demokratischen Praxis...... 436 Zwischenfazit ........................................................................... 454

7. »Jetzt glaubt jeder Einzelne, darüber mitentscheiden zu können.« Die Unternehmensführung ........................................................... 457 7.1 Die Kostenrechnung ..................................................................... 458

7.2 Zur Vermessung der Unternehmensentwicklung .......................................... 469 7.3 Das Eigentumsverhältnis im Kontext der Verschuldung.................................... 477 7.4 Vom Management in zum Management der Selbstverwaltung. Chancen und Grenzen der demokratischen Praxis ...................................................... 494 7.5 Zwischenfazit ........................................................................... 506

Resümee Teil II ............................................................................ 509

Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth 8. An den Grenzen der Macht. Die Gründe für das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth .......... 517 8.1 Konträre Problemanalysen. Von Zugangsbarrieren und Bewusstseinsdefiziten .............. 519 8.2 Solidarität versus Loyalität. Von der Politisierung zur Moralisierung der (Macht-)Konflikte .. 529 8.3 Verantwortungsdiffusion und Krise der Repräsentation. Die Reproduktion alter Machtverhältnisse in neuer Form ......................................................... 542 8.4 Der Siegeszug der »ökonomischen Vernunft« und die Preisgabe der Selbstverwaltung..... 550 8.5 Zwischenfazit ........................................................................... 558

9. Transformation und Niedergang. Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989) .. 563 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5

Der Preis der Flexibilität. Unternehmen und Branche im Überblick......................... 564 Abschied von der Guten Form. Die Produkte .............................................. 584 Zwischen Maschinisierung und Musealisierung. Die Produktion ............................. 615 Kooperation versus Konfrontation. Die Arbeitsbeziehungen ............................... 636 Vom basisdemokratischen Aufbruch in die Krise. Das Ende der bundesdeutschen Mundglasbranche ........................................ 663 9.6 Die Glashütte Süßmuth – wieder ein »ganz normales Unternehmen«? ..................... 675

Resümee Teil III ........................................................................... 679 Einordnung und Ausblick ................................................................. 683 Der Fall Süßmuth im Kontext der (west)deutschen Geschichte des kollektiven Wirtschaftens ... 683 Nach dem basisdemokratischen Aufbruch. Erweiterte Perspektiven auf das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts .................................................................. 692 Erkenntnisgewinn der Moralischen Ökonomie .................................................. 711 Danksagung .................................................................................713

Anhang Abkürzungen ................................................................................ 717 Tabellen ..................................................................................... 721 Personenverzeichnis ...................................................................... 729 Abbildungsverzeichnis .................................................................... 735 Tabellenverzeichnis ....................................................................... 737 Archive und unveröffentlichte Quellen .................................................. 739 Literatur und veröffentlichte Quellen ................................................... 743 Filme ....................................................................................... 775

Einleitung

Scherben bringen Glück oder symbolisieren ein Scheitern. In der Glasproduktion zeugen sie von der Zerbrechlichkeit des Produkts; als Rohstoff werden sie bei der Herstellung des Werkstoffs Glas wiederverwertet. Als archäologische Fundstücke können sie als Spuren gelesen Auskunft über die Alltagswelt und materielle Kultur vergangener Zeiten geben. Eine Spur als »fortbestehende Präsenz eines Restes« ermöglicht dabei weniger die Reproduktion als vielmehr eine Rekonstruktion von Vergangenheit1 – ein Prozess, der vor allem von der Interpretation abhängt. Denn Spuren werden nicht beabsichtigt hinterlassen, sondern durch »die Schwere und Materialität des Seins« erzeugt und erst »durch narrative Deutung ›zum Reden‹ gebracht«.2 In dem von Frank Beyer verfilmten Roman von Erik Neutsch führt die Spur der Steine zu dem Zimmermann Hannes Balla, der auf einer Großbaustelle der DDR den Paradoxien der Partei- und Staatsbürokratie mit Eigensinn begegnet. Die Spur der Scherben hingegen lädt ein, zu jenem historischen Moment zurückzukehren, der auf dem Titelbild festgehalten ist: dem Moment, als im Frühjahr 1970 im nordhessischen Immenhausen erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine Belegschaft ihren Betrieb in eigene Verantwortung übernahm und damit eine kollektive Antwort auf den drohenden Verlust ihrer Arbeitsplätze fand. Die Betriebsübernahme und Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth durch die ungefähr 250 Beschäftigten erfolgte in einer bewegten Zeit. Die politische Auseinandersetzung um eine Demokratisierung sämtlicher gesellschaftlicher Bereiche hatte Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre einen Höhepunkt erreicht. Nach dem Regierungsantritt Willy Brandts als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler im Herbst 1969 schien mit der rechtlichen Verankerung der Mitbestimmung von Arbeitenden in Unternehmen eine der zentralen Forderungen der Arbeiterbewegung realisierbar. Die Frage nach der Reichweite der Demokratisierung der Wirtschaft blieb aber heftig umkämpft und verlagerte sich während der 1970er Jahre zunehmend auf parlamentarische Verhandlungen. Diese

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Jacques Derrida zitiert in Sandie Attia, Ingrid Streble, Nathalie Le Bouëdec u.a. (Hg.), Der Spur auf der Spur | Sur les Traces de la Trace, Heidelberg 2016, S. 9. Sybille Krämer, »Spuren, Graphé, Wissenskünste. Zur Episteme der Spur«, in: Attia et al., Spur (s. Anm. 1), S. 19f.

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Spur der Scherben

Entwicklungen können nicht losgelöst von den Bewegungen in der Arbeitswelt betrachten werden. An den Betrieben ging »1968« – verstanden als Chiffre für längerfristige gesellschaftliche Auf- und Umbruchprozesse – nicht spurlos vorüber. In der Geschichte der Bundesrepublik zeugten davon die wilden Streiks, die in jenen Jahren massiv zunahmen.3 Die Mitgliedszahlen der DGB-Gewerkschaften stiegen ebenso wie die Zahl der gewerkschaftlichen Vertrauensleute in den Betrieben und die der Unternehmen, in denen Betriebsräte gewählt wurden.4 Auch formierte sich eine Protestbewegung an der gewerkschaftlichen Basis.5 Es gründeten sich Betriebsgruppen wie die Plakat-Gruppe bei Daimler in Stuttgart oder die Gruppe oppositioneller Gewerkschafter (GoG) bei Opel in Bochum, die eine Demokratisierung der betrieblichen wie überbetrieblichen Interessenvertretung einforderten.6 Proteste von Arbeitenden überschnitten sich punktuell mit jenen der Studierenden, wenn auch in der Bundesrepublik weit weniger ausgeprägt als in Italien oder Frankreich, und gewannen eine internationale Dimension.7 In den 1970er und 1980er Jahren häuften sich Arbeitskämpfe gegen Massenentlassungen und Betriebsschließungen; in allen westeuropäischen Staaten kam es zu Besetzungen und Übernahmen von konkursbedrohten Industrieunternehmen durch ihre Belegschaften.8 Auch der Fall Süßmuth wurde zu einem Politikum mit temporär bundesweiter Öffentlichkeit. Während sozialdemokratische Gewerkschafter von einem »in die Zukunft weisende[n] Modell« erweiterter Mitbestimmung sprachen, so mancher Unternehmer

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Peter Birke, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt a.M. u.a. 2007. Werner Milert und Rudolf Tschirbs, Die andere Demokratie. Betriebliche Interessenvertretung in Deutschland, 1848 bis 2008, Essen 2012, S. 476–481. Siehe Berichterstattung in express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit (1962 als express international gegründet). Willi Hoss, »Komm ins Offene, Freund«. Autobiographie, Münster 2004, S. 60–113; Peter Grohmann und Horst Sackstetter (Hg.), Plakat. 10 Jahre Betriebsarbeit bei Daimler-Benz, Berlin 1979; Peter Birke, »Eine kleine Vor- und Frühgeschichte der wilden Streiks – bei Opel Bochum und Anderswo«, in: Jochen Gester und Willi Hajek (Hg.), Sechs Tage der Selbstermächtigung. Der Streik bei Opel in Bochum Oktober 2004, Berlin 2012, S. 17–34; Johanna Schellhagen (Reg.), Luft zum Atmen. 40 Jahre Opposition bei Opel in Bochum (Dokumentarfilm), 2019. Marica Tolomelli, »Repressiv getrennt« oder »organisch verbündet«. Studenten und Arbeiter 1968 in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien, Wiesbaden 2001; Bernd Gehrke und Gerd-Rainer Horn (Hg.), 1968 und die Arbeiter. Studien zum »proletarischen Mai« in Europa, Hamburg 2007; Jan Ole Arps, Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den 1970er Jahren, Berlin 2011. Siehe Rob Paton, Reluctant Entrepreneurs. The Extent, Achievements and Significance of Worker Takeovers in Europe, Milton Keynes 1989; Anne Sudrow, Moralische Ökonomie? Kollektives Wirtschaften in Industrieunternehmen Westeuropas seit 1945 (laufendes Forschungsprojekt). Die Praxis oder Forderung nach Arbeiterselbstverwaltung prägte zudem seit den 1940er Jahren in den (nominal-)sozialistischen Gesellschaften – wie allen voran in Jugoslawien und Polen – die (betriebs-)politischen Auseinandersetzungen. Siehe bspw. Ulrike Schult, Zwischen Stechuhr und Selbstverwaltung. Eine Mikrogeschichte sozialer Konflikte in der jugoslawischen Fahrzeugindustrie 1965–1985, Münster 2017; Kamil Majchrzak und Sarah Graber Majchrzak, »Arbeiterselbstverwaltung und Betriebsdemokratie in der Volksrepublik Polen. Ansprüche und Widersprüche«, in: Axel Weipert (Hg.), Demokratisierung von Wirtschaft und Staat. Studien zum Verhältnis von Ökonomie, Staat und Demokratie vom 19. Jahrhundert bis heute, Berlin 2014, S. 141–169.

Einleitung

– unter dem Eindruck der zeitgleich begonnenen Verhandlungen mit der DDR – erste Anzeichen einer »sozialistischen Machtergreifung« befürchtete, begrüßten Angehörige der Neuen Linken die »rote Hütte«.9 Die soziale Realität in der Glashütte Süßmuth nach der Belegschaftsübernahme vermochten diese zeitgenössischen Deutungen jedoch nicht zu erfassen. Der eigentliche Verlauf der Selbstverwaltung, die in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre sang- und klanglos endete, blieb einer außerbetrieblichen Öffentlichkeit weitestgehend verborgen. Der Konkurs des Unternehmens im Jahr 1996 besaß nur noch für die lokale Presse einen Nachrichtenwert.10 Die Geschichte der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth war zu diesem Zeitpunkt bereits in Vergessenheit geraten. Im Nachhinein setzte sich die Deutung durch, die vielfältigen Protest- und Aktionsformen von Arbeitenden jener Zeit seien rein defensiver Natur gewesen. Aus dieser Perspektive erscheint auch die Selbstverwaltung im Fall Süßmuth lediglich als Intermezzo zur Sicherung der Arbeitsplätze im Kontext des Niedergangs der bundesdeutschen Mundglasbranche.11 Generell seien um »1968« in der Bundesrepublik »Unternehmen kaum Gegenstand antiautoritärer Diskussion« geworden.12 Die zeitgenössischen Befürchtungen eines von den wilden Streiks des Jahres 1969 ausgehenden Flächenbrands hätten sich letztlich nicht bewahrheitet, sei es in diesen doch »vornehmlich um Lohnerhöhungen« gegangen.13 Folglich sei das »autonome Handeln der Belegschaften relativ rasch [erlahmt]«, nachdem »die Lohnforderungen größtenteils bewilligt worden waren und die Gewerkschaften […] ihre Gefolgschaft gewissermaßen wieder ›einfangen‹ konnten«.14 Demgegenüber haben Peter Birke und Manuela Bojadžijev überzeugend dargelegt, dass diese (in zunehmenden Maße auch von migrantischen Arbeitenden getragenen) Arbeitskämpfe in einer längeren Tradition von wilden Streiks standen und neben Lohnforderungen auch Kritik an den Arbeitsbedingungen und hierarchischen Strukturen im Betrieb, an (rassistischer und genderspezifischer) Diskriminierung, an der mangelhaften bis fehlenden Interessenvertretung durch die Gewerkschaften ebenso wie die

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Franz Fabian zitiert in Typoskript »Eigentum verpflichtet«, Ulrich Happel für Panorama (ARD), 6. April 1970, in: Privatarchiv Siebert, S. 4; »Glashartes hessisches Sozialisierungsmodell. Wie man einen mittelständischen Unternehmer erpresst«, in: Der Selbstständige, 15. April 1970, abgedruckt in: Franz Fabian (Hg.), Arbeiter übernehmen ihren Betrieb oder Der Erfolg des Modells Süßmuth, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 107–109; »Die rote Hütte«, in: Konkret, März 1972, in: AGI. Alle Zitate und Quellenangaben wurden in die neue Rechtschreibung übertragen. Michael Riess, »In Immenhausen sind die Öfen kalt«, in: HNA, 14. November 1996, in: AGI. Mit Mundglasbranche wird in dieser Arbeit jener Teilbereich der Glasbranche bezeichnet, in dem – trotz Maschinisierung der Fertigung in anderen Teilbereichen – weiterhin im manuellen Mundblasverfahren hochwertiges Gebrauchsglas produziert wurde. Siehe Kapitel 1. Folgendes aus Christian Kleinschmidt, »Das ›1968‹ der Manager. Fremdwahrnehmung und Selbstreflexion einer sozialen Elite in den 1960er Jahren«, in: Jan-Otmar Hesse, Christian Kleinschmidt und Karl Lauschke (Hg.), Kulturalismus, neue Institutionenökonomik oder Theorienvielfalt. Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte, Essen 2002, S. 19. Ebenso Christian Testorf, »Welcher Bruch? Lohnpolitik zwischen den Krisen. Gewerkschaftliche Tarifpolitik von 1966 bis 1974«, in: Knud Andresen, Ursula Bitzegeio und Jürgen Mittag (Hg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitswelten, Bonn 2011, S. 301–303. Werner Plumpe, »1968 und die deutschen Unternehmer. Zur Markierung eines Forschungsfeldes«, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 1 (2004), S. 49.

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Spur der Scherben

Forderung nach einer Demokratisierung der Arbeitsbeziehungen transportierten.15 Wie die vorliegende Studie zeigen wird, bestand das Novum der betrieblichen Auseinandersetzungen um »1968« vor allem darin, dass die Arbeitenden selbst und nicht mehr nur ihre Interessenvertreter*innen sich für ihre Vorstellungen von gerechten Löhnen, von guter Arbeit und demokratischer Teilhabe Gehör verschafften und dadurch sowohl die Unternehmensleitungen als auch die etablierten Strukturen der Repräsentation herausforderten.16 Als Spur zu jenem basisdemokratischen Aufbruch in der Arbeitswelt ist die in Vergessenheit geratene Geschichte der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth freizulegen. Intendiert ist hiermit weniger eine Neuauflage der »Poetik der älteren Arbeitergeschichte«17 als vielmehr eine Erweiterung der Perspektive. In Anlehnung an Edward P. Thompson gilt es, in der Fallstudie den analytischen Fokus auf die »Bestrebungen« der Arbeitenden zu lenken und von diesen als »im Rahmen ihrer eigenen Erfahrungen berechtigt[en]« auszugehen, um sie so »vor der ungeheuren Arroganz der Nachwelt zu retten«.18 Als Expert*innen ihres Tuns ist den Akteur*innen zu folgen, wie es Bruno Latour vorschlug19 – nicht um ihr Handeln oder ihre Denk- und Wahrnehmungsweisen zu überhöhen,20 sondern um die sozialen Verhältnisse im Betrieb wie in der Gesellschaft und die Dynamiken des Wandels in den Blick zu bekommen. Nicht zuletzt führt diese Spur so auch zur Geschichte der manuellen Glasfertigung, die – um das jahrhundertealte Wissen vor dem endgültigen Verlust zu bewahren – im Dezember 2015 in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der Deutschen UNESCO-Kommission aufgenommen wurde.21

Fragestellung und Aufbau Zur Abwendung des drohenden Konkurses wählten die Beschäftigten der Glashütte Süßmuth eine Form des kollektiven Wirtschaftens, wie sie im linksalternativen Milieu der

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Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 3); Manuela Bojadžijev, Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster 2008. Für die gesamte Arbeit gilt: Die Kursivschreibung von Attributen signalisiert, dass kein normatives Verständnis vorausgesetzt wird und historisch unterschiedliche Vorstellungen existierten, die Gegenstand von Auseinandersetzungen waren. Thomas Welskopp, »Missglückte Bildungsromane, Naturgeschichten, inverse Heldenepen und Reiseberichte aus dem Land der ›guten Wilden‹. Zur ›Poetik‹ der älteren Arbeitergeschichte«, in: Hesse et al., Kulturalismus (s. Anm. 12), S. 87–116. Edward P. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1987, S. 11. Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2010. Siehe dahingehende Warnungen von Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, Berlin 2016, S. 45; Reinhold Reith, »Praxis der Arbeit. Überlegungen zur Rekonstruktion von Arbeitsprozessen in der handwerklichen Produktion«, in: Ders. (Hg.), Praxis der Arbeit. Probleme und Perspektiven der handwerksgeschichtlichen Forschung, Frankfurt a.M. u.a. 1998, S. 12f. Pressemitteilung LWL-Industriemuseum Glashütte Gernheim, 4. Dezember 2015, Online: www.lwl.org/pressemitteilungen/mitteilung.php?urlID=38102. Alle im Folgenden zitierten Internetquellen wurden am 30. Dezember 2022 abgerufen.

Einleitung

Bundesrepublik seit den 1970er Jahren weite Verbreitung finden sollte.22 Erklärungsbedürftig ist, weshalb gerade ein mittelständisches Unternehmen in einer ländlich geprägten Kleinstadt und in der nordhessischen Provinz als damals äußerste Peripherie des Landes zum Schauplatz dieser ungewöhnlichen Ereignisse wurde. Der erste Teil der Arbeit widmet sich deshalb zunächst den Entstehungsbedingungen der Selbstverwaltung. Hierfür werden die Entwicklungen in der Glashütte Süßmuth und in der bundesdeutschen Mundglasbranche seit Ende des Zweiten Weltkriegs analysiert (Kapitel 1). Anschließend wird untersucht, wie die Idee zur Betriebsübernahme während der sich 1969 zuspitzenden Unternehmenskrise entstand, und wie es den Beschäftigten gelang, Unterstützung für ihr radikal anmutendes Anliegen zu erhalten (Kapitel 2). Eine bedeutende Rolle nahmen hierbei auch verschiedene Personen aus dem außerbetrieblichen Umfeld – aus Gewerkschaft, Staat, Parteien und außerparlamentarischer Opposition – ein, die im dritten Kapitel beleuchtet werden. Im Hauptteil wird die Praxis der Selbstverwaltung in den Blick genommen. Die unternehmenshistorische Fragestellung nach der ökonomischen Performance des Belegschaftsunternehmens wird verbunden mit der sozialgeschichtlichen Frage nach den Arbeitsbedingungen und betrieblichen Machtverhältnissen. In kulturgeschichtlicher Erweiterung werden die handlungsleitenden Selbstverständnisse, Ziel- und Wertvorstellungen freigelegt, die das Wirtschaften im selbstverwalteten Unternehmen prägten. Welche über den Arbeitsplatzerhalt hinausgehenden Hoffnungen verbanden die Beschäftigten mit der Betriebsübernahme? Die neuen Entscheidungsgremien der selbstverwalteten Glashütte, ihre personelle Zusammensetzung, die Entwicklung ihrer Arbeitsweise und die divergierenden Vorstellungen von der Selbstverwaltung werden in Kapitel 4 vorgestellt. Danach werden die Veränderungen in der Produktion bzw. im Betrieb (Kapitel 5), der Produkte, des Vertriebs und der Vermarktung (Kapitel 6) sowie auf Ebene der Unternehmensorganisation und -führung (Kapitel 7) herausgearbeitet. Zu erörtern ist, welche Lösungsansätze im belegschaftseigenen Unternehmen zur Bewältigung jener Herausforderungen vorhanden waren, denen sich damals alle Firmen der Branche zu stellen hatten. Im dritten Teil der Arbeit ist aus langfristiger Perspektive eine Bewertung der Selbstverwaltung im Fall Süßmuth vorzunehmen. Im Anschluss an die Diskussion der Gründe für das Ende der demokratischen Praxis (Kapitel 8) soll die Analyse der darauffolgenden Entwicklungen in der Glashütte Süßmuth im Vergleich mit denen in anderen Mundglashütten (Kapitel 9) die Bedeutung der Selbstverwaltung konturieren helfen. In einem zusammenfassenden Ausblick werden die Ergebnisse der Fallstudie und des Unternehmensvergleichs in die Geschichte des kollektiven Wirtschaftens und in die Geschichte der Bundesrepublik eingeordnet sowie Anknüpfungspunkte für weiterführende Analysen aufgezeigt. Nachgegangen wird dabei der übergeordneten Fragestellung, weshalb die Forderung nach einer Demokratisierung der Wirtschaft innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums von der partei- und gewerkschaftspolitischen Agenda verschwand und hier seit den 1980er Jahren so gut wie keine Rolle mehr spielte.

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Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 319–350.

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Spur der Scherben

Der Untersuchungszeitraum ist mit der Unternehmensgründung im Jahr 1946 und dem Verkauf der seit 1970 belegschaftseigenen Glashütte Süßmuth an zwei unternehmensexterne Privatpersonen im Jahr 1989 abgesteckt. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt auf den Jahren der Selbstverwaltung bis 1976 und damit auf einem Zeitraum, der in der zeithistorischen Forschung als Beginn einer neuen Epoche nach dem Boom diskutiert wird.23 Mit der Fragestellung bewegt sich diese Arbeit an den Schnittstellen von Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte, deren Erkenntnispotenziale – nach den mit dem cultural turn einhergegangenen Forschungskontroversen der 1990er Jahre24 – in der Geschichtswissenschaft nach wie vor ausgelotet werden. Die Diskussion hierüber hat an Schärfe verloren; sie bleibt jedoch aktuell. Der Anerkennung einer notwendigen Annäherung von Kultur- und Wirtschaftsgeschichte steht weiterhin ein »gefühlter Bruch« zwischen beiden Disziplinen gegenüber.25 Thomas Welskopps Plädoyer für eine Erneuerung der Arbeitergeschichte durch eine Verbindung mit Industriegeschichte blieb in Konfrontation mit einer »Sozialgeschichte jenseits des Produktionsparadigmas« und dem Aufstieg von Konsum und Konsumgesellschaft zu neuen Paradigmen der deutschen Geschichtswissenschaft letztlich uneingelöst.26 Die Perspektive von unten anhand von Beschäftigten in Betrieben – als »eines der zentralen Handlungsfelder industrieller Gesellschaften«27 – wurde bislang viel zu selten in die Analyse der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts einbezogen.28 23

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Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael und Thomas Schlemmer (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016. Einen Überblick über die Kontroverse zur »kulturalistischen Wende« in den Geschichtswissenschaften und dessen abrupten Abbruch gibt Ute Daniel, »Geschichte schreiben nach der ›kulturalistischen Wende‹«, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 576–599. Hartmut Berghoff und Jakob Vogel (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivwechsels, Frankfurt a.M. u.a. 2004; Susanne Hilger und Achim Landwehr (Hg.), Wirtschaft – Kultur – Geschichte. Positionen und Perspektiven, Stuttgart 2011; Zitat aus Christof Dejung, Monika Dommann und Daniel Speich Chassé, »Einleitung. Vom Suchen und Finden«, in: Dies. (Hg.), Auf der Suche nach der Ökonomie. Historische Annäherungen, Tübingen 2014, S. 8. Thomas Welskopp, »Von der verhinderten Heldengeschichte des Proletariats zur vergleichenden Sozialgeschichte der Arbeiterschaft. Perspektiven der Arbeitergeschichtsschreibung in den 1990er Jahren«, in: 1999 3 (1993), S. 34–53; Benjamin Ziemann, »Sozialgeschichte jenseits des Produktionsparadigmas. Überlegungen zu Geschichte und Perspektiven eines Forschungsfeldes«, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 28 (2003), S. 5–35; Thomas Welskopp, »Produktion als soziale Praxis. Praxeologische Perspektiven auf die Geschichte betrieblicher Arbeitsbeziehungen«, in: Knud Andresen, Michaela Kuhnhenne, Jürgen Mittag u.a. (Hg.), Der Betrieb als sozialer und politischer Ort. Studien zu Praktiken und Diskursen in den Arbeitswelten des 20. Jahrhunderts, Bonn 2015, S. 29–52; Wolfgang König, »Die siebziger Jahre als konsumgeschichtliche Wende in der Bundesrepublik«, in: Konrad Hugo Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht?, Göttingen 2008, S. 84–99. Welskopp, Heldengeschichte (s. Anm. 26), S. 41. Diesem Defizit wurde in den letzten Jahren mit einer Reihe wichtiger Studien entgegengewirkt. Siehe Jens Beckmann, Selbstverwaltung zwischen Management und »Communauté«. Arbeitskampf und Unternehmensentwicklung bei LIP in Besançon 1973–1987, Bielefeld 2019; Sarah Graber Majchrzak, Arbeit – Produktion – Protest. Die Leninwerft in Gdańsk und die AG »Weser« in Bremen im Vergleich (1968–1983), Köln 2020; Dietmar Lange, Aufstand in der Fabrik. Arbeitsverhältnisse und Arbeitskämpfe bei FIAT-Mirafiori 1962 bis 1973, Berlin 2021.

Einleitung

Aber gerade weil die Infragestellung des Unternehmen, Wirtschaft wie die gesamte Gesellschaft stabilisierenden »Basiskonsenses« ein zentraler Bestandteil dieses Wandels war,29 ist eine dahingehende Perspektiverweiterung sehr vielversprechend. Der Vorteil einer mikrohistorischen Darstellung besteht darin, sich in dichter Beschreibung den unterschiedlichen Akteur*innen, den Bedingungen ihres Handelns sowie ihren Deutungen annähern zu können. Makrohistorische Diagnosen eines Wandels oder einer Krise sind qualitativ zu untersuchen und können nicht ohne Weiteres als solche vorausgesetzt werden. Eine Reproduktion zeitgenössischer Deutungen in der Forschungspraxis gilt es zu verhindern.30 Zugleich läuft eine Fallstudie Gefahr, im Mikrokosmos zu verharren, unzulässige Verallgemeinerungen abzuleiten oder lediglich makrohistorische Deutungsmuster im Kleinen auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen.31 Die vorliegende Arbeit will jedoch mehr als nur den roten Faden der großen Erzählung vom Strukturbruch in den 1970er Jahren »annagen«32 – zumal eine solche Kritik zum reflexiven Modus dieser selbst gehört. Zentrale Herausforderung und zugleich entscheidendes Erkenntnispotenzial liegt vielmehr in einer Verknüpfung von Mikro- und Makro-Ebene, die der Komplexität, Dynamik und Kontingenz historischer Entwicklungsprozesse gerecht wird.

Definition Selbstverwaltung Der Begriff der Selbstverwaltung verweist treffender Weise auf die Ablehnung einer Fremdverwaltung. Die Verbindung der Silbe Selbst als Kategorie der individuellen Autonomie mit dem bürokratischen Terminus der Silbe Verwaltung macht aber auch einen Widerspruch bewusst.33 Der doppelte Wortsinn der kollektiven Verwaltung eines Unternehmens durch dessen Beschäftigte und der Verwaltung des Selbst als Form der

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Morten Reitmayer und Ruth Rosenberger, »Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Unternehmen am Ende des »goldenen Zeitalters«. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008, S. 27; Ingo Köhler, »Havarie der ›Schönwetterkapitäne‹? Die Wirtschaftswunder-Unternehmer in den 1970er Jahren«, in: Ders. und Roman Rossfeld (Hg.), Pleitiers und Bankrotteure. Geschichte des ökonomischen Scheiterns vom 18. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a. 2012, S. 256f.; Doering-Manteuffel und Raphael, Boom (s. Anm. 23), S. 119; Rüdiger Hachtmann, »Rationalisierung, Automatisierung, Digitalisierung. Arbeit im Wandel«, in: Frank Bösch (Hg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015, S. 206f.; Ingrid Gilcher-Holtey, »Einleitung«, in: Dies. (Hg.), »1968« – eine Wahrnehmungsrevolution? Horizont-Verschiebungen des Politischen in den 1960er und 1970er Jahren, München 2013, S. 11. Zur Kritik am metonymischen Charakter des zeithistorischen Umgangs mit zeitgenössischen Gesellschaftsbeschreibungen siehe Rüdiger Graf und Kim Christian Priemel, »Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 4 (2011), S. 479–508. Siehe Matthias Pohlig, »Vom Besonderen zum Allgemeinen? Die Fallstudie als geschichtstheoretisches Problem«, in: Historische Zeitschrift 2 (2013), S. 297–319. Metapher von Daniel, Geschichte (s. Anm. 24), S. 597f. In Anlehnung an das von Jakob Tanner skizzierte Paradoxon des Begriffs Selbstbedienung. Jakob Tanner, »Drehkreuz zur Einsamkeit. Ein Streifzug durch die Geschichte des Herrschens und des Konsumierens«, in: Du. Die Zeitschrift der Kultur 4 (1996), S. 52–55.

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Subjektivierung scheint einem neoliberal gewandelten Kapitalismus zu entsprechen.34 Im Spannungsverhältnis zwischen dem individuellen und dem kollektiven »Selbst« ist zugleich ein zentrales Problemfeld selbstverwalteter Unternehmen benannt. Denn wie die folgenden Ausführungen noch zeigen werden: der Untersuchungsgegenstand Selbstverwaltung ist weder als ein (organisatorischer) Zustand noch als eine lineare Entwicklung zu betrachten, sondern vielmehr als ein anhaltend dynamischer Aushandlungsprozess, der sich einem systematisierenden Zugriff tendenziell entzieht.35 Ein solcher stößt auf die generelle Schwierigkeit im methodischen Umgang mit der (zu einem großen Teil nicht gleich gut überlieferten) Vielstimmigkeit von Basisbewegungen der Vergangenheit. Die in der demokratischen Praxis zutage tretende Pluralität der involvierten Akteur*innen sowie die Erscheinungsvielfalt in meist klein- bis mittelgroßen Unternehmen führt in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung letztlich zu uneinheitlich verwendeten Begriffen und Definitionen dessen, was Selbstverwaltung bedeutet und was nicht.36 Gerade diese Widerspenstigkeit erhöht die Notwendigkeit einer analytisch klaren Arbeitsdefinition, wofür zunächst eine begriffliche Abgrenzung vorzunehmen ist. Kommunale Selbstverwaltung bezeichnet das im bundesdeutschen Grundgesetz verankerte Recht gewählter Vertreter*innen örtlicher Gemeinschaften, deren Angelegenheiten in eigener Verantwortung zu regeln.37 Wirtschaftliche Selbstverwaltung meint den Zusammenschluss von Unternehmen in wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Verbänden (wie Kartellen, Unternehmens- und Arbeitgeberverbänden).38 Selbstverwaltung als Form des kollektiven Wirtschaftens steht zu beiden Bedeutungsvarianten weder in einer ideengeschichtlichen noch in einer praktischen Tradition. Heranzuziehen sind hierfür vielmehr die (jeweils wiederum sehr heterogenen) Traditionen der Genossenschaftsbewegung, der Rätebewegung und der Gemeinwirtschaft.39 Unter Selbstverwaltung wird in dieser Arbeit eine kollektive Form des Unternehmensbesitzes bei demokratischer Form der Unternehmensführung verstanden. Ein selbstverwaltetes Unternehmen befindet sich demnach im kollektiven Eigentum aller der darin Arbeitenden, die als Gesamtheit die Rolle der Unternehmerin einnehmen. Einzelpersonen oder -gruppen können keine privilegierten Besitzansprüche geltend machen. Der Anteil am Eigentum ist individuell nicht veräußerlich. Der Gewinn wird 34

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Den Zusammenhang zwischen dem Individualismus der kapitalismuskritischen Alternativbewegung und dem neoliberalen Appell an die Eigeninitiative diskutiert bspw. Arndt Neumann, Kleine geile Firmen. Alternativprojekte zwischen Revolte und Management, Hamburg 2008. Siehe hierzu die forschungspraktischen Reflexionen von Juan Pablo Hudson, Wir übernehmen. Selbstverwaltete Betriebe in Argentinien. Eine militante Untersuchung, Wien 2014. Zur damit verbundenen Unübersichtlichkeit des Forschungsstands siehe Frank Heider, »Selbstverwaltete Betriebe in Deutschland«, in: Roland Roth und Dieter Rucht (Hg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 513–526. Grundgesetz, Artikel 28. Werner Plumpe, »Wirtschaftliche Selbstverwaltung«, in: Gerold Ambrosius, Dietmar Petzina und Ders. (Hg.), Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, München 1996, S. 375–387. Siehe bspw. Gisela Notz, Genossenschaften. Geschichte, Aktualität und Renaissance, Stuttgart 2021; Dario Azzellini und Immanuel Ness (Hg.), Die endlich entdeckte politische Form. Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute, Köln 2012; Weipert, Demokratisierung (s. Anm. 8).

Einleitung

nach kollektiv definierten Regeln verteilt. Die Entscheidungen werden nicht exklusiv von einem alleinigen Eigentümer oder von einer bevollmächtigen Geschäftsleitung getroffen, sondern in einem demokratisch festgelegten und kontrollierten Modus. Unabhängig von ihrer jeweiligen Position besitzen alle Beschäftigten strukturell die gleichen Voraussetzungen, hierauf Einfluss zu nehmen. Selbstverwaltete Unternehmen stehen vor allem in der Tradition von Produktivgenossenschaften. Als Form der wirtschaftlichen Selbsthilfe dienen diese – wie Genossenschaften generell – der Förderung ihrer Mitglieder (Förderprinzip), die zugleich Eigentümer*innen sind (Identitätsprinzip) und unabhängig von der Höhe des individuellen Kapitalanteils jeweils ein gleichberechtigtes Stimmrecht besitzen (Demokratieprinzip).40 In Produktivgenossenschaften sind die Mitglieder »Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Personalunion«, worin sie sich von Produktions-, Konsum-, Wohnungsbau-, Kredit-, Bezugs- oder Absatzgenossenschaften unterscheiden.41 Allein der bei Austritt bestehende Anspruch auf individuelle Auszahlung des Genossenschaftsanteils trennt Produktivgenossenschaften – entlang obiger Definition – von selbstverwalteten Unternehmen. Grundlegend abzugrenzen sind selbstverwaltete von sogenannten Partnerschaftsunternehmen, in denen die Beschäftigen vorrangig am Gewinn finanziell beteiligt sind und die sich in der Bundesrepublik seit Anfang der 1950er Jahre in der Arbeitsgemeinschaft Partnerschaft in der Wirtschaft (AGP) organisieren.42 Philanthropische Unternehmer wie Carl Backhaus und Klaus Hoppmann oder der bekennende Kommunist Hannsheinz Porst ließen die Belegschaften ihrer Unternehmen darüber hinaus an den Eigentumsanteilen und Entscheidungsprozessen partizipieren.43 Inwiefern in diesen nicht auf Initiative der Beschäftigten, sondern nach den Vorstellungen der vormals

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Zu den Genossenschaftsprinzipien siehe Klaus Novy und Michael Prinz, Illustrierte Geschichte der Gemeinwirtschaft. Wirtschaftliche Selbsthilfe in der Arbeiterbewegung von den Anfängen bis 1945, Berlin u.a. 1985, S. 12f.; Patrizia Battilani und Harm G. Schröter, »Principal Problems and General Development of Cooperative Enterprises«, in: Dies. (Hg.), The Cooperative Business Movement, 1950 to the Present, Cambridge 2012, S. 1–19. Produktivgenossenschaften werden daher auch als Vollgenossenschaften bezeichnet in Abgrenzung zu Förder- bzw. Hilfsgenossenschaften, in denen die Mitglieder lediglich eine bestimmte Funktion (z.B. den Konsum) gemeinsam wahrnehmen. Siehe Delal Atmaca, »Produktivgenossenschaften. Zwischen Utopie und Realismus«, in: Thomas Brockmeier und Ulrich Fehl (Hg.), Volkswirtschaftliche Theorie der Kooperation in Genossenschaften, Göttingen 2007, S. 515–517; Burghard Flieger, Produktivgenossenschaft als fortschrittsfähige Organisation. Theorie, Fallstudie, Handlungshilfen, Marburg 1996, S. 22; Burghard Flieger, »Genossenschaften in Deutschland. Teil der Solidarischen Ökonomie?«, in: Elmar Altvater und Nicola Sekler (Hg.), Solidarische Ökonomie. Reader des Wissenschaftlichen Beirats von Attac, Hamburg 2006, S. 53. Siehe Ruth Rosenberger, Experten für Humankapital. Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland, München 2008, S. 239–255. Siehe Holm-Detlev Köhler, Ökonomie und Autonomie. Historische und aktuelle Entwicklungen genossenschaftlicher Bewegungen, Frankfurt a.M. 1986, S. 51–65; Gisela Notz, »Selbstverwaltung – mehr als Beteiligung und Mitbestimmung. Beispiele aus drei Betrieben«, in: Dies., Klaus-Dieter Heß, Ulrich Buchholz u.a. (Hg.), Selbstverwaltung in der Wirtschaft. Alte Illusion oder neue Hoffnung?, Köln 1991, S. 92–99.

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alleinigen Eigentümer entstandenen Modellunternehmen eine Praxis der Selbstverwaltung zum Tragen kam, bleibt einer weiteren historiographischen Untersuchung vorbehalten.44 Nicht unter den Begriff der Selbstverwaltung fallen sowohl Betriebe, die lediglich von einem Teil der Belegschaft oder des Managements in Form eines Buy-outs in Privateigentum übernommen wurden, als auch Betriebe, in denen die Belegschaftsübernahme rein finanzieller Art war und sich an der Entscheidungshierarchie nichts veränderte.45 Die Betonung kollektiver Eigentumsverhältnisse und demokratischer Entscheidungsstrukturen, mit denen sich selbstverwaltete fundamental von nicht-selbstverwalteten Unternehmen unterscheiden, ist in der Forschungsdiskussion weitgehend unumstritten. In den sozialen wie politischen, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse kritisierenden, reformierenden oder revolutionierenden Wert- und Zielvorstellungen des Wirtschaftens wird in der Regel ein weiteres zentrales Alleinstellungsmerkmal von selbstverwalteten Unternehmen ausgemacht,46 deren inhaltliche Bestimmung zugleich ein kontroverses Unterfangen bleibt.47 In der hier vorgeschlagenen Arbeitsdefinition von Selbstverwaltung werden diese schon allein deshalb nicht herangezogen, weil nicht selten auch nicht-selbstverwaltete Unternehmen explizit nicht-ökonomische, mitunter sozialreformerische Ziele verfolgten.48 Mit den kollektiven Eigentumsverhältnissen und demokratischen Entscheidungsstrukturen liegen dagegen zwei Kriterien mit ausreichendem Abgrenzungspotenzial vor, solange unter Eigentum nicht nur ein Rechtstitel, sondern auch ein »Regelwerk sozialer Beziehungen« verstanden wird,49 und die Entscheidungsprozesse im Unternehmen nicht allein anhand von Organigrammen, sondern auch auf Ebene der Praktiken untersucht werden. Die soziale oder politische Ausrichtung nicht zu einem eindeutigen Kriterium bei der Definition von selbstverwalteten Unternehmen zu erheben bzw. als solche normativ

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Die Eigentümer behielten hier – trotz Übertragung von Unternehmensanteilen an die Belegschaft – ein privilegiertes Entscheidungsrecht. Köhler, Ökonomie (s. Anm. 43), S. 55. Rainer Duhm, Wenn Belegschaften ihre Betriebe übernehmen. Probleme und Chancen selbstverwalteter Fortführung von Krisenbetrieben, Frankfurt a.M. u.a. 1990, S. 13. Siehe bspw. Frank Heider, »Kooperation und Gesellschaftsreform. Selbstverwaltete Betriebe in Hessen«, in: Jan-Otmar Hesse, Tim Schanetzky und Jens Scholten (Hg.), Das Unternehmen als gesellschaftliches Reformprojekt. Strukturen und Entwicklungen von Unternehmen der »moralischen Ökonomie« nach 1945, Essen 2004, S. 29–49; Luise Gubitzer, Geschichte der Selbstverwaltung, München 1989; Olivier Corpet und Wolfgang Fritz Haug, »Selbstverwaltung«, in: Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 7, Hamburg 1988, S. 1164–1171. Ähnlich kontrovers ist die inhaltliche Bestimmung des »Solidaritätsprinzips« bzw. des »Genossenschaftsgeists«. Flieger, Genossenschaften (s. Anm. 41); Robert Hettlage, »›Solidarität‹ und ›Kooperationsgeist‹ in genossenschaftlichen Unternehmungen«, in: Arbeitskreis für Kooperation und Partizipation (Hg.), Kooperatives Management. Bestandsaufnahmen, Konflikte, Modelle, Zukunftsperspektiven, Baden-Baden 1990, S. 132–152. Hartmut Berghoff, »Historisches Relikt oder Zukunftsmodell? Kleine und mittelgroße Unternehmen in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland«, in: Dieter Ziegler (Hg.), Großbürger und Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 267; Christof Dejung, »Einbettung«, in: Ders. et al., Auf der Suche (s. Anm. 25), S. 62f. Ulrike Schulz, Simson. Vom unwahrscheinlichen Überleben eines Unternehmens 1856–1993, Göttingen 2013, S. 13f.

Einleitung

vorauszusetzen, bedeutet keinesfalls, diese nicht als relevant für deren Existenz zu erachten. Vielmehr soll hierdurch der Gefahr einer analytischen Verengung des Untersuchungsfelds vorgebeugt werden, wie sie oftmals in der Unterscheidung zwischen existenzerhaltenden Not- und gesellschaftsverändernden Solidargemeinschaften erfolgt. Zu ersteren werden in der Regel die von Belegschaften zur Abwendung einer drohenden Schließung übernommenen Betriebe gezählt. Die Beschäftigten solcher Fortführungsbetriebe seien »nicht besonders ideologisch motiviert; sie arbeiten hier allein aus Gründen der Arbeitsplatzerhaltung.«50 Ihr »Arbeitnehmerstatus« sei »nie umstritten« gewesen; aufgrund des »industrielle[n] Zuschnitt[s]«, der Unternehmensgröße und der »andere[n] Herkunft ihrer Arbeitnehmer-Gesellschafter, ihre[r] andersartigen Verhaltens- und Kommunikationsweisen« sei dies auch gar nicht anders denkbar; es brauche hier notwendigerweise »Strukturen mit klaren Zuständigkeiten, Entscheidungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten«.51 Auch würden in Belegschaftsunternehmen »zumeist eher traditionell-gewerkschaftliche Formen der Interessenvertretung praktizier[t]«.52 Die Betriebe der Alternativen Ökonomie würden sich hiervon grundlegend abheben, da sie vor allem die »Selbstverwirklichung der Arbeitenden« und »die Veränderung der Gesellschaft« anstrebten.53 Eine solch »zentrierende und anfeuernde Ideologie« könnten die »Mitarbeiterunternehmen« nicht vorweisen. Das Gütesiegel »Selbstverwaltung« bleibt in der bundesdeutschen Forschung somit für Betriebe und Projekte aus dem linksalternativen Milieu reserviert. Diese definitorische Reduktion von Selbstverwaltung als allein in den Neuen Sozialen Bewegungen anzutreffende Form des kollektiven Wirtschaftens hat in der Geschichte der Bundesrepublik lediglich mit Blick auf Quantitäten eine gewisse Berechtigung. Den 3.000 bis 12.000 Alternativbetrieben standen in den 1970er und 1980er Jahren 30 bis 40 dokumentierte Betriebsübernahmeversuche von Belegschaften gegenüber, von denen wiederum nur etwa neun bis fünfzehn erfolgreich waren.54 Für eine qualitative Fragestellung ist diese Kategorisierung indes höchst problematisch. Denn während Arbeiter*innen über den Arbeitsplatz und die Sicherung der eigenen Existenz hinausgehende politische Beweggründe pauschal abgesprochen werden, wird das Selbstverständnis der

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Achim von Loesch, »Die selbstverwalteten Betriebe in Deutschland. Begriff – Charakter – Probleme«, in: Ders. (Hg.), Selbstverwaltete Betriebe, Baden-Baden 1988, S. 5. Duhm, Krisenbetriebe (s. Anm. 45), S. 125. Frank Heider und Margreth Mevissen, Selbstverwaltete Betriebe in Hessen. Eine sozio-ökonomische Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Situation der Frauen, Gießen 1991, S. 13. Aus diesen Gründen klammern Heider und Mevissen Belegschaftsbetriebe wie die Glashütte Süßmuth (GHS) aus ihrer Studie dezidiert aus. Folgendes aus Loesch, Selbstverwaltete Betriebe (s. Anm. 50), S. 7, 5. Siehe Frank Heider, Beate Hock und Hans-Werner Seitz, Kontinuität oder Transformation? Zur Entwicklung selbstverwalteter Betriebe. Eine empirische Studie, Gießen 1997, S. 19. Zu den wenigen (kurzfristig) erfolgreichen Belegschaftsübernahmen gehörten neben der GHS das fränkische Betonund Kunststeinwerk/Beku (1972) oder das Bremer Zweigwerk des Maschinenbauunternehmens Voith GmbH (1982). Die meisten der gescheiterten Übernahmeversuche blieben dagegen weitestgehend unbekannt, laut Rainer Duhm könnte die »schwer einschätzbare Dunkelziffer [.] vor allem im Bereich von Klein- und Kleinstbetrieben relativ groß sein«. Siehe Übersicht Belegschaftsübernahmen (1969–1988) in Duhm, Krisenbetriebe (s. Anm. 45), S. 5, 235–239.

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Alternativen unhinterfragt übernommen. Deutlich wird hieran, dass die (zeitgenössische wie wissenschaftliche) Diskussion über Selbstverwaltung (implizit) auf der Trennung in materialistische Werte (Versorgung und Sicherheit) und postmaterialistische Werte (Selbstverwirklichung und Partizipation) basiert.55 Während letztere als eindeutige Beweggründe der Alternativen identifiziert werden, seien die Arbeitenden ersteren hingegen auch nach »1968« verhaftet geblieben.56 Doch ebenso wenig wie die Motive der Alternativen allein auf einen Idealismus reduzierbar sind,57 gingen jene der Arbeiter*innen in einem notgedrungenen Materialismus auf.58 In solchen inhaltlichen Vorannahmen der politischen Ausrichtung liegt die Gefahr einer Abstraktion von den sozialen Bedingungen politischer Praxis. Aus den Blick geraten die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, in denen Träger*innen der »alten« und neuen sozialen Bewegungen über höchst unterschiedliche Handlungsressourcen verfügten und den Angehörigen des akademisch geprägten linksalternativen Milieus gegenüber jenen aus dem Arbeitermilieu die politische Artikulation ihrer Anliegen erleichterten. Im Gegensatz zu den Praxisfeldern der Politik-, Arbeits- und Lebensformen in der Neuen Linken und im linksalternativen Milieu, ist die konventionelle Arbeitswelt und die »alte« Arbeiterbewegung um »1968« ein bislang erstaunlich wenig ausgeleuchtetes Forschungsfeld.59 Insbesondere den Betrieben kam bislang kaum Aufmerksamkeit zu. Ein gewichtiger Grund hierfür dürfte in deren Besonderheit liegen, dass »die Klassenlinie mitten durch [ihr] soziales Beziehungsnetz hindurch« verläuft und »potenziell

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Diese analytische Trennung geht auf den Politologen Ronald Inglehardt zurück, dessen in den 1970er Jahren formulierte Theorie eines Wandels von materialistischen zu postmaterialistischen Werteorientierungen die Wertewandelforschung maßgeblich prägte. Siehe Bernhard Dietz, Christopher Neumaier und Andreas Rödder (Hg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014. Zu diesem Ergebnis kommt bspw. auch Jörg Neuheiser, »Postmaterialismus am laufenden Band? Mitbestimmung, Demokratie und ›Humanisierung der Arbeitswelt‹ in den Konflikten zwischen ›plakat‹-Gruppe und IG Metall bei Daimler-Benz in Untertürkheim«, in: Der Betrieb als sozialer und politischer Ort. Studien zu Praktiken und Diskursen in den Arbeitswelten des 20. Jahrhunderts, hg. von Knud Andresen et al., Bonn 2015, S. 99–114. Die seit Mitte der 1970er Jahre zunehmende Gründung von selbstverwalteten Betrieben stand bspw. auch im Zusammenhang mit der zeitgleich nachlassenden Wachstumsdynamik der bundesdeutschen Wirtschaft sowie einer wachsenden (Jugend-)Arbeitslosigkeit. Marlene Kück, »Alternative Ökonomie in der Bundesrepublik Deutschland. Entstehungsanlässe, wirtschaftliche Bedeutung und Probleme«, in: APuZ 32 (1985), S. 26–38. Zu den Idealen von »Gleichberechtigung, Mitsprache und Solidarität« jenseits der ökonomischen Zielstellungen der deutschen Genossenschafts- als Teil der Arbeiterbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe bspw. Novy und Prinz, Gemeinwirtschaft (s. Anm. 40), S. 11. Siehe Redaktion der Zeithistorische Forschungen, Bücher zum Themenkomplex »1968« im Spiegel der Kritik, Juni 2019, Online: https://zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medie n/material/Rezensionen_68erPDF.pdf; Richtungsweisende Bedeutung besitzen vor allem die Publikationen von Gehrke und Horn, 1968 (s. Anm. 7); Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 3). Siehe auch Wolfgang Hien, Herbert Obenland und Peter Birke, Das andere 1968. Von der Lehrlingsbewegung zu den Auseinandersetzungen am Speyer-Kolleg 1969–72, Berlin 2022; Hartmut Rübner, »Arbeiter/innen und Neue Linke im Protestzyklus um 1968«, in: Sozial.Geschichte Online 33 (2022), S. 283–310.

Einleitung

gegenläufige Interessen […] zur Kooperation gezwungen« werden.60 Soziale Beziehungen im Betrieb weisen – im Gegensatz zu den politischen Organisationsformen der Neuen Linken – einen Zwangscharakter auf, müssen hier doch Menschen in der Regel unter nicht selbstbestimmten Bedingungen in mitunter großer sozialer Nähe zusammenarbeiten. Die »Systemfrage« stellt sich nicht im Abstrakten, sondern besitzt für die Arbeitenden eine die persönliche Existenzgrundlage unmittelbar betreffende Relevanz. Dies prägt wiederum in entscheidendem Maße die Handlungsbedingungen und -ressourcen von Arbeiter*innen für eine politische Artikulation ihrer Bedürfnisse, Ansprüche und Vorstellungen.

Forschungsstand Die Forschungsliteratur zur deutschen Geschichte des kollektiven Wirtschaftens besteht zu einem großen Teil aus ideengeschichtlichen Überblicksdarstellungen in Verbindung mit systematisierenden Einordnungsverschlägen. In der Bundesrepublik war der Bedarf daran in den Neuen Sozialen Bewegungen nach »1968« gestiegen.61 Vor dem Vergessen zu bewahren galt es damals die vielfältigen historischen Traditionsstränge demokratischen Wirtschaftens, die sich während der Weimarer Republik entfaltetet hatten, die die Nazis abrupt abbrachen und die auch in den Nachkriegsjahrzehnten zunächst nicht wiederauflebten. In diesem Kontext entstandene Publikationen dienten einer Verständigung über die zeitgenössische Praxis und Probleme der Selbstverwaltung in den Betrieben der Alternativökonomie.62 In den 1980er Jahren verstärkten sich die Bemühungen um eine Anbindung an die wirtschaftswissenschaftliche Forschung und eine Reihe sozialwissenschaftlicher Arbeiten, zum Teil als Auftragsforschung, entstanden.63 Die einstige Einschätzung, das Wissen um die Geschichte des kollektiven Wirtschaftens sei nahezu komplett verschütt gegangen,64 trifft heute – mit Blick auf die hier nicht umfas-

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Welskopp, Produktion (s. Anm. 26), S. 39; Thomas Welskopp, »Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungsansätze in der Industrie- und Arbeitergeschichte«, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 137. Siehe insbesondere die Publikationen der Reihe Selbstverwaltung der Arbeitsgemeinschaft Sozialpolitische Arbeitskreise (AG SPAK) und die von Rolf Schwendter herausgegebenen Publikationen. Zur Problematik Rechtsform: Burghard Flieger (Hg.), Produktivgenossenschaften oder der Hindernislauf zur Selbstverwaltung. Theorie, Erfahrungen und Gründungshilfen zu einer demokratischen Unternehmensform, München 1984. Zur Problematik Finanzierung: Marlene Kück und Achim von Loesch (Hg.), Finanzierungsmodelle selbstverwalteter Betriebe, Frankfurt a.M. u.a. 1987. Zur Gender-Problematik: Martina Rački (Hg.), Frauen(t)raum im Männerraum. Selbstverwaltung aus Frauensicht, München 1988. Arno Heise (Hg.), Arbeiterselbstverwaltung, München 1989; Gubitzer, Selbstverwaltung (s. Anm. 46); Flieger, Produktivgenossenschaft (s. Anm. 41). Siehe Überblick über die in den 1980er Jahren durchgeführten Studien in Heider und Mevissen, Selbstverwaltete Betriebe (s. Anm. 52), S. 14–27. Klaus Novy und Günther Uhlig, »›Wirtschaftsarchäologische‹ Bemühungen zur Vielfalt verschütteter Formen der Gegenökonomie«, in: Hans Jürgen Wagener (Hg.), Demokratisierung der Wirtschaft. Möglichkeiten und Grenzen im Kapitalismus, Frankfurt a.M. u.a. 1980, S. 166–189.

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send darzustellende Vielfalt in der Forschungsliteratur zur Genossenschaftsbewegung, Alternativen bzw. Solidarischen Ökonomie und Commons-Bewegung – nicht mehr zu. Nach wie vor ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Selbstverwaltung aber unmittelbar eine über politische Grundannahmen hinsichtlich der (Un-)Möglichkeit von Alternativen zum Kapitalismus, die zwischen Scheiterns- und Erfolgserwartungen rangieren. Die Scheiternserwartung goss der Nationalökonom und Soziologe Franz Oppenheimer in die Form einer Gesetzmäßigkeit. Sein breit und oftmals falsch rezipiertes »Transformationsgesetz« besagt, dass »[n]ur äußerst selten […] eine Produktionsgenossenschaft zur Blüte [gelangt.] Wenn sie aber zur Blüte gelangt, hört sie auf eine Produktivgenossenschaft zu sein.«65 Im Mangel an Kapital, Absatz und Arbeitsdisziplin sah Oppenheimer die Gründe für das vorhersehbare Scheitern von Produktivgenossenschaften und im Egoismus der Gründungsmitglieder die Gründe für deren Transformation in konventionelle Kapitalgesellschaften voraus.66 Obwohl am Ende des 19. Jahrhunderts formuliert, behielt Oppenheimers »Transformationsgesetz« in den Forschungsdiskussionen des 20. Jahrhunderts als Referenzrahmen durchweg seine Aktualität.67 Dagegen unterstrichen Erfolgserwartungen das gesellschaftsverändernde Potenzial kollektiver Wirtschaftsformen, ihr Realisierungspotenzial war historisch stets von der Stabilität des kapitalistischen Wirtschaftssystems abhängig. Von den ersten Genossenschaftsgründungswellen im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die Verelendung im Zuge der Industrialisierung bis hin zur Bewegung der empresas recuperadas por sus trabajadores als Antwort auf die Staats- und Finanzkrise in Argentinien zu Beginn des 21. Jahrhunderts,68 lässt sich nachvollziehen, dass die Praxis der Selbstverwaltung vor allem in Zeiten wirtschaftlicher, sozialer und politischer Krisen an Bedeutung gewann bzw. gewinnen konnte. Eine allein auf Scheitern versus Erfolg zentrierende Forschungsdiskussion über Selbstverwaltung wird problematisch, wenn dadurch der Blick auf die historische Kontingenz verstellt und ahistorische Vorannahmen reproduziert werden. Gerade die Schwerkraft der Geschichte – die selbstverwalteten Unternehmen sehr widrige Entstehungs- und Existenzbedingungen bot – hält das Narrativ vom zwangsläufigen Scheitern

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Franz Oppenheimer, Die Siedlungsgenossenschaft. Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage, Leipzig 1896, S. 45. Infolge einer fehlenden Differenzierung zwischen Produktionsgenossenschaft und Produktivgenossenschaft wurde in der Rezeption oftmals übersehen, dass Oppenheimer keinesfalls die Überlebensfähigkeit der genossenschaftlichen Eigentumsform an sich bezweifelte. Seine Skepsis bezog sich vielmehr auf Produktivgenossenschaften, in denen die Arbeitenden zugleich Eigentümer sind – wie es bei Produktionsgenossenschaften nicht der Fall ist. Siehe Atmaca, Produktivgenossenschaften (s. Anm. 41), S. 537–539. Oppenheimer, Siedlungsgenossenschaft (s. Anm. 65), S. 52. Siehe bspw. affirmativ bei Robert Hettlage, Genossenschaftstheorie und Partizipationsdiskussion, Frankfurt a.M. u.a. 1979; Constantin Bartning, »Ziele und Unternehmenskultur der kollektiven Selbstständigkeit«, in: Hans G. Nutzinger (Hg.), Ökonomie der Werte oder Werte in der Ökonomie? Unternehmenskultur in genossenschaftlichen, alternativen und traditionellen Betrieben, Marburg 1996, S. 111–142; Kritisch dagegen Heider et al., Kontinuität (s. Anm. 54). Deutsche Übersetzung: die von den Arbeitenden übernommenen Betriebe. Hudson, Wir übernehmen (s. Anm. 35).

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lebendig, ungeachtet der mittlerweile vorgebrachten empirischen Gegenbelege.69 Hingegen mangelt es an Untersuchungen, die der Komplexität der betriebswirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen kollektiver Unternehmen gerecht werden, um das postulierte Scheitern erklären zu können – wie Peter Kramper kritisiert.70 Die wenigen vorliegenden zeit- und unternehmenshistorischen Fallstudien befassen sich vorwiegend mit gemeinwirtschaftlichen oder konsumgenossenschaftlichen, kaum aber mit selbstverwalteten bzw. produktivgenossenschaftlichen Unternehmen.71 Belegschaftsunternehmen spielen – auch infolge der dargelegten definitorischen Verengung – in der deutschsprachigen Selbstverwaltungsforschung so gut wie keine Rolle. Über sie erschienen nur wenige Überblicksdarstellungen, die in der Regel von der Fragestellung geprägt sind, inwiefern die Übernahme von Konkurs bedrohten Unternehmen durch die Beschäftigten eine aussichtsreiche Krisenstrategie darstellt.72 So liegen auch über die seit 1970 belegschaftseigene Glashütte Süßmuth – obwohl es sich hier um einen der ersten selbstverwalteten Betriebe in der Geschichte der Bundesrepublik handelte – keine historiographische Untersuchungen vor. Die wenigen, zeitgenössisch erschienenen Publikationen konzentrieren sich auf die Diskussion der juristischen Konstruktion des Modells Süßmuth.73 Als ein Fallbeispiel fand es auch Beachtung in zahlreichen Überblicksdarstellungen.74 Einen tieferen Einblick in die betriebsinternen Auseinandersetzungen gewähren die Texte des Schriftstellers und Mitbegründer des 69

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Siehe Virginie Pérotin, »The Performance of Workers’ Cooperatives«, in: Battilani und Schröter, The Cooperative Business Movement (s. Anm. 40), S. 195–221; Peter Kramper, »Why Cooperatives Fail. Case Studies from Europe, Japan, and the United States, 1950–2010«, in: Battilani und Schröter, The Cooperative Business Movement (s. Anm. 40), S. 127; Marina Della Giusta, »Co-operatives as Entrepreneurial Institutions«, in: Mark Casson (Hg.), Entrepreneurship. Theory, Networks, History, Cheltenham u.a. 2010, S. 173–199. Peter Kramper, Neue Heimat. Unternehmenspolitik und Unternehmensentwicklung im gewerkschaftlichen Wohnungs- und Städtebau 1950–1982, Stuttgart 2008, S. 19–21. Siehe bspw. die Fallstudien in Hesse et al., Unternehmen (s. Anm. 46). Herbert Klemisch, Walter Vogt, Richard Reichel u.a., »Produktivgenossenschaften und selbstverwaltete Unternehmen. Eine Alternative bei Unternehmenskrisen und Unternehmensnachfolgen«, in: Zeitschrift für das Gesamte Genossenschaftswesen 1 (2014); Herbert Klemisch, Kerstin Sack und Christoph Ehrsam, Betriebsübernahme durch Belegschaften. Eine aktuelle Bestandsaufnahme, Köln 2010; Duhm, Krisenbetriebe (s. Anm. 45); Gabriele Hommel und Hans-Gerd Nottenbohm, Betriebe in Belegschaftshand. Handlungsbedingungen und -möglichkeiten beim Versuch der Übernahme von Betrieben durch die Beschäftigten, Düsseldorf 1985; Heinz Bierbaum, »Betriebe in Belegschaftshand«, in: Ders. und Marlo Riege (Hg.), Die neue Genossenschaftsbewegung. Initiativen in der BRD und in Westeuropa, Hamburg 1985, S. 27–55. Fabian, Arbeiter (s. Anm. 9); Alfons Kraft und Horst Konzen, Die Arbeiterselbstverwaltung im Spannungsverhältnis von Gesellschafts- und Arbeitsrecht, Köln 1978. In chronologischer Reihung: Fritz Vilmar (Hg.), Strategien der Demokratisierung. Band II. Modelle und Kämpfe der Praxis, Darmstadt u.a. 1973, S. 415–430; Arnulf Geißler, »Genossenschaftsunternehmen. Modelle der Wirtschaftsdemokratie. Beispiele Ahrensburg und Süßmuth«, in: Fritz Vilmar (Hg.), Menschenwürde im Betrieb, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 236–255; Reimer Gronemeyer, Integration durch Partizipation?, Frankfurt a.M. 1973, S. 126–131; Bernhard Wanders, »Modellunternehmen«, in: Ulrich von Alemann (Hg.), Partizipation, Demokratisierung, Mitbestimmung. Problemstand und Literatur in Politik, Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft. Eine Einführung, Opladen 1975, S. 172–194; Rolf Schwendter (Hg.), Zur alternativen Ökonomie I, Berlin 19784 , S. 151–160; Köhler, Ökonomie (s. Anm. 43); Notz, Selbstverwaltung (s. Anm. 43); Hans See, »Können wir Menschen gleichberechtigt zu-

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Werkkreises Literatur der Arbeitswelt Erasmus Schöfer, der sich 1973 und 1974 mehrfach in Immenhausen aufhielt, um die Ereignisse seit der Betriebsübernahme durch die Beschäftigten zu rekonstruieren und zu dokumentieren.75 Eine umfassende Analyse der Hintergründe, der hierdurch ausgelösten Auf- und Umbrüche, der langfristigen Auswirkungen sowie der historischen Bedeutung der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth wird dagegen in dieser Arbeit erstmals vorgenommen. Auch die Entwicklung des 1946 von dem seinerzeit bekannten Glasgestalter Richard Süßmuth gegründeten Unternehmens bis zur Belegschaftsübernahme 1969 wurde bislang nicht umfassend untersucht. Aufschluss hierüber geben allein die Dauerausstellung im auf dem ehemaligen Betriebsgelände existierenden Glasmuseum Immenhausen und die von der Gesellschaft der Freunde der Glaskunst Richard Süßmuth herausgegebenen Broschüren.76 Ein solches Forschungsdefizit betrifft die meisten Unternehmen der Branche. Bei manchen der in dieser Arbeit zum Vergleich herangezogenen Glashütten konnte auf einzelne, vor allem kunsthistorisch interessierte Darstellungen zurückgegriffen werden.77 Im Gegensatz zu anderen krisengeschüttelten »Traditionsbranchen« wie dem Bergbau, der Stahl- und Eisenindustrie, der Textil- oder Werftindustrie liegen bislang kaum geschichtswissenschaftliche Analysen zur Entwicklung der Mundglasbranche nach 1945 vor. Ein Grund hierfür ist die mit Blick auf die Beschäftigten- und Umsatzzahlen quantitativ geringe gesamtwirtschaftliche Bedeutung dieser Branche als Teil der in sich sehr heterogenen Glasindustrie. Diese bestand vorrangig aus kleineren, mittelständischen Unternehmen, die in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte generell vernachlässigt wurden und auch den Behörden lange Zeit als »antiquiertes Auslaufmodell« galten.78 In mehrfacher Hinsicht widersprachen diese Unternehmen – wie noch zu zei-

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sammenarbeiten oder brauchen wir Chefs und Eigentümer?«, in: Friedrich Heckmann und Eckart Spoo (Hg.), Wirtschaft von unten, Heilbronn 1997, S. 50–72. Erasmus Schöfer verarbeitete seine Eindrücke in einem zweiteiligen Hörspiel (1974/1975 im WDR 2 und HR gesendet), das auch als Essay vorliegt, und im zweiten Band seiner Sisyfos-Romantetralogie. Exposé und Aufnahmemitschnitte des Hörspiels in: FHI Dortmund, Schöf-1418 und Schöf-1536. Erasmus Schöfer, »Die Hütte muss uns gehören«, in: Ders. (Hg.), Erzählungen von Kämpfen, Zärtlichkeit und Hoffnung, Frankfurt a.M. 1979, S. 67–99; Erasmus Schöfer, Zwielicht. Die Kinder des Sisyfos, Berlin 2004, S. 9–150. Siehe bspw. Friedrich-Karl Baas und Dagmar Ruhlig-Lühnen, Die Form hat der Funktion zu dienen. Der Glasgestalter und Unternehmer Richard Süßmuth und sein Werk, Immenhausen 2000. Richard Süßmuths künstlerische und unternehmerische Tätigkeiten im schlesischen Penzig vor 1945 werden beleuchtet in Walter Scheiffele, Wilhelm Wagenfeld und die moderne Glasindustrie. Eine Geschichte der deutschen Glasgestaltung von Bruno Mauder, Richard Süssmuth, Heinrich Fuchs und Wilhelm Wagenfeld bis Heinrich Löffelhardt, Stuttgart 1994. Helmut Ricke und Wilfried van Loyen (Hg.), gralglas. Deutsches Design 1930–1981, Berlin u.a. 2011; Marita Haller und Gerhard Pscheidt, Theresienthal in alten Fotos, Riedlhütte 2008; Helmut Ricke (Hg.), Wiesenthalhütte. Design in Glas 1957–1989, München u.a. 2007; Klaus Breit, Die Wiesenthaler Glashütte. Erinnerungen, Aufzeichnungen, Betrachtungen, Schwäbisch-Gmünd 1999; Hermann Schreiber, Dieter Honisch und Ferdinand Simoneit, Die Rosenthal-Story, Düsseldorf 1980; Stärker sozialhistorisch dagegen: Alfons Hannes, Glas aus dem Bayerischen Wald, Grafenau 1975; Katharina Eisch, Die Eisch-Hütte. Portrait einer Bayerwald-Glashütte im 20. Jahrhundert, Grafenau 1988. Berghoff, Historisches Relikt (s. Anm. 48), S. 250; Siehe Reinhold Reith und Dorothea Schmidt (Hg.), Kleine Betriebe – Angepasste Technologie? Hoffnungen, Erfahrungen und Ernüchterungen aus sozial- und technikhistorischer Sicht, Münster 2002; Hermann Kotthoff und Josef Reindl,

Einleitung

gen ist – dem Ideal massenproduzierender Großunternehmen als dem Wirtschaft, Politik wie Wissenschaft prägenden Leitbild einer effizienten Form der Unternehmens- und Betriebsorganisation. Überblicksdarstellungen zur Entwicklung der gesamten Glasindustrie, die nicht nach Fertigungsverfahren und Produkten differenzieren, oder die vorliegenden Studien zu Unternehmen der Flach- oder Spezialglasbranche besitzen für die Mundglasbranche daher nur begrenzte Aussagekraft.79

Analyseperspektive und Methodik Die »Selbstverwaltung« und »Mundglasbranche« haben gemeinsam, dass sie mit den gängigen Vorstellungen von »Normalität« im Wirtschaften analytisch kaum zu fassen sind. Die Untersuchung der in dieser Hinsicht widerspenstigen Phänomene und die angestrebte Verbindung der Perspektive von unten mit der von oben erfolgt daher in dieser Arbeit über die Moralische Ökonomie – als Bezeichnung für die angewandte Methodik und den erforschten Gegenstand gleichermaßen.80 Der Ansatz der Moralischen Ökonomie ist kein in sich abgeschlossenes Theoriegerüst, sondern eine analytische Perspektive auf die Geschichte des Wirtschaftens, die aus Diskussionen mit Anne Sudrow und Jens Beckmann im Rahmen des gleichnamigen Forschungsprojekts hervorging. Einen Ausgangspunkt bildete hierbei Edward P. Thompsons Lesart der moral economy of the english crowd, die er als Erklärung für die food riots im England des 18. Jahrhunderts vorschlug.81 Kritik am Strukturalismus der empirischen Wirtschaftsgeschichte und an einem orthodox interpretierten Marxismus übend, wollte Thompson jene kollektiven und relativ geordneten Proteste gegen Brotpreissteigerungen nicht allein auf den Hunger und die pure Not der armen Landbevölkerung – dem bread-nexus – zurückführen. Er bewertete diese Proteste als eine Reaktion auf einen fundamentalen gesellschaftlichen Umbruch, in welchem die »paternalistisch[e], vormarktwirtschaftlich[e] Versorgungsökonomie traditioneller Eliten« auf »privatwirtschaftlich[e] Protagonisten einer vordringenden kapitalistischen Marktökonomie« prallten.82 Unter moral economy verstand Thompson die

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Die soziale Welt kleiner Betriebe. Wirtschaften, Arbeiten und Leben im mittelständischen Industriebetrieb, Göttingen 1990. Siehe bspw. Peter Willett, Die Glasindustrie in der Bundesrepublik Deutschland, Mainz 1998; Otto Moritz, Die Entwicklung der Glasindustrie in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Beitrag zur Industriegeografie, Regensburg 1989; Gerhard Neckermann und Hans Wessels, Die Glasindustrie. Ein Branchenbild, Berlin 1987; Armin Gebhardt, Die Glasindustrie aus der Sicht der siebziger Jahre, Berlin 1974; Johannes Laufer, Von der Glasmanufaktur zum Industrieunternehmen. Die Deutsche Spiegelglas AG (1830–1955), Stuttgart 1997; Herbert Kühnert, Forschungen zur Geschichte des Jenaer Glaswerks Schott & Genossen, Wien u.a. 2012; Dieter Kappler und Jürgen Steiner, Schott 1884–2009. Vom Glaslabor zum Technologiekonzern, Mainz 2009. Die Groß- und Kleinschreibung dient der begrifflichen Unterscheidung: Mit »Moralische Ökonomie« ist im Folgenden die Analyseperspektive gemeint, mit »moralische Ökonomie« der Untersuchungsgegenstand. Edward P. Thompson, »The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century«, in: Past & Present 50 (1971), S. 76–136. Manfred Gailus und Thomas Lindenberger, »Zwanzig Jahre ›moralische Ökonomie‹. Ein sozialhistorisches Konzept ist volljährig geworden«, in: Geschichte und Gesellschaft 3 (1994), S. 470.

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tradierten Ordnungs- und Gerechtigkeitsvorstellungen, worauf die Aufständischen zur Legitimation ihrer Proteste zurückgriffen und die sie zugleich als Erwartungshaltung an die Autoritäten richteten. Hierin sei eine selektive Rekonstruktion eines Paternalismus zu beobachten, der die Rechte der Regierenden bestätigte, zugleich aber die Grenzen ihres Handelns markierte.83 Der dieser Arbeit zugrunde gelegte Analyserahmen bezieht sich nicht auf Thompsons empirisch-historische Konkretion der moral economy,84 knüpft aber an seine Perspektive auf gemeinsame Erfahrungen und geteilte Wertvorstellungen der Akteur*innen als Bedingungen kollektiven Handelns an, die es als gleichberechtigte Analysefelder neben den »Tatsachen« zur Erklärung historischer Entwicklungen heranzuziehen gilt.85 Ein weiterer Ausgangspunkt waren die Arbeiten von Karl Polanyi. Polanyi lehnte die universalistische Annahme der neoklassischen Theorie eines zweckrationalen, nutzenmaximierenden Homo oeconomicus und den hierbei virulenten methodologischen Individualismus ab und stellte dieser seine substantivistische Lesart von the economic as instituted process gegenüber.86 Ausgehend vom wirtschaftlichen Handeln vergesellschafteter statt atomisierter Individuen betonte Polanyi die soziale Einbettung und Gemeinwohlorientierung des Wirtschaftens in traditionellen, vor-kapitalistischen Gesellschaften. Der formalistische Modus des Wirtschaftens, mit dem die private Interessenorientierung bzw. das individuelle Gewinnstreben gegenüber dem Gemeinwohl in den Vordergrund rückte, sei demnach erst als das historische Resultat einer Great Transformation der westlichen Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert zu betrachten.87 Im Zuge der sich formierenden Marktgesellschaft habe sich die Ökonomie als eine autonome Sphäre vom sozialen Kontext der Gesellschaft herausgelöst, womit dem Wirtschaften im Kapitalismus die Gemeinwohlorientierung verloren gegangen sei: Nicht mehr die Gesellschaft habe die Ökonomie geprägt, sondern umgekehrt habe nun eine sozial »entbettete« und verselbstständigte Ökonomie die Gesellschaft dominiert. Die Kritik an Karl Polanyi, den substantivistischen Ansatz nicht auch auf die Analyse moderner, kapitalistischer Gesellschaften angewandt zu haben,88 greift der britische Sozialwissenschaftler Andrew Sayer auf und betont, dass »all economies – not merely preor non-capitalist ones – are moral economies«.89 Hierauf bezugnehmend wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass wirtschaftliches Handeln immer auf spezifischen Wertvorstellungen und Wahrnehmungen von den ökonomischen Notwendigkeiten sowie auf

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Thompson, Moral Economy (s. Anm. 81), S. 95, 98. Einer Übertragung auf »beliebig viele andere Regionen, Zeiten und Konfliktkonstellationen« stand Thompson selbst skeptisch gegenüber. Gailus und Lindenberger, Moralische Ökonomie (s. Anm. 82), S. 470f. Thompson, Englische Arbeiterklasse (s. Anm. 18), S. 475. Karl Polanyi, »The Economy as Instituted Process«, in: Karl Polanyi, Conrad M. Arensberg und Harry W. Pearson (Hg.), Trade and Market in the Early Empires. Economies in History and Theory, New York u.a. 1957, S. 243–270. Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Berlin 2013 [1944]. Dejung, Einbettung (s. Anm. 48), S. 57. Andrew Sayer, »Approaching Moral Economy«, in: Nico Stehr, Christoph Henning und Bernd Weiler (Hg.), The Moralization of the Markets, New Brunswick u.a. 2006, S. 78.

Einleitung

Annahmen über die hieraus resultierenden bzw. zu treffenden richtigen Entscheidungen und zu ergreifenden richtigen Maßnahmen basiert. Moralische Ökonomie meint somit nicht eine bestimmte (moralische oder idealistische) Art des Wirtschaftens, sondern einen Ansatz zur Analyse der vielfältigen Vorstellungen über die gute und richtige Art des Wirtschaftens. Wenn Milton Friedman in der Profitsteigerung eine soziale Verantwortung der Unternehmen ausmachte,90 verdeutlichte er, dass selbst im Plädoyer für ein vermeintlich wertfreies Wirtschaften normativ bzw. moralisch argumentiert wird und – nach Luc Boltanski und Ève Chiapello – argumentiert werden muss. Denn der Kapitalismus sei als ein »amoralischer Prozess der unbeschränkten Anhäufung von Kapital« auf Rechtfertigungen, die ihm äußerlich sind, angewiesen.91 Das hier angewandte Verständnis von Moral ist folglich kein normativ festgelegtes, sondern ein analytisches. Als Überbegriff für formelle wie informelle Normen und Konventionen, Wert-, Gerechtigkeits- und Ordnungsvorstellungen, für Dispositionen, Überzeugungen sowie Verpflichtungen hinsichtlich des Guten und Richtigen – sowohl in Bezug auf das eigene Handeln als auch hinsichtlich der Erwartungen vom Handeln der Anderen – ist Moral ein zentraler Faktor in sozialen Beziehungen.92 Vorstellungen vom richtigen und guten Handeln können in Raum und Zeit unterschiedlich definiert sein. Sie können jedoch im gleichen Raum und zur gleichen Zeit auch variieren, denn es »bedarf keines ›gemeinsamen Sinnhorizonts‹, um Menschen in Handlungszusammenhänge zu integrieren oder miteinander ›ins Geschäft‹ zu bringen.«93 Zudem ist Moral wie Kultur nicht auf eine dem Handeln äußerliche Ressource oder Strategie der Interessendurchsetzung, des Machterhalts oder der Machterweiterung reduzierbar, sondern konstituiert, entwickelt und verändert sich in den bewusst wie unbewusst vollzogenen, konflikt- wie konsensorientierten Praktiken aller Akteur*innen innerhalb eines Handlungsfelds.94 In diesem Sinne nähert sich der Ansatz der Moralischen Ökonomie dem Wirtschaften aus einer praxeologischen Perspektive. Praxistheorien üben Kritik an einer »Entmaterialisierung« sowie an einer »theoretischen Rationalisierung und Intellektualisierung des Sozialen und des Handelns«, die es nicht nur in den Sozialwissenschaften, sondern auch in der Geschichtswissenschaft zu

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Milton Friedman (1970) zitiert in Dominik H. Enste und Julia Wildner, Mitverantwortung und Moral. Eine unternehmensethische Reflexion, Köln 2014, S. 17. Luc Boltanski und Ève Chiapello, »Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapitalismus und der normative Wandel«, in: Berliner Journal für Soziologie 4 (2001) S. 462; Luc Boltanski und Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2013. Andrew Sayer, »Moral Economy as Critique«, in: New Political Economy 2 (2007), S. 262; Sayer, Approaching (s. Anm. 89), S. 79f. Jakob Tanner, »Die ökonomische Handlungstheorie vor der ›kulturalistischen Wende‹? Perspektiven und Probleme einer interdisziplinären Diskussion«, in: Hartmut Berghoff und Jakob Vogel (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivwechsels, Frankfurt a.M. u.a. 2004, S. 90. Thomas Welskopp, »Unternehmenskulturen im internationalen Vergleich – oder integrale Unternehmensgeschichte in typisierender Absicht?«, in: Hartmut Berghoff und Jakob Vogel (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivwechsels, Frankfurt a.M. u.a. 2004, S. 272.

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berücksichtigen gilt.95 Bezogen auf die Geschichte des Wirtschaftens kann ein praxeologischer Zugang einem verkürzten und holistischen Kulturbegriff entgegen wirken, wie ihn Thomas Welskopp in der Auseinandersetzung mit Unternehmenskultur in der deutschen Unternehmensgeschichte kritisiert.96 Kultur werde hier oftmals »als tendenziell ökonomisch messbare«, Transaktionskosten senkende und Effizienz steigernde Größe betrachtet – wie in den Ansätzen der Neuen Institutionenökonomik (NIÖ) der Fall – oder als eine »außerhalb des ökonomischen Kernbereichs« liegende »Catch-all-Kategorie«, der »trotzdem eine kausale Kraft zugeordnet« werde. Problematisch ist, dass in der Regel auf die Perspektive des Managements fokussiert und Unternehmenskultur als ein Führungsproblem betrachtet werde, dagegen der »Machtaspekt in den unternehmensinternen Sozialbeziehungen völlig verloren« gehe. Auch kann ein praxeologisches Vorgehen verhindern, Werte auf dem (wirtschaftlichen) Handeln zeitlich vorgelagerte bzw. praxisunabhängige Überzeugungen oder normative Sollensvorstellungen herabzusetzen – ein Verständnis, wie es tendenziell der zeithistorischen Diskussion, inwiefern im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ein Wertewandel stattgefunden habe, zutage tritt.97 Werden Werte als eine Form von in sozialen Praktiken mobilisiertes praktisches Wissen verstanden, das weitgehend implizit bleibt, so ermöglicht erst die Analyse der Praktiken deren Rekonstruktion und historischer Wandel. Der methodische Mehrwert der Praxeologie in der Geschichtswissenschaft liegt damit weniger in der »Anwendung des gesunden Menschenverstandes« als vielmehr – wie weiter aufzuzeigen ist – in einer kritischen Perspektive auf das Untersuchungsfeld wie auch auf das Vorgehen und die Methodik der Forschenden.98 Die Verschränkung des Wirtschaftens mit Moral wird also konstant gesetzt, nicht aber deren normative Konkretion.99 Der Ansatz der Moralischen Ökonomie erhebt vielmehr die verschiedenen mit dem Wirtschaften verbundenen Wert- und Zielvorstellungen sowie Perzeptionen von ökonomischer Effizienz und Rationalität zum Forschungs-

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Andreas Reckwitz, »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 4 (2003), S. 291, 296. Zur Anwendung praxeologischer Ansätze in der Geschichtswissenschaft siehe u.a. Lucas Haasis und Constantin Rieske (Hg.), Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns, Paderborn 2015; Sven Reichardt, »Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung«, in: Sozial.Geschichte 3 (2007), S. 43–65. Folgendes aus Welskopp, Unternehmenskulturen (s. Anm. 94), S. 265–272, 267, 270; [Herv.i.O.]. Bernhard Dietz lässt infolge einer solchen Trennung von »Werten« und »Handeln« bspw. die Frage, inwiefern der von ihm diagnostizierte Wandel im Selbstverständnis und in der »diskursiv verhandelten« Wertorientierung leitender Angestellter »verhaltensrelevant« gewesen sei, unbeantwortet. Bernhard Dietz, »Wertewandel in der Wirtschaft? Die leitenden Angestellten und die Konflikte um Mitbestimmung und Führungsstil in den siebziger Jahren«, in: Ders. et al., Wertewandel (s. Anm. 55), S. 197. Rüdiger Graf, »Was macht die Theorie in der Geschichte? ›Praxeologie‹ als Anwendung des ›gesunden Menschenverstandes‹«, in: Jens Hacke und Matthias Pohlig (Hg.), Theorie in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 2008, S. 109–129; Lucas Haasis und Constantin Rieske, »Historische Praxeologie. Zur Einführung«, in: Dies. (Hg.), Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns, Paderborn 2015, S. 51. Im Gegensatz zu bspw. Markus Wolf, »Ökonomische Moral? Moralische Ökonomie? Über eine Grundfrage der Wirtschaftsethik«, in: Hans Friesen und Ders. (Hg.), Ökonomische Moral oder moralische Ökonomie? Positionen zu den Grundlagen der Wirtschaftsethik, Freiburg i.Br. u.a. 2014, S. 9.

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gegenstand der historischen Analyse und erweitert damit den Blick auf deren Träger*innen ebenso wie auf die historisch-spezifischen Verhältnisse, unter denen sich manche Deutungen durchsetzten und andere nicht. Untersucht wird folglich nicht eine Entmoralisierung oder Moralisierung der Ökonomie, sondern die Formen und Orte der gesellschaftlichen Auseinandersetzung über das gute und richtige Wirtschaften sowie deren historischer Wandel. Aus dieser Perspektive gerät in den Blick, dass der Betrieb um »1968« in historisch neuer Qualität zu einem solchen Ort, zu einem politischen Ort wurde. Auch ermöglicht diese Perspektive präzisere Antworten auf die Frage, ob selbstverwaltete Unternehmen in einer kapitalistischen Umgebung überhaupt überlebensfähig oder – früher oder später – zum Scheitern verurteilt sind. Anstatt sich mit einem in der normativen Ausrichtung festgelegten Verständnis von Selbstverwaltung im Abgleich von Anspruch und Wirklichkeit zu verfangen, sind die Dynamiken des Aufstiegs und Zerfalls dieser Form des Wirtschaftens mikrohistorisch zu untersuchen. So ist im Fall Süßmuth zu analysieren, welche konkreten Faktoren eine Verstetigung der demokratischen Praxis in einem bundesdeutschen Industrieunternehmen zum damaligen Zeitpunkt erschwerten. Statt ein Urteil über Erfolg oder Scheitern vorwegzunehmen, ist nach den Maßstäben zu fragen, an denen die Praktiker*innen selbst ein solches bemaßen. Moralische Ökonomie wird somit nicht als Gegenpol zur Politischen Ökonomie gedacht,100 sondern steht vielmehr im Kontext deren kulturgeschichtlichen Wiederbelebung, die ihren macht- und herrschaftskritischen Impuls beibehält.101 In der Politischen Ökonomie sieht Charles Maier eine alternative Herangehensweise an das ökonomische Denken, deren Rückkehr in Politik und Geschichtswissenschaft im Zuge der 2008 einsetzenden Finanzkrise er begrüßt.102 Während in den klassischen Wirtschaftswissenschaften in der Regel die »Volkswirtschaft als Grundeinheit« und ein daraus abgeleitetes nationales Interesse den Ausgangspunkt der Analyse bildet, fokussiert die Politische Ökonomie auf »eine segmentierte Wirtschaft« als globales Verhältnis einander antagonistisch gegenüberstehender Interessengruppen, zwischen denen permanente Aushandlungsprozesse stattfinden. Gerade mit einem kulturgeschichtlich erweiterten Verständnis vom Politischen – das hierunter nicht allein staatliche Verfahren, sondern sämtliche Auseinandersetzungen über die Gestaltung von Gesellschaft (und auch der Wirtschaft) fasst – rücken die Machtverhältnisse in ihrer Komplexität wie Dynamik in den Blick, die sich mikrohistorisch besonders gut untersuchen lassen. Im Rahmen dieser Analyseperspektive wird der Begriff des Ökonomischen zur heuristischen Kategorie, wie es Dejung et al. als Möglichkeit vorschlagen, die Frontstellung zwischen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte zu überwinden. Statt »theoretischer

100 Im Gegensatz zu bspw. Köhler, Ökonomie (s. Anm. 43), S. 16; Dieter Groh, »Zur Einführung«, in: Ders. (Hg.), Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. u.a. 1980, S. 21. 101 Siehe Andrew Sayer, »Moral Economy and Political Economy«, in: Studies in Political Economy 61 (2000), S. 79–103; Sayer, Critique (s. Anm. 92); Jacqueline Best und Matthew Paterson, »Introduction. Understanding Cultural Political Economy«, in: Dies. (Hg.), Cultural Political Economy, London u.a. 2010, S. 1–25. 102 Folgendes aus Charles S. Maier, »Das Politische in der Ökonomie. Zur Machtvergessenheit der Wirtschaftswissenschaft«, in: Mittelweg 36 2 (2013), S. 7–20, 11f.

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Vorannahmen« seien die Vorstellungen der historischen Akteur*innen »zum Ausgangspunkt der empirischen Untersuchung« zu machen.103 Im Bewusstsein bleibt dabei die Ressourcengebundenheit bei der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, ohne das Wirtschaften allein darauf zu reduzieren. Vielmehr weitet sich hierdurch der Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten ökonomischer Effizienz und Rationalität jenseits der einen sozial »entbetteten«, »spezifisch rational-nutzenmaximierenden [Handlungs-]Logik«, mit der einst Max Weber oder Werner Sombart die Leistungsfähigkeit kapitalistischen Wirtschaftens erklärten.104 Statt von einem ahistorischen Verständnis ökonomischer Prinzipien als quantitativ messbaren Effizienz- und Rentabilitätskriterien auf Basis numerisch kalkulierbarer Leistungen und Kosten auszugehen und hierdurch die Trennung des Ökonomischen vom Nicht-Ökonomischen vorwegzunehmen, ist beides historisch zu untersuchen. Eine solche Historisierung des Ökonomischen bezieht sich nicht nur auf den Untersuchungsgegenstand, sondern auch auf die Geschichtlichkeit der Methoden und Kategorien des Zugangs. In diese Richtung wies Pierre Bourdieus Appell, »die Begriffe der Geschichtswissenschaft oder der Soziologie mit der Pinzette des Historikers an[zu]fassen«.105 Die Daten und Quellen, deren bewusste Selektivität in der Überlieferung miteingeschlossen, seien zu analysieren mit dem Ziel, »die historischen Kategorien herauszufinden.« Man müsse die Geschichte kennen, »weniger um sich daran zu nähren, sondern um sich von ihr zu befreien, um zu vermeiden, ihr zu gehorchen, ohne es zu wissen, oder sie zu wiederholen, ohne es zu wollen.« Nicht nur der Gegenstand, sondern auch das »Subjekt der Geschichtsforschung«, die »Konzepte und Klassifikationsschemata, kurz [das] historische […] Wahrnehmungsvermögen des Forschers« müsse als kontextgebunden reflektiert, sprich historisiert werden. In diesem Sinne bezeichnet Historisierung weniger eine Analyse der Vergangenheit als abgeschlossene Epoche, als vielmehr eine Methode, die in der geschichtswissenschaftlichen Untersuchung der eigenen Historizität Rechnung trägt.106 Eine wichtige Hilfestellung bei der Umsetzung dieses Forschungsansatzes im Untersuchungsfeld Mundglashütte bietet Philip Scrantons Konzept der Produktionsformate.107 Entlang der Art und des Serienumfangs der Produkte sowie der technischen Ausstattung und Organisation in der Fertigung im Zusammenhang mit einer jeweils spezifischen Nachfrage unterteilt Scranton das produzierende Gewerbe – statt in Handwerk

103 Dejung et al., Einleitung (s. Anm. 25), S. 12; Dejung, Einbettung (s. Anm. 48), S. 67. 104 Folgendes aus Dejung, Einbettung (s. Anm. 48), S. 51, 64–67. 105 Folgendes aus Pierre Bourdieu im Gespräch mit Lutz Raphael, »Über die Beziehungen zwischen Geschichte und Soziologie in Frankreich und Deutschland«, in: Pierre Bourdieu, Schwierige Interdisziplinarität. Zum Verhältnis von Soziologie und Geschichtswissenschaft, Münster 2004, S. 112, 115. 106 Zur Forschungsdiskussion siehe Pavel Kolář, »Historisierung, Version 2.0«, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22. Oktober 2012, Online: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.264.v2. 107 Folgendes aus Philip Scranton, Endless Novelty. Specialty Production and American Industrialization, 1865–1925, Princeton 1997, S. 3–24; Philip Scranton, »Manufacturing Diversity. Production Systems, Markets, and an American Consumer Society, 1870–1930«, in: Technology and Culture 3 (1994), S. 476–505. Siehe auch Anne Sudrow, Der Schuh im Nationalsozialismus. Eine Produktgeschichte im deutsch-britisch-amerikanischen Vergleich, Göttingen 20132 , S. 213f.

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und Industrie – in die vier Produktionsformate mass production (Massenproduktion), bulk production (Fertigung von Stapelware), batch production (Kleinserienfertigung) und custom production (Einzelstückfertigung). In der custom und batch production ermöglichen ein hoher Anteil an Handarbeit und die Anwendung von Universal-Werkzeug bzw. Universal-Maschinen eine große Flexibilität in der Herstellung, womit eine heterogene und schwankende Nachfrage bedient werden kann. Eine möglichst dauerhafte Kaufbereitschaft für gleichförmige Produkte ist dagegen Voraussetzung für die bulk und mass production, die mit Spezial-Werkzeugen bzw. Spezial-Maschinen in standardisierten Verfahren gefertigt werden. In Verbindung mit den Produktionsformaten ergreifen Unternehmen unterschiedliche Wettbewerbsstrategien.108 Geht es bei custom und batch production insbesondere um die permanente Entwicklung einer Vielfalt neuer Produkte oder solcher von hoher Qualität (novelty or quality), verfolgen bulk und mass production vor allem Strategien der Kosten- und Preisführerschaft.109 Auch der Stellenwert des arbeitenden Menschen ist unterschiedlich. Den Qualifikationen und Fähigkeiten der Arbeitenden kommt in der Einzelstück- und Kleinserienfertigung besonders große Bedeutung zu. In Unternehmen der Mundglasbranche dominierte vor allem das Format der batch production, mitunter auch das der custom production.110 Die von Charles Sabel and Jonathan Zeitlin eingeforderte Offenheit für die vielfältigen Möglichkeiten industrieller Entwicklung ist dem Konzept der Produktionsformate implizit,111 das somit die historische Kontingenz des ökonomischen Strukturwandels in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts berücksichtigen hilft. Aufgriffen wird in der folgenden Untersuchung darüber hinaus die Kritik an einer die Ebene des Betriebs und das Handeln der Beschäftigten vernachlässigenden Unternehmensgeschichte, wie sie dem Ansatz der Mikropolitik zugrunde liegt.112 Herangezogen wird insbesondere Thomas Welskopps Vorschlag einer integralen Unternehmensgeschichte auf Basis eines sozialhistorischen Betriebskonzepts.113 Der Betrieb wird demnach als ein »interdepentente[s] Geflecht« aus »Arbeits-, Kooperations-, Kommunikati-

108 Der Wirtschaftswissenschaftlicher Michael Eugene Porter unterscheidet drei Typen von Wettbewerbsstrategien: Strategie der Kosten- und Preisführerschaft, Strategie der Differenzierung im Sinne des Schaffens von Einmaligkeit und (oftmals) dem Verfolgen einer Qualitätsführerschaft sowie Nischenstrategie im Sinne einer Konzentration auf Schwerpunkte. Michael Eugene Porter, Wettbewerbsstrategien. Methoden zur Analyse von Branchen und Konkurrenten, Frankfurt a.M. 201312 , S. 73–87. 109 Scranton, Endless Novelty (s. Anm. 107), S. 17. 110 Nach Scranton sind in einem Unternehmen nicht selten verschiedene Produktionsformate vereint oder sie wechseln mit der Zeit von einem ins andere Format. Ebd., S. 11. 111 Charles F. Sabel und Jonathan Zeitlin, World of Possibilities. Flexibility and Mass Production in Western Industrialization, Cambridge u.a. 1997; Charles Sabel und Jonathan Zeitlin, »Historical Alternatives to Mass Production. Politics, Markets and Technology in Nineteenth Century Industrialization«, in: Past and Present 108 (1985), S. 133–176. 112 Karl Lauschke und Thomas Welskopp (Hg.), Mikropolitik im Unternehmen. Arbeitsbeziehungen und Machtstrukturen in industriellen Großbetrieben des 20. Jahrhunderts, Essen 1994; Welskopp, Betrieb (s. Anm. 60), S. 134–137; Dietmar Süß, »A scheene Leich? Stand und Perspektiven der westdeutschen Arbeitergeschichte nach 1945«, in: Mitteilungsblatt des Instituts für Soziale Bewegungen 34 (2005), S. 63–65. 113 Welskopp, Unternehmenskulturen (s. Anm. 94), S. 2004; Welskopp, Betrieb (s. Anm. 60).

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ons-, Solidaritäts- und Machtbeziehungen« untersucht, die am Fabriktor weder anfangen noch aufhören.114 Die »sozialen Beziehungen innerhalb und zwischen den betrieblichen Sozialgruppen« und »alle historisch Beteiligten« rücken somit »als sozial kompetente Akteure« in den Fokus. Unternehmen sind folglich weder als soziale Einheit oder abgeschlossenes System mit Eigenlogik noch als Abbild der Gesellschaft im Kleinen zu untersuchen; mit Welskopp werden sie vielmehr als Körperschaften betrachtet, deren Kapital in den Produktionsanlagen bzw. »an den materialen und logistischen Eigentümlichkeit der Produktion« gebunden ist. Weil sich der »Betrieb als soziales Handlungsfeld« einer »unilateralen Kontrolle durch die Unternehmensführung« entzieht, ist ihre »Entscheidungs- und Definitionsmacht über Kapitaleinsatz und Produktionsziele« einschränkt.115 Das Managementhandeln trifft im Betrieb auf die Handlungsfähigkeit (agency) der Beschäftigten verschiedener Statusgruppen.116 Auch hieraus resultiert die bounded rationality unternehmerischer Entscheidungen, die vom Leitungspersonal unter dynamischen Verhältnissen im wie außerhalb des Unternehmens getroffen werden.117 Für die Analyse der betrieblichen Machtverhältnisse wird ein relationaler Zugang gewählt, der »Herrschaft als soziale Praxis« versteht und die Wechselwirkungen verschiedener Verhältnisse sozialer Ungleichheit beachtet.118 Die Perspektiven von Arbeitenden ohne formale Qualifikation, der migrantischen Beschäftigten oder der Auszubildenden sind in die Analyse mit einzubeziehen, auch wenn diese – im Gegensatz zu den leitenden Angestellten oder den gewerkschafts- und betriebspolitisch engagierten Facharbeitern – in den überlieferten Quellen in der Regel nicht als Handelnde in Erscheinung treten. Als solche sind sie hingegen gerade in den Arbeitsprozessen anzutreffen, weshalb ihnen in der Untersuchung hierher gefolgt wird. Welche Handlungsbedingungen und Machtressourcen die verschiedenen Akteur*innen im Betrieb jeweils vorfanden, wird aus einem technikhistorischen Blick114 115

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Folgende Zitate aus Welskopp, Betrieb (s. Anm. 60), S. 125. Thomas Welskopp, »Das Unternehmen als Körperschaft. Entwicklungslinien der institutionellen Bindung von Kapital und Arbeit im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Karl-Peter Ellerbrock und Clemens Wischermann (Hg.), Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, Dortmund 2004, S. 198f. Während »klassische Konzepte von Handlungsmacht […] auf der Idee eines intentionalen Subjektes [basieren], dass sich in Abgrenzung von passiven Objekten konstituiert«, verweist das Konzept der agency auf die Fähigkeit zum Handeln, das nicht zwangsläufig eine zielgerichtete Intentionalität impliziert. Ilka Becker, Michael Cuntz und Astrid Kusser, »In der Unmenge«, in: Dies. (Hg.), Unmenge. Wie verteilt sich Handlungsmacht?, München 2008, S. 7. Welskopp, Betrieb (s. Anm. 60), S. 124; Welskopp, Unternehmenskulturen (s. Anm. 94), S. 274. Das Konzept der bounded rationality – demnach es »keine rationale[n] Akteure in einem strengen Sinne« geben kann, sondern »Rationalität stets perspektivisch gebunden [ist] und vollständige Informationen ausgeschlossen« sind – geht auf Herbert Simon (1957) zurück und fand mit der NIÖ Eingang in die Unternehmensgeschichte. Werner Plumpe, »Die Unwahrscheinlichkeit des Jubiläums – oder: warum Unternehmen nur historisch erklärt werden können«, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1 (2003), S. 147. Alf Lüdtke, »Einleitung«, in: Ders. (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 9–63. Zum Forschungsfeld der Intersektionalität siehe Sabine Hess, Nikola Langreiter und Elisabeth Timm (Hg.), Intersektionalität revisited, Bielefeld 2014; Gabriele Winker und Nina Degele, Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009.

Einleitung

winkel betrachtet. Um die Dispositionsspielräume der Arbeitenden in der Fertigung zu beleuchten und um aufzuzeigen, inwiefern sich diese durch Rationalisierungsmaßnahmen veränderten, wird die von Akoš Paulinyi vorgeschlagene Unterscheidung in Hand-Werkzeug-Technik und Maschinen-Werkzeug-Technik sowie in Mechanisierung und Maschinisierung aufgegriffen.119 Als Hand-Werkzeug-Technik bezeichnet Paulinyi technische Vorrichtungen zum Halten oder Führen des Werksstoffs bzw. Werkstücks, die vom Willen des Menschen abhängig sind; von Mechanisierung spricht er, wenn einer dieser Vorgänge von einer technischen Vorrichtung abgenommen wird. Erst wenn »der Ablauf des Fertigungsprozesses nach dem Ingangsetzen dieser Einrichtung ohne Inanspruchnahme der Fähigkeit der Willensäußerung des Menschen abläuft«, verwendet Paulinyi die Begriffe Maschinen-Werkzeug-Technik und Maschinisierung. Darüber hinaus wird in dieser Arbeit das Konzept der Mediation, das das Wechselverhältnis zwischen Produzent*innen und Konsument*innen als den Co-Produzent*innen von Technik in den Blick nimmt,120 auf die Analyse des Fertigungsprozesses und der Anwendung von Technik durch die Arbeitenden übertragen. In Anlehnung an Peter Paul Verbeek wird die Materialität der Produktionstechnik berücksichtigt, und zwar nicht allein als Faktor, der die Möglichkeiten des Handelns determiniert, sondern auch als ein Medium der Vermittlung zwischen Menschen und ihrer materiellen Umgebung.121 Ein systematischer Vergleich mit anderen selbstverwalteten Betrieben wird im Rahmen dieser Arbeit nicht vorgenommen. Die im Fall Süßmuth enorm widrigen Entstehungs- und Existenzbedingungen der Selbstverwaltung führten dazu, dass die Arbeitenden ihre Ansprüche vor allem mithilfe den Arbeitsprozessen inhärenten Ressourcen zu realisieren versuchten. Gemäß des methodischen Zugangs lag deren Analyse im Vergleich mit anderen Mundglashütten nahe. Die Studie nimmt dabei in zweierlei Hinsicht eine vergleichende Perspektive ein: Die Entwicklungen in der Glashütte Süßmuth werden vor, während und nach der Selbstverwaltung untersucht und dabei zugleich asymmetrisch mit den Verhältnissen in acht anderen Unternehmen der Mundglasbranche verglichen. Herangezogen werden hierfür zwei hessische Mundglashütten (Kristallglaswerk Hirschberg in Stadtallendorf und Glaswerk Rosenthal in Bad Soden), zwei bayerische Unternehmen (Glashütte Eisch in Frauenau und Kristallglashütte Theresienthal in Zwiesel), drei baden-württembergische Unternehmen (Gral-Glashütte in Dürnau, Glashütte Wiesenthal und Josephinenhütte in Schwäbisch-Gmünd) sowie das Glashüttenwerk Ernst Buder im niedersächsischen Volpriehausen. Auf den Ebenen der Produktion (Technik und Arbeit), der betrieblichen Arbeitsbeziehungen, der Produkte (Gestaltung, Vertrieb und Vermarktung) sowie der Unternehmensführung werden die jeweiligen Strategien verglichen, mit denen die Glashütte Süßmuth und die anderen Mund119

Akoš Paulinyi, »Kraftmaschinen oder Arbeitsmaschinen. Zum Problem der Basisinnovationen in der Industriellen Revolution«, in: Technikgeschichte 2 (1978), S. 173–188; Akoš Paulinyi, Industrielle Revolution. Vom Ursprung der modernen Technik, Reinbek bei Hamburg 1989; Akoš Paulinyi und Ulrich Troitzsch, Mechanisierung und Maschinisierung 1600 bis 1840, Berlin 19973 . Siehe Kapitel 1.2. Folgende Zitate aus Paulinyi, Kraftmaschinen, S. 182, 185. 120 Ruth Oldenziel, Adri Albert de la Bruhèze und Onno de Wit, »Europe’s Mediation Junction. Technology and Consumer Society in the 20th Century«, in: History & Technology 1 (2005), S. 107–139. 121 Peter-Paul Verbeek, What Things Do. Philosophical Reflections on Technology, Agency, and Design, University Park Pennsylvania 2005.

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glashütten auf in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich ändernde Bedingungen des Wirtschaftens reagierten.122 Die Verbindung eines diachron-symmetrischen mit einem synchron-asymmetrischen Vergleich ist von zentraler Bedeutung, um die Besonderheit der selbstverwalteten Unternehmensform herausarbeiten und die an diesen Gegenstand gestellten Fragen beantworten zu können. Zugleich dient der Vergleich mit hinsichtlich Fertigungsverfahren und Produkten der Glashütte Süßmuth ähnlichen Unternehmen dazu, die geschichtswissenschaftlich kaum erforschte Entwicklung der Mundglasbranche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erfassen. Diese wurde seit Anfang der 1970er Jahre als eine krisenhafte beschrieben und ist auch als solche zu historisieren. Der Mehrwert des aus quellen- wie arbeitstechnischen Gründen asymmetrisch ausfallenden Unternehmensvergleichs liegt im geschärften Blick auf die branchenspezifisch relevanten Aspekte des Wirtschaftens. Die Herausforderungen, denen sich nicht nur die selbstverwaltete Glashütte zu stellen hatte, und die gewählten (Krisen-)Strategien können hierdurch exakter benannt und bewertet werden. Zugleich erweitert sich der Blick auf alternative Entwicklungspotenziale, der bei der analytischen Vorwegnahme einer Krise oder des Strukturwandels tendenziell verstellt ist. Ein Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf den Konflikten im selbstverwalteten Unternehmen. Ein problemorientierter Ansatz bot sich schon deshalb an, weil sich die Geschichte der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth in erster Linie als eine Konfliktgeschichte darstellt. In der Regel entstehen Konflikte vor allem dann, wenn verschiedene Wissensbestände und Deutungen aufeinanderstoßen; in ihnen wird neues Wissen generiert.123 Zugleich zwingen Konflikte die beteiligten Personen dazu, ihre bis dahin unbewussten oder nicht ausgesprochenen Vorstellungen zu explizieren; sie gehen mit einer spezifischen Quellenproduktion einher. In Konflikten sind somit die vielfältigen Wahrnehmungen und Vorstellungen der Akteur*innen besonders gut greifbar. Der Fokus auf den Umgang mit und den Auswirkungen von Konflikten ermöglicht die Analyse jener sozialen Verhältnisse, in denen sich in der Regel nicht alle Beteiligten gleichermaßen durchzusetzen vermochten. In der vorliegenden Arbeit werden konfliktbezogene Quellen aus verschiedenen Entstehungskontexten gegenübergestellt, um die Ambivalenzen und Widersprüche in den Auseinandersetzungen während der Selbstverwaltung herauszuarbeiten, anstatt sie zugunsten einer kohärenten Erzählung zu glätten. Für die zeithistorische Forschung der gesellschaftlichen Wandelungsprozesse nach dem Boom eignen sich Unternehmen mit ihrem Körperschaftscharakter im Allgemeinen und selbstverwaltete Unternehmen als in der historiographischen Forschung bislang vernachlässigte Organisationsform des Wirtschaftens im Speziellen besonders gut. Aufgrund der kollektiven Eigentumsverhältnisse und demokratischen Beteiligungsstrukturen konnten sich hier sehr unterschiedliche Akteur*innen mit ihren jeweiligen

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Die unternehmerischen (Krisen-)Strategien bilden das Tertium comparationis, womit in der vergleichenden Wissenschaft das Dritte bezeichnet wird, über das die Vergleichsgegenstände aufeinander bezogen werden. Ludolf Herbst, Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte, München 2004, S. 78f. Monika Dommann, Daniel Speich Chassé und Mischa Suter, »Einleitung. Wissensgeschichte ökonomischer Praktiken«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 2 (2014), S. 109.

Einleitung

Wahrnehmungen und Vorstellungen in die Entscheidungsprozesse mit einbringen, die in konventionellen Unternehmen in einem sehr viel exklusiveren Rahmen stattfanden, von dem wiederum in der Regel auch Historiker*innen ausgeschlossen bleiben. Die im Fall Süßmuth für ein mittelständisches Industrieunternehmen ungewöhnlich gute Überlieferung ist als Verdienst der Selbstverwaltung zu werten, die einen tiefen Einblick in die unternehmerischen Entscheidungsprozesse und den betrieblichen Arbeitsalltag ermöglicht. Das Problem, dass Arbeitende »fast nie etwas über die Praxis der Arbeit selbst« erzählen und daher selten Autor*innen der Zeugnisse ihrer Geschichte sind,124 stellt sich in der Fallstudie zur Glashütte Süßmuth vor allem für die Zeit vor und nach der Selbstverwaltung. Mit ihrer spezifischen Quellenproduktion öffnete die Praxis der Selbstverwaltung dagegen der historischen Forschung die Blackbox Betrieb und Unternehmen gleichermaßen.

Quellen Die vorliegende Untersuchung basiert auf einer vielfältigen Quellenbasis. Neben schriftlichen und in Form der Produkte materiellen Quellen wurden zeitgenössische Ton- und Filmdokumente sowie von der Autorin geführte Interviews und Gespräche mit Zeitzeug*innen herangezogen.125 Bestände aus bundes-, landes- und kommunalpolitischen Archiven, Partei-, Gewerkschafts- und Wirtschaftsverbandsarchiven, Privatarchiven und Archiven der Rundfunkanstalten wurden ausgewertet.126 Zu den wichtigsten Quellenbeständen gehört der Nachlass von Erasmus Schöfer, der im Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt (FHI) archiviert ist. Besonders wertvoll sind die von Schöfer mit Süßmuth-Beschäftigten, dem Geschäftsführer oder den involvierten Gewerkschaftsfunktionären geführten Einzel- und Gruppengespräche, die mit einem Gesamtumfang von knapp 50 Stunden auf Tonband vorliegen.127 Umfangreiches Material zur Arbeit der Selbstverwaltungsgremien, zu den Produkten und zur Unternehmensentwicklung konnten im Archiv des Glasmuseums Immenhausen (AGI) eingesehen werden. Ein weiterer zentraler Quellenkorpus stellt der Bestand der Indus-

124 Reith, Praxis der Arbeit (s. Anm. 20), S. 12f. 125 In die Geschichte der GHS involvierte Personen wurden weitgehend anonymisiert. Hierfür wurden Aliasnamen generiert und mit [eckigen Klammern] markiert, eventuelle Überschneidungen mit realen Personen wären völlig zufällig. Mit Klarnamen werden dagegen jene Personen genannt, die qua ihres Amtes bzw. Berufes Personen des öffentlichen Lebens waren, oder die in den Fall Süßmuth nicht oder nur am Rande involviert waren. Kurzinformationen zu Personen, die in den zitierten Quellen genannt werden, befinden sich im Personenverzeichnis im Anhang. 126 Siehe Übersicht im Anhang. 127 Archiviert in: FHI Dortmund, Schöf-1213, Schöf-1218 und Schöf-1230. Sämtliche Tondokumente (Kassetten und Tonspulen) wurden für die Auswertung digitalisiert. Zitiert werden diese Quellen nach der von der Autorin angefertigten Transkription. Bei Angaben aus den transkribierten Interviews stammen die Zitate oder Ausführungen stets von den Gesprächspartner*innen. Wenn Schöfer selbst zitiert wird oder die zeitgleich interviewten Personen gegenteilige Meinungen vertraten, wird dies in der Quellenangabe kenntlich gemacht.

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triegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik (IG Chemie) im Archiv für soziale Bewegung (AfsB) dar.128 Die Quellenlage für die Vergleichsunternehmen ist dagegen eher schlecht. In den seltensten Fällen bestand ein Archivierungsinteresse. Eine Ausnahme stellt das Firmenarchiv der 1991 in Konkurs gegangenen Glashütte Wiesenthal (WTH) dar, das der vormals geschäftsführende Inhaber Klaus Breit dem Glasmuseum Hentrich/Museum Kunstpalast (mkp) überließ. Sehr viel fragmentierter sind dagegen die Firmenbestände der Josephinenhütte im Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg (WABW) und der Kristallglashütte Theresienthal im Bayerischen Wirtschaftsarchiv (BWA). Zur Rekonstruktion der Entwicklung des Glashüttenwerks Buder wurde auf die vom lokalen Ortschronisten Detlev Herbst erstellte Firmenchronik und Pressemappe zurückgegriffen, die sich im Besitz des Kali-Bergbaumuseums Volpriehausen (KBV) befinden. Für die Glashütten Gralglas, Eisch und Rosenthal dienten vorliegende Publikationen als Quellen. Allein im Fall des Kristallglaswerks Hirschberg liegen ansatzweise auch Materialien vor, die die Perspektive der Beschäftigten bzw. deren betrieblicher Interessenvertretung widerspiegeln. Der im Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Stadtallendorf archivierte Vorlass des Glasmachers und Betriebsratsvorsitzenden Max Kleiner gibt vor allem Auskunft über den letztlich gescheiterten Betriebsübernahmeversuch durch die Belegschaft im Jahr 1974.129

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Das Archiv der IG Chemie wurde im Zuge der 1997 erfolgten Fusion mit der IG Bergbau und Energie zur IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) an das AfsB in Bochum übergeben. Zum Zeitpunkt der Recherche war der Bestand weitestgehend unerschlossen und unverzeichnet. Siehe Christiane Mende, »Den Betrieb übernehmen. Belegschaftsinitiativen in der Mundglasbranche«, in: Sozial.Geschichte Online (im Erscheinen).

Teil I: Die Entstehungsbedingungen der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

1. Zwischen Handwerk und Industrie. Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

Die Glasbranche war hinsichtlich der Produkte und Fertigungsverfahren von enormer Heterogenität geprägt. Mundglasbranche bezeichnet die nach manuellen Verfahren Gläser für den alltäglichen Gebrauch in mittelgroßen Betrieben fertigende Wirtschaftsglasindustrie. Mit den Definitionen, nach denen das Handwerk von der Industrie idealtypisch unterschieden wurde, lässt sich diese Branche analytisch nicht erfassen.1 Das mehr als 3.000 Jahre v. Chr. zurückreichende Verfahren des Glasmachens fand lange vor der Industrialisierung unter Bedingungen statt, die in gewisser Hinsicht industriellen Charakter aufwiesen: Es wurden hierfür komplex miteinander verbundene Beheizungs-, Schmelz- und Kühlaggregate in einem Glashüttengebäude benötigt. Die Produktion war unterteilt in die Prozesse der Energiegewinnung, Glasschmelze und -formung, in denen wiederum jeweils eine Arbeitsteilung zwischen qualifizierter und nicht-qualifizierter Arbeit ausgeprägt war.2 Mit 20 bis 30 Beschäftigten gehörten Glashütten zu den Großbetrieben der Frühen Neuzeit. Die aufwendige Herstellung sowie hiermit verbundene Kapitalintensität machten Glas bis ins 19. Jahrhundert zu einem Luxus- und attraktiven Handelsartikel. Die Gründung von Glashütten erfolgte daher seit dem Mittelalter nicht selten auf adlige Initiative.

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Unter Handwerk wird üblicher Weise die Fertigung in kleinen Betriebsstätten verstanden, die eine geringe Arbeitsteilung aufweist; der arbeitende Mensch bedient sich Werkzeugen oder Maschinen lediglich zur Ergänzung der Handarbeit. Als Industrie wird seit dem 19. Jahrhundert dagegen eine zentralisierte und kapitalintensive Organisationsform in großen Betrieben bzw. Fabriken bezeichnet, »in der eine größere Anzahl von Arbeitskräften in einem arbeitsteiligen Produktionsprozess und unter Verwendung von (nicht durch menschliche Kraft angetriebenen) Maschinen gleichförmige Güter in großer Stückzahl für den Verkauf herstellt«. Reinhold Reith, »Handwerk«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 5, Stuttgart u.a. 2007, S. 148–173; Zitat von Stefan Gorißen, »Fabrik«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart u.a. 2006, S. 740; Ulrich Pfister, »Industrialisierung«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 5, Stuttgart u.a. 2007, S. 902–920. Folgendes aus Reinhold Reith, »Glas«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, Stuttgart u.a. 2006, S. 902–911.

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Teil I: Die Entstehungsbedingungen der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Mit der Industrialisierung wurde die Glasbranche zu einem Beispiel für die Gleichzeitigkeit und das Nebeneinander verschiedener Verfahrenstechniken, das im Kontrast zu jener in älteren Forschungsansätzen virulenten Vorstellung einer linearen Entwicklung der Industrie aus dem dieses zugleich ablösenden Handwerk steht.3 Als Karl Marx etwa anhand eines Glasflaschenunternehmens idealtypisch die »Gesamtmanufaktur« exemplifizierte, beschrieb er damit nicht nur ein temporäres Übergangsstadium vom handwerklichen Betrieb zur maschinell fertigenden Fabrik im Verlauf des 19. Jahrhunderts,4 sondern zugleich die bis Ende des 20. Jahrhunderts übliche Fertigungsund Organisationsform in Unternehmen der Wirtschaftsglasbranche wie der Glashütte Süßmuth. Der Übergang von der Holz- zur Kohlebefeuerung sowie die auf Hans und Friedrich Siemens zurückgehende Schmelztechnologie in sogenannten Regenerativ-Wannenöfen schufen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die technischen Voraussetzungen für eine Maschinisierung der Stoffgewinnung und -formung von Glas.5 Während sich in der Flaschen- und Flachglasbranche gänzlich neue maschinelle Fertigungsverfahren zu entwickeln begannen, die hier seit der Jahrhundertwende die Mundglasfertigung an Hafenöfen ablösten, war dies in der bundes-/deutschen Wirtschaftsglasbranche bis Anfang der 1960er Jahre nicht der Fall.6 Um die weiterhin manuell produzierenden Unternehmen der Wirtschaftsglasbranche von denen mit maschinisierten Produktionsstätten abgrenzen zu können, entstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Bezeichnung Mundglasbranche. Die analytische Unterscheidung nach Produktionsformaten, wie in der Einleitung dargelegt, hilft, die vielfältigen, auf Ebene der unternehmerischen Entscheidungen relevanten Faktoren zu berücksichtigen, die für oder gegen technische und organisatorische Neuerungen sprachen. Denn Entwicklung, Durchsetzung und Akzeptanz von produktivitätssteigernden Prozessinnovationen waren »nicht nur von ihrer technischen Brauchbarkeit oder Leistungsfähigkeit abhängig«, sondern – wie Reinhold Reith hervorhebt – genauso stark von »Rohstoffbasis, Energiebedarf, Eigentums- und Konkurrenzverhältnisse[n], Arbeitskräftepotenzial, Knowhow und Nachfrage«.7 Die Flaschen- und Flachglasbranche gehörte zu den ersten Industriezweigen, in denen sich innerhalb kurzer Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Massenproduktion mit einem hohen Maschinisierungsgrad durchgesetzt hatte. Das hing mit der kontinuierlich hohen 3 4 5

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Siehe Reinhold Reith und Marcus Popplow, »Wandel, technischer«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 14, Stuttgart u.a. 2011. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (MEW, 23), Bd. 1, Berlin 200823 , S. 367f. Die neuen Ofentechnologie ermöglichte höhere Schmelztemperaturen, eine exaktere Regulierung der Temperaturverläufe und hierdurch eine kontinuierliche Glasschmelze. Siehe Helmut A. Schaeffer, Roland Langfeld und Margareta Benz-Zauner (Hg.), Werkstoff Glas, München 2012, S. 268–273. Walter Scheiffele, Wilhelm Wagenfeld und die moderne Glasindustrie. Eine Geschichte der deutschen Glasgestaltung von Bruno Mauder, Richard Süssmuth, Heinrich Fuchs und Wilhelm Wagenfeld bis Heinrich Löffelhardt, Stuttgart 1994, S. 16–24; Zur Technik der maschinellen Fertigung siehe HVG (Hg.), Formgebung von Glas, Frankfurt a.M. 1997; Wilhelm Giegerich und Wolfgang Trier (Hg.), Glasmaschinen. Aufbau und Betrieb der Maschinen zur Formgebung des heißen Glases, Berlin u.a. 1964. Reinhold Reith, »Praxis der Arbeit. Überlegungen zur Rekonstruktion von Arbeitsprozessen in der handwerklichen Produktion«, in: Ders. (Hg.), Praxis der Arbeit. Probleme und Perspektiven der handwerksgeschichtlichen Forschung, Frankfurt a.M. u.a. 1998, S. 33.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

und steigenden Nachfrage nach ihren standardisierten Produkten zusammen, die wiederum das Aufbringen des notwendigen Investitionskapitals rentabel machte und eine großbetriebliche Konzentration der Fertigung nach sich zog.8 Die in Deutschland weitestgehend mittelständisch geprägte Wirtschaftsglasbranche profilierte sich hingegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf dem in- und ausländischen Markt mit dem Angebot einer großen Artikelvielfalt, die allein die Mundglasfertigung an Hafenöfen ermöglichte und einer geschmacklich ausdifferenzierten Nachfrage nach hochwertigem Gebrauchsglas entsprach.9 Die Perspektive der Produktionsformate sensibilisiert damit für die der dichotomen Gegenüberstellung von Handwerk und Industrie inhärenten Vorstellungen bzw. normativen Bewertungen von Rückständigkeit versus Fortschrittlichkeit, die zeitgenössische und historiographische Wahrnehmungskategorien oftmals prägten. Anstatt sie in der Analyse der Entwicklung der Mundglasbranche unbewusst zu reproduzieren, gilt es vielmehr, sie in dieser Arbeit als handlungsleitende und in der Krise der Mundglasbranche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zudem an Bedeutung gewinnende Deutungsmuster zu historisieren.

1.1 Unternehmen und Branche im Überblick Mit den vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten des Werkstoffs Glas entwickelte sich die Glasbranche im 20. Jahrhundert zu einer Schlüsselindustrie, von der die Automobiloder die Elektroindustrie, das Baugewerbe oder die Ernährungsindustrie ebenso abhängig war wie die chemisch-pharmazeutische Industrie.10 In den makroökonomischen Statistiken schlug sich diese Bedeutung jedoch nicht nieder: Der Anteil des Umsatzes der bundesdeutschen Glas- an der Gesamtindustrie betrug in den Jahren 1950 bis 1985 weniger als 1 Prozent; der Anteil der hier beschäftigten Personen bewegte sich zwischen 0,96 und 1,25 Prozent.11 Die Wirtschaftsglas- als Teil der Hohlglasbranche gehörte hinsichtlich der Produktionsmenge zum mit Abstand quantitativ kleinsten Bereich.12 Die enorme Heterogenität der Glasbranche fand in der statistischen Erfassung ebenfalls kaum Berücksichtigung. In der Regel reichten die vorgenommenen Differenzierungen über die Unterscheidungsebene Flach-, Hohl- und Spezialglas nicht hinaus. Unter die 8

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Dies war auch der Grund für die zügige Maschinisierung der Fertigung von Glühlampenkolben kurz nach dessen Entwicklung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, mit der Elektrifizierung gab es hierfür einen rasant steigenden Bedarf. Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 20–22. Das breite Sortiment war eine Besonderheit der deutschen Wirtschaftsglasbranche. Die geringe Ausprägung dieses Branchenzweigs in den USA und Großbritannien begründete die Exportorientierung deutscher Wirtschaftsglasunternehmen. Gerhard Neckermann und Hans Wessels, Die Glasindustrie. Ein Branchenbild, Berlin 1987, S. 22; Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 290. Siehe Helmut A. Schaeffer und Roland Langfeld, Werkstoff Glas. Alter Werkstoff mit großer Zukunft, Berlin u.a. 2014. Otto Moritz, Die Entwicklung der Glasindustrie in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Beitrag zur Industriegeografie, Regensburg 1989, S. 16f. Die Verpackungs- und Flachglasbranche war das quantitativ bedeutsamsten Branchensegment. Siehe VdG, Zahlen zur Entwicklung der Glasindustrie, München 1957–1972, und VdG, Statistischer Bericht, München 1973–1984 (damit Erscheinen eingestellt), in: Bayerische Staatsbibliothek München.

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Teil I: Die Entstehungsbedingungen der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Kategorie Hohlglas wurden folglich alle in diesem Bereich tätigen Unternehmen – von den großen Flaschenglaskonzernen über die mittelgroßen im Mundblasverfahren arbeitenden Wirtschaftsglashütten bis hin zu den kleinen Betrieben der Hohlglasveredelung – subsumiert. Aufgrund der geringen Aussagekraft dieser hoch aggregierten Statistiken versuchte der Arbeitgeberverband Verein der Glasindustrie (VdG) seit Aufnahme der Verbandstätigkeit nach 1945 die Umsatz- und Produktivitätsentwicklung seiner Mitgliedsunternehmen zu dokumentieren, um ein differenziertes Bild von der Branchensituation und -entwicklung zu gewinnen. Die verbandsinternen Statistiken blieben jedoch fragmentarisch, weil die Mitglieder die relevanten Zahlen nur zögerlich preisgaben.13

Die Vergleichsunternehmen Die Entwicklung der Mundglasbranche wird – aufgrund der genannten statistischen Defizite und der fehlenden historiographischen Erforschung – in dieser Arbeit über den Vergleich mit Unternehmen herausgearbeitet, die wie die Glashütte Süßmuth in manuellen Verfahren vorrangig hochwertiges Kristallglas für den alltäglichen Gebrauch (Trinkgläser, Krüge, Vasen oder Schalen) fertigten, weiterverarbeiteten und veredelten. Durch die Integration dieser drei Fertigungsschritte unterschieden sie sich von Glasveredelungsbetrieben ebenso wie von Rohglaslieferanten und wiesen dementsprechend eine mittlere Unternehmensgröße mit bis zu 500 Beschäftigten auf.14 Ihre Produkte wichen hinsichtlich der chemischen Zusammensetzungen und hieraus resultierenden Materialeigenschaften von denen anderer Wirtschaftsglashütten ab.15 Bei den zum Vergleich herangezogenen Glashütten handelt es sich um in der Nachkriegszeit marktführende Unternehmen der bundesdeutschen Mundglasbranche mit einem über die

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Eine mangelhafte Beteiligung der Mitgliedsunternehmen an den verbandsinternen Erhebungen der Produktions- und Umsatzentwicklungen ist aus der immer wieder geäußerten Kritik der Verbandsspitze zu schlussfolgern. Siehe bspw. Protokoll VdG-Mitgliederversammlung, 17. Juni 1952, in: HWA, Abt. 9, Nr. 248; VdG-Sonderrundschreiben, 19. September 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 6. Die bundesdeutsche Glasbranche war vorrangig mittelständisch geprägt. Die meisten Unternehmen beschäftigten weniger als 100 Personen und waren auf die Glasverarbeitung bzw. -veredelung ausgerichtet. Die Anzahl der Unternehmen mit einer Beschäftigtenzahl zwischen 100 und 500 Beschäftigten – zu denen die Mundglashütten gehörten – bewegte sich in den 1950er und 1960er Jahren zwischen 22 und 26 Prozent. In diesem Zeitraum wies die gesamte Glasbranche lediglich zehn bis vierzehn Großbetriebe mit mehr als 1.000 Beschäftigten auf. Neckermann und Wessels, Glasindustrie (s. Anm. 9), S. 77–79; Armin Gebhardt, Die Glasindustrie aus der Sicht der siebziger Jahre, Berlin 1974, S. 19f. Blei-/Kristallglas besaß einen hohen Brechungsindex, der erst durch Schliff oder Gravur zur Geltung kam, und war in der Herstellung und Veredelung im Vergleich zu Kalknatron- und Borosilikatglas aufwendiger und dementsprechend hochpreisiger. Kalknatronglas zeichnete sich vor allem durch Witterungs-, Säure- und Wasserbeständigkeit aus und Borosilikatglas (wie Duran-Glas von Schott oder Pyrex-Glas von Corning) durch hohe Widerstandsfähigkeit gegen Stoß und Temperaturschwankungen. Peter Willett, Die Glasindustrie in der Bundesrepublik Deutschland, Mainz 1998, S. 385; Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 11), S. 83f.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

regionalen und nationalen Grenzen hinausreichenden Bekanntheitsgrad ihrer Produkte, deren Erfolg sich in einer relativ guten Überlieferungslage niederschlug.16 Die Vergleichsunternehmen lassen sich in zwei Gruppen unterteilen. Zur ersten Gruppe zählen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf jahrzehntelange Erfahrungen im Glasmachen zurückblickten. Die Kristallglashütte Theresienthal wurde 1836 – ausgestattet mit königlichen Privilegien – von den Glashändlern Franz und Wilhelm Steigerwald errichtet und kam – nach einer Phase konkursbedingter Bankenverwaltung – 1861 in den Besitz der bayerischen Adelsfamilie von Poschinger, die bereits mehrere andere Glashütten in der Umgebung betrieb.17 Die Josephinenhütte wurde 1842 von der schlesischen Adelsfamilie Graf von Schaffgotsch aufgebaut und 1923 mit anderen Glashütten zu einer Aktiengesellschaft zusammengeschlossen.18 Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts fertigte die von der Familie Breit gegründete Wiesenthalhütte im nordböhmischen Isergebirge Röhren- und Stangenglas als Rohmaterial für die eigene Perlenproduktion und für die in der Region ansässigen Unternehmen der Gablonzer Glas- und Schmuckindustrie.19 Ernst Buder war als Teilinhaber einer Glashütte in Schlesien seit Anfang des 20. Jahrhunderts in der Glasproduktion tätig und gründete Ende der 1940er Jahre im niedersächsischen Volpriehausen eine eigene Glashütte.20 Das Kristallglaswerk Hirschberg wurde 1923 im schlesischen Hirschberg als Aktiengesellschaft gegründet, in deren Aufsichtsrat unter anderem Hugo Stinnes saß.21 Die Glashütte Süßmuth gehörte zur zweiten Gruppe von Unternehmen, die zunächst in der Glasveredelung tätig waren, das Rohglas von anderen Glashütten bezogen und erst nach 1945 in die Glaserzeugung einstiegen. Der Glasschleifer und -künstler Richard Süßmuth gründete 1924 die Werkstätten Richard Süßmuth im schlesischen Penzig und begann 1947 in Immenhausen mit der Glasproduktion.22 Im gleichen Jahr nahm die 1930 von dem gelernten Tischler und Kunsthändler Karl Seyfang in Göppingen mit gegründete Firma Gral Glaswerkstätten den ersten Glasschmelzofen in Betrieb und firmierte mit dem Neubau einer Glashütte im angrenzenden Dürnau seit 1950 unter dem Namen GralGlashütte.23 Der Glasgraveur Valentin Eisch, der ebenso wie sein Sohn Alfons Eisch bis dahin in der Gistl-Hütte im bayerischen Frauenau beschäftigt war, gründete mit seiner

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Siehe Tabelle 1 im Anhang. Ingolf Bauer, Glas zum Gebrauch, Ostfildern-Ruit 1996, S. 94; Karl-Wilhelm Warthorst, Die Glasfabrik Theresienthal, Freiburg [Breisgau] 1996, S. 6–10; Marita Haller und Gerhard Pscheidt, Theresienthal in alten Fotos, Riedlhütte 2008, S. 50–107. WABW-Bestandsbeschreibung B 164, Geschichte der Josephinenhütte. Klaus Breit, Die Wiesenthaler Glashütte. Erinnerungen, Aufzeichnungen, Betrachtungen, SchwäbischGmünd 1999, S. 113–116, 132–135. Unternehmenschronik Glashüttenwerk Ernst Buder, erstellt von Detlev Herbst, in: KBV, S. 1. Skizze Entwicklung des Kristallglaswerkes Hirschberg, 3. Oktober 1958, in: Archiv DIZ, Bestand 206. R 106/1; Werbebroschüre Kristallglaswerk Hirschberg, undatiert [1960er Jahre], in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner. Friedrich-Karl Baas und Dagmar Ruhlig-Lühnen, Die Form hat der Funktion zu dienen. Der Glasgestalter und Unternehmer Richard Süßmuth und sein Werk, Immenhausen 2000. Helmut Ricke und Wilfried van Loyen, »Firmengeschichte Gralglas«, in: Dies. (Hg.), gralglas. Deutsches Design 1930–1981, Berlin u.a. 2011, S. 194f., 198f.

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Familie 1946 ein Glasveredelungsunternehmen, das 1952 die Glasproduktion aufnahm.24 Die Rosenthal AG eröffnete 1950 in Schwäbisch-Gmünd ein Zweigwerk für Glasveredelung, das im Jahr darauf nach Bad Soden im hessischen Taunus umzog. Hier nahm Rosenthal 1957 die erste und 1962 im bayerischen Amberg die zweite Glashütte in Betrieb.25 Das Ende des Zweiten Weltkriegs stellte für diese Unternehmen – aus zum Teil sehr unterschiedlichen Gründen – eine Zäsur dar. Die zuvor in den schlesischen und böhmischen Glaszentren ansässigen Firmen Süßmuth, Hirschberg, Wiesenthal, Jospehinenhütte und Buder verlagerten nach 1945 ihre Standorte auf das Territorium der späteren Bundesrepublik. Die hier bereits ansässigen Unternehmen Theresienthal und Gralglas mussten mit Kriegsende ebenfalls ihre Produktion kurzzeitig einstellen.26 Zurückzuführen war dies vor allem auf den Kohlemangel, durch den die Glashütten die kontinuierlich zu beheizenden Schmelzöfen nicht mehr in Betrieb halten konnten.27 Zur Wiederaufnahme der Produktion mussten sie erst in den Ofenneubau investieren. Die deshalb arbeitslos gewordenen Graveure Valentin und Alfons Eisch entschieden sich in dieser Situation für den Weg in die Selbstständigkeit.28 Der in den Nachkriegsjahren erschwerte Bezug von Rohglas war wiederum ausschlaggebend dafür, dass die einst nur Glas veredelnden Unternehmen wie Süßmuth, Gralglas und Eisch eigene Glashütten in Betrieb nahmen.29 Der Witwe und dem Sohn des Firmengründers von Rosenthal ermöglichte hingegen der Sieg der Alliierten über NS-Deutschland – nach ihrer Verfolgung und Enteignung – die Rückkehr aus dem Exil.30 Seit den 1950er Jahren prägte Philip Rosenthal als 24 25

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Katharina Eisch, Die Eisch-Hütte. Portrait einer Bayerwald-Glashütte im 20. Jahrhundert, Grafenau 1988, S. 25–42. In Amberg hatte Rosenthal die Elisabeth-Glashütte zunächst gepachtet und 1966 schließlich gekauft. 1970 wurde sie um einen von Walter Gropius entworfenen (als »Glaskathedrale« bekannt gewordenen) Neubau erweitert. Im Gegensatz zur Bad Sodener Glashütte wurde in Amberg seit 1970 sowohl im Mundblasverfahren als auch vor allem in maschinellen Press- und Blasverfahren gefertigt. Ferdinand Simoneit, »Rosenthal und Rosenthaler«, in: Ders., Hermann Schreiber und Dieter Honisch (Hg.), Die Rosenthal-Story, Düsseldorf 1980, S. 170; Helga Hilschenz und Bernd Fritz, Rosenthal. Hundert Jahre Porzellan, Stuttgart 1982, S. 207f.; Bernd Fritz, Die Porzellangeschirre des Rosenthal-Konzerns, 1891–1979, Stuttgart 1989, S. 18; Koch-Schmidt-Wilhelm GbR (Hg.), Baudokumentation. Walter Gropius Glaswerk Amberg, Amberg 2015. Haller und Pscheidt, Theresienthal (s. Anm. 17), S. 105f.; Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 23), S. 198. Laut Katharina Eisch habe dies alle Glashütten des Bayrischen Waldes betroffen. Eisch, Die EischHütte (s. Anm. 24), S. 26; Zu den Problemen in der Energie- und Rohstoffversorgung während der Nachkriegszeit siehe auch Johannes Laufer, Von der Glasmanufaktur zum Industrieunternehmen. Die Deutsche Spiegelglas AG (1830–1955), Stuttgart 1997, S. 447f., 464. Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 26. Für Eisch wie auch für andere Betriebe des mit der nachkriegsbedingten Zuwanderung im Bayerischen Wald expandierenden Gewerbes der Glasveredelung war der Rohglasbezug schwierig u.a. weil sie von den ansässigen Glashütten aus Konkurrenzangst teils boykottiert wurden. Ebd., S. 32–34; Alfons Hannes, Glas aus dem Bayerischen Wald, Grafenau 1975, S. 131. Die Witwe des Firmengründers Maria Gräfin de Beurges und Sohn Philip Rosenthal erhielten 1950 insgesamt elf Prozent der Geschäftsanteile zurückerstattet und einen Sitz im Vorstand der Aktiengesellschaft. Im gleichen Jahr trat Philip Rosenthal als Werbeleiter bzw. Leiter der Marketingabteilung in das Unternehmen ein. 1958 wurde er zum Vorstandsvorsitzenden ernannt. Mit kurzer Unterbrechung während seiner Tätigkeit als parlamentarischer Staatssekretär im BMWi (1970/1971) übte er dieses Amt bis 1981 aus. Jürgen Lillteicher, Raub, Recht und Restitution. Die Rück-

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

Marketingleiter und Vorstandsvorsitzender maßgeblich die Entwicklung des Konzerns, dessen Kernsegment Porzellan er sukzessive um das Angebot von Wirtschaftsglas und Besteck zum gestalterisch aufeinander abgestimmten Rosenthal Dreiklang erweiterte.31 Ebenfalls im Rahmen einer Diversifizierung stieg Wiesenthal 1957 in die Fertigung von Wirtschaftsglas ein, das sich innerhalb weniger Jahre zum wichtigsten Standbein der Firma entwickelte.32 Bis Ende der 1960er Jahre befand sich die Mehrheit dieser Mundglashütten im Besitz und unter der Leitung von Angehörigen der Gründerfamilie. Allein Hirschberg und die Glashütten von Rosenthal waren bis dahin in Konzernstrukturen von Aktiengesellschaften eingebunden.33 Die vor 1945 als Aktiengesellschaft firmierende Josephinenhütte wurde am neuen Standort in Schwäbisch-Gmünd als GmbH weitergeführt, die sich zu 25 Prozent im Besitz der Gründerfamilie befand und deren Geschäftsführung ein Mitglied dieser Familie inne hatte.34 Die Standorte der hier betrachteten Unternehmen ähnelten überwiegend jenen von Georg Goes als typisch für die Glasbranche beschriebenen »Orten punktueller Industrie«, die sich durch »ihre relative Abgelegenheit von ausgesprochen schwerindustriellen Gewerberegionen und ihre inselhafte Lage in einem landwirtschaftlich geprägten […] Gebiet« sowie eine sehr geringe Anzahl von wenigen tausend Einwohner*innen auszeichneten.35 Diese Charakterisierung traf vor allem für Frauenau und Theresienthal als einem Ortsteil von Zwiesel im Bayerischen Wald zu, dessen Wirtschaftsstruktur sehr stark von der bis in das Mittelalter zurückreichenden Tradition des Glasmachens geprägt war.36 Die neuen Nachkriegsstandorte von Buder im niedersächsischen Volpriehausen oder Schwäbisch-Gmünd in Baden-Württemberg, wo Wiesenthal

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erstattung jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2007, S. 179–199; Wilhelm Siemen, »Rosenthal, Philip«, in: Neue Deutsche Biographie, 2005, Online: www.deutsche-biographie.de/pnd118602780.html#ndbcontent; Fritz, Porzellangeschirre (s. Anm. 25), S. 17. Fritz, Porzellangeschirre (s. Anm. 25), S. 18f.; Hilschenz und Fritz, Rosenthal (s. Anm. 25), S. 210. Am neuen Nachkriegsstandort fertigte die WTH zunächst hauptsächlich Rohglas (Glasstangen und -stäbe) für die weiterverarbeitenden und -veredelnden Unternehmen der vormals nordböhmischen Gablonzer Glas- und Schmuckindustrie, die sich nach 1945 in Schwäbisch-Gmünd ansiedelten. Wegen Absatzprobleme in diesem Bereich gewann die Wirtschaftsglasherstellung in der WTH an Bedeutung und machte Ende der 1960er Jahre 75 Prozent des Gesamtumsatzes aus. Rückblick und Lagebericht Klaus Breit, 30. März 1988, in: mkp.Gl-A 1-Wies.37B. Hirschberg wurde 1937/1938 vollständig von den Glaswerken Ruhr (Ruhrglas) der Stinnes AG übernommen. Exposé Glaswerke Ruhr der Steinkohlenbergwerk Mathias Stinnes AG, 11. März 1957, in: Archiv DIZ, Bestand 206. R 106/2; Skizze Hirschberg, 3. Oktober 1958 (s. Anm. 21). Gesellschafter waren mit 50 Prozent die »Gruppe von Fürstenberg« und zu je 25 Prozent die »Gruppe Staebe« sowie Gotthard Graf von Schaffgotsch, der zugleich alleiniger Geschäftsführer war. HR-Auszug Graf von Schaffgotsch’schen Josephinenhütte GmbH, Dezember 1959, in: WABW, Bestand B 164/71. Georg Goes, Arbeitermilieus in der Provinz. Geschichte der Glas- und Porzellanarbeiter im 20. Jahrhundert, Essen 2001, S. 28, 32. Siehe Tabelle 2 im Anhang. Ebd., S. 38f. Bayern war hinsichtlich der Anzahl der Unternehmen der größte und mit Blick auf die Beschäftigtenzahl der zweitgrößte Standort der bundesdeutschen Glasindustrie, der Schwerpunkt lag hier auf der Erzeugung und Veredelung von hochwertigem Wirtschaftsglas. Mit Blick auf Beschäftigten- und Umsatzzahlen überwog die Bedeutung von Nordrhein-Westfalen als Standort der großbetrieblich organisierten Behälter- und Flachglasindustrie. Hannes, Bayerischer Wald (s. Anm. 29); Gebhardt, Glasindustrie (s. Anm. 14), S. 24–26.

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und die Josephinenhütte ihre Produktion wieder aufnahmen, wiesen hingegen gar keinen bzw. keinen zeitlich unmittelbaren Bezug zur Glasproduktion auf.37 Das vor wie nach 1945 für die Glasbranche quantitativ unbedeutendste Bundesland war Hessen.38 Dennoch konnten Süßmuth in Immenhausen wie auch Hirschberg in Allendorf jeweils auf vorhandenen Infrastrukturen von zuvor stillgelegten bzw. in Konkurs gegangenen Glashütten aufbauen.39

Die besondere Bedeutung der Branche in der Nachkriegszeit Bereits in der NS-Autarkiepolitik besaß der aus »heimischen Rohstoffen« hergestellte Werkstoff Glas als Ersatzstoff für das kriegswichtige Metall und aufgrund seiner »devisenbeschaffenden Funktion« eine hohe Attraktivität.40 Die Glasindustrie galt dem NS-Regime arbeitsmarktpolitisch als »förderungswürdig«.41 In der Nachkriegszeit kam zur Bedeutung als Zulieferindustrie und Devisenbeschafferin eine sozial- und identitätspolitische Bedeutung hinzu. Nach 1945 waren nicht nur andere Industriezweige mit Hohlglas als Verpackungsmaterial,42 sondern auch die Bevölkerung mit Glasartikeln für den täglichen Gebrauch zu versorgen. Die hier zum Vergleich herangezogenen Glasunternehmen, die bis dahin und danach ausschließlich hochwertige Glasartikel verkauften, fertigten bis Anfang der 1950er Jahre meist im manuellen Pressverfahren medizinisch-technisches Glas und einfaches Haushaltsglas von minderer Qualität (sogenanntes »Flüchtlingsglas«).43 Auch galt es die zugewanderten »hochqualifizierte[n] Spezialarbeiter« der Glasregionen Böhmens und Schlesiens in den Arbeitsmarkt der

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In Schwäbisch-Gmünd seien lediglich im Mittelalter Glashütten ansässig gewesen. Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 19), S. 377–379. 1939 waren in Bayern 32, in Nordrhein-Westfalen 25 und in Baden-Württemberg 5 Glashütten in Betrieb – auf dem Territorium des späteren Bundeslandes Hessen dagegen keine einzige. Lediglich bis Ende des 16. Jahrhunderts galt die Region um Kassel als ein Zentrum der Glaserzeugung, das mit dem Entzug der Hüttenkonzessionen zum Schutz der Waldbestände durch den Landgraf Moritz von Hessen-Kassel indes an Bedeutung verlor. Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 11), S. 36; Franz Adrian Dreier, Glaskunst in Hessen-Kassel, Kassel 1968. In Immenhausen errichtete 1898 der Freiherr von Buttlar aus Ziegenhagen eine Glashütte für die Fertigung von medizinischem und einfachem Gebrauchsglas, die 1907 von Hermann Lamprecht übernommen wurde und im Zuge der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre in Konkurs ging. In Allendorf konnte das Kristallglaswerk Hirschberg, das zunächst auf dem Gelände des Mutterkonzerns Ruhrglas in Essen-Karnap angesiedelt wurde, die Produktionsstätte der nach 1945 von dem »Vertriebenen«-Unternehmer Adolf Stubbe gegründeten und 1956 in Konkurs gegangenen Glashütte übernehmen. Friedrich-Karl Baas und Dagmar Ruhlig-Lühnen, Glas von drei Hüttenherren. Ein Jahrhundert Produktion in Immenhausen, Immenhausen 1998; Friedrich Brinkmann-Frisch und Heinrich Wegener, Ausstellungskatalog Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Stadtmuseum Allendorf, Marburg 2011, S. 108f. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 56; Arbeitswissenschaftliches Institut der Deutschen Arbeitsfront (Hg.), »Glas als Austauschstoff«, in: DAF-Rohstoff-Dienst 26 (1939) S. 759–808. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 56. Siehe bspw. E. Merck Darmstadt Chemische Fabrik an Exekutivrat des Vereinigten Wirtschaftsgebiets, 15. Juni 1948, in: BArch, Z 4/71. Bericht HWMi, 6. November 1952, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 8977a.; Laufer, Spiegelglas (s. Anm. 27), S. 448.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

ihnen zugewiesenen Regionen zu integrieren, um hierdurch »einer [politischen] Radikalisierung vorzubeugen«.44 Da die traditionell gewerkschaftlich sehr gut organisierten Glasfacharbeiter schwer einen adäquaten Arbeitsplatz in anderen Industriezweigen fanden,45 erschien staatlichen Behörden insbesondere in Regionen, in denen wie in Hessen die Glasbranche bis dahin nicht existierte, die Förderung der Gründung von Glasunternehmen als eine »sozialpolitische Notwendigkeit«.46 Der Anteil der Flüchtlinge in der Glasindustrie war »viel höher als in der Gesamtindustrie«.47 Die hessische Glasindustrie wies mit um die 80 Prozent in den 1950er Jahren den höchsten Anteil an »Vertriebenen« in den Belegschaften auf.48 Dieser Anteil war auch in solchen Unternehmen hoch, deren Eigentümer keinen »Vertriebenen«-Status besaßen.49 Die Betonung der wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sicherheitspolitischen Bedeutung der Branche entsprang somit nicht nur einer zeitgenössischen Legitimationsfigur der Unternehmer,50 sondern bildete auch den Hintergrund für deren staatliche Unterstützung bei der Aufnahme bzw. Fortsetzung der Glasproduktion nach 1945. Den sogenannten »Vertriebenen«-Unternehmen wurden spezielle Fördermöglichkeiten eröffnet, die von Darlehen und Staatsbürgschaften bis hin zu steuerlichen Vergünstigungen reichten.51 Diese besondere förderpolitische Aufmerksamkeit ging einerseits auf die unermüdliche Lobbyarbeit verschiedener Vertriebenenverbände zurück, wie beispielsweise die 1948 gegründete Vertretung der heimatvertriebenen Wirtschaft.52 Andererseits war aus staatlicher Perspektive die Integration der Neubürger*innen nicht selten mit dem Motiv verbunden, »strukturschwache Regionen«, das heißt Regionen mit einem geringen Industrie- und hohen Arbeitslosenanteil, aber auch Standorte mit bis dahin militärischer bzw. rüstungsindustrieller Nutzung über die gezielte Förderung der Neuansied44

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Bericht IHK Limburg, 6. Februar 1959, in: HWA, Abt. 9, Nr. 248. Zur Ende der 1940er in Hessen virulenten Angst vor einer generell von den Neubürger*innen ausgehenden »Radikalisierung« und »sozialen Revolution« siehe auch Wolfgang Eckart, Neuanfang in Hessen. Die Gründung und Entwicklung von Flüchtlingsbetrieben im nordhessischen Raum 1945–1965, Wiesbaden 1993, S. 42f.; Rolf Messerschmidt, Hessen und die Vertriebenen. Eine Bilanz von 1945 bis zur Gegenwart, Wiesbaden 20142 , S. 116. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 216, 44f. Undatierte Stellungnahme des von 1946 bis 1949 amtierenden Hessischen Wirtschaftsministers Harald Koch in VdG Hessen (Hg.), Zehn Jahre Verbandsorganisation in Hessen 1948–1958, 1959, in: HWA, S 10109. Der Anteil »Vertriebenen«-Unternehmer in der westdeutschen Glasindustrie lag in den 1950er Jahren bei über 50 Prozent. In der gesamten Industrie betrug der Anteil im Durchschnitt 10,3 Prozent. Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 11), S. 181. Eckart, Hessen (s. Anm. 44), S. 83. Bei Gralglas bspw. habe der Anteil der »Vertriebenen« 1949 ungefähr 90 Prozent (von 250 Beschäftigten) und Mitte der 1950er Jahre 75 Prozent (von 400 Beschäftigten) betragen. Gralglas-Museum, Unternehmenschronik Gral-Glashütte, Online: www.duernau.de/index.php?id=109. Siehe bspw. Gewerbliche Wirtschaft der Heimatvertriebenen an HWMi, 25. Mai 1950, in: HHStAW Abt. 502, Nr. 1438; Protokoll VdG-Mitgliederversammlung, 23. März 1953, in: HWA, Abt. 9, Nr. 248. Siehe bspw. Information der IHK Limburg Steuerliche Vergünstigungen für Vertriebene und Vertriebenen-Betriebe, 1. August 1951, in: HWA, Abt. 9, Nr. 347; VdG-Rundschreiben Richtlinien für Flüchtlingsdarlehen, 23. August 1950, in: HWA, Abt. 10, Nr. 847; IHK Limburg, 6. Februar 1959 (s. Anm. 44). Messerschmidt, Hessen (s. Anm. 44), S. 65.

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lung von (»Vertriebenen«-)Unternehmen zu vitalisieren. In diese meist ländlich geprägten, peripheren Regionen wurden, angesichts des im Vergleich zu den Städten weniger brisanten Wohnraummangels, die aus den Ostgebieten kommenden Flüchtlinge bevorzugt verteilt. In Immenhausen im nordhessischen Landkreis Hofgeismar setzte Richard Süßmuth seine unternehmerische Tätigkeit in einem Gebiet fort, das mit einem Bevölkerungsanteil von über 20 Prozent eine der höchsten Flüchtlingszahlen in Hessen und eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit aufwies.53 Auch das mittelhessische Allendorf gehörte zu jenen Regionen, die durch die Zuwanderung nach 1945 einen rasanten Anstieg der Einwohner*innenzahl erfuhr und zugleich ein riesiges, bis zum Kriegsende rüstungsindustriell genutztes Areal aufwies.54 Auf dem Gelände der Sprengstoff- und Munitionswerke der Montan-Industriewerke GmbH entstand eine staatlich verwaltete Industriesiedlung, womit Allendorf zu einer der größten »Vertriebenensiedlungen« der Bundesrepublik anwuchs.55 Bis 1956 betrieb hier der schlesische Unternehmer Adolf Stubbe eine Glashütte, die zwei Jahre später von der Ruhrglas AG als neue Produktionsstätte für das expandierende Tochterunternehmen Hirschberg übernommen wurde und hierfür reichlich staatliche Hilfe in Anspruch nehmen konnte.56 Auf dem Gelände des früheren Kaliwerks im niedersächsischen Volpriehausen – während des NS eine Produktionsstätte der Heeresmunitionsanstalt – begann 1949 Ernst Buder mit dem Aufbau seiner Glashütte.57 Waren Ansätze einer Verknüpfung von Bevölkerungs- mit Strukturpolitik auch in anderen westlichen Besatzungszonen bzw. Bundesländern zu beobachten,58 so war diese im sozialdemokratisch regierten Hessen besonders ausgeprägt. Im Rahmen der Förderprogrammatik des Hessenplans stellte das Land seit 1951 53 54

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Deshalb deklarierte das BMWi Nordhessen 1951 zum »Notstands- und Sanierungsgebiet«. Siehe Ebd., S. 44f., 80. Seit Ende der 1930er Jahre ließ die Wehrmacht neben dem damaligen 1.500-Einwohner*innenOrt Allendorf ein über 500 Hektar großes Areal für die Rüstungsproduktion erschließen. Bis 1945 mussten hier Zwangsarbeiter*innen, KZ-Inhaftierte und Kriegsgefangene in mehr als 400 Produktionsgebäuden Waffen und Munition für die Sprengstofffirmen Dynamit Nobel AG und die Westfälisch-Anhaltinische Sprengstoff AG produzieren. Siehe Brinkmann-Frisch und Wegener, Ausstellungskatalog DIZ (s. Anm. 39), S. 26–63. Mit mehr als 10.000 Einwohner*innen erhielt Allendorf 1960 das Stadtrecht und hieß seitdem Stadt Allendorf, 1977 erfolgte die Umbenennung in Stadtallendorf. Von den 15.000 Einwohner*innen im Jahr 1966 hatte ungefähr die Hälfte einen Fluchthintergrund. Eckart, Hessen (s. Anm. 44), S. 101–105. Für Ausbau und Erneuerung der Produktionsanlage erhielt die Ruhrglas AG vom Land Hessen einen verlorenen Zuschuss, Preisnachlass beim Erwerb der Grundstücke und Immobilien sowie ein Darlehen in Höhe von knapp zwei Millionen DM. Siehe Archiv DIZ, Bestände 46.R 146–147 und 206.R 106/1. Detlev Herbst, Volpriehausen im Solling. Bilder erzählen vom Wandel des dörflichen Lebens, Uslar-Volpriehausen 2004, S. 7f. Als weitere Beispiele für die staatlich geförderte Ansiedlung von »Vertriebenen«-Unternehmen der Glasbranche auf zuvor rüstungsindustriell bzw. militärisch genutzten Flächen ließe sich das bayerische Kaufbeuren oder das baden-württembergischen Wertheim anführen. Stefan Grüner, Geplantes »Wirtschaftswunder«? Industrie- und Strukturpolitik in Bayern 1945 bis 1973, München 2009, S. 111; Monika Schaupp, »Die Wertheimer Glasindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg«, in: Archivnachrichten des Landesarchiv Baden-Württemberg 44 (2012), S. 10–11.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

umfangreiche finanzielle Mittel zur Verfügung, um »Vertriebenen«-Unternehmen in strukturschwachen Regionen zu unterstützen.59 Vor diesem Hintergrund kann der Einschätzung, die Glasindustrie habe im »ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik […] am Rande des wirtschaftspolitischen Interesses« gestanden,60 nicht zugestimmt werden. Das Ausmaß der staatlichen Unterstützung beim »Wiederaufbau der Flüchtlingsindustrien« ging selbst dem Arbeitgeberverband zu weit. Da sie zu Überkapazitäten in der westdeutschen Hohlglasindustrie geführt habe, plädierte der VdG 1950 für ein Ende der staatlichen Förderung von Glashüttenneugründungen.61 Bereits existierende Glasunternehmen sollten jedoch weiter unterstützt werden. Aufgrund ihres »Vertriebenen«-Status bzw. der Beschäftigung von »Vertriebenen«, ihrer Lage in abgelegenen und strukturschwachen Regionen, für die sie wichtige Arbeitsplatzgeber waren, oder ihres Standorts in der Nähe der deutsch-deutschen Grenze (im sogenannten Zonenrandgebiet) profitierten die meisten der Vergleichsunternehmen nach 1945 in unterschiedlichem Umfang von Subventionen durch Bund und Länder.62 Die Glashütte Süßmuth wies alle genannten Förderkriterien auf und konnte staatsverbürgte Kredite, Zinszuschüsse sowie steuerliche Vergünstigungen in Anspruch nehmen.63 Erfüllten Unternehmen der Mundglasbranche die genannten wirtschafts- und sozialpolitischen Funktionen vor allem auf regionaler Ebene, so war ihre identitätspolitische Relevanz in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten für die gesamte Bundesrepublik wirkmächtig: Mundgeblasenes Glas gehörte auf den »gedeckten Tisch« in einer Gesellschaft, die über den NS hinweg auf verschiedenen Ebenen von Kontinuität geprägt war. In der oftmals unmittelbaren Verbindung zur schlesischen oder böhmischen Herkunft ihrer Produzent*innen besaß diese Produktgruppe eine an den nationalen Zusammenhalt appellierende und zugleich jene Bevölkerungsgruppen, die sich die mundgeblasenen Konsumartikel bislang nicht leisten konnten, zur Teilhabe am neuen Wohlstand einladende Aura.

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Zum Hessenplan als Erfolgsgeschichte siehe Messerschmidt, Hessen (s. Anm. 44), S. 75, 82f., 72–130; Kritisch dagegen Dirk van Laak, »Mythos ›Hessenplan‹. Aufstieg und Wandel einer Landesplanung nach dem Zweiten Weltkrieg«, in: Wendelin Strubelt und Detlef Briesen (Hg.), Raumplanung nach 1945. Kontinuitäten und Neuanfänge in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M. u.a. 2015, S. 127–149. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 70. Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 11), S. 173. Zur Bedeutung der Strukturpolitik für Unternehmen der Glasbranche in peripherer Lage siehe Ebd., S. 43–48. Bis Mitte der 1950er Jahre erhielt Richard Süßmuth vier staatsverbürgte Kredite in einer Höhe von insgesamt 220.000 DM, einen Kredit aus dem Arbeitsbeschaffungsprogramm der Bundesregierung in Höhe von 180.000 DM, zwei ERP-Kredite in Höhe von 100.000 DM und 220.000 DM sowie einen Kredit aus der Gemeinschaftshilfe von ebenfalls 100.000 DM. Die Höhe des Fremdkapitals lag im Jahr 1956 bei insgesamt 1,6 Millionen DM. Siehe Unterlagen zu den Anträgen der GHS in: HHStAW 507–8977a.

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Teil I: Die Entstehungsbedingungen der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Die Entwicklungen in den 1950er und 1960er Jahren Im Zeitraum zwischen 1950 und 1970 habe die Glasbranche der Bundesrepublik insgesamt einen rasanten Aufschwung erlebt; das Wachstum habe hier über dem Durchschnitt der gesamten Industrie gelegen.64 Aus einer solchen die brancheninterne Heterogenität nicht berücksichtigenden Perspektive gerät aus dem Blick, dass bereits im Laufe der 1950er Jahre eine Reihe von Glashütten ihre Produktion einstellen mussten. Von den sieben im Jahr 1947 in Hessen existierenden Hohlglashütten waren Ende der 1950er Jahre vier in Konkurs gegangen.65 Führte der VdG als Unternehmensverband der süddeutschen Bundesländer (Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und RheinlandPfalz) 1951 noch insgesamt 61 Glas produzierende Unternehmen als Mitglieder auf, so war diese Zahl 1968 auf 44 gesunken.66 Alle hier untersuchten Unternehmen konnten in den 1950er Jahren – mit Ausnahme der erst 1946 gegründeten Firma Eisch und unter Berücksichtigung der Enteignungsgeschichte der Familie Rosenthal – an frühere Erfolge vor und während des NS anknüpfen. Von rasanten Expansionen zeugten ihre kontinuierlich steigenden Umsatz- und Beschäftigtenzahlen sowie die Ausweitung der Produktionskapazitäten.67 In den 1960er Jahren verlief die Entwicklung der Vergleichsunternehmen hingegen in zwei verschiedene Richtungen: Während die Überlieferungen von Rosenthal, Wiesenthal, Eisch und Gralglas eine weiterhin erfolgreiche Expansion belegen, gehörte die Glashütte Süßmuth mit der Josephinenhütte und Hirschberg zur Gruppe jener Unternehmen, in denen die Umsatz-, Gewinn- und Personalentwicklung zu stagnieren begann bzw. rückläufig war. Den Höchststand hinsichtlich Produktivität und Beschäftigtenstand hatte die im Mundblasverfahren fertigende Wirtschaftsglasbranche schon 1961 überschritten, wie aus einer der wenigen nach Herstellungsverfahren differenzierenden Branchenstatistik hervorgeht.68 Die Glashütte Süßmuth war das erste bekanntere Unternehmen der Branche, das 1967 und erneut 1969 von Konkurs bedroht war. Die in manchen Mundglasfirmen im Verlauf der 1960er Jahre einsetzenden Schwierigkeiten sind – neben jeweiligen unternehmensinternen Gründen – im Wesentlichen auf vier branchenweite und zum Teil -übergreifende Entwicklungen zurückzuführen. In erster Linie wirkte sich der durch »Vollbeschäftigung« geprägte Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik aus.69 Die Fluchtbewegungen nach 1945 hatten den Mundglashütten

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Gebhardt, Glasindustrie (s. Anm. 14), S. 14, 93f.; Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 69f. VdG Hessen (Hg.), Jüngste Geschichte der hessischen Glasindustrie, 13. November 1968, in: FHI, Schöf-1219. VdG-Mitgliederversammlung, 17. Juni 1952 (s. Anm. 13); Protokoll Bundesausschuss Wirtschaftsglas, 25. Juli 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 7. Folgendes siehe Tabelle 3 und Tabelle 4 im Anhang. Die Mundglasbranche wich hierin von der gesamten Glasbranche ab, deren Produktivitäts- oder Beschäftigtenzahlen erst ab Beginn der 1970er Jahre zu stagnieren bzw. sich rückläufig zu entwickeln begannen. Siehe Gebhardt, Glasindustrie (s. Anm. 14), S. 44, 60f., 84; Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 11), S. 149f. Zur Phase der »Vollbeschäftigung« in der Bundesrepublik (1960–1973) siehe Toni Pierenkemper, »Kurze Geschichte der ›Vollbeschäftigung‹ in Deutschland nach 1945«, in: APuZ 14–15 (2012), S. 39–42.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

zwar ein großes Potenzial qualifizierter Arbeitskräfte zugeführt, durch Unternehmensneugründungen und -expansionen in den 1950er Jahren sowie den nach dem Mauerbau 1961 unterbrochenen Zuzug von Fachkräften aus der DDR beklagten (nicht nur) sie allerdings einen Mangel an Fach- und Hilfsarbeiter*innen.70 Der Generationenwechsel in der Arbeiterschaft legte zudem ein brancheninternes Nachwuchsproblem frei, das sich bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angedeutet hatte und durch den Zustrom an Glasfacharbeitern aus den böhmischen und schlesischen Glaszentren in den Anfangsjahren der Bundesrepublik lediglich temporär kompensiert worden war.71 Verstärkt wurde der Nachwuchsmangel durch den bundesweiten Trend längerer Schulzeiten sowie das Nachrücken geburtenschwacher Jahrgänge seit Beginn der 1960er Jahre.72 Der Beschäftigungsrückgang in einem Teil der Vergleichsunternehmen war daher weniger auf personalpolitische Entscheidungen oder erfolgreiche Rationalisierungsmaßnahmen zurückzuführen, sondern Ausdruck eines Personalmangels, der für Mundglashütten angesichts der Arbeitskräfteintensität ihrer Fertigung eine besondere Brisanz besaß. Seit 1961 verpflichtete der Verein der Glasindustrie seine Mitgliedsfirmen – nachdem es immer wieder zu Konflikten infolge »unkollegialer Abwerbungen« gekommen war – auf ein verbandsinternes Abwerbeverbot.73 Zweitens erhöhten sich die Kosten der Produktion. Die Preise für die wichtigsten Rohstoffe der Glasproduktion (Sand, Kalk und Soda) blieben im Untersuchungsraum relativ günstig und stabil.74 Sukzessive angestiegen waren hingegen die Personalkosten – dem in Mundglashütten aufgrund der manuellen Fertigung mit Abstand höchsten Kostenfaktor. Deren Anteil am Umsatz lag in der Glashütte Süßmuth 1969 bei 71,5 Prozent und damit leicht über dem für die Mundglasbranche zum damaligen Zeitpunkt durchschnittlichen Anteil von 65 bis 70 Prozent.75 Der Arbeitskräftemangel schränkte die lohnpolitischen Spielräume der Unternehmen in dem Maße ein, wie er die Verhandlungspo70 71

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Siehe Laufer, Spiegelglas (s. Anm. 27), S. 487–489; Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 177. Als Indizien für den v.a. seit dem Ersten Weltkrieg sich vergrößernden Nachwuchsmangel können die Zunahme der Beschäftigung von Frauen, die in den 1930er Jahren von Branchenverbänden und NS-Staat intensivierten Bemühungen um eine Formalisierung der Ausbildung oder die nachlassende Bedeutung der bislang unter den Arbeitenden ausgeprägten »Berufsvererbung«, d.h. die intergenerationale Weitergabe von »spezifischen Berufskenntnissen und Fähigkeiten«, angeführt werden. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 52, 217, 184–190. Zur Situation nach 1945 siehe bspw. »Nachwuchsmangel in der Glasindustrie«, in: FR, 28. April 1949, in: AGI; »Die Arbeit des Vereins der Glasindustrie. Exportsituation und Nachwuchsförderung«, in: FR, 20. Oktober 1950, in: AGI; »Glasindustrie hat Nachwuchssorgen«, in: FR, 14. März 1952, in: AGI. Der Anteil der 15- bis 24-Jährigen an der erwerbstätigen Bevölkerung sank von 80 Prozent (1960) auf 66 Prozent (1970). Axel Schildt, Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90, München 2007, S. 31, 33. Notiz Georg Peter, 2. März 1955, in: BWA, F 064–75; Antwort Walter Arendt auf die Kleine Anfrage Drucksache VI/867, 29. Mai 1970, Online: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/06/008/0600867.pd f. Siehe auch VdG-Sonderrundschreiben, 1963–1964, in: WABW, Bestand B 164 Bü 1; Kapitel 9.4. Willett, Die Glasindustrie (s. Anm. 15), S. 139; Jürgen Dispan, Glasindustrie in Deutschland. Branchenreport 2013, Stuttgart 2013, S. 27. Bericht RKW Hessen über die Betriebsberatung der GHS, 18. Februar 1972, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 5; Protokoll BMWi Länderausschuss Glas, Keramik, Steine und Erden, 3. bis 4. Dezember 1971, in: BArch, B 102/163460. Zur kontroversen Bestimmung eines rentablen Lohnkostenanteils siehe Kapitel 5.2.

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sition der Belegschaftsvertretung in den Tarifrunden stärkte. Arbeitnehmerseitig ging der Anstieg der Personalkosten nicht allein auf Effektivlohnsteigerungen zurück, sondern auch auf die tarifliche Verankerung von Zusatzzahlungen wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeldern sowie auf schrittweise reduzierte Arbeitszeiten.76 Die wöchentliche Arbeitsdauer hatte in der Bundesrepublik mit durchschnittlich 49 Stunden an sechs Werktagen Mitte der 1950er Jahre einen Höhepunkt erreicht,77 die IG Chemie setzte in der Glasindustrie als einem der ersten Industriezweige bereits zum Jahr 1965 die Vierzigstundenwoche und den arbeitsfreien Samstag durch.78 Steigende Personalkosten und sinkende Arbeitszeiten belasteten Unternehmen der Mundglasbranche stärker als Firmen aus anderen Bereichen der Glasindustrie bzw. aus anderen Industriezweigen. Der weiter unten darzustellende Fertigungsprozess ließ keine Kompensation der Arbeitszeitverkürzung durch Schichtarbeit zu. Die Öfen mussten permanent beheizt werden und konnten an den nun komplett arbeitsfreien Wochenenden nicht einfach abgeschaltet werden. Zu den höheren Personalkosten kamen somit nicht-produktive Energiekosten, die zum Teil ebenfalls anstiegen.79 Drittens stellten die Entwicklungen in Nachfrage und Vertrieb die Mundglasfirmen vor einige Herausforderungen. Die Nachfrage nach Wirtschaftsglas weitete sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts enorm aus.80 Ein steigendes Einkommensniveau erzeugte nicht allein Kosten auf Seiten der Produktion, sondern zugleich Kaufkraft auf Seiten des Konsums.81 Neben bzw. nach der »Ersatzbeschaffung von im Krieg zerstörtem Gebrauchsgut« erhöhte sich die Nachfrage nach hochwertigerem Wirtschaftsglas durch private Endverbraucher*innen oder durch die expandierende Tourismus- und

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Zu den arbeitgeberseitigen Gründen des gestiegenen Lohnkostenanteils siehe Kapitel 1.6. und vor allem Kapitel 9. Schildt, Sozialgeschichte (s. Anm. 72), S. 24. Für Jugendliche galt die Vierzigstundenwoche bereits seit Anfang der 1960er Jahre. Im Zuge neuer gesetzlicher Bestimmungen zum Jugendschutz sollten sie auch von der Akkordarbeit befreit werden, womit – so die Klage von Richard Süßmuth im Namen der hessischen Glasindustrie – »die ganze bisherige Arbeitseinteilung in den Glashütten aufgegeben werden müsste.« »Sorgen der hessischen Glasindustrie«, in: FR, 1. Oktober 1960, in: AGI; Solche Einwände gegen die Einführungen von Kinder- und Jugendschutzbestimmungen lassen sich in der Geschichte der Glasbranche bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Siehe Laufer, Spiegelglas (s. Anm. 27), S. 212f. Die Wochenarbeitszeit wurde 1958 auf 45 Stunden, 1961 auf 43,5 Stunden, 1963 auf 42 Stunden und 1965 auf 40 Stunden beschränkt, womit der Glasindustrie – wie auch bei den Urlaubsregelungen – »eine gewisse Vorreiterrolle« zukam. Hannes, Bayerischer Wald (s. Anm. 29), S. 100; Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 107. Je nach Energieträger verlief die Preisentwicklung unterschiedlich. Der seit Anfang der 1960er Jahre sinkende Preis von Kohle lag bis Mitte der 1960er Jahre über den zeitgleich steigenden Preisen von Öl und Gas. Siehe Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 11), S. 108. Zum kontinuierlichen Anstieg der privaten Ausgaben für Wirtschaftsglas siehe Ebd., S. 66f.; Marktanalyse »Porzellan und Glaswaren« des Marketingservices von Gruner + Jahr vom Oktober 1981 im Anhang von: Eckhard Blaume, CI [Corporate Identity] und CD [Corporate Design]. Überarbeitung des Erscheinungsbilds der GHS, Unveröffentlichte Diplomarbeit 1986, in: AGI. Allein zwischen 1950 und 1960 hatten sich in der Bundesrepublik die »Arbeitnehmereinkommen« verdoppelt und auch die Renten erhöhten sich infolge der Rentenreform von 1957. Christian Kleinschmidt, Konsumgesellschaft, Göttingen 2008, S. 137.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

Gastronomiebranche.82 Hierauf beruhte der rasante Aufschwung aller Vergleichsunternehmen; hingegen mussten bereits in den 1950er Jahren jene Glashütten die Produktion einstellen, denen es nicht gelungen war, eine vom Nachkriegsbedarf unabhängige Marktposition einzunehmen.83 Die Entwicklung der Nachfrage wurde weniger in quantitativer als vielmehr in qualitativer Hinsicht zu einem dringlichen Problem der Mundglasbranche. Das wiederum stand in unmittelbarem Zusammenhang mit Veränderungen der Konkurrenzverhältnisse und Absatzbeziehungen sowie der Altersund sozioökonomischen Struktur der Konsument*innen. Der traditionell wichtigste Abnehmer und einzige öffentlich beworbene Vertriebsweg der Mundglashütten war der Fachhandel im In- und Ausland, zu dem die Firmen in der Regel über freie Handelsvertretungen in Beziehung standen. In unterschiedlichem Umfang lieferten sie auch an andere gewerbliche Auftraggeber*innen, kaum jedoch an die Endverbraucher*innen selbst. Die in den Rezessionsjahren 1966 und 1967 virulenten Absatzschwierigkeiten in der Mundglasbranche sagten daher nichts über das private Kaufverhalten aus, sondern waren in erster Linie der vorsichtigen Disposition bzw. zurückgehaltenen Auftragserteilung durch den Handel und sonstige gewerbliche Geschäftspartner*innen geschuldet. Die für Januar 1968 angekündigte Reform der Mehrwertsteuer veranlasste den Fachhandel, seine Lagerbestände abzubauen und fortan gering zu halten.84 Die Lagerhaltung und Absatzorganisation ging somit in neuer Intensität auf die Mundglashütten über. Die infolge der veränderten Auftragspolitik des Handels in den Mundglashütten anwachsenden Lagerbestände wirkten sich in einer Bindung von und einem erhöhten Bedarf an Betriebsmitteln aus. Zugleich waren sie bei der Planung des Produktionsprogramms auf neue Weise auf sich gestellt, die sich bis dahin – wie für das Produktionsformat batch production charakteristisch – aus der verbindlichen Auftragserteilung durch den Handel auf Basis saisonaler Mustermodelle ergab.85 Durch dessen temporären Wegfall und der fortan kurzfristigeren bzw. konjunkturabhängig schwankenden Auftragsvergabe mussten die Hütten verstärkt »auf Vorrat« arbeiten, um die Produktion aufrechtzuerhalten.86 Unmittelbar konfrontiert waren sie dabei mit der branchenweit virulenten und folglich mit einem hohen unternehmerischen Risiko verbundenen Unkenntnis über die sich gegebenenfalls ändernden Bedürfnisse der bisherigen wie potenziell 82

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Helmut Ricke, »Die Wiesenthalhütte im europäischen Kontext«, in: Ders. (Hg.), Wiesenthalhütte. Design in Glas 1957–1989, München u.a. 2007, S. 22; Annemarie Rath, »Firmengeschichte der Wiesenthalhütte«, in: Helmut Ricke (Hg.), Wiesenthalhütte. Design in Glas 1957–1989, München u.a. 2007, S. 331f.; Anneli Kraft, Die Entwicklung des Gebrauchsglases von der manuellen zur maschinellen Herstellung am Beispiel der Kelchglasherstellung der Vereinigten Farbenglaswerke AG in Zwiesel von 1954 bis 1972, Hamburg 2015, S. 18. Neben einer fehlgeschlagenen Maschinisierung der Produktionsanlage war dies bspw. ein entscheidender Grund für den Konkurs der Glashütte von Adolf Stubbe in Allendorf 1956. Siehe Archiv DIZ, Bestand 246.R 146–147. Ende der 1960er Jahre kam es deshalb zu Konflikten zwischen Arbeitgeberverband der Glasindustrie und dem des Einzelhandels. VdG-Rundschreiben, 1968, in: Bayerische Staatsbibliothek München; WABW Bestand B 164 Bü 7. Philip Scranton, Endless Novelty. Specialty Production and American Industrialization, 1865–1925, Princeton 1997, S. 10; Anne Sudrow, Der Schuh im Nationalsozialismus. Eine Produktgeschichte im deutsch-britisch-amerikanischen Vergleich, Göttingen 20132 , S. 214. Protokoll Gespräch mit [Walter Albrecht], 15. Juli 1993, erstellt von Friedrich-Karl Baas, in: AGI, S. 3.

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neu zu gewinnenden Endverbraucher*innen.87 Da die Herstellerfirmen zu diesen bislang nur einen über den Handel vermittelten Kontakt besaßen, standen ihnen zur Erhebung von Informationen über deren gegenwärtiges Kaufverhalten oder ihre potenziellen Bedürfnisse selbst kaum Instrumente zur Verfügung. Die Qualität der zukünftigen Nachfrage war eine für die Unternehmen schwierig zu bestimmende bzw. zu prognostizierende Größe, die sich deshalb in gewisser Weise auch der Kenntnis einer nachträglichen Bewertung entzieht.88 Gerade jene Gleichzeitigkeit einer Erosion etablierter Vertriebswege und des (angenommenen) Wandels der Nachfrage sowie der Sozialstruktur der Konsument*innen brachte die Mundglashütten in enorme Schwierigkeiten. Viertens veränderten sich insgesamt die Wettbewerbsbedingungen; der Konkurrenzdruck begann sich zu erhöhen. Zeitgenössische wie rückblickende Branchenanalysen hoben vor allem die zunehmende von der technischen Entwicklung und den handelspolitischen Liberalisierungen ausgehende Konkurrenz hervor, deren Relevanz für die hier betrachteten Vergleichsunternehmen bzw. die Mundglasbranche differenziert zu bewerten ist. Tatsächlich trugen die im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit nunmehr vorhandene »Aufnahmefähigkeit des [deutschen und europäischen] Marktes für ein standardisiertes Produkt« sowie die skizzierte Arbeitsmarktsituation und Lohnkostenentwicklung dazu bei, dass Investitionen in die Entwicklung maschineller Produktionstechnik auch im Bereich Wirtschaftsglas rentabel wurden.89 In der Bundesrepublik experimentierte der Schott-Konzern seit Beginn der 1950er Jahre mit Techniken für maschinelle Press- und Blasverfahren.90 Einschneidend wirkte sich aus, dass 1961 die Vereinigten Farbenglaswerke in Zwiesel, einem Unternehmen der SchottGruppe, mit der maschinellen Fertigung von Kelchglas begann.91 Anders als weniger aufwendig gestaltete Produkte wie Schüsseln oder Becher war Kelchglas bis dahin allein 87

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Seit Ende der 1960er Jahre bemühten sich die Mitgliedsfirmen des Branchenverbandes, den lediglich angenommenen »Wandel der Käufergepflogenheiten« in gemeinsamen Überlegungen zu erfassen. Protokoll Bundesausschuss Wirtschaftsglas, 22. Februar 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 7. Siehe Kapitel 9.2. Die Autoren der vom BMWi Mitte der 1980er Jahre beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Auftrag gegebenen Branchenstudie übergingen diesen Punkt mit dem Hinweis, dass eine umfassende Nachfrageanalyse »im Rahmen dieser Untersuchung« nicht erstellt werden könne. In seiner kulturgeschichtlichen Betrachtung konstatiert Ingolf Bauer, dass über die Entwicklung des Gebrauchs und der Bedeutung von Glas in den Alltagspraktiken der weniger wohlhabenden großen Mehrheit der Bevölkerung sowohl für das 19. als auch für das 20. Jahrhundert nur wenige Aussagen getroffen werden können. Neckermann und Wessels, Glasindustrie (s. Anm. 9), S. 219; Bauer, Glas (s. Anm. 17), S. 13f. Das Nicht-Vorhandensein eines solchen Absatzmarktes war bis dahin einer der zentralen Gründe für das langsame Tempo der Technikentwicklung zur Maschinisierung der Hohlglasfertigung und für den Abbruch dahingehender Bemühungen in der Weimarer Republik. Ausschuss zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der Deutschen Wirtschaft (Hg.), Die deutsche Glasindustrie, Berlin 1931, S. 207f. Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 172–181; Helmut A. Schaeffer und Margareta Benz-Zauner (Hg.), Hohlglas, München 2010, S. 110–128; Kraft, Kelchglasherstellung (s. Anm. 82), S. 33–35. Das Jenaer Glaswerk Schott & Gen. hielt zwischen 1927 und 2001 die Aktienmehrheit an den Vereinigten Farbenglaswerke AG, die seit Zusammenlegung aller Produktionsstätten des Bereichs Wirtschaftsglas 1971/1972 unter dem Namen Schott Zwiesel Glaswerke AG firmierte. Ingeborg Seyfert, Schott-Zwiesel. Die Geschichte einer Glashütte im Bayerischen Wald, Zwiesel 1979.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

der Mundglasfertigung vorbehalten. Mit der von Heinrich Löffelhardt entworfenen und erstmals maschinell gefertigten Kelchglasgarnitur Neckar erzielte Schott Zwiesel einen anhaltend großen Absatzerfolg.92 In den folgenden Jahren nahmen weitere Großkonzerne – wie beispielsweise Rosenthal 1970 – die maschinelle Massenproduktion von Wirtschaftsglas auf.93 An maschinelle Produzenten begann die sich diesen gegenüber konstituierende Mundglasbranche jenen Marktanteil wieder zu verlieren, der sich mit Großaufträgen aus der Tourismus- und Gastronomie-Branche nach 1945 massiv vergrößert hatte. Erhalten blieb den manuellen Produzenten jedoch der bisherige, durch die stärkere Nachfrage privater Endverbraucher*innen ebenfalls wachsende Marktanteil für die Fertigung auch kleinerer Serien von Wirtschaftsglas in hoher Qualität und Vielfalt. Der Wettbewerb erhöhte sich in diesem Marktsegment nicht durch die Maschinenglashütten, sondern durch das Vordringen anderer Mundglashütten, die ihre Produktion – weil kein maschinelles Äquivalent zur Handfertigung existierte – verstärkt auf hochwertiges Glas ausrichteten bzw. umstellten.94 Die Gründe hierfür konnten (wie bei Buder) in der gegenüber dem Maschinenglas schwindenden Wettbewerbsfähigkeit der zuvor angebotenen Produkte liegen oder (wie bei Wiesenthal) in der Attraktivität des bestehenden Wachstumspotenzials. Die Glashütte Buder, die in der Nachkriegszeit vorrangig medizinisches Hohlglas fertigte, spezialisierte sich im Laufe der 1950er Jahre auf Bleikristall.95 Wiesenthal stieg Ende der 1950er Jahre in die Produktion von mundgeblasenem Wirtschaftsglas ein, um sich gegenüber Marktveränderungen im bisherigen Kernsegment Röhren- und Stangenglas für die Perlenproduktion zu wappnen.96 Der schrittweise Abbau von Handelsbeschränkungen erhöhte die Konkurrenz ausländischer Unternehmen auf dem bundesdeutschen Markt, erweiterte aber auch die Exportmöglichkeiten bundesdeutscher Unternehmen.97 Obwohl die »Ostblockein92

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Schott Zwiesel hatte seine maschinelle Anlage von einer (1961) auf drei Produktionsstrecken (1965) erweitert. Bis 1974 seien allein von Neckar 200 Millionen Stück verkauft worden, die sich damit zur weltweit erfolgreichsten Kelchglasserie entwickelt habe. Hannes, Bayerischer Wald (s. Anm. 29), S. 121; Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 11), S. 136; Kraft, Kelchglasherstellung (s. Anm. 82), S. 34f., 54; Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 178–181. Die zum Rosenthal-Konzern gehörende Thomas AG nahm im neugebauten Glaswerk in Amberg 1970 die maschinelle Fertigung von Wirtschaftsglas auf, das unter der Marke Thomas Glas verkauft wurde. Die zum Nachtmann-Konzern gehörende Kristallglasfabrik Spiegelau folgte 1971. In diesem Jahr habe es allein in der Bundesrepublik sieben und im EWG-Handelsraum insgesamt 18 Konzerne mit »automatischer Kelchglasproduktion« gegeben. »Modernstes Glaswerk für 14 Millionen Mark«, in: Frankfurter Neue Presse, 8. Juni 1970, in: BArch B 102/208321; Glas- und PorzellanTelegramm, »Automaten-Kelchglas beherrscht und verstopft den Markt«, August 1971, in: mkp.GlA 1-Wies.; Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 11), S. 137. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Volker Lange], undatiert [1973/74], im Besitz der Autorin, S. 3. Transkript Gruppeninterview der Autorin und Detlev Herbst mit Rudolf Raimann, Karl-Heinz Bolz und Siegfried Baumer, 27. Mai 2013, im Besitz der Autorin, S. 2f.; Unternehmenschronik Buder (s. Anm. 20), S. 3f. Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 19), S. 382–390; Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 11), S. 58f. In der gesamten Glasbranche der Bundesrepublik habe zwischen 1960 und 1984 laut Moritz der Exportsteigerung um 400 Prozent eine Steigerung des Imports um 2.400 Prozent gegenübergestanden. Dieser in Relation ausgedrückte exorbitant erscheinende Importanstieg verweist auf ein quantitativ enorm geringes Ausgangsniveau. In absoluten Zahlen überwog im Untersuchungszeit-

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fuhren im Rahmen der gesamten Glaseinfuhr ein vergleichsweise geringes Gewicht« hatten,98 stilisierten Vertreter der westdeutschen Mundglasbranche seit der zweiten Hälfte der 1940er Jahre in anhaltender Kalter-Kriegs-Rhetorik die »unfaire« Konkurrenz aus den sogenannten Staatshandelsländern zum dringlichsten, die Existenz der Unternehmen und die Arbeitsplätze bedrohenden Problem. Die Kritik an einer wettbewerbsverzerrenden Wirtschaftspolitik und einer politisch manipulierten Preisbildung im Osten diente den Lobbyisten paradoxerweise als wichtigste Rechtfertigung für ihre Forderung nach Protektion und Subventionierung der Branche im Westen, die von staatlicher Seite auch Berücksichtigung fand.99 Mundgeblasenes Wirtschaftsglas zählte Ende der 1960er Jahre zu den wenigen »überhaupt noch nicht liberalisierten« Handelsartikeln und 1980 zu den letzten »Erzeugnissen der gewerblichen Wirtschaft […] für die es noch Importbeschränkungen« gab.100 Vor der Konkurrenz aus dem Osten waren die bundesdeutschen Mundglashütten auf dem Inlandsmarkt bis zum Mauerfall weitgehend geschützt, auf dem Weltmarkt stellte sie hingegen eine zu recht befürchtete Gefahr dar. Dies lag nicht allein an den günstigeren Preisen, die – wie in anderen EWG-Staaten auch – auf ein niedrigeres Lohnniveau zurückzuführen waren. Zugleich befanden sich die Produzenten der Mundglasbranche auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs – im Gegensatz zu anderen Industriezweigen – hinsichtlich der Produktionstechnik auf einem ähnlichen Stand. Eine ernsthafte Konkurrenz waren die Betriebe aus

raum – mit Blick auf die mengen- wie wertmäßigen Handelsbewegungen – hingegen der Export gegenüber dem Import. Gleichermaßen problematisch und für die Mundglasbranche kaum aussagekräftig sind diese Angaben zur Import-Export-Entwicklung auch aufgrund der fehlenden Berücksichtigung der Heterogenität innerhalb der Glasbranche. Die Ausweitung des Imports betraf in erster Linie maschinell gefertigte Glasartikel. Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 11), S. 72–78; Ähnlich auch: Gebhardt, Glasindustrie (s. Anm. 14), S. 67–81; Neckermann und Wessels, Glasindustrie (s. Anm. 9), S. 292. 98 Diese Angabe bezieht sich auf den Zeitraum zwischen 1960 und 1972 und habe für den gleichbleibenden Umfang der Glaseinfuhr in die Bundesrepublik und in die EG zugetroffen. Gebhardt, Glasindustrie (s. Anm. 14), S. 83. 99 Diese Argumentation von Vertretern der bundesdeutschen Glasbranche – die hierbei stets die besondere Bedeutung beim »Wiederaufbau der Industrie nach 1945« und bei der Integration »einer großen Anzahl vertriebener Unternehmer« hervorhoben – lässt sich bis in die 1980er Jahre nachzeichnen. Siehe bspw. Bildbericht Aufbauleistungen der hessischen Wirtschaft, Beispiel GHS, undatiert [1950], in: HHStAW, Abt. 502, Nr. 1438; Georg Peter, »Zur handelspolitischen Lage der Glasindustrie«, in: Glas im Raum 2 (1954) in: BArch, B 102/11757; Protokoll VdG-Mitgliederversammlung, 19. April 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 7; VdG-Memorandum »Mehr Wettbewerb – auch für Staatshandelsländer« an BMWi, Juni 1980, in: BArch, B 102/273998; »Glasindustrie kritisiert Ostblockländer: Politische Preise. Wettbewerb absolut verzerrt«, in: FAZ, 30. Mai 1980, in: AGI; »›Rotes Glas‹ bedroht Arbeitsplätze«, in: FR, 6. Juni 1980, in: AGI. 100 Bundesausschuss Wirtschaftsglas, 22. Februar 1968 (s. Anm. 87); Dieter von Würzen an Georg Freiherr von Waldenfels, undatiert [August/September 1980], in: BArch, B 102/273998. Noch im Dezember 1981 versicherten Vertreter des BMWi jenen des WMF-Konzerns, dass auch weiterhin keine Absicht bestehe, »mundgeblasenes Glas zu liberalisieren.« Die Einfuhrkontingente für mundgeblasenes Wirtschaftsglas seien – so die Aussage des damaligen Industriegruppenleiters Glas in der IG Chemie – im Wesentlichen erst in den Jahren 1989/1990 weggefallen. Protokoll Gespräch zwischen BMWi und WMF, 4. Dezember 1981, in: BArch, B 102/2238101; Transkript Interview der Autorin mit [Torsten Tiegel], 29. Mai 2014, im Besitz der Autorin, S. 8f.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

den Glaszentren in der Tschechoslowakei und Polen oder auch in Thüringen und der Lausitz, die auf eine jahrhundertealte Tradition der Glasherstellung und hohe fachliche Kompetenz zurückgreifen konnten, vor allem aufgrund der Qualität ihrer Produkte.101 Die staatssozialistischen Mundglasproduzenten hatten eine Reihe über das Preisniveau hinausreichende Wettbewerbsvorteile vorzuweisen, die in der Problematisierung der »Billigimporte aus dem Osten« in der Bundesrepublik gleichwohl nicht zur Sprache kamen.102

1.2 Technik und Arbeit. Die Produktion als soziale Praxis Lärm, Hitze und Hektik prägten die Arbeit in einer Mundglashütte. Vor allem die Tätigkeiten der Glasmacher vor den Schmelzöfen konnten außenstehende Betrachter faszinieren; mitunter wurde eine »Hütte« gar als »schicksalsgewärtiges und schicksalsgestaltendes Wesen« mystifiziert.103 Diese Eindrücke beruhten auf dem spezifischen Zusammenwirken von Mensch, Technik, Werkstoff und Werkstück, das generell eine Systematisierung der Formgebungsprozesse in der Glasherstellung erschwerte.104 Das Formen des heißen Glases vor den Öfen erforderte sehr viel Geschicklichkeit und galt als die prestigeträchtigste Arbeit in einer Mundglashütte – sie war indes nur eine unter etwa 60 anderen, eng aufeinander bezogenen Tätigkeiten. Neben den Arbeitsabläufen in der Hütte werden im Folgenden auch jene in den weiterverarbeitenden, veredelnden und produktionsunterstützenden Abteilungen dargestellt, um die unterschiedlichen Arbeits- sowie Handlungsbedingungen der Beschäftigten erfassen und die betrieblichen Arbeitsbeziehungen und Machtverhältnisse konturieren zu können. Die Produktion in der Glashütte Süßmuth – die in den Grundzügen jener in den Vergleichsunternehmen entsprach – gilt es daher als eine soziale Praxis zu analysieren.105

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Das galt vor allem für Glas aus der ČSSR. Siehe Verena Wasmuth, Tschechisches Glas. Künstlerische Gestaltung im Sozialismus, Köln 2016. Der Großteil der Branchenliteratur übernimmt unhinterfragt die zeitgenössischen Darstellungen der Unternehmer bzw. Branchenvertreter von der vermeintlich unlauteren Konkurrenz aus dem Ostblock. Siehe bspw. Gebhardt, Glasindustrie (s. Anm. 14), S. 77; Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 11), S. 75f.; Wilfried van Loyen, »Werbung und Verkaufsförderung«, in: Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 23), S. 182. Georg Rendl, Die Glasbläser von Bürmoos, Wien 1951, S. 196; Ebenso Richard Süßmuth, »Kapitel 1: Das Wesen des Glases«, in: Glas und Gläser, Köln 19592 , S. 7–11. Die Atmosphäre einer Mundglashütte inspirierte auch Gerhart Hauptmann, Und Pippa tanzt! Ein Glashüttenmärchen in vier Akten, Berlin 1906. Mit »Hütte« ist im Folgenden die Abteilung einer Glashütte gemeint, in der die Schmelze und Formung des Glases stattfand. Siehe Günther Nölle, Technik der Glasherstellung, Stuttgart 19973 , S. 140f. Siehe Thomas Welskopp, »Produktion als soziale Praxis. Praxeologische Perspektiven auf die Geschichte betrieblicher Arbeitsbeziehungen«, in: Knud Andresen et al. (Hg.), Der Betrieb als sozialer und politischer Ort. Studien zu Praktiken und Diskursen in den Arbeitswelten des 20. Jahrhunderts, Bonn 2015, S. 29–52.

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Teil I: Die Entstehungsbedingungen der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Abbildung 1: Fertigungsprozess und Arbeitsabläufe in der Glashütte Süßmuth

Quelle: Grafik der Autorin

Zur Beschreibung der verschiedenen Arbeitsschritte und der hierbei angewandten technischen Vorrichtungen wird auf die von Akoš Paulinyi vorgeschlagene Systematisierung von Technik zurückgegriffen. Produktionstechnik ist demnach in Energie-, Stoffund Informations-Technik zu unterscheiden, denen Techniken der Ortsveränderung (Transport) und Speicherung (Lagerung) von Stoff, Energie und Informationen zur Seite stehen.106 Die Stoff-Technik unterteilt Paulinyi in Techniken der Stoffgewinnung, mit denen entweder natürlich vorhandene Werkstoffe abgebaut oder in einem Prozess der Stoffumwandlung hergestellt werden, und in Techniken der Formveränderung von Stoffen, die »aus der Ausgangsform eines Stoffes eine im Wesentlichen geometrisch definierbare andere Endform« herbeiführen. Letzteres erfolgt durch die »technischen Handlungen« des Urformens, Umformens, Trennens oder Fügens, denen eine Bewegung zwischen dem zu gestaltenden Stoff (Werkstoff oder Arbeitsgegenstand) und dem gestaltenden Werkzeug (dem Arbeitsmittel) gemeinsam ist. Die formverändernde Technik kategorisiert Paulinyi wiederum in Hand-Werkzeug-Technik und MaschinenWerkzeug-Technik, je nachdem ob – unabhängig von der eingesetzten Energie-Tech-

106 Folgendes aus Akoš Paulinyi, Industrielle Revolution. Vom Ursprung der modernen Technik, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 14–29, 18, 21.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

nik – Halten und Führen des Werksstoffs bzw. Werkstücks vom Willen des Menschen abhängig ist oder von einer Arbeitsmaschine übernommen wird.107

Die Schmelze, Formung und Kühlung in der Hütte Das Besondere an der Produktion in einer Glashütte bestand darin, dass die vor der Formung des Werkstoffes notwendige Stoffgewinnung integraler Bestandteil des Fertigungsverfahrens war. Der Werkstoff Glas wurde mit einer »Verfahrenstechnik, die eine Veränderung der physikalisch-chemischen Eigenschaften der Stoffe herbeiführt«, in einem Prozess der Stoffumwandlung hergestellt, dem sich Ur- und Umformung sowie Kühlung zeitlich unmittelbar anzuschließen hatten.108 Die Hütte mit den Schmelzöfen im Zentrum war hinsichtlich der Beschäftigtenzahl und des Investitionsvolumens der mit Abstand größte Arbeitsbereich des Unternehmens. Diese Öfen waren die kapitalintensivste Einrichtung und zugleich neuralgische Stelle im Produktionsablauf. Die Fehleranfälligkeit in ihrer Bedienung war – aus noch aufzuzeigenden Gründen – ebenso wie das hiermit verbundene unternehmerische Risiko relativ hoch: Nicht selten gefährdeten Brände in der Produktionsstätte die Existenz von Unternehmen der Mundglasbranche.

Die Glasschmelze in Hafenöfen Hinsichtlich der Schmelzöfen konstatiert Rolf-Jürgen Gleitsmann der Glasbranche eine enorme Variationsbreite regional-, produkt- und produktionsspezifischer Differenzierungen, wobei »selbst zur Erzeugung von Glasprodukten des gleichen Typs nicht notwendigerweise identische Ofenanlagen verwendet« wurden.109 In der Glashütte Süßmuth und den Vergleichsunternehmen wurden zur Glasschmelze sogenannte Hafenöfen eingesetzt.110 Ihr Name leitete sich von den Ton- bzw. Schamottegefäßen ab, die über Ofenlöcher in das Innere des Ofens eingeführt und hier täglich mit dem Rohstoffgemenge befüllt wurden.111 An einem Zehn-Hafenofen konnten beispielsweise bis zu zehn verschiedene Glassorten gleichzeitig gefertigt werden. Hierin lag der grundlegende Unterschied und entscheidende Vorteil von Hafenöfen gegenüber den bei der maschinellen Glasfertigung angewendeten Wannenöfen, in denen jeweils nur eine Sorte Glas auf einmal geschmolzen konnte. Ein Wechsel auf Wannenöfen stand daher für die hier unter-

107 Akoš Paulinyi, »Kraftmaschinen oder Arbeitsmaschinen. Zum Problem der Basisinnovationen in der Industriellen Revolution«, in: Technikgeschichte 2 (1978), S. 173–188. Siehe Einleitung. 108 Paulinyi, Industrielle Revolution (s. Anm. 106), S. 18. In dieser Hinsicht wies die Glasindustrie Ähnlichkeiten mit der Eisen- und Stahlindustrie auf. Thomas Welskopp, Arbeit und Macht im Hüttenwerk. Arbeits- und industrielle Beziehungen in der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von den 1860er bis zu den 1930er Jahren, Bonn 1994. 109 Rolf-Jürgen Gleitsmann, »Zur Interdependenz von technischer Entwicklung und Arbeitszeitregelung im Glashüttenwesen des 18. und 19. Jahrhunderts«, in: Technikgeschichte 3 (1980) S. 217. 110 Die GHS und die Vergleichsunternehmen hatten in den 1950er/1960er Jahre zwei bis drei Hafenöfen in Betrieb. Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 23), S. 200; Glaswerke Ruhr an Heinrich Schneider, 26. Juli 1958, in: Archiv DIZ, Bestand 206. R 106/2; Ludwig Springer, Die Glasindustrie im Bundesgebiet unter besonderer Berücksichtigung des Kristall- und des Wirtschaftsglases, Trautheim 1955, S. 26. 111 Ein Hafen konnte »in der Regel einen Inhalt von 100 bis 500 kg« erfassen. Schaeffer et al., Glas (s. Anm. 5), S. 273.

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suchten Unternehmen nicht zur Debatte.112 Als Richard Süßmuth im Sommer 1947 auf dem Gelände der stillgelegten Glashütte in Immenhausen die vorgefundene Vorrichtung eines Wannenofens reparierte und in Betrieb nahm, tat er dies allein aufgrund fehlender finanzieller Mittel für einen Ofenneubau sowie mit Blick auf die nachkriegsspezifische Nachfrage nach gleichförmigen und kostengünstigen Glasprodukten von geringer Qualität.113 Bereits im Dezember 1948 nahm er den ersten und 1952 den zweiten ZehnHafenofen in Betrieb, zugleich wurde der Wannenofen stillgelegt.114 Das in den Häfen bei Temperaturen von bis zu 1.480 Grad Celsius zu einer zähflüssigen Masse geschmolzene Glas setzte sich aus drei elementaren Stoffen zusammen. Als glasbildende Substanz brauchte es erstens mit Quarzsand ein Silikat. Um dessen hohen Schmelzpunkt herabzusetzen, wurden zweitens Soda und Pottasche als Flussmittel hinzugegeben.115 Ebenfalls als Schmelzbeschleuniger dienten die bei der Weiterverarbeitung anfallenden Scherben, die bis zu 30 Prozent des Gemenges ausmachen konnten.116 Als Stabilisator fungierte drittens Kalk, das dem Glas »Härte, Glanz und Haltbarkeit« verlieh.117 Hinzu kamen je nach Glassorte diverse andere Stoffe zur Entfärbung oder Färbung.118 Das Erreichen der gewünschten Farblosigkeit oder Farbe erforderte spezielle Kenntnisse über die Eigenschaften, das Zusammenwirken und die Dosierung der verschiedenen chemischen Elemente sowie über die in der Schmelze jeweils unterschiedlichen Temperaturverläufe.119 Durch die Zugabe von Bleioxid erhielt das Glas nach dem 112

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In seiner Branchenuntersuchung skizzierte Otto Moritz hingegen den Prozess einer sukzessiven Verdrängung von Hafen- durch Wannenöfen. Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 11), S. 96. Siehe Kapitel 9.3. Bildbericht GHS, [1950] (s. Anm. 99); Baas und Ruhlig-Lühnen, Hüttenherren (s. Anm. 39), S. 10f. Baas und Ruhlig-Lühnen, Hüttenherren (s. Anm. 39), S. 11f. Laut Dauerausstellung des Glasmuseums Immenhausen erbrachten diese beiden Hafenöfen eine Tagesleistung von insgesamt sechs Tonnen geschmolzenem Glas. In einer Informationsschrift führte 1979 der damalige Betriebsleiter [Rudolf Woge] aus, dass an den mittlerweile in ihren Kapazitäten reduzierten Öfen täglich drei bis vier Tonnen entnommen und zwischen 2.500 und 3.000 Glasartikel gefertigt wurden. [Rudolf Woge], Herstellung des Glases, 1979, in: AGI. Im Gegensatz zu anderen Bereichen der Glasbranche, wo das traditionelle Flussmittel Pottasche gänzlich von Soda aufgrund seiner höheren Effizienz in der schmelzbeschleunigenden Funktion im 19. Jahrhundert abgelöst wurde, blieb es in den hier untersuchten Mundglashütten – um eine hohe Glasqualität zu erzielen – weiterhin ein zentraler Bestandteil des Glasgemenges. Paulinyi, Industrielle Revolution (s. Anm. 106), S. 153–155; Hannes, Bayerischer Wald (s. Anm. 29), S. 38. Ausstellungsbroschüre, Wiesenthalhütte. 20 Jahre Design in Glas, Schwäbisch-Gmünd 1977, S. 14. In das Gemenge für hochwertiges Wirtschaftsglas wurden vorrangig Scherben aus der eigenen Produktion hinzugegeben, die – um eine Verunreinigung der Glasschmelze zu vermeiden – zuvor gesäubert werden mussten. Keine Verwendung fand dagegen Alt- bzw. Recyclingglas, das aus Gründen der Rohstoff- und Energieeinsparung in anderen Teilbereichen der Glasbranche und vor allem für die maschinell in Wannenöfen produzierenden Glasunternehmen an Bedeutung gewann. Siehe Dispan, Glasindustrie (s. Anm. 74), S. 23. Hannes, Bayerischer Wald (s. Anm. 29), S. 38. Um ein klares, farbloses Glas zu erhalten und zu verhindern, dass das im Quarzsand enthaltene Eisenoxid einen Grünstich erzeugt, mussten Selen, Nickel, Kobalt und Braunstein beigeschmolzen werden. Für farbiges Glas wurden Kobalt-, Kupfer-, Nickel-, Eisen-, Silber- oder Goldverbindungen benötigt. Richard Süßmuth, Glas und Gläser, Köln 19592 , S. 75; Hannes, Bayerischer Wald (s. Anm. 29), S. 38. Schaeffer und Benz-Zauner, Hohlglas (s. Anm. 90), S. 136.

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Erkalten einen besonderen Glanz, der vor allem durch sich der Formung anschließende Veredelungsverfahren zur Geltung kam. Produkte aus Kristallglas, wie es bei Süßmuth gefertigt wurde, mussten entweder Bleioxid, Bariumoxid, Kaliumoxid oder Zinkoxid allein oder zusammen in Höhe von mindestens zehn Prozent enthalten. Bleikristall – wie es Hirschberg, Buder oder die Josephinenhütte anboten – benötigte einen Bleioxyd-Anteil von mindestens 24 Prozent.120 Die exakten Rezepturen der verschiedenen GemengeSätze gehörten traditionell zu streng gehüteten Betriebsgeheimnissen der Glashütten. Vor der Schmelze wurden die Rohstoffe zunächst zerkleinert und gemischt. Anschließend musste das Gemenge in zwei oder drei Etappen in die einzelnen Häfen eingelegt werden, um ein Aufschäumen und Überlaufen der Glasmasse zu vermeiden.121 Der Schmelzvorgang war unterteilt in die Rauschmelze, bei der sich die Rohstoffe miteinander verbanden, und in die Feinschmelze, bei der die in der Glasmasse noch enthaltenen Schlieren oder Bläschen beseitigt wurden.122 Anschließend musste die Glasmasse abstehen, damit sich Verunreinigungen am Boden der Häfen absetzen konnten. Erst nach dem langsamen Abkühlen auf eine Arbeitstemperatur von ungefähr 1.200 Grad Celsius entstand eine homogene, gleichmäßige Glasmasse. Diese Stadien der Glasschmelze liefen in Wannenöfen zeitgleich ab, in Hafenöfen hingegen nacheinander. Das Schmelzen der Rohstoffe beanspruchte hier ungefähr zehn Stunden und fand während der Nacht statt. Das Arbeiten im Schichtbetrieb war aus diesem Grund in einer Mundglashütte nicht möglich. Die Tätigkeit des für die Schmelze zuständigen Personals begann am späten Nachmittag und endete am frühen Morgen des folgenden Tages; dessen Arbeitszeit lag – in Abhängigkeit vom jeweiligen Verlauf des Schmelzprozesses – mit durchschnittlich zehn Stunden über dem Normalarbeitstag. Zu den »äußerst verantwortungsvollen« Aufgaben der Schmelzer gehörten die je nach Glassorte spezifische Zusammenstellung des Gemenges sowie die Überwachung des für den Schmelzprozess jeweils notwendigen Temperaturverlaufs in der Beheizung der Öfen.123 Auf ihre Anweisung hin führten die »Schmelzgehilfen« das in Wägen vor die jeweiligen Ofenöffnungen transportierte Gemenge mit Schaufeln in die Häfen ein.124 120 Diese Bestimmungen des Mindestgehalts an Bleioxyd (PbO) zum Schutz der Produktbezeichnungen Kristallglas und Bleikristallglas legte das Kristallglaskennzeichnungsgesetz 1971 fest, dass eine Verschärfung der bereits 1952 definierten Bezeichnungsvorschriften bedeutete. Bis 1971 war für die Bezeichnung Kristallglas ein PbO-Anteil von mindestens 6 Prozent, für Bleikristall ein PbO-Anteil von mindestens 18 Prozent notwendig. Gesetz zur Kennzeichnung von Bleikristall und Kristallglas vom 25. Juni 1971, Online: www.gesetze-im-internet.de/krglaskennzg/BJNR008570971.html; Rundbrief IHK Limburg über die Neuauflage der RAL-Bezeichnungsvorschriften, 11. November 1952, in: HWA, Abt. 9, Nr. 253. 121 Schaeffer et al., Glas (s. Anm. 5), S. 274; Wolfgang Trier, Glasschmelzöfen. Konstruktion und Betriebsverhalten, Berlin u.a. 1984, S. 246f. 122 Nölle, Technik (s. Anm. 104), S. 75–85. Für die Feinschmelze musste die Glasmasse in Wallung gebracht werden, was durch das Einwerfen eines wassergedrängten Holzstücks, das Hinzugeben eines Brocken Arsenik oder das Einführen von Wasserdampf über ein Eisenrohr in das geschmolzene Glasgemenge bewerkstelligt werden konnte. 123 Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 44. 124 In den von Hettinger et al. untersuchten Glashütten betrug das Gewicht des pro Etappe per Hand einzulegenden Gemenges 250 bis 350 Kilogramm plus 200 bis 300 Kilogramm Glasscherben. Theodor Hettinger, Christian Averkamp und B.H. Müller (Hg.), Arbeitsbedingungen in der Glasindus-

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Am Boden des Ofens befanden sich zwei Hohlräume, in denen sich eine Glasmasse ansammelte, die »beim Blasen oder beim Überwerfen des Gemenges über den Hafenrand« geschmolzen war.125 Diese sogenannten Glastaschen mussten regelmäßig geleert werden, da sie andernfalls »die Abgaskanäle [des Ofens] verstopf[t]« und hierdurch einen Brand verursacht hätten.126 Die Ofenmauer war dabei an einer Stelle aufzubrechen, die nach dem Entleeren der Glastasche wieder zugemauert wurde. In die Öffnung führten bis zu sechs Arbeiter eine Brechstange ein, mit der die Glasmasse am Ofenboden gelockert wurde. »Wie ein Lavastrom« wurde anschließend eine »lange, glühende Glaszunge« aus der Ofenöffnung herausgezogen. Aufgrund der hohen Hitzebelastung, der schmelztechnisch bedingten Temperaturschwankungen sowie des Chemikalieneinsatzes mussten die Häfen nach ungefähr zwölf Wochen ausgewechselt werden.127 Der Zeitpunkt war nicht exakt berechenbar, sondern deutete sich durch die Zunahme von Steinen in der Glasschmelze an. Darüber zu entscheiden, gehörte zur Aufgabe des technischen Leitungspersonals.128 Um die Kapazitäten so gut wie möglich auszunutzen, durften Häfen nicht zu früh gewechselt werden. Bei einem zu späten Wechsel drohte ein Hafenriss, der im schlimmsten Fall den gesamten Ofen zerstörte. Zudem benötigte der Hafenwechsel eine längere Vorbereitungszeit. Die Häfen mussten vor ihrer Einfahrt in die Öfen je nach Größe bis zu zehn Monate trocknen und anschließend einige Tage in sogenannten Temperöfen schrittweise auf eine Temperatur von 1.200 Grad aufgewärmt werden, damit sie im Ofen nicht zersprangen. Sowohl das Glastasche-Ziehen als auch das Hafen-Einfahren waren körperlich sehr anstrengende und unter hohen Temperaturen auszuführende Tätigkeiten.129 Die Schmelzöfen mussten permanent beheizt werden, um ein Auseinanderbrechen, das heißt die Zerstörung des Ofeninneren, zu verhindern. Ihre Haltbarkeit war aus den

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trie. Manuelle und maschinelle Hohl- und Kelchglasherstellung, Berlin u.a. 1986, S. 34. In den mit Wannenöfen produzierenden Wirtschaftsglashütten wurden Gemengezubereitung und -transport in den 1950er Jahren maschinisiert. In Mundglashütten mit Hafenofenbetrieb blieben diese Tätigkeiten aufgrund der großen Anzahl an Beschickungsstellen an den Öfen und der Vielzahl der in den jeweiligen Häfen zu schmelzenden Glasarten mit je spezifischen Mengenverhältnissen in der Rohstoffzusammenstellung weiterhin Handarbeit. Achim von Petery, »Gemengeanlage in Glashütten«, in: Glastechnische Berichte 7 (1961), S. 351–363; Arnold Schillmöller, »Rohstoffauswahl, Gemengebereitung und Transport in einem Hafenofenbetrieb«, in: Glastechnische Berichte 7 (1961), S. 348–351. Folgendes aus Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Pavel Marek], 2. September 1973, im Besitz der Autorin; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Pavel Marek], undatiert [1973/74], im Besitz der Autorin. In der GHS sei laut [Pavel Marek] jeden Abend eine der Glastaschen geleert worden. [Woge], Herstellung (s. Anm. 114); Trier, Glasschmelzöfen (s. Anm. 121), S. 253. Bis zum 19. Jahrhundert wurden die Häfen von den Glashütten noch selbst hergestellt. Die GHS bezog die Häfen von einer hierauf spezialisierten Firma im nordhessischen Großalmerode. [Marek], 2. September 1973 (s. Anm. 125), S. 2. »Man muss da immer so jonglieren mit der Zeit«, so beschrieb [Marek] die notwendige Aufmerksamkeit bei der Ofensteuerung und -kontrolle. [Marek], 2. September 1973 (s. Anm. 125), S. 3. Aufgrund der hohen Hitzestrahlung sei es bei beiden Tätigkeiten üblich gewesen, dass die Arbeiter Holzschuhe trugen, da sonstiges Schuhwerk geschmolzen wäre. Ebd., S. 2; [Marek], [1973/74] (s. Anm. 125), S. 3. Als »Knochenarbeit« beschrieben auch ehemaligen Buder-Beschäftigte die Tätigkeit des Hafen-Einfahrens. Raimann et al., 27. Mai 2013 (s. Anm. 95), S. 13.

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gleichen Gründen wie für den Hafenwechsel zeitlich begrenzt. Sie mussten alle fünf bis sechs Jahre einer Großreparatur unterzogen bzw. neu gebaut werden.130 Der betreffende Ofen war dann für mehrere Wochen der Produktion entzogen, da sowohl Großreparatur als auch Neubau ein langsames Ab- und Antempern erforderte. Für die Qualität der Produkte war die Instandhaltung bzw. die rechtzeitige Erneuerung der Öfen von immenser Bedeutung, da sich mit zunehmender Lebensdauer der Öfen deren Fehleranfälligkeit erhöhte. Diese regelmäßig notwendige Maßnahme stellte für die meist mittelständischen Glasunternehmen eine hohe Investition dar und erforderte eine langfristige Unternehmensplanung, denn – um eine Kostenhäufung und einen völligen Produktionsstillstand zu verhindern – durften die Erneuerung bzw. die Reparatur der Öfen nicht zum gleichen Zeitpunkt fällig werden.

Die Energiegewinnung

Abbildung 2: Generatorwärter bei der Arbeit

Quelle: Privatarchiv (a) Immenhausen

130 Die Angaben zur Lebensdauer der Hafenöfen variierten je nach Ofentyp und Anwendungsweise. Pfaender nennt für Hafenöfen eine Lebensdauer von fünf Jahren und für Schmelzwannen eine von acht Jahren. Laut Goes musste ein Hafenofen nach drei bis vier Jahren grundlegend erneuert werden. 1979 datierte der Süßmuth-Betriebsleiter die Lebensdauer der Hafenöfen auf sechs Jahre. Spätestens dann hatte eine Großreparatur und nach weiteren sechs Jahren ein Neubau des Ofens zu erfolgen, der damals ungefähr 300.000 DM kostete. Mit zwölf Jahren war folglich die maximale Nutzungsdauer erreicht. Heinz G. Pfaender, Schott-Glaslexikon, München 19894 , S. 41; Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 145; [Woge], Herstellung (s. Anm. 114).

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Kohle war seit dem 19. Jahrhundert der wichtigste Energieträger in der Glasbranche. Die Schmelzöfen sowie die Kühlaggregate wurden mit Generatorgas beheizt, das die Glashütten durch die Verbrennung von Braunkohle selbst herstellten. In der Glashütte Süßmuth erfolgte dies in zwei Generatoren, die sich in einem separaten Haus gegenüber dem Hüttengebäude befanden. Das Gas gelangte über ein unterirdisches Kanalsystem und unter Zuführung von Frischluft zu den Schmelz- und Kühlöfen in der Hütte. Jeweils zwei Generatorwärter bzw. Schürer schaufelten – auf Anweisung des für den periodischen Temperaturverlauf zuständigen Schmelzers – ständig Kohlen in die beiden Generatoren, um die entsprechenden Temperaturen in den Öfen zu erzielen und konstant zu halten. Auch die Tätigkeit der Generatorwärter war körperlich sehr anstrengend.131 Wie das Schmelzpersonal arbeiteten sie in durchschnittlich zehnstündigen Schichten. In den 1950er und 1960er Jahren lösten die Energie- und Lohnkostenentwicklung sowie neue Umweltschutzauflagen in der bundesdeutschen Glasbranche Diskussionen über einen notwendigen Wechsel des Energieträgers aus.132 Die Einschätzungen, welcher Brennstoff künftig an die Stelle von Kohle treten solle – ob die Beheizung auf Leichtoder Heizöl, Flüssig- oder Ferngas umzustellen war –, fielen unter Branchenvertretern höchst unterschiedlich aus.133 Als eine der ersten Mundglashütten hatte das Kristallglaswerk Hirschberg im Zuge der Standortverlagerung von Essen nach Allendorf bereits 1958 die Umstellung von Generatorgas auf Öl vollzogen. Die meisten Unternehmen wechselten ebenfalls zu Öl oder Gas, der alte Energieträger Kohle sei seit Mitte der 1960er Jahre aus der Branche weitgehend verschwunden gewesen.134 In der Glashütte Süßmuth wurde noch bis 1970 und in der Glashütte Eisch sogar bis 1977 mit Generatorgas geheizt. Die Beibehaltung der altbewährten Heiztechnologie war in beiden Betrieben auf standortbedingte Faktoren und das hohe Risiko zurückzuführen, das mit dem Brennstoffwechsel zum damaligen Zeitpunkt verbunden war.135 Der Brennstoffwechsel zog hohe Investitionen in den Neubau bzw. die Anpassung der Schmelz- und Kühlaggregate nach sich. Die

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Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 122. Wolfgang Trier, »Entwicklung des Energieverbrauchs der deutschen Glasindustrie«, in: Glastechnische Berichte 10 (1979), S. 227–228; Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 11), S. 111, 122; Gebhardt, Glasindustrie (s. Anm. 14), S. 92. Plädierte bspw. Hans Joachim Hirsch von der Ritzenhoff-Glashütte in einer Ausgabe der Glastechnischen Berichte für eine Umstellung auf Flüssiggas, berichtete Horst Kahl im gleichen Heft von den guten Erfahrungen mit Heizöl im Kristallglaswerk Hirschberg, während Hans Buschmann über mögliche Vorteile des zum damaligen Zeitpunkt in der Glasbranche noch unerprobten Brennstoffs Erdgas nachdachte. Hans Joachim Hirsch, »Beheizung eines Hafenofens der Rundofenbauart mit Flüssiggas«, in: Glastechnische Berichte 3 (1965), S. 92–98; Horst Kahl, »Beheizung eines Zehn-Hafen-Glasschmelzofens der Rundbauart mit Öl«, in: Glastechnische Berichte 3 (1965), S. 98–102; Hans Buschmann, »Erdgas in der Glasindustrie«, in: Glastechnische Berichte 3 (1965), S. 88–92. Hirsch, Beheizung (s. Anm. 133), S. 92. Immenhausen besaß ebenso wie Frauenau bis Ende der 1960er Jahre keinen Ferngas-Anschluss. Ein Brennstoffwechsel bedeute für Glashütten in diesen Orten daher zusätzliche Investitionen in den Bau einer Gaszuleitung oder in eine Anlage zur Flüssiggasaufbereitung. Bei Eisch dürfte zudem der bis Mitte der 1970er Jahre staatlich subventionierte Kohlebezug für Unternehmen im Bayerischen Wald dazu geführt haben, dass hier mit einem der letzten betrieblichen Kohlengasgeneratoren der Bundesrepublik geheizt wurde. Investitionsplan GHS 1966, gezeichnet von [Ludwig Hager], 22. April 1966, in: FHI, Schöf-1224; Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 71–73.

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enorme Unsicherheit bei der Wahl eines neuen Energieträgers hatte Richard Süßmuth auch durch die »Erfahrung anderer Hütten«, die »Untersuchungen der Hüttentechnischen Vereinigung der Deutschen Glasindustrie« oder nach Beratung durch »Branchenexperten« nicht überwinden können.136

Das Ur- und Umformen vor den Öfen Abbildung 3: Die Arbeit an den Öfen

Quelle: AGI

Beim Urformen entstehen »Stoffe mit festem Körper aus formlosen, beispielsweise flüssigen oder breiigen Stoffen«.137 Letztere fanden die Glasmacher bei ihrem täglichen Arbeitsbeginn um sechs Uhr morgens vor. Die über Nacht geschmolzene Glasmasse war zu diesem Zeitpunkt auf 1.180 bis 1.220 Grad Celsius abgekühlt und wurde am Ofen in einer Acht-Stundenschicht bis 15 Uhr verarbeitet. Die Urformung von Glas konnte in manuellen Blas-, Press- oder Schleuderverfahren erfolgen. Während in der Wiesenthalhütte alle drei Verfahren Anwendung fanden, bei Buder Hohlglas geblasen und gepresst wurde, erfolgte die Formung in der Glashütte Süßmuth nach der Stilllegung des Wannen-

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Seit Mitte der 1960er Jahre diskutierte Richard Süßmuth mit seinem technischen Leitungspersonal und externen Beratern die Vor- und Nachteile eines Brennstoffwechsels, 1968 entscheid er sich schließlich für eine schrittweise »Umstellung […] auf Ferngas unter Mitverwendung von Heizöl«. Für deren Realisierung fehlten Süßmuth jedoch die Investitionsmittel. Zitate aus Investitionsplan GHS 1967–1968, 30. März 1967, in: AGI; Richard Süßmuth an HLT, 26. Mai 1967, in: FHI, Schöf-1223; Notiz Richard Süßmuth, 4. Juni 1968, in: Privatarchiv [Müller]. Paulinyi, Industrielle Revolution (s. Anm. 106), S. 21.

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ofens zu Beginn der 1950er Jahre ausschließlich im Mundblasverfahren, das auch in den restlichen Vergleichsunternehmen zum dominierenden Formungsverfahren gehörte.138 Hierbei standen die Glasmacher und die ihnen zuarbeitenden Personen auf einer drei bis fünf Meter breiten und ungefähr einen halben Meter vom Fußboden abgehobenen Arbeitsbühne, die die Schmelzöfen jeweils umgab. Auf der Arbeitsbühne befanden sich Wassertröge, in der die zur Formung des heißen Glases eingesetzten Holzwerkzeuge gewässert wurden, um deren Haltbarkeitsdauer zu erhöhen.139 An den jeweiligen Ofenöffnungen, den sogenannten Werkstellen, arbeiteten dicht neben-, jedoch unabhängig voneinander kleine Gruppen, die in sich wiederum arbeitsteilig und entsprechend hierarchisch waren. Je nachdem, ob Krüge, Kelch- oder sonstiges Wirtschaftsglas hergestellt wurden, variierte die Organisation und der personelle Umfang einer Werkstellengruppe. In der Regel bestand diese aus drei bis sieben Personen. Unabhängig von der Form des Artikels stand die Arbeit des Kölbelmachers am Anfang der Glasformung. Mit der Glasmacherpfeife, einem ungefähr 1,6 Meter langem und dünnem Eisenrohr mit Holzgriff und Mundstück, nahm er eine nach Augenmaß zu bemessende, stets gleich große Menge der glühenden und zähflüssigen Glasmasse aus dem Ofen auf. Dieser 50 bis 150 Gramm schwere, an der Glasmacherpfeife hängende Glasposten wurde auf einer Walzplatte aus poliertem Stahl konisch gewälzt und durch das Hineinblasen von Luft zu einer kleinen Kugel, dem sogenannten Kölbel, vorgeformt.140 Unter ständigem Drehen der Pfeife kühlte der Kölbelmacher den Kölbel auf ungefähr 400 Grad Celsius ab und gab ihn mit dem Blasrohr an den Glasmachergehilfen bzw. einen angehenden Glasmacher, den sogenannten Einbläser, weiter. Der erkaltete Kölbel wurde von diesem erneut in den Ofen eingetaucht und unter ständigem Drehen mit einer neuen Schicht glühender Glasmasse überzogen.141 Anders als bei der Formung des Kölbels variierte das Gewicht des Glaspostens nun entsprechend des zu arbeitenden Artikels von »300 Gramm bei der Kelchglasfertigung bis zu 5.800 Gramm bei der Herstellung von Glasvasen und -karaffen.«142 Ein weiteres Mal wurde der Glasposten mit der Pfeife aufgeblasen und zwischendurch mit Hilfe eines in Wasser getränkten Holzlöffels, dem sogenannten Wulgerlöffel, in eine Kugelform gebracht. In einer unterhalb der Arbeitsbühne des Ofens stehenden Einblasform wurde diese Glaskugel anschließend vom Glasmacher zur endgültigen Größe aufgeblasen. Unter dem Druck des Atems wurde das

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Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 19), S. 558–561; Unternehmenschronik Buder (s. Anm. 20), S. 3; Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 144f.; Baas und Ruhlig-Lühnen, Die Form (s. Anm. 22), S. 8, 10. 139 Ausbildungsbericht [Ingrid Buchholz], undatiert [1961], in: Privatarchiv [Buchholz], S. 74. 140 Hettinger et al., Arbeitsbedingungen (s. Anm. 124), S. 81. 141 Im Gegensatz zu der hier beschriebenen »böhmischen Herstellungsmethode« fiel beim »rheinischen Verfahren« der Arbeitsgang einer nochmaligen Glasentnahme weg. Die personalaufwendigere »böhmische« Methode eignete sich für die Herstellung besonders »dünnwandiger Gläser mit einem Höchstmaß an Präzision«. Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 11), S. 134f. In der Glashütte Eisch sei mit der »halbrheinischen Produktionsweise« als einer Mischform von beiden Verfahren gearbeitet worden. Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 98. 142 Hettinger et al., Arbeitsbedingungen (s. Anm. 124), S. 102.

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Glas an die Wand der Einblasform gedrückt.143 Das permanente Drehen der Pfeife während des Blasens verhinderte, dass durch die zweiteilige Einblasform eine Naht am Glasartikel entstand.144 Die Einblasformen wurden in Mundglashütten üblicher Weise aus hartem Holz wie Birnen- oder Buchenholz und mitunter auch aus Eisen nach den jeweiligen Produktentwürfen selbst hergestellt.145 Holzformen nutzten sich zwar schneller ab und brannten durch die heiße Glasmasse mit der Zeit aus,146 konnten jedoch mit geringeren Baukosten hergestellt werden und ergaben »schöneres Glas«.147 Im Gegensatz zu den in der Herstellung aufwendigeren Eisenformen entsprachen Holzformen somit den Bedürfnissen einer Produktion in kleinen Serien von hoher Qualität mit häufigen Formwechseln. Unabhängig vom Material bestanden die Einblasformen aus zwei mit einem Scharnier verbundenen Hälften, die nach dem Einblasen zu öffnen waren. Diese Tätigkeit wurde in der Glashütte Süßmuth bis Anfang der 1960er Jahre von sogenannten Formenhaltern ausgeführt, die unterhalb der Arbeitsbühne den Glasmachern zu Füßen saßen. Neben dem Öffnen und Schließen waren sie auch für das regelmäßige Wässern der Holzformen zuständig, womit deren Haltbarkeit gesteigert wurde. Abbildung 3 veranschaulicht, dass vor allem die noch minderjährigen Auszubildenden diese Tätigkeit ausführten. Steigende Lohnkosten sowie der branchenweit virulente Nachwuchsmangel veranlassten Mundglashütten und so auch Richard Süßmuth zu Investitionen in die »Entwicklung und Weiterentwicklung von Formentritten«, um die Tätigkeit der Formenhalter einzusparen.148 Unmittelbar nach der Urformung des Glases schlossen sich am Ofen je nach Artikel verschiedene Tätigkeiten der Umformung an, mit denen die Form des Glases »bei Beibehaltung des Stoffzusammenhaltes« verändert wurde.149 Nach dem Einblasen wurden manche Glasartikel mit einem Zwackeisen weiter ausgeformt. Während die Formung eines Becherglases oder einer Vase an dieser Stelle in der Regel beendet war, schlossen sich bei der Herstellung von Kelchglas oder Krügen eine Reihe weiterer Formungsschritte

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In geringem Umfang wurde in der GHS auch frei, d.h. ohne Zuhilfenahme von Formen, gearbeitet. Dabei handelte es sich um hochwertige Unikat-Anfertigungen, die nicht in Serie produziert und verkauft wurden. Musterbuch GHS Nr. 7, undatiert [zweite Hälfte der 1940er Jahre], in: AGI. Bauer, Glas (s. Anm. 17), S. 29. [Woge], Herstellung (s. Anm. 114); [Buchholz], [1961] (s. Anm. 139), S. 79. Eine Holzform überdauerte 100 bis 300 Blasvorgänge und musste anschließend neu hergestellt werden. In der Flaschenglasindustrie führte Massenproduktion und erforderliche Präzision im Füllvolumen früh zur Umstellung auf Eisenformen. Schaeffer und Benz-Zauner, Hohlglas (s. Anm. 90), S. 52. So der GHS-Vertriebsleiter [Johann Elze] in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 205. Das Material Holz hatte den Vorteil, dass die durch die Berührung mit dem heißen Glas verkohlende Holzoberfläche eine »zum Glas hin nicht haftende Gleitschicht« bildete. Schaeffer und Benz-Zauner, Hohlglas (s. Anm. 90), S. 52. Arbeitsbogen zum Antrag von Richard Süßmuth, 2. Mai 1962, in: HHStAW, Abt. 502, Nr. 3579; Protokoll Interview der Autorin mit [Heinrich Berger], 21. März 2014, im Besitz der Autorin, S. 2. Zur Ablösung der Tätigkeit des Formenhalters durch einen zunächst mechanisch, später pneumatisch angetriebenen Tretkasten siehe Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 11), S. 154. Paulinyi, Industrielle Revolution (s. Anm. 106), S. 21.

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an. Diese wurden von Glasmachermeistern ausgeführt, die an der Spitze der Werkstellenhierarchie standen. Bei der Kelchglasfertigung saß der Meister in der Regel auf einem Stuhl und bekam von den Einbläsern die Glasmacherpfeife mit dem eingeblasenen Glasartikel zugereicht.150 Er zog aus dem noch heißen Rohglaskörper den Stiel und modellierte den Fuß des Kelchglases, wobei ihm sogenannte Kaierer (Stiel- und Fußanfänger) zuarbeiteten. Mit bis zu sieben Personen war die Personalintensität an Kelchglaswerkstellen am höchsten und der Grad der Arbeitsteilung am ausgeprägtesten.151 Am anspruchsvollsten war die Fertigung von Krügen, wofür es zwei erfahrene Glasmacher mit hoher Geschicklichkeit brauchte. Diese nahmen den glühenden Glaskörper von der Pfeife mit einem Eisenstab (dem Hefteisen) auf, um ihn unter mehrfachem Aufwärmen in einem kleinen Ofen (der sogenannten Auftreibtrommel) zu bearbeiten. Mit einer Eisenschere wurde der Rand des Kruges ausgeschnitten und der dabei entstehende Ausguss mit einem Holzstab unter ständigem Drehen des Hefteisens aufgetrieben, das heißt gerundet. Anschließend wurde ein länglich geformtes Glasstück als Henkel angesetzt, die ein Henkelmacher dem Krugglasmacher zureichte.152 Die Tätigkeiten des Umformens konnten nur bei einer bestimmten Temperatur des Glases ausgeführt werden und mussten schnell hintereinander erfolgen, um zu verhindern, dass durch das Abkühlen das Werkstück nicht mehr verarbeitet werden konnte. Die Schwierigkeit bestand folglich in der »ständigen Gradwanderung zwischen Abkühlen und Erwärmen des Glaspostens [in Trommelöfen], um die für den jeweiligen Formgebungsprozess erforderliche Viskosität zu erreichen.«153 Pro Schicht konnte eine Werkstelle – je nach Artikel – zwischen 250 bis 600 Stück fertigen.154 Da der Temperaturverlauf in Hafenöfen schmelzbedingten Schwankungen unterlag und sich dadurch die Glasqualität veränderte, konnten Glasmacher über den Tag nicht den gleichen Artikel herstellen, sondern mussten mindestens drei Mal die Form wechseln. Die Anweisungen hierzu kamen von den für jeden Ofen ernannten Hüttenmeistern, die als gelernte Glasmacher in der Betriebshierarchie zwischen dem Betriebsleiter und den Werkstellenmeistern standen. Die Hüttenmeister waren für die personelle Zusammensetzung und Überwachung der Ofenbelegschaften, die permanente Beobachtung der Glasqualität in den Schmelzöfen und des Kühlvorgangs in den Kühlöfen (hinsichtlich der Temperatur und der Kapazitätsausnutzung) zuständig, gemeinsam mit dem Betriebsleiter verteilten sie die aus dem Lager eingehenden Aufträge auf die Werkstellen und sie hatten in Absprache mit dem Schmelzer sowie den Facharbeitern in der Formenstube und der Schlosserei die spezifischen Bedingungen für die Produktion der jeweiligen Artikel an den Werkstellen zu gewährleisten.155

150 Schaeffer und Benz-Zauner, Hohlglas (s. Anm. 90), S. 46. 151 Musterbuch, [zweite Hälfte der 1940er Jahre] (s. Anm. 143); Schaeffer und Benz-Zauner, Hohlglas (s. Anm. 90), S. 44–51. 152 Siehe Darstellung in Musterbuch, [zweite Hälfte der 1940er Jahre] (s. Anm. 143). 153 Schaeffer und Benz-Zauner, Hohlglas (s. Anm. 90), S. 50. 154 Theodor Hettinger, Christian Averkamp und B.H. Müller (Hg.), Belastung und Beanspruchung an Arbeitsplätzen der Glasindustrie, Köln 1984, S. 108. 155 In der Steuerung und Kontrolle der Temperaturen in den Schmelzöfen löste der Hüttenmeister tagsüber den Schmelzer ab. Siehe Transkript Interview der Autorin mit [Horst Wilke], 31. Juli 2014,

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Das Eintragen und Kühlen

Abbildung 4: Einträger am Kühlband

Quelle: AGI

Die geformten und noch heißen Glasartikel wurden von sogenannten Einträger*innen mit einer Eisenstange von der Glasmacherpfeife bzw. dem Hefteisen abgeschlagen und anschließend mit einer Metallgabel von der Werkstelle zum Kühlofen getragen. Besonders vorsichtig mussten sie bei Kelchglas mit sehr dünnen Stielen sein, denn dieses sei »sehr empfindsam« gewesen. »Wenn man da einen verkehrten Schlag« ausführte – so erinnert sich [Gisela Ulbricht] –, sei es schnell zum Bruch gekommen.156 In den Kühlaggregaten wurde das heiße Glas bei einer Eingangstemperatur von 530 Grad Celsius unter langsam absinkender Temperatur abgekühlt, um Spannungen im Glas und späteren Bruch zu verhindern. Dauer und Art der Kühlung waren abhängig von der Wandstärke und Größe der Glasartikel. In den hier untersuchten Mundglashütten wurden die traditionell hierfür genutzten Kühlkammeröfen, die in der Regel im hinteren Bereich des Hüttengebäudes aufgestellt waren, im Laufe der 1950er Jahren um sogenannte Kühlbänder erweitert. Hierbei handelte es sich um Tunnelöfen, durch die in geringer Geschwindigkeit ein feuerfestes Transportband lief.157

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im Besitz der Autorin, S. 5f.; Ebenso Transkript Interview der Autorin mit [Ingrid Buchholz], 19. März 2014, im Besitz der Autorin, S. 2; [Berger], 21. März 2014 (s. Anm. 148), S. 3. Transkript Interview der Autorin mit [Gisela Ulbricht], 17. März 2014, im Besitz der Autorin, S. 1f. Diese Technik war schon in den 1930er Jahren bekannt. Richard Koch und Otto Kienzle (Hg.), »Glasöfen«, in: Handwörterbuch der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Stuttgart 1935, S. 538; Schaeffer et al., Glas (s. Anm. 5), S. 298f.

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Teil I: Die Entstehungsbedingungen der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

In der Glashütte Süßmuth stieg die Zahl der Kühlbänder von zwei Anfang der 1950er auf vier Ende der 1960er Jahre.158 Die Anschaffung von Kühlbändern, in denen vor allem kleinere Glasartikel wie Kelche oder Becher in ein bis zwei Stunden gekühlt wurden, brachte eine enorme Erleichterung mit sich, da die »anstrengende Arbeit des Beund Entladens der Kühlöfen« wegfiel.159 Große Glasartikel wie Beleuchtungskörper oder Bodenvasen wurden jedoch weiterhin in Kühlkammeröfen eingetragen, wo der Kühlprozess mehrere Tage dauern konnte.160 Am Ende des Kühlbands ergriffen angelernte Arbeiterinnen – die sogenannten Kühlbandabnehmerinnen – die Glasartikel und transportierten diese in Kisten in die weiterverarbeitenden Abteilungen.

Die Weiterverarbeitung

Abbildung 5: Arbeiter*innen in der Rauschleiferei

Quelle: Weltbild, 26. Juli 1972, S. 22

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HWMi an Richard Süßmuth, 2. August 1950, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 8977a.; Sanierungsplan, gezeichnet [Ludwig Hager], undatiert [Februar 1968], in: Privatarchiv [Müller]. Die Gral-Glashütte hatte 1955 drei Kühlbänder in Betrieb. Bei Eisch wurde 1959 das erste Kühlband aufgestellt. Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 23), S. 200; Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 61. 159 Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 61. Ebenso Protokoll Interview der Autorin mit [Günter Nowak], 10. November 2014, im Besitz der Autorin, S. 5. 160 [Buchholz], [1961] (s. Anm. 139), S. 75. Ende der 1960er Jahre waren in der GHS neben den vier Kühlbändern drei Kammerkühlöfen in Betrieb. Firmenbeschreibung GHS für Kaufinteressierte, Mai 1969, in: FHI, Schöf-1222, S. 3.

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Nach dem Kühlen wurden die Werkstücke in aufeinander folgenden Stoffformungstechniken des Trennens, bei denen sich der Stoffzusammenhalt des Glases verminderte, weiterverarbeitet.161 An »Absprengmaschinen« trennten die Sprenger*innen zunächst den Pfeifenansatz (die Kappe) vom Hohlglaskörper ab, indem sie den Glasartikel per Hand an einer kleinen Flamme entlangführten und somit die Öffnung des Glases (den Mundrand) herstellten. Die scharfen Ränder an den Glasöffnungen wurden anschließend durch verschiedene Verfahren bearbeitet. Beleuchtungsglas und sonstige starkwandige Artikel (wie Vasen oder Bowleglas) wurden von den Arbeiter*innen der Rauschleiferei per Hand auf waagerecht gelagerten, sich drehenden Eisenscheiben sogenannter Horizontalschleifmaschinen unter Hinzugabe von angeschlämmten Quarzsand verschliffen und poliert. Bei dünnwandigen Artikeln wie Kelch- und Becherglas erfolgten diese Vorgänge an Bandschleifanlagen mit vertikaler Drehung.162 Manche Techniken der Glasrandverarbeitung implizierten bereits einen veredelnden Arbeitsvorgang; beispielsweise wurde bei dem von Süßmuth in den 1920er Jahren entwickelten Rundrandschliff der Mundrand an einer »Abschmelzmaschine« zu einer rundgeschliffenen Kante verschmolzen, was die Widerstandsfähigkeit gegen Stoß erhöhte und so funktionale mit ästhetischen Ansprüchen verband.163 Süßmuth verkaufte auch Gläser mit lediglich polierten Rändern, die entsprechend kostengünstiger waren. Bei Krügen war der Vorgang des Absprengens nicht notwendig, da die Öffnung und der Rand bereits vor dem Ofen ausgearbeitet wurden. Mit einer Bodenkugel beschliff der sogenannte Kugeler lediglich die Haftstelle des Hefteisens am Boden des Kruges. Bei Flaschen wurde die Öffnung mit einer Diamantbohrmaschine verfeinert.164 Nach arbeitsintensiven Sortier-, Wasch- und Trockenvorgängen wurden die Glasartikel in Kisten entweder in die glasveredelnden Abteilungen oder ins Lager weitertransportiert.

Heiße und kalte Veredelung Nur ein Teil der Artikel wurde veredelt, wobei sich zwei Verfahrenstypen unterscheiden lassen. Die heiße Veredelung fand bereits während der Schmelze oder der Formgebung am Ofen statt. Um beispielsweise Craqueléglas (auch Eisglas genannt) herzustellen, wurde die Oberfläche des noch heißen Glaskörpers »mit feuchten Sägespänen oder scharfkörnigem Sand« verletzt, anschließend mit Wasser abgeschreckt.165 Das hierdurch zersprungene Glas erhielt nach dem erneuten Erhitzen im Ofen und Einblasen wieder eine glatte Oberfläche. Mit Nadeleinstichen im heißen Glasartikel konnte ein Bläschen-Dekor oder durch das Eintauchen einer Kartoffel in das Glasgemenge sogenanntes Schaumglas erzeugt werden.166 Die kalte Veredelung fand hingegen im Anschluss an die Kühlung und Weiterverarbeitung in »gut beleuchtete[n] Arbeitsräume[n]« statt.167 Das Feinschleifen,

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Paulinyi, Industrielle Revolution (s. Anm. 106), S. 21. Übersicht Organisation der GHS, undatiert [September 1970], in: AGI, S. 14. Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 145. Firmenbeschreibung, Mai 1969 (s. Anm. 160), S. 3. Willett, Die Glasindustrie (s. Anm. 15), S. 387. [Buchholz], [1961] (s. Anm. 139), S. 83. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 113.

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Teil I: Die Entstehungsbedingungen der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Gravieren, Polieren, Ätzen oder Sandstrahlen sind als abtragende Verfahren bzw. Techniken des Trennens von auftragenden Verfahren bzw. Techniken des Fügens zu unterscheiden, die wie das Bemalen, Bedrucken oder Bekleben den Stoffzusammenhalt vermehrten.168

Abbildung 6 und 7: Feinschleifer bei der Arbeit; Graveure bei der Arbeit

Quellen: Privatarchiv (a) Immenhausen; Dirk Reinartz, VISUM

Der Schliff war das »gebräuchlichste Verfahren zur Dekoration von Hohlgläsern«.169 Die Muster der Dekore wurden in der Glashütte Süßmuth von einer Anzeichnerin auf das Glas gebauscht. Entlang dieser Anzeichnung führte der Feinschleifer im Stehen und per Hand das Glas an die sich senkrecht drehenden Eisen- oder Steinscheiben der Schleifgeräte. Mit Holz-, Kork-, Filz- und Bürstenrädern wurde der Schliff anschließend blank poliert. Für kleinere Dekore waren die Werkzeuge des Glasschleifers zu grob, weshalb hierfür die Technik des Gravierens Anwendung fand. Mit Schleifrädchen aus Kupfer, Stein oder Diamant schnitt der Graveur im Sitzen das Dekor – ebenfalls nach Vorlagen, aber ohne Anzeichnung – in die Glasfläche. Als Schleifmittel diente beim Schliff nasser Quarzsand und bei der Gravur ein Gemisch aus Schmirgelstaub und Öl.170 Sowohl Schliff

168 Paulinyi, Industrielle Revolution (s. Anm. 106), S. 21. In der GHS erfolgte das Bedrucken und Bemalen der Glasartikel per Hand und damit in sehr viel aufwendigeren Verfahren als in großen Glaskonzernen, die mit maschinellen Siebdruckverfahren arbeiteten. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit zwei namentlich nicht bekannten Arbeiter*innen aus der Hohlglasmalerei, undatiert [August 1973], im Besitz der Autorin. 169 Willett, Die Glasindustrie (s. Anm. 15), S. 388. 170 [Buchholz], [1961] (s. Anm. 139), S. 78.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

als auch Gravur erforderten »großes Können und Gefühl, gute Augen und sichere, ruhige Hände«, wobei das Gravieren ein wesentlich arbeitsaufwendigeres Verfahren war und von Richard Süßmuth als »die schwierigste aller Veredelungstechniken für Glas« beworben wurde.171 Während die Glashütte Süßmuth Schliffe als Dekore für Glasartikel der Serienproduktion anbot, wurden Gravuren angesichts des hohen Endpreises im Verkauf ausschließlich als Auftragsarbeit ausgeführt. Durch das Polieren verstärkten sich die optischen Effekte von Kristallglas. Bis zu einem gewissen Grad konnten damit auch Kratzer und Fehler auf der Glasoberfläche ausgebessert werden. Beim Ätzen wurden die Glasflächen mit Flusssäure mattiert bzw. ein Muster in das Glas eingeätzt.172 Ein weiterer Veredelungsschritt fand in der Glasmalerei statt, in der Hohlgläser mit Transparent- oder Deckfarben bemalt wurden. Nicht zu verwechseln ist das Glasmalen als eine Technik der Veredelung von Hohlgläsern mit der gleichnamigen Veredelungstechnik von Flachglas. Letzteres wurde in Immenhausen auch angeboten, und zwar von einem gesellschaftsrechtlich formal von der Glashütte getrennten Unternehmen. Die Fensterglaswerkstatt war ein kunsthandwerklicher Betrieb, in dem Richard Süßmuth als Meister des Glasschliffs zusammen mit etwa fünf weiteren Glashandwerkern selbst tätig war. Zugekauftes Flachglas wurde hier individuell nach Kundenwunsch in aufwendiger Handarbeit durch Schliff, Bleiverglasung oder künstlerisches Verschmelzen zweier Glasplatten zu Diastral-Glas veredelt.173

Die produktionsunterstützenden Abteilungen In der Packerei wurden die fertigen Glasartikel ein letztes Mal kontrolliert, sortiert, gesäubert und verpackt, um sie anschließend entweder an die Auftraggeber*innen zu versenden oder einzulagern.174 In einer Mundglashütte gab es weitere, die Produktion unterstützende Werkstätten. In der Schreinerei bzw. Formenstube wurden die Einblasformen aus Holz hergestellt, repariert oder überarbeitet und aufbewahrt. Spezifisch ausgebildete Schreiner bzw. sogenannte Formenmacher drechselten hier an der Drehbank nach Schnittvorlagen die Konturen des Artikels als Negativ in eine Holzform, zum Überprüfen der Maße diente eine Papier-Schablone. Diese Tätigkeit erforderte ein »hohes handwerkliches Können, […] Vorstellungsvermögen und Formgefühl«, seit jeher bestimmten die Formenmacher »ganz wesentlich die Qualität der mit

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Musterbuch GHS Nr. 5, undatiert [Anfang der 1940er Jahre], in: mkp.Gl-A 1-Süss.5; Musterbuch, [zweite Hälfte der 1940er Jahre] (s. Anm. 143). Anfang der 1960er Jahre kam diese Technik in der GHS nur bei Beleuchtungsglas zur Anwendung. [Buchholz], [1961] (s. Anm. 139), S. 82. Richard Süßmuths glaskünstlerischer Verdienst sei es gewesen, die Verfahren für das Schleifen von Hohlglas erstmals auf die Gestaltung von Flachglas übertragen zu haben. Baas und RuhligLühnen, Die Form (s. Anm. 22), S. 7; [Johann Elze] in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 207; [Buchholz], [1961] (s. Anm. 139), S. 7–10. Das Verfahren zur Herstellung von Diastral-Glas, das im Bereich der Flachglasveredelung und im Bereich Beleuchtungsglas Anwendung fand, ließ sich Süßmuth patentieren. Broschüre zum 20-jährigen Jubiläum der GHS, 1966, in: FHI, Schöf-1202; Richard Süßmuth an HLT, 10. Juli 1967, in: FHI, Schöf-1223. Zur aufgrund der Zerbrechlichkeit der Produkte traditionell hohen Bedeutung der Verpackung siehe Bauer, Glas (s. Anm. 17), S. 30–32.

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den Formen hergestellten Gläser« mit.175 Da sie auch für die Aufbewahrung der zum Teil nach Kundenwunsch gefertigten Formen zuständig waren, verwalteten sie faktisch das »Gedächtnis der Glashütte«.176 Die Scharniere der Einblasformen und die Eisenformen wurden von den Schlossern der firmeneigenen Schlosserei geschmiedet, die ansonsten Reparatur- und Instandsetzungsarbeiten im gesamten Produktionsbereich und in den Werkswohnungen durchführten.

Abbildung 8: Formenmacher beim Drechseln

Quelle: Privatarchiv (b) Immenhausen

Mit der sogenannten Hofkolonne gab es in der Glashütte Süßmuth eine Beschäftigtengruppe, die für Reparaturarbeiten und sonstige temporäre Arbeiten – wie sie zum Beispiel bei der Anlieferung von Rohstoffen, beim Hafen-Einfahren oder Glastasche-Ziehen anfielen – herangezogen wurde. Bis Mitte der 1960er Jahre sorgte die sogenannte Hofkolonne vor allem für den kostengünstigen Auf- und Ausbau von Produktionsstätten und Werkswohnungen. Zeitweise soll sie zwischen 40 und 70 Personen umfasst haben; 1969 bestand sie nur noch aus fünf Arbeitern.177 Zu diesem Zeitpunkt beschäftigte Süß175 176

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Albrecht Kirsche, Zisterzienser, Glasmacher und Drechsler. Glashütten in Erzgebirge und Vogtland und ihr Einfluss auf die Seiffener Holzkunst, Münster 2005, S. 189, 191. Aus diesem Gründen konstatierte auch Georg Goes den Formenmacher eine »Schlüsselposition« in einer Mundglashütte. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 119f. Siehe Nölle, Technik (s. Anm. 104), S. 140. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Willi Voigt], 11. Oktober 1973, im Besitz der Autorin, S. 3; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Manfred Hübner], [Frank Weber], [Anna Thiele] und namentlich unbekanntem Betriebsratsmitglied, 26. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 520; Lohn- und Personalliste (GHS), 20. September 1969, in: FHI, Schöf-1222. Die Angaben über den Personalumfang der Hofkolonne variieren und dürften im Zusammenhang mit den in

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muth zudem zwei Arbeiter für die Betreuung des aus einem LKW und einem MercedesPKW bestehenden Fuhrparks, vier für die Reinigung des gesamten Betriebskomplexes zuständige Arbeiterinnen im Teilzeit-Arbeitsverhältnis sowie insgesamt drei sich rund um die Uhr im Schichtbetrieb abwechselnde Pförtner.178 Schließlich unterhielt das Unternehmen eine eigene Kantine mit – zumindest 1969 – einer fest angestellten Beschäftigten.

Arbeitsbedingungen und Betriebsorganisation Eine Gemeinsamkeit bei der Ausübung der verschiedenen Tätigkeiten in einer Mundglashütte bestand in der überwiegenden Anwendung von Hand-Werkzeug-Technik, die von den »persönlichen Fähigkeiten und der momentanen Disposition« der Arbeitenden abhängig war.179 Eine »relativ große Dispositionsfreiheit und Verantwortung« oder »gewisse Autonomie« im Fertigungsprozess einer Mundglashütte werden in Branchenuntersuchungen nur für die Schmelzer und Glasmacher bzw. generell für die Facharbeiter hervorgehoben.180 Doch auch beispielsweise die in der Weiterverarbeitung an sogenannten Maschinen tätigen angelernten Arbeiter*innen besaßen – allein vom Standpunkt der Mechanik aus betrachtet – die Kontrolle über die Bewegung zwischen Werkstück und Werkzeug. Der Begriff Maschine erweist sich hier daher als irreführend. So war von »Abspreng-« oder »Schleifmaschinen« die Rede, obwohl der Glasartikel von den Sprenger*innen oder den Rauschleifer*innen per Hand und lediglich das Werkzeug von einer technischen Vorrichtung gehalten und geführt wurde. Eine Ausnahme stellten die Kühlbänder dar, die wie auch die miteinander verbundenen Beheizungs-, Schmelz- und Kühlaggregate nicht der formverändernden Technik zuzuordnen und daher auch nicht als Hand- oder Maschinen-Werkzeug-Technik zu beschreiben sind. Die Abnahme des Werkstücks durch die Kühlbandabnehmerinnen erfolgte zwar manuell. Das Band gab hierfür – entsprechend der notwendigen Kühldauer der jeweiligen Glasartikel – allerdings die Geschwindigkeit vor. Dieser konnten sich die Arbeiterinnen an dessen Ende nur zu dem Preis entziehen, dass bei Nicht-Abnahme die Glasartikel zu Boden fielen und zerbrachen. Als weitere Gemeinsamkeit sind die schweren Arbeitsbedingungen anzuführen, die für einen Großteil der Beschäftigten in einer Mundglashütte vorhanden waren und von denen hier exemplarisch nur einige angeführt werden können.181 Die Glasmacher waren

Kapitel 1.4 dargestellten Baumaßnahmen temporär angestiegen sein. Aus den gleichen Gründen beschäftigte auch die WTH eine betriebseigene Baukolonne, die außerhalb von Bauphasen vier bis sechs Personen umfasste. Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 19), S. 349f. 178 Folgendes aus Lohn- und Personalliste, 20. September 1969 (s. Anm. 177). 179 Paulinyi, Kraftmaschinen (s. Anm. 107), S. 182. 180 Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 101f.; Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 44, 98. 181 Arbeitswissenschaftler*innen gingen bereits in den 1920er Jahren »von einem hohen Grundrisiko der Verunfallung« in der Glasbranche aus und bewerteten noch Mitte der 1980er Jahre die Gesundheitsbelastungen in Mundglashütten als überdurchschnittlich hoch. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 146, 146–156; Hettinger et al., Arbeitsbedingungen (s. Anm. 124); Hettinger et al., Belastung (s. Anm. 154).

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an den Öfen einer anhaltend hohen Hitzestrahlung ausgesetzt, die das Arbeiten vor allem im Sommer zu »einer ganz schön harten Sache« machten.182 Das Schmelzpersonal hatte extreme Temperaturschwankungen und »starke Hell-Dunkel-Kontraste« zu ertragen.183 Dessen Umgang mit Chemikalien wie Blei, Cadmium und Arsen barg ebenso hohe Gesundheitsrisiken in sich wie die Gefahr entweichender Generatorgase für die Generatorwärter.184 Die »stark gebeugte Oberkörperhaltung« und »zusätzlich aufzubringend[e] Anpresskraft gegen die Schleif- und Polierscheibe[n]« stellten eine besondere körperliche Belastung für Arbeiter*innen der Weiterverarbeitung dar, deren Augen hier mitunter ebenfalls von reflektierenden Effekten in Mitleidenschaft gezogen wurden.185 Die Lärmbelastung infolge des Einsatzes diverser Abspreng-, Schleif- und Bohrgeräte überschritt im gesamten Bereich der Weiterverarbeitung »zum Teil sehr deutlich den zulässigen Grenzbereich«.186 Das Arbeiten fand hier zudem – da die Gläser unter ständigem Wasserfluss bearbeitet wurden, um die Gefahr von Glasbruch oder -beschädigungen zu reduzieren – in einer feuchten Umgebung statt. Mit dem Heben und Tragen der Transportkisten hatten auch Nicht-Facharbeiter*innen körperlich sehr schwere Tätigkeiten auszuführen.187 Im Gegensatz zu den Glas formenden und veredelnden Facharbeitern übten die angelernten Beschäftigten eher monotone, gleichförmige Arbeiten aus, die ihnen weitaus geringere Möglichkeiten boten, die Schwere ihrer Arbeit durch eine kreative Tätigkeit oder eine entsprechend soziale und monetäre Anerkennung zu kompensieren. »Es ist ein unendlich Kreuz, Glas zu machen«, lautete ein altes Glasmacher-Sprichwort, das neben den widrigen Arbeitsbedingungen zugleich zum Ausdruck brachte, welche enormen Anstrengungen mit der Gewährleistung einer hohen Qualität der Endprodukte in einer Mundglashütte verbunden waren. Diese stand im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Verlauf der Glasschmelze, die oftmals – weil es sich hierbei nicht um einen mechanischen, sondern um einen physikalisch-chemischen Prozess der Stoffgewinnung handelte – mit einer Reihe unvorhersehbarer Unregelmäßigkeiten verbunden war. Ein fehlerfrei geschmolzenes Glas war abhängig von einer Vielzahl zusammenwirkender Faktoren, wozu unter anderem die Qualität der Rohstoffe oder des Energieträgers, der Zustand der Öfen, der Beheizungs- oder Belüftungsanlage zählten. Aufgrund der Vielfalt zeitgleich geschmolzener Glassorten mit jeweils spezifischen Gemenge-Zusammensetzungen und Temperaturverläufen war die Fehleranfälligkeit bei der Bedienung von Hafenöfen besonders hoch und erschwerten – im Gegensatz

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[Wilke], 31. Juli 2014 (s. Anm. 155), S. 4. Im Sommer lag die Arbeitstemperatur bei ca. 55 Grad Celsius. Die durchschnittliche Differenz zwischen Innen- und Außentemperatur betrug aufs Jahr berechnet ca. 40 Grad Celsius. [Woge], Herstellung (s. Anm. 114); Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 102. 183 Hettinger et al., Arbeitsbedingungen (s. Anm. 124), S. 38–40, 41. 184 Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 122. 185 Hettinger et al., Arbeitsbedingungen (s. Anm. 124), S. 290; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Helga Wermke], [Ria Ulrich], [Monika Weber], [Rosa Schrödter] und namentlich unbekanntem Kollegen, 2. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 2. 186 Hettinger et al., Arbeitsbedingungen (s. Anm. 124), S. 293. 187 [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 185), S. 6; Hettinger et al., Arbeitsbedingungen (s. Anm. 124), S. 66.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

zu Wannenöfen – eine zentrale Regulierung und Kontrolle. Die Schmelzöfen gaben somit in einer Mundglashütte den Rhythmus vor, der sich von hier aus auf alle sich der Glasschmelze anschließenden Arbeitsschritte auswirkte. Angesichts dieser Herausforderungen in der Stoffgewinnung, der Fragilität der im direkten Anschluss hieran geformten Produkte sowie der Anwendung von Hand-Werkzeug-Technik kam den Fähigkeiten und dem Erfahrungswissen, der Aufmerksamkeit und der Reaktionsgeschwindigkeit aller Beschäftigten – unabhängig von ihren formalen Qualifikationen – in einer Mundglashütte die allergrößte Bedeutung zu, um den Weg vom Rohstoff hin zu einem bruchsicher verpackten Glasartikel sicherzustellen. Aufgrund der aufgezeigten Besonderheiten entzog sich die Mundglasfertigung »einer strengen bürokratischen Kontrolle«.188 Betriebsführung und räumliche Anordnung der Arbeitsbereiche auf dem Betriebsgelände einer Mundglashütte entsprachen in erster Linie den praktischen Erfordernissen der Fertigung statt hiervon abstrahierenden Vorstellungen einer besonders effizienten und rationalen Form der Organisation von Arbeit und Technik, wie sie der Herausbildung von Manufakturen und Fabriken oder dem industriebetrieblichen Ordnungsdenken im 20. Jahrhundert zugrunde lagen.189 Die Hütte als dem Ort der Glasherstellung und -formung integrierte die Formenstube und Schreinerei und stellte ein gegenüber den restlichen Abteilungen abgeschlossener Bereich dar. Die Weiterverarbeitungs- und Veredelungsabteilungen waren in einem zur Hütte parallel stehendem Gebäude untergebracht. Verbunden waren beide durch einen überdachten Zwischenraum, in dem sich die Kühlbänder und die Sprengerei befanden. Aus Sicherheitsgründen war die Ätzerei in einem separaten Gebäude neben der Hüttenhalle ausgegliedert.190 Doch obwohl die Beschäftigten der verschiedenen Abteilungen räumlich getrennt voneinander arbeiteten, waren sie durch die Weitergabe des Produkts und die vor-, zu- oder nachbereitenden Tätigkeiten stark aufeinander bezogen. Die Arbeit der Schmelzer oder der Hüttenmeister barg das Risiko einer temporär mangelhaften Glasqualität bis hin zur Zerstörung der Öfen in sich, falls sie bei der Zusammenstellung des Gemenges oder bei der Beobachtung der Temperaturverläufe unachtsam waren. Die Glasmacher waren hiervon ebenso abhängig wie vom Zustand der Formen, für deren Instandhaltung die Formenmacher verantwortlich waren. Für die Tätigkeit der Absprenger*innen machte es einen Unterschied, ob die Glasmacher große oder kleinere Pfeifenansätze an den Glasartikeln stehen ließen. Hatte ein Artikel auf dem Weg in die Weiterverarbeitung viele Kratzer erhalten, erschwerte dies wiederum die Arbeitsgänge des Schleifens oder Polierens. Fehler an einer Stelle im Arbeitsablauf konnten sich auf alle nachgelagerten Arbeitsschritte auswirken und im schlimmsten Fall die Existenz des gesamten Betriebs gefährden. Im Kontext der aufgezeigten Arbeitsteilung und der noch zu 188 Johannes Laufer, »Berufsständische Traditionen und industrielle Produktion im 19. Jahrhundert. Überlegungen zu einer Kategorie ›ständische Lohnarbeiter‹ am Beispiel von Glashüttenarbeitern«, in: Hans-Jürgen Gerhard (Hg.), Struktur und Dimension. Festschrift für Karl Heinrich Kaufhold, Stuttgart 1997, S. 382. 189 Timo Luks, Der Betrieb als Ort der Moderne. Zur Geschichte von Industriearbeit, Ordnungsdenken und Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010. 190 Übersicht Betriebsgelände der GHS, undatiert [Ende 1950er/Anfang 1960er], in: AGI. Die Vergleichsunternehmen wiesen eine ähnliche Anordnung der Betriebsgebäude auf. Siehe bspw. Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 62; Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 19), S. 355–360.

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untersuchenden betrieblichen Machtverhältnisse verpflichtete somit vor allem das Produkt – und weniger eine zentrale Kontrolle durch das Leitungspersonal oder die Technik – die Beschäftigten zur Arbeitsdisziplin.

1.3 Süßmuthglas. Das Produkt als Medium form- und sozialgestalterischer Ansprüche »Man kann nicht alles auf einmal, aber wenn etwas Zeit bleibt, dann kann man nicht nur schönes Glas fertigen, sondern auch eine Glashütte aufbauen, die anders ist als andere Glashütten, und man kann Menschen formen und erziehen, die anders sind als andere Glashüttenarbeiter; und man kann mit neuen Menschen und einer neuen sozialen Gesinnung in einem neuen Werk auch neue Gläser formen. Der Weg dahin ist etwas länger, aber wenn er folgerichtig gegangen wird und wenn mir der liebe Gott noch ein paar Lebensjahre schenkt, dann gibt es noch einmal neue Süßmuthgläser aus einem neuen Geiste.«191 Richard Süßmuth und Süßmuthglas sind heute nur noch wenigen Glaskunstinteressierten ein Begriff, obwohl ihm in der Geschichte der Glasgestaltung eine nicht unbedeutende Rolle zukommt. Süßmuth (1900–1974) gehörte zu jenen Künstlern, die – wie Bruno Mauder (1877–1948), Wilhelm von Eiff (1890–1943) oder Wilhelm Wagenfeld (1900–1990) – die ästhetischen Impulse der Reformbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Gestaltung von Glas übertrugen.192 Zunächst hatte Süßmuth bei seinem Vater in der Penziger Adlerhütte eine Meisterausbildung zum Glasschleifer absolviert, an die er ein Studium an der Staatlichen Akademie für Kunstgewerbe in Dresden anschloss.193 Als einziger der genannten Glasgestalter gründete er im Jahr 1924 mit den »Werkstätten Richard Süßmuth – Glaskunst, Penzig in Schlesien« ein eigenes Unternehmen. Er hatte sich damit eine finanzielle Grundlage für seine künstlerische Tätigkeit geschaffen und zugleich eine Verbreitungsplattform für die von ihm entworfenen Produkte. Mit der Inbetriebnahme der stillgelegten Glashütte in Immenhausen im Jahr 1946 gelang es Süßmuth, seine Vorstellungen einer ganzheitlichen Produktgestaltung – vom Entwurf über die Herstellung, Formung und Veredelung von Glas »aus einem Guss«– vollends zu verwirklichen.194 Obiges Zitat von Richard Süßmuth veranschaulicht, dass das Produkt für ihn nicht nur Ware, sondern zugleich Medium form- wie sozialgestalterischer Ansprüche war,

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Richard Süßmuth, undatiert [Ende der 1940er/Anfang der 1950er], in: AGI; Abgedruckt in: Broschüre anlässlich Richard Süßmuths 60. Geburtstag, 1960, in: mkp.Gl-A 1-Süss.21. 192 Siehe Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6); Helmut Hannes, »Richard Süßmuth. Ein Bahnbrecher moderner Glasgestaltung«, in: Jahrbuch des Landkreises Kassel (1987), S. 175–179. 193 Richard Süßmuths Familie wies eine über mehrere Generationen zurückreichende Tradition des Glasmachens bzw. Glasschleifens auf. Friedrich-Karl Baas, Der Glasgestalter Richard Süßmuth von 1946 bis 1966, Immenhausen 1998, S. 1. 194 Zu den bereits in Penzig unternommenen Bemühungen, eine eigene Glashütte in Betrieb zu nehmen, siehe Margarete Süßmuth und [Johann Elze] in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 201 und 205f. Zitat aus Jubiläumsbroschüre 1960 (s. Anm. 191).

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

die er in seinem Unternehmen zu realisieren bemüht war und denen spezifische gesellschaftspolitische Vorstellungen zugrunde lagen. Nach 1945 waren diese keineswegs so neu, wie es Süßmuth anlässlich der Geschäftseröffnung am Nachkriegsstandort verkündete. Die Produkte selbst geben Auskunft über die Kontinuität jener Wertvorstellungen, die in der gestalterischen und unternehmerischen Praxis von Süßmuth untrennbar verbunden waren; sie prägten sowohl die Erfahrungen der Beschäftigten in seinem Betrieb als auch die Aura seiner Produkte in der Wahrnehmung der Konsument*innen. Gegenüber den Angeboten der Vergleichsunternehmen ist im Folgenden das Besondere von Süßmuthglas herauszuarbeiten.195

Angebot, Vertrieb und Vermarktung Im Jahr 1924 begann Richard Süßmuth in seinem Penziger Unternehmen Wirtschaftsglas nach den von ihm entworfenen Dekoren zu veredeln. Das Rohglas bezog er aus Glashütten der Region und des Bayerischen Waldes, seit Anfang der 1930er Jahre ließ er es auch nach seinen eigenen Formentwürfen anfertigen.196 Ende der 1920er Jahre erweiterte seine Firma das Angebot um Flachglas und Anfang der 1930er Jahre um Beleuchtungsglas.197 In Immenhausen griff Süßmuth diese drei Produktbereiche wieder auf, wobei er hier nun auch in die Produktion von Wirtschafts- und Beleuchtungsglas einstieg. Gemessen am Seitenumfang der Produktkataloge lag der Schwerpunkt in Penzig wie in Immenhausen auf Wirtschaftsglas aus hochwertigem Kristallglas, das in Serien veredelt bzw. gefertigt198 und über den Fachhandel sowie über freie Handelsvertretungen vertrieben wurde.199 In der Flachglaswerkstatt erfolgte die kunsthandwerkliche Gestaltung von Fensterglas ausschließlich in Einzelstücken und auf Bestellung. In Penzig erhielt Süßmuth vor allem von staatlichen Institutionen Aufträge für die Ausstattung öffentlicher Gebäude.200 In Immenhausen bediente er die damals sehr hohe Nachfrage von Kirchgemeinden. Die Anfertigung und Reparatur von kunstvollem Fensterglas stand im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau von während des Zweiten Weltkriegs zerstörten Kirchen bzw. dem Neubau von katholischen Kirchen in vor 1945 rein protestantischen Regionen.201 Beleuchtungsglas wurde ebenfalls nur als Auftragsarbeit für »bekannt[e] Firmen der Beleuchtungsindustrie und für Architekten« gefertigt und nicht unter der 195 196 197 198

Zu den Produkten der Vergleichsunternehmen siehe Kapitel 9.2. [Johann Elze] in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 204. Ebd., S. 42–44. Der Bezeichnung Serie hat im Angebot der Mundglashütten eine doppelte Bedeutung. In diesem Fall bezieht sie sich auf die Losgröße und die Produktion von mehreren Exemplaren eines Produktes der gleichen Art. Serie meint aber auch Garnitur, d.h. eine Reihe zueinander passender Produkte, die bspw. aus jeweils auf ein Getränk spezialisierten Trinkgläsern, einer Karaffe, Kerzenleuchtern, Schalen etc. bestehen konnte. 199 Unternehmensleitungen und Vertriebsangestellten der Mundglashütten bot sich v.a. auf der jährlichen Industriemesse in Hannover, den Frühjahrs- und Herbstmessen in Frankfurt am Main sowie den Kölner Einkaufstagen die Gelegenheit, den Kontakt zu Fachhändler*innen und freien Handelsvertreter*innen zu pflegen. [Buchholz], 19. März 2014 (s. Anm. 155), S. 3f. 200 Heinrich Fuchs in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 196. 201 Eine (nicht vollständige) Auflistung der Fensterglasarbeiten von Richard Süßmuth findet sich in Baas und Ruhlig-Lühnen, Die Form (s. Anm. 22), S. 31–34. Siehe zudem Bestand Flachglasaufträge

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Marke Süßmuthglas beworben.202 Der Export spielte für Süßmuth – trotz gegenteiliger Werbebehauptungen – eine eher untergeordnete Rolle.203 Der ökonomische Stellenwert der Produktbereiche kann angesichts fehlender Absatzstatistiken quantitativ nicht konkretisiert werden. Die Erinnerungen von Zeitzeug*innen sind diesbezüglich von gegenteiligen Einschätzungen geprägt und in den überlieferten Werbematerialien wurden nur jene Produkte hervorgehoben, die einer Außendarstellung der Firma als Qualitätsproduzentin zuträglich waren. Das von Süßmuths Unternehmen vertriebene bzw. beworbene Sortiment war – so zeigt es der Bereich Beleuchtungsglas – nicht identisch mit dem Produktionsprogramm.204 Den Produkten selbst maß Süßmuth eine wichtige Werbefunktion bei. Er behielt aufwendig gefertigte bzw. dekorierte Artikel im Angebot, auch wenn sie nicht kostendeckend verkauft werden konnten und quer finanziert werden mussten – allein, weil sie »dem Image« der Firma dienten.205 Von der Produktpolitik der Vergleichsunternehmen hob sich die Glashütte Süßmuth in zwei Aspekten ab: Zum einen betraf dies die Diversifizierung der Produktpalette um Flach- und Beleuchtungsglas, deren Erträge die Serienproduktion im Kernsegment Wirtschaftsglas subventionierten. Insbesondere die kunsthandwerkliche Veredelung von Fensterglas war gegenüber der Konkurrenz ein Alleinstellungsmerkmal, mit dem Süßmuth sehr hohe Einzelstückpreise realisieren und zugleich das Profil seiner Firma als Qualitätsproduzentin schärfen konnte.206 Der in seine Vermarktungsstrategie nicht eingebundene Bereich Beleuchtungsglas sicherte »über längere Zeit größere […] Aufträge« und bot zugleich die Möglichkeit, temporäre Qualitätsschwankungen in der Glasschmelze überbrücken zu können, da hierfür eine »hohe Glasqualität nicht erforderlich« war.207 Zum anderen wurde Süßmuthglas bis Ende der 1960er Jahre ausschließlich

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in: AGI. Neben Kirchen zählten auch »Privatleute« zu den Auftraggeber*innen. [Buchholz], [1961] (s. Anm. 139), S. 7. Jubiläumsbroschüre 1960 (s. Anm. 191). In den überlieferten Produktkatalogen wurde in der Regel kein Beleuchtungsglas beworben. Nur ein Katalog aus den Anfangsjahren widmete Beleuchtungsglas eine Seite, auf der besonders prominente Auftraggeber*innen wie bspw. das Bundeskanzleramt in Bonn oder die Westfalenhalle in Dortmund aufgelistet waren. Musterbuch, [zweite Hälfte der 1940er Jahre] (s. Anm. 143). Süßmuthglas wurde als »weltbekannt« beworben – »in über 50 Ländern auf 5 Erdteilen« sei es erhältlich gewesen. Der Anteil des Exports am Gesamtumsatz lag Mitte der 1950er Jahre bei knapp 15 Prozent, Ende der 1960er Jahre bei ungefähr 20 Prozent. Musterbuch GHS Nr. 14, undatiert [1960er Jahre], in: AGI; Stellungnahme HWMi, 9. Februar 1956, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 8977a.; Firmenbeschreibung, Mai 1969 (s. Anm. 160). Richard Süßmuth habe – sowohl in Penzig als auch in Immenhausen – nur widerwillig Beleuchtungsglas ins Angebot aufgenommen. Er integrierte diesen Produktbereich aber nicht in sein Marketingkonzept, da er hiermit eine geringere Qualität assoziierte. Protokoll Gespräch mit [Josef Lehmann] und [Johann Elze], 4. Januar 1994, erstellt von Friedrich-Karl Baas, in: AGI, S. 2. [Johann Elze] in Ebd., S. 3. Heinrich Fuchs in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6); Hannes, Süßmuth (s. Anm. 192), S. 178. Der langjährige Vertriebsleiter [Johann Elze] und die langjährige Vertriebsangestellte [Ingrid Buchholz] bezeichneten die Beleuchtungsabteilung als »das finanzielle Rückgrat« der GHS. Zitate von [Elze] aus [Lehmann] und [Elze], 4. Januar 1994 (s. Anm. 204), S. 2; [Buchholz], 19. März 2014 (s. Anm. 155), S. 10f.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

nach den Entwürfen von Richard Süßmuth gefertigt.208 In einer solchen Verbindung von Unternehmertum und Produktentwicklung sei, so der Glaskunsthistoriker Helmut Ricke, der geschäftsführende Inhaber der Wiesenthalhütte Klaus Breit mit Süßmuth vergleichbar gewesen.209 Auch die Produkte der Glashütte Eisch wurden hauptsächlich von Angehörigen der Eigentümerfamilie – hierunter der Studioglaspionier Erwin Eisch – entworfen.210 Weder in der Entwicklung noch in der Vermarktung waren die Produkte von Wiesenthal oder Eisch aber derart eng mit nur »einer gestalterisch alleinverantwortlichen Einzelpersönlichkeit« verbunden, wie dies bei Süßmuthglas der Fall war.211 Ebenso wenig gestattete Richard Süßmuth eine Beteiligung der Beschäftigten an der Produktentwicklung212 – was in der Glasbranche eine lange Tradition besaß und auch in einigen Vergleichsunternehmen, allen voran bei Eisch, üblich war.213

Visionen von der Guten Form Den Gestaltungsidealen des Deutschen Werksbunds von der Guten Form und damit einer material-, fertigungs- und zweckgerechten Produktgestaltung sah sich Richard Süßmuth – der 1925 in diese Vereinigung aufgenommen wurde – zeitlebens verpflichtet.214 Dem Deutschen Werkbund ging es nicht um das Propagieren einer bestimmten Ästhetik oder eines bestimmten Stils, sondern um die »Durchsetzung einer auf ethischen Werten beruhenden Gesinnung, aus der […] jegliche Produktion hervorgehen sollte.«215 Im Zentrum stand die Forderung nach Qualität – verstanden als »Ergebnis der Zusammenarbeit von Gestalter und Produzent« – sowie nach Schlichtheit und Sachlichkeit in der Produktgestaltung. Die Programmatik des Deutschen Werkbunds implizierte eine pädagogische Grundhaltung den Konsument*innen wie auch den Arbeitenden gegenüber, die in der gestalterischen und unternehmerischen Praxis von Richard Süßmuth auf spezifische Weise ausgeprägt war. Süßmuth wollte mit seinen Produkten zum guten Geschmack erziehen. Sein Wirtschaftsglasangebot legte einen bestimmten Gebrauch nahe bzw. antizipierte ein bürgerliches Konsummuster. Die einzelnen Artikel standen überwiegend im Kontext einer Serie, die – wie bei den meisten anderen Vergleichsunternehmen – der Vorstellung eines »gedeckten Tisches« entsprach, auf dem jedem Getränk ein eigenes Glas zugeordnet war. Dementsprechend verkaufte er gestalterisch aufeinander abgestimmte Wein-, 208 Allein im Bereich Beleuchtungsglas wurden die Produkte auch nach Entwürfen der jeweiligen Auftraggeber*innen gefertigt. Jubiläumsbroschüre 1960 (s. Anm. 191). 209 Klaus Breit erhielt für die von ihm entworfenen Gläser viel Anerkennung aus Fachkreisen, verkauft sie jedoch nicht unter seinem Namen. Helmut Ricke, »Klaus Breit. Unternehmer, Designer, Wissenschaftler«, in: Ders. (Hg.), Wiesenthalhütte. Design in Glas 1957–1989, München u.a. 2007, S. 8, 15–17. 210 Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 49f.; Hannes, Bayerischer Wald (s. Anm. 29), S. 114. 211 Zu diesem Selbstverständnis vieler Mitglieder des Deutschen Werkbunds siehe Christopher Oestereich, »Gute Form« im Wiederaufbau. Zur Geschichte der Produktgestaltung in Westdeutschland nach 1945, Berlin 2000, S. 89. 212 [Wilke], 31. Juli 2014 (s. Anm. 155), S. 4; [Buchholz], [1961] (s. Anm. 139), S. 77f. 213 Reinhard Haller, Geschundenes Glas. Brauchtümliches Glasmachen. Volkstümliche Gläser im Bayerischen Wald und anderen europäischen Glashüttenlandschaften, Grafenau 1985; Bauer, Glas (s. Anm. 17), S. 15. 214 Richard Süßmuth, »Kapitel 5: Gesetze der Formgebung«, in: Glas und Gläser, Köln 19592 , S. 34–36. 215 Folgendes aus Oestereich, Gute Form (s. Anm. 211), S. 78–92, 78, 84f., 88.

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Sekt-, Schnaps-, Likör-, Saft- oder andere Spezialgläser. Ansprechen wollte Süßmuth hiermit weniger die Distinktionsbedürfnisse einer kleinen Elite; seine Intension war es, mit hochwertigen und dennoch preiswerten Gläsern für den alltäglichen Gebrauch »alle Käuferschichten« zu erreichen.216 Die Konsument*innen, nach 1945 vor allem jenen aus den »neuen Schichten und Jahrgängen«, die auf »den Markt des gehobenen Bedarfs« traten, betrachtete er nicht als Individuen, deren Bedürfnissen es herauszufinden galt. Nachfrageveränderungen als Moden diffamierend, wollt er mit einer »ständige[n] und stilklare[n] Werbung« vielmehr »die Marke Süßmuthglas im Bewusstsein von Millionen veranker[n]«.217 Auch den »Werkvorgang« verstand Süßmuth »als erzieherisches Mittel«, wobei er das »den Arbeiter erziehende Prinzip« aus einem metaphysischen bzw. essentialistischen Materialverständnis ableitete.218 Im Glas sah er »besondere Kräfte [wirken], die außerhalb des Gebiets des Stofflichen liegen.«219 Dieses »eigentliche Wesen des Materials Glas« sei bei der Formung und Veredelung »immer mehr herauszuarbeiten«.220 Die »Schaffenden« – der Gestalter, der Unternehmer wie auch die Arbeitenden – müssten hierfür grundsätzlich ein »Gespür« besitzen.221 Allein um »der Entlohnung oder des Gewinnes willen« könne das Material »schöpferisch« nicht »bezwungen werden«; dazu benötige es einen Menschen, der »mit ganzer Hingabe wirkt und auch etwas von seiner Seele mit hineinlegt.«222 In seinem Betrieb wollte Süßmuth diesen »neuen Menschen« heranbilden bzw. die Arbeitenden – sowohl was deren handwerkliche Fähigkeiten als auch deren »geistige Haltung« betraf – dahingehend »formen«.223 Süßmuths über das Produkt hinausgehende sozialgestalterische Ambitionen korrespondierten mit einer organischen Vorstellung von der Hierarchie der sozialen Ordnung und Gemeinschaft im Betrieb, die dem »Wesen« des Glases zu entsprechen habe. Diese speiste sich auch aus seiner Prägung in der bündischen Jugendbewegung, seinen Überzeugungen als Katholik und Befürworter der katholischen Soziallehre sowie seinen gesellschaftspolitischen Anschauungen, die sich – wie noch zu zeigen ist – in ihrer metaphysisch artikulierten Vagheit zugleich als historisch flexibel erwiesen.224 216 217

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Jubiläumsbroschüre 1960 (s. Anm. 191); Hannes, Süßmuth (s. Anm. 192), S. 176f. Jubiläumsbroschüre 1960 (s. Anm. 191). Diskussionsbeitrag Richard Süßmuth auf dem V. Internationalen Glaskongress (Sommer 1959, München) im Anschluss an den Vortrag von Andries Dirk Copier, »Sind ästhetische Gesichtspunkte bei der Entwicklung von Glaswaren zu beachten?«, in: Glastechnische Berichte 32 (1959), S. 72. Richard Süßmuth (1932) zitiert in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 103. Richard Süßmuth (1932) zitiert in Ebd., S. 43. Richard Süßmuth, »Gestaltung des Glases aus dem Wesen des Materials und der Zeit«, in: Glastechnische Berichte 3 (1933), S. 101. Süßmuth, Das Wesen des Glases (s. Anm. 103), S. 10; Richard Süßmuth, »Deutsches Glas und was dazugehört«, in: Die Schaulade 11 (1933), S. 442; Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 43. Süßmuth, Deutsches Glas (s. Anm. 221); Süßmuth, Das Wesen des Glases (s. Anm. 103), S. 11. Süßmuth, Deutsches Glas (s. Anm. 221); Richard Süßmuth, [Ende der 1940er/Anfang der 1950er] (s. Anm. 191). Richard Süßmuth war Mitglied und in führender Funktion bei den Pfadfindern, schloss sich der Wander- und Jugendmusikbewegung (Wandervogel und Finkensteiner Bund) an und war in der katholischen Jugend bzw. im katholischen Jungmännerverband aktiv. Datensammlung »Richard Süßmuth und die Glashütte Süßmuth«, in: AGI, S. 1; Margarete Süßmuth in Scheiffele, Wagenfeld

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

Mit seiner Interpretation von der Guten Form wollte Richard Süßmuth – sowohl auf Seiten des Konsums als auf Seiten der Produktion – über die »Materie [Glas] den Menschen veredeln« und ihn »auf ein höheres Niveau bringen«.225 Mit einer solchen »soziale[n], auf Geschmacksbildung« ausgerichteten »prinzipiellen Haltung« und der an »Werten von formaler und handwerklicher Qualität« orientierten »ideellen Grundlinie« habe sich – so Helmut Ricke – Süßmuth wie auch Gralglas von »den meisten anderen größeren Hütten« der Wirtschaftsglasbranche unterschieden, die »vorrangig unter kommerziellen Gesichtspunkten geführt« worden seien.226 Diese Gegenüberstellung ist insofern irreführend, als der kommerzielle Erfolg des Glaskünstlers Richard Süßmuth unmittelbar auf jenen Grundprinzipien basierte. Eine Produktgestaltung entlang der Guten Form entsprach in der Konsumgüterindustrie generell den materiellen und ökonomischen Bedingungen der Produktion und gewährte zugleich – wie Anne Sudrow aufzeigt – eine wichtige Orientierung angesichts des »unternehmerischen Wissensdefizits« über die Präferenzen und das Verhalten anonymer Konsument*innen.227 Mit seinem metaphysischen Materialverständnis und der hiermit verbundenen organischen Vorstellung vom Sozialen vermochte Süßmuth zudem in seiner Unternehmensführung die aufgezeigten Besonderheiten in der Veredelung und Herstellung von hochwertigem Wirtschaftsglas zu berücksichtigen. Zugleich bestand hierin seine Anschlussfähigkeit, die er über die gesellschaftspolitischen Veränderungen hinweg als Künstler wie Unternehmer von den 1920er Jahren bis in die 1960er Jahre aufwies.

Kontinuität und Zäsur Seit Mitte der 1920er Jahre erhielt Richard Süßmuth – mit der Ausstellung seiner Gläser auf der Leipziger Grassimesse und der Breslauer Kunstmesse oder der Ehrenurkunde auf der II. Internationalen Kunstausstellung in Monza 1925 – zunehmend Anerkennung aus Fachkreisen.228 Bekannt wurde er vor allem für seinen »rationellen neuen Linearstil im Schliff« und die »Entwicklung der Techniken für dessen kostensparende Umsetzung«, denen sich laut Helmut Ricke bald auch andere Glasgestalter wie jene von Gralglas »schrittweise« angenähert hätten.229 In seinen Dekoren orientierte sich Süßmuth

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(s. Anm. 6), S. 198f.; [Johann Elze] in ebd., S. 203f.; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Frank Weber] und [Marie Schlüter], undatiert [1973/74], im Besitz der Autorin, S. 2. Margarete Süßmuth in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 201f. Nach Einschätzung von Helmut Ricke seien die Produkte von Gralglas denen von Süßmuth am nächsten gewesen. Helmut Ricke, »Gralglas. Ein Beitrag zur Glaskultur Europas«, in: Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 23), S. 190f. Anne Sudrow, »Der Typus als Ideal der Formgebung. Zur Entstehung der professionellen Produktgestaltung von industriellen Konsumgütern (1914–1933)«, in: Technikgeschichte 3 (2009) S. 191. Datensammlung Süßmuth (s. Anm. 224), S. 1; [Johann Elze] in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 204. Auch die 1925 erfolgte Aufnahme in den Deutschen Werkbund stellte eine Anerkennung der gestalterischen Leistungen von Richard Süßmuth dar. Zum »qualitätsverbürgende[n] Verfahren der Mitgliederaufnahm« siehe Oestereich, Gute Form (s. Anm. 211), S. 85. Ricke, Gralglas (s. Anm. 226), S. 186. Die Schwerpunktverlagerung auf eine dezente Dekorierung von hochwertigem Wirtschaftsglas bis hin zum dekorlosen Glas, wie sie bei anderen Glashütten und in der Glasfachschule Zwiesel unter der Leitung von Bruno Mauder zu beobachten war, stellt Scheiffele in einen Zusammenhang mit den Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise und den

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an geometrisch-abstrakten oder menschlichen Figuren, religiösen Symbolen oder Motiven aus der Natur.230 In der Formgebung griff er vor allem einfache Grundformen auf, die sich als Kugel- oder Tropfenformen aus dem Mundblasverfahren ergaben.231 Mit der Fertigung angemessener schlichter Formen und diese betonenden dezenten Dekoren grenzte sich Süßmuth von den kunstgewerblichen Traditionen des 19. Jahrhunderts, der Neigung zum Historismus oder zu prunkvollen Verzierungen ab.232 Süßmuthglas unterschied sich hierin von dem sehr aufwendig gravierten Bleikristall, wie es das Produktprofil von Hirschberg oder der Josephinenhütte zum Teil noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte. Weder die Weltwirtschaftskrise 1929 noch die Machtübergabe an die Nazis 1933 stellten für sein Unternehmen grundlegende Zäsuren dar. Aus dem Ein-Mann-Handwerksbetrieb von 1924 entwickelte sich ein Unternehmen von stetig wachsender Größe, das 1939 bereits 115 Beschäftigte umfasste.233 Für seine Produkte erhielt er in den Jahren 1931, 1934 und 1940 Diplome auf den Triennalen in Mailand, 1937 die Ehrenurkunde und Silbermedaille bei der Weltausstellung in Paris sowie 1938 die Goldmedaille bei der Internationalen Handwerksausstellung in Berlin.234 Als ein im Laufe der 1930er Jahre international bekannter Glaskünstler unterstützte Richard Süßmuth somit – wie andere Vertreter des Deutschen Werkbunds – die Repräsentation des NS-Regimes im Ausland.235 Im Inland kam er dessen Inszenierungsbedürfnis durch die Gestaltung kunstvoller Fenster für öffentliche Gebäude ebenso entgegen wie mit Wirtschaftsglas für den privaten Gebrauch. So war eine Glasvase mit der Gravur des Porträts von Adolf Hitler und der Landkarte des »Großdeutschen Reiches« Anfang der 1940er Jahre auf den ersten Seiten des Produktkatalogs abgebildet.236 »[D]urch die Ästhetisierung des Alltags [strebten die Nazis] eine

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neuen Richtlinien in der auf Aufrüstung ausgerichteten NS-Wirtschaftspolitik. Glashütten, denen es nicht gelang, ihre Produktion kostengünstiger zu gestalten, drohte die Schließung. Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 40–42, 149–157. Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 44f.; Baas und Ruhlig-Lühnen, Die Form (s. Anm. 22), S. 6. Diese Grundformen waren in der Geschichte des Glasmachens sehr verbreitet. Durch die Reformbewegungen erhielten sie seit Beginn des 20. Jahrhunderts neue Aktualität und wurden während des NS – bspw. von dem Gestalter Hermann Gretsch oder dem Künstler und Kunsthistoriker Walter Dexel – mit einer völkischen Bedeutung (als »der Volksgemeinschaft entsprechenden Formen«) aufgeladen. Siehe Schaeffer und Benz-Zauner, Hohlglas (s. Anm. 90), S. 26; Heinrich Fuchs in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 195; Hermann Gretsch, »Glas als Gebrauchsgegenstand«, in: Glastechnische Berichte 14 (1936), S. 273–279; Thomas Dexel, Gebrauchsglas. Gläser des Alltags vom Spätmittelalter bis zum beginnenden 20. Jahrhundert, München 19953 , S. 15f. Baas und Ruhlig-Lühnen, Hüttenherren (s. Anm. 39), S. 3. Als gelernter Glasschleifer war Süßmuth indes kein Verfechter der auch im Deutschen Werkbund virulenten Ablehnung jeglichen Dekors bzw. der Forderung einer »Form ohne Ornament«. Hannes, Süßmuth (s. Anm. 192), S. 176. Hannes, Süßmuth (s. Anm. 192), S. 176. Datensammlung Süßmuth (s. Anm. 224), S. 4. Siehe Sabine Zentek, Designer im Dritten Reich. Gute Formen sind eine Frage der richtigen Haltung, Dortmund 2009; Sabine Weißler, Design in Deutschland 1933–45. Ästhetik und Organisation des Deutschen Werkbundes im »Dritten Reich«, Gießen 1990. Richard Süßmuth gestaltete Fenster für »Rathäuser, Amtsgerichte, Arbeitsämter, aber auch Gebäude der Wehrmacht und der Luftwaffe«, wie Walter Scheiffele und Süßmuth selbst im Musterbuch Nr. 5 erwähnten. Zudem habe Süßmuth auch Glasdekore mit NS-Symbolik entworfen, berichtete seine damalige Sekretärin [Clara Höckl]. Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 145; Mus-

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bessere Identifikation mit dem Regime« an.237 Hierzu leistete Süßmuth seinen Beitrag, ohne sich in seinen form- und sozialgestalterischen Grundprinzipien umorientieren zu müssen.238 Süßmuth war kein Mitglied der NSDAP,239 hatte jedoch ihren Regierungsantritt begrüßt. Im November 1933 sah er in der »soeben vollzogenen Revolution« und der »Neugestaltung des Staatswesens« nicht nur eine »politische Angelegenheit«, sondern auch den Beginn »eine[r] wesens- und artgemäße[n] Formung des deutschen Menschen«, die in allen »Lebensgebieten« und damit auch »auf dem Gebiete der gestaltenden Arbeit« zu erfolgen habe.240 In seiner Tätigkeit wollte er daran mitwirken, eine »volksaufbauende, artgebundene Kunst und eine an gleiche Gesetze gebundene Wertarbeit [zu] schaffen«, die die Bezeichnung »deutsches Glas« verdiene. Der »Einsatz des ganzen Menschen, seine Verbundenheit mit den Wurzelkräften des Volkstums [und] sein Hingegebensein an das Werk« sei erforderlich, damit die »Kräfte von ›Blut und Boden‹ durch ihn hindurchstrahlen«. Für Süßmuth hatte es »nicht erst den Hitler-Aufruf zur Gemeinschaft [gebraucht]«.241 Seine aus dem »Wesen« des Glases abgeleitete organische Vorstellung von Gemeinschaft erwies sich als deckungsgleich mit jener der nationalsozialistischen »Betriebsgemeinschaft«, mit der sich das NS-Regime um die Integration der Arbeiterschaft in die »Volksgemeinschaft« bemühte.242 Auch Süßmuth bediente sich – gegenüber den Arbeitenden und Konsument*innen – der Symbolformel von der »deutschen Qualitätsund Wertarbeit«.243 Sein Penziger Unternehmen wuchs während der 1930er Jahre zu einem ansehnlichen Gebäudeensemble an, das mit seinen »hellen und sauberen« Betriebsund neuen Sozialräumen zum Waschen, Umkleiden und Aufenthalt sowie den Grünanlagen zur Erholung für die Belegschaft während der Pausen den vom Amt Schönheit der Arbeit der Deutschen Arbeitsfront (DAF) propagierten betriebs- und sozialpolitischen

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terbuch, [Anfang der 1940er Jahre] (s. Anm. 171); Protokoll Gespräch mit [Clara Höckl], 6. Februar 2001, in: AGI. Xenia Riemann, »Die ›Gute Form‹ und ihr Inhalt. Über die Kontinuität des sachlichen deutschen Designs zwischen 1930 und 1960«, in: kritische berichte 1 (2006), S. 55. Wenn Ricke es Karl Seyfang »positiv« anrechnet, dass er »kaum Zugeständnisse an den von den Nationalsozialisten propagierten neoklassizistischen Dekorstil« gemacht habe, »der in Nordböhmen und andernorts Schliff und Gravur beherrschte«, so ist wenig über seine politische Haltung ausgesagt. Ricke, Gralglas (s. Anm. 226), S. 186. E-Mail Bundesarchiv an Autorin, 3. Juni 2021. Folgende Zitate aus Süßmuth, Deutsches Glas (s. Anm. 221). Margarete Süßmuth in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 198. Michael Wildt, »Volksgemeinschaft«, in: Informationen zur politischen Bildung 314 (2012), S. 51–53. Richard Süßmuth (1936) zitiert in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 145. Zur Bedeutung der Arbeit für die »völkische« Mobilisierung und »Symbolik der Selbstrechtfertigung« der »Vielen« während des NS siehe Alf Lüdtke, »›Deutsche Qualitätsarbeit‹. Ihre Bedeutung für das Mitmachen von Arbeitern und Unternehmern im Nationalsozialismus«, in: Aleida Assmann, Frank Hiddemann und Eckhard Schwarzenberger (Hg.), Firma Topf & Söhne – Hersteller der Öfen für Auschwitz. Ein Fabrikgelände als Erinnerungsort?, Frankfurt a.M. u.a. 2002, S. 123–138; Alf Lüdtke, »›Ehre der Arbeit‹. Industriearbeiter und Macht der Symbole. Zur Reichweite symbolischer Orientierungen im Nationalsozialismus«, in: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993, S. 283–350.

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Richtlinien entsprach.244 Zusammen mit dem Angebot von Kultur- und körperlichen Ertüchtigungsveranstaltungen sowie der Förderung des betrieblichen Ausbildungswesens gelang es Süßmuth, sein Unternehmen als »Nationalsozialistischen Musterbetrieb« und als »Gau-Lehrwerkstätte« zu profilieren.245 Allein der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stellte in produktpolitischer Hinsicht eine Zäsur dar. Im September 1939 musste Richard Süßmuth sein zunächst als nichtkriegsrelevant eingestuftes Unternehmen temporär schließen, da ein Großteil der Belegschaft und auch er selbst zum Krieg gegen Polen eingezogen wurden.246 Nach seiner Freistellung vom Kriegsdienst 1940 nahm Süßmuth die Produktion wieder auf und begann nunmehr wichtige Aufträge für die Rüstungsindustrie zu erfüllen. Aus dem Glasveredelungsunternehmen wurde ein Zulieferbetrieb für Zeiss-Ikon, das optisches Rohglas zu Planparallelscheiben oder Panzerglasprismen schliff.247 Süßmuths Glas diente damit nicht nur einem ganz anderen Zweck. In seiner »Betriebsgemeinschaft« arbeitete nun ein Teil der Belegschaft unter physischem Zwang.248 Vom Anspruch einer Veredelung der Menschen durch den Konsum von und der Arbeit an der Guten Form seiner Produkte hatte sich Süßmuth weit entfernt. In ökonomischer Hinsicht war der Zweite Weltkrieg »für die blühenden Werkstätten« keineswegs »schmerzlich«.249 Der Jahresumsatz war von 250.000 RM zu Beginn der 1930er Jahre auf 2,5 Millionen RM in der ersten Hälfte der 1940er Jahre angestiegen.250 Im Jahr 1943 erweiterte er das Betriebsgelände um 10.000 Quadratmeter Land, das Süßmuth für den Bau neuer Lager- und Werkstattgebäude gekauft hatte.251

244 Süßmuth kam damit der Glashüttenverordnung von 1938 voraus oder er hatte diese umgehend umgesetzt. Diese verpflichtete zum »Bau von Aufenthalts- und Speiseräumen« oder von Umkleideräumen mit Duschen, was »durch den Kriegsbeginn allerdings selten realisiert wurde.« Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 151f. 245 Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 145–148; [Weber] und [Schlüter], [1973/74] (s. Anm. 224), S. 1–2. 246 Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 154. 247 Neben der Bearbeitung optischen Glases sei nur noch ein kleiner Bereich Pressglasveredelung für den Export aufrechterhalten worden. Richard Süßmuths Unternehmen gehörte damit zu den 53 Prozent der Glasfabriken, die als »kriegs- und lebenswichtige Betriebe« weitergeführt wurden und ihr Produktionsprogramm dementsprechend veränderten. Auch die Poschinger’sche Kristallglasfabrik in Frauenau oder Theresienthal stellten ihre Produktion auf Glasprismen für die Rüstungsindustrie um. Ebd., S. 152–155, 208–210; Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 62, 87; Haller und Pscheidt, Theresienthal (s. Anm. 17), S. 105. 248 Während des Kriegs arbeiteten in Süßmuths Unternehmen »polnische Fremdarbeiterinnen« und offensichtlich auch sowjetische Kriegsgefangene. Notiz Sonderbeauftragte für Schadensfeststellung im Regierungspräsidium Kassel, 8. Dezember 1966, in: BArch-LAA, ZLA 1/3 172 084; Tagebucheintrag Richard Süßmuth zitiert in Friedrich-Karl Baas und Dagmar Ruhlig, Glasveredelung in der Süßmuth-Hütte Immenhausen, Immenhausen 1994. 249 Zitat der gegenteiligen Darstellung aus Jubiläumsbroschüre, 1966 (s. Anm. 173). 250 Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 154, 205. 251 Insgesamt habe das Betriebsgelände in Penzig 24.000 Quadratmeter umfasst. Ebd., S. 154; Baas und Ruhlig-Lühnen, Die Form (s. Anm. 22), S. 9f.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

Abbildung 9: Kelchglasserie AE mit Strahlenschliff

Quelle: AGI

Im Februar 1945 wurde Süßmuths Unternehmen – um der herannahenden Roten Armee zu entgehen – vom schlesischen Penzig ins oberpfälzische Waldsassen verlegt.252 Mit Kriegsende stellte Richard Süßmuth die Verarbeitung von optischem Glas für die Rüstungsindustrie ein und verwendete – zunächst in Waldsassen, ab Juni 1946 in Immenhausen – die aus Penzig mitgebrachten Rohglasreste für zivile Zwecke.253 Bis zur Inbetriebnahme des ersten Schmelzofens im Sommer 1947 wurden hieraus Andachtskreuze oder Souvenirs für amerikanische Soldaten gefertigt, Planparallelscheiben zu Bieruntersetzern oder Tortenplatten und Panzerprismen zu Aschenbechern, Griffelschalen oder Seifenablagen umgeformt.254 Die materielle Kontinuität dieser ersten 252 Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 155; Baas und Ruhlig, Glasveredelung (s. Anm. 248), S. 11f. 253 Baas und Ruhlig, Glasveredelung (s. Anm. 248), S. 12f. 254 [Lehmann] und [Elze], 4. Januar 1994 (s. Anm. 204), S. 1; Baas und Ruhlig-Lühnen, Hüttenherren (s. Anm. 39), S. 18, 40f.

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Produkte steht sinnbildlich für die Beständigkeit der unternehmerischen Aktivität Süßmuths und einen Pragmatismus, mit welchem er die Produktion unmittelbar von Kriegs- auf Friedenszeiten umzustellen verstand. Nach Inbetriebnahme der Hafenöfen ließ er viele seiner früheren Produktentwürfe ausführen.255 Seine nunmehr als »weltbekannt« und »zeitlos schön« beworbenen Produkte wurden in den 1950er Jahren weiterhin mit vielfältigen Auszeichnungen honoriert.256 Hierzu gehörte auch die Kelchglasserie AE mit Strahlenschliff, die 1954 auf der Triennale in Mailand mit der Goldmedaille prämiert wurde und sich zu einem Verkaufsschlager der Firma entwickelte. Ähnlich nahtlos konnte sich Süßmuth mit der seiner Unternehmensführung zugrunde liegenden Gemeinschaftsideologie in den bald antikommunistisch und sozialpartnerschaftlich geprägten Diskurs der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft einfügen. Die »Volksgemeinschaft« sah Süßmuth – nicht wegen der NS-Verbrechen, sondern aufgrund der Mittäterschaft des »deutschen Volkes« an »der Ausrottung der Schlesier« – zwar als gescheitert an.257 Fortan wollte er wenigstens zur Erhaltung des »schlesischen Volkstums« und des katholischen Glaubens in der Diaspora beitragen. An die Stelle der »Volksgemeinschaft« trat die Gemeinschaft der »Heimatvertriebenen«, die implizit weiterhin völkisch imaginiert, wenngleich nunmehr vor allem religiös akzentuiert wurde. Sein Unternehmen in Immenhausen sollte Flüchtlingen aus dem Osten – das heißt nicht nur aus Schlesien, sondern auch aus dem Sudetengebiet oder der Sowjetischen Besatzungszone/DDR – eine »neue Heimat« sein.258 Der »Vereinzelung« und Ausbreitung des Kommunismus wollte Süßmuth hierdurch entgegenwirken, da er in Erstem einen günstigen Nährboden für Letzteres sah.259 Aufgrund seiner »Vertreibung« konnte er sich nach 1945 als Opfer und mit Verweis auf seine katholische Religionszugehörigkeit zugleich als eine Art »natürlicher« Oppositioneller des Faschismus präsentieren.260 Mit der Belegschaft wähnte er sich wiederum in einer »Schicksalsgemeinschaft«; es sei sein »größte[r] Wunsch [gewesen], dass aus einer

255 Siehe Übersicht in Baas und Ruhlig-Lühnen, Hüttenherren (s. Anm. 39), S. 41–50. 256 Die Triennalen in Mailand zeichneten Süßmuth 1951 und 1954 mit Silber- und Goldmedaillen aus. Goldmedaillen erhielt er ebenfalls auf der internationalen Kunsthandwerksausstellung in Madrid (1953), der Weltausstellung in Brüssel (1958) und auf der Internationalen Handwerksmesse in München (1958). Zudem wurde er 1951 bis 1953 und 1955 für die Good Design Show in New York, Chicago, und Boston ausgewählt. Ein »beträchtlicher Teil des Sortiments« sei laut Hannes 1955 in die Werkbund-Sammlung Deutsche Warenkunde aufgenommen und mit dem Prädikat Gute Form ausgezeichnet worden. Datensammlung Süßmuth (s. Anm. 224), S. 4; Hannes, Süßmuth (s. Anm. 192), S. 178. 257 Typoskript »Die Ausweisung der Schlesier. Die Tragödie an der Neiße«, Vortrag Richard Süßmuth, 20. August 1945, in: AGI, S. 7. »Das deutsche Volk hat die Ostdeutschen abgeschrieben. Das ist das Erschütterndste, was wir erlebt haben.« Richard Süßmuth an Hans Schütz, 19. Februar 1947, in: BArch, Z 18/74. 258 Richard Poppe, »Ein Ofen wird neu angeblasen«, in: Rundbrief von Richard Poppe, Dezember 1947, in: AGI, S. 7. 259 Süßmuth, 19. Februar 1947 (s. Anm. 257). 260 Typoskript Süßmuth, 20. August 1945 (s. Anm. 257), S. 6.

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Werksgemeinschaft [wie einst in Penzig] eine Lebensgemeinschaft wachsen möge« bzw. eine »Werksfamilie« entstehe.261

Produkte und Unternehmen als »Gesamtkunstwerk« Die Produkte und das Unternehmen bildeten für Richard Süßmuth ein »Gesamtkunstwerk«.262 Das Schaffen einer sozialharmonischen, widerspruchsfreien Gemeinschaft im Betrieb auf Basis des Prinzips von »Führer« und »Gefolgschaft« – sei es als »Lebensgemeinschaft« oder »Werksfamilie«, als Teil der »Volksgemeinschaft«, Gemeinschaft der »Vertriebenen« oder einer »aus dem Religiösen hergeleiteten Sozialordnung«263 – war für ihn eine wichtige Voraussetzung für die Gute Form seiner Produkte, wobei sich Süßmuth als Künstler und Unternehmer in beiderlei Hinsicht in der schöpferischen und damit zentralen Rolle des Gestalters sah. Seine gestalterischen Ambitionen beschränkten sich nicht auf die Produkte und sein Unternehmen. Vielmehr wollte er die Gesellschaft entsprechend seinen Wertvorstellungen – von »deutscher Qualitäts- und Wertarbeit«, der von den Arbeitenden erwarteten »rechten Werksgesinnung«, des »Gemeinsinns« sowie der völligen »Verbundenheit mit der Arbeit« oder der den Konsument*innen nahegelegten schlichten und bescheidenen Lebensführung – und seinem Verständnis von einer Entwicklung zum »Höheren« mitgestalten. In seiner Wertbeständigkeit lag der kontinuierliche Erfolg von Süßmuthglas in der Weimarer Republik, während der NS-Diktatur und in der Bundesrepublik begründet. Mit den gesellschaftspolitischen Verhältnissen veränderten sich indes die zugeschriebenen Bedeutungen: Wurden Süßmuths Produkte in den 1920er Jahren noch als innovativ und das Kunstgewerbe erneuernd begrüßt, standen sie in der Nachkriegszeit für einen Konservatismus und eine Rückbesinnung auf die Gestaltungsgrundsätze des Deutschen Werkbunds, die das »dunkle Kapitel« zwischen 1933 und 1945 als vermeintlichen Bruch mit den gestalterischen Traditionen vergessen machen wollten. Eine kritische Auseinandersetzung mit den vielfältigen Formen der Anbiederungen an das NS-Regime und dessen aktive Unterstützung fand bei Richard Süßmuth – ebenso wenig wie im sich reorganisierenden Deutschen Werkbund oder wie generell in der jungen Bundesrepublik – nicht statt.264 In den 1960er Jahren verlagerte sich der Fokus der ihm entgegengebrachten öffentlichen Anerkennung von seinen Leistungen als Produktgestalter auf sein im folgenden Kapitel aufzuzeigendes soziales und po-

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Typoskript »Der Heimatvertriebene als unternehmerische Kraft im Wiederaufbau«, Vortrag Richard Süßmuth am 8. November 1952 in der IHK Frankfurt a.M., in: HWA, Abt. 3, Nr. 4055; »Feierstunde vor dem Ehrenmal der Glashütte Süßmuth«, in: Hessische Nachrichten, 2. Juni 1956, in: FHI, Schöf-1224. 262 Zum Begriff siehe Anke Finger, Das Gesamtkunstwerk der Moderne, Göttingen 2006, S. 8. 263 Zur religiösen Herleitung der »Betriebsgemeinschaft« siehe Typoskript »Die soziale Frage aus der Sicht des Unternehmers«, Vortrag Richard Süßmuth für den Arbeitskreis Arbeit und Leben des DGB Kassel, 25. Oktober 1962, in: HHStAW, Abt. 502, Nr. 992, S. 5. 264 Oestereich, Gute Form (s. Anm. 211), S. 56.

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litisches Engagement als Unternehmer,265 das sich wiederum auch auf die Außenwahrnehmung seiner Produkte auswirkte.266

1.4 Unternehmensorganisation und -führung in der Glashütte Süßmuth

Abbildung 10: Luftaufnahme vom Betriebsgelände der Glashütte Süßmuth (1957)

Quelle: AGI

Richard Süßmuths form- und sozialgestalterische Ambitionen korrespondierten mit einer spezifischen Form der Unternehmensorganisation und -führung, einer umfassenden betrieblichen Sozialpolitik und einem über sein Unternehmen hinausreichenden ge265 Süßmuth erhielt den päpstlichen Orden Pro Ecclesia et Pontifice (1952), das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse (1953), die Ehrennadel der Schlesischen Landsmannschaft in Gold (1958), 1966 das Große Bundesverdienstkreuz und den Ehrensenatoren-Titel der Technischen Hochschule Darmstadt sowie 1969 das Schlesierschild der Schlesischen Landsmannschaft. Datensammlung Süßmuth (s. Anm. 224). 266 Ein Essener Pfarrer, der aufgrund einer Werbeanzeige im Schlesischen Volkskalender Fenster und Leuchten in Auftrag gab, war bspw. »besonders« stolz, dass Süßmuth »als schlesischer Landsmann uns so vorzüglich bedient« hatte. Bernhard Berg an Richard Süßmuth, 23. Februar 1967, in: AGI.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

sellschaftspolitischen Engagement. Sein gestalterischer Impetus war auch in der räumlichen Ordnung des Betriebsgeländes seiner Glashütte in Immenhausen deutlich. Seit der zweiten Hälfte der 1940er Jahre investierte Süßmuth am neuen Standort in den Ausbau seines Unternehmens, wobei ihm das frühere Firmenareal in Penzig als Vorbild gedient haben dürfte.267 In Immenhausen fand er die in der Mitte stehenden Hütten- und parallel dazu angeordneten Weiterverarbeitungsgebäude auf der einen sowie das Generatorhaus auf der anderen Seite vor. Das nördliche Ende des Betriebsgeländes ließ Süßmuth mit dem 1948 begonnenen Neubau einer Betriebsvilla zum angrenzenden Feld hin abschließen. In den beiden unteren Etagen befand sich das Flachglasatelier und in den beiden oberen die Wohnung der Familie Süßmuth. Am südlichen Ende wurde 1955 das Verwaltungsgebäude erneuert und 1958 um eine repräsentative, zweigeschossige und großflächig fensterverglaste Ausstellungshalle erweitert. Diesem Anbau gegenüber ließ er ein halbrundes Pförtnerhaus errichten, das das eingefriedete Betriebsgelände zur Stadt hin öffnete. Der Eingangsbereich war durch eine Grünfläche und eine von Sitzbänken umrahmte Teichanlage aufgelockert. Neugebaute Wohnsiedlungen und -häuser sowie ein 1964 fertiggestelltes firmeneigenes Hotel auf dem Gelände der 1956 zugekauften alten Bahnhofsgaststätte schlossen sich unmittelbar an die Produktionsstätte an.268 Der Betriebskomplex der Glashütte Süßmuth bildete in der Kleinstadt Immenhausen eine sozialräumliche Einheit. Die unter Denkmalschutz stehende Anlage ist noch heute bauliches Zeugnis der rasanten Aufwärtsentwicklung in der Nachkriegszeit.269

Informelle Strukturen einer zentralen Unternehmensorganisation Die Klarheit in der Anordnung des Betriebsgeländes fand in der Unternehmensorganisation nur wenig Entsprechung. Mit den »Werkstätten Richard Süßmuth« hatte Süßmuth für die Veredelung von Flachglas eine zweite Firma gegründet, deren gesellschaftsrechtliche Trennung von der »Richard Süßmuth Glashütte« weder in der Außendarstellung noch in der Unternehmensorganisation relevant war.270 Beide Firmen habe er wie ein Unternehmen behandelt.271 In der Kostenabrechnung und Preiskalkulation habe er weniger nach den einzelnen Unternehmensbereichen differenziert, sondern sie je nach Auftragslage querfinanziert. In der Unternehmensführung herrschte lediglich in einem Punkt Transparenz: Richard Süßmuth stand als alleiniger Geschäftsführer an der Spitze. Aus erbrechtlichen Gründen wandelte er die bis 1958 als Einzelfirma geführte Glashütte in eine Kommanditgesellschaft um, in der Süßmuth die Rolle des Komplementärs

267 Folgendes aus Übersicht Bauakten der GHS, 1947–1981, in: AGI; Baas und Ruhlig-Lühnen, Hüttenherren (s. Anm. 39), S. 10–13. 268 Zum Zeitpunkt der Luftaufnahme (Abbildung 10) waren das Ausstellungsgebäude und das Hotel noch nicht gebaut. Auch ist hierauf nur ein kleiner Teil der Werkswohnhäuser zu sehen. 269 Kristin Schubert, »Die ehemalige Glashütte ›Süßmuth‹ in Immenhausen«, in: Denkmalpflege & Kulturgeschichte 2 (2011) S. 39–40. 270 Von dieser zweiten Firma sind kaum Dokumente überliefert. Auch im Handelsregister konnte kein entsprechender Eintrag gefunden werden. 271 Folgendes aus [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 177), S. 16; Transkript Interview der Autorin mit [Ursula Müller], 13. Juni 2013, im Besitz der Autorin, S. 13.

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und seine Frau sowie seine drei Kinder die der Kommanditist*innen einnahmen.272 Einfluss auf die unternehmerischen Entscheidungen gewährte Süßmuth seinen Angehörigen jedoch nicht.273 Vielmehr war diese Rechtsform-Umwandlung Teil von Süßmuths langfristig angelegter Nachfolgeregelung. Da seine drei Kinder künftig das Unternehmen übernehmen sollten, legte er ihre Ausbildungswege fest: Die älteste Tochter hatte Betriebswirtschaftslehre zu studieren, um die kaufmännische Leitung, der Sohn Glastechnik an der Glasfachschule in Zwiesel, um die technische Leitung, und die jüngste Tochter Kunst, um die künstlerische Leitung des Unternehmens zu übernehmen.274 Die Nachfolge des Sohnes als Komplementär und Geschäftsführer wurde im Gesellschaftsvertrag ebenso festgelegt wie die in dieser Frage alleinige Entscheidungsgewalt von Richard Süßmuth.275

Abbildung 11: Unternehmensbereiche der Glashütte Süßmuth

Quelle: Grafik der Autorin

272 Die GHS führte Richard Süßmuth zunächst als eingetragener Kaufmann, ab 1949 als GmbH, ab 1951 als Einzelfirma und ab 1958 als Kommanditgesellschaft. Siehe HR-Auszüge in: Archiv AGK, HR A58, HR B 8, HR A 70/HR A 1011. 273 Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Hans und Ursula Müller], 2. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 3f. 274 Ebd., S. 1; [Müller], 13. Juni 2013 (s. Anm. 271), S. 4. 275 Gesellschaftsvertrag »Richard Süßmuth Glashütte Immenhausen KG«, 11. April 1958, in: FHI, Schöf-1224, S. 10.

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Mit der Vertriebs-, Verwaltungs- und Produktionsleitung sowie der von Angestellten bzw. Meistern jeweils ausgeübten Abteilungsleitung ließen sich unterhalb der Geschäftsführung zwei Hierarchieebenen unterscheiden, die sich im Bereich der Hütte mit den Werkstellenmeistern um eine weitere vertiefte.276 Die Leitungsposten seines Unternehmens besetzte Richard Süßmuth mit ihm nahestehenden Mitarbeitern aus dem Familien- oder engeren Bekanntenkreis, die ihre Funktionen in der Regel seit dem Unternehmensbeginn in Immenhausen ausübten und zum Teil schon in Penzig für ihn gearbeitet hatten. Die Vertriebsleitung lag bei Süßmuths früherem Penziger Prokuristen und langjährigen Freund [Johann Elze], mit dem ihn eine gemeinsame Zugehörigkeit zur Jugendbewegung verband.277 Sein Schwiegersohn, der Diplom-Kaufmann [Hans Müller], arbeitete seit 1960 – faktisch als Ersatz für seine Ehefrau – ebenfalls im Vertrieb.278 Die Leitung über das Fertigwarenlager hatte seit 1952 [Walter Albrecht] inne. Der aus Penzig stammende und seit Mitte der 1950er Jahre für Süßmuth arbeitende Schleifer [Willi Voigt] wurde 1964 zum Leiter des Magazins (das heißt des Rohstofflagers) befördert.279 Als Verwaltungs- und Finanzleiter war seit 1950 [Franz Büttner] tätig.280 Die technische Leitung – und damit die oberste Kontrolle über den gesamten Fertigungsprozess von der Schmelze bis zur Veredelung – übertrug Richard Süßmuth Anfang der 1950er Jahre seinem Bruder [Ludwig Hager].281 In der Weiterverarbeitung übten mit [Erich Peters] und in der Feinschleiferei mit [Josef Lehmann] zwei Personen abteilungsleitende Funktionen aus, die ebenfalls bereits in Penzig für Süßmuth tätig waren.282 Statt auf einer klar definierten Entscheidungshierarchie in formalisierten Strukturen basierte die Unternehmensorganisation in der Glashütte Süßmuth vor allem auf informellen Beziehungen. Dem auf Grundlage persönlichen Vertrauens ausgewählten Leitungspersonal übertrug Richard Süßmuth die volle Verantwortung über die jeweiligen Abteilungen ohne den Anspruch, sie darin zu reglementieren und zu kontrollieren.283

276 Ein Organigramm von der GHS liegt für die Zeit vor 1970 nicht vor. Abbildung 11 basiert auf den Angaben aus dem Lehrbericht von [Ingrid Buchholz] und aus den Unterlagen, die die Belegschaftsvertreter und sie unterstützende Experten während der Betriebsübernahme – im Bemühen, einen Überblick über die Abteilungen und Arbeitsabläufe im Unternehmen zu erhalten – zusammenstellten. [Buchholz], [1961] (s. Anm. 139); Unterlagen zur Vorbereitung der Betriebsübernahme (GHS), undatiert [1969/1970], in: FHI, Schöf-1222. 277 [Johann Elze] in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 203. 278 [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 273), S. 1. 279 [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 177), S. 1. 280 [Franz Büttner] in Protokoll Betriebsversammlung (GHS), 6. März 1970, in: FHI, Schöf-1221, S. 3. 281 [Ludwig Hager] arbeitete vor dem Zweiten Krieg als Betriebsleiter in der Penziger Adlerhütte und in der Nachkriegszeit zunächst in der Glashütte Hessisch-Lichtenau. Als diese 1953 in Konkurs ging, kam er und mit ihm ein großer Teil deren Belegschaft nach Immenhausen. [Ludwig Hager] an WDR, undatiert [1980], transkribiert von Friedrich-Karl Baas, in: AGI; [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 177), S. 7; Transkript Interview der Autorin mit Max Kleiner, 13. November 2014, im Besitz der Autorin, S. 17. 282 Baas und Ruhlig, Glasveredelung (s. Anm. 248), S. 8, 14, 18. Die personelle Besetzung der mittleren und unteren Führungspositionen konnte nicht vollständig rekonstruiert werden, da es sich um Beschäftigte der Statusgruppe der Angestellten handelte, über die so gut wie keine Personalunterlagen überliefert sind. 283 Siehe exemplarisch Richard Süßmuth an [Josef Lehmann], 17. Januar 1962, in: AGI.

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Dem Entscheidungsspielraum der leitenden Angestellten in ihren Zuständigkeitsbereichen waren Grenzen gesetzt, wenn sie von Süßmuths Unternehmenszielen abwichen bzw. diesen zuwiderliefen. Eine Mitsprache bei unternehmerischen Grundsatzfragen ließ er nicht zu. Stattdessen setzte er auf die Loyalität seiner leitenden Angestellten und erwartete, dass sie aus Eigeninitiative im Sinne des »Betriebswohls« tätig sind, dessen definitorische Bestimmung ihm vorbehalten blieb. Diese Form der Unternehmensorganisation war auf verschiedenen Ebenen funktional: Süßmuth konnte über die Nutzung des Erfahrungswissens der leitenden Angestellten auf Basis vertrauensvoller Beziehungen die Kosten der Informationsbeschaffung und Kontrolle möglichst geringhalten. Die familien- bzw. betriebsinterne Rekrutierung von Leitungspersonal besaß in den Arbeitsbeziehungen eine machtstrategische Bedeutung.284 Zudem entsprach diese Organisationsform dem von vielfältigen Unregelmäßigkeiten begleiteten Fertigungsprozess in einer Mundglashütte, der sich wiederum auf die Abläufe in nahezu allen Bereichen des Unternehmens auswirkte, und sie war auch Resultat eines schnellen Unternehmenswachstums.285 Die leitenden Angestellten hatten in enger Zusammenarbeit Verwaltung, Vertrieb und Produktion kontinuierlich an die Bedingungen einer rasant ansteigenden Nachfrageentwicklung angepasst; die Entscheidungsfindung in diesen Unternehmensbereichen und deren Abteilungen wurde durch permanenten persönlichen Austausch aufeinander abgestimmt.

Betriebliche Sozial- und Personalpolitik Betriebliche Sozialpolitik meint im Kontext einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sämtliche freiwillige Leistungen von Unternehmensleitungen, die – da tariflich nicht abgesichert – relativ willkürlich zum Zwecke der Betriebsbindung, Leistungsmotivation und Disziplinierung der Beschäftigten sowie mitunter auch aus Marketinggründen eingesetzt werden konnten.286 Die Glasbranche wies eine weit zurückreichende Tradition betrieblicher Sozialleistungen auf, die als Gewohnheitsrecht faktisch den Status nicht-monetärer Formen der Entlohnung besaßen.287 Wie in kleinen und mittelgroßen Firmen, insbesondere solchen mit custom und batch production, nicht unüblich, festigten betriebliche Sozialleistungen und ein häufig geteilter »lebensweltlicher Kontext« in Mundglashütten traditionell den »Produktionspakt« zwischen den

284 Siehe hierzu Kapitel 1.5. 285 Folgendes aus [Albrecht], 15. Juli 1993 (s. Anm. 86). 286 Zur Geschichte der betrieblichen Sozialpolitik siehe Thomas Welskopp, »Betriebliche Sozialpolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Eine Diskussion neuerer Forschungen und Konzepte und eine Branchenanalyse der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von den 1870ern bis zu den 1930er Jahren«, in: Archiv für Sozialgeschichte 34 (1994), S. 333–374; Rüdiger Hachtmann, »Industriearbeiterschaft und Rationalisierung 1900 bis 1945. Bemerkungen zum Forschungsstand«, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1 (1996), S. 246–255; Rüdiger Gerlach, Betriebliche Sozialpolitik im historischen Systemvergleich. Das Volkswagenwerk und der VEB Sachsenring von den 1950er bis in die 1980er Jahre, Stuttgart 2014. 287 Hierzu gehörten bspw. ein niedriger Mietzins in betriebseigenen Wohnungen, die Bereitstellung von Land zum Gemüseanbau oder zur Tierhaltung. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 157. Siehe auch Laufer, Spiegelglas (s. Anm. 27), S. 168–226.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

(oftmals im Betrieb mitarbeitenden) Unternehmern und der Belegschaft.288 Im ersten Jahrzehnt nach Ende des Zweiten Weltkriegs gewann in vielen bundesdeutschen Firmen die betriebliche Sozialpolitik zur Bindung von Arbeitskräften und als Instrument gegen eine erstarkende gewerkschaftliche Einflussnahme an Bedeutung.289 In Richard Süßmuths Unternehmen war dieser Trend durch seinen persönlichen Ehrgeiz auf spezifische Weise ausgeprägt. Um qualifizierte Arbeitskräfte, an denen es – trotz nachkriegsbedingter Zuwanderung – in der gesamten westdeutschen Glasbranche und insbesondere in Hessen mangelte, für das expandierende Unternehmen zu gewinnen und langfristig an den Betrieb zu binden, investierte Richard Süßmuth konsequent in den betrieblichen Wohnungsbau.290 Mit Finanzierungshilfen der Hessischen Heimstätte ließ Süßmuth in unmittelbarer Nähe zum Betriebsgelände eine Reihe von Mehrfamilienwohnhäusern und eine Werksiedlung bauen, die er nach Gerhart Hauptmann benannte.291 Mitte der 1950er Jahre waren knapp 130 Wohnungen fertiggestellt.292 Den Eigenheimbau seiner Facharbeiter unterstützte Süßmuth mit Darlehen.293 Darüber hinaus gründete Süßmuth im September 1948 einen Verein mit dem Zweck der »freiwillige[n] einmalige[n], wiederholte[n] oder laufende[n] Unterstützung von Betriebsangehörigen und ehemaligen Betriebsangehörigen […] sowie der Familienmitglieder dieses Personenkreises bei Hilfsbedürftigkeit, Berufsunfähigkeit und im Alter«.294 Auch führte er eine Betriebsrente ein. Alle Per288 Zu Arbeitsbeziehungen in KMU siehe Hermann Kotthoff und Josef Reindl, Die soziale Welt kleiner Betriebe. Wirtschaften, Arbeiten und Leben im mittelständischen Industriebetrieb, Göttingen 1990. Zu Arbeitsbeziehungen in Firmen mit custom und batch production siehe Scranton, Endless Novelty (s. Anm. 85), S. 17f. Auf die engen Arbeitsbeziehungen in der Geschichte der Glasindustrie (»Produktionspakt«) verweist Thomas Welskopp, »Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungsansätze in der Industrie- und Arbeitergeschichte«, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 133; Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 53. 289 Werner Milert und Rudolf Tschirbs, Die andere Demokratie. Betriebliche Interessenvertretung in Deutschland, 1848 bis 2008, Essen 2012, S. 441–445. 290 Nach der Inbetriebnahme des ersten Schmelzofens 1947 konnte in der GHS zunächst nur die Hälfte der Produktionskapazitäten ausgelastet werden, weil »aus Mangel an Wohnungen keine Facharbeiter zu bekommen waren.« »Aufbau bei Süßmuth ging Hand in Hand mit den sozialen Leistungen«, in: Hessische Nachrichten, 1956, in: FHI, Schöf-1224. 291 Siehe Datensammlung Süßmuth (s. Anm. 224); Friedrich-Karl Baas und Adolf Dick, Immenhäuser Ansichten. Eine Stadtgeschichte in Bildern, Immenhausen 2014, S. 147. Der ebenfalls aus Schlesien stammende Gerhart Hauptmann sei ein Bewunderer der »Meisterwerke« von Richard Süßmuth gewesen. Siehe Brief von Hauptmann an Süßmuth abgedruckt in Jubiläumsbroschüre 1960 (s. Anm. 191). 292 Datensammlung Süßmuth (s. Anm. 224); »Jubiläum besonderer Art. 100. Kulturveranstaltung der Glashütte Süßmuth«, in: Hessische Nachrichten, 13. Dezember 1958, in: FHI, Schöf-1224. Aufgrund des enormen Arbeitskräftemangels plante Süßmuth zu Beginn der 1960er Jahre den Bau weiterer Werkswohnungen, wofür er (ohne Erfolg) um staatliche Unterstützung bat. Arbeitsbogen, 2. Mai 1962 (s. Anm. 148). Ende der 1960er Jahre befanden sich 70 Wohnungen in 12 Häusern im Besitz der Firma. Firmenbeschreibung, Mai 1969 (s. Anm. 160). 293 Bis Anfang der 1960er Jahre seien ungefähr 40 Eigenheime entstanden. [Buchholz], [1961] (s. Anm. 139), S. 71. 294 Satzung Unterstützungseinrichtung für die Betriebsangehörigen der Richard Süssmuth-Unternehmen, 20. September 1948, in: Privatarchiv [Müller]; VR-Eintrag Unterstützungseinrichtung für die Betriebsangehörigen der Richard Süßmuth-Unternehmen, 28. Juli 1949, in: Archiv AGK, VR 146.

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sonen, die zu Rentenbeginn bzw. bei einer Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit mehr als zehn Jahre in der Glashütte Süßmuth beschäftigt waren, erhielten demnach ein monatliches »Ruhegeld« von zwei DM pro Jahr der Betriebszugehörigkeit.295 In Immenhausen knüpfte Süßmuth an bereits vor 1945 bewährte Sozialtechniken an. Wie in Penzig widmete er hier der betrieblichen Ausbildung sehr viel Aufmerksamkeit und errichtete eine »betriebseigene, von der Schulbehörde gebilligte und beaufsichtigte Berufsschule«.296 Die »Lehrlingserziehung« im Glasmachen und in der Glasveredelung (Schliff und Gravur) erfolgte in drei Klassen, wobei der »Elementarunterricht von Gewerbelehrern der Berufsschule und der Fachunterricht von leitenden Männern [s]eines Werkes gegeben« wurde.297 Der theoretische Teil der Ausbildung wurde außerhalb der Arbeitszeit absolviert, der praktische Teil im laufenden Betrieb.298 Auch im kaufmännischen Bereich habe Süßmuth »sehr viel ausgebildet«.299 Die Betriebskantine und Grünanlage mit Bänken zur Erholung während der Pausenzeiten sollten der Belegschaft einen Ausgleich für die im Betrieb sehr harten Arbeitsbedingungen bieten. Regelmäßig lud Süßmuth zu sonntäglichen Kirchgängen und abendlichen Kulturveranstaltungen – insbesondere über das schlesische »Brauchtum« – ein.300 Er regte seine Beschäftigten an, während und außerhalb der Arbeitszeit deutsche Volks- oder »schlesische Heimatvertriebenen-Lieder« zu singen, wovon er sich eine »Lockerung des Menschen« und ein Arbeiten »in einer ›musischen Beschwingtheit‹« versprach.301 Er organisierte Betriebsfeste und -ausfahrten, an denen die Familien der Beschäftigten teilnahmen,302 und förderte eine betriebseigene Fußballmannschaft, in der die männlichen Auszubildenden mitspielten und gegen Betriebsmannschaften der Umgebung antraten.303 Zugleich zeichnete sich Richard Süßmuth durch eine spezifische Personalpolitik aus. Neben der fachlichen Eignung waren die imaginierte gemeinsame Herkunft bzw. 295 Im Todesfalle ging dieser Rentenanspruch zu 50 Prozent auf die »Witwe des Betriebsangehörigen« über, falls »die Ehe bei seinem Ableben mindestens 10 Jahre bestanden hat« und keine »Wiederverheiratung« erfolgte. Versorgungsordnung der GHS, 1955/1959, in: AGI, S. 5. 296 Richard Süßmuth an Finanzamt Kassel, 16. Januar 1956, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 8977a, S. 8. 297 Richard Süßmuth, »Aus einer schlesischen Glashütte in Hessen«, in: Rundbrief von Richard Poppe, Juli 1956, in: AGI, S. 18. 298 Transkript Interview der Autorin mit [Jochen Schmidt], 7. Februar 2013, im Besitz der Autorin, S. 25. 299 [Buchholz], 19. März 2014 (s. Anm. 155), S. 2. Unter den 1957 ungefähr 406 Beschäftigten befanden sich 19 Auszubildende. Datensammlung Süßmuth (s. Anm. 224), S. 3. 300 Die Hälfte der Belegschaft habe jeden Sonntag gemeinsam mit Richard Süßmuth und [Ludwig Hager] am katholischen Gottesdienst teilgenommen. Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Wolfgang Franke] und [Frank Weber], 13. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 12. Eine Auflistung der 1955 alle ein bis zwei Monate durchgeführten öffentlichen Veranstaltungen beinhaltete Vorträge zur schlesischen Mundart, Konzertabende oder die Aquarellausstellung eines schlesischen Kunstmalers. Anlässlich der 100. Kulturveranstaltung im Dezember 1958 wurde in den Hessischen Nachrichten auf eine Vielzahl von Musik-, Film- oder Theaterabende, sozial- oder wirtschaftspolitischer Vorträge zurückgeblickt. Süßmuth, Schlesische Glashütte (s. Anm. 297); Hessische Nachrichten, 13. Dezember 1958 (s. Anm. 292). 301 Süßmuth, Schlesische Glashütte (s. Anm. 297), S. 17; »›Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht der schaffende Mensch‹. 50. Kulturveranstaltung der Glashütte Richard Süßmuth«, in: Hessische Nachrichten, 1954, in: FHI, Schöf-1224. 302 [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 185), S. 20. 303 Fotografie Betriebsfußballmannschaft der GHS, August 1961.

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der Fluchthintergrund und die katholische Religionszugehörigkeit für ihn zentrale Kriterien bei Einstellungs- und Beförderungsentscheidungen, wie sich am innerbetrieblichen Werdegang von [Walter Albrecht] veranschaulichen lässt.304 [Albrecht] wurde 1923 in Oberschlesien geboren und war katholisch. Im Jahr 1948 nahm er als Ungelernter eine Tätigkeit in der Hofkolonne der Glashütte Süßmuth auf. Von [Albrechts] Persönlichkeit angetan, habe Süßmuth ihm einen baldigen Wechsel in die Schleiferei in Aussicht gestellt, was »nach so kurzer Zeit der Mitarbeit etwas besonders gewesen« wäre. Weil [Albrecht] einer Einladung Süßmuths zu einer Veranstaltung des Kolpingwerks jedoch nicht gefolgt war, sei dieser Posten von einem Mitarbeiter übernommen worden, »der den Weg in die Kolping-Familie gefunden hatte«.305 Die Mitgliedschaft in dem aus der katholischen Arbeiterbewegung hervorgegangenen Sozialverband der katholischen Kirche war in diesem Fall also eine informell formulierte Bedingung für den Aufstieg im Unternehmen.

Richard Süßmuths außerbetriebliches Engagement Vor 1945 hatte sich Richard Süßmuth aktiv an den Diskussionen innerhalb der Deutschen Glastechnischen Gesellschaft (DGG) beteiligt oder sich gemeinsam mit dem Görlitzer NSDAP-Kreisleiter Bruno Malitz bemüht, Penzig als Standort der Glasindustrie zu fördern bzw. zu profilieren.306 Am neuen Standort in Immenhausen wirkte er am Aufbau diverser Wirtschaftsverbände mit und setzte sich hierbei insbesondere für die Interessen von »Vertriebenen«-Unternehmern ein. Als Gründungsmitglied und seit 1954 Vorstandsvorsitzender des hessischen Arbeitgeberverbands der Glasindustrie (mit Sitz in Frankfurt am Main) war er zugleich Mitglied des Vorstands des süddeutschen Arbeitgeberverbands Verein der Glasindustrie (mit Sitz in München).307 Er gehörte dem Vorstand der Landesvertretung Hessen des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) an, war aktiv im Landesverband Hessen der Heimatvertriebenen- und Flüchtlingswirtschaft (VHW) und saß für den Bereich Wirtschafts- und Beleuchtungsglas im DGGVorstandsrat.308 Als langjähriger Vorsitzender des Kuratoriums der Staatlichen Glasfachschule Hadamar, die 1949 »auf Initiative der vertriebenen Unternehmer in der hessi304 Folgendes aus [Albrecht], 15. Juli 1993 (s. Anm. 86). Von einer bevorzugten Beschäftigung von Katholiken sprach auch [Wilke], 31. Juli 2014 (s. Anm. 155), S. 3. 305 [Albrecht], 15. Juli 1993 (s. Anm. 86). [Albrecht] arbeitete nach seiner Tätigkeit in der Hofkolonne in der Packerei und in der Sortierung und wechselte 1952 in das Fertigwarenlager, dessen Leitung er kurz darauf übernahm. 306 Siehe Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 148; Margarete Süßmuth in ebd., S. 201. 307 Mit dem Verein der Glasindustrie e.V. München (1946) und dem Verband der Glasindustrie in Hessen (1948) bildeten sich in der amerikanischen Besatzungszone zwei Unternehmensverbände und mit dem Fachverband Hohlglasindustrie in Düsseldorf (1946) einer in der britischen Besatzungszone. Richard Süßmuth votierte bei der Gründung des hessischen Glasverbandes für einen Zusammenschluss mit dem Verband in Bayern, dazu kam es im Mai 1949. Als Relikt der zunächst separaten Verbandsgründung blieb in Frankfurt am Main eine eigene Landesgeschäftsstelle für Hessen bestehen. Neben den regionalen Verbänden der Glasindustrie (Nord und Süd) hatte der Bundesverband Glasindustrie als gemeinsamer Dachverband seinen Sitz in Düsseldorf. Siehe VdG Hessen, Zehn Jahre Verbandsorganisation (s. Anm. 46). 308 Interner Schriftverkehr IHK Frankfurt a.M., 16. Februar 1954, in: HWA, Abt. 3, Nr. 4055.

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schen Glasindustrie gegründet« wurde,309 sowie des Ausschusses für Berufsnachwuchs im Bundesverband Glasindustrie engagierte sich Richard Süßmuth zudem für den Ausbau des überbetrieblichen Ausbildungswesens in der bundesdeutschen Glasbranche und insbesondere in Hessen.310 Die Kommunalpolitik war in der damals als »rote Hochburg« geltenden Region um Immenhausen stark sozialdemokratisch geprägt.311 CDU-Mitglied Süßmuth ließ sich 1948 bei der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung Immenhausen als Kandidat der Demokratischen Wählergruppe der Alt- und Neubürger (DWG), einem Zusammenschluss der CDU und LDP, aufstellen.312 Von 1952 bis 1968 gehörte er der Stadtverordnetenversammlung und dem Kreistag des Landkreises Hofgeismar an, von 1960 bis 1968 übte er die Funktion des stellvertretenden Kreistagsvorsitzenden aus. Als die CDU bei den Kommunalwahlen 1968 erstmals mit einer eigenen Liste auftrat, wurde Süßmuth – der innerhalb der CDU dem christlich-sozialen Parteiflügel angehörte – nicht mehr aufgestellt.313 Schließlich trat Richard Süßmuth als Vertriebenenpolitiker und engagiertes Mitglied der katholischen Kirche in einer bis 1945 ausschließlich protestantisch geprägten Region in Erscheinung. In den Jahren 1946 und 1947 beriet er mit den Mitarbeiter*innen der Kirchlichen Hilfsstelle München, die sich »der sozialen, kulturellen und seelsorgerischen Betreuung der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen« verpflichtet hatte, ein gemeinsames politisches Vorgehen gegen eine geordnete Aussiedlungspolitik und gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze sowie über konkrete Hilfsmaßnahmen für die »leidenden Landsleute«.314 Er war Mitglied im Königsteiner Kreis315 – einem im Dezember 1949 gegründeten Verein selbsterklärter »Experten für gesamtdeutsche Fragen« und Interessenverband der »Elite der Sowjetzonenflüchtlinge«.316 Anfang der 1950er Jahre wurde Süßmuth in den Katholischen Flüchtlingsrat berufen, der 1948 in Frankfurt am Main von aus den ehemals deutschen Ostgebieten geflohenen Repräsentanten der katholischen Kirche gegründet wurde.317 Anlässlich des zehnten Jahrestages der »Vertreibung« ließ er 1955 auf seinem Betriebsgelände feierlich ein »Mahnmal« enthüllen und spendete im Jahr darauf der neugebauten katholischen Kirche in Immen-

309 Eckart, Hessen (s. Anm. 44), S. 86. 310 Verzeichnis Mitglieder des Kuratoriums der Staatlichen Glasfachschule Hadamar, 11. Januar 1951, in: HWA, Abt. 9, Nr. 253; VdG Hessen an RP Kassel, 21. September 1965, in: HHStAW, Abt. 502, Nr. 992. 311 Die Bürgermeister von Immenhausen waren im Untersuchungszeitraum allesamt Mitglieder der SPD. Von 1953 bis 1981 übte Bernhardt Vocke dieses Amt aus. Werner Wiegand, Sozialdemokraten in Immenhausen. Von 1933 bis zur Gegenwart, Immenhausen 1990, S. 695–711. 312 Folgendes aus Ebd., S. 437–496; Datensammlung Süßmuth (s. Anm. 224). 313 Vor der Kommunalwahl 1964 spaltete sich die DWG in eine aus CDU und FDP bestehende Freie Wahlgemeinschaft (FWG), zu der Süßmuth gehörte, und in die Gesamtdeutsche Partei/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE) auf. 314 Siehe Korrespondenzen in: BArch, Z 18/72 und Z 18/74. 315 [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 273), S. 18. 316 Maximilian Ruland, »Experten für gesamtdeutsche Fragen. Der Königsteiner Kreis in den 1950/60er Jahren«, in: Deutschland Archiv 45 (2012), S. 626–634. 317 Jubiläumsbroschüre, 1966 (s. Anm. 173), S. 6.

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hausen eine Orgel sowie der evangelischen Kirche (als Dank für das temporär gewährte Obdach) ein von ihm veredeltes Fenster.318 Über seine Verbandstätigkeiten war Süßmuth fest eingebunden in den brancheninternen Erfahrungs- und Wissensaustausch. Durch sein kommunalpolitisches Engagement war es ihm gelungen, bis Mitte der 1960er Jahre die Ansiedlung weiterer Industriebetriebe in Immenhausen sowie eine hiermit einhergehende Verknappung von Arbeitskräften für sein Unternehmen zu verhindern.319 Mit seinem vielseitigen gesellschaftspolitischen Engagement entwickelten sich wichtige Kontakte und mitunter sehr enge Beziehungen zu Personen, die von Unternehmensbeginn an – insbesondere gegenüber den staatlichen Fördergremien des Landes Hessen – als seine Fürsprecher auftraten.320 Auf kommunalpolitischer Ebene wurde seine unternehmerische Tätigkeit insbesondere von dem langjährigen Landrat Arthur Steinbrenner gefördert, mit dem er – nicht zuletzt aufgrund einer gemeinsamen Pfadfinder-Erfahrung – eine enge Freundschaft unterhielt.321 Auch aus der Landespolitik erhielt Süßmuth – trotz der seit Kriegsende vorherrschenden sozialdemokratischen Mehrheit – wohlwollende Unterstützung. Diese kam beispielsweise vom Hessischen Wirtschaftsminister Gotthard Frank, der als Mitglied der politisch reaktionären Vertriebenenpartei GB/BHE dieses Amt zwischen 1955 und 1963 innehatte.322 Verbunden war Süßmuth auch der zwischen 1951 und 1956 amtierende SPD-Finanzminister Heinrich Troeger, der ihn seit Mitte der 1930er Jahre kannte.323 Gute Beziehungen unterhielt Süßmuth zudem zu seinem CDU-Parteigenossen Peter Paul Nahm, der zunächst in der hessischen Landespolitik und anschließend auf Bundesebene für »Vertriebenen«-Angelegenheit tätig war.324 318

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»Feierstunde in der Glashütte Süßmuth. Mahnmal für die Gefallenen und Opfer der Vertreibung enthüllt«, in: Hessische Nachrichten, 29. April 1955, in: FHI, Schöf-1224; Hessische Nachrichten, 2. Juni 1956 (s. Anm. 261); [Müller], 13. Juni 2013 (s. Anm. 271), S. 14f. Interview von Erasmus Schöfer mit Bernhardt Vocke, 11. Oktober 1973, in: FHI, Schöf-1213; Bernhardt Vocke in Heinz Michaels, »Die Genossen im Glashaus«, in: Die Zeit, 27. März 1970, in: FHI, Schöf-1225; [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 177), S. 3. Hierzu gehörten vor allem Repräsentanten der verschiedenen Unternehmensverbände, die Süßmuth zum Teil mitbegründet hatte. Siehe Dokumente zur GHS, 1950–1965, in: HHStAW Abt. 507, Nr. 8977a; Abt. 502, Nr. 3579, Nr. 5104, Nr. 992. Arthur Steinbrenner übte von 1948 bis 1966 – als »Liberaler« in der FWG – das Amt des Landrats von Hofgeismar aus. Richard Süßmuth unterstützte ihn in Zeiten des Wahlkampfs (indem er bspw. seine Beschäftigten damit beauftragte, Wahlplakate zu kleben). Siehe [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 177), S. 3f.; [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 185), S. 17f. Zur Biografie Steinbrenners siehe Marianne Steinbrenner, »Landräte im Altkreis Hofgeismar«, in: HNA, 1. Februar 1986, Online: http://hugv-fuldabrueck.de/hauptseite/geschichte/geschichte_landraete/geschichte_lan draete_steinbrenner.html; Baas und Dick, Immenhäuser Ansichten (s. Anm. 291), S. 120f. »Franke besuchte Glashütte Süßmuth«, in: Hessische Allgemeine, 13. Mai 1960, in: FHI, Schöf-1224. Zur Parteizugehörigkeit von Gotthard Franke in NSDAP und GB/BHE siehe Hans-Peter Klausch, Braunes Erbe. NS-Vergangenheit hessischer Landtagsabgeordneter (1946–1987), Oldenburg u.a. 2011, S. 12, 18; Messerschmidt, Hessen (s. Anm. 44), S. 120–123. Hessische Nachrichten, 2. Juni 1956 (s. Anm. 261). Richard Süßmuth an Robert Polzer, 12. Juli 1969, in: ACDP, 01–094-070/1; Günter Buchstab, »Nahm, Peter Paul«, in: Neue Deutsche Biographie, 1997, Online: www.deutsche-biographie.de/pnd140171363.html#ndbcontent. Nach 1945 hatte Nahm die Leitung des Hessischen Landesamtes für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen inne. Seit 1949 war er Ministerialdirektor im

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Ökonomische Rationalität eines »sozialen« Führungsstils Süßmuths betriebliche Sozialpolitik wie auch seine außerbetriebliche Vernetzungs- und Lobbyarbeit schufen die Grundlagen für den rasanten Aufschwung seines Unternehmens, wozu allen voran qualifizierte Arbeitskräfte gehörten. Am Nachkriegsstandort in einer Region, in der die Branche bislang nicht ansässig war und die folglich keinerlei branchentypische Infrastrukturen und keine lokal verankerte Facharbeiterschaft – wie in den traditionellen Glasregionen Schlesiens, Böhmens oder des Bayerischen Waldes – aufwies, lag hierin eine dezidiert ökonomische Rationalität. Investitionen in den betrieblichen Wohnungsbau waren angesichts Arbeitskräfte- und Wohnraummangel zwingend erforderlich. Die Gründung einer betriebseigenen Berufsschule stand im Zusammenhang mit dem nur zögerlich voranschreitenden und von Interessenkonflikten der im Konkurrenzverhältnis zueinander stehenden Glasunternehmen durchzogenen Aufbau eines überbetrieblichen Ausbildungswesens in Hessen.325 Zugleich zeugte sie von Süßmuths weitsichtiger Unternehmensplanung in einer von zunehmenden Nachwuchsproblemen betroffenen Branche. Seine betriebliche Sozial- und Personalpolitik, die nicht nur die Bedingungen in der Produktion, sondern auch die der Reproduktion seiner Beschäftigten zu »gestalten« intendierte, waren auf die Befriedung und Vorbeugung betrieblicher Konflikte ausgerichtet, die in der arbeitskräfteintensiven Qualitätsproduktion stets negative Auswirkungen nach sich zogen. Die hierdurch gewährleistete Qualität der Produkte wie auch sein hohes Ansehen in der Öffentlichkeit stärkten Vertrauen und Verbindlichkeiten in den Absatz- und Geschäftsbeziehungen. Der Unternehmensführung von Richard Süßmuth lag – in Korrelation mit seinen Vorstellungen von der Produktgestaltung – ein Anspruch auf Ganzheitlichkeit zugrunde. Sie stand in einer Tradition betrieblichen Ordnungsdenkens, in dem der Betrieb als

HMdI; kurz darauf übernahm er die Leitung der 1951 gegründeten Hessischen Treuhandverwaltung GmbH, die mit Aufgaben der Wirtschaftsförderung und der Förderung von »Vertriebenen«Unternehmen betraut war. 1953 wechselte er in das Bundesvertriebenenministerium, wo er bis 1967 sowie 1969/1970 Staatssekretär war. 1960 wurde er zum Präsidenten des Katholischen Flüchtlingsrats berufen. Ebd.; Messerschmidt, Hessen (s. Anm. 44), S. 81; Geschichte der HLT 1951–1976, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 11543b. 325 Aufgrund der großen Heterogenität in der Glasbranche fielen die Ansprüche an die Inhalte der überbetrieblichen Ausbildung höchst unterschiedlich aus. Der Schwerpunkt der im hessischen Hadamar gegründeten Glasfachschule lag auf Berufen der Glasinstrumentefertigung und Glasveredelung. Zur Einrichtung einer zu Beginn der 1950er Jahre noch geplanten Lehr- und Versuchsglashütte – wie sie in der Glasfachschule im böhmischen Haida 1910 eröffnet wurde oder von der Glasfachschule im bayerischen Zwiesel 1957 in Betrieb genommen wurde – kam es in Hadamar nicht. Die Zuständigkeit der Abnahme von Meisterprüfungen war in Hessen zwischen Handwerkskammer und Industrie- und Handelskammer umstritten. »Bekommt Hadamar eigene Glashütte?«, in: FR, 21. August 1950, in: AGI; Ingeborg Euler, »Die Kunst entsteht nur nebenbei. Besuch in der Glasfachschule von Hadamar«, in: Zeit und Bild, 28. März 1959, in: AGI; Wasmuth, Tschechisches Glas (s. Anm. 101), S. 174; Gesellschaft von Freunden der Glasfachschule Zwiesel (Hg.), Glasfachschule Zwiesel 1904–2004, Zwiesel 2004, S. 144f. Schriftwechsel und Notizen zwischen IHK Limburg und HWK Wiesbaden, 1957–1962 in: HWA Darmstadt, Abt. 9, Nr. 902. Zu den über 40 »Lern- und Anlernberufen« der Glasindustrie siehe Walter Lutz, Glas erhellt unser Leben. Von Glasmachern, Glasverarbeitern und Glasveredlern, Dortmund 1961.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

Ort des Ausgleichs gesellschaftlicher Konflikte bzw. der Neutralisierung des Klassenkampfes konzipiert wurde.326 Seine vergemeinschaftenden Praktiken zur Steigerung der Betriebsbindung und Arbeitszufriedenheit der Beschäftigten fungierten zugleich als Mittel der Rationalisierung.327 Süßmuth hatte den »schaffenden Menschen« in den Mittelpunkt seiner Unternehmensführung gestellt,328 wie es im Zuge von Verwissenschaftlichungsprozessen in bundesdeutschen Unternehmen und dem Aufstieg eines professionellen Personalmanagements in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem »gängigen Gemeinplatz« geworden sei.329 Er griff dabei jedoch nicht auf das Wissen von Humanexperten zurück,330 sondern berücksichtigte durch den ihm eigenen Führungsstil – nicht mehr, aber auch nicht weniger – die traditionellen Besonderheiten der Fertigung und des Vertriebs in einer Mundglashütte. Weder in der Selbstdarstellung noch in der Rezeption spielte die ökonomische Rationalität in der Unternehmensführung Richard Süßmuths eine Rolle. Süßmuth präsentierte sich stattdessen als Künstler-Unternehmer, dessen »im Blut« liegende »Liebe zum Glas« seine »Liebe zu allen Menschen« begründet habe, »die mit dem Glas zu werken haben«.331 Um in seinem Unternehmen »gute Arbeit« zu erzielen, habe er das »Wohl des Schaffenden höher als das eigene« gestellt.332 Er habe versucht, den »ganzen Menschen [zu] erfassen«, »am Süßmuthglas [zu] verwurzeln« und »in die Werksfamilie einzugliedern«.333 In Abgrenzung zu Großunternehmen mit ihren unpersönlichen Arbeitsbeziehungen meinte Süßmuth in seiner unternehmerischen Tätigkeit wichtige gesellschaftspolitische Aufgaben zu erfüllen: Einerseits sei er wie alle selbstständigen Einzelunternehmer dazu verpflichtet, die Arbeitenden »vor Ausbeutung und Proletarisierung« zu schützen und so einem »Klassenkampf« vorzubeugen.334 Andererseits trage er als »heimatvertriebener Unternehmer« die besondere Verantwortung, nicht nur »ökonomische Kraft im Wirtschaftsaufbau« zu sein, sondern zugleich auch »verzweifelten Menschen wieder Hoffnung zu geben und aus der Verzagtheit aufbauende und zukunftsweisende Kraft und neues Leben zu wecken.«335 Aufgrund dieser persönlichen Verantwortung gegenüber Belegschaft und Gesellschaft sowie der Übernahme des vollen Risikos erachtete

326 Tilla Siegel, »Rationalisierung statt Klassenkampf. Zur Rolle der Deutschen Arbeitsfront in der nationalsozialistischen Ordnung der Arbeit«, in: Ralph Angermund, Hans Mommsen und Susanne Willems (Hg.), Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte, Düsseldorf 1988, S. 97–150. 327 Zur Kontinuität des engen Zusammenhangs von Gemeinschaftsideologie und Rationalisierungsdiskurs seit den 1920er Jahre siehe Hachtmann, Industriearbeiterschaft (s. Anm. 286), S. 214–217. 328 Hessische Nachrichten, 13. Dezember 1958 (s. Anm. 292); Jutta Rauhaus, »Richard Süßmuth«, in: Deutsche Umschau (1969) in: FHI, Schöf-1225. 329 Ruth Rosenberger, »Demokratisierung durch Verwissenschaftlichung? Betriebliche Humanexperten als Akteure des Wandels der betrieblichen Sozialordnung in westdeutschen Unternehmen«, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 347. 330 Ruth Rosenberger, Experten für Humankapital. Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland, München 2008. 331 Hessische Nachrichten, 13. Dezember 1958 (s. Anm. 292). 332 Hessische Nachrichten, 1954 (s. Anm. 301). 333 Hessische Nachrichten, 13. Dezember 1958 (s. Anm. 292), S. 19. 334 Süßmuth, 25. Oktober 1962 (s. Anm. 263), S. 13. 335 Süßmuth, 8. November 1952 (s. Anm. 261), S. 1f.

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Richard Süßmuth – hierin der Argumentation der Arbeitgeberverbände in der Mitbestimmungsdebatte der 1960er Jahre folgend336 – die alleinige Entscheidungsgewalt in seinem Unternehmen als legitim und notwendig.337 Das gefühlsbetonte Auftreten Richard Süßmuths begründete ein Charisma, das ihn von anderen patriarchalisch-autoritär auftretenden (Familien-)Unternehmern unterschied und ihm sowohl in den verschiedenen gesellschaftspolitischen Systemen als auch quer durch die politischen Lager eine hohe Reputation und Glaubwürdigkeit sicherte.338 Dass er sich selbst nicht als ein Unternehmer verstand, der sich obiger Praktiken aus taktischem Kalkül bediente,339 steigerte einmal mehr die Funktionalität seiner charismatischen Unternehmensführung. Von Politikern und Journalist*innen wurde er als sozialverantwortlicher Unternehmer gewürdigt, dem es in seiner »selbstlosen Arbeit« »nicht um äußere Dinge, sondern einzig und allein um den Menschen« gegangen sei.340 Wie ein »klassischer Patriarch im positivsten Sinne« habe er sich »persönlich verantwortlich für das Wohlergehen seiner Mitarbeiter« gefühlt.341 Von (einem Teil) der Belegschaft wurde ihm sein soziales Engagement ebenfalls angerechnet. Der langjährige Mitarbeiter [Josef Lehmann] empfand es im Rückblick als »ein großes Glück«, dass er mit Richard Süßmuth zusammenarbeiten durfte.342 Selbst der hessische IG-ChemieBezirksleiter Franz Fabian bescheinigte Süßmuth kurz nach dessen Tod, »eine ehrliche Haut« gewesen zu sein.343

336 Michael Schneider, »Unternehmer und soziale Demokratie. Zur unternehmerischen Argumentation in der Mitbestimmungsdebatte der sechziger Jahre«, in: Archiv für Sozialgeschichte 13 (1973), S. 243–288. 337 Süßmuth, 25. Oktober 1962 (s. Anm. 263), S. 10. Innerhalb des sozialen Katholizismus, dem sich Süßmuth zugehörig fühlte, grenzte er sich damit von einer Position ab, die – wie die gewerkschaftliche Argumentation – im Verlust des Arbeitsplatzes ein für die Arbeitenden ebenbürtiges Risiko erkannte und daher deren Beteiligung an den Entscheidungen im Unternehmen forderte. Franz J. Stegmann und Peter Langhorst, »Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus«, in: Helga Grebing (Hg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus, katholische Soziallehre, protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, Wiesbaden 2005, S. 822. 338 Zum Begriff der charismatischen Herrschaft siehe Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 19805 , S. 140–142. 339 So die Darstellung seiner Tochter und seines Schwiegersohns: [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 273), S. 3f. 340 Landrat Steinbrenner zitiert in »Kulturelle Verdienste gewürdigt. Richard Süßmuth geehrt«, in: Hessische Nachrichten, 22. Dezember 1958, in: FHI, Schöf-1224; Hessische Nachrichten, 13. Dezember 1958 (s. Anm. 292); »60 Jahre Glasindustrie. Richard Süßmuth hatte die Immenhäuser GlasbläserVeteranen eingeladen«, in: Hessische Nachrichten, 8. Oktober 1958, in: FHI, Schöf-1224. 341 Rauhaus, Süßmuth (s. Anm. 328).Ebenso Hessische Nachrichten, 13. Dezember 1958 (s. Anm. 292); Ursula Haver in Jubiläumsbroschüre, 1966 (s. Anm. 173), S. 6. 342 [Josef Lehmann] in Baas und Ruhlig, Glasveredelung (s. Anm. 248), S. 18. 343 Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Franz Fabian, 22. April 1974, im Besitz der Autorin, S. 15.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

1.5 Gemeinschaft versus Kollektiv. Die Belegschaft und die Arbeitsbeziehungen Im ersten Jahr der Unternehmensgründung beschäftigte Süßmuth bis zu 50 Personen, die die aus Penzig mitgebrachten Rohglasreste verarbeiteten oder die Produktionsstätten auf- bzw. ausbauten.344 Der Anstieg der Beschäftigtenzahl auf 128 Personen hing mit der Inbetriebnahme des ersten Schmelzofens im Sommer 1947 zusammen. Ein weiterer quantitativer Sprung der Beschäftigtenzahl von 197 auf 310 Personen erfolgte, als 1952 der zweite Hafenofen in Betrieb ging. Bis Mitte der 1950er Jahre wuchs die Belegschaft kontinuierlich auf über 400, sank anschließend jedoch bis 1969 sukzessive auf knapp 270 Beschäftigte. Dieser Personalrückgang war Ausdruck des Arbeitskräftemangels, der selbst Unternehmen in der ländlich geprägten Region Nordhessen mit einer traditionell hohen Arbeitslosigkeit in Bedrängnis brachte. In den ersten zehn Jahren nach dem Kriegsende konnte die Glashütte Süßmuth als wichtigster Arbeitgeber der Region faktisch eine Monopolstellung einnehmen, die Richard Süßmuth durch seine kommunalpolitischen Aktivitäten aufrechtzuerhalten versuchte. Die Eröffnung eines VW-Werks in Kassel-Baunatal 1956, wo Hilfskräfte »das Doppelte an Stundenlohn« erhielten, konnte er jedoch ebenso wenig verhindern wie den Ausbau der Kasseler Henschelwerke.345 Mit der hierdurch ausgelösten Abwanderung von bis zu 150 Beschäftigten, vor allem von Nicht-Facharbeiter*innen, habe das Unternehmen seit Ende der 1950er Jahre fast ein Drittel der Belegschaft »verloren«, für die nur unzureichend Ersatz gefunden werden konnte.346 Das 1967 in Immenhausen eröffnete Zweigwerk des Textilunternehmens MEWA war ein weiterer Konkurrent um Arbeitskräfte in unmittelbarer Nachbarschaft.347 Diese Ansiedelung signalisierte, dass sich Süßmuths kommunalpolitische Position nach der Abwahl seines engen Vertrauten Arthur Steinbrenner als Landrat von Hofgeismar im Jahr 1966 abzuschwächen begann. Die Belegschaft der Glashütte Süßmuth zeichnete sich durch einen außerordentlich hohen Anteil an »Vertriebenen« aus. Mit 357 Personen machten sie Mitte der 1950er Jahre ungefähr 85 Prozent der Belegschaft aus; Anfang der 1960er Jahre war dieser Anteil mit 220 Personen auf 55 Prozent gesunken.348 Der hohe »Vertriebenen«-Anteil hing mit der dargelegten Nachkriegsentwicklung der Glasindustrie in der Bundesrepublik im Allgemeinen und in Hessen im Besonderen zusammen. Darüber hinaus stand er im Zusammenhang mit Süßmuths Verständnis von seinem Unternehmen als Auffangbecken für »Heimatvertriebene«, aber auch mit staatlichen Förderkriterien. Noch 1966 hatte sich Süßmuth – als Voraussetzung für einen beantragten Kredit der Lastenausgleichsbank 344 Darunter befanden sich 26 Facharbeiter aus Penzig, die Süßmuth 1946 nach Immenhausen gefolgt waren. Bildbericht GHS, [1950] (s. Anm. 99). Siehe Tabelle 4 im Anhang. 345 [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 177), S. 3; Ebenso Protokoll Telefonat der Autorin mit [Fritz Ziegler], 24. Juni 2014, im Besitz der Autorin, S. 1. 346 Richard Süßmuth an Robert Polzer, 16. November 1969, in: ACDP, 01–094-070/1. 347 In der Produktionsstätte der MEWA (Mechanische Weberei Altstadt GmbH) sollten zunächst 60 Arbeitsplätze entstehen. Bernhardt Vocke an Regierungspräsent Kassel, 20. Juli 1966, in: HStAM, Bestand 401, Nr. 6/358-359. 348 Richard Süßmuth an HWMi, 28. Mai 1956, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 8977a.; Arbeitsbogen, 2. Mai 1962 (s. Anm. 148).

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– zu einer bevorzugten Neueinstellung von »Geschädigte[n]«, »Vertriebene[n] und Sowjetzonenflüchtlinge[n] sowie politisch Verfolgte[n]« zu verpflichten.349 Anders als Georg Goes in den von ihm untersuchten Glas- und Porzellanunternehmen feststellt, wurde die Glashütte Süßmuth nicht zu einer Durchgangsstation für Flüchtlinge aus dem Osten.350 Die Belegschaft in Immenhausen war auch nicht von jener »dramatische[n] Diskontinuität in der Zusammensetzung« geprägt, die in der Nachkriegszeit in anderen Industriebetrieben die Regel war.351 Zumindest die Facharbeiterschaft wies hier vielmehr eine langjährige Betriebszugehörigkeit auf; der gesunkene »Vertriebenen«-Anteil an der Belegschaft zeigte vor allem an, dass die ersten »Vertriebenen« in Rente gingen. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad war in der Belegschaft der Glashütte Süßmuth – wie traditionell in der Glasindustrie und im Vergleich zu den Zahlen für die gesamte Bundesrepublik – sehr hoch. Im Zeitraum zwischen Ende der 1940er und Ende der 1960er Jahre waren zwischen 64 und 68 Prozent der Beschäftigten Mitglied in der für die Glasbranche zuständigen IG Chemie-Papier-Keramik.352 Lag der Organisationsgrad der Facharbeiter in der Hütte und Schleiferei bei »zumeist 100 Prozent«, war jener der Arbeiterinnen, wie auch in anderen Betrieben, sehr viel geringer.353 Neben der Unterscheidung in Angestellte und Arbeiter*innen veranschaulicht Tabelle 5 eine abteilungsübergreifende Zweiteilung der Lohnempfänger*innen in eine Gruppe ausschließlich männlicher Facharbeiter und eine Gruppe von Angelernten, die zu knapp zwei Dritteln aus Frauen bestand. Die wenigen überlieferten Daten zur Effektivlohnentwicklung in der Glashütte Süßmuth geben Zeugnis von einer betriebs- und abteilungsinternen Lohnpolarisierung, wie sie in der Glasbranche nicht unüblich war. Angesichts der sehr unterschiedlichen Entlohnungsformen – nach Gruppen- oder Einzelakkord, nach Stundenlöhnen oder einem festen Betrag pro Nachtschicht für das Schmelzpersonal und die Pförtner – sowie einer in der Glasbranche besonders ausprägten Praxis, übertarifliche Zulagen zu zahlen,354 ließ sich auf Basis der überlieferten Daten keine sinnvolle

349 350 351 352

LKK an Richard Süßmuth, 16. September 1966, in: FHI, Schöf-1224. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 181f. Schildt, Sozialgeschichte (s. Anm. 72), S. 21, 4. Eine Ausnahme stellte das Jahr 1964 dar, als der gewerkschaftliche Organisationsgrad kurzzeitig auf 46 Prozent sank, 1969 betrug er jedoch wieder 65 Prozent. IG Chemie-Papier-Keramik Kassel (Hg.), Von 1945 bis 1985. 40 Jahre Aufbau, Entwicklung und Bestand der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik Verwaltungsstelle Kassel, 1988, in: AfsB Bochum, Bestand Vwst. Kassel, S. 38, 55, 62; [Klaus Boehm] an [Rolf Schindler], 7. Januar 1972, in: FHI, Schöf-1227. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik sank der gewerkschaftliche Organisationsgrad aller abhängig Erwerbstätigen von 38,6 Prozent (1951) auf 31,4 Prozent (1960) und stagnierte in absoluten Zahlen bei einer Mitgliederzahl von ungefähr 5 Millionen. Ende der 1960er stieg er wieder an und lag Mitte der 1980er Jahre bei ungefähr 35 Prozent. Ebd., S. 22; Klaus Armingeon, »Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland 1950–1985. Mitglieder, Organisation und Außenbeziehungen«, in: Politische Vierteljahresschrift 1 (1987), S. 14. 353 IG CPK Kassel, Von 1945 bis 1985 (s. Anm. 352), S. 142; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] und [Dieter Schrödter], 13. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 16; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Dieter Schrödter], 11. Oktober 1973, im Besitz der Autorin, S. 7; Zu den genderspezifischen Organisationsunterschieden siehe Armingeon, Gewerkschaften (s. Anm. 352), S. 18. 354 Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 161.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

Lohnübersicht für die Glashütte Süßmuth erstellen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Glasmacher mehr als das Doppelte wie Nicht-Facharbeiter*innen und – angesichts ihrer Akkordentlohnung in unterschiedlichem Umfang – auch mehr als andere Facharbeiter im Betrieb verdienten.

Tabelle 5: Belegschaft der Glashütte Süßmuth (September 1969) Arbeiter*innen

Angestellte

Facharbeiter*

Nicht-Facharbei- Gesamt ter*innen

Hütte

54 Glasmacher 3 sonstige Facharbeiter

42 (31 M, 11 F)**

99 (88 M, 11 F)

Weiterverarbeitung

4 Hohlglasschleifer 1 Glassäger

40 (8 M, 32 F)

45 (13 M, 32 F)

Veredelung

11 Feinschleifer 3 Graveure 1 Ätzer 3 Hohlglasmaler 6 Flachglasmaler

13 (2 M, 11 F)

37 (26 M, 11 F)

Produktionsunterstützende Abteilungen

14 M

35 (13 M, 22 F)

49 (27 M, 22 F)

Vertrieb und Verwaltung

Gesamt = 269

10 gewerbliche Angestellte

29 kaufmännische Angestellte

100 M

130 (54 M, 76 F)

230 (154 M, 76 F)

39

* Die Einteilung in Facharbeiter und Nicht-Facharbeiter*in erfolgte allein auf Grundlage der Lohnhöhe. Angaben zum formalen Ausbildungsstatus der Beschäftigten sind nicht überliefert. ** M = Männer, F = Frauen. Quelle: Tabelle der Autorin

Die Facharbeiter Die ausschließlich männlichen Facharbeiter der Glashütte Süßmuth wiesen Ende der 1960er Jahre die im Durchschnitt längste Betriebszugehörigkeit auf.355 Ihre hohe Betriebsbindung basierte nicht nur auf den im Vergleich zu den Nicht-Facharbeiter*innen stabileren, sozial anerkannteren und besser bezahlten Arbeitsverhältnissen, sondern auch auf ihrer Privilegierung in der betrieblichen Sozialpolitik. Der Mieteranteil

355

Generell besaßen – auch noch Ende der 1980er Jahre – »in den Glashütten fast nur Männer« den Facharbeiterstatus. Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 95.

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der Facharbeiter in den werkseigenen Wohnungen war höher als jener der Nicht-Facharbeiter*innen.356 Auch durch die Vergabe von Darlehen für den Eigenhausbau gelang es der Firmenleitung, ihre Betriebsbindung durch ihre Bindung an den Wohnort Immenhausen zu verfestigen. Mit den Tätigkeiten der Formung und Veredelung standen die Glasfacharbeiter an der Spitze der Status- und Lohnhierarchie – sie waren allerdings keine homogene Gruppe. Die organisatorisch-räumliche Trennung zwischen der Hütte als einem lauten, hektischen und schmutzigen Ort der Arbeit mit dem heißen Glas und der Feinschleiferei als einem sauberen Ort der konzentrierten, ruhigen Veredelung des erkalteten Glases korrespondierte mit einer sozialen Spaltung der Facharbeiterschaft zwischen Glasmachern und Glasschleifern, deren Hintergründe im Folgenden zu beleuchten sind.357 Die Glasmacher waren in der Glashütte Süßmuth die zahlenmäßig größte Beschäftigtengruppe. Im Jahr 1969 arbeiteten hier 54 Glasmacher bzw. angehende Glasmacher.358 Von diesen waren 32 in den Jahren zwischen 1931 und 1945 geboren. Sie hatten in der Regel im Alter zwischen 14 und 17 Jahren ihre Ausbildung begonnen und zum Zeitpunkt der Unternehmenskrise 1969/1970 knapp die Hälfte ihres Lebens in der Firma gearbeitet. Im Gegensatz zur Glasproduktion war die Glasveredelung ein kleinerer Bereich, dessen Bedeutung bis Ende der 1960er Jahre sank.359 Waren in den 1950er Jahren bis zu 25 Personen in der Feinschleiferei beschäftigt, so reduzierte sich ihre Anzahl Ende der 1960er Jahre auf neun Facharbeiter und zwei Auszubildende.360 Den Kern dieser Gruppe bildeten sieben Schleifer im Alter zwischen 55 und 60 Jahren mit einer durchschnittlichen Betriebszugehörigkeit von über 20 Jahren. Ein großer Teil von ihnen hatte bereits in Süßmuths Veredelungsbetrieb in Penzig gearbeitet.361 Ein ähnlich hohes Durchschnittsalter und eine ebenfalls zum Teil bis in die Penziger Zeit reichende Betriebszugehörigkeit wiesen die Facharbeiter in der Flachglasmalerei auf. Die drei Graveure waren hingegen etwas jünger, 1969 zwischen 20 und 48 Jahre alt, und zwischen sechs und siebzehn Jahren in der Glashütte Süßmuth beschäftigt. Die Tätigkeiten der Glasmacher und Glasveredeler beruhten auf unterschiedlichen Kooperationsformen. Im Gegensatz zu den Glasmachern waren die Glasschleifer wie auch die Graveure, abgesehen von den produktionsunterstützenden Arbeiten (Transport der Werkstücke, Instandhaltung der Werkzeuge), im Arbeitsprozess vorrangig auf sich

356 Übersicht Mieter*innen Wohnungen der GHS, undatiert [Anfang 1970er], in: FHI, Schöf-1196. 357 [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 353), S. 19; [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 353), S. 5. Ein Spannungsverhältnis zwischen Glasmachern und Glasschleifern herrschte auch in anderen Mundglashütten – wie bspw. der Josephinenhütte – vor. [Günter Nowak], 10. November 2014 (s. Anm. 159), S. 7. Mit Glasschleifern sind in dieser Arbeit ausschließlich die Feinschleifer gemeint, die sich in ihrer veredelnden Tätigkeit grundlegend von den verarbeitenden Tätigkeiten der Rauschleifer*innen unterschieden. 358 Lohn- und Personalliste, 20. September 1969 (s. Anm. 177). 359 Baas und Ruhlig, Glasveredelung (s. Anm. 248), S. 15f. 360 [Lehmann] und [Elze], 4. Januar 1994 (s. Anm. 204), S. 2; [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 177), S. 2; [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 185), S. 5; Lohn- und Personalliste, 20. September 1969 (s. Anm. 177). 361 [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 353), S. 5.

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gestellt. Aufgrund des »ganz individuellen Programmes« und der »Sonderanfertigungen« nach »Kundenwunsch« wurden sie nicht im Stückakkord, sondern nach einem festen Stundenlohn bezahlt.362 Bei der Formung vor dem Ofen gehörten hingegen enge Beziehungen unter den Glasmachern und den ihnen zuarbeitenden Beschäftigten zur Grundvoraussetzung einer guten Leistung. Die Arbeit der Werkstellengruppen basierte auf aufeinander abgestimmten und aufgrund des zähflüssigen Zustands des Glases schnell auszuführenden Handgriffen,363 die – ähnlich wie Welskopp es für die Arbeitsgruppen an den Walzstraßen im Hüttenwerk beschreibt – »zu einer aufs Feinste austarierten gemeinsamen Bewegung« verschmolzen und »auf ein vorgreifendes Vertrauen auf die Fähigkeiten und die Geistesgegenwart der Anderen« bauten.364 Auch die Glasmacher hatten »über die vielfache Wiederholung des Arbeitsganges« das für die Formung notwendige Wissen »inkorporiert, ohne dass man große Worte machen dürfte«.365 Anders als im Hüttenwerk war es in einer Mundglashütte weniger die lebensbedrohliche Dimension der Fertigung, die ein vertrauensvolles und koordiniertes Zusammenarbeiten notwendig machte;366 gleichwohl auch hier mangelnde Konzentration körperlich schwere Verletzungen (vor allem Verbrennungen) nach sich ziehen konnten. Die Kooperation innerhalb der Werkstellengruppe sicherte die Qualität des Produkts (damit auch den Lohn) und die Existenz des Unternehmens (damit auch den Arbeitsplatz). Die Entlohnung im Gruppenakkord sollte in den hierarchisch aufgebauten Werkstellengruppen eine enge und konfliktfreie Zusammenarbeit zwischen Kölbelmachern, »Glasmachergehilfen« und Glasmachern materiell anregen.367 Es galt, eine möglichst hohe Stückzahl zu produzieren und Arbeitsfehler zu verhindern, die sich auf die Bezahlung der gesamten Werkstelle auswirkten. Diese Ziele wurden am ehesten erreicht, wenn zwischen den Werkstellenmitgliedern auch auf persönlicher Ebene ein gutes Verhältnis bestand. Da der je nach Artikel variierenden personellen Werkstellenzusammensetzung durch die Hüttenmeister und dem Betriebsleiter eine zentrale Bedeutung für die Arbeits- und Lohnzufriedenheit zukam, nahmen die Glasmacher darauf üblicher Weise informell Einfluss.368 Dies war auch der Fall, wenn es um die Zuteilung der zu fertigenden

362 [Holger Neumer] zitiert in Transkript Erstes Treffen von Erasmus Schöfer mit der Belegschaft der GHS, 19. März 1973, im Besitz der Autorin, S. 5. 363 Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 102f.; André Velter und Marie-José Lamothe, Das Buch vom Werkzeug, Genf 1979, S. 450. 364 Welskopp, Produktion (s. Anm. 105), S. 43f. Glaser und Wesseley beschreiben die Bewegung der »Männer am [Glasschmelz-] Ofen« als einen Tanz »nach einer geheimen Choreografie«. Christoph Glaser und Dominik Wessely, Unternehmen statt unterlassen. Von der ungewöhnlichen Rettung eines Traditionsbetriebs, Berlin 2006, S. 41f.; Ebenso Erasmus Schöfer, Zwielicht. Die Kinder des Sisyfos, Berlin 2004, S. 40. 365 Welskopp, Produktion (s. Anm. 105), S. 45 [Herv.i.O.]. 366 Welskopp, Arbeit (s. Anm. 108), S. 48. 367 Die Einträger*innen wurden (obwohl sie eng mit den Werkstellen zusammenarbeiteten) dagegen nach einem Stundenlohn bezahlt. Lohn- und Personalliste, 20. September 1969 (s. Anm. 177). 368 Konflikte in den Werkstellengruppen führten in der Regel zu Umbesetzungen. Bei der personellen Zusammensetzung der Werkstellen habe der Hüttenmeister »darauf achten« müssen – so [Horst Wilke] –, dass die Mitglieder der Werkstellengruppen, weil nicht »alle Glasmacher die gleiche Fertigkeit hatten«, das gleiche Leistungsniveau hatten. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 103f.;

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Artikel auf die Werkstellen ging, die je nach Kompliziertheit der Formung unterschiedlich entlohnt wurden. Die Auftragsverteilung auf die jeweiligen Werkstellen löste mitunter sehr konfliktträchtige Prozesse aus – und zwar sowohl zwischen den Glasmachern und dem technischen Leitungspersonal wie auch unter den Glasmachern verschiedener Werkstellen. Konflikte entstanden insbesondere, wenn sich Glasmacher der einen Werkstelle gegenüber jenen von anderen Werkstellen benachteiligt sahen.369 Dass die Glasmacher der Glashütte Süßmuth Erasmus Schöfer als eine auch außerhalb des Betriebs von großem Zusammenhalt geprägte Gruppe erschienen,370 war also nicht zwangsläufig Resultat des Arbeitsprozesses, wohl aber eine zentrale Voraussetzung für einen funktionierenden Arbeitsablauf. Glasfacharbeiter kamen häufig aus Familien mit weit zurückreichender Glastradition. Das Phänomen der intergenerationellen Berufsvererbung – wie es in der Glasbranche bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts üblich war, seitdem indes zunehmend an Bedeutung verlor – war in der Glashütte Süßmuth noch zu beobachten.371 Allen voran die Familie [Graf] entsprach dem Typus einer traditionellen Glasmacherfamilie, von der Angehörige aus drei Generationen als Glasmacher in Immenhausen arbeiteten.372 Mindestens vier Glasmacher waren der Familie [Ulrich] zuzuordnen. Mit den Glasmachern [Dieter und Heinz Schrödter] arbeiteten Zwillingsbrüder im Betrieb, die in einem persönlich sehr engen Verhältnis zueinanderstanden.373 Auch ohne familiäre Bindung blieb der Gruppenzusammenhalt unter den Glasmachern nicht auf den Betrieb beschränkt. Sie halfen sich gegenseitig beim Hausbauen oder verbrachten wie zum Beispiel im lokalen Männergesangsverein gemeinsam ihre Freizeit.374 Während für die glasveredelnden Berufe bereits um die Jahrhundertwende ein überbetriebliches Ausbildungswesen formalisiert wurde, blieb Glasmacher bis Ende des 20. Jahrhunderts ein vorrangig in der betrieblichen Praxis zu erlernender Beruf.375 Den Titel

369 370 371 372 373 374

375

Kleiner, 13. November 2014 (s. Anm. 281), S. 16; [Wilke], 31. Juli 2014 (s. Anm. 155), S. 5. Siehe Kapitel 5.2. [Wilke], 31. Juli 2014 (s. Anm. 155), S. 7. Transkript Interview der Autorin mit Erasmus Schöfer, 24. Januar 2013, im Besitz der Autorin, S. 3. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 184–190. [Buchholz], 19. März 2014 (s. Anm. 155), S. 2. [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 353), S. 10. Schöfer, 24. Januar 2013 (s. Anm. 370), S. 3; [Wilke], 31. Juli 2014 (s. Anm. 155), S. 10. Die gemeinsame Freizeitgestaltung von Beschäftigten in Kultur- oder Sportvereinen besaß in der Glasbranche eine lange Tradition. Siehe Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 301–309; Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 77–80. Die ersten Glasfachschulen – 1869 im nordböhmischen Haida (heute Nový Bor) und 1904 in Zwiesel gegründet – bildeten vorrangig in glasveredelnden Berufen aus, worauf auch der Schwerpunkt der beiden in Westdeutschland gegründeten staatlichen Glasfachschulen – im nordrhein-westfälischen Rheinbach (1948) und im hessischen Hadamar (1949) – lag. Bestrebungen zur Formalisierung des Berufs Glasmacher, die im NS-Deutschland von der DAF intensiviert wurden, verliefen auch nach 1945 schwierig. Aufgrund der je nach Bundesland spezifischen Unterschiede und enormen Branchenheterogenität variieren die Angaben: Ein VdG-Rundschreiben thematisierte 1963 die »Schaffung eines Lehrberufs Hohlglasmacher«. Moritz datiert die Anerkennung als Ausbildungsberuf auf 1964. Nach Eisch wurde 1968 zunächst ein für alle Betriebe verbindlicher Ausbildungsplan formuliert, und erst 1986 sei die Vereinheitlichung zum Berufsbild Glasmacher*in erfolgt. Gesellschaft von Freunden der Glasfachschule Zwiesel (s. Anm. 325); VdG-Sonderrundschrei-

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Facharbeiter oder Meister erhielten Glasmacher in der Regel nicht auf Basis staatlicher, sondern aufgrund der auf ihre Arbeitsleistung bezogenen betrieblichen Anerkennung.376 So galt Kelchglasmacher als Anlernberuf,377 obwohl dieser eine der schwierigsten und herausforderndsten Formungstätigkeiten beinhaltete. Die in Kapitel 1.2 beschriebene Arbeitshierarchie an den Werkstellen vor den Öfen spiegelte den betriebsinternen Ausbildungs- und potenziellen Karriereweg von Glasmachern wider.378 Nach dem Volksschulabschluss erfolgte in der Regel im Alter von 14 Jahren der Einstieg als Einträger und Formenhalter. Hieran schloss sich die Beschäftigung als Kölbelmacher und bei einer Spezialisierung zum Kelchglasmacher die Beschäftigung als Kaier (Stiel- und Fußanfänger) an. Hatten sie sich im laufenden Fertigungsbetrieb bewährt, folgte die Tätigkeit als »Glasmachergehilfen« (Einbläser). Der Aufstieg zum Glasmacher konnte schließlich mehr als zehn Jahre dauern.379 Die Ausbildungszeiten waren auch abhängig von der persönlichen Eignung. Trotz der langen Ausbildungsdauer konnte nicht jeder Glasmacher jeden Glasartikel fertigen. In der Ausbildung erfolgte vielmehr eine Spezialisierung auf Groß- oder Beleuchtungsglas, auf Kelchglas oder auf Krüge. Die Herstellung von Krügen oder Kelchgläsern erforderte mehr Geschicklichkeit als das Blasen von großen Artikeln und Beleuchtungsglas, wozu es in erster Linie viel Muskelkraft bedurfte. Insbesondere Krugglasmacher waren aufgrund der höheren Komplexität in der Formung in der Branche seltener zu finden. Eben hierauf basierte die in der Firma privilegierte Stellung der Familie [Graf], zu der viele Krugglasmacher gehörten.380 Hinderlich bei der Formalisierung des Glasmachens als Ausbildungsberuf waren – neben unternehmerischen Interessen an der vollen zeitlichen Verfügbarkeit oder an einer geringeren Entlohnung von »nur« angelernten Arbeitskräften381 – die aus der brancheninternen Heterogenität resultierenden Differenzen über die Ausbildungsinhalte. Auch die Besonderheit, dass Glasmachen innerhalb von drei Jahren nicht umfassend zu erlernen war und mit einer hochgradigen Spezialisierung einherging, stand einer Standardisierung entsprechend der Strukturen des sich in der Bundesrepublik etablie-

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ben, 18. Oktober 1963, in: WABW, Bestand B 164 Bü 1; Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 11), S. 156–158; Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 222f., 107f.; Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 91. [Berger], 21. März 2014 (s. Anm. 148), S. 2; Ebenso Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 107f. Dies war der Hintergrund, weshalb die arbeitswissenschaftliche Untersuchung von Hettinger et al. Mitte der 1980er Jahre konstatierte, dass nur knapp 50 Prozent der Glasmacher in der manuellen Produktion »über eine abgeschlossene Berufsausbildung« verfügten – eine Angabe, die sich allein auf die formal anerkannte Qualifikation bezog. Hettinger et al., Arbeitsbedingungen (s. Anm. 124), S. 64. Lutz, Glas (s. Anm. 325), S. 41. Siehe auch Hannes, Bayerischer Wald (s. Anm. 29), S. 104. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 109f. Eine Perfektion im Glasmachen war nur durch eine »ständige Übung und Erprobung« zu erreichen und »bildet[e] sich im günstigen Fall nach zehn Jahren aus.« Pressemitteilung LWL-Industriemuseum Glashütte Gernheim, 4. Dezember 2015, Online: www.lwl.org/pressemitteilungen/mitteilung.php?urlID=38102. [Buchholz], 19. März 2014 (s. Anm. 155), S. 2. Die Besonderheit in der Glasmacherausbildung diente – bei ausreichend vorhandenen Fachkräfte – den Unternehmern mitunter als Argument für eine geringere Entlohnung. Laufer, Traditionen (s. Anm. 188), S. 402.

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renden dualen Ausbildungssystems entgegen.382 Das Mundglasmachen war ein letztlich lebenslanger Lernprozess, der vor allem auf praxisbezogenem Wissen als einer Form von impliziten, erfahrungs- und personengebundenen Wissen (tacit knowledge) basierte.383 Das betriebsspezifische Erfahrungswissen der Facharbeiter gehörte zum wichtigsten Kapital der Mundglashütten. Die Ausbildung zum Glasmacher blieb bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts an informelle Kriterien wie Geschicklichkeit bzw. Handfertigkeit gekoppelt und war – falls das Wissen nicht innerhalb der Familie weitergegeben wurde – zudem von den Zeitkapazitäten und vom guten Willen des im Akkord arbeitenden Meisters abhängig. Die Glasmacher [Dieter Schrödter] und [Heinrich Berger] berichteten, dass während ihrer Lehrzeit in den 1950er Jahren in der Glashütte Süßmuth zwar ein betriebseigenes Ausbildungswesen und auch eine Lehrwerkstelle existierte.384 Dennoch wurden sie keineswegs schrittweise in den Beruf eingeführt; im Gegenteil: sie mussten sich die Fähigkeiten zum Glasmachen selbst aneignen. An eine harte Lehrzeit, in der man »manchmal Schmisse gekriegt« habe, erinnerte sich auch der Glasmacher [Reinhard Krämer].385 Er habe diese als »richtige Schikane« erlebt, »aber trotzdem […] dadurch viel gelernt«, »[s]onst [wäre er] nicht so schnell ein Glasbläser geworden«. Für den Wissenserwerb war also auch ein hohes Maß an Leidensfähigkeit und Durchsetzungsfähigkeit sowie Eigenmotivation und Selbstdisziplin erforderlich, weshalb Glasmacher oftmals als sehr willensstarke Persönlichkeiten wahrgenommen wurden. Der Praxis des Schindens, das heißt dem freien oder privaten Arbeiten der Glasmacher während der Pausenzeiten, während des Feierabends oder an den produktionsfreien Tagen am Wochenende, kamen in der Geschichte der Glasbranche traditionell wichtige Funktionen zu.386 Glasmacher nahmen damit informell das Privileg in Anspruch, unter kostenloser Nutzung der (übrig gebliebenen) Glasschmelze Produkte zur Deckung des Eigenbedarfs oder für einen kleinen Zuverdienst zu fertigen. Das Schinden diente aber auch dem Erhalt und der Weiterentwicklung der Fähigkeiten und Geschicklichkeit der Glasmacher. Für Auszubildende bot sich hier eine der wenigen Möglichkeiten des Übens und Experimentierens außerhalb der Akkordarbeit. Als Form der nicht-monetären Entlohnung, der Steigerung der Arbeitszufriedenheit und damit der Betriebsbindung sowie der Qualifikation der Glasmacher und wegen mitunter hervorgebrachter

382 Siehe Wolf-Dietrich Greinert, »Geschichte der Berufsausbildung in Deutschland«, in: Rolf Arnold und Antonius Lipsmeier (Hg.), Handbuch der Berufsbildung, Wiesbaden 20062 , S. 499–508. 383 Zum Begriff siehe Michael Polanyi, Implizites Wissen, Frankfurt a.M. 1985; Harry Collins, Tacit and Explicit Knowledge, Chicago 2010. 384 Folgendes aus [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 353), S. 9; [Berger], 21. März 2014 (s. Anm. 148), S. 1f. 385 Folgendes von [Reinhard Krämer] aus Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak], [Dieter Schrödter], [Reinhard Krämer] und zwei namentlich unbekannten (ehemaligen) Arbeiter*innen, 13. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 3. 386 Das Schinden bezeichnet Bauer als ein »Gewohnheits- und vielleicht Standesrecht der Glasmacher, die bis ins 16. Jahrhundert und möglicherweise noch weiter zurückreichen.« Bauer, Glas (s. Anm. 17), S. 134f. Zur Geschichte des Schindens siehe Haller, Geschundenes Glas (s. Anm. 213); Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 107; Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 11), S. 155f.

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Produkt- oder Verfahrensinnovationen besaß das Schinden in einer Mundglashütte dezidiert ökonomische Funktionen. Die Angst vor Konkurrenz, Leistungsabfall oder Materialverschleiß ließ Glashüttenleitungen dazu indes eine ambivalente Haltung einnehmen.387 Die Unterschiede in der Ausbildung wirkten sich auf die wechselseitige Wahrnehmung und auf das eigene Selbstverständnis aus. Die Glasveredeler begegneten den Glasmachern tendenziell mit Geringschätzung, die auf einem branchenunspezifischen Verständnis vom Handwerk beruhte. Die im Akkordsystem mit Einblasformen arbeitenden, im Fertigungsprozess ausgebildeten sowie auf bestimmte Artikel spezialisierten Glasmacher rückten aus ihrer Perspektive – im Vergleich zu ihnen und den anderen Handwerkern im Betrieb – in die Nähe von Industriearbeitern.388 Durch die Betonung »Glasmachen ist kein Lehrberuf« konnte im Selbstverständnis der Glasmacher die fehlende formale Anerkennung aber auch ins Positive gewendet und zu einer Art Auszeichnung werden: Denn »[n]icht jeder konnte Glasmacher werden.«389 Aus diesem Grund legte der Glasmacher [Manfred Hübner] Wert auf die Bezeichnung Glasmacher statt Glasbläser.390 Mit der Betonung des Machens wurde der Anspruch, eine kreative, kunsthandwerkliche oder künstlerische Arbeit zu vollbringen, unterstrichen – in Abgrenzung sowohl vom Glasblasen als Bezeichnung für einen lediglich weiterverarbeitenden Teilschritt in der Glasindustrie als auch von maschinellen Blasverfahren in massenproduzierenden Großunternehmen. »Glas kann man nicht verarbeiten, Glas wird gestaltet«, war ein unter Glasmachern verbreiteter Spruch.391 Die Besonderheiten im langwierigen Erwerb der Qualifikation wurde damit zu einer »Quelle von Berufsstolz«, wie Welskopp auch für die Hüttenwerker in der Eisen- und Stahlindustrie herausgestellt hat,392 und stiftete zugleich eine Gruppenidentität unter den Glasmachern. Die soziale Trennung und Animositäten zwischen den Facharbeitergruppen waren in der Glashütte Süßmuth besonders ausgeprägt. Die Schleifer hatten aufgrund ihrer biografischen Hintergründe einen persönlich engeren Bezug zu Richard Süßmuth als die Glasmacher, die mit dem erst in Immenhausen vollzogenen Einstieg in die Glaserzeugung als eine neue Beschäftigtengruppe in sein Unternehmen kamen. Letztere fühlten sich gegenüber den Schleifern tendenziell benachteiligt, da Süßmuth – der selbst ein Meister des Glasschliffs war – dem Arbeitsbereich der Glasveredler größere (Inves-

387 Die 1920er Jahre seien laut Haller der »absolute Höhepunkt in der Geschichte des Schindens« gewesen, weshalb damals erstmals Verbote ausgesprochen wurden. Seitdem und je nach Betrieb wechselten sich Erlaubnis und Verbot des Schindens ab. Haller, Geschundenes Glas (s. Anm. 213), S. 18–23; Zu den (in der betrieblichen Praxis oftmals wirkungslosen) Verboten des Schindens durch die NS-Betriebsordnung von 1934 oder laut eines DDR-Betriebsordnungsentwurfs von 1950 siehe Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 107. 388 Siehe Kapitel 5.4. 389 Kleiner, 13. November 2014 (s. Anm. 281), S. 15; Raimann et al., 27. Mai 2013 (s. Anm. 95), S. 47. 390 Transkript Interview der Autorin mit [Manfred Hübner], 11. Juni 2013, im Besitz der Autorin, S. 1; Ebenso Laufer, Traditionen (s. Anm. 188), S. 407; Heinz-Peter Mielke, »Glasmacher und Glaser«, in: Reinhold Reith (Hg.), Das alte Handwerk. Von Bader bis Zinngießer, München 2008, S. 89–94. 391 Kleiner, 13. November 2014 (s. Anm. 281), S. 15f. 392 Welskopp, Produktion (s. Anm. 105), S. 40.

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titions-)Aufmerksamkeit gewidmet habe als der Hütte.393 Den Glasmachern hingegen hielten die anderen Facharbeitergruppen ihre hohen Löhne und ihre exponierte Position im Betrieb vor, die sie angesichts ihrer nicht-formalisierten Qualifikation als ungerecht empfanden.394 Obwohl der gewerkschaftliche Organisationsgrad in beiden Facharbeitergruppen nahezu 100 Prozent betragen habe, galten die Glasschleifer in den Augen der Glasmacher als unternehmernah und politisch konservativ, während sie sich selbst eher in Opposition zum Leitungspersonal sahen und sich politisch links (vor allem sozialdemokratisch) verorteten. Die unterschiedliche Bewertung der politischen Positionierung der Facharbeitergruppen verweist auf zwei einander widersprechende Erzählungen über das politische Bewusstsein von Glasfacharbeitern. Katharina Eisch sieht in den Glasfachleuten – angesichts ihres fehlenden Handwerkerstatus, zünftigen Schutzes und Eigentums – »schon lange vor der eigentlichen Industrialisierung eine ländliche Arbeiterschaft«, die den im 19. Jahrhundert forcierten Rationalisierungen klassenkämpferisch begegnete.395 Ihr für die Mundglashütten sehr wertvolles Fertigungs- und Erfahrungswissen, das von Generation zu Generation exklusiv weitergegeben wurde, sei das Hauptkapital der Glasmacherfamilien gewesen und Quelle eines unter Glasmachern ausgeprägten Selbstbewusstseins.396 Die Erfahrungen von Recht- und Besitzlosigkeit auf der einen, die relative starke Verhandlungsposition gegenüber den Glasunternehmern auf der anderen Seite habe unter Glasarbeitenden ein spezifisches Produktions- und Sozialmilieu begründet. Dieses habe sich durch ein frühes sozialdemokratisches und gewerkschaftliches Engagement, wie es auch Georg Goes aufzeigt, eine spezifische Kultur der Kollektivität sowie eine »größere Aufmerksamkeit gegenüber Veränderungen« ausgezeichnet.397 Johannes Laufer betont dagegen die traditionell privilegierte Position von Glasfacharbeitern gegenüber anderen Beschäftigtengruppen einer Glashütte und erkennt in ihnen ein typisches Beispiel von »ständischen Lohnarbeitern«.398 Das »[s]olidarische Handeln einzelner Gruppen wie der Glasmacher – beispielsweise in Lohnfragen« – dürfe »nicht a priori als Ausweis proletarischen Be-

393 [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 353), S. 19. 394 Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Willi Voigt], 22. Januar 1974, im Besitz der Autorin. Siehe Kapitel 5.2 und 5.4. 395 Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 79f. 396 Glasmacher »galten bis ins 20. Jahrhundert hinein als stolze und selbstbewusste Leute«, die »im allgemeinen ihren Wert den Hüttenherren gegenüber geltend zu machen« wussten und oftmals »wenig Hemmungen [gezeigt haben], von heute auf morgen die Hütte zu verlassen, wenn ihnen der Arbeitsplatz nicht mehr zusagte oder ein anderer Fabrikbesitzer bessere Bedingungen anbot.« Ebd., S. 79. 397 Ebd., S. 80; Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 228–294. 398 Laufer sieht in den »Glashüttenarbeitern« und vor allem in den Glasmachern einen »weitgehend abgeschlossene[n] Berufsstand mit bestimmten Verhaltensnormen«, die »vor allem gegenüber den einfachen unqualifizierten Lohnarbeitern noch weitgehend bis ins 20. Jahrhundert eine sozial herausgehobene Stellung« behauptet hätten. »Als ständische Lohnarbeiter« seien sie »im Unterschied zu freien Lohnarbeitern vor extremen Folgen der Abhängigkeit von den Märkten einigermaßen gesichert« gewesen. Die Tafelglasmacher der Grünenplaner Hütte charakterisiert Laufer als »Arbeiteraristokratie« par excellence. Laufer, Traditionen (s. Anm. 188), S. 499; Laufer, Spiegelglas (s. Anm. 27), S. 170, 172f., 500.

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wusstseins interpretiert werden«.399 In Reaktion auf mit der Industrialisierung und dem Aufkommen der Fabrik verbundenen Verunsicherungen und Abstiegsängsten habe sich bei den Glasfacharbeitern ein »Standes- oder Berufsethos« manifestiert, das »eine festere Verbindung mit anderen Arbeitern und der Arbeiterbewegung blockierte.«400 Die von ihnen als Angehörige einer »Arbeiteraristokratie« und als »the last stand of artisans in the face of mechanization« seit Ende des 19. Jahrhunderts geführten Arbeitskämpfe seien daher nicht von sozialistischen, sondern von konservativen Motiven geprägt gewesen – wie auch Joan Wallach Scott argumentiert –; es sei ihnen vorrangig um die Wahrung ihrer berufsständischen Privilegien gegangen.401 Angesichts der mit der Industrialisierung sich ausdifferenzierenden Glasbranche sowie regionaler und betrieblicher Unterschiede sind solchen Generalisierungen Grenzen gesetzt. Festzuhalten bleibt indes, dass beide Lesarten auch in der Glashütte Süßmuth Selbst- und Fremdwahrnehmung der Glasfacharbeiter prägten. Unabhängig von der politischen Trennlinie, die zwischen konservativen Unternehmer und Schleifern auf der einen sowie den mehrheitlich sozialdemokratischen Glasmachern auf der anderen Seite verlief, seien etliche Glasmacher auch aus Wertschätzung von Richard Süßmuth als Glaskünstler nach Immenhausen gekommen.402 Zu Annäherungen zwischen Glasmachern und -schleifern kam es vor allem innerhalb der jüngeren Generation durch die gemeinsame Ausbildung in der betriebseigenen Berufsschule, die Mitgliedschaft in der Betriebsfußballmannschaft sowie das weiter unten noch darzulegende gemeinsame gewerkschaftspolitische Engagement in und außerhalb des Betriebs. Verbindend wirkten darüber hinaus die stoffformenden Arbeitsschritte, die beide Facharbeitergruppen in eine direkte Beziehung zum Produkt setzten. Ihre Tätigkeiten gaben dem flüssigen Werkstoff die endgültige Form bzw. dem Werkstück das Dekor. Die Voraussetzungen für eine hohe Identifikation mit dem Beruf sowie dem Produkt als Resultat ihrer Arbeit waren also bei beiden Gruppen gegeben. Man habe sich bereits vor der Selbstverwaltung »viel stärker mit den Dingen identifiziert [und] viel stärker verbunden gefühlt«, betonte der Graveur [Holger Neumer] und meinte hierbei die Glasveredler wie die Glasmacher gleichermaßen.403 Eine besondere »Verbundenheit von dem Werkstoff zu den Menschen« stellte auch der Glasmacher [Paul Nowak] heraus.404 »Der Mensch kann ja den Werkstoff Glas formen, er kann ihn gestalten«; im Unterschied zur »Automobilindustrie, wo man den ganzen Tag nur die Schrauben anzieht oder Reifen montiert«. Mit der Betonung der Abwechslung und Vielfältigkeit der Produktformen grenzte [Nowak] die Tätigkeiten in einer Mundglashütte grundlegend von der Monotonie der Arbeiten in anderen Branchen ab. Obwohl der Einsatz von Einblasformen bzw. Dekor-Schablonen die gestalterische Freiheit der Glasmacher und Glasveredeler eingrenzte, bildete die Würdigung der 399 Laufer, Spiegelglas (s. Anm. 27), S. 187. 400 Laufer, Traditionen (s. Anm. 188), S. 372, 406. 401 Joan Wallach Scott, The Glassworkers of Carmaux. French Craftsmen and Political Action in a NineteenthCentury City, Cambridge Mass. 1974, S. 191. 402 Süßmuths »Name war bekannt, und deswegen hatte er auch so viel Zuspruch gehabt an Glasmachern von überall her.« [Wilke], 31. Juli 2014 (s. Anm. 155), S. 4. 403 [Holger Neumer] zitiert in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 362), S. 18. 404 Folgendes von [Paul Nowak] zitiert in Ebd.

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(kunst-)handwerklichen Dimension der eigenen Arbeit eine Basis für die Anerkennung unter Kollegen – auch jener aus den anderen Facharbeitergruppen, die über gute Leistungen in der Produktion »erarbeitet« werden konnte. Die über die Anerkennung in der Belegschaft sich bestärkende und zum Teil übergreifende Gruppenidentität konnte so auch in einer Mundglashütte zu einer wichtigen »Ressource im Arbeitskampf« werden.405 Nicht zufällig trat [Paul Nowak] als Glasmachermeister einer Werkstelle, die sich hinsichtlich der Arbeitsleistung in den 1960er Jahren »an der Spitze« befunden habe,406 und der zugleich Sprecher der gewerkschaftlichen Vertrauensleute war, als einer der lautesten Kritiker gegenüber dem Führungspersonal auf. In seiner Berufslaufbahn habe er gelernt, dass man sich »gegenüber der Geschäftsleitung nur behaupten [kann], wenn sie dir nichts anhaben können an der Leistung.«407

Die Nicht-Facharbeiter*innen Die Gruppe der Beschäftigten ohne formal anerkannte Qualifikation bestand zu einem Drittel aus Männern, die sich in der Ausbildung befanden, ein hohes Alter oder körperliche Beeinträchtigungen aufwiesen.408 Die Mehrheit der Beschäftigten dieser Statusgruppe war weiblich. Keine der in der Produktion beschäftigten Frauen, deren Anteil an der gesamten Belegschaft etwas mehr als ein Drittel betrug, befand sich in der Position der Facharbeiterin bzw. wurde als solche bezahlt.409 Das Lohn- und Statusgefälle zwischen Facharbeitern und Nicht-Facharbeiter*innen stand in unmittelbaren Zusammenhang mit betrieblichen wie außerbetrieblichen Geschlechterverhältnissen. NichtFacharbeiter*innen wurden generell unattraktive und schlecht bezahlte Tätigkeiten zugewiesen, innerhalb dieser Statusgruppe lässt sich darüber hinaus eine genderspezifische Ungleichheit aufzeigen. Frauen waren – wie Tabelle 5 veranschaulicht – in allen Abteilungen der Produktion beschäftigt.410 Die Hütte als Ort der Glasschmelze und -formung blieb allerdings bran-

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Welskopp, Arbeit (s. Anm. 108), S. 40. [Nowak] et al., 13. Dezember 1973 (s. Anm. 385), S. 4. [Paul Nowak] zitiert in Ebd., S. 5. Mit [Heinz Kluge] war bspw. seit 1955 ein Pförtner beschäftigt, der sich im Zweiten Weltkrieg eine gravierende Verletzung zugezogen hatte. Eine Gruppe von Taubstummen habe eine Ausbildung in der Schleiferei durchlaufen. In den öffentlichen Würdigungen Süßmuths fand diese Personalpolitik als karitative Leistung Anerkennung. Die »bevorzugte« Einstellung von »Geschädigten« gehörte zugleich auch zu einer Voraussetzung für den Erhalt von staatsverbürgten Krediten. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Heinz Kluge], undatiert [Sommer/Herbst 1973], im Besitz der Autorin, S. 1; Kreditvertrag LKK, undatiert [September 1966], in: FHI, Schöf-1224, S. 3. 409 Der Anteil der Arbeiterinnen an den Lohnabhängigen insgesamt lag 1956 bei knapp 36 Prozent und 1969 bei 33 Prozent. HWMi, 9. Februar 1956 (s. Anm. 203); Lohn- und Personalliste, 20. September 1969 (s. Anm. 177). 410 Siehe auch Christiane Mende, »Arbeiterinnenselbstverwaltung? Normalität und Aufbruch im Arbeitsalltag der belegschaftseigenen Glashütte Süßmuth«, in: Maria Bühner und Maren Möhring (Hg.), Europäische Geschlechtergeschichte, Stuttgart 2018, S. 171–188, Online: www.europa.clioonline.de/essay/id/fdae-1703.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

chenweit eine Männerdomäne.411 Die Tätigkeit des Eintragens, das heißt der Transport der Glasartikel nach der Formung vor dem Ofen zur Kühlstelle, wurde angesichts des Arbeitskräftemangels in der Glashütte Süßmuth ab Ende der 1950er erstmals auch von Frauen ausgeführt. Diese Beschäftigtengruppe bestand 1969 aus zehn jungen Männern im Alter von 14 bis 17 Jahren, aus zehn Männern zwischen 45 und 65 Jahren sowie aus sieben Frauen zwischen 18 und 37 Jahren.412 Lediglich die jungen Einträger als potenziell angehende Glasmacher hatten in der Hütte Aufstiegsaussichten. Unter den älteren Einträgern und den Einträgerinnen zeichnete sich hingegen eine hohe Fluktuation und mit durchschnittlich zwei Jahren eine vergleichsweise kurze Betriebsangehörigkeit ab. Über die Tätigkeit des Eintragens konnten Hilfskräfte einen Einstieg in den Betrieb finden und oftmals begannen sie im Anschluss hieran in anderen Abteilungen zu arbeiten. Die Kühlbandabnahme und die weiterverarbeitenden Tätigkeiten des Absprengens und Verschmelzens, des Sortierens und Waschens wurden nahezu ausschließlich von Frauen ausgeführt.413 Mit der Zuteilung monotoner Teilarbeitsschritte sowie von Zuund Säuberungsarbeiten fanden sich diese Arbeiterinnen – ähnlich wie die Einträger*innen – in ausführenden Tätigkeiten wieder, die ihnen sehr viel weniger Gestaltungsspielräume gewährten als den Facharbeitern. Sie wiesen im Vergleich zu den Einträger*innen eine relativ lange Betriebszugehörigkeit und ein höheres Alter auf.414 Der einzige im September 1969 beschäftigte Sprenger war seit fünf Jahren in der Glashütte Süßmuth und erhielt einen Stundenlohn von 3,84 DM; seinen Sprengerkolleginnen hingegen, die zum Teil bereits bis zu 20 Jahren im Betrieb tätig waren, wurden lediglich Stundensätze zwischen 3,38 DM und 3,52 DM bezahlt. Eine ausschließlich auf das Geschlecht zurückzuführende ungleiche Bezahlung ist auch für das Eintragen belegt. Während alle volljährigen Einträger einen Stundenlohn von 3,74 DM erhielten, betrug er bei volljährigen Einträgerinnen nur 3,61 DM. Also selbst da, wo Männer und Frauen die gleiche Arbeit verrichteten, verdienten Männer mehr als Frauen, ohne dass eine Korrelation zu Faktoren wie Betriebszugehörigkeit, Alter oder Qualifikation nachgewiesen werden konnte. Als weiteres Beispiel hierfür kann die Glasmalerin [Marie Schlüter] angeführt werden, die – als einzige in der Flachglasmalerei beschäftigte Frau – 1969 einen Stundenlohn von 3,83 DM erhielt, während der Stundenlohn ihrer fünf männlichen Kollegen zwischen 4,63 DM und 4,90 DM lag. Der Glasmaler [Frank Weber], mit dem [Schlüter] gemeinsam bei Richard Süßmuth in Penzig die Ausbildung durchlaufen hatte,415 verdiente als Abteilungsleiter 5,23 DM pro Stunde. Hinsichtlich der genderspezifischen Lohndiskriminierung stellte die Glashütte Süßmuth – sowohl im Vergleich zu anderen Unternehmen der

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Die »Verordnung über die Beschäftigung von Arbeitern unter achtzehn Jahren und von Arbeiterinnen in der Glasindustrie« von 1930 hob die während des Ersten Weltkriegs eingeführte Ausnahmegenehmigung auf und verbot Frauen das »Arbeiten vor dem Ofen«. Zitiert in Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 101. 412 Lohn- und Personalliste, 20. September 1969 (s. Anm. 177). 413 Diese Arbeitsteilung war auch in den Vergleichsunternehmen üblich. Für Hirschberg siehe Kleiner, 13. November 2014 (s. Anm. 281), S. 20. Für Eisch siehe Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 94f. 414 Folgendes aus Lohn- und Personalliste, 20. September 1969 (s. Anm. 177). 415 [Weber] und [Schlüter], [1973/74] (s. Anm. 224), S. 1.

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Teil I: Die Entstehungsbedingungen der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Glasbranche wie auch in anderen Branchen der Bundesrepublik – keine Besonderheit dar.416 Die Arbeitsverhältnisse von Frauen waren in der Glashütte Süßmuth sehr viel instabiler als jene der Männer. Sie waren im Gegensatz zu den Facharbeitern bei Betriebseintritt selten unter 20 Jahre. Nach einer Schwangerschaft mussten sie in der Regel für mindestens drei Jahre zu Hause bleiben, da es in Immenhausen damals kein Betreuungsangebot für Kleinkinder gab.417 [Ingrid Buchholz] berichtet, dass sie Mitte der 1960er Jahre die einzige Frau im Unternehmen gewesen sei, die ihre Berufstätigkeit unmittelbar nach Geburt ihres Kindes wieder aufnahm. Dies war möglich, da sie als Verwaltungsangestellte die buchhalterische Arbeit auch von zu Hause aus erledigen konnte.418 Der Wegzug aufgrund des Arbeitsplatzwechsels des Ehemannes oder die Pflege von Familienmitgliedern waren weitere Gründe, weshalb Arbeiterinnen ihre Tätigkeit in der Glashütte beendeten oder unterbrachen. Angesichts der ungleichen Entlohnung hatte in der Regel das Arbeitsverhältnis des Ehemannes Vorrang. So verließ die Sprengerin [Helga Wermke] in den 1960er Jahren den Betrieb, weil die kranke Schwiegermutter tagsüber gepflegt werden musste. Da die Familie »auf das Geld nicht verzichten« konnte, nahm sie stattdessen »eine Nachtschichtstelle bei der Post« an.419 Neben der Notwendigkeit, die Existenzgrundlage der Familie über ein zweites Einkommen zu sichern, war auch der Wunsch, den Lebensstandard (beispielsweise durch den Eigenheimbau) zu verbessern, ein Grund für Frauen, in der Glashütte Süßmuth zu arbeiten.420 Oft handelte es

416 Weibliche Angestellte und Arbeiterinnen verdienten Ende der 1960er Jahre im bundesdeutschen Durchschnitt lediglich 60 Prozent des Einkommens von Männern. Schildt, Sozialgeschichte (s. Anm. 72), S. 55. Frauenarbeit wurde oft mit »leichter Arbeit« attribuiert. Zur Lohndiskriminierung von Frauen aufgrund deren Einstufung in sogenannte Leichtlohngruppen, die wegen »fehlender objektiver Kriterien zur Messbarkeit der Schwere von Arbeit« hochgradig von genderspezifischen Vorstellungen geprägt war, siehe Pamela Wehling und Katja Müller, »Ungleich, vergleichbar, gleich. Auf dem Weg zur geschlechtsneutralen Arbeitswelt? Geschlechtliche Differenzierungsprozesse im Kontext von Arbeit«, in: Arbeits- und Industriesoziologische Studien 2 (2014), S. 22–40, 27f. 417 Protokoll Telefonat der Autorin mit Uta Dietrich (Leiterin der Kindertagesstätte Immenhausen), 8. Januar 2014, im Besitz der Autorin. 418 [Buchholz], 19. März 2014 (s. Anm. 155), S. 1f. 419 »Nachts war mein Mann da und tagsüber war ich zu Hause.« [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 185), S. 33. 420 Während Ute Frevert als Grund für die Erwerbsarbeit von Frauen die Sicherung und Hebung des Lebensstandards sowie Teilhabe an der Konsumgesellschaft herausstreicht, weist Christine von Oertzen bereits für die zweite Hälfte der 1950er Jahre das Bedürfnis von Frauen nach außerhäuslicher Betätigung und eigenem Verdienst nach. Statt von eindeutigen Prioritäten einer Familienoder Berufsorientierung auszugehen, plädiert Carola Sachse dafür, die Selbstbilder und Lebensziele von Frauen in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit zu untersuchen, in welchen individuell je unterschiedliche Bedürfnisse und Ansprüche kombiniert wurden. Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und neuer Weiblichkeit, Frankfurt a.M. 2001, S. 253–272; Christine von Oertzen, Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948–1969, Göttingen 1999; Carola Sachse, Der Hausarbeitstag. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung in Ost und West 1939–1994, Göttingen 2002, S. 433.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

sich hierbei – wie bei [Wermke] oder der Kühlbandabnehmerin [Monika Weber] – um die Ehefrauen von Glasfacharbeitern.421 Die genderspezifische Arbeitsteilung und Rollenzuschreibungen entsprachen den heteronormativen Verhältnissen in der Bundesrepublik; Hausarbeit und Kindererziehung sowie sonstige Pflege- und Reproduktionsarbeiten gehörten zum klaren Aufgabenbereich der Frauen, für den sie trotz ihrer Berufstätigkeit größtenteils allein zuständig waren. Um Familie und Beruf vereinbaren zu können, arbeitete – zumindest im Jahr 1971 – ein Drittel der Frauen in Teilzeit.422 Wegen der geringeren Qualifikationsanforderungen ihrer Tätigkeiten konnten Frauen bzw. Nicht-Facharbeiter*innen relativ flexibel an jenen Orten des Betriebs eingesetzt werden, wo Bedarf bestand.423 [Helga Wermke] war beispielsweise zunächst in der Rauschleiferei tätig, wechselte dann an das Kühlband und wurde – wenn »zu wenig Arbeit da war« – punktuell in der Sprengerei eingesetzt, wo sie zuletzt ausschließlich beschäftigt war.424 Der höhere Fluktuationsgrad, die Ausübung eher monotoner Tätigkeiten bei vergleichsweise geringeren materiellen und sozialen Kompensationsmöglichkeiten waren strukturelle Faktoren, die zu einer tendenziell schwächeren Betriebsbindung von Nicht-Facharbeiter*innen führten. Auf den ersten Blick mag es daher verwundern, dass der Sprengerin [Wermke] ihre Arbeit viel Spaß gemacht hatte und es für sie ein »großes Opfer« war, den Betrieb aufgrund der Pflege ihrer Schwiegermutter zu verlassen.425 Aus dem einzigen längeren Gespräch, das Erasmus Schöfer mit Arbeiterinnen der Glashütte Süßmuth führte, geht hervor, dass nicht nur bei Facharbeitern, sondern auch bei ihnen – trotz durchschnittlich kürzerer Verweildauer und sozial weniger prestigeträchtigen Tätigkeiten – die Identifikation mit ihrer Erwerbstätigkeit sehr ausgeprägt war.426 Ihre Betriebsbindung verweist auf einen sozialen Zusammenhalt unter Kolleg*innen, der aus kommunikativen Praktiken im Arbeitsprozess resultierte und sich nicht – wie bei den Glasmachern – aus der Arbeitsteilung ergab. Vielmehr veranlasste sie beispielsweise das geteilte Wissen um die körperlichen Anstrengungen beim manuellen Transport der Kisten, einander am Kühlband oder in den nachgelagerten Abteilungen auf Zuruf zu helfen, auch wenn nicht immer Zeit dazu war. Die 421 In der Geschichte der Glasbranche gehörte die Beschäftigungsgarantie für Kinder und Ehefrauen zu den »berufsständischen« Sonderrechten der Glasfacharbeiter, die das Familieneinkommen gegen saisonale Schwankungen und den Glashüttenbesitzern zugleich günstige Arbeitskräfte für die Hilfsarbeiten sicherten. Laufer, Traditionen (s. Anm. 188), S. 373f. 422 Im Sommer 1971 arbeiteten 7 weibliche Angestellte und 27 von den insgesamt 84 in der Produktion beschäftigten Frauen in Teilzeit. Von den insgesamt 143 Arbeitern befand sich nur ein Mann in einem Teilzeitarbeitsverhältnis. Aktuelle Zahlen GHS, 31. Juli 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 423 Die betrieblichen Abteilungswechseln bezeichnet Goes als eine generell »typisch[e] Mobilitätsfor[m] der Hilfsarbeiter« in der Glasbranche. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 124. 424 [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 185), S. 2. Ähnlich gestalteten sich die Erwerbsbiografien von [Gisela Ulbricht] und [Margrit Becker]. Beide fingen zunächst als Einträgerinnen in der GHS an und wechselten dann in andere Abteilungen. [Ulbricht], 17. März 2014 (s. Anm. 156), S. 1–3; Transkript Gruppeninterview der Autorin mit [Margrit Becker] und [Egon Köster], 18. März 2014, im Besitz der Autorin, S. 2. 425 [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 185), S. 33. 426 Siehe Auszüge und Analyse dieses Gesprächs in Mende, Arbeiterinnenselbstverwaltung (s. Anm. 410).

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Arbeiterinnen eigneten sich ihren Arbeitsplatz an und gestalteten ihn mit gemeinsamen Essen in der Pause oder kleinen Feiern schön, ungeachtet der sich mit der krisenhaften Unternehmensentwicklung in den 1960er Jahren verschlechternden Arbeitsbedingungen. Das defekte, große Hitze abstrahlende Kühlband nutzten sie für das gemeinsame Zubereiten des Mittagessens für sich und gegebenenfalls die Ehemänner im Betrieb,427 wodurch zugleich ein Ort der Begegnung mit einer griechischen Kollegin entstand, zu welcher sie sonst offensichtlich kaum Kontakt hatten.428 Am Arbeitsplatz entwickelten sich freundschaftliche Beziehungen, die über den Betrieb hinausreichten und mitunter ein Grund für die Vorfreude auf die Rückkehr in die Erwerbstätigkeit nach der KinderPause waren. Diese Betriebsbindung hing darüber hinaus mit einem spezifischen Erfahrungswissen zusammen, das die unqualifiziert Beschäftigten mit der Zeit über ihren Arbeitsbereich gewannen und welches sie in dem von vielfältigen Unregelmäßigkeiten geprägten Fertigungsprozess auszeichnete. Dies offenbarte sich zum Beispiel in einem Konflikt zwischen dem Betriebsleiter [Ludwig Hager] und dem Betriebsrat sowie den leitenden Facharbeitern der Rauschleiferei im Frühjahr 1969.429 Damals führte Arbeitskräftemangel dazu, dass Mitarbeiter aus anderen Abteilungen für Tätigkeiten in der Rauschleiferei herangezogen wurden, die nach Meinung des Betriebsrats »der Akkordgruppe für lange Zeit Verluste beigefügt haben.« Dieses Argument ließ [Ludwig Hager] nicht gelten, da es sich hierbei um Facharbeiter aus der Feinschleiferei handelte, die eine »größere Leistung mitgebracht« hätten. Dass sich diese nicht in den Arbeitsergebnissen niederschlug, führte [Hager] auf das Versagen des Abteilungsleiters und der Vorarbeiter in der Rauschleiferei zurück. Die Kontroverse warf implizit die Frage auf, welche Fähigkeiten als qualifiziert anerkannt wurden und welche Erwartungen damit verbunden waren. Auch wenn die Nicht-Facharbeiter*innen der Rauschleiferei angelernte Tätigkeiten ausführten, benötigten sie ein spezifisches Fertigungswissen, um einen zügigen Arbeitsablauf zu gewährleisten, das die zwar formal qualifizierten, jedoch abteilungsfremden Facharbeiter aus der Feinschleiferei nicht besaßen. Die Fertigung im Mundblasverfahren und die große Artikelvielfalt bedingte, dass »jedes Glas anders« war, beispielsweise auch jeweils anders gesprengt werden musste.430 Nicht nur bei der Formung und Veredelung, sondern auch in den dazwischen liegenden Tätigkeiten der Weiterverarbeitung standen die Arbeitenden in einer unmittelbaren Beziehung zum Produkt. Und auch hier waren eine permanente Sorgfalt und Präzision in der Anwendung der Hand-Werkzeug-Technik erforderlich und damit ein Wissen, das erst in der Arbeitspraxis erworben werden musste. Ihr spezifisches Erfahrungswissen konnte folglich eine Machtressource in den betrieblichen Arbeitsbeziehungen darstellen,

427 Bspw. hatten sie ihr Mittagessen »auf dem Kühlbändern warm gemacht, Bratwurst und Ei gebraten«. [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 185), S. 3. 428 Unter Richard Süßmuths Geschäftsführung war nur eine geringe Anzahl von Arbeitsmigrant*innen in der GHS beschäftigt. Die ersten seien Anfang der 1960er Jahre eingestellt worden und aus Italien und Griechenland gekommen. [Schmidt], 7. Februar 2013 (s. Anm. 298), S. 33f. Siehe Kapitel 4.3. 429 Folgendes aus Stellungnahme [Ludwig Hager], undatiert [März 1969], in: AGI. 430 [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 185), S. 35f.

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die sie zwar – anders als ihre Facharbeiterkollegen – nicht zu einem offensiven und konfrontativen Auftreten gegenüber ihren Vorgesetzten befähigte. Angesichts des während der 1960er Jahre virulenten Mangels insbesondere an Nicht-Facharbeiter*innen konnte die Geschäftsleitung mit ihnen allerdings auch nicht mehr »Schach spielen« wie früher, als »am Tor […] schon der Nächste« stand.431 War es Richard Süßmuth durch seine betriebliche Sozialpolitik gelungen, vor allem eine Gruppe junger und gut ausgebildeter Facharbeiter an sein Unternehmen zu binden, so wurde es zunehmend schwieriger und dringlicher, die Nicht-Facharbeiter*innen zu den gegebenen unattraktiven Lohn- und Arbeitsbedingungen im Betrieb zu halten bzw. neue zu gewinnen.432 Wie der dargestellte Konfliktfall aus dem Frühjahr 1969 aufzeigt, war das technische Leitungspersonal daher gezwungen, selbst abteilungsfremde und höher entlohnte Facharbeiter für Tätigkeiten, die sonst von Nicht-Facharbeiter*innen ausgeführt wurden, heranzuziehen.

Die Angestellten Die Gruppe der Angestellten blieb mit einer Zahl von 47 im Jahr 1956 und 46 im Jahr 1968 relativ konstant.433 Etwas mehr als zwei Drittel waren im Vertrieb und in der Verwaltung, der Rest im Bereich der Produktion tätig, wo Abteilungsleiter in der Regel den Status gewerblicher Angestellter besaßen.434 Unter den 23 kaufmännischen Angestellten im Jahr 1971 befanden sich 15 Frauen, die zur Hälfte in Teilzeitarbeitsverhältnissen beschäftigt waren.435 Weibliche Angestellte arbeiteten insbesondere in der Buchhaltung und der Registratur. Leitungsfunktionen wurden in allen Unternehmensbereichen ausschließlich von Männern ausgeübt. Über die bereits in Kapitel 1.4 dargelegten biografischen Hintergründe hinaus können zur Beschäftigtengruppe der Angestellten aufgrund fehlender Personaldaten keine weiteren Angaben gemacht werden. Festzuhalten bleibt, dass auch unter den kaufmännischen Angestellten die Identifikation mit dem Betrieb und den hier gefertigten Produkten mitunter sehr ausgeprägt war. So hatte der Verkaufsangestellten [Ingrid Buchholz] die Arbeit »mit diesem schönen Artikel« und insbesondere die Präsentation der Produkte auf den Messen »immer sehr viel Freude gemacht«.436

Das Verhältnis zwischen Belegschaft und Unternehmensleitung Das Verhältnis der Beschäftigten zum Unternehmer Richard Süßmuth war unmittelbar nach Inbetriebnahme der Glashütte in Immenhausen von großer Abhängigkeit geprägt. Süßmuth gab Lohn und Brot in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit und stellte dringend benötigten Wohnraum zur Verfügung, der an die Beschäftigung im Betrieb gekoppelt

431 [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 177), S. 3. 432 Die sehr viel bessere Entlohnung bei der Post war bspw. der Grund, weshalb [Helga Wermke] auch nach dem Tod ihrer Schwiegermutter nicht wieder in der GHS zu arbeiten begann. [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 185), S. 33. 433 HWMi, 9. Februar 1956 (s. Anm. 203); RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 75), Anlage 1. 434 RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 75), Anlage 1. 435 Zahlen GHS, 31. Juli 1971 (s. Anm. 422). 436 [Buchholz], 19. März 2014 (s. Anm. 155), S. 3.

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war.437 Für die Beschäftigten mit »Vertreibungshintergrund«, die zu Beginn die Mehrheit der Belegschaft ausmachten, war Süßmuth zugleich eine Autorität und Persönlichkeit, der sie sich aus Dankbarkeit, geteilter Fluchterfahrung und Religion verbunden fühlten. Entlang der Herkunft aus den »ehemaligen deutschen Ostgebieten« und der katholischen Konfession kam es innerhalb des Unternehmens – als Erfolg von Süßmuths dahingehenden Bemühungen – zu einer Vergemeinschaftung, in die große Teile der Belegschaft und der Unternehmer gleichermaßen inbegriffen waren. Der neue Wohnort in einer bis 1945 rein evangelisch geprägten Region verstärkte einmal mehr das Zusammengehörigkeitsgefühl. Eine ähnliche soziale Herkunft Süßmuths als gelernter Schleifer, dessen »Heim […] ja nicht in der Villa eines Fabrikanten, sondern in einem Arbeiterwohnhaus einer Glashütte« stand, dürfte nicht nur in der Wahrnehmung des Unternehmers, sondern auch in jener der Beschäftigten die gefühlte Distanz zwischen oben und unten reduziert haben.438 Nach Ende der NS-Diktatur und unter den Bedingungen beginnender Demokratisierungsprozesse in der westdeutschen Gesellschaft stieß Richard Süßmuth in Immenhausen von Anfang an auf Schwierigkeiten, seine Ambitionen einer »Veredelung« der Menschen in einer organisch gedachten Gemeinschaft – so wie es »früher« in Penzig ganz »selbstverständlich« gewesen sei – zu seiner Zufriedenheit zu realisieren.439 Bereits im Februar 1947 bereiteten ihm die »Sozialisierungsbestrebungen« einiger seiner »östlich infiziert[en]« Beschäftigten große Sorge.440 Im Sommer 1956 gestand er seinem Freund aus der Jugendmusikbewegung Richard Poppe, dass – gemessen an seinen Anstrengungen – die angestrebte »Elitebildung« und »Formung« der Beschäftigten nur wenig Resultate zeitige, weshalb es ihm zunehmend schwerer falle, hierfür den »Schwung und die Kraft« aufbringen.441 Das »Werk« sei mit über 400 Beschäftigten »zu groß geworden«; es seien »viele hinzu[gekommen], die nur noch die Lohntüte sehen, denen der Rundfunk-Apparat, das Motorrad und das Fernsehgerät viel wichtiger sind.« Als es 1963 zum ersten Mal in der Unternehmensgeschichte zu einem offiziellen Streik kam, war dies für Richard Süßmuth ein Schock.442 Zu einem Zeitpunkt, als die Anzahl der Streiks bundesweit auf einen historischen Tiefpunkt sank,443 kämpfte die IG Chemie in der süddeutschen Hohlglasindustrie im 437 »Wird das Arbeits- oder Dienstverhältnis wegen eines im Verhalten des Werkangehörigen liegenden Grunde aufgelöst, so verliert er den Anspruch auf die Werkwohnung.« Mietvertrag Muster (GHS), undatiert, §18, Absatz 1, in: AGI. 438 Richard Süßmuth zitiert in Typoskript Interview Günter Wallraff mit Richard Süßmuth, undatiert [März 1970], in: FHI, Schöf-1195, S. 9. Hierin unterschieden sich Inhaber von Mundglashütten grundlegend von denen der »Hüttenwerke« der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie. Welskopp, Produktion (s. Anm. 105), S. 49. 439 Süßmuth, Schlesische Glashütte (s. Anm. 297). 440 Süßmuth, 19. Februar 1947 (s. Anm. 257). 441 Folgendes aus Süßmuth, Schlesische Glashütte (s. Anm. 297), S. 17f. Poppe war ein führendes Mitglied des Finkensteiner Bundes. 442 Zuvor hatte es in der GHS mindestens einen wilden Streik gegeben: Am 20. Dezember 1960 legten die Glasmacher für zwei Stunden die Arbeit nieder. Richard Süßmuth an VdG, 27. Januar 1961, in: BWA, F 064–75. 443 Hasso Spode, Heinrich Volkmann, Günter Morsch u.a., Statistik der Arbeitskämpfe in Deutschland, St. Katharinen 1992, S. 343–347.

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Mai 1963 um die tarifliche Verankerung von zwei bis vier zusätzlichen Urlaubstagen. Zwei Drittel der 330-köpfigen Belegschaft in Immenhausen beteiligten sich an dem schließlich zwei Wochen anhaltenden Streik.444 Zuvor hatte Richard Süßmuth vergeblich an die Beschäftigten appelliert, den Arbeitskampf zu unterlassen, »nicht nur aus Sorge um das Werk, sondern auch aus Sorge um Sie und um Ihre Familie«.445 Seine Trauer hierüber brachte er zum Ausdruck, indem er sich »einen schwarzen Binder« anlegte.446 Mit Bratwurst und Briketts als Belohnung für die Streikbrechenden untermalt mit Freddy Quinns Schlager-Hit »Junge komm bald wieder« habe Süßmuth erfolglos versucht, die Streikenden von der Unrechtmäßigkeit ihrer Forderungen zu überzeugen.447 Was als bizarre Parodie erscheint, war Ausdruck echter Enttäuschung eines Unternehmers, der seinem Selbstverständnis nach sich stets um die Belegschaft gesorgt hatte. Ihn erschütterte, dass diese sich gerade in einer Zeit gegen ihn wandte, als die gesamte Branche unter Druck geriet und er eigentlich mit ihrer Treue und Opferbereitschaft gerechnet hatte.448 Seine »familiäre« Unternehmensführung zeigte Anfang der 1960er Jahre insofern noch Wirkung, als sich immerhin ein Drittel der Belegschaft nicht am Arbeitskampf beteiligte.449 Süßmuth und der VdG konnten jedoch nicht verhindern, dass der Streik mit der erfolgreichen Durchsetzung der gewerkschaftlichen Forderungen endete. Die Arbeitgeberseite musste für die Jahre 1964 und 1965 die schrittweise Erhöhung um bis zu vier zusätzliche Urlaubstage ebenso zusichern wie jene des Urlaubsgeldes.450 Im branchenweiten Arbeitskampf der IG Chemie kam der Glashütte Süßmuth eine wichtige strategische Bedeutung zu, war doch Richard Süßmuth Vorsitzender des hessischen Landesverbandes des VdG. Die Ereignisse vom Mai 1963 lassen sich aber nicht auf die überbetriebliche Konfliktlage zwischen den Tarifpartnern reduzieren. Vielmehr ist dieser Streik als Resultat von Verständigungsprozessen inner- wie außerhalb des Betriebes zu verstehen, im Zuge dessen sich ein Teil der Beschäftigten gegenüber der Unternehmensleitung zu behaupten und seine Forderungen, Kritik und Ansichten in die betrieblichen Auseinandersetzungen einzubringen begann. Das Verhältnis der Belegschaft zur Unternehmensleitung unterlag also grundlegenden strukturellen Veränderungen, wie sie im Streik vom Mai 1963 erstmals offen zutage getreten waren.

444 In der Urabstimmung hatten laut Angaben der IG Chemie 96 Prozent und laut Angaben des VdG 86,8 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in der GHS für den Streik gestimmt. IG CPK Kassel, Von 1945 bis 1985 (s. Anm. 352), S. 62; VdG-Sonderrundschreiben, 20. Mai 1963, in: WABW, Bestand B 164 Bü 1. 445 Richard Süßmuth an die Belegschaft, 15. Mai 1963, in: FHI, Schöf-1224. 446 Richard Süßmuth an die Belegschaft »und ihre Familien«, 20. Mai 1963, in: FHI, Schöf-1224. 447 [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 353), S. 18. 448 Süßmuth, 20. Mai 1963 (s. Anm. 446). 449 Aufgrund Süßmuths »familiären« Führungsstils hatte die Streikleitung in Immenhausen »von Anfang an nicht mit einer stärkeren Beteiligung« gerechnet. Folgendes aus IG CPK Kassel, Von 1945 bis 1985 (s. Anm. 352), S. 62. 450 Die »Glasarbeiter« seien die erste große Beschäftigtengruppe gewesen, die sowohl die Vierzigstundenwoche als auch die Forderung nach Urlaubsgeld tariflich absichern konnte. Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 108.

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Eine gewichtige Rolle spielte dabei der Betriebsleiter [Ludwig Hager]. Mit der technischen Leitung hatte Richard Süßmuth seinem Bruder die Entscheidungsgewalt und Verantwortung für den gesamten Bereich der Produktion und damit auch über den Großteil der Belegschaft übertragen. [Ludwig Hager] entsprach – anders als Richard Süßmuth – dem klassischen Feindbild eines autoritären, ignoranten und intriganten Chefs.451 Sein Führungsstil war keineswegs partnerschaftlich. Vielmehr beförderte seine auf persönlichen »Seilschaften« beruhende Betriebsführung in der Belegschaft ein Klima der Angst.452 Für sachliche Diskussionen habe er keinerlei Bereitschaft gezeigt.453 Selbst Richard Süßmuth hatte ein angespanntes Verhältnis zu seinem Bruder.454 Über Probleme in der Produktion schienen beide vorzugsweise auf schriftlichem Wege zu kommunizieren.455 Die in der Produktion tätigen Beschäftigten seien mit ihren Anliegen zum geschäftsführenden Eigentümer gar nicht »durchgekommen«, da »alles […] über [seinen Bruder] gegangen« sei.456 Folglich richtete sich die seit Ende der 1950er Jahre zunehmende Kritik aus der Belegschaft vor allem an den Betriebsleiter. Im Zentrum der Kritik stand die in [Ludwig Hagers] Verantwortungsbereich liegende Entlohnungspolitik. Zu niedrige Löhne haben beispielsweise mindestens vier Glasmacher veranlasst, in das Kristallglaswerk Hirschberg überzuwechseln, als dieses 1958 im ungefähr 100 Kilometer von Immenhausen entfernten Allendorf die Produktion aufnahm.457 Auch bei Glasmachern anderer Glashütten war [Ludwig Hager] dafür bekannt, die Löhne »zu drücken«. Für den zuletzt bei Hirschberg arbeitenden Glasmacher Max Kleiner war dies ein Grund, nicht in der Glashütte Süßmuth zu arbeiten.458 Das Abwandern der Nicht-Facharbeiter*innen zu Großunternehmen in Kassel kann ebenfalls als eine Abstimmung mit den Füßen gegen die Lohnverhältnisse in der Glashütte Süßmuth gedeutet werden. Überbetriebliche Tarifstandards mussten zwar eingehalten werden. Darüber hinausgehende Zulagen sowie insbesondere die Akkordstückzahlen der Glasmacher wurden jedoch – wie es in Mundglashütten damals üblich war – in informellen Verhandlungen im Betrieb definiert.459 [Ludwig Hager] führte diese mit den Glasmachern individuell und unter Geheimhaltung, dabei setzte er die Akkordrichtsätze mit letztlich nur geringfügigen Abweichungen unterschiedlich hoch an.460 451 452 453 454 455 456 457 458

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[Ludwig Hager] wurde von allen (ehemaligen) Beschäftigten, mit denen Erasmus Schöfer (und die Autorin) sprach, durchweg negativ beschrieben. [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 177), S. 8f. [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 353), S. 10. [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 177), S. 18. Siehe Korrespondenz zwischen Richard Süßmuth und [Ludwig Hager], 1961, in: AGI. [Franke] und [Weber], 13. August 1973 (s. Anm. 300), S. 12. »Einer der Glasmacher hatte bei Hirschberg 15 bis 20 Prozent mehr als bei Süßmuth verdient.« Folgendes aus Kleiner, 13. November 2014 (s. Anm. 281), S. 16f. Mitte der 1950er war Max Kleiner zum Vorstellungsgespräch in der GHS eingeladen worden. Die Verhandlung über die Beschäftigungskonditionen führte er mit [Ludwig Hager], der zu keinen Zugeständnissen bereit gewesen sei. Ebd., S. 18. Siehe Kapitel 5.2; Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 98–101; Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 177, 156–177. Folgendes aus [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 177), S. 30f. Lohnverhandlungen »unter vier Augen« waren auch in anderen Mundglashütten nicht unüblich. Der aus einer alten Glasmacherfamilie stammende Max Kleiner erhielt von seinem Vater den Rat, »nie in so einem Betrieb«, son-

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Die fehlende Lohntransparenz habe unter den Beschäftigten eine Atmosphäre der Eigeninteressiertheit und des Misstrauens befördert. Die gewerkschaftlich aktiven Facharbeiter erkannten hierin eine gezielte Strategie der Leitung, sowohl »zwischen die organisierten Glasmacher […] und die Nicht-Glasmacher in den anderen Abteilungen« als auch unter den Glasmachern »einen Keil zu treiben«.461 Diese Entlohnungspraxis verstieß grundlegend gegen das in der Belegschaft virulente Gerechtigkeitsempfinden, demnach die Entlohnung an für alle nachvollziehbare Leistungskriterien gekoppelt sein solle anstatt an persönliche Beziehungen zum Betriebsleiter oder andere fachlich irrelevante Faktoren. Zugleich regte sich Widerstand gegen die Hausmacht-Strukturen, die aus Perspektive der gewerkschaftlich engagierten Facharbeiter innerhalb des Betriebs existierten. Denn Richard Süßmuth nahestehende Personen besetzten nicht nur wichtige Positionen in der Leitungshierarchie des Unternehmens, sondern auch in der betrieblichen Interessenvertretung der Beschäftigten. Unter Beteiligung des Betriebsleiters [Ludwig Hager] sowie des Pfarrers der katholischen Gemeinde gründete sich in Immenhausen eine Ortsgruppe der Katholischen Arbeiternehmer-Bewegung (KAB), der ungefähr 16 Mitarbeiter – vorrangig aus den mittleren und unteren Führungspositionen – der Glashütte angehörten.462 Beschäftigte aus diesem Kreis traten bei den Betriebsratswahlen mit einer eigenen Liste an. In den 1950er Jahren bestand der Betriebsrat fast zur Hälfte aus KABMitgliedern, über die die Geschäfts- und Betriebsleiter großen Einfluss nehmen konnten.463 Ein »Jugendfreund von Richard Süßmuth«, der der bereits erwähnten, ebenfalls aus Schlesien kommenden Glasmacherfamilie [Graf] angehörte, hatte den Betriebsratsvorsitz inne.464 Die sehr enge Beziehung zwischen Unternehmer und Betriebsratsvorsitzenden zeigte sich zum Beispiel, als beide anlässlich des 30-jährigen Betriebsjubiläums 1954 gemeinsam eine Eiche in den »Werksgarten« einpflanzten.465 Schließlich verstärkte sich im Laufe der 1960er Jahre die Kritik an den Arbeitsbedingungen – insbesondere in den Abteilungen Hütte und Weiterverarbeitung. Waren mit der Fertigung in einer Mundglashütte generell enorme körperliche Anstrengungen und gesundheitsschädigende Risiken verbunden, so beklagten die Beschäftigten die fehlende Bereitschaft der Geschäfts- und Betriebsleitung, ihnen durch technische Verbesserungen zumindest gewisse Erleichterungen zu verschaffen.466 Das Arbeiten in der

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dern nur nach einem für alle transparenten »festen Preis« zu arbeiten. Kleiner, 13. November 2014 (s. Anm. 281), S. 4. [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 353), S. 3. Ebd., S. 16–18. Zudem existierte in der GHS (zumindest Anfang der 1960er Jahre) eine Betriebsgruppe der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA). Bis auf die Namen der aus drei Facharbeitern bestehenden CDA-Betriebsvertrauensleutegruppe ist über sie nichts überliefert. Überblick Betriebsvertrauensleute der CDA in Hessen, undatiert [Anfang der 1960er], in: ACDP, 04–032-018/3. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] am 23. Februar 1974, im Besitz der Autorin, S. 7. Notizen Erasmus Schöfer, undatiert [1973/1974], in: FHI, Schöf-1201. »30 Jahre Glashütte R. Süßmuth. Unternehmer und Betriebsrat pflanzten Eiche im Werksgarten«, in: Hessische Nachrichten, 26. Juli 1954, in: FHI, Schöf-1224. Siehe Stellungnahme des Betriebsleiters gegenüber dahingehenden Beschwerden aus der Belegschaft: [Ludwig Hager] an den Betriebsrat (GHS), 11. April 1969, in: AGI, S. 2.

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Hütte wurde »an manchen Tagen« zu einer »Qual«, weil beispielsweise Generatorgas einströmte.467 Die Kühlbandabnehmerinnen waren im zügigen Gebäudetrakt zwischen Hütte und der Weiterverarbeitung witterungsbedingten Temperaturschwankungen ausgesetzt, die sich durch Materialschäden am Dach verstärkten.468 Diese Missstände im Betrieb waren Richard Süßmuth durchaus bekannt. Bereits in den 1950er Jahren wusste er sie als Gründe für seine Anträge auf staatliche Unterstützungsleistungen anzuführen.469 So konnte 1956 der Komplett-Ausfall der Generatoranlage, die einige Jahre zuvor in gebrauchtem Zustand gekauft wurde, »nur durch Einsatz der ganzen Hüttenmannschaft« abgewendet werden, wobei sich mehrere Beschäftigte Gasvergiftungen zugezogen hatten und zum Teil »besinnungslos davon getragen werden« mussten. Störungen an den Schmelzöfen führten in den Jahren 1953 und 1955 jeweils zu mehrmonatigen Produktionsausfällen mit Schäden von bis zu 400.000 DM sowie zu temporär betriebsbedingten Entlassungen von 100 Nicht-Facharbeiter*innen. Der Gebäudekomplex der Weiterverarbeitung entsprach »nicht den gewerbepolizeilichen Vorschriften.« Süßmuth selbst beschrieb die Arbeitsbedingungen in diesen »baufälligen Räumen« als »menschenunwürdig«. Den schlechten Zustand der Produktionsanlage erklärte Richard Süßmuth den Behörden gegenüber damit, dass es ihm durch »die hohen Besteuerungen und die schon früh einsetzenden Rückzahlungsverpflichtungen für erhaltene Darlehen« unmöglich gewesen sei, entsprechendes Eigenkapital zu bilden, um diese Investitionen zu tätigen.470 Bemessen an dem »großen Vertreibungsschaden«, den er »erlitten« habe, sei die erhaltene staatliche Förderung zu gering gewesen und hätte lediglich improvisierte »Teillösungen« erlaubt. Statt »den Aufbau der Glashütte in drei oder vier Jahren durchzuführen«, habe sich dieser »zwangsläufig über 12 bis 15 Jahre« erstrecken müssen. Stellt man jedoch Süßmuths Förderanträge die Bauakten der 1950er und 1960er Jahre gegenüber, so ergibt sich ein widersprüchliches Bild.471 Während die Produktionsanlage – trotz ihrer für die Qualität der Produkte, die Rentabilität des Unternehmens sowie für die Arbeitsbedingungen zentralen Bedeutung – weiterhin sanierungsbedürftig blieb, entwickelte sich das Betriebsgelände zu einem architektonisch sehenswerten Komplex. In Erwartung einer weiterhin positiven Unternehmensentwicklung und eines ungebrochenen Wirtschaftswachstums hatte Richard Süßmuth die erwirtschafteten Gelder in für die Produktion nicht unmittelbar relevante Repräsentationsbauten investiert, anstatt Finanzmittel für betriebliche Instandhaltungs- und Rationalisierungsmaßnahmen anzusparen.472 Der gelernte Glasschleifer und Magazinleiter [Willi Voigt] erinnerte sich im Nachhinein, dass Richard Süßmuth »[i]n den Jahren, wo er Geld gemacht hat«, die Gelegenheit verstreichen ließ, für Arbeitserleichterungen zu sorgen: Die Beschäftigten 467 Protokoll Betriebsversammlung (GHS), 1. April 1969, in: FHI, Schöf-1222, S. 1. 468 [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 185), S. 3. 469 Folgendes aus Richard Süßmuth an Finanzamt Hofgeismar, 1. März 1956, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 8977a. 470 Folgendes aus Süßmuth, 16. Januar 1956 (s. Anm. 296). 471 Übersicht Bauakten, 1947 bis 1981 (s. Anm. 267). 472 Anzunehmen ist, dass Süßmuth die Finanzmittel für diese Investitionen durch die gesellschaftsrechtlich von der Glashütte getrennte Flachglaswerkstatt erwirtschaftete, die sich der Kontrolle der staatlichen Förderinstitutionen entzog.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

»[m]ussten sich halt quälen.«473 Ebenso erinnerten die Arbeiterinnen am Kühlband und in der Weiterverarbeitung, dass unter Süßmuth »immer etwas geflickt [worden sei], aber so richtig in Ordnung kam nie was«.474 Die Betriebsleitung habe zwar immer die Behebung der Missstände versprochen, »aber gemacht wurde nichts.« Angesichts der für die Beschäftigten spürbaren Folgen einer Investitionspolitik, die die Instandhaltung der Produktionsanlagen und auch jene der Werkswohnungen als zweitrangig erachtete, stießen Süßmuths noch Ende der 1950er Jahre, Anfang der 1960er Jahre begonnene Neubauten einer Ausstellungshalle und eines firmeneigenen Hotels auf großes Unverständnis in der Belegschaft. Dass »[n]ach außen […] alles tipptopp sein« musste, während sie an ihrem Arbeitsplatz frieren mussten, war für die Kühlbandabnehmerinnen nicht nachvollziehbar. Im Laufe der 1960er Jahre wurde die Kritik an der Personal- und Lohnpolitik, den Arbeitsbedingungen und der Prioritätensetzung der Unternehmensführung dringlicher und von einem zunehmend größeren Teil der Belegschaft in die betriebliche Auseinandersetzungen eingebracht. Als Erklärung hierfür sind drei Faktoren anzuführen. Erstens hatte sich – angesichts des branchenübergreifenden Arbeitskräftemangels – die Verhandlungsposition der Beschäftigten verbessert, wodurch sich das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Belegschaft und Unternehmensführung zu verlagern begann. Aufgrund der Besonderheiten im Erwerb ihrer Qualifikationen und des branchenweiten Nachwuchsmangels hatte sich vor allem die Position der Glasmacher im Betrieb verstärkt. Mit dem Generationenwechsel rückten zudem jüngere Personen nach, die zwar auch zu einem großen Teil aus Familien mit Fluchterfahrung kamen, aber einen schwächeren Bezug zur imaginierten »Heimat« und zur unmittelbaren Nachkriegsnot hatten. So baute vor allem die Gruppe der jüngeren Glasmacher eine konfrontative Spannung zum als tyrannisch wahrgenommenen Betriebsleiter auf, den sie in seiner cholerischen Art durch kleine Scherze im betrieblichen Alltag herauszufordern wussten.475 Weil sie sich durch ihre erbrachte Leistung nicht angreifbar machten, konnte [Ludwig Hager] – obwohl er es immer wieder versucht habe – diesen Machtspielen der Glasmacher nur wenig entgegensetzen.476 Zweitens hatte die Auflösung der KAB-Gruppe Immenhausen im Jahr 1960 eine entscheidende Schwächung von Süßmuths Hausmacht-Strukturen zur Folge. Dies war laut Eigendarstellung des Glasmachers [Paul Nowak] das Resultat einer bewussten Taktik.477 [Nowak] verstand sich trotz seiner Mitgliedschaft in der SPD als Kommunist; er war ein gewerkschaftlicher Betriebsaktivist, hatte zuvor in verschiedenen Glashütten gearbeitet, wo er in etliche Arbeitskämpfe involviert gewesen war.478 Als er 1959 in der Glashütte 473 [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 177), S. 2. 474 Folgendes aus [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 185), S. 3–5. 475 »Was der [Ludwig] nicht haben konnte, wenn wir gesungen haben: ›Ho, ho, ho Chi Minh‹ [Lachen] Das haben bis auf den Marktplatz die Leute gehört. Und das waren hier [in der Hütte] 80 Mann – oih.« [Nowak] et al., 13. Dezember 1973 (s. Anm. 385), S. 3. 476 Ebd., S. 5. 477 Folgendes aus [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 353), S. 17f.; [Nowak], 23. Februar 1974 (s. Anm. 463), S. 3f., 7f. 478 Zwei Glasunternehmer hatten [Nowak] aufgrund der von ihm mit organisierten Arbeitskämpfe gekündigt. Vom Arbeitsgericht wurden die Kündigungen beide Male als rechtswidrig beurteilt.

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Süßmuth zu arbeiten begann, habe das Leitungspersonal in ihm jedoch vor allem einen »Ostflüchtling« und Katholiken gesehen.479 Auf Anfrage des damaligen Hüttenmeisters trat [Nowak] der KAB-Gruppe bei und wurde sogar zu deren Vorsitzenden gewählt. In diesem Amt habe er die Mehrheit der anderen KAB-Mitglieder, von denen zwölf auch Mitglied in der IG Chemie waren, – mit Verweis auf die »verschiedenen sozialen Missstände im Betrieb« – davon überzeugen können, dass sie nur der »verlängerte Arm von den Herren Süßmuth« seien, woraufhin sie geschlossen ihren Austritt aus der KAB erklärt hätten.480 Inwiefern die Auflösung der KAB-Gruppe tatsächlich das Werk einer, wenn auch sehr engagierten Einzelperson war,481 oder ob weitere Personen und Aspekte hierbei eine Rolle spielten, sei dahingestellt. Durch den Wegfall der zweiten Liste bei den Betriebsratswahlen reduzierten sich die Möglichkeiten der Geschäftsführung, auf die Politik des Betriebsrats über nahestehende Mitarbeiter Einfluss zu nehmen; die betrieblichen Machtverhältnisse veränderten sich hierdurch grundlegend. Ein nunmehr ausschließlich von Mitgliedern der IG Chemie besetzter Betriebsrat war die Basis für eine stärker an den Bedürfnissen der Belegschaft orientierte Interessenvertretung gegenüber der Unternehmensleitung. Drittens schließlich wirkte sich die mitgliedermobilisierende Strategie der IG Chemie auf die betrieblichen Machtverhältnisse in der Glashütte Süßmuth aus.482 Die Verwaltungsstelle Kassel galt als besonders engagiert, über den Aufbau von Vertrauensleute-Strukturen Organisationsgrad und Einflussmöglichkeiten in den Betrieben ihres Zuständigkeitsbereichs zu erhöhen. Die seit Ende der 1950er Jahre hier tätigen Geschäftsführer – Hans Fischer (1959–1963) und Werner Schepoks (1964–1970) – zeichneten sich durch eine sehr enge Zusammen- und regelmäßige Bildungsarbeit mit der betrieblichen Basis aus.483 In der Glashütte Süßmuth entstand um die Vertrauensleute eine gewerkschaftlich sehr aktive Gruppe von Facharbeitern, deren politisches Engagement über den

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Dennoch wurde [Nowak] in beiden Fällen statt einer Wiedereinstellung lediglich eine finanzielle Abfindung angeboten. Dieses konfrontative Auftreten gegenüber Unternehmensleitungen verschaffte [Paul Nowak] eine unter Glasmachern branchenweite Bekanntheit. [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 177), S. 46; Raimann et al., 27. Mai 2013 (s. Anm. 95), S. 49. [Paul Nowak] war in Rumänien geboren und wurde – nach Beginn des Zweiten Weltkriegs – mit seiner Familie in die Tschechoslowakei umgesiedelt. Weil seine Mutter und seine Schwester im Gegensatz zu ihm und seinen ebenfalls als Facharbeiter beschäftigten Brüdern ausgewiesen wurden, habe er im November 1948 mit ihnen die ČSR verlassen. Anders als Richard Süßmuth und die Mehrheit der in der Bundesrepublik lebenden »Vertriebenen« sah sich [Nowak] nicht als Opfer. Vielmehr vertrat er die Ansicht, dass die Deutschen aufgrund der Schuld am Krieg und der vielfältigen Verbrechen »auch das Recht auf die ehemalige Heimat verloren« hatten. [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 353), S. 2–4. Ebd., S. 17f. Der konflikterfahrene [Nowak] begründete sein taktisches Vorgehen damit, dass er die Spaltung des Betriebsrats in zwei Gruppen durch eine Konfrontation von außen als nicht überwindbar hielt. Hierin sah er das Risiko einer Vertiefung der Spaltung und für ihn persönlich die Gefahr einer erneuten Kündigung. Aus diesem Grund zog er es vor, »von innen heraus« gegen die KAB-Gruppe vorzugehen. Ebd. Siehe Kapitel 3.2. [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 353), S. 16; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak], 6. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 2; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Werner Schepoks, 1. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 15.

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Betrieb hinausreichte.484 Im Rahmen des DGB-Ortsverbands, dessen Vorsitz mit [Paul Nowak] zugleich der Sprecher der Vertrauensleute der Glashütte Süßmuth einnahm, organisierten sie jährlich eine eigene Maidemonstration in Immenhausen.485 Anlässlich der Unterstützungskampagne für die Ostverträge stellten sie in Immenhausen einen von der SPD getrennten eigenen DGB-Stand auf, diskutierten mit der lokalen Bevölkerung und sammelten Unterschriften. Eine Gruppe von »Kollegen« habe regelmäßig die gesamtdeutsche Arbeiterkonferenz in Leipzig besucht. 1968 führten sie in Immenhausen zusammen mit dem Sozialpfarramt der evangelischen Kirche sogar eine Podiumsdiskussion mit FDGB-Mitgliedern aus dem ungefähr 100 Kilometer entfernten Nordhausen durch – zu einer Zeit, als der DGB noch gar keine offiziellen Beziehungen zum Gewerkschaftsbund der DDR unterhielt. In den betrieblichen Auseinandersetzungen mit der Betriebs- bzw. Unternehmensleitung und im politischen Engagement auch außerhalb des Betriebs artikulierte sich eine Gruppe von Beschäftigten – insbesondere die Facharbeiter der jüngeren Generation – als Teil eines Kollektivs, das Richard Süßmuths Verständnis von der konfliktfreien, sozialharmonischen »Werksgemeinschaft« diametral gegenüberstand und sich »in praxeologischer Perspektive […] aus dem relationale[n] Beziehungscharakter sozialen Handelns«486 bzw. aus den gemeinsamen Erfahrungen heraus konstituierte.487 Sie fokussierten ihre Forderungen nicht nur auf den eigenen Betrieb, sondern stellte diese in einen Zusammenhang mit dem generellen Kampf der Arbeitenden um bessere Arbeitsbedingungen und eine gerechtere Verteilung des erwirtschafteten Mehrwerts. Süßmuths Gemeinschaftskonzept wollte der richtigen Ordnung entsprechen, die für ihn in den metaphysischen Eigenschaften des Materials Glas, dem schöpferischen Fertigungsprozess, in der »völkischen« oder gottgegebenen Bestimmung sowie der christlichen Verantwortung begründet lag. In der organisch gedachten Gemeinschaft war kein Platz »für kollektive Aktionen zur autonomen Vertretung« der Belegschaftsinteressen.488 Den gewerkschaftlichen Betriebsaktivisten ging es dagegen um das Bewusstwerden der gemeinsamen Interessen als Angehörige der Arbeiterklasse, die es gegenüber den Unternehmern im Allgemeinen (und damit nicht nur gegenüber Richard Süßmuth im Besonderen) durchzusetzen galt. Ein solches Verständnis vom Kollektiv setzte nicht voraus, dass die Einzelnen mit ihren Bedürfnissen in der Gemeinschaft aufzugehen haben. Vielmehr wurde die Emanzipation des Einzelnen als Voraussetzung für die freie Entfaltung aller betrachtet. Mit Blick auf die Dominanz der männlichen Facharbeiter war dieses so verstandene Kollektiv zwar ebenfalls nicht hierarchiefrei. Im Gegensatz zu Süßmuths organischem Verständnis von Gemeinschaft wurden die Kategorien sozialer Ungleichheit je484 Zur personellen Zusammensetzung der Vertrauensleutegruppe liegen keine Dokumente vor. Laut Schepoks habe sie 1969/1970 aus 25 Personen, mehrheitlich Glasmachern, bestanden. Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 483), S. 4. 485 Folgendes aus Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] und [Max Ulrich], 12. November 1973, im Besitz der Autorin, S. 1–5; [Nowak], 23. Februar 1974 (s. Anm. 463), S. 4f. 486 Zitat von Sven Reichardt, »Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung«, in: Sozial.Geschichte 3 (2007), S. 62. 487 Siehe Edward P. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1987, S. 7. 488 Zitat aus Siegel, Rationalisierung (s. Anm. 326), S. 105.

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doch nicht essentialistisch (natur- oder gottgegeben), sondern als politisch gestalt- und veränderbar begriffen. Der Streik des Jahres 1963 war im Rückblick somit nicht Auslöser, wohl aber Resultat und Katalysator kollektiver Kommunikations- und Aktivierungsprozesse unter den Beschäftigten der Glashütte Süßmuth, die nicht nur den Betrieb, sondern auch die skizzierten Fraktionierungen in der Belegschaft zu transzendieren begannen. Zugleich war die Erfahrung dieses erfolgreichen Arbeitskampfes für die Beschäftigten wie auch für Richard Süßmuth ein einschneidendes Ereignis, welches ihm das Scheitern seines »Gesamtkunstwerks« offenbarte.489 In kulturpessimistischer Lesart der gesellschaftlichen Veränderungen nach 1945 sah er im Streben der Arbeitenden nach Teilhabe am wachsenden gesellschaftlichen Wohlstand »Kräfte im rein materiellen Sinne wirken«, die in seinem Betrieb »die so schön gewachsene Gemeinschaft zu zerstören versuchen«.490 Seine verklärte Sicht auf die Vergangenheit zeugte von einem romantisierenden Puritanismus. Den Streik betrachtete er nicht als legitimes Mittel demokratischer Interessenvertretung, sondern als Resultat einer Instrumentalisierung durch die Gewerkschaft, die seit Anbeginn einen Keil in die »Werksfamilie« getrieben und seiner Belegschaft der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens unangemessene Forderungen in den Mund gelegt habe.491 Während die Belegschaft ihm zunehmend selbstbewusst mit ihren Forderungen nach einem gerechten Lohn, ihren Vorstellungen von guter Arbeit und ihrer Kritik an den bestehenden Entscheidungspraktiken im Unternehmen gegenübertrat, schwächte sich Süßmuths partnerschaftlicher Führungsstil ab und nahm autoritärere Züge an. Kulturveranstaltungen, Betriebsfeiern und gemeinsame Betriebsausflüge fanden seit 1963 nicht mehr statt.492 Die Betriebsfußballmannschaft wurde ebenfalls aufgelöst.493 Der abrupte Rückgang des Anteils der Gewerkschaftsmitglieder an der Gesamtbelegschaft 1964 weist auf Entlassungen jener Beschäftigten hin, die sich am Streik aktiv beteiligten und für das Unternehmen entbehrlich waren.494 »Stillschweigend« entlassen wurden auch (vermeintliche) »Bummelanten, nicht echte Kranke und ›Leistungsreservisten‹«.495 Mit solchen Maßnahmen trug letztlich Richard Süßmuth selbst zu der von ihm beklagten und allein auf die Gewerkschaft projizierten Zerstörung vertrauensvoller Arbeitsbeziehungen im Betrieb bei, die für das Funktionieren der Arbeitsabläufe in einer Mundglashütte indes von entscheidender Bedeutung waren. Trotz dieser sich im Laufe der 1960er Jahre zuspitzenden betrieblichen Konfliktlage einte die im Betrieb verbleibenden Beschäftigten mit dem Geschäftsführer jedoch bis

489 Für Richard Süßmuth sei im Mai 1963 »eine Welt zusammengebrochen«. [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 177), S. 8. 490 Süßmuth, Schlesische Glashütte (s. Anm. 297), S. 18. 491 Ebd., S. 17; Süßmuth, 15. Mai 1963 (s. Anm. 445); Richard Süßmuth an die Belegschaft, 24. Mai 1963, in: FHI, Schöf-1224. 492 [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 185), S. 20; Margarete Süßmuth in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 201f. 493 Informationen auf Rückseite von Fotografie Betriebsfußballmannschaft (s. Anm. 303). 494 Siehe bspw. Protokoll Gespräch der Autorin mit [Karl Schubert], 31. Juli 2014, im Besitz der Autorin, S. 1. 495 Süßmuth, 26. Mai 1967 (s. Anm. 136).

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

zuletzt eine hohe Bindung an das Unternehmen, die das Resultat von Süßmuths betrieblicher Sozialpolitik und von Aneignungsprozessen innerhalb der Belegschaft gleichermaßen war. Sie fand Ausdruck in der ausgeprägten Bereitschaft, die die Beschäftigten seit den Anfangsjahren zeigten, zum Wohle des Betriebs viel zu leisten und auf einem prekärem Level zu arbeiten – indem sie in der Hochsaison 14-stündige Arbeitstage akzeptierten oder ohne bzw. für sehr wenig Lohn die Werksgebäude mit aufbauten.496 Die hieraus resultierenden niedrigeren Kosten hatten es Süßmuth überhaupt erst ermöglicht, die umfangreichen (Wohnungs-)Baumaßnahmen mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln auszuführen.497 Eben auf diesem Konsens bzw. der geteilten Verpflichtung gegenüber dem Unternehmen, den Produkten sowie dem – wenngleich politisch unterschiedlich konnotierten – sozialen Zusammenhalt im Betrieb beruhte auch die an Betriebs- und Geschäftsleitung adressierte Kritik der Beschäftigten. Zugleich lag hierin der Grund, weshalb ein großer Teil der Belegschaft – trotz der im Laufe der 1960er Jahre sich verschlechternden Arbeitsbedingungen – den Betrieb nicht verließ und auch gar nicht daran dachte, diesen zu verlassen. Wie sich während der Unternehmenskrise zeigen sollte, war die Belegschaft der Glashütte Süßmuth durchaus bereit, Verantwortung für ihren Betrieb zu übernehmen und hierfür auch die eigenen Interessen hintanzustellen, wie es Süßmuth einforderte – allerdings nicht (mehr) zu den von ihm exklusiv formulierten Bedingungen.

1.6 Vom Vorzeigeunternehmen zum Sanierungsfall. Die Krise der Glashütte Süßmuth Seit Anfang der 1950er Jahre galt Süßmuth als Paradebeispiel eines Flüchtlingsunternehmens, in welchem es dem Eigentümer trotz widriger Umstände gelungen sei, produktgestalterisch, unternehmerisch und sozialpolitisch vorbildhaft zu wirken.498 Das Bild der florierenden Glashütte entsprach dem westdeutschen Narrativ von der erfolgreichen Integration der »Vertriebenen«, ihrem wichtigen Beitrag zum Wiederaufbau und zum Wirtschaftsaufschwung.499 Als Richard Süßmuth im Jahr 1966 das Große Bundesverdienstkreuz verliehen bekam und das Hotel den nach außen hin imposanten Betriebskomplex komplementierte, schien er auf dem Zenit seines Schaffens zu stehen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich sein Unternehmen jedoch bereits in ernsthaften Schwierigkeiten. Die Unternehmensverluste stiegen seit Beginn der 1960er Jahre kontinuierlich

496 [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 177), S. 2f. Ebenso Notizen Erasmus Schöfer, undatiert [1973/1974], in: FHI, Schöf-1197. 497 Im HWMi wurde erstaunt registriert, dass der Bau eines Mehrfamilienwohnhauses mit zwölf Zweiund Dreizimmerwohnungen, wofür Süßmuth ein Darlehen aus öffentlichen Mitteln in Höhe von 131.000 DM erhielt, »angeblich rd. 150.000 DM« gekostet hatte. Bericht HWMi, 11. Februar 1954, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 8977a. 498 Bildbericht GHS, [1950] (s. Anm. 99); Hessische Staatskanzlei (Hg.), 1945–1965. Eine Zeitreise durch Hessen. Begleitbuch zur Ausstellung, Wiesbaden 1995, S. 72; Eckart, Hessen (s. Anm. 44), S. 34f., 82. 499 Siehe bspw. Grußwort des Hessischen Ministerpräsidenten in Messerschmidt, Hessen (s. Anm. 44), S. 5.

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an und zehrten das Eigenkapital der Firma auf. Der 1967 drohenden Zahlungsunfähigkeit konnte Süßmuth – durch die temporäre Einführung von Kurzarbeit und einem vom Land Hessen teilverbürgten Überbrückungskredit – nur knapp entgehen.500 Im Frühjahr 1969 stand sein Unternehmen erneut kurz vor dem Konkurs. Aus dem einstigen Vorzeigeunternehmen war ein Sanierungsfall geworden. Die zeitgenössischen Krisendeutungen des Unternehmers, außenstehender Betrachter und der Beschäftigten wichen mitunter eklatant voneinander ab, legten während der Unternehmenskrise verschiedene Handlungsstrategien nahe und sollten während der Selbstverwaltung das Handeln der involvierten Akteur*innen entscheidend prägten.

Die Deutungen des Unternehmers Richard Süßmuth führte die Unternehmenskrise allein auf außerhalb seines Einflussbereichs liegende Entwicklungen zurück.501 Als »Vertriebenen«-Unternehmer habe ihm von Anfang an nie ausreichend Eigenkapital zur Verfügung gestanden. Angesichts hoher Zins- und Steuerbelastungen sowie stetig steigender Produktionskosten – insbesondere im Personalbereich – habe er solches auch nicht bilden können, weshalb ihm wiederum die Mittel für Rationalisierungsmaßnahmen fehlten. Die tarifpolitischen Erfolge der Gewerkschaft – in Form der sukzessiv angestiegenen Löhne und gesunkenen Arbeitszeiten – und die zunehmenden, seiner Meinung nach von rein materiellen Interessen geleiteten Forderungen der Belegschaft hätten sich zudem in einer nachlassenden Arbeitsleistung und einer rückläufigen Produktivität im Betrieb niedergeschlagen.502 Schließlich hätten sich die eingangs dargelegten branchenweiten Veränderungen und insbesondere die zunehmende Konkurrenz aus den Ostblockstaaten negativ auf den Wettbewerb ausgewirkt. Die Rezession der Jahre 1966 und 1967 hätte seine Absatzprobleme weiter verschärft. »Durch Strukturveränderungen innerhalb […] der Glasindustrie« – so das Resümee von Richard Süßmuth – sei auch in der Glashütte Süßmuth »das Betriebsergebnis seit 1963 zurückgegangen«.503 Als eine Art Kompensation für diese durch ihn nicht zu verantwortenden Entwicklungen sah Süßmuth den Staat in der Pflicht, ihn finanziell zu unterstützen bzw. ihm bei einer Kreditaufnahme – da ihm eigene Sicherheiten fehlten und die Werksgrundstücke bereits mit Hypotheken belastet waren – zumindest durch die Übernahme einer Ausfallbürgschaft zu helfen. Durch Investitionen in die Produktionsanlage allein glaubte er sein

500 Zwischen Mai und September 1967 wurde in der GHS kurzgearbeitet und die wöchentliche Arbeitszeit von 40 auf 24 Stunden reduziert. Das Land Hessen bewilligte im Frühjahr 1967 die Übernahme einer 60-prozentigen Bürgschaft für einen ERP-Kredit in Höhe von 200.000 DM, von dem bis Mitte 1967 allerdings nur ein Teilbetrag von 100.000 DM freigegeben wurde, da Süßmuth die hieran gekoppelten Auflagen nicht erfüllte. Süßmuth, 10. Juli 1967 (s. Anm. 173); Vermerk HMdF, 1. November 1988, in: Archiv HMdF. 501 Folgendes aus Richard Süßmuths Förderanträge aus den 1960er Jahren in: FHI, Schöf-1223 und Schöf-1224; Privatarchiv [Müller]. 502 Zwischen 1963 und 1967 habe die Leistung der im Betrieb tätigen Menschen auch bei uns bis zu 25 Prozent nachgelassen«. Süßmuth, 26. Mai 1967 (s. Anm. 136). 503 Richard Süßmuth an Kreisausschuss des Landkreises Hofgeismar, 14. November 1968, in: Privatarchiv [Müller].

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

Unternehmen wieder zum Aufschwung verhelfen zu können.504 Süßmuth war hiervon so fest überzeugt, dass er – da das Land Hessen seinen Förderanträgen nicht mehr nachkam – im Sommer 1966 sogar zur Annahme eines Kreditangebots seiner Hausbank, der Landeskreditkasse Kassel (LKK), bereit war, die von den Kommanditist*innen, das heißt von seiner Familie, eine ungewöhnlich hohe selbstschuldnerische Bürgschaftserklärung als Sicherheit forderte, wovon der von seinem Schwiegersohn konsultierte Rechtsanwalt explizit abriet.505 Süßmuths Behauptung, ihm habe aufgrund seiner »Vertreibung« das nötige Eigenkapital gefehlt, ist nicht haltbar. Die Darstellung, er habe sein Unternehmen auf einem »Trümmergrundstück« aufbauen müssen, dabei weder auf eigene Mittel noch auf geschäftliche Verbindungen am neuen Standort zurückgreifen können und stattdessen noch einmal ganz von vorne beginnen müssen, verweist auf ein klassisches »Vertriebenen«-Narrativ, für dessen Glaubwürdigkeit es in den Anfangsjahren der Bundesrepublik offensichtlich nur wenig Beweisführung bedurfte.506 Die seit März 1930 stillgelegte Glashütte in Immenhausen wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs zwar beschädigt,507 aber nur zu 40 Prozent zerstört.508 Bei Süßmuths Ankunft war der Werkskomplex soweit intakt, dass bereits im Sommer 1946 die Arbeit in der Schleiferei aufgenommen werden konnte.509 Auch die Ofenanlage konnte reaktiviert werden.510 Da er sein Unternehmen noch vor Kriegsende in die Oberpfalz überführt hatte, standen Süßmuth beim Neubeginn seine Penziger Schleifapparaturen, sonstige Werkzeuge und Rohmaterialien zur Verfügung.511 Im Gegensatz zu anderen erst nach Kriegsende

504 Lagebericht und Unternehmensplanung Richard Süßmuth, Oktober 1967, in: FHI, Schöf-1223. 505 LKK, 16. September 1966 (s. Anm. 349); Heinz Günther an [Hans Müller] am 28. September 1966, in: FHI, Schöf-1224. Seine Kinder hatten die Unterzeichnung einer dementsprechenden Bürgschaftserklärung zunächst abgelehnt, stimmten dieser aber aufgrund der akuten Konkursdrohung letztlich zu. Süßmuth, 26. Mai 1967 (s. Anm. 136), S. 3; [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 273), S. 8f.26; Bürgschaftserklärung [Hans Müller] im Namen der Kommanditistin [Ursula Müller], 26. Juli 1967, in: FHI, Schöf-1223. 506 Diese Narration findet sich in etlichen Selbst- und Fremddarstellungen wie z.B. Süßmuth, 16. Januar 1956 (s. Anm. 296); Musterbuch GSH Nr. 6, undatiert [1950], in: mkp.Gl-A 1-Süss.8; Bildbericht GHS, [1950] (s. Anm. 99); Grußwort von Bernhard Siepen in Jubiläumsbroschüre 1960 (s. Anm. 191). 507 Während des NS befand sich der Hüttenkomplex im Eigentum des Deutschen Reichs, 1937 und 1938 war er im Rahmen eines letztlich gescheiterten Inbetriebnahmeversuchs grundlegend saniert worden. Anschließend wurde er an das Kasseler Flugzeugwerk Fieseler vermietet, dem es als Ersatzteillager diente. Aus diesem Grund wurde das Hüttengelände im Oktober 1944 bombardiert. Baas und Dick, Immenhäuser Ansichten (s. Anm. 291), S. 142. 508 Antrag Richard Süßmuth auf Eintragung in das Handelsregister, 16. Mai 1947, in: HWA, Abt. 8, Nr. 12.975. 509 Baas und Ruhlig-Lühnen, Die Form (s. Anm. 22), S. 10; Eckart, Hessen (s. Anm. 44), S. 34. 510 Der vorherige Betreiber hatte mit zwei Wannenöfen in zwei separaten Hüttengebäuden produziert, wovon eine den Krieg nahezu unbeschadet überstand. Lediglich der Oberbau des Wannenofens musste abgetragen werden. Der »alte Unterbau und die vorhandenen Kanäle sowie [die] Schornsteinführung [und] der Schornstein« waren hingegen intakt geblieben. Antrag auf Produktionsgenehmigung Richard Süßmuth an IHK Kassel, 25. Mai 1946, in: Eckart, Neuanfang in Hessen, S. 126. 511 Entgegen seiner Darstellung, er sei mit leeren Händen bzw. »nur mit einem Rucksack« nach Immenhausen gekommen, hatte Süßmuth kurz vor Kriegsende in drei bis vier Eisenbahnwaggons

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und unter Kontrolle der wieder souveränen Staaten Polen und Tschechoslowakei umgesiedelten Glasunternehmen hatte er auch alle seine Produktentwürfe mitnehmen können.512 Neben einem Teil seines Penziger Firmenkapitals nutzte Süßmuth Darlehen früherer Kunden, die ihm als Vorauszahlung gewährt wurden.513 Aufgrund dieser vergleichsweise günstigen Bedingungen war es Richard Süßmuth gelungen, früher als andere »Vertriebenen«-Glashütten wie Hirschberg, Josephinenhütte oder Buder und als eines der ersten Glasunternehmen in den westlichen Besatzungszonen die Produktion noch vor der Währungsreform wieder aufzunehmen, Ende der 1940er Jahre nahm er »an der ersten Hannover-Messe nach dem Krieg mit einem für damalige Verhältnisse hervorragendem Glasangebot« teil.514 Weil Süßmuth am Stichtag der Währungsreform im Frühjahr 1948 ökonomisch relativ gut situiert war, konnte er letztlich keinen bzw. kaum Lastenausgleichsansprüche geltend machen.515 In Immenhausen fand Richard Süßmuth also ökonomisches, soziales wie kulturelles Kapital vor; sein Renommee als international bekannter Glaskünstler stattete ihn zudem mit einem nicht zu unterschätzenden symbolischen Kapital aus.516 Aus seinem Engagement in der bündischen Jugendbewegung nach dem Ersten Weltkrieg resultierten persönliche Beziehungen, die zeitlebens intakt blieben und für seine unternehmerischen Tätigkeiten eine wichtige Rolle spielten.517 Auch aufgrund seiner Aktivitäten als »Vertrie-

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»vier Schleifböcke und vier Flachschleifanlagen« sowie das »Rohglas für Panzerprismen und farbloses Flachglas« aus Penzig in Sicherheit bringen können, die den »Grundstock« für den Neubeginn in Immenhausen bildeten. [Weber] und [Schlüter], [1973/74] (s. Anm. 224), S. 1; [Lehmann] und [Elze], 4. Januar 1994 (s. Anm. 204); [Johann Elze] in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 210; Baas und Ruhlig, Glasveredelung (s. Anm. 248), S. 11f. Vom Verbot der Mitnahme von »Maschinen, Werkzeugen, Mustern und Fachbüchern« durch die tschechoslowakischen Behörden seien bspw. die sudentendeutschen Unternehmer der Gablonzer Glas- und Schmuckwarenindustrie betroffen gewesen. Manfred Heerdegen, »Neuanfang nach der Vertreibung. Glasmacher aus Gablonz fanden nach 1945 eine Heimat im Hochtaunus«, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Heimatkunde Oberursel (Taunus) e.V. 48 (2010), S. 33. Richard Süßmuth an HWMi, 23. Juni 1950, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 8977a.; Margarete Süßmuth in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 201; [Lehmann] und [Elze], 4. Januar 1994 (s. Anm. 204). Datensammlung Süßmuth (s. Anm. 224); Hannes, Süßmuth (s. Anm. 192), S. 178. Konnte Süßmuth bereits im Sommer 1946 mit der Veredelung von Rohglasresten beginnen und im Sommer 1947 den ersten Ofen in Betrieb nehmen, war letzteres bei Hirschberg, der Josephinenhütte und bei Buder erst 1950 der Fall. Die diesbezüglichen Verhandlungen zogen sich bis Ende der 1960er Jahre hin; ihr Ausgang ist in Süßmuths Lastenausgleichsakte nicht vermerkt. Aus einem Schreiben vom November 1969 geht hervor, dass er »nur einen sehr geringen Lastenausgleich (einschließlich aller Zinsen etwas über 30.000 DM)« erhalten habe, da er »am Währungsstichtag bereits eigenes Vermögen« besaß. Siehe Lastenausgleichsakte Richard Süßmuth, 1954–1967, in: BArch Bayreuth, LAA-ZLA 1/3172084; Süßmuth, 16. November 1969 (s. Anm. 346). Für Eigentümer von Industrieunternehmen bzw. für Sachwertbesitzer war die Währungsreform von Vorteil. Schildt, Sozialgeschichte (s. Anm. 72), S. 12. Zur Definition der Kapitalformen nach Pierre Bourdieu siehe Pierre Bourdieu, »Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital«, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183–198. Aus der Jugendbewegung seien viele »Persönlichkeiten erwachsen, die nach dem Krieg in politische Stellungen gekommen sind, und oft hat mein Mann gesagt: ›Heute habe ich einen in der Regierung getroffen, der uns aus der früheren Zeit ein Begriff war.‹« Margarete Süßmuth in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 199.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

benen«- und Kommunalpolitiker, in der katholischen Kirche oder in den verschiedenen Wirtschaftsverbänden besaß er weitreichende Kontakte zu wichtigen Persönlichkeiten in einer von Kontinuität geprägten Elite der Bundesrepublik. Das »Vertriebenen«-Narrativ erfüllte für Richard Süßmuth eine die NS-Zeit verschweigende und eine den Erfolg seiner Geschäftsführung nach 1945 konturierende Funktion.518 War es ihm hiermit in den 1950er Jahren gelungen, seinen Anspruch auf staatliche Förderung zu untermauern, verlor diese Argumentation in den 1960er Jahren in dem Maße an Überzeugungskraft, wie die Integration der Neubürger*innen als erfolgreich abgeschlossen betrachtet wurde.519 Zugleich gewannen in Süßmuths Rechtfertigung Verweise auf die sich verschlechternden Rahmenbedingungen des Wirtschaftens und auf die nachlassende Arbeitsmoral in der Belegschaft an Relevanz, wie sie unter dem Topos Krise und der kulturpessimistischen Deutung vom Wertewandel bzw. -verfall vor allem in den 1970er Jahren den Diskurs in der Mundglasbranche und in der bundesrepublikanischen Gesellschaft prägen sollten.520 Tatsächlich hatten sich die Wettbewerbsverhältnisse in der Mundglasbranche verschärft und auch andere Mundglashütten gerieten in Schwierigkeiten; Süßmuth Deutungen sind indes vor allem in ihren den eigenen Anteil an der Unternehmenskrise überdeckenden Funktionen zu historisieren.

Die Deutungen außenstehender Betrachter Im Gegensatz zu den 1950er Jahren wurden Süßmuths Förderanträge seit Anfang der 1960er Jahre vom Land Hessen abschlägig beschieden.521 Eine 1966 im Auftrag des Hessischen Wirtschaftsministeriums durchgeführte Überprüfung der Kreditwürdigkeit kam zu dem Ergebnis, dass in der Glashütte Süßmuth »keinerlei Verfahren einer innerbetrieblichen Abrechnung« existiere und damit keine Kenntnisse über die eigene Kostenstruktur vorlägen, die eine Vor- und Nachkalkulation ermöglichen, und auch keine Kennziffern, nach denen die Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsverfahrens, des Produktionsprogramms sowie der Preisgestaltung beurteilt werden könne.522 Die Wirtschaftsprüfer der landeseigenen Hessischen Landesentwicklungs- und Treuhandgesellschaft mbH (HLT) erklärten, Unternehmen sollten generell auf die »nunmehr verschärft[e] Wettbewerbslage der gesamten Wirtschaft« nicht nur mit Investitionen 518

Die Auftragsarbeit für die Rüstungsindustrie und das Umverlegen der mobilen Produktionsmittel von Penzig nach Waldsassen vor Kriegsende erwähnte Süßmuth in seinem Antrag auf Produktionsgenehmigung im Frühjahr 1946 wie auch in den späteren Anträgen und Unternehmensdarstellungen nicht. Stattdessen verwies er auf seine Ausweisung und Enteignung durch die »polnische Kommandantur«. Süßmuth, 25. Mai 1946 (s. Anm. 510), S. 125f. 519 »Die Einbindung [der Vertriebenen] in die hessische Wirtschaft« und eine Annäherung deren Lebensumständen an jene der »Einheimischen« sei »bis 1970 erfolgt«. Messerschmidt, Hessen (s. Anm. 44), S. 130–135. 520 Siehe Kapitel 9. 521 Richard Süßmuth an Lothar Haase, 11. April 1970, in: ACDP, 01–374-14/1, S. 1. Größtenteils vom Land Hessen bewilligte Förderanträge Richard Süßmuths, 1950–1962, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 8977a und Abt. 502, Nr. 3579. Größtenteils vom Land Hessen abgelehnte Förderanträge Richard Süßmuths, 1966–1969, in: FHI, Schöf-1223 und Schöf-1224; Privatarchiv [Müller]. 522 Folgendes aus Bericht HLT, 2. November 1966, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 9707.

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in Technik, sondern mit umfassenderen Reformen der Unternehmensorganisation reagieren. Notwendig sei eine flexible Anpassung an strukturelle Veränderungen – und zwar ohne staatliche Unterstützung.523 Die Krise der Glashütte Süßmuth war aus Perspektive der hessischen Ministerialbeamten und der von diesen herangezogenen Gutachter in erster Linie das Resultat eines Führungsversagens.524 An eine erneute staatliche Unterstützung koppelten sie daher folgende Bedingungen: Erhöhung der Eigenkapitalbasis durch den Verkauf des Unternehmens bzw. eine Mehrheitsbeteiligung von Dritten, grundlegende Organisationsreformen, personelle Neubesetzung der Geschäftsführung, eine mehrjährige Unternehmensplanung und ein Rentabilitätsgutachten durch einen externen Unternehmensberater.525 Im Jahr 1967 sah sich Richard Süßmuth gezwungen, hierzu – im Rahmen der Verhandlungen über einen Überbrückungskredit zur Abwendung des akut drohenden Konkurses – schriftlich seine Bereitschaft zu erklären. Er versprach die Einrichtung eines geschäftsführendes Gremiums, dem er als Komplementär, sein Sohn, sein Bruder [Ludwig Hager], der Prokurist [Franz Büttner] sowie sein Schwiegersohn [Hans Müller] und seine Ehefrau Margarete Süßmuth angehören sollten.526 Da diese Pläne den Beamten des Hessischen Wirtschaftsministeriums nicht weit genug gingen, verpflichtete sich Süßmuth dazu, die aktive Geschäftsführung vollständig auf seinen Sohn und seinen Schwiegersohn zu übertragen.527 Zudem sicherte er die Einrichtung eines Aufsichtsgremiums zur Kontrolle der Geschäftsführung zu, das aus ihm als Vorsitzenden, einem Bankenvertreter und einem vom Hessischen Wirtschaftsministerium zu benennenden Unternehmensberater bestehen sollte.528 Schließlich erklärte sich Süßmuth sogar bereit, »einem kapitalkräftigen Unternehmer eine Mehrheitsbeteiligung von wenigstens 51 Prozent einzuräumen und entsprechende Verhandlungen aufzunehmen.«529 Erst nach diesen weitreichenden Reformzusagen bewilligte das Land Hessen im Sommer 1967 die Übernahme einer Teilbürgschaft für einen Überbrückungskredit in Höhe von 100.000 DM.530 Als sich im Oktober 1967 – durch die branchenübliche saisonale Hochzeit – die finanzielle Lage des Unternehmens wieder entspannte, setzte 523 So empfahl der Bayerische Wirtschaftsminister Otto Schedl auf einem VdG-Treffen im April 1968 den anwesenden Unternehmern, »sich trotz aller Schwierigkeiten nicht zu sehr auf den Staat zu verlassen, sondern zu versuchen, die Probleme selbst zu lösen«. VdG-Mitgliederversammlung, 19. April 1968 (s. Anm. 99), S. 7. 524 Siehe bspw. Hermann Lingnau, »Betriebswirtschaftliche Probleme und Perspektiven«, in: Franz Fabian (Hg.), Arbeiter übernehmen ihren Betrieb oder Der Erfolg des Modells Süßmuth, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 85f. 525 Siehe HLT, 2. November 1966 (s. Anm. 522); Süßmuth, 26. Mai 1967 (s. Anm. 136). Diese Forderungen richteten daraufhin auch Süßmuths Kinder – als Voraussetzung für die Unterzeichnung der von der LKK geforderten Bürgschaft – an ihrem Vater. Erklärung Kommanditist*innen, 2. Januar 1967, in: FHI, Schöf-1223. 526 Richard Süßmuth an HLT, 3. Juli 1967, in: FHI, Schöf-1223; Süßmuth, 10. Juli 1967 (s. Anm. 173). 527 Richard Süßmuth an HLT, 14. Juli 1967, in: FHI, Schöf-1223. Den exakten Wortlaut dieses Schreibens hatte offensichtlich der HWMi-Staatssekretär Alfred Härtl auf einem Treffen, das am selben Tag stattgefunden hatte, diktiert. Notiz [Hans Müller], 14. Juli 1967, in: Privatarchiv [Müller]. 528 Süßmuth, 14. Juli 1967 (s. Anm. 527). 529 Erklärung Richard Süßmuth, 12. Juli 1967, in: FHI, Schöf-1223. 530 Notiz [Hans Müller], 17. Juli 1967, in: FHI, Schöf-1223.

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Süßmuth die Reformpläne jedoch nicht um. Die mit Philip Rosenthal aufgenommenen Verkaufsverhandlungen scheiterten an Süßmuths Weigerung, ihm eine Mehrheitsbeteiligung einzuräumen.531 Für die Vertreter des Landes Hessens war dies eine weitere Bestätigung für Süßmuths Unzuverlässigkeit und seine nachlassenden Kompetenzen als Geschäftsführer, was mitunter auch auf sein hohes Alter zurückgeführt wurde.532 Sein Antrag auf »Übernahme einer weiteren Staatsbürgschaft für Investitions- und Betriebsmittelkredite von insgesamt 990.000 DM« wurde im Frühjahr 1969 daher abgelehnt.533 Auch andere betriebsexterne Betrachter führten die Krise vorrangig auf die Persönlichkeit des Unternehmers zurück. Der hessische Bezirksleiter der IG Chemie Franz Fabian sah in Richard Süßmuth in erster Linie einen Künstler, der nicht ökonomisch denken und effizient wirtschaften konnte.534 Als Beleg für Süßmuths »unternehmerische Unfähigkeit«, auf Nachfrage-Veränderungen zu reagieren, dienten die von ihm entworfenen Produkte, mit denen er nicht mehr den Geschmack der Konsument*innen getroffen habe.535 Das Sortiment sei weder zeitgemäß noch marktgerecht und mit über 1.000 Artikeln viel zu breit gewesen. Richard Süßmuth sei auf seinem Design »hängen geblieben« und habe »den Anschluss an den allgemeinen Geschmackswandel« beispielsweise »hin zu dickwandigem Glas« verloren.536 An die »bunte Welle« habe er Mitte der 1950er Jahre nur widerwillig und für wenige Jahre Zugeständnisse gemacht.537 Insgesamt habe Süßmuths Fehler also darin bestanden, an der Fertigung von dünnwandigem und farblosem Glas – als den Markenzeichen von Süßmuthglas – festgehalten zu haben. Als weiterer Beleg für Süßmuths fehlgeschlagene Unternehmensführung galt der veraltete bzw. »unmoderne« Stand der Produktionsanlage: Ein Vertreter der Bank für Gemeinwirtschaft (BfG) konnte bei einer Betriebsbegehung im Sommer 1969 fassungslos »nur den einen Rat geben […], hier eine Granate hineinzuwerfen«.538 Schließlich wurde sogar im »sozialen Tick« von Süßmuth – der beispielsweise »Heimatvertriebene« in seinem

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Eine Minderheitsbeteiligung kam wiederum für die Rosenthal AG nicht infrage, die daraufhin den Standort Amberg ausbaute. Süßmuth, Oktober 1967 (s. Anm. 504); [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 273), S. 12f. Interner Schriftverkehr HMdI, 28. Juli 1969, in: FHI, Schöf-1222. Zitat aus HMdF, 1. November 1988 (s. Anm. 500). Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 343), S. 15. Süßmuth sei auch schon zuvor unfähig gewesen, »während der Hochkonjunktur der fünfziger Jahre« sei dies aber »nicht so sehr ins Auge gefalle[n]«. Franz Fabian, »Vom ›Fall‹ zum ›Modell‹ Glashütte Süßmuth«, in: Ders. (Hg.), Arbeiter übernehmen ihren Betrieb oder Der Erfolg des Modells Süßmuth, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 9. Solche im zeitgenössischen Kontext virulenten Bewertungen finden sich auch in kunsthistorischen Betrachtungen. Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 343), S. 15; Bericht Franz Fabian an IG Chemie Hauptvorstand, 5. Januar 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Ähnlich HLT, 2. November 1966 (s. Anm. 522); Jürgen Hämer an Alfred Härtl, 10. Oktober 1967, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 7493b; Achim von Roos, »Modell Genossenschaftshütte. Fabrikant Süssmuth übergab sein Werk an die Mitarbeiter«, in: Hessische Allgemeine, 19. März 1970, in: AGI; Ricke, Gralglas (s. Anm. 226), S. 193; Hannes, Süßmuth (s. Anm. 192), S. 179. Baas, Süßmuth (s. Anm. 193), S. 7f.; Baas und Ruhlig-Lühnen, Hüttenherren (s. Anm. 39), S. 20. Diether H. Hoffmann zitiert in Protokoll Betriebsversammlung (GHS), 17. Juli 1969, in: FHI, Schöf-1222, S. 2; Ebenso Lingnau, Probleme (s. Anm. 524), S. 85.

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Unternehmen beschäftigt habe, »auch wenn sein kleiner Betrieb nicht unbedingt neue Arbeitskräfte brauchte« – eine Ursache der Unternehmenskrise ausgemacht.539 Die in der Unternehmenskrise zu beobachtende Abwertung Süßmuths Eignung steht im Kontrast zur Anerkennung, die er zuvor in den hessischen Ministerien genoss. Seine Förderanträge stießen hier zwar von Anfang an keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. Die mit deren Prüfung beauftragte Deutsche Revisions- und Treuhand Aktiengesellschaft (Treuarbeit) meldete schon Anfang der 1950er Jahre Bedenken gegenüber einer weiteren Ausweitung des Kreditvolumens der Firma an.540 Volle Unterstützung erhielt Süßmuth zum damaligen Zeitpunkt aber aus dem Hessischen Wirtschaftsministerium.541 Die hiesigen Beamten zogen bei der Bewertung von Süßmuths unternehmerischen Leistungen dessen soziale Ansprüche in der Produkt- und Preisgestaltung ebenso wie seine betriebliche Sozialpolitik mit ein, weshalb »auch weiterhin die Gewährung staatlicher Förderung und Unterstützung gerechtfertigt« sei.542 Der hessische SPD-Finanzminister Heinrich Tröger brachte 1956 öffentlich seine Wertschätzung der Fähigkeiten Süßmuths zum Ausdruck, in denen sich »künstlerische Begabung, kaufmännisches Geschick und hervorragendes Organisationstalent vereinigten.«543 Die seit Unternehmensbeginn regelmäßig an staatliche Institutionen gerichteten Förderanträge liefen dem Bild des erfolgreichen Vorzeigeunternehmens eigentlich zuwider. Die dringliche Rhetorik des Eigentümers in seiner Schilderung der betrieblichen Probleme ist dem Charakter solcher Bittschreiben geschuldet, zugleich gewährten sie Einblicke in den Normalbetrieb, welche die Grundzüge von Süßmuths Unternehmensführung offenlegten. Dass diese – vor dem Hintergrund der zunehmenden Liquiditätsschwierigkeiten der Firma – in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre von Seiten staatlicher Gutachter als eine grundsätzliche Problematik gedeutet wurden, zeugte weniger von einem plötzlichen Verlust der unternehmerischen Fähigkeiten Richard Süßmuths als vielmehr von Veränderungen der Praktiken in der hessischen Wirtschaftspolitik sowie der Maßstäbe, an denen seine Geschäftsführung bemessen wurde. In den 1960er Jahren wurden bereits zuvor begonnene Bemühungen um eine »organisatorische Zusammenfassung und Vereinheitlichung« der hessischen Wirtschaftsund Strukturpolitik verstärkt. Der Hessische Ministerpräsident Georg August Zinn

539 »Sozialismus auf oberhessisch. Genossenschaftshütte Süßmuth«, in: Der Volkswirt, 28. März 1970, in: Privatarchiv See; Wolfgang Müller-Haeseler, »Wir sind ein ganz normales Unternehmen. Die Glashütte Süßmuth hat die turbulente Vergangenheit überwunden«, in: FAZ, 13. Dezember 1979, in: AGI. 540 Vorlage Treuarbeit für den Bürgschaftsausschuss des Landes Hessen, 10. Dezember 1952, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 8977a. 541 Die Rückzahlung der Kredite wurde entgegen der Empfehlung der Treuarbeit seit 1952 mehrmals bis Mitte 1955 verschoben. HWMi, 11. Februar 1954 (s. Anm. 497). 542 »Diese Firma bringt qualitativ hochentwickelte Gläser zu annehmbaren Preisen heraus, die sich durch die Eigenart ihres Dekors im Inland und im Ausland besonderer Beliebtheit erfreuen. Sie bietet rund 380 Arbeitern und Arbeiterinnen Dauerbeschäftigung und setzt sich in vorbildlicher Weise für die Lehrlings- und Nachwuchsausbildung ein.« HWMi an Oberfinanzdirektion, 13. März 1956, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 8977a. 543 Hessische Nachrichten, 2. Juni 1956 (s. Anm. 261).

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(SPD) hatte hierfür 1963 einen Sachverständigenausschuss einberufen und diesen damit beauftragt, ein Verfahren zu konzipieren, »das unter sparsamstem Einsatz der Fördermittel die Struktur der hessischen Wirtschaft harmonischer und krisenfester gestalte[n]« sollte.544 Infolge dessen kam es zu einer erheblichen Ausweitung der Kompetenzen der Hessischen Treuhandverwaltung GmbH (HTV), die bereits in den 1950er Jahre mit der »Bearbeitung sämtlicher Anträge auf staatliche Finanzierungshilfen zur Förderung der gewerblichen Wirtschaft« beauftragt wurde und dabei Entscheidungen nach »kaufmännischen Grundsätzen« der »Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit« unter Zuhilfenahme »unternehmerischer Methoden« sicherstellen sollte.545 Die Stunde der Ökonomen hatte damit auch in der hessischen Landespolitik geschlagen.546 Zum Aufgabenfeld der 1965 in Hessische Landesentwicklungs- und Treuhand-GmbH (HLT) umbenannten landeseigenen Gesellschaft kam – neben der Vergabe finanzieller Fördermittel als Bank bzw. »Kreditinstitut mit besonderen Aufgaben der Wirtschaftsförderung« – das mit der »Gewährung staatlicher Hilfen« verbundene »Angebot« von Unternehmensberatungen hinzu, im Zuge dessen wiederum die Zusammenarbeit mit dem Rationalisierungskuratorium der deutschen Wirtschaft (RKW) ausgebaut wurde.547 In der Glashütte Süßmuth stießen die ökonomischen Experten der HLT auf eine Organisationsstruktur mit einem hohen Grad an Informalität. Die finanziellen Verflechtungen innerhalb und zwischen den beiden Unternehmen von Richard Süßmuth sowie die organisatorische Intransparenz erschwerten es den externen Gutachtern, einen Überblick zu erhalten. Aus dem Blickwinkel der betriebswirtschaftlichen Evaluationskriterien, wie sie die Gutachter der HLT bei der Prüfung der Kreditwürdigkeit der Glashütte Süßmuth in Anschlag brachten, erschien die zuvor von den Beamten des Wirtschaftsministeriums noch honorierte Form des Wirtschaftens von Süßmuth als nicht mehr zeit544 Den Hintergrund dieses Auftrags bildeten die Erfahrungen in anderen Bundesländern und EWGMitgliedsstaaten mit neuen, »modernen« Methoden der Wirtschaftsförderung. Folgendes aus Geschichte der HLT 1951-1971, in: Protokoll HLT-Aufsichtsrat, 21. Juli 1972, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 11534. 545 Die Hessische Treuhandverwaltung GmbH (HTV) wurde von der Hessischen Landesregierung 1951 in der Intention gegründet, die Ansprüche ermordeter und vermisster Eigentümer »arisierter« Unternehmen gegen Zahlung einer Abstandssumme in Höhe von 25 Millionen DM an die Jewish Restitution Successor Organization (JRSO) zu erwerben, um »die Arbeitsplätze in rückerstattungspflichtigen Betrieben« in Hessen nicht zu gefährden. Im Zuge dieser quasi nachträglichen Legalisierung der »Arisierungen« hatte die HTV durch Vergleiche mit den jeweiligen Unternehmen bis 1970 sogar mehr Geld erhalten, als sie ursprünglich an die JRSO bezahlt hatte. Ebd.; Ebenso Geschichte der HLT 1951–1976 (s. Anm. 324). 546 Alexander Nützenadel, Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974, Göttingen 2005. An die hohe Nachfrage nach vor allem betriebswirtschaftlicher Expertise im HWMi erinnerte sich [Dieter Vogt]. Diese habe seinen rasanten Aufstieg – vom Berufseinstieg nach Abschluss seines BWL-Studiums 1965 bis hin zur Ernennung zum Geschäftsführer der HLT 1969 – begünstigt. Transkript Interview der Autorin mit [Dieter Vogt], 17. Mai 2014, im Besitz der Autorin, S. 1. 547 Geschichte der HLT 1951-1976 (s. Anm. 324). Zum Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre innerhalb der HLT geführten Diskussionen über eine »Dynamisierung der Prüfungsmethoden« bei der Vergabe öffentlicher Finanzhilfen und der engeren Zusammenarbeit mit dem RKW siehe HHStAW, Abt. 507, Nr. 9707–9708.

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gemäß. Allein auf die Ebene der formalen Unternehmensorganisation fokussiert und ohne Berücksichtigung der Ebene des Betriebs, dessen Zustand – wie die HLT-Gutachter selbst einräumten – sie aufgrund fehlender Fachkompetenz nicht einzuschätzen vermochten,548 interpretierten sie die Liquiditätsprobleme der Firma als strukturelle Konsequenz Süßmuths ineffizienter Form der Unternehmensorganisation und -führung. In ihrer Bewertung spielten Süßmuths sozialpolitische Praktiken und nicht-ökonomische Ziele des Wirtschaftens, die in einer Mundglashütte auch eine ökonomische Rationalität besaßen, keine Rolle mehr. Die vorangegangene Analyse hat gezeigt, dass Richard Süßmuth – anders als es dem Eindruck außenstehender Betrachter zum Zeitpunkt der Unternehmenskrise entsprach – ein für eine Mundglashütte durchaus angemessenes Unternehmenskonzept verfolgte. Er hatte zwar keine kaufmännische Ausbildung absolviert, dank seiner Ausbildung zum Glasschleifer und zum Gestalter jedoch einen engen Bezug zur Produktion und zu den Produkten in seinem Unternehmen, womit er in der Mundglasbranche nicht der Einzige war. Valentin Eisch als Glasgraveur, Klaus Breit als promovierter Chemiker oder der gelernte Tischler Karl Seyfang waren ebenfalls geschäftsführende Glashüttenbesitzer, die mit einem erfahrungsbasierten Fertigungswissen ausgestattet waren und sich das notwendige betriebswirtschaftliche Wissen in der unternehmerischen Praxis angeeignet hatten. Zu revidieren ist ebenfalls die Einschätzung, die gegenüber dem postulierten Geschmacks- oder Modewandel nicht mehr zeitgemäßen Produkte seien Ursache der Krise gewesen. Die in den 1960er Jahren ausbleibenden Auszeichnungen können zwar als Indiz gelten, dass Süßmuth als Künstler den Anschluss an die Entwicklungen in der Glasgestaltung verloren hatte. Dennoch war das von ihm gestaltete Wirtschaftsglas nach wie vor gefragt und die Auftragslage der Firma in diesem Produktbereich auch Ende der 1960er Jahre sehr gut.549 Eindeutig rückläufig waren die Aufträge hingegen im Bereich der Fensterglasveredelung – aber auch hier weniger infolge eines ästhetischen Wandels als vor allem infolge einer Sättigung des nachkriegsspezifischen Bedarfs an kunstvoll gestalteten Fenstern für den Wieder- oder Neuaufbau von kirchlichen oder öffentlichen Gebäuden.550 In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre hatte sich Süßmuth – unter dem Druck dahingehender Forderungen aus dem Hessischen Wirtschaftsministerium – offen gezeigt gegenüber der Aufnahme von Entwürfen anderer Gestalter ins Sortiment. Sein Sohn arbeitete seit 1965 an der Entwicklung neuer Produkte, mit denen vor allem die jüngeren Generationen angesprochen werden sollten.551 Auch begann Süßmuth die

548 HLT, 2. November 1966 (s. Anm. 522). 549 Laut Darstellung von Richard Süßmuth lagen der Firma im Juli (als einer saisonalen Phase, in der branchenweit die Nachfrage eher gering war) des Jahres 1967 verbindlich zugesagte Monatsaufträge in Höhe von 450.000 DM vor. Im Juli 1969 habe der monatliche Auftragsbestand bei 710.000 DM gelegen. Süßmuth, 3. Juli 1967 (s. Anm. 526); Lagebericht Richard Süßmuth, 12. Juli 1969, in: FHI, Schöf-1222, S. 4; HMdI, 28. Juli 1969 (s. Anm. 532), S. 2f. 550 Vor allem die Fensterglasaufträge von Kirchen seien im Laufe der 1960er Jahre zurückgegangen. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Frank Weber], 26. August 1973, im Besitz der Autorin. 551 Süßmuth, 10. Juli 1967 (s. Anm. 173), S. 3; Süßmuth, Oktober 1967 (s. Anm. 504).

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

Zusammenarbeit mit dem Gestalter Hans Theo Baumann, deren Ergebnisse erst nach der Belegschaftsübernahme zur Geltung kamen.552 Dass Süßmuth so manchem Trend nicht folgte, ging weniger auf seine Eitelkeit als Künstler als vielmehr auf seine Fähigkeit zurück, als Unternehmer Chancen wie Grenzen von Produkt- und Sortimentsneuerungen realistisch einzuschätzen. Die Mundglasfertigung gewährte zwar eine Flexibilität hinsichtlich der Artikelvielfalt und -wechsel, doch grundlegende Sortimentserweiterungen – wie um dickwandiges oder farbiges Glas – setzten Investitionen in die produktionstechnischen Voraussetzungen und fachliche Expertise voraus. Die Fertigung von dickwandigem Glas benötigte einen längeren Kühlprozess; um es in einem rentablen Umfang produzieren zu können, mussten ausreichend Kühlkapazitäten vorhanden sein. Die Zusammensetzung des Gemenges für Farbglas erforderte neben chemischer Expertise ein Erfahrungswissen über Temperaturverläufe in der Schmelze. Die Umstellung der Produktion auf farbiges oder dickwandiges Glas konnte nur erfolgreich sein, wenn sie einer langfristig angelegten Produktstrategie entsprach. Während die Voraussetzungen für eine solche Sortimentsdiversifizierung in den Glashütten Eisch oder Wiesenthal geschaffen wurden bzw. bereits vorhanden waren,553 war dies in der auf dünnwandiges und klares Kristallglas spezialisierten Glashütte Süßmuth nicht der Fall. Folglich war weniger eine aus den Grundsätzen des Deutschen Werksbunds abgeleitete ideelle Ablehnung gegenüber Modeschwankungen der Grund dafür, dass Süßmuth diesen Weg – abgesehen von vereinzelten Experimenten554 – nicht einschlug, als vielmehr der Mangel an Investitionsmittel. Deshalb musste er auch seine Planungen zur Entwicklung von Spezialglassorten im Beleuchtungsglasbereich für die Serienproduktion fallen lassen.555 Die Produktionstechnik in der Glashütte Süßmuth entsprach dem damaligen Stand in der Branche.556 Mit Möglichkeiten der betrieblichen Rationalisierung hatte sich Ri-

552 Zeitgleich zog sich Baumann aus der bis dahin regelmäßigen Entwurfsarbeit für Gralglas zurück, da er mit Rolf Seyfang »Probleme« gehabt habe. Laut Ricke habe Seyfang ihn auf »die Arbeit im Glasbereich und für Gralglas« festlegen wollen, worauf sich Baumann nicht verpflichten wollte. Riemann datiert die Zusammenarbeit zwischen Hans Theo Baumann und GHS auf die Jahre von 1967 bis 1985. Transkript Interview der Autorin und Anne Sudrow mit Hans Theodor Baumann, 12. November 2014, im Besitz der Autorin, S. 1; Helmut Ricke, »Form, Farbe und Dekor. Konzepterweiterung 1959 bis 1970«, in: Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 23), S. 112f.; Xenia Riemann, »Entwerfer und Designer«, in: Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 23), S. 210. 553 Bei Eisch hatte man sich seit den 1950er Jahren mit der Schmelze von farbigem Glas beschäftigt. Ebenso konnte die WTH auf langjährige Farbglaserfahrungen aus der Zeit der Glasperlenproduktion zurückgreifen. Klaus Breit führte hier über Jahre hinweg Versuchsreihen mit Farbglas durch. Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 24), S. 58; Rückblick und Lagebericht Klaus Breit, 1. März 1979, in: CD-ROM-Beilage bei Ricke 2007, S. 4. 554 Richard Süßmuth entwarf durchaus Vasen mit schweren, dickwandigen Böden und farbigem Innenüberfang, die er aber nicht in Serie produzieren ließ und – wenn überhaupt – als Unikate verkaufte. Sechs-farbige Trinkglasgarnituren wurden offensichtlich nur für einige Jahre in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre angeboten und das Farbglassegment im Folgenden nicht weiter ausgebaut. Siehe Abbildung in Jubiläumsbroschüre 1960 (s. Anm. 191); Baas und Ruhlig-Lühnen, Hüttenherren (s. Anm. 39), S. 20. 555 Süßmuth, 10. Juli 1967 (s. Anm. 173), S. 4. 556 Siehe Kapitel 9.3.

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chard Süßmuth – auch im Rahmen seiner Verbandsaktivitäten – frühzeitig auseinandergesetzt.557 Erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre konnte er dahingehende Investitionen nicht mehr tätigen. Hierzu gehörte der Wechsel des Energieträgers und die zuletzt getroffene Entscheidung für eine langfristige Umstellung von Generator- auf Ferngas, wobei die neu zu bauenden Öfen vorerst auf den in der Branche bereits »jahrelang erprobt[en]« Energieträger Öl umgestellt werden sollten.558 Nicht mehr realisieren konnte Süßmuth seine Planungen zur Vergrößerung der Kühlkapazitäten durch die Anschaffung eines fünften Kühlbands sowie die Anschaffung einer Reihe arbeitskrafteinsparender wie Arbeitsbelastungen reduzierender technischer Vorrichtungen in der Hütte, Weiterverarbeitung und – um diese »wieder konkurrenzfähiger« zu gestalten – auch in der Veredelung.559

Die Deutungen der Beschäftigten Im Gegensatz zu den Ministerialbeamten hatten die Beschäftigten bis zum Frühsommer 1969 keine Kenntnis von der bedrohlichen finanziellen Situation des Unternehmens. Die Leitung musste zwar bereits 1964 den Belegschaftsvertretern des sich damals konstituierenden Wirtschaftsausschusses Bilanzen vorlegen, die das Ausbleiben von Gewinnen verdeutlichten.560 Sie glaubten aber angesichts der zeitgleich erfolgten Investitionen in das Hotel nicht an die Echtheit der Bilanzen, sondern vermuteten dahinter unternehmerische Taktik mit Blick auf die nächste Tarifverhandlung. Die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen betrachteten sie daher nicht im Kontext einer krisenhaften Unternehmensentwicklung, die es zu ertragen galt, sondern als Ignoranz bzw. Schikane einer Leitung, die darin zu kritisieren war. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre stiegen folglich – wie aufgezeigt – nicht nur die Unternehmensverluste an, sondern auch die Beschwerden der Beschäftigten, die zu Beginn des Jahres 1969 einen Höhepunkt erreichten.561 Als die Beschäftigten von der Notlage des Unternehmens erfuhren, einte sie mit den betriebsexternen Akteuren die Diagnose, die Krise sei Folge eines Führungsversagens, und sie schrieben ein solches in erster Linie dem Betriebsleiter [Ludwig Hager] zu.562 Er 557 558

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VdG Hessen, Zehn Jahre Verbandsorganisation (s. Anm. 46); Süßmuth, 16. Januar 1956 (s. Anm. 296). Denn die mit der Umstellung auf Leichtöl verbundenen neuen Ofentypen ließen »sich jederzeit auch mit Erdgas oder Flüssiggas beheizen«. Sanierungsplan, gezeichnet von [Ernst Rohde], 30. Oktober 1968, in: Privatarchiv [Müller]; Süßmuth, 14. November 1968 (s. Anm. 503). Es handelte sich hierbei um den Bau von Eintragbändern zwischen Öfen und Kühlaggregaten, die Anschaffung neuer »Abspreng- und Verschmelzmaschinen« oder von Diamantenschleifzeug. LKK, 16. September 1966 (s. Anm. 349); Investitionsplan (GHS) 1968–1970, gezeichnet von [Ludwig Hager], 29. Juni 1967, in: AGI. Folgendes aus [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 177), S. 5f. Betriebsversammlung, 1. April 1969 (s. Anm. 467); [Ludwig Hager], 11. April 1969 (s. Anm. 466). Diesen brisanten Vorwurf äußerten die Beschäftigten selbst erst zu einem späteren Zeitpunkt, damals artikulierten ihn die Belegschaft unterstützende außerbetriebliche Personen. Folgendes aus »›Das Denken überlassen Sie uns!‹ Wie die Glasmacher von Immenhausen ihren Betrieb übernahmen«, in: Konkret, März 1970, S. 56–57; Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 483), S. 1; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Herman Freil], 7. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 15f.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

habe Verbesserungsvorschläge von Seiten der Beschäftigten abgewehrt und diese zum Teil durch die Versetzung auf ungünstigere Arbeitsplätze abgestraft. Nicht nur sein Verhalten, sondern auch seine fachliche Inkompetenz, die zu Fehlplanungen geführt habe, disqualifizierten ihn insbesondere in den Augen der Facharbeiter und untergruben seine Autorität.563 In der Belegschaft entstand sogar der Eindruck, [Ludwig Hager] habe Maßnahmen zur Verbesserung der betrieblichen Situation bewusst unterlassen, um seinem Bruder »eins auszuwischen«.564 Beschäftigten, die sich mit dem Eigentümer aufgrund der gemeinsamen Herkunft oder des katholischen Glaubens eng verbunden fühlten, konnte Richard Süßmuth somit als Opfer schlechter Beratung erscheinen.565 Manche Glasmacher meinten, der gelernte Glasschleifer habe aufgrund seines fehlenden Wissens über oder Interesses für die Glasproduktion in der Hütte diesen Bereich vernachlässigt.566 Unabhängig von der Bewertung der Kompetenzen und Beweggründe des Geschäftsführers Richard Süßmuth teilten die Beschäftigten dessen Ansicht, um die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens wieder herzustellen, seien vor allem Investitionen in die Produktionstechnik notwendig.567 Sie gingen bei ihrer Krisendeutung – im Gegenteil zu den außenstehenden Betrachtern – unmittelbar von den Verhältnissen im Betrieb aus. Wie die anschließende Analyse zeigen wird, waren in der Tat insbesondere hier die ausschlaggebenden Faktoren der Unternehmenskrise auszumachen. Gleichwohl waren diese weder auf eine Unwissenheit oder ein Desinteresse von Richard Süßmuth gegenüber der Glasproduktion noch auf ein gegen ihn gerichtetes Intrigieren des für die Produktion zuständigen Betriebsleiters [Ludwig Hager] zurückzuführen. Richard Süßmuth war sich durchaus der Notwendigkeit von Investitionen in die Produktionstechnik bewusst. Die zwei Ofenzusammenbrüche Anfang der 1950er Jahre und ein nur knapp verhinderter Generatorausfall hatten ihn in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre dazu veranlasst, einen Ersatzgenerator und einen Ersatzofen mit acht Häfen zu bauen, die bei künftigen Aus- oder Unfällen einem längeren Produktionsstillstand vorbeugen sollten.568 Mit diesen Sicherheitsvorkehrungen schien sich Süßmuth von

563 Selbst der damalige Hüttenmeister [Horst Wilke], der den gewerkschaftspolitisch aktiven Facharbeitern ansonsten eher skeptisch gegenüberstand, teilte deren Einschätzung von der mangelhaften fachlichen wie charakterlichen Eignung [Ludwig Hagers] als Betriebsleiter. [Wilke], 31. Juli 2014 (s. Anm. 155), S. 3. 564 [Freil], 7. Januar 1974 (s. Anm. 562), S. 15f.; [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 177), S. 18; [Franke] und [Weber], 13. August 1973 (s. Anm. 300), S. 12f. 565 Siehe bspw. [Lange], [1973/74] (s. Anm. 94), S. 1. Im Rückblick auch [Hübner], 11. Juni 2013 (s. Anm. 390), S. 4f. 566 [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 353), S. 19; [Wilke], 31. Juli 2014 (s. Anm. 155), S. 2. 567 Protokoll Betriebsversammlung (GHS), 18. Juni 1969, in: FHI, Schöf-1222. 568 Da der Ausfall eines Generators das Löschen und den Neubau des Schmelzofens nach sich zog und einen Produktionsausfall von mindestens zwei Monaten bedeutete, lag hier ein existenzielles Risiko für das Unternehmen. Um die Gefahr der Abwanderung der »hochwertigen Fachkräfte« zur Konkurrenz zu verhindern, hätten diese in der Zeit des Ausfalls voll entlohnt werden müssen. Zu den Material- und Baukosten wären folglich gleichbleibend hohe Lohnkosten bei zugleich gesunkener Produktivität gekommen. Süßmuth, 16. Januar 1956 (s. Anm. 296).

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anderen Glashütten unterschieden zu haben.569 Der langwierige Entscheidungsprozess über den Wechsel des Energieträgers veranschaulicht, dass Süßmuth Investitionsentscheidungen im technischen Bereich sorgfältig durchdachte und nicht leichtfertig traf. Was auf den ersten Blick als Unentschlossenheit erschien, war angesichts des Investitionsaufwands und der existenziellen Bedeutung, die ein Brennstoffwechsel und die hierdurch erforderliche Anpassung von Beheizungs-, Schmelz- und Kühlaggregaten unter sich verändernden Bedingungen und nur begrenzten Erfahrungen in der Branche besaß, ein angemessener Umgang. Naheliegend ist indes, dass die Animositäten und das angespannte Verhältnis zwischen den beiden Brüdern [Ludwig Hager] und Richard Süßmuth in ihren zentralen Leitungsfunktionen einer schnellen, konstruktiven Klärung und Behebungen der zunehmenden Probleme im Bereich der Produktion eher abträglich war.

Die Unternehmenskrise aus analytischer Perspektive Bislang unbeantwortet blieb die Frage, weshalb die Glashütte Süßmuth – zumal angesichts der im Vergleich zu anderen (»Vertriebenen«-)Mundglashütten relativ günstigen Startbedingungen, die der in den 1950er Jahren sehr erfolgreichen Unternehmensentwicklung zugrunde lagen – im Laufe der 1960er Jahre als eine der ersten bekannteren Mundglashütten in eine existenzielle Krise geriet. Ein wesentlicher Grund lag – hierin ist der Deutung der Beschäftigten zu folgen – im Bereich der Produktion. Das Problem war weniger, dass Süßmuth die geplanten Rationalisierungsvorhaben nicht mehr finanzieren konnte, als vielmehr, dass ihm für die regelmäßig erforderlichen Instandhaltungsmaßnahmen der Produktionsanlage keine Mittel mehr zur Verfügung standen. Bereits für die in der ersten Hälfte der 1960er Jahre notwendig gewordene Erneuerung der zwei Hafenöfen, die jeweils die maximale Haltbarkeitsdauer von zwölf Jahren erreicht hatten, fehlte das Geld. Süßmuths Bemühungen um einen neuen Kredit scheiterten.570 Die Geschäfts- und Betriebsleitung war daher zu Improvisationen gezwungen: Ofen I wurde 1965 lediglich einer Großreparatur unterzogen; an die Stelle des Ofens II war im Jahr zuvor ein Büttenofen mit einer auf nur vier bis fünf Jahren begrenzten Laufzeit getreten.571 Diese Kompromisslösung lief darauf hinaus, dass spätestens 1969 beide Öfen zeitgleich baufällig und grundlegend zu erneuern waren – eine Situation, die es aufgrund des Investitionsvolumens und des mit dem Neubau verbundenen mehrwöchigen Produktionsausfalls in einer Mundglashütte generell zu vermeiden galt. Ebenso wurden »[d]ie Kühlbänder, die nun wirklich nicht mehr gingen, nicht durch neue ersetzt«, sondern lediglich durch von anderen Glashütten abgekaufte.572 An den nur notdürftig instand gesetzten 569 Bei Hirschberg gab es bspw. keinen Ersatzofen. Kleiner, 13. November 2014 (s. Anm. 281), S. 2f., 18. 570 Seit 1963 hatte sich Richard Süßmuth vergeblich um eine finanzielle Hilfe von Seiten des Landes Hessen – vor allem für den Neubau der Hafen- und Kühlöfen – bemüht. Süßmuth, 26. Mai 1967 (s. Anm. 136). 571 Investitionsplan GHS 1969–1970, gezeichnet von [Ludwig Hager], undatiert [Februar 1968], in: Privatarchiv [Müller]. 572 [Wilke], 31. Juli 2014 (s. Anm. 155), S. 6f.; Auf die seit Mitte der 1960er Jahre zunehmenden Probleme an den Öfen und den Kühlbändern verwies auch [Albrecht], 15. Juli 1993 (s. Anm. 86), S. 3. Dahingehende Überlegungen aufgeführt in Investitionsplan 1969–1970 (s. Anm. 571).

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Schmelz- und Kühlaggregaten verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten und die Schwankungen der Glasqualität waren kaum noch kontrollierbar. Aufgrund der »Eigenart der Produktion« war ein Anteil von bis zu 40 Prozent Ausschussproduktion am gesamten Glasgewicht in einer Mundglashütte vertretbar, solange die restlichen 50 bis 60 Prozent als erste Wahl verkauft werden konnten.573 Probleme mit der Glasqualität stellten auch in anderen Mundglashütten eine permanente Herausforderung dar und gehörten zu den generellen Risiken, die mit der Produktion an Hafenöfen verbunden waren.574 In der Glashütte Süßmuth erreichte die Fehlproduktion im Laufe der 1960er Jahre jedoch einen die Existenz des Unternehmens bedrohenden Umfang. Bereits 1962 habe der Anteil der Artikel erster Wahl mitunter bei nur 30 Prozent der Gesamtschmelze gelegen.575 Im Jahr 1969 kritisierte der Betriebsrat die verlustreiche Produktion mit einer Bruchquote von bis zu 50 Prozent.576 »Es hat ehrlich Zeiten gegeben« – so die Erinnerung des Glasmalers [Frank Weber] –, »da haben die Frauen das [kaputte] Glas vom Kühlband mit der Schippe heruntergeholt […].«577 Insofern lag die zentrale Ursache für die zunehmenden Verluste des Unternehmens tatsächlich in den Produkten begründet – jedoch weniger hinsichtlich der Ästhetik, als vielmehr hinsichtlich der materiellen Qualität. Deutete Richard Süßmuth selbst die zunehmenden Qualitätsprobleme als Zeichen einer nachlassenden Aufmerksamkeit bzw. Leistungsbereitschaft der Beschäftigten,578 waren diese indes vor allem das Resultat seines Versäumnisses, keine Finanzmittel für die regelmäßig anstehende Instandhaltung der Produktionstechnik angespart zu haben. Der hohe Umfang der Fehlproduktion schlug sich in höheren Produktionskosten und Verlusten nieder, die das Eigenkapital der Firma aufzehrten.579 Zudem hatte er fatale Konsequenzen für alle anderen Unternehmensbereiche und zog insbesondere in der Produktions- und Vertriebsplanung enorme Schwierigkeiten nach sich: Bei Qualitätsschwankungen im Glasgemenge musste kurzfristig vom ursprünglichen Fertigungsprogramm abgewichen und sogenannte Ausweichartikel gefertigt werden, woraus längere Lieferzeiten für eigentlich bestellte Produkte resultierten.580 Bereits Ende der 1950er Jahre war es zu einem Lieferstau gekommen, woraufhin der Betriebsleiter die Verwaltung aufforderte, keine weiteren Aufträge mehr anzunehmen, um die Rückstände aufarbei-

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Stellungnahme der IHK Kassel, 27. April 1962, in Arbeitsbogen, 2. Mai 1962 (s. Anm. 148). Die »schwankende« und »gelegentlich bis zu einem Drittel der Fertigung« umfassende »Höhe des Ausfalls« galt in einer Mundglashütte als normal. [Buchholz], [1961] (s. Anm. 139), S. 76. Siehe Kapitel 9.2. Die Begriffe Fehl- oder Mängelproduktion werden im Folgenden gleichermaßen als Überbegriffe für fehlerhaft gearbeitete Glasartikel verwendet, die entweder als Bruchstücke unverkäuflich und damit Ausschuss oder als Artikel zweiter Wahl nur zu reduzierten Preisen zu verkaufen waren. Arbeitsbogen, 2. Mai 1962 (s. Anm. 148). Betriebsversammlung, 1. April 1969 (s. Anm. 467), S. 1. [Frank Weber] zitiert in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 177), S. 5; Ebenso [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 185), S. 2. Richard Süßmuth an [Ludwig Hager], 28. August 1961, in: AGI; Süßmuth, 26. Mai 1967 (s. Anm. 136). Siehe Finanzstatus zum 30. Juni 1967 in Süßmuth, 3. Juli 1967 (s. Anm. 526). [Walter Albrecht] in Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 6), S. 263; [Albrecht], 15. Juli 1993 (s. Anm. 86), S. 3.

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ten zu können.581 Der enorme Anstieg der Mängelproduktion überforderte auch die etablierten Strukturen der Qualitätskontrolle; mitunter wurden Produkte mit mangelhafter Qualität als erste Wahl verkauft oder fehlerfreie Artikel als zweite Wahl.582 Reklamationen nahmen seit Anfang der 1960er Jahre zu, weshalb Richard Süßmuth schon damals befürchtete, »den Namen« zu verlieren.583 Schließlich erhöhte sich der Lagerbestand an Ausweichartikeln, die nur schwer verkäuflich waren,584 und an Artikeln zweiter Wahl, die – angesichts der »bekannten Qualitätserzeugnisse der Firma« – nicht unmittelbar über den Fachhandel als Hauptvertriebsweg verkauft werden konnten.585 Um eine hohe Qualität unter der klar profilierten Marke Süßmuthglas anzubieten und »nach Überwindung der Krise die Fortführung des Geschäftes« zu gewährleisten, konnten diese Betriebsmittel bindenden Lagerbestände nicht ohne Weiteres veräußert werden.586 Ein grundlegender und folgenschwerer Fehler Richard Süßmuths war also seine Prioritätensetzung in der Investitionspolitik, von der er sich nicht abbringen ließ. Süßmuth hatte es versäumt, Mittel für die Instandhaltung der Produktionsanlage zurückzuhalten, und konnte diese mit den zunehmenden Qualitätsproblemen auch nicht mehr erwirtschaften. Ein zweiter fataler Fehler lag darin, dass er die Hinweise, Anregungen wie auch zunehmende Kritik von Seiten der Arbeiter*innen und selbst von langjährig im Unternehmen tätigen Angestellten ignorierte.587 Gerade unter den Bedingungen knapper Mittel und der hierdurch in der Produktion erzwungenen Improvisationen wäre es hilfreich gewesen, die Facharbeiter in die betrieblichen Planungen einzubeziehen bzw. ihre Verbesserungsvorschläge zu berücksichtigen. Richard Süßmuth und [Ludwig Hager] gemeinsam war indes die – wenngleich unterschiedlich artikulierte – patriarchale Vorstellung einer eindeutigen Arbeitsteilung in der unternehmerischen Entscheidungsfindung.588 Trotz der sich häufenden Komplikationen 581 Notiz [Ludwig Hager], 16. September 1959, in: AGI. 582 Richard Süßmuth an [Ludwig Hager], 24. Juli 1961, in: AGI. 583 Süßmuth, 28. August 1961 (s. Anm. 578). In einem im Sommer 1970 an die Glashütten-Belegschaft adressierten Brief schilderte eine ehemalige Kundin ihre seit Anfang der 1960er bestehende Unzufriedenheit über die Qualität von Süßmuthglas. J. Razvi an GHS, 6. Mai 1970, in: AGI. 584 Investitions- und Verkaufsplan des »wissenschaftlichen Teams«, 25. August 1969, in: FHI, Schöf-1222, S. 5. 585 Im Sommer 1967 wurde der Wert der Lagerbestand an Fertigprodukten auf 1,5 Millionen DM beziffert. Auf die Schwierigkeiten des Verkaufs von Zweite-Wahl-Artikeln hatte die Treuarbeit bereits im Frühjahr 1953 hingewiesen, als diese noch einen Wert von ca. 100.000 DM umfasste. Süßmuth, 3. Juli 1967 (s. Anm. 526); Wiedervorlage Treuarbeit für den Bürgschaftsausschuss des Landes Hessen, 30. April 1953, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 8977a. 586 Um die Absatzbeziehungen zum Fachhandel nicht zu gefährden, lehnte Richard Süßmuth eine »Rabattgewährung in einem Umfange, der einer Verschleuderung der Ware gleichkäme«, ebenso ab wie den »Verkauf charakteristischer Süßmuthartikel aus dem laufenden Programm an andere Kundenkreise« oder über neue Vertriebsformen. Süßmuth, 10. Juli 1967 (s. Anm. 173). 587 Der Verwaltungs- und Finanzleiter [Franz Büttner] habe seit 1960 – als »es mit dem Betrieb immer mehr bergab« ging – »immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass gehandelt werden muss. Niemand hat es ernst genommen.« [Franz Büttner] zitiert in Betriebsversammlung, 6. März 1970 (s. Anm. 280), S. 3; Ähnlich [Buchholz], 19. März 2014 (s. Anm. 155), S. 11. 588 Beide seien den Beschäftigten entsprechend dem Motto »Das Denken überlassen sie uns« begegnet, wie Günter Wallraff seinen Artikel über die Verhältnisse in der GHS vor der Belegschaftsübernahme betitelte. Siehe Konkret, März 1970 (s. Anm. 562).

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

behielt sich Richard Süßmuth in Grundsatzfragen – sei es hinsichtlich der Produkt- und Preisgestaltung oder der Investitionspolitik – weiterhin das alleinige Entscheidungsrecht vor – mit der Folge, dass eine Reihe wichtiger Fachkräfte im Laufe der 1960er Jahre ihre Anstellung aufkündigten.589 Der langjährige Angestellte im Vertrieb [Jens Grob], der als promovierter Chemiker und Kaufmann unter anderem für die Kalkulation und das Ausbildungswesen zuständig war, habe im Streit Immenhausen verlassen. Im Zuge seiner Marktbeobachtungen habe er erfolglos versucht, auf die Produktgestaltung Einfluss zu nehmen.590 Weil er seine gestalterischen Ideen nicht einbringen konnte, wechselte der Schleifer Helmut Rotter zu Gralglas, dem damals größten Konkurrenten von Süßmuth.591 Sein als Nachfolger vorgesehener Sohn, der nach Abschluss der Ausbildung 1965 in der Geschäftsleitung der Glashütte zu arbeiten anfing, verließ nach kurzer Zeit das Unternehmen, da er sich gegen seinen Vater nicht durchsetzen konnte.592 Auch die Anfang der 1960er Jahre begonnene Zusammenarbeit mit seinem Schwiegersohn [Hans Müller] gestaltete sich schwierig, dieser sah sich jedoch gerade aufgrund der wirtschaftlichen Probleme im Unternehmen zum Bleiben verpflichtet.593 Mit der krisenhaften Unternehmensentwicklung und den sich intern zuspitzenden Konflikten begann die auf Vertrauen und persönlichen Beziehungen beruhende Form der Unternehmensorganisation Richard Süßmuths an Funktionalität einzubüßen. Gerade weil es die leitenden Angestellten waren, die den – im Zuge der in den 1950er Jahren rasant angewachsenen Unternehmensgröße – gestiegenen Abstimmungs- und Koordinierungsbedarf zwischen den Unternehmensbereichen Finanzen, Vertrieb und Produktion in vorrangig informellen Strukturen bewältigten, kam ihnen und ihrem Erfahrungswissen eine zentrale Bedeutung zu. Bei der Suche nach Antworten auf die sich ändernden Rahmenbedingungen des Wirtschaftens in der Mundglasbranche wäre eine Berücksichtigung ihrer Vorschläge von Vorteil gewesen. Vor allem aber waren die konkreten Personen für die Aufrechterhaltung der Unternehmensorganisation wichtig, mit ihrem Ausscheiden bzw. ihrer Unzufriedenheit wegen der fehlenden Berücksichtigung ihrer Vorschläge gerieten die informellen Strukturen in zunehmenden Maße »durcheinander«.594 Schließlich stand der Unternehmensgründer, der 1965 das Rentenalter erreicht hatte, Ende der 1960er Jahre – obwohl er dahingehend schon frühzeitig Vorkehrungen getroffen hatte – ohne für ihn infrage kommende Nachfolger*innen da. Keines seiner drei Kinder hatte er dauerhaft für eine Mitarbeit im Unternehmen gewinnen können.

589 Die Zahl der Angestellten sank von 46 (1968) auf 39 (1969) auf 32 (1970), was zuletzt auch an der Belegschaftsübernahme lag. RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 75), Anlage 1. Siehe Kapitel 4.3. 590 Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Friedrich-Karl Baas, undatiert [1973/74], im Besitz der Autorin, S. 1. 591 Als selbstständiger Glaskünstler erlangte Rotter seit Mitte der 1960er Jahre eine gewisse Bekanntheit. Eine Reihe weiterer Mitarbeiter der Veredelungsabteilungen verließen aus ähnlichen Gründen das Unternehmen. Friedrich-Karl Baas und Dagmar Ruhlig, Süßmuth-Graveure der 50er, 60er und 70er, Immenhausen 1993, S. 11f., 15. 592 [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 273), S. 6f. 593 Ebd., S. 1f.; [Müller], 13. Juni 2013 (s. Anm. 271), S. 4. 594 [Albrecht], 15. Juli 1993 (s. Anm. 86), S. 4.

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Die Arbeitsatmosphäre hatte sich innerhalb der Führungsetage wie auch im Betrieb zunehmend verschlechtert. Zu weiteren Streiks nach dem Mai 1963 wie bei Gralglas oder einer Eskalation der betrieblichen Konfliktlage wie in der Josephinenhütte war es in der Glashütte Süßmuth nicht gekommen.595 Der Firma blieb eine »gut eingerichtete Mannschaft [erhalten], besonders an den Öfen – deren teilweisen Verlust wir durch die Kurzarbeit befürchten mussten«, wie Richard Süßmuth im Oktober 1967 erleichtert feststellte.596 In den sich zuspitzenden Auseinandersetzungen zwischen Belegschaft und Geschäftsführung ging es keineswegs nur um materielle Interessen, wie es Süßmuth unterstellte. Die vom Betriebsleiter ignorierten Verbesserungsvorschlägen der Beschäftigten brachten vielmehr ihre Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für den Betrieb zum Ausdruck, mit dem sie sich identifizierten, den sie zum Teil selbst mit aufgebaut hatten und den sie auch als den ihren betrachteten. In ihren Beschwerden beispielsweise über den hohen Anteil an Ausschussproduktion – der sich in einer Glashütte generell als »wichtiger Indikator der Produktionsbedingungen, der Betriebsorganisation sowie der persönlichen Fähigkeiten« auch auf das Selbstbewusstsein und die Arbeitszufriedenheit der Glasmacher sowie anderer Beschäftigtengruppen auswirkte597 – artikulierten sich ihre Ansprüche an die Qualität der Produkte, die untrennbar mit ihrer Vorstellung von guter Arbeit verbunden waren. Dass diese überhaupt »noch […] zustande käme«, obwohl »das Handwerkszeug der Glasmacher […] schlecht« sei, wie der BfG-Vertreter überrascht feststellte,598 beruhte auf der von Eigentümer und Belegschaft gleichermaßen geteilten Bindung an das Unternehmen, das Produkt sowie an die Gemeinschaft im Betrieb. Doch eben dieser Konsens, der maßgeblich zum Erfolg der Glashütte Süßmuth beitragen hatte, wurde in der Unternehmenskrise brüchig.

1.7 Zwischenfazit Die Glashütte Süßmuth war hinsichtlich der Produktionstechnik und Arbeitsorganisation eine ganz normale Mundglashütte. Von den Vergleichsunternehmen unterschied sie sich aber durch die Ansprüche an die Produktgestaltung, die für den Gestalter Richard Süßmuth zentrales und strukturierendes Element seiner Unternehmensführung war. Sein lange Zeit anhaltender unternehmerischer Erfolg lag insbesondere in der Gewährleistung einer hohen Qualität der Produkte begründet, die sowohl in den Arbeitsbeziehungen und gegenüber den Arbeitenden als auch in den Absatzbeziehungen und gegenüber den Konsument*innen eine stabilisierende und integrierende Wirkung entfaltete – und zwar nicht allein als (Marketing-)Rhetorik, sondern vor allem auf Ebene der Praktiken. Richard Süßmuth war es mit seiner »sozialen« Unternehmensführung gelungen, eine relativ große Gruppe junger, gut qualifizierter und mit den Verhältnissen im Betrieb vertrauter Facharbeiter eng an das Unternehmen zu binden, worin sich sei-

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Siehe Kapitel 9.4. Süßmuth, Oktober 1967 (s. Anm. 504). Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 35), S. 103. Diether H. Hoffmann zitiert in Betriebsversammlung, 17. Juli 1969 (s. Anm. 538), S. 2.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (1945 bis 1969)

ne Glashütte Ende der 1960er Jahre durchaus von anderen unterschied.599 Süßmuthglas war eine im Fachhandel eingeführte Qualitätsmarke, die von einem der Firma langjährig verbundenen Abnehmerkreis nachgefragt wurde. Indem Süßmuth selbst in der Dringlichkeit der Unternehmenskrise keine überstürzten produktstrategischen Änderungen vornahm und nicht kurzfristig vermeintlich naheliegende Rettungsmaßnahmen ergriff, trug er auf lange Sicht zum Erhalt der Grundlagen für die weitere Existenz des Unternehmens bei, wenn auch – angesichts der Belegschaftsfortführung – zu Bedingungen, wie von ihm nicht intendiert. Die Diagnose eines unternehmerischen Komplettversagens Richard Süßmuths, die die hessischen Ministerialbeamten oder andere außenstehende Betrachter während der Unternehmenskrise stellten, schoss über das Ziel hinaus. Sie wurde weder der Rationalität in Süßmuths Unternehmensführung gerecht, die die Besonderheiten der Fertigung und des Vertriebs einer Mundglashütte zu berücksichtigen vermochte, noch der Komplexität der Problematik, die im Unternehmen angesichts der sich verändernden Rahmenbedingungen des Wirtschaftens entstanden war. Gerade weil diese neuen Herausforderungen von einer Person an der Spitze des Unternehmens allein nicht zu bewältigen waren bzw. sie überforderte hatte, stellte die auf die (Un-)Fähigkeiten Süßmuths fokussierende Krisenanalyse eine Unterschätzung derselben dar. In den Fähigkeiten und dem Erfahrungswissen der Belegschaft lagen dagegen Ressourcen für mögliche Lösungsansätze, die Richard Süßmuth – obwohl diese von ihm selbst ja auch gefördert wurden – für eine Bewältigung der Krise ungenutzt ließ. Unter Beibehaltung seiner für ihn aus dem »Wesen« des Glases oder seiner organischen Vorstellung vom Sozialen abgeleiteten »Gesetzmäßigkeiten« in der Unternehmensführung war es ihm nicht möglich, die Glashütte ökonomisch zu stabilisieren bzw. der Krisenentwicklung etwas entgegenzusetzen. Er wurde damit eben jener Verantwortung nicht mehr gerecht, mit der er bislang die alleinige Entscheidungsgewalt in seinem Unternehmen gerechtfertigt hatte. Den hiermit verbundenen Autoritätsverlust kompensierte Süßmuth mit einem verstärkt autoritären Auftreten. Die Krise im Unternehmen Süßmuths entsprach somit einer auch für andere bundesdeutsche Unternehmen zutreffenden Beobachtung, der zufolge mit einem patriarchal-autoritären Führungsstil die im Laufe der 1960er Jahre »zunehmend komplexen Umweltanforderungen« nicht mehr bewältigt werden konnten.600 Dass Richard Süßmuth seine Reputation als Geschäftsführer sowohl innerhalb wie auch außerhalb des Unternehmens einbüßte, verweist auf zwei über den Betrieb hinausweisende Veränderungsprozesse: Zum einen deutete die sich ändernde Haltung im Hessischen Wirtschaftsministerium gegenüber dem einstigen Vorzeigeunternehmen einen Wandel in den Vorstellungen über die Formen des richtigen Wirtschaftens an, dem es in dieser Arbeit weiter nachzuspüren gilt. Zum anderen begegneten Teile der Belegschaft Süßmuths Alleingestaltungsanspruch in zunehmenden Maße mit Selbstbewusstsein und forderten Mitsprache an den Entscheidungsprozessen hinsichtlich der ihr Wohlbefinden wie die Qualität der Produkte gleichermaßen unmittelbar

599 Hiervon zeugten allein die erfolglosen Abwerbebemühungen anderer Glashüttenbesitzer während der Krise der GHS. Siehe Kapitel 2.2 und Kapitel 9.4. 600 Werner Plumpe, »1968 und die deutschen Unternehmer. Zur Markierung eines Forschungsfeldes«, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 1 (2004), S. 61.

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betreffenden Arbeits- und Produktionsbedingungen ein. In den sich während der Unternehmenskrise zuspitzenden Auseinandersetzungen zwischen Süßmuth und der Belegschaft stellte sich die Frage nach demokratischer Teilhabe im Unternehmen – und zwar weder als ein abstrakter Topos der Mitbestimmungskontroverse noch als motivationsanregende Managementstrategie, sondern als eine aus den praktischen Erfahrungen gewonnene Vorstellung der Beschäftigten von guter Arbeit. Diese im folgenden Kapitel darzustellenden praxisbasierten Erkenntnis- und Politisierungsprozesse unter den Beschäftigten der Glashütte Süßmuth verweisen auf langfristige Veränderungen in den gesellschaftlichen Verhältnissen der Bundesrepublik und auf den basisdemokratischen Aufbruch, der um »1968« auch die Arbeitswelt ergriffen hatte.

2. Wem gehört der Betrieb? Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth (Frühjahr 1969 bis Herbst 1970)

Die Krise der Glashütte Süßmuth veranlasste nicht nur den geschäftsführenden Inhaber, sondern auch weite Teile der Belegschaft sowie eine Reihe betriebsexterner Akteure zu intensiven Bemühungen, den Erhalt des Unternehmens sicherzustellen. Aufgeworfen wurde dabei die Frage, wem der Betrieb – unabhängig vom formaljuristischen Eigentumsverhältnis – eigentlich gehörte und wer legitimer Weise über diesen verfügen durfte. Die Belegschaft der Glashütte Süßmuth ging aus der Unternehmenskrise als neue kollektive Eigentümerin hervor. Der sich vom Frühjahr 1969 bis zum Herbst 1970 hinziehende Übernahmeprozess war von großer Ungewissheit sowie einer dichten Ereignisabfolge geprägt und lässt sich in drei Phasen darstellen, die das folgende Kapitel strukturieren.

2.1 Konkurrierende Versuche zur Rettung des Unternehmens Parallel zu im Mai 1969 begonnenen Verkaufsverhandlungen (Option 1) bemühte sich Richard Süßmuth weiterhin um die Aufnahme neuer Kredite (Option 2). Demgegenüber gewann die Belegschaftsinitiative zur Betriebsübernahme zunehmend an Gewicht (Option 3). Insbesondere die beiden letzten Optionen waren abhängig von einer Ausfallbürgschaft durch das Land Hessen für einen dringend notwendigen Investitionskredit. Die Bewilligung war an den Nachweis von Eigenkapital gebunden. Die Firma war jedoch verschuldet und die Firmengrundstücke waren bereits mit alten Hypotheken voll belastet.

Option 1: Die Verkaufsverhandlungen Seit Anfang der 1960er Jahre hatte Süßmuth Verhandlungen über eine finanzielle Unterstützung bzw. die Übernahme einer Ausfallbürgschaft durch das Land Hessen geführt. Die Entscheidung des Landes hatte sich lange hingezogen, da der Unternehmer

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die geforderten Voraussetzungen teilweise nur zögerlich bzw. gar nicht erfüllte.1 Süßmuth legte im Februar 1969 ein Rentabilitätsgutachten vor, in dem Unternehmensberater Jürgen Hämer der Firma gute Chancen für ein weiteres Bestehen bescheinigte und »Sofortmaßnahmen [empfahl], um einen Konkurs im Jahre 1969 zu vermeiden«.2 Aber dem Hessischen Wirtschaftsministerium war »das Risiko einer staatlichen Finanzierungshilfe für die kommenden Investitionen zu groß«. Die von den Ministerialbeamten geforderte mittel- und langfristige Unternehmensplanung stand nach wie vor aus. Auch weigerte sich Süßmuth weiterhin, die geforderte personelle Neubesetzung der Geschäftsführung – wie bereits 1967 zugesichert – einzuleiten. Sein Antrag wurde daher am 12. Mai 1969 endgültig abgelehnt.3 Wegen der guten Auftragslage und der positiven Rentabilitätsprognose stellte das Land Hessen der Firma dennoch eine zukünftige Unterstützung in Aussicht, machte diese jedoch erneut von dem Rücktritt Richard Süßmuths als Geschäftsführer sowie der Erhöhung der Eigenkapitalbasis durch den Verkauf des Unternehmens bzw. eine Mehrheitsbeteiligung von Dritten abhängig. Auf Einladung des Hessischen Wirtschaftsministeriums trafen sich Richard Süßmuth, sein im Vertrieb tätiger Schwiegersohn [Hans Müller] sowie der Finanzleiter [Franz Büttner] am 20. Mai 1969 in Wiesbaden mit dem Staatssekretär Alfred Härtl (SPD), dem Ministerialdirigenten [Arthur von Grube] und dem Diplom-Kaufmann [Dieter Vogt] vom Referat Öffentliche Finanzierungshilfen.4 Anwesend waren zudem der Vizepräsident des Landesarbeitsamtes, ein Vertreter der Treuarbeit, der Landrat von Hofgeismar Gerhard Arnold (SPD), der Unternehmensberater Jürgen Hämer sowie ein Repräsentant der Vertretung der Heimatvertriebenenund Flüchtlingswirtschaft. Dieser breite Teilnehmerkreis verdeutlicht: das staatliche Interesse am Erhalt des Unternehmens als wichtiger Arbeitsplatzgeber und Wirtschaftsfaktor in der strukturschwachen Region Nordhessen war groß. Auf diesem Treffen willigte Süßmuth ein, die Glashütte zum Verkauf auszuschreiben. Am 23. Mai 1969 veröffentlichten die Frankfurter Allgemeine Zeitung und das Handelsblatt eine Anzeige, in der ohne Nennung des Firmennamens die Glashütte Süßmuth zum Verkauf angeboten wurde.5 Bis zum Juli 1969 meldeten sich über 22 Kaufinteressenten.6 Die von den Beamten des Hessischen Wirtschaftsministeriums begleiteten Verhandlungen scheiterten, obwohl Unternehmen der Glasindustrie ernsthaftes Interesse bekundeten. Während der Geschäftsführer von der Glashütte Limburg Heinrich Gantenbrink allerdings nicht garantieren konnte, alle Beschäftigten zu übernehmen, wollte jener von Gralglas Rolf Seyfang sich nicht einmal darauf verpflichten lassen, die Produktionsstätte

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Siehe Kapitel 1.6. Folgendes aus Bericht Franz Fabian an IG Chemie Hauptvorstand, 5. Januar 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. Deutsche Revisions- und Treuhand-AG an Richard Süßmuth, 12. Mai 1969, in: FHI, Schöf-1222. Folgendes aus Teilnehmerliste Gespräch im HWMi, 20. Mai 1969, in: FHI, Schöf-1222. Zeitungsannonce, »Glashütte. Mehrheitsbeteiligung oder Verkauf«, in: FAZ, 23. Mai 1969, in: FHI, Schöf-1222. Lagebericht Richard Süßmuth, 12. Juli 1969, in: FHI, Schöf-1222. Darunter befanden sich auch ausländische Unternehmen wie bspw. das schwedische Porzellanunternehmen Gustavsberg Fabriken. [Dieter Vogt] an Gustavsberg Fabriken (Schweden), 23. Juli 1969, in: FHI, Schöf-1222.

Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth (Frühjahr 1969 bis Herbst 1970)

in Immenhausen in Betrieb zu halten.7 Zu der Bedingung, für die in Aussicht gestellten staatlichen Fördermittel den Betrieb als Ganzes mit allen Arbeitsplätzen in Immenhausen aufrechtzuerhalten, ließ sich das Unternehmen nicht veräußern.8

Option 2: Süßmuths Bemühungen um neue Kredite und die Fortführung als Familienunternehmen Richard Süßmuth sah sich durch die ergebnislos verlaufenden Verkaufsbemühungen darin bestätigt, »dass die negative wirtschaftliche Entwicklung der Glashütte nicht auf [s]ein Versagen […] zurückzuführen« sei.9 Ausgehend von seiner Krisendeutung, er könne allein mit Investitionen die Probleme seines Unternehmens beseitigen, mobilisierte er seine persönlichen Kontakte zu CDU-Politikern wie auch zu Vertretern der Wirtschaftsverbände, die er um Unterstützung bei der Rettung seines Unternehmens bat.10 Parallel zu den im Sommer 1969 sich konkretisierenden Plänen einer Betriebsübernahme durch die Belegschaft gelang es ihm, neue Verhandlungen über einen von der Lastenausgleichsbank (LAB) in Aussicht gestellten Kredit anzustoßen. Hierfür brauchte es eine Ausfallbürgschaft als Sicherheit, die das Land Hessen übernehmen sollte. Daher versammelten sich »auf Wunsch des Bundesministers für Vertriebene« am 15. Juli 1969 »Vertrete[r] der zuständigen Bundes- und Landesministerien sowie der Lastenausgleichsbank« in Bad Godesberg, um über Sanierungsmöglichkeiten der Glashütte Süßmuth zu sprechen.11 Als Vertreter des Hessischen Innenministeriums erhielten der Ministerialrat [Christoph Brügg] und der Oberregierungsrat [Karl Rubert] den Auftrag, sich hierüber mit »Praktikern aus der Glasindustrie« zu beraten. Im Zuge einer am 18. Juli 1969 durchgeführten Betriebsbesichtigung kamen die Vertreter von Arbeitgeber- und Branchenverbänden – wie bereits das Rentabilitätsgutachten des Unternehmensberaters Hämer – zu dem Ergebnis, dass das Unternehmen sanierungsfähig und -würdig sei.12 Auf Grundlage dieser Beratungen erstellte [Karl Rubert] – in enger Zusammenarbeit mit [Hans Müller] – Ende Juli 1969 eine Liste von Sanierungsvorschlägen.13 Diese sa-

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Darüber hinaus habe es auch sehr viele Kaufinteressenten aus anderen Bereichen der Glasindustrie gegeben, die die GHS auf eine »vollkommen anders geartete Produktion« wie bspw. auf jene von Autoscheinwerfern umstellen wollten. Siehe Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Hans und Ursula Müller], 2. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 11–13. Die meisten Kaufinteressenten seien am »Knowhow der Glasbläser« interessiert gewesen. Die Fortführung des Unternehmens sei für sie aufgrund der Verschuldung nicht attraktiv gewesen. [Dieter Vogt] in Transkript Gruppeninterview der Autorin mit [Dieter und Sabine Vogt], 17. Mai 2014, im Besitz der Autorin, S. 4. Süßmuth, 12. Juli 1969 (s. Anm. 6). Siehe Kapitel 3.5. Folgendes aus Interner Schriftverkehr HMdI, 28. Juli 1969, in: FHI, Schöf-1222. An dieser Werksbesichtigung haben zwei Glasunternehmer (Hessenglaswerke und Glashütte Limburg) und jeweils ein Vertreter der Wirtschaftsverbände VHW-Landesverband Hessen und VdG teilgenommen. Ebd. [Ruberts] Bericht ist eine weitgehend wortwörtliche Wiedergabe von [Müllers] »grundsätzliche[n] Gedanken zur Unternehmensführung«, die er einen Tag zuvor an [Rubert] geschickt hatte. Folgendes aus [Hans Müller] an HMdI, 27. Juli 1969, in: FHI, Schöf-1222; Unternehmenskonzeption [Hans Müller], undatiert [Juli 1969], in: Privatarchiv [Müller].

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hen die Fortführung des Unternehmens als Familien-Kommanditgesellschaft unter der Geschäftsführung von [Müller] vor, dem die Rechte und Pflichten des Komplementärs übertragen werden sollten. Richard Süßmuth sollte also die Geschäftsführung an seinen Schwiegersohn abgeben, aber weiterhin Anteile am Unternehmen behalten. Mit der personellen Neubesetzung der Geschäftsführung, der Gründung eines »Beratungs- bzw. Aufsichtsgremiums« oder der »Zusammenarbeit mit freiberuflichen Unternehmensberatern« wurden all jene Reformvorschläge aufgegriffen, die das Hessische Wirtschaftsministerium Süßmuth in den Jahren zuvor nahegelegt hatte. Mit diesem Sanierungskonzept sollte das in Sachen staatlicher Wirtschaftsförderung federführende Ministerium doch noch zur Bewilligung einer Ausfallbürgschaft bewegt werden. Unterstützung erhielt dieser Plan auf kommunalpolitischer Ebene. Der Bürgermeister von Immenhausen und der Landrat von Hofgeismar – beide SPD-Mitglieder – waren am Erhalt des Unternehmens sehr interessiert und zogen die Verkaufslösung oder die Fortführung als Familien-KG der Idee einer Belegschaftsübernahme vor.14

Option 3: Übernahme des Betriebs durch die Belegschaft Die Belegschaft erfuhr erst spät von der bedrohlichen Lage des Unternehmens. Wegen der vielfältigen Missstände im Betrieb stellte der Betriebsrat – in Anwesenheit der Gewerkschaftsfunktionäre der Verwaltungsstelle Kassel Werner Schepoks und [Klaus Boehm] – die Geschäfts- und Betriebsleiter auf einer Belegschaftsversammlung am 1. April 1969 zur Rede. Mit dem Verweis auf eine baldige »Zusage für einen höheren Kredit« zur Behebung der Mängel rettete sich Richard Süßmuth aus der Schusslinie der Kritik, die die Belegschaftsvertreter vor allem an [Ludwig Hager] richteten.15 Der Druck auf den Betriebsleiter stieg derart, dass dieser kurz darauf sein Amt niederlegte.16 Ob [Hager] – seiner eigenen Darstellung folgend – lediglich wie geplant in Rente ging oder von seinem Bruder und Chef Richard Süßmuth entlassen wurde, sei dahingestellt.17 Die Glasmacher betrachteten das Ausscheiden des als Tyrann wahrgenommenen Vorgesetzten infolge ihrer Kritik als einen Erfolg.18 Angesichts der aufgenommenen Verkaufsverhandlungen forderte der Staatssekretär im Hessischen Wirtschaftsministerium Alfred Härtl von Richard Süßmuth, die Be14 15 16

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Protokoll Betriebsversammlung (GHS), 17. Juli 1969, in: FHI, Schöf-1222; Bernhardt Vocke an Rudi Arndt, 5. August 1969, in: FHI, Schöf-1222. Protokoll Betriebsversammlung (GHS), 1. April 1969, in: FHI, Schöf-1222. Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Manfred Hübner], [Frank Weber], [Anna Thiele] und namentlich unbekanntem Betriebsratsmitglied, 26. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 2; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Werner Schepoks, 1. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 1. [Ludwig Hager] bestritt, dass ihm gekündigt wurde. [Ludwig Hager] an WDR, undatiert [1980], transkribiert von Friedrich-Karl Baas, in: AGI. Flugblatt »Karten auf den Tisch«, gezeichnet von Aktivgruppe Süßmuth, 25. September 1969, in: FHI, Schöf-1222; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] und [Dieter Schrödter], 13. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 2; Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 16), S. 1; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Franz Fabian, 22. April 1974, im Besitz der Autorin, S. 4; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Herman Freil], 7. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 14.

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legschaft über die wirtschaftliche Situation des Unternehmens und die geplanten Rettungsmaßnahmen in Kenntnis zu setzen, um der Verbreitung von Unsicherheit vorzubeugen.19 Dem verweigerte sich Süßmuth zunächst mit der Begründung, dies werde eine Kündigungswelle nach sich ziehen, »die den Verkauf infrage stellen könnt[e]«.20 Auf Druck der Gewerkschaft berief Süßmuth schließlich am 18. Juni 1969 eine Betriebsversammlung ein und informierte die Beschäftigten über die gescheiterten Kreditverhandlungen, die Liquiditätsprobleme des Unternehmens und den geplanten Verkauf.21 Obwohl sich die krisenhafte Unternehmensentwicklung im Arbeitsalltag bereits lange zuvor angedeutet hatte, war diese Nachricht für »die ganze Belegschaft« ein Schock.22 An der Betriebsversammlung nahmen – neben den Kasseler Funktionären der IG Chemie – mit Franz Fabian auch der hessische Bezirksleiter aus Frankfurt am Main und mit [Dieter Vogt] der Referent für öffentliche Kredite im Hessischen Wirtschaftsministerium teil. Beide versprachen der Belegschaft, sich für den Erhalt des Betriebs und aller Arbeitsplätze einzusetzen und forderten sie zum geschlossenen Verbleib auf, da andernfalls die Verkaufsverhandlungen ernsthaft gefährdet wären.23 Süßmuths Befürchtung, dass die Facharbeiter sich in Kenntnis der prekären Situation des Unternehmens nach einem anderen Arbeitsplatz umsehen werden, war nicht unbegründet. Der Glasmacher [Rolf Schindler] verwies auf die Zumutung für die jüngeren Beschäftigten und ihre Familien mit kleinen Kindern, auf Bemühungen um einen neuen Arbeitsplatz zu verzichten. [Heinrich Köster], ein Arbeiter aus der Weiterverarbeitung und Sprecher der älteren Generation, appellierte an die »Solidarität« der jüngeren Kollegen; für die Älteren sei es um ein Vielfaches schwerer, einen zumutbaren anderen Arbeitsplatz zu finden. Um einer »Panik« unter den Beschäftigten vorzubeugen, gab Franz Fabian ihnen sein Wort, »dass die Gewerkschaft alles in ihrer Möglichkeit liegende tun werde, diesen Betrieb zu erhalten«, und sie »rechtzeitig« über die weiteren Entwicklungen informieren werde.24 Nach dieser Betriebsversammlung sei erstmals im Kreis der gewerkschaftlich aktiven Facharbeiter und der IG-Chemie-Funktionäre über die Option gesprochen worden, dass die Belegschaft den Betrieb übernehmen könnte.25 Die zu diesem frühen Zeitpunkt noch unter dem Begriff Genossenschaftshütte firmierende Übernahmeidee wurde auf der Betriebsversammlung am 9. Juli 1969 der Belegschaft zur geheimen Abstimmung gestellt. Bis auf eine Gegenstimme waren alle anwesenden Beschäftigten bereit, im Betrieb zu bleiben und sich für dessen Übernahme einzusetzen, um damit einem Konkurs des

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Härtl verwies auf die Informationspflicht nach BetrVG § 72, wonach Süßmuth zur Einberufung einer Belegschaftsversammlung verpflichtet war. Süßmuth, 12. Juli 1969 (s. Anm. 6). Richard Süßmuth an HWMi, 29. Mai 1969, in: FHI, Schöf-1222. Protokoll Betriebsversammlung (GHS), 18. Juni 1969, in: FHI, Schöf-1222. [Manfred Hübner] zitiert in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 3; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Wolfgang Franke] und [Frank Weber], 13. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 11. Folgendes aus Betriebsversammlung, 18. Juni 1969 (s. Anm. 21), S. 2f. Ebd., S. 2. Er habe der Belegschaft zudem zugesichert, »dass die Gewerkschaft das Bereitstellen der gefährdeten Lohngelder garantiere.« Franz Fabian, »Vom ›Fall‹ zum ›Modell‹ Glashütte Süßmuth«, in: Ders. (Hg.), Arbeiter übernehmen ihren Betrieb oder Der Erfolg des Modells Süßmuth, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 11; Fabian, 5. Januar 1970 (s. Anm. 2), S. 3. [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 9; Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 18), S. 3f.

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Unternehmens entgegenzuwirken.26 Richard Süßmuth wurde auf dieser Versammlung vor die Wahl gestellt: Entweder er erklärt sich bereit, einer Überführung des Betriebs in Belegschaftshand zuzustimmen, für den Fall, dass »er selbst keine besser[e] Lösung bieten kann, […] die Fortführung der Firma und die Erhaltung der Arbeitsplätze [zu] sichern.«27 Oder die Glasmacher verlassen sofort den Betrieb.28 Letztere setzten sich also als Druckmittel und Faustpfand für den Erhalt des Unternehmens ein, im Bewusstsein, dass sie – wie es Süßmuth formulierte – »schließlich eines der Haupt-Aktiva« waren.29 Da der Weggang der Glasmacher die Existenz seiner Firma unmittelbar bedroht hätte, gab Süßmuth der Belegschaft sein Einverständnis und unterschrieb eine dementsprechende Erklärung. In den folgenden Wochen gewährte er den Belegschaftsvertretern, den Gewerkschaftsfunktionären sowie einem »wissenschaftlichen Team« Einblick in alle Unterlagen.30 Bei diesem Team handelte es sich um vier ehrenamtlich arbeitende wissenschaftliche Mitarbeiter und Studenten der Universität Frankfurt am Main, die auf Vermittlung durch die IG-Chemie-Funktionäre in die Glashütte Süßmuth kamen, um bei der Erarbeitung der umfassenden Materialien, die für die Kreditanträge an das Land Hessen notwendig waren, zu helfen.31 Die Geburtsstunde der Übernahmeidee zu rekonstruieren, war ein Vorhaben, das bereits Erasmus Schöfer einige Schwierigkeiten bereitete. Schöfer versuchte 1973 und 1974 durch Gespräche mit möglichst vielen Beteiligten nachzuvollziehen, was sich in den Jahren 1969 und 1970 ereignet hatte. Doch obwohl die Geschehnisse damals noch Teil einer lebendigen Erinnerung waren, gelang es ihm nicht, die Berichte der von ihm Interviewten in eine kohärente Darstellung über den Ereignisablauf zu bringen. Vielmehr sah er sich mit unterschiedlichen, sich zum Teil widersprechenden Erzählungen konfrontiert, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der zum damaligen Zeitpunkt praktizierten Selbstverwaltung standen und angesichts der hiervon abgeleiteten Legitimation entsprechend umkämpft waren. An diesem Punkt reicht die geschichtswissenschaftliche über die zeitgenössische Rekonstruktion hinaus. Zwar ist auch die Historikerin mit der disparaten Quellenlage konfrontiert, die für diese Phase fast ausschließlich aus mündlichen Überlieferungen besteht. Angesichts der Informalität der Ereignisse liegen hierfür nur sehr wenige schriftliche Zeugnisse vor. Aus historisierender Perspektive können indes drei dominante Erzählstränge unterschieden werden, die sich jeweils selektiv auf den Ereignisverlauf bezogen und im weiteren Verlauf der Untersuchung in ihrer zeitgenössischen Bedeutung zu kontextualisieren sind. Das Narrativ vom Werk der großen Männer zeichnete mit Franz Fabian vor allem den hessischen Bezirksleiter der IG Chemie als geistigen Urheber sowie entscheidenden Initiator der Belegschaftsübernahme aus. Bereits Anfang Mai 1969 sei Fabian von seinem 26 27 28 29 30 31

[Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 9f.; [Freil], 7. Januar 1974 (s. Anm. 18), S. 1, 9. Erklärung Richard Süßmuth, 9. Juli 1969, in: FHI, Schöf-1222. Süßmuth, 12. Juli 1969 (s. Anm. 6). Süßmuth, 29. Mai 1969 (s. Anm. 20), S. 2. Süßmuth, 9. Juli 1969 (s. Anm. 27). Fabian, Fall (s. Anm. 24), S. 14; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Franz Fabian, undatiert [1974], im Besitz der Autorin, S. 1. Richard Süßmuth nahm fälschlicher Weise an, dieses »wirtschaftswissenschaftliche Team« habe aus Gewerkschaftsfunktionären bestanden. Süßmuth, 12. Juli 1969 (s. Anm. 6), S. 3. Siehe Kapitel 3.3.

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SPD-Parteigenossen und Staatssekretär im Hessischen Wirtschaftsministerium Alfred Härtl auf informellem Weg und unter Verletzung seiner Schweigepflicht über die prekäre Situation in der Glashütte Süßmuth in Kenntnis gesetzt worden.32 In der vorausschauenden Annahme, die Nachricht über die Verkaufsverhandlungen würde in der Belegschaft große Unruhe erzeugen, hätten Härtl und Fabian überlegt, wie insbesondere die Glasmacher zum Verbleib im Unternehmen motiviert werden könnten.33 Beide teilten Richard Süßmuths Befürchtung, dass ein »Weggehen der Facharbeiter […] zweifellos jede Sanierung unmöglich« gemacht hätte. Um die Geschlossenheit der Belegschaft zu gewährleisten, hätten Härtl und Fabian bereits zu diesem Zeitpunkt über die Möglichkeit gesprochen, »in der Form einer Selbstverwaltung durch die Belegschaft, einen Ausweg aus den Schwierigkeiten zu suchen.« Zunächst sei Fabian in Verhandlungen mit [Hans Müller] getreten, von dem er aus den vorherigen Tarifverhandlungen einen guten Eindruck erhalten hatte.34 [Müller] habe ebenfalls eine entscheidende Rolle gespielt, da er »an der Quelle gesessen hat und zu jeder Bilanz und zu allem Zugang hatte und sie auch offen dem Fabian vorgelegt hat und auch den anderen Gremien.«35 Die Idee zur Belegschaftsübernahme könne mit Härtl und Fabian also maßgeblich auf einzelne betriebsexterne Akteure zurückgeführt werden, die diese in den Betrieb hineingetragen und mit Unterstützung von [Müller] umgesetzt hätten.36 Vor allem Fabian und [Müller] bedienten sich dieser Darstellung ebenso wie auch Richard Süßmuth.37 Dem diametral gegenüber stand das Narrativ von der kollektiven Aktion der gewerkschaftlich aktiven Facharbeiter bzw. der Vertrauensleute, in dem die gemeinsame Erfahrung der erfolgreichen Übernahme der Kontrolle über die Produktion in den Vordergrund gestellt wurde. Demnach hatten die Facharbeiter bereits mit Ausscheiden des Betriebsleiters [Ludwig Hager] bzw. seit dem Frühjahr 1969 für »ihren Betrieb gesorgt«.38 Schon vor

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Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 18), S. 17f. Folgendes aus Fabian, 5. Januar 1970 (s. Anm. 2). [Müller] habe »objektiv« und »sachlich sauber diskutiert« und sei »für soziale und gesellschaftliche Anliegen […] aufgeschlossen« gewesen. Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 18), S. 17f. Von einem schon damals »engeren Verhältnis« zu Franz Fabian sprach auch [Hans Müller]. [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 7), S. 13. [Manfred Hübner] zitiert in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 7; Ebenso [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 7), S. 13, 1. [Hans Müller] in Transkript Podiumsdiskussion zum Thema »Mitbestimmung – Selbstverwaltung – Selbstbestimmung«, organisiert von Jungsozialisten, 21. September 1973 in Niestetal bei Kassel, im Besitz der Autorin, S. 5. Süßmuth, 12. Juli 1969 (s. Anm. 6), S. 2f.; Richard Süßmuth in Typoskript Interview Günter Wallraff mit Richard Süßmuth, undatiert [März 1970], in: FHI, Schöf-1195, S. 2. Diese Darstellung wurde in der Regel auch in der Berichterstattung der großen bundesweit erscheinenden Zeitschriften rezipiert. Siehe bspw. Heinz Michaels, »Die Genossen im Glashaus«, in: Die Zeit, 27. März 1970, in: FHI, Schöf-1225; Jochen Wegener, »Die Fabrik gehört uns«, in: Stern, 1. April 1973, S. 76–82; Typoskript »280 Arbeiter = 280 Chefs. Die Süssmuth GmbH – ein neuer Versuch der Mitbestimmung«, Peter Marchal für »Die Welt von heute« (Südwestfunk Radio), 4. August 1971, in: FHI, Schöf-1212, S. 13; Ebenso im Züricher Tagesanzeiger: »›Wir wollen sozialpolitisch wirken.‹ Gespräch mit Franz Fabian«, in: Tagesanzeiger Magazin, 20. Februar 1971, in: Privatarchiv See. [Paul Nowak] zitiert in »Warum dieser Chef 280 Arbeitern seine Fabrik schenkt, in: Neue Revue, 12. April 1970, in: AGI; [Freil], 7. Januar 1974 (s. Anm. 18), S. 15f.

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der Initiative von Franz Fabian seien sie – so der Glasmacher und Sprecher der Vertrauensleute [Paul Nowak] oder der Gewerkschaftsaktivist und Sekretär des Sozialpfarramts der Evangelischen Landeskirche [Herman Freil], der in einem sehr engen Verhältnis zu den Betriebsaktivisten der Glashütte Süßmuth stand – davon überzeugt gewesen seien, den Betrieb auch eigenständig führen zu können, »ohne dass man schon genau gewusst hätte, in welcher Form«.39 Vor allem für die im Übernahmeprozess sehr engagierten Glasmacher war diese Darstellung während der Selbstverwaltung von großer Bedeutung.40 Benannte [Hans Müller] jene »aktiven Teile der Belegschaft« im Jahr 1971 noch als »die treibende Kraft«, die parallel bzw. zeitlich vor Fabians Intervention dahingehende »Überlegungen […] im Betrieb angestellte hatten«,41 so näherte sich seine Erinnerung innerhalb von nur zwei Jahren der obigen Ansicht an, dass Fabian und er den Beschäftigten damals diese »Idee entfernt in die Gedanken und in den Mund« gelegt hätten.42 Daneben existierte das Narrativ einer von außen gesteuerten Aktion, das im Zuge der Politisierung der betrieblichen Auseinandersetzungen während der Übernahmephase und vor allem mit der Polarisierung in den Konflikten während der Selbstverwaltung eine spezifische Funktion besaß. Auf dieses nicht näher bestimmte Außen wurde zwar nicht der Ursprung der Übernahmeidee zurückgeführt, wohl aber jene noch darzustellende Radikalisierungstendenz, infolge der die Forderung nach Erhalt des Unternehmens und der Arbeitsplätze zu einer über den Betrieb hinausreichenden öffentlichen Angelegenheit wurde. Hiermit ging eine Delegitimierung der im Zuge der Politisierung artikulierten Forderungen und Positionen einher, für die die Süßmuth-Belegschaft instrumentalisiert worden sei.43 Die Verschiebung des Protestpotenzials auf ein äußeres Drittes ermöglichte es, die Belegschaftsübernahme – insbesondere gegenüber potenziellen Geldgeber*innen, Bürg*innen, Geschäftspartner*innen sowie Kund*innen der Firma – als ein vom Kommunismus unverdächtiges Projekt zu präsentieren. Dieses Narrativ zeugte vor allem von den Bestrebungen der Gewerkschaftsfunktionäre und leitenden Angestellten, die Kontrolle über die Entwicklungen im Belegschaftsunternehmen zu behalten.

Die Pattsituation Ende 1969 gab es nur noch zwei Rettungsoptionen. Den Nachweis eines ausreichend hohen Eigenkapitalanteils als Voraussetzung für die staatliche Ausfallbürgschaft konnte allerdings weder der Plan der Weiterführung als Familien-KG noch der Plan einer Belegschaftsübernahme erbringen. Folglich konkurrierten beide Projekte um die Anerkennung und Unterstützung durch das Land Hessen. Dass am Ende die Belegschaftsüber-

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[Freil], 7. Januar 1974 (s. Anm. 18), S. 14f.; [Paul Nowak] in [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 18), S. 1. Aufgegriffen wurde diese Darstellung von der DKP-eigenen Zeitschrift Unsere Zeit oder auch von der Deutschen Volkszeitung. Siehe Artikel aus diesen Zeitschriften vom März und April 1970 in: FHI, Schöf-1199. [Hans Müller] zitiert in Marchal, 4. August 1971 (s. Anm. 37), S. 13. [Hans Müller] zitiert in [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 7), S. 13f. Vermerk Franz Fabian, 6. Oktober 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie. Siehe Kapitel 4.3 und Kapitel 4.4.

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nahme als einzige realistische Option übrigblieb, ist im Wesentlichen auf drei Faktoren zurückzuführen. Erstens zeigte sich Richard Süßmuth aus Perspektive des Landes Hessens weiterhin als unzuverlässig. Da sich die von ihm angestoßenen Kreditverhandlungen mit der LAB in eine von ihm nicht intendierte Richtung entwickelt hatten, unterstützte er den Plan einer Familien-KG unter der Leitung von [Hans Müller] nur widerwillig. Es kam zu Konflikten zwischen Süßmuth und seinem Schwiegersohn, dem er eigennützige Beweggründe vorwarf.44 [Müller] verteidigte sich, dass es ihm ausschließlich um den Erhalt von Süßmuths Lebenswerk und der Arbeitsplätze gehe, deren Verlust für einen Großteil der Belegschaft einschneidend negative Konsequenzen haben werde. Angesichts der Alternativen eines Verkaufs oder einer Belegschaftsübernahme – die [Müller] andernfalls unterstützen werde – böte der von ihm mitentwickelte Rettungsplan Süßmuth zumindest noch eine Beteiligungsmöglichkeit am Unternehmen. Um die laufenden Kreditverhandlungen nicht zu gefährden, ernannte Richard Süßmuth am 13. August 1969 [Hans Müller] zwar zum Geschäftsführer.45 Als Komplementär behielt er sich jedoch weiterhin ein Zustimmungsrecht bei der »Durchführung wesentlicher Maßnahmen« und das Recht zur Kontrolle der Geschäftsführung vor. Diese nur halbherzig erfolgte Übertragung der Entscheidungsgewalt war für die Vertreter des Landes Hessen keine Grundlage für weitere Verhandlungen.46 Zweitens hatten Teile der Facharbeiterschaft unterdessen faktisch die Kontrolle über die Produktion übernommen und damit praktisch den Beweis erbracht, dass sie die Fähigkeit zur kollektiven Betriebsführung besaßen. Im Zuge der Diskussionen über eine mögliche Belegschaftsübernahme hatten nach dem Betriebsleiter auch sein Stellvertreter sowie die beiden Hüttenmeister den Betrieb verlassen, da sie sich in ihrer Autorität infrage gestellt sahen.47 Infolge des Weggangs des oberen und mittleren Führungspersonals im Bereich der Produktion hatten die Glasmacher »gerade in dieser ungewissen Zeit – vom Sommer 69 bis Anfang März 70 – […] den Betrieb fast ganz alleine geführt«.48 In »kollektiver Gemeinschaftsarbeit« hätten »alle Kollegen, jeder wo er nur konnte, auf seinem Platz zugepackt und […] die Fehler, die wir gesehen haben […] dann auch verändert.«49 Es wurden provisorische Entscheidungsgremien gebildet, die sich vorrangig aus Vertrauensleuten der einzelnen Abteilungen zusammensetzten, »Produktionsbesprechungen gemacht [und] Richtlinien bestimmt«.50 Der Betriebsratsvor-

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Folgendes aus [Hans Müller] an Richard Süßmuth, 16. Juli 1969, in: FHI, Schöf-1222; [Hans Müller] an Richard Süßmuth, 19. Juli 1969, in: FHI, Schöf-1222. Folgendes aus Erklärung Richard Süßmuth, 13. August 1969, in: FHI, Schöf-1222. Die Ministerialbeamten dürften eine Wiederholung der Erfahrung von 1967 befürchtet haben, als Richard Süßmuth grundlegende Unternehmensreformen als Voraussetzung für staatliche Unterstützung zwar zusicherte, sie jedoch dann doch nicht realisierte. Siehe Kapitel 1.6. Transkript Interview der Autorin mit [Horst Wilke], 31. Juli 2014, im Besitz der Autorin, S. 1; [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 18), S. 2. [Manfred Hübner] zitiert in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 3; Ebenso [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 18), S. 2. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] am 18. April 1973, im Besitz der Autorin, S. 2. [Manfred Hübner] zitiert in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 4.

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sitzende [Gerhard Schinkel] wurde von seinen Glasmacherkollegen zum Hüttenmeister ernannt.51 Die Facharbeiter begannen ihre bis dahin ignorierten Verbesserungsvorschläge umzusetzen.52 Am Ende des Kühlbandes wurde beispielsweise eine zusätzliche Person eingesetzt, die den Kühlprozess überwachte und bei Problemen sofort eingreifen konnte. Hatte der frühere Betriebsleiter diese neue Position des Kühlbandwärters aus Kostengründen abgelehnt, so habe sie sich angesichts der »schlagartig« zurückgegangenen Bruchzahlen schon nach wenigen Stunden bezahlt gemacht. Zudem wurde eine improvisierte Methode der Temperaturbemessung implementiert, die es erlaubte, mit den defekten Kühlbändern besser zu arbeiten – denn »die gingen zwar noch, aber falsch.«53 Indem die Facharbeiter die nicht mehr korrekt funktionierende Technik mit ihrem Erfahrungswissen kombinierten, konnten einige Fehlerquellen behoben werden.54 Mit den alten Anlagen und ohne Investitionen gelang es den Beschäftigten den Anteil von ErsteWahl-Artikel um 20 Prozent zu steigern sowie den Kühlbruch um circa 15 Prozent – und hierüber die Verluste in der Produktion – zu reduzieren.55 Darüber hinaus begann im Sommer 1969 eine Phase der gestalterischen Experimente, in der neue Produkte – zum Teil auch von den Beschäftigten selbst – entworfen und produziert wurden.56 Auch bemühten sich Angehörige der Belegschaft mit den Gewerkschaftsfunktionären verstärkt darum, neue Kund*innen zu gewinnen. Franz Fabian habe einzelne Gewerkschaften gebeten, durch den Kauf von Geschenkartikeln oder Gläsern für den amtlichen und privaten Gebrauch die Süßmuth-Belegschaft zu unterstützen.57 Im Herbst 1969 wurden Annoncen in der Tageszeitung geschaltet, woraufhin die »einfache Bevölkerung aus dem Umkreis« in der Glashütte vor allem Zweite-Wahl-Artikel und »Ladenhüter« zu reduzierten Preisen kaufte. Die Aktion erfolgte im Einverständnis mit den umliegenden Fachhändler*innen, um deren zukünftige Unterstützung nicht zu verlieren. Die intensivierten Verkaufsbemühungen halfen, den großen Lagerbestand zu verringern und den Umsatz zu erhöhen. Infolge dieser kollektiven Anstrengungen konnte der neue Geschäftsführer [Hans Müller] auf eine für das zweite Halbjahr 1969 optimistische Ertragslage blicken.58 Der Ende August 1969 vorgelegte Untersuchungsbericht des »wissenschaftlichen Teams« stellte eine eindeutige Verbesserung der Produktivität seit Juli 1969 fest, mahnte jedoch weiterhin dringenden Investitionsbedarf 51 52 53

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[Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 18), S. 20; [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 4. Folgendes aus [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 4f. Mit Unterstützung des »wissenschaftlichen Teams« führten die Facharbeiter eine Temperaturanalyse durch, um den an den Messgeräten falsch angezeigten Werten die richtigen Temperaturen zuzuweisen. Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 16), S. 2. Franz Fabian war von der Eigeninitiative und dem Einfallsreichtum der Facharbeiter sehr beeindruckt. Eben diese Erfahrung beförderte sein Engagement für die Belegschaftsübernahme. Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 18), S. 3f. Flugblatt »Hammer oder Amboss?«, gezeichnet von [Paul Nowak] für die Vertrauensleute (GHS), undatiert [10.März 1970], in: FHI, Schöf-1222; Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 16), S. 2. Nachweisbar war der Rückgang der Ausschusszahlen seit Juli 1969. Siehe Investitions- und Verkaufsplan des »wissenschaftlichen Teams«, 25. August 1969, in: FHI, Schöf-1222, S. 5. Siehe Kapitel 6.1. Folgendes aus [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 1–3. [Hans Müller] an »Freunde und Mitarbeiter«, 21. August 1969, in: FHI, Schöf-1222.

Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth (Frühjahr 1969 bis Herbst 1970)

an.59 Ungeachtet dieser leichten Aufwärtsentwicklung, des bestehenden Zeitdrucks und der schwindenden Erfolgsaussichten der Verkaufsverhandlungen wurde im Hessischen Wirtschaftsministerium aber deren Fortführung (gegenüber der Belegschaftsübernahme) favorisiert.60 Drittens trug insbesondere die beginnende Politisierung der betrieblichen Auseinandersetzung dazu bei, dass der Handlungsdruck auf die betriebsexternen Akteure stieg. In einer Zeit, als mit den sogenannten Septemberstreiks eine Welle wilder Streiks die Bundesrepublik überzog,61 gewannen die ergebnislos verlaufenden Verkaufs- und Kreditverhandlungen durch eine für Immenhausen spektakuläre Protestaktion an neuer Dynamik: In der Nacht vom 25. auf den 26. September 1969 wurde auf dem Betriebsgelände eine schwarze Fahne gehisst und in der Bevölkerung ein Flugblatt verteilt. Unter der Überschrift Karten auf den Tisch! machte eine anonym bleibende Aktivgruppe Süßmuth sowohl die »Mitbürger« als auch die »Kolleginnen und Kollegen« auf die problematische Situation in der Glashütte aufmerksam und beklagte die fehlende Transparenz in den Rettungsbemühungen.62 Nicht nur Richard Süßmuth, sondern auch die Hessische Landesregierung und die Gewerkschaftsfunktionäre standen hierbei in der Kritik. Dieses Flugblatt habe »ein bisschen viel Staub aufgewirbelt«, erinnerten sich die Glasmacher [Paul Nowak] und [Dieter Schrödter].63 Süßmuth informierte die Polizei und erstattete Anzeige gegen Unbekannt »wegen Verleumdung, Betriebs- und Geschäftsschädigung, Beleidigung [seiner] Person und öffentlicher Diffamierung«.64 [Hans Müller] und Franz Fabian sahen in dieser Aktion eine unnötige Gefährdung der bis dahin weitestgehend geheim gehaltenen Verhandlungen mit dem Land Hessen.65 Um sowohl gegenüber der Hessischen Landesregierung als auch gegenüber dem Unternehmer die Wogen zu glätten, versicherte Fabian, dass diese Aktion von einer außenstehenden Gruppe und »nicht von hier [aus der Glashütte Süßmuth] gelenkt« worden sei.66 Sehr wahrscheinlich lag die Autorenschaft des Flugblattes jedoch bei einer Gruppe von Vertrauensleuten als dem sich radikalisierenden Teil der Belegschaft.67

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Wissenschaftliche Team, 25. August 1969 (s. Anm. 55). Vermerk HWMi, 18. September 1969, in: FHI, Schöf-1222. Zwischen dem 2. und 19. September 1969 legten mindestens 140.000 Beschäftigte v.a. in Betrieben der nordrhein-westfälischen Montanindustrie ohne Beteiligung der Gewerkschaft die Arbeit nieder. Peter Birke, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt a.M. u.a. 2007, S. 228, 218–243. Flugblatt, 25. September 1969 (s. Anm. 18). [Paul Nowak] zitiert in [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 18), S. 10. Das Verfahren wurde eingestellt, da die Urheber nicht gefunden wurden. Richard Süßmuth an Polizei Hofgeismar, 1. Oktober 1969, in: ACDP, 01–094-070/1; Wallraff, [März 1970] (s. Anm. 37), S. 3; Interview von Erasmus Schöfer mit den lokalen Polizeibeamten, 11. Oktober 1973, in: FHI, Schöf-1213. [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 7), S. 20f.; Fabian, [1974] (s. Anm. 31), S. 1f., 4f. Franz Fabian wiedergegeben von Richard Süßmuth in Wallraff, [März 1970] (s. Anm. 37), S. 2; Ebenso Notiz [Hans Müller], 25. September 1969, in: FHI, Schöf-1222. Fabian war davon überzeugt, dass die Autoren des Flugblatts aus dem »wissenschaftlichen Team« stammten und dass sie nicht im Interesse der Belegschaft handelten. Fabian, [1974] (s. Anm. 31), S. 1f., 4f. Es sind keine offiziellen Hinweise auf die Personen hinter der Aktivgruppe Süßmuth überliefert. Befragt nach dem externen »Apparat«, der dieses Flugblatt zu verantworten habe, reagierten die

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Weil sie ihrem Anliegen anonym öffentlichen Ausdruck verliehen, konnten sie einer Kündigung vorbeugen und einer Strafverfolgung entgehen. Entgegen der Befürchtungen von Fabian und [Müller] nahm das Land Hessen erst ab diesem Zeitpunkt mit den Belegschaftsvertretern ernsthafte Verhandlungen über Finanzierungshilfen für den Fall einer Betriebsübernahme auf. So kam es am 6. Oktober 1969 – vermittelt über den SPD-Landtagsabgeordneten Albert Weber – zu einem Treffen im Wirtschaftsministerium in Wiesbaden.68 Die Teilnahme der hessischen Ministerien an der für den 10. Oktober 1969 anberaumten Sitzung in der LAB wurde hingegen kurzfristig abgesagt.69 Die Verhandlungen über den vom Bundesvertriebenenministerium unterstützten Rettungsplan von Süßmuth wurde vom Land Hessen unterbrochen, mit der vagen Aussicht, dass diese nach einem Scheitern des Belegschaftsplans wieder aufgenommen werden könnten. Waren Süßmuths Pläne somit durch die begonnenen Verhandlungen zwischen dem Land Hessen und den Belegschaftsvertretern blockiert, so blieben letztere wiederum von ihm abhängig. Denn das Hessische Wirtschaftsministerium machte die rechtskräftige Verzichtserklärung des Eigentümers zur Voraussetzung für eine offizielle Zusage einer Ausfallbürgschaft. Die im Juli 1969 von Süßmuth unterschriebene Erklärung, die Übernahmeidee zu unterstützen, war hierfür – da juristisch nicht bindend – nicht ausreichend.70 Trotz Vermittlungsbemühungen des Immenhausener Bürgermeisters »als neutraler Beobachter und Berater« scheiterten im Oktober 1969 dahingehende Verhandlungen mit Richard Süßmuth.71 »[D]em Rat [s]einer Anwälte folgend« wollte er die von den Belegschaftsvertretern ausformulierte zweite Verzichtserklärung nicht unterschreiben, da es an »einem Vertragspartner« fehle.72 Er würde weiterhin zu dem am 9. Juli 1969 gegebenen Versprechen stehen, forderte aber als Voraussetzung für eine rechtsverbindliche Erklärung die Gründung einer Übernahmegesellschaft, mit der ein Vertrag über die Sicherung seines »Lebensabend[s] und dem [s]einer Ehefrau« geschlossen werden könne.73 Mit dem Hinweis auf den noch fehlenden gesellschaftsrechtlichen Haftungsträger des künftigen Belegschaftsunternehmens traf Richard Süßmuth – wie weiter unten noch zu zeigen ist – einen neuralgischen Punkt. Blieb die Frage nach der rechtsverbindlichen Verzichtserklärung zunächst ungeklärt, erhielten die Belegschaftsvertreter in der Zwischenzeit hinsichtlich der Finanzierung erste, unverbindliche Zusagen von Seiten des Landes Hessen. Dem war die Vorlage

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Glasmacher [Paul Nowak] und [Dieter Schrödter] belustigt, was darauf schließen lässt, dass sie selbst daran beteiligt waren. [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 18), S. 10f. Bernhardt Vocke an [Hans Müller], 3. Oktober 1969, in: FHI, Schöf-1222. Folgendes aus Robert Polzer an Richard Süßmuth, 8. Oktober 1969, in: FHI, Schöf-1222. [Hans Müller] an HWMi, 10. Oktober 1969, in: FHI, Schöf-1222. Protokoll Verhandlung zwischen Richard Süßmuth und Belegschaftsvertretern, 21. Oktober 1969, in: FHI, Schöf-1222. Folgendes aus Richard Süßmuth an Belegschaftsvertreter, 24. Oktober 1969, in: FHI, Schöf-1222. Als falsch bzw. verkürzt erwiesen sich daher die späteren – die Phase der Politisierung der Auseinandersetzung aussparenden – Darstellungen, Richard Süßmuth habe bereits im Oktober 1969 der Fortführung »der Firma als Genossenschaftshütte« verbindlich zugestimmt und spätestens im Dezember 1969 sei bei allen Beteiligten »die letzten Bedenken […] ausgeräumt« gewesen. Hermann Lingnau, »Betriebswirtschaftliche Probleme und Perspektiven«, in: Fabian, Arbeiter (s. Anm. 24), S. 91; Fabian, Fall (s. Anm. 24), S. 12f.

Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth (Frühjahr 1969 bis Herbst 1970)

einer Zwischenbilanz inklusive einer Neubewertung des Betriebsvermögens vorausgegangen, die der vom Wirtschaftsministerium beauftragte Kasseler Wirtschaftsprüfer Kuno Fenner Ende Oktober 1969 fertiggestellt hatte.74 Das Vermögen der Produktionsanlage wurde darin auf eine DM abgeschrieben, der Wert des Warenlagers um die Hälfte reduziert sowie festgehalten, dass das Stammkapital – das nominell laut Handelsregister 427.000 DM betrug – im Zuge der seit Jahren anhaltende Verlusten auf circa 30.000 DM gesunken war.75 Stille Reserven wurden hingegen in den werkseigenen Immobilien und Grundstücken in Höhe von einer Million DM vermutet. »Unter dem Gesichtspunkt der Fortführung der Gesellschaft durch die Belegschaft« wurden zudem die Pensionsrückstellungen von 517.000 DM sowie die Beträge des Unterstützungsvereins Richard Süßmuth e.V. in Höhe von 126.000 DM zu Eigenkapitalposten erklärt. In Relation zum Gesamtkapital sei ein »Eigenkapitalanteil von immerhin 25 Prozent« gegeben.76 Mit diesem bilanztechnischen Kunstgriff konnte also eine grundlegende Voraussetzung für eine staatliche Investitionshilfe erfüllt werden, die nur mit Zustimmung der Belegschaft möglich war und von Süßmuth selbst nicht in Anspruch genommen werden konnte. Wie sich später herausstellen sollte, war die »Verflüssigung« dieser Vermögensbestände mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden.77 Die Verhandlungen mit dem Land Hessen konnten auf dieser Basis jedoch fortgesetzt werden. Am 2. Dezember 1969 stellte der Hessische Wirtschaftsminister Rudi Arndt (SPD) dem zukünftigen Belegschaftsunternehmen einen verlorenen Zuschuss in Höhe von 200.000 DM und die Übernahme einer Teil-Ausfallbürgschaft in Aussicht.78 Daraufhin signalisierten die Bank für Gemeinwirtschaft (BfG), die Hessische Landesbank (Helaba) sowie – als deren Niederlassung und langjährige Hausbank der Glashütte Süßmuth – die Landeskreditkasse Kassel (LKK) ihre grundsätzliche Bereitschaft, die erforderlichen Kreditmittel zur Verfügung zu stellen.79 Entwickelten sich damit die Kreditverhandlungen für die Belegschaftsvertreter in eine positive Richtung, scheiterten sie für Richard Süßmuth endgültig. Im Dezember 1969 erklärte die LKK, dass sie nicht mehr bereit sei, der »jetzigen Firma und Richard Süßmuth auch nur einen weiteren Pfennig zu geben«.80 Weil »erstklassige« Sicherheiten fehlten, zogen sich im Februar 1970 auch die Lastenausgleichsbank und die Industriekreditbank aus den von Süßmuth initiierten Kreditverhandlungen zurück.81 Die Betriebsübernahme durch die Belegschaft war somit Anfang 1970 als einzige, realistische

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Fabian, 5. Januar 1970 (s. Anm. 2), S. 4. Folgendes aus Anmerkungen zum internen Status der GHS, undatiert [Oktober 1969], in: FHI, Schöf-1222. Dieser Rechnung wurde ein Gesamtkapital von 2,68 Millionen DM zugrunde gelegt. Siehe Kapitel 7.3. Siehe Bezugnahme auf diese damals informelle Zusage in Rudi Arndt an Karl Hauenschild, 24. März 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie. Notiz [Hans Müller], 15. Dezember 1969, in: FHI, Schöf-1222; Protokoll Betriebsrat (GHS), 15. Januar 1970, in: FHI, Schöf-1221; Diether H. Hoffmann an Franz Fabian, 19. Januar 1970, in: FHI, Schöf-1221; Notiz [Hans Müller], 23. Januar 1970, in: FHI, Schöf-1221. [Müller], 15. Dezember 1969 (s. Anm. 79). Notiz [Hans Müller], 11. Februar 1970, in: FHI, Schöf-1221; LKK-Direktorium an Richard Süßmuth, 10. Februar 1970, in: FHI, Schöf-1221.

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Option übrig geblieben, das Unternehmen durch eine grundlegende Sanierung vor dem akut drohenden Konkurs zu bewahren. Dessen ungeachtet zeigte Richard Süßmuth weiterhin keine Bereitschaft, die einst versprochene Verzichtserklärung in einer juristisch bindenden Form zu unterzeichnen. Indem er erklärte, das Unternehmen erst dann abtreten zu wollen, wenn die Belegschaft verbindliche Zusagen für die Kredite vorzeigen könne, manövrierte er die Verhandlungen in eine Pattsituation, war doch gerade seine Verzichtserklärung die grundlegende Voraussetzung für offizielle Zusagen durch das Land Hessen und die Banken.82 Dabei waren die Belegschaftsvertreter der Forderung von Süßmuth nach einer finanziellen Absicherung mittlerweile weit entgegengekommen. In einem Vertragsentwurf, den auch Süßmuths Rechtsanwälte befürworteten, wurden ihm und seiner Frau eine lebenslange Rente von monatlich 2.000 DM (bzw. 70 Prozent dieses Betrages nach dem Ableben eine*r der beiden) sowie ein lebenslanges und kostenfreies Wohnrecht in der Betriebsvilla zugesichert.83 Weiterhin verpflichtete sich die Belegschaft zur Übernahme aller auf dem Unternehmen lastenden finanziellen Verpflichtungen. Sie stellte Süßmuth sogar eine Gewinnbeteiligung in Aussicht, sobald die finanzielle Lage der neuen Gesellschaft dies zuließe. Als es am 2. März 1970 zu einer notariellen Beglaubigung dieses Vertrags zwischen ihm und dem Betriebsratsvorsitzenden als Vertreter der gesamten Belegschaft kommen sollte, verweigerte Süßmuth im letzten Moment seine Zustimmung und stellte neue unannehmbare finanzielle Forderungen an die Beschäftigten.84 Selbst seine Rechtsanwälte »bedauer[te]n« Süßmuths Entscheidung »unendlich«, da der Gegenseite eine »faire Verhandlungsweise unbedingt anerkannt werden« müsse.85 Der Rückblick auf die langwierigen Verhandlungen, die vielfältigen Versuche, sein Unternehmen auf anderen Wegen zu erhalten, und schließlich der endgültige Bruch seines Versprechens verdeutlichen, dass Richard Süßmuth die Idee einer Belegschaftsübernahme grundlegend ablehnte. Gegenüber Günter Wallraff, der am 13. März 1970 als Journalist unter falscher Identität ein Interview mit ihm führte, fand er hierfür klare Worte.86 Es habe ihm »manchmal in den Fingern gejuckt«, seinen Beschäftigten zu sagen: »Kinder, das ist doch Quatsch, was ihr hier macht; das könnt ihr ja gar nicht verantworten!« Doch habe er sich »ganz korrekt verhalten« und »sie tun lassen« und »auf der anderen Seite natürlich« auch weiterhin nach Investoren gesucht. Angesichts noch laufender Fusionierungsgespräche hoffte Süßmuth darauf, einen finanzkräftigen Partner

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[Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 7), S. 16. Folgendes aus Hans Pierach und Manfred Striegel an Richard Süßmuth, 3. März 1970, in: FHI, Schöf-1221. Hierzu gehörten die Forderungen nach Erhöhung der monatlichen Rente von 2.000 DM auf 3.000 DM und einer Abfindung in Höhe von 330.000 DM. Gero B. Friedel, »Rechtliche und rechtspolitische Aspekte des Modells«, in: Fabian, Arbeiter (s. Anm. 24), S. 75. Pierach und Striegel, 3. März 1970 (s. Anm. 83). Als Zeichen ihres Unverständnisses hätten Süßmuths Anwälte daraufhin ihr Mandat niedergelegt. [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 17; Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 18), S. 9; Friedel, Aspekte (s. Anm. 84), S. 75. Folgende Zitate von Richard Süßmuth aus Wallraff, [März 1970] (s. Anm. 37). Dieses Interview war Grundlage für »›Das Denken überlassen Sie uns!‹. Wie die Glasmacher von Immenhausen ihren Betrieb übernahmen«, in: Konkret, März 1970, S. 56–57.

Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth (Frühjahr 1969 bis Herbst 1970)

zu gewinnen, und wollte bis zu deren Abschluss einfach so weitermachen wie bisher.87 Bis zum Schluss blieb er zuversichtlich, dass sich die Situation des Unternehmens unter seiner Geschäftsführung wieder stabilisieren würde, wenn sich alle anstrengen.88 In dieser Auffassung bestätigt sah er sich durch die im zweiten Halbjahr 1969 zurückgegangenen Bruchzahlen und den leicht gestiegenen Umsatz. Erstmals seit sieben Jahren war am Ende des Jahres 1969 sogar ein kleiner Gewinn in Höhe von 7.000 DM zu verzeichnen.89 Die Beschäftigten sahen hierin den Erfolg ihrer Anstrengungen, von dem sie die Berechtigung für ihre Forderung nach Betriebsübernahme ableiteten.90 In seiner paternalistischen Haltung konnte Süßmuth das Anliegen der Belegschaft hingegen nicht ernst nehmen und verkannte angesichts der guten Auftragslage sowie der leichten Bilanzverbesserung die weiterhin bedrohliche Lage seines Unternehmens, in dem Investitionen in die Produktionstechnik immer dringlicher anstanden. Im Gegensatz zu den Belegschaftsvertretern konnte Süßmuth hierfür jedoch kein Finanzierungskonzept vorweisen.

2.2 Die Politisierung der Auseinandersetzung »Erst versprochen, dann gebrochen« »Bedacht mit Titeln und mit Orden – und was ist aus der Hütte geworden?« »Wir kämpfen um unsere Existenz« »270 Arbeitsplätze in Gefahr« »Die Glashütte Immenhausen muss erhalten bleiben« »Einer will leben, wir aber auch« »Was geschieht mit uns Alten? Keiner will uns behalten!«91

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Horst Bentz von Melitta in Minden sei der letzte Interessent gewesen, der als Teilhaber einsteigen wollte. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Willi Voigt], 11. Oktober 1973, im Besitz der Autorin, S. 1; Richard Süßmuth in Wallraff, [März 1970] (s. Anm. 37), S. 4. Gegenüber seinen »Geschäftsfreunden« stellte Richard Süßmuth am 9. März 1970 klar, dass er trotz gegenteiliger Berichterstattung nicht vorhabe, seinen Betrieb zu schließen. Rundbrief Richard Süßmuth an seine »Geschäftsfreunde«, 9. März 1970, in: FHI, Schöf-1221. Erklärung Richard Süßmuth, 6. März 1970, in: FHI, Schöf-1221. Bis zu seinem Tod im März 1974 blieb Süßmuth davon überzeugt, dass die wirtschaftliche Situation seines Unternehmens gar nicht so dramatisch gewesen sei. Allein der Fortbestand der Firma war ihm dafür ein Beweis. [Hans Müller] in Transkript Erstes Treffen von Erasmus Schöfer mit der Belegschaft der GHS, 19. März 1973, im Besitz der Autorin, S. 14. [Müller], 15. Dezember 1969 (s. Anm. 79); [Paul Nowak] in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 88), S. 15; Auswertung der zusammengefassten Gewinn- und Verlustrechnungen für 1969 und 1970 laut: Vorläufige Bilanz GHS per 31. Dezember 1970, undatiert, in: AGI. [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 18), S. 9; Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 88), S. 14f.; Flugblatt, [10. März 1970] (s. Anm. 55). So Aufschriften der Transparente, die auf der Demonstration am 6. März 1970 zu sehen waren, handschriftlich von Erasmus Schöfer notiert auf »Protestzug durch Immenhausen. Demonstration gegen drohende Stilllegung der Glashütte«, in: Hessische Allgemeine, 7. März 1970, in: FHI, Schöf-1221.

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Abbildung 12: Demonstration der Süßmuth-Belegschaft durch Immenhausen (6. März 1970)

Quelle: AGI

Rund 300 Belegschaftsmitglieder und Angehörige demonstrierten am 6. März 1970 vom Betriebsgelände bis zum Rathaus von Immenhausen. Mit Transparenten, schwarzen Fahnen und einem Sarg mit der Aufschrift Wir tragen unsere Hoffnungen zu Grabe brachten sie ihre Enttäuschung über den Wortbruch des Unternehmers Richard Süßmuth zum Ausdruck.92 Unmittelbar vor dieser in der Geschichte der 4.500-EinwohnerStadt beispiellosen Protestaktion fand eine dramatisch verlaufende Betriebsversammlung statt, auf der Süßmuth – vier Tage nachdem er die Übernahmeverhandlungen hatte platzen lassen – vor der gesamten Belegschaft sein Versprechen, die Glashütte an die Belegschaft abzutreten, endgültig zurücknahm.93 Erfolglos wurde er selbst von langjährigen und ihm persönlich nahe stehenden Mitarbeitern – wie dem Finanzleiter [Franz Büttner] oder den Glasschleifern – »bekniet«, seine »Entscheidung zu überprüfen«.94 Für den IG-Chemie-Bezirksleiter Franz Fabian war der »Gedanke einer Genossenschaftshütte [damit] vorläufig gestorben.«95 In seiner Rede auf der Abschluss-

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»Protest mit schwarzer Fahne gegen Fabrikstillegung. IG Chemie für Weiterführung der Glashütte Immenhausen«, in: Hessische Allgemeine, 7. März 1970, in: FHI, Schöf-1221. Süßmuth, 6. März 1970 (s. Anm. 88). Protokoll Betriebsversammlung (GHS), 6. März 1970, in: FHI, Schöf-1221, S. 3f.; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Jürgen Schmitz], [Manfred Hübner] und [Willi Voigt], 20. März 1973, im Besitz der Autorin, S. 1f.; [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 11f.; [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 18), S. 1; [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 49), S. 3. Betriebsversammlung, 6. März 1970 (s. Anm. 94), S. 4.

Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth (Frühjahr 1969 bis Herbst 1970)

kundgebung der Demonstration erklärte er offiziell den Rückzug der Gewerkschaft.96 Fabians Resignation, man könne Süßmuth »in einem Rechtsstaat« nicht zur Übergabe zwingen, wollte eine Gruppe von Facharbeitern nicht hinnehmen.97 Sie setzten sich weiterhin »auf Biegen und Brechen« für den Plan der Genossenschaftshütte ein und waren motiviert, »wenn es sein muss«, auch »auf die Barrikaden« zu gehen. Diese 20- bis 30-köpfige Gruppe bestand vorrangig aus den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten und jenen jungen Glasmachern, die knapp die Hälfte ihres Lebens in der Glashütte Süßmuth verbracht hatten.98 Der mit 48 Jahren vergleichsweise alte Sprecher der Vertrauensleute, [Paul Nowak], nahm hier eine exponierte Position ein. Als Gewerkschaftsaktivist hatte er in den 1950er Jahren die Erfahrung einer letztlich gescheiterten Belegschaftsübernahme gemacht.99 Dass er als der »eigentliche Kopf« und treibende Kraft in der Auseinandersetzung galt,100 hing neben seinem hohen Ansehen im Betrieb als Glasmacher und als Vertreter der Belegschaftsinteressen mit seiner – gegenüber den jungen Kollegen mit kleinen Kindern und zum Teil gerade fertiggebauten Häusern – größeren Mobilität sowie mit seiner Entscheidung zusammen, die Verantwortung für die weiteren Protestaktionen zu übernehmen.101 Unterstützung erhielt die Gruppe der Betriebsaktivisten – trotz des offiziellen Rückzugs des IG-Chemie-Bezirksleiters – weiterhin vom Leiter der Kasseler Verwaltungsstelle Werner Schepoks. In Treffen, die sie als gewerkschaftliche Schulungsveranstaltungen tarnten, planten sie das weitere Vorgehen, um Richard Süßmuth doch noch zur Betriebsübergabe zu bewegen.102 Ein Streik als traditionelles Mittel des Arbeitskampfs war hierfür ungeeignet, da er den Unternehmenskonkurs eher beschleunigt als verhindert hätte. Unter größter Geheimhaltung auch vor der übrigen Belegschaft bereitete diese Gruppe stattdessen für den 17. März 1970 eine Betriebsbesetzung vor. Zu diesem Zwecke wurden am 9. März 1970 ein Ausschuss für technische Fragen sowie ein Presse- und Informationsausschuss mit je sechs Mitgliedern gewählt.103

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Franz Fabian zitiert in Hessische Allgemeine, 7. März 1970 (s. Anm. 91). Folgendes aus [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 49), S. 1. [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 18), S. 1f.; Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 16), S. 21. Im Folgenden werden die Mitglieder dieser Gruppe als Vertrauensleute oder Betriebsaktivisten bezeichnet. 99 Hierbei schien es sich um die Ingridglashütte in Euskirchen gehandelt zu haben, wo [Nowak] gearbeitet hatte, bevor er Ende der 1950er Jahre in der GHS anfing. Angesichts des damals drohenden Konkurses habe die Belegschaft Geld gesammelt, »um die Hütte zu kaufen« und »als Genossenschaftshütte« fortzuführen. Vereitelt wurde der Übernahmeplan, weil der Glasindustrielle Kurt Wokan die Verkaufssumme der Belegschaft überboten habe. [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 18), S. 15. 100 [Freil], 7. Januar 1974 (s. Anm. 18), S. 4; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Helga Wermke], [Ria Ulrich], [Monika Weber], [Rosa Schrödter] und namentlich unbekanntem Kollegen, 2. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 19. 101 [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 49), S. 12. 102 Allein zwischen Anfang Februar und Mitte Mai 1970 habe es »35 bis 40 Zusammenkünfte« in Kassel oder Immenhausen gegeben. Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 16), S. 11. 103 In den Presse- und Informationsausschuss wurden die Glasmacher [Paul Nowak], [Gerhard Schinkel], [Friedrich Dresner], [Manfred Hübner], der Rauschleifer [Heinrich Köster] sowie der Prokurist [Hans Müller] gewählt. In den Ausschuss für technische Fragen wurden die Glasmacher [Max Ul-

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Während der Betriebsbesetzung sollte die Produktion aufrechterhalten werden. Auch die Ehefrauen sollten mit den Kindern im Betrieb bleiben und diesen nur zur Lebensmittelbeschaffung verlassen.104 Nicht mit Gewalt, sondern mit friedlichen Mitteln wolle die Belegschaft die Existenzgrundlage ihrer Familien sichern – so sollte die Botschaft lauten. Ein Plakat mit der Aufschrift Genossenschaftshütte sowie Armbinden für den »Arbeiterschutz« wurden in Kassel gedruckt.105 Bittgesuche an die Hessische Landesregierung, an die Vorstände der SPD und des DGB Hessen sowie an den Hauptvorstand der IG Chemie wurden ausformuliert, um sie kurz vor der Betriebsbesetzung zu versenden.106 Der Beginn der Betriebsbesetzung sollte den Auftakt einer Aktionswoche bilden. Für Donnerstag, den 19. März 1970, war eine Bürgerversammlung in Immenhausen angesetzt, auf der über die Hintergründe der Betriebsbesetzung informiert sowie gemeinsam über die Zukunft des Betriebs diskutiert werden sollte. Für Freitag war eine Demonstration in Wiesbaden geplant, bei der man »einen Karren Glasscherben vor die Tür« des Wirtschaftsministeriums schütten wollte.107 Für die am darauffolgenden Samstag, den 21. März 1970, stattfindenden Parteitage der SPDBezirksverbände Hessen-Nord und Hessen-Süd wurden Resolutionen und Unterstützungsanträge vorbereitet, die jeweils eine Delegation von Belegschaftsmitgliedern zusammen mit ihren Frauen und Kindern übermitteln sollte. Die Mitglieder des Presseund Öffentlichkeitsausschusses nahmen zeitgleich den Kontakt zu Journalisten auf und informierten diese über die anstehenden Protestaktionen.108 Gerade weil die geplante Betriebsbesetzung den Bereich des Legalen überschritten hätte, schien es den Betriebsaktivisten notwendig, Legitimation für das Anliegen der Belegschaft durch eine gezielte und auf Politisierung setzende Öffentlichkeitsarbeit herzustellen. Die Betriebsaktivisten vollzogen damit einen grundlegenden Strategiewechsel im Kampf um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Bisher war ausschließlich in internen, nichtöffentlichen Verhandlungen versucht worden, Richard Süßmuth zum Rücktritt und zur Betriebsübergabe zu bewegen. Insbesondere Franz Fabian hatte in dieser Hinsicht mäßigenden Einfluss auf die Belegschaft ausgeübt.109 Er habe sich von Süßmuth nicht vorwerfen lassen wollen – so Fabians Begründung –, die Verkaufsverhandlungen mit den radikal anmutenden Übernahmeplänen gestört zu haben.110 Einzig durch das im September 1969 in Immenhausen verteilte Flugblatt der Aktivgruppe Süßmuth waren

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rich], [Jürgen Wurfel], [Otto Papst], [Max Kastner], [Heinrich Eisenhauer], [Michael Schinkel] und [Alberto Gallo] gewählt. Protokoll Vertrauensleute (GHS), 9. März 1970, in: FHI, Schöf-1221. Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak], [Konrad Scholz], [Heinz Schrödter], [Max Ulrich] und weiteren namentlich nicht bekannten Arbeitern, undatiert [1974], im Besitz der Autorin, S. 10f.; [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 49), S. 12. Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 16), S. 4; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] am 11. Oktober 1973, im Besitz der Autorin, S. 1f.; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Dieter Schrödter], 11. Oktober 1973, im Besitz der Autorin, S. 6. Folgendes aus Zeitplan Betriebsbesetzung und Aktionswoche (GHS), 14. bis 21. März 1970, in: FHI, Schöf-1221. Folgendes aus Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 16), S. 4. Siehe Kapitel 3.3. [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 13. Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 18), S. 4.

Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth (Frühjahr 1969 bis Herbst 1970)

bis dahin Informationen über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und über den Plan der Belegschaftsübernahme nach »außen« gedrungen. Nachdem sich Franz Fabian zurückgezogen und nach Ansicht der damals Involvierten die Belegschaft im Stich gelassen hatte,111 intensivierten die Vertrauensleute nunmehr die Bemühungen, ihrem Anliegen eine möglichst breite Öffentlichkeit – sowohl außerhalb wie auch innerhalb des Betriebs – zu verleihen. Bereits mit der Demonstration durch den Ort wurde explizit die lokale Bevölkerung angesprochen, um den Druck auf Süßmuth von außen zu erhöhen. Im Demonstrationsaufruf wurde dem Bild von Richard Süßmuth als erfolgreichem und fürsorglichem Unternehmer das eines unverantwortlich agierenden gegenübergestellt – Süßmuth also an seinen eigenen Ansprüchen und der öffentlichen Reputation gemessen und angeklagt.112 Die Bevölkerung Immenhausens wurde um Solidarität gebeten, denn auch sie seien – angesichts des enormen Wirtschaftsfaktors, den die Glashütte mit ihren Beschäftigten für die Kleinstadt darstellte – die »Leidtragenden« einer Betriebsschließung.113 Ähnlich lautete die Argumentation in einem Flugblatt an die »Mitbürger«, das – wiederum als Reaktion auf die öffentlichen Stellungnahmen und Rundschreiben von Richard Süßmuth, in denen er die wirtschaftlichen Probleme seines Unternehmens negierte114 – einige Tage später in die Briefkästen Immenhausens, am Bahnhof an die Berufspendler*innen oder auch an die Schulkinder des Ortes verteilt wurde.115 Den Lösungsansätzen des Unternehmers als »Flickwerk« wurde – in einem an die Kolleg*innen im Betrieb gerichteten Flugblatt – die Betriebsübernahme durch die Belegschaft als »Vernunftlösung« gegenübergestellt, die Süßmuth wissentlich verhindere.116 Mit einem weiteren Flugblatt wandten sich die Vertrauensleute an Belegschaften anderer Betriebe.117 Unter dem Titel Hammer oder Amboss? wurde die Situation in der Glashütte Süßmuth in den Kontext einer Reihe vorangegangener Betriebsschließungen gestellt. Angeführt wurden regionale Beispiele wie der Konkurs der Kasseler Druckerei und Färberei Aktiengesellschaft (Kadruf) 1965, der Konkurs der Kasseler Waggonfabrik Gebrüder Credé 1967 sowie die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Kasseler Schwerweberei Salzmann & Companie, die im Jahr 1971 zur Schließung führen sollten. Als überre111 112

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Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 16), S. 3; [Schmitz] et al., 20. März 1973 (s. Anm. 94), S. 4; [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 7), S. 20. Demonstrationsaufruf »Wer ist Richard Süßmuth?«, gezeichnet von Franz Fabian für IG Chemie Hessen, 6. März 1970, in: FHI, Schöf-1221. Die Anmeldung und Übernahme der Verantwortung für diese Demonstration in Immenhausen sei ein Versprechen von Franz Fabian gewesen, das er den Vertrauensleuten kurz vor seinem Rückzug noch gegeben hatte. [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 49), S. 1. Demonstrationsaufruf, 6. März 1970 (s. Anm. 112), S. 2. Rundbrief Richard Süßmuth an seine »Geschäftsfreunde«, 6. März 1970, in: FHI, Schöf-1221; Süßmuth, 9. März 1970 (s. Anm. 87). Beschönigende Rundschreiben habe Richard Süßmuth auch an die Beschäftigten und unter der Bevölkerung von Immenhausen verteilt. [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 49), S. 4. Flugblatt an die »Mitbürger«, gezeichnet von Vertrauensleute-Leitung (GHS), undatiert [10.März 1970], in: FHI, Schöf-1221; [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 105), S. 6f.; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Friedrich-Karl Baas, undatiert [1973/74], im Besitz der Autorin, S. 1. Flugblatt an die Kolleg*innen »…und was käme danach?«, gezeichnet von Vertrauensleute-Leitung (GHS), undatiert [10.März 1970], in: FHI, Schöf-1221. Folgende Zitate aus Flugblatt, [10. März 1970] (s. Anm. 55).

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gionale Fälle wurden die Hamburger Werft Willy H. Schlieker (Konkurs 1962) sowie das Bremer Automobilunternehmen des Ingenieurs Carl Friedrich Wilhelm Borgward genannt, dessen Konkurs mit der Übernahme durch das Land Bremen 1961 lediglich hinausgezögert wurde. Anstatt sich weiterhin der »Unternehmerwillkür [zu] beugen«, wolle man das gemeinsame »Schicksal selbst in die Hand nehmen« und »nicht länger Amboss sein«. An das überbetriebliche Kollektiv der Lohnabhängigen wurde appelliert, der Belegschaft der Glashütte Süßmuth dabei zu helfen, »den Hammer [zu] schwingen«. Mit einer Auflage von 10.000 Stück wurde dieses Flugblatt einen Tag vor der geplanten Betriebsbesetzung in den Kasseler Großbetrieben verteilt sowie bundesweit an alle Vertrauensleute der Glasindustrie versandt.118 Währenddessen spitzte sich innerhalb des Unternehmens die Konfrontation zwischen der Belegschaft und dem Eigentümer zu.119 Letzterer suchte weiterhin über seine persönlichen Netzwerke und insbesondere beim Arbeitgeberverband Unterstützung. Am 11. März 1970 traf sich Richard Süßmuth in Frankfurt am Main mit Vertretern des Vereins der Glasindustrie, wobei er von »Genossen« der Immenhausener Betriebsaktivisten beschattet wurde.120 Daher erfuhren sie, dass einige Verbandsmitglieder Süßmuth eine finanzielle Unterstützung in Aussicht gestellt hatten, solange er nicht auf die Forderungen der Belegschaft eingehe.121 Am darauf folgenden Tag versammelte sich die Belegschaft und forderte von ihm eine Stellungnahme.122 War angesichts der Verhärtung der Fronten ein Einlenken von Süßmuth nicht zu erwarten, gelang es den Vertrauensleuten mit dieser Protestaktion jedoch, das Vorgehen des Unternehmens und das des Arbeiterverbandes zu skandalisieren. In einer am selben Tag veröffentlichten Pressemitteilung stellten sie die Verhandlungen mit dem Arbeitgeberverband in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Weigerung Süßmuths, seinem Versprechen nachzukommen und den Betrieb zu übergeben. Süßmuth sei »nur noch der Hampelmann des Vereins der Glasindustrie« und »missbraucht seit neun Monaten das ehrliche Bemühen der Arbeiter«, die »um den Erhalt von 280 Arbeitsplätzen im nordhessischen Raum« kämpfen. Mit dem Verweis auf den »Missbrauch von Privateigentum« aktualisierten die Vertrauensleute in ihrer Argumentation den antiquierten Sozialisierungsartikel der hessischen Verfassung, der in diesen Fällen eine Überführung in Gemeineigentum vorsah.123 Sie forderten »den hessischen Landtag auf, die Ausführgesetze zum Artikel 39 der hessischen

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Zeitplan, 14. bis 21. März 1970 (s. Anm. 106); Rudolf Ritter, »›Genossenschaftshütte‹ Süßmuth. Zehn Tage, die einen Fabrikanten erschütterten«, in: express international, April 1970, in: Privatarchiv Siebert; Chronologie GHS 1960–1973, erstellt von Erasmus Schöfer, undatiert, in: FHI, Schöf-1211, S. 62–64. Zu den Kassel Betrieben gehörten Henschel, VW, Wegmann, AEG und Spinnfaser. [Freil], 7. Januar 1974 (s. Anm. 18), S. 9f. 119 Wallraff, [März 1970] (s. Anm. 37), S. 5f. 120 Notizen Erasmus Schöfer, undatiert [1973/1974], in: FHI, Schöf-1197; express international, 3. April 1970 (s. Anm. 118); [Nowak] et al., [1974] (s. Anm. 104), S. 12. Um welche Personen es sich hierbei handelte, konnte Erasmus Schöfer nicht rekonstruieren – es dürfte sich um einen Kreis von linken bzw. linkssozialistischen Gewerkschaftern, Sozialdemokraten und Aktivisten aus anderen Betrieben gehandelt haben, die in Kapitel 3.3 beleuchtet werden. 121 Siehe Kapitel 3.4. 122 Folgendes aus Pressemitteilung Vertrauensleute der GHS, 12. März 1970, in: FHI, Schöf-1221. 123 Siehe Kapitel 3.1.

Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth (Frühjahr 1969 bis Herbst 1970)

Verfassung […] zu verabschieden«.124 Damit adressierten die Betriebsaktivisten ihre Forderungen nicht mehr an Richard Süßmuth, dem sie faktisch die Entscheidungsfähigkeit abgesprochen hatten. Vielmehr riefen sie den hessischen Staat auf, seine Schutzpflicht wahrzunehmen. Dieser solle die gesetzliche Grundlage dafür schaffen, die Belegschaftsübernahme durch eine Enteignung Süßmuths realisieren zu können.125 Zur Legitimierung ihres ungewöhnlichen Anliegens nutzten die Beschäftigten in ihren Protestaktionen unterschiedliche Symbole. So kamen die Glasmacher seit dem 3. März 1970 mit weißen Hemden und schwarzen Schlipsen zur Arbeit, um ihre Trauer über Süßmuths Verhalten – wie dieser einst anlässlich des Streiks im Mai 1963 – zu bekunden.126 Einige Tage später fanden sie sich in der Mittagspause mit anderen Arbeiter*innen auf dem Platz vor dem Fenster des Geschäftsführerbüros ein und liefen – einen Hofgang im Gefängnis nachahmend – »im Gleichschritt […] im Kreis herum.«127 Auch Delegationen anderer Beschäftigtengruppen richteten an Richard Süßmuth in persönlichen Vorsprachen die Bitte, seine Entscheidung zu überdenken. Zwischen 25 und 30 Mitarbeiter der älteren Generation, die zum großen Teil mit Süßmuth bereits in Penzig zusammengearbeitet hatten, seien geschlossen zu ihm ins Büro gegangen und hätten dieses Anliegen einzeln vorgetragen.128 Ebenso sei eine Gruppe Arbeiterinnen mit ihren Kindern zu Süßmuth gegangen, um ihm zu vergegenwärtigen, dass nicht nur die Beschäftigten selbst, sondern ganze Familien von seiner Entscheidung abhängig waren.129 Die Beschäftigten knüpften an Süßmuths Verständnis von der »Betriebs-« als »Lebensgemeinschaft« sowie an sein Selbstverständnis als »sozialer« Unternehmer an. Sie appellierten an sein Verantwortungsgefühl gegenüber den schlesischen »Leidensgenossen« und der gesamten »Werksfamilie«, an sein menschliches Mit- sowie Ehrgefühl, ein auf gegenseitiger Vertrauensbasis gegebenes Versprechen einzuhalten, an sein »Herz« ebenso wie an seine »Vernunft«.130 Auch vielfältige symbolische Anleihen der zeitgenössischen politischen Auseinandersetzungen lassen sich nachzeichnen. Der Titel Wer ist Richard Süßmuth? des Demonstrationsaufrufs war angelehnt an die von CSU und CDU 1961 publizierten Wahlkampfbroschüren im Rahmen ihrer Anti-Brandt-Kampagne.131 Die schwarzen Fahnen auf dem 124 Der Missbrauchsvorwurf sei – so die spätere Einschätzung des promovierten Juristen Gero Friedel – berechtigt gewesen, weil ein Konkurs und damit die Vernichtung von Arbeitsplätzen »vom Unternehmer gewählt wird, obwohl durch Eigentumsübergabe auf Grund eines konkreten Sanierungsplanes die Arbeitsplätze erhalten werden können.« Friedel, Aspekte (s. Anm. 84), S. 75. 125 Über diese Protestaktion berichtete Rolf Fischer, »Fabian greift Glasindustrielle an. Süßmuth-Arbeiter fordern Enteignungsgesetze vom Hessischen Landtag«, in: FR, 14. März 1970, in: AGI. 126 Fotografie Glasmacher in Trauerkleidung, März 1970, in: AGI; siehe Kapitel 1.5. 127 express international, 3. April 1970 (s. Anm. 118). Siehe Fotografien von dieser Protestaktion in: FHI, Schöf-1220. 128 [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 87), S. 8f. 129 Hierzu sind unterschiedliche Darstellungen überliefert. Laut der Sprengerin [Ria Ulrich] sei diese Aktion eine Idee von ihr gewesen, die aber nicht realisiert wurde. [Nowak] hingegen erinnerte, dass eine solche Vorsprache von Arbeiterinnen bei Richard Süßmuth stattgefunden habe. [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 100), S. 12; [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 49), S. 1. 130 Wortmeldungen der Beschäftigten zitiert in Betriebsversammlung, 6. März 1970 (s. Anm. 94), S. 3f. 131 Diese erschienen unter den Titeln Wer ist Willy Brandt? und Was will Willy Brandt. Daniela Münkel, »Zwischen Diffamierung und Verehrung. Das Bild Willy Brandts in der bundesdeutschen Öf-

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Betriebsgelände und während der Demonstration nahmen implizit Bezug auf die Proteste gegen die Grubenschließungen während der Kohlenkrise.132 Demonstrationen und Flugblätter waren die wichtigsten Protestmittel der Studierenden.133 Ein Sarg hatte auch bei einer politischen Aktion während der Trauerfeier anlässlich des Todes von Paul Löbe im August 1967 eine spektakuläre Rolle gespielt, bei der Angehörige der Kommune I Freiheit für [Fritz] Teufel forderten.134 Auf kreative Weise synchronisierten die Betriebsaktivisten diese verschiedenen symbolischen Referenzen in eigenen Ausdrucksformen, mit der Belegschaften anderer Betriebe sowie Angehörige der 68er-Bewegung, die lokale wie bundesweite Bevölkerung angesprochen wurden. Die Inszenierung des Protests durch die unkonventionellen Aktionen der Betriebsaktivisten fand zunehmend mediale Resonanz. Seit dem Tag der Demonstration am 6. März 1970 erschienen in der regionalen Zeitung Hessische Allgemeine nahezu täglich Artikel über die Glashütte Süßmuth. Ab dem 9. März 1970 berichtete Rolf Fischer als Redakteur der Frankfurter Rundschau ebenfalls fast täglich über die Ereignisse in Immenhausen, er positionierte sich klar auf Seiten der Belegschaft.135 Kurz vor der geplanten Betriebsbesetzung kamen eine Reihe weiterer bundesweit berichtender linker Journalisten und mindestens zwei Filmteams in den Betrieb.136 Schließlich hatte sogar die in der DDR erscheinende Berliner Zeitung die sich zuspitzende Auseinandersetzung um die nordhessische Glashütte aufgegriffen, die – das Anliegen der Süßmuth-Belegschaft gleichwohl nicht thematisierend – als »neue[s] Beispiel von Unternehmerwillkür« und Zeichen einer »mit Ausbeutermethoden aus dem 19. Jahrhundert« aufrechterhaltenen »privaten Unternehmensherrschaft« präsentiert wurde, der in der Bundesrepublik die »Existenz der Arbeiter und Angestellten« geopfert werde.137 Am Montag, dem 16. März 1970, richtete die Belegschaft schließlich ein Ultimatum an Richard Süßmuth, das von 112 Beschäftigten handschriftlich unterzeichnet wurde: »Zur Abwendung des wirtschaftlichen Ruins der Glashütte und der Sicherung der Arbeitsplätze fordern wir Sie hiermit ultimativ auf, der Belegschaft bis Dienstag, den

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fentlichkeit«, in: Carsten Tessmer (Hg.), Das Willy-Brandt-Bild in Deutschland und Polen, Berlin 2000, S. 30. Karl Lauschke, Schwarze Fahnen an der Ruhr. Die Politik der IG Bergbau und Energie während der Kohlenkrise 1958–1968, Marburg 1984. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 231. H.-J. Nicolai, »Makabre ›Scherze‹ der Kommune I«, in: B.Z., 10. August 1967, in: Medienarchiv ›68 Axel Springer. Siehe Pressemappe Frankfurter Rundschau, GHS 1970–1989, in: AGI. Siehe Kapitel 3.3. »Westdeutsche Glasindustrielle wenden Druckmittel an«, in: Berliner Zeitung, 18. März 1970, in: ZEFYS. Die Berichterstattung der Berliner Zeitung (drei Meldungen über die GHS im März 1970) fokussierte insbesondere auf das vom VdG am 12. März 1970 versandte Sonderrundschreiben, in dem die Mitgliedsfirmen zur Einhaltung des bereits in den Jahren zuvor beschlossenen Abwerbebeschlusses aufgefordert wurden und dessen Inhalt am 17. März 1970 in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht wurde. Siehe Kapitel 3.4.

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17. März 1970, mittags 12.00 Uhr, zu erklären, ob die Hütte nunmehr endgültig in Arbeitnehmerhände überführt werden kann.«138 Am Wochenende zuvor hatten die drei Kinder von Süßmuth offensichtlich versucht, ihren Vater von der Übergabe an die Belegschaft zu überzeugen139 – dies nicht zuletzt deshalb, weil sie andernfalls als Kommanditist*innen angesichts der Verschuldung der Firma im Konkursfall persönlich zur Rechenschaft gezogen worden wären.140 Werner Schepoks hatte im Auftrag der Vertrauensleute ein letztes Mal versucht, Süßmuth in einem persönlichen Gespräch zu einem Umdenken zu bewegen – mit Appellen an das christliche Gebot der Nächstenliebe, an sein Ehrgefühl sowie an den Ruf seines Namens, den er zu verlieren habe.141 Obwohl Süßmuth stets ein sehr angespanntes Verhältnis zu dem linken Gewerkschaftsfunktionär hatte, habe dieses mehrstündige Gespräch nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen.142 Nach diesen zwei aufregenden Wochen, an die sich die Beschäftigten als eine Zeit voller Anspannung und Ungewissheit sowie des Schwankens zwischen Bangen und Hoffen erinnerten, gab Richard Süßmuth schließlich nach.143 Im Zusammenwirken der verschiedenen öffentlichkeitswirksamen Aktionen konnte der Druck auf ihn so weit erhöht werden, dass Süßmuth am Abend des 16. März 1970 den Verzicht auf sein Unternehmen zu den zuvor ausgehandelten Bedingungen erklärte.144 Statt der geplanten Betriebsbesetzung – die die erste in der Geschichte der Bundesrepublik gewesen wäre145 – erfolg138 Ultimatum Belegschaft an Richard Süßmuth, 16. März 1970, in: FHI, Schöf-1221. 139 Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 16), S. 6. 140 Aktiviert wäre im Falle des Konkurses die von den drei Kommanditist*innen 1967 anlässlich der Aufnahme eines Kredites bei der LKK unterzeichnete selbstschuldnerische Bürgschaftserklärung. Siehe Kapitel 1.6. 141 Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 16), S. 5. 142 Die zentrale Bedeutung, die dieses intensive Gespräch für Süßmuths Gesinnungswandel besessen habe, betonten sowohl [Ursula und Hans Müller] als auch die Beschäftigten und Werner Schepoks selbst. [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 7), S. 20; [Manfred Hübner] zitiert in [Schmitz] et al., 20. März 1973 (s. Anm. 94), S. 4f.; [Frank Weber] zitiert in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 42; Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 16), S. 5. 143 [Nowak] et al., [1974] (s. Anm. 104), S. 7–12; [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 49), S. 1, 12; [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 100), S. 9–18; [Ria und Max Ulrich], [Paul Nowak] und [Manfred Hübner] in Typoskript »Süssmuth e.V. Drei Jahre Selbstverwaltung«, Dokumentarfilm von Gerhard Braun, Reiner Etz und Klaus Volkenborn, 1973, in: FHI, Schöf-1212, S. 3–5. 144 Neben den bereits aufgeführten Konditionen wurde Richard Süßmuth der von ihm bis dahin genutzte Mercedes 220 übereignet. Zudem wurde ihm zugestanden, »seine selbstständige Firma ›Werkstätten Richard Süßmuth Glaskunst‹ bis zur Abwicklung der laufenden [Flachglas-]Aufträge in den bisher hierfür genutzten Räumen weiterzuführen.« Danach sei die Firma zu löschen. In einem Schreiben an die Belegschaft ergänzte Richard Süßmuth am 17. März 1970 seine Bedingungen um die Aufforderung, weitere gegen ihn oder den VdG gerichtete »Aktionen« zu unterlassen. Urkunde vorläufiger Vertrag zwischen Richard Süßmuth und Belegschaft, 23. März 1970, in: FHI, Schöf-1221; Typoskript »Worte an meine Mitarbeiter«, Rede Richard Süßmuth auf der Belegschaftsversammlung, 17. März 1970, in: FHI, Schöf-1221. 145 Zur ersten (zumindest öffentlichkeitswirksamen) Betriebsbesetzung der Bundesrepublik kam es stattdessen 1975 in der Zementfabrik Seibel & Söhne in Erwitte. Siehe Dieter Braeg (Hg.), »Wir halten den Betrieb besetzt«. Texte und Dokumente zur Betriebsbesetzung der Zementfabrik Seibel & Söhne in Erwitte im Jahre 1975, Berlin 2015.

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te am 17. März 1970 in Anwesenheit der Beschäftigten und ihrer Familien sowie einer großen Anzahl an Journalisten eine feierliche Betriebsübergabe. Die Information von der symbolischen Übergabe des Betriebs durch Richard Süßmuth an seine Belegschaft wurde unmittelbar vom Hessischen Rundfunk in der Sendung Hessenschau übermittelt und in den darauf folgenden Tagen und Wochen beispielsweise durch einen Beitrag in der ARD-Sendung Panorama sowie einer Vielzahl von Artikeln in links-liberalen wie auch konservativen Zeitungen und Zeitschriften bundesweit bekannt.146 Gleichwohl eine rechtsverbindliche Form der Übereignung weiterhin ausstand, war diese hierdurch faktisch zu einem Tatbestand geworden.

Revision des Ereignisablaufs Die bisherige Darstellung von der Politisierung der innerbetrieblichen Auseinandersetzung zur erfolgreichen Betriebsübernahme bestätigte das Narrativ von der kollektiven Aktion der gewerkschaftlich aktiven Facharbeiter, das die Erinnerungen von Erasmus Schöfers Gesprächspartner*innen aus der Belegschaft prägte und zeitgenössischen Wahrnehmungsmustern entsprach. Wird der Blick auf die gesamte Belegschaft erweitert, fällt die Analyse des Ereignisverlaufs differenzierter aus. Die Beobachtung, dass »eine drohende Betriebsstilllegung […] eine der wenigen Ausnahmesituationen [sei], in denen sich eine Belegschaft auch subjektiv als soziale Einheit konstituiert und […] handlungsfähig wird«, ist (nicht nur) im Fall Süßmuth erklärungsbedürftig.147 Zumal hier – anders als in den Fallbeispielen von Reinhard Hedden et al. – der Eigentümer eine Betriebsschließung nicht angekündigt hatte, sondern nach wie vor der festen Überzeugung war, dass sein Unternehmen auch weiterhin erfolgreich existieren könne. Mit Süßmuths Rücknahme seines Versprechens sowie dem daraufhin erfolgten Rückzug des hessischen IG-Chemie-Bezirksleiters Franz Fabian drohte Anfang März 1970 eine Kündigungswelle der Glasmacher, wodurch die Stabilisierung des Unternehmens und eine Betriebsübernahme durch die Belegschaft gleichermaßen unmöglich geworden wäre. Insbesondere ältere Beschäftigten mit »Vertreibungshintergrund« fühlten sich dem Unternehmer gegenüber zur Loyalität verpflichtet und lehnten das konfrontative Auftreten der Betriebsaktivisten und die sich radikalisierenden Formen ihres Protests (zunächst) ab.148 Selbst im Kreis der Vertrauensleute gingen dem Beschluss zur Be-

146 Noch am Abend des 16. März 1970 habe die Hessenschau über das Einlenken von Richard Süßmuth berichtet. Am 6. April 1970 berichtete das Politmagazin Panorama über die Ereignisse in Immenhausen. [Nowak] et al., [1974] (s. Anm. 104), S. 8; [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 105), S. 3; Typoskript »Eigentum verpflichtet«, Ulrich Happel für Panorama (ARD), 6. April 1970, in: Privatarchiv Siebert. Siehe Pressesammlung, GHS 1970, in: AGI und FHI, Schöf-1212, Schöf-1199, Schöf-1225. 147 Reinhard Hedden, Wolfgang Hindrichs und Claus Mäulen, Widerstand gegen Betriebsstillegungen. Aktionen, Erfahrungen und Lernprozesse von Belegschaften, Bremen 1993, S. 22. 148 Zwar hatte es im Juli 1969 bei der geheimen Abstimmung über den »Genossenschaftsplan« nur eine Gegenstimme gegeben. Jene Beschäftigten, die diesen Überlegungen skeptisch gegenüberstanden, schienen an der Abstimmung allerdings nicht teilgenommen zu haben. [Paul Nowak] zitiert in [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 49), S. 5; Ebenso [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 105), S. 6; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Rolf Schindler], 15. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 12.

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triebsbesetzung kontroverse Diskussionen voraus.149 Dass die absolute Mehrheit der Beschäftigten trotz der großen Unsicherheit im Betrieb blieb, ein zunehmend größerer Teil von ihnen Richard Süßmuths Einschätzung von der Situation im Unternehmen als realitätsfern wahrnahm und ihm – über bestehende Meinungsunterschiede hinweg – geschlossen mit der ungewöhnlichen Forderung nach Betriebsübertragung gegenübertrat, ist als Resultat von Verständigungsprozessen zu verstehen, die weniger im Licht der Öffentlichkeit standen. Eine Schlüsselrolle kam der Aufrechterhaltung der Produktion zu. Die thematische Ausrichtung der sich während der Betriebsübernahme formierenden Ausschüsse verdeutlichte, dass die Betriebsaktivisten neben der Öffentlichkeitsarbeit den Schwerpunkt auf die Produktion legten. Die Mitglieder des technischen Ausschusses waren vor allem nach ihrer fachlichen Fähigkeit, unter improvisierten Bedingungen die sanierungsbedürftige Produktionsanlage kontrollieren zu können, ausgewählt worden. Der für die Betriebsbesetzung aus zwölf bis fünfzehn Personen gebildete »Arbeiterschutz« sollte weniger dem Schutz vor politischen Repressionen – wie von DKP-Journalisten oder Teilen der Bevölkerung Immenhausens rezipiert – als vor allem dem Schutz der permanent zu befeuernden Beheizungs- und Schmelzanlage dienen.150 Bei der Wahl ihrer Protestformen trugen die Vertrauensleute dem Fertigungsverfahren in einer Mundglashütte Rechnung, denn ein Produktionsstillstand wäre mit hohen Kosten verbunden gewesen bzw. hätte faktisch den Konkurs nach sich gezogen. Die nachweisbaren Verbesserungen der Produktionsabläufe infolge der kollektiven Bemühungen halfen die Forderung nach Betriebsübernahme in der Belegschaft zu rechtfertigen, zugleich beförderte Süßmuths fehlende Einsicht dessen Autoritätsverlust. Die überwiegend aus Glasmachern bestehende Gruppe der Vertrauensleute war am aktivsten in den Übernahmeprozess involviert. Unter den in der Hütte arbeitenden Facharbeitern konnte sich während der laufenden Produktion die Kommunikation zur Vorbereitung der Protestaktionen verdichten, von denen sich Facharbeiter aus den veredelnden Abteilungen oder der Fensterglaswerkstatt zum Teil ausgeschlossen fühlten.151 Indem sie die Protestaktionen in ihrer

149 Der Plan der Betriebsbesetzung sei auch bei einem Teil der gewerkschaftlich engagierten »Kollegen im Betrieb« zunächst auf Ablehnung gestoßen. Es habe »tagelang gedauert, denen erstmals klarzumachen, was ist überhaupt eine Betriebsbesetzung. Nicht dass wir mit Maschinenpistolen den Betrieb besetzen, sondern dass wir in den Betrieb reingehen mit Frauen und Kindern und sagen: ›Wir [arbeiten und] bleiben dort – Tag und Nacht.‹« [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 49), S. 12; [Nowak] et al., [1974] (s. Anm. 104), S. 10f. 150 Fritz Seibert, »Der Sieg in der Glashütte. In Immenhausen übernehmen Arbeiter ihren Betrieb«, in: Unsere Zeit, 26. März 1970, in: AGI; [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 105), S. 6; [Nowak], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 105), S. 1f. 151 Die Initiative zur Betriebsübernahme sei von den Glasmachern ausgegangen, die exklusiv agierten und die Beschäftigten anderer Abteilungen nicht in ihre Vorbereitungen einbezogen hätten. Der Glasmaler [Frank Weber] erinnerte leicht vorwurfsvoll, dass die Hütte damals nichts durchblicken ließ. [Weber] habe im Namen der Flachglasmalerei – als von der Glashütte gesellschaftsrechtlich getrennte eigene Firma – einen Brief an Richard Süßmuth geschrieben, in dem er sich der Forderung nach Betriebsübernahme anschloss. [Frank Weber] in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 15.

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Freizeit organisierten, wahrten die Betriebsaktivisten auf Basis der erbrachten Arbeitsleistung gegenüber den skeptisch bleibenden Belegschaftsmitgliedern ihre Autorität.152 In der Berichterstattung erschien die Betriebsübernahme als eine rein männliche Aktion. Die Rolle der Frauen, die zum Teil ebenfalls in der Glashütte arbeiteten, wurde hingegen nicht angemessen gewürdigt. Ohne die Übernahme sämtlicher reproduktiver Arbeiten – denen, da im privaten Bereich getätigt, kaum (politische) Bedeutung beigemessen wurde – wäre das Engagement der Männer nicht möglich gewesen. Neben dem exklusiven Vorgehen der Vertrauensleute bei der Vorbereitung der Proteste begrenzte die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung die Handlungsbedingungen der Kolleginnen für politische Aktivitäten. Allein die Teilnahme an der Demonstration durch Immenhausen verlangte ihnen beispielsweise einen höheren Organisationsaufwand ab bzw. war abhängig vom Wetter oder von verfügbaren Betreuungsalternativen für die Kinder.153 Dennoch waren auch die Arbeiterinnen und Ehefrauen in genuin politischen – das heißt Öffentlichkeit herstellenden und Partei ergreifenden – Formen aktiver Teil der Auseinandersetzung.154 In Gesprächen beim »Metzger oder Krämer« trugen sie wesentlich zur Aufklärung und zum Verständnis für die Forderungen der Belegschaft innerhalb der Immenhausener Bevölkerung bei, in der Richard Süßmuth ein hohes Ansehen genoss.155 Die öffentlichkeitswirksamen Proteste der Belegschaft hatten zwar ein tendenziell sympathisierendes Echo in überregionalen Medien bewirkt – von der lokalen Bevölkerung wurden sie jedoch mit großer Skepsis registriert. Der »Großteil« der nicht in der Glashütte arbeitenden Einwohner*innen von Immenhausen, »die die Hütte noch nie von innen gesehen« hatten, sei gegen die »jungen Leute« gewesen, die »versucht haben, aus diesem Zusammenbruch irgendwie noch was zu machen«.156 Die »Vertriebenen« unter ihnen trafen Süßmuth jeden Sonntag in der katholischen Kirche. Sie und vor allem ältere Leute hätten »nur geschimpft gegen die Arbeiter«.157 Doch »wie sie dann gehört haben, dass praktisch alles so pleite geht, da haben sie auch wieder ein bissl anders geredet«.158

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Bis in die frühen Morgenstunden habe man damals die Protestaktionen vorbereitet und sei dennoch um sechs Uhr wieder auf der Arbeit gewesen. [Nowak] et al., [1974] (s. Anm. 104), S. 12; Ebenso die Erinnerung der Ehefrauen: [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 100), S. 19. Die Sprengerin [Ria Ulrich] konnte bspw. an der Demonstration – obwohl sie es sehr gerne getan hätte – nicht teilnehmen, weil ihr Kind damals »noch ziemlich klein« war und sie es nicht dem kaltfeuchten Wetter aussetzen wollte. Zitiert in [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 100), S. 15. Siehe Christiane Mende, »Arbeiterinnenselbstverwaltung? Normalität und Aufbruch im Arbeitsalltag der belegschaftseigenen Glashütte Süßmuth«, in: Maria Bühner und Maren Möhring (Hg.), Europäische Geschlechtergeschichte, Stuttgart 2018, S. 171–188, Online: www.europa.clioonline.de/essay/id/fdae-1703. Die Bevölkerung von Immenhausen habe nicht verstehen können, weshalb die Belegschaft Richard Süßmuth »den Betrieb wegnehmen« wollte. Dass »Süßmuth am Ende« war, habe in Immenhausen »ja keiner geglaubt«. [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 19f.; [Manfred Hübner] in Braun et al., 1973 (s. Anm. 143), S. 4f.; [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 100), S. 16f.; Ebenso [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 7), S. 11. [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 105), S. 5; [Rosa Schrödter] zitiert in [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 100), S. 16. Folgende Zitate von [Helga Wermke] aus [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 100), S. 16. Ebenso [Manfred Hübner] in Braun et al., 1973 (s. Anm. 143), S. 4f.

Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth (Frühjahr 1969 bis Herbst 1970)

»Alle haben mitgemacht«, so der Glasmacher [Manfred Hübner], weil es »ja alle an[ging]«, so die Kühlbandabnehmerin [Monika Weber].159 Von einem Konkurs der Glashütte Süßmuth wären sowohl die im Betrieb Beschäftigten als auch die Bevölkerung von Immenhausen negativ betroffen gewesen. Die älteren Belegschaftsmitglieder hatten auf dem lokalen Arbeitsmarkt wenig Aussichten. Schwierig wäre es auch für die Arbeiterinnen geworden, für sie war die Wohnortwahl in der Regel von der Arbeitsstelle des Ehemannes abhängig, zu einer weiter entfernten Arbeitsstelle konnten sie aufgrund der genderspezifischen Arbeitsteilung sowie der Öffnungszeiten des Kindergartens kaum pendeln. Hingegen bot der von einem akuten Fachkräftemangel geprägte Arbeitsmarkt Glasmachern sehr gute Chancen, sie wurden in dieser Zeit von anderen Glashüttenbesitzern intensiv umworben.160 Einige von ihnen hatten – nachdem Süßmuth sein Versprechen Anfang März 1970 zurückgezogen hatte – bereits in anderen Glashütten zur Probe gearbeitet.161 Die lokale Verankerung vieler Glasmacher war jedoch sehr hoch, weil sie im Zuge ihrer Familiengründung und in bis dahin ungebrochener Erwartung einer auch in Zukunft gesicherten Beschäftigung in Immenhausen mit dem Eigenheimbau begonnen bzw. diesen gerade erst abgeschlossen hatten. Aber nicht nur materielle Beweggründe trugen zur Geschlossenheit im Auftreten der Süßmuth-Belegschaft bei. Der Ansatz von E.P. Thompson, die Aufstände der armen Landbevölkerung Englands im 18. Jahrhundert nicht nur mit Blick auf den gestiegenen Brotpreis, sondern auch mit Blick auf den Bruch im Gerechtigkeitsempfinden zu erklären, ist für die Analyse der erfolgreichen Belegschaftsübernahme im Fall Süßmuth gewinnbringend.162 Ins Blickfeld gerät hierbei die Schnittmenge im Wertehorizont der Belegschaft und von Richard Süßmuth, die in einer hohen Bindung an und Verpflichtung gegenüber dem Unternehmen sowie in einem ausgeprägten Verantwortungsgefühl gegenüber der Gemeinschaft im Betrieb und der Region um Immenhausen bestand, in der sich die Beschäftigten offensichtlich sehr wohl fühlten.163 Auf diese geteilten Werte bezog sich bereits das Flugblatt der Aktivgruppe Süßmuth vom September 1969, in welchem nicht nur die individuell unterschiedlich gravierenden Nachteile für die Beschäftigten, sondern auch »die wirtschaftliche Verödung unserer Heimat« und das 159

[Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 15; [Monika Weber] zitiert in [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 100), S. 16. 160 Die Glasmacher seien von anderen Glasunternehmern »richtig hofiert« worden. Rolf Seyfang von Gralglas habe ihnen sogar »Kopfgeld« angeboten: für jeden vermittelten Glasmacher 100 DM und für die Vermittlung einer ganzen Werkstelle 250 DM extra. »So viele Mercedese hatte Immenhausen noch gar nicht gesehen, wie sie zu dieser Zeit herumgefahren sind.« [Willi Voigt] und [Manfred Hübner] zitiert in [Schmitz] et al., 20. März 1973 (s. Anm. 94), S. 2. 161 Am Tag vor der symbolischen Betriebsübernahme hatten sich 15 Glasmacher in zwei circa 60 Kilometer westlich von Immenhausen in Nordrhein-Westfalen gelegenen Glashütten (in Bad Driburg und in Marsberg) vorgestellt, die sie sofort eingestellt hätten. Sie behielten sich vor, den Ausgang des Ultimatums abzuwarten: »Wenn der Süßmuth übergibt, bleiben wir natürlich hier.« Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Konrad Scholz] und zwei namentlich unbekannten Arbeitern, undatiert [1974], im Besitz der Autorin, S. 1; [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 105), S. 3f.; [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 100), S. 10. 162 Edward P. Thompson, »The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century«, in: Past & Present 50 (1971), S. 76–136. Siehe Einleitung. 163 Siehe Kapitel 1; [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 100), S. 29f.

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»[A]useinanderreißen […] unsere[r] Gemeinschaft« als drohende Konsequenzen einer Betriebsschließung skizziert wurden.164 Eben hierauf beruhte auch die Erwartung der Belegschaft, dass der Unternehmer ihre höchst ungewöhnliche Forderung erfüllen müsse. Dass Süßmuth die seit Frühjahr 1969 unter kollektiven Anstrengungen mühsam erarbeitete Verbesserung der Produktionszahlen als seinen Verdienst verbuchte, obwohl er selbst keinen realistischen Weg aus der Unternehmenskrise aufzeigen konnte, stellte einen fundamentalen Bruch mit den Gerechtigkeitsvorstellungen der Beschäftigten dar.165 Dieser Bruch schuf die Voraussetzung für ein kollektives Handeln. Weil Süßmuth mit seiner Uneinsichtigkeit offensichtlich die Existenz des Unternehmens und die Arbeitsplätze aller Beschäftigten gefährdete, konnte die radikale Forderung nach Betriebsübernahme als einzig verbleibende Option, den Konkurs abzuwenden, in der Belegschaft überhaupt erst mehrheitsfähig werden. Die Referenz der Beschäftigten auf die geteilte moralische Ökonomie, das heißt auf die geteilten Wertvorstellungen vom richtigen und guten Wirtschaften, wies nicht – wie es E.P. Thompson in seinem Untersuchungsfeld beobachtete – in die Richtung einer Rekonstruktion des alten Paternalismus,166 sondern mit dem Anspruch der Beschäftigten auf demokratische Teilhabe auf etwas qualitativ Neues. Die Gemeinschaft, wie sie Süßmuths Unternehmensführung adressierte, transformierte sich in und durch die Auseinandersetzung in ein sich politisch artikulierendes Kollektiv. In der Unternehmenskrise verstärkten sich der Zusammenhalt und das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Kolleg*innen, wobei das Interesse der Einzelnen als ein gemeinsames, mitunter über den Betrieb hinausreichendes Interesse definiert war.167 Die verschiedenen Gruppen der Belegschaft fühlten sich verantwortlich füreinander und blieben trotz der großen Unsicherheit im Betrieb, den sie sich während der Unternehmenskrise in neuer Intensität anzueignen begonnen hatten.168 Die Analyseperspektive der Moralischen Ökonomie ermöglicht es, nicht nur die Geschlossenheit und Ausdauer der Belegschaft beim Verfolgen ihres Anliegens, sondern auch das Handeln des Unternehmers Richard Süßmuth zu erklären. Er hätte ihre Forderung ja einfach ignorieren können. Im Falle des Konkurses hätte ihm zwar ein privater Bankrott gedroht, doch um den Lebensabend für sich und seine Frau finanziell abzusichern, besaß er mit dem Unterstützungsangebot von Seiten prominenter Glasindustrieller noch eine andere Option.169 Deren Preis wäre allerdings gewesen, dem Niedergang seines als »Gesamtkunstwerk« verstandenen Unternehmens zusehen zu müssen. Da im

164 Flugblatt, 25. September 1969 (s. Anm. 18); Ähnlich Flugblatt »Mitbürger«, [10.März 1970] (s. Anm. 115); Flugblatt Kolleg*innen, [10.März 1970] (s. Anm. 116). 165 Flugblatt »Mitbürger«, [10. März 1970] (s. Anm. 115); [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 18), S. 9. 166 Thompson, Moral Economy (s. Anm. 162), S. 95, 98. 167 In ihrem Flugblatt an die Kolleg*innen verwendeten die Vertrauensleute hierfür das Bild der »Besatzung eines havarierten Schiffes auf hoher See«, aus dem – wenn »wir uns nicht einzeln von den Wechselfällen des Arbeitsmarktes verheizen lassen wollen« – »keiner aussteigen und seine persönliche Lösung suchen« könne. »Auch unsere beste Chance wäre die gemeinsame Lösung.« Flugblatt Kolleg*innen, [10.März 1970] (s. Anm. 116). 168 Siehe bspw. [Max Ulrich] in Braun et al., 1973 (s. Anm. 143), S. 7. 169 Siehe Kapitel 3.4.

Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth (Frühjahr 1969 bis Herbst 1970)

Falle der weiteren Verweigerung Süßmuths die Glasmacher den Betrieb verlassen hätten,170 wäre das Aus für das Unternehmen nur noch eine Frage der Zeit gewesen. Angesichts dessen war das Angebot der Belegschaft nicht nur in finanzieller Hinsicht die für Richard Süßmuth günstigste Option, sondern sie versprach ihm auch den Erhalt seines Lebenswerks und die Wahrung seiner Reputation als erfolgreicher Künstler-Unternehmer, die bis in die gegenwärtige Erinnerungskultur reicht.171 Der ausschlaggebende Beweggrund für Süßmuths freiwillige Verzichtserklärung war jedoch weder die Einsicht in die geteilten Wertvorstellungen oder gar die Anerkennung der Forderungen der Beschäftigten, sondern schlichtweg Angst.172 Gerade weil die Initiative der Belegschaft nicht allein eine Reaktion auf eine Notsituation, sondern auch politischer Ausdruck einer Selbstermächtigung war, wehrte Süßmuth diese ab. Die eigene antikommunistische Haltung ließ ihn annehmen, er würde zum Präzedenzfall einer in der Bundesrepublik anstehenden Enteignungswelle werden, dem wollte er mit seinem Einlenken – drei Tage vor dem historischen Treffen von Willy Brandt und Willy Stoph in Erfurt – vorbeugen.173 Er habe, wie er später erklärte, dem Verzicht auf sein Unternehmen nicht freiwillig zugestimmt, sondern nur, weil er »erpresst«, »fertig« und »mürbe« gemacht worden sei.174

2.3 Probleme mit der Finanzierung und der Rechtsform Die symbolische Übergabe des Unternehmens am 17. März 1970 durch Richard Süßmuth wurde von den Beschäftigten mit großer Erleichterung aufgenommen und in den Medien bundesweit rezipiert. Betriebsräte und Vertrauensleute anderer Betriebe – wie zum Beispiel des Kristallglaswerks Hirschberg, der Glashütten Schwäbisch-Gmünds oder der Kasseler Henschel-Werke –, aber auch interessierte Einzelpersonen und Gruppen richteten in den folgenden Wochen persönlich oder schriftlich Solidaritätsadressen und Glückwünsche an die Belegschaft der Glashütte Süßmuth.175 Keineswegs hatte damit ein »langes Ringen um den Fortbestand des Unternehmens […] sein Ende gefunden.«176 Die vom Hessischen Wirtschaftsminister bislang lediglich informell in Aussicht gestellte finanzielle Unterstützung galt es nun in eine verbindliche Vereinbarung zu überführen 170 [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 105), S. 3f.; [Scholz] et al., [1974] (s. Anm. 161), S. 1. 171 Siehe Dauerausstellung im Glasmuseum Immenhausen und Publikationen der Gesellschaft der Freunde der Glaskunst Richard Süssmuth e.V., Immenhausen. 172 Insbesondere die von den Betriebsaktivisten öffentlich geforderte Enteignung habe Richard Süßmuth »sichtbar beeindruckt.« express international, 3. April 1970 (s. Anm. 118). 173 Richard Süßmuth in Wallraff, [März 1970] (s. Anm. 37), S. 4. Siehe Kapitel 3.4. Am 19. März 1970 traf sich der Bundeskanzler Willy Brandt mit dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR Willi Stoph in Erfurt, dem am 21. Mai 1970 der Gegenbesuch Willi Stophs in Kassel folgen sollte. 174 Richard Süßmuth an Lothar Haase, 11. April 1970, in: ACDP, 01–374-14/1; Leserbrief von Richard Süßmuth in Deutsche Zeitung – Christ und Welt vom 15. Oktober 1971 zitiert in Hans See, »Arbeiterselbstverwaltung im Kapitalismus«, in: Fabian, Arbeiter (s. Anm. 24), S. 31. 175 Neben Einzelpersonen und Betriebsräten schickten vor allem Juso- und DKP-Verbände Solidaritätsbekundungen. Solidaritätsadressen an Belegschaft der GHS, März bis Mai 1970, in: Privatarchiv Siebert; [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 49), S. 7. 176 Achim von Roos, »Modell Genossenschaftshütte. Fabrikant Süssmuth übergab sein Werk an die Mitarbeiter«, in: Hessische Allgemeine, 19. März 1970, in: AGI.

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und als Voraussetzung dafür eine Rechtsform für das Belegschaftsunternehmen zu finden. Die schwierigen Verhandlungen mit dem Land Hessen und den Banken über die konkreten Bedingungen der Kreditvergabe sowie mit den zuständigen Behörden über die Anerkennung der Rechtsform drohten mehrfach zu scheitern und kamen erst im Oktober 1970 zu einem vorläufigen Abschluss.

Sicherung eines Finanzierungskonzepts Die Gewährung einer Landesbürgschaft war an Voraussetzungen gekoppelt, die prinzipiell für alle antragsstellenden Firmen galten. Der neuen kollektiven Eigentümerin der Glashütte Süßmuth wurden keine Sonderkonditionen eingeräumt, im Gegenteil: Sie hatte ungleich umfangreichere Vorleistungen zu erbringen. Neben der »qualifizierten Besetzung des Managements«, dem Nachweis von Eigenkapital sowie einer langfristigen Rentabilitätsplanung – wie sie das Hessische Wirtschaftsministerium bereits von Richard Süßmuth gefordert hatte – sollte die Belegschaft zudem einen »Investitionsplan auf Grund heutiger Preise«, einen »Finanzplan auf Grund geänderter Preis-, Lohn- und Zinssituation«, einen »Absatzplan im Hinblick auf die augenblickliche Marktsituation« und »auf Jahre hinaus«, »neue Lieferbedingungen« sowie Pläne zur »Bereinigung des Produktionsprogramms«, »zur Modernisierung des Rechnungswesens«, zur Neuorganisation des Unternehmens und zur »Liquidierung des nicht betriebsnotwendigen Vermögens« vorlegen.177 Gemessen an dem damit verbundenen Arbeitsaufwand war der Zeitraum, den der Hessische Wirtschaftsminister Rudi Arndt den Belegschaftsvertretern zur Realisierung dieser Maßnahmen einräumte, knapp bemessen. Bis Ende Mai 1970 sollten die entsprechenden Unterlagen eingereicht werden – eine Frist, die offensichtlich nach Fürsprache von Franz Fabian bis Ende Juni 1970 verlängert wurde.178 Unter großer Kraftanstrengung gelang es den leitenden Angestellten der Glashütte Süßmuth auf Basis der Vorarbeiten des »wissenschaftlichen Teams« den Großteil dieser Auflagen zu erfüllen.179 Nicht realisierbar war in der Kürze der Zeit die Forderung nach einer Sortimentsbereinigung. Ebenso wenig konnten die von den Beamten des Hessischen Wirtschaftsministeriums als nicht-produktionsrelevant bewerteten Vermögensbestände »verflüssigt«, das heißt die Grundstücke mit den Werkswohnhäusern verkauft und die Rentenrückstellungen zur Entlastung der Passiv-Seite aufgelöst werden. Noch Jahre später blieben diese vom Hessischen Wirtschaftsministerium erhobenen Forderungen uneingelöst – auch weil über deren Notwendigkeit bzw. Sinnhaftigkeit innerhalb des Unternehmens sehr unterschiedliche Ansichten existierten.180 Die eingereichten Unterlagen wurden von den zuständigen Beamten der Prüfungsgesellschaft HLT dennoch positiv bewertet. Sie waren überzeugt, ausgehend von der Annahme eines zukünftigen Wachstumspotenzials in der Mundglasbranche und der Dia177

Arndt, 24. März 1970 (s. Anm. 78); Vermerk IG Chemie Hauptvorstand, 6. April 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Rudi Arndt an IG Chemie Hauptvorstand, 6. Mai 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie; [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 87), S. 5. 178 Arndt, 6. Mai 1970 (s. Anm. 177); [Schmitz] et al., 20. März 1973 (s. Anm. 94), S. 4; [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 7), S. 15. 179 [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 7), S. 17; [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 87), S. 5. 180 Siehe Kapitel 6.1 und Kapitel 7.3.

Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth (Frühjahr 1969 bis Herbst 1970)

gnose eines Führungsversagens von Richard Süßmuth als vorrangige Ursache der Unternehmenskrise, dieselbe durch Rationalisierung im Betrieb und Expansion im Vertrieb relativ zügig überwinden zu können.181 In der entscheidenden Verhandlungsrunde hatte [Dieter Vogt] – mittlerweile zum Oberregierungsrat im Hessischen Wirtschaftsministerium und Geschäftsführer der HLT aufgestiegen – am 13. April 1970 die Notwendigkeit, aber auch die Machbarkeit dargelegt, die Glashütte Süßmuth durch eine umfassende Kostensenkung sowie eine Umsatzsteigerung von 30 bis 40 Prozent innerhalb des ersten Geschäftsjahres wieder in die Gewinnzone zu führen.182 Die Hessische Landesregierung traf daraufhin am 24. April 1970 den Grundsatzbeschluss, die Belegschaftshütte mit der Übernahme einer 50-prozentigen Ausfallbürgschaft für einen Investitionskredit in Höhe von insgesamt 1.275.000 DM sowie der Gewährung eines verlorenen Zuschusses aus dem Hessischen Strukturförderungsplan in Höhe von 225.000 DM zu unterstützen.183 Nun begann die Suche nach weiteren Bürgen. Die Helaba erklärte sich bereit, für 20 Prozent der Kreditsumme zu bürgen.184 Die restlichen 30 Prozent sollte – so die Aufforderung der Hessischen Landesregierung – die IG Chemie oder die BfG übernehmen.185 Letztere konnte indes nur zu einer Bürgschaft von 15 Prozent bewegt werden.186 Für die restlichen 15 Prozent und damit für einen Betrag von knapp 200.000 DM fehlte weiterhin eine Garantie. Zusammen mit dem HLT-Geschäftsführer [Vogt] bereiteten Belegschaftsvertreter ein Rundschreiben an »Genossinnen und Genossen« vor, die in Form der Übernahme einer Ausfallbürgschaft in Höhe von mindestens 1.000 DM helfen sollten, »das erste sozialistische Wirtschaftsmodell in der BRD zu verwirklichen«.187 An der ungeklärten Bürgschaftsfrage wären die Kreditverhandlungen fast gescheitert, wenn nicht Ende Juni 1970 der Partnerschaftsunternehmer Carl Backhaus kurzfristig zugesichert hätte, für die noch offenen 15 Prozent der Kreditsumme zu bürgen.188 Als Begründer des sogenannten Ahrensburger Modells hatte Backhaus bereits unmittelbar nach der symbolischen Betriebsübernahme durch seine Anwesenheit bei der öffentlichen Podiumsveranstaltung in Immenhausen am 19. März 1970 – auf der nicht wie geplant die Hintergründe der Betriebsbesetzung, sondern die der zukünftigen Selbstverwaltung dargelegt wurden – sein Interesse an der Belegschaftsinitiative bekundet.189 Kurz vor Ablauf der vom Hessischen Wirtschaftsminister gesetzten Frist konnte somit das Finanzierungskonzept für das Belegschaftsunternehmen gesichert werden.

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Siehe Fabian, 5. Januar 1970 (s. Anm. 2), S. 3f. Werner Vitt an Karl Hauenschild, 16. April 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie. Arndt, 6. Mai 1970 (s. Anm. 177). Vitt, 16. April 1970 (s. Anm. 182). Ebd.; IG Chemie Hauptvorstand, 6. April 1970 (s. Anm. 177). Diether H. Hoffmann an [Dieter Vogt], 15. Mai 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie. Bürgschaftsaufruf an »Genoss/innen«, Juni 1970, in: FHI, Schöf-1221; [Schmitz] et al., 20. März 1973 (s. Anm. 94), S. 1. 188 Mit dem Privatflugzeug vom Schwager des Vertriebsangestellten [Jürgen Schmitz] seien die Belegschaftsvertreter nach Ahrensburg geflogen, um in letzter Minute Backhaus’ Unterschrift für die Bürgschaftserklärung einzuholen. [Schmitz] et al., 20. März 1973 (s. Anm. 94), S. 1; [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 7), S. 17. 189 [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 3; Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 16), S. 9. Siehe Kapitel 3.5.

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Die Kreditsumme wurde in Form eines Darlehens der LKK in Höhe von 525.000 DM und eines Darlehens der Bundesanstalt für Arbeit (BfA) in Höhe von 750.000 DM aufgebracht – jeweils mit einer Laufzeit von zehn Jahren bei zwei tilgungsfreien Jahren.190 Im Gegensatz zu dem mit 3,5 Prozent pro Jahr relativ günstig verzinsten Darlehen der BfA191 hatte die LKK mit einem jährlichen Zinssatz von 8,75 Prozent marktübliche Bedingungen festgelegt.192 Zusammen mit dem verlorenen Zuschuss des Landes Hessen bewegten sich – mit einer Gesamtsumme von 1,5 Millionen DM – die dem Belegschaftsunternehmen zur Verfügung gestellten Investitionsmittel angesichts des Sanierungsbedarfs am absoluten Minimum.193 Die in den hessischen Landesministerien vorhandenen Bedenken gegenüber der Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth waren vor diesem Hintergrund sehr berechtigt, führten aber nicht dazu, dass mehr Mittel zur Verfügung gestellt wurden.194 So bestätigte der Fall Süßmuth die Beobachtung von Rob Paton, dass die finanzielle Unterstützung von Belegschaftsübernahmen durch den Staat dem eigentlichen Bedarf an Investitionsmitteln in der Regel nicht gerecht wurde.195

Die Suche nach einer Rechtsform Zeitgleich zu den Kreditverhandlungen musste ein Haftungsträger für das Belegschaftsunternehmen gegründet werden. Eine Rechtsform zu finden, die das unternehmerische Risiko an ein kollektives, nicht privat-haftendes Rechtssubjekt delegiert und zudem den Ansprüchen einer (wie auch immer definierten) demokratischen Praxis der Unternehmensführung entsprach, bereitete enorme Schwierigkeiten. Selbst zu Beginn

190 Die Kreditverträge sind nicht überliefert. Die Kreditkonditionen wurden aus den Korrespondenzen zwischen GHS, HWMi und IG Chemie sowie aus den Dokumenten der Selbstverwaltungsgremien rekonstruiert. 191 HWMi an GHS, 15. Oktober 1970, in: HHStAW, Abt. 502, Nr. 1998. Im Rahmen der Richtlinien über das Regionale Förderungsprogramm der Bundesregierung (1969) waren alle Unternehmen aus dem »Zonenrandgebiet« und aus Bundesausbaugebieten berechtigt, solche zinsgünstigen Darlehen bei der BfA »zur Schaffung von gewerblichen Arbeitsplätzen« zu beantragen. Siehe Information VHW Landesverband Hessen, Nr. 4/1969, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 13996, S. 8–10. Der stellvertretende Vorsitzende des IG-Chemie-Hauptvorstands Ferdinand Eichhorn hatte sich in seiner Funktion als Mitglied im Verwaltungsrat der Nürnberger BfA für die Unterstützung der SüßmuthBelegschaft eingesetzt. [Gerhard Schinkel] und [Hans Müller] an Präsidenten des Landesarbeitsamts Hessen, 9. April 1970, in: FHI, Schöf-1221. 192 LKK an GHS, 9. Februar 1979, in: Archiv HMdF; Übersicht Kredite der GHS, Stand 31. Dezember 1970, in: AGI. 193 Der vom HWMi beauftragte Wirtschaftsprüfer Kuno Fenner hatte im Oktober 1969 einen Kreditbedarf von 1,3 Millionen DM festgestellt. Der von [Hans Müller] und den Ministerialbeamten aus dem HMdI ausgearbeitete Sanierungsplan bezifferte im Juli 1969 – nach Beratung mit verschiedenen Vertretern der Glasindustrie – den Investitionsbedarf auf 1,9 Millionen DM. Gegenüber Kaufinteressenten sprach [Dieter Vogt] von einem Kreditbedarf zwischen 1,5 und drei Millionen DM. Fabian, 5. Januar 1970 (s. Anm. 2), S. 4; HMdI, 28. Juli 1969 (s. Anm. 11), S. 13; [Vogt], 23. Juli 1969 (s. Anm. 6). 194 Siehe Kapitel 3.1; »Millionen-Bürgschaft für Glashütte. Glashütte Süßmuth ›kein Modellfall‹«, in: Hessische Allgemeine, 4. Mai 1970, in: AGI. 195 Rob Paton, Reluctant Entrepreneurs. The Extent, Achievements and Significance of Worker Takeovers in Europe, Milton Keynes 1989, S. 74. Siehe Kapitel 7.2 und 7.3.

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des 21. Jahrhunderts existiert im bundesdeutschen Gesellschaftsrecht keine Rechtsform, die ein Unternehmen in kollektivem Besitz und unter gleichberechtigter Führung bzw. demokratischer Entscheidungsfindung aller Beschäftigten vorteilhaft erscheinen lässt.196 Bereits zu Beginn des Jahres 1970 hatte Franz Fabian ein gewerkschaftsnahes Anwaltsbüro damit beauftragt, die Möglichkeiten des bestehenden Gesellschafts- und Arbeitsrechts hinsichtlich einer Rechtsform für das in der Bundesrepublik erstmals von einer Belegschaft übernommene Unternehmen auszuloten.197 Die Suche nach einer geeigneten Rechtsform fand unter sehr schwierigen Bedingungen statt. Erstens war sie von den Kreditverhandlungen abhängig und erfolgte unter massivem Zeitdruck. Ohne eine Trägergesellschaft gab es keine Kredite, und ohne diese konnten keine Investitionen in die Fertigungsanlage getätigt werden. Auf deren Dringlichkeit wiesen die Belegschaftsvertreter Ende April 1970 zum wiederholten Male hin, da die veralteten Kühl- und Hafentemperöfen »nicht mehr kontrollierbar« waren.198 Zudem mussten die Schmelzöfen in Auftrag gegeben werden, deren Neubau einige Monate in Anspruch nahm. Diese Investitionen eilten, um die Verluste in der Produktion zu reduzieren, die Bautätigkeiten rechtzeitig vor dem Beginn des Weihnachtsgeschäfts abschließen zu können und damit während der Hauptsaison in der Mundglasbranche wieder voll produktionsbereit zu sein.199 Der Zeitdruck ging somit von der vom Land Hessen gesetzten Frist wie von der prekären Situation im Betrieb gleichermaßen aus. Zweitens war die Suche nach einer Rechtsform durch die Einflussnahme der hessischen Ministerialbeamten und Gewerkschaftsfunktionäre (sowie deren jeweilige Vorstellungen und Interessen) eingeschränkt, wodurch die Rechtsform der Genossenschaft relativ schnell ausschied. Dabei stimmten die mit der Übernahme der Glashütte Süßmuth verbundenen Ziele eigentlich mit zentralen Prinzipien der Genossenschaftsbewegung überein.200 Auch hatte sich in der Auseinandersetzung über eine mögliche Belegschaftsübernahme der Firma Süßmuth zu Beginn die Bezeichnung Genossenschaftshütte etabliert. Die Entscheidung für eine GmbH und damit gegen die Form der Genossenschaft war bereits in den Verhandlungen mit dem Land Hessen im Oktober 1969 gefallen.201 Als Gründe hierfür führten Franz Fabian und der Jurist Gero Friedel im Nachhinein die »umständlich[en] und schwerfällig[en]« Ein- und Austrittsregelungen 196 Siehe Burghard Flieger (Hg.), Produktivgenossenschaften oder der Hindernislauf zur Selbstverwaltung. Theorie, Erfahrungen und Gründungshilfen zu einer demokratischen Unternehmensform, München 1984, S. 254–277; Rupay Dahm, »Alternatives Gesellschaftsrecht. Selbstverwaltete Kollektivbetriebe und ihre rechtlichen Herausforderungen«, in: das freischüßler 20 (2014), Online: http://akj.rewi.hu-ber lin.de/zeitung/15-20/pdf/fs20-02_Alternatives_Gesellschaftsrecht.pdf. 197 Betriebsrat, 15. Januar 1970 (s. Anm. 79). Zuvor hatte Fabian beim IG-Chemie-Hauptvorstand um eine Vollmacht gebeten, die Gesellschaftsverträge für das künftige Belegschaftsunternehmen »durch entsprechende Fachleute (gegebenenfalls aus dem WWI) ausarbeiten zu lassen.« Fabian, 5. Januar 1970 (s. Anm. 2), S. 5. 198 Folgendes aus Tagesordnung Treffen zwischen Belegschaftsvertretern (GHS) und Franz Fabian, 25. April 1970, in: FHI, Schöf-1221. 199 Bürgschaftsaufruf, Juni 1970 (s. Anm. 187). 200 Zum Demokratie-, Identitäts- und Förderprinzip in einer Genossenschaft als traditionelle Organisationsform der Selbsthilfe in der Geschichte der Arbeiterbewegung siehe Einleitung. 201 Polzer, 8. Oktober 1969 (s. Anm. 69); Ebenso Notiz [Hans Müller], 18. Dezember 1969, in: FHI, Schöf-1222.

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sowie die ungünstigere Haftungs- und Besteuerungslage in einer Genossenschaft an.202 Jeder Weggang oder jede Neueinstellung von Beschäftigten als Genossenschaftsmitglieder wäre demnach mit einem größeren bürokratischen Aufwand verbunden gewesen.203 Nach dem damals gültigen Genossenschaftsgesetz war zudem eine Haftung noch bis zu 18 Monaten nach dem Ausscheiden eines Genossenschaftsmitglieds nicht ausgeschlossen.204 Schließlich sei die Genossenschaft auch »steuerlich stärker belastet gewesen als die gewählte GmbH-Form«. Darüber hinaus schienen auf Seiten der institutionellen Unterstützer grundsätzliche Vorbehalte gegen die Rechtsform der Genossenschaft vorgeherrscht zu haben. Dürften diese für die Vertreter des Landes Hessen auf die in den Nachkriegsjahren »gesammelten bitteren Erfahrungen« mit der staatlichen Förderung sogenannter Flüchtlingsgenossenschaften zurückgegangen sein,205 so stellte für die Gewerkschaftsfunktionäre offensichtlich das Oppenheimer’sche Transformationsgesetz ein im Fall Süßmuth vorzubeugendes Bedrohungsszenario dar.206 Drittens war die Formalisierung des Belegschaftsunternehmens entscheidend von der Blockade-Haltung der LKK geprägt, die in den noch offenen Kreditrückzahlungen der Glashütte Süßmuth in Höhe von mindestens 623.000 DM begründet lag.207 Dieser Betrag war zwar durch Pfandrechte an den Betriebs- und Wohngrundstücken sowie mit Bürgschaften vom Land Hessen und der Bank selbst abgesichert. Der Verkaufswert der firmeneigenen Immobilien war indes im Zuge der Unternehmenskrise erheblich gesunken. Als Hauptgläubigerin der Firma hatte die LKK bereits zu Beginn der Verhandlungen mit den Belegschaftsvertretern verdeutlicht, dass für sie die Option eines gesellschaftsrechtlichen Neustarts über die Einleitung eines Vergleichsverfahrens »kaum 202 Fabian, Fall (s. Anm. 24), S. 15f.; Franz Fabian, »›Genossenschaftliche‹ Glashütte Süßmuth«, in: Fritz Vilmar (Hg.), Strategien der Demokratisierung. Band II: Modelle und Kämpfe der Praxis, Darmstadt u.a. 1973, S. 415f.; Friedel, Aspekte (s. Anm. 84), S. 72. 203 Fabian, Fall (s. Anm. 24), S. 15f. Aus dem gleichen Grund sei auch die zu Beginn angestellte Überlegung, dass alle Beschäftigten zu Gesellschafter*innen der GmbH werden, nicht realisiert worden. Friedel, Aspekte (s. Anm. 84), S. 72. Diese »Praktikabilitätsgründe« stellte auch [Hans Müller] in seinen öffentlichen Ausführungen über die Rechtsform stets heraus. Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 88), S. 2; Podiumsdiskussion, 21. September 1973 (s. Anm. 36), S. 6. Burghard Flieger bewertete (zwölf Jahre später) hingegen die Ein- und Austrittsregelungen von Mitgliedern einer Genossenschaft – im Vergleich zu jenen für Gesellschafter*innen einer GmbH – als relativ einfach handhabbar. Hierfür müsse lediglich eine (notariell nicht zu beglaubigende) Änderung der »beim Amtsgericht vorliegenden Liste der Mitglieder« vorgenommen werden. Burghard Flieger, »Kritisches Plädoyer für die genossenschaftliche Rechtsform«, in: Ders. (Hg.), Produktivgenossenschaften oder der Hindernislauf zur Selbstverwaltung, München 1984, S. 257. 204 Folgendes aus Friedel, Aspekte (s. Anm. 84), S. 72. 205 Zwischen 1945 und 1949 wurde in Hessen die oftmals auf »genossenschaftlicher Basis« erfolgte »Neuansiedlung von Unternehmen« öffentlich gefördert, von denen viele »unter Hinnahme erheblicher Verluste durch den Staat liquidiert werden mussten.« Mit Verweis auf diese »bitteren Erfahrungen« hatte das HMdI 1957 Antragstellern, die die insolvente Glashütte Stubbe in Allendorf in Form einer Genossenschaft fortführen wollten, eine Absage erteilt. HMdI an Aufbaugesellschaft Allendorf GmbH, 18. Januar 1957, in: Archiv DIZ, Bestand 247. R 147. 206 Siehe Fabian, Glashütte Süßmuth (s. Anm. 202), S. 417; Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 18), S. 13f.; Kapitel 4.1 und Kapitel 7.3. 207 Dieser Betrag setzte sich aus den Krediten von 1958 und 1967 zusammen. Übersicht Kredite der GHS bei LKK/Helaba, 15. Januar 1970, in: FHI, Schöf-1221.

Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth (Frühjahr 1969 bis Herbst 1970)

denkbar« sei.208 Statt zur Neugründung einer GmbH, wie ursprünglich geplant,209 kam es am 29. Juni 1970 zur Umfirmierung der früheren Kommanditgesellschaft in die Glashütte Süßmuth GmbH – ein Schritt, der wiederum zusammen mit dem Komplementär Richard Süßmuth vollzogen werden musste.210 Inwiefern diese Entscheidung durch die Abwehrhaltung der LKK bedingt oder von anderen (steuerrechtlichen) Überlegungen geleitet war, sei dahingestellt.211 Mit der lediglich umfirmierten GmbH hatte das Belegschaftsunternehmen in der Rechtsnachfolge die Verpflichtungen des Vorgängerunternehmens als Altlast zu übernehmen, wovor ein von [Hans Müller] konsultierter Rechtsanwalt zuvor ausdrücklich gewarnt hatte.212 Zugleich ergab sich hierbei für Süßmuth erneut eine Möglichkeit der Einflussnahme. Denn viertens drohten die Übernahmeverhandlungen erneut an Richard Süßmuths Weigerung, sein Unternehmen endgültig abzutreten, zu scheitern. Bereits Ende April 1970 meldeten die »Kollegen« mit »Sorgen«, dass Süßmuth »wieder aktiv im Betrieb« werde.213 Seine am 17. März 1970 öffentlich ausgesprochene Verzichtserklärung war diesmal zwar durch einen kurz darauf notariell beglaubigten Vorvertrag rechtsverbindlich.214 Doch Süßmuth war mit der Belegschaftsübernahme nach wie vor nicht einverstanden und fühlte sich ungerecht behandelt. In dieser Auffassung bestätigte ihn ein durch Vermittlung des einstigen Landrats und engen Freundes Arthur Steinbrenner hinzugezogener Wirtschaftsprüfer, der in einem Gutachten die Rechtswidrigkeit der mit den Belegschaftsvertretern geschlossenen Verträge darlegte. Er empfahl Süßmuth, »das Geschäft zu schließen« und einen Liquidationsvergleich mit seinen Gläubigern anzustreben, da ihm somit »mehr überbleibt« als bei der Übergabe an die Belegschaft.215 Der Wirtschaftsprüfer war davon überzeugt, dass – wie im Bremer Skandalfall Borgward – die Firma nach der Belegschaftsübernahme bald in Konkurs gehen würde, womit

208 [Müller], 18. Dezember 1969 (s. Anm. 201). 209 Entwurf Gesellschaftsvertrag GHS GmbH, undatiert [Frühjahr 1970], in: AfsB, Bestand IG Chemie; Franz Fabian an Werner Vitt, 26. März 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 210 Urkunde Umwandlungsbeschluss GHS, 29. Juni 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Urkunde Angebot zur Übertragung der GHS, 29. Juni 1970, in: Archiv AGK, HRB 9011. 211 Der zunächst angenommene Sachverhalt, Richard Süßmuth werde bei der Gründung der Gesellschaft gebraucht, um seinen Namen in der Firmenbezeichnung führen zu können, schied als Grund für die Entscheidung der Umfirmierung der alten KG in eine GmbH aus, da Süßmuthglas eine eigene Verkehrsgeltung hatte und in die Warenzeichenrolle eingetragen war. Gegenüber der Presse führte [Hans Müller] »steuerrechtliche Vorteile« an. Laut Joachim Neander habe Richard Süßmuth hiergegen opponiert. [Müller], 18. Dezember 1969 (s. Anm. 201); [Hans Müller] in »Modernisierung gesichert. Investitionen in Höhe von 1,5 Millionen DM für Glashütte Immenhausen vorgesehen«, in: Hessische Allgemeine, 4. Juli 1970, in: FHI, Schöf-1225; Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 16), S. 10f.; Joachim Neander, »Sozialismus. Süßmuth GmbH und Co. KG«, in: Welt am Sonntag, 22. März 1970, in: Privatarchiv See. 212 Friedrich Robert Schebitz an [Hans Müller], 30. Dezember 1969, in: FHI, Schöf-1222. 213 Tagesordnung, 25. April 1970 (s. Anm. 198). 214 Dieser vorläufige Übertragungsvertrag wurde zwischen Richard Süßmuth und dem Betriebsratsvorsitzenden [Gerhard Schinkel] am 23. März 1970 geschlossen. Auch hierin war noch von einer »von sämtlichen Belegschaftsmitgliedern zu gründenden Gesellschaft« die Rede. Vorläufiger Vertrag, 23. März 1970 (s. Anm. 144). 215 Folgendes aus Tidemann Ulrich Lemberg an Richard Süßmuth, 16. Juli 1970, in: AGI, S. 2.

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Süßmuth auch die »zugesagte Leibrente in Wegfall« käme.216 Daraufhin stellte Süßmuth am 31. Juli 1970 einen Antrag auf Änderung der Umwandlungsbilanz, den er kurz darauf wieder revidierte.217 Die Übertragung sämtlicher Geschäftsanteile auf die Belegschaft und das Ausscheiden von Richard Süßmuth aus der umfirmierten Gesellschaft hatte sich hierdurch noch einmal bis zum 29. September 1970 hinausgezögert.218 Im Herbst 1970 fand die Suche nach einer Rechtsform für das Belegschaftsunternehmen schließlich ein vorläufiges Ende. Der umfirmierten GmbH wurde der am 15. Oktober 1970 gegründete Verein der Beschäftigten der Glashütte Süßmuth an die Seite gestellt.219 Diese als Modell Süßmuth bezeichnete GmbH-Verein-Doppelkonstruktion war bis dahin in der Bundesrepublik einmalig und blieb in juristischer Hinsicht umstritten.220 Im Januar 1971 lehnte das Amtsgericht Hofgeismar die Eintragung des Belegschaftsvereins in das Vereinsregister ab. Aufgrund der engen Verflechtung mit einem Wirtschaftsunternehmen entspräche dieser nicht »dem vom Gesetzgeber geforderten Bild eines Idealvereins«, der vorwiegend ideelle Zwecke verfolgen sollte.221 Der mit der Prüfung dieses Beschlusses beauftragte Justiziar beim IG-Chemie-Hauptvorstand Wolfgang Pennigsdorf bewertete die vom Amtsgericht angeführten Gründe für die Zurückweisung des Antrags als »nicht stichhaltig«, empfahl indes – aufgrund des Zeitdrucks – die »Rechtsform eines nichteingetragenen Vereins«.222 Ein solcher sei letztlich sogar »praktikabler«, da personelle Änderungen im Vorstand nicht ständig ins Vereinsregister gemeldet werden müssten.

Widrige Ausgangsbedingungen für die Selbstverwaltung Die Bedingungen, unter denen die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth letztlich erfolgte, waren so widersprüchlich wie prekär. Mit der Nicht-Eintragung des Vereins fehlte es an einer rechtskräftigen und einklagbaren Verankerung der Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten. Die Nicht-Anerkennung des Modells Süßmuth sollte bis zum Ende der Selbstverwaltung ein ungeklärtes Problemfeld bleiben, woraus haftungs-

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Borgward konnte trotz Übernahme durch das Land Bremen nicht gerettet werden. Klaus Brandhuber, Borgward Automobil-Werke. Aufbau, Wirtschaftswunder und Konkurs, Bremen 2012. 217 Die berichtigte Umwandlungsbilanz reichte Süßmuth in der endgültigen Form erst am 22. September 1970 beim Amtsgericht Hofgeismar ein. Siehe Korrespondenzen zwischen Richard Süßmuth, den Anwälten beider Verhandlungsseiten und dem Amtsgericht Hofgeismar, Juli bis September 1970 sowie Richard Süßmuth an Amtsgericht Hofgeismar, 22. September 1970, in: Archiv AGK, HRB 9011. 218 Urkunde Übertragung der GHS, 29. September 1970, in: Archiv AGK, HRB 9011; Urkunde Gesellschafterversammlung GHS, 29. September 1970, in: Archiv AGK, HRB 9011. 219 Protokoll Gründungsversammlung des Vereins der Beschäftigten der GHS GmbH [Version 1], 15. Oktober 1970, in: FHI, Schöf-1221. 220 Siehe Kapitel 4.1. 221 Zudem widerspräche die Mitgliedsregelung durch »eine enge Bindung [der Vereinsmitgliedschaft] an das Beschäftigungsverhältnis« der Bestimmung über den freiwilligen Austritt nach BGB § 39. Beschluss Amtsgericht Hofgeismar, 7. Januar 1971, in: FHI, Schöf-1228. 222 Folgendes aus Wolfgang Pennigsdorf an Rudolf Segall, 16. Februar 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie.

Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth (Frühjahr 1969 bis Herbst 1970)

und steuerrechtliche Unsicherheiten resultierten. Die Belegschaft hatte mit der lediglich umfirmierten Kapitalgesellschaft, die in unmittelbarer Rechtsfolge zur vorherigen Personengesellschaft stand, ein faktisch überschuldetes Unternehmen übernommen, was eigentlich eine Konkursanmeldung erforderlich gemacht hätte. Infolge des Zeitdrucks fand die Umwandlung der KG in die GmbH ohne eine vorherige Neubewertung des Betriebsvermögens statt. Die belegschaftseigene Firma übernahm damit – auf Basis einer überhöht bilanzierten Vermögenslage – sämtliche Aktiva und Passiva, wie es die Vereinbarung mit Richard Süßmuth vorsah.223 Den knapp bemessenen Kreditmitteln stand zudem eine Produktionsanlage gegenüber, in die seit Jahren nicht bzw. nur in Form notdürftiger Reparaturen investiert wurde. Das belegschaftseigene Unternehmen fing folglich nicht bei null, sondern im Minus an. Bereits die Formalisierung der zukünftigen Praxis der Selbstverwaltung gestaltete sich als ein exklusiver Vorgang, an dem die Beschäftigten kaum noch partizipieren konnten. War es ihnen in der ersten Hälfte des März 1970 gelungen, ihre Forderungen als Teil eines über den eigenen Betrieb hinausreichenden gesellschaftspolitischen Anliegens öffentlich zu artikulieren, so fanden die Verhandlungen über Finanzierung und Rechtsform hinter verschlossenen Türen in den Verwaltungszentralen der hessischen Landesministerien, der Banken und der Gewerkschaft statt – und zwar sowohl unter Ausschluss der medialen Öffentlichkeit als auch weitgehend ohne Beteiligung der Beschäftigten.224 Am 9. Mai 1970 wurde der Belegschaft der Entwurf eines Gesellschaftsvertrags vorgestellt und von den Gewerkschaftsfunktionären »zur Annahme empfohlen«.225 Die Vereinssatzung wurde zwar im Sommer 1970 mit der Belegschaft diskutiert.226 Als diese auf der Gründungsversammlung des Vereins der Beschäftigten im Oktober 1970 verabschiedet wurde, waren aber in jenen Diskussionen vereinbarte Änderungsvorschläge nicht enthalten.227 Dies betraf vor allem die während der Betriebsübernahme von den Betriebsaktivisten etablierte Organisationsstruktur der Ausschüsse. Wurde auf der Besprechung im Juli 1970 beschlossen, eine »Reihe von Ausschüssen zu bilden«, die sich »paritätisch aus Mitgliedern des [Vereins-]Vorstandes

223 Notiz [Hans Müller], 9. Januar 1970, in: FHI, Schöf-1221; Notiz Erasmus Schöfer zu: Urkunde Angebot zur Übertragung der GHS, 29. Juni 1970, in: FHI, Schöf-1221. Die Umwandlungsbilanz vom 22. September 1970 ging von einem zu hoch bewerteten Warenlager und Anlagevermögen aus. Das von der KG auf die GmbH übertragene Stammkapitel in Höhe von 427.000 DM existierte rein nominell und wurde in einer früheren Berechnung auf maximal 30.000 DM geschätzt. Berichtigte Umwandlungsbilanz GHS zum 1. Januar 1970, gezeichnet von Richard Süßmuth, 22. September 1970, in: Archiv AGK, HRB 9011; Interne Status GHS, [Oktober 1969] (s. Anm. 75). 224 [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 22. 225 Franz Fabian an IG Chemie Hauptvorstand, 5. Mai 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 226 Am 12. Juli 1970 fand eine »Vorbesprechung« über den Entwurf der Vereinssatzung statt, an der Werner Vitt für den Hauptvorstand, Franz Fabian für den Bezirk Hessen, [Klaus Boehm] für die Vwst. Kassel und [Gerhard Schinkel] als Betriebsratsvorsitzender der GHS teilnahmen. Am 2. September 1970 wurde diese Vereinssatzung auf einer Belegschaftsversammlung vorgestellt. Notiz [Klaus Boehm], 2. September 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 227 Satzungsentwürfe Verein der Beschäftigten der GHS GmbH, undatiert [Juli 1970], in: AfsB, Bestand IG Chemie; [Boehm], 2. September 1970 (s. Anm. 226); Satzung Verein der Beschäftigten der GHS GmbH, undatiert [Oktober 1970], in: Fabian, Arbeiter (s. Anm. 24), S. 96–98.

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und des Betriebsrates zusammensetzen sollen«, war diese Bestimmung in der verabschiedeten Vereinssatzung komplett gestrichen.228 Der Antrag von [Paul Nowak] zur Bildung weiterer Ausschüsse, wie es der Satzungsentwurf vom Juli 1970 vorsah, wurde auf der Vereinsgründungsversammlung nicht zur Abstimmung gestellt.229 Lediglich die zehn Belegschaftsmitglieder, die am 14. Mai 1970 von den Beschäftigten als die neuen, treuhänderisch tätigen Gesellschafter der umfirmierten GmbH gewählt wurden, waren punktuell bei den Verhandlungen in Wiesbaden anwesend, ohne auf diese großen Einfluss nehmen zu können. Sie erinnerten diese Zeit als eine deprimierende und kräftezehrende, die »an die Substanz« ging und sie vom Rest der Belegschaft trennte, der man nichts (Positives) erzählen durfte bzw. konnte.230 Hatten die Belegschaftsaktiven in den vorangegangenen Auseinandersetzungen mit Richard Süßmuth – vor allem nach dem offiziellen Rückzug der Gewerkschaft – ihre Forderungen in selbst gewählten Formen und kollektiv zur Geltung gebracht, so fanden sie sich in den Gesprächen mit den Ministerialbeamten und Bankenvertretern in einem Modus diplomatischer Verhandlungen und der Vereinzelung wieder. Sie bewegten sich auf einem ihnen unbekannten Terrain, dessen Verhaltensnormen sie sich anzupassen und unterzuordnen hatten.231 Von den im Zusammenhang mit der Betriebsbesetzung geplanten Protestaktionen wie beispielsweise der Demonstration vor dem Hessischen Wirtschaftsministerium, an deren Durchführung ein Teil der Betriebsaktiven zur Untermauerung ihrer Forderung festhielt, nahmen sie aufgrund des mäßigenden Drucks von Franz Fabian Abstand, der vor den nachteiligen Konsequenzen einer solchen in seinen Augen radikalen Aktion für die anstehenden Verhandlungen warnte.232 Nachdem sich Franz Fabian am 6. März 1970 öffentlich aus dem Fall Süßmuth zurückgezogen hatte und gerade an jenen Protestaktionen, die Richard Süßmuth letztlich zum Einlenken bewegten, nicht beteiligt war, trat er unmittelbar nach der symbolischen Betriebsübergabe am 17. März 1970 wieder ins Geschehen ein und gab den Ton an.233 In den Verhandlungen über die Finanzierung und die Rechtsform nahm er die Rolle des Vermittlers ein. Der hessische Bezirksleiter wie auch die anderen Gewerkschaftsfunktionäre des IG-Chemie-Bezirks Hessen akzeptierten die sehr hoch gesteckten Unternehmensziele, auf die sich das Belegschaftsunternehmen als Voraussetzung für die 228 Entwurf Satzung Verein der Beschäftigten der GHS GmbH, undatiert [Juli 1970], in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 5f.; Satzung Verein der Beschäftigten (s. Anm. 227). 229 Protokoll Gründungsversammlung des Vereins der Beschäftigten der GHS GmbH [Version 2], 15. Oktober 1970, in: FHI, Schöf-1221, S. 2. 230 [Manfred Hübner] zitiert in [Schmitz] et al., 20. März 1973 (s. Anm. 94), S. 6.; Siehe Kapitel 4.3. 231 Als bspw. die Belegschaftsdelegation aufgrund von Verzögerungen bei der Anreise aus Immenhausen zu einem Treffen in Wiesbaden mit Verspätung eintraf, habe sie »gleich einen Elf-Meter bekommen«. Von den Ministerialbeamten seien sie belehrt worden: »Wenn man zu so einer Verhandlung kommt, dann reist man einen Abend vorher an.« [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 87), S. 5f. 232 [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 16), S. 13, 22. 233 Bereits auf der von den Betriebsaktivisten vorbereiteten öffentlichen Podiumsveranstaltung am 19. März 1970 trat Fabian wieder als Wortführer auf, der Hintergründe und Zielstellungen der zukünftigen Arbeiterselbstverwaltung vortrug. »Der neue Weg der Glashütte Immenhausen. Podiumsrunde befasste sich mit der Sanierung und künftigen Form des Unternehmens«, in: Hessische Allgemeine, 21. März 1970, in: AGI.

Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth (Frühjahr 1969 bis Herbst 1970)

Kreditbürgschaften verpflichten musste und die dessen Handlungsspielraum von Beginn an stark einschränkte. Zugleich übergingen sie kollektive Beschlüsse der Beschäftigten. Dies betraf neben ihren Vorschlägen zur Organisationsstruktur auch ihre in der Übernahmephase getroffenen Entscheidungen hinsichtlich des Leitungspersonals, die nun zum Teil mit jenen der Gewerkschaftsfunktionäre kollidierten, zu dessen Bedingung wiederum das Land Hessen die Ausfallbürgschaft gewährt hatte.234 Zu heftigen Konflikten mit den Betriebsaktivisten kam es auch über die Frage nach der Herkunft des für die ursprünglich geplante Neugründung der GmbH notwendigen Stammkapitals, die personalisiert zwischen dem Bezirksleiter Franz Fabian und dem Kasseler Verwaltungsstellenleiter Werner Schepoks ausgetragen wurden, im Kern aber bereits die grundlegende Frage nach der Entscheidungshoheit in der zukünftig selbstverwalteten Glashütte aufwarfen. Für die Gründung einer GmbH war zum damaligen Zeitpunkt ein Mindesthaftkapital von 20.000 DM notwendig, wovon zunächst ein Anteil von 5.000 DM einzuzahlen war.235 Während Fabian vorschlug, dass hauptamtliche Funktionäre der IG Chemie Hessen als »provisorische Gesellschafter« der Belegschafts-GmbH fungieren und die finanzielle Vorleistung aufbringen,236 hatten die Beschäftigten unterdessen den für die zu gründende GmbH benötigten Geldbetrag in einer unbezahlten Sonderschicht erarbeitet. Fabian erfuhr davon erst, als dieser in Form einer Spende auf dem Konto des IG-ChemieHauptvorstands einging, und stellte Schepoks daraufhin zur Rede.237 Schepoks erklärte, dass »[d]ie Belegschaft […] unter Beweis stellen [wollte], dass zum gegebenen Zeitpunkt unaufgefordert die finanzielle Seite hinsichtlich des Gesellschafteranteils gelöst ist.«238 In diesem Vorgehen konnte Fabian keinen Akt der Selbstbestimmung erkennen, mit dem die Belegschaftsmitglieder in Anspruch nahmen, mitentscheiden und mitwirken zu wollen. Vielmehr sah er hierin ein durch unbezahlte Arbeitsstunden faktisches Unterwandern tariflicher Standards und war im Folgenden umso stärker bemüht, die Kontrolle über die Ereignisse in dem von ihm als Modell verstandenem Unternehmen (wieder) zu erhalten.239

2.4 Zwischenfazit Zur Abwendung des drohenden Konkurses begannen die Beschäftigten der Glashütte Süßmuth seit Frühjahr 1969 Verantwortung für ihren Betrieb zu übernehmen und sich diesen auf Ebene der Praktiken in neuer Intensität anzueignen. Die Betriebsübernahme durch die Belegschaft erfolgte nicht auf Grundlage einer zuvor existierenden Idee oder politischen Agenda. Die Forderung nach Selbstverwaltung konkretisierte sich vielmehr

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Siehe Kapitel 4.2. Folgendes aus Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 16), S. 10–11. »Chemiearbeiter übernehmen Glashütte Süssmuth«, in: Gewerkschaftsspiegel, Juli 1970, in: AGI. Franz Fabian an Werner Schepoks, 15. April 1970, in: FHI, Schöf-1221. Werner Schepoks an Franz Fabian, 17. April 1970, in: FHI, Schöf-1221. Siehe Kapitel 3.2.

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in den Dynamiken der betrieblichen und zunehmend politisierten Auseinandersetzungen im Kontext der Unternehmenskrise sowie im Zuge der hierdurch angestoßenen und forcierten Verständigungs- und Erkenntnisprozesse. Indem sie nach dem Ausscheiden des alten Betriebsleiters zuvor ignorierte Verbesserungsvorschläge umsetzen konnten, gelang es den Beschäftigten, die Produktion nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern auch zu verbessern. Für die Rechtfertigung ihrer Forderung nach Selbstverwaltung war diese geteilte Erfahrung sowohl innerhalb der Belegschaft als auch gegenüber den Vertretern der Gewerkschaft und des Landes Hessen von zentraler Bedeutung. Bei den potenziellen Bürgen konnte die Belegschaft hierdurch eine gewisse Kreditwürdigkeit herstellen, die der alte Eigentümer aufgrund seiner Uneinsichtigkeit zeitgleich endgültig verlor. Bis zum Schluss hatte Richard Süßmuth sich einem Rückzug aus der Geschäftsführung verweigert und damit die Verhandlungen zur Fortführung der Firma als Familien-KG blockiert – eine Option, die auf kommunal-, landes- wie bundespolitischer Ebene prominente Unterstützer gefunden und daher einige Wahrscheinlichkeit auf Erfolg gehabt hatte. In Umkehrung seiner Intention trug Süßmuth somit selbst dazu bei, dass die Belegschaftsübernahme als einzige Option zur Rettung seines Unternehmens übrigblieb. Dass der Ablauf der Betriebsübernahme nicht bis ins letzte Detail rekonstruierbar ist, hängt unmittelbar damit zusammen, dass die beteiligten Personen mit unterschiedlichen Risiken zum Teil den Bereich des Legalen überschritten. Dies betraf nicht allein die informellen Absprachen zwischen den Beamten des Hessischen Wirtschaftsministeriums und den Funktionären der IG Chemie, sondern insbesondere auch das Handeln der Betriebsaktivisten. Drohende Entlassungen und Schadensersatzforderungen infolge eines Bruchs mit arbeitsrechtlichen Bestimmungen bei der Durchführung ihrer Protestaktionen stellten für sie eine existenzielle Gefahr dar. Praktiken der »Unsichtbarmachung der inneren Kommunikation« zur »Verwischung der Spuren«, die »Hereinnahme des Einzelnen in die Verantwortung des Kollektivs« sowie der »Rückgriff auf die Figur des in einer bestimmten Person ›verkörperten Willens‹«, wie sie Peter Birke als »Teil der ambivalenten Tradition der wilden Streiks« in der Bundesrepublik herausgearbeitet hat, lassen sich auch in den Auseinandersetzungen um die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth beobachten.240 Die eingangs dargelegten, die Belegschaftsübernahme auf einzelne Akteure oder Gruppen reduzierenden Narrative gilt es dementsprechend zu historisieren und hierbei eben jene Verhältnisse im Blick zu behalten, in denen sich diese konstituierten und Wahrnehmungen der Wirklichkeit strukturierten. Der Erfolg ihrer kollektiven Bemühungen um den Erhalt der Arbeitsplätze und des Unternehmens stellte für die Beschäftigten der Glashütte Süßmuth einen Aufbruch dar. In unterschiedlichen Formen hatten sie während der Übernahmephase begonnen, ihre Vorstellungen und Bedürfnisse bei der Gestaltung ihres Arbeitsplatzes einzubringen. Sie trugen dabei nicht nur ihren Arbeitserfahrungen und den Besonderheiten der Fertigung in einer Mundglashütte Rechnung, sondern korrespondierten hierin zugleich mit den zeitgenössischen Auseinandersetzungen über die Demokratisierung in Wirtschaft und Gesellschaft. Den Beschäftigten war es gelungen, den Betrieb nach außen hin zu öffnen und der in eine Pattsituation geratenen betrieblichen Auseinandersetzung eine politische Dimension zu verleihen. Die Politisierung der Auseinandersetzung im Fall 240 Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 61), S. 244.

Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth (Frühjahr 1969 bis Herbst 1970)

Süßmuth erfolgte in einem um »1968« spezifisch konfigurierten gesellschaftlichen Resonanzraum, der maßgeblich zum Erfolg der Belegschaftsinitiative beigetragen hatte und im nächsten Kapitel zu beleuchten ist. Die zwischen dem Belegschaftsunternehmen, dem Land Hessen, den Banken und Bürgen unter Vermittlung durch die Gewerkschaftsfunktionäre finanziell wie juristisch prekär abgesicherte Selbstverwaltungsstruktur war indes bereits Ausdruck einer absehbaren Schließung. Für die künftig demokratische Unternehmensführung resultierten hieraus Rahmenbedingungen und Abhängigkeiten, die zwar die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth überhaupt erst ermöglichten, für deren Entfaltung zugleich aber enge Grenzen setzten.

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3. Zwischen Solidarität und Abwehr. Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

Der Fall Süßmuth wurde im Frühjahr 1970 zum Politikum. »Die Wellen, die von den Ereignissen in der hessischen Kleinstadt ausgingen, schlugen bis in den Hessischen Landtag und selbst in den Bundestag.«1 Ausgelöst wurden diese »Wellen« durch die intensivierten Bemühungen der Belegschaft und des Unternehmers Richard Süßmuth, über die ihnen zur Verfügung stehenden Netzwerke Unterstützung für ihre Anliegen zu erhalten. Standen im vorherigen Kapitel die betrieblichen Entwicklungen und Faktoren im Fokus, die zur erfolgreichen Belegschaftsübernahme beitrugen, soll sich dieser nun aus der Perspektive des außerbetrieblichen Umfelds genähert werden. Es gilt die spezifischen Verhältnisse der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu beleuchten, unter denen die Übernahme eines Betriebs durch die Belegschaft – in der Geschichte der Bundesrepublik erstmals und nahezu einmalig – erfolgreich sein konnte. Vier Jahre später waren diese – wie der im Herbst 1974 letztlich gescheiterte Übernahmeversuch der Belegschaft des Kristallglaswerks Hirschberg im hessischen Stadt Allendorf zeigt – schon nicht mehr vorhanden.2

3.1 Das Land Hessen und die SPD Die erste erfolgreiche Belegschaftsübernahme im »roten Hessen« schien in das Bild zu passen, das sich in der Öffentlichkeit von dem »sozialdemokratischen Modellstaat« bis dahin verfestigt hatte.3 Von 1946 bis 1987 durchgehend von SPD-Ministerpräsidenten 1 2

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Typoskript »Machen wir heute, was morgen erst schön wird«, Hörspiel und Diskussion mit Erasmus Schöfer im HR, 17. März 1980, in: FHI, Schöf-1215, S. 3f. Zum Fall Hirschberg, auf den im folgenden Kapitel punktuell verwiesen wird, siehe ausführlich Christiane Mende, »Den Betrieb übernehmen. Belegschaftsinitiativen in der Mundglasbranche«, in: Sozial.Geschichte Online (im Erscheinen). Siehe Wolfgang Schroeder, »Die hessische SPD zwischen Regierung und Opposition«, in: Ders. (Hg.), Parteien und Parteiensystem in Hessen. Vom Vier- zum Fünfparteiensystem?, Wiesbaden 2008, S. 77; Wolfgang Schroeder, »Hessisches Parteiensystem im Wandel. Eine Einleitung«, in: Ders., Parteien (s. ebd.) S. 19.

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regiert, wurde Hessen nach Ende des Zweiten Weltkriegs in den westlichen Besatzungszonen zu einem Terrain, in dem sich der Spirit of  ’45 am weitreichendsten niederschlug.4 Die aktive Rolle von Großindustriellen während der NS-Diktatur hatte die politischen Kräfte im besiegten Deutschland kurzzeitig in der Überzeugung geeint, dass die Vorherrschaft privater Monopole und Konzerne überwunden werden müsse. Führende Sozialdemokraten, Vertreter der Gewerkschaften und selbst Teile der CDU forderten die Entflechtung von Großbetrieben und deren Überführung in Gemeineigentum, eine demokratische Lenkung der Wirtschaft und betriebliche Mitbestimmung.5 Aber nur in Hessen kam es »zur praktischen Umsetzung der […] Sozialisierungspläne.«6 Die hessische Landesverfassung vom 1. Dezember 1946 legte im Artikel 41 die Sozialisierung von zentralen Infrastrukturbereichen fest.7 Artikel 39 sah bei »Missbrauch der wirtschaftlichen Freiheit – insbesondere zu monopolistischer Machtzusammenballung und zu politischer Macht« – die Überführung von Unternehmen in Gemeineigentum vor.8 Bei der Volksabstimmung zeitgleich zur Wahl des ersten Hessischen Landtags votierte die Mehrheit (76,8 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen) für die Annahme der Gesamtverfassung und für den Sozialisierungsartikel (72 Prozent).9 Aufgrund fehlender gesetzlicher Ausführungsbestimmungen wurden Sozialisierungen aber nur in sehr begrenztem Umfang umgesetzt und in diesen wenigen Fällen bald wieder revidiert.10 Die Artikel 39 und 41 stehen als funktionslose, lediglich symbolische Relikte der Sozialisierungspolitik bis heute in der hessischen Verfassung. In den Auseinanderset-

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Unter dem Titel Spirit of  '45 thematisiert Ken Loach die britische Geschichte der Verstaatlichung wichtiger Industriezweige durch die 1945 neugewählte und bis 1951 amtierende Labour-Regierung. Ken Loach, The Spirit of  '45 (Dokumentarfilm), 2013. Siehe Ahlener Programm der CDU der britischen Zone vom 3. Februar 1947. Detlev Heiden, Sozialisierungspolitik in Hessen 1946–1967. Vom doppelten Scheitern deutscher Traditionssozialisten und amerikanischer Industriereformer, Münster 1997, S. 9. Verfassung des Landes Hessen vom 1. Dezember 1946, Artikel 41. Ebd., Artikel 39. Heiden, Sozialisierungspolitik (s. Anm. 6), S. 190. Auch in der 1950 zur Wahl gestellten Landesverfassung Nordrhein-Westfalens wurden Sozialisierungsbestimmungen verankert, die aber nicht zur Anwendung kamen. Uwe Fuhrmann, Die Entstehung der »Sozialen Marktwirtschaft« 1948/49. Eine historische Dispositivanalyse, Konstanz 2017, S. 97–100. Bereits 1949 war die Reichweite der Sozialisierung »auf nur noch elf Betriebe der Energiewirtschaft, neun Verkehrsbetriebe und ein Kaliunternehmen geschrumpft«. Die Mehrheit der Großunternehmen hatte sich erfolgreich gegen Sozialisierungsversuche zur Wehr gesetzt – auch weil das Land Hessen »harte Auseinandersetzungen« gescheut hatte. Die Teilsozialisierung der Buderus’schen Eisenwerke in Wetzlar war auf die Krisensituation in der Nachkriegszeit und auf das betriebswirtschaftliche Kalkül der Alteigentümer zurückzuführen. In Gemeineigentum überführt wurden hier allein die verlustreich wirtschaftenden Gruben- und Hüttenwerke, die dem weiterhin im Privatbesitz verbleibenden rentablen Unternehmensteil der Weiterverarbeitung die Rohstoffbasis sicherten. Die Reprivatisierung dieses (sich wieder positiv entwickelnden) Betriebs 1965 »zu einem sehr günstigen Kaufpreis« besiegelte das Ende der hessischen Sozialisierungspolitik »mit MillionenVerluste[n]«. Heiden, Sozialisierungspolitik (s. Anm. 6), S. 799f., 809, 783, 814–817.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

zungen um die Belegschaftsübernahmen der Glashütte Süßmuth im Jahr 1970 und des Kristallglaswerks Hirschberg im Jahr 1974 gewannen sie für kurze Zeit an Aktualität.11 Bei beiden Belegschaftsinitiativen zur Abwendung des drohenden Unternehmenskonkurses kam dem Land Hessen eine Schlüsselposition zu, da über den Einsatz von Wirtschaftsfördermitteln in der Regel in den Bundesländern entschieden wurde. Die Hessische Landesregierung reagierte in beiden Fällen sehr zurückhaltend. Im Gegensatz zur Hirschberg-Belegschaft war es der Süßmuth-Belegschaft gelungen, eine gewisse Kreditwürdigkeit für ihr Anliegen herzustellen. Einen Teil der Erklärung hierfür liefert die personelle und politische Konstellation in den hessischen Landesministerien, die wegen der Informalität der Vorgänge vor allem aus den mündlichen Quellen und nur kursorisch rekonstruierbar ist. Im Fall Süßmuth lassen sich folgende Positionen gegenüber der Belegschaftsübernahme unterscheiden: Die Mehrheit der Landesvertreter betrachtete das Anliegen mit pragmatischer Skepsis und wollte sich auf das finanzielle wie politische Risiko – das sowohl angesichts der Konkursreife des Unternehmens als auch aufgrund der Neuartigkeit der demokratischen Unternehmensführung gesehen wurde – gar nicht erst einlassen.12 Um so erklärungsbedürftiger ist daher, dass das Kabinett dem Bürgschaftsantrag der Süßmuth-Belegschaft im April 1970 zustimmte.13 Zünglein an der Waage war hier die Haltung des Hessischen Wirtschaftsministeriums unter der Leitung von Rudi Arndt, der dem linken Flügel der SPD angehörte. Nach längeren Verhandlungen habe sich das Wirtschafts- gegen das Finanzministerium durchsetzen können, das bei der Vergabe von Fördermitteln generell eine restriktive Haltung einnahm.14 Auch der seit September 1964 amtierende Wirtschaftsminister Arndt lehnte die Übernahmepläne ab, untermauerte dies aber mit einer linken Kritik: »Wenn die Sache schiefgeht, sagen die Leute gleich, der ganze Sozialismus ist Mist.«15 Zweifel habe er »nicht an dem Unternehmensmodell [gehegt], sondern an der strukturellen Zukunftsaussicht dieser Industriesparte.«16 Wären »die Arbeitnehmer der Farbwerke Hoechst [mit diesem Anliegen] zu [ihm] gekommen«, hätte er »sofort ja gesagt«, erklärte Arndt auf einer Diskussionsveranstaltung der Staatlichen Höheren Wirtschaftsfachschule 11

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Siehe Kapitel 2.2. Im Fall Hirschberg wurden dahingehende Forderung bspw. seitens der DKP Marburg-Biedenkopf formuliert. Ulrich Stang an die Fraktionen von SPD und FDP im Hessischen Landtag, 5. August 1974, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner. [Hans Müller] in Transkript Erstes Treffen von Erasmus Schöfer mit der Belegschaft der GHS, 19. März 1973, im Besitz der Autorin, S. 1f.; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Jürgen Schmitz], [Manfred Hübner] und [Willi Voigt], 20. März 1973, im Besitz der Autorin, S. 3f.; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Werner Schepoks, 1. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 8, 10. Rudi Arndt an IG Chemie Hauptvorstand, 6. Mai 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2f. [Schmitz] et al., 20. März 1973 (s. Anm. 12), S. 6; Transkript Gruppeninterview der Autorin mit [Dieter und Sabine Vogt], 17. Mai 2014, im Besitz der Autorin, S. 2. Rudi Arndt zitiert in Peter Espe, »Exempel Süssmuth. Mit Sozialismus nichts zu tun«, in: Handelsblatt, 28. Juli 1970, in: FHI, Schöf-1225; Ebenso Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Franz Fabian, 22. April 1974, im Besitz der Autorin, S. 6. Vermerk IG Chemie Hauptvorstand, 6. April 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2; Ebenso Rudi Arndt in Joachim Neander, »Streit um die verschuldete Glashütte Immenhausen. Geeignetes sozialistisches Modell?«, in: Die Welt, 3. Juni 1970, in: AGI.

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Teil I: Die Entstehungsbedingungen der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

in Frankfurt am Main.17 In einem »so abgewirtschafteten Betrieb« wie der Glashütte Süßmuth dagegen sah er »kein[en] besonders glücklich gewählte[n] Modellfall eines in das Eigentum der Arbeitnehmer überführten Unternehmens«.18 »Wenn Arndt alleine entschieden hätte, dann wär es nie dazu gekommen«, erinnerte sich [Hans Müller] und verweist damit auf die dritte Position innerhalb des Hessischen Wirtschaftsministeriums – die der aktiven Unterstützung durch einzelne, sehr engagierte Beamte wie Alfred Härtl.19 Der Verwaltungsjurist und ebenfalls dem linken SPD-Parteiflügel angehörende Härtl besaß durch seine Mitgliedschaft im Vorstand der Amberger Flaschenhütten AG von 1962 bis 1965 einen Bezug zur Branche und schien angesichts der hochqualifizierten Facharbeiterschaft der Glashütte Süßmuth vom Erfolg einer Belegschaftsübernahme überzeugt gewesen zu sein. Arndt hatte den »Wirtschaftsfachmann« 1965 in das Hessische Wirtschaftsministerium berufen, ihn 1966 zum leitenden Ministerialrat und im darauffolgenden Jahr zum Staatssekretär befördert.20 Generell seien die persönlichen Verbindungen zwischen den Beamten im Wirtschaftsministerium sehr eng gewesen.21 Der damals 39-jährige Wirtschaftsminister »scharte« eine Gruppe von jungen Sozialdemokraten mit ökonomischer Expertise um sich, zu der auch [Dieter Vogt] gehörte. [Vogt] hatte nach Abschluss seines BWL-Studiums 1965 eine Tätigkeit als Hilfsreferent im Wirtschaftsministerium aufgenommen, war seit 1967 als Referent auf dem Gebiet der öffentlichen Finanzierungshilfen tätig, wurde im November 1969 zum Oberregierungsrat und kurz darauf als Geschäftsführer der Hessischen Landesentwicklungs- und Treuhandgesellschaft mbH (HLT) zum leitenden Ministerialrat befördert. Zeitgleich erfolgten grundlegende Reformen der HLT, durch die das Land Hessen von Kreditrisiken entlastet werden sollte und die den Handlungsspielraum für die Befürworter der Übernahmeidee erweiterten.22 In dieser mit neuen Kompetenzen ausgestatteten Institution setzte sich [Vogt] für eine Förderung der Belegschaftsübernahme ein.23

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Folgende Zitate von Rudi Arndt aus Adolf Karber, »Arndt: Hoechst wäre mir lieber. Minister schätzt Süßmuth-Erfolg gering ein«, in: FR, 1. Mai 1970, in: AGI. Die Diskrepanz zwischen Rudi Arndt und Franz Fabian, inwiefern dem Fall Süßmuth eine gesellschaftspolitische Bedeutung beizumessen ist, wurde thematisiert in Die Welt, 3. Juni 1970 (s. Anm. 16). [Hans Müller] zitiert in Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Hans und Ursula Müller], 2. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 19. Auch in der hessischen Sozialisierungspolitik der Nachkriegszeit spielten nicht »die exponierten sozialdemokratischen Landespolitiker oder Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre, sondern unauffällig agierende Ministerialbürokraten […] die heimliche Hauptrolle auf Seiten der Sozialisierungsanhänger.« Heiden, Sozialisierungspolitik (s. Anm. 6), S. 811. Folgendes aus Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 15), S. 18; Bericht Franz Fabian an IG Chemie Hauptvorstand, 5. Januar 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2; [Müllers], 2. September 1973, S. 17–19. »Alfred Härtl«, in: Munzinger Online/Internationales Biografisches Archiv, 2009, Online: www.munzinger.de/document/00000012095. Folgendes aus [Vogts], 17. Mai 2014 (s. Anm. 14). Siehe Kapitel 1.6; Rudi Arndt an Albert Osswald, 6. Januar 1969, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 13998; Geschichte der HLT 1951–1971, in: Protokoll HLT-Aufsichtsrat, 21. Juli 1972, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 11534, S. 15f. Siehe Schriftverkehr im Rahmen der Kreditverhandlungen vom März bis Juni 1970 in: FHI, Schöf-1221.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

Zu den Unterstützern zählte auch [Udo Kohler], der Ende der 1960er Jahre als Referent im Hessischen Wirtschaftsministerium begann.24 Dass sich der Wirtschaftsminister im interministeriellen Kreditausschuss trotz seiner grundsätzlichen Skepsis schließlich dafür einsetzte, der Landesregierung die Annahme des Antrags der Glashütte Süßmuth zu empfehlen, ging auf die Überzeugungsarbeit jener Beamten wie Härtl und [Vogt] zurück, die zu Arndt sehr gute Beziehungen unterhielten und bei ihm aufgrund ihrer fachlichen Expertise ein hohes Ansehen und Vertrauen genossen. Darüber hinaus traten der Landtagsabgeordnete und Direktkandidat der SPD Nordhessen Albert Weber sowie SPD-Kommunalpolitiker wie der Bürgermeister von Immenhausen Bernhardt Vocke und der Landrat von Hofgeismar Gerhard Arnold als Fürsprecher für den Erhalt des Unternehmens an sich auf.25 Einzelne Gewerkschaftsfunktionäre des DGB Hessen wie der damalige Landesvorsitzende Philipp Pless oder der Vorsitzende des Kreisverbands Kassel Heinz Jünemann setzten sich für die Belegschaftsübernahme ein.26 Schließlich hatte das Engagement des hessischen IG-Chemie-Bezirksleiters Franz Fabian, der für die SPD bei der im Herbst 1970 anstehenden Landtagswahl kandidierte, und dessen Unterstützung durch den stellvertretenden Hauptvorstandsvorsitzenden Werner Vitt die Entscheidung des Wirtschaftsministers (und die der Hessischen Landesregierung) maßgeblich beeinflusst.27 Anlässlich der Bewilligung einer 50-prozentigen Landesbürgschaft stellte Rudi Arndt im Mai 1970 gegenüber dem Hauptvorstand klar, dass »wir uns in die ganze Angelegenheit nur eingelassen haben, um der IG Chemie aus der schwierigen Situation, die durch das Hochpeitschen der ganzen Angelegenheit in der Öffentlichkeit entstanden ist, herauszuhelfen.«28 Die Auseinandersetzung in Immenhausen hatte allerdings auch für die sozialdemokratische Landesregierung an politischer Brisanz gewonnen. Der hessischen SPD, die in zwei Bezirksverbänden (Hessen-Süd und Hessen-Nord) organisiert war,29 befürchtete vor der Landtagswahl 1970 den Verlust ihrer absoluten Mehrheit. Die hessische CDU propagierte das Wahlkampfziel, in Hessen die »Bonner

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Mitte der 1980er Jahre war [Kohler] im HWMi der Ansprechpartner für das damals neue staatliche Förderprogramm für selbstverwaltete Betriebe. Vorstand der SPD (Hg.), Selbstbestimmt arbeiten. Materialien zum Genossenschaftswesen und zur Selbstverwaltungswirtschaft, Bonn 1985, S. 155. Bernhardt Vocke an Rudi Arndt, 5. August 1969, in: FHI, Schöf-1222; Bernhardt Vocke an [Hans Müller], 3. Oktober 1969, in: FHI, Schöf-1222; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] am 18. April 1973, im Besitz der Autorin, S. 7; Siehe Kapitel 2.1. Rudi Arndt an Karl Hauenschild, 24. März 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Heinz Jünemann an Albert Osswald, 17. März 1970, in: FHI, Schöf-1221. Siehe Korrespondenz Franz Fabian bzw. IG-Chemie-Bezirksleitung Hessen, Werner Vitt bzw. IG-Chemie-Hauptvorstand und Rudi Arndt bzw. HWMi, Frühjahr 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 15), S. 11f., 17; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Manfred Hübner], [Frank Weber], [Anna Thiele] und namentlich unbekanntem Betriebsratsmitglied, 26. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 7. Arndt, 6. Mai 1970 (s. Anm. 13), S. 2f. In Hessen standen traditionell »zwei starke Bezirke« einem »schwachen Landesverband« gegenüber. Schroeder, Hessische SPD (s. Anm. 3), S. 92, 92–96.

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Koalition aus den Angeln zu heben«.30 Besonderes Augenmerk lag dabei auf den nordhessischen Wahlkreisen: Zwischen den 1950er und 1970er Jahre zählten diese zwar zu den »Hochburgen der Sozialdemokratie«, wiesen zugleich aber eine gegenüber dem Bezirk Hessen-Süd konservative SPD-Wählerschaft und auch »besonders zahlreiche FDPAnhänger national-konservativen Gepräges« auf.31 Stimmenverluste für die hessische FDP wiederum, die als potenzielle Koalitionspartnerin der SPD zur Landtagswahl antrat, drohten die Stabilität der Regierungskoalition auf Bundesebene infrage zu stellen. Mit dem CDU-Vorwurf, die SPD stehe mit ihrem »Sozialismus marxistischer Prägung« nicht mehr »auf dem Boden des demokratischen Rechtsstaats«,32 berührte die Süßmuth-Belegschaft mit ihren öffentlichkeitswirksamen Aktionen und ihrer Bezugnahme auf die Sozialisierungsartikel der hessischen Verfassung einen neuralgischen Punkt. Kurz nachdem von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt das Kapitel hessische Sozialisierungspolitik mit der Reprivatisierung von Buderus endgültig abgeschlossen wurde,33 gewann um »1968« die alte Forderung nach einer Demokratisierung der Wirtschaft nicht nur an der betrieblichen Basis, sondern auch im linken Flügel der SPD und der Gewerkschaften wieder an Bedeutung. Im Januar 1970 habe sich der DGB-Landesvorsitzende Philipp Pless, der als KPO-Mitglied während des NS im Widerstand aktiv war und seit 1958 für die SPD im Hessischen Landtag saß, öffentlich für die Verstaatlichung von Unternehmen ausgesprochen, wozu die Mitbestimmung eine Vorstufe sei.34 In den vor der symbolischen Übertragung des Betriebs durch Richard Süßmuth in der Frankfurter Rundschau und der Berliner Zeitung veröffentlichten Artikeln wurde der hessische IG-Chemie-Bezirksleiter Franz Fabian mit der Forderung nach »gesetzlichen Bestimmungen zur Überführung von Privatunternehmen in Gemeineigentum« zitiert, deren Notwendigkeit sich am Fall Süßmuth zeige.35 Im März 1970 verlangten die Bezirksverbände der Jungsozialisten Süd- und Nordhessens über den Einzelfall Süßmuth hinaus die gesetzgeberische Aktivierung der Sozialisierungsartikel der hessischen Landesverfassung sowie die Schaffung einer bundesweiten Gesetzesgrundlage, die es ermögliche, »herun-

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»Hessenwahl stärkt die Bonner Koalition. Überraschender Erfolg der FDP. SPD verliert absolute Mehrheit«, in: Die Zeit, 13. November 1970, Online: www.zeit.de/1970/46/hessenwahl-staerkt-diebonner-koalition. Schroeder, Hessische SPD (s. Anm. 3), S. 80, 94f.; »Wahlen Hessen. David ohne«, in: Der Spiegel, 2. November 1970) Online: www.spiegel.de/spiegel/print/d-44303075.html. Walter Wallmann (CDU) zitiert in Der Spiegel, 2. November 1970 (s. Anm. 31). Der Hessische Landtag beschloss 1965 die Veräußerung der Landesanteile an den Buderus’schen Eisenwerken. Geschichte der HLT 1951–1971 (s. Anm. 22), S. 14; Heiden, Sozialisierungspolitik (s. Anm. 6), S. 786, 802. Interne Information der CDU-Fraktion im Hessischen Landtag, 15. Januar 1970, in: ACDP, 02–154022/3. Philipp Pless (1906–1973) war 1946 zum »Vorsitzende[n] der Frankfurter Ortsgruppe und Sekretär der Arbeiterpartei (AP) um Heinrich Galm« ernannt worden. Erst nach »vergeblichen Versuchen eine eigenständige marxistische Partei zu gründen«, trat Pless 1952 der SPD bei. Hermann Weber und Andreas Herbst, Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 20082 , S. 681. Rolf Fischer, »Enteignungs-Möglichkeiten gefordert. Fabian wünscht gesetzgeberische Initiative«, in: FR, 12. März 1970, in: AGI; »Gewerkschafter fordern in Hessen Enteignung«, in: Berliner Zeitung, 13. März 1970, in: ZEFYS.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

tergewirtschaftete Betriebe zu enteignen und den Arbeitnehmern zu übergeben.«36 Der Bundesvorsitzende der Jungsozialisten Karsten Voigt trat in seinem Frankfurter Wahlkreis mit den Forderungen nach »Kommunalisierung von Grund und Boden« und einer »erweiterten Mitbestimmung in den Betrieben« nach dem Vorbild der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung zur Landtagswahl an.37 Konfrontiert mit den Ansinnen von links und einer erstarkenden Opposition von rechts hatte sich die Hessische Landesregierung im Politikum Süßmuth im ureigenen Interesse um eine Entschärfung der Angelegenheit zu bemühen. Vor dem Hintergrund der endgültig besiegelten »Liquidierung der Sozialisierung«, die in weiten Teilen der regierenden SPD mit Erleichterung begrüßt worden war,38 wird die offizielle Zurückhaltung – sowohl der Landesverbände als auch des Bundesverbandes – gegenüber der Belegschaftsinitiative verständlich. Deren Unterstützungsanträge fanden auf den Parteitagen der beiden SPD-Bezirke Ende März 1970 zwar mehrheitlich Zustimmung.39 Über die hierdurch bekundete »moralische Unterstützung« oder »plantonische Erklärungen« ging der Rückhalt der SPD indes nicht hinaus.40 Der Chef der Hessischen Staatskanzlei entgegnete den Enteignungsforderungen seitens der Süßmuth-Belegschaft, dass die Landesregierung »keinen Anlass [sah], eine offizielle Stellungnahme abzugeben«, er werde das Thema »möglicherweise in der nächsten Sitzung des Kabinetts zur Sprache bringen«.41 Auf dieser wurde jedoch nicht über die Sozialisierungsartikel verhandelt, sondern stattdessen die finanzielle Unterstützung der belegschaftseigenen Glashütte beschlossen. Im Namen der Hessischen Landesregierung hielt Wirtschaftsminister Arndt hierbei fest, dass diese Entscheidung allein aufgrund des Standorts der Glashütte im »Zonenrandgebiet« gefallen sei und »es einzig und allein um die Erhaltung der Arbeitsplätze in diesem strukturschwachen Gebiet geht, nicht aber um einen Modellfall«.42 Eine »solche Rettungsaktion durch das Land« sollte ein »krasse[r] Einzelfall« bleiben.43 Die sozialdemokratische Landesregierung agierte damit im Fall Süßmuth

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»Jungsozialisten bitten Wiesbaden um Hilfe für Glashütte«, in: FR, 17. März 1970, in: AGI; »Künftig Genossenschaftshütte. Belegschaft stimmt Übernahme der Firma Süssmuth zu«, in: Hessische Allgemeine, 18. März 1970, in: AGI; Fritz Seibert, »Der Sieg in der Glashütte. In Immenhausen übernehmen Arbeiter ihren Betrieb«, in: Unsere Zeit, 26. März 1970, in: AGI. »›Man wird uns den Fehlschlag anlasten‹. Interview mit Karsten Voigt«, in: Der Spiegel, 16. November 1970, Online: www.spiegel.de/spiegel/print/d-44906661.html. Heiden, Sozialisierungspolitik (s. Anm. 6), S. 786, 802. Protokoll Außerordentlicher Bezirksparteitag SPD Hessen-Nord, 21. März 1970, in: AdsD, Bestand Bezirk Hessen-Nord; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Franz Fabian, undatiert [1974], im Besitz der Autorin, S. 3f. [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 25), S. 7; Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 24. Günter Bovermann zitiert in FR, 17. März 1970 (s. Anm. 36). Arndt, 24. März 1970 (s. Anm. 26), S. 2; Arndt, 6. Mai 1970 (s. Anm. 13), S. 1; Ähnlich bereits [Arthur von Grube] (HWMi) bei einem Treffen am 9. Dezember 1969, siehe Fabian, 5. Januar 1970 (s. Anm. 19), S. 4. Auf diese Sprachregelung wurden Belegschaftsvertreter der GHS seitens SPD-Vertreter auch verpflichtet, als es 1973/1974 erneut um eine Kreditaufnahme ging. Transkript Gesellschafterversammlung, 13. November 1973, im Besitz der Autorin, S. 21; Protokoll Informationsgespräch mit hessischen Landtagsabgeordneten, 28. Januar 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. »Warum dieser Chef 280 Arbeitern seine Fabrik schenkt«, in: Neue Revue, 12. April 1970, in: AGI.

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in ähnlich fantasieloser Weise, wie sie Detlev Heiden hinsichtlich der Sozialisierungspolitik nach 1945 konstatiert. Damals sei die historische Chance vor allem aufgrund der »Konzeptlosigkeit der Traditionssozialisten« ungenutzt geblieben.44 Ebenso ließen die regierenden Sozialdemokraten Hessens um »1968« die Gelegenheit verstreichen, den Bereich der Wirtschaft entsprechend der eigenen Demokratisierungsansprüche zu gestalten und dahingehende Verlautbarungen umzusetzen. Das Ergebnis der hessischen Landtagswahl im Herbst 1970 schien den Skeptikern gegenüber einer neuen, wirtschaftsdemokratischen Politik innerhalb der SPD Recht zu geben. Nachdem der knapp zwei Jahrzehnte lang regierende »Landesvater« und einstige NS-Widerstandskämpfer Georg August Zinn im Frühjahr 1969 einen Schlaganfall erlitten hatte, wurde Albert Osswald, gegen den sich »Zinn lange gesträubt hatte«, im Oktober 1969 zu seinem Nachfolger bestimmt.45 Der gelernte Kaufmann Osswald hatte sich parteiintern gegen seinen linken Kontrahenten Rudi Arndt durchgesetzt. Als Ministerpräsidentschaftskandidat für die SPD erhielt Osswald bei der Wahl 1970 die meisten Stimmen, die Partei hatte jedoch im Vergleich zur Wahl 1966 fünf Prozent der Stimmen verloren und koalierte nun entsprechend der bundespolitischen Linie mit der FDP.46 Die Anhänger des rechten Flügels der SPD, die sich als Freunde des Godesberger Programms zusammengeschlossen hatten, erklärten den »desaströsen Ausgang« der Landtagswahl mit den »radikalen Parolen« des linken Parteiflügels, die »die Wähler verschreckt« hätten.47 In den Richtungskämpfen der 1970er Jahren setzte sich der rechte Flügel durch.48 Unter der neuen sozialliberalen Landesregierung Hessens musste der frühere Wirtschaftsminister Rudi Arndt sein Amt an Heinz-Herbert Karry von der FDP abgeben. Arndt wurde Finanzminister, bekleidete dieses Amt jedoch nur bis zum Frühjahr 1972, da er im Dezember 1971 die Oberbürgermeisterwahl in Frankfurt am Main gewonnen hatte.

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Den »Legenden um die ›suspendierte‹ Sozialisierung« und den Mythos eines amerikanischen Sozialisierungsverbots als Grund für das Scheitern der hessischen Sozialisierungspolitik stellt Heiden die »Konzeptlosigkeit« und fehlende Entschlossenheit einer dem »programmatischen Konservatismus verpflichtete[n] Tradition der deutschen Arbeiterbewegung« gegenüber. Tatsächlich hatte die US-Militärregierung mit einem Beschluss vom 6. Dezember 1948 die Sozialisierung der Braunkohlebergwerke sowie der Eisen- und Stahl-Industrie temporär gestoppt. Hierdurch wurde der Hessischen Landesregierung jedoch vor allem ein Problem abgenommen. Heiden, Sozialisierungspolitik (s. Anm. 6), S. 10, 13–19, 789–801. HHStAW (Hg.), Georg August Zinn. Ministerpräsident 1950–1969, Wiesbaden 2001; Zitat aus »Albert Osswald«, in: Munzinger Online/Internationales Biografisches Archiv, 1996, Online: www.munzinger.de/document/00000010234. Hessische Wahlergebnisse 1946–2008 in: Schroeder, Parteien (s. Anm. 3), S. 396f. Manfred Kittel, Marsch durch die Institutionen? Politik und Kultur in Frankfurt nach 1968, München 2011, S. 324; Nach Wahlausgang entstand in der SPD-Bundestagsfraktion eine regelrechte »Hexenjagd-Stimmung« gegen die Parteilinke, siehe »SPD. Die Teufel«, in: Der Spiegel, 16. November 1970, Online: www.spiegel.de/spiegel/print/d-44906654.html. Gerhard Ziegler, »Hessens neue Männer. Der ›rote Olaf‹ war zu rot«, in: Die Zeit, 24. Oktober 1969, Online: www.zeit.de/1969/43/der-rote-olaf-war-zu-rot; Für die SPD in Frankfurt a.M.: Kittel, Marsch (s. Anm. 47), S. 325. Mit Holger Börner übernahm 1977 ein Vertreter des rechten Flügels das Amt des Hessischen Ministerpräsidenten, der Helmut Schmidts Linie einer »ideologieeindämmenden Politik« verfolgte und eine »realpolitische Krisenpolitik« einläutete. Schroeder, Parteien (s. Anm. 46), S. 81–83, 105.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

Sein Nachfolger wurde Heribert Reitz, der innerhalb der SPD »eher zur politischen Mitte« gehörte und »als Pragmatiker« galt.49 Kurz zuvor war Alfred Härtl als Staatssekretär ausgeschieden und zur Dresdner Bank AG gewechselt.50 Der Geschäftsführer der HLT [Dieter Vogt] arbeitete – nach seiner Wahl zum Stadtkämmerer durch die Stadtverordnetenversammlung – seit Juli 1972 in der Frankfurter Kommunalverwaltung.51 Auch innerhalb der HLT rückte Karry nahestehendes Personal nach.52 Diese Veränderungen der politischen wie personellen Konstellationen innerhalb der hessischen Landespolitik und der hessischen SPD sollten sich auf die Existenzbedingungen der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth negativ auswirken und trugen im Fall Hirschberg letztlich zum Scheitern der Belegschaftsinitiative bei.

3.2 Die Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik Die im Gegensatz zur SPD öffentlichkeitswirksame Unterstützung der Belegschaftsübernahme durch einzelne Funktionäre der IG Chemie-Papier-Keramik sowie deren Rückendeckung durch den geschäftsführenden Hauptvorstand war bemerkenswert. Der Kasseler Verwaltungsstellenleiter Werner Schepoks, der hessische Bezirksleiter Franz Fabian sowie ein Hauptvorstand, der sich grundsätzlich zur Unterstützung bei der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten bereit erklärte, trugen maßgeblich zur erfolgreichen Belegschaftsübernahme der Glashütte bei. Damit verweist der Fall Süßmuth auf ein Kapitel in der Geschichte der IG Chemie, das in deutlichem Kontrast zur arbeitgeberfreundlichen Politik der Nachfolgegewerkschaft IG Bergbau-Chemie-Energie steht. Dass die IG Chemie bis Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre »das Erscheinungsbild einer gleichermaßen linksaußen von der SPD und im DGB […] stehenden Organisation ab[gab],« ist nahezu in Vergessenheit geraten.53

Die IG Chemie nach 1945 Aufgrund ihrer Herkunft aus den Verbänden der ungelernten Fabrikarbeiter sowie der Glas- und Porzellanarbeiter vertrat die IG Chemie im Zuge ihrer Reorganisation nach 1945 sehr unterschiedliche Industriegruppen.54 Hierzu gehörten neben der chemischen 49

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Reitz blieb bis 1984 im Amt und verweigerte seine Beteiligung an einer rot-grünen Regierung unter Holger Börner, die er scharf kritisierte. »Heribert Reitz«, in: Munzinger Online/Internationales Biografisches Archiv, 2018, Online: www.munzinger.de/document/00000013294. Härtl war bei der Dresdner Bank seit 1971 als Generalbevollmächtigter tätig und wurde 1974 zum Präsidenten der Landeszentralbank Hessen berufen. Munzinger Online, Härtl (s. Anm. 20). Protokoll Aufsichtsrat (HLT), 8. Mai 1973, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 11536, S. 197; [Vogts], 17. Mai 2014 (s. Anm. 14), S. 1. [Vogts], 17. Mai 2014 (s. Anm. 14), S. 3, 6. Jürgen Kädtler und Hans-Hermann Hertle, Sozialpartnerschaft und Industriepolitik. Strukturwandel im Organisationsbereich der IG Chemie-Papier-Keramik, Opladen 1997, S. 82; Ebenso Günter Braun, Schichtwechsel. Arbeit und Gewerkschaft in der Chemie-Stadt Ludwigshafen, Mannheim 1994, S. 148. Hermann Weber, Hundert Jahre Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik. Von den Verbänden der ungelernten Fabrikarbeiter, der Glas- und Porzellanarbeiter zur modernen Gewerkschaftsorganisation (1890–1990), Köln 1990.

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Industrie die Kunststoff-, Kautschuk- und Papier-Industrie, die feuerfeste und feinkeramische Industrie sowie die Glasindustrie.55 Bis in die 1960er Jahre konnte die Gewerkschaft in den großen Betrieben der Chemiebranche nur wenige Mitglieder gewinnen. In den restlichen Industriesparten – den eher mittelständisch geprägten Wirtschaftszweigen wie der Glasindustrie – war der Organisationsgrad hingegen sehr hoch. In den 1970er Jahren begann eine »Chemisierung der IG Chemie«: In der expandierenden Chemie- und Kunststoffbranche gab es einen starken Mitgliederzuwachs, während die Beschäftigtenzahlen und damit auch die Mitgliederentwicklung in den in die Krise geratenen »Traditionsbranchen« stagnierten bzw. rückläufig waren. Anders als in den von Rob Paton untersuchten Fallbeispielen, wurde die Belegschaftsübernahme in Immenhausen nicht von einer Gewerkschaft begleitet, die sich angesichts von Lohnkürzungen, Massenentlassungen und Betriebsschließungen in der Defensive befand.56 Die IG Chemie hatte sich vielmehr bis Anfang der 1970er Jahre zu einer offensiv agierenden Gewerkschaft entwickelt, die nicht nur tarifpolitische Erfolge erzielte, sondern auch mit einem gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruch auftrat. Seit der Verabschiedung des Bad Godesberger Parteiprogramms 1959 und der Entwicklung der SPD von einer Arbeiter- zu einer Volkspartei stand die links-sozialdemokratisch geprägte IG Chemie zu ihr in kritischer Distanz. Programmatisch hielt sie an den »gewerkschaftlichen Neuordnungsvorstellungen [der Nachkriegszeit] wie [der] Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien« fest, engagierte sich innerhalb des DGB weiterhin für die gesetzliche Verankerung der paritätischen Mitbestimmung, schaltete sich »aktiv in die außerparlamentarische Bewegung gegen die Notstandsgesetze« ein und übte grundlegende Kritik an der Beteiligung der SPD an der Großen Koalition seit 1966.57 Die Forderung nach einer Demokratisierung der Gesellschaft prägte auch die eigenen Organisationsstrukturen. Das Bewusstsein »Wir sind die Gewerkschaft« an der betrieblichen Basis zu verankern, gehörte zu den Leitlinien des Neuanfangs nach 1945.58 Seit Anfang der 1950er Jahre bemühte sich die IG Chemie, die Beziehungen zu den Beschäftigten zu intensivieren, sie setzte hierbei – als vom Betriebsverfassungsgesetz unabhängiges Gegengewicht zu den häufig betriebszentrierten Betriebsräten – auf die Vertrauensleute.59 Deren Leitungen wurden in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in die Gewerkschaftsorganisation integriert und an wichtigen gewerkschaftsinternen Entscheidungen beteiligt.60 Durch eine betriebsnahe Tarifpolitik sollten die

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Folgendes aus Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 53), S. 25–43, 16f. Rob Paton, Analysis of the Experiences of and Problems Encountered by Worker Take Overs of Companies in Difficulty or Bankrupt. Main Report, Luxembourg 1987, S. 11–13. Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 53), S. 82. Schlusswort in Geschäftsbericht IG Chemie Bezirksleitung Hessen 1950–1952, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 22, [Herv.i.O.]. Folgendes aus Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 53), S. 69–73. Im Jahr 1966 erhielten die Vertrauensleute laut Satzung des Gewerkschaftstages ein Antragsrecht auf den örtlichen Delegiertenversammlungen, 1969 wurden die Vertrauensleute-Leitungen als Organ in die Satzung aufgenommen, was bei anderen DGB-Gewerkschaften nicht der Fall war. Ebd.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

Vertrauensleute direkt am tarifpolitischen Geschehen partizipieren.61 Auf Seiten der Arbeitgeberverbände lösten die Forderungen nach tariflicher Absicherung dahingehender Rechte der gewerkschaftlichen Vertrauensleute heftigen Widerstand aus, gegen den sich die IG Chemie letztlich nicht durchsetzen konnte.62 In nicht wenigen Betrieben, wie auch in der Glashütte Süßmuth, bildeten sich jedoch selbstbewusst auftretende Vertrauensleute-Gruppen. Wie intensiv sich die Beziehung zwischen Organisation und betrieblicher Basis gestaltete, hing nicht zuletzt von den jeweiligen Funktionären ab. Die für Immenhausen zuständige Verwaltungsstelle Kassel und die benachbarte, innerhalb der IG Chemie als linksradikal geltende Verwaltungsstelle Hann. Münden waren besonders engagiert.63 Unter der Geschäftsführung von Hans Fischer und dessen Nachfolger Werner Schepoks fanden in Kassel seit Ende der 1950er Jahre regelmäßig gewerkschaftliche Schulungsveranstaltungen für die Vertrauensleute statt, um sie mit dem notwendigen Wissen für ihre Arbeit in der betrieblichen Interessenvertretung auszustatten. Zwischen den hauptamtlichen Funktionären der Verwaltungsstelle Kassel und den ehrenamtlich aktiven Gewerkschaftsmitgliedern der Glashütte Süßmuth entwickelte sich dadurch ein sehr enges Vertrauensverhältnis. Innerhalb der IG Chemie war die basis- bzw. betriebsorientierte Strategie nicht unumstritten.64 Bis Ende der 1960er Jahre wurde sie unter dem seit 1949 amtierenden Vorsitzenden Wilhelm Gefeller von einem Hauptvorstand getragen, dessen Mitglieder mehrheitlich bereits in der Weimarer Republik aktiv und durch ihre Erfahrungen im NS entscheidend geprägt waren. Nach 1945 waren sie am gewerkschaftlichen Wiederaufbau beteiligt, erlebten die »Restauration des Kapitalismus« und dessen Wiedergeburt als »soziale Marktwirtschaft« jedoch als Niederlage. Das Konzept der Sozialpartnerschaft kritisierten sie »scharf«, ja sie lehnten es ab. Die tarifpolitischen Erfolge der bundesdeutschen Gewerkschaftsbewegung beurteilten sie skeptisch, da diese einerseits die 61

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Mit einer betriebsnahen Tarifpolitik sollten bislang übertarifliche und folglich für die Unternehmensleitungen unverbindliche Leistungen (bei der Entlohnung oder der betrieblichen Sozialpolitik) in Form von Zusatz- oder Werkstarifverträgen als Ergänzung zu den Flächentarifverträgen tariflich fixiert werden. Der Einfluss der Gewerkschaften auf die Arbeitsbedingungen in den Betrieben sollte verstärkt, Betriebsegoismus vorgebeugt und die Lohndrift reduziert werden. Die hierzu in der IG Chemie geführten Diskussionen waren bis Ende der 1960er Jahre über »Erörterungen und Absichtserklärungen« nicht hinaus gegangen. Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 53), S. 56f.; Zu den unterschiedlichen Positionen in IG Metall, IG Chemie und IG Papier und Druck, siehe Udo Achten, Flächentarifvertrag und betriebsnahe Tarifpolitik. Vom Anfang der Bundesrepublik bis in die 1990er Jahre, Hamburg 2007; Siehe auch Dietmar Lange, »Demokratisierung als Strategie im sozialen Konflikt. Konzepte der Gewerkschaftslinken in den 1960er und 1970er Jahren in Italien und der Bundesrepublik Deutschland«, in: Axel Weipert (Hg.), Demokratisierung von Wirtschaft und Staat. Studien zum Verhältnis von Ökonomie, Staat und Demokratie vom 19. Jahrhundert bis heute, Berlin 2014, S. 169–181. Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 53), S. 52–60, 73–76; Peter Birke, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt a.M. u.a. 2007, S. 162. Siehe Kapitel 5.2 und Schlusskapitel. Hann. Münden (früher Hannoversch Münden) war nur knapp 20 Kilometer von Immenhausen entfernt, gehörte aber bereits zum Bundesland und Bezirk Niedersachsen. Zur Verwaltungsstelle Hann. Münden als einem Zentrum der Gewerkschaftslinken siehe Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 53), S. 100f. Folgendes aus Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 53), S. 82f.

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»Integration [der Arbeitenden] in die Konsum- und Freizeitgesellschaft« beschleunige, andererseits »ein instrumentelles Verhältnis der Mitglieder zur Gewerkschaft als ›Tarifautomaten‹« vertiefe und die Gewerkschaft immer mehr von ihren »grundlegenden Zielen« entferne. Im Zuge der Hauptvorstandswahlen des Jahres 1969 schieden die letzten Angehörigen dieser Gründergeneration aus; sie wurden von Funktionären abgelöst, die ihre gewerkschaftliche Laufbahn erst nach 1945 begonnen hatten und teilweise gar nicht mehr aus der Arbeiterschaft kamen bzw. in der Arbeiterbewegung sozialisiert waren.65 Im September 1969 wurde Karl Hauenschild zum neuen Vorsitzenden des Hauptvorstands gewählt, der sich mit einer knappen Mehrheit gegen Werner Vitt als dem »Hoffnungsträger der Linken« durchgesetzt hatte.66 Im Nachhinein erscheint dieser Führungswechsel an der Verbandsspitze – zeitgleich mit dem Regierungswechsel in Bonn – als eine Wegscheide. Die IG Chemie hatte Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre einen Höhepunkt ihres tarif- und gesellschaftspolitischen Engagements erreicht,67 dessen Erfolge sich im Ansteigen der Löhne und Gehälter sowie der Mitgliederzahlen zeigten, zugleich stand sie an einem Wendepunkt in der programmatischen Ausrichtung. Anders als die Gründergeneration verstanden sich die Nachrückenden als »Spitzenfunktionäre eines Interessenverbandes«, der zwar auch auf »die Mobilisierung der eigenen Kampfkraft« setzte, vor allem aber »mittels politischer Einflussnahme, insbesondere durch einen Schulterschluss mit der [nun auf Bundesebene regierenden] SPD, seine Verbandsziele zu erreichen suchte.«68 Die gewerkschaftsinterne Neuausrichtung schlug sich in den 1970er Jahren in nachlassenden Streikaktivitäten nieder, vor allem aber löste sie heftige Richtungskämpfe aus zwischen einem sich herausbildenden gemäßigten Flügel um den Hauptvorstandsvorsitzenden Karl Hauenschild sowie dessen Nachfolger Hermann Rappe und dem linken Flügel um den stellvertretenden Vorsitzenden Werner Vitt sowie dem für Organisation und Vertrauensleute zuständigen Vorstandsmitglied Paul Plumeyer. Während die »Sozialpartnerschaftsfraktion« zu »traditionelle[n] Formen gewerkschaftlicher Muster der

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Auf diese Veränderung in der sozialen Zusammensetzung der Funktionäre weist [Torsten Tiegel] hin, der wie viele seine Kollegen als studierter Ökonom direkt nach dem Studium in der Mitte der 1970er Jahre neu eingerichteten Wirtschaftsabteilung der IG Chemie zu arbeiten begann und zuvor mit der Gewerkschaftsbewegung nicht in Verbindung stand. Transkript Interview der Autorin mit [Torsten Tiegel], 29. Mai 2014, im Besitz der Autorin, S. 1f., 7. Im HR wurde der damals »49-jährige Karl Hauenschild […] als Pragmatiker, als tüchtiger Verwaltungsfachmann, kurz: als Manager« vorgestellt, »der selbst niemals Arbeiter war, der nicht geprägt ist von den bitteren Klassenkampferfahrungen der 20er Jahre, der sich Sprosse um Sprosse in der Gewerkschaft hochgearbeitet hat, und der seinen Tarifpartnern wie ein kühler und harter Geschäftsmann gegenübertritt.« Typoskript Bericht über den Gewerkschaftstag der IG Chemie von Karl-Heinz Götte, gesendet vom HR am 6. September 1969, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Über Werner Vitt als »Galionsfigur« und »Hoffnungsträger der Linken« siehe Protokoll Telefonat der Autorin mit Egon Kuhn, 3. März 2014, im Besitz der Autorin; Protokoll Telefonat der Autorin mit Frank Deppe, 27. Februar 2014, im Besitz der Autorin. Die von der IG Chemie geführten Arbeitskämpfe nahmen im Gegensatz zu denen anderer Gewerkschaften noch vor der Rezession 1966/1967 zu und erreichten 1969 bis 1972 einen Höhepunkt. Hasso Spode, Heinrich Volkmann, Günter Morsch u.a., Statistik der Arbeitskämpfe in Deutschland, St. Katharinen 1992, S. 389–391. Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 53), S. 84.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

Konfliktverarbeitung« zurückkehrte, auf »Dialog mit den Arbeitergebern« und »zentralistische Verbandspolitik« setzten, trat das »klassenkämpferische Lager« bzw. die »Gegenmachtfraktion« für eine »offensivere Tarifpolitik« ein und hielt an der Strategie einer »stärkere[n] Mitgliederbeteiligung und -mobilisierung« fest.69 Auf dem Mannheimer Gewerkschaftstag im September 1980 hatte sich die gemäßigte Fraktion – ähnlich wie in der hessischen SPD – vollends durchgesetzt.70

Hintergrund der Unterstützung der Belegschaftsübernahme Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth erfolgte also rückblickend in einer für die weitere Gewerkschaftsentwicklung entscheidenden Phase, in der sich auf verschiedenen Ebenen die Auseinandersetzungen zuspitzten. Erstens erreichte damals der Konfrontationskurs der IG Chemie gegenüber den Unternehmerverbänden einen Höhepunkt. In der Hohlglasindustrie herrschte nach dem Scheitern von Manteltarifverhandlungen und mehreren Schlichtungsverfahren seit Anfang 1968 ein tarifloser Zustand, der im Mai 1968 von Protestkundgebungen sowie von (zum Teil wilden) Warnstreiks begleitet wurde.71 Den von der IG Chemie in der Hohlglasbranche erhobenen Forderungen nach tariflicher Verankerung der Weihnachtsgratifikation und der Nichtanrechnung der Samstage als Urlaubstage kam dabei eine branchenübergreifende Dimension zu. Im Zuge der seit den 1950er Jahren verfolgten tarifpolitischen Strategie »Die Kleinen ziehen die Großen mit« versuchte die IG Chemie in den gewerkschaftlich sehr gut organisierten, volkswirtschaftlich eher weniger bedeutenden kleineren Industriebranchen richtungsweisende Tarifabschlüsse durchzusetzen, die danach auch in der großbetrieblichen und gewerkschaftlich schwach organisierten Chemiebranche zum Standard werden sollten.72 Die mittelständischen Unternehmen der arbeitskräfteintensiven Glasindustrie, die von einem Arbeitskampf existenzieller betroffen und daher leichter zu Zugeständnissen zu bewegen waren als die großen Konzerne der Chemieindustrie, schienen dafür ein geeignetes Einfallstor. Folglich sah nicht nur der Verein der Glasindustrie, sondern auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände im Tarifkon-

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Forschungsbericht des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt a.M. (1982) zitiert in Achten, Flächentarifvertrag (s. Anm. 61), S. 99f.; Braun, Schichtwechsel (s. Anm. 53), S. 152; Weber, IG Chemie (s. Anm. 54), S. 152, 494. Zum Machtkampf innerhalb der IG Chemie, der mit einer vollständigen (personellen, programmatischen wie organisatorischen) Niederlage der Gewerkschaftslinken endete, siehe Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 53), S. 89–101. VdG-Sonderrundschreiben, 10. Mai 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 2; VdG-Situationsbericht, 10. Mai 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 2; »Warnstreik in den Glashüttenwerken«, in: FR, 14. Mai 1968, in: AGI. Bereits im Juli 1967 hatte es anlässlich abgewiesener Lohnforderungen einen von »Warn- und Sympathiestreiks« in »fast sämtlichen Betrieben« begleiteten tariflosen Zustand gegeben, der aber nach einigen Tagen beendet wurde. VdG-Sonderrundschreiben, 27. Juli 1967, in: WABW, Bestand B 164 Bü 2; »Streik in nordwestdeutscher Glasindustrie«, in: FR, 29. Juli 1967, in: AGI; VdG-Sonderrundschreiben, 2. August 1967, in: WABW, Bestand B 164 Bü 2. Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 53), S. 47f.

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flikt der Hohlglasindustrie »Grundsatzfragen« angesprochen, die es um jeden Preis abzuwehren galt.73 Zweitens gewannen seit den sogenannten Septemberstreiks im Jahr 1969 die Auseinandersetzungen über die betriebsnahe Tarifpolitik innerhalb der IG Chemie an neuer Dynamik. Auslöser dieser wilden Streikbewegung war das Ungerechtigkeitsempfinden der Beschäftigten, weil sich die Konjunktur nach der Rezession der Jahre 1966 und 1967 in steigenden Unternehmensgewinnen, nicht aber in steigenden Löhnen oder verbesserten Arbeitsbedingungen niederschlug, im Gegenteil: mit »Betriebsstilllegungen, Entlassungen, Kurzarbeit und Einkommenskürzungen bei stark ansteigenden Arbeitsleistungen« blieben die nachteiligen Folgen der Krise für die Beschäftigten bestehen.74 Die wilden Streiks von 1969 legten das tarifpolitische Dilemma offen, in welchem sich die in der Konzertierten Aktion eingebundenen DGB-Gewerkschaften zum damaligen Zeitpunkt befanden. In ihrer Kritik an der Politik des SPD-Bundeswirtschaftsministers Karl Schiller hatten Werner Vitt und Franz Fabian die Rolle der Gewerkschaft als »staatliche Ordnungsgehilfen« abgelehnt und »für einen Austritt aus der Konzertierten Aktion« plädiert.75 Gegenüber der hierdurch forcierten Tendenz einer Zentralisierung der Tarifpolitik forderten sie eine betriebsnahe Tarifpolitik als »Mittel einer offensiven, machtentfaltenden Gewerkschaftspolitik« zur Erzielung einer gerechteren Einkommens- und Vermögensverteilung.76 Ein durch die Beteiligung von Vertrauensleuten dezentralisierter Modus der Tarifverhandlung ließ sich sowohl gegen den Widerstand der Arbeitgeberverbände als auch gegen die Bedenken innerhalb der Gewerkschaft, in der die Mehrheit der Funktionsträger einen Macht- und Kontrollverlust befürchteten, nicht durchsetzen. Praktische Versuche zur Umsetzung einer betriebsnahen Tarifpolitik gab es in den Jahren 1969 und 1970 allein im Bezirk Hessen.77 Drittens intensivierten sich in den Jahren 1969 und 1970 die Auseinandersetzungen um die Demokratisierung der Wirtschaft und Mitbestimmung von Arbeitenden in Unternehmen, in denen die IG Chemie eine treibende Kraft war.78 Während der Großen

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Aus diesem Grund stellte die »Schutzgemeinschaft der Deutschen Industrie« dem VdG im Fall von Arbeitskämpfen eine finanzielle Unterstützung in Aussicht. Protokoll VdG-Mitgliederversammlung, 19. April 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 7, S. 11f. Geschäftsbericht IG Chemie Bezirksleitung Hessen 1966–1968, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 8; Siehe Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 62), S. 218–249. Werner Vitt, »Betriebsnahe Tarifpolitik«, in: express international, Februar 1970, abgedruckt in: Achten, Flächentarifvertrag und betriebsnahe Tarifpolitik, S. 387–390; Franz Fabian zitiert in »Gegen die konzertierte Aktion. IG Chemie-Papier-Keramik will ›fortschrittliche Politik‹ machen«, in: FR, 12. Mai 1969, in: AfsB, Bestand IG Chemie. Werner Vitt paraphrasiert in Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 53), S. 58. 1969 hatte die IG Chemie Hessen erste Firmentarifverträge in Unternehmen der Chemieindustrie durchgesetzt und im Frühjahr 1970 den Versuch unternommen, »eine betriebsnahe Tarifpolitik für einen ganzen Tarifbezirk über den Weg von Firmentarifverträgen zusätzlich zum regionalen Vertrag zu verwirklichen.« Michael Schütz, »Betriebsnahe Tarifpolitik. Stand der Auseinandersetzung«, in: express international, April 1970, abgedruckt in: Achten, Flächentarifvertrag und betriebsnahe Tarifpolitik, S. 391; Achten, Flächentarifvertrag (s. Anm. 61), S. 89–102; Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 53), S. 56–60. Zur innerhalb des DGB die Ausarbeitung von Konzepten paritätischer und betrieblicher Mitbestimmung und einer dahingehenden Reform des BetrVG vorantreibenden Rolle der IG Chemie

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

Koalition war eine ernsthafte Behandlung dieser Thematik an der Weigerung der CDU/ CSU gescheitert, sie wurde – um ein Auseinanderbrechen der Koalition zu verhindern – auf die Zeit nach der Bundestagswahl im September 1969 verschoben.79 Mit der Wahl des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers waren große Hoffnungen auf eine gesetzliche Verankerung der paritätischen Mitbestimmung – als eine der zentralen gewerkschaftlichen Forderungen seit der Nachkriegszeit – verbunden, die von Willy Brandts Reformversprechen befördert wurden. Die Diskussionen um die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes und die Verabschiedung eines Mitbestimmungsgesetzes verliefen jedoch weiterhin sehr kontrovers. Im Fall Süßmuth schien sich den Befürwortern einer möglichst weitreichenden Mitbestimmungsgesetzgebung und einer betriebsnahen Tarifpolitik innerhalb der IG Chemie eine günstige Gelegenheit zu bieten, den Skeptikern und Gegnern – auch in den eigenen Reihen – einen praktischen Beweis dafür zu erbringen, dass eine Demokratisierung der Unternehmen wirtschaftlich und eine Demokratisierung der Gewerkschaft politisch erfolgreich sein kann. Dahingehend lässt sich zumindest das Agieren von Franz Fabian interpretieren. Die von ihm angestrebte Strategie der Übertragung von Tariferfolgen aus den kleinen auf große Branchen bewerten Kädtler und Hertle im Nachhinein zwar als gescheitert.80 Bis Ende der 1960er Jahre hatte Fabian hiermit in seinem Bezirk jedoch durchaus positive Erfahrungen gemacht. Das in der Hohlglasindustrie im Mai 1963 erstreikte Urlaubsgeld sei fünf Jahre später »in fast allen Branchen unseres Organisationsbereiches tariflich verankert« gewesen, und für Fabian bestand »kein Zweifel, dass die Glasindustrie den Vorreiter gespielt hat.«81 Von dem Belegschaftsunternehmen in Immenhausen erhoffte er sich eine ähnliche Vorbildfunktion für andere Betriebe und andere Branchen.82 In der Glashütte Süßmuth sollte ein »in die Zukunft weisendes Modell« der Mit- und Selbstbestimmung der Arbeitenden, eine »für eine kapitalistische Umwelt wegweisende« Tarifpolitik sowie eine gerechte und gemeinwohlorientierte Gewinnverteilung realisiert werden.83 Das »ganze Gerede um Sozialismus« war für Fabian unsinnig, »wenn wir nicht paar Modelle mal schaffen. […] Aus einem guten Modell machen sich zehn und aus zehn machen sich hundert.«84 Den Staat sah er in der Pflicht, solche Initiativen zu unterstützen, anstatt weiterhin unhinterfragt und in aller Selbst-

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siehe Weber, IG Chemie (s. Anm. 54), S. 520–522; Werner Milert und Rudolf Tschirbs, Die andere Demokratie. Betriebliche Interessenvertretung in Deutschland, 1848 bis 2008, Essen 2012, S. 462–476. Milert und Tschirbs, Demokratie (s. Anm. 78), S. 466. Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 53), S. 47. IG Chemie Hessen 1966–1968 (s. Anm. 74), S. 49. Die Glasindustrie gehörte auch bei der Durchsetzung der Vierzigstundenwoche zu den Vorreitern. Siehe Kapitel 1.1. Der von der IG-Chemie-Linken als Experimentierfeld und Modell gedachte Fall Süßmuth wies mit diesen Ambitionen Ähnlichkeiten zur sogenannten Ford-Aktion auf. Die IG Metall hatte das Kölner Ford-Werk 1960 zum »Schwerpunktbetrieb« einer hier exemplarisch zu etablierenden betriebsnahen Tarifpolitik erklärt. Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 62), S. 163–168. Franz Fabian zitiert in Typoskript »Eigentum verpflichtet«, Ulrich Happel für Panorama (ARD), 6. April 1970, in: Privatarchiv Siebert, S. 425; Rolf Fischer, »Arbeiter und Angestellte als Unternehmer. Richard Süßmuth hat seine Glashütte an die Belegschaft überschrieben«, in: FR, 25. März 1970, in: AGI. Folgendes aus Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 15), S. 5.

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verständlichkeit Unternehmen zu fördern, die das Geld letztlich nicht im Interesse der Allgemeinheit verwenden bzw. fehlinvestieren. Das Anliegen, in der Glashütte Süßmuth eine für die gesamte Wirtschaft anzustrebende demokratische Praxis zu realisieren, teilte auch Werner Schepoks, der seit 1964 die Geschäftsführung der Verwaltungsstelle Kassel innehatte. Schepoks war ein linker Sozialdemokrat und engagierter Gewerkschafter, der innerhalb der SPD für ein Festhalten an einer sozialistischen Politik als Mittelweg zwischen Kapitalismus und Staatskommunismus sowie innerhalb der Gewerkschaftsbewegung für eine basisdemokratische Erneuerung eintrat.85 Aus Protest gegen den »Strukturwandel der SPD zur Volkspartei« und die Große Koalition wirkte Schepoks im Oktober 1967 bei der Gründung der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Gewerkschafter (ASG) in Nordhessen mit.86 In Rückbesinnung auf die Tradition der Arbeiterbewegung forderte die ASG eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaft und SPD, um »die Interessen der arbeitenden Menschen« auf politischer Ebene wieder stärker vertreten zu können, die sie in der Großen Koalition vernachlässigt sah. Die Forderungen nach einer »Demokratisierung der Wirtschaft über den Weg der betrieblichen und gesamtwirtschaftlichen Mitbestimmung« sowie nach einer »demokratische[n] Wirtschaftsplanung über den Weg eines volkswirtschaftlichen Rahmenplanes« zur Kontrolle der Unternehmen knüpften an Überlegungen über die Wirtschaftsdemokratie an, wie sie in der SPD während der Weimarer Republik angestellt wurden.87 Infolge der wirtschaftsliberalen Wende, die die Partei seit Bad Godesberg vollzogen hatte, waren dem SPD-Bundesvorstand solche Forderungen zu radikal geworden. Der ASG wurde die Anerkennung als Arbeitsgruppe innerhalb der Partei verwehrt, woraufhin sie sich in Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Gewerkschafter umbenannte.88 Auch in der SPD Nordhessen habe es hierüber »fürchterliche Auseinandersetzungen« gegeben; gegen Schepoks und andere an der Gründung der

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Schepoks stand damit in einer Tradition des Linkssozialismus und dürfte dem sich seit Anfang der 1960er Jahre in der Bundesrepublik formierenden »Arbeitszusammenhang aus linkssozialistische[n] Gewerkschaftsfunktionäre[n] in den Bildungsabteilungen der IG Metall und IG Chemie sowie kritischen Sozialwissenschaftlern um den aus der SPD ausgeschlossenen SDS« zuzuordnen sein. Lange, Demokratisierung (s. Anm. 61), S. 177; Siehe auch Christoph Jünke (Hg.), Linkssozialismus in Deutschland. Jenseits von Sozialdemokratie und Kommunismus?, Hamburg 2010. Folgendes aus Gründungsaufruf Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Gewerkschafter, 31. Oktober 1967, in: AdsD, Bestand Bezirk Hessen-Nord. Siehe Sebastian Zehetmair, »Die wirtschaftsdemokratische Strategie in der Weimarer Republik und ihre theoretischen Voraussetzungen«, in: Axel Weipert (Hg.), Demokratisierung von Wirtschaft und Staat. Studien zum Verhältnis von Ökonomie, Staat und Demokratie vom 19. Jahrhundert bis heute, Berlin 2014, S. 130–140. Protokoll Interview der Autorin mit [Herman Freil], 20. März 2014, im Besitz der Autorin, S. 2. Siehe auch Bestand ASG 1967/1968, in: AdsD Bonn, Bezirk Hessen-Nord. Die Gründung von Ausschüssen für Arbeitnehmerfragen und der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) in den Jahren 1972/1973 bewerteten [Herman Freil], der als Vertreter der IG Bau zu den Gründungsmitgliedern der ASG gehörte, und der SPD-Kommunalpolitiker Wilhelm Rühl als eine unmittelbare Reaktion der SPD auf das mit der Gründung der ASG offenkundig gewordene Fehlen eigenständiger Gremien für Arbeitnehmer-Interessen innerhalb der parteiinternen Organisationsstrukturen. Ebd.; Typoskript »Die geschichtliche Entwicklung der AfA in der SPD«, Vortrag von Wilhelm Rühl, 17. September 1977, in: Privatarchiv Rühl.

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ASG beteiligte Parteimitglieder wurden in den folgenden Jahren Ordnungs- bis hin zu Ausschlussverfahren angestrebt.89

Der Fall Süßmuth als gewerkschaftsinternes Politikum In den sich Ende der 1960er Jahre bereits andeutenden und die 1970er Jahre dominierenden Richtungskämpfen in der IG Chemie kam dem Fall Süßmuth eine besondere politische Brisanz zu. In der Fallstudie können die Dynamiken besonders gut nachgezeichnet werden, die von einer auf Demokratisierung setzenden Gewerkschaftspolitik ausgingen und auf diese selbst zurückwirkten. Denn die Vertrauensleute der Glashütte Süßmuth traten mit dem Selbstbewusstsein auf, dass die Gewerkschaft eine »Kampforganisation und kein Gesangsverein« sei,90 deren Schlagkraft weniger von den »hauptamtlichen Kollegen« ausgehe, sondern vor allem von den »organisierten Mitgliedern« an »der Basis«.91 Eben hieraus leiteten sie die Erwartung an eine Unterstützung ihrer Anliegen durch die Repräsentanten in der Gewerkschaft (wie auch in der SPD) ab. Indem sie das Selbstverständnis der IG Chemie, eine basisnahe Organisation zu sein, in eine kollektive Praxis übersetzten, hatte das Handeln der Betriebsaktivisten in der Krise der Glashütte Süßmuth Formen angenommen, die mit den eingespielten Routinen gewerkschaftlicher Stellvertreterpolitik brachen und zu Turbulenzen innerhalb des Verbands führten. Solche lassen sich einerseits zwischen der hessischen Bezirksleitung in Frankfurt am Main und dem Hauptvorstand in Hannover nachzeichnen. Wie auch bei späteren Übernahmeversuchen von Betrieben durch ihre Belegschaften in der Bundesrepublik, so stand im Fall Süßmuth der großen Unterstützung von Funktionären auf lokaler und regionaler Ebene eine skeptische bis ablehnende Haltung der Gewerkschaftszentrale gegenüber.92 Als Franz Fabian im Januar 1970 bei dem einige Monate zuvor neugewählten Hauptvorstand finanzielle und personelle Ressourcen zur Ausarbeitung der Rechtsform für das künftige Belegschaftsunternehmen beantragte, wurden diese zwar bewilligt.93 Gleichwohl wuchs dort – ähnlich wie bei dem Hessischen Wirtschaftsminister Rudi Arndt – die »Angst« vor den politischen Konsequenzen eines künftigen Scheiterns 89

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Das drohende Parteiausschlussverfahren wurde laut Schepoks eigener Aussage von anderen »Genossen […] wieder abgebogen«. Ein Parteiordnungsverfahren aufgrund »parteischädigenden Verhaltens« wurde auch gegen [Herman Freil] angestrebt. Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 24; Armin Hoffrath und Winfried Berger an die Unterbezirksvorstände Kassel-Stadt und KasselLand, 2. Juni 1970, in: AdsD, Bestand Bezirk Hessen-Nord. [Paul Nowak] zitiert in Typoskript »Süssmuth e.V. Drei Jahre Selbstverwaltung«, Dokumentarfilm von Gerhard Braun, Reiner Etz und Klaus Volkenborn, 1973, in: FHI, Schöf-1212, S. 22. »Die Gewerkschaft sind wir, die organisierten Mitglieder! [Die hauptamtlichen Funktionäre] sind unsere Angestellten, die von uns bezahlt werden. […] Die […] könnten in den Betrieben überhaupt nichts machen, wenn nicht der Vertrauensmännerkörper, wenn die Betriebsräte nicht auf Draht sind und dafür sorgen, dass in dem Betrieb die Voraussetzungen überhaupt erst einmal geschaffen werden, dass die hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionäre arbeiten können!« [Paul Nowak] zitiert in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 12), S. 13. Siehe Herbert Klemisch, Kerstin Sack und Christoph Ehrsam, Betriebsübernahme durch Belegschaften. Eine aktuelle Bestandsaufnahme, Köln 2010, S. 52. Fabian, 5. Januar 1970 (s. Anm. 19), S. 4f.

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des Belegschaftsunternehmens.94 Fabian hatte sich weitgehend ohne Absprachen mit dem Hauptvorstand für die Belegschaftsübernahme eingesetzt95 – was der generell »starke[n] Stellung der Bezirksleiter gegenüber dem Hauptvorstand« in der IG Chemie entsprach, die »weniger auf formalen Zuständigkeiten, denn auf informell aufgebauter Hausmachtposition fußte.«96 Kurz nach der symbolischen Belegschaftsübernahme am 17. März 1970 kritisierte Karl Hauenschild, dass Fabian den Vorstand seit Januar 1970 nicht mehr »auf dem Laufenden gehalten« und er erst aus der Presse erfahren habe, dass »die Rechtsanwälte der IG Chemie in die Fortführung der Firma Süßmuth unter anderer Rechtsform eingeschaltet seien.«97 Die Ereignisse in Immenhausen betrachtete er als Angelegenheit, die über den Zuständigkeitsbereich des Bezirks hinaus reichte und »weittragende Bedeutung« bekommen könnte.98 Zu erheblichen Spannungen kam es andererseits insbesondere zwischen hessischer Bezirksleitung und Kasseler Verwaltungsstellenleitung. Nachdem Fabian Anfang März 1970 den offiziellen Ausstieg der IG Chemie erklärt hatte, wurde er von den darauffolgenden Ereignissen in Immenhausen auch überrascht. Erst unmittelbar nach Süßmuths Einlenken hatte Werner Schepoks ihn von den jüngeren Entwicklungen in Kenntnis gesetzt, worauf Fabian sehr verärgert reagiert habe.99 Beanspruchte Fabian selbst gegenüber dem Hauptvorstand weitreichende Autonomie, fühlte er sich durch das eigenmächtige Handeln der Vertrauensleute und des Verwaltungsstellenleiters übergangen. Bereits anlässlich des anonymen Flugblatts im September 1969, von dem sich Schepoks im Gegensatz zu Fabian nicht distanzieren wollte, habe es Diskrepanzen zwischen beiden gegeben.100 Zum offenen Streit sei es in der Diskussion über die zukünftigen Handlungsoptionen gekommen, als Richard Süßmuth Anfang März 1970 sein Versprechen wieder zurückgezogen hatte.101 Schepoks warf Fabian vor, die Belegschaft in ihrer Sorge um die Arbeitsplätze »allein gelassen« zu haben, er hingegen unterstützte die Vertrauensleute auch weiterhin und zählte für diese damit zu den Schlüsselfiguren der erfolgreichen Betriebsübernahme.102 Nachdem Süßmuth am 17. März 1970 doch noch den Verzicht erklärt hatte, »musste Fabian wieder ran.« Der Konflikt über die Beschaffung des Stamm94 95 96 97 98

Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 15), S. 6, 15; Ebenso Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 2, 10. Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 15), S. 6; Ebenso [Schmitz] et al., 20. März 1973 (s. Anm. 12), S. 4. Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 53), S. 48. Karl Hauenschild an Franz Fabian, 24. März 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie. Ebd. Franz Fabian sei zum Hauptvorstand zitiert worden, um die Entwicklungen in Immenhausen zu rechtfertigen. [Schmitz] et al., 20. März 1973 (s. Anm. 12), S. 4. 99 Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 8–11. 100 Fabian warf Schepoks vor, Initiator der Flugblattaktion gewesen zu sein. Laut eigener Darstellung habe Schepoks »erst im Nachhinein« von dieser Aktion erfahren, den Inhalt des Flugblatts aber unterstützt – auch wenn er es anders formuliert hätte. Notiz [Hans Müller], 25. September 1969, in: FHI, Schöf-1222; Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 25; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] und [Dieter Schrödter], 13. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 11. 101 In diesem »vor den Kollegen« ausgebrochenen Streit habe Fabian Schepoks indirekt künftige Sanktionen angedroht. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Herman Freil], 7. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 13; [Paul Nowak] in Notizen Erasmus Schöfer, undatiert [1973/1974], in: FHI, Schöf-1197. 102 Siehe Kapitel 2.2; Folgendes aus Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 3, 9.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

kapitals verdeutlichte, dass der Bezirksleiter ein mit ihm nicht abgesprochenes Agieren der Vertrauensleute und des Verwaltungsstellenleiters künftig nicht akzeptieren werde.103 Ende April 1970 machte Fabian das Verhältnis und die Koordinierung zwischen Bezirksleitung, Verwaltungsstelle und Betrieb zum Gegenstand intensiver und im Inhalt nicht überlieferter Verhandlungen.104 Als deren Ergebnis wurde auf einem Treffen von Vertretern des Landes Hessen, der Gewerkschaft und der Belegschaft festgehalten, »dass in Zukunft alles mit F[ranz] Fabian abgesprochen werden soll.«105 Im Fall Süßmuth wurde eine grundsätzliche Konfliktkonstellation in der IG Chemie sichtbar, in der es nicht allein um die Kompetenzverteilung zwischen Hauptvorstand, Bezirksleitung und Verwaltungsstelle ging, sondern auch um die konkrete Praxis einer innergewerkschaftlichen Demokratie und insbesondere um die Rolle, die den Vertrauensleuten in den gewerkschaftlichen Entscheidungsprozessen zukommen sollte.106 Zeitgleich zur Belegschaftsinitiative in der Glashütte Süßmuth war eine ähnliche Konfliktlage im Rahmen der von Fabian angeführten Offensive aufgebrochen, in zwölf Großbetrieben der Chemiebranche des Bezirks Hessen eine betriebsnahe Tarifpolitik durchzusetzen.107 Zu diesem Zwecke wurden betriebliche Tarifkommissionen gewählt, die in Form von Zusatz- oder Werkstarifverträgen Ergänzungen zu den Flächentarifverträgen aushandeln sollten. Da der Arbeitgeberverband solche Verhandlungen vehement ablehnte, lief die Konfrontation im Frühjahr 1970 auf einen Streik hinaus, den Schepoks mit den Vertrauensleuten seines Zuständigkeitsbereichs vorbereitete. Kurz vor dem geplanten Streikbeginn vereinbarte die Haupttarifkommission der Bezirksleitung Hessen allerdings mit dem Arbeitgeberverband einen überbetrieblichen Tarifvertrag, ohne sich zuvor mit den Vertrauensleuten der betroffenen Betriebe abgesprochen zu haben. Auf der Delegiertenversammlung im Mai 1970 übten knapp 2.000 Vertrauensleute aus ganz Hessen heftige Kritik am abrupten Abbruch des Versuchs, eine betriebsnahe Tarifpolitik zu etablieren, sowie am undemokratischen Vorgehen des Bezirksleiters Franz Fabian, der Tarifkommission und darunter auch an dem Betriebsratsvorsitzenden des Kasseler Spinnfaser-Werks (später Enka Glanzstoff) [Viktor Busch].108 In diesem Konflikt stellte sich Werner Schepoks öffentlich auf die Seite der Vertrauensleute, deren Kritik er teilte, anstatt die Linie der Tarifkommission zu rechtfertigen, wie es von ihm organisationsintern erwartet wurde. Daraufhin initiierte [Viktor Busch] in seiner Funktion als ehrenamtlicher Vorstandsvorsitzender der Verwaltungsstelle Kassel einen Misstrauensantrag gegen Schepoks, dem schließlich im Mai 1970 stattgege-

103 Siehe Kapitel 2.3. 104 Tagesordnung Treffen zwischen Belegschaftsvertretern (GHS) und Franz Fabian, 25. April 1970, in: FHI, Schöf-1221. 105 [Klaus Boehm] an Werner [Schepoks], 4. Mai 1970, in: FHI, Schöf-1221. 106 Zur Kontroverse über die Kompetenzen der Vertrauensleute als dem zentralen Gegenstand der Richtungskämpfe der 1970er Jahre siehe Schlusskapitel; Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 53), S. 69–101. 107 Folgendes aus Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 12–17; Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 53), S. 58–60. 108 Peter Elberfeld, »Betriebsnahe Tarifpolitik. Eine Seifenblase«, in: Internationale Arbeiter Korrespondenz, Juni 1970, in Auszügen online: https://www.mao-projekt.de/BRD/DGB/CPK/CPK_Weihnach tsgeld.shtml.

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Teil I: Die Entstehungsbedingungen der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

ben wurde. Aufgrund des »gestörten Verhältnisses« zwischen Vorstand und Leiter wurde Schepoks abgesetzt; anschließend war er in degradierter Position als Sekretär in der Verwaltungsstelle Nienburg an der Weser im Bezirk Niedersachsen tätig.109 Schepoks wurde untersagt, künftig die vormals von ihm betreuten Betriebe und damit auch die nunmehr selbstverwaltete Glashütte Süßmuth aufzusuchen.110 Seine Strafversetzung stand in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit den Ereignissen in Immenhausen. Aber auch im Fall Süßmuth hatte Schepoks zu den Vertrauensleuten gehalten und sich der Organisationsdisziplin nicht gebeugt. Als Bezirksleiter hätte Fabian sich für den Verbleib von Schepoks einsetzen können; stattdessen ließ er den Kasseler Verwaltungsstellenvorstand gewähren.111 Der Kontakt zwischen den Betriebsaktivisten der Glashütte Süßmuth und Werner Schepoks brach abrupt ab. Die für die betriebliche Interessenvertretung bis zur Belegschaftsübernahme immens wichtige Vertrauensleute-Gruppe der Glashütte Süßmuth trat in dieser Funktion nicht mehr in Erscheinung.112 Beide Konfliktfälle – die Auseinandersetzungen über die Realisierung einer betriebsnahen Tarifpolitik im Bezirk Hessen sowie während der Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth – offenbarten paradigmatisch den zentralen Widerspruch in der Demokratisierungspolitik der IG Chemie, der die gewerkschaftsinternen Richtungskämpfe in den 1970er Jahren maßgeblich befeuerte und beispielsweise auch die gewerkschaftliche Brisanz des Chemiestreiks 1971 oder der Betriebsbesetzung des Zementwerks Seibel & Söhne in Erwitte 1975 ausmachte.113 Das strukturelle Dilemma beim Übersetzen des demokratischen Anspruchs in eine demokratische Praxis bestand darin, dass zwar der gewerkschaftlichen Basis Mitspracherechte eingeräumt werden sollten, sich hauptamtliche Funktionäre wie Franz Fabian aber das letzte Entscheidungsrecht vorbehielten und im Zweifelsfall mit Verweis auf überbetrieblich zu wahrende gewerkschaftspolitische Interessen die Resultate demokratischer Entscheidungsprozesse an der Basis übergingen. Dagegen geriet der Verwaltungsstellenleiter Werner Schepoks, der die von der Basis ausgehenden Initiativen unterstützte und in der IG Chemie wie

109 Schreiben der Verwaltungsstelle Kassel an die Vertrauensleute vorgelesen in [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 25), S. 3. Offizielle Dokumente zur Strafversetzung von Schepoks liegen nicht vor. Im Geschäftsbericht wird lediglich festgehalten, dass der »Kollege Werner Schepoks« die Verwaltungsstelle Kassel am 1. Juni 1970 verlassen hat, »um eine andere Aufgabe in der Organisation zu übernehmen.« Geschäftsbericht IG Chemie Vwst. Kassel 1969–1971, 25. März 1972 (Hg.), in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 13. 110 Zudem sei er wie in »Stalins Zeiten« darauf verpflichtet worden, »mit niemanden der hier tätigen Mitglieder oder Funktionäre [darüber] zu sprechen«. Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 16. 111 Werner Vitt sei der Einzige gewesen, der sich in diesem Konflikt für Werner Schepoks eingesetzt hatte. Ebd., S. 19. 112 Werner Schepoks hatte dagegen für den Aufbau einer Selbstverwaltungsstruktur plädiert, in der den Vertrauensleuten – die in der gewerkschaftspolitischen Arbeit erprobt und mit den Verhältnissen im Betrieb vertraut waren – entscheidende (Kontroll-)Kompetenzen zukommen sollte. Ebd., S. 21f. 113 Zum ersten und letzten großen Streik in der Geschichte der bundesdeutschen Chemiebranche siehe Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 53), S. 60–68; Zur Betriebsbesetzung von Seibel & Söhne siehe Dieter Braeg (Hg.), »Wir halten den Betrieb besetzt«. Texte und Dokumente zur Betriebsbesetzung der Zementfabrik Seibel & Söhne in Erwitte im Jahre 1975, Berlin 2015.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

auch in der SPD als »kritischer« und »unbequemer Mensch« bekannt war,114 in den Verdacht, selbst der Urheber der sich radikalisierenden Auseinandersetzung gewesen zu sein und mit anderen außenstehenden Akteuren die Beschäftigten für seine politischen Interessen instrumentalisiert zu haben. Der Fall Süßmuth blieb für die IG Chemie – ähnlich wie für die SPD in Hessen – durchweg ein Politikum. Jene Funktionäre, die sich für die Unterstützung der Belegschaftsübernahme einsetzten, um in der Glashütte Süßmuth ein progressives Mitbestimmungs- und Tarifmodell zu erproben – allen voran der Bezirksleiter Franz Fabian und der stellvertretende Hauptvorstandsvorsitzende Werner Vitt – hatten sich 1970 gegen die Skeptiker im Hauptvorstand und in der Hessischen Landesregierung durchgesetzt, wurden aber von diesen für die folgenden Entwicklungen in der Glashütte Süßmuth zur Rechenschaft gezogen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich das große Engagement von Franz Fabian in den Kreditverhandlungen auf der einen Seite,115 sein gleichzeitig restriktives Auftreten gegenüber dem eigenmächtigen Agieren der Vertrauensleute und des Verwaltungsstellenleiters auf der anderen Seite. Im Nachhinein verfestigte sich bei Werner Schepoks und [Herman Freil] der Eindruck, Fabian habe die Belegschaftsübernahme gar nicht wirklich gewollt.116 Der Fall Süßmuth habe ihm vor allem als willkommenes Profilierungsfeld gedient und ihm erwünschte Öffentlichkeit für seine Kandidatur bei der anstehenden Landtagswahl eingebracht.117

3.3 Neue Linke und die Medien »Arbeiter übernehmen ihren Betrieb!« – Löste diese Schlagzeile in der Landesregierung Hessens oder im IG Chemie-Hauptvorstand vor allem Bedenken aus, so weckte sie in weiten Teilen der Neuen Linken große Sympathie.118 Im Verlauf der europaweiten Proteste von Studierenden- und Arbeiterbewegung im »heißen« bzw. »proletarischen« Mai 1968 wurde die Arbeiterklasse auch in Teilen der sich ausdifferenzierenden westdeutschen 68er-Bewegung als »revolutionäres Subjekt« wiederentdeckt.119 Die Welle wilder Streiks im September 1969 schien hierfür den empirischen Beleg zu liefern. Im Vergleich 114 115 116 117

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Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 17f.; Ebenso [Schmitz] et al., 20. März 1973 (s. Anm. 12), S. 5; [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 19), S. 20. Hierauf verweisen [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 19), S. 15; [Vogts], 17. Mai 2014 (s. Anm. 14), S. 3; Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 2. Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 8; [Freil], 7. Januar 1974 (s. Anm. 101), S. 13f. Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 8; Transkript Interview der Autorin mit Erasmus Schöfer, 24. Januar 2013, im Besitz der Autorin, S. 1; Erasmus Schöfer, Zwielicht. Die Kinder des Sisyfos, Berlin 2004, S. 110. Neue Linke wird hier als eine Sammelkategorie für Einzelpersonen, Gruppen und Netzwerke verwendet, die sich in der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren in ernüchterter »Abgrenzung zu den Hauptströmungen der ›alten‹ Arbeiterbewegung« – den Gewerkschaften und der SPD – ebenso wie in Abgrenzung zum Stalinismus bzw. Staatskommunismus für eine »Neubelebung sozialistischer Politik« einsetzten. David Bebnowski, »Zum Schwerpunkt Zauber der Theorie. Ideengeschichte der Neuen Linken in Westdeutschland«, in: Arbeit, Bewegung, Geschichte 2 (2018) S. 8. Bernd Gehrke und Gerd-Rainer Horn (Hg.), 1968 und die Arbeiter. Studien zum »proletarischen Mai« in Europa, Hamburg 2007; Marica Tolomelli, »1968. Formen der Interaktion zwischen Studenten- und

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Teil I: Die Entstehungsbedingungen der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

zu Frankreich oder Italien blieben Ausmaß und Formen der Interaktionen zwischen studentischen und betrieblichen Aktivist*innen in der Bundesrepublik eher unspektakulär. Überholt ist jedoch die Annahme, es habe zwischen den Trägergruppen der jeweiligen Protestbewegungen keinerlei Verbindungen gegeben.120 Im Zuge der Politisierung der betrieblichen Auseinandersetzung sei die Glashütte Süßmuth zu einem »Haus der offenen Tür« geworden, durch die alle Interessierten »ein und aus« gehen konnten.121 Die »Studenten« wurden in dem am 6. April 1970 ausgestrahlten Beitrag der Sendung Panorama im gleichen Atemzug mit den »Gewerkschaften« genannt, die gemeinsam mit der Belegschaft den Plan entwickelt hätten, »die Hütte in eigene Hände zu nehmen.«122 Ihre Beteiligung an den Vorgängen in Immenhausen bzw. jene von »jungen Wissenschaftlern« fand in den ersten Berichten unmittelbar nach der symbolischen Betriebsübertragung prominente Erwähnung,123 in späteren Veröffentlichungen hingegen nicht mehr. Dies war dem IG Chemie-Bezirksleiter Franz Fabian geschuldet, der nicht nur die Kontrolle über die weiteren Entwicklungen im Modellunternehmen Süßmuth, sondern auch die Deutungsmacht über den zurückliegenden Ereignisverlauf beanspruchte.124 Welche konkreten Personen und Gruppen aus dem Umfeld der Neuen Linken – die auch aufgrund ihrer eher informellen, lockeren Vernetzung nur wenig Spuren in den Quellen hinterlassen haben – sich mit dem Anliegen der Glashütten-Belegschaft solidarisierten und sie in der Phase der Betriebsübernahme aktiv unterstützten, lässt sich daher nur ansatzweise rekonstruieren. Hierzu gehörten erstens eine Reihe von Akademikern aus Frankfurt am Main als Universitätsstadt und Hochburg der Sponti-Bewegung sowie aus dem 20 Kilometer von Immenhausen entfernten Kassel mit seinen drei Hochschulen, die 1971 in dem bildungs-

Arbeiterbewegung in Italien und der Bundesrepublik«, in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998, S. 93. 120 Diese Annahme wurde bislang vor allem mit Blick auf die Protestbewegung gegen die Notstandsgesetzgebung und die Geschichte der linken Betriebsintervention widerlegt. Siehe Tolomelli, 1968 (s. Anm. 119); Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 62), S. 182–190; Jan Ole Arps, Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den 1970er Jahren, Berlin 2011; Förderverein für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung (Hg.), »Schwerpunkt Linke Betriebsintervention, wilde Streiks und operaistische Politik 1968 bis 1988«, in: Arbeit, Bewegung, Geschichte 1 (2016), S. 9–107. 121 [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 25), S. 6. 122 Happel, 6. April 1970 (s. Anm. 83), S. 2. 123 Siehe Rudolf F. Kuda, »Atypische Mitbestimmungsmodelle, Anpassungstaktik oder Reformstrategie?«, in: Frankfurter Hefte, 1970, in: Privatarchiv See, S. 423; FR, 25. März 1970 (s. Anm. 83); Siehe auch Heinz Michaels, »Die Genossen im Glashaus«, in: Die Zeit, 27. März 1970, in: FHI, Schöf-1225. 124 In der von Franz Fabian ohne Wissen, geschweige denn Beteiligung der Beschäftigten herausgegebenen Publikation über das Modell Süßmuth wurde das »wissenschaftliche Team« erwähnt, nicht aber die noch aufzuzeigenden anderen Gruppen und Einzelpersonen. Verschwiegen wurde generell die in Kapitel 2.2 dargestellte Phase der Politisierung der betrieblichen Auseinandersetzung wie auch die Rolle von Werner Schepoks. Franz Fabian (Hg.), Arbeiter übernehmen ihren Betrieb oder Der Erfolg des Modells Süßmuth, Reinbek bei Hamburg 1972. Zur Empörung der Beschäftigten über Fabians eigenmächtiges Vorgehen siehe Notizen Stellungnahme Gesellschafterversammlung auf der Beiratssitzung (GHS), 24. Februar 1972, in: FHI, Schöf-1227; Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 4. Oktober 1972, in: FHI, Schöf-1227.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

politischen Pionierprojekt der Gesamthochschule Kassel zusammengeführt wurden.125 Die als wissenschaftliches Team bezeichnete Gruppe von Mitarbeitern und Studenten der Frankfurter Universität leistete entscheidende Hilfe bei der Erarbeitung der vom Hessischen Wirtschaftsministerium als Voraussetzung für die Gewährung einer Ausfallbürgschaft geforderten Sanierungspläne.126 Neben Wirtschafts- bzw. Betriebswissenschaftlern kamen in dieser Phase Techniker und Gestalter*innen in die Glashütte, die mit den Betriebsaktivisten über die Behebung von Missständen in der Produktion oder über neue Möglichkeiten des Vertriebs, der Produktgestaltung und der Vermarktung berieten. Auch die in Frankfurt am Main ansässige Werbeagentur Wir trug zur erfolgreichen Betriebsübernahme bei.127 Die externen Unterstützer vermittelten zudem ihr Fachwissen – als ein für die zukünftige Selbstverwaltung erforderliches Wissen – in »Bildungskursen« an die Betriebsaktivisten.128 Zweitens halfen linke Journalisten bei der Herstellung einer breiten Öffentlichkeit für die Situation und das unkonventionelle Anliegen der Süßmuth-Belegschaft. Deren Unterstützung war umso wichtiger, als andere Medien-Vertreter, mit denen die Belegschaftsmitglieder des am 9. März 1970 gegründeten Presse- und Öffentlichkeitsausschusses Kontakt aufgenommen hatten, »meist mit Zurückhaltung« auf die Vorgänge in Immenhausen reagierten und »fast gar nicht« darüber berichteten.129 Namhafte Journalisten – wie Ulrich Happel vom politischen Fernsehmagazin Panorama oder der investigativ arbeitende Günter Wallraff – kamen hingegen in den Betrieb und wurden selbst Teil der Auseinandersetzung.130 Die nahezu tägliche Berichterstattung von Rolf Fischer in der Frankfurter Rundschau oder die Interviews, die Günter Wallraff unter anderer Identität und Ulrich Happel mit Richard Süßmuth führten, kurz bevor dieser die Verzichtserklärung abgab, trugen zur Legitimation der Belegschaftsforderungen bei und erhöhten den Druck auf den Unternehmer.131 Zeitungs-, Rundfunk- und Fernsehberichte sorgten letztlich für eine bundesweite Öffentlichkeit, angesichts der sich Süßmuth einem »unvorstellbaren Terror ausgesetzt« sah.132 In der Eigendynamik, die die Berichterstattung unmittelbar nach der symbolischen Betriebsübertragung 125

In der Gesamthochschule Kassel wurden die Hochschule für Bildende Künste, die Ingenieurschule sowie die Höhere Wirtschaftsfachschule zusammengefasst. 126 Folgendes siehe Kapitel 2.1 und Kapitel 2.3. 127 Protokoll Telefonat der Autorin mit Florian Seiffert, 28. April 2017, im Besitz der Autorin. 128 Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 11; [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 25), S. 6. 129 Rudolf Ritter, »›Genossenschaftshütte‹ Süßmuth. Zehn Tage, die einen Fabrikanten erschütterten«, in: express international, April 1970, in: Privatarchiv Siebert; IG Chemie Vwst. Gießen an alle gewerkschaftlichen Vertrauensleute der Glasindustrie, 13. März 1970, in: FHI, Schöf-1221. 130 In den Räumlichkeiten der Verwaltungsstelle Kassel besprachen die Betriebsaktiven der GHS mit den Journalisten (u.a. von Panorama und vom HR) kurz vor der geplanten Betriebsbesetzung die sich hieran anschließende Aktionswoche. express international, April 1970 (s. Anm. 129). Siehe Kapitel 2.2. 131 Die FR habe – so die Einschätzung des Leiters der IG-Chemie-Verwaltungsstelle Gießen Erich Schmidt – »wirklich eine objektive Beurteilung« der Ereignisse in Immenhausen geleistet und sich hierin von den »vielen Lokalzeitungen in unserem Verwaltungsstellengebiet« abgehoben, die sich »mit dem ganzen Problem fast gar nicht oder nur am Rande beschäftigten«. IG Chemie Gießen, 13. März 1970 (s. Anm. 129). 132 Richard Süßmuth an Lothar Haase, 11. April 1970, in: ACDP, 01–374-14/1.

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über linksliberale Medien hinaus entfaltete, wurden faktisch Tatsachen geschaffen, die es nicht nur dem Unternehmer erschwerten, sein Versprechen ein weiteres Mal zurückzuziehen, sondern gewissermaßen auch die Gewerkschaft und die Hessische Landesregierung auf ihre bis dahin lediglich informell zugesicherte Unterstützung verpflichteten. Drittens bildeten linke bzw. linkssozialistische Gewerkschafter, Sozialdemokraten, Aktivisten aus anderen Betrieben und Intellektuelle einen Kreis, der offensichtlich den Kontakt zu obigen Fachleuten und Journalisten vermittelte und mit dem die Vertrauensleute der Glashütte Süßmuth ihre Protestaktionen berieten und koordinierten. Hierzu gehörten Personen aus dem Frankfurter Umfeld der seit 1962 erscheinenden Zeitschrift express international, die sich als undogmatische Linke einer basisorientierten, sozialistischen Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit verschrieben hatte und »lange Zeit eine Bastion der linken IG Chemie« war.133 Die Kasseler Wohnung der Familie Schäfer sei damals der Ort gewesen, wo sich die Süßmuth-Aktivisten mit diesem Unterstützerkreis trafen.134 »Genossen« aus Frankfurt gaben beispielsweise Informationen über den Inhalt der Gespräche von Richard Süßmuth mit Vertretern des VdG weiter, die oben genannte Journalisten für ihre Berichterstattung verwendeten.135 Zudem standen die SüßmuthVertrauensleute in Verbindung zu Kollegen der linken Verwaltungsstelle Hann. Münden, die zur Unterstützung der geplanten Betriebsbesetzung nach Immenhausen gekommen waren.136 Schließlich gehörte zu diesem Kreis auch der gelernte Zimmermann und seit 1964 als Sekretär im Sozialpfarramt der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen-Waldeck tätige [Herman Freil], der als ehrenamtlich aktiver Gewerkschafter der IG Bau die ASG Nordhessen mit begründet hatte.137 Die Institution der Sozialsekretäre war in den 1950er Jahren von der evangelischen Kirche mit dem Ziel ins Leben gerufen worden, ihre Beziehungen zu den Arbeiter*innen zu vertiefen.138 Mit gewerkschafts- oder parteipolitisch engagierten Personen aus der industriellen Arbeitswelt wurden theologische Laien zu Sozialsekretären berufen, die das Bild einer sich um ihre Interessen kümmernden Kirche in die Arbeiterschaft tragen sollte, von der sie sich zunehmend isoliert fühlte. Habe [Freil] bis dahin mit der Kirche wenig zu tun gehabt, nahm er auf Anfrage des Landessozialpfarrers Hans Storck dieses Amt an, da er sich hiervon einen größeren politischen Wirkungsbereich als in der Gewerkschaft versprach. Abgesehen von der Moderation der Podiumsdiskussion am 19. März

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Die bis heute erscheinende express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit ging aus der Fusion der express international mit der Sozialistischen Betriebskorrespondenz hervor und wurde bis 1997 vom (1969 gegründeten) Sozialistischen Büro herausgegeben. Selbstdarstellung express, Online: http://express-afp.info/about-express; E-Mail Redaktion express, 11. Januar 2013, im Besitz der Autorin. Transkript Interview der Autorin mit Volker Schäfer, 17. März 2014, im Besitz der Autorin, S. 1. Der Politikwissenschaftler Gert Schäfer war seit Gründung im Sozialistischen Büro in Offenbach aktiv. Gottfried Oy, Spurensuche Neue Linke. Das Beispiel des Sozialistischen Büros und seiner Zeitschrift links. Sozialistische Zeitung (1969 bis 1997), Berlin 2007, S. 29, 33. express international, April 1970 (s. Anm. 129); Siehe Kapitel 2.2 Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 7. ASG, 31. Oktober 1967 (s. Anm. 86). Folgendes aus [Freil], 7. Januar 1974 (s. Anm. 101), S. 7f.; [Freil], 20. März 2014 (s. Anm. 88), S. 3–6.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

1970 in Immenhausen trat Storck und die Evangelische Landeskirche in der Auseinandersetzung um die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth öffentlich nicht in Erscheinung.139 Allein [Freil] unterstützte die Betriebsaktivisten bei der Vorbereitung ihrer Aktionen und hatte ihnen unter anderem geraten, aus Rücksicht auf die religiösen Gefühle vieler Belegschaftsmitglieder und um ein geschlossenes Auftreten der Belegschaft gegenüber dem Unternehmer zu gewährleisten, Richard Süßmuth nicht mit einer antikirchlichen Rhetorik zu kritisieren.140 Viertens erhielt die Süßmuth-Belegschaft Unterstützung von Mitgliedern der lokalen und regionalen Verbände der SPD-Jugendorganisation.141 Der Kontakt zu Jungsozialist*innen der Region um Kassel ging auf einen Mitte der 1960er Jahre begonnenen Diskussions- und Austauschprozess im Rahmen von Veranstaltungen zurück, die [Herman Freil] in seiner Funktion als Sekretär des Sozialpfarramts regelmäßig organisierte.142 Neben der als Empowerment konzipierten Weiterbildung von Betriebs(rats)aktivisten bemühte sich [Herman Freil] darum, einen Raum für die Begegnung mit den Jusos zu schaffen. Gegenseitige Vorbehalte in beiden Gruppen – die Jusos wurden beispielsweise als von »Hirngespinsten« geleitete Theoretiker, die lieber »erstmal richtig arbeiten« sollten, wahrgenommen und die Betriebsräte als »korrumpierte Sozialpartner« – wollte [Freil] überwinden helfen. Inwiefern diese zweimal im Jahr durchgeführten Treffen, bei denen auch oft über Fragen der Mitbestimmung und der Vergesellschaftung von Eigentum diskutiert worden sei, das Handeln der Beschäftigten in der Glashütte Süßmuth bei der Entwicklung ihrer Forderungen beeinflusst haben mögen, lässt sich schwer ermessen. Zumindest war hierdurch ein auf persönlichen Beziehungen beruhendes Netzwerk entstanden, das während des Übernahmeprozesses aktiviert werden konnte. So halfen Jusos beim Verteilen der von den Süßmuth-Vertrauensleuten formulierten Flugblätter

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»Der neue Weg der Glashütte Immenhausen. Podiumsrunde befasste sich mit der Sanierung und künftigen Form des Unternehmens«, in: Hessische Allgemeine, 21. März 1970, in: AGI. 140 [Freil], 7. Januar 1974 (s. Anm. 101), S. 10. [Freils] strategischer Hinweis stand im Kontext eines grundlegenden Umdenkens innerhalb der SPD. Nachdem deren Wahlkampfrhetorik in den 1950er Jahren noch stark antikirchlich und vor allem antikatholisch geprägt war, kam es in den 1960er Jahren zu einer Annäherung zwischen der SPD und den Kirchen. Frank Bösch, Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945–1969, Stuttgart 2001, S. 348. 141 Im Fall Süßmuth schienen vor allem die Jusos des Unterbezirks Kassel-Stadt aktiv geworden zu sein, die – laut eigener Analyse für den Tätigkeitsbericht 1971 – hinsichtlich der »nicht nur verbal[en]« Kontaktaufnahme zur »arbeitenden Bevölkerung […] im Bundesgebiet mit an der Spitze der Juso-Betriebsarbeit« gestanden habe. Im für Immenhausen zuständigen Juso-Unterbezirk Hofgeismar – so hielte der damalige Vorsitzende Udo Schlitzberger selbstkritisch fest – sei die »Arbeit in den einzelnen Orten, von Ausnahmen abgesehen, noch nicht den Erfordernissen echter Basisarbeit gerecht« geworden. In Immenhausen selbst existierte seit 1954 eine Juso-Ortsgruppe, deren Tätigkeit Mitte der 1960er Jahre jedoch »zum Erliegen« kam. Erst Ende 1969 gelang mit einem neuen Vorsitzenden ein »Juso-Neuanfang«, womit laut Werner Wiegand »eine überaus intensive Phase politischer Jugendarbeit« begonnen habe. Tätigkeitsbericht Juso-Unterbezirksvorstand Kassel-Stadt 1971, in: AdsD, Bestand Jungsozialisten; Geschäftsbericht Juso-Unterbezirksvorstand Hofgeismar 1971, in: AdsD, Bestand Jungsozialisten; Werner Wiegand, Sozialdemokraten in Immenhausen. Von 1933 bis zur Gegenwart, Immenhausen 1990, S. 802. 142 Folgendes aus [Freil], 20. März 2014 (s. Anm. 88), S. 4f.

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vor den Betrieben Kassels.143 In Resolutionen an den Hessischen Landtag und den Bundestag solidarisierten sich die Juso-Bezirksverbände Süd- und Nordhessen mit der Glashüttenbelegschaft und ihrer Forderung nach einer gesetzlichen Grundlage für die Überführung von Industrieunternehmen in Gemeineigentum, womit sie den Druck auf die SPD erhöhten und zur Politisierung der Auseinandersetzung beitrugen.144 Nach der symbolischen Betriebsübergabe kamen auch einige politisch Interessierte nach Immenhausen, die – im Gegensatz zu obigen für die Belegschaft im Konkreten sehr hilfreichen Personen – den »Kopf voller Ideen [gehabt hätten], die sich aber in der Praxis halt doch nicht verwirklichen ließen«.145 Vor allem Angehörige von Gruppierungen marxistisch-leninistischer Prägung stießen in der Belegschaft auf mitunter heftige Ablehnung. Der Betriebsratsvorsitzende [Gerhard Schinkel] habe die »DKP-Mitglieder vom Werktor fort[gescheucht]«.146 Selbst Betriebsaktivisten, die sich wie [Paul Nowak] insgeheim als Kommunisten verstanden, sahen in ihnen keine »echten« Kommunisten, mit denen »man sich sachlich unterhalten« konnte, sondern vielmehr – so [Max Ulrich] – »Spinner« und »Radau-Kommunisten«.147 Da diese Studierenden »Akademiker-Deutsch« sprachen, blieben Diskussionen mit ihnen für die Beschäftigten mitunter fruchtlos.148 Hinzu kam ihr eklatanter Mangel an betriebsrelevantem Wissen.149 Da sie von den konkreten politischen Handlungsbedingungen im Betrieb abstrahierten und stattdessen agitierten, wurden die Auseinandersetzung mit ihnen als eine zeitraubende Belastung empfunden.150 Für die Betriebsaktivisten »enttäuschend« und auch verletzend dürfte vor allem der aus der marxistischen Theorie abgeleitete (implizite) Über-

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[Freil], 7. Januar 1974 (s. Anm. 101), S. 9; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak], [Konrad Scholz], [Heinz Schrödter], [Max Ulrich] und weiteren namentlich nicht bekannten Arbeitern, undatiert [1974], im Besitz der Autorin, S. 12. Siehe Kapitel 2.2 und 3.1. [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 25), S. 6. Handelsblatt, 28. Juli 1970 (s. Anm. 15). Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] und [Max Ulrich], 12. November 1973, im Besitz der Autorin, S. 3. Der gegenüber den Studierenden aufgeschlossene Glasmacher [Paul Nowak] habe »immer versucht, [sich] auch in die jungen Menschen hineinzuversetzen, zu verstehen – aber die Sprache der Studenten, die verstehen wir als Arbeiter schwer. Die meisten Arbeiter verstehen die Studentensprache gar nicht.« [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 25), S. 5; Ebenso Aufforderung von [Paul Nowak] an den namentlich unbekannten Begleiter von Erasmus Schöfer, »Arbeiterdeutsch« zu sprechen in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 12), S. 16. Zur Diskrepanz zwischen »Akademiker-« und »Arbeitersprache« als Problem beim Zusammenkommen von »Studenten« und »Arbeitern« siehe auch Johanna Schellhagen (Reg.), Luft zum Atmen. 40 Jahre Opposition bei Opel in Bochum (Dokumentarfilm), 2019; Tolomelli, 1968 (s. Anm. 119), S. 97. Zur Diskrepanz zwischen dem unter einem Teil der westdeutschen Studierenden virulenten »Führungsanspruch« gegenüber der Arbeiterschaft als »aufzuklärende Masse« und Mangel an »wirklichkeitsnahen Kenntnissen« siehe Tolomelli, 1968 (s. Anm. 119), S. 97. Die »Kollegen« scheuten nicht an sich die Diskussion und waren auch für »harte« Diskussion zu haben. Unverständlich war ihnen allerdings, wenn Studierende in den Betrieb kamen und nur von Ideologie sprechen wollten. »Wir stehen doch in der Produktion. Hier muss ich beweisen, was ich machen kann! Also hier muss ich konkret arbeiten. […] Solange eine Diskussion fruchtbar ist, ist gut. Aber wenn sie dann nur noch in Theorie ausartet, dann bleibt sie nur Theorie.« [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 25), S. 6f.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

legenheitsanspruch gewesen sein, mit dem sie dem Bewusstsein der »Arbeiter« auf die Sprünge helfen wollten.151 Trotz der »teils guten Erfahrungen mit Studenten, die uns tatsächlich geholfen haben«, habe man sich »von dem Einen oder Anderen« trennen müssen, denn – so [Paul Nowak] – der Betrieb sei kein Uni-Seminar: »Wir müssen hier hart arbeiten und wir müssen vorwärtskommen. Von Diskussionen wird ja der Betrieb nicht besser.«152 Nachdem die Politisierung der Auseinandersetzung ihre Funktion erfüllt hatte – nämlich den alten Eigentümer zur Betriebsübertragung und das Land Hessen zur finanziellen Unterstützung zu bewegen –, wurde in der Glashütte Süßmuth eine Presse- und Informationssperre verhängt, die tendenziell auch Besuche von an der Selbstverwaltung politisch interessierten Einzelpersonen und Gruppen verhinderte.153 Wann, von wem und weshalb diese Sperre veranlasst wurde, ließ sich aus den Quellen nicht rekonstruieren. Sehr wahrscheinlich erfolgte sie auf Druck von Seiten des IG-Chemie-Bezirksleiters Franz Fabian, der nach Süßmuths Verzichtserklärung wieder in den Ereignisverlauf einzugreifen begann. Außer in Schöfers Interviewmaterial liegen diesbezüglich kaum Informationen vor, was als Hinweis interpretiert werden kann, dass im Betrieb hierüber – anders als bei den vielen anderen, noch herauszuarbeitenden Konfliktthemen während der Selbstverwaltung, die sich stets in einer erhöhten Quellenproduktion niederschlugen – zum damaligen Zeitpunkt kaum Meinungsverschiedenheiten bestanden. Nachdem seit Frühjahr 1970 – als Resultat der Öffentlichkeitsarbeit des Presseausschusses und der sich verstärkenden Dynamiken der politischen Auseinandersetzungen – umfassend lokal, regional wie bundesweit über die Ereignisse in Immenhausen berichtet wurde, brach die Berichterstattung im Herbst 1970 abrupt ab. Für 1971 sind – bis auf einen Rundfunk-Beitrag von Peter Marchal sowie den Artikeln im Züricher Tagesanzeiger und in der Frankfurter Rundschau – gar keine Medienberichte überliefert.154 Auch in den folgenden Jahren erreichte die Berichterstattung nicht mehr jenen Umfang wie in der heißen Phase während und unmittelbar nach der Betriebsübernahme.155 Die generell in der Bundesrepublik im Vergleich zu Italien nur geringfügig ausgeprägten Interaktionen zwischen Studierenden- und Arbeiterbewegung führt Marica Tolomelli auf »divergierende Handlungsstrategien« sowie Unterschiede in den »kognitiven Orientierungen der Trägergruppen der Proteste« und in den gewerkschaftlichen Or151 152 153 154

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Ebd., S. 6f.; [Nowak] und [Ulrich], 12. November 1973 (s. Anm. 147), S. 3; [Freil], 7. Januar 1974 (s. Anm. 101), S. 10. [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 25), S. 6f.; Ebenso Braun et al., 1973 (s. Anm. 90), S. 17f. [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 25), S. 7. Typoskript »280 Arbeiter = 280 Chefs. Die Süssmuth GmbH – ein neuer Versuch der Mitbestimmung«, Peter Marchal für »Die Welt von heute« (Südwestfunk Radio), 4. August 1971, in: FHI, Schöf-1212; »›Wir wollen sozialpolitisch wirken.‹ Gespräch mit Franz Fabian«, in: Tagesanzeiger Magazin, 20. Februar 1971, in: Privatarchiv See; Karl-Heinz Bernhardt, »Fleiß und Risiko sollen sich für alle lohnen. Glashütte Süßmuth ein Jahr in Arbeitnehmerhand«, in: FR, 30. September 1971, in: AGI. Die 1972 und 1973 über die GHS veröffentlichten Berichte stellten ausschließlich die Rationalisierungserfolge und generell positive Unternehmensentwicklung seit der Belegschaftsübernahme heraus. Im Gegensatz dazu fokussierten die Berichte aus den Jahren 1974 und 1975 auf die im Kontext einer branchenübergreifenden Krisenstimmung wirtschaftlichen Probleme im selbstverwalteten Unternehmen.

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ganisationsstrukturen zurück.156 Während in Italien »lose Assoziationen von Studenten« in direkten Kontakt zur Arbeiterschaft traten, habe dieser in der Bundesrepublik eher auf organisatorischer Ebene in Form »vermittelter Interaktion« stattgefunden. Die Studentenbewegung Italiens war vom Operaismus geprägt; jene in der Bundesrepublik dagegen sei von der »Vorstellung eines Versagens« und einer politischen Passivität der Arbeiterbewegung überzeugt gewesen. Zudem waren die bundesrepublikanischen Gewerkschaften im Gegensatz zu den italienischen in ein »stark strukturiertes Institutionengeflecht eingegliedert«, was ihre Position auf überbetrieblicher Ebene in den Tarifverhandlungen zwar stärkte, sie zugleich aber auf Konsensorientierung und Kooperation mit den Arbeitgeberverbänden verpflichtete und hierdurch ihren politischen Handlungsspielraum wiederum beschränkte.157 Der Fall Süßmuth steht paradigmatisch dafür, dass auch in der Bundesrepublik studentische und betriebliche Akteure direkte Beziehungen außerhalb von organisierten Strukturen aufbauten.158 Zugleich gewährt er Aufschluss darüber, weshalb solche Begegnungen begrenzt und oftmals nur von kurzer Dauer waren. Auf der einen Seite verstärkte der Antikommunismus – der im »Frontstaat« Bundesrepublik auf spezifische Weise ausgeprägt war – den Kontroll- und Alleinvertretungsanspruch der Gewerkschaften gegenüber der betrieblichen Basis, um sie vor vermeintlicher politischer Infiltration und Instrumentalisierung zu schützen. Den Ansätzen einer Verbindung zwischen der betrieblich-gewerkschaftlichen Basis und der studentischen Protestbewegung begegneten die korporatistisch eingebundenen Gewerkschaften der Bundesrepublik – im Gegensatz zu denen Italiens159 – mit heftiger Abwehr. Im Frühjahr 1969 ließ beispielsweise Franz Fabian verlauten, er wolle eine »fortschrittliche und progressive Politik betreiben«, in der aber ein »scharfe[r] Trennungsstrich« zu den »in 156 157

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Folgendes aus Tolomelli, 1968 (s. Anm. 119), S. 93–100. Zu den industriellen Beziehungen der Bundesrepublik im Kontrast zu den »Misstrauensbeziehungen und verhärteten Konfliktfronten in Frankreich siehe Ingrid Artus, »Mitbestimmung versus Rapport de force. Geschichte und Gegenwart betrieblicher Interessenvertretung im deutschfranzösischen Vergleich«, in: Knud Andresen, Ursula Bitzegeio und Jürgen Mittag (Hg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitswelten, Bonn 2011, S. 213–243. »Kooperation[en] zwischen studentischen und gewerkschaftlichen Basisgruppen« gewannen laut Peter Birke nach dem »Scheitern der Zusammenarbeit zwischen APO und Arbeiter(innen)bewegung« und der gemeinsamen Proteste gegen die Notstandsgesetzgebung im Mai 1968 generell an Bedeutung. Laut Cohn Bendit habe der italienische Operaismus in der Neuen Linken die »ganze Theorie von der Integration und Verbürgerlichung der Arbeiterklasse […] weggefegt«. Die operaistische Theorie führte – so zeigt Jan Ole Arps auf – auch einen Teil der westdeutschen Linken in die Betriebe. Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 62), S. 190; Cohn Bendit zitiert in Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte (1960–1990), München 2015, S. 94; Arps, Frühschicht (s. Anm. 120), S. 41–58; Zur Geschichte des Operaismus als Theorie und politische Praxis siehe Martin Birkner und Robert Foltin, (Post-)Operaismus. Von der Arbeiterautonomie zur Multitude. Geschichte und Gegenwart, Theorie und Praxis. Eine Einführung, Stuttgart 20102 . Siehe Marica Tolomelli, »Studenten und Arbeiter 1968 in Italien. Möglichkeiten und Grenzen eines schwierigen Verhältnisses«, in: Gerd-Rainer Horn und Bernd Gehrke (Hg.), 1968 und die Arbeiter. Studien zum »proletarischen Mai« in Europa, Hamburg 2007, S. 311; Vittorio Rieser, »Studenten, Arbeiter und Gewerkschaften in Italien zwischen 1968 und den 1970er Jahren«, in: Gerd-Rainer Horn und Bernd Gehrke (Hg.), 1968 und die Arbeiter. Studien zum »proletarischen Mai« in Europa, Hamburg 2007, S. 314–331.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

letzter Zeit immer stärker sich zerstörerisch betätigenden Kräften« der außerparlamentarischen Opposition gezogen werden müsse.160 Zu einer solch expliziten Abgrenzung nach Links sah sich Fabian – der sich selbst als Linker innerhalb von DGB und SPD verstand – offensichtlich genötigt, nachdem Frankfurt am Main als Sitz der IG Chemie-Bezirksleitung Hessen im Mai 1968 zu einem Zentrum gemeinsamer Proteste von Jugendund Arbeiterbewegung gegen die Notstandsgesetzgebung geworden war, bei denen zeitweilig bis zu 30 Betriebe ohne Beteiligung der Gewerkschaften »im Ausstand« waren.161 Die Welle wilder Streiks 1969 und die gleichzeitig zunehmende Radikalität der Arbeitskämpfe in italienischen Betrieben, in denen »in vielen Fällen« die Gewerkschaften ebenso übergangen wurden,162 dürfte eine Drohkulisse für Funktionäre wie Fabian gewesen sein. Eben dies erklärt zumindest seine heftige Abwehrreaktion auf das Flugblatt der Aktivgruppe Süßmuth im September 1969, das er als Machwerk außenstehender Radikaler identifizierte. Aus der Glashütte Süßmuth habe Fabian nicht nur den renitenten Kasseler Verwaltungsstellenleiter, sondern auch die sich mit der Belegschaft solidarisierenden »Studenten, die sich sehr viel Mühe gemacht« hatten, »nachher alle rausgeschmissen«.163 Der Erfolg seiner Bemühungen, den Fall Süßmuth politisch »rein« zu halten – wozu Fabian wiederum vom Hauptvorstand »in Hannover angewiesen« worden sei164  –, zeigte sich nicht zuletzt darin, dass die Rolle der oben aufgezeigten Einzelpersonen und Gruppen tatsächlich in den Hintergrund und schließlich in Vergessenheit geriet. Auf der anderen Seite determinierte der antikommunistische Diskurs auch die für Arbeitende jenseits etablierter Strukturen der Repräsentation vorhandene Möglichkeiten der politischen Artikulation. Mit dem Verdacht, unter linksradikaler bzw. aus der DDR finanzierter Rädelsführerschaft zu stehen, waren damals nicht nur die Beschäftigten der Glashütte Süßmuth, sondern generell an Streiks beteiligte Belegschaften oder basisgewerkschaftliche Betriebsgruppen konfrontiert.165 Allein aus Gründen der Legitimation war es daher naheliegend, dass Arbeitende eine »Politisierung von außen« ablehnten und vor allem Lohnforderungen (wie in den Septemberstreiks) oder den

160 Fabian zitiert in FR, 12. Mai 1969 (s. Anm. 75). 161 Auch Anfang der 1970er Jahre war Frankfurt a.M. ein lokaler Schwerpunkt der wilden Streiks, die vor allem in Betrieben des Zuständigkeitsbereichs der IG Metall stattfanden. Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 62), S. 190, 278. 162 Antonio Lenzi, »Die Entstehung der italienischen revolutionären Linken. Das Beispiel von ›Il Manifesto‹ und ›Lotta Continua‹«, in: Arbeit, Bewegung, Geschichte 1 (2016), S. 20f. 163 Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 11. 164 Franz Fabian habe dem IG-Chemie-Hauptvorstand versichern müssen, »allen gesellschaftspolitischen Fragen beim Süssmuth-Modell aus dem Wege zu gehen.« Handelsblatt, 28. Juli 1970 (s. Anm. 15). 165 »›Das Denken überlassen Sie uns!‹. Wie die Glasmacher von Immenhausen ihren Betrieb übernahmen«, in: Konkret, März 1970, S. 57; Ute Bönnen und Gerald Endres (Reg.), Wilde Streiks. Der heiße Herbst 1969 (Dokumentarfilm), 2016; Peter Birke, »Eine kleine Vor- und Frühgeschichte der wilden Streiks – bei Opel Bochum und Anderswo«, in: Jochen Gester und Willi Hajek (Hg.), Sechs Tage der Selbstermächtigung. Der Streik bei Opel in Bochum Oktober 2004, Berlin 2012, S. 21f.; Peter Birke, »Der Eigen-Sinn der Arbeitskämpfe. Wilde Streiks und Gewerkschaften in der Bundesrepublik vor und nach 1969«, in: Bernd Gehrke und Gerd-Rainer Horn (Hg.), 1968 und die Arbeiter. Studien zum »proletarischen Mai« in Europa, Hamburg 2007, S. 58.

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Arbeitsplatzerhalt (wie im Fall Süßmuth) in den Mittelpunkt ihrer vermeintlich unpolitischen Forderungen stellten.166 Dies wiederum konnte innerhalb der akademischen Linken als Ausdruck eines fehlenden politischen Bewusstseins oder eines spezifischdeutschen Konservatismus in der Arbeiterschaft gedeutet werden und so zur Erhärtung dahingehender Vorbehalte beitragen. Doch selbst das Verbrennen »eine[r] rote[n] Fahne des örtlichen SDS« wie auf einer Demonstration saarländischer Bergleute im September 1969 musste nicht zwangsläufig ein »unpolitischer« oder »rechter« Akt sein, als welcher er von Seiten der SDS-Aktivisten gedeutet wurde, in diesem Fall war er eine Antwort auf deren vorangegangene, von den Streikenden als überheblich empfundene Agitation und Belehrung.167 Die Instrumentalisierungsverdächtigungen von Franz Fabian einerseits und der Aufklärungs- bzw. Missionierungsmodus so »mancher« Akademiker andererseits veranlassten auch [Paul Nowak] – der ansonsten der studentischen Protestbewegung aufgeschlossen gegenüber stand und hiervon inspiriert war –, die Eigenständigkeit der Beschäftigten bei der Durchführung ihrer Protestaktionen herauszustellen.168 Darüber hinaus belegt der Fall Süßmuth, dass Unterschiede im (theoretischen) Verständnis von Politik (in der Praxis) zwischen beiden Gruppen trennend wirkten. Die Betriebsaktivisten verstanden ihre Forderung nach Selbstverwaltung als Teil eines gesellschaftspolitischen Anliegens, das über den Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes und den eigenen Betrieb hinaus reichte – gleichwohl fielen die politischen Ansichten innerhalb der heterogenen Belegschaft weit auseinander. Für die Legitimation des kollektiven Anliegens war gerade deshalb der Bezug auf die Produktion und die geleistete Arbeit von zentraler Bedeutung, den die Beschäftigten auch von den sich solidarisierenden studentischen Unterstützer*innen einforderten. Die Aufforderung »mitzuarbeiten« war weniger Ausdruck eines rückwärtsgewandten Arbeitsethos als vielmehr der eines Pragmatismus, der ihren konkreten Handlungsbedingungen geschuldet war: Der Betrieb bzw. die Produktion war der Ort, von dem nicht nur ihre Existenzgrundlage abhing, sondern an den auch ihre entscheidenden Machtressourcen für die politische Artikulation ihrer sozialen Ansprüche und für die Realisierung ihrer unterschiedlichen Hoffnungen geknüpft waren, die sie mit der Selbstverwaltung verbanden. Während und nach der Übernahme der Glashütte Süßmuth trat in der Belegschaft ein praxisbezogenes bzw. ein praxeologisches Politik- und Demokratieverständnis zutage, in dem das »im Handeln gewonnene Wissen« und die »Erfahrung« im Zentrum standen, wie es auch Angehörige des sich herausbildenden linksalternativen Milieus betonten, die sich hierin von den »Apparatschiks und Verbandsbürokraten« im SDS oder in den entstehenden K-Gruppen abgrenzten.169 166 Nach Peter Espe vom Handelsblatt seien die »neuen Herren bei Süssmuth […] [g]egen das Wort ›sozialistisch‹ […] allergisch« gewesen. Der Betriebsratsvorsitzende [Gerhard Schinkel] wurde mit den Worten zitiert, die Betriebsübernahme habe »mit Politik überhaupt nix zu tun«. Handelsblatt, 28. Juli 1970 (s. Anm. 15); Zur Ablehnung einer »Politisierung von außen« im Kontext der Septemberstreiks 1969 siehe Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 62), S. 248. 167 Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 62), S. 232. 168 [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 25), S. 3–5; [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 100), S. 2. 169 Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 99–140, hier 100.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

Demnach wurde Politik nicht nur als Überzeugung und Haltung, sondern auch als Lebensform verstanden. Die anzustrebende demokratische Praxis war folglich weniger eine zu verinnerlichende Norm als vielmehr – und damit anders als die Bewusstseinsbildung der dogmatischen Linken rezipiert wurde – ein inneres Bedürfnis. Voraussetzung dafür, Gemeinsamkeiten in den politischen Interessen und Anliegen zu erkennen und gemeinsam umzusetzen, war ein geteiltes Praxisfeld, in welchem sich »alte« und »neue« Linke auf Augenhöhe begegnen konnten. Die Zusammenarbeit in konkreten Fragestellungen begünstigte eine Verständigung über verschiedene »Sprachen« hinweg und schuf zugleich die Voraussetzungen für den Abbau tradierter, auf beiden Seiten bestehender Vorurteile. Solche Praxisfelder waren in Italien durch themenspezifische Kommissionen entstanden, in denen Studierende zusammen mit den Beschäftigten Arbeitsbedingungen und Gesundheitsrisiken in den Betrieben analysierten und hierüber eine öffentliche Debatte anregten.170 Eine ähnliche Zusammenarbeit zwischen Arbeitenden und Unterstützern aus einem links-akademischen Umfeld hatte sich in Ansätzen während der Betriebsübernahme in der Glashütte Süßmuth entwickelt. Unter den politischen Verhältnissen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft im Allgemeinen und den Entstehungsbedingungen für die Selbstverwaltung im Fall Süßmuth im Besonderen, die speziell den Gewerkschaftsfunktionären eine große Einflussnahme gewährte, konnte diese Zusammenarbeit nicht vertieft und ausgedehnt, aber – wie noch zu zeigen ist – auch nicht gänzlich unterbunden werden.

3.4 Die CDU und Arbeitgeberverbände Im »neun-monatigen Kampf« der Gewerkschaft gegen ihn, den »Vertriebenen«-Unternehmer, sah sich Richard Süßmuth nicht nur von der CDU »sehr im Stich gelassen«.171 Seit Frühsommer 1969 hatte Süßmuth im Bundesvertriebenenministerium und in der CDU-Parteizentrale in Bonn, beim bischöflichen Sekretariat in Fulda und im VdG bis hin zu Einzelpersonen wie bei Hermann Josef Abs von der Deutschen Bank oder dem BDI-Präsidenten Fritz Berg um Unterstützung ersucht, um sein Unternehmen vor dem Konkurs zu bewahren.172 Mit ähnlicher Ausdauer, wie die Beschäftigten sich für die Betriebsübernahme einsetzten, war Süßmuth bemüht, diese zu verhindern. Dass er dabei erfolglos blieb, wirft ein Schlaglicht auf Entwicklungen im konservativen Lager zu Beginn des »sozialdemokratischen Jahrzehnts«.173 Laut Werner Plumpe seien bundesdeutsche Unternehmer durch die in personalisierter Form vorgetragene Kritik der »68er-Be170 Tolomelli, 1968 (s. Anm. 119), S. 86f.; Davide Serafino, »Der Kampf gegen gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen am Beispiel von ›Chicago Bridge‹ in Sestri Ponente (Genua) 1968/1969«, in: Arbeit, Bewegung, Geschichte, 1 (2016), S. 33–48. 171 Richard Süßmuth an Clemens Riedel, 20. März 1970, in: ACDP, 01–094-070/1; Ebenso Süßmuth, 11. April 1970 (s. Anm. 132). 172 Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Willi Voigt], 11. Oktober 1973, im Besitz der Autorin, S. 1–4; Typoskript Interview Günter Wallraff mit Richard Süßmuth, undatiert [März 1970], in: FHI, Schöf-1195, S. 4f.; Fritz Berg an Richard Süßmuth, 6. Oktober 1969, in: FHI, Schöf-1222. 173 Bernd Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969–1982, Bonn 2011.

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wegung« und vor allem durch die Reformagenda der neuen sozialliberalen Regierungskoalition, die sie aus »irrationalen Ängsten« vor einem bevorstehenden »sozialistischen Umsturz« ablehnten, in die Defensive geraten bzw. hierdurch verunsichert worden.174 »[D]er innenpolitische Machtverlust und die Entspannungspolitik mit dem Osten« – so führte auch Axel Schildt aus – sei bei der Mehrheit der »Konservativen […] zu einem einzigen Bedrohungssyndrom von linkem Radikalismus, sowjetischem Kommunismus und deutscher Sozialdemokratie als Steigbügelhalter« verschwommen.175 Auf den ersten Blick scheint es naheliegend, die Schwäche der CDU nach der Wahlniederlage bei den Bundestagswahlen im September 1969 als Erklärung dafür heranzuziehen, dass das kommunalpolitisch aktive Parteimitglied Richard Süßmuth von dieser Seite keine Unterstützung erwarten konnte. So zumindest deutete Süßmuth selbst den Ereignisverlauf und versuchte dafür Verständnis aufzubringen.176 Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass die Hilfe, die Süßmuth von seinen »CDU-Freunden« erhielt, gar nicht so geringfügig war. So gingen die Kreditverhandlungen mit dem Land Hessen im Sommer 1969 unmittelbar auf das Engagement von Peter Paul Nahm und seinen Mitarbeitern im Bundesministerium für Vertriebene zurück, das sich gerade in einem Prozess der Auflösung und Angliederung an das Bundesinnenministerium befand. Der langjährige Staatssekretär Nahm, der 1967 bereits in den Ruhestand getreten war, besetzte im April 1969 dieses Amt erneut (bis Oktober 1970).177 Süßmuths »Kolpingbruder« Edelhard Rock versicherte ihm, dass seine »Interessen weitgehend gewahrt werden« und Nahm »in alter Freundschaft beratend zur Seite« stehen werde.178 Über diese Verbindung wurde Süßmuth im Juli 1969 kurzfristig ein Überbrückungskredit durch die Lastenausgleichsbank (LAB) bewilligt, um die zum damaligen Zeitpunkt angesichts anstehender Urlaubsgeldzahlungen akut drohende Zahlungsunfähigkeit abzuwenden.179 Süßmuths Unterstützern aus dem Bundesvertriebenenministerium gelang es, neue Verhandlungen mit den Hessischen Wirtschafts- und Finanzministerien über eine Landesbürgschaft für einen vom Bund befürworteten und von der LAB in Aussicht gestellten Investitionskredit anzuregen.180 Einfluss auf die Entscheidungen der Hessischen Landesregierung konnten sie freilich nicht nehmen. CDU-Vertreter waren in den Ministerien im »roten Hessen« zum damaligen Zeitpunkt nur schwach vertreten, Fragen der Wirtschaftsförderung jedoch dezidierte Ange-

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Werner Plumpe, »1968 und die deutschen Unternehmer. Zur Markierung eines Forschungsfeldes«, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 1 (2004), S. 48–55, 53. 175 Axel Schildt, »›Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten‹. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren«, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 456. 176 Süßmuth, 20. März 1970 (s. Anm. 171). 177 Günter Buchstab, »Nahm, Peter Paul«, in: Neue Deutsche Biographie, 1997, Online: www.deutschebiographie.de/pnd140171363.html#ndbcontent. Siehe Kapitel 1.4. 178 Edelhard Rock an Richard Süßmuth, 15. Juli 1969, in: ACDP, 01–401-006/2 R-S. 179 Nicht überliefert ist, ob der von Süßmuth beantragte Überbrückungskredit in Höhe von 150.000 bis 200.000 DM vollständig bewilligt wurde. Die Korrespondenzen zwischen Süßmuth und den in diese Verhandlungen involvierten CDU-Politikern legen dies nahe. Richard Süßmuth an Robert Polzer, 12. Juli 1969, in: ACDP, 01–094-070/1; Richard Süßmuth an Edelhard Rock, 14. Juli 1969, in: ACDP, 01–401-006/2 R-S; Rock, 15. Juli 1969 (s. Anm. 178). 180 Clemens Riedel an Richard Süßmuth, 18. August 1969, in: ACDP, 01–094-070/1.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

legenheiten der Bundesländer. Süßmuth erhielt hier lediglich Unterstützung aus dem Hessischen Innenministerium vom Ministerialrat [Christoph Brügg], der sich zusammen mit dem Oberregierungsrat [Karl Rubert] darum bemühte, den (vor allem von [Hans Müller] lancierten) Plan der Fortführung des Unternehmens als Familien-KG »im Rahmen des hessischen Ressorts voranzubringen.«181 Als einstiger Staatsbeauftragter des Hessischen Innenministeriums für das Flüchtlingswesen und »Vertreter für allgemeine Flüchtlingsinteressen« im Kuratorium der Staatlichen Glasfachschule Hadamar, in dem Süßmuth den Vorsitz einnahm, verband [Brügg] mit ihm eine langjährige Bekanntschaft.182 Da Süßmuth sich weigerte, als Geschäftsführer zurückzutreten, blieben diese Verhandlungen entweder bereits innerhalb des Innenministeriums, das vom SPD-Minister Johannes Strelitz und vom SPD-Staatssekretär Karl Hemfler geleitet wurde, stecken oder wurden spätestens aufgrund der im Herbst 1969 aufgenommenen Verhandlungen mit den Belegschaftsvertretern abgebrochen.183 Im Gegensatz zum Bundesverband erhielt Süßmuth von den hessischen Verbänden der CDU keinerlei Unterstützung.184 Der Fall hätte mit Blick auf die anstehende Landtagswahl eigentlich eine strategisch günstige Gelegenheit geboten, die Gefahren eines »Gewerkschaftsstaats« oder einer »Sowjetisierung« der Bundesrepublik heraufzubeschwören.185 Die politische Position der hessischen CDU – anders als die der Bundespartei – hatte sich zudem Ende der 1960er Jahre erheblich verbessert, was sich bei der Landtagswahl 1970 niederschlagen sollte.186 Doch wie für die SPD besaß die Wahl in Nordhessen für die CDU, wenn auch aus anderen Gründen, eine besondere politische Brisanz. Der bis Mitte der 1960er Jahre eher katholisch-sozial ausgerichtete CDU-Landesverband agierte hier in einer traditionell protestantisch geprägten Region.187 Der Partei drohten mit dem Erstarken der NPD besonders hohe Stimmenverluste am rechten Rand.188 Wie in der SPD waren die nordhessischen CDU-Verbände kon-

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Ebd.; Richard Süßmuth an Clemens Riedel, 7. August 1969, in: ACDP, 01–094-070/1. Zur eventuellen CDU-Parteimitgliedschaft von [Brügg] und [Rubert] konnte das ACDP aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Angaben machen. 182 Richard Süßmuth an Clemens Riedel, 26. August 1969, in: ACDP, 01–094-070/1; Verzeichnis Mitglieder des Kuratoriums der Staatlichen Glasfachschule Hadamar, 11. Januar 1951, in: HWA, Abt. 9, Nr. 253. 183 Siehe Kapitel 2.1. Die Familien-KG-Pläne wurden im HMdI zunächst auf Referentenebene und ohne Auftrag des Staatssekretärs bzw. des Innenministers ausgearbeitet, die erst nach deren Ausformulierung Ende Juli 1969 hierüber informiert wurden. Interner Schriftverkehr HMdI, 28. Juli 1969, in: FHI, Schöf-1222, S. 2f.; [Karl Rubert] an Robert Polzer, 12. September 1969, in: FHI, Schöf-1222. 184 Darüber beschwerte sich Richard Süßmuth im April 1970 beim Vorsitzenden des Bezirksverbandes Nordhessen. Süßmuth, 11. April 1970 (s. Anm. 132). 185 Hans-Otto Hemmer und Ulrich Borsdorf, »›Gewerkschaftsstaat‹. Zur Vorgeschichte eines aktuellen Schlagworts«, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 10 (1974), S. 640–653. 186 Die hessische CDU erhielt 39,7 Prozent der Stimmen, bei der Landtagswahl 1966 waren es noch 26,4 Prozent. Hessische Wahlergebnisse 1946–2008 in: Schroeder, Parteien (s. Anm. 46), S. 396f. 187 Arijana Neumann und Josef Schmid, »Die Hessen-CDU. Kampfverband und Regierungspartei«, in: Schroeder, Parteien (s. Anm. 3), S. 108f.; Heiden, Sozialisierungspolitik (s. Anm. 6), S. 148, 798. 188 Bösch, CDU (s. Anm. 140), S. 399. Bereits bei der Landtagswahl 1966 hatte die CDU Stimmen an die 1964 gegründete NPD verloren, die 7,9 Prozent der Stimmen erhielt. Hessische Wahlergebnisse 1946-2008 in: Schroeder, Parteien (s. Anm. 46), S. 396f.

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servativer als jene in Südhessen. Hinzu kam, dass der für Immenhausen zuständige CDU-Kreisverband Hofgeismar zu den mitgliederärmsten in Hessen gehörte und bei der Landtagswahl 1966 die wenigsten Stimmen erhalten hatte.189 Aufgrund der geringen Mitgliederzahlen war die Ressourcenausstattung der nordhessischen Kreisverbände prekär.190 Im CDU-Bezirksverband Nordhessen kam es immer wieder zu heftigen Spannungen.191 In diesem Kontext standen die parteiinternen Bestrebungen, Richard Süßmuth Mitte der 1960er Jahre aus der Partei auszuschließen.192 Der Geschäftsführer des Kreisverbandes Hofgeismar Wilm Mirbach warf Süßmuth aus nicht überlieferten Gründen ein undemokratisches Verhalten, eine fehlende Sensibilität gegenüber der protestantischen Wählerschaft und ein in der Öffentlichkeit parteischädigendes Verhalten vor.193 In dieser konkreten Auseinandersetzung konnte sich Süßmuth behaupten: Während er 1966 zum Vorsitzenden des in Immenhausen neugegründeten CDU-Ortsverbands gewählt wurde, hatte Mirbach im Jahr zuvor seinem Posten verlassen müssen.194 Doch Mirbachs Kritik an Süßmuth verweist auf sich Ende der 1960er Jahre zuspitzende innerparteiliche Auseinandersetzungen, die Frank Bösch als das »Achtundsechzig in der CDU« beschreibt: Zeitgleich zu den Studierendenprotesten habe es innerhalb der CDU-Verbände einen »Demokratisierungsschub« gegeben; Jüngere, die für eine »transparente, organisierte Parteiführung« eingetreten seien, hätten die »Gründergeneration« abgelöst.195 Mit Alfred Dregger übernahm 1967 ein Vertreter der nachrückenden Generation und zugleich des rechten nationalkonservativen Flügels die Führung des CDU-Landesverbands Hessen. Dregger habe einerseits eine Befriedung der bis dahin »hochsensiblen« Konfessionsfrage in Nordhessen herbeigeführt, andererseits »stark patriotische Akzente« in »bewährte[r] antikommunistische[r] Argumentation« gesetzt und noch während »der Großen Koalition für einen harten Polarisierungskurs« gesorgt.196 Im Zuge des von Dregger betriebenen Aufbaus der CDU Hessen als »Kampfverband« schien sich der personelle wie programmatische Rückhalt Süßmuths als Vertreter des katholischsozialen Parteiflügels entscheidend abgeschwächt zu haben.197 Die völlige Zurückhaltung der hessischen CDU deutet außerdem auf parteiinterne Kontroversen über die 189 Der Kreisverband Hofgeismar zählte weniger als 100 Parteimitglieder, bei der Landtagswahl 1966 erhielt er weniger als 10 Prozent der Wählerstimmen. Protokoll Bezirkskonferenz CDU-Bezirksverband Nordhessen, 12. August 1966, in: ACDP, 01–374-04/1. 190 Der Vorsitzende des benachbarten CDU-Kreisverbandes Kassel-Land habe sogar den Wahlkampf privat finanzieren müssen. Ernst Platner an Alfred Dregger, 2. April 1969, in: ACDP, 01–374-04/1. 191 Anders als in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg gab es in Hessen zwar einen einzigen, formell geschlossenen Landesverband, doch kam es vor allem im protestantisch geprägten Norden immer wieder zu Konflikten. Bösch, CDU (s. Anm. 140), S. 269f., 277, 274. 192 Wilm Mirbach an Lothar Haase, 2. März 1965, in: ACDP, 01–374-04/1. Siehe Korrespondenzen zwischen Wilm Mirbach und Lothar Hassen, März 1965 bis Februar 1966, in: ACDP 01–374-04/1. 193 Wilm Mirbach an Lothar Haase, 4. Mai 1965, in: ACDP, 01–374-04/1. 194 Hans-Jürgen Allendörfer an Lothar Haase, 17. März 1966, in: ACDP, 01–374-04/1; Mirbach, 4. Mai 1965 (s. Anm. 193), S. 196. 195 Bösch, CDU (s. Anm. 140), S. 408f. 196 Ebd., S. 341, 400. 197 Siehe Neumann und Schmid, Hessen-CDU (s. Anm. 187), S. 109–112.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

Forderung einer Demokratisierung der Wirtschaft hin. Zu jenem »heiklen Thema« fand auf einem Bundesparteitag im Sommer 1968 »eine Sachdiskussion« statt, in die auch die Parteibasis einbezogen wurde.198 In Hessen reichte die Spannweite der Positionen von der Befürwortung der paritätischen Mitbestimmung durch die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) bis hin zu deren vehementen Ablehnung durch den Wirtschaftsrat der CDU und der Mittelstandsvereinigung sowie dem rechten Parteiflügel um Dregger.199 Angesichts dieser Differenzen empfahl der wirtschaftspolitische Ausschuss der CDU in Hessen dem Landesvorstand, im Landtagswahlkampf 1970 auf Stellungnahmen zur Frage der Mitbestimmung gänzlich zu verzichten.200 Wie aber verhielt sich der Arbeitgeberverband gegenüber dem Fall Süßmuth? Dass Richard Süßmuth Anfang März 1970 sein zuvor gegebenes Versprechen endgültig zurückzog, wurde in der Berichterstattung jener Journalisten, die die Belegschaftsinitiative unterstützten, als Resultat der »überraschend[en]« Einflussnahme durch den Verein der Glasindustrie (VdG) interpretiert.201 Es verfestigte sich die Annahme, dieser habe Süßmuths »Starrsinn gelenkt«, um »den Beweis kaputtzumachen, dass Arbeiter auch selbst Unternehmer sein können«. Laut Peter Marchal habe der VdG »alles daran [gesetzt], das Experimentieren mit einer neuen Form des Eigentums an den Produktionsmitteln zu verhindern«, und von seiner Hauptgeschäftsstelle in München »aus die Fäden« gezogen.202 Von einer »ideologischen Kampagne« gegen die Belegschaftsübernahme und einem Boykott durch das Unternehmerlager sprach der gewerkschaftsnahe Sozialwissenschaftler Hans See.203 Unterfüttert wurde der Verdacht, die »Industriellen [würden] Süßmuth bedrängen, sein Unternehmen nicht der Belegschaft zu überschreiben«, durch das Bekanntwerden des »geheim gehaltenen Gesprächs« zwischen Richard Süßmuth und VdG-Vertretern am 11. März 1970 sowie dem am Tag darauf versandten VdG-Sonderrundschreiben, in dem die Mitgliedsfirmen dazu aufgefordert wurden, keine Beschäftigten aus der Glashütte Süßmuth einzustellen »und die Bestimmungen unseres ›Abwerbungsbeschlusses‹ sorgfältig zu beachten.«204 Am 17. März 1970, dem Tag der symbolischen Betriebsübergabe, berichtete die Frankfurter Rundschau von 198 Bösch, CDU (s. Anm. 140), S. 413. 199 Stellungnahme Sozialausschüsse der CDA Hessen, undatiert [Anfang der 1970er Jahre], in: ACDP, 03–020-124; Typoskript Rede von Alfred Dregger, gehalten auf dem CDU-Bundesparteitag in Düsseldorf im Januar 1971, in: ACDP, 03–020-124. 200 Wirtschaftspolitische Ausschuss der CDU in Hessen an den Landesverband, 20. April 1970, in: ACDP, 03–020-124. Die Differenzen bzgl. der Mitbestimmung prägten die CDU nicht nur im Landesverband Hessen. Laut Milert und Tschirbs habe die CDU die seit Anfang der 1960er Jahre vom DGB geforderte Reform des BetrVG auch deshalb blockiert, um innerhalb der Partei das Aufbrechen einer Kontroverse hierüber zu vermeiden. Milert und Tschirbs, Demokratie (s. Anm. 78), S. 463. 201 Folgende Zitate aus Rolf Fischer, »Gelenkter Starrsinn«, in: FR, 14. März 1970, in: AGI. 202 Marchal, 4. August 1971 (s. Anm. 154), S. 11f. 203 Hans See, »Arbeiterselbstverwaltung im Kapitalismus«, in: Fabian, Arbeiter (s. Anm. 124), S. 30; Ebenso Transkript Interview der Autorin mit Hans See, 5. August 2013, im Besitz der Autorin, S. 3f. 204 VdG-Sonderrundschreiben, 12. März 1970, in: FHI, Schöf-1221; Rolf Fischer, »Fabian greift Glasindustrielle an. Süßmuth-Arbeiter fordern Enteignungsgesetze vom Hessischen Landtag«, in: FR, 14. März 1970, in: AGI; Ebenso »Der Chef versagte. Belegschaft übernimmt Glashütte in eigener Regie«, in: Welt der Arbeit, April 1970, in: Privatarchiv See; Gerhard Lindenthal, »Arbeiter retten ih-

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»schwarzen Listen«, auf der die »Süßmuth-Arbeiter« stünden, und veröffentlichte den Text dieses Rundschreibens im Wortlaut.205 Die IG Chemie kritisierte das Schreiben als Aufruf zum Einstellungsboykott, unlauteres Mittel des Arbeitskampfes und Verstoß gegen Artikel 12 des Grundgesetzes und erwog, juristische Schritte gegen den VdG einzuleiten.206 Das Bild von Richard Süßmuth als einem von den Anweisungen des Arbeitgeberverbands ferngesteuerten Unternehmer war ein zentraler Bestandteil der öffentlichen Kommunikation der Betriebsaktivisten.207 Es dürfte manchen Beschäftigten geholfen haben, das wankelmütige Verhalten und den Wortbruch von Süßmuth zu verstehen, das den geteilten Vorstellungen einer auf Vertrauen basierenden »Werksgemeinschaft« eigentlich zuwider lief.208 Mit dem konkreten Ereignisverlauf hatte diese Darstellung jedoch wenig zu tun. Während und nach der Betriebsübernahme habe es sowohl von Seiten der Geschäftspartner*innen als auch von Seiten der Konkurrenzunternehmen laut [Hans Müller] keine »sichtbaren oder fühlbaren Anfeindungen« gegeben.209 In der mittelständisch geprägten Glasindustrie habe es für groß anlegte Boykottmaßnahmen – so hob Franz Fabian im Gespräch mit Erasmus Schöfer hervor – keine Voraussetzungen gegeben.210 Anders als in der Chemiebranche, die von drei Großkonzernen dominiert gewesen sei, gab es in der Glasindustrie keine Oligopolisten, die ein »Ausbluten« der belegschaftseigenen Glashütte hätten bewerkstelligen können. Vielmehr hatte Richard Süßmuth mehrfach – seiner Ansicht nach vergeblich – den VdG um Unterstützung gebeten.211 Der Geschäftsführer der Hauptgeschäftsstelle in München hatte ihm – ohne Kenntnis des Angebots der Belegschaftsvertreter – davon abgeraten, sein Unternehmen abzutreten.212 Zugleich prognostizierte er, dass die Beschäftigten aller Voraussicht nach in einen Streik treten würden, infolgedessen das Konkursverfahren eingeleitet werden müsse. Nur auf informeller Ebene wurde Süßmuth in Aussicht gestellt, dass in diesem Fall »die im Verein zusammengeschlossene Glasindustrie alles daransetzen wird, Sie und Ihre Frau Gemahlin vor materieller Not zu schützen.« Hierüber sollte

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re Arbeitsplätze selbst. Die Glashütte Süßmuth produziert weiter«, in: Gewerkschaftspost, August 1970, in: Privatarchiv Siebert. Rolf Fischer, »Süßmuth-Arbeiter auf der ›schwarzen Liste‹. Industrielle erbitten Einstellungsstopp«, in: FR, 17. März 1970, in: AGI. Pressemitteilung IG Chemie Hessen, 16. März 1970, in: FHI, Schöf-1221; Rolf Fischer, »IG Chemie kündigt Klage gegen Glasindustrielle an. Verletzung des Grundgesetzes vorgeworfen«, in: FR, 18. März 1970, in: AGI; »Keine Klage der Gewerkschaft mehr im Fall Süßmuth? Ein Rundschreiben des Vereins der Glasindustrie erregt die Gemüter«, in: FAZ, 19. März 1970, in: FHI, Schöf-1199. Flugblatt »Hammer oder Amboss?«, gezeichnet von [Paul Nowak] für die Vertrauensleute (GHS), undatiert [10.März 1970], in: FHI, Schöf-1222; Pressemitteilung Vertrauensleute der GHS, 12. März 1970, in: FHI, Schöf-1221; Ebenso [Paul Nowak] in Braun et al., 1973 (s. Anm. 90), S. 3. Siehe Kapitel 2.2. [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 27), S. 18, 13–18; Ebenso [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 172), S. 9; [Schmitz] et al., 20. März 1973 (s. Anm. 12), S. 2. [Hans Müller] zitiert in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 12), S. 3. Folgendes aus Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 15), S. 7f. Richard Süßmuth in Wallraff, [März 1970] (s. Anm. 172), S. 4. Folgendes aus Georg Peter an Richard Süßmuth, 3. März 1970, in: FHI, Schöf-1221.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

auf einer Vorstandssitzung am 9. April 1970 beraten werden, die »Herren von Poschinger [Theresienthal] und Max Kokula [Schott Zwiesel] sowie Prof. Schott« hätten hierzu bereits ihre Bereitschaft signalisiert.213 Das Versenden des Sonderrundschreibens vom 12. März 1970 war die einzige konkrete Hilfestellung, die Süßmuth vom Arbeitgeberverband erhielt. Außenstehenden konnte dies als ein »schweres Geschütz« erscheinen.214 Verbandsintern stellte das Abwerbungsverbot jedoch ein »Gentlemen Agreement« unter Glasunternehmern dar, das in einer von akutem Fachkräftemangel geprägten Branche lange vor der Krise in der Glashütte Süßmuth als notwendig erachtet wurde.215 Angesichts der intensiven Abwerbungsbemühungen von Süßmuths Konkurrenten hatte jenes Rundschreiben die eigentlich intendierte Wirkung nicht erzielt bzw. es war vielmehr eine Reaktion darauf.216 Vom unternehmerischen Standpunkt aus hatten die im Konkurrenzverhältnis zueinander stehenden VdGMitgliedsfirmen kein Interesse, Richard Süßmuth beim Erhalt seines Unternehmens zu helfen.217 Weil das Rundschreiben Angriffsfläche für eine skandalisierende Öffentlichkeitsarbeit bot, die von den Belegschaftsvertretern lanciert und von Medienvertretern auch umfassend rezipiert wurde, sowie angesichts des Festigungseffektes, den die Empörung hierüber auf den Zusammenhalt in der Belegschaft gehabt haben dürfte, trug es eher zum Erfolg der Betriebsübernahme bei. Denn nun verlief die Auseinandersetzung nicht mehr zwischen Richard Süßmuth und Belegschaft, sondern zwischen Belegschaft und Arbeitgeberverband, dessen Übergriffe die Beschäftigten »erst recht« veranlassten, »Dampf« zu machen.218 Die teils fehlende, teils zögerliche Unterstützung der Adressaten von Süßmuths Hilfsappellen verdeutlicht, dass diese seine dringliche Einschätzung nicht teilten. Offensichtlich maßen sie den Ereignissen in Immenhausen kaum gesellschaftspolitische Relevanz bei – nicht zuletzt deshalb, weil im Unternehmerlager von einem baldigen

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Laut Erasmus Schöfer hätten drei Glasunternehmen Richard Süßmuth einen Betrag von jeweils 100.000 DM zugesichert. Im Dokumentarfilm Süssmuth e.V. wurde auf eine vom VdG in Aussicht gestellte Rente verwiesen. Schöfer, [1973/1974] (s. Anm. 101); Braun et al., 1973 (s. Anm. 90), S. 5. 214 Marchal, 4. August 1971 (s. Anm. 154), S. 12. 215 Siehe Kapitel 1.1. Der VdG-Beschluss von 1961 habe sich von ähnlichen Beschlüssen früherer Glasindustriellen-Vereinigungen unterschieden, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts »gegen mögliche Streikaktionen [rüsteten] und einander versicherten, keine Arbeiter anzustellen, die andernorts gestreikt hatten oder entlassen worden waren.« Der SPD-Bundesarbeitsminister Walter Arendt sah im VdG-Sonderrundschreiben vom März 1970 daher keinen Verstoß gegen die Verfassung. Johannes Laufer, Von der Glasmanufaktur zum Industrieunternehmen. Die Deutsche Spiegelglas AG (1830–1955), Stuttgart 1997, S. 228; Antwort Walter Arendt auf die Kleine Anfrage Drucksache VI/867, 29. Mai 1970, Online: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/06/008/0600867.pdf. 216 [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 27), S. 12. Siehe Kapitel 2.2. 217 Das Interesse an einem Konkurs, um sich Marktanteile und Beschäftigte der GHS einzuverleiben, nahm die Belegschaft als Motiv der Konkurrenzunternehmen bzw. VdG-Mitgliedsfirmen wahr, Richard Süßmuth unter Druck zu setzen, nicht auf ihre Forderungen einzugehen. Protokoll Betriebsversammlung (GHS), 6. März 1970, in: FHI, Schöf-1221, S. 4; [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 27), S. 13f., 17. 218 Glasmacher [Rupert Frei] zitiert in Jochen Wegener, »Die Fabrik gehört uns«, in: Stern, 18. April 1973, in: AGI, S. 79.

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Scheitern des Belegschaftsunternehmens ausgegangen wurde.219 Die Deutung einer in Immenhausen erfolgten »sozialistischen Machtergreifung«, wie sie in einem Artikel der Zeitschrift des Deutschen Gewerbeverbands überliefert ist,220 zeugte in erster Linie von einer öffentlichkeitswirksamen Strategie zur Abwehr sozialpolitischer Reformen in »einer nach links driftenden Gesellschaft«, der sich Arbeitgeberverbände generell seit Anbruch des »sozialdemokratischen Jahrzehnts« in zunehmenden Maße bedienten.221 Da CDU- und Unternehmensverbände die Belegschaftsübernahme eher nüchtern einschätzten, boten sie Richard Süßmuth allein auf Basis alter Loyalitäten Hilfe an bzw. verweigerten solche aufgrund alter Feindschaften. Dies registrierte Süßmuth wiederum mit Empörung und hatte deshalb das Gefühl, »im Stich gelassen« worden zu sein.222 Ja, er war erschüttert, »dass man bei uns nicht erkennt, dass hier systematisch für den Mittelstand ein Modell einer roten Prägung geschaffen wird«, das »sicher bald Nachahmung finden« werde, und sah sich daher dazu gezwungen, »durch eine Übergabe des Werkes an [s]eine Mitarbeiter die Gründung eines ›Volkseigenen Betriebs Glaskommune West‹ zu verhindern«, das heißt einer von ihm ernsthaft befürchteten Enteignung durch das Land Hessen und künftigen Unternehmensleitung durch die Gewerkschaftsfunktionäre zuvorzukommen. Für Richard Süßmuth selbst hatten die »irrationalen Ängste« eines unmittelbar bevorstehenden »sozialistische[n] Umsturz[es]« damit durchaus praktische Konsequenzen223 – ganz im Gegensatz zu seinem partei- und verbandspolitischen Umfeld, in dem vielmehr sein Einlenken Verwunderung hervorrief.224 Gleichwohl fungierte die »Bedrohung« auch als Projektionsfläche für die Ursachen der Probleme in seinem Unternehmen, die es Süßmuth ermöglicht hatte, sich mit den eigenen Fehlentscheidungen nicht auseinandersetzen zu müssen.

3.5 Die Banken und Bürgen Banken erwiesen sich historisch als die »zuverlässigsten Gegner von Betriebsübernahmen durch die Belegschaft«.225 Ihre ablehnende Haltung verweist auf die grundlegende

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Siehe Stellungnahme des VdG-Geschäftsführers in Marchal, 4. August 1971 (s. Anm. 154), S. 3f.; Ähnlich Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 15), S. 10. »Glashartes hessisches Sozialisierungsmodell. Wie man einen mittelständischen Unternehmer erpresst«, in: Der Selbstständige, 15. April 1970, abgedruckt in: Fabian, Arbeiter (s. Anm. 124), S. 107–109. Plumpe, 1968 (s. Anm. 174), S. 53; Werner Bührer, »›…insofern steckt in jedem echten Unternehmer auch ein künstlerisches Element‹. Die Erneuerung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) in den 1970er Jahren«, in: Morten Reitmayer und Ruth Rosenberger (Hg.), Unternehmen am Ende des »goldenen Zeitalters«. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008, S. 235. Folgendes aus Süßmuth, 20. März 1970 (s. Anm. 171); Süßmuth, 11. April 1970 (s. Anm. 132). Plumpe, 1968 (s. Anm. 174), S. 53. Siehe Stellungnahme des VdG-Geschäftsführers in Marchal, 4. August 1971 (s. Anm. 154), S. 12. Rainer Duhm, »Manege oder Parkett? Die Rolle deutscher Gewerkschaften bei Betriebsübernahmen«, in: Gisela Notz, Klaus-Dieter Heß, Ulrich Buchholz u.a. (Hg.), Selbstverwaltung in der Wirtschaft. Alte Illusion oder neue Hoffnung?, Köln 1991, S. 74.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

Schwierigkeit, die mit Eigentum im Rahmen des bürgerlichen Rechts verbundene Verantwortung und Haftung in kollektiven Kategorien zu fassen – gehört doch gerade das Privateigentum zu einer der Grundfesten der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Selbst den Stiftungsunternehmen der Carl-Zeiss-Stiftung (Carl-Zeiss und Schott) war der Zugang zu Fremdkapital aufgrund einer seitens der Kreditgeber problematisierten »mangelnden Transparenz und dem Fehlen – garantierender – persönlicher Eigentümer« erschwert.226 Die für die Banken hieraus resultierende Unsicherheit kompensierten beide Stiftungsunternehmen mit Landes- oder Bundesbürgschaften. Bei der belegschaftseigenen Glashütte Süßmuth kam erschwerend hinzu, dass es sich hier nicht nur um ein kollektives Rechtssubjekt handelte, sondern zugleich um ein Konkursunternehmen und um ein Unternehmen, das erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik in das Eigentum der Belegschaft überging und dem allein aus diesem Grund nicht nur Vertreter der Banken skeptisch gegenüberstanden.227 Bei der Suche nach Geldgebern und Bürgen für die dringend notwendigen Kredite stieß das Belegschaftsunternehmen auf besonders hohe Hürden, die nicht allein den Bereich der materiellen Haftung, sondern in erster Linie die damit verbundene Frage nach der Übernahme der Verantwortung für die weitere Unternehmensentwicklung betraf.

Die Landeskreditkasse Kassel (LKK) Die LKK war eine Niederlassung der Hessischen Landesbank (Helaba) und die Hausbank der Glashütte Süßmuth, über die seit Unternehmensbeginn sämtliche staatsverbürgten Kredite liefen.228 Angesichts der bereits bestehenden Hypothekenbelastung und der sich andeutenden krisenhaften Unternehmensentwicklung war die Hausbank nur zu für Richard Süßmuth sehr ungünstigen Konditionen bereit, seine seit Anfang der 1960er Jahre gestellten Kreditanträge zu unterstützen.229 Anfang 1970 hatte sich das Vertrauen der LKK gegenüber Süßmuth vollends aufgebraucht. Die Skepsis der LKK gegenüber der Firma blieb auch nach der Belegschaftsübernahme bestehen bzw. nahm hierdurch weiter zu. Allein die Grundsatzentscheidung der Hessischen Landesregierung zur Übernahme einer 50-prozentigen Bürgschaft und die sich daran anschließende Entscheidung des

226 Folgendes aus Dieter Ziegler, »Die Carl-Zeiss-Stiftung Heidenheim 1948 bis 1989«, in: Werner Plumpe (Hg.), Eine Vision. Zwei Unternehmen. 125 Jahre Carl-Zeiss-Stiftung, München 2014, S. 280f. 227 Im Rahmen des bürgerlichen Rechts ergab sich für selbstverwaltete Betriebe generell der Widerspruch, dass eine Kollektivierung des Eigentums bzw. eine Kapitalneutralisierung vor individuellen Zugriffen schützen sollte und kollektives Eigentum damit unveräußerlich wurde, womit aber zugleich dessen Bedeutung als Sicherheit für Kreditanträge sank. Siehe Frank Heider, Beate Hock und Hans-Werner Seitz, Kontinuität oder Transformation? Zur Entwicklung selbstverwalteter Betriebe. Eine empirische Studie, Gießen 1997, S. 31. 228 Die Helaba ging 1953 aus dem Zusammenschluss der Hessischen Landesbank Darmstadt Girozentrale, der Nassauischen Landesbank Wiesbaden und der LKK hervor. Als die Bank in den 1970er Jahren aufgrund hoher Verluste infolge von spekulativen Risikogeschäften in die Kritik geriet und der 1974 drohende Konkurs nur mit Hilfe öffentlicher Mittel abgewandt werden konnte, gehörte sie zur Hälfte dem Land Hessen. Rudolf Heilt, »Helaba-Affäre. Die Eigentümer sind am Zuge«, in: Die Zeit, 14. Januar 1977, Online: www.zeit.de/1977/04/die-eigentuemer-sind-am-zuge. 229 Siehe Kapitel 1.6.

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Helaba-Vorstands zur Übernahme von 20 Prozent der Haftung habe die LKK im Frühjahr 1970 dazu gezwungen, ihre kreditwirtschaftliche Blockadehaltung zu lockern.230 Ein Schuldenschnitt kam für sie aber nicht infrage.

Die Bank für Gemeinwirtschaft (BfG) Eine unkomplizierte Unterstützung hatten sich die Beschäftigten und vor allem die IG-Chemie-Funktionäre von der gewerkschaftseigenen BfG erhofft.231 Doch die BfG verstand sich als eine »traditionell privatkapitalistische Bank« und sah es daher auch im Fall Süßmuth nicht als ihre Aufgabe an, das Eigenkapital eines Unternehmens zu ersetzen und damit »das unternehmerische Risiko zu tragen.«232 Das BfG-Vorstandsmitglied Diether Hoffmann hatte Franz Fabian bereits im Januar 1970 mitgeteilt, dass sich die BfG an der Kreditfinanzierung der Belegschaftshütte nur dann beteiligen könne, wenn ihr wie der LKK erstrangige Sicherheiten an den Grundstücken der Firma eingeräumt werden würde.233 Nach den üblichen Regeln der Kreditvergabe erwartete die BfG also für ihren »Beitrag auch eine faire Absicherung« und forderte die gleichen Konditionen, wie sie die LKK durchgesetzt hatte – zumal diese als Hausbank eigentlich viel stärker in der Pflicht stehe, für die neuen Kredite zu bürgen.234 Da die LKK es wiederum strikt ablehnte, »die für sie eingetragenen erstrangigen Grundschulden für bereits früher gewährte Kredite in einen Sicherheitenpool einzubringen«, war die BfG lediglich zu einer quotalen Bürgschaftsübernahme von 15 Prozent bereit und sah hierin ein »weit über das Übliche hinausgehende[s]« Zugeständnis.235 Gemessen an den Ansprüchen einer dem Gemeinwohl verpflichteten Bank der Gewerkschaftsbewegung war die Enttäuschung über deren sicherheitsbedachtes Agieren bei den Belegschaftsvertretern und -unterstützern groß. Franz Fabian hatte kein Verständnis dafür, dass die BfG die offenen 15 Prozent der Bürgschaft zur Sicherstellung der Gesamtfinanzierung nicht auch noch übernommen hatte und dieses – angesichts der Geldsumme – nur geringfügige Risiko eingegangen war.236 Tatsächlich ging es der BfG nicht um den monetären Betrag an sich. 15 Prozent der Gesamtkreditsumme machten knapp 200.000 DM aus, was für die Bank eine zu ver230 [Hans Müller] in Transkript Gespräche von Erasmus Schöfer, undatiert [1973/74], im Besitz der Autorin, S. 19. 231 [Schmitz] et al., 20. März 1973 (s. Anm. 12), S. 1f.; Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 15), S. 6f. Die BfG ging aus einer gemeinsamen Gründung durch westdeutsche Gewerkschaften und Konsumgenossenschaften hervor, die Ende der 1940er Jahre begann und Ende der 1950er Jahre abgeschlossen war. Sie befand sich mehrheitlich im Besitz des DGB und der DGB-Einzelgewerkschaften. Bernt Engelmann, Unternehmen ohne Unternehmer. Die Gemeinwirtschaftliche Gruppe in der Bundesrepublik, Berlin 1966, S. 53–75; Achim von Loesch, Die Bank für Gemeinwirtschaft. Entwicklung, Struktur, Aufgaben, Frankfurt a.M. 1975. 232 Engelmann, Unternehmen (s. Anm. 231), S. 57; Diether H. Hoffmann an Franz Fabian, 19. Januar 1970, in: FHI, Schöf-1221; Walter Hesselbach wiedergegeben in Werner Vitt an Karl Hauenschild, 16. April 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2f. 233 Hoffmann, 19. Januar 1970 (s. Anm. 232). 234 Diether H. Hoffmann an Karl Hauenschild, 15. Mai 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 235 Diether H. Hoffmann an [Dieter Vogt], 15. Mai 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie; ebd. 236 Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 15), S. 6f.

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nachlässigende Summe darstellte. Deutlich wurde dies, als der Vorstandsvorsitzende Walter Hesselbach – obwohl er sich generell von der Belegschaftsinitiative keinen Erfolg versprach – dem Gewerkschaftsvorstand einen Betrag in Höhe von 500.000 DM als einen »à fonds perdu« anbot, den die »IG Chemie – in welcher Weise auch immer – in das Unternehmen einbringen« könne, ohne hierfür Sicherheiten aufbringen zu müssen.237 Zugleich stellte Hesselbach jedoch klar, dass »er im Interesse der Kapitalgeber nicht in der Lage sei, sich mit einem Beteiligungsbetrag unternehmenspolitisch zu binden, zumal dieses sicherlich für andere Organisationsbereiche und Unternehmungen Folgen auslösen würde.« Im Fall Süßmuth ging es der BfG also keineswegs um die Höhe der Bürgschaftssumme, sondern ausschließlich um die hiermit zusammenhängende politische Bedeutung: Die BfG wollte nicht als offizielle Unterstützerin der Belegschaftsübernahme wahrgenommen werden – und zwar sowohl um den erst erarbeiteten Ruf als eine wirtschaftlich effizient agierende Bank bei den »Kapitalgebern« nicht zu verlieren als auch um einen Präzedenzfall zu verhindern und keine entsprechende Erwartungshaltung von Belegschaften in ähnlichen Situationen zu befördern.238 Die BfG befand sich damit in einer für gemeinwirtschaftliche Unternehmen zum damaligen Zeitpunkt nicht unüblichen Situation, in der ihre ökonomischen Prämissen in Konflikt mit den gemeinwirtschaftlichen Grundsätzen gerieten.239 Dem hieraus resultierenden Dilemma wollte der Vorstandsvorsitzende im Fall Süßmuth durch das Angebot eines geschenkten Geldbetrags entgehen, den die IG Chemie wiederum – aus ähnlichen Gründen wie ihn die BfG informell anbot – offiziell nicht annahm.

Franz Fabian als informeller Bürge Das zähe Ringen um die Ausfallbürgschaften für das Belegschaftsunternehmen machte deutlich, dass die Übernahme der politischen Verantwortung zum entscheidenden Problem geworden war. Die Zuständigkeiten wurden nicht nur zwischen LKK und BfG hin und her geschoben, sondern sie waren in erster Linie zwischen wie auch innerhalb der in Hessen regierenden SPD und der IG Chemie umkämpft, die als überbetriebliche Repräsentanten der Arbeiter*inneninteressen gleichermaßen mit dem Anliegen der Süßmuth-Belegschaft konfrontiert waren und sich einem infolge der Politisierung der Auseinandersetzung zunehmenden öffentlichen Druck gegenübersahen. Der Wirtschaftsminister Rudi Arndt lehnte die vom Hauptvorstand der IG Chemie erbetene Übernahme

237 Folgende Zitate von Walter Hesselbach wiedergegeben in Vitt, 16. April 1970 (s. Anm. 232), S. 2f. 238 Auch gegenüber anderen »Fortführungsinitiativen« verhielt sich die BfG »keinen Deut anders […] als irgendeine sonstige Bank«. Rainer Duhm, Wenn Belegschaften ihre Betriebe übernehmen. Probleme und Chancen selbstverwalteter Fortführung von Krisenbetrieben, Frankfurt a.M. u.a. 1990, S. 30f. Angesichts der in der Anfangszeit starken Vorbehalte gegenüber »der Gewerkschaftsbank« habe sich die BfG seit ihrer Gründung sehr darum bemüht, in der Öffentlichkeit als eine zuverlässige Bank auch und vor allem von »großen Industriekunden« wahrgenommen zu werden. Es sei ihr gelungen, sich »zu einem auch auf der Unternehmerseite hochangesehenen Kreditinstitut« zu entwickeln. Mitte der 1960er Jahre habe die BfG »mehr als vier Fünftel aller Geschäfte« mit Unternehmen aus allen Branchen getätigt. Engelmann, Unternehmen (s. Anm. 231), S. 62–66. 239 Peter Kramper, Neue Heimat. Unternehmenspolitik und Unternehmensentwicklung im gewerkschaftlichen Wohnungs- und Städtebau 1950–1982, Stuttgart 2008, S. 24.

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einer 100-prozentigen Ausfallbürgschaft durch das Land Hessen aufgrund der hiermit verbundenen »moralische[n] Verantwortung« ab.240 Stattdessen sah Arndt die IG Chemie in der Pflicht, die Verantwortung für die »Unterstützungsaktion« zu übernehmen, und erwartete, dass dies sich in der Lösung der Finanzierungsfrage sowie der schnellstmöglichen Realisierung der Voraussetzungen für die Landesteilbürgschaft niederschlagen müsse.241 Falls die Belegschaftsübernahme der Glashütte hieran scheitern sollte – so hielt Arndt fest –, »würde allerdings für die Öffentlichkeit deutlich, dass die Schuld nicht bei der Hessischen Landesregierung liegt«.242 Die von Arndt als Repräsentant der in Hessen regierenden SPD an den Hauptvorstand der IG Chemie delegierte Verantwortung versuchte dieser wiederum an die BfG weiterzureichen. Unter Verweis auf die Befürchtung, »dass ein eventuelles Scheitern des Projektes Süßmuth der BfG angelastet würde«, wollte der Vorstandsvorsitzende Hauenschild den Bankdirektor Hesselbach zu einem Einlenken und zur Übernahme der noch offenen Bürgschaftsanteile bewegen.243 Aber auch gegenüber dem hessischen Bezirksleiter Fabian betonte Hauenschild, dass die »zeitliche Verzögerung [in den Kreditverhandlungen, die fast zum Scheitern der Belegschaftsübernahme geführt hätte] nicht auf das Konto des Hauptvorstandes geht«.244 Insgeheim scheinen jene, die Belegschaftsinitiative unterstützenden Funktionäre der IG Chemie Hessen bzw. Franz Fabian das informelle Angebot der BfG von 500.000 DM angenommen zu haben. Für diese aufgrund der Informalität wie auch der Brisanz des Vorgangs nicht belegbare Annahme spricht, dass bereits im Frühsommer 1970 in der Glashütte Süßmuth umfangreiche, nicht mehr aufschiebbare Sanierungsmaßnahmen in Auftrag gegeben wurden, obwohl mit der Freigabe der Kreditmittel erst ein Jahr später begonnen wurde.245 Dem an den Finanzierungsverhandlungen nicht beteiligten Werner Schepoks »schien [es mit einem Mal so], als ob Geld keine allzu große Rolle mehr spielen würde.«246 Diese informelle BfG-Finanzspritze dürfte auch die große Zuversicht des hessischen Bezirksleiters Franz Fabian befördert haben, die mit Blick auf die Buchüberschuldung der Firma sowie die gegenüber dem Investitionsbedarf sehr knapp bemessenen Kreditsumme eher verwunderlich war. Während der Übernahmeverhandlungen hatten die Funktionäre der Gewerkschaftslinken und allen voran Franz Fabian – als Bezirksleiter und im November 1970 in den Hessischen Landtag gewählter SPD-Abgeordneter – sowohl gegenüber der Hessischen Landesregierung als auch gegenüber dem Hauptvorstand der IG Chemie faktisch eine informelle Bürgschaft für das Belegschaftsunternehmen übernommen; sie standen diesen gegenüber für die weiteren Entwicklungen im Fall Süßmuth in der Verantwortung.

240 IG Chemie Hauptvorstand, 6. April 1970 (s. Anm. 16), S. 2. 241 IG Chemie Hauptvorstand, 6. April 1970 (s. Anm. 16); Arndt, 6. Mai 1970 (s. Anm. 13). Siehe Kapitel 2.3. 242 Arndt, 6. Mai 1970 (s. Anm. 13), S. 2. 243 Karl Hauenschild an Walter Hesselbach, 13. Mai 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 244 Karl Hauenschild an IG Chemie Hauptvorstand, 22. Mai 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 245 Siehe Kapitel 5.1 und 7.3. 246 Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 2.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

Carl Backhaus Aus der informellen Bürgschaft leitete Franz Fabian für sein Handeln faktisch die Entscheidungsbefugnis bei der Gestaltung der Selbstverwaltungsstrukturen in der Glashütte Süßmuth ab, die nicht nur die Betriebsaktivisten, sondern auch Carl Backhaus zu spüren bekamen. Als einziger der materiell haftenden Bürgen verband Backhaus mit dem Belegschaftsunternehmen nicht in erster Linie Sicherheitsbedenken. Vielmehr war seine Unterstützung durch sein gesellschaftspolitisches Anliegen einer »totalen Demokratie« motiviert, das er seit den 1950er Jahren in seinem als Ahrensburger Modell bekannt gewordenen Metallwarenunternehmen Johann Friedrich Behrens verfolgte.247 Um das Ziel einer Demokratisierung der Wirtschaft zu erreichen, hielt Carl Backhaus »Arbeiterunternehmen für den richtigen Weg«.248 Die Glashütte Süßmuth wie auch die zwei Jahre später von der Belegschaft übernommene Beton- und Kunststeinfirma (Beku) in Thüngersheim bei Würzburg waren für ihn finanziell zu unterstützende Objekte, um einen zwischen Kapitalismus und Sozialismus liegenden »dritten Weg« einzuschlagen, der zur Aufhebung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit führe sollte.249 Carl Backhaus wollte die Unternehmenskonzeption der belegschaftseigenen Glashütte Süßmuth mitgestalten. Unmittelbar nach seiner Bürgschaftserklärung schlug er in einem Schreiben an die Beschäftigten – in Anlehnung an das Ahrensburger Modell – die Gründung eines Beirats als beratendes Expertengremium, die Bildung eines internen Schlichtungsausschusses, ein »Mindestalter von vielleicht 21 Jahren« als Voraussetzung für die Aufnahme im Belegschaftsverein sowie die Verpflichtung der Beschäftigten auf eine persönliche finanzielle Beteiligung im Unternehmen vor.250 Für eine solche Kapitaleinlage empfahl Backhaus die »Höhe eines Jahresverdienstes«, die wiederum leistungsabhängig vergütet werden könne. Diese »Anregungen« alarmierten Franz Fabian, der sich »große Sorgen [zu machen begann], dass Herr Backhaus mit der Übernahme der 15-prozentigen Bürgschaft glaubt, diesen Betrieb in seinem Sinn beeinflussen zu können.«251 Gegenüber Werner Vitt beschwerte sich Fabian über Backhaus’ Versuche, »sein

247 Sein Engagement für eine »totale Demokratisierung der Gesellschaft in all ihren Bereichen« und somit »auch der Wirtschaft« sei auf die Erfahrung des NS zurückgegangen, dessen Ursache er im Kapitalismus und im Klassenkampf gesehen habe. Die Firma Joh. Friedrich Behrens produzierte »Heftklammern und andere Befestigungsmittel für die industrielle Weiterverarbeitung sowie pneumatische Nagelapparate«, 1972 waren hier 500 Personen beschäftigt. Hinzu kamen weitere 200 Beschäftigte in den insgesamt »neun ausländischen Tochter- und Beteiligungsgesellschaften«. Arnulf Geißler, »Das Ahrensburger Modell. Ein Beispiel genossenschaftlicher Unternehmensdemokratie«, in: Ders. und Wolfgang Fricke (Hg.), Das Ahrensburger Modell, Ahrensburg 1972, S. 41–74, 50. 248 Grußadresse von Walter Hesselbach in Wolfgang Fricke und Arnulf Geißler (Hg.), Das Ahrensburger Modell. Ein Weg zur Demokratisierung der Wirtschaft. Carl Backhaus zum 70. Geburtstag, Ahrensburg 1972, S. 17f. 249 Hans Ott Eglau, »Die Pioniere von Thüngersheim. Wie die Belegschaft der Konkursfirma Beku den Betrieb in eigener Regie weiterführen will«, in: Die Zeit, 26. Mai 1972, Online: www.zeit.de/1972/21/die-pioniere-von-thuengersheim. 250 Folgendes aus Carl Backhaus an GHS, 6. Juli 1970, in: FHI, Schöf-1221. 251 Folgendes aus Franz Fabian an Werner Vitt, 14. Juli 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie.

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Modell durchzusetzen«, das er »für den Fall Süßmuth [als] nicht geeignet« empfand.252 Insbesondere die Einschränkung des Mitspracherechts, die finanzielle Beteiligung am Unternehmen sowie die hieraus resultierende persönliche Haftung der Beschäftigten lehnten nicht nur Franz Fabian, sondern auch die Belegschaftsvertreter*innen ab, wie [Paul Nowak] im Namen der Gesellschafter in einem Antwortschreiben an Carl Backhaus darlegte.253

3.6 Zwischenfazit In den Jahren 1969 und 1970 überlagerten sich auf verschiedenen Ebenen Veränderungsprozesse in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die in Hessen zum Teil auf spezifische Weise ausgeprägt waren. Die politischen Auseinandersetzungen um eine Demokratisierung der Gesellschaft spitzten sich zu und blieben im Bereich der Wirtschaft am heftigsten umkämpft. Im Vorfeld der ein Jahr nach der Bundestagswahl vom September 1969 mit enormer politischer Bedeutung aufgeladenen hessischen Landtagswahl im November 1970 kam den nordhessischen Wahlkreisen und somit dem Standort der Glashütte Süßmuth sowohl für Landes- wie Bundesverband der SPD als auch für die hessische CDU ein besonderer Stellenwert zu. Zugleich fanden personelle Veränderungen in den politischen Führungsspitzen statt – auf Ebene der Bundes- wie hessischen Landespolitik, innerhalb der SPD wie CDU und auch im Hauptvorstand der IG Chemie –, die auf einen Generationenwechsel und auf sich ändernde Kräfteverhältnisse zurückgingen. Im Zuge dieser strukturellen wie personellen, die Entscheidungsroutinen unterbrechenden Veränderungen hatte sich der Handlungsspielraum für die Unterstützer der Belegschaftsübernahme in diesen Institutionen temporär vergrößert. Der Belegschaft der Glashütte Süßmuth war es gelungen, ihre Forderungen auf überbetrieblicher Ebene zu legitimieren und innerhalb des Unternehmens durchzusetzen, während Richard Süßmuth nur noch über persönliche Beziehungen Unterstützung für sein Sanierungsvorhaben mobilisieren konnte und hierin letztlich erfolglos war. Aus verschiedenen Hinter- und Beweggründen schalteten sich Vertreter der Hessischen Landesregierung und der SPD, der IG Chemie und der Neuen Linken in die Auseinandersetzung um die Glashütte Süßmuth ein, nachdem der alte Eigentümer seiner unternehmerischen Verantwortung nicht mehr nachzukommen vermochte. Aus Perspektive der Beschäftigten waren die Verhaltensmuster von Solidarität und Abwehr gegenüber ihren Anliegen indes anders verteilt als erwartet. Von der zögerlichen bis distanzierten Haltung der SPD und der Gewerkschaftsbank BfG waren sie ebenso enttäuscht wie Richard Süßmuth von seinen Interessenvertretern aus der CDU und dem Arbeitgeberverband.254 Als Franz Fabian Anfang März 1970 das Scheitern des Über252 Fabians Skepsis gegenüber Backhaus gründete auf einer grundsätzlichen und nicht unberechtigten Ablehnung sogenannter Partnerschaftsunternehmen, in denen nicht selten eine antigewerkschaftliche Grundhaltung herrschte. Ähnlich Rudolf F. Kuda in Fricke und Geißler, Ahrensburger Modell (s. Anm. 248), S. 32f. 253 [Paul Nowak] an Carl Backhaus, 31. Juli 1970, in: FHI, Schöf-1221. 254 Zur Enttäuschung über die Zurückhaltung der SPD siehe [Schmitz] et al., 20. März 1973 (s. Anm. 12), S. 3f.; Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 8; [Freil], 7. Januar 1974 (s. Anm. 101), S. 9f.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

nahmeplans verkündete, sei »bei den Kollegen […] der Eindruck [entstanden], [dass] alle, die daran beteiligt waren – Bankleute, Regierungsleute, auch Gewerkschaftsleute – […] hörbar aufgeatmet [haben], dass das Ding also doch so kaputt war und das man sich damit nicht mehr beschäftigen musste.«255 Die zähen Kreditverhandlungen deutete der kaufmännische Angestellte [Konrad Scholz] im Rückblick als Indiz, dass die Betriebsübernahme eigentlich scheitern sollte, womit sich »Banken und Land […] aus dieser Affäre hätten herausziehen können.«256 Das Schwanken von Landesregierungen »zwischen Unterstützungsbereitschaft und Abwarten« – eine typische Erfahrung von Belegschaftsinitiativen in der Bundesrepublik – verhinderte in der Regel und so auch im Fall Hirschberg deren Erfolg.257 Im Gegensatz dazu unverhofft und für die Betriebsaktivisten der Glashütte Süßmuth eine neue Erfahrung war hingegen der Support von jenen der Neuen bzw. undogmatischen Linken zuzuordnenden Personen und Gruppen, die sich – ähnlich wie in den zum damaligen Zeitpunkt zunehmenden wilden Arbeitskämpfen – zwar keineswegs »auslösend«, aber immerhin »positiv-verstärkend« zu involvieren begannen.258 Mit ihrer Hilfe war es der Süßmuth-Belegschaft im Frühjahr 1970 gelungen, eine bundesweite Öffentlichkeit für ihre Forderungen herzustellen und damit den Handlungsdruck bei den Entscheidungsträgern in SPD und Gewerkschaft derart zu erhöhen, dass diese sie angesichts der angestiegenen öffentlichen Erwartungen und der zugleich entstandenen politischen Brisanz nicht (mehr) ignorieren konnten. Paradigmatisch zeigt der Fall Süßmuth damit auf, welche Dynamiken sich im Zuge der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über die Reichweite einer Demokratisierung auf der Ebene der Praktiken in den Betrieben bzw. in der Arbeitswelt entwickelten und wie diese auf die Gewerkschaften und der auf Bundesebene regierenden Sozialdemokratischen Partei als den zwei traditionellen »Säulen« der Arbeiterbewegung zurückwirkten. Gegenüber einer eigenmächtig auftretenden und darin als radikal wahrgenommenen Basis befürchteten ihre Stellvertreter die Kontrolle zu verlieren. Eine mit den etablierten Strukturen der Repräsentation brechende politische Artikulation ihrer Bedürfnisse und Vorstellungen durch die Arbeitenden selbst war nicht allein in der Glashütte Süßmuth zu beobachten. Diese stand vielmehr im Kontext einer breiteren, sich auch innerhalb der SPD und der Gewerkschaften formierenden sowie gegenüber deren Führungsspitzen opponierenden Basisbewegung, die sich in einer antiautoritären Kritik mit der Neuen Linken traf.259 Deren (explizite oder implizite) Forderung nach einer Wiederbelebung der sozialistischen Tradition der Arbeiterbewegung sowie die Kritik am BadGodesberger-Kurs der SPD und am sozialpartnerschaftlichen Kurs der Gewerkschaften stellte das Fundament des parlamentarischen Erfolgs der SPD grundsätzlich infrage. Die finanzielle Unterstützung der belegschaftseigenen Glashütte Süßmuth durch die sozialdemokratische Landesregierung Hessens erfolgte aus einer Defensive heraus 255 256 257 258 259

Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 8. Notiz [Konrad Scholz], 24. Februar 1982, in: AGI. Duhm, Krisenbetriebe (s. Anm. 238), S. 17; Mende, Belegschaftsinitiativen (s. Anm. 2). Zitat von Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 62), S. 328. Die Kritik am Prinzip der Repräsentation und die »Zurückweisung der Idee der Stellvertretung«, wie sie zentrales Thema in den Theorien von Jean-François Lyotard oder Michel de Certeau war, gewann in der bundesdeutschen Linken vor allem in den 1970er Jahren an Bedeutung. Felsch, Der lange Sommer (s. Anm. 158), S. 104–106.

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Teil I: Die Entstehungsbedingungen der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

und war – wie sich während der Selbstverwaltung in aller Tragweite zeigen sollte – sehr restriktiv formuliert. Der Skepsis in weiten Teilen der SPD wie auch in Teilen des personell neu aufgestellten Hauptvorstands der IG Chemie lag implizit die Prognose eines wahrscheinlichen Scheiterns des Belegschaftsunternehmens zugrunde, die wiederum die Zurückhaltung der CDU und Arbeitgeberverbände begründete. Während Letztere auch deshalb die Angst von Richard Süßmuth nicht teilten, sein Unternehmen könnte zu »einer Art VEB-Betrieb ostzonaler Prägung« bzw. zu einem Paradebeispiel beginnender Enteignungswellen werden,260 war Angst dagegen bei den von der Belegschaft adressierten Repräsentanten in der Hessischen Landesregierung und im Hauptvorstand der IG Chemie das handlungsprägende Gefühl.261 Die Bedenken gegenüber einer wirtschaftsdemokratischen Praxis in der Gegenwart speisten sich entweder – aus Perspektive der partei- und gewerkschaftsinternen Linken – aus der Angst vor den Auswirkungen eines Scheiterns für die Realisierung von Wirtschaftsdemokratie und Sozialismus in der Zukunft oder – aus Perspektive der partei- und gewerkschaftsinternen »Realpolitiker« – aus der Angst vor späteren Wahl- und Mitgliederverlusten. Sowohl in der hessischen SPD als auch in der IG Chemie verstärkte sich seit Ende der 1960er Jahre die Abgrenzung nach links, die in einem engen Zusammenhang damit stand, dass sich die SPD auf Bundesebene nunmehr in Regierungsverantwortung befand. Die Angst eines sich zum linken Flügel zählenden Gewerkschaftsfunktionärs und SPD-Politikers wie Franz Fabian rückte damit in diskursive Nähe zu jener eines katholisch-konservativen Unternehmers wie Richard Süßmuth, deren gemeinsamer Nenner der in der bundesrepublikanischen Gesellschaft konstitutive antikommunistische Konsens war. Der Antikommunismus – auch wenn er im Vergleich zu den 1950er Jahren seit Anfang der 1960er Jahre nachgelassen habe262 – erlebte um und nach »1968« eine Konjunktur, die nicht nur die Politik des konservativen, sondern auch die des sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Lagers prägte. Er gewann nicht nur im Zuge von Brandts Ostpolitik für die CDU an Bedeutung,263 sondern erfuhr – im Zuge der Radikalisierungstendenzen in der 68er-Bewegung ebenso wie an der eigenen Basis – auch innerhalb der SPD und der dieser politisch nahestehenden Gewerkschaften eine Aktualisierung, die sich hier aus historischen Gründen traditionell als »Revolutionsfurcht« artikulierte.264 Gerade weil die Gewerkschaftsführung ebenso wie der Unternehmer Süßmuth die Anliegen der Beschäftigten in ihrer Eigenständigkeit nicht ernst nehmen konnten, proji-

260 Lagebericht Richard Süßmuth, 12. Juli 1969, in: FHI, Schöf-1222; Süßmuth, 20. März 1970 (s. Anm. 171). 261 Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 15), S. 5f.; Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 12), S. 2f.; Ebenso: Schöfer, 17. März 1980 (s. Anm. 1), S. 13. 262 Stefan Creuzberger und Dierk Hoffmann (Hg.), »Geistige Gefahr« und »Immunisierung der Gesellschaft«. Antikommunismus und politische Kultur in der frühen Bundesrepublik, München 2014. 263 Auf die Wiederaufnahme eines antisozialistischen Polarisierungskurses der CDU seit Ende der 1960er Jahre verweist Bösch, CDU (s. Anm. 140), S. 418. 264 Zur Revolutionsfurcht der SPD nach den Erfahrungen der Novemberrevolution 1918 siehe Ralf Hoffrogge, »Wirtschaftsdemokratie als Weg zum Sozialismus? Ein kurzer Abriss der Ideen über Wirtschaftsdemokratie in der deutschen Arbeiterbewegung«, in: Axel Weipert (Hg.), Demokratisierung von Wirtschaft und Staat. Studien zum Verhältnis von Ökonomie, Staat und Demokratie vom 19. Jahrhundert bis heute, Berlin 2014, S. 92.

Die Rolle außerbetrieblicher Akteur*innen

zierten sie die von ihrem Handeln ausgehenden Dynamiken auf ein radikales Außen, das in seiner Bedeutung damit jedoch erheblich überschätzt wurde. Vor diesem Hintergrund wird wiederum verständlich, weshalb die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth bzw. das Modell Süßmuth der außerbetrieblichen Öffentlichkeit als etwas komplett Neuartiges präsentiert wurde. In den offiziellen Darstellungen der Gewerkschaft oder der Belegschaftsfirma wurde weder ein Bezug auf die Genossenschafts- oder Rätebewegung noch zur jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung hergestellt, obwohl diese die Betriebsaktivisten und Gewerkschafter durchaus inspirierten.265 Die Isolierung von jeglicher Tradition kollektiven Wirtschaftens sollte vermeiden, »in eine bestimmte Ecke« gestellt zu werden.266 Die Deutungen der Ereignisse in Immenhausen unterlagen nach der Politisierung der Auseinandersetzung und der symbolischen Übertragung einem Modus der Einhegung. Gemeinsam mit [Hans Müller] stellte Richard Süßmuth am 21. April 1970 seinen Geschäftspartner*innen und Kund*innen das von ihm mit initiierte Konzept einer »belegschaftseigenen Firma« vor, das »fälschlich oft Genossenschaftshütte genannt« worden sei.267 Laut der Neuen Revue sei Süßmuth von der Belegschaftsübernahme »begeistert« gewesen, in der er »die beste Form« gesehen habe.268 Einer Meldung der Deutschen Presse-Agentur zufolge sei es sogar der Unternehmer gewesen, der den Beschäftigten das Angebot zur Unternehmensfortführung unterbreitet habe und die daraufhin erst noch überlegt hätten, ob sie dem zustimmen sollten.269 Diese von jeglicher politischen Bedeutung bereinigte und mit Blick auf den Ereignisverlauf komplett verdrehte Darstellung einer »Übertragung« des von der katholischen Soziallehre inspirierten, sozial-innovativen bzw. fortschrittlichen Unternehmers »auf seine Belegschaft« wurde schließlich zum Bestandteil der Firmenrepräsentation insbesondere nach der Selbstverwaltung und setzte sich letztlich – aus Gründen, die noch herauszuarbeiten sind – mitunter selbst in den Erinnerungen der Beschäftigten fest.270

265 266 267 268 269

Siehe bspw. Willi Brune an Hermann Rappe, 30. Juni 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie. See, 5. August 2013 (s. Anm. 203), S. 19f. Stellungnahme Richard Süßmuth und [Hans Müller], 21. April 1970, in: FHI, Schöf-1221. Neue Revue, 12. April 1970 (s. Anm. 43). Meldung der Deutschen Presse-Agentur »Firmenchef will Glashütte seiner Belegschaft übergeben« abgedruckt in: Konkret, März 1970 (s. Anm. 165), S. 57; »Süssmuth übergibt Hütte an Belegschaft. Arbeitnehmer müssen noch zustimmen«, in: Hessische Allgemeine, 17. März 1970, in: Privatarchiv Siebert. 270 [Konrad Scholz], »Eine Fabrik als Museum«, in: [Jahrbuch des Landkreises Kassel], 1978, in: AGI. Siehe Kapitel 9.2 und Kapitel 8.4.

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Resümee Teil I

Eine Mundglashütte war generell für eine demokratische Unternehmensführung durch die Beschäftigten auf besondere Weise geeignet. Zum einen war der Fertigungsprozess hier von einem hohen Anteil an Handarbeit geprägt. Die Produktionstechnik bestand überwiegend aus Hand-Werkzeug-Technik. Der periodisch verlaufende, von vielen unvorhersehbaren Unregelmäßigkeiten geprägte Prozess der Glasschmelze war weder von Hand noch per Maschine von zentraler Stelle aus präzise zu kontrollieren. Die Tätigkeiten aller Beschäftigten waren eng aufeinander bezog. Angesichts der Fragilität des Werkstoffs bzw. der Werksstücke und der angestrebten hohen Qualität der Produkte kam den Fähigkeiten und dem Erfahrungswissen, der Aufmerksamkeit wie Reaktionsgeschwindigkeit der Beschäftigten größte Bedeutung zu. Arbeit gehörte hier folglich zum wichtigsten Produktionsfaktor, über den die Arbeitenden – allein vom Standpunkt der Mechanik aus und jenseits der Machtverhältnisse betrachtet – selbst verfügen konnten. Für die Beschäftigten ergaben sich hieraus – in jeweils unterschiedlichem Ausmaß – eine relative Selbstständigkeit gegenüber dem Leitungspersonal und gewisse Handlungsspielräume im Betrieb. Aus den im Arbeitsprozess erforderlichen Kooperationsformen innerhalb der Belegschaft resultierten darüber hinaus Erfahrungen, auch in den betrieblichen Auseinandersetzungen Interessen kollektiv gegenüber der Unternehmensleitung zur Geltung zu bringen. Zum anderen war in Mundglashütten in der Regel der komplette Fertigungsprozess – von der Herstellung über die Weiterverarbeitung bis hin zur Veredelung – integriert. An dessen Ende stand ein Produkt für den alltäglichen Gebrauch, das über den Handel, aber auch direkt an die Endverbraucher*innen verkauft werden konnte. Sich aus Zuliefer- und Absatzbeziehungen ergebende Abhängigkeiten stellten hier ein geringeres Hindernis für eine Belegschaftsübernahme dar, wie es beispielsweise in dem von den Arbeiterinnen im Jahr 1972 übernommenen britischen Unternehmen Fakenham Enterprise (vormals Sexton’s Shoe Factury) der Fall war.1 Wurden hier zuvor Halbprodukte für den Mutterkonzern gefertigt, wurde mit der Selbstverwaltung angesichts abrupt abbrechender Absatzbeziehungen zugleich die Entwicklung neuer Produkte sowie der Aufbau neuer Vertriebswege erforderlich. Die belegschaftseigene Mundglashütte Süßmuth 1

Judy Wajcman, Women in Control. Dilemmas of a Workers’ Co-operative, New York 1983.

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Teil I: Die Entstehungsbedingungen der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

konnte hingegen in beiderlei Hinsicht an die vorherigen Strukturen anknüpfen. Diese branchenspezifischen Faktoren begründeten in der Geschichte des Glases eine weit zurückreichende Tradition kollektiv-genossenschaftlicher Wirtschaftsformen.2 Auch in anderen Mundglashütten – wie in den Kristallglaswerken Hirschberg und Buder oder in der Josephinenhütte – gab es Anfang der 1970er Jahre dahingehende, aber vergebliche Belegschaftsinitiativen.3 Diese gescheiterten Übernahmeversuche verweisen auf unternehmensspezifische Besonderheiten. Für die erfolgreiche Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth spielte die von Unternehmer und Beschäftigten gleichermaßen geteilte, handlungsleitende moralische Ökonomie eine ausschlaggebende Rolle. Anders als das 1923 als Aktiengesellschaft gegründete Kristallglaswerk Hirschberg befand sich die Glaswerkstatt bzw. Glashütte Süßmuth seit der Unternehmensgründung 1924 bzw. 1946 in der Hand des geschäftsführenden Eigentümers Richard Süßmuth. Die Kontinuität in den Eigentumsverhältnissen und im Nachkriegsstandort beförderte eine starke Betriebsund Ortsbindung der Beschäftigten, von denen ein großer Teil insbesondere der Facharbeiter zum Zeitpunkt der Unternehmenskrise mindestens zehn Jahre und oftmals länger für Süßmuth gearbeitet hatte. Bis Ende der 1960er Jahre waren sie vom zukünftigen Bestehen des Unternehmens ausgegangen und hatten ihre individuelle Lebensplanung hierauf ausgerichtet. Bei Hirschberg stellten dagegen der Standortwechsel von EssenKarnap nach Allendorf 1958 und der Eigentümerwechsel im Frühjahr 1972 einschneidende Zäsuren für die Zusammensetzung der Belegschaft dar. Die Unternehmenskrise 1974 war für diese – anders als für die Süßmuth-Belegschaft – keineswegs überraschend. In beiden Belegschaften war der gewerkschaftliche Organisationsgrad sehr hoch. Die Glashütte Süßmuth zeichnete sich zugleich durch besonders »familiäre« Arbeitsbeziehungen aus. Süßmuths spezifischer Paternalismus zeigte sich auch darin, dass er sich nicht – wie der letzte Eigentümer von Hirschberg – zum Zeitpunkt der Konkursdrohung aus der Verantwortung zog und zuvor im Privaten abgesichert hatte.4 Die hohe Identifikation mit dem Unternehmen, die Inhaber und Belegschaft teilten, lag den ausdauernden Rettungsbemühungen beider Seiten zugrunde. Bereits vor der eigentlichen Übernahme hatten die Beschäftigten zur Abwendung des Konkurses die Kontrolle über die Produktion übernommen und sich ihren Betrieb in neuer Intensität anzueignen begonnen. Durch die Realisierung ihrer bis dahin ignorierten Vorschläge konnten sie den Arbeitsprozess so verändern, dass die Fehlproduktion sank und erstmals seit Jahren

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Im Sinne »des gemeinsamen Betreibens einer Glashütte durch mehrere Glasmachermeister« sei die »genossenschaftliche Produktionsweise« in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sogar die vorherrschende Eigentumsform im deutschen Glashüttenwesen gewesen. Rolf-Jürgen Gleitsmann, »Zur Interdependenz von technischer Entwicklung und Arbeitszeitregelung im Glashüttenwesen des 18. und 19. Jahrhunderts«, in: Technikgeschichte 3 (1980) S. 233. Folgendes zu diesen Fällen siehe Christiane Mende, »Den Betrieb übernehmen. Belegschaftsinitiativen in der Mundglasbranche«, in: Sozial.Geschichte Online (im Erscheinen). Während ein Konkurs der GHS für Richard Süßmuth auch einen privaten Bankrott nach sich gezogen hätte, stand der letzte Eigentümer von Hirschberg Carl Josef Haefeli dagegen im Verdacht, sich an dem nur zwei Jahr zuvor übernommenen und mit öffentlichen Mitteln geförderten Unternehmen persönlich bereichert zu haben. Ulrich Stang an die Fraktionen von SPD und FDP im Hessischen Landtag, 5. August 1974, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner.

Resümee Teil I

ein kleiner Gewinn erwirtschaftet wurde. Dieser für die Zuversicht und Geschlossenheit der Süßmuth-Belegschaft sowie für die Legitimation ihrer politisch radikal anmutenden Forderung gegenüber Geldgebern und Bürgen immens wichtige kollektive Erfahrungswert fehlte der Hirschberg-Belegschaft. Ihr war es nicht gelungen, mit dem Unternehmer Haefeli eine vergleichbare Vereinbarung zu erzielen, wie sie die Belegschaft im Juli 1969 von Süßmuth eingefordert hatte. Obwohl der Betriebsrat von Hirschberg schon frühzeitig über den drohenden Konkurs informiert war, konnte er diesen und die hiermit verbundene Stilllegung der Produktion im Juli 1974 nicht abwenden.5 Zusammen mit den bereits seit Mai 1974 ausgebliebenen Lohn- und Gehaltszahlungen war es im Fall Hirschberg ungleich schwieriger, einen geschlossenen Verbleib der Belegschaft als wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Betriebsübernahme und -fortführung zu gewährleisten. Dennoch gab es ausreichend Beschäftigte, die sich an der Genossenschaftsgründung beteiligten bzw. dazu bereit waren, im Falle der Bewilligung einer Ausfallbürgschaft durch das Land Hessen ihre »in der Zwischenzeit eingegangenen, anderweitigen Arbeitsverhältnisse zu lösen«. Die Betriebsübernahme war hier nicht an den fehlenden Arbeitskräften bzw. einer zu geringen Anzahl an Genossenschaftsmitgliedern gescheitert, wie es der Hessische Wirtschaftsminister Heinz-Herbert Karry darzustellen versuchte, sondern insbesondere an der zögerlichen Haltung des Landes Hessens. Das Scheitern der Belegschaftsinitiativen in den Fällen Hirschberg und Buder verweist schließlich auf historisch-spezifische Faktoren, die jene im Fall Süßmuth begünstigten. Alle drei Unternehmen stellten wichtige Arbeitsplatzgeber und Wirtschaftsfaktoren in strukturschwachen Regionen mit über dem Landesdurchschnitt liegenden Arbeitslosenzahlen dar. Für deren Erhalt waren die Belegschaften ebenfalls in allen drei Fällen von der Übernahme einer Landesbürgschaft abhängig, um Kredite für die dringenden Investitionen aufnehmen zu können. Während sich die kurz zuvor neugewählte sozialliberale Landesregierung Niedersachsens im Sommer 1974 zwar für eine Fortführung der Glashütte Buder aussprach, hatte sie den Hoffnungen auf Unterstützung einer Belegschaftsübernahme aber von Anfang an eine Absage erteilt. Im Gegensatz dazu fehlte es weder bei Süßmuth noch bei Hirschberg an prominenten Fürsprechern, die sich in den hessischen Landesministerien für eine Belegschaftsübernahme einsetzten. Im Fall Süßmuth waren einzelne Funktionäre der IG Chemie als maßgebliche Verhandlungsführer aufgetreten und die SPD hatte sich offiziell sehr zurückgehalten; im Fall Hirschberg war es genau umgekehrt. Hier waren es die lokalen und regionalen SPD-Verbände und -Politiker, die den Plan einer Belegschaftsübernahme »nachdrücklichst« unterstützten und sich auch finanziell engagierten, während die IG Chemie demgegenüber »Bedenken« hegte und sich zu einer Beteiligung an diesen Verhandlungen »nicht in der Lage« sah.6 Deutlich wird hieran, wie sich zwischen 1970 und 1974 die politischen Kräfteverhältnisse innerhalb der Gewerkschaft und der SPD sowie generell in der bundesrepublikanischen Gesellschaft und damit die Handlungsbedingungen der außerbetrieblichen Unterstützer verschoben hatten.

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Folgendes aus Vorstand Kristallglaswerk Hirschberg e.G.i.G. an Albert Osswald und Heinz-Herbert Karry, 28. September 1974, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner. Werner Vitt an IG Chemie Hauptvorstand, 20. September 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Gerhard Jahn an Karl Schiller, 7. Dezember 1971, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner.

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Teil I: Die Entstehungsbedingungen der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth erfolgte in einer Phase bemerkenswerter Gleichzeitigkeit personeller Wechsel im Hauptvorstand der IG Chemie, an der Spitze der Hessischen Landesregierung sowie im Bundeskanzleramt, die ein von Routinen abweichendes Handeln begünstigte. Vor dem Hintergrund einer um »1968« spezifisch konfigurierten Öffentlichkeit gelang es den Betriebsaktivisten eine Aufmerksamkeit für die Anliegen der Süßmuth-Belegschaft herzustellen, die es ihnen ermöglichte, den politischen Druck nicht nur auf den Unternehmer Richard Süßmuth, sondern auch auf ihre Repräsentanten in SPD und Gewerkschaft derart zu erhöhen, dass diese sie in ihren Forderungen unterstützten. Sowohl die Arbeitenden selbst als auch Personen aus einem interessierten Umfeld erlebten die hier praktizierte neue Form innerbetrieblicher Demokratie als einen Aufbruch, was im Fall Hirschberg in dieser Intensität nicht mehr zu beobachten war. Das Scheitern der Hirschberg-Belegschaft verweist vielmehr darauf, wie politische und wirtschaftliche Entwicklungen in der Bundesrepublik den Erwartungs- und Deutungshorizont der staatlichen und gewerkschaftlichen Entscheidungsträger prägten. Erfolgte die Belegschaftsübernahme im Fall Süßmuth kurz nachdem Willy Brandt als erster Sozialdemokrat in das Amt des Bundeskanzlers gewählt wurde, so scheiterte der Versuch der Hirschberg-Belegschaft kurz nach seinem Rücktritt im Mai 1974. Von der Reformeuphorie und Aufbruchstimmung nach Brandts Regierungsantritt im Herbst 1969 mit seiner Formel »Mehr Demokratie wagen« war nach Ölpreisschock und Wirtschaftsrezession unter dem neuen sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt nicht mehr viel übriggeblieben. Die Krise der Glashütte Süßmuth in den Jahren 1969 und 1970 wurde grundlegend anders gedeutet als jene des Kristallglaswerks Hirschberg 1974. Aus Perspektive der Belegschaften waren sie gleichermaßen vorrangig durch Fehlentscheidungen der Geschäftsführungen verursacht. Eben hieraus resultierte in beiden Fällen ihre Zuversicht, den Betrieb in Eigenregie besser als die vorherigen Eigentümer führen zu können. Die Einschätzung, »in absehbarer Zukunft [seien] keine Krisenanzeichen für den Absatz mundgeblasenen Glases erkennbar«, war eine zentrale Voraussetzung dafür, dass die Glashütte Süßmuth von den Beamten der hessischen Ministerien als »erhaltenswert« erachtetet wurde.7 Die Warnung des Wirtschaftsministers Rudi Arndt, der schon im Frühjahr 1970 den Mundglashütten keine sonderlich positive Zukunft prognostizierte, war damals eine Ausnahme. Die bei der Betriebsübernahme im Fall Süßmuth noch virulente optimistische Einschätzung der zukünftigen Branchenentwicklung verkehrte sich innerhalb weniger Jahre ins Gegenteil.8 Aus diesem Grund verweigerten im Fall Hirschberg nicht nur die IG Chemie der Belegschaftsinitiative ihre Unterstützung, sondern letztlich auch das Hessische Wirtschaftsministerium und der Genossenschaftsverband. Gingen die institutionellen Unterstützer im Fall Süßmuth noch von der Möglichkeit aus, das Konkursun7 8

Interner Schriftverkehr HMdI, 28. Juli 1969, in: FHI, Schöf-1222, S. 2f.; Ebenso Bericht Franz Fabian an IG Chemie Hauptvorstand, 5. Januar 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 3f. Im Sommer 1974 sprach der für die Industriegruppe Glas zuständige Funktionär im Hauptvorstand der IG Chemie von einer bereits »seit Anfang der 60-iger Jahre« anhaltenden und »noch nicht als abgeschlossen zu betrachtenden Strukturkrise«. Karlheinz Böker an [Udo Kohler], 16. Mai 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Ähnlich Verband Südwestdeutscher Volksbanken und Warengenossenschaften e.V. an Vorstand Kristallglaswerk Hirschberg e.G.i.G., 8. Oktober 1974, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner. Siehe Kapitel 9.

Resümee Teil I

ternehmen an veränderte wirtschaftliche Bedingungen mit der richtigen Unternehmensstrategie anpassen zu können, so war diese Zuversicht im Fall Hirschberg nicht mehr vorhanden. Unmittelbar nach der Belegschaftsübernahme und damit noch vor dem eigentlichen Beginn der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth waren neben die Prozesse der Öffnung des Betriebs und dessen Aneignung durch die Beschäftigten Prozesse der Schließung und Einhegung ihres demokratischen Aufbegehrens getreten, die in ihrer Gleichzeitigkeit insgesamt die Praxis der Selbstverwaltung nachhaltig prägten. Angesichts widerstreitender Interessen und Vorstellungen bemühten sich allen voran die Funktionäre der IG Chemie, die Kontrolle und so auch die Deutungshoheit über die Entwicklungen in der belegschaftseigenen Glashütte zu er- und zu behalten. Seit den im Frühjahr 1970 aufgenommenen Kreditverhandlungen erfolgte – personalisiert in der Figur Franz Fabians, der sich gegenüber den Gläubigern in der Verantwortung für die zukünftige Entwicklung des Belegschaftsunternehmens sah – eine strikte Grenzziehung nach links. Erst im Zuge einer Entradikalisierung der Aktionsformen, mit dem Erbringen von »Beweisen« durch Arbeitsleistung und durch Betonung der Identität als traditionelle, gewerkschaftlich organisierte Facharbeiterschaft, konnte – unter dem entstandenen öffentlichen Druck – die sozialdemokratische Landesregierung Hessens schließlich zur Unterstützung der Belegschaftsübernahme bewegt werden. Vor diesem Hintergrund erklären sich die mitunter konträren Darstellungen vom Ursprung der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth; sie verdeutlichen zugleich die enorme Bedeutung, die das Narrativ von der kollektiven Aktion der gewerkschaftlich aktiven Facharbeiter für dieselben besaß. Sowohl entgegen dem Narrativ vom Werk der großen Männer als auch dem Narrativ einer von außen gesteuerten Aktion stellte [Paul Nowak] die Eigenständigkeit ihrer Protestaktionen heraus, die »schon Arbeit« gewesen seien.9 Doch habe es »eine Freude gemacht, wenn man sieht, dass die Arbeiter in der Lage [sind,] auch so was auf die Beine zu stellen […] Das war für uns was Neues, aber wir haben es geschafft.« Eben an diesem Neuen begannen während der Selbstverwaltung nicht mehr nur der kleine Kreis der gewerkschaftlich aktiven Facharbeiter, sondern auch andere Beschäftigtengruppen im Betrieb zu partizipieren.

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Folgende Zitate von [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 25), S. 4. Siehe Kapitel 2.1.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

4. Offiziell versus informell. Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

In der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth nahmen neben den Arbeitenden auch Vertreter der IG Chemie, des Landes Hessen und der Banken sowie von diesen jeweils konsultierte Berater und Experten mehr oder wenig direkt Einfluss auf die unternehmerische Entscheidungsfindung. Ihre unterschiedlichen Vorstellungen von der Praxis der Selbstverwaltung sollen in diesem Kapitel herausgearbeitet werden. Untersucht wird zudem, welche offiziellen und informellen Strukturen der Entscheidungsfindung sich im belegschaftseigenen Unternehmen etablierten.

4.1 Die Praxis der Selbstverwaltung in der Theorie Die Unternehmenskonzeption für die selbstverwaltete Glashütte sollte ökonomischen und politischen Ansprüchen gleichberechtigt Rechnung tragen. Es galt eine Organisationsform zu finden, die allen Beschäftigten eine weitreichende Partizipation an den Entscheidungsprozessen im Unternehmen ermöglichte und dessen baldige ökonomische Stabilisierung begünstigte bzw. die – in den Worten des hessischen IG-Chemie-Bezirksleiters – zur Verwirklichung dieser Ziele »ein möglichst praktikables technisches Instrumentarium« bot.1 Bereits in den Deutungen der Unternehmenskrise und während der Übernahmeverhandlungen wurde deutlich, dass die Auffassungen über die inhaltliche Bestimmung des ökonomisch Richtigen und des politisch Wünschenswerten stark differierten und aus ungleichen Handlungspositionen heraus formuliert wurden. Im offiziellen Modell Süßmuth wurden Vorstellungen von einer erweiterten Unternehmensmitbestimmung formalisiert, wie sie in der zeitgenössischen Kontroverse um deren gesetzliche Verankerung von Teilen der Gewerkschaftslinken gefordert wurde. Die Betriebsaktivisten hingegen wollten die Selbstverwaltung künftig auf Basis einer bereits während der

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Folgendes aus Franz Fabian, »Vom ›Fall‹ zum ›Modell‹ Glashütte Süßmuth«, in: Ders. (Hg.), Arbeiter übernehmen ihren Betrieb oder Der Erfolg des Modells Süßmuth, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 15.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Betriebsübernahme in Ansätzen etablierten Ausschussstruktur praktizieren. Angesichts des Zeitdrucks und der Abhängigkeit von den Gewerkschaftsfunktionären, die die Unterstützung durch das Land Hessen vermittelt hatten, mussten die Betriebsaktivisten die von ihren Repräsentanten erarbeitete Rechtskonstruktion akzeptieren und sie taten dies – auf Basis eines damals noch bestehenden Vertrauensverhältnisses – ohne nennenswerten Widerstand.

Das offizielle Modell Süßmuth Abbildung 13: Das Modell Süßmuth

Quelle: Grafik der Autorin, Gestaltung Julia Schnegg

Die als Modell Süßmuth bezeichnete Doppelkonstruktion von GmbH und Verein sah vor, dass alle Beschäftigten – solange sie in der Firma arbeiteten – dem Verein der Beschäftigten der Glashütte Süßmuth angehörten.2 Die Mitgliederversammlung sollte »das oberste Beschlussorgan des Vereins« und damit die Belegschaft der »Souverän des Betriebs« sein.3 In einem Rotationsverfahren sollten die Vereinsmitglieder nach drei Jahren und anschließend alle zwei Jahre aus dem Kreis der Beschäftigten zehn

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Mit Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses endete auch die Vereinsmitgliedschaft. Satzung Verein der Beschäftigten der GHS GmbH, undatiert [Oktober 1970], in: Fabian, Arbeiter (s. Anm. 1), S. 96–98, § 3 und 4. Ebd., § 6; Fabian, Fall (s. Anm. 1), S. 19.

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

Personen in den Vereinsvorstand wählen. Dessen Tätigkeit war an die Beschlussfassung der Mitgliederversammlung gebunden, die mindestens alle drei Monate stattfinden sollte.4 Der zehnköpfige Vereinsvorstand war personenidentisch mit der Gesellschafterversammlung der Glashütte Süßmuth GmbH. Mit einem Anteil von jeweils 18.000 DM verwalteten die zehn Gesellschafter*innen treuhänderisch für die gesamte Belegschaft das Stammkapital der GmbH.5 Sie sollten die Geschäftsführung ernennen, kontrollieren und gegebenenfalls entlassen sowie den Umfang ihrer Vertretungsmacht bestimmen. Indem die Mitgliederversammlung dem Vereinsvorstand bzw. der Gesellschafterversammlung und diese wiederum der Geschäftsführung bindende Weisungen erteilten, sollte die Beteiligung aller Beschäftigten an den Entscheidungen im Unternehmen gewährleistet sein. Da nach Auffassung der Gewerkschaftsfunktionäre die Mitgliederversammlung ein zu großes Gremium war, um eine »jede Einzelentscheidung betreffende Einflussnahme und Beteiligung am Willensprozess« zu ermöglichen, sollte die Belegschaft einen Betriebsausschuss wählen.6 Dieser entsprach dem üblichen Betriebsrat, sollte also die Interessen der Beschäftigten gegenüber der Geschäftsführung vertreten, war aber laut Vereinssatzung mit wesentlich mehr Rechten ausgestattet: »alle personellen und sozialen Maßnahmen« der Geschäftsführung sollten »von seiner Zustimmung abhängig« sein.7 Damit nahm das Modell Süßmuth zentrale Bestimmungen des 1972 reformierten Betriebsverfassungsgesetzes vorweg.8 Die Geschäftsführung hatte die Firma gerichtlich und außergerichtlich zu vertreten. Sie wurde für fünf Jahre bestellt und befugt, alle »gewöhnlichen, branchenüblichen Geschäfte« ohne Rücksprache mit den Belegschaftsgremien auszuführen.9 Damit sollte der Geschäftsführung ein »angemessener freier Handlungs- und Entscheidungsspielraum« zur Verfügung gestellt werden.10 Außergewöhnliche und grundlegende Entscheidungen bedurften der Zustimmung der Gesellschafterversammlung, an deren Beschlüsse die Geschäftsführung generell gebunden war. Sie war verpflichtet, der Gesellschafterversammlung »auf Verlangen […] Auskunft zu erteilen« und »mindestens vierteljährlich einen schriftlichen Bericht über die Geschäftslage und sonstige wesentliche Ereignisse des Betriebs zu erstatten.«11 Die Geschäftsordnung und der Geschäftsverteilungsplan

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Vereinssatzung (s. Anm. 2), § 6. Das Stammkapital der GHS betrug nominell 427.000 DM, es setzte sich aus zehn Anteilen der Gesellschafter*innen in Höhe von insgesamt 180.000 DM und einem von der Gesellschaft selbst gehaltenen Anteil in Höhe von 247.000 DM zusammen. Mit Ausscheiden aus Vereinsvorstand/ Gesellschafterversammlung gingen die Geschäftsanteile auf die Nachfolger*innen über. Gesellschaftsvertrag GHS GmbH, 29. September 1970, in: Fabian, Arbeiter (s. Anm. 1), S. 99–103, § 3 und 12; Vereinssatzung (s. Anm. 2), § 7. Fabian, Fall (s. Anm. 1), S. 17f. Vereinssatzung (s. Anm. 2), § 8. Werner Milert und Rudolf Tschirbs, Die andere Demokratie. Betriebliche Interessenvertretung in Deutschland, 1848 bis 2008, Essen 2012, S. 472f. Gesellschaftsvertrag GHS, 29. September 1970 (s. Anm. 5), § 6 und 7. Fabian, Fall (s. Anm. 1), S. 16. Gesellschaftsvertrag GHS, 29. September 1970 (s. Anm. 5), § 7.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

legten in der Geschäftsführung eine exakte Arbeitsteilung entsprechend der drei Unternehmensbereiche Produktion, Vertrieb und Verwaltung fest.12 Schließlich sah das Modell Süßmuth die Gründung eines zehnköpfigen Beirats vor, dessen Mitglieder von der Gesellschafterversammlung berufen und abberufen werden sollten.13 Im Gesellschaftsvertrag war folgende Quotierung festgelegt: Neben drei betriebsinternen Mitgliedern der Gesellschafterversammlung sollten drei hauptamtliche Funktionäre der IG Chemie, je ein Vertreter des Hessischen Wirtschaftsministeriums und der Hessischen Landesbank sowie zwei weitere Mitglieder ernannt werden. »Der Beirat hat gegenüber der Gesellschafterversammlung und den Geschäftsführern lediglich beratende Funktion«, konnte aber von diesen jederzeit Auskunft verlangen. Als ein lediglich bei Bedarf von der Gesellschafterversammlung einzuberufendes Gremium wurde der Beirat explizit nicht als Aufsichtsrat konzipiert. Diese formalisierten Strukturen der Entscheidungsfindung im selbstverwalteten Unternehmen waren Resultat der dargelegten Übernahmebedingungen und spiegelten vor allem die gewerkschaftlichen Ambitionen wider, das Modell Süßmuth als ein nachahmenswertes Vorbild auch für andere Unternehmen praktikabel zu halten. Das dezentrale Organisationsprinzip der Ausschüsse war im Modell Süßmuth nur sehr vage als »im Einzelfall bei Bedarf« zu gründende Gremien mit unklaren Entscheidungskompetenzen verankert.14 Die Vereinssatzung hielt neben der Wahl eines Betriebsausschusses die Bildung weiterer Ausschüsse als reine Kannbestimmung fest. Der Gesellschaftsvertrag verpflichtete die Geschäftsführer zwar auf die »bindend[e]« Wirkung von »ordnungsgemäße[n] Beschlüsse[n] […] der zuständigen Ausschüsse«.15 Wie diese ordnungsgemäße Beschlussfassung zu erfolgen hatte, wurde jedoch nicht konkretisiert.

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Zum (erstmals explizit als solchen benannten) Unternehmensbereich Verwaltung gehörten neben dem Finanzwesen sämtliche Personalangelegenheiten. Geschäftsordnung und Geschäftsverteilungsplan der Geschäftsführung der GHS, undatiert [Herbst 1970], in: FHI, Schöf-1221. Folgendes aus Gesellschaftsvertrag GHS, 29. September 1970 (s. Anm. 5), § 9. Folgendes aus Vereinssatzung (s. Anm. 2), § 8. Gesellschaftsvertrag GHS, 29. September 1970 (s. Anm. 5), § 7.

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

Das Ausschusskonzept als informelles Gegenmodell

Abbildung 14: Das Ausschusskonzept

Quelle: Grafik der Autorin, Gestaltung Julia Schnegg

Die Ausschüsse als tragende Struktur der Selbstverwaltung standen im Zentrum der Planungen, die während der Belegschaftsübernahme im Kreis der Betriebsaktivisten angestellt wurden.16 In der Grundstruktur einer Kombination von GmbH und Verein deckten sich ihre Vorstellungen mit denen der Gewerkschaftsjuristen. Die vierteljährlich tagende Mitgliederversammlung des Belegschaftsvereins bildete auch in ihrem Konzept das wichtigste Selbstverwaltungsgremium. Im Gegensatz zum Modell Süßmuth sollte der Schwerpunkt der Entscheidungsfindung aber nicht bei den zentralen Gremien der Geschäftsführung und der diese kontrollierenden Gesellschafterversammlung liegen, sondern bei den dezentralen Strukturelementen der Ausschüsse. Die von allen Beschäftigten gewählten, ständig tagenden Ausschüsse sollten sich mit abteilungsübergreifenden Themen (wie »Wirtschaftswesen, Sozialwesen, Schlichtung, Betriebsorganisation, Schulung, Sicherheit, Design, Personalwesen, Sitzungsfragen etc.«) beschäftigen. In diesen

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Hiervon zeugte – neben den während der Betriebsübernahme gegründeten Ausschüssen – ein Konzeptpapier, dem die Informationen für Abbildung 14 sowie die folgenden Ausführungen und Zitate entnommen sind. Siehe Kapitel 2.2; Konzeptpapier Modell einer Arbeiterselbstverwaltung, undatiert [1970], in: Privatarchiv Siebert.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

themenspezifischen Ausschüssen waren aktuelle Probleme zu diskutieren und die notwendigen Entscheidungen in den jeweiligen Sachfragen vorzubereiten, die von der Gesellschafterversammlung beschlossen und an die Geschäftsführung zur Umsetzung weitergegeben werden sollten. Zur wichtigsten Aufgabe der Gremien an der Spitze des Unternehmens gehörte es demnach, die Koordination und Einhaltung der kollektiven Beschlüsse zu gewährleisten. Parallel zu dieser dezentralen Struktur der Beratung und Entscheidung sollte eine dezentrale Struktur der Kontrolle etabliert werden. Aus jeder Abteilung bzw. Arbeitsgruppe sollten Sprecher*innen in die Arbeitsgruppensprecherversammlung gewählt werden. Diese sollte ein die Ausschüsse, die Gesellschafterversammlung und die Geschäftsführung kontrollierendes und mit einem Vetorecht ausgestattetes Gremium bestimmen.17 Gewährleistet werden sollte damit, dass die zum Beschluss gereiften Entscheidungen mit den Verhältnissen in den Abteilungen in Einklang standen. Die Gründung eines Beirats war in dieser Konzeption ebenso wenig vorgesehen wie die eines separaten Betriebsrats bzw. -ausschusses. Die Vertretung der Belegschaftsinteressen sollte unmittelbar in sämtliche Entscheidungsprozesse integriert sein. Nach der Belegschaftsübernahme waren in der Glashütte Süßmuth nur ein technischer Ausschuss und ein Wohnungsausschuss über einen längeren Zeitraum tätig. Die geringe Bedeutung der Ausschüsse ging auf deren fehlende rechtliche Verankerung zurück, die – wie noch zu zeigen ist – mit einer fehlenden Anerkennung durch die geschäftsführenden Gremien korrespondierte. Die gewerkschaftlichen Befürworter des Modells Süßmuth lehnten einzelne Strukturelemente des Ausschusskonzepts nicht per se ab. So erklärte Franz Fabian im Jahr 1972, dass über die Arbeit der Ausschüsse »im Zusammenhang mit den praktischen Erfahrungen der Selbstverwaltung […] noch gesprochen werden muss.«18 Und im Rahmen der gewerkschaftlichen Bildungsveranstaltungen, in denen Ende 1970 die Belegschaft in das Modell Süßmuth eingeführt wurde, kam es tatsächlich zur Wahl von Abteilungssprecher*innen. Diese übten indes keine kontrollierenden Funktionen aus, wie im Ausschusskonzept vorgesehen, laut Fabian sollten sie lediglich »eine[n] ständigen gegenseitigen Informationsflus[s] zwischen den Beschäftigten der einzelnen Abteilungen und den Funktionären der Selbstverwaltung« gewährleisten. In Erscheinung traten sie vor allem als Mitglieder der Tarifkommission.19

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Mit den Arbeitsgruppen und Arbeitsgruppensprecher*innen stand das Ausschusskonzept in einer Reihe damals diskutierter Ansätze zur Reform der Betriebsverfassung – wie bspw. dem in der Gewerkschaftslinken (und insbesondere in der IG Metall) diskutiertem Konzept der Mitbestimmung am Arbeitsplatz oder dem 1969 bei Opel-Hoppmann eingeführten Beteiligungsmodell. Hinsichtlich der Ausstattung mit weitreichenden Kontrollkompetenzen gingen die in der GHS angestellten Überlegungen über beide Konzeptionen weit hinaus. Fritz Vilmar (Hg.), Strategien der Demokratisierung. Band II. Modelle und Kämpfe der Praxis, Darmstadt u.a. 1973, S. 348–356; Andrea JochmannDöll und Hartmut Wächter, Das Hoppmann-Mitbestimmungsmodell in Siegen. Analyse der Entwicklung seit 1961, Düsseldorf 2009. Folgendes aus Fabian, Fall (s. Anm. 1), S. 18, 23. Siehe Kapitel 4.3.

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

Repräsentativ- versus rätedemokratische Vorstellungen von der Selbstverwaltung Die dem Modell Süßmuth und dem Ausschusskonzept zugrunde liegenden Vorstellungen von der zukünftigen Selbstverwaltung wiesen Gemeinsamkeiten auf, die in der von Beschäftigten wie Gewerkschaftsfunktionären geteilten Ablehnung des von Carl Backhaus begründeten Ahrensburger Modells und generell von sogenannten Partnerschaftsunternehmen zum Ausdruck kamen.20 In der Glashütte Süßmuth sollte kein leistungsanregendes Modell einer privaten Gewinnbeteiligung der Beschäftigten realisiert werden, sondern gemeinwohlorientiertes Wirtschaften auf Basis von »vergesellschaftetem Eigentum«.21 Der Gesellschaftsvertrag sah vor, dass Gewinne auf Beschluss der Gesellschafterversammlung nur zugunsten aller Beschäftigten verwendet werden.22 Auch galt es Statusunterschieden in der Belegschaft entlang unterschiedlich hoher Kapitaleinlagen oder einer alters- und betriebsdauerabhängigen Reglementierung der Stimmberechtigung (wie von Backhaus angeregt) vorzubeugen.23 Statt die Beschäftigten in Anteilseigner*innen und Nicht-Anteilseigner*innen, in Stimmberechtigte und Nicht-Stimmberechtigte zu hierarchisieren – was das Oppenheimer’sche Transformationsgesetz als zwangsläufig einsetzende Entwicklung in Produktivgenossenschaften prognostizierte –, sollte vielmehr das Privateigentum an den Produktionsmitteln neutralisiert und das Stammkapital von den Gesellschafter*innen lediglich treuhänderisch verwaltet werden. Das Unternehmen sollte der Belegschaft als Gesamtheit gehören und damit allen, die aktuell darin arbeiteten. Alle neu hinzukommenden Beschäftigten sollten nach Ablauf einer Probezeit von drei Monaten einen Antrag auf gleichberechtigte Mitgliedschaft im Belegschaftsverein stellen können, unabhängig davon, ob sie sich in der Ausbildung, in einem Teil- oder Vollzeit-Arbeitsverhältnis befanden. Der private Zugriff durch Einzelpersonen sollte ebenso ausgeschlossen sein wie eine persönliche Haftung der Beschäftigten. Beim Ausscheiden aus dem Betrieb sollte niemand Anspruch auf Auszahlung oder Abfindung erheben können. Dieses geteilte Verständnis vom Eigentum und die hiermit verbundenen Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit in einem solidarisch definierten Kollektiv wurden von Franz Fabian und [Paul Nowak] als jeweilige Befürworter obiger Modelle unter-

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Siehe Kapitel 3.5. Zur Ablehnung von Partnerschaftsunternehmen, in denen die »Herrschaftsordnung des Betriebs unangetastet« bleibe und sich die »Arbeiter« zu »Kleinkapitalisten« entwickeln, siehe [Paul Nowak] und [Willi Voigt] in Typoskript »280 Arbeiter = 280 Chefs. Die Süssmuth GmbH – ein neuer Versuch der Mitbestimmung«, Peter Marchal für »Die Welt von heute« (Südwestfunk Radio), 4. August 1971, in: FHI, Schöf-1212, S. 26f.; Ebenso [Hans Müller] zitiert in Transkript Erstes Treffen von Erasmus Schöfer mit der Belegschaft der GHS, 19. März 1973, im Besitz der Autorin, S. 4. Zitat von [Paul Nowak] an Carl Backhaus, 31. Juli 1970, in: FHI, Schöf-1221; Ebenso [Manfred Hübner] in Typoskript »Glashütte in Arbeiterhand«, Irmgard Senger für HR Fernsehen, 27. September 1973, in: FHI, Schöf-1212, S. 19; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Franz Fabian, 22. April 1974, im Besitz der Autorin, S. 13. Angesichts der finanziell prekären Ausgangssituation sollten »während der ersten vier Jahre« keine Gewinne ausgeschüttet werden. Gesellschaftsvertrag GHS, 29. September 1970 (s. Anm. 5), § 11. [Nowak], 31. Juli 1970 (s. Anm. 21); Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 21), S. 13f.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

schiedlich akzentuiert. Fabian ging es vor allem um die Vorbeugung eines Betriebsegoismus im Kampf um auf überbetrieblicher Ebene einheitliche Tarifstandards, wofür das Modell Süßmuth ja als Vorbild dienen sollte.24 Eine entsolidarisierende Spaltung der Belegschaft wollte Fabian in der Glashütte Süßmuth ebenso verhindern wie eine finanzielle Selbstbeteiligung der Beschäftigten – aus diesen Gründen lehnte er auch die Rechtsform der Genossenschaft ab. Mit Fokus auf die betriebliche Ebene hob [Nowak] vor allem die negativen Auswirkungen struktureller Unterschiede in der Belegschaft »auf die Betriebsgemeinschaft« und demgegenüber das Ziel der »freie[n] Entfaltung der Persönlichkeit im Betrieb« hervor, das nur »durch den Abbau von Hierarchien« erreicht werden könne.25 Dazu sei ein Lernprozess notwendig, der nicht früh genug beginnen könne und daher bereits die Auszubildenden integrieren müsse, um »scheindemokratische Verhältnisse« zu verhindern. In öffentlichen Stellungnahmen stimmten Beschäftigte, Gewerkschaftsfunktionäre und der Geschäftsführer [Hans Müller] darin überein, dass die neue demokratische Form der Unternehmensführung in der Glashütte Süßmuth »mehr als Mitbestimmung« sei, nämlich »Selbstbestimmung«.26 Auf Ebene der Praktiken zeigte sich jedoch, dass die Beteiligten unter Selbstbestimmung sehr Unterschiedliches verstanden. In beiden Modellen materialisierten sich konträre Vorstellungen von der Selbstverwaltung, die – wie in Teil II noch aufzuzeigen ist – mit konträren Vorstellungen von einer effizienten Unternehmensführung und in der Zielsetzung mit spezifischen Prioritätensetzungen verbunden waren. Das Modell Süßmuth zeugte von einem repräsentativ-demokratischem Verständnis von Selbstverwaltung; dessen Delegations- und Stellvertreterprinzip war einer parlamentarischen Demokratie nachempfunden. Der alle zwei Jahre von den Beschäftigten gewählten Gesellschafterversammlung kam faktisch die Funktion der Legislative zu, die der Geschäftsführung als Exekutive bindende Anweisungen geben konnte. Zur Einrichtung einer »besonderen Schiedsstelle oder Konfliktkommission« (und damit einer Judikative) – wie sie Carl Backhaus vorgeschlagen hatte, wie sie die Belegschaftsvertreter bei der Diskussion über das Vereinsstatut begrüßten und wie sie zunächst auch die Gewerkschaftsfunktionäre vorsahen – kam es allerdings nicht.27 Letztere begründeten dies damit, dass eine solche Einrichtung nicht nötig sei, »wenn sich die Organe des Selbstverwaltungsmodells […] an die Kompetenzregeln halten, wie sie sich

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Folgendes aus Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 21), S. 13f. Folgendes aus [Nowak], 31. Juli 1970 (s. Anm. 21). Hüttenecho. Zeitung der Belegschaft der GHS, April 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 7f.; Franz Fabian zitiert in Typoskript »Eigentum verpflichtet«, Ulrich Happel für Panorama (ARD), 6. April 1970, in: Privatarchiv Siebert, S. 4; Ebenso [Hans Müller] in »Warum dieser Chef 280 Arbeitern seine Fabrik schenkt«, in: Neue Revue, 12. April 1970, in: AGI; [Willi Voigt] in Marchal, 4. August 1971 (s. Anm. 20), S. 15. Carl Backhaus an GHS, 6. Juli 1970, in: FHI, Schöf-1221, S. 1; Entwurf Satzung Verein der Beschäftigten der GHS GmbH, undatiert [Juli 1970], in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 5f.2; Notiz [Klaus Boehm], 2. September 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Die Einrichtung einer »Einigungsstelle« wurde in der zeitgleich verhandelten Novelle des BetrVG als eine weitere Neuerung und Verbesserung für die betriebliche Interessenvertretung festgeschrieben. Milert und Tschirbs, Demokratie (s. Anm. 8), S. 472f.

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

aus Gesellschaftervertrag, Vereinssatzung, GmbH-Gesetz, Geschäftsführervertrag und Tarifverträgen ergeben.«28 Die Funktionäre gingen also vom Funktionieren einer klaren Arbeitsteilung und Zuständigkeitsverteilung zwischen den in einer zentralen Unternehmensorganisation integrierten Gremien aus. Sie glaubten, Meinungsverschiedenheiten könnten durch »ein[en] reibungslose[n], umfassende[n] und intensive[n] Informationsaustausch sowohl zwischen den Organen der Selbstverwaltung untereinander wie auch zwischen den Organen und den Beschäftigten« vorgebeugt werden. Fabian betonte, dass im selbstverwalteten Betrieb »nicht über jeden Handgriff abgestimmt werden« könne.29 Vielmehr brauche es »einen Kopf, der die täglichen Entscheidungen trifft«. Und auch wenn diese »nicht jedem […] schmecken« werden: »in einer Demokratie« müsse »man« – das heißt die Beschäftigten – sich »einordnen können.« Dass Fabian darin keinen Widerspruch zum Anspruch einer demokratischen Entscheidungsfindung sah, verweist auf die Ideologie des one best way: Im Glauben an die »Objektivität« in der Betriebs- und Unternehmensführung durch eine »Verwissenschaftlichung« derselben erübrigte sich eine langwierige Auseinandersetzung über die ökonomisch richtigen Entscheidungen. Zugleich trat hier ein technokratisches Verständnis von betrieblicher Demokratie zutage. Die Selbstverwaltung wurde von Fabian als ein schrittweise zu erreichender, idealer Zustand gedacht, dem sich die Beschäftigten durch gewerkschaftliche Schulungen anzunähern hatten.30 Trotz des formulierten Anspruchs, ökonomische und politische Ziele gleichberechtigt in Einklang zu bringen, war die Priorisierung eindeutig: Erst nach der ökonomischen Stabilisierung des Unternehmens konnten die Möglichkeiten der Mitbestimmung für die Beschäftigten – beispielsweise durch die Gründung von Ausschüssen – ausgeweitet werden. Dem ökonomischen Ziel einer effizienten Unternehmensführung, wie sie das Land Hessen zur Bedingung für die Übernahme der Ausfallbürgschaft gemacht hatte, war demnach das politische Ziel einer demokratischen Unternehmensführung untergeordnet,31 auf das folglich im Zweifelsfall auch verzichtet werden konnte bzw. zur Wahrung überbetrieblicher Tarifstandards verzichtet werden musste. Weil Franz Fabian eine zentrale Kontrolle als wichtigste Voraussetzung für den Erfolg des Mitbestimmungs- und Tarifmodells erachtete, fühlte er sich dazu berufen, sie informell auszuüben. Mit der Ausschussstruktur stand eine dezentrale Form der Unternehmensorganisation zur Disposition, in der sich der unternehmerische Entscheidungsprozess als ein kollektiver Prozess von unten gestaltete und die damit einem rätedemokratischen Verständnis von Selbstverwaltung entsprach. Das Delegationsprinzip sollte in sämtlichen

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Folgendes aus Typoskript »Selbstverwaltung für wen? Die Rechte und Pflichten der Beschäftigten der Glashütte Süßmuth GmbH«, Vortrag IG-Chemie-Funktionäre, undatiert [November/Dezember 1970], in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 4. Folgende Zitate aus Franz Fabians Rede auf der Podiumsdiskussion am 19. März 1970, siehe Heinz Michaels, »Die Genossen im Glashaus«, in: Die Zeit, 27. März 1970, in: FHI, Schöf-1225. Die zwischen November 1970 und Januar 1971 durchgeführten Schulungen sollten v.a. zur »Beseitigung von Missverständnissen und vielleicht auch zum Abstellen von Dingen führen, die sich mit der neuen Form des Betriebes nicht vereinbaren lassen.« Geschäftsleitung (GHS) und IG Chemie an Belegschaft, undatiert [November 1970], in: FHI, Schöf-1221. Siehe hierzu Kapitel 8.1. Ähnlich auch Backhaus, 6. Juli 1970 (s. Anm. 27), S. 2.

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Bereichen des Unternehmens zur Anwendung kommen. Dem zugrunde lag die Überzeugung, dass Entscheidungen von jenen Personen mitgetragen werden müssen, die an ihren Arbeitsplätzen unmittelbar davon betroffen sind – um deren Bedürfnisse zu respektieren und um geeignete Lösungen für die komplexe Problemlage im Unternehmen zu finden. Die Ausschüsse sollten helfen, die unterschiedlichen im Betrieb vorhandenen Wissensbestände je nach Themenbereich und die verschiedenen Erfordernisse je nach Arbeitsbereich in die unternehmerische Entscheidungsfindung zu integrieren, um so zu richtigen Entscheidungen zu gelangen. Das Erfahrungswissen aller Beschäftigten wurde aufgewertet bzw. dem wissenschaftlichen Wissen hinzugezogener Experten gleichgestellt.32 Auch die Belegschaftsvertreter*innen verstanden die Selbstverwaltung als einen Lernprozess, der vor allem durch permanente Aushandlungsprozesse in einer kollektiven Praxis angestoßen werden sollte, wobei neben den Beschäftigten auch die Geschäftsführung und die Gewerkschaftsfunktionäre einzubeziehen waren. Ein entscheidender Unterschied zum Modell Süßmuth bestand vor allem darin, dass die Ausschussstruktur aus der betrieblichen Praxis heraus entstand und sich hier aus Perspektive der Beschäftigten während der Übernahmephase bereits bewährt hatte. Während das Modell Süßmuth von den Gegebenheiten im Betrieb abstrahierte – gerade weil es als Vorbild auch für andere Unternehmen und Branchen konzipiert wurde –, entsprach das dezentrale Organisationsprinzip des Ausschusskonzepts den Besonderheiten des Fertigungsprozesses in einer Mundglashütte, der sich infolge des periodischen Schmelzverlaufs an den Hafenöfen sowie der Vielzahl unvorhersehbarer Unregelmäßigkeiten einer zentralen Kontrolle entzog. Die demokratische Praxis war für viele in der Belegschaft daher kein abstrakter politischer Anspruch, sondern durch die konkreten Erfordernisse der betrieblichen Arbeitsabläufe begründet; das heißt, sie erschien ihren Befürworter*innen als ökonomisch sinnvoll. Zum Ausdruck kam dabei ein praxisbezogenes Verständnis von Demokratie, in welchem die hierarchisierende Trennung der ökonomischen, sozialen wie politischen Ziele der Selbstverwaltung aufgehoben und diese vielmehr als wechselseitige Bedingungen formuliert waren: die Demokratisierung der Entscheidungsfindung sollte eine ökonomische Stabilisierung des Unternehmens sowie eine Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen bewirken. Unabhängig von ihren jeweiligen Vorstellungen von der Selbstverwaltung einte alle Beteiligten die große Zuversicht einer baldigen Aufwärtsentwicklung des Belegschaftsunternehmens. Für die Beschäftigten resultierte diese Zuversicht vor allem aus den gemeinsamen Erfahrungen während der Unternehmenskrise. Der praktische Beleg, den Betrieb in Eigenregie erfolgreich(er) fortführen zu können, war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass in der Belegschaft ein Konsens für die Forderung nach Betriebsübernahme entstehen konnte. Die Zuversicht der Gewerkschaftsfunktionäre hingegen speiste sich vor allem aus ihrem theoretischen Nachdenken über Wirtschaftsdemokratie. Die technokratische Modellvorstellung erklärt – neben der Deutung der Unternehmenskrise als vorrangig durch ein Fehlverhalten des vorherigen Eigentümers verursacht und neben der informellen Finanzspritze der BfG – ihre Bereitschaft, die durch Buchüberschuldung und restriktive Kreditkonditionen sehr ungünstigen materiellen Bedingungen für 32

Kleine Zeitung der GHS [später Hüttenecho], 29. März 1971, in: AGI, S. 2.

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

die Belegschaftsübernahme zu akzeptierten, die auch jedes nicht-selbstverwaltete Unternehmen in große Schwierigkeiten gebracht hätte. Angesichts der im Kontext der Mitbestimmungskontroverse dem Modell Süßmuth beigemessenen gesellschaftspolitischen Relevanz sahen die Funktionäre in den widrigen Ausgangsbedingungen eine Herausforderung, welche die Symbolwirkung und Modellfunktion im Falle des Erfolgs noch erhöhen werde – wovon sie fest überzeugt waren.33

Selbstverwaltung in der juristischen Grauzone Die idealtypische Gegenüberstellung der beiden Modelle kann die Vielfalt der in der Belegschaft virulenten Vorstellungen von der Selbstverwaltung nur begrenzt abbilden. Letztere blieben im Gegensatz zu den explizit ausformulierten Konzeptionen der gewerkschaftlichen Unterstützer weitestgehend den Praktiken implizit. Die Kontrastierung der Ausschussstruktur als informelles Gegenmodell zum offiziell formalisierten Modell Süßmuth ist bereits ein Ergebnis der in den folgenden Kapiteln vorgenommenen Analyse und fungiert als ein die weitere Darstellung strukturierendes Prinzip. Auch im selbstverwalteten Unternehmen war zwischen »der formellen Organisation und Struktur eines Betriebs und seiner informellen Selbstorganisation und Gegenstruktur zu unterscheiden.«34 Während die im Prozess der Betriebsübernahme entstandenen Ansätze einer Ausschussstruktur in den folgenden Jahren allein im Informellen und insbesondere in Zeiten einer krisenhaften Unternehmensentwicklung zur Geltung kamen, widersprach die offiziell nach dem Modell Süßmuth formalisierte Praxis der Selbstverwaltung der Theorie bereits während der Konzipierung, worauf Angehörige der Belegschaft schon keinen Einfluss mehr nehmen konnten. Wie sich bereits in den Übernahmeverhandlungen des Jahres 1970 abzeichnete, entwickelten sich die im Beirat versammelten Vertreter von Gewerkschaft, Land Hessen und Banken zu den maßgeblichen Entscheidungsträgern im belegschaftseigenen Unternehmen. Mit der faktischen Buchüberschuldung zum Zeitpunkt der Belegschaftsübernahme sowie der Nicht-Anerkennung des Vereins der Beschäftigten als dem Rechtsträger des Unternehmens bewegte sich das Modell Süßmuth von Beginn an in einer juristischen Grauzone, was die Arbeit der verschiedenen Entscheidungsgremien, das Verhältnis zwischen ihnen sowie den Verlauf der Selbstverwaltung insgesamt nachhaltig prägte. Da den Beschäftigten und den von ihnen gewählten Gremien eine einklagbare Rechtsgrundlage fehlte, blieb

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Die Überzeugung einer gegenüber Privatunternehmen sowohl moralischen als auch ökonomischen Überlegenheit der kollektiven Unternehmensform sei unter »leaders« der Genossenschaftsbewegungen sehr verbreitet. Patrizia Battilani und Harm G. Schröter, »Principal Problems and General Development of Cooperative Enterprises«, in: Dies. (Hg.), The Cooperative Business Movement, 1950 to the Present, Cambridge 2012, S. 8f. Angesichts der »Unterstützung von allen möglichen Seiten« hegte auch Carl Backhaus keinerlei Zweifel, dass die GHS zu schnellem Erfolg gelangen wird. Backhaus, 6. Juli 1970 (s. Anm. 27), S. 3. Thomas Welskopp, »Produktion als soziale Praxis. Praxeologische Perspektiven auf die Geschichte betrieblicher Arbeitsbeziehungen«, in: Knud Andresen et al. (Hg.), Der Betrieb als sozialer und politischer Ort. Studien zu Praktiken und Diskursen in den Arbeitswelten des 20. Jahrhunderts, Bonn 2015, S. 35.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

der demokratische Anspruch unverbindlich. Mit dieser Informalität waren zudem große haftungs- und steuerrechtliche Unsicherheiten verbunden, die wiederum enormes Konfliktpotenzial bargen. Die Bestimmungen des Modells Süßmuth waren hinsichtlich der Haftung für die Entwicklungen im selbstverwalteten Unternehmen nicht eindeutig bzw. konnten dies – angesichts der fehlenden juristischen Anerkennung – auch nicht sein. »Juristisch« habe laut Franz Fabian die »letzte Verantwortung für alle wirtschaftlich-technischen Fragen eindeutig bei der Gesellschafterversammlung« gelegen, »[f]aktisch […] jedoch bei der Geschäftsführung, wenn Fehlentscheidungen verantwortet werden müssen«.35 Die Position der Geschäftsführung einer GmbH war generell insofern brisant, als sie – anders als die Gesellschafter*innen – nicht begrenzt, sondern bei Fahrlässigkeit persönlich voll zur Haftung gezogen werden konnte.36 Dies war in der Regel dann nicht der Fall, wenn der Geschäftsführer nachweislich auf Weisung der Gesellschafterversammlung handelte. Mit der Nicht-Eintragung des Vereins und der faktischen Insolvenzverschleppung war aber auch für die Gesellschafter*innen in ihrer Personenidentität als Vereinsvorstandsmitglieder – »im Falle eines Konkurses oder einer Liquidation der Hütte« – die persönliche Haftung mit ihrem privaten Vermögen in der Höhe des eigentlich nur treuhänderisch verwalteten Gesellschafteranteils nicht ausgeschlossen.37 Infolge der Nicht-Eintragung des Belegschaftsvereins stand zu befürchten, »dass die von der Firma gezahlten Löhne und Gehälter gewerbesteuerpflichtig würden« bzw. zumindest das Einkommen der Gesellschafter*innen als Unternehmergewinn zusätzlich zu besteuern war.38 Bis zum Ende der Selbstverwaltung drohte den Beschäftigten der Glashütte Süßmuth in ihrer Doppelrolle als »Arbeitnehmer« und »Mitunternehmer« eine Doppelbesteuerung durch Einkommens- und Gewerbesteuer, was eine Gesamtbelastung des Gewinns von über 50 Prozent nach sich gezogen hätte.39 Die Entscheidung hierüber lag im Ermessen der regional zuständigen Finanzbehörde, die die Anträge der

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Fabian, Fall (s. Anm. 1), S. 16. Siehe Ralf Ek, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers, München 2011. Protokoll Beirat (GHS), 30. Mai 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. Die Juristen Alfons Kraft und Horst Konzen, die sich im Auftrag der Carl-Zeiss-Stiftung mit dem Modell Süßmuth befassten, sahen die zehn Gesellschafter*innen (entgegen der Intention der Gewerkschaftsjuristen) eindeutig in der in einer GmbH üblichen Haftung in Höhe des Gesellschaftsanteils. Alfons Kraft und Horst Konzen, Die Arbeiterselbstverwaltung im Spannungsverhältnis von Gesellschafts- und Arbeitsrecht, Köln 1978, S. 20. Protokoll Beirat (GHS), 21. Oktober 1975, in: AGI, S. 6. Zur generellen Problematik siehe Alexander von Hoffmann, »Partnerschaftsmodelle. »Da werden ungeahnte Kräfte frei«, in: manager magazin, Juni 1972, in: Privatarchiv See, S. 97, 101; Burghard Flieger, »Kritisches Plädoyer für die genossenschaftliche Rechtsform«, in: Ders. (Hg.), Produktivgenossenschaften oder der Hindernislauf zur Selbstverwaltung, München 1984, S. 255. Eine drohende Doppelbesteuerung hatte im Ahrensburger Modell 1967 den Wechsel der Rechtsform von einer Kommanditgesellschaft zu einer Offenen Handelsgesellschaft zur Folge. Arnulf Geißler, »Fragen genossenschaftlicher Unternehmensdemokratie – dargestellt am Beispiel des ›Ahrensburger Modells‹«, in: Ders. und Wolfgang Fricke (Hg.), Demokratisierung der Wirtschaft, Hamburg 1973, S. 153.

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

selbstverwalteten Firma auf Steuererlass allerdings nicht bearbeitete.40 Das Finanzamt Kassel forderte – da im Sommer 1973 eine Klärung der Rechtsverhältnisse immer noch ausstand – Einkommenssteuererklärungen von allen Beschäftigten, was »eine erhebliche Arbeitsbelastung bedeuten würde.«41 Allein ein Gerichtsverfahren hätte Klarheit in diese Angelegenheit bringen können, das es aufgrund der damit verbundenen Offenlegung der Buchüberschuldung jedoch zu verhindern galt. Die Gewerkschaftsfunktionäre und allen voran Franz Fabian hielten – ungeachtet der genannten die Existenz des Unternehmens gefährdenden Probleme sowie des den zehn Beschäftigten in ihrer Funktion als Gesellschafter*innen persönlich drohenden finanziellen Risikos – an der Rechtskonstruktion des Modells Süßmuth fest. Ihnen ging es darum, die formal-juristische Anerkennung für diese Rechtsform eines demokratisch geführten Unternehmens zu erlangen und sie in der Bundesrepublik gesellschaftsrechtlich zu etablieren. Eben weil sie diesem Modell im Kontext der zeitgenössischen Kontroverse über die Unternehmensmitbestimmung eine hohe politische Bedeutung beimaßen, erachteten die gewerkschaftsnahen Juristen die Entscheidung des Amtsgerichts Hofgeismar, dem Belegschaftsverein die Eintragung ins Vereinsregister zu verwehren, als nicht haltbar.42 Sie erkannten darin – angesichts der Neuheit der Rechtskonstruktion – einen Ausdruck fehlenden politischen Willens. Die Klärung der Rechtslage war für sie daher eine Angelegenheit, die es auf politischer Ebene außerhalb des Betriebs auszuhandeln galt, was einige Zeit in Anspruch nehmen könne. Als die Finanzbehörden 1974 ankündigten, die bereits angedrohten Strafzahlungen ernsthaft einzufordern, trat Franz Fabian bzw. der Beirat in Verhandlungen mit den Hessischen Justiz-, Innenund Finanzministerien, um »die Hinderungsgründe einer Eintragung des Vereins zu beseitigen.«43 Angestrebt wurde die »Verleihung der Rechtsfähigkeit als Ersatz für die Eintragung«, wofür der Nachweis erbracht werden musste, dass es sich bei dem Belegschaftsverein um einen »wirtschaftlichen Verein« handelte.44 Die »Anerkennung als Wirtschaftsverein« musste wiederum erst »durch das zuständige Regierungspräsidium genehmigt werden«, was in der Bundesrepublik jedoch – so nicht nur die Erfahrung in der Glashütte Süßmuth, sondern generell die der alternativökonomischen Betriebe – »äußerst selten« geschah.45 In die entgegengesetzte Richtung wiesen die Bestrebungen der Belegschaftsgremien. Viel früher und intensiver als die Gewerkschaftsfunktionäre bemühten sie sich – zunächst zusammen mit dem Geschäftsführer [Hans Müller] und innerhalb der Struktu-

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Die Entscheidung über den beantragten Erlass auf Gewerbekapitalsteuer für 1971 stand bspw. noch zwei Jahre später aus. Erläuterungen zur Bilanz per 31. Dezember 1971 (GHS), 3. Dezember 1973, in: AGI, S. 2. Protokoll Beirat (GHS), 22. September 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 5f. Wolfgang Pennigsdorf an Rudolf Segall, 16. Februar 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Gero B. Friedel, »Rechtliche und rechtspolitische Aspekte des Modells«, in: Fabian, Arbeiter (s. Anm. 1), S. 72–74. Als juristisch richtig bzw. grundlegend gerechtfertigt wurde die ablehnende Entscheidung des Amtsgerichts Hofgeismar hingegen bewertet von Kraft und Konzen, Arbeiterselbstverwaltung (s. Anm. 37), S. 15. Protokoll Beirat (GHS), 15. Oktober 1974, in: AGI, S. 4. Protokoll Beirat (GHS) [Version 2], 17. März 1975, in: AGI, S. 5. Flieger, Plädoyer (s. Anm. 39), S. 255.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

ren des Modells Süßmuth –, die juristisch brisante Situation zu klären. Unterstützt wurden sie dabei von Juristen des anthroposophischen Gründerkreises der GLS-Bank aus Bochum, die die Glashütte Süßmuth hinsichtlich alternativer Rechtsformen berieten.46 In einem ersten Reformvorschlag strebten sie über die Erweiterung des Vereinszwecks um soziale Dienstleistungen, die – in Form einer Kranken-, Behinderten- Alten- und Jugendhilfe oder eines Kindergartens – der gesamten Bevölkerung Immenhausens zugutekommen sollten, die Anerkennung einer Gemeinnützigkeit des Belegschaftsvereins an.47 Mit einer den gewerkschaftlichen Verrechtlichungsbemühungen entgegengesetzten Argumentation stellten sie nicht die ökonomische Tätigkeit des Vereins, sondern dessen sozialpolitische Zwecke in den Vordergrund. Die Personenidentität zwischen Vereinsvorstand und Gesellschafterversammlung wäre entfallen. Damit sollte dem Idealcharakter eines Vereins Rechnung getragen werden. Die Bemühungen um Anerkennung der Gemeinnützigkeit zielten auf die Beseitigung der (steuer-)rechtlichen Unklarheiten und zugleich auf den Zugewinn an »erhebliche[n] Steuervorteile[n]« ab.48 Aus nicht überlieferten Gründen blieb aber auch diesem Verein die Rechtsfähigkeit versagt.49 Als zweiten Lösungsvorschlag entwickelten die Belegschaftsvertreter*innen zusammen mit den Bochumer Juristen – nunmehr unter Geheimhaltung gegenüber dem Geschäftsführer und am Beirat vorbei – im ersten Halbjahr 1974 den Plan einer Genossenschaftsgründung. Diese bereits während der Betriebsübernahme in der Belegschaft diskutierte Rechtsform hatten die Gewerkschaftsfunktionäre von Anfang an verworfen.50 Nach den vierjährigen Erfahrungen mit den aus der juristischen Unklarheit des Modells Süßmuth resultierenden Schwierigkeiten sahen die Belegschaftsvertreter*innen im Genossenschaftsplan eine realistische Option zur Beseitigung der prekären Haftungslage und eine Option, die Praxis der Selbstverwaltung juristisch stärker als bislang abzusichern. Immerhin war die Genossenschaft die einzige im bundesdeutschen Gesellschaftsrecht etablierte Rechtsform für ein Wirtschaftsunternehmen, die unkompliziert eine juristische Fixierung des demokratischen Grundsatzes »ein Mensch, eine Stimme« ermöglichte.51 Angesichts ihrer Unzufriedenheit mit dem bisherigen Verlauf der Selbstverwaltung erhofften sich die Belegschaftsvertreter*innen von der Genossenschaftsform, die zeitgleich auch die Beschäftigten des Kristallglaswerks Hirschberg bei ihrem Übernahmeversuch gewählt hatten, insgesamt eine Vitalisierung der demokratischen Praxis. An anderer Stelle wird darzulegen sein, dass dieser Alternativplan – auch

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Siehe Kapitel 4.3. Entwurf Satzung Gemeinnütziger Verein zur Verbesserung der Sozialstruktur in Immenhausen (Glashütte Süßmuth-Sozial e.V.), undatiert [Frühjahr 1973], in: AGI; Entwurf Gesellschaftsvertrag GHS GmbH, 28. März 1973, in: AGI. Konzept Änderung der Betriebsverfassung (GHS), 28. März 1973, in: FHI, Schöf-1226. Protokoll Gesellschafterversammlung, 3. September 1974, in: AGI; [Walter Albrecht] in Walter Scheiffele, Wilhelm Wagenfeld und die moderne Glasindustrie. Eine Geschichte der deutschen Glasgestaltung von Bruno Mauder, Richard Süssmuth, Heinrich Fuchs und Wilhelm Wagenfeld bis Heinrich Löffelhardt, Stuttgart 1994, S. 263. Siehe Kapitel 2.3. Flieger, Plädoyer (s. Anm. 39), S. 258.

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

weil er an ein neues Finanzierungskonzept gekoppelt war – das Potenzial zur Lösung dringlicher Probleme im selbstverwalteten Unternehmen besaß.52 Hegten die Gewerkschaftsfunktionäre gegenüber der Rechtsform der Genossenschaft Bedenken ganz grundsätzlicher Art, so forderte die Belegschaftsinitiative im Konkreten vor allem aber ihren Kontrollanspruch über die Entwicklungen in der Glashütte Süßmuth heraus. Der Reformvorschlag der Belegschaftsgremien stellte die Existenz des Modells Süßmuth infrage und wurde daher von den im Beirat vertretenen Gewerkschaftern diskussions- und alternativlos abgelehnt. Indem sie bis zuletzt hieran festhielten, blockierten die IG-Chemie-Funktionäre eine Reform der offiziell nicht rechtskräftigen Strukturen der Selbstverwaltung und trugen entscheidend zur Schwächung der nur semi-offiziell praktizierten Selbstverwaltung bei. Die Aufhebung der juristisch brisanten Verhältnisse konnte erst unter dem seit 1976 amtierenden Geschäftsführer [Harald Meier] realisiert werden, der mit dem Modell Süßmuth allerdings zugleich sämtliche Strukturen der Selbstverwaltung ersatzlos beseitigte.

4.2 Die Geschäftsführung und die Phasen der Selbstverwaltung Der Geschäftsführung kam in selbstverwalteten Unternehmen – falls eine ernannt wurde – generell eine ambivalente Position zu. Allein ihre Existenz gab eine Hierarchie vor, die tendenziell dem demokratischen Anspruch zuwiderlief.53 Dieser Widerspruch war auch im Modell Süßmuth strukturell angelegt. Einerseits hatte die Geschäftsführung »nach Maßgabe des [GmbH-]Gesetzes, des Gesellschaftsvertrages, der Geschäftsführerverträge und [der] Geschäftsordnung« den wirtschaftlichen Erfolg zu garantieren, das Unternehmen nach außen zu repräsentieren und autonom die Alltagsgeschäfte abzuwickeln.54 Andererseits sollte sie sich in grundlegenden Entscheidungen mit den Belegschaftsgremien abstimmen und einen Konsens herstellen. Im Gegensatz zu den Belegschaftsgremien ging die Geschäftsführung ihren Aufgaben während der bezahlten Arbeitszeit nach. Die größeren Zeitkapazitäten sowie der Wissens- und Informationsvorsprung bargen die Gefahr, dass sich die Geschäftsführung der Kontrolle durch die Belegschaftsvertreter*innen entzog – was durch die unklare Rechtslage noch verstärkt wurde. Die exponierte Position erforderte von den Geschäftsführern ein hohes Maß an persönlicher Identifikation mit der Selbstverwaltung und die Bereitschaft, die kollektiven Belegschaftsbeschlüsse anzuerkennen und sich diesen unterzuordnen. Die Berufung einer qualifizierten Geschäftsführung war eine der wichtigsten, schon gegenüber Richard Süßmuth formulierten Bedingungen des Landes Hessen für die Übernahme einer Ausfallbürgschaft. Über die Notwendigkeit einer Geschäftsführung bestand auch unter den die Betriebsübernahme aktiv vorantreibenden bzw. unterstützenden Personen weitgehend Einigkeit. Entsprechend der oben dargelegten Unterschiede im Verständnis von der demokratischen Praxis fielen die Erwartungen

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Siehe Kapitel 7.3. Siehe Chris Cornforth, Alan Thomas, Jenny Lewis u.a., Developing Successful Worker Co-operatives, London u.a. 1988, S. S. 134–154. Geschäftsordnung, [Herbst 1970] (s. Anm. 12), § 1.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

an das Handeln der Geschäftsführer jedoch auseinander. Ministerialbeamte wie Gewerkschaftsfunktionäre waren davon überzeugt, dass zur Sanierung und Stabilisierung des Konkursunternehmens in erster Linie eine allein verantwortliche, notfalls auch eigenmächtig agierende Geschäftsführung notwendig sei. Demgegenüber sahen die Belegschaftsvertreter*innen in der Geschäftsführung in erster Linie ein die kollektiven Vorschläge und Beschlüsse der Belegschaftsgremien berücksichtigendes, ausführendes und deren Einhaltung kontrollierendes sowie den Überblick behaltendes Gremium.55 Angesichts der strukturellen Spannung einerseits, der unterschiedlichen Erwartungen andererseits stellte die Geschäftsführung folglich das zentrale Konfliktfeld im Belegschaftsunternehmen dar. Die in Tabelle 6 aufgeführten Veränderungen in der personellen Besetzung der Geschäftsführung eignen sich daher für eine Periodisierung des Verlaufs der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth.

Tabelle 6: Geschäftsführung der Glashütte Süßmuth (1946–1989) Zeitraum

Form

Personen

Mai 1946 bis August 1969

Allein verantwortlicher Geschäftsführer ohne Kontrolle

Richard Süßmuth

August 1969 bis Oktober 1970

Geschäftsführer mit asymmetrischen Kompetenzen

Richard Süßmuth

[Hans Müller]

Oktober 1970 bis März 1971

Gleichberechtigte Geschäftsführer unter kollektiver Kontrolle

[Stefan Kurtz]

[Hans Müller]

März bis Dezember 1971

Geschäftsführender Ausschuss unter kollektiver Kontrolle

[Hans Müller]

[Jürgen [Bernd Schmitz] Dietrich] → [Konrad Scholz]

Januar 1972 bis Dezember 1975

Alleiniger Geschäftsführer unter externer Kontrolle

[Hans Müller]

1976 bis 1982

Alleiniger Geschäftsführer ohne Kontrolle

[Harald Meier]

1982 bis 1989

Alleiniger Geschäftsführer ohne Kontrolle

[Konrad Scholz]

Quelle: Tabelle der Autorin

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Siehe Kapitel 5.4 und 7.4.

[Ewald Lenz] [Johann [Volker Elze] Lange]

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

Seit der Gründung des Unternehmens durch Richard Süßmuth im Jahr 1946 lag die Geschäftsführung allein in seinen Händen. Auf dem Höhepunkt der Unternehmenskrise ging er im Sommer 1969 mit der Berufung seines Schwiegersohns [Hans Müller] zum zweiten Geschäftsführer zwar auf die Forderung des Landes Hessen ein, er ließ ihn aber nicht gleichberechtigt an seinen Entscheidungen teilhaben. Zu grundlegenden strukturellen Änderungen in der Unternehmensführung kam es erst nach der Belegschaftsübernahme.

Phase 1: Das »Triumvirat« (Oktober 1970 bis März 1971) Am 1. Oktober 1970 nahm eine neue Geschäftsführung ihre Tätigkeit auf, die allein von den Funktionären der IG Chemie Hessen in Abstimmung mit den Beamten des Hessischen Wirtschaftsministeriums ausgewählt worden war. Es habe sich als überaus schwierig erwiesen, fachlich qualifizierte Personen zu finden, die bereit waren, sich auf die Unsicherheiten einzulassen, die mit der demokratischen Unternehmensform und den sich hinziehenden Kreditverhandlungen verbunden waren.56 In [Hans Müller] sah der Wirtschaftsminister Rudi Arndt einen seit Anfang der 1960er Jahre in der Verwaltung tätigen und damit für die Probleme des Unternehmens mit zur Verantwortung zu ziehenden leitenden Angestellten.57 Für Franz Fabian war er hingegen aufgrund seiner langjährigen Arbeitserfahrung, intensiven Kenntnis des Unternehmens und der Belegschaft sowie seiner guten Kontakte zur Kundschaft eine im Übernahmeprozess wichtige Schlüsselfigur.58 Als Kompromiss schlugen die Gewerkschaftsfunktionäre eine dreiköpfige Geschäftsführung vor. [Hans Müller] übernahm die Leitung über die Verwaltung, der zuvor in einem maschinell produzierenden Behälterglasunternehmen tätige Ingenieur [Ewald Lenz] die technische Leitung und der aus der Tourismusbranche kommende Diplom-Kaufmann [Stefan Kurtz] die Vertriebsleitung.59 Aufgrund seiner Referenzen als »gestandener Manager« lagen vor allem auf [Kurtz] große Hoffnungen. Als »primus inter pares« erhielt er ein Monatsgehalt von 5.000 DM, [Lenz] und [Müller] dagegen jeweils 3.000 DM. Entgegen der Vorschriften des Modells Süßmuth konnten die Belegschaftsvertreter*innen auf die Berufung dieser Geschäftsführung keinen Einfluss nehmen. Ihre bereits während der Übernahmephase im Bereich der Produktion getroffenen Personalentscheidungen wurden im Zuge der Kreditverhandlungen revidiert bzw. übergangen.

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Fehlende Honorarangaben und die Unsicherheit, ob die Belegschaftsübernahme überhaupt realisiert werden kann, waren Gründe, weshalb potenzielle Kandidaten für die Geschäftsführung keine verbindlichen Zusagen geben wollten. Um ihrem Sicherheitsbedürfnis entgegenzukommen, sollte im Geschäftsführervertrag eine »Abfindung bei Nichtwiederbestellung« in Höhe von mindestens einem Jahresgehalt festgehalten werden. Einladung IG Chemie Mitgliederversammlung, gezeichnet von Werner Schepoks, 18. November 1969, in: FHI, Schöf-1222; Namentlich unbekannter Bewerber für die Geschäftsführung (GHS) an Franz Fabian, 26. November 1969, in: FHI, Schöf-1222; Franz Fabian an IG Chemie Hauptvorstand, 5. Mai 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie. Rudi Arndt an IG Chemie Hauptvorstand, 6. Mai 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. Franz Fabian an HWMi, 14. Mai 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. Folgendes aus Fabian, 14. Mai 1970 (s. Anm. 58).

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Für den seit Sommer 1969 vakanten Posten des technischen Leiters hatten die Facharbeiter beispielsweise den Ingenieur [Gyeong Kim] gewonnen.60 Der gebürtige Koreaner hatte an der Glasfachschule Zwiesel seine Ausbildung absolviert und sei aufgrund seiner fachlichen Kompetenzen bei der Glasschmelze eine große Hilfe gewesen. Er habe ein sehr gutes Verhältnis zur Belegschaft gehabt, sei jedoch im Laufe des Jahres 1970 »regelrecht weggeekelt worden«. Daran konnten die Beschäftigten nichts ändern, ohne Gefahr zu laufen, die Kreditverhandlungen zu gefährden. Die zehn Gesellschafter stimmten der neuen Geschäftsführung kurz nach ihrer Wahl am 14. Mai 1970 zu; Anfang Juli 1970 wurde sie der Belegschaft vorgestellt, deren Mehrheit zunächst sehr zuversichtlich gestimmt war.61 [Stefan Kurtz] wurde als »dynamische« und »mitreißende« Person wahrgenommen, der viele neue Ideen mitgebracht habe.62 Auch [Ewald Lenz] sei mit Verbesserungsvorschlägen und großem Engagement an die Arbeit gegangen.63 Auf diesen verheißungsvollen Anfang folgte bald Ernüchterung.64 Die im Rückblick von den Beschäftigten mit spöttischem Unterton verwendete Bezeichnung Triumvirat für die dreiköpfige Geschäftsführung setzte die ursprünglich hohe Erwartungshaltung in einen Bezug zur Erfahrung, dass »[d]iese Spitze […] sich nicht bewährt« hatte65 – und zwar in jeglicher Hinsicht. Weder arbeiteten die Geschäftsführer mit den Belegschaftsgremien zusammen, noch funktionierte die Koordination zwischen ihnen. Zu Rivalitäten sei es insbesondere zwischen [Hans Müller], der sich »als der langjährige Mann, als der eigentliche Geschäftsführer« gefühlt habe, und dem neuen Vertriebsleiter [Kurtz] gekommen.66 Statt »möglichst einmal wöchentlich« Besprechungen abzuhalten und ihre Entscheidungen aufeinander abzustimmen,67 »werkelten« die drei Geschäftsführer jeweils allein vor sich hin.68 Statt sich »mindestens einmal monatlich« mit den Abteilungsleitern und dem Betriebsausschuss zu besprechen sowie die Gesellschafterversammlung um Zustimmung zu bitten,69 informierten die Geschäftsführer die Belegschaftsvertre-

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Folgendes aus Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] und [Dieter Schrödter], 13. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 6f.; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Manfred Hübner], [Frank Weber], [Anna Thiele] und namentlich unbekanntem Betriebsratsmitglied, 26. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 4, 27; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Willi Voigt], 11. Oktober 1973, im Besitz der Autorin, S. 4. »Modernisierung gesichert. Investitionen in Höhe von 1,5 Millionen DM für Glashütte Immenhausen vorgesehen«, in: Hessische Allgemeine, 4. Juli 1970, in: FHI, Schöf-1225. Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Wolfgang Franke] und [Frank Weber], 13. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 3f.; [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 60), S. 25; Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 20), S. 9. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Dieter Schrödter], 11. Oktober 1973, im Besitz der Autorin, S. 11f. Die ersten Beschwerden über die Arbeit des Betriebsleiters [Ewald Lenz] richteten die Mitglieder des technischen Ausschusses bereits im Dezember 1970 an die Gesellschafterversammlung. Siehe Kapitel 5.1. Protokoll Gespräch mit [Walter Albrecht], 15. Juli 1993, erstellt von Friedrich-Karl Baas, in: AGI, S. 3. Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Bernd Dietrich] und [Konrad Scholz], 14. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 1. Geschäftsordnung, [Herbst 1970] (s. Anm. 12), § 3. [Bernd Dietrich] in [Dietrich] und [Scholz], 14. Dezember 1973 (s. Anm. 66), S. 1, 6f. Geschäftsordnung, [Herbst 1970] (s. Anm. 12), § 3.

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

ter*innen nicht über ihre Entscheidungen, geschweige denn, dass sie diese daran beteiligten. Das »Triumvirat« verstieß damit gegen die Geschäftsordnung und Bestimmungen des Modells Süßmuth, zudem traf es sowohl im Bereich der Produktion als auch im Vertrieb eine Reihe von Fehlentscheidungen, mit deren Folgen das selbstverwaltete Unternehmen noch lange zu kämpfen hatte.70 Hinzu kamen aus Perspektive der Beschäftigten persönliche Unzulänglichkeiten.71 Statt das Unternehmen wirtschaftlich zu stabilisieren, trug die erste Geschäftsführung zu einer Vervielfältigung der Problemfelder bei, die Verluste erhöhten sich. Die Belegschaftsvertreter*innen sahen in der dreiköpfigen Führung bald nur noch einen ungerechtfertigt hohen Kostenfaktor.72 Die im März 1971 ablaufende sechsmonatige Probezeit, wonach ein Fünf-Jahres-Vertrag in Kraft getreten wäre, setzte die Gesellschafter unter Handlungsdruck. Am 11. März 1971 sprachen sie [Kurtz] und [Lenz] die Kündigung aus.73 Sowohl bei den betroffenen Geschäftsführern als auch bei den betriebsexternen Beiratsmitgliedern löste diese Entscheidung große Empörung aus. [Kurtz] zweifelte an der Rechtmäßigkeit des Gesellschafterbeschlusses und war überzeugt davon, dass ihn der Beirat in seinem Amt bestätigen würde.74 Von Anfang an hätten beide Geschäftsführer ihre fehlende Zusammenarbeit mit den Belegschaftsgremien damit begründet, dass ihnen »die Vollmacht von der Landesregierung« übertragen worden sei.75 Wenn überhaupt, dann führten sie Besprechungen mit den Beschäftigten nur durch, um »[f]ür den Beirat eine Schau ab[zu]ziehen.«76 Weder für den demokratischen Anspruch noch für die Besonderheiten der Fertigung, der Produkte oder der Vertriebswege der Firma entwickelten [Lenz] und [Kurtz] ein Verständnis. Die Geldgeber und Bürgen empfanden das Vorgehen der Gesellschafter dennoch als »übereilt«.77 Bereits in den Monaten zuvor hatten betriebsexterne Beiratsmitglieder Kritik an der neuen Geschäftsführung abgewehrt.78 Genossen [Kurtz] und [Lenz] im Beirat einen unverhältnismäßig großen Vertrauensvorsprung, traute man den Belegschaftsgremien hingegen »nicht so viel zu«.

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Siehe Kapitel 5 und 6. [Ewald Lenz] habe einen »ausländischen Arbeitnehmer« angegriffen und sei immer häufiger alkoholisiert zur Arbeit erschienen. In der Belegschaft kursierten zudem Gerüchte über eine Veruntreuung von Fördergeldern durch die Geschäftsführer. [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 60), S. 26f.; [Dietrich] und [Scholz], 14. Dezember 1973 (s. Anm. 66), S. 2; Notizen Erasmus Schöfer, undatiert [1973/1974], in: FHI, Schöf-1197. Transkript Interview der Autorin mit [Jochen Schmidt], 7. Februar 2013, im Besitz der Autorin, S. 2. Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 11. März 1971, in: FHI, Schöf-1228. [Dietrich] und [Scholz], 14. Dezember 1973 (s. Anm. 66), S. 3; Folgendes aus [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 60), S. 24–27. [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 60), S. 24. Mit dieser Begründung hielt [Ewald Lenz] im Oktober 1970 (offensichtlich das einzige Mal) eine Besprechung mit den Meistern der Weiterverarbeitung ab. Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 14. März 1971, in: AGI. Zitiert in Geschäftsführender Ausschuss an Gesellschafterversammlung (GHS), 28. Juni 1971, in: FHI, Schöf-1228. »[M]an hat uns nicht geglaubt.« Auch Franz Fabian sei der Meinung gewesen, dass die Beschäftigten der Geschäftsführung »unrecht« tun. Folgende Zitate aus [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 60), S. 24, 26.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Dass die Entlassung ohne Rücksprache mit dem Beirat vorgenommen wurde – was die Bestimmungen des Modells Süßmuth auch nicht vorsahen –, versetzte ihn schließlich in Alarmhaltung.79 Das Land Hessen und die Helaba, die damals noch gar nicht mit der Auszahlung der bewilligten Kreditmittel begonnen hatte, äußerten Bedenken, »den Betrieb überhaupt weiterlaufen zu lassen«.80 Erst zu einem späteren Zeitpunkt – als Ergebnis einer vom Beirat beauftragten Untersuchung durch das RKW Hessen – wurde die Entscheidung der Gesellschafter als sachlich richtig bewertet.81 Franz Fabian, der im Dezember 1970 zum Vorsitzenden des Beirats berufen worden war, hatte die Kündigung der beiden Geschäftsführer durch die Gesellschafter inoffiziell begleitet. Bereits zu Beginn des Jahres 1971 hatte er den Wirtschaftsprüfer [Wilhelm Karze] beauftragt, die Lage im Unternehmen zu analysieren.82 In seinem Anfang März 1971 vorliegenden Bericht diagnostizierte [Karze] dringenden Handlungsbedarf. Ohne Wissen der anderen betriebsexternen Beiratsmitglieder nahm Fabian an jener Gesellschafterversammlung teil, auf der über die Kündigung der Geschäftsführer abgestimmt wurde. Mit acht gegen zwei Stimmen beschlossen die Gesellschafter die Kündigung von [Lenz], mit neun Stimmen gegen eine die von [Kurtz]. Nicht im Protokoll stand, dass auf dieser Gesellschafterversammlung »fünf bis sechs Mal geheim« darüber abgestimmt worden sei, »ob [Müller] auch mit [Kurtz] und [Lenz] gehen sollte.«83 Nachdem es zunächst immer wieder zu einer Stimmengleichheit gekommen sei, habe die Gesellschafterversammlung schließlich mit sechs gegen vier Stimmen für [Müllers] Verbleib gestimmt.

Phase 2: Die kollektive Geschäftsführung (März bis Dezember 1971) In dieser für alle Beteiligten unerwarteten Situation, in der die Existenz des Unternehmens ein weiteres Mal bedroht war, berief die Gesellschafterversammlung eine neue, kollektive Geschäftsführung: Der geschäftsführende Ausschuss und die Abteilungsleiterkonferenz übernahmen fortan die Leitung. Dem geschäftsführenden Ausschuss gehörten neben [Hans Müller], der das Unternehmen nach außen hin als alleiniger Geschäftsführer vertreten sollte, der seit Herbst 1970 angestellte Leiter des Rechnungswesens [Bernd Dietrich], die leitenden Angestellten der drei Vertriebsbereiche [Jürgen Schmitz] (Inlandsvertrieb Wirtschaftsglas), [Johann Elze] (Inlandsvertrieb

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Am 17. März 1971 wurde kurzfristig eine Beiratssitzung und am 1. April 1971 im HWMi ein Krisentreffen anberaumt, auf dem über die Zukunft des Belegschaftsunternehmens gesprochen wurde. Von diesen Treffen liegen ebenso wie generell von den Beiratssitzungen des Jahres 1971 keine Protokolle vor, sondern lediglich mündliche Erinnerungen oder schriftlich hierauf verweisende Bezugnahmen. [Konrad Scholz] an Hans Lindenau, 31. März 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 1. Die Berufungen von [Kurtz] und [Lenz] seien »menschliche Fehlkalkulationen« gewesen; ihre teils nicht revidierbaren Fehlinvestitionen hätten durch eine »gewissenhafte Personalauswahl« vermieden werden können. Bericht RKW Hessen über die Betriebsberatung der GHS, 18. Februar 1972, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 5, 9f. Folgendes aus Protokollauszug Gesellschafterversammlung, 11. März 1971, in: Archiv AGK, HRB 9011. Folgendes aus Schöfer, [1973/1974] (s. Anm. 71).

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

Beleuchtungsglas) und [Volker Lange] (Auslandsvertrieb) sowie der Betriebsleiter an.84 Den Posten des Betriebsleiters übernahm bis zur Ernennung von [Rudolf Woge] am 1. Juli 1971 [Hans Müller] kommissarisch. Während der knapp viermonatigen Vakanz wurden die für den Bereich Produktion anstehenden Entscheidungen im Rahmen der Abteilungsleiterkonferenz getroffen, die sich aus den leitenden Angestellten aller Abteilungen, den gewählten Vertretern der Belegschaftsgremien und den Mitgliedern des geschäftsführenden Ausschusses zusammensetzte. Das sich während der Unternehmenskrise im Betrieb bewährende Ausschussprinzip kam damit in Ansätzen auch auf Ebene der Unternehmensführung zum Tragen. Generell sollte »[d]er Arbeit in den Ausschüssen […] in Zukunft große Bedeutung zu[kommen]«.85 Die Arbeitsweise und Kompetenzen der kollektiven Geschäftsführung wurden – angesichts der akuten Krisensituation – weder schriftlich festgelegt noch juristisch fixiert. Sie konstituierte sich entsprechend der Arbeitsabläufe im Unternehmen und der von den beteiligten Facharbeitern sowie den leitenden Angestellten wahrgenommenen Erfordernisse. Während die Mitglieder des geschäftsführenden Ausschusses täglich Besprechungen abhielten, kam die Abteilungsleiterkonferenz jeden Montag nach Dienstschluss zusammen, um sich über Probleme und anstehende Maßnahmen in den jeweiligen Abteilungen auszutauschen, gemeinsame Beschlüsse zu treffen, deren Realisierung zu koordinieren und zu kontrollieren.86 Nach der Ernennung von [Woge] zum neuen Betriebsleiter trat die Abteilungsleiterkonferenz nur noch alle zwei Wochen zusammen und verlor letztlich an Bedeutung.87 Obwohl die Bedingungen infolge der Fehlentwicklungen unter der ersten Geschäftsführung sehr viel widriger waren als ein halbes Jahr zuvor, erlebten viele Beschäftigten die Zeit unmittelbar nach deren Kündigung als Aufbruch und als den eigentlichen Beginn der Selbstverwaltung. Hiervon zeugten die verstärkten Aktivitäten in den Belegschaftsgremien sowie die Gründung einer Betriebszeitschrift, die auf den Namen Hüttenecho getauft wurde.88 Die Notwendigkeit zur Verbesserung des betrieblichen Informationswesens ergab sich für die gewählten Belegschaftsvertreter allein aus der Überraschung, die ihre im Geheimen beschlossene Kündigung von [Kurtz] und [Lenz] – mit Blick auf deren ursprünglich hohes Ansehen – in der Belegschaft hervorgerufen hatte.89 Die Betriebszeitung sollte – als Plattform der kritischen Diskussion zurückliegender Entwicklungen, aktueller Probleme und anstehender Entscheidungen – bessere Voraussetzungen für eine demokratische Teilhabe an den unternehmerischen Entscheidun-

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Abteilungsleiterkonferenz, 14. März 1971 (s. Anm. 76); Erklärung [Hans Müller], 15. März 1971, in: FHI, Schöf-1228; [Hüttenecho], 29. März 1971 (s. Anm. 32), S. 2; [Scholz], 31. März 1971 (s. Anm. 80), S. 1; [Dietrich] und [Scholz], 14. Dezember 1973 (s. Anm. 66), S. 3f. [Hüttenecho], 29. März 1971 (s. Anm. 32), S. 2. [Dietrich] und [Scholz], 14. Dezember 1973 (s. Anm. 66), S. 3. Siehe Protokolle Abteilungsleiterkonferenz, März bis Juli 1971, in: AGI. Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 5. Juli 1971, in: AGI. Dieses Protokoll ist der letzte überlieferte Hinweis auf die Arbeit der Abteilungsleiterkonferenz. In der ersten Ausgabe vom 29. März 1971 wurden alle Beschäftigten aufgerufen, sich an einem Wettbewerb zur Namensfindung zu beteiligen. [Hüttenecho], 29. März 1971 (s. Anm. 32), S. 5. [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 63), S. 12; Ebenso [Anna Thiele] in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 60), S. 24f.

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gen schaffen helfen. Alle Beschäftigten waren aufgerufen, sich hieran zu beteiligen, damit die Zeitschrift zur »Stimme der Belegschaft« werde.90 Sie sollte »vorläufig alle zwei Monate, dann in kürzeren Abständen erscheinen«. Die Redaktion übernahm eine personell wechselnde Gruppe von Beschäftigten aus Produktion, Vertrieb und Verwaltung. Erstmals begannen sich nun die Beschäftigten in einem größeren Rahmen über die demokratische Form der Unternehmensführung zu verständigen. Die Redaktion der zweiten Ausgabe des Hüttenecho legte – in dieser expliziten Form einmalig – ihr Verständnis von der Selbstverwaltung dar, wozu ihrer Ansicht nach insbesondere das »Recht auf Rede- und Meinungsfreiheit« gehörte und die Möglichkeit, »Kritik üben zu können, auch an der Geschäftsleitung, auch am ›Vor-‹Gesetzten.« Der Beirat stellte sich offiziell hinter diese neue Form der Geschäftsführung und versicherte der Hessischen Landesregierung sowie dem mittlerweile amtierenden FDP-Wirtschaftsminister Heinz-Herbert Karry, dass »die Managementfrage unter den gegebenen Umständen befriedigend gelöst« sei.91 Die Glashütte Süßmuth sei daher weiterhin zu unterstützen und die »Zahlung aus den verbürgten Krediten […] umgehend freizugeben«. Erst nach intensiven Bemühungen einzelner Beiratsmitglieder – allen voran dem Geschäftsführer der HLT [Dieter Vogt] – konnten die Hessische Landesregierung und die LKK dazu bewegt werden, endlich mit der Auszahlung der Kreditmittel zu beginnen.92 Insgeheim überwog im Beirat allerdings die Skepsis gegenüber der kollektiven Geschäftsführung, die lediglich als Interimslösung galt und – bis ein Ersatz gefunden war – streng kontrolliert wurde.93 Der geschäftsführende Ausschuss musste dem Beirat nunmehr monatliche »Erfolgsrechnungen« vorlegen, die regelmäßig mit den Vertretern der Landesregierung, des Wirtschaftsministeriums und der Landesbank in der sogenannten Wiesbadener Runde besprochen wurden.94 Obwohl für die geforderte detaillierte und kurzfristige Erhebung von Kosten- und Umsatzentwicklung zum damaligen Zeitpunkt in der Glashütte Süßmuth keine geeigneten Instrumente zur Verfügung standen, machten die Gläubiger von der Entwicklung dieser Unternehmenskennziffern die Auszahlung der Kreditraten abhängig.95 Zeitgleich forcierte Franz Fabian die Suche nach einem neuen Geschäftsführer. Ende Juni 1971 schlug er den Gesellschaftern mit dem Wirtschaftsprüfer und Manager der Südzucker AG [Wilhelm Karze] einen auch von Carl Backhaus und [Dieter Vogt] befür-

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Folgendes aus Hüttenecho, April 1971 (s. Anm. 26), S. 1f. Folgendes aus Stellungnahme Beirat (GHS), 20. April 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie. Siehe Werner Vitt an [Dieter Vogt], 21. April 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Werner Vitt an Rudi Arndt, 21. April 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Werner Vitt an Albert Osswald, 21. April 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie. An den Konsens unter den betriebsexternen Beiratsmitgliedern, »dass der geschäftsführende Ausschuss [zügig] durch einen Geschäftsführer abgelöst werden muss«, erinnerte bspw. der neue Leiter der Verwaltungsstelle Kassel Wilhelm Leveringhaus an Franz Fabian, 20. August 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 2. Protokoll Beirat (GHS), 4. Juni 1971, in: FHI, Schöf-1228; Stellungnahme [Hans Müller], 13. Juni 1971, in: AGI. Siehe Kapitel 7.1 und 7.3.

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

worteten Kandidaten vor, der die kollektive Geschäftsführung ablösen sollte.96 Die Mitglieder des geschäftsführenden Ausschusses protestierten gegen ihre drohende Abberufung und gaben der Gesellschafterversammlung zu bedenken, dass sich die Situation im Unternehmen seit der Aufnahme ihrer Arbeit verbessert habe und ihnen die Probleme im Betrieb nicht angelastet werden könnten.97 Nach der schlechten Erfahrung mit der ersten Geschäftsführung wollten die Gesellschafter die Entscheidung nicht unter dem Zeitdruck treffen, den [Karze] in Form eines Ultimatums erzeugte.98 Auch dessen Forderung, die Firma solle ihm ohne Probezeit einen Fünf-Jahres-Vertrag zusichern, lehnten sie ab. Anfang Juli 1971 trafen sie einstimmig den Beschluss, [Karze] als neuen Geschäftsführer auf Probe zu beschäftigten, worauf dieser jedoch nicht eingehen wollte. Während der Phase der kollektiven Geschäftsführung stand die Firma von Seiten der Geldgeber und Bürgen unter einem Erfolgsdruck, der weder davor noch danach derart massiv gewesen war. Um ihre Unterstützung nicht zu verlieren, sahen sich Geschäftsführung und Belegschaftsgremien dazu gezwungen, Maßnahmen zur »drastischen Kostensenkung und zu einer Erhöhung der Rentabilität« ins Auge zu fassen, die der im Rechnungswesen tätige Angestellte [Konrad Scholz] insgeheim »nicht für voll realisierbar« hielt.99 Unter Inkaufnahme unbezahlter Mehrarbeit unternahmen die Selbstverwaltungsgremien dennoch große Anstrengungen, den Erwartungen der Gläubiger zu entsprechen. Die intensivierte Kontrolle durch den Beirat konnte die verlustreiche Entwicklung, die im September 1971 zu einer Liquidationskrise führte, aber nicht aufhalten. Zugleich verdichteten sich die Konflikte innerhalb und zwischen den Entscheidungsgremien im selbstverwalteten Unternehmen. Nach knapp einem Jahr war der Finanzleiter [Bernd Dietrich] nicht mehr bereit, die vom Beirat aufgezwungenen Bedingungen zu akzeptieren. Mitte August 1971 reichte er – für die Gesellschafter völlig überraschend – seine Kündigung ein.100 Neben privaten Gründen erfolgte [Dietrichs] Rücktritt auch aus politischen Motiven.101 Aus Perspektive des Beirats schien erneut der Konkurs des Unternehmens bevorzustehen,102 nach der Kündigung von [Dietrich] sank seine Toleranz gegenüber dem geschäftsführenden Ausschuss weiter. Während der Kasseler Gewerkschafter Wilhelm Leveringhaus meinte, mit [Dietrich] verlasse die »erste Ratte« das »sinkende Schiff«, die Hausbank LKK im Oktober 1971 die Auszahlung der Kreditmittel stoppte und die Funktionäre der IG-Chemie-Bezirksleitung massiv in die betriebsinternen Tarifverhandlungen zu intervenieren begannen, nahm auch in der Belegschaft die Kritik an

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Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 26. Juni 1971, in: FHI, Schöf-1228; Gesellschafterversammlung an Beirat (GHS), 28. Juni 1971, in: FHI, Schöf-1228. 97 Geschäftsführender Ausschuss, 28. Juni 1971 (s. Anm. 77). 98 Folgendes aus Protokoll Gesellschafterversammlung, 8. Juli 1971, in: AGI; Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 15. Juli 1971, in: FHI, Schöf-1228. 99 Maßnahmenkatalog zur drastischen Kostensenkung und Sicherung des Firmenstammkapitals (GHS), undatiert [Frühjahr 1971], in: FHI, Schöf-1196; [Scholz], 31. März 1971 (s. Anm. 80), S. 1f. 100 Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 19. August 1971, in: FHI, Schöf-1228. 101 Ebd.; Leveringhaus, 20. August 1971 (s. Anm. 93), S. 2; Transkript Gruppeninterview der Autorin mit [Edith Scholz] und [Norbert Reuter], 21. März 2014, im Besitz der Autorin, S. 5. Siehe Kapitel 4.3. 102 Zu den Prognosen des Beirats, die sich im Nachhinein oftmals als überzogen erwiesen, siehe Kapitel 7.2.

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einer mangelhaften Zusammenarbeit, einer Untätigkeit oder Eigenmächtigkeit der Mitglieder des geschäftsführenden Ausschusses zu.103 Die Gesellschafter forderten eine bessere Arbeitsweise und unterbreiteten ihnen eine Reihe von Reformvorschlägen.104 Eine Auflösung der kollektiven Geschäftsführung, wie sie die betriebsexternen Beiratsmitglieder am 20. Dezember 1971 beschlossen, entsprach allerdings nicht ihren Vorstellungen.

Phase 3: Die extern kontrollierte Geschäftsführung (1972–1975) Zur Abberufung des geschäftsführenden Ausschusses hatte der Beirat keine Berechtigung. Die betriebsexternen Beiratsmitglieder hielten den undemokratischen Eingriff jedoch für gerechtfertigt. Denn in ihren Augen war allein die kollektive Geschäftsführung für die Krisenentwicklung verantwortlich. Um Schlimmeres zu verhindern, sah sich der Beirat gezwungen, die Unternehmensführung zugunsten des alleinigen Geschäftsführers [Hans Müller] neu zu strukturieren, dem die einstigen Mitglieder des geschäftsführenden Ausschusses nun als Bereichs- und Abteilungsleiter untergeordnet wurden.105 [Woge] wurde als Betriebsleiter bestätigt. [Schmitz] wurde zum Leiter des Gesamtvertriebs ernannt, dem [Lange] und [Elze] nunmehr unterstanden. Für das Rechnungswesen blieb [Scholz] in Nachfolge von [Dietrich] zuständig. Die Bereichsleiter wurden aufgefordert, ihre Aufgabengebiete künftig schriftlich festzulegen, untereinander abzustimmen und den Geschäftsführer sowie den Beirat darüber zu informieren. Mindestens einmal pro Woche sollte sich der Geschäftsführer mit den Bereichsleitern treffen, wovon Protokolle anzufertigen und regelmäßig an Franz Fabian und [Dieter Vogt] zu schicken waren. Falls in diesem Kreis keine Einigung zustande käme, sollte »der Geschäftsführer allein verantwortlich« entscheiden oder der Beirat zurate gezogen werden. »Wichtige Entscheidungen sollen in Zukunft über den Filter Beirat an die Gesellschafter gehen«, die ebenso wie der Betriebsausschuss »gegenüber dem Geschäftsführer kein Weisungsrecht« mehr besaßen. Unter Stimmenthaltung von [Konrad Scholz] wurde dieser Beiratsbeschluss vom restlichen Führungspersonal angenommen. An der Selbstermächtigung des Beirats übten die von dieser Entscheidung ausgeschlossenen Belegschaftsvertreter heftige Kritik.106 Sie forderten »mehr parlamentarische Gepflogenheit« und wandten ein, dass sie für die Konsequenzen der Fehlentscheidungen der dreiköpfigen, von ihnen nicht gewählten Geschäftsführung nicht zur Verant-

103 Leveringhaus, 20. August 1971 (s. Anm. 93), S. 2. Siehe Protokolle Gesellschafterversammlung, Oktober und November 1971, in: FHI, Schöf-1228. 104 [Manfred Hübner] schlug bspw. eine personelle Verkleinerung des geschäftsführenden Ausschusses vor. [Frank Weber] plädierte für eine eindeutigere Abgrenzung der Kompetenzen. Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 11. November 1971, in: FHI, Schöf-1228. 105 Folgendes aus Protokoll Beratung der betriebsexternen Beiratsmitglieder (GHS), 20. Dezember 1971, in: FHI, Schöf-1228. 106 Folgendes aus Notizen Stellungnahme Gesellschafterversammlung auf der Beiratssitzung (GHS), 24. Februar 1972, in: FHI, Schöf-1227; Redebeitrag [Frank Weber] auf der Beiratssitzung am 24. Februar 1972 vorgelesen von demselben in Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Frank und Monika Weber], 12. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 1–3.

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

wortung gezogen werden können. Rückgängig machen konnten sie ihre faktische Entmachtung jedoch nicht. Vergeblich verlangten die Gesellschafter eine »zeitlich begrenzte Wirkungsdauer« des Beiratsbeschlusses vom 20. Dezember 1971, der ihnen lediglich mündlich übermittelt wurde. Der Aufforderung nach einer schriftlichen Begründung der Abberufung der kollektiven Geschäftsführung und des in diesem Zusammenhang ausgesprochenen Verbots der Betriebszeitung Hüttenecho kam der Beirat nicht nach. Angesichts der umfangreichen Auflagen, die der Beirat an seine Ernennung zum alleinigen Geschäftsführer koppelte, konnte auch [Hans Müller] im Folgenden nicht wirklich frei agieren.107 Dennoch war er seiner Idealvorstellung von einer effizienten Unternehmensführung ein großes Stück nähergekommen. Diese hatte er bereits in dem Rettungsplan, die Glashütte in Form einer Familien-KG fortzuführen, im Sommer 1969 in Anschlag gebracht, damals aber aufgrund der Dynamik der Ereignisse nicht durchsetzen können. Laut [Scholz] und [Dietrich] habe sich [Müller] von Beginn an als »legitimer Nachfolger« des »Seniorchefs« gesehen, nachdem dieser »sich zur Ruhe gesetzt und den Betrieb übergeben« hatte.108 Während des »Triumvirats« und der kollektiven Geschäftsführung habe er sich nur leidlich engagiert. In der Tat unternahm [Müller] – anders als anlässlich der geplanten Berufung von [Wilhelm Karze] zum neuen Geschäftsführer im Juni 1971, die seine eigene Position im Unternehmen infrage zu stellen drohte – nichts, um den geschäftsführenden Ausschuss am Leben zu erhalten. Auf der folgenschweren Beiratssitzung im Dezember 1971 befürwortete er vielmehr dessen Abberufung: Es sei ihm »nicht möglich [weiterhin] im geschäftsführenden Ausschuss zu arbeiten, wenn ein jeder [–] Gesellschafterversammlung, Betriebsausschuss und technische Ausschuss usw. [–] was zu sagen hat«.109 [Hans Müller] habe der Selbstverwaltung im Gegensatz zu [Stefan Kurtz] und [Ewald Lenz] »schon loyal gegenüber[gestanden]«, räumte der ihm gegenüber kritisch eingestellte [Bernd Dietrich] ein.110 Wie die Gewerkschafter befürwortete auch [Müller] die »Einführung einer über die gesetzlichen Vorschriften weit hinausgehenden Form der Mitbestimmung der Belegschaft«.111 Nach den negativen Erfahrungen mit dem autokratischen Führungsstil von Richard Süßmuth wollte er »sämtlich[e] Vorschläge aus der Belegschaft und all[e] vorgebrachten Klagen« prüfen sowie regelmäßige »Mitarbeiterbesprechungen« und »Besprechungen auf verschiedenen Führungsebenen« abhalten. Hierdurch könne die Belegschaft »zur Steigerung der Leistungsbereitschaft« motiviert werden. Es ging ihm sowohl um die »Herstellung von verantwortlichem Denken und Handeln in allen Ebenen der Firma« als auch um die »Förderung der Eigeninitiative«. In der Selbstverwaltung sah [Müller] also weniger eine Form der gleichberechtigten Diskussion und Entscheidungsfindung als vielmehr eine neue Führungsstrategie.

107 Deshalb wird für die Unternehmensleitung der GHS im Zeitraum von 1972 bis 1975 die Bezeichnung »geschäftsführende Gremien« verwendet, womit der Beirat und der Geschäftsführer gleichermaßen gemeint sind. 108 [Dietrich] und [Scholz], 14. Dezember 1973 (s. Anm. 66), S. 1, 4f., 7. 109 Protokollnotiz Beirat, 21. Dezember 1971, in: FHI, Schöf-1228. 110 [Dietrich] und [Scholz], 14. Dezember 1973 (s. Anm. 66), S. 7. 111 Folgendes aus Unternehmenskonzeption [Hans Müller], undatiert [Juli 1969], in: Privatarchiv [Müller].

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Der eingangs benannte Widerspruch, in dem sich die Geschäftsführung im selbstverwalteten Unternehmen strukturell befand, verstärkte sich durch das Handeln von [Hans Müller]. Er sah sich in erster Linie dem Beirat zur Rechenschaft verpflichtet und orientierte sich in seinen Entscheidungen an den von diesem vorgegebenen Unternehmenszielen. Weil über die Grundausrichtung der Unternehmensführung weitgehend Übereinstimmung zwischen ihm und den betriebsexternen Beiratsmitgliedern bestand, hielt [Müller] deren starke Einflussnahme für unproblematisch. Die Belegschaftsgremien bezog er – wie die folgenden Kapitel zeigen werden – nur selektiv in seine Entscheidungen ein und überging im Zweifelsfall deren kollektiv getroffene Beschlüsse. Als allein verantwortlicher Geschäftsführer sah er sich hierzu berechtigt bzw. verpflichtet.112 Doch gerade weil er sich über Gesellschafterbeschlüsse, liefen diese seinen eigenen Ansichten zuwider, hinwegsetzte und er damit mit den Bestimmungen des Gesellschaftsvertrags und des GmbH-Gesetzes brach, manövrierte sich [Müller] in die Position des eindeutig in Haftung stehenden Geschäftsführers. Zugleich wurde sein Verhältnis zu den Belegschaftsgremien unweigerlich angespannter. Zu heftigen Auseinandersetzungen kam es bereits im ersten Jahr der Selbstverwaltung mit dem Betriebsausschuss. Als sich im ersten Halbjahr 1973 eine erneut krisenhafte Unternehmensentwicklung abzuzeichnen begann, verschärfte der Betriebsratsvorsitzende [Rolf Schindler] seine Kritik am Geschäftsführer. Im Sommer 1973 warf [Schindler] ihm vor versammelter Belegschaft Untätigkeit vor und forderte ihn zum Rücktritt auf.113 Als [Hans Müller] daraufhin tatsächlich seine Kündigung einreichte, stellte sich die überwiegende Mehrheit der Gesellschafter – obwohl einige die Kritik am Geschäftsführer teilten – hinter ihn, da ihnen sein Ausscheiden in der damaligen Situation als ein zu hohes Risiko erschien. [Hans Müller] zog seine Kündigung wieder zurück. Die Frage, ob er als Geschäftsführer noch tragbar war, führte nun auch unter den Belegschaftsvertreter*innen zu erheblichen Spannungen. Aufgrund der zum Ende des Jahres 1973 vom Beirat prognostizierten Zahlungsunfähigkeit der Glashütte nahm die Geschäftsführung ein weiteres Mal Verhandlungen mit dem Land Hessen über ein neues Finanzierungskonzept auf. In diesem Zusammenhang trafen [Hans Müller] und der Betriebsleiter [Rudolf Woge] mit der als Rationalisierungsmaßnahme initiierten Stilllegung eines Ofens – gegen den expliziten Widerstand der Gesellschafterversammlung und ohne Rücksprache mit dem technischen Ausschuss – eine fatale, nicht zu revidierende Fehlentscheidung, die sich sehr negativ auf die weitere Unternehmensentwicklung sowie auf die Arbeits- und Lohnbedingungen der gesamten Belegschaft auswirkte.114 Die Kritik am eigenmächtigen und fehlerhaften Vorgehen der Führung brachte die teilweise zerstrittenen Belegschaftsgremien ein letztes Mal zu einem gemeinsamen Vorgehen zusammen. Sie entwickelten unter Geheimhaltung mit den Bochumer Juristen den besagten Alternativplan, eine Genossenschaft zu gründen, den sie ohne [Müller] als Geschäftsführer realisieren wollten. Doch dieser Plan wurde im

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[Hans Müller] in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 20), S. 7. Folgendes aus Protokoll Außerordentliche Gesellschafterversammlung (GHS), 28. Juni 1973, in: FHI, Schöf-1226; Protokoll Beirat (GHS), 10. Juli 1973, in: FHI, Schöf-1226. Zum Ofenkonflikt siehe Kapitel 5.1.

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

Beirat, insbesondere von den Gewerkschaftsfunktionären, rigoros abgewehrt. Aus Protest erklärten die Mitglieder des Betriebsrats daraufhin ihren geschlossenen Rücktritt,115 die Hälfte der Gesellschafter legt ihr Amt im Laufe des Sommers 1974 nieder. Der Beirat bekräftigte [Hans Müller] in dieser Situation ein weiteres Mal als Geschäftsführer, das Vertrauen in seine Fähigkeiten schwand allerdings auch hier angesichts der in den Jahren 1974 und 1975 anhaltenden Problemlage. [Müller] blieb zuletzt aufgrund fehlender personeller Alternativen im Amt,116 das unterdessen vollständig von den Vorgaben des Beirats dominiert wurde. Zugleich intensivierte sich der Austausch zwischen den nach der Rücktrittswelle personell neu zusammengesetzten Belegschaftsgremien (Gesellschafterversammlung und Betriebsrat), den betriebsexternen Beiratsmitgliedern sowie [Harald Meier], der bislang als Stellvertreter von Carl Backhaus an den Beiratssitzungen teilnahm und im Juli 1975 als offizielles Mitglied in den Beirat berufen wurde.117 Nachdem die Gesellschafterin [Rita Abel] auf der Beiratssitzung am 11. September 1975 einen gegen [Müller] gerichteten Misstrauensantrag eingebracht hatte, beschloss die Gesellschafterversammlung im November 1975, ihn »mit Wirkung zum 31. Dezember 1975 von seinen Aufgaben als Geschäftsführer zu entbinden«.118 Diese Entscheidung begründeten die Gesellschafter*innen und sein Nachfolger [Harald Meier] mit einem von [Hans Müller] »seit längerer Zeit geäußerten Wunsch«.119 Für [Müller] selbst kam seine Entlassung indes völlig überraschend.120 Möglich geworden war diese, weil der von ihm seit 1973 geforderte neue Geschäftsführervertrag mit einem stärkeren Kündigungsschutz nicht zustande gekommen war.121 Als Zugeständnis für seinen Verbleib im Unternehmen hatte ihm der Beirat damals lediglich einen DreiJahres-Vertrag und eine Erhöhung des Monatsgehalts um 500 DM angeboten.122

Phase 4: Der alleinige Geschäftsführer und das Ende der Selbstverwaltung Mit [Harald Meier] trat im Januar 1976 ein neuer Geschäftsführer sein Amt an, der nach den Erfahrungen der zurückliegenden Jahre in jeglicher Hinsicht perfekt erschien. Als

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Rücktrittserklärung [Holger Neumer], 31. Mai 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Rücktrittserklärung Betriebsrat (GHS), 4. Juni 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 116 Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 21), S. 2. 117 Die Aufnahme von [Harald Meier] in den Beirat erfolgte in Abwesenheit von [Hans Müller], der sich zu dem Zeitpunkt im Urlaub befand. Protokoll Beirat (GHS), 2. Juli 1975, in: AGI. 118 Anlass für den Misstrauensantrag war ein im September 1975 in der Regionalzeitung HNA erschienener Artikel. [Müller] habe ohne Rücksprache mit den Belegschaftsgremien betriebsinterne Informationen an die Presse weitergegeben, wogegen auch der Beirat »sein Missfallen aus[sprach]«. Protokoll Beirat (GHS), 11. September 1975, in: AGI, S. 1f.; Protokoll Gesellschafterversammlung, 11. November 1975, in: AGI. 119 Gesellschafterversammlung, 11. November 1975 (s. Anm. 118); [Harald Meier] in »Süßmuth. Marketing und verbesserte Technologie«, in: Kurhessische Wirtschaft, August 1976, in: AfsB, Bestand IG Chemie S. 214. 120 Transkript Interview der Autorin mit [Ursula Müller], 13. Juni 2013, im Besitz der Autorin, S. 5–7; Transkript Interview der Autorin mit [Gisela Ulbricht], 17. März 2014, im Besitz der Autorin, S. 4. 121 [Hans Müller] an Gesellschafterversammlung (GHS), 5. März 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 122 Beirat, 10. Juli 1973 (s. Anm. 113); Geschäftsführervertrag zwischen GHS und [Hans Müller], 29. September 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

»rechte Hand« von Carl Backhaus und dessen Stellvertreter im Beirat hatte [Meier] von Beginn an Einblick in die Entwicklungen des selbstverwalteten Unternehmens, er war mit dem Betrieb und der Belegschaft einigermaßen vertraut.123 Durch seine vorherige Tätigkeit in der Carl-Backhaus-Stiftung besaß er Kenntnisse in Betriebswirtschaft und in Mitbestimmungsfragen.124 Mit seiner Positionierung zwischen Partnerschafts- und Gewerkschaftsbewegung hatte [Meier] zudem keinen »Ruf« zu verlieren, wie es andere für diesen Posten infrage kommende Kandidaten zuvor als Bedenken angeführt hatten. Nachdem er im April 1974 die Zusammenarbeit mit der Backhaus-Stiftung aufgekündigt hatte, nahm er eine Tätigkeit in der Porst-Gruppe auf und arbeitete bis zu seinem Antritt in der Glashütte Süßmuth als Dozent in einer gewerkschaftsnahen Bildungseinrichtung.125 Der Beirat erhoffte sich von [Harald Meier] eine ökonomische Stabilisierung des Unternehmens. Einige der damals in den Belegschaftsgremien aktiven Beschäftigten versprachen sich von ihm eine Wiederbelebung der Selbstverwaltung. Diese unterschiedlichen Erwartungen bediente [Meier] durch sein zuversichtliches Auftreten und einen großen Gestaltungswillen, den er seit Sommer 1975 als neues Mitglied im Beirat gezeigt hatte.126 Konnte [Meier] in den ersten Jahren anhand gestiegener Umsatzzahlen und gesunkener Lohnkosten formal tatsächlich jene Erfolge vorweisen, auf welcher der Beirat die selbstverwaltete Firma von Beginn an verpflichtet hatte, so erwiesen sich die Hoffnungen auf eine Revitalisierung der Selbstverwaltung schnell als unrealistisch.127 Der von der neuen Geschäftsleitung ohne die Belegschaftsgremien vorbereiteten Sanierung des Unternehmens fiel das von den Gewerkschaftsfunktionären bis dahin verteidigte Modell Süßmuth zum Opfer.128

4.3 Die Belegschaft und ihre Gremien Im März 1970 fragte Ulrich Happel einzelne Beschäftigte für die ARD-Sendung Panorama, welche Vorteile sie sich von der Selbstverwaltung versprachen.129 Während der Glasmacher [Max Ulrich] sich eine »gerechtere Vermögensverteilung« erhoffte, begrüßte es die Rauschleiferin [Herta Krüger], »keinen Chef mehr [zu] haben« und stattdessen »selber Chef« zu sein. Der langjährige Mitarbeiter in der Weiterverarbeitung [Thomas Kempe] bevorzugte die Mitbestimmung von Vielen gegenüber den Entscheidungen durch ei-

123 Zitat von Carl Backhaus in Protokoll Beirat (GHS), 18. Dezember 1970, in: AGI, S. 1. 124 Kurhessische Wirtschaft, August 1976 (s. Anm. 119), S. 214. 125 Rundschreiben [Harald Meier], 30. April 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Kurhessische Wirtschaft, August 1976 (s. Anm. 119), S. 214. Sein Einstiegsgehalt als Geschäftsführer der GHS betrug 3.900 DM. Protokoll Gesellschafterversammlung, 17. November 1975, in: AGI. 126 Siehe Protokolle der in diesem Zeitraum monatlich anberaumten Beiratssitzungen zwischen Juli und Oktober 1975 in: AGI; Siehe auch Kapitel 8.4. 127 Siehe Kapitel 9. 128 Die fertig ausgearbeiteten Sanierungskonzepte der Geschäftsleitung wurden den Beschäftigten und ihren Gremien lediglich zur Abstimmung gestellt. Protokoll Gesellschafterversammlung, 8. Februar 1977, in: AGI; Protokoll Vereinsversammlung, 10. Februar 1977, in: AGI. 129 Folgendes aus Happel, 6. April 1970 (s. Anm. 26), S. 3 [Herv. der Autorin].

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

nen Einzelnen, der zwangsläufig einen »kleineren Horizont« habe. Laut der Anzeichnerin in der Feinschleiferei [Gerda Bruns] war es »doch nicht bloß wichtig, dass wir am Freitag unser Geld haben«, sondern vor allem »auch wichtig, wie läuft die Arbeit und wie geht es überhaupt weiter.« Diese Interviewausschnitte aus der Anfangszeit geben einen Einblick in die vielfältigen Hoffnungen der Beschäftigten, die mit der Betriebsübernahme mehr als den Erhalt ihres Arbeitsplatzes verbanden. Zwar entstand diese Idee aus der Notsituation heraus, den Konkurs des Unternehmens abzuwenden, doch lag ihr aus Perspektive der Beschäftigten unmittelbar der Anspruch auf Mit- als Selbstbestimmung zugrunde. Ihre Forderung nach Selbstverwaltung war also keineswegs nur defensive Notlösung, sondern eine offensive Antwort auf die Krise im Unternehmen, die die Beschäftigten zu bewältigen motiviert waren, und zwar lustbetont, damit »die Arbeit auch Spaß mach[t]«.130 Wie die Äußerungen zeigen, identifizierten sich mit der neuen Praxis der demokratischen Unternehmensführung nicht nur die männlichen Facharbeiter bzw. die Glasmacher, die aber am sichtbarsten ihre Spuren in den Quellen hinterlassen haben.

Größe und Zusammensetzung der Belegschaft Im Vergleich zum Jahr 1969 hatten sich während der Selbstverwaltung die Belegschaftsgröße und -zusammensetzung in quantitativer Hinsicht nur geringfügig verändert. Die Zahl der Beschäftigten hatte sich in der unsicheren Zeit der Betriebsübernahme von knapp 270 auf 250 Personen reduziert; von 1970 bis Anfang 1974 blieb sie ungefähr auf diesem Niveau.131 Hierin unterschied sich die Glashütte Süßmuth von den meisten anderen Vergleichsunternehmen, deren Beschäftigtenzahlen bereit in diesem Zeitraum zu sinken begann. Erst im Laufe des Jahres 1974 verkleinerte sich auch bei Süßmuth die Belegschaft auf durchschnittlich 220 Personen. Diese von der Geschäftsführung auf »natürliche Abgänge« zurückgeführte Entwicklung stand im Zusammenhang mit der in der Belegschaft sehr umstrittenen Entscheidung, einen der drei Öfen stillzulegen.132 Im Herbst 1975 nahm die Geschäftsführung erstmals seit der Belegschaftsübernahme Entlassungen von 22 Beschäftigten vor.133 1976 kündigte der neue Geschäftsführer [Harald Meier] mindestens 20 weiteren Personen.134 Nur unwesentlich veränderte sich während der Selbstverwaltung die Zusammensetzung der in der Produktion Beschäftigten hinsichtlich der Qualifikation und des quantitativen Geschlechterverhältnisses. Auch wenn die Zahl der Arbeiterinnen leicht anstieg – die Hütte blieb männlich dominiert.135 Die Austrittsquote lag 1970 bei 26 Prozent, stieg 1971 auf 33 Prozent an und sank 1972 wieder auf 21 Prozent.136 Im Zuge der nach der Belegschaftsübernahme begonnenen Ra130 Hüttenecho, April 1971 (s. Anm. 26), S. 8; Ebenso Zitat eines Beschäftigten in »Die rote Hütte«, in: konkret, März 1972, in: AGI. Siehe Kapitel 5.3. 131 Siehe Tabelle 4 im Anhang. 132 Protokoll Beirat (GHS), 17. Dezember 1974, in: AGI; Beirat, 2. Juli 1975 (s. Anm. 117). 133 Beirat, 11. September 1975 (s. Anm. 118); Beirat, 21. Oktober 1975 (s. Anm. 38). 134 Protokoll Beirat (GHS), 20. Mai 1976, in: AGI. 135 Lohn- und Personalliste (GHS), 20. September 1969, in: FHI, Schöf-1222; Lohn- und Personalliste (GHS), 15. November 1973, in: AGI. 136 Aktuelle Zahlen GHS, 14. März 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie. Da keine Vergleichszahlen zu den Vorjahreszeiträumen und zu anderen Mundglashütten vorliegen, kann keine Aussage darüber ge-

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tionalisierungsmaßnahmen nahmen innerbetriebliche Fluktuationsbewegungen zu, die aufgrund fehlender Überlieferung im Detail nicht rekonstruierbar sind. Festzuhalten sind jedoch zwei Tendenzen: In der Gruppe der Nicht-Facharbeiter*innen war – wie bereits zuvor – die Betriebs- und Arbeitsplatzfluktuation am größten. In allen Abteilungen wurden vor allem Arbeiter*innen für »nicht-qualifizierte« Tätigkeiten aus anderen Bereichen eingesetzt oder neu eingestellt.137 Die Facharbeiter hingegen blieben im Unternehmen sowie in der Regel an ihrem Arbeitsplatz und wiesen damit eine lange, zum Teil bis in die Anfangsjahre der Firma zurückreichende Betriebszugehörigkeit auf. Dies traf insbesondere für die Gruppe der Glasmacher zu.138 Von einer solchen Arbeitsplatzkontinuität ausgenommen waren die sechs Facharbeiter der Flachglasmalerei, die 1972 aufgelöst wurde. Wie auch die durch organisatorische Reformen »freigestellten Arbeitskräfte« wurden sie nicht entlassen, sondern in anderen Abteilungen beschäftigt, wenn sie nicht freiwillig den Betrieb verließen oder in Rente gingen. Letzteres war bei den Feinschleifern der Fall, die zum Teil bereits in Penzig für Richard Süßmuth gearbeitet und Ende der 1960er Jahre ein hohes Durchschnittsalter erreicht hatten. Die schon unter Süßmuth generell rückläufige Bedeutung der arbeitsintensiven Kaltveredelung setzte sich fort, weshalb auch die Beschäftigtenanzahl in diesen Abteilungen sank.139 Für die gesamte Zeit der Selbstverwaltung herrschte in allen Beschäftigungsgruppen und in allen Abteilungen des Unternehmens durchweg ein Arbeitskräftebedarf bzw. -mangel.140 Dieser resultierte weniger aus Fluktuationsbewegungen, sondern vor allem aus den expansiven Unternehmenszielen, auf die sich die Belegschaftsfirma in den Kreditverhandlungen verpflichtet hatte. Die neuen Entscheidungsgremien verstärkten ihre Bemühungen, die Beschäftigten an den Betrieb zu binden und neues Personal zu gewinnen. In begrenztem Rahmen erfolgte dies über lohnpolitische Anreize, wobei insbesondere die Löhne der Nicht-Facharbeiter*innen überproportional angehoben wurden.141 Zudem begann der geschäftsführende Ausschuss im Frühjahr 1971 mit der Anwerbung

macht werden, inwiefern in der belegschaftseigenen GHS die Fluktuation zu- oder abnahm. In den Selbstverwaltungsgremien wurde eine solche – im Gegensatz zum generellen Arbeitskräftemangel – nicht problematisiert. 137 Im November 1973 hatten bspw. 18 von 28 Einträger*innen, zwei von vier Kühlbandabnehmerinnen, sechs von sieben »Hilfskräften« in der Weiterverarbeitung sowie alle fünf »Hilfskräfte [in der] Packerei« erst nach 1970 die Arbeit in der GHS aufgenommen. Lohn- und Personalliste, 15. November 1973 (s. Anm. 135). 138 Die Anzahl der Glasmacher belief sich im Dezember 1973 auf 53 Personen und hatte sich damit gegenüber 1969 kaum verändert. 1980 waren nur noch 32 Glasmacher beschäftigt, darunter 25 Personen, die bereits vor 1970 in der GHS tätig waren. Aktuelle Zahlen GHS, 22. März 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Lohn- und Personalliste Glasmacher (GHS), 1. Februar 1980, in: AGI. 139 In der Feinschleiferei, wo 1969 noch 13 Personen arbeiteten, seien es 1972 nur noch drei gewesen. In der Hohlglasmalerei sank die Zahl der Beschäftigten von dreizehn (1969) auf fünf (1973). Typoskript »Süssmuth e.V. Drei Jahre Selbstverwaltung«, Dokumentarfilm von Gerhard Braun, Reiner Etz und Klaus Volkenborn, 1973, in: FHI, Schöf-1212, S. 20; Lohn- und Personalliste, 20. September 1969 (s. Anm. 135); Lohn- und Personalliste, 15. November 1973 (s. Anm. 135). 140 Siehe bspw. Protokoll Technischer Ausschuss (GHS), 23. Februar 1971, in: FHI, Schöf-1228; Stellungnahme [Hans Müller], 12. Juni 1973, in: AGI, S. 3f. 141 Siehe Kapitel 5.2.

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von Arbeiter*innen aus anderen Staaten, wie es in den meisten anderen Mundglashütten schon lange üblich war.142 Ihre Zahl war bereits im Jahr 1969 von sechs auf 15 gestiegen, verdoppelte sich bis 1971 auf 30 Personen und lag zwischen 1972 und 1974 bei ungefähr 20 Personen.143 Unter ihnen war die Fluktuationsquote mit bis zu 50 Prozent am höchsten. Neben Italien, Griechenland und Portugal kamen diese (sowohl qualifizierten als auch »unqualifizierten«) Arbeiter*innen aus der Türkei und Jugoslawien.144 Über ihre Wahrnehmungen der Arbeits- und Lebensbedingungen in der Glashütte Süßmuth und in Immenhausen sind so gut wie keine Dokumente überliefert. In den Gremien der Selbstverwaltung waren sie nicht vertreten.145 Hinweise auf Konflikte zwischen migrantischen und deutschen Beschäftigten gibt es nicht.146 Die Beziehungen zwischen ihnen waren aber offensichtlich auch nicht besonders eng. In den Gesprächen, die Erasmus Schöfer und die Autorin mit den deutschen Beschäftigten führten, fanden die Arbeitsmigrant*innen kaum Erwähnung. Ihre relativ kurze Beschäftigungsdauer wurde (auf Nachfrage) mit der hinsichtlich Arbeits- und Wohnbedingungen höheren Attraktivität von Kassel erklärt, wohin die meisten abgewandert seien.147 Zu berücksichtigen gilt aber auch die Koppelung des aufenthaltsrechtlichen Status an das Arbeitsverhältnis, wodurch sich migrantische Beschäftigte in einer ungleich prekäreren Position befanden und im Falle eines Unternehmenskonkurses – wie er in Immenhausen eine stetige Bedrohung blieb – nicht allein den Arbeitsplatzverlust zu befürchten hatten. Die Anzahl der Angestellten sank in den unsicheren Jahren 1969 und 1970 von 46 auf 32 Personen und bewegte sich in den folgenden Jahren zwischen 34 und 39 Personen.148 Darüber hinausgehende Informationen sind allein über die leitenden Angestellten überliefert. Seit Bekanntwerden der Übernahmepläne begann vor allem das Führungspersonal der Hütte das Unternehmen zu verlassen, was in einem unmittelbaren Zusammenhang

142 Im Frühjahr 1971 plante [Hans Müller] eine Reise in das damals noch diktatorisch regierte Portugal, um mindestens zehn Personen für die Hütte und die Weiterverarbeitung direkt anzuwerben. Ob diese Reise stattfand, ist nicht überliefert. Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 22. März 1971, in: AGI, S. 1. Zur Bedeutung der Arbeitsmigration für die bundesdeutsche Mundglasbranche siehe Kapitel 9.4. 143 Folgendes aus Lohn- und Personallisten (GHS), 1969 bis 1973, in: FHI, Schöf-1222 und AGI; Aktuelle Zahlen (GHS), 1970 bis 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 144 Florian Fischer, Die Arbeit in der selbstverwalteten Glashütte. Für die Arbeiter kein Fortschritt. Eine Fotodokumentation und Kritik falscher Erwartungen, Selbstverlag, 1974, in: FHI, Schöf-1194, S. 4; Transkript Interview der Autorin mit [Rolf Schindler], 12. Mai 2014, im Besitz der Autorin, S. 5; [Schmidt], 7. Februar 2013 (s. Anm. 72), S. 33f. 145 Für die Zeit während der Betriebsübernahme sind dagegen Aktivitäten von Angehörigen dieser Beschäftigtengruppe überliefert. So beteiligten sie sich an der Demonstration durch Immenhausen am 6. März 1970; der Glasmacher [Alberto Gallo] wurde von den Vertrauensleuten in den am 9. März 1970 gegründeten technischen Ausschuss gewählt. Erasmus Schöfer, Zwielicht. Die Kinder des Sisyfos, Berlin 2004, S. 68; Protokoll Vertrauensleute (GHS), 9. März 1970, in: FHI, Schöf-1221. 146 [Jochen Schmidt] und [Rolf Schindler] erinnerten sich vor allem an die migrantischen Glasmacher, die sehr gute Arbeit geleistet haben und »gut integriert« gewesen seien. [Schmidt], 7. Februar 2013 (s. Anm. 72), S. 34; [Schindler], 12. Mai 2014 (s. Anm. 144), S. 5. 147 [Schmidt], 7. Februar 2013 (s. Anm. 72), S. 34; [Ulbricht], 17. März 2014 (s. Anm. 120), S. 9. 148 RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 81), Anlage 1; Aktuelle Zahlen (GHS), 1970–1974, in: AfsB Bochum, Bestand IG Chemie.

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mit der grundlegenden Kritik an ihrer Arbeit und dem damit einhergegangenen Autoritätsverlust in der Belegschaft stand. Der von seinen Kollegen damals zum Hüttenmeister ernannte Betriebsratsvorsitzende [Gerhard Schinkel] übte dieses Amt bis 1977 aus. Für den Posten des zweiten Hüttenmeisters ernannten die Geschäftsführer des »Triumvirats« [Helmut Richter], ohne die Belegschaftsvertreter hieran zu beteiligen. Seine nur kurze Tätigkeit in der Glashütte Süßmuth ging auf die große Unzufriedenheit mit dem betriebsfremden neuen Vorgesetzten unter den Glasmachern zurück.149 Deren Anerkennung war hingegen dem im Frühjahr 1971 von den Belegschaftsgremien angeworbenen Schmelzmeister [Leo Böhm] sicher. [Böhm] war zuvor in der Glasindustrie Weißwassers tätig und ein Experte auf dem Gebiet der Farbglasschmelze, hatte aufgrund seiner kommunistischen Überzeugung ein politisches Interesse an der Selbstverwaltung und übernahm nach dem Ausscheiden von [Richter] im Sommer 1971 zusätzlich die Funktion des zweiten Hüttenmeisters.150 Die (leitenden) Angestellten der Verwaltung, des Vertriebs und der restlichen Abteilungen im Bereich der Produktion, die oftmals eine langjährige Berufserfahrung und Betriebszugehörigkeit aufwiesen, blieben dagegen während der Verhandlungen um die Belegschaftsübernahme weitgehend im Unternehmen. Der plötzlich Tod des langjährigen Verwaltungs- und Finanzleiters [Franz Büttner] im Herbst 1970, das altersbedingte Ausscheiden des ebenfalls langjährigen Vertriebsleiters [Johann Elze] sowie die generelle Expansion des Unternehmens erhöhten während der Selbstverwaltung aber auch in diesen Unternehmensbereichen den Personalbedarf.151 Ähnlich wie bei der Suche nach Kandidaten für die Geschäftsführung war es für die selbstverwaltete Firma nicht einfach, betriebswirtschaftlich geschulte Fachkräfte zu gewinnen, die bereit waren, auf ein in anderen Firmen übliches Gehalt zu verzichten, mit den Belegschaftsgremien zusammenzuarbeiten und sich kollektiven Beschlüssen unterzuordnen.152 Angesichts der vergleichsweise unattraktiven Arbeits- und Gehaltsbedingungen nahmen vor allem solche Angestellte eine Beschäftigung in der Glashütte Süßmuth auf, die ein politisches Interesse an der demokratischen Form der Unternehmensführung hatten. Dies galt für die Ver-

149 Wilhelm Leveringhaus an Franz Fabian, 10. Mai 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 1; Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 16. Juni 1971, in: AGI; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak], [Dieter Schrödter], [Reinhard Krämer] und zwei namentlich unbekannten (ehemaligen) Arbeiter*innen, 13. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 2f. 150 Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak], 6. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 3–5; [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 60), S. 19f.; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Helga Wermke], [Ria Ulrich], [Monika Weber], [Rosa Schrödter] und namentlich unbekanntem Kollegen, 2. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 40f. 151 Protokoll Beirat (GHS), 24. Februar 1972, in: FHI, Schöf-1227; Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 21. Dezember 1972, in: FHI, Schöf-1227. 152 Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 2. September 1971, in: FHI, Schöf-1228; Gesellschafterversammlung, 11. November 1971 (s. Anm. 104); Handschriftliches Protokoll (Vitt) Beirat (GHS), 24. Februar 1972, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. Betriebswirtschaftliche Fach- und Führungskräfte zu gewinnen beschreibt Rob Paton als ein übliches Problem für von der Belegschaft übernommene Unternehmen, weshalb diese oftmals »under-managed« seien. Siehe Rob Paton, Reluctant Entrepreneurs. The Extent, Achievements and Significance of Worker Takeovers in Europe, Milton Keynes 1989, S. 115–118.

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triebsangestellte [Rita Abel], die gewerkschaftlich sehr aktiv war.153 Die personelle Notlage im kaufmännischen Bereich ermöglichte auch einzelnen Personen aus dem linksakademischen Umfeld, eine bedeutende Rolle in der selbstverwalteten Glashütte einzunehmen. Eine zentrale Figur aus diesem Milieu war der zum Zeitpunkt der Betriebsübernahme an der Höheren Wirtschaftsfachschule in Kassel studierende [Konrad Scholz].154 Er hatte bei der Erstellung der für die Kreditverhandlungen benötigten Unternehmenspläne mitgeholfen, wofür er ein Semester seines BWL-Studiums aussetzte,155 und erhielt im ersten Jahr der Selbstverwaltung eine Festanstellung in der Finanzabteilung.156 Anfang der 1970er Jahre war [Scholz] Mitglied einer dem Selbstverständnis nach sozialistischen Studiengruppe, über deren Hintergründe nur wenig bekannt ist.157 Es handelte sich um einen Kreis von (angehenden) Ökonomen, die im »Projekt Süßmuth« ein praktisches Erkundungsfeld erkannten.158 »[P]olitische und soziologische Erfahrungen« sollten hier »zur Korrektur, Verbesserung und Überprüfung unseres gesellschaftstheoretischen Ansatzes« bzw. zur »Vertiefung und Ausweitung eines sozialistischen Gesellschaftskonzepts« gesammelt und »die Glashütte Süßmuth gleichzeitig als Lernstück pädagogisch genutzt werden.«159 Der bereits im Betrieb existierende »Kader« sollte vergrößert werden und »auf die Kollegen aufklärend einwirken«. Geplant war zudem der Aufbau eines externen »Kaders« in Kassel, der sich aus »Genossen, Kommilitonen und Dozenten« zusammensetzen und bei der Lösung betrieblicher Probleme helfen sollte.160 Diesem Gruppenzusammenhang ist auch [Bernd Dietrich] zuzuordnen, der im Herbst 1970 eingestellt wurde – mit dem Auftrag, das Rechnungswesen zu reformieren. Der von ihm begonnene Aufbau einer Kostenrechnung unter Einführung elektronischer Datenverarbeitung (EDV) war mit einem großen Arbeitsaufwand verbunden. Um die-

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Protokoll Interview der Autorin mit [Herman Freil], 20. März 2014, im Besitz der Autorin, S. 7; Transkript Gruppeninterview der Autorin mit [Margrit Becker] und [Egon Köster], 18. März 2014, im Besitz der Autorin, S. 13; Transkript Interview der Autorin mit [Ingrid Buchholz], 19. März 2014, im Besitz der Autorin, S. 7. 154 Der Kontakt zu [Konrad Scholz] sei über die von [Herman Freil] regelmäßig organisierten Treffen zustande gekommen. [Schindler], 12. Mai 2014 (s. Anm. 144), S. 3. Siehe Kapitel 3.3. 155 [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 60), S. 5; Protokoll Telefonat der Autorin mit Kommilitonen von [Konrad Scholz], 7. Januar 2015, im Besitz der Autorin, S. 1f.; [Scholz] und [Reuter], 21. März 2014 (s. Anm. 101), S. 1f. 156 Das Einstiegsgehalt von [Scholz] lag zwischen 1.700 DM und 1.800 DM. Gesellschafterversammlung, 2. September 1971 (s. Anm. 152). 157 Einziger konkreter Hinweis auf die Existenz dieses außerhalb des Betriebs bestehenden Gruppenzusammenhangs ist ein Schreiben von [Scholz], in dem er seine »Frankfurter Genossinnen und Genossen« im März 1971 um Hilfe für die GHS bat. [Scholz], 31. März 1971 (s. Anm. 80). 158 Ebd., S. 2. 159 Folgendes aus Ebd. 160 Eine solche Arbeitsteilung zwischen »Innenkadern« und »Externen« ließ sich damals generell bei linken betriebsinterventionistischen Gruppen beobachten. Sebastian Kasper, »Unter der Parole ›Kampf gegen die Arbeit!‹ Die Betriebsintervention der frühen Sponti-Bewegung«, in: Arbeit, Bewegung, Geschichte 1 (2016), S. 58.

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sen zu bewältigen, nahmen 1971 mit [Lutz Beyer] und 1972 mit [Uwe Niemeier] zwei Kommilitonen von [Konrad Scholz] in der Glashütte ihre Tätigkeit auf.161 Mitglieder dieser Gruppe wollten »neben der wirtschaftlichen Seite auch die gesellschaftliche Seite [des] Projekts [Süßmuth]« entwickeln. Sie gründeten mit den Betriebsaktivisten und anderen Unterstützer*innen aus dem solidarischen Umfeld – wie beispielsweise [Herman Freil] – einen Freundeskreis.162 Anstatt sich den von außen gesetzten prekären Rahmenbedingungen zu unterwerfen, vertraten sie die Position, dass für ein Gelingen der Selbstverwaltung die materiellen Bedingungen verbessert werden müssten. So habe [Dietrich] im Frühjahr 1971 den neuen Leiter der Verwaltungsstelle Kassel aufgefordert, sich um Geld von Forschungsinstituten zu bemühen, »damit das Modell Süßmuth weitergeführt werden könne.«163 Dies sei gerechtfertigt, weil »in Immenhausen gesellschaftspolitische Pionierarbeit geleistet« werde und die hier gesammelten Erfahrungen »später [auch] anderen Betrieben« zur Verfügung gestellt werden könnten. Obwohl die Gewerkschaftsfunktionäre diesen politisch motivierten Angestellten von Anfang an mit großer Skepsis begegneten, konnten sie sich mit ihrem für die geplanten Sanierungsmaßnahmen in der Verwaltung benötigten Fachwissen gegenüber Franz Fabians »Säuberungsmaßnahmen« behaupten.164 Während [Dietrich] aber schon nach zehn Monaten für sich keine berufliche Perspektive mehr in der Glashütte sah, verfestigte sich [Scholz’] Position so weit, dass er – nachdem er [Dietrichs] Stelle im Rechnungswesen übernahm – unter [Harald Meier] 1976 als Finanzleiter in die Geschäftsleitung aufstieg und mit [Meiers] Rücktritt 1982 selbst den Posten des Geschäftsführers übernahm.165 [Beyer] war auf Basis eines Zeitvertrags beschäftigt, der Ende 1971 auslief.166 Sein Nachfolger [Niemeier] blieb bis Anfang der 1980er Jahre im Unternehmen.167

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Protokoll Gesellschafterversammlung, 16. September 1971, in: FHI Dortmund, Schöf-1228, S. 5; Protokoll Beirat (GHS), 12. Oktober 1972, in: FHI, Schöf-1227, S. 2. 162 Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Herman Freil], 7. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 2–4; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Konrad Scholz], 12. November 1973, im Besitz der Autorin, S. 2f. Zum Freundeskreis als zugleich Form des solidarischen Direktvertriebs siehe Kapitel 6.2. 163 Dies berichtete Leveringhaus mit einigem Befremden. Folgendes aus Leveringhaus, 10. Mai 1971 (s. Anm. 149). 164 Im Frühjahr 1974 habe Franz Fabian seine Verwunderung darüber geäußert, dass [Scholz] und [Niemeier] immer noch im Unternehmen arbeiteten. Bei ihm hätte »es sowas ja nicht gegeben«, als Geschäftsführer würde er sie »alle rausschmeißen«. Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Konrad Scholz], [Paul Nowak] und [Uwe Niemeier], 29. Mai 1974, im Besitz der Autorin, S. 27. 165 Über den Konkurs im Jahr 1996 hinaus bemühte sich [Konrad Scholz] bis zu seinem Tod 2011 um diverse Nachfolgeprojekte auf dem Betriebsgelände der GHS, die damit zu seinem persönlichen Lebensprojekt geworden war. [Scholz] und [Reuter], 21. März 2014 (s. Anm. 101); Transkript Interview der Autorin mit dem ab 1996 kommissarischen Geschäftsführer der GHS für die Konkursabwicklung, 7. August 2014, im Besitz der Autorin. 166 Protokoll Gesellschafterversammlung, 16. September 1971 (s. Anm. 161), S. 5. 167 Die letzte Quelle, die von [Niemeiers] Tätigkeit in der GHS zeugt, stammt von 1981. Protokoll Vorstand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung, 17. März 1981, in: AGI, S. 2.

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Die Arbeit der Belegschaftsgremien Die Tätigkeit der Belegschaftsgremien ist sehr ungleich überliefert. Von der Mitgliederversammlung des Belegschaftsvereins liegen lediglich zwei Protokolle vor – das der Gründungsversammlung und das der Mitgliederversammlung, auf der faktisch die Auflösung des Vereins besiegelt wurde.168 Der nach dem Modell Süßmuth eigentliche Souverän im selbstverwalteten Unternehmen, der mindestens alle drei Monate tagen sollte, spielte hier zu keinem Zeitpunkt eine aktive Rolle. Die höchstens ein- bis zweimal pro Jahr durchgeführten Vereinsversammlungen dienten vielmehr dazu, bereits von der Geschäftsführung und der Gesellschafterversammlung getroffene Entscheidungen dem Rest der Belegschaft mitzuteilen und gegebenenfalls ihre Zustimmung einzuholen. Letzteres war notwendig bei so grundlegenden Entscheidungen wie jener im Februar 1977, als mit der Reform der Rechtsform schließlich diese einzige Funktion des Vereins zugleich wegfiel. Einberufen wurden Vollversammlungen auch, wenn die Beschäftigten einem Verzicht auf Tarifleistungen zustimmen sollten – wie dies vor allem in den letzten Jahren der Selbstverwaltung der Fall war. Deshalb tagte die Mitgliederversammlung als einziges Belegschaftsgremium während der bezahlten Arbeitszeit.169 Von der Gesellschafterversammlung sind dagegen Protokolle umfassend überliefert.170 Dies zeugt von ihrer wichtigen Funktion, auf die die Gesellschafter*innen juristisch verpflichtet waren und in der sie – im Gegensatz zu den Ausschüssen – von der Geschäftsführung und dem Beirat prinzipiell auch anerkannt wurden. Von der Arbeit der Ausschüsse liegen kaum bzw. nur punktuell Quellen vor. Insbesondere der Betriebsausschuss und der technische Ausschuss waren dennoch wichtige Gremien, die zunehmend in Opposition zur Geschäftsführung und auch zur Gesellschafterversammlung gerieten.

Der Vereinsvorstand als Gesellschafterversammlung Am 14. Mai 1970 wählten die Beschäftigten zehn Personen aus der Belegschaft für die Dauer von drei Jahren in den Vereinsvorstand und damit in die Gesellschafterversammlung. Die Vereinssatzung sah vor, dass die künftigen Wahlen alle zwei Jahre und nach einem noch zu konkretisierenden Rotationsprinzip erfolgen sollten.171 Anfang 1973 einigte sich der Vereinsvorstand auf folgendes Verfahren: Es sollten »jeweils die drei dienstältesten Mitglieder ausscheiden und durch neugewählte Mitglieder ersetzt werden«, wobei die sieben »dienstjüngsten Mitglieder ohne Abstimmung als wieder-

168 Protokoll Gründungsversammlung des Vereins der Beschäftigten der GHS GmbH [Version 1], 15. Oktober 1970, in: FHI, Schöf-1221; Vereinsversammlung, 10. Februar 1977 (s. Anm. 128). 169 Dies traf für die Glasmacher und die ihnen unmittelbar zuarbeitenden Beschäftigtengruppen allerdings nicht zu. Deren Arbeitstag begann früher als jener der restlichen Belegschaft. Um einen Produktionsausfall zu verhindern und die Glasschmelze in den Häfen voll zu nutzen – was im Gegensatz zu den weiterverarbeitenden Tätigkeiten zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr möglich bzw. nachholbar war –, begannen die Vereinsversammlungen erst nach Dienstschluss der Glasmacher. [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 60), S. 2f. 170 Protokolle Gesellschafterversammlung (GHS), 1970–1977, in: FHI, Schöf-1221, Schöf-1226 bis Schöf-1228 und Schöf-1419; AfsB, Bestand IG Chemie; AGI. 171 Vereinssatzung (s. Anm. 2), § 7.

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gewählt gelten.«172 Die ausscheidenden Gesellschafter*innen sollten erst nach Ablauf einer Amtsperiode wieder kandidieren dürfen. Da zum Zeitpunkt der ersten Neuwahl im Jahr 1973 alle Vorstandsmitglieder die gleiche Amtsdauer aufwiesen, wurde als Übergangsregelung beschlossen, dass die drei Mitglieder mit den wenigsten Stimmen ausscheiden sollten. Dieses Rotationsverfahren sollte einer Elitebildung vorbeugen, kam aber aufgrund des generellen Bedeutungsverlusts der Selbstverwaltungsstruktur nicht mehr zum Tragen. Die 1975 anstehende Neuwahl der Gesellschafterversammlung fand offensichtlich nicht statt und 1977 wurde das Modell Süßmuth abgeschafft. Die erste Gesellschafterversammlung setzte sich aus Vertretern nahezu aller Bereiche des Betriebs zusammen. Mit vier Glasmachern, fünf Facharbeitern aus den veredelnden und produktionsunterstützenden Abteilungen sowie einem Angestellten aus dem Vertrieb bestand dieses Gremium bis 1973 ausschließlich aus Männern, die jeweils exponierte bzw. leitende Positionen einnahmen. Die Anzeichnerin [Gerda Bruns], die sich im Mai 1970 als einzige Frau bei der Gesellschafterwahl aufstellen ließ, erhielt mit 26 von insgesamt 1.399 abgegebenen Stimmen mit Abstand die wenigsten Stimmen.173 Im ersten Halbjahr 1971 rückte der Glasmacher [Diedrich Klein] nach, weil [Gerhard Schinkel] – da mit seinem neuen Posten als Hüttenmeister ausgelastet – seine Ämter als Gesellschafter und Betriebsratsvorsitzender niedergelegt hatte.174 Als [Klein] wiederum im Laufe des Jahres 1972 – nach seiner Kritik an der Eigenmächtigkeit der Geschäftsführung und der Gewerkschaftsfunktionäre175 – den Betrieb verließ, wurde er in der Gesellschafterversammlung von dem Feinschleifer [Bruno Hager] ersetzt. Bei der Neuwahl im Herbst 1973 wurde mit der kaufmännischen Angestellten [Brigitte Schäfer] die erste Frau in die Gesellschafterversammlung gewählt.176 Nach der Rücktrittswelle von fünf Gesellschaftern im Sommer 1974 waren mit der kaufmännischen Angestellten [Rita Abel] und mit der Sprengerin [Ria Ulrich] zwei weitere Frauen sowie mit letzteren und dem Pförtner [Heinz Kluge] erstmals zwei Beschäftigte der unteren Lohngruppen in diesem Gremium vertreten. Mit [Konrad Scholz] und [Uwe Niemeier] rückten zugleich zwei Verwaltungsangestellte aus der links-akademischen Gruppe nach. Laut Gesellschaftsvertrag sollte die Gesellschafterversammlung die Geschäftsführung kontrollieren und zu diesem Zwecke mindestens alle drei Monate zusammentreten. Der Geschäftsführer war zur Teilnahme an ihren Sitzungen »grundsätzlich 172 173

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Folgendes aus Protokoll Gesellschafterversammlung, 18. Januar 1973, in: AGI; Vorschlag Gesellschafterversammlung (GHS) zur Änderung der Vereinssatzung, 18. Januar 1973, in: AGI. Die Beschäftigten konnten bei der Wahl der zehn Gesellschafter*innen bis zu zehn Stimmen abgeben. Die erste Gesellschafterversammlung bestand aus dem Magazinleiter [Willi Voigt], der bis Herbst 1975 den Vorsitz inne hatte, den Glasmachern [Manfred Hübner], [Paul Nowak], [Fritz Ziegler] und [Gerhard Schinkel], dem Glasmaler [Frank Weber], dem Feinschleifer [Werner Kohl], dem Leiter des Fertigwarenlagers [Walter Albrecht], dem Formenmacher [Friedrich Kramp] sowie dem kaufmännischen Angestellten [Jürgen Schmitz]. Wahlergebnis Gesellschafterversammlung (GHS), 14. Mai 1970, in: AGI. [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 60), S. 6f. Gesellschafterversammlung, 8. Juli 1971 (s. Anm. 98); Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 21. Oktober 1971, in: FHI, Schöf-1228. [Brigitte Schäfer] arbeitete bereits seit den 1950er Jahren in der GHS und übte 1971 eine leitende Funktion in der Lohnbuchhaltung aus. Personalliste (GHS), 30. Juni 1957, in: AGI; Organigramm (GHS), 1. Juni 1971, in: AGI.

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

berechtigt«.177 Anwesend war stets auch der Vorsitzende des Betriebsausschusses. Die überlieferten Protokolle verdeutlichen, dass die Gesellschafterversammlung sehr unregelmäßig tagte und sie ihre Kompetenzen zeitweise nur eingeschränkt ausüben konnte. Unter dem »Triumvirat« hatte sie kaum Möglichkeiten zur Mitgestaltung, im März 1971 entließen sie zwei der drei Geschäftsführer. Der sich daraufhin formierende geschäftsführende Ausschuss unterstand unmittelbar ihrer Kontrolle. In dieser Zeit trafen sich die Gesellschafter nahezu alle zwei Wochen, zum Teil sogar in noch kürzeren Abständen. Mit der faktischen Entmachtung sämtlicher Belegschaftsgremien durch den Beirat Ende Dezember 1971 reduzierte sich die Anzahl der Gesellschafterversammlungen abrupt. Für 1972 sind lediglich drei Sitzungsprotokolle überliefert. Die Häufigkeit der Gesellschafterversammlungen nahm wieder zu, als im Laufe des Jahres 1973 erneut die Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens zu drohen schien und sich deshalb die Auseinandersetzungen zuspitzten. Die Gesellschafter*innen befanden sich in einer schwierigen Situation: Sie hatten sich in ihrer Arbeit mit sehr vielschichtigen Problemkomplexen auseinanderzusetzen, die zu Beginn oftmals das eigene Fachwissen überstiegen.178 Der Geschäftsführer entzog sich ihrer Kontrolle immer wieder, indem er sie nicht rechtzeitig über anstehende Entscheidungen informierte, sie oftmals nur unter Zeitdruck an der Beschlussfassung beteiligte oder ihnen Beschlüsse vorsetzte.179 Mitunter traf sich der Beirat mit dem Geschäftsführer ohne sie hinzuzuziehen.180 Mehrfach mussten die Gesellschafter*innen daran erinnern, dass ihnen zumindest die Beiratsprotokolle zugesandt werden. Im Unterschied zu den anderen Belegschaftsvertreter*innen drohte ihnen aufgrund der ungeklärten Rechtslage ein persönliches finanzielles Risiko, was sie tendenziell zu einem eher sicherheitsbedachten Handeln veranlasste. Zugleich waren sie den anderen Belegschaftsgremien und der gesamten Belegschaft gegenüber Rechenschaft schuldig, die sie immer wieder zu einer stärkeren Kontrolle der Geschäftsführung und zu einer unabhängigen Meinungsbildung ermahnten.181 Da die Gesellschafterversammlung diesen Erwartungen nicht nachkam bzw. nicht nachkommen konnte, stand für viele Beschäftigte bald der Sinn dieses Gremiums infrage. Die Dominanz des vom Beirat

177 178

Gesellschaftsvertrag GHS, 29. September 1970 (s. Anm. 5), § 7. [Paul Nowak] in Heinz Michaels, »Die Hütte der Arbeiter. Können Lohnempfänger gleichzeitig Unternehmer spielen?«, in: Die Zeit, 5. Januar 1973, in: FHI, Schöf-1225, S. 28. 179 Gesellschafterversammlung, 19. August 1971 (s. Anm. 100); Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 30. September 1971, in: FHI, Schöf-1228; Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 25. November 1971, in: FHI, Schöf-1228; Transkript Gesellschafterversammlung, 13. November 1973, im Besitz der Autorin; Protokoll Gesellschafterversammlung, 15. Mai 1975, in: AGI; Dies war auch die Erfahrung des Betriebsratsvorsitzenden. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Rolf Schindler], 15. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 6. 180 Folgendes aus Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 3. Juni 1973, in: FHI, Schöf-1226; Gesellschafterversammlung, 24. Februar 1972 (s. Anm. 106); [Paul Nowak] an Franz Fabian, 6. Februar 1973, in: FHI, Schöf-1226. 181 Technischer Ausschuss an Gesellschafter (GHS), 15. September 1971, in: FHI, Schöf-1228; Betriebsrat an die Gesellschafter (GHS), 23. Mai 1973, in: FHI, Schöf-1226.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

gestützten Geschäftsführers untergrub sukzessive die Autorität wie Integrität der Gesellschafter*innen.182 Um ihre Abhängigkeit von der Geschäftsführung zu reduzieren, bemühten sich die Gesellschafter*innen nach der Neuwahl im Herbst 1973 um eine Professionalisierung der eigenen Arbeit.183 Hatten sie [Hans Müller] im Sommer 1973 noch mehrheitlich gegen die sich in der Belegschaft formierende kleine Oppositionsgruppe verteidigt, nahm mit der Ende 1973 erneut prognostizierten Zahlungsunfähigkeit auch in der Gesellschafterversammlung die Kritik an ihm zu. Von Beginn an hatten sie den Geschäftsführer ermahnt, seiner Informations- und Rechenschaftspflicht nachzukommen und die Belegschaftsgremien rechtzeitig über anstehende Entscheidungen in Kenntnis zu setzen, damit diese genügend Zeit zur Prüfung und Beschlussfassung haben.184 Um sich von ihm nicht mehr »überrollen« zu lassen und zu einer eigenständigen Meinungsbildung und Beschlussfassung zu gelangen, sollten Gesellschafterversammlungen fortan wöchentlich stattfinden und der Geschäftsführer nur noch alle zwei Wochen daran teilnehmen dürfen. Ziel war eine effizientere Arbeitsteilung und intensivere Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Entscheidungsgremien, um in der Problembehebung voranzukommen, anstatt immer wieder das Gleiche zu diskutieren oder sich in Detailfragen zu verlieren.185 Die Ausschüsse sollten mit einem »Maximum an Mitbestimmung« endlich stärker in die Entscheidungsstrukturen eingebunden werden. Entsprechend des eingangs dargestellten Gegenmodells sollten Sach- und Detailfragen an die thematischen Ausschüsse delegiert und die von diesen vorbereiteten Entscheidungen in der Gesellschafterversammlung beschlossen werden. Der Geschäftsführer sollte die kollektiven Beschlüsse umsetzen, was die Gesellschafter*innen stärker als bisher kontrollieren wollten. Diese Reformansätze stießen beim Geschäftsführer auf heftige Ablehnung.186 Als [Hans Müller] in den Ende 1973 erneut begonnenen Verhandlungen mit dem Land Hessen über Finanzierungshilfen ein weiteres Mal zum für die Belegschaftsfirma unentbehrlichen Verhandlungsführer wurde, mussten die Gesellschafter*innen ihre Reformpläne auf Eis legen bzw. konnten diesen lediglich im Informellen nachgehen. Angeknüpft wurde hieran erst wieder nach dem Scheitern des gemeinsam mit den anderen Belegschaftsgremien entwickelten Alternativplans einer Genossenschaftsgründung. Statt zur Belebung einer auch bislang unbeteiligte Beschäftigte in die Entscheidungsfindung integrierenden Ausschussstruktur war es seit Frühjahr 1974 zur

182

Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Holger Neumer], 13. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 3; Protokoll Gesellschafterversammlung, 8. Februar 1974, in: AGI, S. 2. 183 Folgendes aus Reformvorstellung [Frank Weber], 12. Oktober 1973, in: AGI; Reformvorstellung [Manfred Hübner], 22. Oktober 1973, in: AGI; Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 25. Oktober 1973, in: FHI, Schöf-1226; Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 29. November 1973, in: FHI, Schöf-1226. 184 Gesellschafterversammlung, 19. August 1971 (s. Anm. 100); Gesellschafterversammlung, 30. September 1971 (s. Anm. 179); Gesellschafterversammlung, 25. November 1971 (s. Anm. 179); Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 179); Gesellschafterversammlung, 15. Mai 1975 (s. Anm. 179); [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 179), S. 6. 185 [Konrad Scholz] und [Frank Weber] in Transkript Belegschaftsversammlung, undatiert [September 1973], im Besitz der Autorin, S. 1f., 4; [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 179), S. 7. 186 Gesellschafterversammlung, 29. November 1973 (s. Anm. 183).

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

Bildung fachspezifischer, gremienübergreifender Arbeitsgruppen gekommen, in denen die Gesellschafter*innen mit den leitenden Angestellten über Lösungen für die jeweils konkreten Probleme berieten.187 In dieser Struktur begann der Beirat seine Zusammenarbeit mit den Gesellschafter*innen – in zunehmenden Maße an [Hans Müller] vorbei – zu verstärken.188 In der letzten Phase der Selbstverwaltung erfolgte eine Inkorporation der Gesellschafteraktivitäten in die nunmehr vollends vom Beirat dominierte Geschäftsführung.189 Hierüber hatte sich der Kontakt zu [Harald Meier] intensiviert, der im Januar 1976 die Geschäftsführung übernahm.190 Einige der damaligen Gesellschafter*innen – allen voran [Konrad Scholz] sowie zeitweilig [Rita Abel] und [Frank Weber] – stiegen unter [Meier] in die Geschäftsführung bzw. in das mittlere Management auf.191 Bis zur Ablösung des Modells Süßmuth durch eine neue Rechtskonstruktion im Jahr 1977 fanden noch Gesellschafterversammlungen statt. Deren Themensetzung und Beschlussfassung wurden in einem sehr viel stärkeren Maße als unter seinem Vorgänger von [Meier] bestimmt. Der neue Geschäftsführer zeigte sich über die »Weitergabe von Information« und die fehlende »Verschwiegenheit« mancher Gesellschafter*innen zunehmend verärgert; im September 1976 kündigte er an, »seine bisherige Informationspolitik« zu überdenken.192 Daraufhin schlug [Abel] vor, »den Geschäftsführer [während der Sanierung] tätig werden zu lassen, ohne die Gesellschafter sonderlich informieren zu müssen.« Das auch von den anderen Gesellschafter*innen in [Meier] gesetzte Vertrauen sollte kurz darauf enttäuscht werden.

Vom Betriebsausschuss zum Betriebsrat Der Betriebsausschuss war das Gremium mit der während der Selbstverwaltung höchsten personellen Fluktuation.193 Zwischen 1971 und 1974 wechselte dreimal der Vorsitzende, und mit ihm gingen in der Regel nahezu auch alle anderen Mitglieder. Dies war nicht die Wirkung eines Rotationsprinzips, sondern Resultat heftiger Konflikte. Die Rückbenennung in Betriebsrat erfolgte, da sich die über das Betriebsverfassungsgesetz hinausreichenden Mitbestimmungsrechte, die nach dem Modell Süßmuth dem Betriebsausschuss eigentlich zustanden, in der Praxis als nicht durchsetzbar erwiesen. Die Statusgruppe der Glasmacher, die bis zur Betriebsübernahme 1970 mit fünf von sieben 187

Geplant waren bspw. die Arbeitsgruppen Verkauf und Rechnungswesen, die offensichtlich im Frühjahr 1974 erstmals zusammentraten. Gesellschafterversammlung, 25. Oktober 1973 (s. Anm. 183); [Konrad Scholz] an [Brigitte Schäfer] und [Walter Albrecht], 12. März 1974, in: AGI. 188 1975 formierten sich weitere Arbeitsgruppen zu den Themen Bildung, Kosten und Umsatz. Beirat [2], 17. März 1975 (s. Anm. 44); Beirat, 2. Juli 1975 (s. Anm. 117); Protokoll Beirat (GHS), 21. August 1975, in: AGI. 189 Im Herbst 1974 nahm die Gesellschafterversammlung Franz Fabians Vorschlag an, sich künftig zur gemeinsamen Vorbereitung vor den Beiratssitzungen zu treffen. Protokoll Gespräch der Gesellschafterversammlung mit Franz Fabian, 10. Oktober 1974, in: AGI. 190 Gesellschafterversammlung, 11. November 1975 (s. Anm. 118); Protokoll Gesellschafterversammlung, 6. Januar 1976, in: AGI. 191 Siehe Kapitel 9.1 und Kapitel 9.2. 192 Folgendes aus Protokoll Gesellschafterversammlung, 9. September 1976, in: AGI. 193 Materialien aus der Betriebsratsarbeit (GHS), 1968–1974, in: FHI, Schöf-1226; AfsB, Bestand IG Chemie; AGI.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Mitgliedern die absolute Mehrheit im Betriebsrat stellte, war – als im Frühjahr 1973 ein personell komplett neu gewählter Betriebsrat seine Arbeit aufnahm – bis Sommer 1974 nur noch mit zwei Personen vertreten. In dieser Zeit waren dafür zwei Arbeiterinnen der Rauschleiferei unter dem Vorsitz eines Facharbeiters aus der Glasveredelung im Betriebsrat aktiv. Bis dahin war eine kaufmännische Angestellte die einzige Frau im Betriebsrat.194 Nach dem geschlossenen Rücktritt des Betriebsrats im Frühsommer 1974 stellten wieder vier Glasmacher die Mehrheit der Mitglieder, unter denen sich keine einzige Frau mehr befand. An den Sitzungen des Betriebsausschusses nahmen anfangs auch der Geschäftsführer und die Gesellschafter teil, mit sich verdichtender Konfliktlage tagte er wieder ohne sie.195 Anders als die Gesellschafterversammlung war der Betriebsausschuss bereits im ersten Jahr der Selbstverwaltung in einen fundamentalen Konflikt mit dem Geschäftsführer geraten. Im September 1971 verweigerte er die Zustimmung zur Einstellung von zwei Glasmachern, die [Hans Müller] als dringend notwendig erachtete.196 Für den hier eingetretenen Fall, dass sich Betriebsausschuss und Geschäftsführung nicht einigen konnten, sah die Vereinssatzung vor, dass »die nächstfolgende Mitgliederversammlung verbindlich« eine Entscheidung zu treffen habe.197 Berechtigter Weise hielt [Müller] dieses Vorgehen bei Personalfragen für ungeeignet.198 Das »Gespräch über die Einstellung eines in ungekündigter Stellung befindlichen Bewerbers« müsse »in höchstem Maß vertraulichen Charakter« haben. Um künftig eine solche Pattsituation zu vermeiden, bestand er auf einer Änderung der Vereinssatzung.199 Während [Müller] »eine Beschneidung des Mitbestimmungsrechts des Betriebsausschusses« für unumgänglich hielt, sah der Gesellschafter [Paul Nowak] dahingehenden Änderungsbedarf bei den Kompetenzen der Geschäftsführung. Einigen konnten sich der geschäftsführende Ausschuss und die Gesellschafterversammlung auf die Berufung eines Schlichtungsausschusses (wie es bereits ein früherer Entwurf der Vereinssatzung vorsah).200 Mit zunehmender Eigenmächtigkeit der geschäftsführenden Gremien hatten sich diese Überlegungen jedoch bald erübrigt. Im Herbst 1971 nahm [Hans Müller] gegen den ausdrücklichen Einspruch des Betriebsausschusses die umstrittene Personaleinstellung vor. Auf den Beiratssitzungen am 20. und 21. Dezember 1971 wurden die Weisungsbefugnisse des 194 Ihre Betriebsratstätigkeit ist für den Zeitraum von 1968 bis 1973 belegt. 195 [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 179), S. 8f. 196 Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 16. September 1971, in: FHI, Schöf-1228; Protokoll Betriebsausschuss (GHS), 17. September 1971, in: FHI, Schöf-1228. Zum [Kunze]-Konflikt siehe Kapitel 5.3. 197 Vereinssatzung (s. Anm. 2), § 8. 198 Folgende Zitate aus [Hans Müller] an Gesellschafterversammlung (GHS), 30. September 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 2. 199 Folgendes aus Gesellschafterversammlung, 30. September 1971 (s. Anm. 179), S. 2f.; Gesellschafterversammlung, 25. November 1971 (s. Anm. 179), S. 3f. 200 Meinungsverschiedenheiten bestanden nur noch über die personelle Besetzung dieses Gremiums. Mit Vertretern der Krankenkasse, des Arbeitsamtes und des DGB schlug [Paul Nowak] die Berufung von drei betriebsexternen Personen vor. Der Vorsitzende der Gesellschafterversammlung [Willi Voigt] vertrat dagegen die Meinung, dass eine betriebsfremde Person im Schlichtungsausschuss genüge und dieser vor allem von »Leuten aus dem Betrieb« zu besetzen sei. Gesellschafterversammlung, 25. November 1971 (s. Anm. 179), S. 3f.

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

Betriebsausschusses gegenüber der Geschäftsführung – wie jene der Gesellschafterversammlung – faktisch abgeschafft. [Müller] war in Personalfragen nun nur noch dem Beirat gegenüber rechenschaftspflichtig. Das Konfliktpotenzial zwischen Geschäftsführung und Betriebsausschuss hatte sich damit vergrößert. Die Entmachtung der Belegschaftsgremien zugunsten des Geschäftsführers betrachtete der Betriebsausschussvorsitzende [Rolf Schindler] als eine Wiederherstellung »ganz normaler« Arbeitsbeziehungen.201 Die Rückbenennung in Betriebsrat brachte zum Ausdruck, dass er sich wieder an den Bestimmungen des (unterdessen reformierten) Betriebsverfassungsgesetzes orientieren wollte. Hieran hätten ihn nicht nur [Müller], sondern auch Gewerkschaftsfunktionäre gehindert. Aus Interesse am Erhalt der Firma hatte [Schindler] die Rückkehr zum vorherigen Modus der betrieblichen Interessenvertretung letztlich zwar nicht in aller Konsequenz vollzogen, aber dennoch brachte er immer wieder seine grundlegende Kritik am undemokratischen Vorgehen und an der Ignoranz des Geschäftsführers gegenüber den Belegschaftsgremien vor und äußerte sie schließlich – unter Rückgriff auf die sich während der Übernahmezeit bewährte Öffentlichkeitsstrategie – im März 1973 vor laufender Kamera.202 Vom Beirat daraufhin zur Rede gestellt und von Franz Fabian unter Druck gesetzt, distanzierten sich die restlichen Betriebsratsmitglieder von den Äußerungen ihres Vorsitzenden, der aus diesem Grund seinen Rücktritt erklärte.203 Sein Nachfolger, der zunächst moderat agierende Graveur [Holger Neumer], geriet bald in eine sehr ähnliche Konfliktkonstellation.204 So gewährte [Müller] einzelnen Beschäftigten beispielsweise Zulagen, die [Neumer] zuvor abgelehnt hatte, da – so lautete eigentlich der Konsens – Besserstellungen der gesamten Belegschaft zugutekommen sollten.205 Unter beiden Betriebsratsvorsitzenden erhöhten sich auch die Spannungen mit den Gesellschafter*innen, die mehrheitlich weder Verständnis für die »harte« Kritik an der Geschäftsführung noch für den Rückgriff auf die Rechtsgrundlage des Betriebsverfassungsgesetzes hatten.206 Als der Betriebsrat zeitweilig wieder während der Arbeitszeit tagte, warfen ihm die Gesellschafter vor, er stelle sich »außerhalb des Betriebs«.207 Als [Holger Neumer] im Mai 1973 den Geschäftsführer aufgrund dringlicher Probleme im Betrieb schriftlich zur Rede stellte und die Gesellschafterversammlung zu einer hiervon unabhängigen Stellungnahme ermahnte, hielt letztere dem Betriebsrat vor, er wolle sich »wichtig tun« und »in den Vordergrund spielen«.208 Eine Annäherung zwischen

201 Folgendes aus [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 179), S. 3–8. 202 Es handelte sich hier um einen Beitrag von Ulrich Wickert für das Fernsehmagazin Monitor. Der Redebeitrag von [Rolf Schindler] wurde – offensichtlich infolge der Intervention der Gewerkschaftsfunktionäre – nicht gesendet. Typoskript »Arbeiter als Unternehmer. Ein Experiment und seine Folgen«, Ulrich Wickert für Monitor (ARD), 19. März 1973, in: FHI, Schöf-1212; [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 179), S. 9. 203 Protokoll Beirat (GHS), 14. März 1973, in: FHI, Schöf-1226. 204 Folgendes aus [Neumer], 13. August 1973 (s. Anm. 182), S. 2. 205 [Holger Neumer] in Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 31. August 1972, in: FHI, Schöf-1227, S. 1. Siehe Kapitel 5.2. 206 Entwurf Gesellschafterversammlung an Betriebsrat (GHS), 12. Juni 1973, in: AGI. 207 [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 179), S. 7f. 208 Betriebsrat, 23. Mai 1973 (s. Anm. 181); [Neumer], 13. August 1973 (s. Anm. 182), S. 4.

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beiden Gremien erfolgte erst, als die Gesellschafter*innen die Kritik des Betriebsrats angesichts der seit Herbst 1973 erneut prognostizierten Liquiditätskrise der Firma zu teilen begannen. Die Blockade des von den Belegschaftsgremien gemeinsam erarbeiteten Alternativplans durch die geschäftsführenden Gremien quittierten der Betriebsratsvorsitzende und mit ihm der gesamte Betriebsrat im Frühsommer 1974 mit Amtsniederlegung.209 Der daraufhin neu gewählte Betriebsrat unter dem Vorsitz des Glasmachers [Jochen Schmidt] begann enger mit dem Beirat zusammenzuarbeiten und wurde – ähnlich wie die Gesellschafterversammlung – in der letzten Phase der Selbstverwaltung als lediglich beratendes Gremium faktisch in die Unternehmensführung inkorporiert.

Die Ausschüsse Im Gegensatz zur Gesellschafterversammlung, deren Rechte durch den Gesellschaftsvertrag juristisch abgesichert waren, und anders als der Betriebsausschuss bzw. -rat, der sich mit dem Betriebsverfassungsgesetz auf eine überbetriebliche Rechtsgrundlage berufen konnte, agierten die Ausschüsse vollständig im Informellen. Im technischen Ausschuss wurden zwischen 1970 und 1973 sämtliche die Produktion betreffende Probleme besprochen und Investitionen beratschlagt.210 Der Wohnungsausschuss widmete sich der Verwaltung der firmeneigenen Wohnungen und fungierte als Adressat für die Anliegen der Bewohner*innen, die größtenteils der Belegschaft angehörten.211 Unmittelbar nach der Betriebsübernahme waren offensichtlich weitere Ausschüsse tätig, mit denen die geschäftsführenden Gremien jedoch nicht zusammenarbeiteten.212 Allein der technische Ausschuss besaß in den ersten Jahren der Selbstverwaltung eine große Relevanz aufgrund der Position im Fertigungsprozess und der Expertise der hierin vertretenen Facharbeiter (Glasmacher-, Hütten- und Schmelzmeister). Während der Betriebsübernahme und unter der kollektiven Geschäftsführung im Jahr 1971 trug dieses Gremium dazu bei, die Produktion trotz der finanziell prekären Bedingungen aufrechtzuerhalten und die Produktivität zu verbessern.213 Die Ausschussstruktur konnte insbesondere in Zeiten der Krise an der Unternehmensspitze zur Geltung kommen. Die fehlende Formalisierung gewährte den Ausschüssen eine gewisse Beweglichkeit. Anders als die Gesellschafterversammlung standen sie 209 Folgendes aus [Neumer], 31. Mai 1974 (s. Anm. 115); Betriebsrat, 4. Juni 1974 (s. Anm. 115). 210 Protokolle des technischen Ausschusses (GHS), 1970–1973, in: FHI, Schöf-1221 und Schöf-1226 bis Schöf-1228. 211 [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 63), S. 1f.; Protokoll Wohnungsausschuss (GHS), 27. Juni 1973, in: FHI, Schöf-1226. Von der Arbeit und der Zusammensetzung des Wohnungsausschusses sind kaum Informationen überliefert. Im Herbst 1973 waren hierin die beiden Gesellschafter [Manfred Hübner] und [Jürgen Schmitz] sowie als Mitglied des Betriebsrats [Heinz Schrödter] vertreten. 212 Hierzu gehörte der Presse- und Informationsausschuss, der im März 1970 gegründet wurde. Überliefert ist zudem die temporäre Existenz (oder geplante Gründung) von Finanz-, Bildungs-, Designund Sozialausschüssen. Organigramm, gezeichnet [Hans Müller], 1. Juli 1972, in: Privatarchiv See; [Manfred Hübner] in Transkript Podiumsdiskussion zum Thema »Mitbestimmung – Selbstverwaltung – Selbstbestimmung«, organisiert von Jungsozialisten, 21. September 1973 in Niestetal bei Kassel, im Besitz der Autorin, S. 15; »›Wir wollen sozialpolitisch wirken.‹ Gespräch mit Franz Fabian«, in: Tagesanzeiger Magazin, 20. Februar 1971, in: Privatarchiv See; Friedel, Aspekte (s. Anm. 42), S. 73. 213 Siehe Kapital 5.1.

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

weniger unter dem unmittelbaren Druck der geschäftsführenden Gremien sowie der Haftung, auf die die Gesellschafter*innen nach GmbH-Recht juristisch festgelegt waren und die mit einer Verengung der Handlungsoptionen einherging. Die Ausschüsse bildeten vielmehr eine Plattform für Kommunikationsprozesse, die sich dem Zugriff der geschäftsführenden Gremien – auch wenn diese an deren Sitzungen teilzunehmen beanspruchten214 – tendenziell entzogen; die Mitglieder standen in Kontakt mit diversen, an der Selbstverwaltung interessierten Personen. Daraus ergab sich ein gewisser Freiraum, in dem alternative Lösungsansätze entwickelt werden konnten. Bis zur Neuwahl der Gesellschafterversammlung im Herbst 1973 bestand über den bereits vor und während der Betriebsübernahme betriebspolitisch sehr engagierten Glasmacher [Paul Nowak] in seiner Mehrfachfunktion als Mitglied des technischen Ausschusses, der Gesellschafterversammlung und des Beirats eine persönliche Verbindung und ein Informationsaustausch zwischen diesen Gremien. Als [Nowak] nicht mehr in die Gesellschafterversammlung gewählt wurde, reduzierten sich die Einflussmöglichkeiten des technischen Ausschusses auf die unternehmerischen Entscheidungen erheblich.215 Dies zeigte sich insbesondere anlässlich der von der Geschäftsführung eigenmächtig beschlossenen Stilllegung des drittens Schmelzofens am Ende des Jahres 1973. Die Gesellschafter hatten [Hans Müller] eindringlich ermahnt, diese einschneidende Maßnahme mit dem technischen Ausschuss zu beraten. Die damalige Diskussion offenbarte, wie wenig Wissen über dessen aktuelle Zusammensetzung, Organisation und Sitzungshäufigkeit sowohl die Geschäfts- und Betriebsleitung als auch die Gesellschafter*innen besaß.216 [Müller] nahm die umstrittene Reduktion von drei auf zwei Öfen ohne eine Konsultation des technischen Ausschusses vor. Dessen Mitglieder konnten die folgenschwere Fehlentscheidung der Geschäftsführung nicht mehr revidieren. Seitdem trat der technische Ausschuss nicht mehr in Erscheinung.

Die Abteilungssprecher*innen und die Tarifkommission Im Dezember 1970 wählten die Beschäftigten aller Abteilungen jeweils eine*n Sprecher*in und eine*n Stellvertreter*in.217 Im Vergleich zu den anderen Belegschaftsgremien wurden hierbei relativ viele Frauen (das heißt sechs von insgesamt achtzehn Personen) in diese Ämter gewählt. Mit den Abteilungssprecher*innen lag ein Strukturelement vor, Vertreter*innen aller Beschäftigtengruppen aus dem gesamten Unternehmen in die Selbstverwaltung einzubinden, das indes ungenutzt blieb. Sollten die Abteilungssprecher*innen nach dem eingangs dargestellten Gegenmodell eigentlich ein zusätzliches Kontrollorgan wählen, so traten sie lediglich als Mitglieder der Tarifkommission in Erscheinung. Deren Gründung stand im Zusammenhang mit der neuen Form der Tarifverhandlungen in der Glashütte Süßmuth, die von den innerhalb der IG Chemie und der IG Metall diskutierten Reformvorstellungen einer betriebsnahen Tarifpolitik inspiriert war. Entscheidender Unterschied war jedoch, dass die gewerkschaftlichen Vertrauensleute dabei – wie generell im selbstverwalteten Betrieb – keine Rolle spielten.

214 215 216 217

Gesellschafterversammlung, 21. Oktober 1971 (s. Anm. 175), S. 3. [Nowak], 6. Januar 1974 (s. Anm. 150), S. 8. Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 179), S. 25. Siehe Kapitel 5.1. Wahlergebnis in [Klaus Boehm] an Belegschaft, 18. Dezember 1970, in: FHI, Schöf-1221, S. 2.

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Seit der Belegschaftsübernahme wurden in der Glashütte Süßmuth jährlich jeweils nach Abschluss der Tarifrunden in der hessischen Hohlglasbranche Haustarifverträge ausgehandelt.218 Der Geschäftsführer sei dabei – so wussten Journalisten zu berichten – auf Basis der Beschlüsse der Gesellschafterversammlung mit der betrieblichen Tarifkommission und den Funktionären der IG Chemie in Verhandlungen getreten.219 Die Befugnisse der Tarifkommission waren indes weder in der Vereinssatzung noch im Gesellschaftsvertrag festgelegt.220 Im Herbst 1971 handelten die Gewerkschaftsfunktionäre allein mit der Geschäftsführung einen Haustarifvertrag aus, was die Tarifkommission heftig kritisierte.221 In den folgenden Jahren nahmen zwar die Belegschaftsvertreter*innen wieder an den Tarifverhandlungen teil. Ihr Gestaltungsspielraum war jedoch durch die Vorgaben der Gewerkschaftsfunktionäre und die Liquidität des Unternehmens stark eingeschränkt.222

Experten alternativen Wirtschaftens Die neue Form der demokratischen Unternehmensführung erregte auch in den Jahren nach der Belegschaftsübernahme anhaltend große Aufmerksamkeit. Politisch interessierte Einzelpersonen oder Gruppen suchten die selbstverwaltete Glashütte auf oder luden Vertreter der Belegschaftsfirma zu öffentlichen Informations- und Diskussionsveranstaltungen ein.223 Zwischen den in den Selbstverwaltungsgremien aktiven Beschäftig218

Laut Peter Espe und Gero Friedel sei Richard Süßmuth – auf »Drängen des Glasindustrie-Vereins« – kurz vor der Belegschaftsübernahme aus dem Arbeitgeberverband ausgestiegen. Um einen tariflosen Zustand zu vermeiden, drängte die IG-Chemie-Hauptverwaltung auf den Abschluss von Firmentarifverträgen. Peter Espe, »Exempel Süssmuth. Mit Sozialismus nichts zu tun«, in: Handelsblatt, 28. Juli 1970, in: FHI, Schöf-1225; Friedel, Aspekte (s. Anm. 42), S. 77; Walter Gläsner zur tarifvertragsrechtlichen Situation in der GHS, 22. Oktober 1970, in: FHI, Schöf-1221. Siehe Lohn- und Gehaltstarifverträge (GHS), 1971–1977, in: FHI, Schöf-1221, Schöf-1226 bis Schöf-1228 und in: AGI. 219 Heinz Eßlinger, »Wo der Arbeiter sein eigener Chef ist«, in: Gewerkschaftspost, Januar 1973, in: AGI, S. 10f.; Jochen Wegener, »Die Fabrik gehört uns«, in: Stern, 18. April 1973, in: AGI, S. 82. Auf Seiten der Gewerkschaft lag die Tarifhoheit beim Hauptvorstand und der Bezirksleitung. Bei nicht-tarifgebundenen Unternehmen konnten die Verwaltungsstellen zum Abschluss von Firmentarifverträgen ermächtigt werden. Die jährlichen Haustarifverträge der GHS wurden mit der Bezirksleitung Hessen vereinbart, die Funktionäre der Verwaltungsstelle Kassel führten zuvor die Verhandlungen. IG Chemie-Papier-Keramik Kassel (Hg.), Von 1945 bis 1985. 40 Jahre Aufbau, Entwicklung und Bestand der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik Verwaltungsstelle Kassel, 1988, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 119. 220 Kraft und Konzen schlussfolgerten hieraus, dass die Beschlüsse der Tarifkommission für die Geschäftsführung nicht bindend gewesen seien, sondern sie »vielmehr die ›Arbeitnehmer-Seite‹ bei Verhandlungen über Arbeitsbedingungen repräsentieren, bei denen die Geschäftsführung ›den Arbeitgeber und Bremser‹ spielt. Ihre Rolle ist daher nicht unter gesellschaftsrechtlichen, sondern unter arbeitsrechtlichen Aspekten zu würdigen.« Kraft und Konzen, Arbeiterselbstverwaltung (s. Anm. 37), S. 18. 221 Tarifkommission (GHS) an IG Chemie Vwst. Kassel, 12. Juli 1972, in: FHI, Schöf-1227. 222 Siehe Kapitel 5.2. 223 Einladungen erhielt die Süßmuth-Belegschaft bspw. von Fritz Vilmar zu einem Soziologie-Seminar an der Gesamthochschule Kassel, zu einer von Frank Deppe moderierten Veranstaltung des Marburger Arbeitskreises für gewerkschaftliche Fragen, zu einer Podiumsdiskussion der Jusos oder von Jörg Sellenriek zur Eröffnung seiner Ausstellung über Produktionskommunen im Züricher

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

ten und Personen aus einem solidarischen Umfeld entwickelten sich mitunter enge Kontakte. Dieser sich aus verschiedenen Beweggründen mit alternativen Wirtschaftsformen beschäftigende Personenkreis lässt sich in drei Gruppen unterteilen. Hierzu zählten erstens jene linken Akademiker, die bereits während der Übernahmephase die Voraussetzungen für die Kreditverhandlungen mit dem Land Hessen zu erfüllen halfen und von denen einzelne eine Stelle im Belegschaftsunternehmen annahmen.224 In gewisser Weise gehörte zu diesem Personenkreis auch Erasmus Schöfer, der zum Chronisten der Entstehungsgeschichte und der Erfahrungen in der belegschaftseigenen Glashütte wurde. Durch seine längeren Aufenthalte in Immenhausen in den Jahren 1973 und 1974 avancierte er zum vertrauten Gesprächspartner der Betriebsaktivisten, mit denen er gemeinsam die Probleme und Chancen der Selbstverwaltung reflektierte. Mit Carl Backhaus und Bruno Piatti standen die Beschäftigen zweitens im Austausch mit Repräsentanten sogenannter Partnerschaftsunternehmen. Während sich der Kontakt zu Backhaus in seiner Funktion als Bürge und durch seine Mitgliedschaft im Beirat verstetigte, bestand dieser zu dem Schweizer Möbel-Unternehmer Piatti nur temporär. Piatti gewährte seiner Belegschaft zum damaligen Zeitpunkt weitreichende Mitbestimmungsrechte, ohne aber die Entscheidungsgewalt abzugeben.225 Im ersten Halbjahr 1973 agierte Piatti als Berater und Befürworter einer in der selbstverwalteten Firma umstrittenen Neuausrichtung der Produkt- und Vertriebspolitik.226 Er lud die Mitglieder der Belegschaftsgremien und [Hans Müller] im Juni 1973 zu einer Besichtigung seines Unternehmens ins schweizerische Dietlikon ein. Die mit Piatti geführten Gespräche hatten aus nicht rekonstruierbaren Hintergründen begonnen und schienen von den geschäftsführenden Gremien in der zweiten Hälfte des Jahres 1973 abrupt beendet worden zu sein, was sowohl unter den Belegschaftsgremien als auch zwischen Betriebsrat und Geschäftsführer zu heftigen Konflikten führte. Drittens schließlich standen die Belegschaftsvertreter*innen im Kontakt mit Anthroposophen aus Bochum, die sich seit den 1960er Jahren um die Gründung einer gemeinnützigen Bank (der späteren GLS-Bank) bemühten.227 In Orientierung an Rudolf Steiners Vorstellungen von der »Dreigliederung des sozialen Organismus« hatte sich diese Gruppe die Förderung von Unternehmensformen zum Ziel gesetzt, die den Beschäftigten »menschenwürdige Daseinsformen« sichern und ihnen hierdurch

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Kunstgewerbemuseum, in der auch der Fall Süßmuth präsentiert wurde. Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 24. Mai 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 4; Protokoll Telefonat der Autorin mit Frank Deppe, 27. Februar 2014, im Besitz der Autorin; Podiumsdiskussion, 21. September 1973 (s. Anm. 212); [Scholz] et al., 29. Mai 1974 (s. Anm. 164), S. 24f.; Peter Meyer (Hg.), Produktionskommunen. Sechs Versuche aus drei Jahrhunderten, Zürich 1979. Siehe Kapitel 3.3. Folgendes aus Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 8. Februar 1973, in: FHI, Schöf-1226; Gesellschafterversammlung, 24. Mai 1973 (s. Anm. 223); Gesellschafterversammlung, 12. Juni 1973 (s. Anm. 206). Es ging hier um eine radikale Reduzierung des Sortiments, siehe Kapitel 6.1. Dieser Personenkreis gründete Ende der 1960er Jahre eine Reihe gemeinnütziger, bankähnlicher Einrichtungen, aus denen im August 1974 die GLS-Bank hervorging. Siehe [Rudolf Betz], Zu den Bochumer Bankeinrichtungen in den 70er, 80er, 90er Jahren, unveröffentlichte Publikation 2011, in: Privatarchiv [Betz]; Rolf Kerler, Eine Bank für den Menschen. Von den Anfängen und Impulsen der GLS Treuhand und GLS Bank, Dornach 2011.

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eine »anders geartete Motivation zur Arbeit geben« sollten.228 Zum Gründerkreis der GLS-Bank gehörte der Notar und Steuerjurist Wilhelm Ernst Barkhoff, der die Glashütte Süßmuth hinsichtlich der ungeklärten Rechtsformfragen beriet. Er half den Belegschaftsvertreter*innen bei der Erarbeitung von Reformkonzepten, die die Gewerkschaftsfunktionäre im Beirat ablehnten und die in Teilen unter der Geschäftsführung von [Harald Meier] zum Tragen kam. Angebahnt wurde dieser Kontakt über Folkert Wilken, der als Lehrer der anthroposophischen Hiberniaschule Bochum mit einer Schüler*innengruppe die Belegschaftsfirma besucht hatte.229 In seiner anthroposophischen Schrift über neue Eigentumsformen in der Wirtschaft fand die Glashütte Süßmuth als ein Fallbeispiel Erwähnung.230

4.4 Der Beirat als »graue Eminenz« Die Einrichtung eines Beirats war der einzige Vorschlag, mit dem sich Carl Backhaus bei der Gestaltung der Entscheidungs- und Kontrollstrukturen im Belegschaftsunternehmen einbringen konnte.231 Damit wurde der vom Hessischen Wirtschaftsministerium einst an Richard Süßmuth gerichteten Aufforderung zur Gründung eines Aufsichtsgremiums entsprochen.232 Die Mitglieder des Beirats wurden nicht aufgrund ihrer spezifischen fachlichen Expertise berufen, was in anderen Unternehmen ein Motiv für die Gründung eines solchen Gremiums war. Vielmehr handelte es sich im Fall Süßmuth um ein Gremium der Geldgeber und der (materiell wie immateriell haftenden) Bürgen, die eigene Interessen verfolgten. Da dem Beirat laut Gesellschaftsvertrag eine »lediglich beratende Funktion« zustand, wurden die Mitglieder »weder im Bundesanzeiger […] noch beim Handelsregister eingetragen« und die »Bestimmungen des Aktiengesetzes über den Aufsichtsrat nicht angewandt«.233 Indem er über die Investitionsmittel verfügte und die Unternehmensziele festlegte, nahm er indes von Beginn an strategische und zunehmend auch operative Aufgaben wahr. Außenstehenden erschien dieses Gremium daher mitunter als ein »Geheimbund« oder als »graue Eminenz«.234

228 Beirat, 30. Mai 1974 (s. Anm. 37), S. 2. Zur kritischen Analyse Steiners biologistischen Konzepts der »Dreigliederung des sozialen Organismus« siehe André Sebastiani, Anthroposophie. Eine kurze Kritik, Aschaffenburg 2019, S. 49–52; Helmut Zander, Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945, Göttingen 2007, Bd. 2. 229 [Scholz] et al., 29. Mai 1974 (s. Anm. 164), S. 6f. Im Februar 1973 lud Wilken die Süßmuth-Belegschaft zu einem Gegenbesuch nach Bochum ein. Gesellschafterversammlung, 8. Februar 1973 (s. Anm. 225). 230 Folkert Wilken, Das Kapital. Sein Wesen, seine Geschichte und sein Wirken im 20. Jahrhundert, Schaffhausen 1976, S. 221–229. 231 Backhaus, 6. Juli 1970 (s. Anm. 27), S. 1. 232 Siehe Kapitel 1.6. 233 Gesellschaftsvertrag GHS, 29. September 1970 (s. Anm. 5), § 9. 234 Rainer Merforth, »Zwei Jahre Belegschaftshütte. Mit Schwung geht es aufwärts«, in: Hessische Allgemeine, 3. März 1972, in: AGI; Fischer, Selbstverwaltete Glashütte (s. Anm. 144), S. 7.

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

Die Mitglieder des Beirats Entsprechend der im Gesellschaftsvertrag festgelegten Quotierung sollte die Gesellschafterversammlung die Beiratsmitglieder eigenständig berufen und abberufen.235 In der Realität einigten sich die betriebsexternen Mitglieder untereinander auf die Zusammensetzung des Beirats, die Rudolf Segall im Namen der hessischen IG-ChemieBezirksleitung den Gesellschaftern in einem Schreiben Ende Oktober 1970 mitteilte.236 Zu berufen waren demnach Werner Vitt als stellvertretender Hauptvorstandsvorsitzender der IG Chemie, der hessische Bezirksleiter Franz Fabian und [Klaus Boehm] von der Verwaltungsstelle Kassel, [Dieter Vogt] von der HLT, mit Ernst Preßler der Direktor der LKK als Vertreter der Helaba, Carl Backhaus, Helmut Jost von der Höheren Wirtschaftsfachschule Frankfurt am Main und Ernst Fischer von der Werbeagentur Wir. Die Gesellschafter durften allein die drei eigenen Vertreter für den Beirat selbst bestimmen. Jost und Fischer nahmen weder an der konstituierenden noch an einer der folgenden Beiratssitzungen teil. Stattdessen waren mit Wilhelm Leveringhaus der seit Herbst 1970 amtierende neue Leiter der Verwaltungsstelle Kassel (als Nachfolger des strafversetzten Werner Schepoks) sowie mit [Thomas Beike] aus der hessischen Bezirksleitung weitere Funktionäre der IG Chemie regelmäßig auf den Sitzungen anwesend. Ein nirgendwo formalisiertes »Gäste- und Beratungsmandat« kam punktuell Beamten der HLT bzw. des Hessischen Wirtschaftsministeriums, Wirtschaftsgutachtern und diversen Unternehmensberatern zu und wurde auch vom Betriebsratsvorsitzenden der Glashütte Süßmuth wahrgenommen.237 An der personellen Zusammensetzung des Beirats änderte sich während der Selbstverwaltung nur wenig. Als Nachfolger von Werner Vitt, der im Frühjahr 1975 aufgrund der »Fülle von Terminen und der starken Inanspruchnahme im politischen Raum« sein Mandat niederlegte,238 wurde im Juli 1975 der bis dahin als Stellvertreter von Backhaus fungierende [Harald Meier] berufen.239 Fluktuation gab es dagegen vor allem bei den Belegschaftsdelegierten infolge der Neuwahl der Gesellschafterversammlung (Herbst 1973) oder von Rücktritten (Sommer 1974).240 235 Siehe Kapitel 4.1. 236 Folgendes aus Rudolf Segall an die Gesellschafter, 30. Oktober 1970, in: AGI. 237 An den Beiratssitzungen nahmen punktuell bspw. [Ulrich Herzog] (HLT), [Ralf Hartmann] (LKK) oder [Udo Kohler] (HWMi) teil. Von einem »Gäste- und Beratungsmandat« ist das erste Mal die Rede, als [Thomas Beike] (IG Chemie) dieses aus Protest gegen die Sanierungspläne von [Harald Meier] im Mai 1976 »an den Beirat zurück« gab. [Thomas Beike] an Franz Fabian, 25. Mai 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen. 238 Werner Vitt an Franz Fabian, 21. Februar 1975, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 239 Die Vergabe des laut Gesellschaftsvertrags eigentlich einem Funktionär der IG Chemie zustehenden Beiratssitzes an [Harald Meier] wurde damit gerechtfertigt, dass dieser »selbst Gewerkschafter ist und an einer IG-Metall-Schule unterrichtet.« Beirat, 2. Juli 1975 (s. Anm. 117). 240 Seit Beiratsgründung im Dezember 1970 waren die zwei Glasmacher [Paul Nowak] und [Manfred Hübner] sowie der kaufmännische Angestellte [Jürgen Schmitz] als Vertreter der Gesellschafterversammlung im Beirat vertreten. Nach der Neuwahl im Herbst 1973 traten an die Stellen von [Nowak] und [Schmitz] der Glasmaler [Frank Weber] und der Glasmacher [Udo Baldauf]. Mit dem Ausscheiden von [Hübner] und [Baldauf] rückten im Sommer 1974 die kaufmännische Angestellte [Rita Abel] und der Lagerverwalter [Walter Albrecht] nach.

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Die IG Chemie Die Arbeit des Beirats war maßgeblich von den Funktionären der IG Chemie dominiert, die sich mit ihrer Unterstützung des Belegschaftsunternehmens von Beginn an gegen gewerkschafts- wie SPD-interne Bedenken zu behaupten hatten. Insbesondere der »Gründervater« des Modells Süßmuth Franz Fabian stand – als Leiter des IG Chemie Bezirks Hessen und seit Herbst 1970 amtierender SPD-Abgeordneter im Hessischen Landtag – unter großem Druck, der auch bestehen blieb, nachdem er im September 1973 aus gesundheitlichen Gründen als Bezirksleiter zurücktrat und sich bei der hessischen Landtagswahl 1974 nicht mehr als SPD-Kandidat aufstellen ließ.241 Seitens der IG Chemie war Fabian – angesichts der sich auf parlamentarischer Ebene bis 1976 hinziehenden Kontroverse über die Verabschiedung eines Mitbestimmungsgesetzes – dazu verpflichtet, ein ökonomisches Scheitern des Modells Süßmuth sowie ein Unterlaufen von Tarifstandards zu verhindern. Letzteres mahnte insbesondere der neue Leiter der Kasseler Verwaltungsstelle Wilhelm Leveringhaus an, der – anders als sein Vorgänger – gegenüber der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth höchst skeptisch eingestellt war.242 Von Seiten der Hessischen Landesregierung stand Fabian in der Verantwortung, die Rechtmäßigkeit der öffentlichen Förderung über die ökonomische Stabilisierung des Belegschaftsunternehmens sicherzustellen. Nach der Politisierung der Auseinandersetzung im Frühjahr 1970 sollte Fabian also die Wogen glätten, mäßigenden Einfluss auf die weiteren Entwicklungen nehmen und vor allem eine Unterwanderung durch linke Gruppen verhindern. Im Beirat nahm er bis zum Ende den Vorsitz wahr. Innerhalb der SPD schien Franz Fabian in eine brisante Situation geraten zu sein, als sich im Herbst 1971 der Betriebsratsvorsitzende [Rolf Schindler] und der kurz zuvor ausgeschiedene Finanzleiter [Bernd Dietrich] in einem Brief an den Bundeskanzler Willy Brandt höchstpersönlich wandten. Darin brachten sie mit ihrem Glückwunsch anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises zugleich ihre Hoffnung zum Ausdruck, Brandt möge doch künftig »Betriebe in Arbeitnehmerhand« stärker fördern.243 Fabian sei »stocksauer« gewesen und habe diesen Brief zum Anlass genommen, eine Betriebsversammlung einzuberufen, auf der er den Betriebsratsvorsitzenden zur Rede stellte. [Schindler] habe sich hierbei »nichts Schlechtes« gedacht und die Mehrheit der Beschäftigten habe den Inhalt dieses Schreibens mit Applaus honoriert; für Fabian hatte er indes

241 Siehe Kapitel 3.5. Infolge einer Arterienerkrankung war Franz Fabian von Mitte 1972 bis Anfang 1973 sowie von Sommer bis Herbst 1974 arbeitsunfähig und erhielt anschließend den Status des Vollinvaliden. Mit Egon Schäfer wurde im Oktober 1973 ein Vertreter des rechten Gewerkschaftsflügels zu seinem Nachfolger gewählt, der in der GHS jedoch kaum in Erscheinung trat. Beirat, 12. Oktober 1972 (s. Anm. 161); Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Hans und Ursula Müller], 2. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 15; Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 21), S. 6; Protokoll Gesellschafterversammlung, 26. September 1974, in: AGI; Übersicht Personalveränderungen vom August bis November 1973, gezeichnet von Ferdinand Eichhorn, 8. November 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 242 Siehe Korrespondenz Wilhelm Leveringhaus und Franz Fabian, 1971 in: FHI, Schöf-1228 sowie Korrespondenz Wilhelm Leveringhaus und Mitglieder des Hauptvorstands, 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 243 Folgendes aus [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 179), S. 1–3.

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offensichtlich eine Grenze überschritten. Unmittelbar danach beschlossen die betriebsexternen Beiratsmitglieder die Entmachtung der Belegschaftsgremien und erhoben Ende Dezember 1971 zugleich die Forderung, der Betrieb habe sich in Zukunft »vom sogenannten Freundeskreis und anderen außenstehenden Gruppen« zu distanzieren.244 »[S]eine weitere Mitarbeit« machte der Beirat mit Nachdruck von der Erteilung eines »Betriebsverbots für Herrn [Dietrich]« abhängig. Das bereits während der Betriebsübernahme deutlich gewordene Grundmuster im Verhalten von Franz Fabian verstärkte sich während der Selbstverwaltung. Initiativen aus dem Beschäftigtenkreis stießen bei ihm, sobald sie seinen Vorstellungen und Plänen zuwiderliefen, auf heftige Abwehr. Dies betraf sämtliche Vorschläge zur Reform der Unternehmensverfassung – sei es in Form eines Schlichtungsausschusses oder durch die Gründung einer Genossenschaft –, die aus Fabians Perspektive den Modellcharakter der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth gefährdeten. Zugleich zeigte er sich bemüht, (vermeintlich instrumentalisierende) Einflussnahmen von betriebsexternen Dritten zu unterbinden, für die sich durch solche strukturellen Veränderungen ein Einfallstor ergeben hätte.245 Nach dem »Rausschmiss« der sich während der Betriebsübernahme mit den Beschäftigten solidarisierenden Akademiker und dem im Frühsommer 1970 mit einem Betriebsverbot abgestraften Werner Schepoks waren auch der ehemalige Finanzleiter [Bernd Dietrich], der Bürge Carl Backhaus oder die Anthroposophen des Bochumer GLS-Gründerkreises von diesen gewerkschaftlichen Abgrenzungsbestrebungen betroffen. Die fehlende Absicherung der Rechte der Belegschaftsgremien gewährte Franz Fabian viel Handlungsspielraum und zugleich die Möglichkeit, den enormen Druck, unter dem er stand, an die Belegschaft weiterzugeben. Mit der permanenten Androhung eines »geordneten Rückzugs« der Gewerkschaft und seines persönlichen Ausstiegs nahm Fabian bei kollektiven Abstimmungen massiv Einfluss auf die Beschäftigten bzw. deren Gremien.246 Aufgrund seiner weitreichenden Kontakte und Verbindungen zu den Gläubigern und zur Hessischen Landesregierung schien bei einem Rücktritt Fabians unmittelbar die Existenz des Unternehmens bedroht. Und diese Abhängigkeit der Belegschaft wusste Fabian gerade mit der Abwehr alternativer Unterstützungsstrukturen außerhalb der Gewerkschaft aufrechtzuerhalten.

Das Land Hessen und die hessische SPD Die sich nach der hessischen Landtagswahl 1970 konstituierende neue sozialliberale Regierungskoalition brachte personelle Veränderungen im Wirtschaftsministerium und 244 Folgendes aus Beirat, 21. Dezember 1971 (s. Anm. 109). 245 Bei der Einberufung eines aus betriebsexternen Mitgliedern besetzten Schlichtungsausschusses wäre diese ebenso der Fall gewesen wie bei der Gründung einer Genossenschaft und der hiermit verbundenen Einflussnahme des genossenschaftlichen Prüfverbandes. 246 Dies war der Fall, als die Belegschaft bzw. ihre Gremien genötigt wurden, der Herabsetzung der Glasmacherakkorde (Herbst 1971) oder dem unrechtmäßigen Beiratsbeschluss zur Entmachtung der Belegschaftsgremien (Anfang 1972) zuzustimmen, sich im Frühjahr 1973 vom Betriebsratsvorsitzenden und dessen Kritik am Geschäftsführer zu distanzieren oder im Frühjahr 1974 die Diskussionen über den Alternativplan einzustellen. Beirat, 4. Juni 1971 (s. Anm. 94); [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 179), S. 2f., 6; Beirat, 30. Mai 1974 (s. Anm. 37).

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der HLT mit sich, die sich auf die weitere Entwicklung der selbstverwalteten Firma auswirkten.247 [Dieter Vogt] blieb zwar bis zuletzt offizielles Mitglied im Beirat, konnte jedoch seit seinem Ausscheiden aus der HLT 1972 keinen Einfluss mehr auf die mit einer staatlichen Förderung verbundenen Überprüfung der Firma nehmen. Als neuer Vertreter der HLT wurde im Sommer 1973 [Otto Maur] in den Beirat berufen, der der demokratischen Unternehmensführung mit großen Bedenken gegenüberstand.248 [Maur] unterstützte das Belegschaftsunternehmen bei der Durchführung der Jahresabschlussprüfungen. Seine Einschätzungen und Berichte fielen in der Regel sehr pessimistisch aus, was wiederum das Handeln der Gläubiger maßgeblich beeinflusste. Das Interesse der in Hessen regierenden SPD beschränkte sich im Fall Süßmuth darauf, ein öffentlichkeitswirksames Scheitern zu verhindern. Darauf hätten die politischen Gegner und allen voran die CDU »ja nur« gewartet, weil es »offensichtlich [gewesen sei], dass man das Geld [der Belegschaft] nicht hätte geben dürfen«.249 Aus diesem Grund hatten Vertreter des Landes Hessen die drei Geschäftsführer des »Triumvirats« in informellen Absprachen auf ihre besondere Verantwortung für die künftige Unternehmensentwicklung verpflichtet, die sich deshalb wiederum darin bestätigt fühlten, nicht mit den Belegschaftsgremien zusammenarbeiten zu müssen. Nach deren Abberufung hätten die Entscheidungsträger des Landes Hessen das »Projekt Süßmuth« gern für beendet erklärt; die Aufrechterhaltung ihrer Unterstützung der Firma machten sie von einer stärkeren Kontrolle abhängig. Die sukzessive Selbstermächtigung des Beirats, der die Geschäftsführung zunächst kontrollierte und schließlich übernahm, ist auch im Kontext der im Herbst 1974 anstehenden Landtagswahl zu betrachten, in der die öffentlichen Finanzen angesichts des Helaba-Skandals und der Spendenaffäre der Frankfurter SPD ein Politikum waren.250 Die hessische SPD hatte die Beteiligung der Helaba an spekulativen, hoch riskanten Immobiliengeschäften und die damit verbundene offensive Verdrängung einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen aus der Innenstadt mitgetragen, die in den Jahren 1971 bis 1974 im Frankfurter Häuserkampf eskalierte.251 Der »rote Filz« war ein beliebtes Wahlkampfthema der hessischen CDU, die aus den Landtagswahlen seit 1974 als stimmenstärkste Partei hervorging.252 Als im Beirat Ende 1973 die baldige Zahlungsunfähigkeit der Glashütte Süßmuth prognostiziert wurde, war das Interesse des Landes

247 Siehe Kapitel 3.1. 248 Folgendes aus Protokoll Gesellschafterversammlung, 6. September 1973, in: AGI, S. 2; [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 241), S. 19; Beirat, 21. Oktober 1975 (s. Anm. 38). Siehe Kapitel 7.3. 249 [Freil], 7. Januar 1974 (s. Anm. 162), S. 12; Ähnlich Geschäftsführer des RKW Hessen in Gesellschafterversammlung, 3. Juni 1973 (s. Anm. 180), S. 5. 250 Manfred Kittel, Marsch durch die Institutionen? Politik und Kultur in Frankfurt nach 1968, München 2011, S. 323–439. Der Helaba-Skandal zwang den Hessischen Ministerpräsidenten Albert Osswald 1976 zum Rücktritt. 251 Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 507f. 252 Die hessische SPD konnte nur durch die Koalition mit der FDP und ab 1982 nur unter Tolerierung bzw. in Koalition mit den Grünen die Hessische Landesregierung weiter anführen. Hessische Wahlergebnisse 1946–2008 in: Wolfgang Schroeder (Hg.), Parteien und Parteiensystem in Hessen. Vom Vierzum Fünfparteiensystem?, Wiesbaden 2008, S. 396f.

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Hessen an einer Weiterarbeit der Firma folglich sehr hoch.253 Ministerpräsident Albert Osswald höchstpersönlich schaltete sich – nachdem Werner Vitt und eine Gruppe von Landtagsabgeordneten der SPD Nordhessen ihn darum gebeten hatten – in die Verhandlungen ein und machte im Frühsommer 1974 den Weg zu einer Ausfallbürgschaft für einen neuen Kredit frei, wodurch die Abhängigkeit der Belegschaftshütte vom Land Hessen weiter zunahm.254

Die Banken Sowohl die gewerkschaftseigene Bank für Gemeinwirtschaft als auch die Landeskreditkasse Kassel gingen vom baldigen Scheitern des Belegschaftsunternehmens aus. Während die BfG mit ihrer Beteiligung am Finanzierungskonzept keinerlei Interesse an einer Einflussnahme auf die Entwicklungen in der selbstverwalteten Glashütte verband, schöpfte die LKK ihre diesbezüglichen Möglichkeiten aus. LKK-Direktor Ernst Preßler oder einer seiner Vertreter waren bei nahezu jeder Beiratssitzung anwesend, entfalteten – den überlieferten Protokollen nach – jedoch keinerlei konstruktive Aktivitäten. Die LKK erhielt dadurch einen ungewöhnlich tiefen Einblick in die aktuellen wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklungen, woraus sich eine sehr restriktive Kreditpolitik ableitete. Mit der Auszahlung der bereits im Frühjahr 1970 bewilligten Investitionsmittel begann die LKK erst ein Jahr später und stoppte diese im Herbst 1971 abrupt angesichts temporärer Liquiditätsschwierigkeiten, was sich fatal auf den Verlauf der Sanierung auswirken sollte.255 Dieses gegenüber einem Privatunternehmen undenkbare Vorgehen war darauf ausgerichtet, die Mittel aus den neuen Krediten angesichts des erwarteten Konkurses nicht zu verlieren und bestenfalls eine Rückzahlung der alten, noch an Richard Süßmuth vergebenen Kredite zu bewirken. Durch ihr unkooperatives Agieren übte die LKK entscheidenden Einfluss auf die Konditionen der Belegschaftsübernahme und auf die Praxis der Selbstverwaltung aus.

Carl Backhaus Obwohl Carl Backhaus in den ersten Jahren regelmäßig an den Beiratssitzungen teilnahm und offiziell sogar dessen stellvertretender Vorsitzender war, trat er weder in den von Franz Fabian autorisierten Sitzungsprotokollen noch in den Gesprächen, die Erasmus Schöfer mit den Beschäftigten 1973 und 1974 führte, als ein aktiv Handelnder auf. Dies verweist darauf, dass Fabians Anstrengungen, Backhaus’ Einfluss von Beginn an

253 Werner Vitt an Heinz Voßhenrich, 24. Januar 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 254 Die SPD-Landtagsabgeordneten Willi Croll, Willi Koch, Hans Neusel und Maria Vater hätten am 4. Februar 1974 ein »langes, hartes Gespräch« mit Albert Osswald geführt. Vermerk [Hans Müller], 4. Februar 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie. Siehe Kapitel 7.3. 255 Siehe Kapitel 7.3. Der Modus der Kreditmittelfreigabe gestaltete sich – mit der Aufforderung zur Vorlage monatlicher »Erfolgsrechnungen«, die detaillierte Informationen über Kostenstruktur und Betriebsleistung enthielten – gegenüber der belegschaftseigenen GHS ungleich restriktiver, als es nach »Maßgabe der Richtlinien für die Übernahme von Staatsbürgschaften« vorgesehen war. Siehe Entwurf Kreditvertrag LKK (GHS), undatiert [September 1966], in: FHI, Schöf-1224, S. 4; Transkript Gruppeninterview der Autorin mit [Dieter und Sabine Vogt], 17. Mai 2014, im Besitz der Autorin, S. 5.

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möglichst gering zu halten, erfolgreich waren.256 Seine seit 1974 gehäufte Abwesenheit dürfte im Zusammenhang mit der Krise im eigenen Unternehmen gestanden haben.257 In der Person [Harald Meier] hatte sich über Backhaus allerdings ein Kontakt ergeben, der die Entwicklung der Glashütte Süßmuth vor allem in ihrem Weg aus der Selbstverwaltung heraus nachhaltig prägen sollte.

Die Arbeitsweise des Beirats »Der Beirat soll sich eine Geschäftsordnung geben.«258 Auf der konstituierenden Sitzung im Dezember 1970 wurde diese Bestimmung des Gesellschaftsvertrags als »eventuell« vorzunehmende Maßnahme auf einen »späteren Zeitpunkt« verschoben, wozu es allerdings nicht kommen sollte.259 Der Turnus der Treffen, der Modus der Beschlussfassung sowie die Rechte und Pflichten des Beirats blieben damit undefiniert. Auf der ersten Sitzung schlug der zum Vorsitzenden gewählte Franz Fabian vor, »dass der Beirat in der ersten Zeit etwas häufiger zusammenkommt«, um die »geschäftliche Situation« besser kennenzulernen. Dass im folgenden Jahr mindestens acht Sitzungen stattfanden, hatte er aber sicher nicht erwartet.260 Mit der Entlassung der Geschäftsführer [Stefan Kurtz] und [Ewald Lenz] war bei den externen Beiratsmitgliedern die Zuversicht auf eine schnelle Stabilisierung des Unternehmens schlagartig verschwunden. Im Jahr 1971 intensivierte der Beirat seine Einflussnahme und Kontrolle, was in der Auflösung der kollektiven Geschäftsführung und der Entmachtung der Belegschaftsgremien gipfelte. Das von Fabian erklärte Selbstverständnis des Beirats, »kein Beschlussorgan, sondern ein Beratungsorgan« zu sein,261 war damit bereits im ersten Jahr der Selbstverwaltung zur Makulatur geworden. Statt von der Gesellschafterversammlung einberufen zu werden – wie es der Gesellschaftsvertrag vorsah –, traf sich der Beirat auf Einladung des Vorsitzenden. Im Gegensatz zu den Belegschaftsgremien, die außerhalb der Arbeitszeit tagten, kam der Beirat vormittags an Werktagen zusammen. Aufgrund der sich leicht verbessernden wirtschaftlichen Situation nach dem vorläufigen Abschluss der Sanierung im Betrieb und des längeren, krankheitsbedingten Ausfalls von Franz Fabian fanden im Jahr 1972 nur zwei bis drei Beiratssitzungen statt. Im Zuge der finanziellen Schwierigkeiten sowie der sich verdichtenden Auseinandersetzungen zwischen den Belegschaftsgremien und der Geschäftsführung erhöhte sich die Anzahl der Treffen im Zeitraum von 1973 bis 1975 wieder

256 Auf Bitten von Franz Fabian führten Werner Vitt und Karl Hauenschild mit Carl Backhaus im Sommer 1970 »Gespräche« über den »Komplex Süßmuth«. Laut [Konrad Scholz] sei Backhaus bereits 1971 »mundtot gemacht« worden. Siehe Korrespondenz zwischen Werner Vitt, Franz Fabian und Carl Backhaus, Juni und Juli 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Kapitel 3.5; [Scholz] et al., 29. Mai 1974 (s. Anm. 164), S. 29. 257 Sabine Rueckert, »Kallis großer Coup. Von einem, der auszog, Kapital und Arbeit zu versöhnen und was daraus wurde«, in: Die Zeit, 19. März 1998, Online: www.zeit.de/1998/13/Kallis_grosser_Coup. 258 Gesellschaftsvertrag GHS, 29. September 1970 (s. Anm. 5), § 9. 259 Folgendes aus Beirat, 18. Dezember 1970 (s. Anm. 123). 260 Für 1971 sind sechs Protokolle von Beiratssitzungen überliefert. Es fanden aber mindestens zwei weitere Treffen statt, von denen keine Protokolle vorliegen. 261 Beirat, 18. Dezember 1970 (s. Anm. 123), S. 1.

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

auf jährlich vier bis fünf. Nach der Berufung [Harald Meiers] zum neuen Geschäftsführer tagte der Beirat im Jahr 1976 nur noch zwei Mal. Auf den Zusammenkünften des Beirats standen betriebswirtschaftliche Sachverhalte im Zentrum. Die Geschäftsführer und Bereichsleiter des Vertriebs, des Rechnungswesens und der Produktion hatten Rechenschaft über die aktuellen Zahlen der Kosten- und Umsatzentwicklung abzulegen, was laut Gesellschaftsvertrag eigentlich der Gesellschafterversammlung zustand. Der Beirat definierte die Zielgrößen der betriebswirtschaftlichen Kennzahlen, an denen der Erfolg bzw. Misserfolg der Unternehmensentwicklung gemessen wurde. Ohne konkrete Handlungsanweisungen zu formulieren bzw. darüber zu diskutieren, ob diese Unternehmensziele in einer Mundglashütte realisierbar oder sinnvoll waren, wurde deren Erfüllung an die Geschäftsführung und die Belegschaftsgremien delegiert. Die Umsetzung des demokratischen Anspruchs in eine demokratische Praxis war für den Beirat kein Thema. In der Annahme, die anhaltenden Probleme im Belegschaftsunternehmen seien vorrangig auf das persönliche Versagen der Funktionsträger der Selbstverwaltungsgremien zurückzuführen, verstärkten die betriebsexternen Mitglieder ihren Einfluss. Sie trafen sich zum Teil auch mit dem Geschäftsführer allein. In der Glashütte Süßmuth war nach der Belegschaftsübernahme das Paradox zu beobachten, dass der Beirat faktisch zunächst als Aufsichtsrat und zuletzt als Geschäftsführung agierte, ohne sich dies einzugestehen bzw. Verantwortung dafür zu übernehmen. Wurde er von den Belegschaftsvertreter*innen in dieser Funktion direkt angesprochen – wie angesichts der für Ende 1973 prognostizierten Zahlungsunfähigkeit der Fall –, so betonte der Vorsitzende Franz Fabian, »dass der Beirat lediglich Empfehlungen aussprechen kann« und »die Gesellschafter endgültig […] zu beschließen haben.«262 Gegenüber den Bemühungen der Belegschaftsgremien, die Rechtsunklarheit durch organisatorische Reformen zu beseitigen, erklärte Fabian im Oktober 1974, »dass er einer Geschäftsordnung des Beirats, die auf eine Aufhebung der Selbstbestimmung der Belegschaft hinauslaufen würde, nicht zustimmen werde. Die Gesellschafterversammlung soll in ihren Rechten als das höchstbestimmende Organ der Firma nicht beschnitten werden.«263 Damit weigerte Fabian sich, eine informell von Beginn an praktizierte Realität anzuerkennen (und zu formalisieren), die er selbst mit geschaffen hatte. Auf der Beiratssitzung am 21. Dezember 1971 hatte Fabian die Belegschaftsvertreter*innen darauf verpflichtet, dass in Zukunft »[a]lle Anweisungen der [Gesellschafterversammlung und des Betriebsausschusses] über den [Beirat] an die [Geschäftsführung] zu gehen« haben.264 »Fabian bezeichnet dies als UNUMGÄNGLICH« und machte die Akzeptanz von [Hans Müller] als alleinigen Geschäftsführer »zur Bedingung, die Gelder

262 Vermerk Franz Fabian, 6. Oktober 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. 263 Gesellschafterversammlung, 10. Oktober 1974 (s. Anm. 189). Zu den seit Herbst 1974 verstärkten, aber nicht realisierten Bemühungen, die Tätigkeit des Beirats in einer Geschäftsordnung zu formalisieren, siehe Beirat, 15. Oktober 1974 (s. Anm. 43); Beirat, 2. Juli 1975 (s. Anm. 117); Entwurf Geschäftsordnung für den Beirat (GHS), undatiert [1974/75], in: AGI. 264 Die im Originaltext mit Abkürzungen benannten Gremien wurden von der Autorin ausgeschrieben und deshalb in Klammern gesetzt. Folgendes aus Beirat, 21. Dezember 1971 (s. Anm. 109), [Herv.i.O.].

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

in [Wiesbaden] locker zu machen«. Der Beiratsvorsitzende legte den Belegschaftsgremien diese Anweisung allerdings nicht in Form eines offiziellen Dokuments vor, wie diese es mehrfach einforderten. Die widrigen Bedingungen, unter denen die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth überhaupt erfolgreich sein konnte, konstituierten ein informell bleibendes Abhängigkeitsverhältnis, das den Handlungsspielraum der Belegschaftsvertreter*innen in dem Maße einschränkte, wie es jenen der betriebsexternen Beiratsmitglieder erweiterte. Während Erstere sich gezwungen sahen, ihr Handeln an den Vorgaben des Beirats auszurichten, um die für den Erhalt des Unternehmens existenzielle Unterstützung des Beiratsvorsitzenden und der Gläubiger nicht zu verlieren, nahm sich Fabian selbst die Freiheit, diese Vorgänge zu »vergessen«. Erst im Mai 1976 erkannte der Beirat rückblickend an, dass er »in der Vergangenheit […] Geschäftsführerfunktionen« wahrgenommen hatte.265 Im Dezember 1976 fand die letzte Sitzung statt – der Beirat hatte sich ohne einen Beschluss seiner Mitglieder aufgelöst.

Die Rationalisierungsexperten Die betriebsexternen Beiratsmitglieder sahen die Krise der Glashütte Süßmuth als vorrangig durch das persönliche Versagen des geschäftsführenden Eigentümers verursacht. Eine ähnliche Schlussfolgerung zogen sie, als sich die erwartete Stabilisierung des Unternehmens nicht unmittelbar einstellte. Der Beirat konsultierte deshalb eine Reihe von Unternehmensberatern, um in der Firma vorhandene Rationalisierungspotenziale auszuloten. Mit Beratern des hessischen Landesverbands des Rationalisierungskuratoriums der deutschen Wirtschaft (RKW) und des Verbandes für Arbeitsstudien und Betriebsorganisation (REFA) kamen auf Wunsch des Beirats Vertreter der traditionellen Institutionen zur Förderung der betrieblichen Rationalisierung in die Glashütte Süßmuth.266 Bereits im Juni 1970 hatten die ersten Verhandlungen über eine Betriebsberatung mit der RKW-Landesgruppe Hessen stattgefunden.267 Im Sommer 1971 erfolgte ein erster »unverbindliche[r] Kontaktbesuch«. Anfang 1972 erteilte der Beirat den Auftrag einer Betriebsbegehung. Eine umfassende Betriebsuntersuchung zum Zwecke der Ausweitung der Leistungsentlohnung erfolgte schließlich durch den freiberuflich für den RKW tätigen Unternehmensberater [Michael Wiege] zwischen September und Dezember 1972, der seinen Untersuchungszeitraum bis März 1973 verlängerte.268 Zeitgleich führte ein »REFA-Techniker« Zeitmessungen durch.269 Mit der Behebung der Fehlerquellen für die in der Fertigung weiterhin auftretenden Qualitätsprobleme wurde im April 1973 der Glastechniker [Pavel Marek] beauftragt, der bis zum Dezember 1973 im Betrieb blieb.270 265 266 267 268

Zitat aus Beirat, 20. Mai 1976 (s. Anm. 134), S. 2. Zur arbeitsteiligen Zusammenarbeit von HLT und RKW siehe Kapitel 1.6. Folgendes aus RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 81), S. 1. Protokoll Gesellschafterversammlung, 8. März 1973, in: AGI; Entwurf Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 24. April 1973, in: FHI, Schöf-1226. 269 Gesellschafterversammlung, 24. April 1973 (s. Anm. 268). 270 Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 8. Mai 1973, in: FHI, Schöf-1226; [Pavel Marek] an die Belegschaft (GHS), Oktober 1973, in: AGI.

Strukturen, Akteur*innen und Verlauf der Selbstverwaltung im Überblick

Dass der Beirat diese Experten erst in den Jahren 1972 und 1973 hinzuzog, obwohl dahingehende Planungen bereits auf das Jahr 1970 zurückreichten, dürfte an den damit verbundenen Kosten sowie der großen Zuversicht gelegen haben, das Unternehmen unter der ersten dreiköpfigen Geschäftsführung auch ohne externe Expertise stabilisieren zu können.271 Nach der zu Beginn 1972 durchgeführten Betriebsbegehung schätzten die Unternehmensberater den Handlungsbedarf unterschiedlich ein. Während der Diplom-Volkswirt [Bertold Ehlers], als mit der Glashütte Süßmuth schon vertrauter Berater der RKW-Landesgruppe Hessen, und sein Kollege, der Ingenieur [Jakob Kuhlmann], die Notwendigkeit einer aufwendigen Betriebsuntersuchung nicht gegeben sahen und aufgrund der Kosten sowie der zu erwartenden Unruhe im Betrieb explizit davon abrieten, war [Michael Wiege] von deren Dringlichkeit überzeugt und erhielt ein halbes Jahr später den entsprechenden Auftrag.272 Wie noch aufzuzeigen ist, war das Belegschaftsunternehmen zu einem Laboratorium alter und neuer, gleichermaßen wissenschaftlich begründeter Rationalisierungsvorstellungen geworden, woraus beträchtliches Konfliktpotenzial resultierte.

4.5 Zwischenfazit Der Überblick über die offiziellen Strukturen und den Verlauf der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth zeichnet von dieser ein relativ düsteres Bild. Der Handlungsspielraum der nach der Betriebsübernahme neu gegründeten Belegschaftsgremien blieb gering, die Abhängigkeit vom Beirat als Gremium der Geldgeber und Bürgen sowie der von ihm gestützten Geschäftsführung hingegen groß. Wie allein schon die selten durchgeführten Vollversammlungen zeigten, war ein großer Teil der Beschäftigten auch im belegschaftseigenen Unternehmen überhaupt nicht in die unternehmerische Entscheidungsfindung einbezogen. Während sich der eigentlich nur beratende Beirat zum einflussreichsten, da über die Investitionsmittel verfügenden Gremium entwickelte und de facto als Geschäftsführung fungierte, spielte der Verein der Beschäftigten als der Theorie nach Souverän im selbstverwalteten Unternehmen kaum eine Rolle. Naheliegend war daher die Frage, inwiefern die Glashütte Süßmuth überhaupt von ihren Beschäftigten selbst- oder nicht vielmehr von den Gewerkschaftsfunktionären und den Banken fremdverwaltet wurde. Eine dahingehende Betrachtung besitzt, wird die Geschichte der Selbstverwaltung von ihrem Ende aus betrachtet, ihre Berechtigung, verdeckt in der Verkürzung jedoch den Prozesscharakter dieser Entwicklung. Im Zuge einer Quellenkritik gilt es zu berücksichtigen, dass sich die Prozesse der Exklusion und Schließung sehr viel eindeutiger in die Überlieferung einschrieben als die des basisdemokratischen Aufbruchs und der pluralisierenden Öffnung. Der Zeitraum vom Frühsommer 1969 bis zum Antritt der ersten dreiköpfigen Geschäftsführung im Herbst 1970 sowie die Monate nach deren Abberufung im Frühjahr

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Die Beratungsdienste von RKW und REFA wurde nur zum Teil vom Land Hessen bezuschusst, der Rest musste vom Unternehmen finanziert werden. 272 RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 81); Beirat, 24. Februar 1972 (s. Anm. 152).

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

1971 waren Phasen, in denen die Beschäftigten weitreichendste Entscheidungsbefugnisse insbesondere im Betrieb und in Ansätzen auch auf Ebene der Unternehmensführung in Anspruch nahmen bzw. nehmen konnten. Die Entmachtung der Belegschaftsgremien durch den Beirat im Dezember 1971 und die Ablehnung des von den Belegschaftsvertreter*innen erarbeiteten Alternativplans zur Gründung einer Genossenschaft im Frühsommer 1974 waren dagegen einschneidende Zäsuren im Prozess des Zurückdrängens der Belegschaftsgremien aus den unternehmerischen Entscheidungen und deren exklusiv-selektive Inklusion in die Arbeit des nunmehr geschäftsführenden Beirats – eine Entwicklung, die sich unter dem seit Januar 1976 amtierenden Geschäftsführer [Harald Meier] beschleunigen sollte, der damit wiederum das Ende der Selbstverwaltung besiegelte. Die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth blieb bis zuletzt umkämpft. Erklärungsbedürftig bleiben die Beharrlichkeit und Ausdauer, mit der die Belegschaftsvertreter*innen trotz ihrer prekären strukturellen Voraussetzungen ihre Ansprüche auf Mitsprache einforderten und diese im Informellen zum Teil auch realisieren konnten. Weshalb trafen sie sich mehr als fünf Jahre hinweg in ihrer Freizeit und ohne Bezahlung, um über die Probleme ihres Unternehmens zu beraten, wo doch Geschäftsführung und Beirat etliche ihrer Vorschläge übergingen? Woher nahmen sie die Gewissheit, dass sie einen Beitrag zur ökonomischen Stabilisierung des Unternehmens leisten können? Was bewirkte die demokratische Praxis außerhalb der offiziellen Strukturen und was bedeutete sie für jene Beschäftigten, die nicht in den Gremien vertreten waren? Gerade weil die Aufbrüche in und durch die Selbstverwaltung weniger in formalisierten Formen stattfanden, sind diese mit der hier vorgenommenen Strukturanalyse der Zusammensetzung und Arbeit der offiziellen Entscheidungsgremien des belegschaftseigenen Unternehmens allein nicht zu erfassen. Aufgrund des während und nach der Belegschaftsübernahme zum Ausdruck gekommenen praxisbezogenen Demokratieverständnisses ist eine praxeologische Analyse der Veränderungen im betrieblichen wie unternehmerischen Alltag notwendig, die in den folgenden Kapiteln herauszuarbeiten sind.

5. Zwischen Expansion und Emanzipation. Die Produktion

Die Erwartungen an die wirtschaftliche Leistung des Belegschaftsunternehmens waren enorm. In den Kreditverhandlungen hatten sich die Vertreter der Glashütte Süßmuth auf von außen gesetzte, hoch gesteckte expansive Unternehmensziele verpflichtet. Angesichts seit Jahren unterlassener Investitionen, der faktischen Überschuldung und knapp bemessenen Kreditmittel sowie der sich verändernden Rahmenbedingungen für Unternehmen der Mundglasbranche war der Druck groß, die Produktivität zu steigern und die Kosten zu senken. Um die Rentabilität des Unternehmens zu erhöhen, konzentrierten sich die neuen Entscheidungsgremien in erster Linie auf die Produktion. Den Imperativ hierzu formulierten insbesondere die im Beirat versammelten Geldgeber und Bürgen – Akteure, von denen die Belegschaft als neue kollektive Eigentümerin enorm abhängig war. Für diese Personen hatte sich die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth vor allem als eine betriebliche Rationalisierungsstrategie zu bewähren. In diesem Kapitel sind die unterschiedlichen Vorschläge zur Rationalisierung der Produktionstechnik, der Lohngestaltung und der Arbeitsorganisation darzulegen und zu bewerten. Welche Erfahrungswerte und Wissensbestände, Leitbilder und Zielvorstellungen lagen dem Handeln der Akteur*innen zugrunde? Wie wirkten sich die Rationalisierungsmaßnahmen auf die Arbeitsbedingungen und die betrieblichen Machtverhältnisse aus? Herauszuarbeiten ist, inwiefern es während der Selbstverwaltung gelang, die ökonomischen Ziele einer Erhöhung der Rentabilität, einer langfristigen Absicherung der Existenz des Unternehmens und damit der Arbeitsplätze für alle Beschäftigten mit den darüber hinausgehenden Zielen einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen und demokratischen Teilhabe in Einklang zu bringen und umzusetzen.

5.1 Angepasste Technik Das große Ausmaß der Fehlproduktion infolge jahrelang vernachlässigter Instandhaltung der Produktionstechnik war eine der zentralen Ursachen für die Krise der Glashütte Süßmuth. Nach der Belegschaftsübernahme hatte daher die Erneuerung der Behei-

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

zungs-, Schmelz- und Kühlaggregate als den für die Qualität der Produkte und folglich die Rentabilität ausschlaggebenden technischen Vorrichtungen einer jeden Glashütte höchste Priorität. Es kam hierbei zu Problemen und heftigen Kontroversen über mögliche Lösungsansätze, die grundlegende Unterschiede im Verständnis von bzw. in den Erwartungen an Technik offenbarten. Um diese zu erfassen und den sozialen Kontext von Technik auszuleuchten, wird im Folgenden die Frage nach der Angemessenheit technischer Neuerungen ins Zentrum gerückt. Denn Technik folgt keiner Eigenlogik – wie technikhistorische Arbeiten hervorheben –, sondern in ihr sind soziale Verhältnisse vergegenständlicht.1 In einer »angepassten Technologie« sieht Rolf-Jürgen Gleitsmann ein traditionelles Merkmal des Glashüttenwesens.2 Vielfältige Ansprüche an Qualität und Quantität der Produkte führten in den verschiedenen Bereichen und Unternehmen der Glaserzeugung zu jeweils darauf ausgerichteten Schmelztechnologien auf höchst unterschiedlichem Niveau.3

Technische Neuerungen im Überblick Mit der Erneuerung der Produktionsanlage konnte – verzögert durch die Übernahmeund Kreditverhandlungen – erst im zweiten Halbjahr 1970 begonnen werden. Die neue Geschäftsführung erweiterte und modifizierte dabei die bereits seit Mitte der 1960er Jahre entwickelten Investitionsplanungen, zu deren Realisierung dem vorherigen Eigentümer das Geld fehlte. Dies betraf vor allem die Wahl des Energieträgers. Hatte sich Richard Süßmuth nach langwierigen Diskussionen mit seinem technischen Personal für den Wechsel von Kohle auf Öl (als sicherheitsbedachter Zwischenschritt für einen späteren Wechsel auf Gas) entschieden, so wurde die Beheizung der Öfen Ende 1970 auf Erdgas umgestellt.4 Die Hafenöfen wurden bis dahin mit Kohle unter Anwendung des Regenerativverfahrens beheizt. Für die Öl- und Gasbefeuerung waren dagegen kleinere Ofentypen mit Rekuperativverfahren besser geeignet.5 Die früheren Sanierungsüberle-

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Brigitte Aulenbacher und Tilla Siegel, »Perspektiven der Rationalisierungsforschung. Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Diese Welt wird völlig anders sein. Denkmuster der Rationalisierung, Pfaffenweiler 1995, S. 10; Reinhold Reith und Marcus Popplow, »Wandel, technischer«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 14, Stuttgart u.a. 2011, S. 599. Rolf-Jürgen Gleitsmann, »Zur Leistungsfähigkeit von Glasschmelzöfen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Ein Vergleich nach Angaben aus der technologischen Literatur«, in: Glastechnische Berichte 3 (1986), S. 64–75. Auf das gleichnamige Konzept von Ernst Friedrich Schumacher, das seit den 1960er Jahren Eingang in das Vokabular der »Entwicklungspolitik« fand, wird sich hier nicht bezogen. Vgl. Ernst Friedrich Schumacher, Die Rückkehr zum menschlichen Maß, Reinbek bei Hamburg 1980. Rolf-Jürgen Gleitsmann, »Zur Interdependenz von technischer Entwicklung und Arbeitszeitregelung im Glashüttenwesen des 18. und 19. Jahrhunderts«, in: Technikgeschichte 3 (1980), S. 217. Siehe Kapitel 1.2 und Kapitel 1.6; Protokoll Beirat (GHS), 18. Dezember 1970, in: AGI, S. 3. Als Regenerativverfahren wird das auf Friedrich Siemens zurückgehende Verfahren zur Wärmerückgewinnung bezeichnet, bei dem die »Abgaswärme zur Vorwärmung der Verbrennungsluft« genutzt wird, um höhere Betriebstemperaturen zu erzielen. Die zwei Abluftkammern des Ofens (die sogenannten Wärmeregeneratoren bzw. Regenerativkammern) werden dabei abwechselnd von Frischluft und Verbrennungsluft durchströmt. Das Rekuperativverfahren ist ebenfalls ein Verfahren zur Wärmerückgewinnung, bei dem Frischluft- und Abgassystem – im Gegensatz zum Re-

Die Produktion

gungen sahen deshalb die Ablösung der zwei Zehn-Hafenöfen und des Reserve-Ofens mit acht Häfen durch den Neubau von drei bis fünf Fünf- oder Sechs-Hafenöfen und eines Reserveofens vor.6 Während des Betriebsurlaubs im Sommer 1969 wurde unter der Kontrolle der Facharbeiter der »abbruchreife« Ofen II abgetempert und übergangsweise der Reserveofen (Ofen III) in Betrieb genommen.7 Nach der Belegschaftsübernahme konnte jedoch zunächst nur der Neubau von zwei Fünf-Hafenöfen finanziert werden: Im Dezember 1970 ging der erste Fünf-Hafenofen (Ofen II) und nach einigen Verzögerungen im Juni 1971 der zweite Fünf-Hafenofen (Ofen I) in Betrieb.8 Der geplante Neubau von Ofen III erfolgte erst im Frühjahr 1975. Bis Ende 1973 wurde weiterhin am alten Reserveofen produziert. Trotz der Erweiterung der Produktion von zwei auf drei Öfen war somit der Umfang der Produktionskapazitäten bzw. die Anzahl der Werkstellen nahezu unverändert geblieben.9 Eigentlich war auch die Erneuerung der vier Kühlbänder, die Anschaffung eines zusätzlichen fünften Kühlbandes sowie die Umstellung deren Beheizung auf Leichtöl vorgesehen.10 Stattdessen veranlasste der Betriebsleiter [Ewald Lenz] im Dezember 1970, die alten Kühlbänder abzureißen und lediglich neu aufzubauen sowie auf Erdgasbeheizung umzustellen.11 Die geplante Investition in ein fünftes Kühlband tätigte er nicht. Sowohl die Schmelz- als auch die Kühlöfen versah [Lenz] zudem mit einem zuvor nicht besprochenen »automatischen« Steuerungsmechanismus.12 Bis dahin wurden die Öfen von den Hütten- und Schmelzmeistern »nach Augenmaß« bedient, da eine »automatische« Temperaturregulierung nur bei Brennstoffen eingesetzt werden konnte, die konstante Heizwerte und Brennverhalten aufwiesen, was bei Generatorgas nicht der Fall

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generativverfahren – voneinander getrennt sind. Statt eines periodisch arbeitenden Regenerators wird hier daher ein kontinuierlich arbeitender Rekuperator als Wärmeüberträger benötigt. Wolfgang Trier, Glasschmelzöfen. Konstruktion und Betriebsverhalten, Berlin u.a. 1984, S. 3–5, 35–50, 266–269; Günther Nölle, Technik der Glasherstellung, Stuttgart 19973 , S. 92–94. Notiz [Ludwig Hager], 15. Februar 1968, in: FHI, Schöf-1223; [Hans Müller] an [Bertold Ehlers], 30. September 1969, in: FHI, Schöf-1222; Unternehmenskonzeption [Hans Müller], undatiert [Juli 1969], in: Privatarchiv [Müller], S. 5. [Hans Müller] an »Freunde und Mitarbeiter«, 21. August 1969, in: FHI, Schöf-1222; Hermann Lingnau, »Betriebswirtschaftliche Probleme und Perspektiven«, in: Franz Fabian (Hg.), Arbeiter übernehmen ihren Betrieb oder Der Erfolg des Modells Süßmuth, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 89. »Erstes Zeichen eines Neubeginns in Immenhausen. Neuer Schmelzofen bei Süßmuth«, in: Nordhessischer Spiegel, 30. Oktober 1970, in: FHI, Schöf-1225; Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 1. Juni 1971, in: AGI. An den zwei Zehn-Hafenöfen mit insgesamt 20 Häfen seien laut [Paul Nowak] vor der Betriebsübernahme jeweils acht und damit insgesamt 16 Werkstellen besetzt gewesen. Im März 1973 seien laut [Michael Wiege] an den zwei Fünf-Hafenöfen und an dem Acht-Hafenofen mit insgesamt 18 Häfen 17 Werkstellen in Betrieb gewesen. Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] und [Dieter Schrödter], 13. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 24; Bericht [Michael Wiege], 15. März 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 8. Investitionsplan GHS 1967–1968, 30. März 1967, in: AGI; Investitionsplan GHS 1966, gezeichnet von [Ludwig Hager], 22. April 1966, in: FHI, Schöf-1224. Beirat, 18. Dezember 1970 (s. Anm. 4), S. 3; Wert- und Steuerbilanz (GHS), 3. Oktober 1973, in: AGI; Ebenso [Paul Nowak] in Typoskript »Süssmuth e.V. Drei Jahre Selbstverwaltung«, Dokumentarfilm von Gerhard Braun, Reiner Etz und Klaus Volkenborn, 1973, in: FHI, Schöf-1212, S. 6. Lingnau, Probleme (s. Anm. 7), S. 89.

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war.13 »Automatische Beheizung« bedeutete hier keine maschinelle oder computergesteuerte, sondern lediglich eine zentrale Fernsteuerung der Schmelz- und Kühlofenbeheizung.14 Im Bereich der Weiterverarbeitung war der Einsatz einer Reihe neuer technischer Vorrichtungen geplant. Realisiert wurden davon unter anderem im Januar 1971 eine Wasch- und Trockenanlage und im April 1972 ein »Schleifautomat«.15 Im Dezember 1970 wurde ein Gabelstapler zur Erleichterung der bislang vorrangig manuellen Transporttätigkeiten gekauft. Um den Transport zu beschleunigen, ließ [Lenz] in der Weiterverarbeitung Förderbänder aufstellen.16 Die bereits vom vorherigen Führungspersonal anvisierten Eintragbänder zur Beförderung der heißen Glasartikel von den Werkstellen zu den Kühlbändern, die die Tätigkeit der Einträger*innen ersetzen bzw. erleichtern sollten, wurden indes erst im Oktober 1971 angeschafft.17 Aus Perspektive der Beschäftigten war die Produktionstechnik in der Glashütte Süßmuth zum Zeitpunkt der Belegschaftsübernahme abgenutzt und daher in erster Linie erneuerungsbedürftig.18 Der neue und zugleich geschäftsführende Betriebsleiter [Ewald Lenz] strebte dagegen eine – weit über Instandsetzung hinausgehende – »tiefgreifende Modernisierung des Betriebs« an.19 Frühere von den betriebsinternen Fachleuten zum Teil über Jahre konzipierte Pläne überging er in zahlreichen Punkten und setzte stattdessen seine eigenen Vorstellungen um.20 Insbesondere zu Beginn der Sanierung gab es außergewöhnlich große Schwankungen in der Qualität der Glasschmelze. Die technischen Neuerungen bewirkten zunächst eine temporär hohe Mängelproduktion und verlustreiche Produktionsausfälle. Diese Probleme waren im Wesentlichen auf vier miteinander verwobene Ursachenkomplexe zurückzuführen.

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Protokoll Gespräch mit [Walter Albrecht], 15. Juli 1993, erstellt von Friedrich-Karl Baas, in: AGI, S. 3; Sanierungsplan, gezeichnet von [Ernst Rohde], 30. Oktober 1968, in: Privatarchiv [Müller], S. 1; Hans Joachim Hirsch, »Beheizung eines Hafenofens der Rundofenbauart mit Flüssiggas«, in: Glastechnische Berichte 3 (1965) S. 92–98. [Pavel Marek] in Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Frank Weber], [Pavel Marek], [Klaus Liebscher] und zwei namentlich nicht bekannten Arbeiter*innen, 14. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 4. Lingnau, Probleme (s. Anm. 7), S. 89. Zur Disposition standen zudem Investitionen in eine Säurepolituranlage, eine Sägestraße, eine Gemengeeinlegemaschine, eine Scherbenaufbereitungsmaschine oder eine Wasserreinigungs- und Rückgewinnungsanlage, die nicht oder erst am Ende der Selbstverwaltung getätigt wurden. [Müller], [Juli 1969] (s. Anm. 6), S. 6f.; Investitionsplan GHS, 14. Juni 1971, in: AGI; Protokoll Beirat (GHS) [Version 2], 17. März 1975, in: AGI. Mit dem Bau der Förderbänder wurde im Februar 1971 begonnen, im März 1971 gingen sie in Betrieb. Protokoll Technischer Ausschuss (GHS), 23. Februar 1971, in: FHI, Schöf-1228; Lingnau, Probleme (s. Anm. 7), S. 89. Investitionsplan 1966 (s. Anm. 10), S. 3f.; Lingnau, Probleme (s. Anm. 7), S. 89. Siehe Kapitel 1.6. [Ewald Lenz] zitiert in Nordhessischer Spiegel, 30. Oktober 1970 (s. Anm. 8). [Ewald Lenz] hatte bei seiner Bewerbung im Mai 1970 einen Sanierungsplan vorgestellt, der erheblich von jenem den Kreditverhandlungen zugrunde gelegten und von den betriebsinternen Fachleuten konzipierten Investitionsplan abwich. Rudolf Segall von der IG-Chemie-Bezirksleitung Hessen verpflichtete [Lenz] darauf, vorerst keine weiteren Investitionen vorzuschlagen. Rudolf Segall an [Ewald Lenz], 20. Mai 1970, in: Privatarchiv Siebert.

Die Produktion

Probleme bei der Sanierung der Produktionsanlage An erster Stelle sind die Gleichzeitigkeit und der so fundamentale wie experimentelle Charakter der technischen Neuerungen anzuführen. Mit der Umstellung von Braunkohle auf Erdgas entwickelte sich die Glashütte Süßmuth von einer beheizungstechnischen »Nachzüglerin« zu einer Vorreiterin in der Mundglasbranche, in der zum damaligen Zeitpunkt die Beheizung mit Öl oder Flüssiggas üblich war. Als eine der letzten Mundglashütten der Bundesrepublik, die noch mit Kohle heizte, war sie auch insofern ein Präzedenzfall, als hier die Umstellung nicht von Öl – wie später in den meisten anderen Glashütten –, sondern von Generatorgas auf Erdgas erfolgte. Seit dem Auffinden neuer Vorkommen in Norddeutschland Anfang der 1960er Jahre war Erdgas auch für die energieintensive Glasindustrie interessant geworden. Der im Vergleich zu anderen Energieträgern höhere Heizwert, die Aussicht auf einen Ausbau des Erdgasleitungsnetzes, auf günstige Preise und die Forschungsergebnisse der Deutschen Glastechnischen Gesellschaft ließen seit Mitte der 1960er Jahre vermuten, dass Erdgas ein zukunftsträchtiger Brennstoff werden würde.21 Branchenvertreter bezeichneten Erdgas als einen »sauberen« und wirtschaftlicheren Brennstoff, betonten allerdings, eine Umstellung der Schmelzanlage werde mit Anfangsschwierigkeiten verbunden sein.22 Praktische Erfahrungswerte im Umgang mit solchen Problemen im Betriebsalltag – insbesondere bei der Beheizung von Hafenöfen mit ihrem periodischem Temperaturverlauf – existierten Ende der 1960er Jahre kaum.23 Aufgrund des Umfangs der Neuerungen an jenen Aggregaten, von denen die gesamte Existenz des Unternehmens abhing, hatte sich die vorherige Betriebsleitung bei ihren Planungen darum bemüht, das Risiko möglichst gering zu halten und sich deshalb für Öl entschieden, obwohl ihr die Vorzüge und vor allem die Kostenvorteile von Erdgas durchaus bekannt waren.24 An den guten Erfahrungen des »befreundeten Kristallglaswerk[s] Hirschberg« hatte sie sich auch hinsichtlich der »ölbeheizten Kühlbänder« orientiert, die eine stabile Temperaturführung versprachen.25 Diese Sicherheitsvorkehrung einer schrittweisen Umstellung auf eine sich in anderen Mundglashütten bereits bewährte Heiz-, Schmelz- und Kühltechnik griff der neue Betriebsleiter [Lenz] jedoch nicht auf. Zweitens verursachten etliche von der Geschäfts- und Betriebsleitung ohne Rücksprache mit den betriebsinternen Fachleuten initiierte technische Neuerungen große Probleme, weil sie nicht an die Bedingungen des Fertigungsverfahrens in einer

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Hans Buschmann, »Erdgas in der Glasindustrie«, in: Glastechnische Berichte 3 (1965), S. 88–92; Katharina Eisch, Die Eisch-Hütte. Portrait einer Bayerwald-Glashütte im 20. Jahrhundert, Grafenau 1988, S. 72f. Hans Windmann, »Erfahrungen bei der Umstellung einer Hohlglashütte von Öl- auf Erdgasbeheizung«, in: Glastechnische Berichte 9 (1967), S. 344–347. Rudolf Lindow, »Erdgas im Wettbewerb auf dem Energiemarkt«, in: Glastechnische Berichte 1 (1970), S. 276–280. Investitionsplan 1966 (s. Anm. 10); Notiz Richard Süßmuth, 4. Juni 1968, in: Privatarchiv [Müller]. Geplant war der Bau »moderne[r] [ölbefeuerter] Schmelzöfen eines Bautyps […], die in anderen Betrieben bereits jahrelang erprobt [waren] und sich [zu einem späteren Zeitpunkt] jederzeit auch mit Erdgas oder Flüssiggas beheizen lassen.« Sanierungsplan, 30. Oktober 1968 (s. Anm. 13), S. 1. Investitionsplan 1966 (s. Anm. 10), S. 4.

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Mundglashütte angepasst waren. Mit der neuen »automatischen« bzw. zentralisierten Temperaturregulierung an den Hafenöfen und Kühlbändern ließen sich beispielsweise die jeweils erforderlichen periodischen Temperaturverläufe schwer einhalten, was eine mangelhafte Qualität der Glasschmelze zur Folge hatte. Unmittelbar nach [Lenz’] Entlassung beschloss die Abteilungsleiterkonferenz daher die zeitweilige Wiederumstellung auf »Handregelung«.26 Auch unter dem Betriebsleiter [Rudolf Woge] hat die »automatische« Beheizungstechnik nicht funktioniert. Im November 1973 hielt die Gesellschafterversammlung resigniert fest, dass die »ganze Automatik […], die eine Menge Geld gekostet hat, überhaupt keinen Sinn« mache.27 Als weiteres Beispiel sind die im ursprünglichen Sanierungsplan ebenfalls nicht vorgesehenen, von [Lenz] gekauften Förderbänder in der Weiterverarbeitung anzuführen. Diese Transport-Technik, die seit der Einführung in der Automobilproduktion durch Henry Ford als Inbegriff für eine effiziente Fertigung galt, führte in der Glashütte Süßmuth nicht zu einer Beschleunigung des Arbeitsflusses, sondern wurde vielmehr zum Hindernis. [Lenz] hatte die falschen Bänder gekauft, die sich für den Transport von nassen Glasartikeln nicht eigneten.28 Die nach seiner Entlassung ausgetauschten Bänder waren zwar für das Arbeiten in feuchter Umgebung geeignet; doch die Anlage stand den Beschäftigten letztlich im Weg und wurde später nur noch »als Ablagetisch benutzt«.29 Schließlich erwiesen sich auch Neuerungen der Stoffformungstechnik in der Weiterverarbeitung als unangemessen. Die Geschäftsführung investierte in »Spreng- und Schleifautomaten«, die im Unterschied zu den bislang eingesetzten Anlagen tatsächlich der Maschinen-Werkzeug-Technik zuzurechnen waren.30 Über die Hintergründe dieser Anschaffung liegen nur wenige Informationen vor, da die Belegschaftsgremien an diesen Investitionsentscheidungen nicht beteiligt wurden. Überliefert ist aber die Kritik der Beschäftigten, die an diesen neuen Maschinen bzw. mit den von diesen bearbeiteten Werkstücken arbeiten mussten. So klagte ein schon mehr als zwanzig Jahre in der Firma tätiger Rauschleifer, dass diese neue Technik ihm größere Schleifbemühungen abverlange und auch den »Sprengerinnen […] viel Ärger« verursache.31 Von einem »Reinfall« sprach die ebenfalls langjährig im Betrieb arbeitende Rauschleiferin [Anna Thiele].32 Aufgrund des Mundblasverfahrens und der Einblasformen aus Holz wichen die Maße der Artikel

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Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 5. April 1971, in: AGI. Transkript Gesellschafterversammlung, 13. November 1973, im Besitz der Autorin, S. 7; Ähnlich [Pavel Marek] in [Weber] et al., 14. Dezember 1973 (s. Anm. 14), S. 4. Das für »nasse Arbeiten« bzw. für den Transport der zur Weiterverarbeitung gewässerten Glasartikel ungeeignete Gummiband habe sich an den »Blechen festgesaugt«, was den Motor überlastete, und konnte sich folglich »gar nicht mehr fortbewegen«. »Zeitweise [mussten] sieben bis acht Frauen […] oben an dem Band anfassen und nach dem Motto ›Hau-Ruck‹ dann die Produktion einen halben Meter« ziehen. Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Manfred Hübner], [Frank Weber], [Anna Thiele] und namentlich unbekanntem Betriebsratsmitglied, 26. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 23. Ebd.; Bericht RKW Hessen über die Betriebsberatung der GHS, 18. Februar 1972, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 9; Braun et al., 1973 (s. Anm. 11), S. 23. Situationsbericht Geschäftsführung (GHS), 22. Oktober 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 9. Braun et al., 1973 (s. Anm. 11), S. 23. [Anna Thiele] zitiert in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28), S. 23.

Die Produktion

stets leicht voneinander ab. Diese Schwankungen konnten von der Maschine nicht berücksichtigt werden. Folglich blieb oftmals noch abzuschleifendes Material am Artikel stehen und erhöhte damit den Arbeitsaufwand bei nachfolgenden Schleifgängen. Eben weil »jedes Glas anders« war, musste jedes »wieder anders« gesprengt werden, »einmal mehr und einmal weniger«, so dass auch die Sprengerin [Ria Ulrich] den »Automaten« kein positives Urteil ausstellte.33 Zudem waren diese neuen Maschinen oftmals defekt, konnten vom betriebseigenen Schlosser aufgrund mangelnder Erfahrungen aber nur ungenügend gewartet werden. Das letzte Beispiel macht deutlich, dass Investitionen in an die Mundglasfertigung unangepasste Technik nicht allein ein Problem des Betriebsleiters [Lenz] blieb. Um sich über die Erfahrungen mit einem »Abschmelzautomaten« zu informieren, habe der seit Ende 1971 allein amtierende Geschäftsführer [Hans Müller] zusammen mit dem Betriebsleiter [Rudolf Woge] und dem Vertriebsleiter [Jürgen Schmitz] ein Glasunternehmen in Kopenhagen besucht, in dem die Produktion vollautomatisiert gewesen sei.34 Während sich der Geschäftsführer und die leitenden Angestellten sehr beeindruckt zeigten und zum Kauf der über 60.000 DM teuren Maschine entschlossen gewesen seien, bewertete der Glasmacher [Paul Nowak] – der als Vertreter des technischen Ausschusses mitgereist war – diese für die Produktion der Glashütte Süßmuth aufgrund der Artikelvielfalt und der geringfügig variierenden Maße der mundgeblasenen Glasartikel als höchst ungeeignet und prognostizierte, die Anschaffung einer solchen »starren« Spezialmaschine sei »rausgeschmissenes Geld«.35 In diesem Fall konnte der technische Ausschuss die Anschaffung der in Kopenhagen besichtigten Abschmelzmaschine verhindern. Zu einem späteren Zeitpunkt investierte die Geschäftsführung jedoch – ohne den technischen Ausschuss zu konsultieren – in eine andere Abschmelzmaschine, die sich in der Anwendung als problematisch erwies und im Sommer 1976 schon nicht mehr genutzt wurde.36 Die vom Führungspersonal übergangenen Bedenken des technischen Ausschusses hatten sich offensichtlich bewahrheitet. Vorschläge zur Anschaffung von neuer Technik aus dem Facharbeiterkreis – wie jene des Abteilungsleiters der Weiterverarbeitung [Erich Peters] – berücksichtigte die Leitung hingegen nicht. Im Mai 1971 hatte [Peters] im Auftrag der damals noch kollektiven Geschäftsführung das Kristallglaswerk Hirschberg besucht, um sich mit den Beschäftigten über Erfahrungen mit verschiedenen technischen Geräten auszutauschen. Da ihn die hier eingesetzten Abspreng- und Schleifmaschinen beeindruckten und er sich von ihnen »wesentliche Rationalisierungseffekte« versprach, empfahl er dem geschäftsführenden Ausschuss ihre Anschaffung.37 Mit den Maschinen der gleichen Firma hatte auch die Glashütte Eisch sehr positive

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[Ria Ulrich] in Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Helga Wermke], [Ria Ulrich], [Monika Weber], [Rosa Schrödter] und namentlich unbekanntem Kollegen, 2. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 35f. Folgendes aus Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak], 6. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 6–8. »… die dauernde Umstellerei! Die Umstellung dauert meines Erachtens 20 Minuten bis eine halbe Stunde. Und da läuft der Automat drei Stunden am Tag, fünf Stunden steht er still.« Ebd., S. 8. Protokoll Klausur Geschäftsleitung (GHS), 16. Juli 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 3. Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 24. Mai 1971, in: AGI.

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Erfahrungen gemacht. Hierdurch seien mindestens »12 Frauen eingespart« worden, wie Erich Eisch im September 1976 bei einem Besuch in Immenhausen berichtete.38 Ein dritter Faktor für die Probleme während der Sanierung lag somit in der auch nach der Belegschaftsübernahme fortbestehenden Tendenz zur exklusiven Entscheidungsfindung der Betriebs- und Geschäftsführung. Angesichts der Komplexität des Sanierungsvorhabens konnte das Leitungspersonal zwar nicht für alle Schwierigkeiten im Betrieb verantwortlich gemacht werden. Als sich die Probleme zuspitzten, hätte sich aber der Betriebsleiter zumindest mit den leitenden Facharbeitern der jeweiligen Abteilungen in der Produktion absprechen müssen, um hierfür gemeinsam Lösungen zu finden. Doch [Ewald Lenz] widmete den bei der Sanierung auftretenden Schwierigkeiten nicht die notwendige Aufmerksamkeit. Seine als unzuverlässig wahrgenommene Arbeitsweise, seine eigenmächtigen Beschlüsse und der generelle Modus der Zusammenarbeit mit den Belegschaftsgremien gerieten ins Zentrum einer sich verdichtenden Kritik.39 [Lenz] wurden eine schlechte Planung, Kontrolle und Beaufsichtigung der Sanierungsmaßnahmen und insbesondere des Neubaus der Schmelzöfen vorgeworfen. Den ersten neugebauten Ofen hatte er zu schnell in Betrieb genommen. Statt allmählich in vier bis acht Wochen (wie eigentlich üblich) hat er ihn in zwei Wochen »hochgetempert«, wodurch dieser Ofen »nach kurzer Zeit schon Risse« aufwies.40 Durch Überhitzung des Ofens begannen sich am Wochenende nach der Inbetriebnahme die Häfen zu deformieren. [Lenz] war nicht erreichbar, was umso fataler war, da er es versäumt hatte, die Schmelzer in die Betriebsweise des neuen Ofens einzuweisen. Durch Improvisationen gelang es den anwesenden Facharbeitern, den Temperaturverlauf wieder unter ihre Kontrolle zu bringen; den Zusammenbruch des Ofens konnten sie hierdurch verhindern. Das Thermostat des Kühlbands war bei dieser Rettungsaktion jedoch zu Schaden gekommen, wodurch sich die Temperatur schwerer regulieren ließ. Grundsätzliche Fehler hatte [Lenz] auch beim Neubau des zweiten Ofens zu verantworten, der am 13. März 1971 – zwei Tage nach seiner Kündigung – von der Ofenbaufirma an die Glashütte Süßmuth übergeben wurde.41 Obwohl [Lenz] noch bis Ende März 1971 im Dienst des Unternehmens stand und als Auftraggeber zur Anwesenheit verpflichtet war, fehlte er bei der Ofenübergabe. Kurz darauf entdeckte der Hüttenmeister [Gerhard Schinkel], dass an dem neuen Ofen die Eisenträger nicht im Boden verankert waren.42 Diese grobe Verletzung der Aufsichtspflicht durch den Betriebsleiter hätte im schlimmsten Fall – dem Auseinanderfallen des neugebauten Ofens – die Sicherheit der Beschäftigten gefährdet und das Ende des Unternehmens bedeutet. Darüber hinaus hatte [Lenz] beim Neubau beider Öfen die in den früheren Sanierungsplänen angestreb-

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Notiz [Harald Meier], 30. September 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen. Technischer Ausschuss an Gesellschafter (GHS), 10. Dezember 1970, in: FHI, Schöf-1221; Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 11. März 1971, in: FHI, Schöf-1228. Folgendes aus [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28), S. 23–27; Technischer Ausschuss, 10. Dezember 1970 (s. Anm. 39). Protokoll Ofenübergabe (GHS), 13. März 1971, in: FHI, Schöf-1228. Protokoll Technischer Ausschuss (GHS), 15. März 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 1. Zur Notwendigkeit der Verankerung von Glasschmelzöfen durch umfangreiche Stahlkonstruktionen siehe Trier, Glasschmelzöfen (s. Anm. 5), S. 56–62; Nölle, Technik (s. Anm. 5), S. 90.

Die Produktion

te Verbesserung des Be- bzw. Entlüftungssystems verfehlt.43 Aufgrund eines weiterhin ungünstigen Absaugmechanismus verbrauchten die neuen Öfen mehr Gas als bei der Investitionsplanung veranschlagt worden war.44 Die Ofenbaufirma wäre wegen der Probleme mit der »Brennerautomatik« an beiden Öfen zu Garantieleistungen verpflichtet gewesen, konnte diese jedoch mit vorgeschobenen Argumenten und aufgrund einer mangelhaften Absprache des Betriebsleiters bei der Auftragsvergabe abweisen.45 Grundlegende Fehler unterliefen [Ewald Lenz] auch bei der Erneuerung der Kühlbänder. Weil er sich nicht mit den Facharbeitern im Betrieb abgestimmt hatte, waren ihm deren frühere Überlegungen entgangen, dass durch eine »räumlich günstigere Anordnung« der Kühlbänder zu den »neuen Öfen« Platz für ein weiteres Kühlband und für die Eintragbänder geschaffen werden sollte.46 [Lenz] hielt hingegen die vorherige Anordnung bei, weshalb beispielsweise nur ein Eintragband »zwischen Ofen II und Kühlband« aufgestellt werden konnte.47 Der geplante Bau eines weiteren Eintragbandes wurde dadurch teurer. Darüber hinaus erwiesen sich die von [Lenz] gekauften Schleifbänder als »unbefriedigend«; sie mussten bereits nach 1.800 Stück ausgewechselt werden, während mit den bis dahin angewandten »normale[n]« Bändern 2.500 Gläser geschliffen werden konnten.48 Der Betriebsleiter stand insgesamt in der Kritik, nicht sorgfältig und sparsam mit den knappen Finanzmitteln umgegangen zu sein. Die Anschaffung der Transportbänder für die Weiterverarbeitung im Wert von 42.000 DM habe er »ohne Nutzen- und Leistungsberechnung, wie bei einem Staubsaugerkauf getätigt«.49 Ohne Kostenvoranschläge habe er »Auftreibtrommeln« bauen lassen, die »um das fast zehnfache überbezahlt« worden seien.50 Statt die alten Ätzbehälter aufarbeiten zu lassen, habe er einfach neue bestellt.51 Dass [Lenz] durch seine eigenmächtig getroffenen (Fehl-)Entscheidungen maßgeblich zu einer Verteuerung der Instandhaltung der Produktionsanlage beitrug,52

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[Müller], [Juli 1969] (s. Anm. 6), S. 6. Für den Gasverbrauch wurden im Oktober 1971 insgesamt 10.000 DM mehr aufgebracht als zuvor veranschlagt. Technischer Ausschuss, 23. Februar 1971 (s. Anm. 16); Abteilungsleiterkonferenz, 5. April 1971 (s. Anm. 26); Geschäftsführung, 22. Oktober 1971 (s. Anm. 30), S. 7. Die Ofenbaufirma behauptete u.a., die Probleme seien auf die Beschäftigten zurückzuführen, die beim Ofenneubau mithalfen. Dabei waren sie lediglich beim Abriss der alten Öfen involviert gewesen. Protokoll Beirat (GHS), 17. Dezember 1974, in: AGI, S. 2f.; Protokoll Gesellschafterversammlung, 13. November 1973, in: AGI, S. 3f. Entwurf Investitionsplan (GHS), gezeichnet von [Ludwig Hager], 2. Mai 1968, in: FHI, Schöf-1223, S. 2; [Müller], [Juli 1969] (s. Anm. 6), S. 5–7. RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 29), S. 22. Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 16. Juni 1971, in: AGI. RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 29), S. 9. Gesellschafterversammlung, 11. März 1971 (s. Anm. 39), S. 1. »Auftreibtrommeln« waren kleine Öfen, in denen die Glasartikel zum Zwecke der Weiterverarbeitung oder heißen Veredelung erwärmt wurden. Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 14. März 1971, in: AGI, S. 3. Dies betraf auch die Kosten für den Neubau der Öfen, die durch [Lenz’] mangelhafte Auftragserteilung und Beaufsichtigung höher als geplant ausfielen. Gesellschafterversammlung, 11. März 1971 (s. Anm. 39), S. 1.

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wog für die Beschäftigten besonders schwer – leisteten sie doch nach der Betriebsübernahme unbezahlte Mehrarbeit, um die Kosten der Sanierung möglichst gering zu halten. So hatte ein großer Teil der Belegschaft im Anschluss an ihren Achtstundentag und während ihrer Freizeit geholfen, die alten Öfen und Kühlbänder abzureißen, und zur Wiederverwendung für den Bau der neuen Öfen die Schamottesteine der alten abgeklopft. Dies sei »eine sehr anstrengende Arbeit« gewesen, habe aber eine Summe von ungefähr 70.000 DM eingespart.53 Sowohl in fachlicher und persönlicher Hinsicht als auch hinsichtlich der Berücksichtigung der Selbstverwaltungsstrukturen hatte der neue technische Leiter die Erwartungen der Belegschaft enttäuscht. Weder beriet er sich mit den erfahrenen Facharbeitern im Betrieb über anstehende Investitionen oder beteiligte die Belegschaftsgremien an seinen Entscheidungen noch informierte er diese hierüber im Vorfeld oder war bei Notfällen in der Produktion erreichbar. Die Beschäftigten hatten keinen Einblick in [Lenz’] Sanierungspläne und konnten diese – vor vollendete Tatsachen gestellt – lediglich in der betrieblichen Praxis kritisieren. Sahen sich die Belegschaftsgremien damit in einer ähnlichen Situation wie unter der Betriebsleitung von [Ludwig Hager], hatten sie nun jedoch die Möglichkeit, entsprechende Konsequenzen daraus zu ziehen: Am 11. März 1970 sprach die Gesellschafterversammlung [Lenz] die Kündigung aus.54 Erst im Anschluss offenbarte sich den Beschäftigten das gesamte Ausmaß seiner Fehlentscheidungen. Hatte sich ihre Einflussnahme bis dahin auf die Improvisationen zur Abfederung akuter Notsituationen beschränkt, konnten sie seit März 1971 – wenn auch nur für kurze Zeit – direkten Einfluss auf die den Bereich der Produktion betreffenden Entscheidungen nehmen. Im Rahmen der Abteilungsleiterkonferenz und des geschäftsführenden Ausschusses bemühten sich die Belegschaftsvertreter*innen im Folgenden, [Lenz’] Fehler rückgängig zu machen und die Sanierung fortzusetzen. Sie fanden hierfür noch ungünstigere Bedingungen vor als unmittelbar nach der Betriebsübernahme: Ein großer Teil dieser Fehler war nicht revidierbar – vor allem jene beim Neubau der Schmelzöfen, die anhaltende Probleme bei der Temperaturführung verursachten, zu erhöhtem Gasverbrauch führten und die Qualität der Glasschmelze während der gesamten Selbstverwaltung wie auch darüber hinaus negativ beeinflussten.55 [Lenz’] Fehlentscheidungen erhöhten die Kosten der Sanierung und zogen verlustreiche Mangelproduktionen nach sich, wodurch die eh knapp bemessenen Kreditmittel für andere notwendige Investitionen nicht mehr zur Verfügung standen. Ein vierter Grund für die Schwierigkeiten während der Sanierung war schließlich die nur zögerliche und im September 1971 abrupt unterbrochene Kreditmittelfreigabe durch 53

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Zugleich sollte hierdurch der Ofenneubau beschleunigt werden, da die Lieferzeiten für die feuerfesten Tonsteine damals bei mindestens acht Monaten lagen. Gruppengespräch Glasmacher in Braun et al., 1973 (s. Anm. 11), S. 6; Notiz [Ernst Rohde], 6. Oktober 1969, in: Privatarchiv [Müller]. Gesellschafterversammlung, 11. März 1971 (s. Anm. 39). Siehe Kapitel 4.2. Noch 1982 klagte der Betriebsrat über die Schwierigkeiten, »die Kühlung und die Gründe für den Ausfall in den Griff zu bekommen«, weil »von der Geschäftsführung in der Vergangenheit bei der Errichtung des neuen Ofens und der Aufstellung der Kühlbänder (zu weit vom Ofen weg) Fehler unterlaufen sind.« Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Pavel Marek], 2. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 1; Protokoll Beirat (GHS), 9. Mai 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2; Protokoll Betriebsrat (GHS), 7. Juli 1982, in: AGI, S. 1.

Die Produktion

die Landeskreditkasse Kassel (LKK).56 Die Probleme der Sanierung wirkten sich negativ in den betriebswirtschaftlichen Kennziffern aus, was die Vertreter der Bank als Zeichen einer unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit bewerteten. Der geplante Neubau von Ofen III konnte daher ebenso wie die Investition in ein zusätzliches fünftes Kühlband zunächst nicht realisiert werden, was wiederum die materiellen Bedingungen in der Produktion nachhaltig verschlechterte. Folglich blieb der alte Acht-Hafenofen (Ofen III) weiterhin in Betrieb, der nunmehr – obwohl kleinere Ofeneinheiten für die neue Heiztechnik besser geeignet waren – mit Erdgas beheizt wurde.57 Die Dringlichkeit zur Ausweitung der Kühlkapazitäten erhöhte sich mit der angestrebten Produktionssteigerung. Die Anschaffung zusätzlicher Kühlbänder hätte die Verteilungsmöglichkeiten der Glasartikel je nach notwendiger Kühldauer verbessert und so zu einer Reduktion der Bruchzahlen geführt. Im technischen Ausschuss wurde über die Möglichkeit diskutiert, durch den Kauf von gebrauchten Kühlbändern die Anschaffungskosten zu reduzieren, aber erst im Herbst 1972 wurde ein fünftes – offensichtlich gebrauchtes – Kühlband aufgestellt.58 Noch im Juni 1973 mussten 30 Prozent der Glasmasse in den Häfen ungenutzt bleiben, weil die »Kühlkapazität zu klein« war.59 Die restriktive Kreditpolitik erzwang unter improvisierten Bedingungen ein Abweichen vom ursprünglichen Sanierungskonzept und zeigte auf, welch enormen Einfluss die Gläubiger damit indirekt auf die Entwicklungen im Betrieb und den Verlauf der Selbstverwaltung nahmen. Angesichts der für die Rentabilität einer Mundglashütte immensen Bedeutung der Schmelz- und Kühlaggregate sowie der verhältnismäßig geringen Summen, die beispielsweise für den Neubau eines Kühlbandes benötigt wurden,60 ist das Zurückhalten der schon bewilligten und dringend benötigten Investitionsmittel auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar. Es konnte der Eindruck entstehen, der Fortbestand der selbstverwalteten Glashütte sollte bewusst verhindert werden. Ein schnelles Scheitern an möglichst betriebsinternen Faktoren dürfte für die Hessische Landesregierung, für die der Fall Süßmuth ein Politikum blieb, eine gewisse Attraktivität besessen haben. Wird hingegen keine zielgerichtete und dezidiert politische Intention unterstellt, ist der ausschlaggebende Grund für die nur zögerliche Freigabe der vom Land Hessen teilverbürgten und von der Landesbank bewilligten Kredite in deren bereits in den Kreditverhandlungen gezeigtem Misstrauen gegenüber dem Belegschaftsunternehmen zu suchen. Ihre ausgesprochen großen Zweifel schienen sich

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Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 30. September 1971, in: FHI, Schöf-1228. Siehe Kapitel 7.3. Der vorherige Betriebsleiter hatte dagegen den Weiterbetrieb eines Kohlegasgenerators geplant, solange wie an dem 1956 als Reserveofen gebauten Ofen III gearbeitet wurde. Investitionsplan 1967–1968 (s. Anm. 10); [Ludwig Hager], 15. Februar 1968 (s. Anm. 6); Investitionsplan, 2. Mai 1968 (s. Anm. 46). Notiz Technischer Ausschuss (GHS), 28. Mai 1972, in: FHI, Schöf-1227; Protokoll Technischer Ausschuss (GHS), 27. Juni 1972, in: FHI, Schöf-1227; Lingnau, Probleme (s. Anm. 7), S. 89; Wert- und Steuerbilanz, 3. Oktober 1973 (s. Anm. 11). Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 3. Juni 1973, in: FHI, Schöf-1226. Ein neues Kühlband kostete zwischen 60.000 und 65.000 DM. Die Kosten für den Neubau eines Fünf-Hafenofens bewegten sich zwischen 200.000 DM und 220.000 DM. Technischer Ausschuss, 27. Juni 1972 (s. Anm. 58), S. 19; Lingnau, Probleme (s. Anm. 7), S. 89.

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angesichts der im ersten Jahr der Selbstverwaltung auftretenden Probleme zu bestätigen. Zugleich lagen dieser Skepsis spezifische Technikvorstellungen und -erwartungen zugrunde, die ihre Deutungen von der betrieblichen Problemlage sowie ihr Handeln prägten und die mit dazu beitrugen, dass die produktionstechnische Sanierung ein Dauerzustand blieb.

Technikvorstellungen und -erwartungen Die vielfältigen Probleme während der Erneuerung der Produktionstechnik wurden nicht nach außen kommuniziert, was auf das Interesse der belegschaftseigenen Firma an einer werbewirksamen Selbstdarstellung zurückzuführen sein dürfte. Bezeichnenderweise fehlte in der 1973 ausgestrahlten Dokumentation Süssmuth e.V. jene aus dem Typoskript zitierte Szene der Betriebsversammlung, in der Beschäftigte die in der Weiterverarbeitung neu aufgestellten Maschinen heftig kritisierten.61 Journalisten wie Heinz Michaels bewerteten die Sanierung in der selbstverwalteten Glashütte als eine erfolgreiche »Modernisierung«: »Erdgas statt […] selbsterzeugte[m] Generatorgas«, »Transportbänder« statt »Kistenschleppen«, »Schleifautomaten« statt »altertümlich[e] Schleifbänder« – in nur zwei Jahren habe die Investition von »knapp 1,1 Millionen Mark« zu einer Umsatzsteigerung von vier auf sechs Millionen DM geführt.62 In dieser verkürzten Darstellung brachte der Journalist die auch in den geschäftsführenden Gremien verbreitete Vorstellung zum Ausdruck, dass sich technische Neuerungen als Synonym für Maschinisierung unmittelbar in den betriebswirtschaftlichen Kennzahlen zu zeigen hatten. Über die Notwendigkeit, den Fertigungsprozess effizienter und damit kostengünstiger zu gestalten, waren sich alle Beteiligten einig. Die Vorstellungen darüber, wie ökonomische Effizienz in einer Mundglashütte herzustellen war, welche Rolle Technik bei der Erreichung dieses gemeinsamen Zieles zukommen konnte, woran und wie schnell sich ihr Erfolg überhaupt bemessen ließ, gingen jedoch weit auseinander. Der geschäftsführende Betriebsleiter [Ewald Lenz] versprach unverzügliche Erfolge allein durch Investitionen in neue Energie- und Schmelz-Technik.63 Für das Jahr 1971 erhoffte er sich hiervon nichts Geringeres als eine umfassende Einsparung von Brennmaterial- und Lohnkosten, eine Senkung der Bruchquote von dreizehn auf zwei Prozent, eine Steigerung der täglichen Produktion von drei auf fünf Tonnen sowie insgesamt eine Verbesserung der Glasqualität. Die von ihm eigenmächtig getätigten Investitionen sowie der von ihm für die zweite Jahreshälfte 1971 geplante Bau einer Glasschmelzwanne und einer Sägestraße offenbarten, dass [Lenz] sich an einer Produktionstechnik orientierte, die er bei seiner vorherigen Tätigkeit als Ingenieur in der Glashütte Wisthoff in Essen-Steele vorgefunden hatte.64 Hier wurden in maschinellen Verfahren standardi61

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Gerhard Braun, Reiner Etz und Klaus Volkenborn (Reg.), Süssmuth e.V. Drei Jahre Selbstverwaltung (Dokumentarfilm), 1973, Online: https://dffb-archiv.de/dffb/suessmuth-ev-drei-jahre-selbstverwa ltung; Braun et al., 1973 (s. Anm. 11), S. 23f. Heinz Michaels, »Die Hütte der Arbeiter. Können Lohnempfänger gleichzeitig Unternehmer spielen?«, in: Die Zeit, 5. Januar 1973, in: FHI, Schöf-1225, S. 28. Folgendes aus Beirat, 18. Dezember 1970 (s. Anm. 4), S. 3. Folgendes aus Steeler Archiv, Die Geschichte der Glasindustrie in Steele, in: Steeler Archiv; Prospekt Glashütte Wisthoff, undatiert, in: Steeler Archiv.

Die Produktion

sierte Hohlglasartikel in großen Serien und vor allem Glasverpackungen für die pharmazeutische Industrie produziert. Die Glashütte Wisthoff war damit dem von hoher Kapital- und geringer Arbeitskräfteintensität geprägten Produktionsformat der mass production zuzurechnen. Die hierbei angewandte Maschinen-Werkzeug-Technik schien [Lenz] auch für die Mundglashütte Süßmuth geeignet, um die Effizienz der Fertigung zu steigern. Zudem setzte er nicht auf bewährte, sondern auf die in der Branche neueste Technik. Die im Beirat versammelten betriebs- wie branchenfremden Vertreter der Geldgeber, Bürgen und Gewerkschaft interessierten sich weniger für die Technik im Konkreten als vorrangig für deren Effekte. Wie der Betriebsleiter erwarteten sie von der Anschaffung neuer Produktionstechnik die Gewährleistung eines fehlerfreien Arbeitsablaufs. Die Investitionen sollten unmittelbar zu einer Erhöhung der Produktivität und einer umfassenden Kostenersparnis führen.65 Die Unternehmensentwicklung bewertete der Beirat ausschließlich entlang dieser Kennziffern und branchenunspezifischen Vorstellungen von deren rentabilitätssichernden Höhe, wovon wiederum die LKK die Auszahlung der Kreditmittel abhängig machte.66 Vor allem der Lohnkostensenkung und Personalersparnis kam im Beirat Priorität zu.67 Folglich orientierte sich die von ihm abhängige Geschäftsführung auch nach der Entlassung von [Ewald Lenz] – wie das Beispiel der Spreng- und Schleifmaschinen in der Weiterverarbeitung veranschaulichte – an jener Maschinen-Werkzeug-Technik, die in Großbetrieben mit Massenproduktion üblich war. Eine arbeitskraftersetzende Technik, die eine Produktionssteigerung bei gleichzeitiger Senkung der Personalkosten ermöglicht hätte, stand allerdings in der weiterhin arbeitskräfteintensiven Mundglasbranche nur in sehr begrenztem Maße zur Verfügung.68 Auch für die Belegschaftsgremien war der zu erwartende betriebswirtschaftliche Effekt – wie insbesondere die Kritik an der unökonomischen Vorgehensweise des Betriebsleiters [Lenz] verdeutlichte – oberster Maßstab bei der Entscheidung für oder gegen eine technische Neuerung. In ihre Bewertung bezogen sie indes auch deren Auswirkungen sowohl auf die Arbeitsbedingungen als auch auf die Qualität der Produkte mit ein. Sie griffen dabei auf eigene Erfahrungswerte und auf die anderer Mundglashütten – wie beispielsweise der Glashütte Hirschberg, in der sich bereits Richard Süßmuth informiert hatte – zurück, orientierten sich also (anders als die Geschäftsleitung) an hinsichtlich Sortiment und Fertigungsverfahren vergleichbaren Unternehmen. Durch den persönlichen Kontakt zu den Hirschberg-Beschäftigten erhielten die SüßmuthKolleg*innen weitaus genaueren Aufschluss über die anwendungsbezogenen Erfahrungen mit bestimmten technischen Vorrichtungen als der Unternehmer, der sich ja trotz freundschaftlicher Beziehungen in einem Konkurrenzverhältnis zu Hirschberg befand.69 Die Empfehlungen der Belegschaftsgremien zielten generell auf eine an die

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Siehe Einschätzung des HLT-Gutachters [Ulrich Herzog] in Vermerk HLT, 3. Juni 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Protokoll Beirat (GHS), 4. Juni 1971, in: FHI, Schöf-1228. Siehe Kapitel 7.2. Siehe Kapitel 5.2. Siehe Kapitel 9.3. Die Besichtigung von Hirschberg im Frühjahr 1969 musste »erst mit der Hauptverwaltung in Essen verhandel[t]« und von dieser genehmigt werden. [Ludwig Hager] an den Betriebsrat (GHS), 11.

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Fertigung in einer Mundglashütte und an die unternehmensspezifische Sortimentsvielfalt angepasste Technik. Wie der vorherige Eigentümer bezogen sie sich dabei implizit auf das Produktionsformat der batch production, das eben nicht durch den Einsatz von Spezialmaschinen, sondern durch den von Universalmaschinen bzw. -werkzeugen geprägt war, die in der Produktion eine möglichst hohe Flexibilität gewährleisteten.70 Diese konträren Vorstellungen und Erwartungen an Technik prägten Wahrnehmungen und Lösungsansätze für die sanierungsbedingten Probleme, für die die geschäftsführenden Gremien und insbesondere die betriebsexternen Beiratsmitglieder keinerlei Verständnis aufbringen konnten. Durch ihre Fixierung auf technische Neuheiten war ihnen auch die Tragweite der Fehler des Betriebsleiters [Ewald Lenz] nicht bewusst. Deren noch lange nach seiner Entlassung sich negativ auf die Produktion auswirkenden Konsequenzen riefen bei ihnen vielmehr Verwunderung hervor. Dass trotz getätigter Investitionen in die neueste Technik die alten Probleme in der Fertigung weiterbestanden bzw. sogar zunahmen, konnten sie sich folglich nur mit einem Fehlverhalten in der Belegschaft und mit organisatorischen Defiziten der kollektiven Geschäftsführung erklären – eine Deutung, die ihnen wiederum ihre massive Intervention rechtfertigte. Damit verkannte der Beirat indes die Leistung der Beschäftigten und ihrer Gremien, auf die der Sanierungserfolg – der sich schließlich seit Herbst 1971 zu zeigen begann – maßgeblich zurückzuführen war: Trotz der aufgezeigten widrigen Umstände konnten die Ausschusszahlen reduziert und die Produktivität erhöht werden.71 Bis Anfang 1973 konnte die tägliche Schmelzleistung mit einer Steigerung von drei auf 5,6 Tonnen nahezu verdoppelt werden.72 Das Jahr 1972 schloss – erstmals seit den 1950er Jahren – mit einem größeren Gewinn in Höhe von mehr als 180.000 DM ab.73 Nur durch die kollektiven Bemühungen nach Abberufung der ersten Geschäftsführung konnten deren Fehlentscheidungen – die andernfalls den Konkurs des Unternehmens nach sich gezogen hätten – abgefedert und die Anfangsschwierigkeiten überwunden werden.

Die Effizienz kollektiver Technikentscheidungen Während der Selbstverwaltung erwiesen sich vor allem jene technischen Erneuerungen als langfristig erfolgreich, denen ein kollektiver Diskussionsprozess vorausgegangen war. Eindrucksvolles Beispiel hierfür war vor allem die (weiter unten genauer beschriebene) Aufrechterhaltung der Produktion an dem eigentlich erneuerungsbedürftigen Ofen III nach der improvisierten Umstellung seiner Beheizung auf den neuen Energieträger Erdgas. Als weiterer Beleg ist die nach intensiven Beratungen des geschäftsführenden Ausschusses mit den Belegschaftsgremien erfolgte Aufstellung eines

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April 1969, in: AGI, S. 2. Der Besuch der Beschäftigten der selbstverwalteten GHS zwei Jahre später erfolgte hingegen auf informellem Weg. Philip Scranton, Endless Novelty. Specialty Production and American Industrialization, 1865–1925, Princeton 1997, S. 10f., 17f. Geschäftsführung, 22. Oktober 1971 (s. Anm. 30), S. 1f. [Wiege], 15. März 1973 (s. Anm. 9), S. 8. Gewinn- und Verlustrechnung 1972 (GHS), 28. Februar 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie. Siehe Tabelle 3 im Anhang.

Die Produktion

Eintragbandes zwischen Ofen und Kühlband anzuführen.74 Dadurch konnte zwar keine »direkte Personaleinsparung« erzielt werden, womit diese Investition zuvor gegenüber dem Beirat begründet worden war.75 Der Erfolg dieser Anschaffung zeigte sich stattdessen in den niedrigeren Bruchzahlen beim Glastransport, in den verbesserten Arbeitsbedingungen für die Einträger*innen und in einem Zeitgewinn für die Glasmacher, was sich aber nicht unmittelbar und eindeutig in den betriebswirtschaftlichen Kennziffern nachweisen ließ.76 Während der technische Ausschuss deshalb den Bau eines weiteren Eintragbandes vorschlug, lehnten die geschäftsführenden Gremien diese Investition trotz der relativ geringen Anschaffungskosten von 15.000 DM ab.77 Als erfolgreich erwies sich auch eine Reihe von in den Belegschaftsgremien vorgebrachten technischen Neuerungen kleineren Maßstabs, die auf eine Rationalisierung innerhalb der vorhandenen Hand-Werkzeug-Technik abzielten und deren Einführung – im Gegensatz zu den auf Maschinen-Werkzeug-Technik abzielenden Neuerungen – relativ geräuschlos erfolgte. Ein Beispiel für eine verbesserte Stoffformungstechnik waren die sogenannten Doppelholzformen. Die Idee war simpel und keinesfalls neu.78 Mit Doppelformen konnten zwei Artikel auf einmal eingeblasen werden, die in einem dem Kühlprozess nachgelagerten Schneidevorgang voneinander getrennt wurden.79 Im Gegensatz zur Maschinen-Werkzeug-Technik konnten die betriebseigenen Schreiner und Schlosser diese Technik selbst konstruieren und an ein wechselndes Sortiment relativ problemlos anpassen. Da sich aber nicht alle Artikel für das Arbeiten in Doppelformen eigneten,80 war das Erfahrungswissen der Glasmacher bei der Auswahl entscheidend. Auf Basis ihrer Empfehlungen konnte diese Doppelformen auf möglichst viele Artikel ausgedehnt und Schwierigkeiten einer Anwendung bei ungeeigneten Erzeugnissen vorgebeugt werden. Ein weiteres Beispiel für eine angemessene Rationalisierungsmaßnahme war die Umstellung von Holzkisten auf -wägen für den Transport der Glasartikel in die weiterverarbeitenden und veredelnden Abteilungen sowie in das Lager. Die körperlichen Anstrengungen des Kistenschleppens konnten damit reduziert werden. Zugleich

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Beirat, 4. Juni 1971 (s. Anm. 65), S. 2. Geschäftsführung, 22. Oktober 1971 (s. Anm. 30), S. 8; Protokoll Technischer Ausschuss (GHS), 1. Dezember 1971, in: FHI, Schöf-1228. Die mit dem Eintragband verbundenen Vorteile konnte der technische Ausschuss nur mit einer Hochrechnung auf Basis von Erfahrungswerten quantifizieren. Das Eintragband wurde von sechs Werkstellen benutzt, an denen sich hierdurch die Bruchzahl halbiert und der Produktionswert um drei Prozent erhöht habe. Aufs Jahr gerechnet habe den Anschaffungskosten von 15.000 DM ein Produktionsmehrwert von 60.000 DM gegenübergestanden. Technischer Ausschuss, 1. Dezember 1971 (s. Anm. 75). In Unkenntnis der Hintergründe musste der technische Ausschuss im Februar 1973 konstatieren, dass der Bau eines weiteren Eintragbandes abgelehnt wurde. Protokoll Technischer Ausschuss (GHS), 13. Februar 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 2. Die Anwendung von Doppelholzformen war bspw. bereits im 19. Jahrhundert in der damals vor allem Beleuchtungsglas produzierenden Glashütte Baruth üblich. Siehe Dauerausstellung Museum Baruther Glashütte. Hierdurch sei »eine Produktivitätssteigerung bis zu 70 Prozent bei den jeweiligen Artikeln zu erreichen« gewesen. Geschäftsführung, 22. Oktober 1971 (s. Anm. 30), S. 7f. Glasmacher [Gottfried Streek] in Typoskript »Arbeiter als Unternehmer. Ein Experiment und seine Folgen«, Ulrich Wickert für Monitor (ARD), 19. März 1973, in: FHI, Schöf-1212, S. 2.

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gelang es, den Transport »fließender [zu] gestalten« und »durch Vermeiden von Anheben und Abladen […] Bruch und Kratzer« zu verringern.81 Im Gegensatz zu den Transportbändern mussten die Wägen manuell bedient werden und verursachten also Personalkosten. Der entscheidende Vorteil dieser Transport-Technik lag in der Aufrechterhaltung von Flexibilität. Gerade die Probleme mit den Transportbändern hatten gezeigt, dass die sozialräumlichen Aspekte bei der Reform des betrieblichen Transportwesens in einer Mundglashütte beachtet werden mussten, um Hindernisse zu vermeiden. Darüber hinaus konnten die Wägen zum größten Teil von den Facharbeitern im Betrieb selbst zusammengebaut werden.82 Aus Perspektive der betrieblichen Praxis bzw. der Beschäftigten war also eine Technik effizient, wenn sie die Flexibilität im Fertigungsablauf sicherte und erhöhte, das heißt wenn sie häufige Produktwechsel und ein schnelles Reagieren auf unvorhersehbare Unregelmäßigkeiten ermöglichte sowie das Zusammenwirken der eng aufeinander bezogenen Arbeitsschritte verbesserte. Bei technischen Neuerungen im Fertigungsprozess galt es die Konsequenzen für die darauffolgenden Arbeitsschritte abzuwägen. Auch der Reparierbarkeit und Instandhaltung, der Eigenherstellung bzw. Reproduzierbarkeit einer technischen Vorrichtung mit betriebsinternen Mitteln und Wissensbeständen der eigenen Fachleute kam eine zentrale Bedeutung zu. Potenzielle Abhängigkeiten von betriebsexterner und kostenintensiver Expertise für die Wartung waren möglichst gering zu halten. Eine auf die spezifischen Bedingungen und Ressourcen im Betrieb sowie die Fähigkeiten der Beschäftigten ausgerichtete Technik erleichterte den Umgang mit Problemen in deren Anwendung, was beispielsweise bei dem ständig ausfallenden »Abschmelzautomaten« nicht der Fall war. Aus einer anwendungsorientierten Perspektive bestanden Innovationen folglich nicht allein aus Neuerfindungen, sondern auch aus der Kombination verschiedener (alter und neuer) Techniken und deren Anpassung an die betriebliche Praxis, weshalb eine permanente Auseinandersetzung mit Technik erforderlich war.83 Die genannten Technikentscheidungen aus dem Beschäftigtenkreis konzentrierten sich vorrangig auf Neuerungen und Improvisationen innerhalb der vorhandenen HandWerkzeug-Technik. Dies ist nicht als Indiz für eine generell den Status quo konservierende Technikfeindlichkeit zu werten, wie sie dem Handwerk bzw. den Handwerkern historisch wie historiographisch oftmals unterstellt wurde. Die Empfehlung zur Anschaffung von in anderen Mundglashütten bewährten Abspreng- und Schleifmaschinen zeigte, dass die Beschäftigten keineswegs arbeitskraftsparende technische Neuerungen per se ablehnten – zumal ja in allen Abteilungen ein Personalmangel bestand. Vielmehr erklärt sich jene Tendenz aus ihren geringen Einflussmöglichkeiten auf die Investitionsentscheidungen und ihre fehlende Verfügungsgewalt über die Finanzmittel. Die Beschäftigten konnten ihre Vorschläge nur dann realisieren, wenn hiermit kein größerer

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Geschäftsführung, 22. Oktober 1971 (s. Anm. 30), S. 8. Im Februar 1971 bereiteten die Mitglieder des technischen Ausschusses den Bau von »ungefähr 100 Holzwagen« vor.« Technischer Ausschuss, 23. Februar 1971 (s. Anm. 16), S. 1. Zu dieser Perspektive einer used-centered in Abgrenzung zur innovation-centric Vorstellung vom technischen Fortschritt siehe David Edgerton, Shock Of The Old. Technology and Global History since 1900, London 2011.

Die Produktion

Kostenaufwand verbunden war und sie unter Einsatz von im Betrieb vorhandener Ressourcen unabhängig von dem die Investitionsmittel kontrollierenden Beirat umgesetzt werden konnten.

Der Ofenkonflikt Am Beispiel der Schmelzöfen – als dem »Herz« einer jeder Glashütte – lässt sich besonders gut aufzeigen, welche Bedeutung der Technik in den Konflikten der Selbstverwaltung zukam. Die Probleme bei der Durchführung der Sanierung hatten verdeutlicht: die finanziellen Voraussetzungen für eine Expansion der Produktion waren in der Glashütte Süßmuth eigentlich nicht vorhanden. Die hohen Erwartungen der Gläubiger an die Sanierung der Produktionsanlage standen im Widerspruch zur geringen Menge und zum zögerlichen Auszahlungsmodus der hierfür dringend benötigten Gelder. Spätestens als sich die LKK im Herbst 1971 weigerte, die Kreditrate für den Neubau des dritten Ofens wie vereinbart freizugeben, wäre es naheliegend gewesen, die Expansionsstrategie zugunsten der Reduktion der Produktion von zwei Zehn- auf zwei Fünf-Hafenöfen aufzugeben, wie es die Geschäftsführung damals tatsächlich in Erwägung zog.84 Damit hätten allerdings weder alle Arbeitsplätze erhalten noch die in den Kreditverhandlungen vereinbarte Umsatzsteigerung erreicht werden können. Um das aus Perspektive der Belegschaft wichtigste Ziel der Selbstverwaltung – den Arbeitsplatzerhalt für alle – dennoch zu realisieren, beschlossen die Mitglieder des technischen Ausschusses, den veralteten Ofen III – den Richard Süßmuth 1956 als Ersatzofen bauen ließ und der im Sommer 1969 nach der Stilllegung eines der beiden Zehn-Hafenöfen als temporäre Überbrückungsmaßnahme in Betrieb genommen wurde – zum Ende des Jahres 1971 einer Großreparatur durch die betriebseigenen Maurer zu unterziehen.85 Angesichts des Alters und weil dieser Ofentyp sich eigentlich nicht für die Beheizung mit Erdgas eignete, standen Geschäfts- und Betriebsleiter den Plänen skeptisch gegenüber. [Rudolf Woge] bescheinigte Ofen III im Dezember 1971 eine maximale Lebensdauer von anderthalb Jahren.86 Durch die Kontrolle des technischen Ausschusses und unter der Leitung des seit Mai 1971 im Betrieb angestellten Hütten- und Schmelzmeisters [Leo Böhm] konnte die Produktion an diesem Ofen gesteigert werden. Mit seinem in langjähriger Tätigkeit erworbenen Erfahrungswissen gelang es [Böhm], hier sogar die Farbglasproduktion aufzunehmen, was unter der vorherigen Betriebsleitung gescheitert war. Dies schuf die Voraussetzung für das Angebot des im Vertrieb sehr profitablen, in der Fertigung indes sehr anspruchsvollen Opal- und Überfang-Beleuchtungsglases.87 Unter improvisierten Bedingungen wurde in den folgenden zwei Jahren an Ofen III mit Gewinn produziert.

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Siehe Rückblick in Protokoll Beirat (GHS), 22. September 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 4f. Protokoll Technischer Ausschuss (GHS), 25. November 1971, in: FHI, Schöf-1228. Protokoll Beratung der betriebsexternen Beiratsmitglieder (GHS), 20. Dezember 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 2. Im Mai 1968 hatte der vorherige Betriebsleiter [Ludwig Hager] Ofen III eine weitere Lebensdauer von drei bis vier Jahren prognostiziert. Investitionsplan, 2. Mai 1968 (s. Anm. 46). Zur Aufnahme von Opal- und farbigen Überfangglas in das Sortiment der GHS siehe Kapitel 6.1.

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Dieser Ofen blieb jedoch ein Unsicherheitsfaktor und hatte »kriminelle Arbeitsverhältnisse« für die hieran arbeitenden Glasmacher zur Folge.88 Denn der Acht-Hafenofen eignete sich eigentlich nicht für das Nebeneinander von Opal- und Kelchglasproduktion. Den für die Fertigung von Kelchglas notwendigen höheren Temperaturen waren auch die Opalglasmacher ausgesetzt, die in geringerer Distanz vor den Ofenlöchern arbeiteten. Angesichts der Notlage, in der diese produktionstechnische Improvisation von den Facharbeitern in kollektiven Beratungen beschlossen wurde, hatten sich die betroffenen Glasmacher bereit erklärt, die Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen bis zum Ofenneubau temporär in Kauf zu nehmen.89 Die Belegschaftsgremien diskutierten daher mit der Geschäfts- und Betriebsleitung weiterhin über die Anschaffung eines neuen FünfHafenofens oder der eines kleineren Zwei-Hafenofens und eines räumlich-beweglichen Ein-Hafenofens (einer sogenannten Tageswanne) für die Opalglasfertigung.90 Der Ofenneubau versprach einen reduzierten Energieverbrauch und eine Verbesserung der Glasqualität.91 Die Anschaffung mehrerer kleinerer Öfen hätte zudem die Möglichkeiten für die Fertigung verschiedener Glassorten und hierdurch die Flexibilität und Vielfalt in der Angebotspolitik des Unternehmens erhöht. In diese Richtung wiesen auch die Vorschläge der Abteilungsleiterkonferenz, »verschieden große Häfen in [einem] Ofen zu verwenden«, die aber nicht realisiert wurden, weil der damalige (vom Beirat berufene) Hüttenmeister [Helmut Richter] davon abriet.92 Nach dem positiven Abschluss des Jahres 1972 hätte die Firma die Möglichkeit gehabt, den Neubau eines Ofens oder mehrerer kleinerer Öfen aus eigenen Mitteln – also unabhängig von dem die Kreditmittel kontrollierenden Beirat – zu finanzieren.93 Die positiven Erfahrungen des zurückliegenden Jahres verleiteten den Betriebsleiter [Woge] Anfang 1973 jedoch zu der Prognose, Ofen III werde noch bis Sommer 1974 halten.94 Der von den Belegschaftsgremien geforderte Neubau von einem Fünf-Hafenofen oder zwei kleineren Öfen lehnte er hingegen mit der Begründung ab, dass die Hafenkapazitäten der vorhandenen drei Öfen – aufgrund des Mangels an Glasmachern – immer »noch nicht voll ausgenutzt« seien. [Woges] Einschätzung erwies sich als fatal: In den 88 89 90

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[Manfred Hübner] zitiert in Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27), S. 13. Zu den Bedingungen für diese Bereitschaft siehe Kapitel 5.3. Abteilungsleiterkonferenz, 5. April 1971 (s. Anm. 26), S. 2; Investitionsplan, 14. Juni 1971 (s. Anm. 15); Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 2. September 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 1; Mitschnitt Sitzung des technischen Ausschusses in: Braun et al., 1973 (s. Anm. 11), S. 12f. In der Tageswanne verlief die Schmelze zyklisch wie in einem Hafenofen, sie eignete sich generell für die Fertigung von Farb- und Opalglas und anderen Spezialgläsern. Helmut A. Schaeffer, Roland Langfeld und Margareta Benz-Zauner (Hg.), Werkstoff Glas, München 2012, S. 274f.; Wolfgang Kerner, »Opalglas. Wirtschaftliche Bedeutung und Schmelze in einer Elektrowanne«, in: Glastechnische Berichte 11 (1979), S. 237–242. Protokoll Technischer Ausschuss (GHS), 8. September 1971, in: FHI, Schöf-1228; [Pavel Marek] an die Belegschaft (GHS), Oktober 1973, in: AGI, S. 3. Abteilungsleiterkonferenz, 16. Juni 1971 (s. Anm. 48). Der Bau eines kleinen Schmelzofens für die Opalglasproduktion, der zu einem späteren Zeitpunkt auch vom Beirat aufgegriffen wurde, war bspw. lediglich mit Kosten in Höhe von 20.000 DM verbunden. Beirat, 9. Mai 1974 (s. Anm. 55), S. 3; Protokoll Beirat (GHS), 30. Mai 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 7. Folgendes aus Technischer Ausschuss, 13. Februar 1973 (s. Anm. 77), S. 1f.

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folgenden Monaten nahmen die Probleme am baufälligen Ofen III derart zu, dass die geschäftsführenden Gremien seit Herbst 1973 »jederzeit« mit dessen Ausfall rechneten und deshalb über dessen Stilllegung berieten.95 Für einen Ofenneubau stand zu diesem Zeitpunkt kein Geld mehr zur Verfügung, im Gegenteil: der Beirat prognostizierte vielmehr eine Zahlungsunfähigkeit zum Ende des Jahres 1973, woraufhin die Geschäftsleitung eilig mit der Beantragung neuer Finanzmittel beim Land Hessen begann.96 In dieser dringlichen Situation veränderten die geschäftsführenden Gremien kurzfristig den Sanierungsplan und beschlossen, die Produktion von drei auf zwei Öfen umzustellen. Vom sogenannten Zweiofenmodell versprachen sie sich bzw. den Gläubigern – neben der raschen Entspannung der Finanzlage durch den Wegfall der geplante Investitionen in den Neubau von Ofen III und in ein weiteres Kühlband – zugleich große Rationalisierungseffekte.97 Mit einer dichteren Personalbesetzung an zwei statt drei Öfen sollten der bislang virulente Arbeitskräftemangel behoben und sogar Personaleinsparungen (das hieß »Freisetzungen« von mindestens 20 Personen) möglich werden, die der Beirat von Beginn an gefordert hatte. Zusammen mit der Ausweitung der Arbeitswoche von fünf auf sechs Tage sollten die reduzierten Produktionskapazitäten besser ausgelastet werden.98 Die Rückkehr zur Sechstagewoche sollte wiederum die bislang begrenzten Kühlmöglichkeiten verbessern und eine »Minderung des Kühlbruchs und der Kühlfehler« bewirken.99 Insgesamt sollte die Stilllegung des dritten Ofens also die Energie- und Personalkosten verringern, die Glasqualität erhöhen und die Mängelproduktion reduzieren. Auf dieser Grundlage sollte die Produktivität auf dem gleichen Niveau bleiben, der für 1973 prognostizierte Verlust ausgeglichen, künftig Gewinne erwirtschaftet und letztlich die »Existenz der Hütte gesichert werden« können. Die Gesellschafterversammlung äußerte massive Bedenken an der Realisierbarkeit dieses Vorhabens.100 Sie war das einzige Belegschaftsgremium, das die Geschäftsleitung darüber in Kenntnis setzte. Der Glasmacher [Manfred Hübner] zweifelte an der Möglichkeit, weitere Opalglaswerkstellen an einen Ofen mit Kelchglasfertigung zu verlagern. Bereits die Erfahrungen mit dem improvisierten Weiterbetrieb des alten Ofens III hatten gezeigt, dass – da die Glassorten sehr unterschiedliche Temperaturen bei der Schmelze benötigten – die Glasmacher hier aufgrund der hohen Hitzebelastung unter »erbärmlichen« Umständen arbeiteten. Durch die dichtere Zusammenlegung der Werkstellen an

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Beirat, 22. September 1973 (s. Anm. 84), S. 4f.; Werner Vitt an IG Chemie Hauptvorstand, 12. November 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 1; Vermerk HLT, 14. November 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 1. 96 Zu dieser Fehlprognose und den erneut aufgenommenen Kreditverhandlungen siehe Kapitel 7.2 und 7.3. 97 Folgendes aus Handschriftliches Protokoll (Vitt) Außerordentliche Beiratssitzung (GHS), 11. November 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Vermerk HLT, 31. Oktober 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie; HLT, 14. November 1973 (s. Anm. 95). 98 Laut dem inoffiziellen Protokoll von Werner Vitt diskutierten die betriebsexternen Beiratsmitglieder mit dem Geschäftsführer [Hans Müller] sogar über die Möglichkeit einer Sonntagsschicht und damit einer Siebentagewoche. Beirat, 11. November 1973 (s. Anm. 97). 99 Folgende Zitate aus HLT, 14. November 1973 (s. Anm. 95). 100 Folgendes aus Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27); Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 45).

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nur noch zwei Öfen war eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für alle Glasmacher zu befürchten. [Woges] Zuversicht, die Arbeitstemperaturen an den Öfen beispielsweise mit einem Gebläse regulieren zu können, entkräftete [Hübner] mit dem Verweis auf bereits gescheiterte Versuche, ein solches zu installieren. Solche Luftduschen über der Arbeitsbühne an den Öfen kühlten auch die Glasmasse ab, die für die Formung aber eine bestimmte Temperatur besitzen musste. Die Gesellschafter forderten von der Geschäftsführung mit Nachdruck, zumindest den technischen Ausschuss und damit die betriebsinternen Facharbeiter mit langjähriger Berufserfahrung in die Beratungen über den Zweiofenplan einzubeziehen, wozu es jedoch nicht kam. Davon überzeugt, das »grobe Gerippe« dieser Planungen könne »gar nicht anders sein«, sah der Betriebsleiter [Rudolf Woge] kein Problem darin, die »Einzelheiten« der Zweiofenumstellung »später« mit dem technischen Ausschuss und dem Betriebsrat zu besprechen.101 Der Geschäftsführer [Hans Müller] empfand eine vorherige Konsultation des technischen Ausschusses sogar als ein »unlauteres« Vorgehen, das wie »ein Feigenblatt« wirken müsse, »um der Sache genügt zu haben«. Undenkbar war für beide, dass der technische Ausschuss eine andere Lösung hätte vorschlagen können, denn [Woge] habe sich ja – wie [Müller] betonte – »nun weiß Gott intensiv damit beschäftigt«. In der angespannten Finanzlage und unter dem Druck, den Vertretern des Landes Hessens für die erneuten Finanzierungsverhandlungen schnellstmöglich »beweiskräftige Planungen« vorlegen zu müssen, reichte der Geschäftsführer den Zweiofenplan an den branchenfremden HLT-Wirtschaftsprüfer [Otto Maur] weiter. Angesichts der verheißungsvollen Versprechen hielt dieser den Plan für eine geeignete Rationalisierungsmaßnahme zur Wiederherstellung der Rentabilität und empfahl seine sofortige Durchführung.102 Durch [Maurs] rein betriebswirtschaftliche Begutachtung legitimierte der Beirat die einschneidende Abweichung vom ursprünglichen Sanierungsplan. Am 1. Januar 1974 wurde in der Glashütte Süßmuth der dritte Ofen stillgelegt und künftig nur noch an zwei Öfen gearbeitet. Die geschäftsführenden Gremien hatten den technischen Ausschuss und den Betriebsrat, der eigentlich bei einer solchen Personalfragen berührenden Entscheidung zu konsultieren war, vor vollendete und irreversible Tatsachen gesetzt.103 Bereits nach wenigen Monaten erwies sich die Zweiofenumstellung – wie es die Gesellschafter prognostiziert hatten – als absolute »Fehlkalkulation«.104 Die Werkstellen waren »nicht optimal, sondern überbesetzt.« Die Häfen waren bereits vor Schichtende »ausgearbeitet«, da infolge der personellen Verdichtung an den Öfen die geschmolzene Glasmasse nicht für die Fertigung eines Achtstundentages ausreichte. Zum Teil wurde deshalb das Restglas (die restlichen 15 Prozent der Glasmasse in den Häfen) verarbeitet.105 Dies führte nicht nur zur Fertigung von »schlecht verkäufliche[r] Stapelware« 101 Folgendes aus Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27). 102 HLT, 14. November 1973 (s. Anm. 95). 103 Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Holger Neumer], [Willi Voigt] und namentlich unbekanntem Arbeiter, 22. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 1. 104 Folgendes aus Vermerk HLT, 14. Mai 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Beirat, 30. Mai 1974 (s. Anm. 93); Protokoll Beirat (GHS), 22. März 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 105 Am Boden der Häfen setzten sich im Zuge des Läuterungsprozesses der Glasschmelze Verunreinigungen ab, weshalb die Häfen nicht vollständig leer gearbeitet wurden. Siehe Kapitel 1.2.

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minderer Qualität, sondern – da das Restglas Voraussetzung für eine gute Qualität der nächsten Glasschmelze war – auch zur Verschlechterung der Glasqualität am folgenden Tag. Opal- und Farbglas konnte nicht mehr in dem entsprechend der Auftragslage notwendigen Umfang geschmolzen werden, da die Ofenzusammenlegung zu häufigen, »der Farbqualität abträglichen Farbumstellungen der Schmelze« geführt hatte. Die Zunahme der Qualitätsmängel hatte wiederum »Termin- und Lieferschwierigkeiten« zur Folge. Letztlich bewirkte die Umstellung auf die Zweiofenproduktion eine massive Störung der Arbeitsroutinen und -abläufe. Durch die Ausweitung der Arbeitszeit auf eine Sechstagewoche sowie die räumliche Enge an den Öfen hatten sich die Arbeitsbedingungen – insbesondere die der Glasmacher – enorm verschlechtert. Ende März 1974 hielt der HLT-Gutachter [Maur] auf einer Beiratssitzung fest: »Die Umstellung auf zwei Öfen hat nicht die Hoffnungen erfüllt. Neben dem leichten Personalrückgang ist ein großer Produktionsrückgang zu verzeichnen.«106 Erst nach diesen schlechten Erfahrungen wurde auch im Beirat die »vordringliche« Notwendigkeit der »Wiederherstellung der ursprünglichen Kapazitäten« durch den Neubau eines dritten Ofens erkannt, den die Belegschaftsgremien von Beginn an gefordert hatten.107 Aufgrund der erneut sehr zäh verlaufenden Kreditverhandlungen sollte bis dahin noch einmal über ein Jahr vergehen. Um die reduzierten Produktionskapazitäten stärker auszulasten und die durch den Zweiofenbetrieb in der ersten Jahreshälfte 1974 entstandenen Verluste zu kompensieren, erachtete der Beirat bis zum Ofenneubau die Aufrechterhaltung der Sechstagewoche als unumgänglich.108 Zugleich verhängte die Geschäftsführung Kurzarbeit, um das vollständige Ausarbeiten der Häfen zu verhindern. Die tägliche Arbeitszeit wurde in der Abteilung Hütte ab April 1974 von acht auf sechseinhalb Stunden reduziert und damit an die »Hafenkapazität einigermaßen angepasst«.109 Nur zum Preis der Inkaufnahme verschlechterter Arbeits- und Lohnbedingungen für die Beschäftigten gelang es also, die durch die Zweiofenumstellung angestiegene Ausfallquote wieder zu senken und sich in der Produktivität dem vorherigen Niveau anzunähern.110 Der im Mai 1975 in Betrieb genommene neue Ofen III erwies sich als ein voller Erfolg.111 Deshalb wurde auch Ofen II neu gebaut, der Anfang 1976 in Betrieb ging.112 Erst nach sechs sehr konfliktreichen Jahren entsprach der Zustand der Produktionsanlage der Glashütte Süßmuth damit ungefähr dem ursprünglichen, einst von den betriebserfahrenen Facharbeitern Ende der 1960er Jahre konzipierten Sanierungsplan. Alle Schmelzöfen eigneten sich nunmehr für die neue Beheizungstechnik mit Erdgas. Damit waren gewichtige Ursachen der Ausschussproduktion beseitigt und die materiellen Voraussetzungen für eine expansive Produktionsstrategie geschaffen. 106 107 108 109 110 111

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Handschriftliches Protokoll (Vitt) Beirat (GHS), 22. März 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. Beirat, 30. Mai 1974 (s. Anm. 93), S. 7. Beirat, 22. März 1974 (s. Anm. 104), S. 8f. Beirat, 30. Mai 1974 (s. Anm. 93), S. 6; HLT, 14. Mai 1974 (s. Anm. 104), S. 3. Siehe Vorläufiges Jahresergebnis 1974 (GHS), 15. März 1975, in: AGI. Mit dem neuen Ofen konnten jährlich 80.000 DM Energiekosten reduziert werden, weshalb sich diese Investition in Höhe von 225.000 DM bereits nach 2,5 Jahren amortisierte. Protokoll Beirat (GHS), 2. Juli 1975, in: AGI, S. 5f. Protokoll Beirat (GHS), 21. Oktober 1975, in: AGI, S. 2.

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Produktionstechnik als Machtressource Am Beispiel der Schmelzöfen lässt sich eindrücklich nachvollziehen, wie sich die Selbstermächtigung der Beschäftigten und deren sukzessive Zurückdrängung aus der betrieblichen Entscheidungsfindung in der Produktionstechnik materialisierten und manifestierten. Während der Unternehmenskrise in den Jahren 1969 und 1970 war es ihnen gelungen, in kollektiven Entscheidungsprozessen die Produktion aufrechtzuerhalten. Allein durch die Realisierung ihrer bislang ignorierten Verbesserungsvorschläge konnten sie noch an den alten Öfen die Produktivität erhöhen. Auch im schwierigen ersten Jahr der Selbstverwaltung vermochten sie durch kollektive Improvisationen die Existenz des Unternehmens abzusichern. Dass am alten Ofen III über seine Lebensdauer hinaus und trotz der fehleranfälligen Kombination mit der Erdgasbeheizung gewinnbringend produziert werden konnte, war unmittelbar auf die kollektive Kontrolle durch die Facharbeiter zurückzuführen. Nicht zufällig nahmen die Probleme an dem Ende 1971 nur notdürftig reparierten Ofen III im zweiten Halbjahr 1973 überhand, nachdem nicht nur der Schmelz- und Hüttenmeister [Leo Böhm], sondern auch eine Reihe weiterer Facharbeiter aus Frustration den Betrieb verlassen hatten.113 Die Geschäfts- und Betriebsleitung hatte den von den Belegschaftsgremien geforderten Ofenneubau abgelehnt und ohne Konsultation des fachkundigen technischen Ausschusses kurzfristig den Zweiofenplan entwickelt und beschlossen. Sie verkannten dabei, wie notwendig die Beteiligung der Beschäftigten an den die Produktionstechnik betreffenden Entscheidungen und die Berücksichtigung ihrer Vorschläge nicht nur beim Finden, sondern auch bei der Aufrechterhaltung von produktionstechnischen Improvisationen war. Dies galt einmal mehr bei Veränderungen in der Schmelztechnologie, die in der Mundglasbranche generell stark variierte und ein hohes betriebsspezifisches Anwendungswissen erforderte.114 Die umstrittene und problematische Zweiofenumstellung war das Resultat von sich im Betrieb verdichtenden Konflikten und stellte im gesamten Verlauf der Selbstverwaltung eine Zäsur dar. Bis dahin konnten sich die Belegschaftsgremien gegenüber der Geschäftsführung und dem Beirat behaupten, weil ihnen in der durch kollektive Improvisation und Kontrolle gewährleisteten Dreiofenproduktion eine Machtposition zukam, die jene der Unternehmensführung unweigerlich begrenzte. Mit der exklusiv beschlossenen Stilllegung des dritten Ofens hatten sich die Machtressourcen der Arbeitenden und ihrer Gremien im Betrieb indes entscheidend und dauerhaft geschmälert. Als Sprecher des technischen Ausschusses war [Paul Nowak] davon überzeugt, dass der alte Ofen III ein weiteres Mal in kollektiven Anstrengungen einer Notreparatur hätte unterzogen und damit sowohl die Verluste als auch die Verschlechterungen der Arbeits- und Lohnbedingungen hätten verhindert werden können.115 Da die Geschäfts- und Betriebsführung diesen Ofen aber

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[Nowak], 6. Januar 1974 (s. Anm. 34), S. 2–5; Vitt, 12. November 1973 (s. Anm. 95), S. 1. Siehe Kapitel 5.4. Trier, Glasschmelzöfen (s. Anm. 5), S. 244; [Paul Nowak] zitiert in Heinz Eßlinger, »Wo der Arbeiter sein eigener Chef ist«, in: Gewerkschaftspost, Januar 1973, in: AGI, S. 10f. [Nowak], 6. Januar 1974 (s. Anm. 34), S. 3.

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vollständig abreißen ließ,116 fehlten den Mitgliedern des technischen Ausschusses nicht nur die formale Anerkennung, sondern nunmehr auch die materielle Grundlage für eine informelle Einflussnahme auf betriebliche Entscheidungsprozesse. Nach der Zweiofenumstellung trat dieses Gremium nicht mehr in Erscheinung. Im Rahmen der erneut begonnenen Kreditverhandlungen zur Finanzierung des Neubaus eines dritten Ofens verstärkte sich hingegen die Abhängigkeit der Beschäftigten von der Geschäftsführung sowie von den betriebsexternen Vertretern der Geldgeber und Bürgen im Beirat erheblich.

5.2 Der gerechte Lohn Die Frage nach dem gerechten Lohn ist so alt wie die Lohnarbeit.117 An politischer Bedeutung gewann sie mit der Ausbreitung kapitalistischen Wirtschaftens, den mit der Industrialisierung verbundenen sozialen Verwerfungen, vor allem aber mit der Entstehung der Arbeiterbewegung. Die Integration von Gerechtigkeitsprinzipien in die tarifrechtlich regulierte Einkommensverteilung – die Kombination aus Leistungsprinzip (»Leistung muss sich lohnen«) und Gleichheitsprinzip (»Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«) – habe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer »normativen Stabilität des [west]deutschen Tarifvertragssystems« geführt, das im Zuge des »Wandels der deutschen Arbeitsgesellschaft« zugunsten einer »unmittelbaren Koppelung der Entlohnung an den ökonomischen Erfolg des Unternehmens« erodiert sei.118 Neue Formen der Rationalisierung haben den »eingespielten [leistungs- und lohnpolitischen] Arrangements in den industriellen Beziehungen den Boden entzogen« und etablierte Vorstellungen vom gerechten Lohn, wie er bis dahin nach vermeintlich objektiven Kriterien der Leistungsbemessung zwischen den Tarifparteien ausgehandelt wurde, »ins Wanken« gebracht.119 Das historische Novum im Fall Süßmuth war, dass die Lohnempfänger*innen selbst ihre Vorstellungen vom gerechten Lohn in die Tarifverhandlungen einbringen und zum Teil umsetzen konnten.120 Gemäß dem zu Beginn von Belegschaft und Gewerkschaft 116 117

Notizen Erasmus Schöfer, undatiert [1973/1974], in: FHI, Schöf-1197. Reinhold Reith, »Lohnarbeit«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 7, Stuttgart u.a. 2008, S. 988–998; Reinhold Reith, Lohn und Leistung. Lohnformen im Gewerbe 1450–1900, Stuttgart 1999; Dietmar Süß, »›Ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagewerk‹? Überlegungen zu einer Geschichte des Mindestlohns«, in: Archiv für Sozialgeschichte 54 (2014), S. 125–145. 118 Holger Lengfeld, »Lohngerechtigkeit im Wandel der Arbeitsgesellschaft«, in: APuZ 4–5 (2007), S. 11. 119 Tilla Siegel, »Schlank und flexibel in die Zukunft? Überlegungen zum Verhältnis von industrieller Rationalisierung und gesellschaftlichem Umbruch«, in: Dies. und Brigitte Aulenbacher (Hg.), Diese Welt wird völlig anders sein. Denkmuster der Rationalisierung, Pfaffenweiler 1995, S. 182. Zu den während des NS geschaffenen Grundlagen für das in der Bundesrepublik zur Regel gewordene leistungs- und lohnpolitische Arrangement eines »leistungsgerechten Lohnes« siehe Tilla Siegel, »Rationalisierung statt Klassenkampf. Zur Rolle der Deutschen Arbeitsfront in der nationalsozialistischen Ordnung der Arbeit«, in: Ralph Angermund, Hans Mommsen und Susanne Willems (Hg.), Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte, Düsseldorf 1988, S. 122–129. 120 Siehe Kapitel 4.2.

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geteilten Anspruch sollten Lohnerhöhungen wie auch Sonderzulagen künftig allein in kollektiven und offiziellen Verhandlungen nach für alle Beschäftigten nachvollziehbaren und gültigen Kriterien geregelt und tariflich abgesichert werden. Übertarifliche Zugeständnisse durch individuelle und informelle Verhandlungen sollten dagegen nicht mehr möglich sein. Anders als in den Betrieben der Alternativökonomie wurde in der Glashütte Süßmuth nicht über einen Einheitslohn debattiert.121 Der gerechte Lohn blieb hier ein leistungsgebundener Lohn, gleichwohl stand nunmehr die Frage nach der Definition von Leistung zur Disposition.

Lohngerechtigkeit aus Perspektive der Belegschaft »Wir meinen, dass wir im Wesentlichen drei Ziele vor Augen haben sollten: Einmal, dass wir alle genügend verdienen. In einzelnen Abteilungen liegt ohne Frage zur Zeit der Lohnsatz zu niedrig. Das muss bald anders werden. Wir müssen alle zumindest so viel verdienen, dass wir ohne große Rechenkünste und Einschränkungen leben können. Zum anderen müssen wir sehen, dass sich die wirtschaftliche Lage unseres Betriebes verbessert. Das ist nicht nur wichtig, um allein die Existenz unseres Betriebes und die der Arbeitsplätze zu sichern, sondern um eben auch höhere Löhne zahlen zu können. Weiterhin soll die Arbeit auch Spaß machen. Sie macht Spaß, wenn wir sehen, dass wir Erfolg haben, dass wir entscheidend am Betriebsgeschehen mitwirken können, dass wir unsere Meinung vorbringen können […] [und wenn die Arbeit] richtig gewürdigt wird. Dazu gehört auch eine bessere Lohngerechtigkeit als bisher. Es wäre dazu erforderlich, dass einmal ein Lohnplan für alle Tätigkeiten und Arbeitsstellen erarbeitet wird, der auch die unterschiedlichen Anforderungen an den Arbeitsplätzen beschreibt und damit die unterschiedlichen Löhne in ein richtiges Verhältnis bringt. Wir meinen, dass es Zeit wird, Schluss mit den Lohn- und Gehaltsgeheimnis zu machen.«122 Obiges Zitat aus der zweiten Ausgabe der Betriebszeitung Hüttenecho veranschaulicht, dass neben dem Erhalt aller Arbeitsplätze die Herstellung von Lohngerechtigkeit aus Perspektive der Beschäftigten zu den wichtigsten Zielen der Selbstverwaltung gehörte.123 Ein gerechter Lohn zeichne sich dadurch aus, dass er die Grundlage für ein gutes Leben biete, die Arbeitsleistung würdige und dabei die unterschiedlichen Anforderungen aller (also nicht nur der prestigeträchtigsten) Tätigkeiten berücksichtige. Zur Lohngerechtigkeit gehörte auch die Offenlegung der Einkommensverteilung und Transparenz über die

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Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 320; Constantin Bartning, »Ziele und Unternehmenskultur der kollektiven Selbstständigkeit«, in: Hans G. Nutzinger (Hg.), Ökonomie der Werte oder Werte in der Ökonomie? Unternehmenskultur in genossenschaftlichen, alternativen und traditionellen Betrieben, Marburg 1996, S. 116. Hüttenecho. Zeitung der Belegschaft der GHS, April 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 1, 8. Die Redaktion dieser Ausgabe bestand aus den beiden Glasmachern [Heinz Schrödter] und [Paul Nowak], dem langjährigen Lagerleiter [Walter Albrecht], der ebenso langjährigen kaufmännischen Angestellten [Gertrud Krause] sowie den beiden erst seit der Belegschaftsübernahme im Unternehmen arbeitenden kaufmännischen Angestellten [Lutz Beyer] und [Konrad Scholz].

Die Produktion

zukünftige Einkommensentwicklung im Unternehmen. Mit der Betriebsübernahme erhielten die Beschäftigten Einblick in das stark ausdifferenzierte Entlohnungssystem mit einem großen Einkommensgefälle und vor allem sehr niedrigen Löhnen für die NichtFacharbeiter*innen. Bei den Glasmachern zeigten sich Lohnunterschiede, die auf Basis von Leistungs- oder sonstigen Kriterien wie Qualifikation, Alter und Dauer der Betriebszugehörigkeit nicht nachvollziehbar waren.124 Ihre frühere Kritik an einer willkürlichen und die Belegschaft spaltenden Entlohnungspraxis des alten Betriebsleiters [Ludwig Hager] hatte sich damit bestätigt. Mit dem Ende der Intransparenz wurde eine Quelle des Misstrauens unter den Beschäftigten beseitigt. Durch überproportionale Lohnerhöhungen für die Geringverdienenden gelang es den Belegschaftsgremien in den ersten Jahren, der Einkommenskluft entgegenzuwirken. Dies erfolgte auf drei Wegen: Die Glasmacher verzichteten zugunsten einer stärkeren Anhebung der unteren Lohngruppen auf die Erhöhung ihrer Löhne und Zahlung von Überstundenzuschlägen.125 Die Anzahl der über 30 Lohngruppen wurde halbiert, aufgelöst wurden insbesondere untere Lohngruppen.126 Schließlich kam es 1973 zu einer linearen statt einer prozentualen Lohnerhöhung. Als Mittel einer »solidarische[n] Lohnpolitik von unten« – eine der zentralen Forderungen in den wilden Streiks der 1960er und 1970er Jahre127 – wurde der Lohn aller Beschäftigter um den gleichen Festgeldbetrag erhöht. Die im Regionaltarifvertrag branchenweit gültige zehnprozentige Lohn- und Gehaltserhöhung wurde in absoluten und für die unteren Lohngruppen sogar höheren Beträgen auf alle Beschäftigten verteilt.128 Von diesen Bemühungen um eine gerechte Entlohnung profitierten vor allem Arbeiterinnen.129 Zudem wurden die Löhne der angehenden Glasmacher angehoben. Statt nach dem tariflich festgelegten »Lehrlingslohn« wurden sie nun wieder in der »alten« Form der anteiligen Bezahlung im

124 Siehe Lohn- und Personalliste (GHS), 20. September 1969, in: FHI, Schöf-1222; Ebenso [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28), S. 30f. Folgendes siehe Kapitel 1.5. 125 Aushang Lohntarifvertrag (GHS), 11. September 1970, in: AGI; Jochen Wegener, »Die Fabrik gehört uns«, in: Stern, 18. April 1973, in: AGI, S. 82. Die »übrige Belegschaft« habe hierdurch eine »doppelte« Lohnerhöhung erhalten. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Franz Fabian, 22. April 1974, im Besitz der Autorin, S. 16. 126 Nach [Manfred Hübner] seien die ursprünglich 32 Lohngruppen auf »18 oder 16 zusammengelegt« worden. Florian Fischer berichtete von einer Straffung von 38 (1969) auf 15 Lohngruppen (1972). [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28), S. 30; Florian Fischer, Die Arbeit in der selbstverwalteten Glashütte. Für die Arbeiter kein Fortschritt. Eine Fotodokumentation und Kritik falscher Erwartungen, Selbstverlag, 1974, in: FHI, Schöf-1194, S. 11; Ebenso Stern, 18. April 1973 (s. Anm. 125), S. 82. 127 Peter Birke, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt a.M. u.a. 2007, S. 179, 214, 238, 350. 128 Die »Zeitlöhner und Gehaltsempfänger« erhielten eine lineare Erhöhung »um den Betrag der vereinbarten Tariflohnerhöhung von 0,35 DM [pro Stunde] bzw. 61 DM« pro Monat. Die unteren Lohngruppen erhielten eine Erhöhung um 40 bis 50 Pfennig pro Stunde bzw. 69 bis 87 DM pro Monat. Für die Glasmacher als »Leistungslöhner« erhöhte sich der Auspreisungsrichtsatz von 8,50 auf 8,71 DM um 21 Pfennig, und bei den »Feinschleifern« erhöhte sich der »Anhängebetrag« von 2,24 auf 2,59 DM um 35 Pfennig. Protokollnotiz Lohn- und Gehaltstarifverträge (GHS), 6. November 1972, in: FHI, Schöf-1227. 129 Siehe im Vergleich Lohn- und Personalliste, 20. September 1969 (s. Anm. 124); Lohn- und Personalliste (GHS), 18. September 1972, in: FHI, Schöf-1227.

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Gruppenakkord entlohnt, womit eine von »alle[n am Ofen] als Unrecht angesehen[e]« Regelung beseitigt wurde.130 Auch die Einkommensunterschiede von Lohn- und Gehaltsempfänger*innen dürften sich tendenziell angeglichen haben, zumindest dürfte eine weitere Spreizung nicht erfolgt sein. Diese aufgrund fehlender Gehaltsunterlagen quantitativ nicht belegbare Annahme stützt sich auf Diskussionen in der Gesellschafterversammlung über die Gehälter leitender Angestellter.131 Wurden Gehaltserhöhungen früher in Einzelgesprächen mit der Geschäftsführung ausgehandelt, so mussten sie nun vor einer größeren Anzahl von Personen und vor Nicht-Angestellten gerechtfertigt werden. Ein weiteres Indiz für diese Tendenz ist die unter den leitenden Angestellten verbreitete Einschätzung, ihre Gehälter seien »viel zu niedrig«.132 Eine den Vorstellungen der Beschäftigten entsprechende Lohngerechtigkeit kam schließlich auch in der Auszahlung eines einheitlichen Weihnachtsgeldes zur Geltung, dessen Höhe üblicher Weise je nach Jahreseinkommen variierte. Insgesamt sank der Betrag allerdings aufgrund der angespannten Finanzlage auf ein untertarifliches Niveau. Im November 1970 beschloss die Gesellschafterversammlung, dass alle Beschäftigten unabhängig von der Lohn- und Gehaltsgruppe zum Jahresende eine Summe von 150 DM sowie einen Gutschein für Gläser zweiter Wahl in Höhe von 50 DM erhalten.133 Ende 1971 wurde gar kein Weihnachtsgeld ausgezahlt.134 Die Gesellschafter entschieden, dass jedes Belegschaftsmitglied von der Firma stattdessen zumindest eine Weihnachtsgans bekam.135 Als 1972 mit Gewinn abgeschlossen werden konnte, erhielten alle Beschäftigten eine Lohnnachzahlung in Höhe von 150 DM und ein Weihnachtsgeld in Höhe von 550 DM.136 Da die IG Chemie in der hessischen Hohlglasindustrie damals gerade die tarifliche Absicherung eines Weihnachtsgeldes in Höhe eines 13. Monatseinkommens durchgesetzt hatte, besaßen die Beschäftigten der Glashütte Süßmuth einen

130 [Holger Neumer], [Paul Nowak] und [Willi Voigt] in Transkript Erstes Treffen von Erasmus Schöfer mit der Belegschaft der GHS, 19. März 1973, im Besitz der Autorin, S. 17f. Der laut Tarifvertrag 1973 den Auszubildenden zustehende Monatslohn bewegte sich je nach Lehrjahr zwischen 290 und 387 DM und lag damit weit unter der in der Mundglasbranche traditionellen Entlohnung angehender Glasmacher, die damals einen Stundenlohn von mindestens fünf DM (also einen Monatslohn von mindestens 865 DM) erhielten. Lohntarifvertrag (GHS), 6. November 1972, in: FHI, Schöf-1227. 131 Siehe bspw. Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 11. November 1971, in: FHI, Schöf-1228. 132 [Hans Müller] zitiert in Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 21. Oktober 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 3; Ebenso [Jürgen Schmitz] an [Hans Müller], 11. November 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Volker Lange], undatiert [1973/74], im Besitz der Autorin, S. 2. 133 Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 12. November 1970, in: FHI, Schöf-1221, S. 1f. 134 Gesellschafterversammlung, 11. November 1971 (s. Anm. 131), S. 2. 135 Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 25. November 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 3. 136 Lohn- und Gehaltstarifverträge, 6. November 1972 (s. Anm. 128); Tarifvertrag Weihnachtsgeld, 6. November 1972, in: AGI.

Die Produktion

sehr viel höheren Anspruch.137 Ende 1973 lag dieser im Rahmen der Süßmuth-spezifischen Regelung bei 1.000 DM pro Person. Die Belegschaft verzichtete jedoch wie in den darauffolgenden Jahren auf die volle Auszahlung des Betrags.138 Das einheitliche Weihnachtsgeld setzten die Belegschaftsgremien sowohl gegen den Widerstand der Gewerkschaft (worauf weiter unten noch eingegangen wird) durch als auch gegen den einiger Führungskräfte, die diese neue Regelung als »Gleichmacherei« und einen Verstoß gegen das Leistungsprinzip bzw. als »kommunistisch« kritisierten.139 Die Entkoppelung von der individuellen Leistung rechtfertigten die Mitglieder des Betriebsrats dagegen mit der sich vom Lohn grundsätzlich unterscheidenden Bedeutung des Weihnachtsgeldes – als eine zu Disziplinarzwecken eingeführte »Erfindung […] von kapitalistischen Betrieben«.140 Der kollektive Verzicht auf dessen volle Auszahlung wurde in der Belegschaft vor allem deshalb akzeptiert, weil ihre gewählten Vertreter*innen ihn selbst initiiert hatten. Ebenso wie mit den linearen Lohnerhöhungen sollte mit dem einheitlichen Weihnachtsgeld zudem signalisiert werden, dass »vom Lehrling bis zum Geschäftsführer« alle Beschäftigten gleich berechtigt waren, gleich behandelt wurden und ihre Arbeitsleistung die gleiche Würdigung erhielt.141 Die Geschichte von der Weihnachtsgans fand Eingang ins kollektive Gedächtnis der Belegschaft und wird von Zeitzeug*innen bis heute als Beleg für die weitverbreitete Solidarität der Anfangszeit angeführt.142 Die Botschaft dieser aus der Not geborenen und mit nur geringen Kosten verbundenen Maßnahme – »Jeder und Jede ist wichtig« – stärkte nachhaltig den sozialen Zusammenhalt in der Belegschaft. Trotz der aufgezeigten Anfangserfolge: Das Einkommensgefälle blieb enorm. In der Produktion erhielten die Glasmacher weiterhin die mit Abstand höchsten Löhne, mit-

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Laut Regionaltarifvertrag stand den Beschäftigten der hessischen Hohlglasindustrie 1972 ein Weihnachtsgeld in Höhe von 85 Prozent, ein Jahr später in Höhe von 100 Prozent des tariflichen Monatslohnes bzw. -gehaltes zu. Rundschreiben IG Chemie Bezirk Hessen, Bereich Hohlglaserzeugung, 1973, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner; Egon Schäfer an alle Vertrauensleute der Hohlglas erzeugenden Industrie in Hessen, 2. Juli 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 138 Entwurf Tarifvertrag Weihnachtsgeld (GHS), 21. November 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 1. Ein Teil der Weihnachtsgeldsumme wurde seit 1973 in der Bilanz als Belegschaftsdarlehen ausgewiesen, auf deren Auszahlung die Beschäftigten letztlich verzichteten. Siehe Kapitel 7.3 und Kapitel 9.1. 139 [Rudolf Woge] in Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27), S. 30; Transkript Interview der Autorin mit [Manfred Hübner], 11. Juni 2013, im Besitz der Autorin, S. 11. 140 Namentlich unbekanntes Betriebsratsmitglied zitiert in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28), S. 30. Auch im Belegschaftsunternehmen wurde das Weihnachtsgeld disziplinarisch eingesetzt: für jeden unentschuldigten Fehltag wurde 1970 ein Betrag von 5 DM und 1973 ein Betrag von 7,50 DM abgezogen. Gesellschafterversammlung, 12. November 1970 (s. Anm. 133), S. 1; Tarifvertrag, 21. November 1973 (s. Anm. 138), S. 2. 141 [Holger Neumer] zitiert in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 130), S. 17; [Hübner], 11. Juni 2013 (s. Anm. 139), S. 11; Hüttenecho, April 1971 (s. Anm. 122), S. 8; Ebenso Braun et al., 1973 (s. Anm. 11), S. 10f. 142 [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28), S. 29f.; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Wolfgang Franke] und [Frank Weber], 13. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 8; [Hübner], 11. Juni 2013 (s. Anm. 139), S. 11; Transkript Interview der Autorin mit [Jochen Schmidt], 7. Februar 2013, im Besitz der Autorin, S. 26.

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unter verdienten sie fast doppelt so viel wie Nicht-Facharbeiter*innen.143 Die Stundenverdienste der kaufmännischen Angestellten betrugen teilweise das Dreifache.144 In den Auseinandersetzungen hierüber trat zutage, dass die Beschäftigten weniger die absoluten Einkommensunterschiede an sich, als vielmehr die diesen zugrunde liegende Ungleichheit in der Bewertung der jeweiligen Arbeitsleistung kritisierten. So hätten laut der Rauschleiferin [Anna Thiele] ihre Kolleg*innen in der Weiterverarbeitung nicht die Löhne der Glasmacher, sondern Lohnunterschiede innerhalb der eigenen Abteilung problematisiert.145 Kritik an den Glasmacherlöhnen kam dagegen von den Facharbeitern aus der Glasveredelung, der Formenstube oder der Schlosserei, die sich als Angehörige der gleichen Statusgruppe benachteiligt sahen. Der Pförtner [Heinz Kluge] empfand seinen Stundenlohn in Höhe von 5,30 DM gegenüber den zwischen 13 bis 14 DM liegenden Stundenverdiensten der kaufmännischen Angestellten als äußerst ungerecht, hatte sich sein Tätigkeitsfeld nach der Belegschaftsübernahme doch dahingehend ausgeweitet, dass er nunmehr auch verwaltungstechnische Aufgaben wie die früher von der Personalabteilung erledigte Stundenkartenverrechnung übernahm.146 Zentrale Ursache für diese Disparität war die Beibehaltung unterschiedlicher Einkommensformen (Lohn/Gehalt) und unterschiedlicher Lohnformen. Während die Mehrheit der Beschäftigten einen Zeitlohn erhielt, arbeiten die Glasmacher im Stücklohn (Geldakkord). Als einzige Beschäftigtengruppe besaßen letztere somit die Möglichkeit, durch individuelle Anstrengungen einen höheren Verdienst zu erhalten. Bewertet wurden hierbei jedoch nicht die Arbeit der einzelnen Glasmacher, sondern die Ergebnisse der im Durchschnitt drei- bis vierköpfigen Werkstellengruppen, deren Mitglieder je nach Qualifikation bzw. Position in der Arbeitshierarchie anteilsmäßig entlohnt wurden (Gruppenakkord). Im Tarifvertrag festgelegt war lediglich der Zeitlohn je Stunde als garantierter Mindestlohn und der Akkordrichtsatz je Stunde, der bei Normalleistung gezahlt wurde.147 Über die Höhe des Geldbetrags pro Stück und die Definition der Normalleistung, das heißt die Anzahl der pro Stunde normalerweise herzustellenden Stücke, wurde hingegen permanent zwischen den Werkstellenmeistern, den Hüttenmeistern und dem Betriebsleiter auf Basis von Erfahrungswerten für jedes Produkt einzeln verhandelt, da hiermit jeweils unterschiedliche Arbeitsanforderungen verbunden waren.148 Konnte ein Artikel grundsätzlich oder temporär nicht im Akkord gefertigt werden – zum Beispiel weil die Formung zu aufwendig war, Unregelmäßigkeiten bei

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Lohn- und Personalliste (GHS), 12. März 1971, in: FHI, Schöf-1228; Lohn- und Personalliste, 18. September 1972 (s. Anm. 129); Lohn- und Personalliste (GHS), 15. November 1973, in: AGI. Problematisiert in [Neumer] et al., 22. Januar 1974 (s. Anm. 103), S. 1; [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28), S. 32f. 144 Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Heinz Kluge], undatiert [Sommer/Herbst 1973], im Besitz der Autorin, S. 2f. 145 Folgendes aus [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28), S. 33–35. 146 [Kluge], [Sommer/Herbst 1973] (s. Anm. 144), S. 2f. 147 Siehe bspw. Lohntarifvertrag (GHS), 11. Dezember 1971, in: FHI, Schöf-1228. 148 Der Manteltarifvertrag sah vor, dass »Arbeiten, die sich zur Ausführung in Akkord- oder Prämienarbeit eignen, […] zwischen Betriebsleitung und Betriebsrat schriftlich zu vereinbaren« waren. Zusammenfassung Ergebnisse der Manteltarifverhandlungen für die Hohlglasindustrie, 15. Februar 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 2, S. 12.

Die Produktion

der Fertigung auftraten, die die Glasmacher nicht zu verantworten hatten, oder weil es zu personellen Umbesetzungen an den Werkstellen kam –, wurden sie nach einem Durchschnittslohn bezahlt, der sich aus dem »im vorangegangenen Quartal erzielten Stundendurchschnittsverdienst« ergab.149 Diese in Mundglashütten übliche Praxis des Auspreisens war ein konfliktanfälliger Prozess, in dem sich generell die Glasmacher in Abhängigkeit von ihren spezifischen (auf dem Arbeitsmarkt in unterschiedlichen Grade knappen) Fähigkeiten zu behaupten wussten. Vor diesem Hintergrund hatte der frühere Betriebsleiter die von der Mehrheit der Glasmacher als willkürlich wahrgenommene Praxis etablieren können, die Stückzahlen mit den Werkstellen einzeln und im Geheimen zu verhandeln, was zu den besagten als ungerecht empfundenen »Nasenlöhnen« führte.150 Nach der Entlassung der dreiköpfigen Geschäftsführung im März 1971 bemühten sich die Belegschaftsgremien, die traditionelle Praxis des Auspreisens an die veränderten Bedingungen im Betrieb anzupassen und vor allem Kriterien einer gerechten Entlohnung zu unterwerfen.151 Den Spielraum, der sich den Glasmachern bislang für eigennützige Verhandlungstaktiken aufgetan hatte, galt es zu reduzieren bzw. zu beseitigen. Der erste Schritt zu einer gerechteren Akkordentlohnung war die Neuauspreisung sämtlicher Artikel, womit im Frühjahr 1971 begonnen wurde. Dies war ein höchst komplexes Unterfangen, das – weil es das gesamte Machtgefüge in der Hütte tangierte – nicht einfach umzusetzen war und Konflikte erzeugte.152 Denn die Neuauspreisung setzte auch eine Bereitschaft zur Abpreisung (das heißt einer Senkung der Stückverdienste) bei vormals von [Ludwig Hagers] Zugeständnissen profitierenden Glasmachern voraus. Hinzu kamen die Auspreisungen infolge der vielen Produktneuheiten, die der neue Vertriebsleiter [Stefan Kurtz] ins Sortiment aufgenommen hatte.153 Erschwert wurde die Reform des Akkordsystems zudem durch die sich zu einem Dauerzustand entwickelnde Sanierung, die mit vielen Unregelmäßigkeiten einher ging und hierdurch dem Arbeiten im Stücklohn die Grundlage entzog. Einen jähen Abbruch erfuhren diese Reformbemühungen, als der Beirat seit Herbst 1971 verstärkt Einfluss auf die unternehmerische Entscheidungsfindung nahm.

Der Lohn als Kostenfaktor Aus Perspektive der betriebsexternen Beiratsmitglieder kam dem Lohn eine immense Bedeutung zu: Als betriebswirtschaftliche Kennziffer zogen sie die Lohnkosten als Maßstab bei der Bewertung der Rentabilitätsentwicklung des selbstverwalteten Unternehmens heran. Die Lohngestaltung galt ihnen als wichtiges Rationalisierungsinstrument 149 Franz Fabian an den Beirat (GHS), 2. November 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 2. 150 Siehe Kapitel 1.5. 151 Siehe bspw. Abteilungsleiterkonferenz, 24. Mai 1971 (s. Anm. 37); Technischer Ausschuss an Gesellschafter (GHS), 15. September 1971, in: FHI, Schöf-1228; Gesellschafterversammlung, 2. September 1971 (s. Anm. 90); Gesellschafterversammlung, 30. September 1971 (s. Anm. 56). 152 Die Komplexität in der Akkordfestsetzung und Kalkulation resultierte aus der Vielfalt miteinander schwierig vergleichbarer Artikel und den jeweils sehr unterschiedlichen Anforderungen bei der Fertigung. 153 Siehe Kapitel 6.1.

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zur Steigerung der Produktivität. Im Lohnkostenanteil von zum Zeitpunkt der Belegschaftsübernahme über 70 Prozent sahen sie vor allem entscheidendes Einsparpotenzial.154 Auf der konstituierenden Beiratssitzung am 18. Dezember 1970 verwies der hessische IG-Chemie-Bezirksleiter Franz Fabian in seiner neuen Funktion als Beiratsvorsitzender auf »vergleichbare Hütten […], die mit einem unter 50 Prozent liegendem Lohnkostenanteil arbeiten« würden, und betonte die Notwendigkeit, auch in der Glashütte Süßmuth »an diese Prozentzahl näher heranzukommen.«155 Der seit Frühjahr 1971 geschäftsführende Ausschuss musste sich gegenüber dem Beirat verpflichten, die Lohnkosten zumindest auf einen Anteil von 55 Prozent zu reduzieren – dieses Versprechen war Voraussetzung dafür, dass die Banken mit der Auszahlung der Kreditmittel begannen.156 Einen einfach zu realisierenden Schritt in Richtung Lohnkostensenkung sahen die externen Beiratsmitglieder im Personalabbau durch »Entlassungen bzw. Nichtauffüllung von aus Altersgründen ausscheidenden Arbeitskräften«.157 Das Gehalt der Angestellten bewerteten sie dagegen ebenso wie dieselben als zu gering.158 Die Lohnkosten waren – anders als vom Beirat erwartet – nach den Investitionen in die Produktionsanlage kaum gesunken. Im Gegenteil, im ersten Jahr der Selbstverwaltung erhöhten sie sich sogar erheblich. Der Lohnkostenanteil stieg von 71,5 Prozent (1969) auf 77 Prozent (1970), reduzierte sich jedoch 1971 wieder auf 68 Prozent, wie sich erst zu Beginn 1972 zeigte.159 Ähnlich wie bei der Entwicklung der Produktivität waren also auch in der Kostenentwicklung die Effekte der Investitionen erst über einen längeren Zeitraum nachweisbar. Zu keinem Zeitpunkt näherte sich der Lohnkostenanteil allerdings – trotz anhaltender Bemühungen des Geschäftsführers [Hans Müller] – den vom Beirat geforderten 50 bis 55 Prozent an.160 Stattdessen bewegte er sich zwischen 65 und 70 Prozent, weshalb Franz Fabian die »Lebensmöglichkeit« des Unternehmens ständig bedroht sah.161 Nur infolge der über ein Jahr lang anhaltenden Kurzarbeit und Sechstagewoche sowie durch den »natürlich[en] Abgang [von 25 Beschäftigten] ohne Neubesetzung« im

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Mit Lohnkostenanteil ist hier und im Folgenden der Anteil sämtlicher Personalkosten – also Löhne und Gehälter inklusive der Lohnersatzleistungen (Urlaubsgeld, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) sowie der Arbeitgeberbeiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung – im Verhältnis zum Umsatz gemeint (und nicht der Anteil der Lohnkosten an den Gesamtkosten oder in Relation zur Betriebsleistung). 155 Beirat, 18. Dezember 1970 (s. Anm. 4), S. 5. 156 Stellungnahme Beirat (GHS), 20. April 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Handschriftliches Protokoll (Vitt) Außerordentliche Beiratssitzung (GHS), 20. April 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Beirat, 4. Juni 1971 (s. Anm. 65). Siehe Kapitel 7.3. 157 Beirat, 20. April 1971 (s. Anm. 156), S. 1. 158 Maßnahmenkatalog zur drastischen Kostensenkung und Sicherung des Firmenstammkapitals (GHS), undatiert [Frühjahr 1971], in: FHI, Schöf-1196, S. 3; Betriebsexterne Beiratsmitglieder, 20. Dezember 1971 (s. Anm. 86), S. 1. 159 RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 29), S. 5. 160 Noch im November 1974 wurde [Hans Müller] in der Sunday Times mit der Zielstellung zitiert, den Lohnkostenanteil von angeblich 79 auf 50 Prozent zu senken. Antony Terry, »We have ways of making a co-op work«, in: The Sunday Times, 24. November 1974, in: Privatarchiv [Müller]. 161 Handschriftliches Protokoll Beirat (GHS), 15. Oktober 1974, in: AGI, S. 2.

Die Produktion

Zuge der konfliktträchtigen Umstellung auf den Zweiofenbetrieb war der Lohnkostenanteil im Jahr 1974 temporär von 65,5 auf 63,2 Prozent gesunken.162 Die Einschätzung, dies seien insgesamt zu hohe Werte, ist mit Blick auf andere Unternehmen der Mundglasbranche zu relativieren. Fabian stellte zwar selbst einen Branchenbezug her, ließ aber offen, in welchen »vergleichbaren Hütten« er einen Lohnkostenanteil von unter 50 Prozent registrierte (bzw. welche Bemessungsmethode seinen Angaben zugrunde lag).163 In der Glasbranche war die Höhe der Lohnkosten maßgeblich von der Art des Fertigungsverfahrens (manuell oder maschinell) sowie der Produkt- und Sortimentsgestaltung abhängig. Einheitliche Werte für die Glasbranche besaßen folglich wenig Aussagekraft. Generell fiel der Lohnkostenanteil umso höher aus, je heterogener das Sortiment und je aufwendiger die Formung der Produkte war.164 Für Unternehmen wie die Glashütte Süßmuth, die im Mundblasverfahren eine breite Palette hochwertiger Produkte herstellten, lag ein Lohnkostenanteil zwischen 65 und 70 Prozent zum damaligen Zeitpunkt im Rahmen des Branchenüblichen.165 Das Kristallglaswerk Hirschberg hatte beispielsweise im Dezember 1971 einen Lohnkostenanteil von 68 Prozent zu verzeichnen, Prognosen für 1972 gingen hier von einem Anstieg auf über 70 Prozent aus.166 Die Forderung nach einem unter 50 Prozent liegenden Lohnkostenanteil war also völlig unangemessen. Die weiterhin hohen Lohnkosten deutete der Beirat indes als Zeichen sinkender Rentabilität und vor allem als das Resultat eines künftig zu unterbindenden Fehlverhaltens der Beschäftigten und insbesondere der Glasmacher. Als im Oktober 1971 erstmals Zahlen vorlagen, die seit Januar 1970 einen Anstieg der Glasmacherverdienste um 17 Prozent und einen Gesamtanstieg der Lohnkosten von 16 Prozent konstatierten, schlug der Beiratsvorsitzende Franz Fabian »Alarm«.167 Bereits im Juni 1971 hatte der HLT-Wirtschaftsprüfer [Ulrich Herzog] die bis dahin anhaltende Verlustentwicklung vorrangig »auf Lohn- und andere Kostensteigerungen« zurückgeführt.168 Aufgrund dieser Deutung und angesichts der »ernste[n] wirtschaftliche[n] Situation« fühlte sich Fabian dazu berechtigt, im Alleingang mit [Hans Müller] die pauschale »Abpreisung der bisherigen Geldakkorde« sowie die Kürzung der Stunden-Durchschnittslöhne der Glasmacher zu

162 163

Beirat, 17. Dezember 1974 (s. Anm. 45), S. 2; Beirat [2], 17. März 1975 (s. Anm. 15), S. 3. Hätte Fabian bei seinen Angaben die Höhe der Lohnkosten in Relation zur Betriebsleistung gesetzt, die Werte wären in der GHS gar nicht so hoch gewesen. Diese lagen 1969 bei 58 Prozent, 1970 bei knapp 64 Prozent und dürften 1971 wieder unter 60 Prozent gefallen sein. HLT, 3. Juni 1971 (s. Anm. 65), S. 3. 164 Georg Goes, Arbeitermilieus in der Provinz. Geschichte der Glas- und Porzellanarbeiter im 20. Jahrhundert, Essen 2001, S. 160. 165 Siehe Stellungnahme des VdG-Geschäftsführers Georg Peter in Protokoll BMWi Länderausschuss Glas, Keramik, Steine und Erden, 3. bis 4. Dezember 1971, in: BArch, B 102/163460. Die Angestellten der Industriegruppe Glas der IG-Chemie-Hauptverwaltung gingen 1974 von einem in der Mundglasbranche üblichen Lohnkostenanteil von durchschnittlich 70 Prozent aus. Karlheinz Böker an [Udo Kohler], 16. Mai 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 166 Vermerk Magistrat Stadt Allendorf, 16. Dezember 1971, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner, S. 2. 167 Fabian, 2. November 1971 (s. Anm. 149). 168 HLT, 3. Juni 1971 (s. Anm. 65), S. 3.

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beschließen.169 Mit der Drohung, andernfalls »keine Hilfe von irgendeiner Seite« mehr zu bekommen, setzte Fabian die dagegen protestierenden Glasmacher unter Druck, diesen Eingriff zu akzeptieren.170 Gleichzeitig wurden die Stundenverdienste »bei den Zeitlöhnern und Angestellten« um 0,50 DM angehoben,171 was das Gerechtigkeitsempfinden der Glasmacher einmal mehr verletzte. Ohne die hierfür eigentlich zuständige Tarifkommission und die Gesellschafterversammlung einzubeziehen, schloss Fabian für die IG-Chemie-Bezirksleitung Hessen mit dem Geschäftsführer [Müller] am 11. Dezember 1971 dementsprechende Firmentarifverträge ab.172 In ihrer Bewertung der Lohnentwicklung hatten die geschäftsführenden Gremien – ähnlich wie in ihren Technikentscheidungen – grundlegende Merkmale der Fertigung in einer Mundglashütte ignoriert und sich an branchenfremden Idealvorstellungen von Rentabilität orientiert. Sie sahen nicht ein, dass die Steigerung der nur begrenzt maschinisierbaren und folglich weiterhin arbeitskräfteintensiven Fertigung in der Glashütte Süßmuth zwangsläufig mit höheren Lohnkosten einher ging. Die anvisierte Ausweitung der Produktion hatte zudem den Arbeitskräftebedarf vergrößert. Mit der vorgeschlagenen Reduzierung der Beschäftigtenzahl verkannte der Beirat also eine grundlegende Voraussetzung für das Erreichen der expansiven Unternehmensziele, »wozu in erster Linie Personal gehört.«173 So wirkte sich der auch in der belegschaftseigenen Glashütte Süßmuth weiterhin bestehende Mangel an Facharbeiter*innen und Nicht-Facharbeiter*innen in Kostensteigerungen aus – sei es, weil die Produktionskapazitäten nicht voll ausgelastet werden konnten oder weil »unqualifizierte« Tätigkeiten zum Teil von Fachkräften mit höheren Löhnen ausgeführt werden mussten.174 Zum anfänglich rasanten Anstieg der Personalkosten trugen vor allem aber die Turbulenzen des Übernahmeprozesses, die sanierungsbedingten Produktionsausfälle, die Fehlentscheidungen der von Gewerkschaft und Wirtschaftsministerium ernannten drei-köpfigen Geschäftsführung sowie nicht zuletzt auch deren monatliche Gehälter in Höhe von insgesamt 11.000 DM bei – alles Faktoren, die vom Beirat nicht problematisiert wurden.175 Die Probleme bei der Sanierung der Produktionsanlage und damit verbundenen Schwankungen der Glasqualität führten dazu, dass die Glasmacher in den Jahren 1970 und 1971 gehäuft nach einem Durchschnittslohn bezahlt wurden. Denn die Voraussetzungen für das Arbeiten im Akkord waren nicht mehr gegeben, wenn die Glasmacher aus

169 Wollten [Müller] und Fabian die Durchschnittslöhne der Glasmacher ursprünglich um 10 bis 15 Prozent herabsetzen, reduzierten sie sie im November 1971 schließlich um 5,5 Prozent. Fabian, 2. November 1971 (s. Anm. 149); Geschäftsführung, 22. Oktober 1971 (s. Anm. 30), S. 3–5; Erläuterung »Akkordarbeit in der Hütte« (GHS), 24. November 1971, in: FHI, Schöf-1228. 170 Fabian, 2. November 1971 (s. Anm. 149), S. 3. 171 Geschäftsführung, 22. Oktober 1971 (s. Anm. 30), S. 4f. 172 Lohntarifvertrag, 11. Dezember 1971 (s. Anm. 147); Gehaltstarifvertrag (GHS), 11. Dezember 1971, in: FHI, Schöf-1228. 173 [Konrad Scholz] zitiert in Protokoll Gesellschafterversammlung, 6. September 1973, in: AGI, S. 1. 174 Protokoll Beirat (GHS), 10. Juli 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 1. Dies war auch schon vor der Belegschaftsübernahme der Fall. Siehe Kapitel 1.5. 175 Auf diese letztlich unproduktiven Gehaltskosten – zu denen die von der ersten Geschäftsführung getätigten Fehlinvestitionen noch hinzukamen – wiesen die RKW-Gutachter im Rückblick hin. RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 29), S. 5, 9f.

Die Produktion

von ihnen nicht verschuldeten Gründen ihre Arbeit (temporär) unterbrechen mussten. Der Anteil der Durchschnittsentlohnung erhöhte sich auch mit der Musterproduktion, die im Zusammenhang mit der Diversifikationsstrategie und Vertriebsexpansion unter Leitung von [Stefan Kurtz] massiv zunahm. Neue Erzeugnisse wurden erst nach einer gewissen Zeit der Einarbeitung ausgepreist und bis dahin im Durchschnitt entlohnt. Diesen Zusammenhängen schenkten Franz Fabian und die externen Beiratsmitglieder keinerlei Beachtung. Die Geschäfts- und Betriebsleiter räumten sie nur insgeheim oder im Nachhinein ein.176 Im Beirat wurde der erhöhte Anteil der Durchschnittsentlohnung der Glasmacher stattdessen als Ausdruck einer gesunkenen oder gar zurückgehaltenen Arbeitsleistung und als eine Entkoppelung der Löhne von der Leistung kritisiert. Fabians Fazit lautete daher: Nur durch eine »leistungsgebundene Neufestsetzung der Löhne« könne der Lohnkostenanteil gesenkt werden.177

Der Leistungslohn Die Unzufriedenheit mit dem Entlohnungssystem war durch die Konflikte, die sich hierüber bereits im ersten Jahr der Selbstverwaltung zuspitzten, bei allen Beteiligten gewachsen: Problematisierten die Beschäftigten vor allem die aus dem Fortbestehen des betrieblichen Lohngefälles resultierende Ungerechtigkeit, so beurteilten die externen Beiratsmitglieder die etablierten Strukturen der Entlohnung als grundsätzlich ineffizient. Die unterschiedliche Problemakzentuierung förderte zwei konträre Lösungsansätze zutage: Während die geschäftsführenden Gremien die Reform und Ausweitung der Leistungsentlohnung vorantrieben, forderten Teile der Belegschaft die Abschaffung derselben zugunsten einer Vereinheitlichung der Lohnformen.178

Reform und Ausweitung der Leistungsentlohnung Die Vertreter der vom Beirat konsultierten RKW-Landesgruppe Hessen kamen zu gegensätzlichen Einschätzungen.179 Der schon länger mit der Glashütte Süßmuth vertraute RKW-Berater [Bertold Ehlers] sah weder in der Abteilung Hütte noch in der Weiterverarbeitung Handlungsbedarf: »Arbeitsrhythmus, die Leistungshergabe und der Materialfluss [könnten] auch von einem neutralen Spezialberater zum Nutzen des Ganzen kaum merklich verbessert werden«. Die »klassische Form der Auspreisung« erachtete [Ehlers] als völlig ausreichend. In der Weiterverarbeitung könne »mit gleichem Erfolg wie in der Hütte, ohne Zusatzberatungskosten« und aus »eigener Kraft«, ein leistungsabhängiger Lohn eingeführt werden. Von Arbeits- und Zeitstudien zum Auf- und Ausbau der Leistungsentlohnung riet er ab: Die dafür notwendigen 260 Beratungstage sei176 177 178

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[Hans Müller] in Gesellschafterversammlung, 11. November 1971 (s. Anm. 131), S. 2; [Rudolf Woge] in Beirat, 10. Juli 1973 (s. Anm. 174), S. 3. Fabian, 2. November 1971 (s. Anm. 149), S. 2f. Die Gegenüberstellung von Leistungslohn und Zeitlohn bezeichnet Reinhold Reith als irreführend. Denn auch der Zeitlohn war insofern ein leistungsgebundener, als er je nach Qualifikation oder Fähigkeit unterschiedlich hoch ausfiel. Im Folgenden wird der Begriff Leistungslohn dennoch entsprechend dem zeitgenössischen Gebrauch verwendet, der Stück- oder Zeit-akkordierte sowie Prämien- oder Pensumlohnformen umfasste. Reith, Lohn (s. Anm. 117), S. 309–311, 51–53. Folgendes aus RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 29), S. 2, 11.

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en sehr kostenintensiv. Zudem würde die Anwesenheit von »fremden Zeitnehmern« im Betrieb »zusätzliche Störungen« verursachen. Sein jüngerer Kollege [Michael Wiege] erkannte dagegen erhebliches Rationalisierungspotenzial; im Sommer 1972 nahm der Beirat sein Beratungsangebot an.180 Diese ohne Beteiligung der Belegschaftsgremien getroffene Entscheidung wurde durch die Unterstellung befördert, die Glasmacher würden in den bislang üblichen Akkordaushandlungen aus Eigeninteresse falsche Angaben machen. Bestätigt sah sich der Beirat durch Beobachtungen externer Gutachter und des Geschäftsführers [Hans Müller], der Anstieg der Akkordlöhne gehe nicht mit einer dementsprechenden Leistungssteigerung einher.181 Das als veraltet und – weil lediglich auf Erfahrungswerten beruhend – als »äußerst ungenau« wahrgenommene Entlohnungssystem sollte daher grundlegend modernisiert werden.182 Eine »analytische Arbeitsbewertung« sollte eine objektive, von den Lohninteressen der Glasmacher losgelöste Ermittlung und Kontrolle der Akkordstückzahlen ermöglichen. Eine derart fundierte Leistungsentlohnung sollte auch in der Abteilung Weiterverarbeitung eingeführt werden. Seit September 1972 bemühten sich der RKW-Berater [Wiege] und ein REFA-Berater, die Entlohnung in der Glashütte Süßmuth auf ein »wissenschaftliches« Fundament zu heben. Sie stießen dabei auf zahlreiche Schwierigkeiten. Die Kalkulation aller Artikel erwies sich – mit Blick auf die große Vielfalt und die in der Fertigung jeweils nur schwer vergleichbaren, manuell ausgeführten Arbeitsschritte – als zu aufwendig.183 Die generellen Abläufe der Mundglasfertigung an Hafenöfen mit periodischem Schmelzprozess und einem mit vielen unvorhersehbaren Schwankungen verbundenen Arbeitsfluss, die sich in der Glashütte Süßmuth wegen des anhaltenden Sanierungszustandes noch verstärkten, erschwerten die für eine Einstufung der Artikel und Tätigkeiten erforderlichen Zeitmessungen. Ein weiteres Hindernis stellte die Ausschussproduktion dar, die ebenfalls je nach Qualität der Schmelze unterschiedlich hoch ausfiel. Für die Hütte vermochten die externen Berater daher keine Vorschläge zu unterbreiten.184 Auch für die Weiterverarbeitung musste [Wiege] einräumen, dass »eine Leistungsentlohnung im Akkord« aufgrund der »Artikelvielfalt […] nicht möglich« sei, stattdessen schlug er die Einführung von Leistungsprämien vor.185 Um hierfür eine Kalkulationsgrundlage zu schaffen, teilte er das Sortiment in Hauptgruppen ein und konzentrierte sich bei seinen Berechnungen auf jene Artikel, die den höchsten Umsatz brachten. Das von ihm entwickelte Prämiensystem blieb allerdings selbst nach Verlängerung der Probezeit problembehaf-

180 Protokoll Beirat (GHS), 24. Februar 1972, in: FHI, Schöf-1227, S. 2. Der Beschluss zur Auftragserteilung ist nicht überliefert; er geht aber aus späteren Protokollen von Beiratssitzungen und Gesellschafterversammlungen hervor. 181 HLT, 3. Juni 1971 (s. Anm. 65), S. 3f.; RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 29), S. 2; [Hans Müller] in Protokoll Beirat (GHS), 12. Oktober 1972, in: FHI, Schöf-1227, S. 4. 182 Folgendes von [Thomas Beike], dem für Arbeitsstudien zuständigen Funktionär der IG-ChemieBezirksleitung Hessen, aus Beirat, 12. Oktober 1972 (s. Anm. 181), S. 4. 183 Um das gesamte Sortiment zu kalkulieren – so [Michael Wiege] am Ende seiner Untersuchung – »würde [man] zwei Jahre und drei Leute brauchen.« Entwurf Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 24. April 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 1. 184 [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28), S. 31f. 185 Folgendes aus [Michael Wiege] an Beirat (GHS), 14. März 1973, in: FHI, Schöf-1226.

Die Produktion

tet, führte zu falschen Lohnabrechnungen und wurde schließlich nach einigen Monaten wieder abgeschafft.186 Die Befürchtungen von [Bertold Ehlers] hatten sich in jeglicher Hinsicht bestätigt: Die Arbeits- und Zeitstudien waren sehr aufwendig, teuer, letztlich erfolglos und erzeugten fast ein Jahr lang große Unruhe in der Firma.187 [Michael Wiege] blieb indes bei seiner Auffassung, die Leistungsentlohnung der Glashütte Süßmuth könne und müsse reformiert und ausgeweitet werden. Um hierfür die Voraussetzungen zu schaffen, empfahl er zuletzt eine radikale Sortimentsbereinigung.188 Zur Verstetigung und Beschleunigung des Arbeitsflusses schlug er zudem die Abschaffung der arbeitskräfteintensiven Qualitätskontrollen bei gleichzeitig kulanteren Reklamationsregelungen oder sogar die Einführung einer an den schwankenden Arbeitsanfall in der Weiterverarbeitung angepassten »flexible[n] Arbeitszeit« vor. Seine Überlegungen gingen also weit über den Bereich der Lohngestaltung hinaus, tangierten die Produkt- und Vertriebspolitik bzw. stellten letztlich die gesamte Unternehmensausrichtung zur Disposition. Weil [Wiege] bei einer Realisierung seiner Vorschläge nicht nur »größere Leistungsanstiege« in Aussicht stellte, sondern mit dringlicher Rhetorik hiervon die Zukunft des Unternehmens abhängig machte, wirkten sie im Laufe des Jahres 1973 – zu einem Zeitpunkt unerwarteten Auftragsrückgangs – sowohl zwischen Belegschaftsvertreter*innen und Geschäftsführung als auch innerhalb der Belegschaftsgremien polarisierend.189 Auch im Arbeitsalltag störten die Untersuchungen der externen Berater die Abläufe, sie beförderten Unsicherheit und Konflikte.190 Trotz der von Beginn an gescheiterten Versuche, die Leistungsentlohnung zu reformieren und auszubauen, setzten die geschäftsführenden Gremien bis zum Ende der Selbstverwaltung ihre dahingehenden Bestrebungen fort. Mit den sich im Betrieb verdichtenden Konflikten hatte sich ihre Vorannahme erhärtet, die anhaltend hohen 186 [Konrad Scholz] und [Rudolf Woge] an Betriebsrat (GHS), 18. April 1973, in: FHI, Schöf-1226; Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 24. Mai 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 3. 187 [Wiege] hatte Anfang 1973 eine Verlängerung seiner Beratungszeit beantragt, die damit den Umfang von 1.000 Stunden überstieg. Die Kosten seiner Beratung, für die er zu Beginn einen Betrag zwischen 30.000 und 35.000 DM veranschlagt hatte, wurden zur Hälfte vom HWMi übernommen. Die andere Hälfte musste die Belegschaftsfirma zahlen. Die Kosten für die Arbeit des REFA-Beraters sind nicht überliefert. Gesellschafterversammlung, 24. April 1973 (s. Anm. 183), S. 1; Handschriftliches Protokoll (Vitt) Beirat (GHS), 24. Februar 1972, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 1; Vermerk [Hans Müller], 15. Januar 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. 188 Folgendes aus [Wiege], 14. März 1973 (s. Anm. 185); Protokoll Beirat (GHS), 14. März 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 2f.; Gesellschafterversammlung, 24. April 1973 (s. Anm. 183); HLT, 31. Oktober 1973 (s. Anm. 97). 189 Der Betriebsrat kritisierte [Hans Müller], sich [Wieges] Vorschlägen zu verweigern, und die Gesellschafter, nicht dahingehend auf den Geschäftsführer einzuwirken. Letztere zweifelten dagegen an der Sinnhaftigkeit dieser Reformüberlegungen. Betriebsrat an die Gesellschafter (GHS), 23. Mai 1973, in: FHI, Schöf-1226; Gesellschafterversammlung, 24. Mai 1973 (s. Anm. 186). Zu dieser Kontroverse siehe Kapitel 6. 190 Die Zeitmessungen hatten für [Walter Albrecht], der aus jahrzehntelanger Erfahrung wusste, wieviel Arbeitszeit bei den Artikeln anfiel, keinerlei Sinn ergeben, stattdessen aber die Beschäftigten verängstigt, die – so berichtete es auch der Leiter der Rauschleiferei [Josef Lehmann] – befürchteten, dass »sie ihren Arbeitsplatz durch Rationalisierung verlieren.« Gesellschafterversammlung, 24. April 1973 (s. Anm. 183).

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Lohnkosten seien vor allem das Resultat lohnegoistischer Verhandlungstaktiken.191 Unermüdlich suchten sie daher nach Möglichkeiten, die Entwicklung der Löhne und insbesondere die der Glasmacher einer zentralen Kontrolle zu unterwerfen. So beauftragte der Beirat im Oktober 1974 den Geschäftsführer mit der »Erarbeitung und Überprüfung eines besseren Auspreisungssystems«, um die Lohnkosten und den »Anteil der Durchschnittsarbeit wesentlich zu senken«.192 Als Voraussetzung für die zu Beginn 1975 geplante »Akkordbereinigung und Neuauspreisung« überprüfte der Betriebsleiter »sämtliche Glasmacherakkorde«, indem er die zurückliegenden »Soll- und Ist-Leistungen« jedes einzelnen Glasmachers verglich.193 Zudem gründete der Beirat eine »Kommission für diese Lohnfragen«, der die Funktionäre des Bezirks Hessen (Franz Fabian und [Thomas Beike]) und der Verwaltungsstelle Kassel ([Klaus Boehm]) angehörten. Im Frühjahr 1975 musste der Beirat indes konstatieren, dass trotz Abpreisung das Lohnniveau der Glasmacher gleich geblieben war.194 Im September 1975 sprach sich Fabian daher – entgegen der Bedenken, die der Glasmacher [Jochen Schmidt] als Betriebsratsvorsitzender und nunmehr auch der Geschäftsführer [Hans Müller] anmeldeten – für die Einführung einer »Ofenprämie« aus und beauftragte [Thomas Beike] zu prüfen, wie eine solche verteilt werden könnte.195 Zugleich veranlasste der Beirat, alle über 130 Prozent liegenden Akkordverdienste pauschal herab- und die Akkordstückzahlen der Glasmacher um 10 Prozent heraufzusetzen sowie die Durchschnittslöhne der Glasmacher und Einträger*innen zu senken.196 Um den Lohnkostenanteil zu senken, schreckte der Beirat zuletzt weder vor absoluten Lohn- und Gehaltskürzungen noch vor (erstmals seit der Betriebsübernahme ausgesprochenen) Kündigungen zurück.197 Die geschäftsführenden Gremien waren im Laufe der Auseinandersetzungen dazu übergegangen, sich in der Lohngestaltung an der betrieblichen Produktivität zu orientieren. Mit den mehrfach pauschal erfolgten Abpreisungen wurde die Entlohnung der Glasmacher – entgegen dem eigentlichen Anspruch – von ihrer individuellen Leistung losgelöst und an die Gesamtbetriebsleistung gekoppelt, für deren Quantifizierung zugleich nur begrenzt gesicherte Zahlenwerte zur Verfügung standen.198 Durch die Zen191

Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Hans und Ursula Müller], 2. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 25–27; Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 125), S. 1. 192 Protokoll Beirat (GHS), 15. Oktober 1974, in: AGI, S. 4. 193 Folgendes aus Beirat, 17. Dezember 1974 (s. Anm. 45), S. 3f. 194 Beirat [2], 17. März 1975 (s. Anm. 15), S. 1. 195 Folgendes aus Protokoll Beirat (GHS), 11. September 1975, in: AGI, S. 3f. 196 Die Durchschnittslöhne der Glasmacher wurden zum 1. Oktober 1975 um 213 DM (von 3.274 DM auf 3.061 DM) und die der (mittlerweile auch im Akkord entlohnten) Einträger*innen um 116 DM (von 1.018 DM auf 902 DM) gesenkt. Ebd., S. 2f.; Übersicht Löhne (GHS), ab 1. Oktober 1975, in: AGI. 197 Neben der Senkung der Akkord- sowie Durchschnittslöhne für die Glasmacher beschloss der Beirat auch die Kürzung der »außertariflichen Zulagen der Zeitlohn- und Gehaltsempfänger um fünf Prozent«. Zusammen mit den Entlassungen von mindestens 22 Beschäftigten strebte der Beirat bis zum Oktober 1975 den »Abbau des Gesamtlohn- und Gehaltssystems […] um 7,5 Prozent« an. Beirat, 11. September 1975 (s. Anm. 195), S. 2f.; Beirat, 21. Oktober 1975 (s. Anm. 112), S. 3. 198 Siehe Kapitel 5.3 und Kapitel 7.1. Die »Entkoppelung der Lohnbestimmung von der individuellen Arbeitsleistung« war generell Resultat der seit Ende der 1960er Jahre eingeführten »analytischen Arbeits- und Leistungsbewertungsverfahren«. Rudi Schmiede und Edwin Schudlich, Die Entwicklung der Leistungsentlohnung in Deutschland. Eine historisch-theoretische Untersuchung zum Ver-

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tralisierung der Akkordkontrolle und deren Herauslösung aus der betrieblichen Praxis (wie beispielsweise durch die Gegenüberstellung von Soll- und Ist-Leistung als kalkulatorische Grundlage für die Neuauspreisungen) wurden die vielfältigen, außerhalb des Einflussbereichs der Glasmacher liegenden Komplikationen in der Fertigung bei der Akkordfestsetzung nicht mehr berücksichtigt und ihnen somit faktisch in Rechnung gestellt. Über das Gremium der Geldgeber und Bürgen in seiner zunehmend geschäftsführenden Funktion hielt damit jenes produktivitäts- bzw. erfolgsorientierte Entlohnungsprinzip Einzug in die Glashütte Süßmuth, das Holger Lengfeld als charakteristisch für den »Wandel der Arbeitsgesellschaft« beschreibt.199

Abschaffung des Akkords und Vereinheitlichung der Lohnformen Die Bemühungen um eine Ausweitung und »Verwissenschaftlichung« der Leistungsentlohnung hatten sich aus Perspektive der Beschäftigten nicht bewährt – auch weil sie nicht zu einer Verringerung des Lohngefälles und damit nicht zu einer gerechten Entlohnung beitrugen.200 In der Belegschaft wurde Leistungsentlohnung keineswegs per se abgelehnt. Erst die Erfahrung des Scheiterns dahingehender Reformen löste Diskussionen über die Abschaffung des Stücklohns durch die Umstellung auf Zeitlohn für die Gruppe der Glasmacher und damit über eine Vereinheitlichung der Lohnformen im gesamten Betrieb aus.201 Viele Glasmacher befürworteten dies, weil sie sich hiervon bessere Arbeitsbedingungen versprachen.202 Den vom Akkord ausgehenden Leistungsdruck bezeichnete [Paul Nowak] als eine »psychische Belastung«, die die körperlichen Anstrengungen verstärke und mit dazu beitrage, dass Glasmacher häufig Frühinvalide wurden und ihren Beruf selten bis zum Rentenbeginn ausüben konnten.203 Weil es an Nachwuchs fehlte, sahen [Rolf Schindler] und [Dieter Schrödter] die Umstellung auf Zeitlohn

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hältnis von Lohn und Leistung unter kapitalistischen Produktionsbedingungen, Frankfurt a.M. u.a. 19814 , S. 422–424. Lengfeld, Lohngerechtigkeit (s. Anm. 118), S. 11. [Manfred Hübner] zitiert in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28), S. 31. Zu den namentlich überlieferten Befürworter*innen einer Abschaffung des Akkords gehörten vor allem Glasmacher, aber auch die Verwaltungsangestellten [Rita Abel] und [Konrad Scholz]. Ungefähr 70 bis 80 Prozent der Glasmacher hätten hinter dieser Forderung gestanden. Siehe Gruppengespräch Glasmacher in Hanno Brühl, »Glashütte Süßmuth. Ein Modell der Arbeiterselbstverwaltung«, Beitrag in der WDR-Sendung Klatschmohn, 24. März 1973, in: Archiv WDR; Braun et al., 1973 (s. Anm. 11), S. 9; Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 130), S. 4–6, 10; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Konrad Scholz] und [Bernhard Kolbe], 23. Februar 1974, im Besitz der Autorin, S. 2f. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] am 18. April 1973, im Besitz der Autorin, S. 9; [Rolf Schindler] in Hanno Brühl, 24. März 1973 (s. Anm. 201); Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Dieter Schrödter], 11. Oktober 1973, im Besitz der Autorin, S. 10. »Wir haben wenige Glasmacher, die heute das 65. Lebensjahr überhaupt noch erreichen. Das sind wenige Glasmacher, die nach 65 lange die Rente in Anspruch nehmen können.« [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 202), S. 9f. Im November 1973 musste auch [Paul Nowak] im Alter von 51 Jahren den Glasmacherberuf aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Er arbeitete seitdem in der Endkontrolle.

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als notwendig an, um die Leistungsfähigkeit der im Betrieb beschäftigten Glasmacher möglichst lange zu erhalten.204 Die Abschaffung des Akkords wurde darüber hinaus als eine Maßnahme zur Verbesserung der Produktqualität betrachtet, die eine Reduzierung der Ausschusszahlen und einen nachhaltigeren Umgang mit den Rohstoffen implizierte.205 Der Stücklohn schuf den Glasmachern einen Anreiz zügig und trotz auftretender Qualitätsmängel in der Glasschmelze weiterzuarbeiten, anstatt diese dem technischen Leitungspersonal zu melden oder selbst deren Ursachen zu beheben. Der Stücklohn sei deshalb »immer« mit »eine[r] größere[n] Quote an Ausfall« als im Zeitlohn verbunden, der wiederum die Kühlbänder und das betriebliche Kalkulationswesen unnötigerweise »belastete«. Die Umstellung auf einen Zeitlohn versprach folglich die Reduktion falscher Anreize und zugleich eines enormen Konfliktpotenzials im Betrieb. Denn dass beispielsweise manche Glasmacher trotz schlechter Glasqualität einfach weiterarbeiteten, um keine Lohneinbußen zu haben, anstatt die Mängel zu melden und zu beheben, war nicht nur aus unternehmerischer Perspektive mit Blick auf die dadurch produzierte Ausschussware »eine beschissene Situation«, sondern führte in der selbstverwalteten Firma auch zu Zwist unter Kolleg*innen.206 Weggefallen wären zudem die traditionellen Streitthemen Auspreisung und die oftmals nicht einfach vorzunehmende Unterscheidung zwischen Glas- und Arbeitsfehlern, die im Zusammenhang mit der Akkordentlohnung der Glasmacher permanent geklärt werden mussten.207 Aufgehoben wäre ebenso der entsolidarisierende Effekt des Akkords als einer Form der Entlohnung, die allein zum individuellen bzw. kleingruppenbezogenen Vorteil zur Leistung anrege, die Beschäftigten in eine Konkurrenzsituation bringe und gegeneinander ausspiele. Gerade auf ihrem erfahrungsbasiertem Wissen um solche Konfliktquellen gründeten die Überlegungen der Akkord-Gegner*innen. Von deren Beseitigung erhofften sie sich eine Verbesserung des Betriebsklimas, dem in der arbeitskräfteintensiven Mundglasfertigung eine hohe ökonomische Bedeutung zukam und das sich nachhaltig auf die Produktivität auswirkte. Die Akkord-Gegner*innen stellten schließlich auch organisatorische Erleichterungen in Aussicht. Durch die Vereinheitlichung der Lohnformen hätte sich die Lohnabrechnung enorm vereinfacht – allein schon deshalb, weil auf bestehende Strukturen der Zeiterfassung mit Stempelkarten zurückgegriffen werden konnte.208 Von einiger Bedeutung war dieser Aspekt insbesondere vor dem Hintergrund der nach der Belegschaftsübernahme begonnenen Umstrukturierung des Rechnungswesens.209 Die Umstellung der Lohnabrechnung auf EDV führte anfangs (nicht nur) bei den Akkordlöhnen zu falschen

204 [Rolf Schindler] in Hanno Brühl, 24. März 1973 (s. Anm. 201); [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 202), S. 9. 205 Folgendes aus [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 202), S. 10f.; [Frank Weber] in Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Frank und Monika Weber], 12. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 7. 206 [Manfred Hübner] zitiert in Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27), S. 8. 207 Siehe Kapitel 5.3. 208 [Paul Nowak] in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 130), S. 10. 209 Siehe Kapitel 7.1.

Die Produktion

Berechnungen und zog viele Konflikte zwischen Verwaltungsangestellten und den Beschäftigten der Produktion nach sich.210 Darüber hinaus wäre die Entlohnung der Glasmacher von Sortimentsgestaltung, unvorhersehbaren Unregelmäßigkeiten in der Fertigung oder Schwankungen in der Nachfrage entkoppelt worden. Die Umstellung auf einen Zeitlohn versprach somit eine reduzierte Komplexität in der Unternehmensführung bzw. eine höhere Flexibilität in der Koordination zwischen Produktion, Vertrieb und Verwaltung.211 Praktische Erfahrungen mit diesem Lösungsansatz konnten nicht gesammelt werden. Der Vorschlag von [Rolf Schindler] und [Paul Nowak], die Glasmacher ein paar Monate probeweise nach einem Zeitlohn zu bezahlen, der sich am bisherigen Durchschnittslohn orientieren sollte, löste beim Geschäftsführer [Hans Müller], aber auch beim Betriebsratsvorsitzenden [Holger Neumer], der als Graveur selbst nicht im Akkord arbeitete, Bedenken aus.212 Aufgrund der angespannten Finanzlage könne sich die Firma ein solches Experiment nicht leisten. Den Hinweis auf die gesundheitsschädigende Auswirkung des Akkords entkräfteten beide damit, die Glasmacher hätten ihr Arbeitstempo doch selbst in der Hand. Ihr Arbeitsrhythmus werde – weil von keiner Maschine vorgeschrieben – allein vom individuellen Interesse stimuliert, möglichst viel Geld zu verdienen. Daher empfanden sie es als vertretbar, von den Glasmachern zu verlangen, dass sie sich zum Preis von Lohneinbußen vom Akkord nicht kaputt machen lassen.

Revision: Funktionen und Voraussetzungen des Akkords in einer Mundglashütte Der Stücklohn als eine Form der leistungsabhängigen Entlohnung war – wie Reinhold Reith herausgearbeitet hat – kein Phänomen moderner Großbetriebe, sondern bereits in Handwerksbetrieben der Frühen Neuzeit üblich.213 So erfolgte auch die Entlohnung von Glasmachern weit vor dem 19. Jahrhundert nach dem sogenannten Hüttenhundert bzw. Hüttentausend und im Gruppenakkord.214 Weil der Stücklohn – im Gegensatz zum Zeitlohn – im historischen Rückblick »keineswegs universell anwendbar« war, erschließen sich dessen »Möglichkeiten und Motive […] erst durch eine Analyse der Arbeit selbst«.215 Der »Topos von der ›liederlichen Arbeit‹ im Stücklohn«, den auch die Akkord-Gegner*innen im Fall Süßmuth anführten, ist laut Reith zwar generell als »ein immer wiederkehrendes Argument im Diskurs um die Lohnformen [zu historisieren], bei dem es in erster

210 Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 19. August 1971, in: FHI, Schöf-1228; Wilhelm Leveringhaus an [Hans Müller], 20. August 1971, in: FHI, Schöf-1228. 211 Siehe Kapitel 7. 212 [Rolf Schindler] in Hanno Brühl, 24. März 1973 (s. Anm. 201); [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 202), S. 10; Folgendes aus Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 130), S. 4–6. 213 Reinhold Reith, »Leistungslohn und ›Leistungsgesellschaft‹«, in: Akkumulation 14 (2000), S. 4. 214 Reinhold Reith, »Glas«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, Stuttgart u.a. 2006, S. 907. Erst mit der Einführung der neuen Schmelztechnologie in Wannenöfen und damit der Maschinisierung von Stoffgewinnung und Stoffformung (Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts) ging in maschinell produzierenden Glashütten die Ablösung des Stücklohns durch »Festlöhne« einher. Theodor Hettinger, Christian Averkamp und B.H. Müller (Hg.), Arbeitsbedingungen in der Glasindustrie. Manuelle und maschinelle Hohl- und Kelchglasherstellung, Berlin u.a. 1986, S. 17. 215 Reith, Leistungslohn (s. Anm. 213), S. 5.

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Linie um die Verteilung des Arbeitsvolumens ging.«216 Die Überlegungen zur Abschaffung des Akkords warfen in der Glashütte Süßmuth jedoch die – insbesondere nach dem Scheitern der Reform und der Ausweitung der Leistungsentlohnung – berechtigte Frage auf, inwiefern hier für diese Lohnform überhaupt (noch) die Bedingungen gegeben waren. Zu technischen Voraussetzungen für den Stücklohn gehörten die Messbarkeit der Arbeit (nach Stück und Tätigkeit), die Steuerbarkeit des Fertigungsprozesses, eine »gleichbleibende oder einschätzbare Qualität und Verfügbarkeit des Ausgangsmaterials wie auch des Werkszeugs« und damit ein insgesamt kontinuierlicher und vorhersehbarer Arbeitsablauf, der den Einfluss der Arbeitenden auf ihre Mengenleistung gewährleistete.217 »[E]rweiterte Absatzverhältnisse«, die zur Produktion von »meist standardisierten Produkte[n]« in »meist größeren Stückzahlen« führten, sowie die »Akzeptanz seitens der Meisterschaft« stellten zudem wichtige wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen dar.218 Die technischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen waren in einer Mundglashütte – wegen des mit vielen Unregelmäßigkeiten verbundenen Fertigungsprozesses, der Artikelvielfalt in mitunter kleineren Serien sowie der branchenüblichen saisonalen Nachfrageschwankungen – nur bedingt gegeben. Wurde der Stücklohn im Zuge der Industrialisierung in manchen Branchen als Anreiz zur Standardisierung des Fertigungsprozesses, zum Ausgleich von Schwankungen und zur Verstetigung des Arbeitsflusses eingeführt,219 so war die Funktion des (vorindustriellen) Stücklohns in der (Mund-)Glasbranche eine andere: Der Gruppenakkord sollte eine enge und konfliktfreie Zusammenarbeit zwischen Glasmachern und Glasmachergehilfen sicherstellen, die für das Arbeiten am Ofen unabdingbar war. Der traditionelle Stücklohn war in der Mundglasproduktion folglich kein individualisierender, sondern ein gemeinschaftsstärkender Leistungsanreiz und diente sowohl quantitativen als auch qualitativen Leistungszielen, sollte also zu hohen Stückzahlen in hoher Qualität bei maximaler Materialersparnis anregen. Diese soziale Funktion besaß die Akkordentlohnung der Glasmacher vor allem zu einer Zeit, als sie noch in höheren Stückzahlen und längeren Produktzyklen zu einem großen Teil auch einfachere Formen von Wirtschaftsglas im Mundblasverfahren herstellten. Der Blick auf die Branchenentwicklung zeigt: Diese Voraussetzungen wandelten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts grundlegend bzw. sie schwanden.220 Die Veränderungen der Konkurrenzverhältnisse und der Nachfrage wirkten sich auf die Produkt- und Sortimentsgestaltung der Mundglashütten aus.221 Einfache Produktformen für einen Mengenbedarf wurden zunehmend maschinell hergestellt. Die mundgeblasenen Produkte wurden in der Gestaltung aufwendiger und unterlagen kürzeren Pro216 217 218 219 220

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Folgendes aus Reith, Lohn (s. Anm. 117), S. 295, 290–295. Ebd., S. 290–295. Reith, Leistungslohn (s. Anm. 213), S. 295, 299, 306. Reith, Lohn (s. Anm. 117), S. 49. Siehe Kapitel 1.1. Auch in anderen Branchen veränderten sich die Voraussetzungen für die Akkordentlohnung, weshalb seit Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre von einer »Krise des Akkords« bzw. einer »Krise des Leistungslohns« gesprochen wurde. Schmiede und Schudlich, Leistungsentlohnung (s. Anm. 198), S. 385–389. Siehe Kapitel 6.1 und 9.2.

Die Produktion

duktzyklen, was die traditionellen Strukturen der Akkordaushandlung sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht herausforderte: Die Häufigkeit der Musterproduktion und der sich daran anschließenden Neuauspreisungen nahm zu. Akkordaushandlungen hatten in zeitlich kürzeren Abständen zu erfolgen und qualitativ schwieriger in Stückzahlen pro Stunde zu bemessende Artikel zum Gegenstand. Dadurch erhöhten sich der organisatorische Aufwand der Akkordentlohnung, das Konfliktpotenzial an den Öfen und in der Regel auch die Ausschussquote. In der Glashütte Süßmuth kam der langwierige Verlauf der Sanierung und die zum Teil veralteten Werkzeuge hinzu, die einmal mehr das Arbeiten im Akkord aus Gründen erschwerten, die nicht im Einflussbereich der Beschäftigten lagen,222 was seit jeher klassischer Anlass für Lohnkonflikte war.223 Die einstige Funktion des Stücklohns – eine enge Zusammenarbeit an den Werkstellen und damit die Qualität der Produkte sicherzustellen – hatte sich in ihr Gegenteil gewendet. Aus diesen Gründen verabschiedeten sich im Laufe der 1970er und 1980er Jahre die meisten Mundglashütten vom traditionellen Stückakkord der Glasmacher.224

Leistung und Kontrolle Die Kontroverse über den Akkord legte grundlegende Unterschiede im Verständnis von Leistung und deren Kontrolle als Voraussetzung für eine gerechte Entlohnung offen. Alle Beteiligten gingen zwar davon aus, dass die Beschäftigten zur Leistungssteigerung motiviert werden sollten und dem Lohn dabei eine mitunter entscheidende Rolle zukam. Konträr waren hingegen ihre Vorstellungen darüber, wie Leistung zu definieren, zu honorieren und zu kontrollieren sei. Die Akkord-Befürworter*innen – das heißt vor allem die geschäftsführenden Gremien – betrachteten Leistung als eine nach Zeit oder Stückzahl objektiv messbare Größe, die individuell wie materiell angeregt und von zentraler Stelle kontrolliert werden kann und muss.225 Sie orientierten sich an den Leistungslohnsystemen, die branchenfremde RKW- und REFA-Berater empfahlen, die jedoch für mit Maschinen-Werkzeug-Technik in Masse standardisierte Produkte fertigende Großbetriebe konzipiert waren; die Arbeitskraft wurde hier lediglich als ein Produktionsfaktor unter anderen betrachtet.226 Der Lohn hatte die Funktion eines externen Anreizes zur individuellen Leistungssteigerung zu erfüllen, der grundsätzlich zur Steigerung der Produktivität notwendig sei.227 In diesem Sinne effizienzsteigernd sollten nicht ange-

222 Zur anhaltenden Kritik der Glasmacher an den »vielen Fehlern« in der Technik, dem mangelhaften Zustand der Werkzeuge sowie an den organisatorischen Defiziten in der Betriebsführung siehe Gesellschafterversammlung, 19. August 1971 (s. Anm. 210); Transkript Belegschaftsversammlung, undatiert [September 1973], im Besitz der Autorin, S. 1; Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27), S. 1–4; [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 9), S. 13; [Weber] et al., 14. Dezember 1973 (s. Anm. 14), S. 1. 223 Reith, Lohn (s. Anm. 117), S. 294, 281. 224 Siehe Kapitel 9.3. 225 Siehe bspw. Franz Fabian in »Arbeiter-Selbstverwaltung. Zwei Jahre Erfahrung in Hessen«, in: Berliner Extra Dienst, 25. Oktober 1972, in: Privatarchiv See S. 11; »›Wir wollen sozialpolitisch wirken.‹ Gespräch mit Franz Fabian«, in: Tagesanzeiger Magazin, 20. Februar 1971, in: Privatarchiv See. 226 Robert Linde, Lohn und Leistung, Göttingen 1984, S. 4f. 227 Siehe bspw. [Klaus Boehm] in Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 26. Juni 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 3; Geschäftsführung, 22. Oktober 1971 (s. Anm. 30), S. 3.

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glichene, sondern »aufsteigende Löhne« und nicht die Straffung, sondern die Ausdifferenzierung von Lohngruppen wirken.228 Im Umkehrschluss bedeutete dies: Von der Abschaffung des Akkordlohns war in erster Linie ein Leistungsabfall zu befürchten. Die Akkord-Gegner*innen aus der Belegschaft erweiterten die Definition von Leistung um schwierig bzw. nicht zu quantifizierende Kriterien. Als Leistung galt, wenn in hoher Qualität und mit wenig Ausschuss, also kundenorientiert und ressourcenschonend produziert wurde.229 Auch die sorgfältige Erledigung der vielen in einer Mundglashütte anfallenden Tätigkeiten und die Bewältigung der damit jeweils verbundenen spezifischen Anforderungen waren als Leistung anzuerkennen. Es galt also nicht nur die körperlich anstrengende und Geschicklichkeit erfordernde Arbeit der Glasmacher an den Öfen, sondern auch alle anderen, teils ebenfalls körperlich sehr schweren vor-, zu- und nachbereitenden, indes weniger prestigeträchtigen Arbeitsschritte zu honorieren. Qualitäts- und tätigkeitsbezogene Kriterien wurden zwar auch in den verschiedenen historischen Formen der Leistungsentlohnung berücksichtigt.230 Die Akkord-Gegner*innen der Glashütte Süßmuth gingen im Unterschied dazu jedoch nicht von einem isoliert arbeitenden Individuum aus, sondern sie betrachteten dessen Tätigkeit in einem von Abhängigkeiten zu den anderen Beschäftigten und zur Materialität des Fertigungsprozesses geprägten sozialen Kontext. Mit anderen Worten: Auch die Akkord-Gegner*innen plädierten für eine Entlohnung nach individueller Leistung, berücksichtigten in ihrer Bewertung jedoch deren soziale Bedingtheit. Der Mensch stand bei ihnen im Mittelpunkt, der sich – da seine Arbeitsleistung als eine Äußerung seiner Persönlichkeit zu betrachten war – grundlegend von anderen Produktionsfaktoren unterschied und deshalb von zentraler Stelle nur begrenzt kontrollierbar war. Eine Vereinheitlichung der Lohnformen und die Entlohnung aller Beschäftigten im Zeitlohn – so waren sich die AkkordGegner*innen sicher – werde nicht zu einer Leistungsschmälerung führen, sondern vielmehr die Produktion- und Arbeitsbedingungen auch im Sinne einer ökonomischen Effizienz verbessern.231 »Die [Leistungs-]Kontrolle von oben durch den Akkordrichtsatz« falle zwar weg, könne aber »durch [eine] kollektive und solidarische Kontrolle an den Arbeitsplätzen abgelöst« werden.232

Der Tariflohn Die Gewerkschaftsfunktionäre wollten im Fall Süßmuth ein Unternehmensmodell mit einer besonders vorbildlichen Entlohnung etablieren. Mit den ersten Schwierigkeiten reduzierte sich ihr Anspruch darauf, einem tarifpolitischen Scheitern vorzubeugen und die Branchentarifstandards zu wahren. Unbedingt verhindert werden sollte, dass sich die Glashütte Süßmuth zu einem »zweite[n] Fall Ingrid-Hütte« entwickelte, wo »ohne 228 Maßnahmenkatalog, [Frühjahr 1971] (s. Anm. 158), S. 3. 229 [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 202), S. 11. 230 Reith, Lohn (s. Anm. 117), S. 295; Rüdiger Hachtmann, »Industriearbeiterschaft und Rationalisierung 1900 bis 1945. Bemerkungen zum Forschungsstand«, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1 (1996), S. S. 225–227; Schmiede und Schudlich, Leistungsentlohnung (s. Anm. 198), S. 414, 412–432. 231 [Paul Nowak] in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 130), S. 4f.; [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 202), S. 9; [Rolf Schindler] in Hanno Brühl, 24. März 1973 (s. Anm. 201). 232 [Konrad Scholz] zitiert in [Scholz] und [Kolbe], 23. Februar 1974 (s. Anm. 201), S. 2.

Die Produktion

jede Rechtsbindung die [Lohn- und] Arbeitsbedingungen völlig frei und ohne [gewerkschaftlichen] Einfluss« gestaltet wurden.233 Die jährlichen Firmentarifverträge hatten mindestens den Bestimmungen der regionalen Tarifverträge zu entsprechen. Alles, was darunter lag – so die berechtigte Befürchtung des Hauptvorstands –, würde der IG Chemie von den Arbeitgeberverbänden in der nächsten Tarifrunde »um die Ohren geschlagen«.234 Die Zielsetzung, die die Funktionäre im selbstverwalteten Betrieb verfolgten, war entsprechend ambivalent: Sie wollten den Lohnkostenanteil senken und zugleich sicherstellen, dass das Lohnniveau kontinuierlich stieg. Um die regionalen Tarifverträge einzuhalten, ohne die finanziellen Engpässe der Firma auszuweiten, schlugen Bezirksleitung und Verwaltungsstelle in den Haustarifrunden der Jahre 1971 und 1972 vor, die vereinbarten Lohn- und Gehaltserhöhungen nur Gewerkschaftsmitgliedern zu gewähren.235 Die Beschäftigten der unteren Lohngruppen und insbesondere Arbeiterinnen, die in der Gewerkschaft unterrepräsentiert waren, wären dadurch benachteiligt gewesen. Sowohl die von der Belegschaft gewählte Tarifkommission als auch die Geschäftsführung lehnten diesen Vorschlag ab.236 Denn er widersprach den im selbstverwalteten Betrieb geteilten Vorstellungen von Gerechtigkeit und Kollektivität, die sich unabhängig von der Mitgliedschaft in der Gewerkschaft auf die gesamte Belegschaft bezogen. Zugleich ignorierte er die angesichts des Arbeitskräftemangels bestehende Notwendigkeit, vor allem die sehr niedrigen Löhne der Nicht-Facharbeiter*innen zu erhöhen. Die überproportionale Anhebung der unteren Löhne vereinnahmten die IG-Chemie-Funktionäre später zwar als den Erfolg ihrer Bemühungen,237 doch ihre Empfehlung hatte in genau die entgegengesetzte Richtung gewiesen. Gerade weil die Belegschaftsgremien dieser nicht nachkamen und stattdessen ihre eigenen Vorstellungen vom gerechten Lohn einbrachten, wurde in der Glashütte Süßmuth eine Reduzierung der Lohndiskriminierung von Frauen vorweggenommen, wie sie – infolge des in den Betrieben wachsenden Drucks – erst im Laufe der 1970er Jahre stärker zum Gegenstand gewerkschaftlicher Tarifpolitik werden sollte.238

233 Folgendes aus Walter Gläsner zur tarifvertragsrechtlichen Situation in der GHS, 22. Oktober 1970, in: FHI, Schöf-1221, S. 2. 234 Erwin Grützner an Wilhelm Leveringhaus, 21. Januar 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 1. Andere Glasunternehmen und der Arbeitgeberverband zeigten dementsprechend großes Interesse an der Lohngestaltung im Belegschaftsunternehmen. Siehe Hans Löber an Richard Süßmuth, 12. Januar 1973, in: AGI; Fritz Mörschbach, »Ein fast normaler Betrieb. Seit fünf Jahren produziert die Glashütte Süßmuth in Selbstverwaltung«, in: FR, 14. Juni 1975, in: AGI. 235 [Thomas Beike] an [Holger Neumer], 28. Juli 1972, in: FHI, Schöf-1227, S. 2; [Klaus Boehm] in Beirat, 12. Oktober 1972 (s. Anm. 181), S. 5. 236 [Beike], 28. Juli 1972 (s. Anm. 235), S. 2. 237 Gewerkschaftspost, Januar 1973 (s. Anm. 114), S. 11; Ebenso Stern, 18. April 1973 (s. Anm. 125), S. 82; Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 125), S. 16; [Beike], 28. Juli 1972 (s. Anm. 235), S. 1. 238 Die auf Grundsatz »gleicher Lohn für gleiche Arbeit« beruhende Forderung nach Beseitigung der »Leicht-« bzw. »Frauenlohngruppen« wurde auch in den wilden Streiks erhoben, wie jenem der migrantischen Arbeiterinnen im metallverarbeitenden Unternehmen Hella in Lippstadt (September 1969) oder bei Pierburg in Neuss (August 1973). Die Gewerkschaften unterstützten solche »Frauenstreiks« zunächst nicht. Auf übertariflicher Ebene wegweisend war erst das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom September 1981, das am Ende des dreijährigen Kampfes der »Heinze-Frauen« gefällt wurde. Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 127), S. 236f., 71; Dieter Braeg (Hg.), »Wilder Streik. Das

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Eine »fast kriminelle Regelung« sahen die Gewerkschaftsfunktionäre im Verzicht der Beschäftigten auf die volle Auszahlung des Weihnachtsgeldes, den sie in der überbetrieblichen Öffentlichkeit zu verbergen versuchten.239 Sie intervenierten allerdings erst Ende 1973, als die Belegschaftsgremien eine Formalisierung der bislang informellen Verzichtspraxis durchsetzten. Gesellschafterversammlung und Betriebsrat reagierten hiermit auf Überlegungen der geschäftsführenden Gremien über eine Verschiebung der tariflichen Lohn- und Gehaltserhöhungen oder über Möglichkeiten eines Lohnverzichts, um in den damals erneut aufgenommenen Kreditverhandlungen den Gläubigern und vor allem dem Land Hessen eine Art Eigenleistung der Firma präsentieren zu können.240 Den zuvor stillschweigend geleisteten Verzicht der Beschäftigten sahen die Belegschaftsvertreter*innen in diesen Beratungen nicht gewürdigt. Um Lohneinschnitte zu verhindern, einigten sie sich mit dem Geschäftsführer auf einen Modus, der sich in den folgenden Jahren zu einer Normalität verfestigte: Ein Viertel des Weihnachtsgeldes sollte ausgezahlt werden, den Rest gewährte die Belegschaft der Firma als Darlehen, das in den Kreditverhandlungen tatsächlich als eine Art Eigenkapitalposten fungieren konnte. Während diese Regelung aus Perspektive der Belegschaftsvertreter*innen lediglich die bereits bestehende Praxis transparent machte, setzte eben dies die IG-Chemie-Funktionäre unter Druck, weil die Abweichung vom Tarifstandard damit öffentlich wurde.241 Sie bestanden daher auf dem Abschluss eines den Bestimmungen des Branchentarifvertrags entsprechenden »förmlichen Vertrags über Weihnachtsgeld«242 und sicherten selbst bei einer einstimmigen Verzichtserklärung der Belegschaft den Gewerkschaftsmitgliedern Rechtsschutz zu, falls sie ihren Tarifanspruch dennoch einklagen wollten.243 Die IG-Chemie-Funktionäre verlagerten so die Entscheidung der Beschäftigten, auf »Teile ihres Tarifanspruches [zu] verzichten«, wieder in den Bereich des Informellen und des Individuellen und sahen das »Problem […] nur durch das Solidaritätsverständnis der Arbeitnehmer lösbar.« Beide Beispiele zeigten auf, dass die Ansätze zur Verwirklichung eines aus Perspektive der Belegschaft gerechten Lohnes auf Widerstand aus der Gewerkschaft stießen. Trotz der Probleme im Betrieb und der alternativen Vorschläge der Beschäftigten hielten die Gewerkschaftsfunktionäre an einer »Verwissenschaftlichung« der Leistungsentlohnung fest. Dass sie in der selbstverwalteten Glashütte als deren vehementeste Befürworter auftraten, verweist auf die spezifische Bedeutung, die sie dem Leistungslohn nicht nur als Rationalisierungsinstrument zur Kostenreduktion und Leistungssteigerung, sondern auch als tarifpolitische Kategorie beimaßen.

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ist Revolution.« Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973, Berlin 2012; Christine Becker, »Allein hätte keine durchgehalten. Urteil im Heinze-Prozess (1981)«, in: Ilse Lenz (Hg.), Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 20102 , S. 173–175. Grützner, 21. Januar 1974 (s. Anm. 234), S. 2; Siehe bspw. Gewerkschaftspost, Januar 1973 (s. Anm. 114), S. 11. Siehe Kapitel 7.3. Hermann Unterhinninghofen an [Hans Müller], 28. November 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. [Klaus Boehm] und [Thomas Beike] in Beirat, 15. Oktober 1974 (s. Anm. 192), S. 5. Folgende Zitate aus Egon Schäfer an Vwst. Kassel, 27. November 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie.

Die Produktion

Revision: Bedeutung des Leistungslohns als tarifpolitische Kategorie Bis Ende des 19. Jahrhunderts übten Repräsentanten der deutschen Arbeiterbewegung grundsätzliche Kritik an der Akkordarbeit, sie forderten aufgrund der gesundheitsgefährdenden Folgen ihre Abschaffung.244 In der SPD erfolgte mit der Revisionismusdiskussion um die Jahrhundertwende ein Positionswechsel.245 Die Verbreitung des Stücklohns, so Eduard Bernstein, sei eine nicht aufzuhaltende Entwicklung, die es zu gestalten gelte.246 Rationalisierungsoptimismus prägte seit der Weimarer Republik auch die deutschen Gewerkschaften. Angesichts der Versprechen von höheren Löhnen und der Reduzierung körperlicher Anstrengungen entwickelten sie ein überwiegend positives Verhältnis zu den von Frederick W. Taylor und Henry Ford propagierten Formen betrieblicher Rationalisierung und damit auch zum Akkordlohn.247 Ein Ziel gewerkschaftlicher Tarifpolitik war die Gewährleistung branchenweit gültiger Standards, die im Tarifvertrag rechtsverbindliche Fixierung finden sollten. Trotz der Institutionalisierung des Tarifsystems nach dem Ersten Weltkrieg blieben auf betrieblicher Ebene aber – so zeigt Werner Plumpe anhand der Leverkusener Farbwerke auf – »Aushandlungsstrukturen und -kulturen« bestehen, die den Unternehmensleitungen »Spielraum für betriebliche Lohnpolitik« gewährten.248 Nach 1945 bemühten sich die bundesdeutschen Gewerkschaften intensiv darum, diese häufig als »Wildwuchs« bezeichnete Uneinheitlichkeit der betrieblichen Entlohnungsverhältnisse und die Lohndrift – das heißt die Differenz zwischen Tarif- und Effektivlohn – zu beseitigen.249 Und eben hierin lag die tarifpolitische Bedeutung, die die Gewerkschaften dem Leistungslohn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beimaßen. Die verschiedenen Arbeitsleistungen sollten hierdurch überbetrieblich vergleichbar werden, um Lohn- und Gehaltsstandards branchenweit zu vereinheitlichen. »Wissenschaftliche« Methoden der Zeit- und Arbeitsstudien sollten eine »objektive« Bemessung von Leistung ermöglichen und damit die Voraussetzungen für eine »gerechte Lohnfindung« herstellen.250 Die »Ver-

244 Reith, Lohn (s. Anm. 117), S. 31. 245 Schmiede und Schudlich, Leistungsentlohnung (s. Anm. 198), S. 137f., 142–144. 246 Eduard Bernstein (1902) in Reith, Lohn (s. Anm. 117), S. 31; Ebenso Schmiede und Schudlich, Leistungsentlohnung (s. Anm. 198), S. 145f. 247 Die kommunistische Gewerkschaft RGO wie auch die Weimarer KPD lehnten die Konzepte von Taylor und Ford dagegen ab. Zum Meinungsspektrum der Gewerkschaftsbewegung siehe Rüdiger Hachtmann, »Gewerkschaften und Rationalisierung. Die 1970er Jahre – ein Wendepunkt?«, in: Knud Andresen, Ursula Bitzegeio und Jürgen Mittag (Hg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitswelten, Bonn 2011, S. 182–186; Schmiede und Schudlich, Leistungsentlohnung (s. Anm. 198), S. 261–264. Zum Rationalisierungsoptimismus der bundesdeutschen Gewerkschaften nach 1945 siehe auch Wirtschaftswissenschaftliche Institut der Gewerkschaften (Hg.), »Teilnahme am Verband für Arbeitsstudien. Zum Refa-System«, in: Gewerkschaften und Arbeitsstudien, 1948, abgedruckt in: Achten, Flächentarifvertrag und betriebsnahe Tarifpolitik, S. 173–174; Hachtmann, Gewerkschaften. 248 Werner Plumpe, »Tarifsystem und Leistungslohn. Betriebliche Lohnauseinandersetzungen in der Weimarer Republik am Beispiel der Leverkusener Farbwerke (Teil 1)«, in: Akkumulation 14 (2000), S. 7–22, hier 11. 249 Udo Achten, Flächentarifvertrag und betriebsnahe Tarifpolitik. Vom Anfang der Bundesrepublik bis in die 1990er Jahre, Hamburg 2007, S. 64, 78f. 250 Schmiede und Schudlich, Leistungsentlohnung (s. Anm. 198), S. 265.

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wissenschaftlichung« der Leistungsentlohnung sollte also – so lassen sich über den Fall Süßmuth hinaus die damaligen strategischen Überlegungen innerhalb der IG Chemie deuten – eine objektive, von den Interessen der »Arbeitergeber« wie »Arbeiternehmer« auf betrieblicher Ebene gleichermaßen losgelöste Ermittlung und Kontrolle der Löhne garantieren und hierüber die notwendige Grundlage für eine gewerkschaftlich moderierte Einflussnahme der betrieblichen Belegschaftsvertretung auf die Tarifpolitik schaffen. So hatte die IG Chemie in den Verhandlungen zum Manteltarifvertrag für 1975 ein »Initiativrecht des Betriebsrates zur Einführung von Akkordarbeit« gefordert, was der Arbeitgeberverband der Glasindustrie indes vehement ablehnte.251 Die positive Bezugnahme auf den Akkord dürfte sich innerhalb der IG Chemie mit den praktischen Erfahrungen einer betriebsnahen Tarifpolitik verstärkt haben.252 Der Bezirk Hessen hatte damit am weitreichendsten experimentiert, die Tarifrichtlinien für den Zeitraum 1972 bis 1975 räumten den Vertrauensleuten auf Bezirksebene »stärker[e] Mitwirkungsrechte« ein.253 Doch die neue Tarifpraxis geriet – wie im Fall Süßmuth – in einen scheinbar unauflöslichen Widerspruch mit dem gewerkschaftlichen Anspruch der Wahrung überbetrieblicher Tarifstandards. Aus den »sehr stark voneinander abweichende[n] Forderungen«, die die »Vertrauensleute als Empfehlung beschlossen«, resultierten Konflikte innerhalb der Gewerkschaft. Die Bezirksleitung Hessen führte diese vorrangig auf die »unterschiedliche Lohn- und Gehaltsstruktur in den einzelnen Betrieben« zurück und deklarierte das »tarifpolitische Ziel der nächsten Jahre[,] vergleichbare Voraussetzungen in den einzelnen Betrieben einer Branche zu schaffen«. Nach den konfliktreichen Erfahrungen mit einer Demokratisierung der Tarifpolitik setzte sich innerhalb der IG Chemie Hessen also die Schlussfolgerung durch, dass die Vereinheitlichung der Lohn- und Gehaltsstandards erst die Voraussetzung für eine demokratische Tarifpolitik schaffen könne (die ursprünglich eben auf diese Vereinheitlichung hinwirken sollte). Angesichts der in der demokratischen Praxis aufgezeigten komplexen Realität in den Betrieben – mit der die Funktionäre mitunter erstmals konfrontiert waren254 – scheint für sie der Glaube an eine Objektivität in der Entlohnung durch die »Verwissenschaftlichung« derselben an Attraktivität gewonnen zu haben. Die Funktionäre der IG Chemie koppelten damit das Ziel der Demokratisierung an Bedingungen, die in den Betrieben der Glasbranche aus oben dargelegten Gründen nicht ohne Weiteres herzustellen waren.255 Bereits während des NS blieben Bemühungen zur 251

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Über den sogenannten Leistungslohnparagraf konnte damals zwischen den Tarifparteien keine Einigung erzielt werden. IG Chemie Hauptverwaltung an Vwst. Weiden, 11. März 1975, in: AfsB, Bestand IG Chemie. Siehe Kapitel 3.2. Folgende Zitate aus Tätigkeitsbericht IG Chemie Bezirksleitung Hessen 1972–1975, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 25. Dass die Positionen des hessischen Branchentarifvertrags bspw. nur bedingt den betrieblichen Verhältnissen in der GHS entsprachen, bereitete [Thomas Beike] bei der Vorbereitung des im Herbst 1971 (ohne die Belegschaftsvertreter*innen abgeschlossenen) Firmentarifvertrags enorme Probleme, weshalb er eine »analytische Arbeitsbewertung« vorschlug. [Beike], 28. Juli 1972 (s. Anm. 235); [Beike] in Beirat, 12. Oktober 1972 (s. Anm. 181), S. 4. Kädtler und Hertle verweisen auf eine in der Glasbranche nach »Sparten, Regionen, Unternehmen bis hin zu Betrieben hochgradig parzellierte Tariflandschaft«. Die Kategorien der überbetrieblichen Tarifverträge entsprach meist nicht jener der betrieblichen Entlohnungspraxis. Jürgen

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überbetrieblichen Festsetzung der Löhne, die innerhalb der Wirtschaftsgruppe Glasindustrie der Reichswirtschaftskammer diskutiert wurden, ergebnislos.256 Das Scheitern dieser staatlichen Standardisierungsbestrebungen führt Georg Goes vorrangig auf den Widerstand der Glasunternehmer zurück, die die Löhne weiterhin »autonom« festlegen und betrieblich aushandeln wollten.257 Doch lässt die bisherige Analyse die Annahme zu, dass die in und zwischen den Unternehmen der Glasindustrie traditionell ausgeprägten Lohnunterschiede nicht nur macht- und interessenpolitische Ursachen hatten, sondern auch produkt- und produktionsbezogene. Die enormen Lohndifferenzen waren im Zusammenhang mit Produktpalette und Fertigungsverfahren, das heißt der unternehmensspezifischen Sortimentsvielfalt und den innerhalb und zwischen den Betrieben nur schwer vergleich- und quantifizierbaren Tätigkeiten, zu bewerten. Indem die Gewerkschaftsfunktionäre diesen branchen- und betriebsspezifischen Besonderheiten in ihrer Tarifpolitik keine Bedeutung beimaßen, verfehlten sie ihr wichtigstes Ziel: die Interessen der Beschäftigten zu vertreten.258 Die Gewerkschaftsfunktionäre manövrierten die Tarifpolitik im Fall Süßmuth letztlich in eine Pattsituation, die in den sich vom Herbst 1973 bis zum Frühjahr 1974 hinziehenden Firmentarifverhandlungen besonders deutlich zutage trat: Als überbetriebliche Interessenvertretung der Beschäftigten forderten sie Lohn- und Gehaltserhöhungen entsprechend der regionalen Tarifverträge, während sie zeitgleich im Beirat aus Rentabilitätsgründen auf eine Senkung der Lohnkosten drängten.259 Die Erklärung, weshalb sie trotz der vielfältigen und anhaltenden Schwierigkeiten am Leistungslohn festhielten, lässt sich vor diesem Hintergrund um einen weiteren Aspekt ergänzen: Der Akkordlohn gewährte die Möglichkeit, den tariflich festgelegten Lohn indirekt senken zu können. Eben diesen sich für Unternehmensleitungen generell auf betrieblicher Ebene ergebenden Spielraum, den die Gewerkschaft im Rahmen einer »Verwissenschaftlichung« der Leistungsentlohnung ja gerade einzuschränken bemüht war, machten sich die Funktionäre in der selbstverwalteten Glashütte – offensichtlich unbewusst – in ihrer Beiratstätigkeit zunutze. Dennoch verfehlten sie ihr Hauptanliegen, im Fall Süßmuth zumindest die Tarifstandards zu wahren. Im September 1975 stellte der Leiter der Verwaltungsstelle

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Kädtler und Hans-Hermann Hertle, Sozialpartnerschaft und Industriepolitik. Strukturwandel im Organisationsbereich der IG Chemie-Papier-Keramik, Opladen 1997, S. 45f.; Übersicht Lohntarifabschlüsse (1945–1968) in: VdG Hessen (Hg.); Jüngste Geschichte der hessischen Glasindustrie, 13. November 1968, in: FHI, Schöf-1219; Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 164), S. 164; Johannes Laufer, Von der Glasmanufaktur zum Industrieunternehmen. Die Deutsche Spiegelglas AG (1830–1955), Stuttgart 1997, S. 184–200. In Anlehnung an den Lohngruppenkatalog der Eisen- und Metallindustrie wurde auch in der Wirtschaftsgruppe Glasindustrie der Reichswirtschaftskammer 1944 ein Lohngruppenkatalog diskutiert, der eine Unterscheidung in »acht Lohngruppen mit detaillierten Tätigkeitsbeschreibungen, Qualifikations- und Körperkraftanforderungen« vorsah. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 164), S. 166; Hachtmann, Gewerkschaften (s. Anm. 247), S. 196; Tilla Siegel, Leistung und Lohn in der nationalsozialistischen »Ordnung der Arbeit«, Opladen 1989, S. 209. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 164), S. S. 162–166. Zur Krise der Repräsentation siehe Kapitel 8.3. Transkript Haustarifverhandlung, 21. Januar 1974, im Besitz der Autorin; Vermerk [Hans Müller], 21. Januar 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Lohn- und Gehaltstarifverträge (GHS), 27. März 1974, in: AGI; Siehe auch [Schmidt], 7. Februar 2013 (s. Anm. 142), S. 26.

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Kassel fest, dass sich die »Zeitlöhne [in der Glashütte Süßmuth] – vor allem in der [Weiterverarbeitung] – [zu den] schlechtesten in ganz Hessen« entwickelt hätten.260 Weil die Gewerkschafter am Leistungslohn als Voraussetzung für den Tariflohn festhielten, behinderten sie nicht nur eine aus Perspektive der Beschäftigten gerechte Entlohnung, sondern auch die Lösung betrieblicher Probleme.

(Ungenutzte) Potenziale und das Scheitern einer gerechten Entlohnung Eine aus Perspektive der Belegschaft gerechte Entlohnung barg einiges ökonomisches Potenzial: Die überproportionale Lohnerhöhungen oder das einheitliche Weihnachtsgeld kompensierten das Defizit von Richard Süßmuth, der kaum in die Betriebsbindung der Nicht-Facharbeiter*innen investiert hatte, von denen die Firma aber ebenso abhängig war wie von den Facharbeitern.261 Lohngerechtigkeit versprach Produktivitätssteigerung und trug zu kooperativen Arbeitsbeziehungen, die in der Mundglasfertigung essentiell waren, und einer erhöhten Flexibilität in der Personalpolitik bei.262 Die aus einem gerechten Lohn resultierende Bereitschaft der Beschäftigten zum zeitweiligen Verzicht auf Tarifleistungen erleichterte der selbstverwalteten Glashütte, akute Liquiditätsengpässe zu überstehen, ohne durch Kündigung von erfahrenem Personal – das zu den wichtigsten Produktionsfaktoren gehörte und in der Branche generell knapp war – die Grundlage der Qualitätsproduktion beinträchtigen zu müssen. Die Bemühungen der Belegschaftsgremien, die Entlohnung kollektiv geteilten Gerechtigkeitskriterien zu unterwerfen, trugen der Tatsache Rechnung, dass individuelle Leistungsanreize im Mundblasverfahren wie auch in anderen stoffverformenden Arbeitsprozessen, die auf enger Kooperation unter den Arbeitenden basierten, wenig Sinn machten bzw. eher kontraproduktiv waren.263 Sie zeugten somit – im Gegensatz zu den Verwissenschaftlichungsbestrebungen der geschäftsführenden Gremien – von angemessenen Reaktionen auf die branchenweiten Veränderungen, die das traditionelle Entlohnungssystem überstrapazierten und den Reformbedarf erhöhten. Das traditionelle Auspreisen war eine dezentrale Entlohnungspraxis, die in weiten Teilen informell verlief und daher in der Belegschaft als ungerecht empfunden wurde. Eine demokratische Leistungs- und Lohnkontrolle von unten wäre eine Option gewesen, diese (den Bedingungen der Mundglasfertigung angemessene) Dezentralität des Lohnsystems in einer für alle Beschäftigte nachvollziehbaren Struktur zu formalisieren.

260 Wilhelm Leveringhaus zitiert in Beirat, 11. September 1975 (s. Anm. 195), S. 3. 261 Siehe Kapitel 1.5. Auch gegenüber den migrantischen Beschäftigten sei dies »eine sehr gute Geste« gewesen. [Wolfgang Franke] zitiert in [Franke] und [Weber], 13. August 1973 (s. Anm. 142), S. 8. 262 Laut Effizienzlohntheorie arbeiten Menschen »produktiver […], wenn sie ihre Bezahlung als fair, sprich angemessen empfinden.« Ulrike Walter, Löhne und Gehälter in Deutschland. Ihre Entwicklung in Wirtschaft und Staat von 1960–2000, Wiesbaden 2007, S. 55; Zur Personalpolitik in belegschaftseigenen Firmen siehe John H. Pencavel, Luigi Pistaferri und Fabiano Schivardi, »Wages, Employment, and Capital in Capitalist and Worker-Owned Firms«, in: IZA Discussion Papers 2188 (2006). 263 Deshalb war der Gruppenakkord »seit den 1920er Jahren in den ›stoffverformenden‹ Arbeitsprozessen« weitverbreitet. Alf Lüdtke, »Arbeit, Arbeitserfahrungen und Arbeiterpolitik. Zum Perspektivenwandel in der historischen Forschung«, in: Ders. (Hg.), Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitserfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993, S. 376.

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Auch für eine auf überbetriebliche Lohngerechtigkeit abzielende Tarifpolitik ließ der Fall Süßmuth (gewerkschaftlich indes ungenutztes) Potenzial erkennen: Der Kritik am Tariflohn beispielsweise hinsichtlich prozentualer Lohnerhöhungen – die in der belegschaftseigenen Glashütte ebenso wie in den wilden Streiks jener Zeit formuliert wurden – lag ein das Kollektiv der Arbeitenden insgesamt betreffendes Gerechtigkeitsempfinden zugrunde. Lineare Forderungen sollten betriebliche Lohnhierarchien reduzieren, die durch prozentuale Lohnerhöhungen festgeschrieben wurden, und somit die Diskriminierung der unteren Lohngruppen abbauen, in denen vorrangig gewerkschaftlich schlecht organisierte Beschäftigtengruppen – allen voran Frauen und migrantische Arbeiter*innen – eingestuft waren. Eine Demokratisierung der Tarifpolitik hätte der betriebspolitischen Neutralisierung der Entlohnung, mit der gesellschaftliche Ungleichheitsdimensionen ausgeblendet wurden,264 entgegengewirkt. Anstatt die auch in anderen Betrieben artikulierten Gerechtigkeitsvorstellungen der gewerkschaftlichen Basis aufzugreifen und die überbetrieblichen Tarifbestimmungen daran anzupassen – wofür mit der betriebsnahen Tarifpolitik ein geeignetes Konzept zur Verfügung stand –, hielten die Gewerkschaftsfunktionäre an den bestehenden Tarifnormen fest. Einer der Gründe hierfür war ein Verständnis von Leistung, die durch individuelle Anreize honoriert werden sollte, um hierüber die Produktivität zu steigern als Voraussetzung für zukünftige Lohnerhöhungen,265 wozu sich ein ausdifferenziertes nicht aber ein nivelliertes Lohngefälle eigne.266 Die Auseinandersetzungen um den gerechten Lohn in der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth verdeutlichten: Definition und Bemessung von Leistung konnten keine objektiven Vorgänge sein, sondern waren immer eine Frage der sozialen Anerkennung. Mit der demokratischen Öffnung der Lohngestaltung kam diese (implizite) Erkenntnis ansatzweise zur Geltung. Der radikal neue Aspekt in diesem Verständnis von Lohngerechtigkeit zeigte sich im Herbst 1971, als über die Anhebung der unteren Lohngruppen diskutiert wurde. Der Gesellschafter und Glasmacher [Paul Nowak] wusste, dass vor allem abteilungsinterne Lohnunterschiede das Gerechtigkeitsempfinden der Beschäftigten verletzten und zu Konflikten führten, weshalb er dafür plädierte, »in den einzelnen Abteilungen auf gleiche Löhne [zu] kommen« und hierbei »auch an die Löhne der Putzfrauen« zu denken. Der Geschäftsführer [Hans Müller] gab demgegenüber zu bedenken, dass bei einer solchen Lohnangleichung »die Leistungen aber unberücksichtigt« blieben.267 In seiner Betonung, die Entlohnung müsse an die individuelle Leistung gekoppelt bleiben, setzte [Müller] also eine geringere Wertigkeit der Arbeitsleistung der Reinigungskräfte gegenüber der Arbeitsleistung der in der Produktion tätigen Beschäftigten als eine Selbstverständlichkeit voraus, die die nach der Betriebsübernahme in der Beleg-

264 Diese Entwicklung wurde vor allem durch die NS-Lohnpolitik forciert und setzte sich in der Bundesrepublik fort. Siehe Siegel, Schlank (s. Anm. 119). 265 IG Chemie Hessen 1972–1975 (s. Anm. 253), S. 27. 266 Siehe bspw. Franz Fabian in Berliner Extra Dienst, 25. Oktober 1972 (s. Anm. 225), S. 11; Ähnlich Gewerkschaftspost, Januar 1973 (s. Anm. 114), S. 11; Typoskript »280 Arbeiter = 280 Chefs. Die Süssmuth GmbH – ein neuer Versuch der Mitbestimmung«, Peter Marchal für »Die Welt von heute« (Südwestfunk Radio), 4. August 1971, in: FHI, Schöf-1212, S. 24. 267 Gesellschafterversammlung, 11. November 1971 (s. Anm. 131), S. 3.

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schaft begonnenen Verständigungsprozesse über einen gerechten Lohn zu überwinden trachteten. In den ersten Jahren der Selbstverwaltung konnte die Lohnentwicklung der Glashütte Süßmuth als vorbildlich präsentiert werden.268 Am Ende wurde keines der mit der Entlohnung verbundenen Ziele erreicht. Dies lag weniger an der durchweg prekären Finanzlage der Firma als vor allem an den Vorstellungen von Lohngerechtigkeit, die die geschäftsführenden Gremien gegen jene der Beschäftigten durchsetzten. Für die hierin vertretenen Ökonomen war der Lohn gerecht, wenn er nachweislich in Relation zur individuellen Leistung und in einem äquivalenten Verhältnis zur Arbeitsproduktivität stand,269 für die Gewerkschafter darüber hinaus, wenn sie ihn in Tarifverhandlungen mitgestalteten, um ihn überbetrieblich für alle Arbeitende zu gewährleisten. Den Lohn betrachteten sie somit in erster Linie als Kostenverursacher und in seiner Einkommens-, nicht aber in seiner Produktionsfunktion bzw. erwiesen sich ihre Vorstellungen von letzterem als für eine Mundglashütte völlig unangemessen. Zu keinem Zeitpunkt wurde im Beirat diskutiert, ob in einer Mundglashütte überhaupt ein unmittelbar proportionales Verhältnis von Lohnkosten und Produktivität gegeben war. Dabei hatte die Zweiofenumstellung gezeigt, dass eine leichte Lohnkostenersparnis sich in einem ungleich größeren Produktivitätsrückgang auswirkte. Umgekehrt hieß dies: Die Zunahme der Lohnkosten konnte in einer Mundglashütte vielfältige Ursachen haben und ging deshalb eben nicht zwangsläufig in proportionalem Umfang mit einer Zunahme der Produktivität einher. Doch eben Letzteres wurde im Beirat angenommen und – da sich eine solche proportionale Entwicklung nicht einstellte – den Beschäftigten ein Leistungsrückhalt unterstellt, dem lohnpolitisch beizukommen war. Die Festsetzung der Löhne und Gehälter fand auch im selbstverwalteten Betrieb unter asymmetrischen Machtverhältnissen statt, in denen bestimmte Leistungen anerkannt wurden oder eben nicht. Die Entlohnung blieb Disziplinierungs- und Kontrollinstrument der geschäftsführenden Personen, die sie immer mehr von der individuellen Leistung ablösten und stattdessen – weil ihnen andere »objektive« Maßstäbe der Bewertung fehlten – an den ökonomischen Erfolg bzw. Misserfolg des Unternehmens koppelten. Der Mangel und die Abwanderung von Fach- wie von »Hilfskräften« blieben in der Glashütte Süßmuth deshalb dringliche Probleme.270 Das Festhalten an einer Leistungsentlohnung zog sowohl in der traditionellen als auch in »verwissenschaftlichten« Form vielfältige Probleme nach sich und befeuerte eine permanente Grundsatzdiskussion

268 Die Effektivlöhne und Sozialleistungen, die sich in der GHS 1970 noch unter dem Niveau vergleichbarer Betriebe befunden hätten, seien bis 1972 auf das gleiche Niveau angestiegen, war in der IG-Chemie-Mitgliederzeitschrift zu lesen. Gewerkschaftspost, Januar 1973 (s. Anm. 114), S. 11. Franz Fabian sprach von einem Firmentarifvertrag, der sogar »höhere Tariflöhne vorsieht, als sie für die übrige Glasindustrie Gültigkeit haben«. Franz Fabian zitiert in Berliner Extra Dienst, 25. Oktober 1972 (s. Anm. 225), S. 11. 269 Diese Vorstellung entsprach dem von Erich Kosiol entwickelten Äquivalenzprinzip. Ein aus betriebswirtschaftlicher Perspektive gerechten Lohn habe in einem »äquivalenten« Verhältnis zu Anforderung und Leistung zu stehen. Erich Kosiol, Leistungsgerechte Entlohnung, Wiesbaden 19622 , S. 29–47. 270 Beirat, 10. Juli 1973 (s. Anm. 174), S. 1; Stellungnahme [Hans Müller], 12. Juni 1973, in: AGI, S. 3f.

Die Produktion

über den Wert der Arbeit und zunehmende Konflikte, die den für die arbeitskräfteintensive Qualitätsproduktion notwendigen vertrauensvollen Arbeitsbeziehungen abträglich waren. Der Anspruch auf eine demokratische Lohngestaltung und eine gerechte Entlohnung war im Fall Süßmuth letztlich unverbindlich geblieben. Die Kontroverse über die Abschaffung des Akkords oder über die Weihnachtsgeldregelung zeigte auf, wie die geschäftsführenden Gremien die Herstellung von Lohngerechtigkeit in den Bereich des Zukünftigen oder des Informellen verschoben – mit dem Hinweis, dem Thema könne man sich widmen, wenn es dem Unternehmen irgendwann ökonomisch gut gehe; der Einzelne könne bis dahin ja aus freien Stücken seinen Beitrag dazu leisten. Statt den aus Perspektive der Belegschaft gerechten Lohn zu institutionalisieren, formal abzusichern und damit solidarische Strukturen zu etablieren, blieb es bei einem voluntaristischen Appell an die Solidarität in der Belegschaft. War diese in der Aufbruchsstimmung unmittelbar nach der Betriebsübernahme noch sehr ausgeprägt, so wurde sie im Laufe der anhaltenden (Lohn-)Konflikte brüchig. Von Anfang an lösten die eigenmächtigen Eingriffe der geschäftsführenden Gremien in die Lohngestaltung Proteste in der Belegschaft aus. Kritisierten die Belegschaftsgremien dies anfangs noch geschlossen als undemokratisch,271 so nahmen mit anhaltender Kontroverse allerdings auch unter den Beschäftigten die Spannungen zu. Die Problematisierung ihrer tendenziell steigenden Löhne erschien den Glasmachern absurd, lag der Sinn der Akkordentlohnung doch gerade darin, Leistungssteigerungen monetär zu honorieren. Die mehrfach von oben initiierten Abpreisungen empfanden sie als ungerechtfertigte, unabhängig von ihrer individuellen Leistung vorgenommene Lohnkürzungen. Die Unzufriedenheit wuchs aber auch bei jenen Facharbeitern, deren Tätigkeiten sich nicht für den Stücklohn eigneten und die folglich außerhalb der jährlichen Tarifverhandlungen keine offizielle Möglichkeit der individuellen Einkommensverbesserung besaßen.272 Sie forderten daher informell Lohnerhöhungen oder Erschwerniszulagen ein, die der Geschäftsführer wieder zu berücksichtigen begann und dabei wiederum den Betriebsrat überging.273

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Gesellschafterversammlung, 11. November 1971 (s. Anm. 131); Tarifkommission (GHS) an IG Chemie Vwst. Kassel, 12. Juli 1972, in: FHI, Schöf-1227; [Holger Neumer] an [Thomas Beike], 4. August 1972, in: FHI, Schöf-1227. 272 Generell eigneten sich Tätigkeiten im Bereich der Instandhaltung – wie sie die Schlosser und Schreiner der GHS ausübten – nicht für eine Entlohnung im Stücklohn, gleichwohl sei dieser laut Schmiede und Schudlich seit Ende der 1960er Jahre in zunehmenden Maße in eine »systematische Leistungspolitik der Betriebsleitung« einbezogen worden. Reith, Lohn (s. Anm. 117), S. 51; Schmiede und Schudlich, Leistungsentlohnung (s. Anm. 198), S. 406. 273 Im August 1972 forderten die Betriebshandwerker eine Lohnerhöhung noch vor den im Herbst beginnenden Tarifverhandlungen und drohten den Gesellschaftern – mit Verweis auf eine entsprechende Zusage der Geschäftsführung – andernfalls mit Kündigung. In dieser dringlichen Situation beschloss die Gesellschafterversammlung eine Erhöhung der Löhne aller Handwerker um 0,50 DM pro Stunde mit Wirkung zum 1. September 1972. [Hans Müller] rechtfertigte dieses Vorgehen mit den »intensiven Abwerbungsversuchen einer anderen [lokalen] Firma«. Zu einem späteren Zeitpunkt bewilligte [Müller] einzelnen Beschäftigten eine Erschwerniszulage, die der Betriebsrat zuvor abgelehnt hatte. Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 31. August 1972, in: FHI,

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Entlang der Lohnfrage aktualisierten sich somit am Ende der Selbstverwaltung alte Konfliktlinien, die seit der Betriebsübernahme in den Hintergrund geraten waren. Hieran anknüpfend gewann der von Franz Fabian explizit formulierte Vorwurf, der Lohnegoismus der Glasmacher sei Ursache für die Liquiditätsschwierigkeiten des Unternehmens, für den Rest der Belegschaft an Plausibilität. Die anfängliche Solidarität der Glasmacher – sie hatten freiwillig auf Lohnerhöhungen zugunsten einer überproportionalen Anhebung der unteren Löhne verzichtet oder sich für eine Vereinheitlichung der Lohnformen ausgesprochen – wurde abgewertet, als sich die Deutung durchsetzte, sie hätten sich ihre Löhne »mit [der] Akkordaufbesserung dann wieder doch« erhöht.274 Laut [Harald Meier] sei es nach der Betriebsübernahme sogar die »erste Maßnahme der Glasmacher« gewesen, der Firma mit einem »Lohnzuwachs bis zu 20 Prozent« zuzusetzen und damit die Ergebnisse der Sanierung »aufzufrühstücken«.275 Doch gerade solche Anschuldigungen führten dazu, dass die anfangs ausgeprägte Verzichts- und Reformbereitschaft der Glasmacher sank; bei einem Teil dürften sie die Rückkehr zum eigeninteressierten Akkordhandeln begünstigt haben.

5.3 Die Arbeitsorganisation und die Bedingungen von guter Arbeit An der Arbeit habe sich durch die Belegschaftsübernahme nicht viel geändert, betonte der Glasmacher [Jochen Schmidt] 40 Jahre später.276 Man habe einzelne technische Neuerungen eingeführt, aber der Arbeitsablauf, »das Grundprinzip der Handarbeit« und die Arbeitsteilung blieben bestehen. Eine ähnliche Antwort hatte Erasmus Schöfer bereits 1973 vom Magazinverwalter und Vorsitzenden der Gesellschafterversammlung [Willi Voigt] erhalten.277 Tatsächlich wurde an der tradierten Arbeitsteilung einer Mundglashütte weitestgehend festgehalten. Die Einführung einer Jobrotation als Methode zur Reduzierung bzw. Vorbeugung interner Hierarchien, wie sie viele Betriebskollektive der Alternativökonomie zum politischen Anspruch erhoben,278 wurde in der Glashütte Süßmuth nicht diskutiert. Angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Tätigkeiten, die jeweils spezifische und erst in langjähriger Erfahrung zu erlernende Qualifikationen erforderten, wäre dies auch äußerst schwierig gewesen. Zu widerlegen ist aber [Voigts] Darstellung, die Selbstverwaltung sei nur auf den Sitzungen der Belegschaftsgremien außerhalb der Arbeitszeit praktiziert worden und habe die Arbeitsabläufe im Betrieb nicht beeinflusst.279

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Schöf-1227, S. 1; Beirat, 12. Oktober 1972 (s. Anm. 181), S. 4; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Holger Neumer], 13. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 1f. [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28), S. 30; Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 125), S. 1; [Müllers], 2. September 1973 (s. Anm. 191), S. 24f. Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 5. Juni 1978, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1. Folgendes aus [Schmidt], 7. Februar 2013 (s. Anm. 142), S. 33. Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 130), S. 11. Reichardt, Authentizität (s. Anm. 121), S. 320. Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 130), S. 11.

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Strategien arbeitsorganisatorischer Rationalisierung Arbeitsorganisatorische Veränderungen gingen in erster Linie von den Bemühungen um Rationalisierung im Betrieb aus. Die vorangegangene Untersuchung hat gezeigt: Die klassischen Ziele von Rationalisierung – eine Reduktion der Kosten bei gleichzeitiger Produktivitätssteigerung – waren in der Mundglashütte Süßmuth allein durch Investitionen in die Produktionstechnik ebenso wenig wie durch eine Reform der Leistungsentlohnung zu erreichen. An Bedeutung gewannen daher eine effizientere Arbeitsorganisation und insbesondere das Vorhaben, die »Erhöhung des Ausstoßes« über eine Reduzierung der Fehlproduktion und eine Beschleunigung der Arbeitsabläufe zu bewirken.280 Mit der problembehafteten Sanierung der Produktionsanlage waren allerdings neue Fehlerquellen hinzukommen, was einen Umgang mit den generell vielfältigen Ursachen der Mängelproduktion einmal mehr erschwerte. Mit der anvisierten Expansion der Produktion erhöhten sich zudem die organisatorischen Herausforderungen, eine möglichst maximale Auslastung der Werkstellen sicherzustellen. Zur Bewältigung dieser insgesamt gestiegenen Komplexität in der Betriebsorganisation trafen in der selbstverwalteten Glashütte zwei konträre Strategien arbeitsorganisatorischer Rationalisierung aufeinander.

Strategie 1: Zentralisierung und »Verwissenschaftlichung« Die von den geschäftsführenden Gremien lancierte Strategie zielte – ebenso wie die Reform und Ausweitung der Leistungsentlohnung – auf eine Zentralisierung der Kontrolle über die Produktion ab. Dahingehende Überlegungen hatte [Hans Müller] bereits im Sommer 1969 zu Papier gebracht, als er sich um eine Fortführung des Unternehmens als Familien-KG unter seiner alleinigen Geschäftsführung bemühte.281 Durch die »Einrichtung [einer] zentrale[n] Arbeitsvorbereitung« sollte die Produktionsplanung und -kontrolle aus dem Betrieb herausgelöst und auf der Ebene der Unternehmensleitung angesiedelt werden. Dementsprechend sollten die Kompetenzen des Hüttenmeisters stark beschnitten werden. Mit dem Wechsel des Energieträgers und der »automatischen« Temperaturregulierung an den Schmelz- und Kühlaggregaten sollte die bisher in seinem Zuständigkeitsbereich liegende »Ofenführung bzw. -steuerung« entweder ganz wegfallen oder von einem gegebenenfalls einzustellenden »Gasingenieur [sic!] mit übernommen« werden.282 Alle über die Arbeitsplätze an den Öfen hinausgehende Angelegenheiten – wie zum Beispiel die Einflussnahme auf die Auswahl der zu produzierenden Artikel – sollte er abgeben und sich auf die »Führung der Ofenbelegschaften«, das heißt allein auf Überwachungs- und Disziplinierungstätigkeiten konzentrieren. Statt wie zuvor für jeden Ofen einen Hüttenmeister zu beschäftigen, sollte dieser Aufgabenbereich – trotz zeitgleich erfolgter Umstellung auf den Dreiofenbetrieb – infolge der Kompetenzreduktion von nur noch einer Person abgedeckt werden können. Darüber hinaus plante [Müller] die »Ausgliederung der [Qualitäts-]Kontrollen I und II aus

280 Maßnahmenkatalog, [Frühjahr 1971] (s. Anm. 158), S. 1. 281 Folgendes aus [Müller], [Juli 1969] (s. Anm. 6), S. 5, 2. 282 Zum bisherigen Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich der Hüttenmeister siehe Kapitel 1.2.

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dem Zuständigkeitsbereich des [Rau-]Schleifereimeisters« und die »Einrichtung einer unabhängigen Kontrollinstanz«, die »direkt der Geschäftsleitung unterstellt sein« sollte. [Müllers] Vorstellungen von einer effizienten Arbeitsorganisation wiesen Ähnlichkeiten zu Frederick W. Taylors Prinzipien einer »wissenschaftlichen Betriebsführung« auf. Vorarbeiter und Meister waren demnach von »[j]eglicher Leitungs- und Überlegungsarbeit« zu entlasten, die an ein »der Werkstatt direkt anzugliedernde[s] Arbeitsbüro« zu delegieren sei; sie sollten lediglich überwachende Tätigkeiten ausführen.283 Diese Pläne prägten maßgeblich die Entscheidungsfindung im Belegschaftsunternehmen, sie entsprachen auch den Überzeugungen der betriebsexternen Beiratsmitglieder. Die geplante Einrichtung einer separaten Stelle zur Arbeitsvorbereitung realisierten die geschäftsführenden Gremien letztlich nicht, da hiermit ein enormer Arbeitsaufwand verbunden gewesen wäre und RKW-Berater »dringend« davon abrieten.284 Im Zusammenhang mit der Reform der Leistungsentlohnung und des Rechnungswesens bemühten sie sich jedoch intensiv um den »Ausbau eines innerbetrieblichen Kontrollapparats«, der eine »ständige Überwachung der Leistungs- und Kostenrelation« ermöglichen sollte.285 Die Leistungen an den Öfen- und Werkstellen waren demnach »pro Tag und pro Auftrag (Artikel)« ebenso wie die »Ausfälle durch Bruch, Glas- und Arbeitsfehler« in einer Produktionsstatistik zu dokumentieren. Eine solche »Verwissenschaftlichung« der Betriebsführung im Sinne einer quantitativen Erfassung sämtlicher Arbeitsvorgänge im Betrieb sollte der Geschäftsleitung ein Instrumentarium für die anvisierte zentrale Planung, Steuerung und Kontrolle des Fertigungsprozesses und der »Produktionszielerreichung« in die Hand geben.286

Strategie 2: Dezentralisierung und Integration von Erfahrungswissen Seit der Betriebsübernahme wurde unter den Beschäftigten der Glashütte Süßmuth – auch jenseits der Selbstverwaltungsgremien – intensiv über die vielfältigen Probleme in der Produktion beraten und mitunter gestritten. Diese Diskussionen und die hieraus hervorgegangenen Empfehlungen legten eine dezentrale Strategie arbeitsorganisatorischer Rationalisierung nahe. Statt die Kompetenzen der Hüttenmeister zu beschneiden, sei deren Position im Betrieb zu stärken.287 Grundlegende Veränderungen im Betrieb sollte die Geschäfts- und Betriebsleitung mit dem Technischen Ausschuss beraten, dies forderte die Gesellschafterversammlung auch anlässlich der Zweiofenumstellung. Eine Absprache mit jenen Facharbeitern, die aufgrund ihrer Arbeitsleistung und ihrer Kenntnisse in der Belegschaft eine hohe Reputation genossen, sei schon deshalb sinnvoll, um deren »moralische Unterstützung« bei der Rechtfertigung dieser mit erheblich 283 Alfred Kieser, »Managementlehren. Von Regeln guter Praxis über den Taylorismus zur Human Relations-Bewegung«, in: Ders. und Mark Ebers (Hg.), Organisationstheorien, Stuttgart 20147 , S. 83; Ebenso Wolfgang König, Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft. Konsum als Lebensform der Moderne, Stuttgart 2008, S. 54–56. Siehe auch Kapitel 5.5. 284 Maßnahmenkatalog, [Frühjahr 1971] (s. Anm. 158), S. 1; Geschäftsführung, 22. Oktober 1971 (s. Anm. 30), S. 7; RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 29), S. 19–21. 285 Folgendes aus Geschäftsführung, 22. Oktober 1971 (s. Anm. 30), S. 5f. 286 Beirat, 12. Oktober 1972 (s. Anm. 181), S. 2. 287 [Paul Nowak] in Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 4. Oktober 1972, in: FHI, Schöf-1227, S. 3.

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schlechteren Arbeitsbedingungen verbundenen Maßnahme gegenüber der Belegschaft und vor allem den Glasmachern zu erhalten.288 Die Expertise der für die Produktion wichtigsten Fachleute sollte aber nicht allein in akuten Notlagen, sondern regelmäßig im Rahmen einer langfristigen Betriebsplanung genutzt werden. Die vielfältigen Probleme in der Produktion gelte es durch die Beteiligung möglichst aller Beschäftigten aus den verschiedenen Abteilungen und die Integration ihrer jeweiligen erfahrungsbezogenen Wissensbestände in die unternehmerischen Entscheidungsprozesse zu bewältigen. Entscheidungskompetenzen wären hierfür verstärkt in den Betrieb hinein zu verlagern, anstatt diese auf Ebene der Unternehmensführung zu zentralisieren. Die Belegschaftsgremien plädierten – anders als die geschäftsführenden Gremien – nicht für eine quantitative als vielmehr für eine qualitative Dokumentation der Arbeitsabläufe. Mehrfach wurde der Betriebsleiter dazu aufgefordert, die Probleme mit der Glasschmelze in einem »Schmelzbuch« zu protokollieren, um hierüber Erkenntnisse über deren Ursachen zu gewinnen und mögliche Lösungsansätze zu entwickeln.289 Etliche Beschäftigte befürworteten eine Dezentralisierung der Kontrolle, wie sie auch bei der Forderung zur Abschaffung des Akkords zur Sprache kam, und zwar in der erfahrungsgesättigten Zuversicht, dass eine Kontrolle von unten besser funktioniere und eine Kontrolle von oben eher kontraproduktiv sei.290 Ohne »Arbeitgeber« lasse es sich »bedeutend leichter und bequemer arbeiten«, – nicht weil die Belegschaft weniger arbeiten würde, sondern weil sie befreit vom »Druck vom Kommandieren […] vernünftiger« arbeiten und sich mit ihren Verbesserungsvorschlägen einbringen könnte.291 Die für eine kollektive Entscheidungsfindung und kollektive Kontrolle von unten benötigten dezentralen Strukturen waren im Ausschusskonzept de facto vorhanden.292

Bewährung: Umgang mit Fehlproduktion Die Fehlproduktion war eines der Problemfelder, das zur Unternehmenskrise führte und während der Selbstverwaltung – gleichwohl in schwankendem Umfang – bestehen blieb. Hatten die Bruchzahlen Ende der 1960er Jahre ein die Unternehmensexistenz bedrohendes Ausmaß angenommen,293 konnten sie während der Betriebsübernahme reduziert werden, als die Facharbeiter die Kontrolle über die Produktion übernahmen.294 Mit 288 Folgendes von [Manfred Hübner] aus Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27), S. 18, 22–25, 19. 289 Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 5. Juli 1971, in: AGI, S. 2; Protokoll Gesellschafterversammlung, 8. März 1973, in: AGI, S. 1; Protokoll Abteilungsleiterbesprechung (GHS), 10. August 1981, in: AGI. 290 [Paul Nowak] in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 130), S. 16; [Manfred Hübner] in Braun et al., 1973 (s. Anm. 11), S. 14; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Rolf Schindler], 15. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 14; [Konrad Scholz] in [Scholz] und [Kolbe], 23. Februar 1974 (s. Anm. 201), S. 2; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak], [Konrad Scholz], [Heinz Schrödter], [Max Ulrich] und weiteren namentlich nicht bekannten Arbeitern, undatiert [1974], im Besitz der Autorin, S. 6. 291 Namentlich unbekannter Glasmacher zitiert in Marchal, 4. August 1971 (s. Anm. 266), S. 2; [Manfred Hübner] zitiert in »Die rote Hütte«, in: Konkret, März 1972, in: AGI. 292 Siehe Kapitel 4.1. 293 Siehe Kapitel 1.6. 294 Siehe Kapitel 2.1.

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den Anfangsschwierigkeiten bei der Inbetriebnahme der neuen Heiz-, Schmelz- und Kühlaggregate stiegen sie wieder an, gingen aber nach deren Bewältigung »erheblich« zurück.295 Im Zuge der Zweiofenumstellung Anfang 1974 verschlechterte sich die Glasqualität erneut. Im Herbst 1975 erreichte die Ausfallquote mit bis zu 32 Prozent wieder Höchstwerte.296 Ein gewisses Maß an Fehlproduktion war in einer Mundglashütte an sich nicht ungewöhnlich und konnte vielfältige Ursachen haben: Bereits in der Materialbeschaffenheit der Rohstoffe konnte eine Fehlerquelle liegen, worauf die Firma keinen unmittelbaren Einfluss hatte. Ungenauigkeiten bei der Zubereitung und Zusammensetzung des Gemenges sowie bei der Temperaturführung während des Schmelz- und Kühlprozesses konnten sich negativ auf die Qualität des Glases auswirken. Eine zu geringfügige Energiezufuhr während der Schmelze bewirkte eine unvollständige Homogenisierung des Gemenges und führte zu Verunreinigungen im Glas. Es wurde dann windig oder wies Schlieren auf. Wurde hingegen zu viel Energie zugeführt, konnten sich durch eine Überhitzung die Hafenglasur lösen und Steine ins Gemenge geraten, was ebenfalls zu Glasfehlern führte.297 Eine falsche Temperierung der Kühlöfen war eine der möglichen Ursachen für Kühlbruch, wozu es aufgrund der Probleme mit der »automatischen« Steuerung an den nach der Betriebsübernahme lediglich umgebauten (statt neugekauften) Kühlbändern gehäuft kam. Schäden konnte bei der Formung des Glases am Ofen entstehen, wo die Glasmacher mit den Auszubildenden und Hilfsarbeitenden zusammenarbeiteten, beim Eintragen des noch heißen Glases in die Kühlaggregate oder beim Abnehmen des erkalteten Glases nach Ende des Kühlprozesses, die wie das Absprengen oder Rauschleifen von Nicht-Facharbeiter*innen ausgeführt wurden, oder bei den von Facharbeitern ausgeführten Veredelungsarbeiten. Auch bei den produktionsunterstützenden Tätigkeiten wie der Herstellung und Pflege der Holzformen durch die Formenmacher konnten Mängel ihren Ursprung haben. Nicht zuletzt war eine bruchsichere Verpackung für den Versand oder die Lagerung der Qualitätsprodukte von großer Bedeutung. Diese Auflistung ließe sich fortsetzen. Ob Qualitätsmängel auf außerhalb des Einflussbereichs der Beschäftigten liegende Material- und Prozessfaktoren (Glasfehler) oder auf menschliches Fehlverhalten im Arbeitsablauf (Arbeitsfehler) zurückgingen, war oftmals eine schwierig zu klärende Angelegenheit.298 Waren die »Schmelzgehilfen«, die das Gemenge in die Öfen einlegten, verantwortlich für die Spannungen im Glas, die zu Kühlbruch führten, oder lag der Grund in einem zu kurzen Kühlprozess, der der Aufsicht des Betriebsleiters unterlag? Hatte die schlechte Glasqualität in einer fehlerhaften Zusammensetzung des Gemenges durch den Schmelzer ihre Ursache oder in der »Brennerautomatik«, die die Energiezufuhr der Schmelz- und Kühlaggregate regulierte

295 [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28), S. 3f.; [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 2f.; [Schmidt], 7. Februar 2013 (s. Anm. 142), S. 19f.; Gesellschafterversammlung, 21. Oktober 1971 (s. Anm. 132), S. 1. 296 Beirat, 21. Oktober 1975 (s. Anm. 112), S. 2. 297 Trier, Glasschmelzöfen (s. Anm. 5), S. 246f. 298 Siehe bspw. Stellungnahmen des Betriebsratsvorsitzenden [Jochen Schmidt] und des Gesellschafters [Walter Albrecht] in Beirat, 21. Oktober 1975 (s. Anm. 112), S. 2; Kapitel 5.4.

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und in der Glashütte Süßmuth – infolge von Fehlentscheidungen des Betriebsleiters [Ewald Lenz] – anhaltende Schwierigkeiten bereitete? Die Suche nach möglichen Fehlerquellen war also insgesamt ein sehr komplexes Unterfangen. Für deren Behebung gab es keine einmalige Universallösung, wie es die geschäftsführenden Gremien aber erwarteten. Da die »Modernisierung« der Produktionstechnik die Mängelproduktion nicht restlos beseitigen konnte, setzten sie auch hier ihre Hoffnung in betriebsexterne Expertise. Im Herbst 1972 konsultierte der Betriebsleiter [Rudolf Woge] ein »Forschungsinstitut in Hamburg« zur Klärung der Brennerproblematik.299 Im März 1973 wurde der glastechnische Ingenieur [Pavel Marek] eingestellt – mit dem Auftrag, Fehlerquellen im Bereich der Produktion ausfindig zu machen und Maßnahmen für deren Beseitigung vorzuschlagen.300 Diese Untersuchungen blieben allerdings ebenso wie die im Frühjahr 1974 in der Staatlichen Glasfachschule in Zwiesel durchgeführte Analyse einer Glasprobe oder die im Herbst 1975 »mit Fremdhilfe betriebene umfangreiche Ursachenforschung« ergebnislos.301 Der seit 1974 zunehmenden Qualitätsschwankungen und tendenziell abnehmenden Glasqualität – die maßgeblich auf den gegen den Widerstand der Belegschaftsgremien beschlossenen Zweiofenbetrieb zurückgingen – standen die geschäftsführenden Gremien letztlich ohnmächtig gegenüber. Plausibilisieren konnten sie sich dies nur mit ihrem von Beginn an gehegten Verdacht, die Mängelproduktion sei durch Verfehlungen in der Belegschaft verursacht.302 Aus diesem Grund sah Franz Fabian einen Ofenneubau nicht als dringlich an. Die zuletzt vorgenommenen Lohnreduktionen schien ihm dagegen wie auch [Hans Müller] – als Mittel der Sanktionierung wie Vorbeugung künftiger Arbeitsfehler – gerechtfertigt. Am Ende seiner halbjährigen Untersuchung bestätigte der Glastechniker [Pavel Marek], was bereits zuvor dem Erfahrungswissen der Beschäftigten und den Forderungen ihrer Gremien entsprach: Er betonte die Komplexität der Fehlerproblematik und empfahl, die »bestehenden Anlagen« zu erneuern und vor allem den veralten Acht-Hafenofen durch den Neubau »kleinerer Öfen« abzulösen.303 Die Fehlersuche konnte nicht bei einer Betrachtung der Glasmasse stehen bleiben, was zwangsläufig beim Einreichen von Schmelzproben an externe Gutachter der Fall war. Vielmehr war der gesamte, mit etlichen Unregelmäßigkeiten behaftete Fertigungsprozess einzubeziehen. Hiermit externe Experten zu beauftragen erforderte Investitionen, die indes nicht getätigt wurden. So verband [Marek] das Eingeständnis seines persönlichen Scheiterns mit einer grundlegenden Kritik am Geschäftsführer, ihm die zur Fehlerbehebung notwendigen Mittel verwehrt zu haben.304 Seine Forderung nach Einrichtung eines Labors zur Durchführung

299 Gesellschafterversammlung, 4. Oktober 1972 (s. Anm. 287), S. 2. 300 Notiz [Rudolf Woge], 20. März 1973, in: FHI, Schöf-1226. 301 [Marek], Oktober 1973 (s. Anm. 91); Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 125); Beirat, 21. Oktober 1975 (s. Anm. 112). 302 Folgendes aus Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 125), S. 1f.; [Hans Müller] und Franz Fabian in Beirat, 21. Oktober 1975 (s. Anm. 112), S. 2. 303 [Marek], Oktober 1973 (s. Anm. 91), S. 3, 2–4. 304 Folgendes aus Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Pavel Marek], 12. November 1973, im Besitz der Autorin; [Marek], Oktober 1973 (s. Anm. 91).

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von »Kontrollanalysen und Fehlerdiagnosen«, habe [Müller] unter anderem mit dem Verweis auf »fehlende Gelder« abgelehnt.305 Doch selbst bei einer besseren materiellen Ausstattung wäre [Marek] nicht zwangsläufig erfolgreicher gewesen. So ist in einem Fachbuch über Glasschmelzöfen aus dem Jahr 1984 nachzulesen, dass beispielsweise die Erstellung von Wärmebilanzen an Hafenöfen »[b]edingt durch den periodischen Betrieb […] schwierig, aufwendig und unsicher« sei.306 An dem gleichen Typ von Kühlbändern mit zentraler Temperaturregulierung, die sich in der Glashütte Süßmuth als eine wesentliche Ursache für den Kühlbruch herausstellten, seien bei Rosenthal ähnlich »große Schwierigkeiten« aufgetreten.307 Im Gegensatz zu den Untersuchungen der wissenschaftlichen Experten – die entweder zu keinen, unangemessenen oder nicht finanzierbaren Ergebnissen gelangten – erwiesen sich die in den Diskussionen der Belegschaft über mögliche Fehlerquellen gefundenen Lösungen in der Regel als konstruktiv. Aus diesen – wie weiter unten noch zu zeigen ist – mitunter sehr konflikthaften Diskussionsprozessen gingen eine Reihe kleinerer, an die im Betrieb vorhandenen Bedingungen und Ressourcen angepasste Maßnahmen hervor, die relativ einfach und mit geringen bzw. ohne zusätzliche Kosten umgesetzt werden konnten. Bereits während der Betriebsübernahme und noch mit den alten Aggregaten konnte infolge kollektiver Anstrengungen der Anteil an ErsteWahl-Artikel um zwanzig Prozent erhöht und die Ausschussquote halbiert werden.308 Um zeitnaher auf Probleme während der Kühlung reagieren zu können, wurde damals der neue Posten des Kühlbandwärters eingeführt. Aus gleichem Grund verlagerten die Belegschaftsgremien die Zuständigkeit für die Kontrolle der Kühlbänder aus der Weiterverarbeitung in die Hütte.309 Um die Gefahr von Kratzern bei der Kühlbandabnahme oder in der Rauschleiferei zu reduzieren, baten sie die hier Beschäftigten, während der Arbeitszeit ihre Eheringe abzunehmen.310 Die Transportwägen wurden mit Zeitungspapier ausgelegt und die Gläser für die innerbetriebliche Beförderung »sorgfältiger« verpackt.311 Der Qualitätskontrolle und Sortierung maßen die Beschäftigten größte Aufmerksamkeit bei.312 Zwischen den einzelnen der Formung nachgelagerten Arbeitsschritten und somit schon unmittelbar nach dem Kühlvorgang sowie nach jedem weiteren Weiterverarbeitungsvorgang implementierten sie zusätzliche Qualitätskontrollen, die zuvor erst nach dem Absprengen begonnen hatten.313 Die Arbeiterinnen am Ende des Kühl-

305 Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27), S. 37; [Marek], 12. November 1973 (s. Anm. 304), S. 1. 306 Trier, Glasschmelzöfen (s. Anm. 5), S. 250. 307 Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27), S. 2. 308 Stern, 18. April 1973 (s. Anm. 125), S. 78. Siehe Kapitel 2.1. 309 Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 22. März 1971, in: AGI, S. 1. 310 [Webers], 12. Dezember 1973 (s. Anm. 205), S. 3f. 311 [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 9), S. 14; Abteilungsleiterkonferenz, 24. Mai 1971 (s. Anm. 37), S. 2; [Webers], 12. Dezember 1973 (s. Anm. 205), S. 9f. 312 Bereits Anfang der 1960er Jahre hatte Richard Süßmuth bei der Sortierung Reformbedarf angemeldet. Richard Süßmuth an [Ludwig Hager], 24. Juli 1961, in: AGI. 313 Übersicht Organisation der GHS, undatiert [September 1970], in: AGI, S. 15. Zuvor erfolgte die erste Qualitätskontrolle nach dem Absprengen und vor dem Rauschleifen sowie ggf. eine zweite Kon-

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bandes hatten nunmehr bereits die »gröbsten Fehler« auszusortieren und die für die Entlohnung der Glasmacher relevante Einteilung in Glas- oder Arbeitsfehler vorzunehmen. Die für Vertrieb und Umsatz entscheidende Deklarierung der Artikel in erste oder zweite Wahl erfolgte weiterhin bei der Endkontrolle im Lager.314 Es wurde die neue Stelle eines »Obersortierers« geschaffen, der »die ständig auftretenden Sortierungsmängel beseitig[en]« sollte.315 Die Ausweitung und Vorverlegung der Qualitätskontrollen zielten darauf ab, die Ursachen der Mängel möglichst frühzeitig zu erkennen und zu beheben und durch das rechtzeitige Aussortieren fehlerhafter Artikel unnötigen Verarbeitungsaufwand zu vermeiden. Sowohl die Ursachenanalyse als auch die Maßnahmen zur Reduzierung der Fehlproduktion gehörten aus Perspektive der Beschäftigten zu permanenten Herausforderungen, die »nur im Zusammenwirken aller Kräfte« zu bewältigen waren.316 Im Wissen, dass mit Schwankungen der Glasqualität jederzeit zu rechnen war, hatten sie die Geschäfts-, Betriebs- und Verkaufsleitung mehrfach aufgefordert, Ausweichartikel, die »auch bei schlechtem Glas […] gearbeitet werden können«, in der Planung der Produktion mit einzubeziehen.317 Hierfür kamen beispielsweise Artikel infrage, bei denen die Formung mit sogenannten Heißveredelungstechniken verbunden war. Ein Craquelé-Glas oder ein Glas mit Borkenstruktur konnte auch dann gearbeitet werden, wenn das Glas unerwarteterweise windig sein sollte und sich daher nicht mehr für die Fertigung von glasklaren Artikeln eignete. Zu Wochenbeginn sollte der Betriebsleiter – so der Vorschlag des Gesellschafters und Glasmachers [Diedrich Klein] im Oktober 1971 – für jede einzelne Werkstelle einen Wochenplan festlegen, in denen jeweils Gutund Schlechtglasartikel aufgeführt sein sollten.318 Solchen Vorschläge zur Verbesserung der Betriebsorganisation kam das Führungspersonal aber ebenso wenig nach wie der wiederholt geäußerten Forderung, veraltete Technik zu erneuern – seien es die Öfen oder die Pfeifen, mit denen, so die Kritik der Glasmacher, nur noch schlechtes Glas geblasen werden könne, da sich Rostteile lösten und in die Glasmasse gelangten.319 Die Vorschläge aus der Belegschaft stießen – wie bereits im Technik-Kapitel 5.1 aufgezeigt – dort an Grenzen, wo sie zusätzliche Kosten verursachten bzw. den Vorstellungen der über die Investitionsmittel verfügenden geschäftsführenden Gremien widersprachen.

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trolle nach der Veredelung in der Feinschleiferei, bevor im Lager die Endkontrolle stattfand. Ausbildungsbericht [Ingrid Buchholz], undatiert [1961], in: Privatarchiv [Buchholz], S. 75. [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 37f. Im April 1971 beschloss die Abteilungsleiterkonferenz, dass der Magazinleiter [Willi Voigt] diese Aufgabe übernehmen sollte, sobald das Magazin aufgelöst sei, wozu es aber nicht kam. Ab November 1973 übte [Paul Nowak] diese Funktion aus. Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 27. April 1971, in: AGI, S. 1. Siehe Kapitel 5.4. Abteilungsleiterkonferenz, 24. Mai 1971 (s. Anm. 37), S. 2. Siehe Protokolle der Abteilungsleiterkonferenz, März bis Juli 1971, in: AGI. So lautete auch eine Empfehlung von [Marek], Oktober 1973 (s. Anm. 91), S. 4. Gesellschafterversammlung, 21. Oktober 1971 (s. Anm. 132), S. 2. Glasmacher [Diedrich Klein] in Gesellschafterversammlung, 19. August 1971 (s. Anm. 210), S. 3; [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 9), S. 13f.

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Bewährung: Effizienz in der Werkstellenbesetzung Die personelle Zusammensetzung und Auftragsverteilung der unterschiedlich entlohnten Artikel auf die Werkstellen waren in einer Mundglashütte – ähnlich wie das Auspreisen – traditionell spannungsreiche Aushandlungsprozesse zwischen Glasmachern und technischem Leitungspersonal. Beides wirkte sich unmittelbar auf Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie Weiterbildungs- und Aufstiegschancen aus, weshalb Glasmacher generell beanspruchten, hierauf Einfluss zu nehmen. Nach der Belegschaftsübernahme erhöhten zwei neue Faktoren die organisatorischen Herausforderungen in der Werkstellenbesetzung: Die anvisierte Steigerung der Produktivität sollte – bei gleichgebliebener Anzahl von Werkstellen an nun drei statt zwei Öfen – über eine bestmögliche Auslastung der vorhandenen Produktionskapazitäten realisiert werden. Infolge von Sortimentsveränderungen und der Aufnahme zahlreicher neuer Artikel nahm der Koordinationsbedarf zwischen Produktion, Vertrieb und Lager zu. Notwendig wurde also eine effizientere Werkstellenbesetzung – wer nach welchen Kriterien hierüber entscheiden durfte, blieb im selbstverwalteten Betrieb umstritten. Vor der Belegschaftsübernahme traf der Betriebsleiter diese Entscheidungen: Jede Veränderung in den Werkstellengruppen und jeder Wechsel der hier gefertigten Artikel, der bei unvorhergesehenen Qualitätsschwankungen der Glasschmelze notwendig wurde, musste damals von [Ludwig Hager] bewilligt werden.320 Seinem Nachfolger [Ewald Lenz] war es während seiner sechs-monatigen Anstellung nicht gelungen, eine maximale Auslastung der Werkstellen an den neuen Öfen zu gewährleisten und zeitnah auf Qualitätsschwankungen zu reagieren.321 Nach [Lenz’] Entlassung im Frühjahr 1971 übertrug die Abteilungsleiterkonferenz die Koordination der Werkstellenbesetzung einer »Kommission, die aus dem Hüttenmeister und dem technischen Ausschuss« bestand.322 Damit erfolgte eine (wenn auch juristisch nicht abgesicherte) Formalisierung der zuvor informellen Einflussnahme der Glasmacher, die nunmehr aber einer kollektiven Kontrolle unterworfen wurde. Diese neue Kompetenzverteilung stand den Bemühungen der geschäftsführenden Gremien um eine Zentralisierung der Kontrolle über die Produktion diametral entgegen. Über die Prioritätensetzung bei der Werkstellenbesetzung kam es bereits nach wenigen Monaten zu einem grundsätzlichen Konflikt zwischen dem Geschäftsführer [Hans Müller] und dem Betriebsausschuss sowie dem technischen Ausschuss, der sich an einer Personalie entzündete. Im September 1971 schlug [Müller] die Einstellung von zwei Krugmachern vor, um durch eine weitere Krugwerkstelle eine »volle Kapazitätsausnutzung der Hafenöfen« zu erreichen.323 Die Ausweitung der Fertigung von Krügen versprach angesichts der bestehenden großen Nachfrage eine Steigerung der Umsatzzahlen und ließ im Verkauf

320 Notizen Erasmus Schöfer, undatiert [1973/1974], in: FHI, Schöf-1196. 321 Technischer Ausschuss, 10. Dezember 1970 (s. Anm. 39); Bericht Technischer Ausschuss (GHS), 5. Januar 1971, in: FHI, Schöf-1228; Gesellschafterversammlung, 11. März 1971 (s. Anm. 39). 322 Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 3. Mai 1971, in: AGI, S. 1. 323 Geschäftsführung, 22. Oktober 1971 (s. Anm. 30), S. 3. Folgendes aus Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 16. September 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 2–4; Protokoll Betriebsausschuss (GHS), 17. September 1971, in: FHI, Schöf-1228.

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hohe Gewinnspannen erwarteten – ein Argument, das angesichts der sich zum damaligen Zeitpunkt akut verschlechternden Liquidität der Firma besonderes Gewicht besaß. Aus verschiedenen Gründen stieß dies unter den Glasmachern aber auf heftigen Widerstand: Mit Vater und Sohn [Kunze] wollte [Müller] zwei Krugmacher einstellen, die bereits früher in der Glashütte Süßmuth gearbeitet, den Betrieb in Zeiten der Krise jedoch verlassen hatten.324 Zudem waren sie mit der Glasmacherfamilie [Graf] verwandt, die in einem persönlich engen Verhältnis zu Richard Süßmuth standen.325 Ein Glasmacher aus dieser Familie habe sich der Abpreisung im Rahmen der skizzierten Bemühungen um eine gerechtere Gestaltung der Akkordentlohnung verweigert.326 Befürchtet wurde künftig ein »[Graf]-[Kunze]-Klüngel«, der für sich höhere Löhne durchsetzen möchte. Da etliche Glasmacher mit Kündigung drohten, lehnte der Betriebsausschuss [Müllers] Vorschlag ab. Obwohl Personalentscheidungen laut Vereinssatzung seiner Zustimmung bedurften, setzte sich [Müller] nach gescheiterten Einigungsversuchen über den Beschluss des Betriebsausschusses hinweg und stellte die beiden Krugmacher zum 1. November 1971 ein. Angesichts der »Dringlichkeit der Einstellung«, von der die »Zukunft des Unternehmens« abhänge, und aufgrund der vorrangig lohnpolitischen Motivation, die er der ablehnenden Haltung des Betriebsausschusses unterstellte, fühlte sich [Müller] zum Bruch mit den Bestimmungen des Modells Süßmuth berechtigt, wofür er schließlich mehrheitlich die Unterstützung der Gesellschafterversammlung erhielt.327 Tatsächlich berührte diese Personalie auch Fragen der Entlohnung, was für die Mitglieder des Betriebsausschusses kein illegitimes Motiv war. Krugmacher erhielten – in Anbetracht der erforderlichen Geschicklichkeit, die nicht alle Glasmacher erwerben konnten – in einer Mundglashütte generell die höchsten Löhne. Aber es ging in diesem Konflikt auch um Arbeitsbedingungen, Aufstiegsmöglichkeiten und die Würdigung der bisher geleisteten Arbeit. Um Platz für die neue Krugwerkstelle zu machen, mussten die Glasmacher, die bislang an dieser Werkstelle gearbeitet hatten, an eine bereits von einer Arbeitsgruppe belegte Ofenöffnung umziehen.328 An einer solchen Doppelwerkstelle herrschten räumlich beengtere und damit schlechtere Arbeitsbedingungen vor. Dass zudem langjährige und während der Betriebsübernahme sehr engagierte Mitarbeiter »weiterhin Kölbelmacher oder Springer« bleiben bzw. dazu wieder degradiert werden sollten, während »ihnen einfach [neue] Leute vor die Nase gesetzt« werden, die keinerlei Bezug zur Selbstverwaltung hatten, war für die Glasmacher ungeheuerlich.329 Laut dem Vorsitzenden des Betriebsausschusses [Rolf Schindler] habe es im Betrieb genügend Leute gegeben, die nur darauf warteten, zum Glasmacher oder Werkstellenleiter aufzurücken, und »die sofort eine Krugwerkstelle bilden könnten«.330

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Folgendes aus [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 9), S. 12f. Siehe Kapitel 1.5. Siehe Kapitel 5.2. [Hans Müller] an Gesellschafterversammlung (GHS), 30. September 1971, in: FHI, Schöf-1228; Gesellschafterversammlung, 30. September 1971 (s. Anm. 56), S. 2; Betriebsausschuss, 17. September 1971 (s. Anm. 323), S. 1; Gesellschafterversammlung, 16. September 1971 (s. Anm. 323), S. 3. 328 Folgendes von [Dieter Schrödter] aus [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 9), S. 13. 329 Glasmacher [Gottfried Streek] zitiert in Betriebsausschuss, 17. September 1971 (s. Anm. 323), S. 2. 330 Ebd.

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In diesem Konflikt trat zutage, woran die Glasmacher eine effiziente Werkstellenbesetzung festmachten: Neben Produktivitäts- und Umsatzzahlen waren dabei vor allem auch soziale Faktoren zu berücksichtigen. Diese hatten großen Einfluss auf ihre Arbeitszufriedenheit, künftige Kooperations- und Leistungsbereitschaft und gehörten zu grundlegenden Voraussetzungen der Qualitätsproduktion. Um eine vertrauensvolle Zusammenarbeit innerhalb der Werkstellengruppen zu gewährleisten, waren auch die Fähigkeiten, Persönlichkeiten und Beziehungen zwischen den Personen zu berücksichtigen. Im Sinne einer nachhaltigen Personalplanung galt es zudem den Schwerpunkt auf die betriebliche Nachwuchsförderung und Weiterqualifizierung der im Betrieb tätigen Personen zu legen. Für eine optimale Auslastung der Produktionskapazitäten sollte sich die Geschäftsführung – so die mehrfach in den Belegschaftsgremien geäußerte Forderung – eher um die Anwerbung von Kölbelmachern bemühen und diese zu Glasmachern ausbilden, anstatt bereits qualifizierte Glasmacher mit einer potenziell geringeren Betriebsbindung einzustellen.331 Denn um die Glasmacher weiterhin an den Betrieb zu binden und Auszubildende für den Glasmacherberuf zu gewinnen, musste die Firma realistische Aufstiegschancen aufzeigen. Vergeblich verteidigte ein Teil der Belegschaftsvertreter im [Kunze]-Konflikt die erst kurz zuvor etablierte neue Kompetenzverteilung bei der Werkstellenbesetzung.332 Als Gesellschafter und Sprecher des technischen Ausschusses betonte der Glasmacher [Paul Nowak] im September 1971, dass »[ü]ber die Zusammensetzung der Werkstellen [und] alle anderen technischen Fragen« der technische Ausschuss zu entscheiden habe. Zugleich wies er die Geschäftsführung darauf hin, dass auch für sie die Beschlüsse der Ausschüsse bindend seien. Die kaufmännischen Angestellten warfen den im technischen Ausschuss und Betriebsausschuss vertretenen Glasmachern vor, bei ihren Entscheidungen von den eigenen materiellen Interessen und Statusdünkel geleitet zu sein. Sie selbst meinten dagegen nach einer auf vermeintlich objektiven, betriebswirtschaftlichen Tatsachen basierenden Rationalität zu handeln, welche sie befähige, die zum »Wohle der Firma« richtigen Entscheidungen treffen zu können. In dieser Entscheidungshoheit bestätigt sahen sie sich paradoxer Weise durch die zurückliegenden Fehlinvestitionen des Betriebsleiters [Ewald Lenz], für die sie ungerechtfertigter Weise die Belegschaftsgremien mitverantwortlich machten. [Hans Müller] bestätigte der Konflikt über die Personalie [Kunze] nicht nur darin, die Befugnisse des Betriebsausschusses zu reduzieren,333 sondern fortan auch Entscheidungskompetenzen zugunsten einer zentralen Kontrolle stärker aus dem Betrieb herauszulösen. Mit der Zentralisierung der Betriebsführung setzte sich sogleich – ähnlich wie bei der Lohnfrage – ein vorrangig in den Kategorien von Produktivitätssteigerung und (Lohn-)Kostensenkung quantitativ messbares Verständnis von Effizienz durch. Eine in diesem Sinn effiziente Werkstellenbesetzung tendierte zu einer personellen Verdichtung der Werkstellen, um – ungeachtet der hiermit verbundenen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen – die Hafenkapazitäten maximal auszulasten und zugleich

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Siehe bspw. Gesellschafterversammlung, 21. Oktober 1971 (s. Anm. 132), S. 2; Gesellschafterversammlung, 31. August 1972 (s. Anm. 273), S. 2. 332 Folgendes aus Gesellschafterversammlung, 30. September 1971 (s. Anm. 56). 333 Siehe Kapitel 4.3.

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das Arbeitstempo an den Öfen zu erhöhen. Im August 1972 regte der Vertriebsleiter [Jürgen Schmitz] sogar an, mehrere Werkstellen aufzulösen, andere mit den freigesetzten Glasmachern auch zum Preis ihrer Dequalifizierung »zu komplettieren« und »gegebenenfalls weitere Glasmacher einzustellen, um damit rentabler zu arbeiten«.334 Die die Leistungen der Glasmacher quantifizierenden Produktionsstatistik sollte »eine Differenzierung nach guten und schlechten Werkstellen«, »eine Auslese unter den Glasmachern« sowie deren »eventuell[e] Umsetzung an den Arbeitsplätzen« ermöglichen.335 Dass sich die geschäftsführenden Gremien von einer solchen – die Arbeits- und Lohnbedingungen wie das Gerechtigkeitsempfinden der Glasmacher ignorierenden – »zweckmäßigen Werkstellenbesetzung« eine Leistungssteigerung an den einzelnen Werkstellen versprachen, zeugt von ihrer technokratischen Grundhaltung, mit der sie die sozialen Strukturen an den Werkstellen vollkommen außer Acht ließen. Diese Form der Werkstellenbesetzung erwies sich in der Glashütte Süßmuth allein deshalb als ungeeignet, weil die Leistungen der Glasmacher – mit Blick auf die Vielfalt der hier gefertigten Qualitätsprodukte – vorrangig nach qualitativen Maßstäben zu bewerten waren und sich in ihrer »Wirtschaftlichkeit« nur begrenzt quantifizieren ließen. Schwankende Leistungswerte hingen – wie bereits die Lohnkonflikte zeigten – nicht zwangsläufig mit der Arbeit der Glasmacher zusammen, sondern beispielsweise damit, dass eine Werkstelle eine Zeit lang nur Muster arbeitete oder Qualitätsschwankungen in der Glasschmelze Artikelumstellungen notwendig machten. Der Aufbau der Produktionsstatistik kam daher zu keinem zufriedenstellenden Abschluss, die hierin dokumentierten Zahlen erwiesen sich als nur begrenzt aussagekräftig und konnten letztlich keine verlässliche Grundlage für die Werkstellenbesetzung darstellen.336 Anfängliche Zweifel an der Richtigkeit der Messwerte konnten auch in den folgenden Jahren nicht ausgeräumt werden.337 Noch Ende 1973 war nicht eindeutig nachweisbar, inwiefern sich durch die personelle Verdichtung an den Werkstellen der »Bruttoverdienst für die Firma« tatsächlich gesteigert hatte.338 Die zentrale Planung und Kontrolle der Arbeit an den Werkstellen hatte sich in der betrieblichen Praxis nicht bewährt, evozierte aber erhebliches Konfliktpotenzial. So war es bereits im Herbst 1971 – unmittelbar nachdem der technische Ausschuss von diesen Entscheidungen ausgeschlossen wurde – zu »falschen Planungen« gekommen, die zu Auseinandersetzungen innerhalb der Werkstellengruppen und gesunkenen Arbeitsergebnissen geführt hatten und ebenfalls zum damals konstatierten Anstieg des Lohnkostenanteils beitrugen.339 [Nowak] und [Klein] führten dies darauf zurück, dass das neue betriebliche Leitungspersonal die Glasmacher noch »nicht genügend« kannte und 334 Gesellschafterversammlung, 31. August 1972 (s. Anm. 273), S. 2. 335 Folgendes aus Fabian, 2. November 1971 (s. Anm. 149), S. 3. 336 Noch im Juli 1973 befand sich die Produktionsstatistik, »die Daten jeden Artikels auch über lange Zeiträume hinweg genau zu erfassen« versprach, im Probelauf. Beirat, 10. Juli 1973 (s. Anm. 174), S. 3. 337 Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 10. Mai 1971, in: AGI, S. 1; Gesellschafterversammlung, 19. August 1971 (s. Anm. 210), S. 1, 3; Gesellschafterversammlung, 2. September 1971 (s. Anm. 90), S. 1; Beirat, 10. Juli 1973 (s. Anm. 174), S. 2f. 338 Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 45), S. 1. 339 Folgendes aus Gesellschafterversammlung, 21. Oktober 1971 (s. Anm. 132).

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bei Zusammenstellung der Werkstellengruppen nicht berücksichtigte, ob sie das gleiche Leistungsniveau hatten bzw. gut miteinander arbeiten konnten. Ein Jahr später warf [Hans Müller] [Paul Nowak] eine gezielte Akkordmanipulation vor, die er als Werkstellenmeister durch eine zu hohe Stückzahlangabe intendiert habe.340 Die Unstimmigkeit in der Endabrechnung entstand durch Artikelumstellungen infolge temporärer Schwankungen in der Glasqualität, die innerhalb kurzer Zeit notwendig wurden und jeweils unterschiedliche Stückzahlangaben und Bezahlung nach sich zogen. Im Nachhinein war weder für [Müller] noch für [Nowak] im Detail rekonstruierbar, wie es zu der verfehlten Stückzahlangabe kommen konnte. Aufgrund solcher Erfahrungen gehörte [Nowak] zu jenen Belegschaftsvertretern, die den Sinn einer quantifizierenden Werkstellenkontrolle und einer Entlohnung im traditionellen Stückakkord generell infrage stellten. Für den Geschäftsführer bekräftigten solche Vorkommnisse hingegen die Notwendigkeit einer stärkeren Kontrolle der Glasmacher. Er legte den Vorfall als lohnegoistischen Betrugsversuch von [Nowak] aus – ungeachtet, dass sich dieser während seiner freiwilligen Sonderschicht ereignet hatte –, was ein Schlaglicht auf die Machtkämpfe in der selbstverwalteten Glashütte wirft. Denn es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass ein prominentes Mitglied jener Gruppe von Beschäftigten, die am schärfsten Kritik am Geschäftsführer übten,341 eben von diesem angeprangert wurde.

Betriebliche Sozialpolitik – »Im Visier« oder Mittel der Rationalisierung? Die konträren Strategien arbeitsorganisatorischer Rationalisierung implizierten grundlegende Unterschiede in der Bewertung der von Richard Süßmuth praktizierten Formen betrieblicher Sozialpolitik. Den betriebsexternen Beiratsmitgliedern erschien sie als Relikt eines »sozialen« Unternehmers entbehrlich. Sie erkannten hierin erhebliches Einsparpotenzial. Betriebsrente und Werkswohnungen stuften sie als nicht-produktionsrelevante Vermögensbestände ein, die es zu »verflüssigen« galt.342 Zudem vernachlässigten die geschäftsführenden Gremien die Pflege des von Süßmuth aufgebauten betrieblichen Ausbildungswesens. Sie ignorierten damit die ökonomische Bedeutung, die der Ausbildung und den anderen auf Betriebsbindung abzielenden Praktiken betrieblicher Sozialpolitik im Rahmen einer langfristigen Personalplanung für die Qualitätsproduktion und für die eingeschlagene Unternehmensexpansion zukam. Auf den Nachwuchsmangel im Betrieb, der auf lange Sicht die Existenz des Unternehmens bedrohte, machten vor allem die Glasmacher immer wieder aufmerksam.343 Branchenweit war dieser auf eine nachlassende Bereitschaft junger Menschen zurückzuführen, die »harte Schule« der langwierigen Glasmacherausbildung zu absolvieren und sich der in Mundglashütten traditionell stark ausgeprägten Meisterwillkür zu

340 Folgendes aus Notiz [Hans Müller], 5. November 1972, in: FHI, Schöf-1227; Stellungnahme [Paul Nowak], 19. November 1972, in: FHI, Schöf-1227. 341 Siehe Kapitel 8.2. 342 Siehe Kapitel 1.4, Kapitel 2.1 und Kapitel 7.3. 343 [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 202), S. 9; [Rolf Schindler] in Hanno Brühl, 24. März 1973 (s. Anm. 201).

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unterwerfen.344 Diese autoritäre Lehrpraxis gewährleistete bis dahin die für das Erlernen des Glasmacherhandwerks notwendige Disziplin, Motivation und Ausdauer der Auszubildenden. Eine strukturell gleichberechtigte Beziehung zwischen Meister und Auszubildenden – die in der selbstverwalteten Glashütte ansatzweise entstand und mit der Auszahlung eines einheitlichen Weihnachtsgeldes oder der Entlohnung im Gruppenakkord statt eines »Lehrlingsgeldes« zum Ausdruck kam – wäre eine Option gewesen, die Glasmacherausbildung an die Ansprüche der nachrückenden Generation anzupassen. Willkür der Meister in der Ausbildung hätte durch eine demokratische Kontrolle verhindert werden können, um auf dieser Basis wiederum die Disziplin der Auszubildenden sicherzustellen.345 Im Fertigungsprozess hätten Möglichkeiten zum Erwerb und zur Weiterentwicklung der Fähigkeiten erhalten bzw. geschaffen werden müssen, anstatt diese – wie von den geschäftsführenden Gremien vorangetrieben – im Interesse an einer Beschleunigung der Arbeitsabläufe zu beseitigen und bereits ausgebildete Glasmacher neu einzustellen. Eine kleine Gruppe von Belegschaftsvertreter*innen dachte sogar über die Eröffnung einer Glasschule in Immenhausen nach. Auf überbetrieblicher Ebene sollte hier eine »echt[e] Berufsfachausbildung« angeboten werden.346 Neben Vorteilen für die Bindung von Nachwuchs an den eigenen Betrieb eröffneten sich hiermit neue Möglichkeiten der Finanzierung. Der Neubau eines dritten Ofens »für die Lehrlinge«, der zugleich der firmeneigenen Produktion dienlich sein könnte, hätte so beispielsweise aus Fördermitteln des Kulturministeriums finanziert werden können. Diese Überlegungen knüpften an frühere Pläne von Richard Süßmuth an, dem die Gründung einer überbetrieblichen Ausbildungsstätte für die in Hessen nach 1945 neuangesiedelte Glasbranche seinerzeit nicht gelungen war und der sich deshalb mit einer betriebseigenen Berufsschule begnügen musste. Sie standen im Zusammenhang mit den Bemühungen um die Anerkennung der Gemeinnützigkeit für den Belegschaftsverein, im Zuge dessen auch über die Gründung eines betriebseigenen Kindergartens diskutiert wurde.347 Dieser hätte vor allem die Doppelbelastung der Arbeiterinnen reduziert und ihnen Möglichkeiten eröffnet, in Vollzeit zu arbeiten oder sich stärker in den Selbstverwaltungsgremien zu engagieren. Mit Vorschlägen zur »Verschönerung des Arbeitsplatzes« oder zur gemeinsamen Freizeitgestaltung griffen die Beschäftigten ebenfalls sozialpolitische Praktiken von

344 Zur Ausbildung siehe Kapitel 1.5. Zum Nachwuchsmangel in der Branche siehe Kapitel 1.1 und Kapitel 9.4. 345 So betonte der Betriebsratsvorsitzende [Holger Neumer], dass die Auszubildenden zwar – wie es der Lehrvertrag vorsah – »alle möglichen Arbeiten machen [müssen], die sie auch nicht gerne machen«, im selbstverwalteten Betrieb hatten sie aber »die gleichen Rechte« wie alle anderen Beschäftigten. [Holger Neumer] in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 130), S. 17f. 346 Folgendes aus Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] und [Max Ulrich], 12. November 1973, im Besitz der Autorin, S. 7f. 347 Konzept Änderung der Betriebsverfassung (GHS), 28. März 1973, in: FHI, Schöf-1226; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Frank Weber], 26. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 1; »Am Modell Süßmuth wird mit Erfolg weiter gefeilt«, in: Hessische Allgemeine, 13. Oktober 1973, in: AGI. Siehe Kapitel 4.1.

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Richard Süßmuth auf.348 In Abgrenzung zu dessen pädagogisch-paternalistischen Erziehungsanspruch stellten sie die eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund. Zentraler Kritikpunkt an Süßmuths Investitionspolitik war, dass er den Fokus auf die Ästhetik des Betriebsgeländes legte und dabei vorrangig sein nach außen gerichtetes Repräsentationsinteresse bediente. Der sonnenlichtdurchfluteten, großzügig konstruierten Ausstellungshalle standen Umkleideräume für die Beschäftigten gegenüber, in denen es keine Bänke, kein fließendes Wasser und keine Heizung gegeben habe, oder Werksräume, in denen bei schlechtem Wetter der Gasgeruch unerträglich gewesen sei, was zu zahlreichen Magenerkrankungen geführt habe.349 Solche Missstände zu beheben und die Voraussetzungen zu schaffen, dass sie sich an ihrem Arbeitsplatz »wohl fühlen können«, gehörte für die Beschäftigten zum – von der Redaktion der Betriebszeitung explizit formulierten – Ziel der Selbstverwaltung.350 Unmittelbar nach der Kündigung der ersten Geschäftsführung im Frühjahr 1971 berieten die Belegschaftsgremien entsprechende Maßnahmen.351 An einem Samstag im Juli 1971 wurden beispielsweise alle Beschäftigten aufgerufen, gegen eine kleine Aufwandsentschädigung beim Aufräumen des Werksgeländes zu helfen, was laut [Hans Müller] »gut geklappt« habe.352 Auch mit der Erneuerung der Sanitär- und Aufenthaltsräume wurde begonnen.353 Die Kühlbandabnehmerinnen berichteten von den Versuchen, ihre Arbeitsbedingungen im Trakt zwischen Hütte und Weiterverarbeitung – wo es zugig war und mitunter hinein regnete – mit Hilfe von Plastikplanen zu verbessern, die am Dach angebracht wurden.354 Aufgrund der Konstruktion der Gebäudeverbindung waren diese Bemühungen nur begrenzt erfolgreich. Zur vollständigen Beseitigung solcher Mängel bedurfte es größerer Investitionen, die der Beirat jedoch – ebenso wie für das Ausbildungswesen, für den Umbau der Sanitäranlagen oder für die Errichtung eines betriebseigenen Kindergartens – nicht zur Verfügung stellte.355 Die geschäftsführenden Gremien verkannten das Potenzial, das einer an die Bedürfnisse der Beschäftigten angepassten bzw. selbstbestimmten betrieblichen Sozialpolitik bei der Rationalisierung hätte zukommen können. Über die klassischen Funktionen Betriebsbindung, Leistungsmotivation und Werbung hinaus, hätten die von den Beschäf348 Nach der Betriebsübernahme hatte eine Gruppe von Beschäftigten bspw. ein Betriebsfest organisiert, an das sich der Glasmacher [Dieter Schrödter] gern zurückerinnerte. [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 202), S. 13. 349 Schöfer, [1973/1974] (s. Anm. 320), S. 2. Siehe Kapitel 1.5. 350 Hüttenecho, April 1971 (s. Anm. 122), S. 8. 351 Abteilungsleiterkonferenz, 5. April 1971 (s. Anm. 26), S. 2. 352 Die Aufwandsentschädigung wurde in Form von Brennholz, das die Firma im Zuge der Umstellung auf Erdgas nicht mehr benötigte, oder in Form eines Betrags von vier DM pro Stunde ausgehändigt. Ebd.; Abteilungsleiterkonferenz, 5. Juli 1971 (s. Anm. 289), S. 1; [Hans Müller] zitiert in Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 15. Juli 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 2. 353 In den Jahren 1972 und 1973 berichteten Journalisten über den Bau neuer Umkleidekabinen und Duschräume, die aber offensichtlich erst im August 1976 unter der Geschäftsführung von [Harald Meier] fertiggestellt wurden. Berliner Extra Dienst, 25. Oktober 1972 (s. Anm. 225), S. 11; Hessische Allgemeine, 13. Oktober 1973 (s. Anm. 347); Protokoll Abteilungsleitersitzung (GHS), 11. August 1976, in: AGI, S. 2f. 354 Folgendes aus [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 3f. 355 Zum Problem der fehlenden Verfügbarkeit über die Kreditmittel siehe Kapitel 7.3.

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tigten vorgeschlagenen Maßnahmen – für deren Umsetzung sie ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen wollten – zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen und des Betriebsklimas beigetragen, den sozialen Zusammenhalt und hierdurch wiederum immaterielle, intrinsische Leistungsanreize stärken können. Der sich stattdessen im Verlauf der Selbstverwaltung verschlechternden Arbeitsatmosphäre vermochten die geschäftsführenden Gremien nur mit materiellen, externen Leistungsanreizen oder mit Aufklärungsarbeit zu begegnen.356 So empfahlen die Gewerkschaftsfunktionäre im Dezember 1974, die (lediglich die Glasmacher betreffenden) Leistungslöhne zu überprüfen und »mehr Gespräche mit den resignierenden Kollegen« zu führen.357 [Hans Müller] hatte im Jahr zuvor versucht, durch die Ausgabe von »Zehn-Mark-Gutscheinen für Essen und Trinken auf dem Volksfest« die Stimmung in der Belegschaft zu heben.358 Der Graveur [Wolfgang Franke] betonte indes, der soziale Bindung werde eher gestärkt, »wenn man gemeinschaftlich was schafft« und beispielsweise zusammen die Betriebsräume neu anstreiche, anstatt mit den Kollegen einen zu »saufen« und »am nächsten Tag mit schweren Kopf« aufzuwachen.

Neue Anforderungen bei der Arbeit Technische Neuerungen konnten in der Glashütte Süßmuth die Arbeitsbedingungen nur zum Teil verbessern. Von der Umstellung von Transportkisten auf -wägen profitierten vor allem die Arbeiterinnen in der Weiterverarbeitung.359 Mit dem Energieträgerwechsel fiel die Generatorenbeheizung und damit die enorm gesundheitsbelastenden Tätigkeiten des Generatorwärters weg.360 An den erneuerten Kühlbändern hatten sich die extremen Temperaturschwankungen reduziert, denen die Abnehmerinnen an den zuvor defekten Bändern ausgesetzt gewesen waren. Sie mussten auch nicht mehr zwischen Kühlbandabnahme und anderen Tätigkeiten »springen«, da sich der Arbeitsanfall infolge des gesunkenen Kühlbruchs verstetigte. Letzteres wirkte sich auf sie wie auch auf die Glasmacher motivierend aus, war ihre Tätigkeit doch bei fehlerfreier Produktion sinnstiftender. Gleichwohl blieb die Fertigung mit einer Reihe von körperlich sehr anstrengenden Tätigkeiten verbunden. Es wurde weiterhin an Hafenöfen gearbeitet, sowohl die Formung des Glases durch die Glasmacher als auch Rohstoffeingabe und -transport durch die Schmelzer blieben Handarbeit. Ebenso wie das Hafen-Einfahren oder GlastascheZiehen erforderten diese Arbeiten einen hohen körperlichen Krafteinsatz unter enormer Hitze, die sich technisch – wie das Beispiel der Luftdusche über den Öfen zeigte361 – nur

356 Zum Betriebsklima siehe Kapitel 5.4. 357 Handschriftliches Protokoll (Vitt) Beirat (GHS), 17. Dezember 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. 358 Folgendes aus [Franke] und [Weber], 13. August 1973 (s. Anm. 142), S. 10. 359 [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 6. 360 Drei der vier im Jahr 1969 beschäftigten Generatorwärter arbeiteten daraufhin in der Hofkolonne. Lohn- und Personalliste, 20. September 1969 (s. Anm. 124); Lohn- und Personalliste, 12. März 1971 (s. Anm. 143). 361 Siehe Kapitel 5.1 und Kapitel 9.3.

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geringfügig reduzieren ließ. Auch die neuen Maschinen in den weiterverarbeitenden Abteilungen hatten die Grenzen einer arbeitskraftersetzenden und arbeitserleichternden Rationalisierung durch Technik vor Augen geführt, da sie viele Probleme verursachten und die Arbeit mitunter sogar erschwerten. Aus den beschriebenen arbeitsorganisatorischen Rationalisierungsmaßnahmen resultierten zudem neue Anforderungen bei der Arbeit, von denen alle Beschäftigten in ihrem jeweiligen Tätigkeitsbereich gleichermaßen betroffen waren.

Ausweitung und Flexibilisierung der Arbeitszeiten Vor der Industrialisierung waren die Arbeitszeiten in einer Mundglashütte unmittelbar vom aperiodischen und kaum im Voraus planbaren Schmelzprozess abhängig.362 Die Glasmacher mussten damals in direkter Nähe zur Hütte wohnen und sich abrufbereit halten, um nach Vollendung des Schmelzprozesses ihre Arbeit zu beginnen. Erst die Entwicklung neuer Schmelztechniken parallel zur erstarkenden Arbeiterbewegung führte im Laufe des 19. Jahrhunderts auch im Glashüttenwesen zu einer Institutionalisierung fester Arbeitszeiten. »[Ü]berlange Arbeitszeiten« und die »Ausdehnung der Wochenarbeitszeiten« blieben indes eine nicht unübliche arbeitsorganisatorische Wettbewerbsstrategie vor allem mittelständischer Glasunternehmen.363 Die in den 1960er-Jahre in der Glasbranche gewerkschaftlich erkämpfte Vierzigstunden-und-Fünftagewoche, die zunehmende Unzufriedenheit unter den Beschäftigten und deren hierdurch sinkende Bereitschaft zu flexibler Mehrarbeit bereitete dem alten Eigentümer erhebliche Probleme. Erst nach der Belegschaftsübernahme kam diese arbeitsorganisatorische Strategie in der Glashütte Süßmuth wieder stärker zur Anwendung: Um die Sanierung trotz knapper finanzieller Mittel durchführen zu können, wurden – begleitend zu den produktionstechnischen Improvisationen – die Arbeitszeiten ausgeweitet sowie an die Kapazitäten in der Produktion und an die saisonalen Nachfrageschwankungen angepasst. Auf freiwilliger Basis halfen weite Teile der Belegschaft in Form unbezahlter Überstunden bei den Sanierungsarbeiten. Zur Abfederung des Arbeitskräftemangels legten die Glasmacher nach ihrem Achtstundentag freiwillige Sonderschichten ein, wenn in den Häfen noch verarbeitungsfähige Glasmasse vorhanden war.364 Andernfalls hätte diese ungenutzt weggeworfen werden müssen, um Platz für die Glasschmelze des folgenden Tages zu machen. Zeitweise arbeiteten die Glasmacher nach einem Schichtversatzsystem. Aufgrund des periodischen Schmelzprozesses in den Hafenöfen konnte in einer Mundglashütte zwar nicht in Tag- und Nachtschichten, tagsüber aber an verschiedenen Öfen in zeitlich nacheinander versetzten Schichten produziert werden.365 Hier362 Folgendes aus Gleitsmann, Interdependenz (s. Anm. 3); Alfons Hannes, Glas aus dem Bayerischen Wald, Grafenau 1975, S. 100. 363 Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 164), S. 140; Zur Anwendung dieser Strategie in der GHS vor der Belegschaftsübernahme siehe Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Willi Voigt], 11. Oktober 1973, im Besitz der Autorin, S. 2f. 364 Die Glasmacher verzichteten dabei auf die ihnen zustehenden Überstundenzuschläge. Leveringhaus, 20. August 1971 (s. Anm. 210), S. 2; Stern, 18. April 1973 (s. Anm. 125), S. 82. 365 Zum Arbeiten in einem solchen Zweischichtbetrieb kam es temporär im Sommer 1969, ab November 1970, als die Kühlbänder erneuert wurden, und als im Sommer 1971 die Produktion von zwei auf drei Öfen umgestellt wurde. In der ersten Schicht wurde an einem Ofen von 6 bis 14 Uhr und in der

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durch konnten die Ausfallkosten während der Sanierung niedrig gehalten, die für eine Expansion der Produktion eigentlich zu geringen Kühlbandkapazitäten erweitert und das Glas sorgfältiger gekühlt werden. Diese Form der Schichtarbeit wurde zum integralen Bestandteil der nach dem Scheitern der Zweiofenumstellung von der Betriebsleitung neu erstellten Sanierungskonzeption, die mit der Inbetriebnahme des neugebauten dritten Ofens im Frühjahr 1975 realisiert wurde.366 Nach Entlassung der ersten Geschäftsführung im März 1971 einigten sich die Belegschaftsgremien immer wieder auf eine temporäre Wiedereinführung der Samstagsarbeit, deren Abschaffung die IG Chemie in der Glasbranche 1965 durchgesetzt hatte.367 Diese Maßnahme sollte zunächst den Produktionsstau beheben, der in der Weiterverarbeitung durch die expansive Vertriebsstrategie des Verkaufsleiters [Stefan Kurtz] in der ersten Jahreshälfte 1971 entstanden war.368 Kompensiert werden sollten auch die Verluste infolge der Probleme und Verzögerungen beim Neubau und der Inbetriebnahme der neuen Öfen, die auf das Konto des Betriebsleiters [Ewald Lenz] gingen. Die Ausweitung auf eine Sechstagewoche stellte zudem eine temporäre Überbrückungsmaßnahme während der im Sommer 1971 erfolgten Umstellung von zwei auf drei Öfen dar, als sich der Produktionsoutput abrupt erhöhte.369 »Um für das Weihnachtsgeschäft zusätzlich Ware bereitstellen zu können«, wurde schließlich auch an den »meisten Samstage[n]« im zweiten Halbjahr 1971 gearbeitet.370 Die Samstagsarbeit wurde im zweiten Halbjahr 1973 erneut eingeführt.371 Sie verstetigte sich letztlich als Konsequenz des gescheiterten Zweiofenplanes von Januar 1974 bis zur Fertigstellung des im Frühjahr 1975 in Betrieb genommenen dritten Ofens.372 Die ungewöhnlich lange Phase der Kurzarbeit war eine weitere Folge der Zweiofenumstellung: Vom April 1974 bis zum April 1975 und erneut ab August 1975 wurde die tägliche Arbeitszeit von acht auf sechseinhalb Stunden reduziert.373 Bis dahin hatte sich die belegschaftseigene Glashütte Süßmuth von anderen Mundglashütten gerade dadurch unterschieden, dass in Reaktion auf Konjunkturschwankungen weder Ent-

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zweiten Schicht an einem anderen Ofen von 14 bis 23 Uhr gearbeitet. Investitions- und Verkaufsplan des »wissenschaftlichen Teams«, 25. August 1969, in: FHI, Schöf-1222, S. 8; Aushang Schichtarbeit (GHS), 26. Oktober 1970, in: FHI, Schöf-1221; Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 7. Juni 1971, in: AGI. Übersicht Möglichkeiten der Arbeitsorganisation (GHS) ab 1. April 1975, 13. Oktober 1974, in: AGI; Beirat, 15. Oktober 1974 (s. Anm. 192), S. 3. Abteilungsleiterkonferenz, 27. April 1971 (s. Anm. 315), S. 1f. Siehe Kapitel 1.1. Siehe Kapitel 6.2. Abteilungsleiterkonferenz, 16. Juni 1971 (s. Anm. 48), S. 1. Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 17. Mai 1971, in: AGI. [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 23. Siehe Kapitel 5.1. Von Kurzarbeit waren vor allem die Beschäftigten der Abteilung Hütte betroffen, im Mai 1974 seien laut Fischer 130 der 220 Beschäftigten in Kurzarbeit gewesen. Siehe Protokolle der Beiratssitzungen,1974-1975, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Fischer, Selbstverwaltete Glashütte (s. Anm. 126), S. 13.

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lassungen vorgenommen noch Kurzarbeit verhangen wurden.374 Im Gegensatz zu den anderen Formen der Arbeitszeitflexibilisierung diskutierten die Belegschaftsgremien zu keinem Zeitpunkt Kurzarbeit als ein relevantes Mittel zur Überbrückung temporärer Liquiditätsengpässe oder einer rückläufigen Auftragslage, denn sie widersprach – wie weiter unten noch ausgeführt wird – ihrem Verständnis von guter Arbeit. Vielmehr hatten die geschäftsführenden Gremien, allen voran der Beirat, die Belegschaft zur Akzeptanz der Kurzarbeit bei gleichzeitiger Wiedereinführung der Sechstagewoche gezwungen – unter der Androhung, andernfalls »eine Liquidation des Unternehmens ins Auge« zu fassen.375

Verdichtung und Beschleunigung der Arbeit Nach der Belegschaftsübernahme kam es in der Glashütte Süßmuth auch zu einer Verdichtung und Beschleunigung der Arbeit. Infolge organisatorischer Reformen hatten viele Beschäftigten neben den alten eine Reihe neuer Aufgaben zu erledigen. In der Hohlglasmalerei verpackten beispielsweise die vorrangig weiblichen Beschäftigten zusätzlich Beleuchtungsglas, weil die zum Lager gehörende Packerei angesichts der Expansion dieses Produktbereichs und des generell erhöhten Produktionsumfangs überlastet war.376 Die Pförtner waren neben dem Empfang und der Kontrolle von betriebsexternen Besucher*innen nun auch für »vieles Technisches« verantwortlich.377 Seit Wegfall der Tätigkeit der Generatorwärter durch die Umstellung auf Erdgasbeheizung hielten nur sie sich während der Nacht sowie an arbeitsfreien Wochenend- und Feiertagen im Betrieb auf und überwachten fortan die permanent beheizten Schmelzöfen. Außerdem übernahmen die Pförtner die Stundenkartenverrechnung und Telefonvermittlung, was zuvor kaufmännische Angestellte aus der Verwaltung erledigt hatten. Bei der Kühlbandabnahme fielen umfassendere Sortierarbeiten an, weil in die erneuerten Bänder – im Gegensatz zu früher – unterschiedliche Artikel (zum Beispiel Kelche zusammen mit anderen Hohlglasartikel) eingetragen wurden.378 Die Kühlbandabnehmerinnen waren zugleich für die erste Qualitätskontrolle zuständig. Mit zusätzlichen Aufgaben, den reduzierten Bruchzahlen und dem erhöhten Artikeldurchlauf hatte die Arbeitsdichte und -geschwindigkeit an den Kühlbändern enorm zugenommen. Schließlich erhöhte sich auch für die Glasmacher der Leistungsdruck.379 Hierzu trugen die bereits aufgezeigten Bemühungen der geschäftsführenden Gremien um die Reform der Akkordentlohnung und des betrieblichen Kontrollapparats ebenso bei wie die personell dichtere Besetzung der Werkstellen vor den Öfen. Um die Hafenkapazitäten an den Öfen besser auszulasten und die Arbeitsgeschwindigkeit zu erhöhen, wurden zudem die neue Tätigkeit des 374 Franz Fabian stellte dies gegenüber Erasmus Schöfer als einen Erfolg des Belegschaftsunternehmens heraus, bestand zur gleichen Zeit aber als Beiratsvorsitzender auf die Einführung der Kurzarbeit. Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 125), S. 11. Siehe Kapitel 9.3. 375 Beirat, 22. März 1974 (s. Anm. 106), S. 8f. 376 [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28), S. 36. 377 Folgendes aus [Kluge], [Sommer/Herbst 1973] (s. Anm. 144). 378 Folgendes aus [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 2–6. 379 Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak], [Dieter Schrödter], [Reinhard Krämer] und zwei namentlich unbekannten (ehemaligen) Arbeiter*innen, 13. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 5; [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 202), S. 12.

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Kölbelabnehmers eingeführt, die Anzahl der Einträger*innen an den Werkstellen erhöht oder sogenannte (aus einem Hafen arbeitende) Doppelwerkstellen eingerichtet.380 Insgesamt reduzierten sich somit an den verschiedenen Arbeitsplätzen jene »Freiräume«, die »früher« die Schwere oder Monotonie der Arbeit erträglicher machten.381

Kollektive Disziplin durch kollektive Kontrolle In der gesamten Belegschaft war ein gestiegenes Verantwortungs- und Pflichtgefühl für ihren Betrieb und gegenüber den Kolleg*innen zu beobachten, das sich auf die einzelnen Beschäftigten arbeitsintensivierend wie disziplinierend auswirkte. Die Entscheidung, der Arbeit fernzubleiben, sei laut dem Glasmacher [Dieter Schrödter] viel schwerer gefallen, aufgrund des »Gefühl[s], wenn du zu Hause bleibst, ist [das] doch ja ein gewisser Verlust, der vielleicht nicht mehr reingeholt wird.«382 Der Glasmacher [Max Ulrich] habe Arztbesuche hinausgezögert, um eine potenzielle Krankschreibung zu vermeiden.383 Man habe sich auch gegenseitig auf nachlässiges Handeln hingewiesen384 oder auf »längere Pausen« aufmerksam gemacht.385 Dass dies mitunter zu Konflikten unter den Beschäftigten führte, legte die Klage eines Glasschleifers nahe, er habe »nicht einmal mehr in Ruhe eine Zigarette rauchen [können] auf dem Klo«.386 Wenn die Kühlbandfrauen eine Rauchpause »herausarbeiteten«, empfanden dies die Glasmacher nun als eine »Provokation«.387 Bei Verdacht auf »Bummelei« rügten sich die Glasmacher untereinander – denn sie wussten, dass das Arbeiten im Durchschnittslohn zum eigenen Vorteil ausgenutzt werden konnte.388 Das Fehlverhalten einzelner Beschäftigter war ebenfalls Gegenstand von Diskussion in den Belegschaftsgremien. Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin versuchten sie durch kollektiv beschlossene Disziplinierungs- und Sanktionsmaßnahmen zu unterbinden, die vom Entzug von Weihnachtsgeldanteilen bis hin zur Kündigung reichen konnten.389 Das betraf beispielsweise das Zuspätkommen, das insbesondere im Fall der Glasmacher mit Produktionsausfällen verbunden, da dann die gesamte Werkstellengruppe temporär arbeitsunfähig war. Die Abteilungsleiterkonferenz beschloss im Frühjahr 1971, dass Unpünktlichkeit beim Arbeitsbeginn mit Aushängen und Meldungen beim Lohnbüro entgegengewirkt werden und bei Wiederholungen zur Entlassung führen sollte.390 Auf 380 Geschäftsführung, 22. Oktober 1971 (s. Anm. 30), S. 8; [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 9), S. 13, 24; [Schmidt], 7. Februar 2013 (s. Anm. 142), S. 33. 381 Zitate aus [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 3, 21–24; [Nowak] et al., 13. Dezember 1973 (s. Anm. 379), S. 3f. 382 [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 202), S. 9. 383 So seine Ehefrau [Ria Ulrich] in [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 23. 384 Zum Beispiel wenn das Licht überflüssigerweise brannte oder der Wasserhahn tropfte, so [Paul Nowak] in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 130), S. 16. 385 [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 202), S. 8. 386 Namentlich nicht bekannter Glasschleifer zitiert in Rolf Schwendter (Hg.), Zur alternativen Ökonomie I, Berlin 19784 , S. 155. 387 [Webers], 12. Dezember 1973 (s. Anm. 205), S. 6. 388 Schöfer, [1973/1974] (s. Anm. 116); Ebenso Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27), S. 31. 389 Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27), S. 30f. 390 Abteilungsleiterkonferenz, 5. April 1971 (s. Anm. 26), S. 3.

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gleiche Weise sollte verhindert werden, dass bei der Arbeit gebummelt oder vor Arbeitsende »beim Pförtner herum [gesessen]« wurde.391 Die Kontrolle der Arbeitszeit wurde kollektiv verstärkt und auf alle Beschäftigtengruppen ausgeweitet, »auch die leitenden Angestellten [sollten] zu Beginn und Ende der Arbeitszeit stempeln.«392 Im ersten Jahr der Selbstverwaltung war die Fehlzeitquote von 0,9 Prozent (1970) auf 0,3 Prozent (1971) gesunken.393 Auch gegen Alkoholkonsum während der Arbeitszeit, der sich in Minderleistungen auswirkte, gingen die Belegschaftsgremien vor.394 Mit Aushängen sollte zum freiwilligen Verzicht aufgerufen, Produktionsausfälle infolge von Alkoholkonsum stärker mit Verwarnungen und Lohnkürzungen abgestraft werden. Einem Glasmacher sei »[f]ristlos gekündigt [worden], weil er halb betrunken dem Einträger die Pfeife mit [dem] glühenden Glas ans Gesicht gehalten […] [und ihm dabei] Haare, Ohr und Hals verbrannt« habe.395 Nach »zwei schriftlichen Verwarnungen [aufgrund] ähnlicher Fälle« habe der Betriebsrat dieser »Kündigung einstimmig zugestimmt.« Ebenso wurden ungerechtfertigte Krankmeldungen problematisiert. Der Magazinleiter [Willi Voigt] brachte im April 1971 als Vorsitzender der Gesellschafterversammlung vor, dass »wieder einige Leute […] nach Plan krankfeiern« würden, und nannte in diesem Zusammenhang die Namen von zwei Arbeiterinnen aus der Rauschleiferei.396 Die Abteilungsleiterkonferenz beschloss daraufhin, dass »in Zukunft scharf kontrolliert werden« sollte, »ob es sich im Krankheitsfalle um die Fortsetzung einer Krankheit handelt, die bereits früher zu Krankmeldungen geführt hat.« Im Zweifelsfall sollten die Beschäftigten ein ärztliches Attest vorlegen. Doch selbst dieses war kein Garant für eine ernsthafte Erkrankung, wie sich am Beispiel eines Packers zeigte, der während seiner Krankschreibung auf der Kirmes und beim Fußballspielen gesichtet wurde.397 Die Beispiele zeigen auf: Im selbstverwalteten Betrieb galt es die eigene Arbeitsleistung in neuer Intensität vor sich selbst und den Kolleg*innen zu verantworten; Desinteresse an der Arbeit und an den Verhältnissen im Betrieb wurden untereinander viel weniger akzeptiert. An alle Beschäftigten richtete sich der kollektive Appell, nicht mehr nur den eigenen Arbeitsplatz, sondern den gesamten Fertigungsprozess bzw. das gesamte Unternehmen vor Augen zu haben. Zur Feststellung und Sanktionierung eines Fehlverhaltens einzelner Beschäftigter griffen die Belegschaftsgremien sogar auf Informationen über das Privatleben von Kolleg*innen zurück. Diese neuen Praktiken der Disziplinierung und Sanktionierung standen nicht zwangsläufig im Widerspruch zu den in der Belegschaft geteilten Vorstellungen von Gerechtigkeit und Solidarität. Dass unter der

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[Willi Voigt] in Gesellschafterversammlung, 30. September 1971 (s. Anm. 56), S. 19. Abteilungsleiterkonferenz, 5. April 1971 (s. Anm. 26), S. 3. Betriebswirtschaftliche Kennzahlen 1970 und 1971 (GHS), undatiert [1972], in: AGI. Abteilungsleiterkonferenz, 5. April 1971 (s. Anm. 26), S. 3. Übermäßiges Trinken von Bier als Erleichterung angesichts der Hitze an den Öfen galt als unter Glasmachern generell verbreitet. [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 363), S. 10; Transkript Interview der Autorin mit [Rolf Schindler], 12. Mai 2014, im Besitz der Autorin, S. 6. 395 Folgendes aus Schöfer, [1973/1974] (s. Anm. 116). 396 Folgendes aus Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 15. April 1971, in: AGI. 397 Folgendes aus Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27), S. 31.

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Geschäftsführung Richard Süßmuths jeder Krankheitstag vom Weihnachtsgeld abgezogen wurde, ohne den Einzelfall zu prüfen, sahen die Beschäftigten damals als willkürliche Bestrafung an.398 In den Belegschaftsgremien bildete hingegen das geteilte Gerechtigkeitsempfinden den Maßstab für Sanktionen. Bei Diskussionen über das Fehlverhalten von Beschäftigten in den vor allem zu Beginn der Selbstverwaltung ausschließlich aus männlichen Facharbeitern und Angestellten bestehenden Gremien wurden vermutlich nicht immer berechtigte Verdächtigungen vorgebracht, doch mussten mögliche Disziplinierungsmaßnahmen nun – im Gegensatz zu früher – in einem sehr viel breiteren Personenkreis Zustimmung finden und wurden erst nach ausführlicher Überprüfung beschlossen. Es ging hierbei nicht darum, die Anderen zum eigenen Vorteil in Misskredit zu bringen, sondern darum, dass »Jeder« im Interesse aller »ein bisschen mehr auf den Anderen aufpasst«.399

Die Bedingungen von – aus Perspektive der Belegschaft – guter Arbeit Widrige Arbeitsbedingungen standen im Zentrum einer sich im Laufe der 1960er Jahre verstärkenden Kritik der Süßmuth-Beschäftigten.400 Bei der Betriebsübernahme ging es ihnen nicht allein um den Erhalt des Arbeitsplatzes, sondern zugleich um gute Arbeit. Nach der Belegschaftsübernahme erhöhte sich aber das Arbeitspensum. Alle hätten gewusst, »worum es ging: Wir konnten nur weiterbestehen, wenn wir auch wirklich anständige Arbeit liefern.«401 »Die Leute« hätten damals nur »gearbeitet, gearbeitet, gearbeitet […] und die halt nah dran waren, die haben noch mehr gearbeitet! Ohne Geld!«402 Dass die gestiegenen Arbeitsanforderungen in den ersten Jahren ohne größeren Widerspruch akzeptiert wurden, gibt Aufschluss darüber, was aus Perspektive der Belegschaft eine gute Arbeit ausmachte. Zu einer guten Arbeit gehörte die Möglichkeit, Kritik offen, ohne Angst und auch am Vorgesetzten äußern sowie eigene Verbesserungsvorschläge vorbringen und umsetzen zu können.403 Die durch die Betriebsübernahme gewonnene Freiheit der Meinungsäußerung und die (wenn auch unterschiedlich weitreichende) Einflussnahme auf die Entscheidungsfindung im Unternehmen stellten die Beschäftigten gegenüber Außenstehenden als Wert an sich heraus, und zwar unabhängig davon, ob ihre Vorschläge letztlich realisierbar waren oder nicht. Eine gute Arbeit war eine, die durch einen gerechten Lohn »auch richtig gewürdigt wird« und Grundlage für ein gutes Leben war.404 Zur Voraussetzung für eine gute Arbeit gehörten Entscheidungen, die die Charakteristika der

398 Schöfer, [1973/1974] (s. Anm. 320), S. 2. 399 [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 202), S. 8; Ebenso [Paul Nowak] in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 130), S. 16; Namentlich nicht bekannter Glasmacher in Braun et al., 1973 (s. Anm. 11), S. 15. 400 Siehe Kapitel 1.5. 401 [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 202), S. 8. 402 [Hübner], 11. Juni 2013 (s. Anm. 139), S. 7. 403 Siehe bspw. Glasmacher [Gottfried Streek] und [Max Ulrich] in Wickert, 19. März 1973 (s. Anm. 80), S. 2f.; Glasmacher [Manfred Hübner] in Braun et al., 1973 (s. Anm. 11), S. 14; Ebenso [Hübner] in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28), S. 39. 404 Folgende Zitate aus Hüttenecho, April 1971 (s. Anm. 122), S. 8. Siehe Kapitel 5.2.

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Fertigung in einer Mundglashütte berücksichtigten und sich in der betrieblichen Praxis bewährten – denn die Arbeit macht vor allem dann »Spaß, wenn wir sehen, dass wir Erfolg haben«. Dies veranschaulicht schließlich die große Bedeutung der Zuversicht, die zu Beginn der Selbstverwaltung die Entscheidungsfindung in den Belegschaftsgremien auszeichnete. Die Akzeptanz temporärer Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen basierte ebenso wie das in der Anfangszeit teils sehr ausgeprägte Engagement der Beschäftigten auf der Hoffnung einer künftigen Aufwärtsentwicklung des Unternehmens und dem Wissen, dass dies aufgrund der vielen, auf die Unternehmensführung des früheren Eigentümers zurückgehenden Probleme kurzfristig nicht zu erreichen war. Denn – so hob der Vorsitzende der Gesellschafterversammlung [Willi Voigt] hervor – »was unser Vorgänger in zehn Jahren hat verkommen lassen, das können wir in zwei, drei Jahren auf einmal nicht schaffen.«405 Insgesamt prägten also weniger die »objektiven« Arbeitsbelastungen als vielmehr deren Ziele und Resultate das Verständnis der Beschäftigten von guter Arbeit. Nur weil es ihr Betrieb war und sie mitentscheiden durften, arbeiteten die Beschäftigten mehr und härter als vorher. »[W]enn man selbst an einer Sache mitarbeiten und formen kann, macht es doch viel mehr Spaß« anstatt wie früher nur »Kommandos« zu befolgen, erklärte der Graveur und Betriebsrat [Holger Neumer].406 »Dann fällt die Zeit, die man aufwendet, auch nicht so schwer ins Gewicht.« Auch der Lagerverwalter und Gesellschafter [Walter Albrecht] teilte dieses Empfinden – auch ihm machte die Arbeit trotz der höheren Intensität »mehr Spaß«, denn man wisse, »wofür man arbeitet.«407 Die Erfahrung, dass die Umsetzung der eigenen Ideen zur Verbesserung der Produktqualität und Steigerung der Produktivität beitrug, entfaltete bereits während der Betriebsübernahme eine enorm motivierende Wirkung und stärkte in der Belegschaft die Zuversicht, den Betrieb in kollektiver Verantwortung erfolgreich fortführen zu können. Was in der zeitgenössischen und wissenschaftlichen Diskussion über Selbstverwaltung häufig als Phänomen von Selbstausbeutung verhandelt wurde, war zunächst einmal Ausdruck eines veränderten Bezugs zum eigenen Arbeitsplatz, für den die Beschäftigten gern Verantwortung übernahmen, und dadurch Freude empfanden.408 Die außergewöhnlichen Arbeits- und Verzichtleistungen der Beschäftigten waren nur auf Basis demokratischer Beschlüsse möglich, wie [Paul Nowak] hervorhebt: »In einem privat-kapitalistischen Betrieb hätten die Kollegen das nicht gemacht. […] Aber wir haben hier für uns gearbeitet. Das ist der Unterschied.«409

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[Willi Voigt] zitiert in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 130), S. 12. Folgende Zitate von [Holger Neumer] in Ebd., S. 10. [Walter Albrecht] zitiert in Stern, 18. April 1973 (s. Anm. 125), S. 77f. Dies lässt sich generell in selbstverwalteten Betrieben beobachten. Siehe Wortmeldung Willi Hajek im Anschluss an einen Vortrag der Autorin im Haus der Demokratie und Menschenrechte Berlin, Oktober 2014; Frédéric Dayan und Sabine Ferry (Reg.), Eiscreme aus Arbeiter_innenhand (Dokumentarfilm), 2015, Online: https://de.labournet.tv/eiscreme-aus-arbeiterinnenhand; Kari Lydersen, »Revolts on Goose Islands. A Long Fight Pay Off for Chicago Window Factory Workers«, in: Dario Azzellini und Michael G. Kraft (Hg.), The Class Strikes Back. Self Organised Workers’ Struggles in the Twenty-First Century, Leiden 2018, S. 133. 409 [Paul Nowak] zitiert in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 130), S. 16.

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Auf lange Sicht hatte sich der Anspruch auf gute Arbeit für die Beschäftigten nicht erfüllt. Anders als zuvor und danach konnten sie zwar während der Selbstverwaltung ihre Meinung offen äußern und auch Kritik üben, sie machten aber zunehmend die frustrierende Erfahrung, dass sich hierdurch letztlich doch nichts änderte.410 Die Zweiofenumstellung war in jeglicher Hinsicht ein Bruch mit ihrem Verständnis von guter Arbeit: Die geschäftsführenden Gremien hatten den zuständigen technischen Ausschuss nicht informiert und die expliziten Warnungen der Gesellschafter*innen ignoriert. Dem Zweiofenmodell lagen für die Fertigung in einer Mundglashütte unangemessene Erwartungen zugrunde. Wie von [Manfred Hübner] prognostiziert, erwies es sich deshalb »wieder [als] eine ganz große Pleite«.411 Da sich die Qualität der Produkte verschlechterte und die Produktivität zurückging, schwand mit der Stilllegung des dritten Ofens abrupt die Zuversicht in der Belegschaft.412 Und tatsächlich: Infolge des eigenmächtigen Vorgehens der geschäftsführenden Gremien war das Unternehmen wieder in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.413 Mit Blick auf die seitdem personell engere Werkstellenbesetzung und teils enorm gestiegene Hitzebelastung an den Öfen, die Verstetigung der Sechstagewoche und mit Lohneinbußen verbundenen Kurzarbeit verschlechterten sich die Arbeitsund Lohnbedingungen massiv, was vor allem für die Glasmacher eine gesundheitsgefährdende und für die Beschäftigten der unteren Lohngruppen eine finanziell bedrohliche Dimension besaß. Ohne Aussicht auf zukünftige Besserung mussten sie dies in Kauf nehmen, um eine erneut krisenhafte Unternehmensentwicklung zumindest etwas abzufedern. Trotzdem gelang es den geschäftsführenden Gremien nicht, das Unternehmen ökonomisch zu stabilisieren. Im Herbst 1975 nahmen sie neben absoluten Lohn- und Gehaltskürzungen erstmals seit der Belegschaftsübernahme Entlassungen vor und ließen damit das wichtigste Ziel der Selbstverwaltung fallen.414 Implizit hatte die Geschäfts- und Betriebsleitung bei ihrem eigenmächtig konzipierten und realisierten Zweiofenplan die Erfahrungswerte mit produktionstechnischen und arbeitsorganisatorischen Improvisationen sowie Formen der Arbeitszeitflexibilisierung aufgegriffen, die die Belegschaftsgremien in den Jahren zuvor nach kollektiven Diskussionen initiiert hatten. Doch gerade in den Bedingungen, unter denen diese Maßnahmen ergriffen wurden, lag der entscheidende Unterschied. Die Akzeptanz der durch den Weiterbetrieb des veralteten Ofens III für die hier arbeitenden Glasmacher entstandenen »kriminellen Arbeitsverhältnisse« beruhte auf der Reputation jener Facharbeiter, die diesen Ofen Ende 1971 einer notdürftigen Großreparatur unterzogen hatten und seitdem kontrollierten, sowie auf der Erwartung des baldigen Neubau eines dritten Ofens.415 Der von den Belegschaftsgremien 1971 temporär eingeführten Samstagsarbeit lag die Einsicht zugrunde, dass diese »nicht zu einer Dauereinrichtung 410 [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 290), S. 5. Siehe Kapitel 4.3 und Kapitel 8.1. 411 Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27), S. 18. Siehe Kapitel 5.1. 412 [Dieter Schrödter] und [Reinhard Krämer] in [Nowak] et al., 13. Dezember 1973 (s. Anm. 379), S. 5; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] am 23. Februar 1974, im Besitz der Autorin, S. 8. 413 Siehe Kapitel 7.2 414 Siehe Kapitel 5.2. 415 [Manfred Hübner] in Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27), S. 13–18. Siehe Kapitel 5.1.

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werden« darf.416 Nur »auf freiwilliger Basis« sei ein »möglichst rationelles Arbeiten zu gewährleisten« und ein Zwang deshalb nicht zweckmäßig.417 Schließlich konnten die Beschäftigten eine Sechstagewoche bei Gewährleistung von Vollzeitarbeit an drei Öfen mit Blick auf die Sicherung ihrer finanziellen Existenzgrundlage eher akzeptieren als eine Sechstagewoche bei Kurzarbeit an zwei Öfen.418 Weil sich die einst als temporäre Überbrückungsmaßnahmen von den Beschäftigten tolerierten Arbeits- und Einkommensverschlechterungen am Ende zu dauerhaften Belastungen verfestigten, lösten sie Empörung und Widerstand aus.419 Im Wissen um alternative Lösungen, die diese Verschlechterungen vermutlich verhindert hätten, wirkten sie für die Beschäftigten mitunter umso belastender.420

5.4 Die Arbeitsbeziehungen und das Geschlechterverhältnis Die sich in der selbstverwalteten Glashütte verdichtenden Konflikte lassen auf ein sich nach dem euphorischen Aufbruch sukzessive verschlechterndes Betriebsklima schließen.421 Paradoxer Weise nahmen die Spannungen zu, als sich nach dem erfolgreichen Abschluss des Jahres 1972 kurzzeitig eine Stabilisierung des Unternehmens abzuzeichnen schien. Allerdings gelangten darüber keine bzw. nur stark gefilterte Informationen an die Öffentlichkeit. Nach außen wurde ein durchweg positives Bild gezeichnet: Das Betriebsklima habe sich mit der Belegschaftsübernahme schlagartig verbessert.422 Unter den Kolleg*innen seien ungeahnte Energien frei gesetzt worden. Bereitwillig habe ein großer Teil der Belegschaft eine Vielzahl unbezahlter Überstunden nach dem Arbeitstag oder am Wochenende geleistet, um die Kosten der Sanierung zu reduzieren und dazu beizutragen, den Betrieb wieder flott zu machen. Das Verantwortungsgefühl der Beschäftigten, ihre Bereitschaft zur Eigeninitiative hätten sich enorm erhöht. Kollegialität und Solidarität seien an die Stelle von Konkurrenz und Misstrauen getreten. Es sei eine entspanntere Arbeitsatmosphäre entstanden, man habe sich über Statusunterschiede

416 Folgendes aus Abteilungsleiterkonferenz, 16. Juni 1971 (s. Anm. 48). 417 So war bspw. für [Rolf Schindler] »der Ofen aus […] wenn zu mir einer sagt: ›Ich muss, ich muss!‹ […] Ich mache gerne vieles freiwillig. Ich kann eigentlich auch sagen, dass ich jedem helfe. Aber wenn ein Muss dahintersteht, da ist bei mir Feierabend!« [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 290), S. 15. 418 Die Sprengerin [Ria Ulrich] und die Kühlbandabnehmerin [Monika Weber] wollten bspw. »lieber mehr als zu wenig arbeiten«. [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 23. 419 [Neumer] et al., 22. Januar 1974 (s. Anm. 103), S. 1; Beirat, 17. Dezember 1974 (s. Anm. 357). 420 [Nowak], 23. Februar 1974 (s. Anm. 412), S. 8. 421 Von »Lustlosigkeit«, massiver Verärgerung und »stocksauren« Kollegen, einem »Nachlassen der Arbeitsenergie« oder »deprimierender Stimmung« in der Belegschaft war die Rede in Gesellschafterversammlung, 4. Oktober 1972 (s. Anm. 287), S. 1; Beirat, 10. Juli 1973 (s. Anm. 174), S. 2; Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27), S. 18, 22–25; Beirat, 22. März 1974 (s. Anm. 106), S. 4; Ebenso Beirat, 17. Dezember 1974 (s. Anm. 357), S. 2; Beirat, 21. Oktober 1975 (s. Anm. 112), S. 2. 422 Folgendes ist Erasmus Schöfers Gesprächen mit den Beschäftigten in den Jahren 1973 und 1974 entnommen sowie der zeitgenössischen Berichterstattung.

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hinweg mit Du statt mit Sie angesprochen und sich freier und gelöster gefühlt.423 Trotz aller Schwierigkeiten habe sich die Belegschaft gemeinsam mit den Vorgesetzten auf einem guten Weg befunden, die demokratische Form der Unternehmensführung zu erlernen. Alle zögen – vom »kleinsten Einträger« über den »größten Glasmacher« bis hin zum Geschäftsführer – gemeinsam an »einem Strick«.424 Solche von den internen Problemen losgelösten Außendarstellungen registrierte auch Juan Pablo Hudson während seiner Feldforschung in selbstverwalteten Betrieben Argentiniens zu Beginn des 21. Jahrhunderts.425 Hudson bezeichnet sie als »Romane« und betont ihre für die Belegschaften identitätsstiftende und stabilisierende Funktion: Nach außen hin gewährten sie Schutz; im Inneren trugen sie zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts bei. Für die historische Analyse sind diese »Romane« von großer Bedeutung, da sie zentrale Aspekte der angestrebten Veränderungen mit den in der Praxis gemachten Erfahrungen ihrer Umsetzung zu synchronisieren versuchten. Mit der Selbstverwaltung verbanden die Arbeitenden den egalitären Anspruch, alle Tätigkeiten im Betrieb gleichwertig anzuerkennen. Entlang der Arbeitsteilung wirkte jedoch im selbstverwalteten Betrieb eine Fraktionierung der Belegschaft fort, die die Glasmacher [Paul Nowak] und [Dieter Schrödter] auf die Spaltungstaktik der früheren Leitung zurückführten.426 Nach der Betriebsübernahme wurden die – mitunter von persönlichen oder politischen Vorbehalten überlagerten – Statuskonflikte zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen erstmals offen ausgetragen. In diesen Auseinandersetzungen brachen tradierte soziale Strukturen im Betrieb auf: Betriebliche Hierarchien und damit auch das Geschlechterverhältnis gerieten in Bewegung.

Aufbrüche und Annäherungen Während der Selbstverwaltung kam es zu Annäherungen zwischen den Beschäftigten verschiedener Statusgruppen – der intensivierte Austausch in der betrieblichen Praxis spielte dabei eine entscheidende Rolle, was sich am Beispiel der konfliktträchtigen Diskussionen über die Ursachen der Fehlproduktion besonders gut nachzeichnen lässt. Konflikte entstanden vor dem Hintergrund, dass sich Fehler im Fertigungsprozess negativ auf die nachfolgenden Arbeitsschritte auswirken konnten, wie es beispielsweise bei Kratzern am Glasartikel der Fall war. Kratzer waren definitiv als Arbeitsfehler zu werten, die im Umgang mit den Glasartikeln sehr schnell auftreten konnten.427 Waren die Kratzer nicht zu tief, konnten sie durch intensiveres Schleifen und Polieren beseitigt

423 Braun et al., 1973 (s. Anm. 11), S. 15f. Zu diesem Ergebnis kam auch eine in der IG-Chemie-Mitgliederzeitschrift rezipierte Umfrage, an der 13 Prozent der Süßmuth-Beschäftigten teilgenommen hatten. Als »Merkmale der Selbstverwaltung« nannten sie am häufigsten ein verbessertes »Verhältnis zur Arbeit«, eine größere »Eigenverantwortung« sowie ein »besseres Betriebsklima«. Gewerkschaftspost, Januar 1973 (s. Anm. 114). 424 [Max Ulrich] zitiert in Wickert, 19. März 1973 (s. Anm. 80), S. 2f. 425 Folgendes aus Juan Pablo Hudson, Wir übernehmen. Selbstverwaltete Betriebe in Argentinien. Eine militante Untersuchung, Wien 2014, S. 113–130. 426 [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 9), S. 3; [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 202). Siehe Kapitel 1.5. 427 Folgendes aus [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 36f.

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werden, damit erhöhte sich aber das Arbeitspensum der Beschäftigten in der Rauschleiferei. Der Glasmacher [Helmut Ulrich] führte Kratzer auf die von den Formenmachern fehlerhaft gearbeiteten bzw. gepflegten Einblasformen und auf Nachlässigkeit beim Eintragen oder bei der Kühlbandabnahme zurück.428 Diesen Vorwürfen hielt der Einträger [Peter Schubert] entgegen, dass die Glasartikel oftmals bereits vor dem Eintragen Kratzer aufwiesen, weshalb es sich hierbei seiner Meinung nach nur um Glasmacheroder um Formfehler handeln könne.429 Auch der Umfang des überschüssigen Glases bot Anlass für Auseinandersetzungen. War die Kappe sehr groß, erschwerte dies die Arbeit der Sprenger*innen und Rauschleifer*innen, die wiederum – so der Eindruck von [Paul Nowak] – gerne wollten, dass die Glasmacher ihnen das Glas so liefern, dass sie nicht mehr viel daran zu tun brauchen.430 Die Heftigkeit dieser Konflikte lag auch in der lohnpolitischen Relevanz der Deklaration von fehlerhaften Artikeln begründet, die allerdings nur für die im Akkord arbeitenden Glasmacher gegeben war: Während ihnen Arbeitsfehler vom Lohn abgezogen wurden, wurden sie üblicher Weise bei von ihnen nicht verschuldeten Glasfehlern auch für fehlerhafte Stücke voll entlohnt – unabhängig davon, ob die Firma diese noch verkaufen konnte oder nicht. Im Zuge der intensivierten Qualitätskontrollen hatten die Arbeiterinnen am Kühlband und in der Weiterverarbeitung neuerdings die für die Akkordentlohnung der Glasmacher relevante Feststellung von Mängelware vorzunehmen. Ihre Arbeit hatte damit erstmals unmittelbaren Einfluss auf die Höhe der Bezahlung der Glasmacher. Fühlten letztere sich durch die Sortierung der Arbeiterinnen ungerecht behandelt, stellten sie sie anscheinend oftmals mit einer gewissen Aggressivität zur Rede.431 So sprachen die Glasmacher ihnen die Kompetenz ab, Arbeitsfehler von Glasfehlern unterscheiden zu können. Ein weiterer Vorwurf war, sie würden das Glas ihrer Ehemänner bei den Qualitätskontrollen milder bewerten oder sich hierbei an der sozialen Reputation der Glasmacher orientieren.432 Die Debatten über die Ursachen der Fehlproduktion besaßen damit eine genderspezifische Dimension. Während Nicht-Facharbeiter wie der Einträger [Schubert] die direkte Konfrontation mit den Glasmachern nicht scheuten, ist ein ähnlich offensives Auftreten von Arbeiterinnen nicht überliefert. Dass sie sich aber gegenüber als ungerecht wahrgenommenen Vorwürfen zu behaupten wussten, ging aus einem Gespräch von Erasmus Schöfer mit einer Gruppe von Arbeiterinnen hervor. Diese hatten für sich unter anderem die Konsequenz gezogen, das Glas ihrer Ehemänner nicht mehr zu bearbeiten.433 Ironisch paraphrasierte [Monika Weber] die schuldabweisende Haltung der Glasmacher, dass die »Kühlbandfrauen [mal] wieder alles weggeworfen« hätten, und betonte: »Aber auch an den Glasmachern liegt’s!« Als auf einer Belegschaftsversammlung 428 [Helmut Ulrich] in Belegschaftsversammlung, [September 1973] (s. Anm. 222), S. 2–4; [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 7f. 429 [Peter Schubert] in Belegschaftsversammlung, [September 1973] (s. Anm. 222), S. 2f. 430 [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 9. [Paul Nowak] zitiert in [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 9), S. 4. 431 [Monika Weber] in [Webers], 12. Dezember 1973 (s. Anm. 205), S. 5f. 432 [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 8f.; [Peter Schubert] in Belegschaftsversammlung, [September 1973] (s. Anm. 222), S. 4. 433 Folgendes aus [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 7f.

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im September 1973 über die Ursachen der Fehlproduktion gestritten wurde, meldete sich diese Arbeiterin hingegen nicht zu Wort.434 Stattdessen brachte die diese Versammlung moderierende kaufmännische Angestellte [Rita Abel] die Kritik an der Uneinsichtigkeit mancher Glasmacher auf den Punkt: »auch Glasmacher machen Fehler – das müsst ihr nämlich auch erstmal lernen.« Die Auseinandersetzungen über die Ursachen der Fehlproduktion zeugten von dem gewachsenen Verantwortungsgefühl der Beschäftigten, eine hohe Qualität der Produkte zu gewährleisten. Im Gegensatz zu »früher«, als »man« bei Problemen zum Vorgesetzten »ins Büro gegangen« und hierdurch »einer gegen den anderen ausgespielt« worden sei, wurde nun »mehr im Kollektiv gearbeitet«: Die Kolleg*innen machten sich auf Fehler aufmerksam und halfen einander, deren Ursachen zu beseitigen.435 In diesen auf Kollegialität beruhenden Verständigungsprozessen lag das Potenzial, die alten Konfliktlinien zu transzendieren. Im Kern offenbarten die Konflikte nämlich vor allem, wie wenig Wissen im Betrieb über die Tätigkeiten und spezifischen Herausforderungen der anderen Beschäftigtengruppen existierte. Laut dem Glasmacher [Schrödter] habe es in der Weiterverarbeitung »Leute [gegeben], die […] noch nicht einmal [wüssten], wie Glas gemacht wird.«436 Solche Wissensdefizite führten in der Fehlerkontrolle zu einer aus Perspektive der Glasmacher falschen Sortierung oder beförderten die Annahme, die Glasmacher könnten, wenn sie nur wollten, den Umfang des Glasüberschusses am Artikel reduzieren und exakt dosieren, täten es aber aus Lohninteressen oder Bequemlichkeit nicht. Zumindest ein Teil der Beschäftigten gewann in den teils hart geführten Auseinandersetzungen während der Selbstverwaltung ein tieferes Verständnis für die Realitäten an anderen Arbeitsplätzen. Erst dadurch wurde die Voraussetzung für eine Revision tradierter Vorbehalte sowie eine Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Arbeiten im Betrieb und der jeweiligen Arbeitsleistung aller Beschäftigten geschaffen. Dass es tatsächlich zu Fehlern bei der Sortierung der Produkte kam, war keineswegs allein einem individuellen Versagen oder gar einer generellen Unfähigkeit der Arbeiterinnen am Kühlband oder in der Weiterverarbeitung geschuldet, sondern vielmehr dem organisatorischen Versäumnis, sie nicht angemessen in die für sie neue Aufgabe der Qualitätskontrolle eingewiesen zu haben.437 Um eine entsprechende Schulung bemühte sich [Paul Nowak], der aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr als Glasmacher arbeiten durfte und in seiner neuen Tätigkeit seit November 1973 als »Oberkontrolleur« für die Überwachung der Sortierung zuständig war.438 Er wollte die Arbeiterinnen hierdurch befähigen, die selbst für das Leitungspersonal nicht immer eindeutige Unterscheidung zwischen Glas- und Arbeitsfehler fundierter treffen zu können und damit eine für die

434 Folgendes aus Belegschaftsversammlung, [September 1973] (s. Anm. 222). 435 [Manfred Hübner] in Braun et al., 1973 (s. Anm. 11), S. 16; [Paul Nowak] zitiert in [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 9), S. 20. 436 [Dieter Schrödter] zitiert in [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 9), S. 4; Ähnlich [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 290), S. 16. 437 Organisation, [September 1970] (s. Anm. 313), S. 15; [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 290), S. 16f. 438 Folgendes aus [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 9), S. 3–5.

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Glasmacher gerechtere Qualitätskontrolle ermöglichen.439 Darüber hinaus beförderten diese Annäherungsprozesse zwischen Glasmachern und Kühlbandabnehmerinnen eine gemeinsame Einsicht und Kritik an den strukturellen Hintergründen ihrer Konflikte. Denn diese hatten insbesondere mit den neuen, im Zusammenhang mit dem Ausbau der Kostenrechnung stehenden Quantifizierungsmethoden zugenommen, die die Geschäftsführung zu verantworten hatte.440 Die Glasmacher hätten den Kühlbandabnehmerinnen sogar ihre Streikbereitschaft als Unterstützung für den Fall in Aussicht gestellt, dass sie ihre Kritik an der »Zählerei« mit einem Streik untermauern würden – wozu es indes nicht kam.441 Seine neue Tätigkeit empfand [Paul Nowak] als sehr viel anstrengender und fremdbestimmter, da ihn nun »jeder an[pfeifen]« würde.442 Obwohl sich die körperlichen Belastungen für ihn reduziert hatten, fühlte er sich sehr viel erschöpfter. Für [Nowak] dürfte sich damit die Definition von schwerer Arbeit relativiert haben, die er zuvor als Rechtfertigung für die hohen Glasmacherlöhne angeführt hatte.443 Mit seinen neuen Erkenntnissen über die verschiedenen Formen von Anstrengungen und Probleme in den unterschiedlichen Arbeitsbereichen, die er am eigenen Leib erfahren hatte, fühlte sich [Nowak] dazu berufen, als »eine Art Vermittler zwischen der Schleiferei und der Hütte« sowie als Übersetzer der »Glasmachersprache« für andere Beschäftigtengruppen zu fungieren.444 Er schlug vor, Vertreter*innen »aus sämtlichen Abteilungen« sollten sich in regelmäßigen Versammlungen »abschnuppern« und »sachlich aussprechen«, um ein gegenseitiges Verständnis als Voraussetzung für eine gute Zusammenarbeit zu entwickeln und sich beispielsweise auch über einheitliche Richtlinien der Sortierung austauschen zu können. Die Intensivierung und Formalisierung solcher Verständigungsprozesse hätte eine konstruktive Form des Umgangs mit den komplexen Ursachen für die Fehlproduktion in einer Mundglashütte sein können. Durch die seit Ende 1973 erneut einsetzende Krisenstimmung im Unternehmen kam dies jedoch nicht mehr zustande.

Status quo statt Gender Trouble? Die »Situation der Frauen« bewertete der Grafikstudent Florian Fischer in seiner Abschlussarbeit von 1974 über die selbstverwaltete Glashütte Süßmuth als »unverändert schlecht«.445 Dem Journalisten Antony Terry von der Sunday Times erschienen hingegen gerade die Arbeiterinnen als »some of the most enthusiastic«.446 Diese widersprüchlichen Eindrücke außenstehender Betrachter verweisen auf die Ambivalenzen der Auf-

439 [Dieter Schrödter] in [Nowak] et al., 13. Dezember 1973 (s. Anm. 379), S. 5; [Manfred Hübner], [Rudolf Woge] und [Hans Müller] in Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27), S. 9f., 33. 440 Zur Reform des Rechnungswesens siehe Kapitel 7.1. Zum Ausbau der Produktionsstatistik siehe Kapitel 5.3. 441 [Monika Weber] in [Webers], 12. Dezember 1973 (s. Anm. 205), S. 7f. 442 Folgendes von [Paul Nowak] aus [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 9), S. 3. 443 [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 202), S. 8f. 444 Folgendes aus [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 9), S. 3f. 445 Fischer, Selbstverwaltete Glashütte (s. Anm. 126), S. 15f. 446 The Sunday Times, 24. November 1974 (s. Anm. 160).

Die Produktion

brüche aus einer geschlechterreflektierenden Perspektive, die sich in den Erinnerungsnarrativen – sowohl in Bezug auf die Belegschaftsübernahme als auch auf die Selbstverwaltung als jeweils vorrangig von Männern geprägten Prozessen – nicht niederschlugen.447 Auf Ebene der Repräsentation hatte sich in der selbstverwalteten Glashütte zunächst tatsächlich nicht viel verändert. Die Belegschaftsgremien setzten sich in den ersten Jahren fast ausschließlich aus männlichen Facharbeitern und Angestellten zusammen. Hier wurde – wenn überhaupt – lediglich über Arbeiterinnen als zu beschützende Hausfrauen und Mütter, die man nicht zu sehr mit Samstagsarbeit belasten könne, oder als aufgrund eines Fehlverhaltens zu Belehrende und zu Disziplinierende gesprochen. Um Arbeiterinnen wie auch um die migrantischen Beschäftigten wurde sich »gekümmert«, aber gleichberechtigt in die kollektiven Entscheidungsprozesse wurden sie nicht einbezogen. Von einer Journalistin auf ihre Mitbestimmungsrechte angesprochen, erwiderte [Anni Suhr], eine Arbeiterin aus der Weiterverarbeitung, dass sich die Frauen »selber […] nicht so durchsetzen« könnten.448 »Ja, die Männer sind die Mehrheit und die Männer bestimmen über uns. Wenn etwas ist, wir können nur zustimmen. Aber direkt gefragt« wurden sie nicht. In dieser Hinsicht unterschied sich die belegschaftseigene Glashütte Süßmuth nicht von den im Laufe der 1970er Jahre gegründeten Selbstverwaltungsbetrieben der Alternativökonomie, in denen in der Regel ebenfalls Männer die Wortführer und Meinungsbildner blieben.449 Bei näherer Betrachtung ergibt sich ein bemerkenswerter Kontrast zwischen der fehlenden Repräsentanz in den Belegschaftsgremien, der pessimistischen Einschätzung von Florian Fischer oder der Diagnose von Erasmus Schöfer, in Immenhausen sei es halt »noch nicht so weit« mit der Emanzipation,450 und dem mitunter sehr selbstbewussten Auftreten der Arbeiterinnen an ihren Arbeitsplätzen oder gegenüber außenstehenden Interessierten, an das sich auch Fischer im Rückblick erinnerte.451 Genderspezifische Ungleichheiten wurden in der selbstverwalteten Glashütte offensichtlich weniger auf einer (identitäts-)politischen Ebene als vielmehr in Bezug auf die konkrete Arbeitspraxis verhandelt. In diesem Modus war es den Arbeiterinnen während der Selbstverwaltung möglich, sich gegenüber als ungerecht empfundenen Anwürfen ihrer männlichen Vorgesetzten und Arbeitskollegen zur Wehr zu setzen. So berichtete die frühere Sprengerin [Helga Wermke], die noch vor der Belegschaftsübernahme die Glashütte verlassen hatte, von dem Druck, den sie in Situationen der direkten Überwachung durch ihren Vorgesetzten empfand. Das Glas sei ihr dabei aus Aufregung und Angst häufig kaputt

447 Siehe Christiane Mende, »Arbeiterinnenselbstverwaltung? Normalität und Aufbruch im Arbeitsalltag der belegschaftseigenen Glashütte Süßmuth«, in: Maria Bühner und Maren Möhring (Hg.), Europäische Geschlechtergeschichte, Stuttgart 2018, S. 171–188, Online: www.europa.clioonline.de/essay/id/fdae-1703. 448 Folgende Zitate aus Typoskript »Glashütte in Arbeiterhand«, Irmgard Senger für HR Fernsehen, 27. September 1973, in: FHI, Schöf-1212, S. 12. 449 Martina Rački (Hg.), Frauen(t)raum im Männerraum. Selbstverwaltung aus Frauensicht, München 1988; Gisela Notz, »Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Frauen in der Selbstverwaltungswirtschaft«, in: Dies., Klaus-Dieter Heß, Ulrich Buchholz u.a. (Hg.), Selbstverwaltung in der Wirtschaft. Alte Illusion oder neue Hoffnung?, Köln 1991, S. 188–215. 450 Erasmus Schöfer in [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 29. 451 E-Mail Florian Fischer, 24. Februar 2014, im Besitz der Autorin.

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gegangen. Ihre jüngere Kollegin [Ria Ulrich] wehrte hingegen allein die Vorstellung einer solchen Situation ab.452 Da sie schon »so lange gesprengt« hat und »weiß, wie [sie] zu sprengen habe«, wollte sie sich weder von ihrem Abteilungs- noch vom Betriebsleiter »belehren« lassen. Ebenso betonte die Kühlbandabnehmerin [Monika Weber], dass sie sich nicht scheue, die Glasmacher auf Arbeitsfehler hinzuweisen, auch wenn diese dann »auf 180 gingen«. Jenseits des Generationenunterschieds zwischen diesen drei Arbeiterinnen ist das größere Selbstbewusstsein der zwei Jüngeren als Indiz für die während der Selbstverwaltung zu beobachtenden Aufbrüche zu werten. Auch Arbeiterinnern ohne formale Qualifikation begannen sich stärker gegenüber Zumutungen von Seiten ihrer männlichen Kollegen und Vorgesetzten zu behaupten. Sie forderten die Anerkennung ihrer Arbeitsleistung ein, die für ein Qualitätsprodukt ebenso wichtig wie die Formung oder Veredelung durch die Glasfacharbeiter war. Zur Geltung brachten sie hierbei, dass auch sie im Laufe ihrer langjährigen Tätigkeit eine spezifische Expertise erworben hatten, die sie – angesichts der Artikelvielfalt und der Komplexität des arbeitskräfteintensiven Fertigungsprozesses – gegenüber den Facharbeitern und dem Führungspersonal auszeichnete.453 Das Geschlechterverhältnis hatte sich in der selbstverwalteten Glashütte also durchaus verändert. Die überproportionalen Lohnerhöhungen für Arbeiterinnen oder die Diskussionen über die Gründung eines Betriebskindergartens waren nicht allein auf eine geläuterte Einsicht der männlichen Facharbeiter in den Belegschaftsgremien zurückzuführen, sondern zugleich Reaktionen auf entsprechende Forderungen und Kritik am Status quo von Seiten der weiblichen Beschäftigten. Ihr Anspruch, Einfluss auf die Gestaltung ihres Arbeitsplatzes zu nehmen, zeigte sich auch darin, dass sich im Verlauf der Selbstverwaltung mehr Frauen zur Wahl der Gesellschaftsversammlung aufstellen ließen und gewählt wurden.454 Die Initiative zur Gründung einer Betriebsfrauengruppe, worum sich die gewerkschaftspolitisch engagierte [Rita Abel] bemühte, blieb hingegen erfolglos.455 Zu den mehrheitlich in der Produktion tätigen Frauen hatte [Abel] nur begrenzt Zugang, weil sie erst nach 1970 in die Glashütte Süßmuth gekommen war und als Verwaltungsangestellte keine unmittelbare Arbeitspraxis mit ihnen teilte. Eben diese verband die Arbeiterinnen jedoch mit ihren männlichen Kollegen im Betrieb, was eine wichtige Voraussetzung für die oben aufgezeigten Annäherungsprozesse war. Begrenzt waren diese Aufbrüche durch die über den Betrieb hinausreichende vergeschlechtlichte Arbeitsteilung. Das ungleich geringere Engagement von Frauen in der Gremienarbeit war weniger Ausdruck von Gleichgültigkeit oder fehlendem Interesse,456 sondern in erster Linie der Tatsache geschuldet, dass »die Frauen doch noch einen Haushalt zu Hause haben und nicht über so viel Zeit verfügen wie ein Mann«.457 Da Frauen die

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Folgendes aus [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 35f., 28f. Siehe Kapitel 1.5. Siehe Kapitel 4.3. Fischer, Selbstverwaltete Glashütte (s. Anm. 126), S. 16; [Hübner], 11. Juni 2013 (s. Anm. 139), S. 15. Zu dieser Deutung siehe Kapitel 8.1. Namentlich unbekannte Arbeiterin zitiert in Fischer, Selbstverwaltete Glashütte (s. Anm. 126), S. 16; Ebenso namentlich unbekannte Arbeiterinnen in Senger, 27. September 1973 (s. Anm. 448), S. 12.

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Reproduktionsarbeiten in der Regel allein übernahmen – und hierdurch das ehrenamtliche Engagement der Männer in den Selbstverwaltungsgremien ermöglichten –, erwartete [Willi Voigt] auch gar nicht, dass Arbeiterinnen sich beteiligten.458 Das Vorhaben, ihre Mehrfachbelastung durch die (letztlich nicht finanzierbare) Gründung eines betriebseigenen Kindergartens zu reduzieren, zeugte davon, dass unter den männlichen Belegschaftsvertretern in Ansätzen ein Bewusstsein über die strukturellen Ursachen der geringeren Partizipation von Frauen entstanden war. Eine gerechtere Verteilung der häuslichen Pflichten war in den Belegschaftsgremien hingegen kein Diskussionsgegenstand.

Abbrüche und Trennungen Den Glasmachern kam auch im selbstverwalteten Betrieb ein besonders hoher Stellenwert zu, der mit der angestrebten Expansion der Produktion einmal mehr anstieg. Die Abhängigkeit der Firma von dieser Beschäftigtengruppe hatte sich angesichts des betriebsinternen wie branchenweiten Fachkräftemangels massiv erhöht. Die Produktionskapazitäten konnten beispielsweise nur aufgrund der Bereitschaft der Glasmacher zu freiwilligen Sonderschichten ausgelastet werden. Bei jeder Krankmeldung eines Glasmachers drohten der Firma unmittelbare »Einbußen durch unvollständig besetzte Werkstellen«, was der Geschäfts- und Betriebsleitung organisatorische Schwierigkeiten bereitete.459 Mit Blick auf den egalitären Anspruch der Selbstverwaltung hatten sie ihre exponierte Position aber neu zu legitimieren. Infolge der erweiterten Möglichkeiten der Meinungsäußerung trat nach der Betriebsübernahme die bereits zuvor in der Belegschaft virulente Kritik an ihnen offen zutage. Neben den höheren Löhnen, die vor allem die anderen Facharbeiter im Betrieb verärgerten, wurde den Glasmachern eigennütziges, unsolidarisches Handeln vorgeworfen.460 Sie würden die eigenen Lohninteressen über das Interesse an einer gemeinsamen Fehlerbehebung stellen, bei Problemen den Betrieb verlassen und sich wie die »Kings« aufführen. Die Glasmacher seien – so eine im Betrieb verbreitete Wahrnehmung – der Ansicht gewesen, »eigentlich allen [anderen Beschäftigten] die Arbeit [zu] besorgen«. Die »Anderen« seien für sie »nur [ein] notwendiges Übel«, die sie mit ihrer Arbeitsleistung »mitschleppen« würden. Die Glasmacher waren über diese Unterstellungen empört – umso mehr, als sie sich mit ihren Veränderungsvorschlägen, die solchen Vorwürfen die Grundlage entziehen sollten, nicht durchzusetzen vermochten. Die Abschaffung des Akkords beispielsweise hatten die meisten Glasmacher befürwortet, gerade weil er einen strukturellen Anreiz zum weiteren Einblasen statt zur Fehlersuche und -behebung darstellte und eine entsolidarisierende Wirkung besaß, wie sie sie mit der für sie ungerechten Kritik der anderen Beschäftigten zu spüren bekamen. Unter Beibehaltung des Akkords erachteten sie ihre

458 [Willi Voigt] in Marchal, 4. August 1971 (s. Anm. 266), S. 25f.; Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 130), S. 8f. 459 [Müller], 12. Juni 1973 (s. Anm. 270), S. 2; Beirat, 10. Juli 1973 (s. Anm. 174), S. 1f. 460 Folgendes aus Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit zwei namentlich nicht bekannten Arbeiter*innen aus der Hohlglasmalerei, undatiert [August 1973], im Besitz der Autorin, S. 2; [Franke] und [Weber], 13. August 1973 (s. Anm. 142), S. 9–11; [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 202), S. 14f.; [Willi Voigt] in [Neumer] et al., 22. Januar 1974 (s. Anm. 103), S. 4.

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gegenüber den Betriebshandwerkern höheren Löhne indes als gerechtfertigt, denn letztere seien nicht dem Zeitdruck der Akkordarbeit ausgesetzt.461 Dass einige Glasmacher nach der Belegschaftsübernahme die Glashütte verließen, war weniger auf ihre mangelnde Bereitschaft zur Solidarität mit den Kolleg*innen als vielmehr auf die Konflikte mit dem Leitungspersonal und ihre hieraus resultierende Frustration zurückzuführen.462 Den Vorwurf eines unter den Glasmachern verbreiteten Überlegenheitsgefühls wehrte [Schrödter] im Gespräch mit Schöfer vehement ab.463 Dies sei völlig unberechtigt, denn von ihnen wisse »ja Jeder, […] dass wir allein nichts ausrichten könnten.« [Schrödters] Betonung, dass »hier […] doch Jeder auf den Anderen angewiesen« sei, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese eigentlich von allen Beschäftigten geteilte Einsicht im konfliktträchtigen Verlauf der Selbstverwaltung ihre anfangs Konsens stiftende Bedeutung wieder zu verlieren begann. Die Glasmacher, die sich einst am aktivsten für die Betriebsübernahme eingesetzt hatten und auch danach sehr großes Engagement zeigten, gerieten während der Selbstverwaltung am stärksten unter Beschuss. Ungerecht fanden sie weniger die auf Erfahrungen im Betrieb basierende Kritik, die mitunter von Beschäftigten formuliert wurde, die bislang hierzu kaum die Möglichkeit hatten, und die in Ansätzen eben jene dargestellten Annäherungsprozesse beförderte. Absurd erschienen ihnen vielmehr die von den Eigenarten und bisher üblichen Praktiken in einer Mundglashütte absehenden Schuldzuweisungen, wozu die geschäftsführenden Gremien, aber auch manche Belegschaftsvertreter*innen tendierten. Die auf alten Vorbehalten beruhenden Vorwürfe anderer Facharbeitergruppen gegenüber den Glasmachern wurden durch die Problemwahrnehmung der geschäftsführenden Personen aktualisiert und durch deren Rationalisierungsstrategien lanciert. Im Zusammenhang mit den noch darzulegenden Veränderungen der Angebotsstrategie löste insbesondere die Frage, wie flexibel die Glasmacher bei der Umstellung auf neue Artikelformen und -arten zu sein haben, massive Konflikte aus.464 Nach Einschätzung der Geschäftsführung und der NichtGlasmacher in den Belegschaftsgremien behindere die traditionelle Spezialisierung der Glasmacher auf Kelch- oder Krugglas, Beleuchtungs- oder Großglas die Flexibilität in der Produktion wie im Vertrieb und sei außerdem eine Ursache der zu hohen Lohnkosten.465 Von der Entscheidung der Vertriebsleitung, beispielsweise die Fertigung von Kelchglas perspektivisch einzustellen, sahen sich die Kelchglasmacher unmittelbar bedroht.466 Die Aufforderung, sich in andere Artikelgruppen wie Beleuchtungsglas einzuarbeiten, verletzte – angesichts der mit der Fertigung von Kelchglas verbunden 461 [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28), S. 33. 462 Infolge von Konflikten mit dem Führungspersonal verließen bspw. die während der Betriebsübernahme und zu Beginn der Selbstverwaltung sehr aktiven Glasmacher [Reinhard Krämer] und [Diedrich Klein] im Laufe der Jahre 1971 und 1972 den Betrieb. [Reinhard Krämer] in [Nowak] et al., 13. Dezember 1973 (s. Anm. 379), S. 1f.; [Diedrich Klein] indirekt in Gesellschafterversammlung, 25. November 1971 (s. Anm. 135), S. 2; [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 363), S. 11. 463 Folgendes aus [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 202), S. 14f. 464 Siehe Kapitel 6. 465 [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28); [Weber] et al., 14. Dezember 1973 (s. Anm. 14); Beirat, 15. Oktober 1974 (s. Anm. 192), S. 4. 466 Betriebsausschuss, 17. September 1971 (s. Anm. 323), S. 1.

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höheren sozialen Reputation und besseren Bezahlung – ihr Statusempfinden. Mit Blick auf die Besonderheiten des nur durch jahrelange praktische Erfahrungen zu erlernenden Glasmacherhandwerks war eine solche Umstellung aber auch nicht ohne Weiteres möglich. Eben dies hatte im [Kunze]-Konflikt die vom Geschäftsführer gegen den Widerstand des Betriebsausschusses vorgenommene Einstellung der Krugmacher in den Augen der Glasmacher, die sich zum Erlernen der Krugmacherei nicht befähigt sahen, letztlich legitimiert. Die neue Erwartung an die Flexibilität der Glasmacher basierte auf einem Verständnis vom »Handwerker«, der »alles machen können [müsse]«.467 Den Einwand, ein Wechsel auf neue Artikelgruppen sei für die Glasmacher nur begrenzt möglich bzw. erfordere eine längere Lernphase, kritisierte der Glasmaler [Frank Weber] als unzulässige, lohnegoistisch bedingte Verweigerung gegenüber den Anforderungen einer gestiegenen Flexibilität.468 Seiner Meinung nach müssten die Glasmacher zum schnelleren Umlernen bewegt werden, die Annahme von Aufträgen dürfe nicht mehr wie bislang an ihren Fähigkeiten ausgerichtet werden. Mit dieser branchenunspezifischen Vorstellung vom umfassend qualifizierten Handwerker im Gegensatz zum spezialisierten Industriearbeiter hatten sich die Facharbeitergruppen der Veredelung, der Schreinerei und Schlosserei bereits vor der Belegschaftsübernahme von denen der Hütte abgegrenzt.469 Anders als unter der Geschäftsführung Richard Süßmuths wurden diese Vorstellungen nun als neuer Maßstab bei der Bewertung der Leistung der Glasmacher herangezogen und diente als Rechtfertigung für den zunehmend auf sie ausgeübten Leistungsdruck. Musste der Betriebsleiter einen »früher« in Ruhe lassen, solange sie »Leistung« brachten, so verbreitete sich unter den Glasmachern der Eindruck, dass sie »heute immer noch mehr leisten und immer noch mehr leisten« müssen und »trotzdem wollen sie dir was anhaben«.470 Die wachsende Kritik an ihrer Arbeit erschütterte den Berufsstolz der Glasmacher und stellte nicht nur die Legitimation ihrer gegenüber dem Rest der Belegschaft höheren Löhne, sondern auch den alten Deal – Leistung gegen (monetäre) Anerkennung – grundlegend infrage. Die Position der Glasmacher, aus der heraus sie während der Betriebsübernahme und zu Beginn der Selbstverwaltung Mitsprache bei den die Betriebswie auch die Unternehmensführung betreffenden Entscheidungen eingefordert hatten, wurde insbesondere im Zuge jener neuen Rationalisierungsstrategien abgeschwächt, mit denen sich die geschäftsführenden Gremien durchsetzten. Um ihre Fähigkeiten verbessern und sich in die Herstellung neuer Artikel einarbeiten zu können, wären im Fertigungsprozess mehr Freiräume zur Aus- und Weiterbildung erforderlich gewesen, diese wurden jedoch im Zuge der Arbeitsintensivierungen eingeschränkt. Mit der Zweiofenumstellung und der sinkenden Anerkennung und Würdigung ihrer Arbeit reduzierten sich sowohl ihre materiellen als auch ihre immateriellen Machtressourcen. Das Wissen und Können der Glasmacher erfuhr eine Abwertung, weil sie den neuen Flexibilitätsanforderungen nicht gerecht wurden bzw. nicht gerecht werden konnten.

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[Frank Weber] in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28), S. 33. Folgendes von [Frank Weber] aus [Weber] et al., 14. Dezember 1973 (s. Anm. 14). Siehe Kapitel 1.5. [Nowak] et al., 13. Dezember 1973 (s. Anm. 379), S. 5.

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Da es der Geschäfts- und Betriebsleitung nicht gelungen war, ihre Rationalisierungsvorhaben erfolgreich umzusetzen, befand sie sich weiterhin in großer Abhängigkeit von den Glasmachern, deren Kooperationsbereitschaft im Laufe dieser Entwicklung aber enorm gesunken war.471 Vor diesem Hintergrund erklärt sich, weshalb sich die zu Beginn sehr engagierten Glasmacher im Laufe der Selbstverwaltung sukzessive aus den Belegschaftsgremien zurückzogen und sich ihre Kritik an den geschäftsführenden Gremien radikalisierte.472 Dem erhöhten Leistungsdruck wussten sie sich unter Rückgriff auf traditionelle Behauptungsstrategien zu entziehen, die es ihnen – bei den Akkordverhandlungen oder in der Werkstellenbesetzung – ermöglichten, ihre Interessen informell durchzusetzen oder sich gegenüber ungerechtfertigter Kritik beispielsweise durch Krankmeldungen zur Wehr zu setzen.473 Eben diese Reaktionen der Glasmacher zog die Geschäfts- und Betriebsleitung wiederum als Ursachen für die hohen Lohnkosten und erneut krisenhafte Unternehmensentwicklung heran, was zu einer Vertiefung alter und neuer Konfliktlinien in der Belegschaft beitrug.474 Die Annahme einer besonderen »Schuld« der Glasmacher an den Schwierigkeiten im selbstverwalteten Betrieb gewann beim Rest der Belegschaft an Überzeugungskraft und verfestigte sich in den Erinnerungen.475 Nach Ansicht des damaligen Lagerverwalters und Gesellschafters [Walter Albrecht] sei »vor allem unter den Glasmachern« die »Einstellung« verbreitet gewesen, »durch weniger Arbeit mehr Geld verdienen« zu wollen, weshalb »[b]ald […] rote Zahlen« entstanden und die Firma »in die Verlustzone« geraten sei. Zum Verzicht, zur Mehrheit und Flexibilität seien sie nicht bereit gewesen, so auch der unter Glasschleifern verbreitete Eindruck.476 Diese Deutung der Ereignisse übersieht die einstigen Aufbrüche und solidarischen Annäherungen innerhalb der Belegschaft, die im konfliktträchtigen Verlauf der Selbstverwaltung in den Hintergrund und schließlich in Vergessenheit gerieten.

Verhältnis zwischen Belegschaft und betrieblichem Leitungspersonal Auf die Frage, wie sich die im Betrieb aufrechterhaltene Führungshierarchie mit der Praxis der Selbstverwaltung vereinbaren lasse, antwortete der Glasmacher [Paul Nowak],

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Im Dezember 1973 berichtete [Rolf Schindler], dass die Glasmacher »jetzt fast schon am Resignieren« seien. Selbst ihm falle es zunehmend schwer, »nach drei Jahren Enttäuschung« nicht in Gleichgültigkeit zu verfallen. [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 290), S. 17. Siehe Kapitel 4.3 und Kapitel 8.2. Nachdem Franz Fabian der Belegschaft bspw. im Juli 1973 auf einer Betriebsversammlung – anlässlich der sich verdichtenden Konfliktlage, die sich kurzfristig in einer Rücktrittserklärung des Geschäftsführers [Hans Müller] entladen hatte – »die Köpfe wusch«, habe es unter den Glasmachern den höchsten Krankenstand seit Beginn der Selbstverwaltung gegeben und die Produktion sei schlagartig gesunken. Schöfer, [1973/1974] (s. Anm. 116). [Müller], 12. Juni 1973 (s. Anm. 270), S. 2; Ebenso [Hans Müller] und [Rudolf Woge] in Beirat, 10. Juli 1973 (s. Anm. 174), S. 1f. Siehe Kapitel 5.2. und Kapitel 8.2. [Neumer] et al., 22. Januar 1974 (s. Anm. 103), S. 4; Folgende Zitat aus [Albrecht], 15. Juli 1993 (s. Anm. 13), S. 4. Protokoll Telefonat der Autorin mit [Karl Schubert], 16. Juli 2014, im Besitz der Autorin, S. 1.

Die Produktion

dass »es doch jemanden geben [müsse], der die Produktion lenkt.«477 Die hierarchische Arbeitsteilung zwischen den betrieblichen Führungskräften und den ihnen im Arbeitsprozess unterstellten Beschäftigten war für ihn eine organisatorische Notwendigkeit, um das Funktionieren der Produktion und die Ordnung im Unternehmen grundsätzlich zu gewährleisten: Der Magazinleiter müsse den Betriebsleiter mit der Fertigung der nachgefragten Artikel beauftragen, der zusammen mit den Hüttenmeistern hiervon ausgehend Produktionspläne für die einzelnen Werkstellen aufzustellen habe. »Und natürlich müssen wir Arbeiter« deren Anweisungen dann Folge leisten. »Aber« – so betonte [Nowak] zugleich – es »wird ja nicht gearbeitet, ohne zu denken! Wenn wir der Meinung sind, dass da was Falsches läuft, dann wird das sofort gemeldet und mit dem Kollegen hart diskutiert, wo man etwas abändern kann. Denn der [Meister] ist ja auch nur ein Mensch […]! Der ist auch nicht allwissend!« Arbeitshierarchien standen in der selbstverwalteten Glashütte also nicht in der Kritik, solange sie sich in der betrieblichen Praxis bewährten. Viele Beschäftigen betrachteten ihre Vorgesetzten als ihre »Vertreter«, die ihre exponierte Position in neuer Intensität zu rechtfertigen hatten.478 Dieser Ansicht war auch der Geschäftsführer [Hans Müller]: »Bei uns muss jetzt jeder [Vorgesetzte] seine Autorität aus der Leistung begründen und nicht wie vorher allein mit seiner Stellung in der Hierarchie.«479 [Nowak] und [Müller] vertraten bezüglich der Reichweite der Demokratisierung im Unternehmen konträre Position, für beide beruhte aber die Berechtigung von Hierarchien auf dem fachlichen Wissen und Können – sprich der Leistung – der Vorgesetzten. Einigkeit bestand darüber, dass eine hierarchische Arbeitsteilung den Vorgesetzten nicht nur Privilegien und Rechte gegenüber den Untergebenen gewährte, sondern zugleich mit Pflichten und der Übernahme von Verantwortung verbunden war. Vom Führungspersonal wurde erwartet, den Überblick über die Entwicklungen im Unternehmen zu behalten und die in den verschiedenen Abteilungen anstehenden Entscheidungen aufeinander abzustimmen. Trotz der unterschiedlichen Vorstellungen von der Selbstverwaltung, die sich auch in den Belegschaftsgremien herauskristallisierten, forderten die Beschäftigten vom Leitungspersonal ein »globales Denken« bzw. eine »objektive« Haltung, was die Berücksichtigung ihrer Hinweise mit einschloss.480 Im Bestreben, beides zu vereinbaren, sahen sie keinen Widerspruch, sondern vielmehr eine zentrale Herausforderung der demokratischen Praxis. Die bisherige Analyse gewährte bereits Aufschluss darüber, wie schwierig dieser geteilte Anspruch umzusetzen war. Zudem wurden auch bei der Bemessung und Bewertung der Leistung von Vorgesetzten unterschiedliche Maßstäbe herangezogen, wie sich am Beispiel der Position des Hüttenmeisters veranschaulichen lässt.

477 Diese Frage stellte ein namentlich nicht bekannter Begleiter von Erasmus Schöfer auf einer Betriebsversammlung. Folgendes von [Paul Nowak] aus Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 130), S. 17. 478 Gewerkschaftspost, Januar 1973 (s. Anm. 114), S. 11. 479 [Hans Müller] zitiert in Stern, 18. April 1973 (s. Anm. 125), S. 82. 480 [Paul Nowak] zitiert in Gesellschafterversammlung, 25. November 1971 (s. Anm. 135), S. 3; [Frank Weber] in [Webers], 12. Dezember 1973 (s. Anm. 205), S. 6. Siehe Kapitel 4.3 und Kapitel 7.4.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Aus Perspektive der Beschäftigten und ihrer Gremien hatte ein Hüttenmeister seine Expertise und Befähigung in erster Linie im Betrieb unter Beweis zu stellen. Seine dort gezeigte Arbeitsleistung war notwendige Voraussetzung für die Anerkennung seiner Autorität durch die ihm unterstellten Glasmacher. Eben dies war dem Hüttenmeister [Helmut Richter], der unmittelbar nach der Betriebsübernahme ebenso wie der Betriebsleiter [Ewald Lenz] ohne Beteiligung der Beschäftigten berufen wurde, nicht gelungen. Beide wurden aufgrund ihrer fachlichen Fehlentscheidungen und mangelhaften Betriebskenntnis von den Glasmachern nicht als Vorgesetzte akzeptiert und mussten den Betrieb nach kurzer Zeit wieder verlassen. Im Gegensatz dazu blieb der einstige Betriebsratsvorsitzende [Gerhard Schinkel], der während der Unternehmenskrise im Sommer 1969 von seinen Kollegen zum Hüttenmeister ernannt worden war, bis zum Ende der Selbstverwaltung in diesem Amt. Ebenfalls auf Beschluss der Belegschaftsgremien wurde im Frühjahr 1971 [Leo Böhm] zum neuen Hütten- und zugleich Schmelzmeister ernannt.481 Hatte es bislang in der Glashütte Süßmuth an Erfahrungswissen im Bereich der Farbglasschmelze gefehlt, spielte [Böhm] nun eine zentrale Rolle beim Ausbau des im Umsatz sehr lukrativen Farb- und Beleuchtungsglases. Da es ihm sogar gelungen war, an dem veralteten Ofen III die komplizierte Opalglasschmelze aufzunehmen, zollten ihm die Glasmacher Respekt. Die Beteiligung der Beschäftigten an der Berufung des betrieblichen Führungspersonals erwies sich also in einer Mundglashütte als äußerst sinnvoll. Es war in der Branchengeschichte nicht ungewöhnlich, dass »der erfahrenste Glasmacher« zum Hüttenmeister ernannt wurde.482 Die geschäftsführenden Gremien beachteten zu wenig, welche Bedeutung die Anerkennung der Hüttenmeister durch die ihnen unterstellten Facharbeiter für die Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin im Betrieb besaß. Um eine zentrale Kontrolle und Planung der Produktion sicherzustellen, bemühten sie sich vielmehr darum, die Entscheidungskompetenzen der Hüttenmeister zurückzudrängen, was unweigerlich deren Autorität bei den Glasmachern schmälerte. Die Autorität der Hüttenmeister konstituierte sich zwar in erster Linie in der betrieblichen Praxis, musste jedoch auch strukturell abgesichert sein. Weil die Unternehmensleitung seine Mahnungen, den dritten Ofen neu zu bauen, ignorierte und im Betrieb »einer immer mehr wisse als der andere«, hatte [Leo Böhm] bald »die Nase voll« und er kündigte bereits im Herbst 1972 an, die Firma wieder zu verlassen.483 Um den Weggang des mit seinem Wissen für den Betrieb sehr wichtigen Fachmannes zu verhindern, setzte sich [Paul Nowak] in seiner damaligen Funktion als Gesellschafter dafür ein, dass die »Autorität des Hüttenmeisters wieder hergestellt werden« müsse.484 Da die geforderte Kompetenzverstärkung der Hüttenmeister ebenso

481 Folgendes aus [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 9), S. 19–23; [Nowak], 6. Januar 1974 (s. Anm. 34), S. 3–5. Siehe Kapitel 4.3. 482 Johannes Laufer, »Berufsständische Traditionen und industrielle Produktion im 19. Jahrhundert. Überlegungen zu einer Kategorie ›ständische Lohnarbeiter‹ am Beispiel von Glashüttenarbeitern«, in: Hans-Jürgen Gerhard (Hg.), Struktur und Dimension. Festschrift für Karl Heinrich Kaufhold, Stuttgart 1997, S. 399. 483 Gesellschafterversammlung, 4. Oktober 1972 (s. Anm. 287), S. 3. Von einer nachlassenden Autorität der Hüttenmeister berichten auch [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 40f. 484 Gesellschafterversammlung, 4. Oktober 1972 (s. Anm. 287), S. 3.

Die Produktion

ausblieb wie die Investitionen zur Verbesserung der Bedingungen für die Opalglasproduktion durch den Neubau von Ofen III, machte [Böhm] schließlich im Herbst 1973 seine Ankündigung wahr. [Hans Müllers] einstiger Plan, die Anzahl der Hüttenmeister auf nur eine Person zu reduzieren, hatte sich damit realisiert. Für den Geschäftsführer war das Ausscheiden von [Leo Böhm] kein Verlust, da er in ihm vor allem einen Mann fortgeschrittenen Alters sah. [Müller] hatte bereits im Dezember 1972 erklärt, als Nachfolger für den Posten des Schmelzmeisters einen jüngeren Glasmacher zu berufen, »der die Fachschule in Zwiesel oder Rheinbach besucht« und »anschließend einige Jahre praktische Erfahrung« gesammelt hat.485 Für [Paul Nowak] war es indes ein grober Fehler des Geschäftsführers, die Kündigung von [Böhm] nicht verhindert zu haben.486 Dessen hohes Alter war für ihn kein relevanter Faktor bzw. eher von Vorteil, denn ein guter Hütten- oder Schmelzmeister eignete sich erst in langjähriger Praxis das (betriebs-)spezifische Wissen an, das auf keiner Schule zu erlernen war und der Firma mit dessen Weggang unwiederbringlich verloren ging. Weil sich ein neuer Schmelzmeister erst mit den betriebsspezifischen Gegebenheiten, den Fein- und Eigenheiten der Beheizungs-, Schmelz- und Kühlaggregate vertraut machen musste, war ein personeller Wechsel in dieser Position in einer Mundglashütte generell mit Schwierigkeiten verbunden. Wie zu erwarten, nahmen unmittelbar nach [Böhms] Weggang die Probleme an dem Ende 1971 nur notdürftig reparierten Ofen III überhand,487 die wiederum die für den weiteren Verlauf der Selbstverwaltung folgenschwere Entscheidung der Geschäfts- und Betriebsleitung beförderte, die Produktion von drei auf zwei Öfen umzustellen.488 Indem die geschäftsführenden Gremien an ihren Bemühungen um eine Zentralisierung der Kontrolle über die Produktion durch eine »Verwissenschaftlichung« der Betriebsführung festhielten, entstand auf Ebene des mittleren Managements im Betrieb eine Pattsituation: In ihren Entscheidungskompetenzen begrenzt und mit ihren Investitionsempfehlungen missachtet, waren die Hüttenmeister unmittelbar mit der Kritik der Beschäftigten an betrieblichen Fehlentwicklungen konfrontiert, für die [Leo Böhm] zuletzt die Verantwortung nicht mehr übernehmen wollte, daher trat er zurück. Auch dem oberen Management war es nicht gelungen, die Probleme und Konflikte im Betrieb zu beseitigen, im Gegenteil: Gerade die enormen Schwierigkeiten bei der Kontrolle von Ofen III nach dem Ausscheiden von [Böhm] korrelierten mit einer massiven Kritik insbesondere am Betriebsleiter.489 [Rudolf Woge] musste sich – wie bereits sein Vorgänger [Ewald Lenz] – vorwerfen lassen, dass er über die aktuelle Lage kaum Bescheid wisse, auf Missstände nicht zeitnah reagiere und die Schmelzer oder Werkstellengruppen nicht mit 485 Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 21. Dezember 1972, in: FHI, Schöf-1227, S. 1. 486 Folgendes aus [Nowak], 6. Januar 1974 (s. Anm. 34), S. 3f. 487 Die daraufhin unternommenen Versuche, den mittlerweile in die Eifel verzogenen [Leo Böhm] wieder für eine Festanstellung zu gewinnen, schlugen fehl. In den folgenden Jahren hielt die Firma den Kontakt zu ihm aufrecht und beauftragte den seitdem freiberuflich tätigen Glasexperten später mit der Behebung von technischen Problemen oder mit der Unterstützung bei der Bewältigung temporärer Engpässe. Ebd., S. 5; [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 9), S. 23; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 29. September 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2. 488 Siehe Kapitel 5.1 und Kapitel 5.3. 489 Folgendes v.a. aus Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27), S. 6–17.

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entsprechenden Anweisungen instruiere.490 Im Wissen um die Komplexität der Glasschmelze lasteten ihm die Beschäftigten nicht fachliche Defizite, sondern unzureichende Absprachen mit den betriebsinternen Fachleuten an. Auch [Woge] verfehlte also die Erwartungen der Belegschaft. Zugleich wiesen die zunehmenden Probleme im Betrieb auf seine sukzessive Überforderung hin. Diese Überforderung war weniger Ausdruck persönlicher Unfähigkeit als vielmehr Folge der strukturell bedingten Schwierigkeit, die erhöhte Komplexität in der Betriebsführung aus zentraler Position zu bewältigen. Die Verlagerung von Entscheidungs- und Kontrollkompetenzen in den Betrieb sowie deren Formalisierung in einer dezentralen Struktur der Betriebsorganisation hätte hierfür einen Lösungsansatz geboten, der indes ungenutzt blieb. Stattdessen bemühte sich die Betriebs- und Geschäftsleitung weiterhin erfolglos, die Produktion einer zentralen Kontrolle zu unterwerfen. Die skizzierte Pattsituation verlagerte sich dabei vom betrieblichen Mittelbau auf die Ebene der Betriebsführung und schließlich – wie noch zu zeigen ist – auf die Ebene der Unternehmensführung.491 Im Zuge der gescheiterten Zweiofenumstellung und der hierdurch lancierten erneut krisenhaften Unternehmensentwicklung wuchs die Kritik der Beschäftigten an den geschäftsführenden Gremien, die Fehlentscheidung des Betriebsleiters nicht verhindert bzw. sogar befördert zu haben.492 Das sich verschlechternde Betriebsklima stand somit vor allem im Zusammenhang mit den sich häufenden Erfahrungen, dass die Geschäftsführung und der Beirat die Beschäftigten und deren Gremien nicht gleichberechtigt in ihre Entscheidungsfindung einbezogen bzw. ihre Vorschläge und Beschlüsse nicht würdigten, wenn sie deren Vorstellungen zuwiderliefen. Das nachlassende Engagement selbst bei bislang aktiven Beschäftigten führten die Belegschaftsgremien auf die erneut zunehmenden Probleme im Betrieb sowie das »abweisende Verhalten [der] zuständigen Personen« zurück.493 Bereits im Herbst 1972 war Unmut über die »außergewöhnlich schlecht[e]« Glasqualität und »schlechte Betriebsleistung« entstanden, dem Geschäfts- und Betriebsleitung aufgrund der zum damaligen Zeitpunkt noch positiven Umsatzentwicklung nicht die eingeforderte Aufmerksamkeit beimaß. Das Betriebsklima verschlechterte sich eben deshalb während der kurzzeitigen ökonomischen Stabilisierung des Unternehmens, weil die Beschäftigten letztere als Resultat ihrer kollektiven Anstrengungen betrachteten, bei der Geschäftsführung und im Beirat mit ihren Vorschlägen – insbesondere der aus ihrer Sicht dringend erforderlichen Erneuerung des dritten Ofens – jedoch kein Gehör fanden, was in der Belegschaft Erinnerungen an »Süßmuths Zeiten« aufkommen

490 So kritisierte [Manfred Hübner] den Betriebsleiter [Woge] im November 1973, weil dieser den Schmelzer nicht über die Probleme mit der Glasqualität informiert habe und dieser folglich das Mengenverhältnis bei der Zubereitung der Rohstoffe unverändert beibehalten habe. Ebd., S. 6; Ebenso Gesellschafterversammlung, 4. Oktober 1972 (s. Anm. 287); Gesellschafterversammlung, 8. März 1973 (s. Anm. 289). 491 Siehe Kapitel 7.4. 492 [Nowak], 6. Januar 1974 (s. Anm. 34), S. 8. 493 Folgendes von [Manfred Hübner] aus Gesellschafterversammlung, 4. Oktober 1972 (s. Anm. 287), S. 1.

Die Produktion

ließ.494 Empörung erregte vor allem, dass die geschäftsführenden Gremien sie nicht nur von den Entscheidungen ausschlossen, sondern sie auch für die Probleme im Betrieb verantwortlich machten.495

Vom Entstehen und Schwinden eines neuen Konsenses Der eingangs zitierte »Roman« über die Geschlossenheit und Einigkeit in der belegschaftseigenen Glashütte Süßmuth spiegelt die Realität nur bedingt wider. In den ersten Jahren nach der Betriebsübernahme kam ihm gleichwohl eine enorme Wirkmächtigkeit zu. Er enthielt das Versprechen auf gute Arbeit, gerechte Löhne und ein gutes Leben für alle Beschäftigten als den aus Perspektive der Belegschaft wichtigsten Zielen der Selbstverwaltung. Und er transportierte die Zuversicht, dass es »bei uns jetzt auch alles besser werden« soll.496 Diese Hoffnung formulierte die Kühlbandabnehmerin [Monika Weber] noch im September 1973, als bereits mehrere entbehrungsreiche Jahre hinter ihr lagen. Trotz aller Schwierigkeiten und Konflikte bei der Lösung der betrieblichen Probleme und bei der Realisierung des demokratischen Anspruchs spiegelte jener »Roman« den in den ersten Jahren der Selbstverwaltung vorhandenen Konsens im Betrieb wider, der auf einer neuen Form von Kollektivität beruhte und die erfolgreiche Belegschaftsübernahme überhaupt erst ermöglicht hatte. Aller Spannungen zum Trotz fand diese neue Kollektivität nach der Betriebsübernahme praktischen Ausdruck in Annäherungsprozessen innerhalb der Belegschaft, die vor allem im Arbeitsalltag zu beobachten waren. Insbesondere den Nicht-Facharbeiter*innen eröffneten sich nach der Betriebsübernahme neue Möglichkeiten der Mitsprache. Auch wenn sie kaum in den Belegschaftsgremien vertreten waren, brachten sie sich verstärkt in die Diskussionen über Probleme im Betrieb ein497 und konnten hierdurch zumindest informell und indirekt Einfluss auf die betriebliche Entscheidungsfindung nehmen – eine Option, die sie im Gegensatz zu den Glasfacharbeitern bis dahin kaum besessen hatten. Das durch die neuen kollektiven Praktiken in Ansätzen gewonnene gegenseitige Verständnis zwischen Beschäftigten an verschiedenen Arbeitsplätzen stärkte insgesamt den sozialen Zusammenhalt im selbstverwalteten Betrieb als eine wichtige Voraussetzung für temporäre Entbehrungen. Der »Gemeinschaftsgeist« der Anfangszeit sei mit der Zeit jedoch – so die Analyse des Glasmachers [Dieter Schrödter] – wieder vom früheren »Futterneid« unter Kolleg*innen und der alten »Cliquenwirtschaft« unter den Glasmachern verschiedener Werkstellen abgelöst worden.498 Ein »Kollektivgeist« habe laut dem Glasmacher [Rolf Schind494 [Paul Nowak] zitiert in Gesellschafterversammlung, 24. April 1973 (s. Anm. 183), S. 3; Ebenso namentlich unbekannter Betriebsrat der GHS in Wickert, 19. März 1973 (s. Anm. 80), S. 2; Typoskript »Wo neues Bewusstsein wächst«, Ulrich Wickert für Panorama (ARD), 27. April 1973, in: FHI, Schöf-1212, S. 8. 495 Gesellschafterversammlung, 11. November 1971 (s. Anm. 131); Tarifkommission, 12. Juli 1972 (s. Anm. 271); [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 290), S. 9. 496 [Monika Weber] in [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 33), S. 20. 497 Hierauf verwiesen bspw. [Paul Nowak] in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 130), S. 16f.; [Manfred Hübner] in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 28), S. 39–41. 498 [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 202), S. 13.

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ler] insbesondere deshalb nicht dauerhaft entstehen können, weil der Geschäftsführer [Hans Müller] »eben alles tut, um die alleinige Entscheidung immer zu haben« und hierfür sich die »verschiedenen Fronten im Betrieb« zunutze machen würde.499 Die Aktualisierung dieses bereits gegenüber Richard Süßmuth und [Ludwig Hager] von Seiten der Betriebsaktivisten vorgebrachten Vorwurfs offenbarte, dass Tendenzen der Entsolidarisierung in der Belegschaft nicht allein auf ein intendiertes Handeln des Managements zurückzuführen war. Dieser Prozess stand vielmehr auch im Zusammenhang mit den vorrangig an die individuelle Leistung der Beschäftigten appellierenden Rationalisierungsstrategien der geschäftsführenden Gremien. Die durch die neuen kollektiven Praktiken entstandenen Annäherungsbewegungen wurden hierdurch blockiert und zugleich Zerwürfnisse unter Kolleg*innen entlang alter wie neuer Konfliktlinien forciert: Tradierte Konfliktquellen blieben (beispielsweise hinsichtlich der Akkordaushandlung oder der Werkstellenbesetzung) bestehen und überlagerten sich mit jenen, die sich aus dem Abgleich der neuen einst kollektiven vorgebrachten Ansprüche mit der erlebten Realität ergaben. Die sich häufenden Konflikte zwischen Belegschaftsgremien und Management sowie unter den Beschäftigten verschiedener Statusgruppen bedingten eine zunehmende Unzufriedenheit und Frustration bei allen Beteiligten und wirkten sich letztlich extrem negativ auf das subjektive Empfinden und das Betriebsklima aus.

5.5 Selbstverwaltung als betriebliche Rationalisierungsstrategie? Chancen und Grenzen der demokratischen Praxis »Als der Betrieb in die Hände der Arbeiter überging, war er pleite, unmodern und keineswegs rationell.«500 Diese von Ulrich Wickert wiedergegebene Deutung der Ausgangsbedingungen für die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth prägte die Wahrnehmung der Gewerkschaftsfunktionäre und hessischen Ministerialbeamten, die 1969 und 1970 die Belegschaftsübernahme unterstützten. Als sie der Mundglasbranche generell noch eine verheißungsvolle Zukunft prognostizierten, teilten die betriebsexternen Unterstützer mit den Beschäftigten die Hoffnung, das vom Konkurs bedrohte Unternehmen durch rationalisierende Reformen stabilisieren zu können. Für den marxistischen Theoretiker Ernest Mandel war die Arbeiterselbstverwaltung einzelner Betriebe im Kapitalismus kein emanzipatorisches Projekt, da die Arbeitenden jene Rationalisierung zu akzeptieren hätten, die der Wettbewerb ihnen aufzwinge.501 Die anhaltenden Kontroversen über Möglichkeiten, die Produktion in der Belegschaftsfirma effizienter zu gestalten, zeigten indes auf, dass es nicht nur eine Form der Rationalisierung gab und auch nicht jede Form der Rationalisierung in einer Mundglashütte angemessen war. Vielmehr standen hier – mit dem dezentralen und erfahrungsbasierten, die betriebsinterne Expertise integrierenden Ansatz der Belegschaftsgremien sowie dem zentralen und wissenschaftsbasier-

499 [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 290), S. 5. 500 Wickert, 27. April 1973 (s. Anm. 494), S. 3. 501 Ernest Mandel, Arbeiterkontrolle, Arbeiterräte, Arbeiterselbstverwaltung. Eine Anthologie, Frankfurt a.M. 1971, S. 9–55; Ernest Mandel (1975) zitiert in Judy Wajcman, Women in Control. Dilemmas of a Workers’ Co-operative, New York 1983, S. 32.

Die Produktion

ten, betriebsexterne Expertise hinzuziehenden Ansatz der geschäftsführenden Gremien – zwei konträre Rationalisierungsstrategien im Widerstreit. Zusammenfassend ist im folgenden Kapitel zu beantworten, in welcher Hinsicht sich die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth als betriebliche Rationalisierungsstrategie bewährte. Mussten die ökonomischen Ziele tatsächlich zwangsläufig in einen Widerspruch zu den sozialen und politischen Zielen der Selbstverwaltung geraten, wie es Mandels Warnung nahelegte?

Revision: Herausforderungen der betrieblichen Rationalisierung einer Mundglashütte Rationalisierung und deren Ziele, die über das »ökonomische Rationalprinzip« der Erzielung maximaler Erträge bei minimalen Aufwand hinausgingen, blieben historisch uneindeutig.502 Als »materiellen Kern« der Rationalisierungsdebatten der 1920er- und 1930er-Jahre identifiziert Rüdiger Hachtmann mit der arbeitsorganisatorischen, der fertigungstechnischen und der sozialen Rationalisierung drei Problemkreise.503 Erste Ansätze zur Rationalisierung der Arbeitsorganisation in der industriellen Fertigung waren eng mit dem Namen des US-amerikanischen Ingenieurs Frederick W. Taylor und seiner Lehre vom Scientific Management verbunden.504 Ausgehend von der Überzeugung, für jeden Arbeitsschritt gebe es eine optimale Art der Ausführung – the one best way –, schlug Taylor »wissenschaftliche« Methoden der Analyse von Arbeitsabläufen vor.505 Legte Taylor in seinem Verständnis von Rationalisierung den Fokus auf eine Zerteilung, Standardisierung und Reorganisation der einzelnen Arbeitsschritte, stand der Name Henry Ford für einen auf standardisierte Massen- und Fließproduktion setzenden Weg der fertigungstechnischen Rationalisierung.506 Bei unterschiedlicher Schwerpunktsetzung strebten beide Ansätze eine Objektivierung des körpergebundenen Erfahrungswissens der Beschäftigten (tacit knowledge) und dessen Transfer ins Management oder dessen Vergegenständlichung in Technik an. Der Fertigungsprozess und die Beschäftigten sollten – sei es durch Ingenieure auf Basis ihrer vermeintlich wissenschaftlichen Neutralität, sei es durch von den Arbeitenden unabhängig funktionierende, den Takt angebende Maschinen – einer »objektiven«, zentralen Kontrolle unterworfen werden. Die im Rahmen der Human-Relations-Bewegung konzipierten »Maßnahmen zur Dezentralisierung« und »Mitarbeiterbeteiligung« unterschieden sich hiervon lediglich in den Formen, nicht aber in den Zielen, wie Karsten Uhl herausgearbeitet hat.507 502 König, Konsumgesellschaft (s. Anm. 283), S. 52; Hachtmann, Industriearbeiterschaft (s. Anm. 230), S. 211. 503 Hachtmann, Industriearbeiterschaft (s. Anm. 230), S. 211. 504 König, Konsumgesellschaft (s. Anm. 283), S. 55. 505 Der wissenschaftliche Charakter wurde Taylors Methoden bereits im zeitgenössischen Kontext abgesprochen. Abgesehen von eher willkürlichen Berechnungen habe »der Rekonstruktion der ›optimalen‹ Arbeitsprozesse« vielmehr »eine Art Rekonstruktion der Erfahrung der besten Arbeiter zugrunde gelegen«. Wolfgang König, »Kontrollierte Arbeit = optimale Arbeit? Frederick Winslow Taylors Programmschrift der Rationalisierungsbewegung«, in: Zeithistorische Forschungen 2 (2009), S. 317. 506 König, Konsumgesellschaft (s. Anm. 283), S. 54–57. 507 Die Abgrenzung des Human-Relations-Ansatz von Taylors »Prinzipien der Vermessung und Quantifizierung« bzw. generell die Gegenüberstellung von Rationalisierung und Humanisierung impli-

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Der US-amerikanische Rationalisierungsdiskurs wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland kontrovers rezipiert. Die Skepsis gegenüber einer Übertragbarkeit auf die deutschen Verhältnisse sowie die Zweifel an der Vereinbarkeit von »deutscher Wertarbeit« und Massenproduktion habe »in der Zwischenkriegszeit ein Netzwerk an Institutionen« entstehen lassen, »die einen spezifisch deutschen Weg der Rationalisierung verfolgten.«508 Hierzu gehörte – neben RKW oder REFA – auch das Forschungsinstitut für rationelle Betriebsführung im Handwerk. Im Jahr 1919 gegründet, beschäftigte es sich mit den Rationalisierungspotenzialen handwerklicher Betriebe.509 Taylors »Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung« dienten dabei als wichtige Orientierung, fanden in der handwerklichen Praxis jedoch kaum Anwendung. Bekräftigt wurde hierdurch die These, das Handwerk sei als »Relikt vormoderner Zeiten« dem weiteren Niedergang geweiht.510 Negative Entwicklungsprognosen für das Handwerk in der industriellen Moderne korrespondierten mit einem spezifischen Verständnis von Effizienz in der Betriebs- und Unternehmensorganisation, demzufolge – gemessen am Ideal des Großunternehmens – die häufig klein- und mittelgroßen Handwerksbetriebe als rückständig erschienen.511 Ihnen wurde Technikfeindlichkeit unterstellt sowie dem Handwerk im Laufe des 20. Jahrhunderts eine wirtschaftliche Rationalität und die Fähigkeit zur Rationalisierung abgesprochen.512 Die von Taylor und Ford geprägten Vorstellungen von Rationalisierung wirkten sich auch auf die Entwicklung der deutschen Glasbranche aus. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hatten hier die Bemühungen um eine Verwissenschaftlichung der Produktion zugenommen. Der Verband der Glasindustriellen Deutschlands gründete 1920 die Wärmetechnische Beratungsstelle der Deutschen Glasindustrie (WBG), zwei Jahre später die Deutsche Glastechnische Gesellschaft (DGG).513 »Auf Anregung der DGG« wurde 1926 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Silikatforschung ins Leben gerufen. Unter den Unternehmern sei das Interesse an einer Verwissenschaftlichung, wie Walter Scheiffele

ziert daher eine irreführende Dichotomie. Karsten Uhl, »Der Faktor Mensch und das Management. Führungsstile und Machtbeziehungen im industriellen Betrieb des 20. Jahrhunderts«, in: Neue Politische Literatur 55 (2010), S. 237; Karsten Uhl, Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014. 508 König, Konsumgesellschaft (s. Anm. 283), S. 58f. 509 Folgendes aus Günther Luxbacher, »Instrumentelle Modernisierung des Traditionellen. Das Forschungsinstitut für rationelle Betriebsführung im Handwerk, 1919 bis 1929«, in: Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hg.), Rationalisierung in Handwerksberufen, Steinfurt 2012, S. 26–39. 510 Zum historischen Deutungsmuster vom Niedergang des Handwerks und den Beweggründen, sich dessen auch innerhalb des Handwerks zu bedienen, siehe Reinhold Reith, »Rationalisierung im Handwerk. Ein Widerspruch?«, in: LWL, Rationalisierung (s. Anm. 509), S. 9, 13f. 511 Reinhold Reith und Dorothea Schmidt (Hg.), Kleine Betriebe – Angepasste Technologie? Hoffnungen, Erfahrungen und Ernüchterungen aus sozial- und technikhistorischer Sicht, Münster 2002. 512 Reith, Rationalisierung (s. Anm. 510), S. 16–18. Ähnlich fielen auch Entwicklungsprognosen für Familienunternehmen mit ihrer oftmals handwerklichen Fertigung aus. Siehe Christina Lubinski, Familienunternehmen in Westdeutschland. Corporate Governance und Gesellschafterkultur seit den 1960er Jahren, Göttingen 2010, S. 10–18. 513 Folgendes aus Wolfgang Trier, »Entwicklung der Hüttentechnischen Vereinigung der Deutschen Glasindustrie (HVG) und der Deutschen Glastechnischen Gesellschaft (DGG) von 1920/22 bis 1985«, in: Glastechnische Berichte 4 (1992), S. 114–117.

Die Produktion

ausführt, zunächst aber eher gering gewesen.514 Ein Teil der vorrangig mittelständischen Glasbranche habe sie laut Georg Goes sogar aus theoriefeindlicher Haltung heraus regelrecht abgewehrt.515 Weil sich die Glashüttenbesitzer einer »wissenschaftlichen Schulung« verweigert hätten, »in den meisten Glasfabriken keine interne Forschung betrieben wurde und so der Anschluss an die betriebsexterne Forschung schwach blieb«, habe sich die branchenübergreifende Rationalisierungsbewegung »kaum im betrieblichen Handeln nieder[geschlagen]«. Eine »unkaufmännische Kalkulationsweise«, »aus dem Handgelenk abgeschätzte« Preise sowie eine Produktionsplanung und Arbeitsorganisation »nach dem Gehirn des Hüttenmeisters« wertete der Reichstagsausschuss zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft im Jahr 1931 als entscheidende Hindernisse für eine Rationalisierung in der Hohlglasbranche.516 Einen solchen »Hüttenempirismus« zeichnet Goes »bis in die Nachkriegszeit« nach: Bis 1960 seien in der deutschen Glasbranche kaum »arbeitswissenschaftliche Untersuchungen durch Ingenieure« durchgeführt, »Refa-Methoden« angewandt oder »Taylorisierungsversuche« unternommen worden.517 Die historischen Deutungsmuster von der Rationalisierungs(un)fähigkeit des Handwerks im Allgemeinen und der Mundglasbranche im Speziellen prägten implizit – so hat die vorangegangene Analyse gezeigt – auch in den geschäftsführenden Gremien der belegschaftseigenen Glashütte die Wahrnehmung betrieblicher Probleme und die Vorschläge zu deren Lösung. Das äußere Erscheinungsbild des Betriebsgeländes und die fehlende Klarheit einer straffen Hierarchie in der Unternehmensorganisation weckte bei den mehrheitlich branchenfremden Personen in diesen Gremien den Eindruck einer »Unordnung«,518 die ihnen als Ursache der Krise erschien und ihren Rationalisierungseifer auf besondere Weise stimulierte. Die Vorstellung, der Betrieb müsse und könne »aufgeräumt« werden, bestärkte ihre Zuversicht, mit Investitionen in Maschinen-WerkzeugTechnik und einer »wissenschaftlichen« Betriebsführung die wahrgenommenen Missstände so zügig wie endgültig beseitigen zu können. Die Frage nach der Angemessenheit dieser gängigen Rationalisierungsstrategien wurde von den zeitgenössischen Befürwortern wie auch in der Erforschung der Branchengeschichte selten gestellt, weshalb mit Reinhold Reith eine »definitorische Neubestimmung dessen, was ›Rationalisierung‹ [in einer Mundglashütte] bedeuten kann«, vorzunehmen ist.519

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Den Anstoß »zur wissenschaftlichen und industriellen Entwicklung [gaben] in der Glasindustrie oft branchenfremde Interessen«, wie vor allem jene des Militärs hinsichtlich der Produktion von optischem Glas. Walter Scheiffele, Wilhelm Wagenfeld und die moderne Glasindustrie. Eine Geschichte der deutschen Glasgestaltung von Bruno Mauder, Richard Süssmuth, Heinrich Fuchs und Wilhelm Wagenfeld bis Heinrich Löffelhardt, Stuttgart 1994, S. 47. Folgendes aus Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 164), S. 93f., 128. Ausschuss zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der Deutschen Wirtschaft (Hg.), Die deutsche Glasindustrie, Berlin 1931, S. 210. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 164), S. 128f. Carl Backhaus an GHS, 6. Juli 1970, in: FHI, Schöf-1221, S. 2; [Harald Meier], »Die Firma Glashütte Süßmuth GmbH berichtet«, in: HNA, 10. Februar 1976, in: AGI. In der zitierten Forderung bezieht sich Reinhold Reith auf die »definitorische Neubestimmung dessen, was ›Rationalisierung‹ im Handwerk bedeuten kann«. Reith, Rationalisierung (s. Anm. 510), S. 17.

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In erster Linie galt es hierfür die grundlegenden Charakteristika der Fertigung im Mundblasverfahren an Hafenöfen als solche anzuerkennen, auf die die meisten der vermeintlichen Rationalisierungshindernisse zurückzuführen waren.520 Von Unternehmen anderer Gewerbe – wie sie Taylor und Ford bei der Formulierung ihrer Rationalisierungsprinzipien vor Augen hatten – unterschieden sich Mundglashütten grundlegend darin, dass hier den Prozessen der Stoffformung ein chemisch-physikalisches Verfahren der Stoffumwandlung als integraler Bestandteil der Fertigung vorgelagert war. Weil die Glasschmelze ein periodisch und unregelmäßig verlaufender Prozess war, der den Rhythmus für alle nachfolgenden Arbeitsschritte vorgab, wurde vorrangig mit flexibel einsetzbarer Hand-Werkzeug-Technik bzw. Universal-Werkzeug gearbeitet. Die Produktionstechnik war auf das unternehmensspezifische Sortiment abgestimmt und folglich von Mundglashütte zu Mundglashütte anders beschaffen, dementsprechend unterschiedlich fielen auch betriebliche Rationalisierungsmaßnahmen aus. Die Produktion einer Mundglashütte integrierte eine Vielzahl manueller, viel Handfertigkeit und Erfahrung erfordernder, eng aufeinander bezogener Tätigkeiten und hatte eine möglichst hohe Qualität und Vielfalt der Produkte zum Ziel, die die Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen ausmachten. Aus dem eben Genannten resultierte eine weitere Besonderheit der Mundglasfertigung: der seit jeher herausragende Stellenwert, der den Glasfacharbeitern und ihrem körpergebundenem Wissen über Verfahrens- und Gestaltungstechniken zukam. Dieses Wissen war weniger in theoretischen Schulungen als vor allem durch langjährige Arbeitserfahrung zu erwerben, nur mit großem Aufwand formalisierbar und damit auf Ebene der Unternehmensleitung nur begrenzt objektivierbar.521 Bereits in der Römischen Kaiserzeit seien Techniken der Glasfärbung »mit erstaunlicher Perfektion praktiziert« worden, wofür erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wissenschaftliche Erklärungsansätze vorlagen.522 Seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert wurden die Glasmacher von Venedig auf der Insel Murano festgehalten, um ihr Wissen über die stoffliche Zusammensetzung und Temperaturverläufe in der Glasschmelze oder über die Anwendung von Stoffverformungstechniken zu monopolisieren.523 Diese Kenntnisse gehörten zum wichtigsten Kapital und wohlgehüteten Geheimnis der Unternehmen, das in der betrieblichen Praxis weitergereicht wurde. Über die Jahrhunderte hinweg war es weder politisch möglich noch ökonomisch effizient, die Glasmacher wie einst in Murano gewaltvoll festzuhalten. Stattdessen zielten materielle Anreize, Privilegien

520 Folgendes siehe Kapitel 1. 521 Angesichts dieser Eigenschaften der für das Glasmachen erforderlichen Wissensform spricht Johannes Laufer von einem »esoterischen Spezialwissen«, dass die Glasmacher »in vorindustrieller Zeit […] mit Hilfe zünftischer Selbstrekrutierung« gehütet hätten, um »eine starke Position auf dem Arbeitsmarkt« zu erlangen. Laufer, Spiegelglas (s. Anm. 255), S. 172f. Siehe Kapitel 1.5. 522 Helmut A. Schaeffer und Margareta Benz-Zauner (Hg.), Hohlglas, München 2010, S. 142. 523 Aus Gründen des Brandschutzes wurden die Glashütten von Venedig seit Ende des 13. Jahrhunderts auf der Insel Murano angesiedelt. Den Glasarbeitern wurde »bei Strafe verboten, die Insel zu verlassen«. So sollte verhindert werden, dass ihr Wissen über neue Herstellungsmethoden zur Konkurrenz gelangt. Einigen Glasmacher gelang die Flucht in Gebiete nördlich der Alpen, wo sie sich an Glashüttengründungen beteiligten. André Velter und Marie-José Lamothe, Das Buch vom Werkzeug, Genf 1979, S. 447; Schaeffer et al., Glas (s. Anm. 90), S. 21.

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und Bemühungen um kooperative Arbeitsbeziehungen darauf ab, ihre Betriebsbindung und Arbeitsmotivation sicherzustellen. Dass in den meisten Mundglashütten wissenschaftliches Wissen noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein kaum eine Rolle spielte, war daher weniger Ausdruck einer Rückständigkeit der Eigentümer, als vielmehr Ausdruck ihres Vertrauens auf das im Betrieb vorhandene Wissen. Dessen hoher ökonomischer Wert hinderte sie daran, »technologische Details« weiterzugeben, die für eine Verwissenschaftlichung auf überbetrieblicher Ebene benötigt wurden.524 Aus unternehmerischer Perspektive bzw. mit Blick auf die Konkurrenzverhältnisse war diese Verweigerungshaltung der Hüttenbesitzer plausibel. Mit den grundlegenden Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhöhte sich für die Mundglashütten der Rationalisierungsdruck. Die Erfahrungen in der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth haben gezeigt, dass die Rationalisierung in einer Mundglashütte keine vorrangig technische Angelegenheit war. Eine Rentabilitätssteigerung ließ sich hier in erster Linie im Zusammenwirken von bewährter und instand gehaltener Technik mit arbeitsorganisatorischen Reformen erzielen. Es waren vor allem solche Maßnahmen zu ergreifen, die auf eine Aufrechterhaltung bzw. Steigerung der Flexibilität in der Produktion sowie auf eine Reduktion der organisatorischen Komplexität als notwendige Voraussetzungen für eine flexible Spezialisierung abzielten, wie sie in Unternehmen der Mundglasbranche nicht erst seit der in den 1980er Jahren viel diskutierten Krise der Massenproduktion üblich war.525 Zudem galt es die Voraussetzungen für die arbeitskräfteintensive Qualitätsproduktion zu erhalten bzw. zu verbessern, was insbesondere die Beschäftigten und deren Qualifikation betraf. Im Zuge einer Unternehmensexpansion erhöhte sich einmal mehr die Notwendigkeit, Fach- wie Hilfsarbeitende an den Betrieb zu binden und neue zu gewinnen bzw. auszubilden. Die Arbeitsmotivation, Aufmerksamkeit und vor allem die Fähigkeiten sowie das in langjähriger Arbeitserfahrung erworbene, unternehmensspezifische Fertigungswissen aller Beschäftigten waren – so lässt sich aus den vorangegangenen Ausführungen schlussfolgern – der Schlüssel zum Erfolg der betrieblichen Rationalisierung einer Mundglashütte. Den hohen Wert dieses »praktische[n] Wissen[s]« stellte der Glastechniker [Pavel Marek] nach seinem halbjährigen Aufenthalt in der Glashütte Süßmuth heraus. Er erkannte hier einen »Schatz« an Erfahrungen »unter den Kollegen«, der indes »nur latent« vorhanden sei und von der Geschäftsführung stärker berücksichtigt wie gefördert werden müsse.526 Der einstige IG-Chemie-Verwaltungsstellenleiter Werner Schepoks hob ebenfalls die enormen Erfahrungswerte der Immenhausener Glasfacharbeiter hervor, von denen »einige in zig verschiedenen Glashütten nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch im Ausland gearbeitet« hatten.527 In einer Mundglas-

524 Nölle, Technik (s. Anm. 5), S. 5. 525 Michael J. Piore und Charles F. Sabel, Das Ende der Massenproduktion. Studie über die Requalifizierung der Arbeit und die Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft, Frankfurt a.M. 19892 . 526 [Marek], 12. November 1973 (s. Anm. 304), S. 2. 527 Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Werner Schepoks, 1. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 1; Friedrich-Karl Baas und Dagmar Ruhlig, Glas aus Immenhausen. Glasgestalter der Süßmuth-Hütte, Immenhausen 1997, S. 2f.

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hütte gehörten aber auch die verschiedenen Wissensbestände der Nicht-Facharbeiter*innen, auf die weder Führungskräfte noch Facharbeiter zurückgreifen konnten, zum betrieblichen Erfahrungsschatz. Mittel des Zwangs oder eine hierarchisch-materielle Anreizstruktur waren – unter den sich um »1968« ändernden gesellschaftlichen Verhältnissen – zunehmend weniger geeignet, dieses Rationalisierungspotenzial zu erschließen, wie Richard Süßmuth und andere bundesdeutsche Mundglashüttenbesitzer erfahren mussten.528 Deren Abhängigkeit von den Facharbeitern und nunmehr verstärkt auch von den Nicht-Facharbeiter*innen hatte insgesamt zugenommen.

Chance: Rationalisierung und Humanisierung durch Demokratisierung Das Ziel, die Rationalisierung der Produktion mit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu verbinden, war in der Bundesrepublik unter dem Schlagwort Humanisierung der Arbeit seit Ende der 1960er Jahren prominenter Gegenstand sozialpolitischer Debatten.529 Wurden dabei zunächst vor allem Fragen des Arbeits- und Unfallschutzes verhandelt, »rückten schon bald weiter gehende Fragen nach menschengerechter Gestaltung von Arbeitsorganisation und Technik sowie nach entsprechender Beteiligung von Betriebsräten und Arbeitnehmer/-innen an der Gestaltung von Arbeitsabläufen in den Mittelpunkt.« Im Rahmen der staatlich geförderten Forschung zur Humanisierung des Arbeitslebens (HdA) suchten »Staat, Unternehmer- und Arbeitnehmerverbände und Wissenschaftler« seit 1974 nach entsprechenden Lösungen für eine betriebliche Praxis. Trotz postulierter Ansprüche an eine Demokratisierung der Arbeitswelt blieb dieses Förderprogramm ein Top-down-Projekt, in das sich vor allem die Interessen der Unternehmen (Arbeitskraftbindung und Effizienzsteigerung), der Gewerkschaften (Mitgliederbindung und zentrale Form der Repräsentation) sowie der staatliche Regulierungsanspruch (Keynesianismus) einschrieben. Für die Beteiligung der Belegschaften und ihr Verständnis von guter Arbeit war kein Raum.530 In der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth konnten sich dagegen die Beschäftigten – sei es in den offiziellen Strukturen des Modells Süßmuth, sei es in den informellen Praktiken des Arbeitsalltags – mit ihren Vorstellungen in die Entscheidungsfindung einbringen. Die internen je nach Position im Fertigungsprozess unterschiedlichen Wissensbestände konnten hierdurch aufeinander bezogen, mit externen Wissensbeständen – insbesondere mit den Erfahrungswerten befreundeter Belegschaften vergleichbarer Glashütten531 – kombiniert und somit neues Wissen generiert werden, aus dem sich die auf-

528 Siehe Kapitel 1.5 und Kapitel 9.4. 529 Folgende Zitate von Anne Seibring, »Die Humanisierung des Arbeitslebens in den 1970er Jahren – Forschungsstand und Forschungsperspektiven«, in: Knud Andresen, Ursula Bitzegeio und Jürgen Mittag (Hg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitswelten, Bonn 2011, S. 107f. 530 Zeitgenössische Kritiker dechiffrierten die Programmatik einer »Humanisierung der Arbeit« daher als »Fortsetzung von Rationalisierung mit anderen Mitteln«. Zitiert nach Dieter Sauer, »Von der ›Humanisierung der Arbeit‹ zur ›Guten Arbeit‹«, in: APuZ 15 (2011), S. 21; Seibring, Humanisierung (s. Anm. 529), S. 113–116, 120. 531 Aufgrund ihrer vorheriger Tätigkeiten in anderen Glashütten kannten die Süßmuth-Glasmacher viele »Leute […], die ihnen hilfreich und dienreich gewesen« waren. Schepoks, 1. September 1973 (s. Anm. 527), S. 1.

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gezeigten Ansätze zur Lösung betrieblicher Probleme und Rationalisierungsvorschläge speisten. Die demokratische Praxis bot die Chance, die Betriebsführung mit Methoden, die den generellen Besonderheiten der Mundglasfertigung, den betriebsspezifischen Bedingungen und dem unternehmenseigenen Sortimentsprofil entsprachen, an die veränderten Rahmenbedingungen des Wirtschaftens anpassen und die aufgezeigten Herausforderungen der betrieblichen Rationalisierung einer Mundglashütte bewältigen zu können. Eine Steigerung der Flexibilität im Betrieb war demnach in erster Linie durch eine Verbesserung der Grundlagen für die arbeitskräfteintensive Qualitätsproduktion zu erzielen. Die in der Belegschaft und ihren Gremien diskutierten und von ihnen empfohlenen technischen und organisatorischen Neuerungen zielten auf Kostensenkung und Effizienzsteigerung durch Arbeitserleichterung, Materialersparnis und Verbesserung der Produktqualität ab, dienten damit also vor allem qualitativen und hierüber vermittelt quantitativen Zielen.532 Ihre Diskussionen berücksichtigten den sozialen Kontext der arbeitskräfteintensiven Qualitätsproduktion und legten das in der Belegschaft geteilte Gerechtigkeitsempfinden der Entscheidungsfindung zugrunde. Die demokratische Praxis trug somit der Charakteristik der Mundglasfertigung als einem sozialen Prozess Rechnung, in dem die Gesamtheit der Tätigkeiten aller Beschäftigten den Erfolg der Qualitätsproduktion ausmachte. Die Ziele der Selbstverwaltung wirkten als kollektive (statt individualisierende) und intrinsische (statt exogene) Leistungsanreize. Hierüber konstituierte sich ein neuer Konsens im Betrieb, der notwendige Voraussetzung für die Rationalisierung und das ökonomische Überleben der nach wie vor vom Konkurs bedrohten Mundglashütte war. Maßnahmen zur Verbesserung des Betriebsklimas trugen hier stets zur Sicherung bzw. Erhöhung der Qualität der Produkte bei – sowie umgekehrt. Die Ausschussquote war in Mundglashütten generell ein Gradmesser für das Betriebsklima.533 Ihr Anstieg war Ausdruck wie Ursache von zunehmender Arbeitsunzufriedenheit in der Belegschaft. Die Vorschläge der Belegschaftsgremien und die auch im Arbeitsalltag intensivierten Kommunikationsprozesse zeigten insgesamt einen Modus der betrieblichen Rationalisierung auf, der nicht nur vereinbar mit den politischen Zielen der Selbstverwaltung (demokratische Teilhabe und Solidarität unter Arbeitenden), den sozialen Zielen (gute Arbeit und gerechte Löhne) sowie den ökonomischen Zielen (Sicherung der Unternehmensexistenz und der Arbeitsplätze) war, sondern – gerade weil diesen politischen und sozialen Zielen in der arbeitskräfteintensiven Fertigung einer Mundglashütte eine dezidiert ökonomische Bedeutung zukam – erst durch deren Verbindung und gleichberechtigte Verfolgung möglich wurde. Die Utopie einer Rationalisierung der Produktion und einer Humanisierung der Arbeit durch eine Demokratisierung der Entscheidungsfindung war für die Beschäftigten in der betrieblichen Praxis konkret erfahrbar gewesen. Für eine

532 Dieses in einer Produktivgenossenschaft virulente ökonomische Potenzial hatte auch Franz Oppenheimer hervorgehoben, weshalb ihm diese als »dem Unternehmergeschäft ceteris paribus weit überlegen« galt. Franz Oppenheimer, Die Siedlungsgenossenschaft. Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage, Leipzig 1896, S. 55f. 533 Siehe Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 164), S. 103.

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Verstetigung und dauerhafte Nutzung dieses nach der Belegschaftsübernahme aufgezeigten Potenzials schwanden jedoch im konfliktträchtigen Verlauf der Selbstverwaltung die Voraussetzungen.

Grenze: Rationalisierung als Ausdruck betrieblicher Machtverhältnisse Im Gegensatz zu den Belegschaftsgremien fassten die geschäftsführenden Gremien Rationalisierung als eine die komplexe Problemlage im Betrieb vollständig und dauerhaft zu beseitigende und faktisch einmalig durchzuführende Maßnahme auf. Die generellen Merkmale der Mundglasfertigung ignorierten sie dabei ebenso wie sie die mit der expansiven Sanierung der Fertigungsanlage verbundenen Herausforderungen unterschätzten. So habe der erste Betriebsleiter [Ewald Lenz] die »am leichtesten durchsichtig[e]« Aufgabe gehabt – »nämlich einfach den Betrieb in Gang zu halten«.534 Erst durch die Probleme mit einer schwankenden Glasqualität verstand der einstige Finanzleiter [Bernd Dietrich], dass die Glasschmelze »offensichtlich gar nicht so einfach« war und dabei – weil »die Verhältnisse […] von Gemenge und Temperatur und Schmelzzeit [sich sehr schnell ändern]« – »sehr viel probiert werden [muss]«. Entgegen der Erwartung, die neuen »automatisch« gesteuerten Kühlbänder könnten eine »[kinderleichte]« Bedienung gewährleisten, konstatierte der Glastechniker [Pavel Marek], dies beträfe »lediglich das Ein- und Ausschalten«. Die Temperatureinstellung und -regulierung erforderte weiterhin ein »pragmatisches Wissen [und] eine nähere Befassung mit der Materie«.535 Zu solchen aus Perspektive der Produktionsarbeiter*innen bekannten Einsichten kamen die geschäftsführenden Gremien und insbesondere die betriebsexternen Mitglieder im Beirat indes nicht. Dem Wissen der Arbeitenden und den »Qualitäten« der von diesen in den kollektiven Überlegungen »selbst erdachten Rationalisierungen« zollten sie keine Anerkennung.536 Den Erfahrungswerten, auf denen die Entscheidungsfindung in der Glashütte Süßmuth bislang fußte, stellten sie die vermeintlich höhere Aussagekraft exakter Zahlen und »wissenschaftlicher« Erkenntnisse externer Berater gegenüber.537 Die geschäftsführenden Gremien wollten im Bereich der Produktion die Voraussetzungen für eine zentrale und »objektive« – das heißt sowohl von den Beschäftigten als auch vom betrieblichen Führungspersonal unabhängige – Unternehmensführung schaffen.538 Ihre Bestrebungen einer Maschinisierung im Fordʼschen Sinne, die sie aufgrund der prekären Finanzlage gleichwohl nur in sehr geringen Umfang realisieren konnten, verknüpften sie daher mit Versuchen einer »Verwissenschaftlichung« der Betriebsführung im Taylorʼschen Sinne durch eine Quantifizierung sämtlicher Vorgänge im Betrieb. Die Attraktivität dieser klassischen Rationalisierungsmaßnahmen lag darin, dass sie als vergleichsweise einfache Lösungen für komplexe Probleme erschienen. Für

534 Folgende Zitate von [Bernd Dietrich] aus Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Bernd Dietrich] und [Konrad Scholz], 14. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 1f. 535 [Weber] et al., 14. Dezember 1973 (s. Anm. 14), S. 4. 536 Zitate von Rolf Fischer, »Angst vor erhöhtem Risiko«, in: FR, 27. Juni 1970, in: AGI. 537 [Michael Wiege] zitiert Gesellschafterversammlung, 24. April 1973 (s. Anm. 183), S. 1. 538 Folgendes siehe Kapitel 7.

Die Produktion

die verheißungsvollen Versprechungen der externen Rationalisierungsexperten waren auch die Beschäftigten zunächst empfänglich. Aber die neue Maschinen-WerkzeugTechnik erwies sich als für die Fertigung in einer Mundglashütte unangemessen und wurde zum Hindernis in den Arbeitsabläufen. Die angestrebte »Verwissenschaftlichung« der Betriebsführung erzeugte einen enormen, permanent zusätzlichen Kalkulationsaufwand, der infolge der Unregelmäßigkeiten der Mundglasfertigung und der Artikelvielfalt kaum zu bewältigen war. Obwohl keine verlässliche Zahlengrundlage für eine »objektive« Bewertung von Leistung oder Effizienz vorhanden war, orientierte sich Geschäfts- und Betriebsleitung in der Entlohnung und Arbeitsorganisation zunehmend an den mit den neuen Quantifizierungpraktiken gewonnenen Informationen. Dies lancierte Fehlentscheidungen, lockerte durch die Individualisierung der Leistungsanreize den sozialen Zusammenhalt in der Belegschaft und befeuerte – nicht zuletzt weil sich hierdurch die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten immer mehr verschlechterten – vielfältige Konflikte im Betrieb. Die zunehmende organisatorische Komplexität in der Betriebs- wie Unternehmensführung verringerte insgesamt die Flexibilität in der Produktion. Die wachsenden Spannungen bestärkten die geschäftsführenden Gremien in der Annahme, eigenmächtige Beschlüsse im Zweifelsfall auch gegen den Widerstand der Beschäftigten umsetzen zu müssen. Die trotz hinzugezogener wissenschaftlicher Expertise und Investitionen in neue Produktionstechnik oder in organisatorische Reformen anhaltenden Probleme im Betrieb führten sie auf den hohen Anteil an Handarbeit und damit auf menschliche Fehler sowie schließlich auf die demokratische Entscheidungsfindung zurück. In einem zunehmend von Misstrauen geprägten Betriebsklima unterstellten sie den Beschäftigten Lohnegoismus und Leistungsrückhalt, was sie wiederum in der Überzeugung bekräftigte, dass eine zentrale Kontrolle der Produktion zur Aufrechterhaltung und Steigerung der Arbeitsdisziplin in der Belegschaft notwendig sei. Die Attraktivität technischer Lösungen und zentralisierender Organisationsreformen erhöhte sich umso mehr, als sie nicht nur Entlastung in der Betriebsführung, sondern zugleich eine geringere Abhängigkeit von den Beschäftigten versprachen, insbesondere von den Glasmachern. Diese Abhängigkeit hatte die Geschäftsleitung im Dreiofenbetrieb angesichts des branchenweiten Arbeitskräftemangels und der Zuspitzung betrieblicher Konflikte in Bedrängnis gebracht. Die sich letztlich durchsetzende Form der Rationalisierung war somit Ausdruck der sich in neuer Form konstituierenden Machtverhältnisse: Statt eine »Verwissenschaftlichung« fand auf Ebene der Betriebs- und Unternehmensführung ein Prozess der Aneignung des in der demokratischen Praxis aus den Erfahrungswerten der Beschäftigten generierten neuen Wissens statt, der zugleich mit einem Prozess ihrer »Enteignung« einherging.539 Beide Prozesse lassen sich anhand des als Rationalisierungsmaßnahme

539 Der Begriff der »Enteignung« wird in Anführungszeichen gesetzt, um eine inhaltliche Nähe zu Formen gezielter Enteignung unter Gewaltanwendung, wie sie bspw. im NS-Deutschland üblich waren, zu vermeiden. In Abgrenzung dazu ist mit »Enteignung« hier und im Folgenden das nicht (zwingend) intendierte Resultat von Entwicklungen gemeint, die aus den Dynamiken der Auseinandersetzungen hervorgingen. Siehe Kapitel 7.3. Zur Reproduktion alter Machtverhältnisse in neuer Form siehe Kapitel 8.3.

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konzipierten Zweiofenplans besonders gut veranschaulichen.540 Dessen Scheitern hatte zwar die engen Grenzen einer Aneignung des körper- und praxisgebundenen Wissens durch das Management vor Augen geführt. Die Stilllegung des dritten Ofens besaß für die geschäftsführenden Gremien im selbstverwalteten Betrieb dennoch eine immense machtpolitische Funktion: Ihre Abhängigkeit von den Beschäftigten hatte sich hierdurch parallel zu den Machtressourcen letzterer im Betrieb erheblich reduziert. In der wiedergekehrten Angst um den Arbeitsplatz mussten die Beschäftigten die anhaltende Verschlechterung ihrer Arbeits- und Lohnbedingungen akzeptieren. Die von den geschäftsführenden Gremien lancierte Rationalisierung hatte somit in den letzten Jahren der Selbstverwaltung eine »barbarische« Form angenommen.541 Die Steigerung der Produktivität resultierte zunehmend aus einer Intensivierung der Arbeit für die gesamte Belegschaft – und nicht aus fertigungstechnischen oder arbeitsorganisatorischen Rationalisierungsmaßnahmen, weil die von den externen Experten initiierten fehlschlugen und jene der Belegschaftsgremien nicht (mehr) zur Geltung kommen konnten. Ein stärkerer Leistungsdruck ging mit einer sukzessive von der individuellen Arbeitsleistung losgelösten und am Unternehmenserfolg orientierten Entlohnung einher. Der Verzicht auf die volle Auszahlung des Weihnachtsgeldes, die Ausweitung der Arbeitswoche auf sechs Tage bei gleichzeitiger Reduzierung des Arbeitstages auf sechseinhalb Stunden entwickelten sich zu beständigen Maßnahmen. Die »Enteignung« der Beschäftigten manifestierte sich damit sowohl in Form einer schleichenden Lohnreduktion als auch hinsichtlich der Verfügbarkeit über ihre Arbeitskraft. Allein diese zum Teil arbeitsrechts- und tarifvertragswidrigen Entbehrungen der Belegschaft hatten die Unternehmenskennzahlen im Laufe des Jahres 1974 kurzzeitig verbessert, was die geschäftsführenden Gremien dazu verleitete, die in der betrieblichen Praxis gescheiterte Zweiofenumstellung im Nachhinein kalkulatorisch als einen Erfolg zu verklären.542 Im Frühjahr 1975 konstatierte [Hans Müller], hinsichtlich der »Kostensituation im Betrieb [habe sich] die Stilllegung des alten Ofens III Ende 1973 und der Übergang auf die ›rollende Woche‹ mit zwei Öfen als richtig erwiesen«.543 Nach knapp einjähriger (vom Arbeitsamt bezuschusster) Kurzarbeit registrierte der Beirat im Juli 1975 mit einiger Verwunderung, dass die »Verkürzung der Arbeitszeit um 20 [Prozent]« nicht mit »einem Rückgang der Produktionsleistung in gleicher Höhe« einhergegangen war. Der Beirat fragte sich, »ob sich aus den gemachten Erfahrungen nicht unter Umständen prakti-

540 Siehe Kapitel 5.1 und Kapitel 5.4. 541 Als »barbarische« Form der Rationalisierung bezeichnet Horst Kern jene »technisch-organisatorischen Veränderungen«, die auf »eine weitere Steigerung der Produktion durch Erhöhung der Arbeitsverausgabung« abzielt. In Abgrenzung hierzu werde bei der »progressiven« Form der Rationalisierung »der Einsatz von technisch-organisatorischen Produktionsmitteln zur Erhöhung der Produktivkraft der menschlichen Arbeit genutzt«. Horst Kern, »Gewerkschaften und Rationalisierung in der Weimarer Zeit«, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 7 (1978), S. 413. 542 Entgegen der Verlustprognose der geschäftsführenden Gremien, aufgrund der sie die Belegschaft zur Akzeptanz der Kurzarbeit in einer Sechstagewoche nötigten, schloss das Jahr 1974 mit einem Gewinn ab. Siehe Kapitel 7.2. 543 Protokoll Beirat (GHS) [Version 1], 17. März 1975, in: AGI, S. 3. »Rollende Woche« meint die Wiedereinführung der Samstagsarbeit bzw. die Sechstagewoche.

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sche Konsequenzen ziehen ließen.«544 Die Überraschung über den sich in den betriebswirtschaftlichen Kennziffern positiv auswirkenden Effekt der Kurzarbeit verdeutlicht, wie wenig die betriebsexternen Beiratsmitglieder von der Fertigungsweise in der Glashütte Süßmuth verstanden. Ihre ursprüngliche Erwartung, die Steigerung der Produktivität mit einer umfassenden Senkung der Personalkosten verbinden zu können, war der arbeitskräfteintensiven Qualitätsfertigung völlig unangemessen. Die Produktionskapazitäten hätten vielmehr über eine Erhöhung der Beschäftigtenzahlen bestmöglich ausgelastet werden müssen, die jedoch ausblieb. Dass der Auslastungsgrad sich wiederum bei einer Reduktion der Produktionskapazitäten an zwei statt drei Öfen bei gleichzeitiger Flexibilisierung der Arbeitszeiten durch Kurz- und Samstagsarbeit verbesserte, war nur folgerichtig. Die »praktische« Konsequenz, die die geschäftsführenden Gremien aus dieser Erfahrung zogen, bestand indes nicht in der Anerkennung der Eigenarten der Mundglasfertigung und den Erfordernissen für deren Expansion. Vielmehr wurde die im Frühjahr 1975 aufgehobene Kurzarbeit im Sommer 1975 wieder eingeführt und im Herbst zum Zwecke »zusätzlicher Kosteneinsparung« bis zum Dezember 1975 verlängert.545 Die Neubewertung der Zweiofenumstellung zum Ende der Selbstverwaltung zeigte, dass es bei den geschäftsführenden Gremien durchaus Lernprozesse gab. Statt die ökonomische Rationalität einer demokratischen Entscheidungsfindung und den hohen Wert des Erfahrungswissens der Beschäftigten als ein für die Rationalisierung relevantes Wissen anzuerkennen, nutzten sie lediglich den rationalisierenden Effekt, den Faktor Arbeit zu flexibilisieren und an die Produktionskapazitäten wie Auftragslage anzupassen. Letzteres entwickelte sich zuletzt zur wichtigsten Rationalisierungsmaßnahme, die dem Unternehmen das ökonomische Überleben sicherte. Während die Belegschaftsgremien sich dieser (in der Mundglasbranche althergebrachten) Flexibilitätsstrategie nur zur temporären Überbrückung personeller Engpässe im Kontext einer Expansion und auf freiwilliger Basis bedient hatten, griffen die geschäftsführenden Gremien sie zur Kompensation einer (fehl-)prognostizierten Liquiditätsentwicklung bzw. der hierdurch getroffenen Fehlentscheidungen auf. Die für die Belegschaft mit Lohneinbußen verbundene und damit ungünstigste Form einer Anpassung von Arbeitszeiten und -organisation an nunmehr reduzierte Produktionskapazitäten setzten sie unter Zwang faktisch dauerhaft durch. Nur weil sie allein auf betriebswirtschaftliche Kennziffern fokussierten, konnten sie die Zweiofenumstellung im Nachhinein als erfolgreiche, kostensparende Maßnahme uminterpretieren. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie das bis dahin freiwillige Engagement, die Toleranz- und Verzichtsbereitschaft der Beschäftigten in ihre eigenmächtigen Planungen einkalkulierten, hatte Belegschaftsvertreter*innen wie [Manfred Hübner] am meisten empört.546 Er warf der Betriebs- und Geschäftsleitung vor, »an den Menschen […] überhaupt nicht mehr« zu denken.547

544 Beirat, 2. Juli 1975 (s. Anm. 111), S. 3. 545 Thesenpapier [Hans Müller], 2. Juni 1975, in: AGI; Beirat, 21. Oktober 1975 (s. Anm. 112), S. 5. 546 Folgendes Zitat von [Manfred Hübner] aus Gesellschafterversammlung, 13. November 1973 (s. Anm. 27), S. 16. 547 Ähnlich [Max Ulrich] in [Nowak] und [Ulrich], 12. November 1973 (s. Anm. 346), S. 1.

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In dem Maße, wie sich die geschäftsführenden Gremien mit ihren Rationalisierungsstrategien durchsetzten, blockierten sie – weil sich dadurch die materiellen Bedingungen der Produktion nachhaltig veränderten – jene der Belegschaftsgremien. Am Ende der Selbstverwaltung hatten sich die Erfahrungen der Süßmuth-Beschäftigten jenen von Belegschaften in konventionellen Unternehmen angenähert, in denen sich Methoden einer »Humanisierung der Arbeit« nur dann durchsetzen ließen, wenn sie den Interessen und Vorstellungen der Unternehmensleitungen entsprachen.548 Der entscheidende, für die weitere Entwicklung der Glashütte Süßmuth wirkmächtige Unterschied blieb indes die praktische Erfahrung der Belegschaft, dass ihre Beteiligung nicht allein abstrakten politischen und sozialen Ansprüchen an eine Demokratisierung und Humanisierung entsprach, sondern unmittelbar ökonomische Rationalität besaß. Frust und Enttäuschung über das Scheitern ihrer Hoffnungen auf gute Arbeit dürften daher ungleich heftiger als in Belegschaften von HdA-Unternehmen ausgefallen sein.

5.6 Zwischenfazit Im Zuge der Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth rückte der Bereich der Produktion in den Mittelpunkt der Investitionspolitik. Ein entscheidendes Defizit der Geschäftsführung Richard Süßmuths wurde damit korrigiert und der Bedeutung Rechnung getragen, die insbesondere der Instandsetzung der Schmelz- und Kühlaggregate für die Existenz des gesamten Unternehmens zukam. Trotz widriger materieller Ausgangsbedingungen vermochten es die Beschäftigten und ihre Gremien die expansiven Unternehmensziele zunächst zu erreichen. Durch kollektiv beschlossene und kontrollierte Improvisationen gelang es ihnen, die Produktivität innerhalb der ersten drei Jahre zu verdoppeln. Um die Produktionskapazitäten auslasten zu können, brauchte es eher mehr (statt weniger) Personal, das es an den Betrieb zu binden galt. Der mit der Selbstverwaltung verbundene Anspruch, die Arbeitsplätze für alle Beschäftigte zu erhalten, wie auch die darüber hinausgehenden Ziele von gerechten Löhnen und guter Arbeit entsprachen vor diesem Hintergrund einer ökonomischen Rationalität. Sowohl die Expansion der Produktion als auch die Emanzipation der Arbeitenden stießen in der Glashütte Süßmuth aber letztlich an Grenzen. Der Gewinn 1972 blieb der einzige, der nach der Belegschaftsübernahme auf einer Produktivitätssteigerung basierte.549 Keines der Ziele der Selbstverwaltung konnte dauerhaft realisiert werden. Selbst eine Arbeitsplatzgarantie als kleinster gemeinsamer Nenner war seit 1975 nicht mehr für die gesamte Belegschaft gegeben. Der Beiratsvorsitzende Franz Fabian und der kurz darauf zum Geschäftsführer berufene [Harald Meier] begannen dagegen zuletzt sogar die

548 Siehe bspw. das HdA-Projekt im VW-Werk Salzgitter (1975 bis 1977), ausgeführt von Seibring, Humanisierung (s. Anm. 529), S. 113–116. 549 Die Gewinne von 1974 und 1975 resultierten dagegen aus der kurzfristigen Kostenersparnis, die sich aus der Stilllegung eines Ofens und dem Verhängen von Kurzarbeit bei zeitgleicher Wiedereinführung der Sechstagewoche ergaben. Die Gewinne von 1977 und 1978 waren Sanierungsgewinne, die auf die Auflösung von Belegschaftsdarlehen und den Schuldenerlass zurückgingen. Siehe Tabelle 3 im Anhang; Kapitel 9.1.

Die Produktion

Ansicht zu äußern, »dass in diesem Betrieb von Mitarbeitern, zumal in der Zeit der Kurzarbeit, eigentlich zu erwarten sei, dass sie wenigstens einen Teil der verkürzt bezahlten Ausfallzeit dem Betrieb widmeten.«550 Die »Selbstverwaltung« hatte sich auf einen moralischen Appell an die Verzichts- und Leistungsbereitschaft reduziert, dem die Beschäftigten nicht mehr aus freien Stücken und in der Hoffnung auf eine zukünftige Aufwärtsentwicklung, sondern in erneuter Angst um den Erhalt des Arbeitsplatzes nachkamen bzw. nachkommen mussten. Das Potenzial der Selbstverwaltung erschöpfte sich nicht allein in der erhöhten Bereitschaft der Beschäftigten zu (unbezahlter) Mehrarbeit und zur Leistungssteigerung, im Verzicht auf Tarifleistungen oder in der Akzeptanz teils schlechter Arbeitsbedingungen. Die zunächst erfolgreiche Expansion der Produktion basierte vielmehr vor allem auf betriebsspezifischen, dem Sortiment angemessenen Rationalisierungsmethoden, die aus den neuen kollektiven Praktiken hervorgingen. Durch die Arbeit der Belegschaftsgremien, die Intensivierung des Austauschs und mitunter konfliktträchtigen Auseinandersetzungen im Arbeitsalltag wurde in der demokratischen Entscheidungsfindung das Produktionsformat der batch production berücksichtigt, das kein zeitgenössisches Rationalisierungsleitbild darstellte. Die ökonomischen Ziele der Selbstverwaltung standen folglich nicht zwangsläufig den sozialen und politischen Zielen entgegen, sondern gerieten mit diesen erst in Widerspruch, als sich die geschäftsführenden Gremien mit ihren am Produktionsformat mass production orientierten Rationalisierungsmaßnahmen durchsetzten. Das Potenzial einer die Bedürfnisse der Arbeitenden und die der Mundglasfertigung eigenen Rationalität berücksichtigenden Form der Rationalisierung blieb damit in der selbstverwalteten Glashütte ungenutzt. Die Kontroverse in der belegschaftseigenen Glashütte zeigte auf, dass die Form der Rationalisierung nicht allein eine Frage der ökonomischen Effizienz, sondern unmittelbar auch eine Machtfrage war. Mit der Belegschaftsübernahme waren die Machtverhältnisse in der Glashütte Süßmuth zwar in Bewegung geraten, sie blieben aber bis zuletzt umkämpft. Dass die geschäftsführenden Gremien trotz aller Komplikationen in der betrieblichen Praxis an ihrer auf Zentralisierung der Betriebsführung abzielenden Rationalisierungsstrategie festhielten, war nicht zuletzt den Dynamiken dieser Auseinandersetzungen geschuldet und Ausdruck ihres – auch wenn nicht expliziten – Bestrebens, von den Beschäftigten unabhängig zu werden.551 Die Rationalisierungsmethoden der geschäftsführenden Gremien wurden somit zu Instrumenten des Zurückdrängens der Demokratisierung. Zugleich verweist diese Entwicklung auf die handlungsleitende

550 Beirat, 21. Oktober 1975 (s. Anm. 112), S. 3. 551 Zur Diskussion der (expliziten oder impliziten) Bedeutung von Rationalisierung als Mittel zur Beilegung von Machtkonflikten bzw. zum Brechen der Autonomie der Arbeitenden siehe Harry Braverman, Die Arbeit im modernen Produktionsprozess, Frankfurt a.M. 1977; Siegel, Rationalisierung (s. Anm. 119); Hachtmann, Industriearbeiterschaft (s. Anm. 230); Uhl, Faktor Mensch (s. Anm. 507); Lars Bluma und Karsten Uhl, »Arbeit – Körper – Rationalisierung. Neue Perspektiven auf den historischen Wandel industrieller Arbeitsplätze«, in: Dies. (Hg.), Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper?, Bielefeld 2012, S. 9–31; Rüdiger Hachtmann und Adelheid von Saldern, »›Gesellschaft am Fließband‹. Fordistische Produktion und Herrschaftspraxis in Deutschland«, in: Zeithistorische Forschungen 2 (2009), S. 186–208.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Wirkmächtigkeit von Leitbildern des richtigen Wirtschaftens, die sich nicht allein auf den Betrieb, sondern auf das Unternehmen insgesamt bezogen. Auf Ebene der Unternehmensführung gewannen neue, branchenfremde Maßstäbe und Praktiken an Bedeutung, deren betriebliche Konsequenzen in der zurückliegenden Analyse aufgezeigt wurden und die zugleich auch als Reaktion auf die betriebliche Problem- und Konfliktlage zu interpretieren sind.552 Hatten sich die Auseinandersetzungen anfangs auf die Rationalisierung im Betrieb konzentriert, so rückte zum Ende der Selbstverwaltung zunehmend der Bereich des Vertriebs und der Vermarktung in den Mittelpunkt. So ließ der RKW-Berater [Michael Wiege] nach Abschluss seiner fehlgeschlagenen Lohnreform die Gesellschafterversammlung wissen, dass es »der Glashütte wenig oder gar nichts [nütze], wenn sie einen rationellen Arbeitsablauf besitzt, sich die Produktionszahlen von Monat zu Monat erhöhen, das Fertiglager sich füllt – und der Abnehmerkreis fehlt.«553 Die »Investitionspolitik der Zukunft [müsse] auf den Markt und nicht so sehr auf die Produktion gerichtet sein. Habe ich genügend Abnehmer, dann lösen sich die produktionstechnischen und finanzpolitischen Probleme fast von selbst.« Diese sich auch in den geschäftsführenden Gremien verstärkende Annahme, die Herausforderungen in Produktion, Verwaltung und Vertrieb auseinanderdividieren und getrennt voneinander bewältigen zu können, war Ausdruck einer fatalen Unterschätzung derselben, wie im Folgenden weiter aufzuzeigen ist.

552 Siehe Kapitel 7. 553 Folgende Zitate von [Michael Wiege] an Gesellschafterversammlung (GHS), 14. Juni 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 2.

6. Von der Guten Form zur demokratischen Form? Die Produkte

In jenem feierlichen Zeremoniell vom 17. März 1970 trat der Unternehmensgründer Richard Süßmuth nicht nur sein »Werk, sondern auch einen weltweit bekannten Namen« an die Belegschaft ab und verpflichtete sie darauf, ihm »Ehre« zu machen.1 Der Betriebsratsvorsitzende [Gerhard Schinkel] gab ihm damals stellvertretend für alle Beschäftigten sein Wort, »dass wir den Namen Süßmuth so weit in die Welt tragen werden wie bisher und auch diese Qualitätserzeugnisse weiter führen werden.«2 Dieses Versprechen war keinesfalls nur rhetorisch. Die eingeführte Qualitätsmarke Süßmuth galt nicht nur Geldgebern und Bürgen, sondern auch weiten Teilen der Belegschaft und des neuen Leitungspersonals als entscheidender Garant für den zukünftigen Erfolg des selbstverwalteten Unternehmens; als ein »Marktwert«, den »man […] erhalten muss.«3 Anlässlich Richard Süßmuths Tod im März 1974 erneuerten »Gesellschafter, Geschäftsleitung, Betriebsrat und Mitarbeiter« in ihrer Traueranzeige das einstige Versprechen, dass sein Name »immer mit der Glashütte verbunden bleiben wird.«4 Der »gute Ruf« sowie die bestehenden Absatzbeziehungen gewährten dem Belegschaftsunternehmen günstige Ausgangsbedingungen. Für die Praxis der Selbstverwaltung war Süßmuths Erbe dennoch ein ambivalentes. Eine produktstrategische Neuausrichtung war – wie bereits die Krisenanalyse verdeutlichte – nicht in erster Linie eine Frage der Ästhetik der Produkte, sondern vor allem musste das Sortiment an die sich wandelnden Bedingungen im Betrieb, Vertrieb und

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Typoskript »Worte an meine Mitarbeiter«, Rede Richard Süßmuth auf der Belegschaftsversammlung, 17. März 1970, in: FHI, Schöf-1221, S. 1. Typoskript »Eigentum verpflichtet«, Ulrich Happel für Panorama (ARD), 6. April 1970, in: Privatarchiv Siebert, S. 2. Firmenbeschreibung GHS für Kaufinteressierte, Mai 1969, in: FHI, Schöf-1222, S. 2; Interner Schriftverkehr HMdI, 28. Juli 1969, in: FHI, Schöf-1222, S. 2f.; Transkript Interview der Autorin mit [Manfred Hübner], 11. Juni 2013, im Besitz der Autorin, S. 9; [Gerhard Schinkel] in »Der neue Weg der Glashütte Immenhausen. Podiumsrunde befasste sich mit der Sanierung und künftigen Form des Unternehmens«, in: Hessische Allgemeine, 21. März 1970, in: AGI. Traueranzeige Richard Süßmuth, 14. März 1974, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Konsum angepasst werden.5 Eine veränderte Auftrags- und Lagerpolitik des Fachhandels wie auch die Expansion in der Produktion erhöhten den Druck, neue Absatzmöglichkeiten zu erschließen. Auf Vertriebswegen neben dem Fachhandel war eine (neue) Kundschaft anzusprechen, über die nur wenige Informationen vorlagen und deren Konsumbedürfnisse sich – so zumindest die Annahme – veränderten bzw. ausdifferenzierten. Nach der Belegschaftsübernahme blieben – im Zusammenhang mit den konträren Vorstellungen von der betrieblichen Rationalisierung – auch Neuerungen in Gestaltung, Verkauf und Vermarktung der Produkte umstritten. Mit dem Ansatz, die Produkte in der historischen Analyse als Kommunikationsmedien ernst zu nehmen,6 gilt es im Folgenden zu erörtern, inwiefern sich die Praxis der Selbstverwaltung in den Produkten niederschlug. Welche Rolle spielte im selbstverwalteten Unternehmen die Gute Form, der sich Richard Süßmuth als künstlerischem Leitbild zeitlebens verpflichtet fühlte? Welche Bevölkerungsgruppen sprach die belegschaftseigene Glashütte mit ihren Erzeugnissen an? Inwiefern wurde Süßmuthglas zu einem Multiplikator der politischen Forderung nach einer Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft?

6.1 Die Produkte und das Sortiment Das Angebot im Überblick Wirtschaftsglas Der Produktbereich Wirtschaftsglas machte weiterhin den größten Teil des Sortiments der Glashütte Süßmuth aus.7 Bereits in der zweiten Jahreshälfte 1969 fanden die ersten neuen, nicht von Richard Süßmuth entworfenen Produkte den Weg ins Sortiment. Diese Artikel gingen zum Teil auf kollektive Gestaltungsprozesse zurück, in denen die Beschäftigten mit eigenen oder weiterentwickelten Gestaltungsentwürfen und -techniken experimentierten. Unterstützung erhielten sie hierbei »von Organisationen und Persönlichkeiten von Rang und Namen auf den Gebieten Design und Verkaufsförderung«, die sich »zu einer kostenlosen Mitarbeit und Mithilfe« bereit erklärt hatten.8 Zu den erfolgreichsten dieser kollektiv gestalteten Produkte gehörte die aus einem Experiment einiger Glasmacher entstandene Becherglasserie Meteor, die sich zu einem Verkaufsschlager entwickelte und bis zum Konkurs des Unternehmens im Jahr 1996 im Sortiment blieb.9

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Siehe Kapitel 1.1 und Kapitel 1.6. Siehe Rainer Gries, Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR, Leipzig 2003. Der Anteil von Wirtschaftsglas am Gesamtumsatz ging von über 80 Prozent (Ende der 1960er Jahre) auf knapp 70 Prozent (1975) zurück, was auf die Expansion im Bereich Beleuchtungsglas zurückzuführen war. Folgende auf die Umsatzentwicklung bezogene Angaben aus Betriebswirtschaftliche Kennziffern (GHS), 1970–1975, in: AfsB, Bestand IG Chemie und AGI. Übersicht Organisation der GHS, undatiert [September 1970], in: AGI, S. 6; Wir, »süßmuth erfolgreich«, in: Die Schaulade, Oktober 1970, in: FHI, Schöf-1221, S. 1726. [Hübner], 11. Juni 2013 (s. Anm. 3), S. 9; Transkript Interview der Autorin mit [Ingrid Buchholz], 19. März 2014, im Besitz der Autorin, S. 11f. Siehe Preislisten (GHS), 1971–1995 in: AGI.

Die Produkte

Dies traf auch für die Becherglasserie Rustica zu, die auf einen Entwurf des Designers Florian Seiffert zurückging.10 Ebenso arbeiteten die Gestalterin Gerda Heuckeroth und weitere namentlich nicht bekannte Angehörige der nahegelegenen Hochschule für bildende Künste Kassel unentgeltlich mit der Belegschaft zusammen.11 Die Urheberschaft der hierbei entwickelten Produkte wurden in den Werbematerialien entweder gar nicht oder als »Hüttendesign« ausgewiesen und nach der Selbstverwaltung auf das »Atelier Süßmuth« zurückgeführt.12 Auch die Vasenserie Polaris, die Kelchglasserie Bistro sowie die Becherglasserie Baden-Baden wurden unter diesen Bezeichnungen verkauft.13 Die aus der experimentellen Phase während und unmittelbar nach der Betriebsübernahme hervorgegangenen neuen Kollektionen seien auf den Herbst- und Frühjahrsmessen 1970 und 1971 »ein voller Erfolg« gewesen.14

Abbildung 15: Becherglasserie Meteor

Quelle: Preisliste der Glashütte Süßmuth (1972), in: AGI

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Protokoll Telefonat der Autorin mit Florian Seiffert, 28. April 2017, im Besitz der Autorin. Florian Seiffert war damals für die Frankfurter Werbeagentur Wir tätig. Siehe Kapitel 3.3. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Werner Schepoks, 1. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 2. Der Name von »Frau Heuckeroth« ist allein im Untersuchungsbericht der RKW-Berater erwähnt. Bericht RKW Hessen über die Betriebsberatung der GHS, 18. Februar 1972, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 14. Aufgrund dieser Unbestimmtheit existieren zum Teil sehr unterschiedliche und einander widersprechende Erinnerungen an die Urheberschaft dieser kollektiv gestalteten Produkte. Während Polaris und Bistro offensichtlich nur 1970 und 1971 verkauft wurden, blieb Baden-Baden bis Mitte der 1980er Jahre im Sortiment. Fritz Seibert, »Der Sieg in der Glashütte. In Immenhausen übernehmen Arbeiter ihren Betrieb«, in: Unsere Zeit, 26. März 1970, in: AGI. Nach der Herbstmesse 1970 habe die Firma eine 100-prozentige Umsatzsteigerung erzielt. Infolge der Frankfurter Frühjahrsmesse 1971 habe sich der Auftragseingang um 54 Prozent gesteigert. Im Export sei die Zuwachsrate noch höher gewesen. Glashütte Süßmuth GmbH, »Süssmuthglas. Erfolgreich auf der ganzen Linie«, in: Porzellan+Glas, Oktober 1970, in: FHI, Schöf-1221; [Jürgen Schmitz] in Kleine Zeitung der GHS [später Hüttenecho], 29. März 1971, in: AGI, S. 3; Hüttenecho. Zeitung der Belegschaft der GHS, 9. Oktober 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 2f.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Darüber hinaus prägten die von Hans Theo Baumann entworfenen Produkte das Angebot der selbstverwalteten Glashütte. Die Verbindung zu dem bereits damals namhaften Industriedesigner ging noch auf Richard Süßmuth zurück, der mit ihm Ende der 1960er Jahre eine zukünftige Zusammenarbeit vereinbart hatte. Die ersten Entwürfe Baumanns für die Glashütte Süßmuth stammen aus dem Jahr 1968 und gingen spätestens 1969 in die Serienproduktion.15 Im Oktober 1970 wurden auf der Herbstmesse »[m]oderne Vasenformen des Erfolgsdesigners Baumann« präsentiert.16 In den darauffolgenden Jahren kamen mit Kassel (1971), Auslese (1973) sowie Rondos (1973) drei sehr erfolgreiche von ihm entworfene Kelchglasserien ins Sortiment. Zusammen mit der Krugserie Sangria gehörten diese bis zum Konkurs zum Standardprogramm der Glashütte Süßmuth. Das Angebot von Wirtschaftsglas wurde bis 1972 von ungefähr 1.500 auf 500 Artikel reduziert, wovon nur noch die Hälfte auf frühere Entwürfe von Richard Süßmuth zurückging.17 Sämtliche von ihm entwickelte Kelchglasserien – darunter auch die 1954 von der Triennale in Mailand prämierte AE-Serie als dem bisherigen Verkaufsschlager der Firma – wurden bis 1975 sukzessive aus dem Sortiment gestrichen.18 Bis dahin blieben mit der Serie AE (Triennale), der Serie AG (Tradition), der Serie AO (Penzig) sowie der Serie AD (Strohhalm) nur vier Kelchglasserien von Süßmuth im Sortiment.19 Mit Capitol wurde eine seit Ende der 1960er Jahre nicht mehr produzierte Becherglasserie wieder ins Programm aufgenommen. Zusammen mit den Krugserien Standard und Klassik sowie den Schalen- und Tellersets Windsor, Oslo und Görlitz bildeten diese Produktserien ein kleines Programm an Süßmuth-Klassikern, die ebenfalls bis 1996 fester Bestandteil des Sortiments blieben. In den Jahren 1974 und 1975 setzte schließlich eine Entwicklung ein, die sich forciert unter dem Geschäftsführer [Harald Meier] fortsetzen sollte: Mit einer nunmehr erhöhten Frequenz von Produkt- und Sortimentswechseln begann die Firma Entwürfe von neuen und weniger bekannten Gestalter*innen zu produzieren. In dieser Zeit fanden Artikel der Industriedesigner*innen Christel und Christer Holmgren sowie Jørgen Kas-

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Investitions- und Verkaufsplan des »wissenschaftlichen Teams«, 25. August 1969, in: FHI, Schöf-1222, S. 5. Porzellan+Glas, Oktober 1970 (s. Anm. 14). RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 11), S. 17. Die Angaben über den Umfang des Sortiments vor und nach der Belegschaftsübernahme schwanken zwischen 960 bis 1.500 Artikel vor und zwischen 416 und 550 Artikel nach der Sortimentsbereinigung, was der offensichtlich nur schwer überschaubaren Artikelvielfalt und dem prozesshaften Charakter dieser Maßnahme geschuldet sein dürfte. Florian Fischer, Die Arbeit in der selbstverwalteten Glashütte. Für die Arbeiter kein Fortschritt. Eine Fotodokumentation und Kritik falscher Erwartungen, Selbstverlag, 1974, in: FHI, Schöf-1194, S. 10f.; Christian Hülsmeier, »Die rote Hütte ist so rot nicht mehr. Das ›Modell Süßmuth‹. Erfolgreich auf Kosten der Selbstverwaltung«, in: Vorwärts, 18. Februar 1982, in: AGI; [Michael Wiege] an Beirat (GHS), 14. März 1973, in: FHI, Schöf-1226. Zehn von zwölf im Katalog von 1969 noch angebotenen Kelchglasserien wurden in der Preisliste 1971 als auslaufende Modelle markiert. Preisliste (GHS), 1971, in: AGI. In der Preisliste 1974 wurde das Auslaufen sämtlicher Kelchglasserien von Richard Süßmuth bis Ende 1975 angekündigt. Preislisten (GHS), 1973 und 1974, in: AGI.

Die Produkte

tholm Eingang ins Sortiment. Mit Petr Horák wurde im Februar 1975 ein junger Künstler fest eingestellt.20

Veredelung von Wirtschaftsglas Die Bedeutung der arbeitsintensiven Veredelung durch Schliff und Gravur nahm nach der Belegschaftsübernahme weiter ab bzw. ging bereits zu diesem Zeitpunkt kaum noch über Auftragsarbeiten hinaus.21 Zugleich gewann die in die Stoffgewinnung sowie in die Ur- und Umformung am Ofen integrierte heiße Dekoration für die Serienproduktion an Relevanz. Ähnlich wie bei der Kaltveredelung ergab sich hierbei eine Möglichkeit, Qualitätsmängel auszugleichen und die Artikel dennoch zu höheren Preisen zu verkaufen.22 Nachdem in der Preisliste 1971 gar keine Dekore aufgeführt wurden, überwogen in den Preislisten 1972 bis 1975 solche, die im Zuge der Glasschmelze oder direkt bei der Formung vor dem Ofen durch die Glasmacher erfolgten.23 Hierbei handelte es sich um Craquelé- und Rauchglasdekore, wie sie bereits unter Richard Süßmuth üblich waren. Dekore durch Eindrückungen oder Einlassungen von Luftblasen in den noch heißen Glasartikel wurden dagegen ebenso wie farbiges Glas in Kobaltblau und Russischgrün von der Glashütte Süßmuth während der Selbstverwaltung zum ersten Mal angeboten. In den Jahren 1971 und 1972 wurden beispielsweise Baumanns Kelchglasserien Pisa und Kassel mit farbigem Stiel und Fuß auf den Markt gebracht. Bereits 1973 waren diese farbigen Wirtschaftsglasartikel trotz großer Nachfrage wieder aus dem Sortiment verschwunden, was mit den Problemen in der Fertigung zusammenhing.24

Geschenkartikel Die Etablierung eines Angebots von Geschenkartikeln als eigenständige Produktgruppe im Bereich Wirtschaftsglas nach der Belegschaftsübernahme ging mit dem Aufbau neuer Absatzbeziehungen einher. Ein Teil der Artikel aus der Serienproduktion wurde hierfür umgewidmet und durch Gravur oder andere Veredelungstechniken individuell an die Kundenwünsche angepasst. Geschenkartikel für Werbe- oder private Zwecke konnten damit im direkten Kundenkontakt auch außerhalb des Fachhandels verkauft werden. Waren Geschenkartikel im Sortiment von Richard Süßmuth eher ein Randphänomen, so bestand in diesem Bereich enormes Wachstumspotenzial, auf das Branchenvertreter*innen seit Ende der 1960er Jahre hinwiesen.25 In diesen Markt einzutreten, sah be-

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Protokoll Beirat (GHS) [Version 2], 17. März 1975, in: AGI, S. 1. Siehe Kapitel 9.2. Laut dem Abteilungsleiter [Josef Lehmann] sei die Feinschleiferei der GHS zur Zeit der Belegschaftsübernahme »bereits bedeutungslos« gewesen. Protokoll Gespräch mit [Josef Lehmann] und [Johann Elze], 4. Januar 1994, erstellt von Friedrich-Karl Baas, in: AGI, S. 2; Gerhard Braun, Reiner Etz und Klaus Volkenborn (Reg.), Süssmuth e.V. Drei Jahre Selbstverwaltung (Dokumentarfilm), 1973, Online: https://dffb-archiv.de/dffb/suessmuth-ev-drei-jahre-selbstverwaltung. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Willi Voigt], 11. Oktober 1973, im Besitz der Autorin, S. 2; [Walter Albrecht] in Walter Scheiffele, Wilhelm Wagenfeld und die moderne Glasindustrie. Eine Geschichte der deutschen Glasgestaltung von Bruno Mauder, Richard Süssmuth, Heinrich Fuchs und Wilhelm Wagenfeld bis Heinrich Löffelhardt, Stuttgart 1994, S. 263. Preislisten (GHS), 1972–1975, in: AGI. Siehe Kapitel 6.3. Protokoll Bundesausschuss Wirtschaftsglas, 22. Februar 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 7, S. 1.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

reits das von [Hans Müller] im Sommer 1969 ausformulierte Sanierungskonzept vor.26 Im Herbst 1970 begann der neue Vertriebsleiter [Stefan Kurtz] mit der Entwicklung »eine[r] umfangreiche[n] Kollektion von geschenkverpackten Artikeln«.27 Geschenkartikel seien »ein lukratives Geschäft« gewesen, das wesentlich zur Stabilisierung des Unternehmens beigetragen habe.28 Dieser Produktbereich war der einzige, in dem der Handel relativ kontinuierlich Aufträge erteilte.29

Beleuchtungsglas Wurde Beleuchtungsglas in der Glashütte Süßmuth bislang in nachgeordneter Priorität und nur auf Auftrag einzelner Unternehmen der Metallwarenindustrie gefertigt,30 erfuhr dieser Bereich in den Jahren nach der Belegschaftsübernahme eine Ausweitung. Zwischen 1968 und 1974 hatte sich der Anteil von Beleuchtungsglas am Inlandsumsatz nahezu verdoppelt.31 [Stefan Kurtz] erkannte hier »erhebliche Ausdehnungsmöglichkeiten« und prognostizierte »gute Erträge«.32 Zur Expansion der Beleuchtungsglasproduktion kam es sanierungsbedingt indes erst nach seiner Entlassung.33 Unter dem seit im Frühjahr 1971 geschäftsführenden Ausschuss begannen die Belegschaftsvertreter*innen mit der Neuausrichtung dieses Produktbereichs.34 Zusammen mit dem neuen Hüttenund Schmelzmeister [Leo Böhm] bereiteten sie den Einstieg in die Produktion von Überfang-Beleuchtungsgläsern vor. Bei der Überfangtechnik wurde der Kölbel während der Urformung mehrmals in unterschiedliche Glasschmelzen eingetaucht. Hierdurch konnten Glaskörper mit verschiedenfarbigen, übereinander liegenden und miteinander verschmolzenen Glasschichten gefertigt werden.35 In dieser Technik wurde auch Opalglas – eine milchig-weiße Glasart – verarbeitet. Als der Kategorie Trübgläser zugehörig, eignete sich Opalglas aufgrund der Eigenschaften, ein lichtstreuendes, robustes und korrosionsbeständiges Glas zu sein, insbesondere für die Verwendung als Beleuchtungsglas.36 Die Fertigung war aber sehr herausfordernd, denn die verschiedenen Glasarten

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Unternehmenskonzeption [Hans Müller], undatiert [Juli 1969], in: Privatarchiv [Müller], S. 3f. Protokoll Beirat (GHS), 18. Dezember 1970, in: AGI, S. 2. Protokoll Gespräch mit [Walter Albrecht], 15. Juli 1993, erstellt von Friedrich-Karl Baas, in: AGI, S. 3. Protokoll Beirat (GHS), 30. Mai 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 5. Firmenbeschreibung, Mai 1969 (s. Anm. 3), S. 3f. Der Anteil von Beleuchtungsglas am Inlandsumsatz stieg von 17,5 Prozent (1968) auf ungefähr 31 Prozent (1974), sank 1975 auf 28 Prozent und nahm unter der Geschäftsführung von [Harald Meier] wieder zu. Beirat, 18. Dezember 1970 (s. Anm. 27), S. 2. Handschriftliches Protokoll (Vitt) Außerordentliche Beiratssitzung (GHS), 20. April 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 3. Ende der 1960er Jahre hatte auch Richard Süßmuth mit dahingehenden Planungen begonnen, die er aber nicht mehr realisieren konnte. Siehe Richard Süßmuth an HLT, 10. Juli 1967, in: FHI, Schöf-1223.; Kapitel 1.6. Siehe Helmut A. Schaeffer und Margareta Benz-Zauner (Hg.), Hohlglas, München 2010, S. 40, 168–171; Peter Willett, Die Glasindustrie in der Bundesrepublik Deutschland, Mainz 1998, S. 387. Durch Kaltveredelungstechniken (Schleifen oder Ätzen) erhielten diese Glasartikel ein mitunter kontrastreiches Dekor. Ingolf Bauer, Glas zum Gebrauch, Ostfildern-Ruit 1996, S. 29. Wolfgang Kerner, »Opalglas. Wirtschaftliche Bedeutung und Schmelze in einer Elektrowanne«, in: Glastechnische Berichte 11 (1979) S. 237f.

Die Produkte

der übereinander liegenden Schichten mussten »den gleichen Ausdehnungskoeffizienten besitzen«, um einem Zerbrechen während der Kühlung vorzubeugen.37 Schon geringe Abweichungen konnten zur Unbrauchbarkeit des Glases führen, weshalb eine ständige Überwachung und Korrektur der Gemenge-Zusammensetzung und Schmelze erforderlich war.38 Opal-Überfangglas konnte zum damaligen Zeitpunkt nur im manuellen Verfahren produziert werden und zwar in einer Technik, die in den 1970er Jahren »relativ selten geworden« war.39 Die Nachfrage war dementsprechend groß.40 In den ersten Jahren der Selbstverwaltung konnten hierüber eine »Vielzahl neuer Kunden gewonnen« werden.41 Im Laufe des Jahres 1972 griffen Geschäftsführer [Hans Müller] und Vertriebsleiter [Jürgen Schmitz] den »Vorschlag des Kollegen [Franz] Fabian« auf, komplettierte Leuchten selber herzustellen und zu verkaufen, anstatt nur die Gläser an Beleuchtungsfirmen zu liefern.42 Über den Versuch mit zwei Lampenarten hinaus konnte ein solches Angebot während der Selbstverwaltung jedoch nicht ausgeweitet werden, da hierfür weder die technischen Voraussetzung im Betrieb noch die personellen Kapazitäten im Vertrieb und damit insgesamt die finanziellen Mittel im Unternehmen nicht zur Verfügung standen bzw. gestellt wurden.43 Seit 1973 verursachten Produktion und Absatz von (Opal-)Beleuchtungsglas zudem einige Probleme. Die Fehlproduktion nahm in diesem Bereich (ebenso wie bei der Fertigung von farbigem Wirtschaftsglas) – infolge der unterlassenen Erneuerung von Ofen III, dem hiermit im Zusammenhang stehenden Weggang des Opalglasexpertens [Böhm] sowie der problematischen Zweiofenumstellung – zu, so dass

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Regina Welk, »Herstellung von mundgeblasenem Beleuchtungsglas«, in: Lichttechnik 12 (1977) in: Privatarchiv Siebert, S. 493. Kerner, Opalglas (s. Anm. 36). Der Fertigung von Farb- und Opal-Überfangglas zollte Erich Eisch bei einem Besuch der GHS 1976 seine Anerkennung, die bei ihm nicht »geklappt« habe und »auch [die Glashütten] Poschinger und Peill [hätten] da Probleme« gehabt. Ebenso erinnerten sich die Glasmacher des Kristallglaswerks Buder an das in der GHS produzierte bunte Opalglas als »eine tolle Sache«. Notiz [Harald Meier], 30. September 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen; Transkript Gruppeninterview der Autorin und Detlev Herbst mit Rudolf Raimann, Karl-Heinz Bolz und Siegfried Baumer, 27. Mai 2013, im Besitz der Autorin, S. 36; Siehe auch Kerner, Opalglas (s. Anm. 36); [Buchholz], 19. März 2014 (s. Anm. 9), S. 11. Der hohe Auftragsbestand führte zum Teil zu Lieferengpässen. Bericht des für den Inlandsvertrieb von Beleuchtungsglas zuständigen Angestellten [Johann Elze] in Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 3. Mai 1971, in: AGI, S. 1; Situationsbericht Geschäftsführung (GHS), 22. Oktober 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 10. [Jürgen Schmitz] zitiert in Protokoll Beirat (GHS), 12. Oktober 1972, in: FHI, Schöf-1227, S. 3. [Hans Müller] zitiert in Ebd., S. 5. Die »Prüfung der Möglichkeiten, komplette Raumleuchten anzubieten«, sah auch [Müllers] im Sommer 1969 ausformulierter Sanierungsplan vor. [Müller], [Juli 1969] (s. Anm. 26), S. 4. Für ein »umfangreicheres Angebot« hätte laut [Hans Müller] dem Betrieb »eine kleine Metallwarenfabrik angegliedert werden« und im Vertrieb zusätzliches Personal eingestellt werden müssen. Denn um Absatzmöglichkeiten für komplettierte Leuchten zu erschließen, müsste die Firma selbst den Kontakt zu »Einrichtungshäusern« aufnehmen, da diese nicht in den Zuständigkeitsbereich der Handelsvertreter*innen für Wirtschaftsglas fielen. Beirat, 12. Oktober 1972 (s. Anm. 41), S. 5; Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 21. Dezember 1972, in: FHI, Schöf-1227, S. 2.

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die an sich hohe Rentabilität dieses Produktbereichs sank. Im ersten Halbjahr 1973 hatten eben jene Leuchten-Unternehmen ihre Aufträge reduziert, mit denen der Vertriebsleiter [Stefan Kurtz] die Zusammenarbeit begonnen bzw. ausgeweitet hatte.44 Habe die Firma diesen Auftragsrückgang mit der Frühjahrsmesse desselben Jahres kompensieren können, musste [Müller] zwei Jahre später erneut geringere Aufträge im Bereich Beleuchtungsglas konstatieren, die er in einen Zusammenhang mit dem »Nachlassen der Baukonjunktur« stellte.45

Flachglas »[I]nfolge der unsicheren Lage« waren seit Beginn 1970 in der Flachglasmalerei keine Bestellungen mehr eingegangen.46 Mit Richard Süßmuths Rücktritt waren die Flachglasaufträge von Kirchen abrupt weggefallen, da diese unmittelbar an seine Person als Glaskünstler (und katholischer Vertriebenenpolitiker) gebunden waren.47 Die Nachfrage nach aufwendig gestalteten und hochpreisigen Fenstern für kirchliche wie profane Gebäude war bereits vor der Belegschaftsübernahme rückläufig gewesen, was – da die Gewinne dieser Abteilung den Wirtschaftsglasbereich mitunter subventionierten – ein gewichtiger Grund für die finanziellen Probleme des Unternehmens war. In der nunmehr in die Glashütte Süßmuth eingegliederten Flachglasabteilung waren folglich neue Schwerpunkte zu setzen. Der abteilungsleitende Glasmaler [Frank Weber] entwickelte hierfür Ideen und formulierte Vorschläge, »wie allmählich so eine [Flachglas-]Werkstatt auf andere Gebiete umfunktionier[t]« werden könnte.48 Dahingehende Überlegungen wurden von außenstehenden Gutachtern während der Betriebsübernahme positiv bewertet und vom neuen Führungspersonal zunächst aufgegriffen. Das »wissenschaftliche Team« prognostizierte im Sommer 1969 insbesondere dem von Richard Süßmuth entwickelten und von der Firma patentierten Diastralglasverfahren, womit Flachglasplatten künstlerisch miteinander verschmolzen wurden, gute Preise und »aufsteigende Absatzchancen«.49 Kleinere Flachglasartikel wie Wandbilder oder Fensteraufhänger konnten hiermit für eine kunsthandwerklich interessierte Kundschaft gefertigt und im Oktober 1970 in Form einer neuen »Kunst-Glas-Kollektion« angeboten werden.50 Unter dem Vertriebsleiter [Stefan Kurtz] wurde zudem mit der Entwicklung von »Element-Bausteinen«

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Siehe Kapitel 6.2. Stellungnahme [Hans Müller], 12. Juni 1973, in: AGI, S. 1; Protokoll Beirat (GHS) [Version 1], 17. März 1975, in: AGI, S. 2. [Stefan Kurtz] zitiert in Beirat, 18. Dezember 1970 (s. Anm. 27), S. 2. Richard Süßmuth wurde zugestanden, »bis zur Abwicklung der laufenden Aufträge […] seine selbstständige Firma Werkstätten Richard Süssmuth Glaskunst« weiterführen zu dürfen. Er musste sich aber zur anschließenden »Löschung dieser Firma« verpflichten und war »lediglich noch berechtigt, unter seinem Namen Kirchenfenster zu produzieren bzw. zu vertreiben.« Urkunde vorläufiger Vertrag zwischen Richard Süßmuth und Belegschaft, 23. März 1970, in: FHI, Schöf-1221, S. 3. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Frank Weber], 26. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 2f. Wissenschaftliche Team, 25. August 1969 (s. Anm. 15), S. 3; Ebenso [Müller], [Juli 1969] (s. Anm. 26), S. 4. Porzellan+Glas, Oktober 1970 (s. Anm. 14).

Die Produkte

begonnen, die Veredelung von farbigem Flachglas sollte dabei erstmals mit der Verarbeitung der Materialien Gips und Beton kombiniert werden.51 Trotz der vielversprechenden Absatzprognosen wurde die Flachglasabteilung Ende 1971 vollständig aufgelöst. Diese Entscheidung stand im Zusammenhang mit der zeitgleich erfolgten Entmachtung der Belegschaftsgremien durch den Beirat, dem die unrentabel gewordene Abteilung entbehrlich schien.52 Allein [Frank Weber] versuchte in den folgenden Jahren neben seiner Festanstellung in der Glashütte die Flachglasveredelung »etwas am Leben zu erhalten«.53 Weil er in diesem Produktbereich ungenutztes Wachstumspotenzial sah, tat ihm das leerstehende Atelier in der Süßmuth-Villa »weh«. Er pachtete es und bearbeitete hier in seiner Freizeit als selbstständiger Künstler und auf eigene Rechnung Aufträge von Architekten.

Die Kontroverse Mit dem Ausscheiden des Glaskünstlers Richard Süßmuth entstand sowohl ein personelles als auch ein organisatorisches Vakuum in der Produktentwicklung, die bis dahin im alleinigen Verantwortungsbereich des früheren Eigentümers lag. Beratungen über die künftige Produkt- und Angebotsentwicklung fanden nach der Belegschaftsübernahme in einem sehr viel breiteren Personenkreis statt. An die Stelle der von Süßmuth bis dahin exklusiv getroffenen Entscheidungen traten neue Kommunikationspraktiken, in denen Vorschläge »aus der eigenen Entwicklung« und von professionellen Gestalter*innen mit der »Marktinformation« aus der Vertriebsabteilung und dem Handel abgeglichen wurden.54 Produkt- und sortimentsbezogene Entscheidungen wurden während der Selbstverwaltung folglich nicht leichtfertig getroffen, womit deren für das Unternehmen existenziellen Bedeutung Rechnung getragen wurde. Die aufgezeigte Angebotsentwicklung war allerdings das Resultat durchweg kontroverser, mitunter sehr heftig verlaufender Auseinandersetzungen über die Neuausrichtung der Produktgestaltung und Sortimentszusammensetzung. Hierbei standen sich vier verschiedene Strategien gegenüber, die im Folgenden in chronologischer Gliederung ihrer Praxisrelevanz herauszuarbeiten sind.

Strategie kollektiver Gestaltungsexperimente Im Zuge der Betriebsübernahme eröffneten sich Angehörigen der Belegschaft neue Möglichkeiten für kollektive Gestaltungsexperimente, wobei sich – begünstigt durch ihre Position im Fertigungsprozess – insbesondere Glasmacher hervortaten. Die erfolgreiche Serie Meteor war aus einem solchen Experiment hervorgegangen. In Abänderung 51

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Unter der Bezeichnung »Vari-Color 2000« sollte diese neue Produktgruppen neben Glasbausteinen auch »Glaskunst-Türen« umfassen. Beirat, 18. Dezember 1970 (s. Anm. 27), S. 2; Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 14. März 1971, in: AGI, S. 1f.; [Weber], 26. August 1973 (s. Anm. 48), S. 1. Die betriebsexternen Beiratsmitglieder hatten den Weiterbetrieb der Flachglasabteilung bereits im Frühjahr 1971 infrage gestellt. Beirat, 20. April 1971 (s. Anm. 33), S. 3; Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 5. Juli 1971, in: AGI, S. 2. Folgendes aus [Weber], 26. August 1973 (s. Anm. 48). RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 11), S. 14.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

eines Entwurfs von Richard Süßmuth hatten die Glasmacher den dickwandigen Glasboden des noch heißen Artikels dreimal mit einer Zange eingedrückt. In nur wenig aufwendigen Arbeitsschritten war ein neues Dekor entstanden, das zwar den Strukturelementen dickwandiger Glasartikel ähnelte, wie sie damals auch von anderen Mundglashütten angeboten wurden.55 Mit der ungewöhnlichen Bodenquetschung, die Hans See an Eiswürfel erinnern ließ, hob sich Meteor dennoch von der Konkurrenz ab.56 Im Versuch, den zeitgenössischen Geschmack potenziell neuer Konsument*innen zu antizipieren, brachten die Glasmacher zugleich ihre eigenen Ansprüche an den Glasgebrauch mit ein. Meteor-Trinkgläser waren weniger ausdifferenziert wie Süßmuths Kelchglasserien, die Whiskey-, Schnaps-, Bier- und Allzweckgläser sprachen tendenziell eine Kundschaft aus der Arbeiterschaft an. Sukzessive erweitert wurde diese Serie in den folgenden Jahren vor allem im Geschenkartikel-Bereich. Mit Standuhr, Feuerzeug, Aschenbecher, Bleistiftbehälter, Zigarettendose bis hin zur Tischlampe gehörten 1972 bereits über 35 Artikel dazu.57 Ebenfalls aus einem kollektiven Experiment unter Glasmachern entstand eine Beleuchtungsglasform, die im Export »ein Hammer« gewesen sei.58 Zudem formulierten sie Vorschläge zur Abänderung bestehender Entwürfe, um diese besser bzw. mit geringerer Fehleranfälligkeit fertigen zu können.59 Entwürfe für neue Produkte kamen darüber hinaus vom Exportleiter [Volker Lange], der solche bereits früher »hinter dem Rücken von Richard Süßmuth« entwickelt habe.60 Neben der Neuausrichtung der Flachglasabteilung engagierte sich [Frank Weber] im Bereich der Produktentwicklung, er setzte sich offensichtlich bei der Geschäfts- und Vertriebsleitung für die Realisierung von Produktvorschlägen aus dem Beschäftigtenkreis ein.61 Auch andere Arbeiter*innen dürften sich mit Verbesserungsvorschlägen oder Einschätzungen von Produktneuheiten in die betriebsinternen Diskussionen eingebracht haben.62 Die Sprengerin [Ria Ulrich] bat beispielsweise einen Glasmacher darum, einen

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Siehe bspw. die Becherglasserien Manhattan von Gralglas (nach einem Entwurf von Hans R. Janssen aus dem Jahr 1975) oder Florida von Peill+Putzler. Siehe Abbildungen in Helmut Ricke, »Design im Zeichen des Marketings. Gralglas in den 1970er Jahren«, in: Ders. und Wilfried van Loyen (Hg.), gralglas. Deutsches Design 1930–1981, Berlin u.a. 2011, S. 157; Preislisten und Kataloge (Peill+Putzler), 1970er Jahre, in: mkp.Gl-A 1-Peill. 4, 12. Transkript Interview der Autorin mit Hans See, 5. August 2013, im Besitz der Autorin, S. 11. Preisliste (GHS), 1972, in: AGI. [Manfred Hübner] zitiert in Transkript Belegschaftsversammlung, undatiert [Februar 1974], im Besitz der Autorin, S. 3. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Dieter Schrödter], 11. Oktober 1973, im Besitz der Autorin, S. 11. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Volker Lange], undatiert [1973/74], im Besitz der Autorin, S. 2. Nur aufgrund der Fürsprache von [Frank Weber] sei bspw. die sich später als sehr erfolgreich bewährende Beleuchtungsglasform, die auf ein Gestaltungsexperiment unter Glasmachern zurückging, ins Sortiment gelangt. [Manfred Hübner] in Belegschaftsversammlung, [Februar 1974] (s. Anm. 58), S. 3. Die zum damaligen Zeitpunkt in der Endkontrolle beschäftigte [Margrit Becker] verneinte zwar die Frage, ob es für sie während der Selbstverwaltung eine Möglichkeit gegeben habe, eigene Produktentwürfe einzubringen. Dem Betriebsleiter [Woge] habe sie aber »immer« ihre Meinung mitgeteilt, ob sie einer Produktneuheit einen Erfolg oder Misserfolg prognostizierte. Transkript Grup-

Die Produkte

Krug nach ihrem Entwurf zu fertigen.63 Eigene Produktideen entwickelten also nicht nur Glasfacharbeiter und Vertriebsangestellte; aufgrund ihrer Position im Arbeitsprozess und betrieblichen Machtgefüge hatten sie allerdings günstigere Voraussetzungen, diese als Muster umsetzen und gegebenenfalls in das Sortiment einbringen zu können. Wegen des informellen und kollektiven Charakters dieser Prozesse blieb der Einfluss der einzelnen Beschäftigten auf die Produktgestaltung während der Selbstverwaltung in der Überlieferung letztlich uneindeutig.

Strategie der Diversifikation Unter dem Geschäfts- und Vertriebsleiter [Stefan Kurtz] wurde seit Herbst 1970 mit der Entwicklung einer großen Anzahl neuer Produkte begonnen, an der sich die Beschäftigten – so seine explizite Aufforderung – mit eigenen Vorschlägen beteiligen sollten.64 Die Strategie kollektiver Gestaltungsexperimente hatte [Kurtz] in seine viel umfassendere Wachstumsstrategie der Diversifikation integriert.65 Das Angebot in den Bereichen Wirtschafts-, Beleuchtungs- und Flachglas begann er massiv auszuweiten. Zugleich plante er, durch den Zukauf von Handelsware gänzlich neue und branchenfremde Produktgruppen wie »asiatisches Porzellan« oder »spanische Keramik« in das Sortiment aufzunehmen.66 Wichtigstes Ziel seiner Diversifikationsstrategie war die Erhöhung der Auftragslage, womit er das vom Beirat vorgegebene Ziel einer Umsatzsteigerung von vier auf sechs Millionen DM innerhalb eines Jahres erreichen wollte.67 In mehrfacher Hinsicht überforderte [Kurtz] mit seinem Vorgehen die Kapazitäten der Firma. Vor allem unterschätzte er den organisatorischen Aufwand und die Kosten, die mit der Entwicklung neuer Produkte verbunden waren. Eine »Musterinflation« führte zur »Produktionshemmung in Hütte und Schleiferei«, was zusammen mit den zeitgleich durchgeführten Sanierungsarbeiten im Betrieb enorme Probleme bei der Erfüllung der zudem erweiterten Auftragslage verursachte.68 Noch »nicht marktreife Artikel« hatte er mit »marktfremden Preisen« ins Sortiment aufgenommen und die Meinung der Handelsvertreter*innen dabei ignoriert. Weil er sich außerdem – ähnlich wie der Betriebsleiter [Ewald Lenz] – weder mit den beiden anderen Geschäftsführern noch mit den Belegschaftsgremien absprach, beschloss die Gesellschafterversammlung im März 1971 die Entlassung von [Stefan Kurtz], auf dessen Verkaufsexpertise sowohl

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peninterview der Autorin mit [Margrit Becker] und [Egon Köster], 18. März 2014, im Besitz der Autorin, S. 10f. Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Helga Wermke], [Ria Ulrich], [Monika Weber], [Rosa Schrödter] und namentlich unbekanntem Kollegen, 2. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 38f. [Lange], [1973/74] (s. Anm. 60), S. 2; Rückblick in Entwurf Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 24. April 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 2. Als »Diversifikation« wird in der Wirtschaftswissenschaft die »Ausweitung des Leistungsprogramms auf neue Produkte und neue Märkte« bezeichnet. Daniel Markgraf, »Diversifikation«, in: Gabler Wirtschaftslexikon, 7. Januar 2013, Online: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/d iversifikation-34156/version-158925. Rückblick in Protokoll Beirat (GHS), 24. Februar 1972, in: FHI, Schöf-1227, S. 3. [Stefan Kurtz] in Beirat, 18. Dezember 1970 (s. Anm. 27), S. 3. Folgendes aus Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 11. März 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 4.

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der Beirat wie auch die Beschäftigten zunächst große Hoffnungen gesetzt hatten. Seine Planungen zur Aufnahme von branchenfremden Produkten in das Sortiment wurden unter dem geschäftsführenden Ausschuss nicht weiterverfolgt bzw. revidiert. Der Beiratsvorsitzende Franz Fabian mahnte zwar an, [Kurtz’] Diversifizierungsvorschläge künftig zu berücksichtigen.69 Der langjährige Vertriebsangestellte [Jürgen Schmitz] gab dagegen zu bedenken, dass »Dinge [wie asiatisches Porzellan] am Markt hinreichend vertreten« seien und »das Risiko bei hohen Frachtspesen zu groß« sei.70 Ebenso wie die Eigenherstellung komplettierter Leuchten wurden diese Planungen in der Glashütte Süßmuth während der Selbstverwaltung nicht realisiert.

Konservative Strategie Die negativen Erfahrungen mit [Kurtz’] Diversifizierungsversuchen bestärkten [Hans Müller] und [Jürgen Schmitz] darin, die »Süßmuth-Linie« beizubehalten.71 Neue Artikel fanden fortan nur dann Aufnahme ins Sortiment, wenn sie ihrer Ansicht nach in der gestalterischen Tradition von Richard Süßmuth standen. Neben Süßmuths Entwürfen waren jene von Hans Theo Baumann bis 1974 daher die einzigen Produkte, die im Angebot der selbstverwalteten Glashütte unter namentlicher Nennung der Urheber beworben wurden. Auf diese Weise sollte gewährleistet werden, dass Süßmuthglas weiterhin »Qualitätsglas« blieb, denn die Firma produziere – so [Müller] – »keinen Kitsch.«72 Aufgrund dieser Fokussierung auf die zugleich normativ bewertete Ästhetik der Produkte stand [Müller] Produktideen aus der Belegschaft »skeptisch« gegenüber.73 Deren Gestaltungsexperimente hatten sich für ihn und andere leitende Vertriebsangestellte auch deshalb disqualifiziert, weil [Stefan Kurtz] einige der dabei entstandenen Artikel ins Sortiment aufgenommen hatte, die Fachhändler*innen als unverkäuflich erachteten.74 Ein großer Teil dieser »Experimente«, von denen die Handelsvertreter*innen abgeraten hätten, seien letztlich (ohne sie im Verkauf getestet zu haben) »auf dem [Dach-]Boden« gelandet.75 Mit seinem vorsichtigen Vorgehen und in Verpflichtung gegenüber der gestalterischen Tradition von Richard Süßmuth berücksichtigte [Hans Müller] in gleichem Maße 69 70

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Folgendes aus Beirat, 24. Februar 1972 (s. Anm. 66), S. 3. Die Diversifikation gilt generell als eine sehr riskante Wachstumsstrategie, da das Unternehmen »weder die Kunden kennt, noch über Erfahrungen mit den Produkten verfügt«. Markgraf, Diversifikation (s. Anm. 65). Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Wolfgang Franke] und [Frank Weber], 13. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 5; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Bernd Dietrich] und [Konrad Scholz], 14. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 7. [Hans Müller] zitiert in Rainer Merforth, »Zwei Jahre Belegschaftshütte. Mit Schwung geht es aufwärts«, in: Hessische Allgemeine, 3. März 1972, in: AGI. Den Produktvorschlägen der zeichnerisch versierten leitenden Angestellten [Frank Weber] und [Volker Lange] sei [Hans Müller] zwar aufgeschlossener als Richard Süßmuth gewesen. Beide gewannen jedoch den Eindruck, dass auch [Müller] ihre Vorschläge nicht »so gerne« sah. [Lange], [1973/74] (s. Anm. 60), S. 2; [Weber], 26. August 1973 (s. Anm. 48), S. 1f.; Auch der Glasmacher [Christian Kunze] übte Kritik an der Abwehr der Geschäftsführung gegenüber Belegschaftsvorschlägen und ihrem Festhalten an der »Süssmuth-Linie« in Typoskript »Glashütte in Arbeiterhand«, Irmgard Senger für HR Fernsehen, 27. September 1973, in: FHI, Schöf-1212, S. 13. [Lange], [1973/74] (s. Anm. 60), S. 2. [Walter Albrecht] und [Willi Voigt] in Gesellschafterversammlung, 24. April 1973 (s. Anm. 64), S. 2.

Die Produkte

wie der einstige Unternehmensinhaber und im Gegensatz zu [Kurtz] die gewachsenen Vertriebsstrukturen. Den Vertreter*innen des Fachhandels räumte er allerdings – eben weil [Müller] anders als Süßmuth kein Glasgestalter war – ungleich größere Einflussmöglichkeiten bei der firmeninternen Produktentwicklung und Sortimentszusammensetzung ein. Bevor neue Artikel in die Serienproduktion aufgenommen wurden, präsentierte er den Handelsvertreter*innen eine Auswahl von Mustern, woraufhin diese die Absatzfähigkeit einschätzten und Aufträge erteilten – oder auch nicht. Die Anfang 1972 vom Beirat mit einer Betriebsuntersuchung beauftragten RKW-Gutachter bestätigten diese »Vertretertagungen« als eine sich bislang bewährende und künftig auszuweitende Methode der Produktplanung und Sortimentsgestaltung, mit der »die notwendige Umsatzsteigerung gewährleiste[t]« werden könne.76 Unberücksichtigt blieb dabei allerdings, dass der Fachhandel seit Ende der 1960er Jahre kein zuverlässiger Geschäftspartner mehr war. Mit dem konjunkturbedingten Auftragseinbruch stand die Firma 1973 erneut vor der dringlichen Frage, was und für wen – statt der vom Fachhandel in Auftrag gegebenen Produkte – produziert werden sollte.

Strategie der Reduktion In dieser Situation schlug der eigentlich mit der Reform der Leistungsentlohnung beauftragte RKW-Berater [Michael Wiege] eine sofortige Sortimentsverkleinerung vor. Im Rahmen seiner nahezu einjährigen Untersuchungen in der Glashütte Süßmuth hatte er festgestellt, dass 74 Prozent des Umsatzes durch lediglich 29 Prozent der Artikel (148) erwirtschaftet wurden, wohingegen 13 Prozent der Artikel (68) überhaupt keinen Umsatz brachten und 58 Prozent der Artikel (295) nur 26 Prozent des Umsatzes ausmachten.77 Hieraus schlussfolgerte er, das Sortiment müsse »im Laufe des Jahres 1973 auf 150 Artikel begrenzt« werden, nur noch die umsatzstärksten Artikel sollten weiter angeboten werden.78 Perspektivisch sah [Wiege] das »Optimum« in einem aus 30 bis 50 »kalkulatorisch günstigen Produkten« bestehenden Sortiment. Zugleich empfahl er, »von der hohen Stückzahl einer Serie herunter« zu kommen.79 Süßmuths Kelchglasserie AE bestand aus zwölf verschiedenen Trinkgläsern, die von Baumann entworfene Kelchglasserie Kassel umfasste sogar zweiundzwanzig Stück. Hiervon seien – so [Wiege] – höchstens sieben Stück gut verkäuflich. In der Grundannahme, eine Serie sei nach spätestens zwei bis drei Jahren »aus dem Rennen«, plädierte [Wiege] zudem für eine erhöhte Anzahl und Geschwindigkeit bei der Markteinführung von Produktneuheiten sowie für die permanente Entwicklung von »Artikeln, die leicht zu produzieren und gut zu verkaufen sind und Gewinn bringen«. Da jede Serie nur eine gewisse Laufzeit habe, könne die Firma »nicht zehn Jahre und mehr an einer Serie kleben.«

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Als Verbesserungsvorschlag empfahlen sie lediglich, eine weitere »zweite Begutachtung« pro Jahr im Vorfeld der »maßgeblichen Voreinkaufstage und Messen« durchzuführen. RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 11), S. 14. Folgendes aus [Wiege], 14. März 1973 (s. Anm. 17), S. 1; [Michael Wiege] an [Hans Müller], 15. März 1973, in: FHI, Schöf-1226. Es sollten nur jene Artikel im Sortiment bleiben, von denen sich mindestens 1.000 Stück pro Jahr verkaufen ließen. [Wiege], 14. März 1973 (s. Anm. 17), S. 1. Folgendes aus Gesellschafterversammlung, 24. April 1973 (s. Anm. 64).

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

In einer radikalisierten Version griff [Michael Wiege] damit die seit Ende der 1960er Jahre von verschiedenen Seiten an das Unternehmen herangetragene Empfehlung einer Sortimentsbereinigung auf.80 Die bereits vorgenommene Reduzierung des früheren Angebots um weit mehr als die Hälfte ging [Wiege] nicht weit genug. Dass überhaupt noch von Richard Süßmuth entworfene Gläser verkauft wurden, kritisierte er als Ausdruck eines von der Unternehmensleitung betriebenen »Süßmuth-Kults«.81 Eine Verkleinerung des Sortiments verspreche große rationalisierende Effekte – namentlich Kostensenkung, »bessere Produktivität und dadurch einen höheren Gewinn«.82 Ausfallzeiten infolge häufiger Formenwechsel würden wegfallen; die Glasmacher könnten »höhere Stückzahlenergebnisse« erbringen. Dies ermögliche wiederum eine »rationellere Verarbeitung in der [Rau-]Schleiferei«, wodurch das von ihm für diese Abteilung ausgearbeitete Prämienlohnsystem besser funktionieren würde. Eine reduzierte Artikelanzahl entlaste zudem die Formenstube, die mit der Wartung der vielen Formen überfordert sei. Bei einer größeren Menge gleichartiger Artikel vereinfache sich schließlich die Steuerung der Kühlbänder. Insgesamt würden hierdurch die Voraussetzungen für schnellere Produkt- und Sortimentswechsel geschaffen, die durch »Designer«, aber auch durch die »Verwirklichung eigener Ideen« aus der Belegschaft zu bewerkstelligen seien. Der Notwendigkeit, nicht mehr verkäufliche Produkte aus dem Angebot zu nehmen, hatte sich auch Richard Süßmuth nicht verschlossen.83 Umstritten waren vielmehr die hierfür heranzuziehenden Kriterien. Eine Sortimentsbereinigung nach »Markt- und Kostengesichtspunkten« – was die geschäftsführenden Gremien bereits vor [Wieges] Untersuchung anvisiert hatten84 – setzte eine detaillierte Übersicht über die Herstellungskosten der einzelnen Produkte in Relation zur Entwicklung der jeweiligen Umsatz- und Absatzzahlen voraus. Die dahingehende Reform des Rechnungswesens konnte jedoch nicht zufriedenstellend abgeschlossen werden.85 Für die bis 1972 erfolgte Reduzierung des Sortiments standen somit »lediglich die Häufigkeit und Gängigkeit, das heißt mengen- und umschlagsbezogene Kriterien« zur Verfügung, weshalb die RKW-Gutachter es nicht ausschlossen, dass »Verlustträger forciert und Gewinnträger gestrichen wurden«.86 Die primäre Orientierung an »Kosten- und Kalkulationserkenntnissen« barg folglich das Risiko, für die Rentabilität einer Serie wichtige Artikel aus dem Programm zu nehmen, deren Bedeutung allein quantitativ nicht zu ermessen war.

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Gefordert wurde dies in den von Richard Süßmuth aufgenommenen Kreditverhandlungen und später in den Übernahmeverhandlungen seitens des HWMi. Zeitgleich zu den Vorschlägen von [Michael Wiege] sprach auch der Schweizer Partnerschaftsunternehmer Bruno Piatti diese Empfehlung aus. Siehe Kapitel 1.6 und 2.3; Betriebsrat an die Gesellschafter (GHS), 23. Mai 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 1. [Michael Wiege] zitiert in Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 3. Juni 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 3. Folgendes von [Wiege] aus [Wiege], 15. März 1973 (s. Anm. 77); Gesellschafterversammlung, 24. April 1973 (s. Anm. 64); Protokoll Gesellschafterversammlung, 24. April 1973, in: AGI. Unternehmensplan Richard Süßmuth, August 1969, in: FHI, Schöf-1222, S. 2. [Müller], [Juli 1969] (s. Anm. 26), S. 3. Siehe Kapitel 7.1. Folgende Zitate aus RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 11), S. 13.

Die Produkte

Denn Kosten- und Umsatzzahlen vermochten den sozialen Kontext des Gebrauchs und die Konsumgewohnheiten nicht abzubilden. Für die traditionelle Kundschaft der Glashütte Süßmuth mussten manche Artikel allein aufgrund der Vollständigkeit einer Serie angeboten werden, auch wenn sie keinen hohen Absatz fanden bzw. Umsatz brachten, ja selbst dann, wenn sie sich nicht kostendeckend verkaufen ließen. »Würden diese Artikel im Angebot fehlen, wären die Käufer (unsere Kunden) gezwungen, ihren Bedarf beim Wettbewerber zu decken.« Die naheliegende Gefahr bestand darin – so [Jürgen Schmitz] in der Betriebszeitschrift Hüttenecho –, dass diese dann »selbstverständlich […] auch solche Artikel dort beziehen würden, die wir gern und gut fertigen.«87 Um die Stammkundschaft nicht zu verlieren, musste also die Option des Nachkaufens zur sukzessiven Vervollständigung einer Serie, wie zum Beispiel für den Ersatz von zu Bruch gegangenen Artikeln oder zum Füllen der Ausstandstruhe, für einen längeren Zeitraum garantiert werden. Die Gesellschafterversammlung lehnte daher »eine radikale Zusammenstreichung der Kollektion« als zu riskant ab.88 Die »Belange unseres bisherigen Kundenkreises« müssten weiterhin berücksichtigt werden, »[z]umindest so lange, wie wir uns einen Verzicht auf diese Gruppe nicht leisten können«.

6.2 Die Kundschaft, der Vertrieb und die Vermarktung Die Ausgangssituation Einen (in der Überlieferung seltenen) Einblick in die Kundenstruktur der Glashütte Süßmuth gewährt der Untersuchungsbericht, den die RKW-Gutachter zu Beginn des Jahres 1972 dem Beirat vorlegten. Demnach hatte die Firma »im Jahr 1971 1.831 effektive Kunden beliefer[t]«,89 die sich nach Auftragsvolumen in drei Gruppen unterteilen ließen: Knapp die Hälfte der Kund*innen (48 Prozent) brachten der Firma weniger als jeweils 1.000 DM Jahresumsatz; bei einem Drittel lag er unter 500 DM. Der Anteil solcher Kleinund Kleinstaufträge am Gesamtjahresumsatz betrug sechs Prozent. Mit Jahresaufträgen im Wert von über 20.000 DM belieferte die Glashütte Süßmuth zum damaligen Zeitpunkt 36 Großkund*innen. Diese stellten lediglich zwei Prozent der Gesamtkundschaft dar, brachten der Firma jedoch einen Erlösanteil von 30 Prozent. Dazwischen lag mit den mittelgroßen Auftraggeber*innen die größte (50 Prozent) und für den Jahresumsatz wichtigste (64 Prozent) Kundengruppe. Zur Kundschaft zählten weniger private Endverbraucher*innen als vor allem Handelsfirmen sowie weiterverarbeitende oder veredelnde

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[Jürgen Schmitz] zitiert in Hüttenecho, 9. Oktober 1971 (s. Anm. 14), S. 2. Folgendes aus Entwurf Gesellschafterversammlung an Betriebsrat (GHS), 12. Juni 1973, in: AGI. Zugleich habe die Firma 1971 »251 Kunden (21,1 Prozent) aus verschiedenen Ursachen, die nicht systematisch erforscht und registriert sind, verlor[en]«. Folgendes aus RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 11), S. 14f.

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Industrieunternehmen, an die Artikel aus dem firmeneigenen Sortiment geliefert oder für die Sonderformen als Auftragsarbeit gefertigt wurden.90 Entsprechend dieser Kundenstruktur existierten zum Zeitpunkt der Belegschaftsübernahme zwei Vertriebsformen: Beworben wurde allein der indirekte Vertrieb über den Fachhandel und über freie Handelsvertreter*innen im In- und Ausland.91 Ende der 1960er Jahre lag der Exportanteil bei 25 Prozent.92 Zudem belieferte die Firma eine Reihe gewerblicher Kund*innen, die unter der Geschäftsführung Richard Süßmuths nicht nach dem Umfang ihrer Aufträge, sondern entsprechend ihrer Zahlungsgewohnheiten in drei Prioritätsstufen eingeteilt wurden.93 Aufträge der in Gruppe I kategorisierten »sehr guten Zahler« wurden bevorzugt erfüllt, die Aufträge der säumigen Zahler (Gruppe III) hingegen erst nach Begleichung gegebenenfalls ausstehender Rechnungen und Vorauszahlung eines Teilbetrags bearbeitet.94 Mit einem großen Teil seiner Kundschaft verband Richard Süßmuth über die Jahrzehnte seiner unternehmerischen Tätigkeit persönlich enge Beziehungen; aber auch die Vertriebsangestellten hatten beispielsweise durch ihre Anwesenheit auf den Messen zu den Auftraggeber*innen und Handelsvertreter*innen solche Kontakte entwickelt.95 Zu den Großkund*innen gehörten Wirtschaftsglasunternehmen wie Rosenthal, in dessen Auftrag die Glashütte Süßmuth 1967 zwei Kelchglasserien fertigte, oder Weiterverarbeitungsfirmen wie Ende 1970 »zehn größere Beleuchtungskörperfabriken«.96 Mit der Annahme von Aufträgen »in größerem Umfange« hatte Richard Süßmuth erst im letzten Drittel der 1960er Jahre begonnen – als eine Krisenstrategie angesichts des Einbruchs der Fachhandelsaufträge infolge der »Konjunkturdelle« von 1966/1967.97 90

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Für die Firma Franz Schröter aus Fritzlar fertigte die GHS bspw. 1974 eine »kundeneigene Kelchglasserie«. Notiz [Hans Müller], 6. November 1974, in: AGI, S. 197. Siehe Rechnungen und Preislisten für Spezialaufträge (GHS), 1971–1974, in: AGI. Beim Inlandsvertrieb von Wirtschaftsglas arbeitete die GHS 1969 mit sieben freien Handelsvertreter*innen zusammen. Dieser »Stab der Inlandsvertreter« sei von Richard Süßmuth zwei Jahre zuvor »verjüngt« wurden. 1971 kam – mit der Expansion in diesem Produktbereich – ein Handelsvertreter für den Inlandsvertrieb von Beleuchtungsglas hinzu. Die Anzahl der Handelsvertreter*innen im Auslandsvertrieb ist nicht überliefert. Firmenbeschreibung, Mai 1969 (s. Anm. 3), S. 4; Süßmuth, 10. Juli 1967 (s. Anm. 34), S. 4; Lagebericht und Unternehmensplanung Richard Süßmuth, Oktober 1967, in: FHI, Schöf-1223; RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 11), S. 17. Die GHS exportierte damals vor allem ins westeuropäische Ausland sowie in die USA, nach Südafrika und nach Neuseeland. Firmenbeschreibung, Mai 1969 (s. Anm. 3), S. 4. Die GHS habe kleinere und größere Aufträge generell in gleichem Maße berücksichtigt. [Buchholz], 19. März 2014 (s. Anm. 9), S. 4. Die Mindestbestellsumme (als ein Orientierungswert) lag bis Anfang der 1960er Jahre bei 50 DM und wurde in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre auf 100 DM angehoben. Siehe Liefer- und Zahlungsbedingungen in Preislisten (GHS), 1963 und 1968/1969 in: AGI. Ausbildungsbericht [Ingrid Buchholz], undatiert [1961], in: Privatarchiv [Buchholz], S. 17f. Seit 1960 habe [Ingrid Buchholz] regelmäßig die Messen besucht, woraus sich ein sehr guter und mitunter freundschaftlicher Kundenkontakt ergeben habe. [Buchholz], 19. März 2014 (s. Anm. 9), S. 3f. Richard Süßmuth an HLT, 3. Juli 1967, in: FHI, Schöf-1223, S. 2; Süßmuth, 10. Juli 1967 (s. Anm. 34), S. 3; Beirat, 18. Dezember 1970 (s. Anm. 27), S. 2. In dieser Situation stellte Richard Süßmuth auch Überlegungen zum Ausbau des Auslandsgeschäfts an. Süßmuth, Oktober 1967 (s. Anm. 91), S. 4.

Die Produkte

Ebenfalls Ausdruck der Unternehmenskrise war der reduzierte Werbeetat, der 1969 mit knapp anderthalb Prozent den niedrigsten Anteil an den Gesamtkosten aufwies und den damals bestehenden Zahlungsengpässen geschuldet war.98 Als ein dezidiert auf eine werbewirksame Außendarstellung von Süßmuthglas und seines Unternehmens als »Gesamtkunstwerk« fokussierender Unternehmer war Richard Süßmuth damit keinesfalls ein rückständiger Verweigerer gegenüber der vermeintlich neuen Notwendigkeit einer Marketingstrategie, wie es die im Gestus eines dringenden Handlungsbedarfs während der Unternehmenskrise und nach der Belegschaftsübernahme vorgebrachten und noch darzulegenden Empfehlungen externer Berater suggerierten. Gleichwohl unterschieden sich die von ihm gewählten Mittel mitunter von den »modernen« Marketinginstrumenten. Der Aufbau eines repräsentativen Betriebskomplexes mit Ausstellungshalle und einem Hotel für Besucher*innen diente beispielsweise explizit einem marketingstrategischen Anliegen, das auf eine enge Kundenbindung abzielte. Das Marketing war ein Schwerpunkt in Süßmuths Unternehmensführung. Eben diese Prioritätensetzung in seiner Investitionspolitik hatte dazu geführt, dass er die sehr viel notwendigere Instandhaltung der Produktionsanlage nicht mehr finanzieren konnte, und beförderte die krisenhafte Entwicklung, die sein Unternehmen an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gebracht hatte.

Die Kontroverse An die etablierten Strukturen des Vertriebs und der Vermarktung konnte das belegschaftseigene Unternehmen nahtlos anknüpfen. Aufgrund der personellen Kontinuität im Vertrieb – den langjährigen Vertriebsangestellten [Hans Müller], [Jürgen Schmitz] oder [Ingrid Buchholz] – gelang es, trotz des Ausscheidens von Richard Süßmuth die Beziehungen zur Mehrheit der bisherigen Kundschaft aufrechtzuerhalten. Die eingangs dargelegte Einteilung der Kundschaft nach ihrem Auftragsumfang war bereits das Resultat neuer Praktiken der Quantifizierung, mit denen die geschäftsführenden Gremien und allen voran der Beirat sich eben nicht nur über die Abläufe in der Produktion, sondern auch über die im Vertrieb einen Überblick zu schaffen versuchten.99 Im Zusammenhang mit der noch darzustellenden Reform des Rechnungswesens und der Einführung der EDV wurde mit dem Aufbau einer »Kundenkartei« begonnen, mit der in Zukunft – so lautete die Prognose des hiermit beschäftigten [Konrad Scholz] – »ohne große Schwierigkeiten festgestellt werden« könne, wieviel Umsatz ein Kunde in Relation zum »vergangenen Jahr […] oder zum Gesamtumsatz« gebracht hatte.100 Diese Informationen konnten der Vertriebs- und Unternehmensleitung eine wichtige Orientierung geben. Entscheidend war jedoch, welche Konsequenzen hieraus für die Definition der

98

Wissenschaftliche Team, 25. August 1969 (s. Anm. 15), S. 8. Noch im August 1969 plante Richard Süßmuth, die »direkte und indirekte Werbung […] für das neue Süssmuth-Programm« künftig wieder zu verstärken und den Verkauf durch »Fühlungnahme bzw. Lenkung im Außendienst« aktiver zu gestalten. Süßmuth, August 1969 (s. Anm. 83), S. 2. 99 Folgendes siehe Kapitel 7.1. 100 Beirat, 12. Oktober 1972 (s. Anm. 41), S. 3.

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für das Unternehmen relevanten Zielgruppen gezogen wurden. In der hierüber während der Selbstverwaltung aufgebrochenen Kontroverse befürworteten die beteiligten Personen – in gewisser Entsprechung zu den aufgezeigten Strategien der Produkt- und Sortimentsgestaltung – verschiedene Vertriebs- und Vermarktungsstrategien.

»Utopische« Strategie: Solidarischer Direktvertrieb und politische Vermarktung Im Sommer 1969 lancierten die Betriebsaktivisten mit Unterstützung der Gewerkschaftsfunktionäre erstmals eine Form des Direktvertriebs, die an eine Solidarität der Konsument*innen mit dem Anliegen der Belegschaft der Glashütte Süßmuth appellierte.101 An diese Erfahrungen wollte ein Teil der Beschäftigten nach der erfolgreichen Betriebsübernahme anknüpfen. Mit einem solidarischen Direktvertrieb und einer politischen Vermarktung sollten – neben den etablierten und die Unternehmensexistenz bislang sichernden Absatzbeziehungen – neue Kundenkreise für Süßmuthglas gewonnen werden: »Die Kollegen der Belegschaftshütte Immenhausen (Süßmuth) bieten den Betriebsangehörigen eine Auswahl ihrer mundgeblasenen Gläser mit einem Rabatt von 30 Prozent zum Kauf an. Macht bitte die Kollegen auf die besondere Gelegenheit aufmerksam, einen schönen Gebrauchsgegenstand oder ein ansehnliches Geschenk günstig zu kaufen und zugleich die Glasmacherkollegen bei der Erhaltung der von ihnen selbst geführten Hütte zu unterstützen! Die Gläser können beim Betriebsrat besichtigt und bestellt werden. Es handelt sich um die normalen Seriengläser der Hütte; einzelne Stücke können also später auch in jedem Glasfachgeschäft nachgekauft werden.«102 Diese Form der Produktwerbung wies Ähnlichkeit zu einem Flugblatt und damit zu jenem politischen Ausdrucksmittel auf, dessen sich die Beschäftigten im Kampf um die Übernahme des Betriebs bedient hatten. Sie richteten sich an Arbeiter*innen und damit an eine mit Süßmuthglas erstmals explizit als solche adressierte Zielgruppe. Diesen wurde aufgezeigt, dass der Kauf von Gläsern für den eigenen Gebrauch oder als Geschenk zugleich eine Form der Unterstützung der belegschaftsgeführten Firma sei. Der beworbene 30-prozentige Rabatt dürfte – jenseits der Umgehung des Fachhandelszuschlags – auf ein Angebot von Zweite-Wahl-Artikeln verweisen, die aus Gründen der Markenpflege über den Fachhandel nicht verkäuflich waren. In der Mundglasfertigung – zumal angesichts des problembehafteten Verlaufs der Sanierung – war ein gewisser Anteil an Produkten mit Qualitätsmängeln indes unvermeidlich, weshalb die hier vorgeschlagene Vertriebsform eine dennoch gewinnbringende Verkaufsmöglichkeit und zugleich eine die Bilanz entlastende Reduktion der Lagerbestände darstellte. Der Betriebsrat sollte diese Verkaufsinformation nicht nur in der Belegschaft verbreiten, sondern darüber hinaus eine zentrale Position im Vertrieb einnehmen. Indem er eine Auswahl an Produkten

101

Siehe Kapitel 2.1. Ähnliches ist von der belgischen Cristalleries du Val Saint-Lambert überliefert, als die Beschäftigten im Februar 1975 den Versuch unternahmen, diesen von Konkurs bedrohten Betrieb zu übernehmen. Ernst Kobbert, »Kristallschleifer und Glasbläser geben nicht auf. Verlustreicher Staatsbetrieb besetzt. Arbeit geht weiter«, in: FAZ, 17. Februar 1975, S. 6. 102 Informationsblatt, undatiert [1969–1971], in: FHI, Schöf-1196. Nicht überliefert ist, ob diese Mitteilung tatsächlich in anderen Betrieben aushing oder verteilt wurde.

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zur Schau stellen und Bestellungen aufnehmen sollte, kam ihm faktisch eine Vertreterfunktion zu. Trotz dieser unkonventionellen Werbung und neuen Form des Direktvertriebs fehlte schließlich nicht der Verweis auf den Fachhandel, über den zukünftig die Option des Nachkaufs bestehe. Die Produkte der Belegschaftshütte sollten also nicht mehr nur Angehörigen der mittleren und höheren Einkommensklassen zugänglich sein, die sich den Einkauf im Fachhandel leisten konnten und wollten, sondern auch Bevölkerungsgruppen mit einem geringeren Einkommen und anderem Konsumverhalten. Über die Kommunikationsstrukturen der Gewerkschaften und der SPD – mit Rundschreiben, Verkaufsständen auf Veranstaltungen oder Schauvitrinen in deren Einrichtungen – sollten sowohl Mitglieder und Funktionäre der »alten« Arbeiterbewegung als auch Angehörige der Neuen Linken als Kund*innen gewonnen werden.103 In »Jungsozialisten«, »Lehrern«, »Studenten«, »Akademikern«, »Freiberuflichen« oder sonstigen Personen, die der Vertriebsangestellte [Konrad Scholz] dem »progressiven Teil der Bevölkerung« zurechnete, erkannte er eine große, im Wachsen begriffene Kaufkraft.104 Die vielen Besucher*innen, die aus Interesse an der Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieb kamen und »wirklich guten Willens« seien, wolle man »eine Möglichkeit geben oder aufzeigen, wie sie uns behilflich sein können«. Ihnen sollte zumindest ein Betriebsverkauf angeboten werden. In einem zu gründenden Freundeskreis sollten sie darüber hinaus in einer Art firmeneigenen Vertriebsnetz »organisiert« werden. Dessen Mitglieder sollten sich zum jährlichen Kauf beispielsweise von Geschenkartikeln in Höhe einer festgelegten Summe verpflichten.105 Zudem sollten sie in ihren Kreisen für die Produkte der Glashütte werben und auch die lokalen Fachhändler*innen dazu »zwingen, bei uns einzukaufen«. Im Rahmen dieses Freundeskreises sollte schließlich auch ein Erfahrungsaustausch über die demokratische Unternehmensform erfolgen. Insgesamt sollte das große öffentliche Interesse für den ersten belegschaftsgeführten Betrieb in der Bundesrepublik genutzt und Süßmuthglas als »politisches Glas«, das heißt als Glas mit der Aura eines Produkts aus der selbstverwalteten Glashütte, verkauft und beworben werden. Der solidarische Direktvertrieb sollte den bisherigen Hauptvertriebsweg Fachhandel nicht ersetzen, sondern ihn ergänzen und stärken. Das Angebot von durch den Wegfall der Handelsprovisionen zu günstigeren Preisen verkauften Produkten über den Direktvertrieb sollte der Firma neue Bevölkerungsgruppen erschließen helfen, die im Fachhandel niemals einkaufen würden. Um sowohl die traditionelle als auch die potenziell neue Kundschaft gleichermaßen anzusprechen, war der Vorschlag zum Aufbau eines zweiten Vertriebswegs in den Überlegungen von [Scholz], der sich hierbei an der Ingrid-Glashütte orientierte, mit einer zielgruppenorientierten Markendifferenzierung

103 Folgendes von [Konrad Scholz] aus Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Konrad Scholz], 12. November 1973, im Besitz der Autorin. 104 Diese Bevölkerungsgruppe schätzte [Scholz] »auf gut 500.000 [Personen] in der Bundesrepublik.« Ebd., S. 2f. 105 Mit 500.000 Mitgliedern und einer jährlichen Bestellsumme von mindestens 25 DM sei – so die Hochrechnung von [Scholz] – der Firma ein Jahresumsatz in Höhe von 12,5 Millionen DM sicher. Ebd.

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verbunden. Im Direktvertrieb sollten die Produkte zunächst »unter einem anderen Namen« laufen, um die Fachhandelsbeziehungen nicht zu beeinträchtigen.106 Auch ZweiteWahl und »Ladenhüter« könnten hierunter vertrieben werden, »damit der Name ›Süssmuth‹ rein bleibt«.107 Auf lange Sicht solle Süßmuthglas über sämtliche Vertriebskanäle angeboten werden: im »Versand-Geschäft«, »im Discount-Laden, im Fachgeschäft« und »überall«.108 Denn selbst der Fachhandel könne »einfach nicht auf Ingrid-Glas verzichten, weil es so bekannt ist.« Von Seiten der Firma gelte es also Druck auf den Fachhandel auszuüben, anstatt sich dessen konkurrenzbedingter Abwehrhaltung gegen einen firmeneigenen Direktvertrieb unterzuordnen. Notwendig sei der Aufbau neuer alternativer Vertriebswege auch deshalb, weil sich der Fachhandel in »Einkaufsgenossenschaften« oder »Ringen« zu organisieren beginne und versuche »über einen gemeinsamen Einkauf die Hütten allmählich mit dem Preis zu drücken«. Diese Überlegungen wurden während und unmittelbar nach der Belegschaftsübernahme erörtert, als die Betriebsaktivisten mit Personen aus einem solidarischen Umfeld mögliche Lösungen für die Probleme in der Glashütte Süßmuth zu entwickeln begannen.109 Nach deren »Rausschmiss« durch den Gewerkschaftsfunktionär Franz Fabian wurden sie in einer kleinen Gruppe um [Konrad Scholz] und [Paul Nowak] konzeptionell weiterentwickelt. Realisiert werden konnten sie während der Selbstverwaltung aufgrund der Blockade der geschäftsführenden Gremien indes nicht. In den Augen der Gewerkschaftsfunktionäre im Beirat und allen voran für Fabian hatten sich diese Pläne gerade deshalb diskreditiert, weil sie von jener oppositionellen Gruppe aus der Belegschaft vorgebracht wurden, der sie den Kontakt zu politisch verdächtigen Personen außerhalb des Betriebs nachsagten. Letzteren wiederum unterstellten sie, die selbstverwaltete Glashütte Süßmuth für ihre ideologischen Ziele instrumentalisieren zu wollen.110 Der Geschäftsführer [Hans Müller] lehnte diese Pläne als utopisch ab. Für ihn war es grundsätzlich ausgeschlossen, dass »die Arbeiter sich jetzt solidarisieren und überall ›Süßmuthglas‹ kaufen.«111 Eine an die Solidarität in dieser Bevölkerungsgruppe appellierende Vertriebsstrategie werde bereits an der Preisfrage scheitern, eine politische Vermarktungsstrategie hingegen die Beziehung zum Fachhandel und zur zahlungskräftigen Fachhandelskundschaft gefährden, von der auch zukünftig die Existenz des Unternehmens abhänge. Diese in der Geschäfts- und Vertriebsleitung virulente Abwehrhaltung basierte auf der Annahme, mundgeblasenes Glas und so auch Süßmuthglas werde generell von einer vorrangig konservativen Kundschaft gekauft, die mit »sozialistischen Ideen« verschreckt werde.112 Einkommensschwächeren Konsumentengruppen wurde implizit unterstellt, die Qualität von mundgeblasenem Glas nicht wertschätzen 106 107 108 109 110 111

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Ebd., S. 3. [Konrad Scholz] an Hans Lindenau, 31. März 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 3f. Folgendes von [Konrad Scholz] aus [Scholz], 12. November 1973 (s. Anm. 103). Siehe Kapitel 3.3 und 4.3. So der Eindruck von [Herman Freil], der den besagten Freundeskreis mitbegründete. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Herman Freil], 7. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 2f. [Hans Müller] zitiert in Transkript Erstes Treffen von Erasmus Schöfer mit der Belegschaft der GHS, 19. März 1973, im Besitz der Autorin, S. 3; Ähnlich Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Franz Fabian, 22. April 1974, im Besitz der Autorin, S. 9. Transkript Interview der Autorin mit Erasmus Schöfer, 24. Januar 2013, im Besitz der Autorin, S. 2.

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zu können, weshalb sie nicht bereit seien, die aufgrund der Produktionskosten auch im Direktvertrieb noch über denen des Maschinenglases liegenden Preise zu bezahlen. [Müller] betonte, die Produkte der Firma seien nur »etwas für den gehobeneren Bedarf«, und stellte Arbeiter*innen einen solchen Geschmack faktisch in Abrede.113 Mit Blick auf den »steigende[n] Lebensstandard« und damit auf jene sozioökonomische Veränderungsprozesse, auf denen die Kaufkrafthoffnungen der gesamten Branche ruhten,114 implizierten diese Annahmen, dass sich Angehörige aus unteren Einkommensklassen im Zuge ihres sozialen Aufstiegs am bisherigen »gehobenen« Geschmack der oberen Einkommensklassen orientieren würden, der damit – wie einst von Richard Süßmuth – als universal gedacht wurde. Diese Vorstellungen von der Kundschaft knüpften somit an Süßmuths autokratische Vision an, die Menschen mit seinen Produkten zum guten Geschmack erziehen zu können. Trotz der Ablehnung einer politischen Vermarktungsstrategie erkannte [Hans Müller] die Wirkung, die von der Berichterstattung über das Modell Süßmuth als einer kostenlosen Firmen- und Produktwerbung ausging.115 Deshalb plädierte er dafür, das anhaltende und sich im Zuge der Mitbestimmungskontroverse Anfang der 1970er Jahre verstärkende mediale Interesse dezidiert zu nutzen, um hierdurch den knappen Werbeetat zu kompensieren.116 Dem zugrunde lag insgeheim die Annahme, die Berichterstattung kanalisieren zu können – das heißt mit den eigenen (politisch gemäßigten) Inhalten füllen zu können.117 Angesichts der sich im Laufe des Jahres 1973 zuspitzenden Konflikte sprachen sich hingegen vor allem die Gesellschafter*innen für eine »Rückstellung« der »laufenden Presseerwartungen« aus, die der Glasmaler [Frank Weber] als »eine penetrante Störung innerhalb des Betriebs« empfand.118 Zurückzuführen war dies auf Erfahrungen, dass öffentliche Stellungnahmen sowohl seitens des Geschäftsführers als auch seitens der Beschäftigten als Katalysatoren der internen Auseinandersetzungen wirkten. Belegschaftsgremien und Geschäftsführung konnten sich darauf einigen, dass Konflikte in Zukunft nicht in der Öffentlichkeit auszutragen seien. Anfragen von interessierte Journalist*innen wurden daher zuletzt abschlägig beschieden.119 Aktualisiert wurde damit jene bereits nach der symbolischen Betriebsübergabe von Richard Süßmuth an die Belegschaft im März 1970 verordnete Presse- und Informationssperre.120

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[Hans Müller] zitiert in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 111), S. 3. [Volker Lange] in Hüttenecho, 9. Oktober 1971 (s. Anm. 14), S. 4. Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 111), S. 7. Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 24. Mai 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 2. So wurde [Hans Müller] bspw. in einem Artikel vom Sommer 1972 mit den Worten zitiert, dass »nichts falscher« sei als das Sprechen von der »roten Glashütte« durch »oberflächliche oder voreingenommene Beobachter«. Maximillian H. Petersen, »Eine Notlösung wurde zum Vorbild. Die Belegschaft rettete in Immenhausen einen Namen. Süßmuth-Modell macht Schule«, in: Westfälische Rundschau, 30. Juni 1972, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 118 Reformvorstellung [Frank Weber], 12. Oktober 1973, in: AGI, S. 2; Ebenso Gesellschafterversammlung, 24. Mai 1973 (s. Anm. 116), S. 2. 119 Gesellschafterversammlung, 24. Mai 1973 (s. Anm. 116), S. 2; [Hans Müller] an Hans Stürm, 11. September 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Protokoll Gesellschafterversammlung, 14. Januar 1975, in: AGI, S. 2. 120 Siehe Kapitel 3.3.

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Die Einschätzungen, inwiefern diese letztlich nicht realisierte Vertriebs- und Vermarktungsstrategie erfolgversprechend gewesen wäre, fielen unter den Beschäftigten unterschiedlich aus. Aufgrund der Abhängigkeit von Kund*innen und Geschäftspartner*innen, die »mehr der CDU angehört haben als der SPD oder der Gewerkschaft«, bewerteten es die Glasmacher [Jochen Schmidt] und [Manfred Hübner] im Rückblick als unrealistisch, dass die Glashütte Süßmuth ihr »hochwertiges, dünnwandiges Glas« als »sozialistisches Glas« hätte verkaufen können.121 Die Vertriebsangestellten [Ingrid Buchholz] und [Gisela Ulbricht] sahen dagegen keinen Widerspruch darin, Süßmuthglas sowohl über den Fachhandel als auch über die gewerkschaftlichen Kommunikationskanäle zu vertreiben und zu bewerben.122 Der Verkaufsstand auf Gewerkschaftsveranstaltungen, für den sich insbesondere die neue Vertriebsangestellte [Rita Abel] engagiert habe, sei ganz gut gelaufen.

Expansive Strategie: Großhandel und Großkund*innen Im Rahmen der Diversifikationsstrategie ergriff [Stefan Kurtz] eine expansive Vertriebsstrategie. Um den Kundenkreis zu erweitern, neue Absatzgebiete zu erschließen und vor allem den Umsatz zu steigern, nahm [Kurtz] in allen Produktbereichen sehr viele und vor allem große Aufträge an. Den Inlandshandel von Wirtschaftsglas und Geschenkartikel plante er künftig über »größere Verkaufsketten und Department Stores«, »Einrichtungshäuser und Blumengeschäfte des gehobenen Standes« sowie über »Werbegeschenkgroßhändler« abzuwickeln.123 Für die neuen Produkte im Flachglasbereich verhandelte er mit »Baumaterialgroßhändlern und Glasbaufirmen«. Beim Beleuchtungsglas wollte er die bestehenden Zulieferbeziehungen durch eine »wesentlich größere Anzahl von Herstellern« erweitern. Zugleich baute er neue Außenhandelsbeziehungen nach Italien, Österreich oder Japan auf und bemühte sich um eine Ausweitung bestehender Exportverbindungen in Frankreich und den USA. [Kurtz’] Exportoffensive schlug sich kurzeitig in einer knapp 40-prozentigen Steigerung der Auslandsaufträge im Verlauf des Jahres 1971 nieder, die vorrangig auf die Ausweitung des Beleuchtungsglasgeschäfts zurückging.124 Den Fachhandel überging [Kurtz] in allen drei Produktbereichen sowohl im In- als auch im Ausland. Stattdessen setzte er auf den Großhandel und auf Großkund*innen bzw. »größere Industrieunternehmen«, mit denen er »Alleinverkaufsabsprachen« auszuhandeln begann.125 In diesem Zusammenhang plädierte [Kurtz] für eine umfassende Bereinigung der Kundenkartei, da höchstens die Hälfte der hierin gelisteten Einzel-

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Transkript Interview der Autorin mit [Jochen Schmidt], 7. Februar 2013, im Besitz der Autorin, S. 19; [Hübner], 11. Juni 2013 (s. Anm. 3), S. 9. 122 [Buchholz], 19. März 2014 (s. Anm. 9), S. 7; Transkript Interview der Autorin mit [Gisela Ulbricht], 17. März 2014, im Besitz der Autorin, S. 12. 123 Folgendes von [Stefan Kurtz] aus Beirat, 18. Dezember 1970 (s. Anm. 27), S. 2f. 124 Der Export von Wirtschaftsglas habe hingegen stagniert. So [Volker Lange] in Hüttenecho, 9. Oktober 1971 (s. Anm. 14), S. 4. 125 Beirat, 18. Dezember 1970 (s. Anm. 27), S. 3. In einer im Oktober 1970 in der Fachzeitschrift Porzellan+Glas erschienenen Werbeanzeige war von »entscheidenden Anbahnungen mit einer Reihe bedeutender Großabnehmer im Ausland« zu lesen. Porzellan+Glas, Oktober 1970 (s. Anm. 14).

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personen und Firmen überhaupt zahlungskräftig sei.126 In Zukunft seien nur noch größere Aufträge zu bearbeiten und die Mindestauftragssumme von 100 DM auf 400 DM anzuheben. Unabhängig davon, wer die Kund*innen waren bzw. aus welcher Branche sie kamen, wollte der Vertriebsleiter faktisch jeden Auftrag annehmen, solange er einen gewissen Umfang aufwies. Entsprechend großformatig wie seine Sortiments- und Vertriebsstrategien fiel auch die von [Kurtz] lancierte Marketingstrategie aus. Allein für das Jahr 1971 mietete er Stände auf Messen in Chicago, Mailand und Paris an.127 Die Aktualisierung der für den Fachhandel üblichen Werbeunterlagen hatte er hingegen vernachlässigt. Ebenso wie im Bereich der Produkt- und Sortimentsgestaltung überstiegen diese Expansionspläne die Produktions- und Vertriebskapazitäten der Glashütte Süßmuth. Zum einen verursachte [Kurtz’] leichtfertige Annahme von Großaufträgen erhebliche Probleme in der Auftragsabwicklung. Bei der Bedienung des von ihm mit der New Yorker Niederlassung des Porzellankonzerns Royal Worcester ausgehandelten Alleinverkaufsabkommens gab es beispielsweise »anhaltende Schwierigkeiten, den vom Kunden gewünschten grünen Farbton [in gleichbleibender Qualität] zu erzielen«.128 Zum anderen brachten solche Aufträge die Firma in direkte Abhängigkeiten zu Großunternehmen und damit in die Gefahr, dass diese künftig die Preise drückten. Außerdem hatte [Kurtz] keinerlei Rücksicht auf die tradierten Absatzbeziehungen zum Fachhandel genommen, die für die Firma zum damaligen Zeitpunkt eine existenzielle Bedeutung besaßen. Nach seiner Kündigung konnten die Belegschaftsgremien und der geschäftsführende Ausschuss einen Teil der von ihm angenommenen Großaufträge wieder rückgängig machen, den restlichen Auftragsbestand indes nur durch die Einführung temporärer Samstagsarbeit bewältigen. Auch von den kostspieligen Messe-Präsenzen trat die Glashütte Süßmuth wieder zurück, da die Belegschaftsgremien dies nicht nur als überdimensioniert, sondern vor allem – mit Blick auf den enormen Investitionsbedarf in der Produktion – als komplett fehlgelagert kritisierten.129

»Sicherheitsbedachte« Strategie: Intensivierung der Fachhandelsbeziehungen Nach der Entlassung von [Stefan Kurtz] bemühten sich der Geschäftsführer [Hans Müller] und der Vertriebsleiter [Jürgen Schmitz], die Beziehungen zu den Fachhändler*innen und freien Handelsvertreter*innen zu intensivieren. Im Vertrieb setzten sie damit wie bei der Produkt- und Sortimentsgestaltung auf Altbewährtes. Um die vom Fachhandel gewährte Preisgarantie nicht zu gefährden, sprachen sie sich sowohl gegen den Großhandelsvertrieb als auch gegen jegliche Form eines Direktvertriebs aus.130 Aus Rücksicht auf die Fachhandelsgeschäfte »in näherer Umgebung« sprach sich [Schmitz] auch gegen 126

Folgende Ausführungen von [Stefan Kurtz] aus Handschriftliches Protokoll (Vitt) Beirat (GHS), 18. Dezember 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 3. 127 Folgendes aus Gesellschafterversammlung, 11. März 1971 (s. Anm. 68). 128 [Müller], 12. Juni 1973 (s. Anm. 45), S. 1. 129 Gesellschafterversammlung, 11. März 1971 (s. Anm. 68). [Stefan Kurtz] habe »viel zu groß gedacht« und es »nicht fertiggebracht, die Regeln der Hütte zu lernen«. [Franke] und [Weber], 13. August 1973 (s. Anm. 71), S. 4; [Lange], [1973/74] (s. Anm. 60), S. 4. 130 [Hans Müller] in Antony Terry, »We have ways of making a co-op work«, in: The Sunday Times, 24. November 1974, in: Privatarchiv [Müller]; Ebenso Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 111), S. 8f.

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den Ausbau des Betriebsverkaufs aus.131 Zum Schutz der Qualitätsmarke und der hiermit verbundenen Preise lehnte [Müller] den Verkauf von Zweite-Wahl-Artikeln auf dem Weihnachtsmarkt ab und gab zu bedenken, »dass wir unsere Gläser nicht unter Niveau verkaufen sollten.«132 Mit der Ausweitung des Vertriebs über den Fachhandel und seinen 100-prozentigen Provisionsaufschlägen blieb Süßmuthglas folglich »eine relativ teure Angelegenheit.«133 Der Fokus lag somit auf der Pflege der traditionellen Kundschaft. Kleinen wie großen Kund*innen kam bei der Auftragserfüllung wieder die gleiche Aufmerksamkeit zu. Entgegen der von [Kurtz] geplanten Anhebung des Mindestauftragswerts begann die Glashütte Süßmuth nunmehr auch Aufträge unter einem Wert von 100 DM anzunehmen, denen ein Kleinstauftragszuschlag von fünf DM in Rechnung gestellt wurde.134 Gegenüber dem Beirat musste die Vertriebsleitung dieses Vorgehen allerdings rechtfertigen: Im Bewusstsein, dass »Kunden mit niedrigen Umsätzen hohe Kosten […] mit sich bringen« würden, sah [Schmitz] die Firma »aufgrund des Kostendeckungspunktes« zunächst »darauf angewiesen, sämtliche Aufträge hereinzunehmen und sämtliche Kunden zu beliefern.«135 Eine »Kundenselektion« sei erst möglich, wenn »eine ausreichende Kundentransparenz« durch eine »voll aussagefähige Kundenkartei« hergestellt und »eine Auftragslage mit einem großen Überhang über den Kostendeckungspunkt« gegeben sei. Befürwortet wurde diese »sicherheitsbedachte« Strategie von den RKW-Beratern, die der Beirat Anfang 1972 zu Rate gezogen hatte.136 Diese empfahlen der Geschäfts- und Vertriebsleitung, das konstatierte Wissensdefizit über den Marktbedarf und die Konkurrenzsituation durch einen stärker strukturierten Austausch mit den Fachhändler*innen und Handelsvertreter*innen zu kompensieren. Letztere sollten zu einer »Kundenberichterstattung« nach einem von ihnen entwickelten Formular aufgefordert werden.137 Durch die Auswertung und Beurteilung der hiermit gewonnenen Informationen könne die Vertriebsabteilung eine »Markttransparenz« herstellen, »ohne die eine Absatzplanung und Absatzsteuerung unmöglich« sei. Diese Methode erscheine – so räumten 131 132

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[Jürgen Schmitz] zitiert in Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 11. November 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 3. Unter dem Druck des vom Beirat seit Herbst 1973 befürchteten Konkurses stimmte die Vertriebsund Geschäftsleitung dem Verkauf von preisreduzierten Lagerbeständen lediglich in Form eines »Weihnachtsbasars« auf dem Betriebsgelände zu. [Hans Müller] zitiert in Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 25. Oktober 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 3; Vermerk HLT, 31. Oktober 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 1. [Hans Müller] zitiert in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 111), S. 3. Laut [Scholz] habe der Fachhandelszuschlag teils sogar bei 120 Prozent gelegen. Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak], [Konrad Scholz], [Heinz Schrödter], [Max Ulrich] und weiteren namentlich nicht bekannten Arbeitern, undatiert [1974], im Besitz der Autorin, S. 6. Siehe Liefer- und Zahlungsbedingungen seit Preisliste (GHS), 1971, Punkt 2, in: AGI. Folgendes von [Jürgen Schmitz] aus RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 11), S. 15f. Folgendes aus Ebd., S. 17f. In diesem Formular wurden Informationen über die Handelsfirmen selbst (Geschäftstyp, -größe und -lage, Zahlungspraktiken, Ansprechpersonen etc.), die Umsatzentwicklung der von diesen verkauften Produkten sowie Einschätzungen zur GHS, zu den Wettbewerbsfirmen und zur Konjunkturlage abgefragt. Siehe RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 11), Anhang 17.

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die RKW-Berater ein – »zuerst als etwas zeitraubend«; sie verursache jedoch »keinen zusätzlichen Personaleinsatz« und sei insgesamt sehr viel kostengünstiger als die Beauftragung »einer Marketinggesellschaft«, die zu keinen anderen Ergebnissen kommen könne. Der Aufbau einer solchen »Kundenkartei« stieß bei den Fachhändler*innen und Handelsvertreter*innen von Beginn an auf Vorbehalte, bürdete er ihnen doch einen nicht unerheblichen Arbeitsaufwand auf.138 Auch konnten hiermit lediglich deren Einschätzungen von der Marktsituation erfasst werden, nicht aber die Bedürfnisse der Endverbraucher*innen selbst. Dem Erfahrungswissen der langjährigen Vertriebsangestellten und Fachhandelsvertreter*innen über die Konsumgewohnheiten und das zurückliegende Konsumverhalten der bisherigen Kundschaft kam zwar somit weiterhin eine immense Bedeutung bei der Angebotsgestaltung zu. Ungewiss war aber auch für sie, aus welchen Gründen bislang Süßmuthglas gekauft wurde und mit welchen Produkten den eventuell veränderten Konsumwünschen entsprochen sowie generell neue Personenkreise zum Kauf motiviert werden könnten. Antworten auf diese Fragen wurden umso dringlicher, als die Konjunkturschwankungen 1973 einmal mehr verdeutlichten, dass von einer kontinuierlichen Auftragserteilung durch den Fachhandel – wie noch zu Zeiten des stabilen Wirtschaftswachstums der beiden Nachkriegsjahrzehnte – in Zukunft nicht mehr auszugehen war und es daher zusätzliche Absatzmöglichkeiten zu erschließen galt. Trotz ihrer Bemühungen um eine verbindlichere Zusammenarbeit mit dem Fachhandel hatte die Geschäfts- und Vertriebsleitung nicht verhindern können, dass dieser im ersten Halbjahr 1973 wieder sehr vorsichtig zu disponieren begann.139 Wie einst Ende der 1960er Jahre bekam die Firma das Defizit zu spüren, kaum über vom Fachhandel unabhängige Vertriebswege zu verfügen.

»Professionelle« Strategie: Aufbau eines firmeninternen Vertriebsund Marketingapparats Angesichts der erneut stagnierenden Umsatzentwicklung forderte der RKW-Berater [Michael Wiege] die Geschäfts- und Vertriebsleitung im Frühsommer 1973 auf, sich nicht länger der »Diktatur« der Fachhändler*innen und freien Handelsvertreter*innen zu unterwerfen.140 Erste-Wahl-Artikel sollten zwar weiterhin über den Fachhandel laufen, den [Wiege] – anders als [Stefan Kurtz] – als einen relevanten Vertriebskanal anerkannte.141 Die Abhängigkeit von der Auftragserteilung durch den Fachhandel galt es aber zu beseitigen. Die Firma müsse stattdessen den Fachhandelsvertrieb stärker kontrollieren und zum Beispiel »Werksvertreter« fest anstellen sowie leistungsabhängig

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Als Anreiz für die Bewältigung dieses zusätzlichen Arbeitsaufwands sollte ihnen ggf. pro Kundenkartei eine Vergütung von drei bis fünf DM in Aussicht zu stellen werden. Die Gesamtkosten dieser von den RKW-Gutachtern vorgeschlagenen Methode der »Marktforschung« werde »keine 10.000 DM« betragen. Demgegenüber würde das Honorar einer »Marketinggesellschaft […] nicht unter 150.000 DM« liegen. Ebd., S. 18. 139 Gesellschafterversammlung, 24. April 1973 (s. Anm. 64), S. 3. 140 [Michael Wiege] zitiert in Ebd., S. 2. 141 Gesellschafterversammlung, 3. Juni 1973 (s. Anm. 81), S. 4.

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bezahlen.142 Zudem solle »ein billiges Sortiment für Supermärkte« aufgebaut werden, das – um die Fachhandelsmarke nicht zu beschädigen – unter einer zweiten Marke und »womöglich unter einer Scheinfirma laufen« müsse.143 Sämtliche »Zweite-WahlGläser von Süßmuth egal ob mit Blasen oder Schlieren« meinte er so selbst unter seinem Namen mit Gewinn verkaufen zu können. Die personalkostenintensiven und auf Initiative der Belegschaftsgremien intensivierten Qualitätskontrollen sowie selbst die Sortierung in Erste- und Zweite-Wahl könnten deshalb reduziert bzw. abgeschafft und im Vertrieb durch die Einführung großzügiger Reklamationsregeln kompensiert werden.144 »[E]ventuell auftretende Glasfehler [könnten] werbepolitisch als Zeichen ›echt – mundgeblasen‹ aufgewertet werden.«145 Durch ein über verschiedene Wege vertriebenes »kleines Programm und ein modernes Design« wollte [Wiege] »neue Abnehmerkreise« erschließen.146 Diese sah er in der Jugend, die dazu tendiere, »ein Glas für mehrere Zwecke zu verwenden«, und im »kleinen Mann«, der nur durch geringere Preise zu erreichen sei, wie sie durch die von ihm vorgeschlagenen Rationalisierungsmaßnahmen und den Wegfall der Fachhandelszuschläge möglich würden.147 Um Kenntnis von den gegenwärtigen wie zukünftigen Konsumwünschen der alten wie potenziell neuen Kund*innen zu erhalten, seien Marktanalysen von Nöten.148 Auch mahnte [Wiege] eine Verstärkung der Werbebemühungen an. Der zum damaligen Zeitpunkt bei 60.000 DM liegende jährliche Werbeetat müsse auf mindestens 500.000 DM aufgestockt und zu diesem Zwecke notfalls selbst Investitionen in die Produktion zurückgestellt werden.149 Mit seinen Vorschlägen plädierte [Michael Wiege] für eine den zeitgenössischen Vorstellungen entsprechende Professionalisierung des Vertriebs und der Vermarktung, denen auch [Hans Müller] und der Beirat (bereits zuvor) nicht abgeneigt waren.150 Dass diese kostspieligen Maßnahmen während der Selbstverwaltung nicht realisiert wurden, war der durchweg angespannten Finanzlage geschuldet, aber auch der durch die Beteiligung der Belegschaftsgremien an der unternehmerischen Entscheidungsfindung veränderten Prioritätensetzung in der Investitionspolitik. Zwar konnten sie sich mit ihren Neuerungsvorschlägen kaum durchsetzen, aber zumindest erschweren, dass die Geschäfts- und Vertriebsleitung in eine werbewirksame Außendarstellung auf Kosten der Instandhaltung der Produktionsanlage investierte. War bereits Richard Süßmuth mit

142 Gesellschafterversammlung, 24. April 1973 (s. Anm. 82), S. 4; Gesellschafterversammlung, 24. April 1973 (s. Anm. 64), S. 4. 143 Folgendes von [Wiege] aus Gesellschafterversammlung, 3. Juni 1973 (s. Anm. 81), S. 4. 144 [Wiege], 14. März 1973 (s. Anm. 17), S. 2. 145 [Michael Wiege] an Gesellschafterversammlung (GHS), 14. Juni 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 3. 146 [Wiege], 15. März 1973 (s. Anm. 77), S. 1. 147 Gesellschafterversammlung, 24. April 1973 (s. Anm. 64), S. 2; Gesellschafterversammlung, 3. Juni 1973 (s. Anm. 81), S. 3. 148 Folgendes aus Gesellschafterversammlung, 24. April 1973 (s. Anm. 64), S. 4. 149 Gesellschafterversammlung, 3. Juni 1973 (s. Anm. 81), S. 3. 150 Siehe [Müller], [Juli 1969] (s. Anm. 26), S. 2–4; Maßnahmenkatalog zur drastischen Kostensenkung und Sicherung des Firmenstammkapitals (GHS), undatiert [Frühjahr 1971], in: FHI, Schöf-1196, S. 3; HLT, 31. Oktober 1973 (s. Anm. 132); Protokoll Beirat (GHS), 9. Mai 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 1f.

Die Produkte

seiner dahingehenden Marketingstrategie auf Kritik der Beschäftigten gestoßen, so hatten sie nun die Möglichkeit zu verhindern, dass sich der gleiche Fehler wiederholte. Die beworbene Vertriebsform und die offizielle Werbebotschaft der selbstverwalteten Glashütte blieben damit weitgehend von Kontinuität geprägt. Süßmuthglas wurde als Wirtschaftsglas wie bislang hauptsächlich über den Fachhandel verkauft. Die Produkte des expandierten Bereichs Beleuchtungsglas waren weiterhin kein Bestandteil des offiziellen Verkaufsprogramms, sondern wurden ausschließlich an Firmen zur Weiterverarbeitung geliefert, die diese in Auftrag gaben.151 Zugleich zeichnete sich die Zeit der Selbstverwaltung im Kontext der gesamten Unternehmensgeschichte dadurch aus, dass so gut wie keine Werbeprospekte oder bebilderten Produktkataloge überliefert sind. Eine Ausnahme stellten zwei Werbeinformationen dar, die im Herbst 1970 in den Branchenfachzeitschriften Schaulade und Porzellan+Glas erschienen. Die aus den kollektiven Gestaltungsexperimenten hervorgegangene neue Kollektion der Glashütte Süßmuth wurden hier unter dem Slogan »Erfolgreich auf der ganzen Linie« beworben, der mit Verweisen auf eine über 100-prozentige Umsatzsteigerung und auf die Rettung der Arbeitsplätze durch Überführung des »Betrieb[s] in das Eigentum der Belegschaft« untermauert wurde.152 Dieser Ansatz einer marketingstrategischen Neuausrichtung ging auf jene während der Betriebsübernahme begonnene Zusammenarbeit mit »Vertriebsund Werbeberater[n], Fotografen und Grafik-Designer[n]« zurück, die ebenso wie »bekannte Designer […] zugunsten der Belegschaft auf eine Honorierung verzichtete[n]«.153 Infolge des Drucks durch die Gewerkschaftsfunktionäre mussten die Belegschaftsvertreter*innen ihre Verbindungen zu diesem Freundeskreis aufkündigen, womit die auf Solidarität beruhende Hilfsbereitschaft jener Vertriebs- und Werbefachleute während der Selbstverwaltung weitgehend ungenutzt blieb. Wie die Produkt- und Sortimentsgestaltung war somit auch die offizielle Vertriebsund Vermarktungsstrategie der Glashütte Süßmuth Ausdruck einer während der Selbstverwaltung anhaltenden Kontroverse darüber, wie neue Absatzsicherheiten herzustellen und welche (alte und potenziell neue) Konsument*innengruppen anzusprechen waren. Über den Beirat und die von ihm herangezogenen Experten gewannen quantifizierende Definitionen von der zu adressierenden Kundschaft – sowohl was den Umfang der Aufträge als auch deren Bedürfnisse betraf – an Bedeutung. Der Vertriebsleiter [Kurtz] schlug die bevorzugte Annahme von Großkundenaufträgen vor, womit er jedoch die Produktions- und Vertriebskapazitäten der Firma überforderte. Der RKW-Berater [Wiege] berücksichtigte in seinen Empfehlungen die Kund*innen allein in ihrem Preisbewusstsein und legte nahe, durch »niedrige Preise […] die Käuferschaft steigern« zu können.154 Dass vor allem die Gewährleistung einer hohen Qualität ausschlaggebend für die Rechtfertigung der gegenüber der maschinell gefertigten Produkte höheren Preise

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152 153 154

Grund hierfür war offensichtlich (wie einst unter Richard Süßmuth) die Annahme einer gegenüber Wirtschaftsglas geringeren Reputation von Beleuchtungsglas. Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 111), S. 8f. Siehe Kapitel 1.3. Porzellan+Glas, Oktober 1970 (s. Anm. 14); Die Schaulade, Oktober 1970 (s. Anm. 8). Die Schaulade, Oktober 1970 (s. Anm. 8). Gesellschafterversammlung, 3. Juni 1973 (s. Anm. 81), S. 4.

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war, berücksichtigte [Wiege] hingegen nicht. Angesichts der sich zum damaligen Zeitpunkt bereits wieder häufenden Reklamationen155 war sein Vorschlag, die Qualitätskontrollen aufzuheben und die Arbeitsabläufe auch unter Inkaufnahme von Qualitätsmängeln zu beschleunigen, – ebenso wie seine Empfehlung einer radikalen Sortimentsbereinigung – nicht zielführend. Die »sicherheitsbedachte« Strategie des Geschäftsführers [Hans Müller], die lediglich auf eine quantitative Ausweitung der traditionellen Käuferschaft innerhalb der Reichweite des Fachhandels abzielte, hatte sich letztlich zu einer für das Unternehmen sehr riskanten entwickelt. [Müller] wiederholte den Fehler seines Schwiegervaters, Produktentwicklung und Vertriebsstrukturen der Firma nicht an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst zu haben. Die Produktentwicklung basierte somit vorrangig auf den Erfahrungswerten und Vorstellungen, die die Mitglieder der Geschäfts- und Vertriebsleitung sowie die Fachhandelsvertreter*innen von der gegenwärtigen und zukünftigen Nachfrageentwicklung hatten, zu denen lediglich jene der Berater und neuen Designer*innen hinzukamen. Die von einem Teil der Beschäftigten befürwortete Strategie eines auf die Solidarität mit dem Belegschaftsunternehmen setzenden Direktvertriebs und einer dementsprechenden Vermarktung als Bestandteile einer stärkeren Zielgruppenorientierung stellte sich vor diesem Hintergrund gar nicht als so utopisch dar, wie es durch die explizit politische Ausrichtung nach Ansicht der dies ablehnenden Geschäfts- und Vertriebsleitung den Anschein hatte. Als einzige der diskutierten Lösungsansätze hatte die »utopische« Strategie einen Weg aufgezeigt, direkte und verbindliche Kontakte zu den Endverbraucher*innen auf- und auszubauen.

6.3 Vom Verkäufer- zum Käufermarkt? Chancen und Grenzen der demokratischen Praxis In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe sich – so wurde in zeitgenössischen Betrachtungen wie auch in wissenschaftlichen Analysen der Nachfrageentwicklung konstatiert – ein grundlegender Wandel vom Verkäufer- zum Käufermarkt vollzogen.156 Mit dem Ausbleiben der erwarteten Aufwärtsentwicklung gewann diese Deutung auch für die geschäftsführenden Gremien der Glashütte Süßmuth an Relevanz. So wurde debattiert, inwiefern Aufträge ein »Geschäft, ein Segen, eine Verpflichtung oder eine Gefahr«

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Gesellschafterversammlung, 24. April 1973 (s. Anm. 64), S. 4. Mit dem Begriff Verkäufermarkt wird in den Wirtschaftswissenschaften eine Marktsituation beschrieben, in der die Nachfrage größer als das Angebot ist, was nach Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst der Fall war. Seit den 1960er Jahren sei dieser zunehmend von einem Käufermarkt abgelöst worden, auf dem das Angebot die Nachfrage überstiegen habe. Der »Verbraucher« sei hierdurch stärker in den Fokus des Marketings gerückt, das in den Unternehmen zunehmend professionalisiert wurde. Zugleich sei auch die Marktmacht des Handels angewachsen. Siehe Christopher Zerres und Michael P. Zerres, Marketing. Die Grundlagen, Stuttgart 20062 , S. 3. In der Unternehmensgeschichte wird diese Entwicklung im Zusammenhang mit dem Übergang zur Massenkonsumgesellschaft diskutiert. Alfred Reckendrees, »Die bundesdeutsche Massenkonsumgesellschaft. Einführende Bemerkungen«, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (2007), S. 17–27; Christian Kleinschmidt, Konsumgesellschaft, Göttingen 2008, S. 148.

Die Produkte

seien.157 Der Vertriebsleiter [Jürgen Schmitz] legte im Herbst 1971 dar, dass in Zukunft nicht mehr nur das gefertigt werden könne, »was der Betrieb am besten kann. […] Heute – bei differenziertem Angebot und weitgehender Spezialisierung einerseits und gedecktem Bedarf und hohen Ansprüchen andererseits« – gelte »nur noch die Formel: Der Markt bestimmt, was produziert wird!« Als ein hochwertige Konsumartikel in kleineren Serien sowie großer Vielfalt produzierendes und eine heterogene Nachfrage bedienendes Unternehmen hatte die Glashütte Süßmuth schon früher keineswegs ohne eine Marktorientierung erfolgreich wirtschaften können. Die nunmehr belegschaftseigene Firma hatte allerdings – wie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts alle Unternehmen der Branche – das bisherige Sortiment an veränderte Wettbewerbsbedingungen anzupassen. Das größte Problem dabei stellte die Ungewissheit dar, was der für eine Mundglashütte relevante Markt will und wer nach welchen Kriterien definiert, was der Markt will.

Revision: Herausforderungen der produktstrategischen Neuausrichtung einer Mundglashütte Bei der produktstrategischen Neuausrichtung einer Mundglashütte waren – ebenso wie bei der betrieblichen Rationalisierung – in erster Linie die Charakteristika des Fertigungsverfahrens zu berücksichtigen. Denn nicht alles, was der Markt verlangte – das heißt was als neue Konsumbedürfnisse wahrgenommen wurde und gewinnbringenden Absatz versprach –, konnte in einer Mundglashütte auch (effizient) produziert werden. Produktarten wie farbiges oder dickwandiges Glas, die in der Branche als zeitgenössische Trends ausgemacht wurden, konnten nicht ohne Weiteres ins Sortiment aufgenommen werden. Diese Erfahrung musste Richard Süßmuth mit seinen Farbglasexperimenten ebenso machen wie die Belegschaft im Sommer 1969.158 Bei den damaligen Versuchen, dickwandige Glasartikel nach Entwürfen von Hans Theo Baumann zu fertigen, hatte sich herausgestellt, dass die vorhandenen Kapazitäten der Kühlaggregate nicht ausreichten, um die notwendige zeitlich längere Kühlung bei langsam absinkender Temperatur zu gewährleisten. Da Investitionen in eine Ausweitung der Kühlkapazitäten zunächst unterblieben, konnte beispielsweise das von Baumann entworfene Schalenset Merkur nicht in dem für eine Serienproduktion erforderlichen Umfang produziert werden.159 Aus ähnlichen Gründen konnte die von [Hans Müller] in Erwägung gezogene Aufnahme der Produktion von Bleikristall in der Glashütte Süßmuth nicht realisiert werden.160 Die wichtigste Voraussetzung bei der Aufnahme neuer Produkte und Produktgruppen in das Sortiment bestand also darin, die produktspezifischen Voraussetzungen im Betrieb zu berücksichtigen bzw. zu schaffen. Neben den produktionstechnischen, arbeitsorganisatorischen und personellen Kapazitäten betraf dies insbesondere

157 158 159

Folgendes von [Jürgen Schmitz] aus Hüttenecho, 9. Oktober 1971 (s. Anm. 14), S. 2. Siehe Kapitel 1.6. Folgendes aus Wissenschaftliche Team, 25. August 1969 (s. Anm. 15), S. 8. Siehe Abbildungen in Kunstgewerbemuseum Köln und Künstlerhaus Wien (Hg.), H. Th. Baumann Design, Maulburg 1979, S. 142–145. 160 [Müller], [Juli 1969] (s. Anm. 26), S. 3. Die Sortimentserweiterung um Bleikristall war zum damaligen Zeitpunkt ein Trend in der Mundglasbranche. Siehe Kapitel 9.2.

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– angesichts des langwierigen Wissenserwerbs und hohen Spezialisierungsgrads – die Fähigkeiten und Wissensbestände der Glasmacher. Eine marktorientierte Erneuerung des Sortiments hatte auf ein Angebot von Artikeln abzuzielen, die sich für die maschinelle Produktion nicht eigneten, aber auch im Mundblasverfahren kostengünstig und mit geringer Fehleranfälligkeit gefertigt werden konnten, die die mit dem Markennamen verbundenen Qualitätsstandards wahrten und eine langanhaltende Nachfrage weckten. Als Kriterien für die Sortimentszusammensetzung eigneten sich folglich weder allein die Umsatzzahlen oder die Herstellungskosten noch das Erreichen einer bestimmten (möglichst geringen) Artikelanzahl oder einer bestimmten (möglichst kurzen) Angebotszeit – womit sich die geschäftsführenden Gremien und die von ihnen herangezogenen Berater in die Diskussion einbrachten. Um sich vom Angebot der maschinell und manuell produzierenden Konkurrenz abzugrenzen und einem wettbewerbsbedingten Preisdruck zu entgehen, waren vielmehr vorhandene Alleinstellungsmerkmale und Wettbewerbsvorteile langfristig zu stärken und auszubauen. Entsprechendes Potenzial in Form von umfangreichen Erfahrungswissen besaß die Glashütte Süßmuth zum Zeitpunkt der Belegschaftsübernahme insbesondere im Bereich der Flachglasveredelung, womit sich die Firma vom Angebot konkurrierender Mundglashütten abhob, sowie in der Fertigung von dünnwandigem, klarem Wirtschafts- und hierbei insbesondere Kelchglas. Alle Mundglashütten standen damals vor der Aufgabe, verbindliche und möglichst kontinuierliche – das heißt saison- und konjunkturunabhängige – Absatzbeziehungen auf- und auszubauen. Der Fachhandel als der (im In- und Ausland) bisherige Hauptvertriebsweg erwies sich in dieser Hinsicht als zunehmend unzuverlässiger Auftraggeber. Zusätzliche Vertriebsmöglichkeiten mussten zumindest in der Anfangsphase dennoch unter Berücksichtigung des Fachhandels erschlossen werden, um einen abrupten Abbruch der alten Vertriebsbeziehungen und einen damit verbundenen Kontaktverlust zur traditionellen Kundschaft zu verhindern. Die Ausweitung der Auftragsarbeit außerhalb der Serienproduktion war hierfür eine Option, die bereits Richard Süßmuth ergriffen hatte. Zu berücksichtigen waren auch hierbei die Besonderheiten des Mundblasverfahrens, das sich – so hatten es die Schwierigkeiten bei der Abwicklung der von [Stefan Kurtz] angenommenen Großaufträge vor Augen geführt – generell nicht für die Fertigung einer großen Stückzahl von Artikeln in der gleichen Präzision eignete.161 Bei der Auftragsannahme waren also weniger eine bestimmte (möglichst umfangreiche) Losgröße entscheidend als vielmehr die Anforderungen an die Produkte, die ein Auftraggeber formulierte. Darüber hinaus waren die Fertigerzeugnisse der Mundglashütten für einen Direktvertrieb an die Endverbraucher*innen prädestiniert. Der Wegfall der hohen Provisionszahlungen an den Handel brachte für die Unternehmen höhere Gewinnspannen und größere Spielräume bei der Preisbildung mit sich, um mit günstigeren Preisen auch weniger zahlungskräftige Bevölkerungsgruppen erreichen zu können. Die Chance und gleichermaßen Herausforderung bestand für die Mundglashütten also darin, alte

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Der Hinweis, dass »[g]eringe Fehler und Abweichungen in Maßen, Inhalt, Gewicht und Farbtönung […] durch die handwerkliche Herstellung bedingt und branchenüblich sind« und nicht »beanstandet werden« konnten, gehörte zum festen Bestandteil der Liefer- und Zahlungsbedingungen. Siehe Preislisten (GHS), 1968–1976, in: AGI.

Die Produkte

und neue Vertriebsformen zu kombinieren und so das aus der ungewissen Nachfrageentwicklung resultierende Risiko auf eine möglichst heterogene Kundschaft zu verlagern. Dies bedeutete einen größeren organisatorischen Aufwand, aber geringere Abhängigkeiten von einzelnen (Groß-)Kund*innen und künftigen Auftragsschwankungen. Weil der Fachhandel keine Absatzgarantie mehr gewährte, konnten sich die Mundglashütten bei der Produktentwicklung und Sortimentszusammensetzung immer weniger auf dessen Informationen und Prognosen über die Nachfrageentwicklung stützen. Inwiefern sich die Konsumwünsche änderten, musste sie vor allem durch Markttests von Produktneuheiten herausfinden. Durch die Fertigung an Hafenöfen und die damit verbundene Möglichkeit, mit relativ geringen Aufwand Produktumstellungen vorzunehmen, besaßen Mundglashütten hierfür im Gegensatz zu maschinellen Produzenten günstige Voraussetzungen, die es aber durch die betriebliche Rationalisierung und produktstrategische Neuausrichtung zu erhalten bzw. zu verbessern galt. Dies betraf vor allem die Grundlagen der Qualitätsproduktion. Denn mundgeblasene Glasartikel wurden nicht aufgrund des günstigen Preises, sondern in erster Linie aufgrund der hohen Qualität gekauft. Um die Kund*innen – seien es Handelsfirmen, Großunternehmen oder die Endverbraucher*innen – langfristig an die Firma und an die Marke Süßmuthglas zu binden, mussten sie vor allem mit den Produkten zufriedengestellt werden. Das Sortiment blieb somit das wichtigste Mittel der Werbung, in das eine Mundglashütte als Qualitätsproduzentin zu investieren hatte.

Chance: Aktualisierung der Guten Form als demokratische Form Die Gute Form als Leitbild einer material-, fertigungs- und gebrauchsgerechten Produktgestaltung hatte Richard Süßmuth geholfen, möglichst kosteneffizient zu produzieren und sein Wissensdefizit über die Konsumbedürfnisse zu kompensieren.162 Diese Gestaltungsgrundsätze verband er auf die ihm eigene Weise mit dem pädagogischen Anspruch, seine Beschäftigte wie auch die Konsument*innen über die Fertigung bzw. den Gebrauch seiner Produkte zu »veredeln«. Teilweise geriet Süßmuths künstlerische Interpretation der Guten Form im Laufe der 1960er Jahre in Abgrenzungsschwierigkeiten zu den Produkten der maschinellen Konkurrenz.163 Auch konnte er die junge Generation mit seinem paternalistischen Vorhaben (vermutlich) immer weniger erreichen. Süßmuths Schwierigkeiten resultierten daher nicht zuletzt aus dem Versäumnis, die Gute Form nicht an die sich sowohl in der Produktion als auch im Konsum ändernden Verhältnisse angepasst zu haben. Die von den Beschäftigten und ihren Gremien vorgeschla162 163

Siehe Kapitel 1.3. Augenscheinlich war dies bspw. bei der von Süßmuth 1958 entworfene Kelchglasserie AG, die eine frappierende Ähnlichkeit zu der von den Vereinigten Farbenglaswerken 1961 auf den Markt gebrachten, viel preisgünstigeren Erfolgsserie Neckar nach einem Entwurf von Heinrich Löffelhardt (1957) aufwies. Beide zeichneten sich durch einen markanten, sechskantigen Stiel aus, der bei AG in arbeitsintensiven Form- und Schleifvorgängen entstand, während er bei Neckar aus der maschineller Pressung hervorging. Die Pressnaht, als damals noch offensichtlichstes Zeichen für eine mangelhafte Qualität von Maschinenglas, konnte somit gestalterisch kaschiert werden. Siehe Abbildungen in Friedrich-Karl Baas, Der Glasgestalter Richard Süßmuth von 1946 bis 1966, Immenhausen 1998, S. 4; Scheiffele, Wagenfeld (s. Anm. 22), S. 180.

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genen Strategien, die in der bisherigen Analyse herausgearbeitet wurden, boten in der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth hingegen die Chance einer Aktualisierung der Guten Form durch ihre Erweiterung zur demokratischen Form und damit zugleich Möglichkeiten, die aus der produktstrategischen Neuausrichtung resultierenden Herausforderungen bewältigen zu können. Die kollektiven Diskussions- und Entscheidungsprozesse bewirkten eine Schwerpunktverlagerung auf Investitionen in den Betrieb und eine Verbesserung der Fertigungsbedingungen.164 Reduziert werden konnte dadurch eine zentrale Ursache der Unternehmenskrise, die weniger in der Ästhetik als vielmehr in einer nachlassenden materiellen Qualität der Produkte infolge unterlassener Instandhaltungsmaßnahmen und einer fehlerhaften Sortierung begründet lag. Qualitätsprobleme blieben zwar bestehen. Die kollektiven Austauschprozesse und Kontrollbemühungen halfen jedoch bei der Fehlersuche und -behebung, was sich in einer anfangs deutlichen Qualitätsverbesserung von Süßmuthglas und im Unternehmensgewinn des Jahres 1972 niederschlug.165 Bei Qualitätsschwankungen der Glasschmelze konnte sich in dezentralen Strukturen sehr viel zeitnäher über die Umstellung auf solche Ausweichartikel verständigt werden, die nicht nur trotz geringer Glasqualität produzierbar, sondern auch gut verkäuflich waren. Der Einstieg in die im Umsatz sehr rentable Opal- und Farbglasproduktion zeigte auf, wie die Beschäftigten in kollektiver Improvisation aus der Not eine Tugend machten, die der Firma im Wettbewerb ein neues Alleinstellungsmerkmal verschaffte. Im Gegensatz zum dickwandigen Glas war die Fertigung von dünnwandigem, klarem Glas – als dem Markenzeichen der Firma – mit geringeren Ansprüchen bei der Kühlung verbunden, erforderte aber eine hohe Qualität der Glasschmelze, wie sie an den veralteten Öfen während der Unternehmenskrise kaum bzw. nur noch für etwa ein Drittel der Arbeitszeit zu erzielen war.166 Da der Neubau von Ofen III ausblieb und klares Glas hier weiterhin nur in einem zeitlich begrenzten Umfang geschmolzen werden konnte, wurde an diesem Ofen mit der Opal- und Farbglasfertigung begonnen. Möglich wurde dies – wie in Kapitel 5.1 ausgeführt – allein aufgrund der notdürftigen Großreparatur des veralteten Ofens durch eine Gruppe von Facharbeitern, der Bereitschaft zur temporären Akzeptanz widriger Arbeitsbedingungen bei den hier tätigen Glasmachern und der Kontrolle durch den Experten auf dem Gebiet der Farbglasschmelze [Leo Böhm], den die Belegschaftsgremien im Frühjahr 1971 als neuen Hütten- und Schmelzmeister gewinnen konnten. Um die Produktions- und Arbeitsbedingungen in der Opal- und Farbglasfertigung zu verbessern, forderten die Belegschaftsgremien vergeblich den zügigen Neubau eines kleineren Ofens, an dem ausschließlich Opalglas gefertigt werden konnte. Eine kollektive, die Beschäftigten einbeziehende Gestaltungspraxis half bei der Suche nach Produktneuheiten, die sowohl den generellen Eigenarten der Mundglasfertigung als auch den konkreten Bedingungen im Betrieb angemessen waren. Die

164 Siehe Kapitel 5. 165 Eine verbesserte Qualität der Produkte habe der Firma laut dem Vertriebsleiter »eine Umsatzsteigerung von 50 Prozent gebracht«. [Jürgen Schmitz] zitiert in Gesellschafterversammlung, 3. Juni 1973 (s. Anm. 81), S. 3; Ebenso Fischer, Selbstverwaltete Glashütte (s. Anm. 17), S. 10f. 166 Wissenschaftliche Team, 25. August 1969 (s. Anm. 15), S. 2.

Die Produkte

Produktentwicklung wurde stärker in den Fertigungsprozess integriert und orientierte sich unmittelbar an der vorhandenen Technik sowie den Fähigkeiten der Beschäftigten. Auch die Arbeitsbedingungen wurden hierdurch zu einem Kriterium bei der Entwicklung neuer Produkte. Die im Verkauf sehr erfolgreichen Serien Meteor, Rustica und BadenBaden, die auf die kollektiven Gestaltungsprozesse der Anfangszeit zurückgingen, ließen sich als Becherglasserien im Vergleich zu Kelchglasserien leichter produzieren und blieben durch ihre heiße Veredelung im Angebot der Firma dennoch etwas Besonders. Die Fehleranfälligkeit war bei der Fertigung dieser Produkte geringer. Außerdem konnten sich die Glasmacher durch die Verlagerung des Dekorierens in den Prozess der Formung am Ofen dem Werkstoff Glas auf eine neue kreative Weise annähern. Diese Produkte waren also im Rahmen des Mundblasverfahrens relativ kostengünstig zu produzieren, unterschieden sich ästhetisch von dem maschinell gefertigten Glas und entsprachen – mit den erweiterten Gestaltungsoptionen bei reduzierter Ausschussquote – dem Verständnis der Glasmacher von guter Arbeit, wovon wiederum motivierende und leistungssteigernde Effekte ausgingen.167 Das Innovations- und Kreativitätspotenzial der kollektiven Gestaltungspraxis reichte von Verbesserungen bzw. Erweiterungen bestehender Entwürfe bis hin zu möglichen Produktneuheiten und Sortimentserweiterungen. Letzteres brachte auch eine Kostenersparnis durch den Wegfall von Provisionen mit sich, die bei der Hinzuziehung externer Designer*innen anfielen. Das geistige Eigentum an Entwürfen war nicht auf einzelne (exponierte) Personen zurückzuführen, sondern – wie das Eigentum am Unternehmen – ein kollektives Gut der Belegschaft. Aufgrund dieser Vorteile hatten sich einzelne Beschäftigte, der Glastechniker [Pavel Marek] oder der RKW-Berater [Michael Wiege] für eine Formalisierung der kollektiven Gestaltungspraxis ausgesprochen. Das Ausschusskonzept sah hierfür die Gründung einer Design-Kommission vor, die die kollektive Geschäftsführung im Jahr 1971 noch einzurichten plante.168 [Marek] regte an, eine Stunde pro Woche an den Öfen für Produktexperimente der Glasmacher freizuhalten.169 Diese mit Blick auf die traditionelle Praxis des Schindens in der Glasbranche nicht neue Idee befürwortete beispielsweise der Glasmacher [Dieter Schrödter], der seine Ablehnung der Akkord-Entlohnung mit der psychischen Belastung sowie mit den stark eingeschränkten Gestaltungsmöglichkeiten begründete.170 Der Glasmacher [Christian Kunze] plädierte ebenfalls dafür, »jeden basteln [zu] lassen« und den »Kunden« auf der Messe entscheiden zu lassen, »was ihm gefällt.«171 Die demokratische Praxis bot somit im Bereich der Produktgestaltung einen Modus der Formalisierung und Ausweitung einer in der Mundglasbranche üblichen, gleichwohl informellen Gestaltungspraxis an. Der Werkstoff Glas musste – anders als Materialien wie Holz oder Stein, die als natürliche Rohstoffe vorlagen – unmittelbar vor der Formung erst in einem anspruchsvollen Stoffgewinnungsverfahren hergestellt werden. Die

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Siehe Kapitel 5.3. Maßnahmenkatalog, [Frühjahr 1971] (s. Anm. 150), S. 2. [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 59), S. 10f. Ebd., S. 10. Zur Praxis des Schindens siehe Kapitel 1.5. [Christian Kunze] zitiert in Senger, 27. September 1973 (s. Anm. 73), S. 13.

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Gestaltung von Glas war somit kein kreativer Akt einer einzelnen Person, sondern seit jeher ein kollektiver Prozess. Bei der Realisierung ihrer Entwürfe waren die Gestalter*innen von den Fähigkeiten der Schmelzer und Glasmacher abhängig, die im Experimentieren mit der Gemenge-Zusammensetzung, mit der Temperaturführung während der Schmelze oder durch das Ausprobieren vor den Öfen dem Produkt die endgültige Gestalt gaben bzw. den Entwurf an die gegeben Bedingungen im Betrieb anpassten.172 Richard Süßmuth hatte zwar in die Qualifizierung der Facharbeiter investiert, es aber in seinem Paternalismus und künstlerischem Selbstverständnis unterlassen, deren für die Fertigung notwendigen körper- und praxisgebundenen Wissensbestände für die Produktentwicklung zu nutzen. Dieser »Erfahrungsschatz« konnte hierfür erst im Zuge der Belegschaftsübernahme ansatzweise produktiv gemacht werden. Zugleich bestand die Chance, das traditionell von den Glasmachern informell in Anspruch genommene Privileg des Schindens einer demokratischen Kontrolle zu unterwerfen, so dass dieses nicht mehr nur der Eigenbedarfsdeckung oder privaten Gestaltungsfreude, sondern auch der Suche nach Produktinnovationen und damit dem Wohle des gesamten Unternehmens sowie dem Interesse aller Beschäftigten diente.173 Die demokratische Praxis eröffnete zudem die Chance, das Informationsdefizit über die Bedürfnisse potenziell neuer Kund*innengruppen ohne größere Kosten zu reduzieren. Die in der Belegschaft geführten Diskussionen über mögliche Produktneuerungen kreisten stets um die Frage, was sich gut verkaufen lässt. Die Beschäftigten brachten dabei ihr eigenes Geschmacksempfinden und ihre Gebrauchserfahrungen sowie ihre Vorstellungen von den (veränderten) Bedürfnissen der Konsument*innen mit ein. Die Sprengerin [Ria Ulrich] beanstandete beispielsweise an den Sekt- und Schnapsgläsern mit »schmalen, langen Öffnungen«, dass diese zwar »schön« aussehen, sie aber daraus kaum trinken könne, ohne mit ihrer Nase anzustoßen.174 Der Glasmaler [Frank Weber] untermauerte seinen Vorschlag, »Fensterbilder der alten Art« in das Sortiment aufzunehmen, mit dem von ihm wahrgenommenen Nostalgie-Trend.175 Unter dem Schlagwort »Stilechtheit« könnten solche kunsthandwerklichen Produkte hervorragend vermarktet werden. Während der Graveur [Wolfgang Franke] für ein Festhalten an der traditionellen Käuferschaft und deren eine Artikelvielfalt implizierenden Konsummuster eines »gedeckten Tischs« plädierte, dachte der Glasmacher [Paul Nowak] über eine künftige Spezialisierung und Sortimentsreduzierung auf weniger aufwendig

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Dies könnte erklären, weshalb in der (auf Individuen fokussierenden) Kunstgeschichte dem Werkstoff Glas eine eher untergeordnete Bedeutung zukommt. Eine »Emanzipation« der Glaskünstler*innen von den Schmelzern und Glasmachern begann mit der Entwicklung sogenannter Studioöfen in den 1960er Jahren, die ihnen erstmals die technische Möglichkeit boten, ohne die Hilfe anderer Personen die Zusammensetzung des Gemenges, die Schmelze und Formung eigenständig zu bewerkstelligen. Siehe Kapitel 9.2. Angesichts des von anderen Beschäftigtengruppen als ungerecht empfundenen »Glasdiebstahls« forderte die Gesellschafterversammlung »klare Regelungen« für das Schinden bzw. für die »Privatarbeiten« der Glasmacher. Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 25. November 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 4; Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 4. Oktober 1972, in: FHI, Schöf-1227, S. 2. [Ria Ulrich] in [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 63), S. 38f. Folgendes aus [Weber], 26. August 1973 (s. Anm. 48), S. 2.

Die Produkte

gefertigtes Becherglas nach.176 Weil das Sortiment der Glashütte Süßmuth »nicht ganz seinem Geschmack« entsprach, begann der Glasmacher [Kunze] »in den Arbeitspausen […] kleine Tiere und andere Figuren« zu fertigen.177 Die Beschäftigten hatten also höchst unterschiedliche Auffassungen von einer marktgerechten Produkt- und Sortimentsgestaltung oder von schönen Produkten. Einig waren sie sich jedoch darin, dass in erster Linie eine hohe Produktqualität zu wahren war. Der eigene Anspruch der Arbeitenden an die Qualität ihrer Arbeit – als gewichtiger Faktor ihrer Arbeitszufriedenheit – deckte sich mit den Qualitätserwartungen der Konsument*innen. So blieb [Frank Weber] vom ersten Vertriebsleiter [Stefan Kurtz] schmerzlich in Erinnerung, dass er die Belegschaft damals »gezwungen [habe,] zum Teil halbfertige Fabrikate abzugeben«.178 Auch die Arbeiterinnen aus der Weiterverarbeitung wertschätzten die hohe Qualität von Süßmuthglas, das trotz aller Probleme mit der Fehlproduktion im Betrieb immer noch sehr viel besser sei als jene Gläser, die in Kaufhäusern angeboten wurden.179 Für den Graveur [Franke] war es absurd, dass [Konrad Scholz] im Rechnungswesen »an seinem Computer« sitze und von dort aus darüber urteile, welche Produkte auf dem Markt gehen oder nicht, weil auf diese Weise weder der Qualität der Produkte noch der Konsumgewohnheiten der Kund*innen die notwendige Aufmerksamkeit zukam.180 Gerade die Heterogenität in der Belegschaft – die hinsichtlich des Einkommens, des Geschlechts, der Herkunft oder Generationszugehörigkeit in gewisser Weise einem Querschnitt der bundesdeutschen Gesellschaft glich – hätte einen Ausgangspunkt für eine zielgruppenorientierte Produktentwicklung bilden können. Die Bedürfnisse der größten Bevölkerungsgruppe – der Arbeiter*innen – hätten durch eine stärkere Beteiligung der Beschäftigten an der Produktentwicklung antizipiert werden können, wie sie Marketing-Expert*innen nur mit großem Aufwand und auch nur ansatzweise zu erfassen vermochten. Eine kollektive Gestaltungspraxis wäre nicht nur hinsichtlich der Fähigkeiten, der Kreativität und des Wissens um die produktionstechnische Machbarkeit von neuen Produkten, sondern auch hinsichtlich der Konsumvorstellungen der Beschäftigten ökonomisch sinnvoll gewesen. Hier konnten schließlich jene Beschäftigten mitsprechen, die wie die Sprengerin [Ulrich] nicht unmittelbar gestaltende Tätigkeiten ausübten. Informationen über die Konsumbedürfnisse der Endverbraucher*innen konnten auch über den Direktvertrieb generiert werden.181 Vor allem hätten aber durch ein auf

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[Franke] und [Weber], 13. August 1973 (s. Anm. 71), S. 6–8; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Konrad Scholz], [Paul Nowak] und [Uwe Niemeier], 29. Mai 1974, im Besitz der Autorin, S. 21. 177 [Christian Kunze] zitiert in Senger, 27. September 1973 (s. Anm. 73), S. 12. 178 [Franke] und [Weber], 13. August 1973 (s. Anm. 71), S. 4. 179 [Wermke] et al., 2. September 1973 (s. Anm. 63), S. 38. 180 [Franke] und [Weber], 13. August 1973 (s. Anm. 71), S. 7. 181 Für [Gisela Ulbricht] war dies ein entscheidender Vorteil, den die Verkaufsstände auf Gewerkschaftsveranstaltungen mit sich brachten. Im direkten Kontakt zu den Endverbraucher*innen habe sie »sofort einen Eindruck erhalten, wie das lief und was die Leute kauften. Das war für uns ganz gut.« [Ulbricht], 17. März 2014 (s. Anm. 122), S. 12.

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Solidarität beruhendes, firmeneigenes Vertriebsnetzwerk neue und stabile Absatzverbindlichkeiten entstehen können, die sich nicht nur an der Qualität oder am Preis der Produkte festmachten, sondern auch auf einem geteilten politischen Anspruch bzw. der Zugehörigkeit zu einer sozialen Bewegung basierten. Der von dem »angespannten innerdeutschen Markt« ausgehende Kosten- und Konkurrenzdruck und die Abhängigkeit von (konjunkturbedingten) Nachfrageschwankungen hätten hierdurch für die selbstverwaltete Firma reduziert werden können.182 Zugleich hätten Kund*innen gewonnen werden können, die tendenziell ein größeres Verständnis für temporäre Lieferengpässe oder Qualitätsmängel besaßen. Letzteres war zumindest ein Wettbewerbsvorteil, von dem laut Sven Reichardt die Betriebe der Alternativökonomie profitierten.183 Eine politische Vermarktungsstrategie hätte der sich seit den 1960er Jahren ausdifferenzierenden Nachfrage bzw. den Bedürfnissen der teils neu auf den Markt tretender Konsumentengruppen Rechnung tragen können. In einer die Selbstverwaltung herausstellenden Werbung lag das Potenzial, die Aura von mundgeblasenem Glas zu erneuern und dieses aus dem konservativen Konsummuster eines »gedeckten Tisches« zu lösen, an den sich zunehmend weniger Menschen in der Bundesrepublik setzen wollten. Potenziell angesprochen wären hiervon sowohl Arbeiter*innen als auch Angehörige der nachrückenden Generationen aus der Mittel- und Oberschicht mit einer linksliberalen Grundhaltung. Das Produkt als Medium der Werbung wäre mit der politischen Forderung nach einer Demokratisierung der Wirtschaft und Gesellschaft verbunden worden. Dies wiederum hätte eine zentrale Charakteristik von Konsumgesellschaften berücksichtigt – nämlich die »distinktiven Dimensionen des Konsums zur sozialen und kulturellen« und, so wäre zu ergänzen, zur politischen »Verortung des Individuums mittels des Besitzes und des Gebrauchs von Dingen«.184 Die Produkte der selbstverwalteten Glashütte konnten die Geschichte des ungewöhnlichen Unterfangens der Arbeiter*innen in Immenhausen und gegebenenfalls auch Erinnerungen an den Besuch der Glashütte sowie die eigenen Eindrücke vom Fertigungsprozess transportieren, über die zu berichten Eindruck bei Bekannten, Gästen oder den beschenkten Freund*innen gemacht haben dürfte.185 Die Aktualisierung der Guten Form durch deren Erweiterung zur demokratischen Form hätte also den Grundsätzen einer material-, fertigungs- und gebrauchsgerechten

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[Scholz], 12. November 1973 (s. Anm. 103), S. 4. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 340. 184 Andreas Ludwig, »Materielle Kultur. Version 1.0«, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 30. Mai 2011, Online: https://doi.org/10.14765/zzf.dok.2.300.v1. Die Kund*innen wären dabei als citizen consumer angesprochen worden, die ihre Konsumentscheidungen – im Gegensatz zu den purchaser consumer – nicht allein entlang der individuellen privaten Interessen, sondern auch entlang darüber hinaus gehender gemeinwohlorientierter Aspekte treffen bzw. hierzu aufgerufen werden. Lizabeth Cohen, A Consumers’ Republic. The Politics of Mass Consumption in Postwar America, New York 2004, S. 8, 147. 185 Thomas Welskopp hob hervor, dass in einer »Gesellschaft des Massenkonsums« der Akt des Kaufens und das Sprechen über das »erworben[e] Gut« an Bedeutung gewinnt. Thomas Welskopp, »Konsum«, in: Christof Dejung, Monika Dommann und Daniel Speich Chassé (Hg.), Auf der Suche nach der Ökonomie, Tübingen 2014, S. 148f.

Die Produkte

Produktgestaltung sehr viel stärker entsprechen können und zugleich eine Anpassung der Produktpolitik an die sich seit »1968« ändernden gesellschaftlichen Verhältnisse ermöglicht. An die Stelle der von Süßmuth angestrebten Erziehung der Arbeitenden und Konsument*innen wäre deren gleichberechtigte Einbeziehung als Menschen mit vielfältigen Bedürfnissen getreten, die es bei der produktstrategischen Neuausrichtung zu berücksichtigen bzw. herauszufinden und aufzugreifen galt. Eine Senkung der Fertigungskosten und Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch einfach zu fertigende Produkte, der Wegfall von Provisionszahlungen an externe Designer*innen durch eine kollektive Gestaltungspraxis sowie der Wegfall von Handelszuschlägen durch einen Direktvertrieb hätte ein Angebot zu günstigeren Preisen und damit auch gering verdienenden Bevölkerungsgruppen den Zugang zu »einem schönen Gebrauchsgegenstand« ermöglicht.186 Der Fall Süßmuth widerlegt damit die Annahme, dass eine vermeintlich nur von ihren eigenen Interessen geleitete Belegschaft in einem demokratisch geführten Unternehmen nicht »gleichzeitig den Interessen der Konsumenten dienen« könne.187 Zusammen mit einer solidarischen Vertriebsstrategie und politischen Vermarktung besaß eine kollektive Produktgestaltung das Potenzial, die ökonomischen, sozialen und politischen Zielsetzungen der Selbstverwaltung – ebenso wie bei der betrieblichen Rationalisierung – gleichermaßen vereinen zu können: Das Ziel, die Erfahrungen der Beschäftigten in der Selbstverwaltung mit anderen zu teilen und die Produkte durch günstigere Preise neuen Bevölkerungsgruppen zugänglich zu machen, war kompatibel mit dem Ziel, den Kreis der Kundschaft sowohl qualitativ als auch quantitativ zu erweitern, um somit unter den Bedingungen verschärfter Konkurrenz auf einem umkämpften Markt zu überleben. Das aufgezeigte Potenzial konnte nicht dauerhaft genutzt werden, da kollektive Gestaltungs- und solidarische Vertriebspraktiken strukturell nicht abgesichert wurden und im Bereich des Informellen blieben. Ein großer Teil der aus den Gestaltungsexperimenten der Anfangszeit hervorgegangenen Produkte sicherte mitunter bis zum Konkurs im Jahr 1996 die ökonomische Existenz des Unternehmens, da sie sich sowohl durch eine kostengünstige und für die Glasmacher annehmbare Fertigung als auch durch eine anhaltend hohe Nachfrage bewährten. Hierzu zählte insbesondere die Serie Meteor, die 1973 zwanzig Prozent des Umsatzes ausmachte und – allen Annahmen von der Notwendigkeit schlanker Serien zum Trotz – zu den umfangreichsten Serien der Firma gehörte.188 Zu Beginn der 1980er Jahre konnten Bierseidel beispielsweise nur noch im Rahmen der Meteor-Serie verkauft werden, während Entwürfe von Richard Süßmuth preislich »total […] außerhalb des Marktgeschehens« lagen.189 Die Verankerung einer Artikelgruppe im Kontext einer Serie war also nicht zwangsläufig ein Hindernis für die Flexibilität in der Angebotsgestaltung, sondern schuf im besten Fall Absatzverbindlichkeiten. Die Glashütte Süßmuth hatte nach der Belegschaftsübernahme eine Reihe neuer Kund*innen gewonnen, die deren Produkte allein aufgrund der demokratischen Unternehmensform zu kaufen begannen und die Belegschaft durch Mundpropaganda im

186 Zitat aus Informationsblatt, [1969–1971] (s. Anm. 102). 187 Friedrich August von Hayek (1991) zitiert in Alex Demirović, Demokratie in der Wirtschaft. Positionen – Probleme – Perspektiven, Münster 2007, S. 21. 188 Gesellschafterversammlung, 3. Juni 1973 (s. Anm. 81), S. 3. 189 Notiz [Harald Meier], 12. Mai 1982, in: AGI, S. 3.

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Freundes- und Bekanntenkreis oder durch selbstorganisierte Soli-Verkaufsaktionen unterstützten. So hat der Schriftsteller Erasmus Schöfer zu diesem Zwecke eine 13-teilige »Schöfer-Kollektion« in Auftrag gegeben und beim Verkauf die Erfahrung gemacht, dass Arbeiter*innen entgegen der in der Geschäftsführung virulenten Vorbehalte das mundgeblasene Glas »schon schön« fanden, es sich aber aufgrund der Fachhandelspreise nicht leisten konnten.190 Der sozialdemokratische Beamte [Dieter Vogt] und seine Ehefrau [Sabine Vogt] oder der gewerkschaftsnahe Sozialwissenschaftler Hans See warben ebenfalls in ihrem Bekanntenkreis für den Kauf von Süßmuthglas; sie versuchten insbesondere auf den lokalen Fachhandel Druck auszuüben, diese Produkte im Angebot zu lassen bzw. aufzunehmen.191 Regelmäßige Einladungen zu oftmals im Kontext der Mitbestimmungskontroverse stehenden Informationsveranstaltungen und nicht zuletzt die bundesweite Berichterstattung über das Modell Süßmuth in Zeitschriften, Radio oder Fernsehen erzeugte bei Vielen erstmals eine Aufmerksamkeit für die Produkte der Glashütte Süßmuth.192 Den hierdurch gestiegenen Bekanntheitsgrad von Süßmuthglas insbesondere in der Arbeiterschaft sollte erst eine nach der Selbstverwaltung von der Geschäftsführung in Auftrag gegebene Marktstudie empirisch belegen.193

Grenze: Quantifizierende Marktorientierung als Ausdruck betrieblicher Machtverhältnisse Das Potenzial der demokratischen Form ließen die geschäftsführenden Gremien außer Acht. Mit ihren in erster Linie auf eine umfassende Kostensenkung insbesondere im Personalbereich abzielenden Rationalisierungsmaßnahmen waren sie vielmehr bemüht, die Arbeitsabläufe zu beschleunigen und »Leerzeiten« in der Produktion zu beseitigen. Die während der Betriebsübernahme eröffneten neuen Räume für kollektive Gestaltungsexperimente schlossen sich wieder. Statt das Schinden der Glasmacher für die Entwicklung innovativer Produkte zu nutzen, forderte der Beirat ein Verbot dieser ausschließlich als »Glasdiebstahl« und Beschleunigungshindernis wahrgenommenen Praxis.194 Die geschäftsführenden Gremien wollten die Herausforderung der produktstrategischen Neuausrichtung mit einer stärker quantifizierenden Marktorientierung bewältigen. Das hieß: In der Sortimentsgestaltung und im Vertrieb orientierten sie sich – ähnlich wie bei der betrieblichen Rationalisierung – vor allem an den (lediglich rudimentär

190 Preisliste »Schöfer-Kollektion« (GHS), 1974, in: AGI; Erasmus Schöfer zitiert in Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 111), S. 9. 191 Transkript Gruppeninterview der Autorin mit [Dieter und Sabine Vogt], 17. Mai 2014, im Besitz der Autorin, S. 2; See, 5. August 2013 (s. Anm. 56), S. 11f. 192 Siehe bspw. Korrespondenz zwischen DGB-Kreis Marktredwitz und IG Chemie Hauptvorstand, Mai/Juni 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Einladung der Jungsozialisten zu einer Informationsveranstaltung über das Modell Süßmuth in Offenbach am Main, 13. April 1973, in: Privatarchiv See; Transkript Podiumsdiskussion zum Thema »Mitbestimmung – Selbstverwaltung – Selbstbestimmung«, organisiert von Jungsozialisten, 21. September 1973 in Niestetal bei Kassel, im Besitz der Autorin. 193 Siehe Kapitel 9.2 194 Beirat, 12. Oktober 1972 (s. Anm. 41), S. 6.

Die Produkte

erhobenen und auf Basis branchenunspezifischer Idealvorstellungen als erstrebenswert prognostizierten) Zahlen der Umsatz- und Kostenentwicklung. Und sie setzten dabei vor allem auf externe Expertise. Auch in diesem Bereich fielen indes die Einschätzungen und Empfehlungen der herangezogenen Experten unterschiedlich aus und wiesen mitunter in entgegengesetzte Richtungen. So begründete der Vertriebsleiter [Kurtz] seine Diversifikationsstrategie mit dem Hinweis, dass »ohnehin jeder Glasmacher im Laufe eines Tages gezwungen sei, wenigstens drei verschiedene Artikel zu arbeiten«.195 Der RKW-Berater [Wiege] plädierte dagegen für eine umfassende Angebotsreduktion, weil es zu teuer sei und seiner Ansicht nach auch nicht einer »industriellen« Fertigung entsprach, wenn »an einem Tag 60 verschiedene Artikel hergestellt werden«.196 Mit dringenden Worten mahnte [Wiege] im Frühsommer 1973 die Beauftragung professioneller Marktanalysen an, wovon seine RKW-Kollegen im Jahr zuvor – weil sie dies als nicht notwendig und zu kostspielig erachteten – abgeraten hatten.197 Während Letztere noch den hohen Stellenwert der Erfahrungswerte der Vertriebsangestellten und Fachhandelsvertreter*innen sowie deren auf persönlichen Bindungen beruhende Kundenbeziehungen hervorhoben, sprach [Wiege] diesen Faktoren jegliche ökonomische Relevanz ab.198 Um zu wissen, ob eine Produktserie noch ankomme oder »aus dem Rennen« sei, brauche es vor allem »Unterlagen, die solche Tatsachen beweisen«, die in der Glashütte Süßmuth jedoch »nur unzureichend« vorlägen. Diese – für das Unternehmen neue – Form der Marktorientierung hatte keine Lösungen, sondern zusätzliche Probleme gebracht. Denn sie verleitete die geschäftsführenden Gremien zu unangemessenen Maßnahmen bzw. Fehlentscheidungen. Infolge ihrer vorrangigen Orientierung an den Kosten- und Umsatzzahlen bzw. -prognosen als Kriterien der Sortimentszusammensetzung vernachlässigten sie bei der Aufnahme neuer Produkte und Produktgruppen die Voraussetzungen für deren Produktion. So war die Sortimentsdiversifikation von [Stefan Kurtz] mit dem Eintritt in zum Teil neue Marktsegmente nicht nur sehr riskant, sondern auch sehr kostenintensiv. Für deren Erfolg hätte es im Betrieb entsprechender Vorbereitungen bedurft, wozu in der Glashütte Süßmuth weder die personellen noch die materiellen Kapazitäten zur Verfügung standen. Eine Sortimentsverkleinerung war dagegen einfacher zu organisieren. Angesichts der Gefahr, dabei auch rentable Artikel aus dem Sortiment zu streichen oder für den Absatz einer Serie benötigte, war diese Strategie gleichwohl nicht weniger risikobehaftet. Vorhandene Abgrenzungs- und Profilierungspotenziale gaben die geschäftsführenden Gremien leichtfertig auf: Die Flachglasabteilung fiel einer kurzfristigen Sparmaßnahme zum Opfer. Die Feinschleiferei wurde aus gleichem Grund in ihrem Personalbestand weiter reduziert, indem die Stellen der aus Altersgründen ausscheidenden Facharbeiter nicht neu besetzt wurden. Das Angebot von Kelchglas – das einstige Markenzeichen der Firma – wurde minimiert, allein aufgrund der in der Branche virulenten Annahme einer künftig nachlassenden Kaufkraft infolge des von der maschinellen Kon-

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Beirat, 18. Dezember 1970 (s. Anm. 27), S. 5. [Michael Wiege] an GHS, 23. Mai 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 3. Folgendes aus RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 11), S. 18. Folgendes von [Michael Wiege] aus Gesellschafterversammlung, 24. April 1973 (s. Anm. 64), S. 4.

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kurrenz ausgehenden Preisdrucks.199 Hierdurch wurde umfangreiches Fertigungswissen verschenkt, das Richard Süßmuth zur Überbrückung der Ende der 1960er Jahre eingebrochenen Fachhandelsaufträge noch durch die Beschäftigung der Kelchwerkstellen mit Auftragsarbeit für Rosenthal »sicherzustellen« versucht hatte.200 Stattdessen weitete der Geschäftsführer [Hans Müller] 1971 – aufgrund der wahrgenommenen hohen Nachfrage und der unmittelbar zu erwartenden Gewinne – die Produktion von Krügen aus und nahm hierfür die Einstellung jener zwei Krugmacher vor, gegen die der Betriebsausschuss heftigen Widerspruch eingelegt hatte. Schließlich hatte es die Geschäftsführung unterlassen, in die Voraussetzungen für die Fertigung von Farb- und Opal-Überfangglas zu investieren. Paradoxerweise führte gerade die sehr gute Auftragslage in diesem Bereich dazu, dass die Betriebs- und Geschäftsleitung die Probleme in der Produktion und die vehementen Forderungen aus der Belegschaft nach dem Neubau mindestens eines kleineren Ofens nicht ernst nahm.201 Aufgrund zunehmender Schwierigkeiten am veralteten Ofen III musste das Angebot von farbigem Wirtschaftsglas 1973 wieder gestrichen werden. Erst nach der gescheiterten Zweiofenumstellung, wodurch sich die Fehlerquote insbesondere bei der Fertigung von Opalglas massiv erhöht hatte, stimmte der Beirat im Mai 1974 dem Bau eines kleinen Wannenofens zu.202 Bis dieser Ofen in Betrieb ging, musste die rentable Opalglasfertigung ruhen. Die Geschäfts- und Vertriebsleitung versäumte es, zusätzliche und vor allem konjunkturunabhängige Absatzmöglichkeiten zu erschließen. Der Fachhandel blieb der einzige offiziell beworbene Vertriebsweg, der jedoch in Abhängigkeit von Konjunkturschwankungen »sehr vorsichtig« und letztlich »immer weniger« disponierte.203 Die Expansion im eigentlich erfolgsversprechenden Segment Beleuchtungsglas verursachte viele Schwierigkeiten, weil sich die Leitung hier allein auf die ebenso konjunkturabhängige Auftragsarbeit für Leuchtenfirmen konzentriert hatte. Auch im Auslandsgeschäft konnten keine Absatzverbindlichkeiten etabliert werden. Der Anteil des Exports am Gesamtumsatz sank vielmehr – abgesehen von dem kurzzeitigen Anstieg 1971 – von 25 Prozent 1970 auf bis 1975 ungefähr 13 Prozent und brach 1976 mit fünf Prozent faktisch ein.204 Als ab 1973 der Umsatz insgesamt wieder stagnierte, begann eine erneut krisenhafte Unternehmensentwicklung. In den Jahren 1974 und 1975 griffen die geschäftsführenden Gremien jene zum Teil bereits gescheiterten, zum Teil umstrittenen Reformvorschläge der externen Experten auf. Sie planten eine »Umstrukturierung des Produktions- und

199 Beirat, 9. Mai 1974 (s. Anm. 150), S. 1; Zur branchenweiten Problemwahrnehmung siehe Protokoll BMWi Länderausschuss Glas, Keramik, Steine und Erden, 24. März 1970, in: BArch, B 102/163459; Armin Gebhardt, Die Glasindustrie aus der Sicht der siebziger Jahre, Berlin 1974, S. 59. 200 Süßmuth, 10. Juli 1967 (s. Anm. 34), S. 3. 201 Siehe v.a. Gesellschafterversammlung, 4. Oktober 1972 (s. Anm. 173), S. 2; Transkript Gesellschafterversammlung, 13. November 1973, im Besitz der Autorin. 202 Beirat, 9. Mai 1974 (s. Anm. 150), S. 3; Beirat, 30. Mai 1974 (s. Anm. 29), S. 7. 203 Beirat, 30. Mai 1974 (s. Anm. 29), S. 5; Erich Hausen Handelsvertretungen an [Harald Meier] und [Ralf Köhler] am 28. September 1981, in: AGI; [Schmidt], 7. Februar 2013 (s. Anm. 121), S. 19. 204 Betriebswirtschaftliche Kennziffern (GHS), 1970–1975, in: AfsB, Bestand IG Chemie und AGI.

Die Produkte

Verkaufsprogramms durch Bevorzugung der umsatz- und gewinnträchtigen Artikel«.205 Aufgrund der rückläufigen Fachhandelsaufträge wollte sie vor allem mehr Großaufträge akquirieren.206 Die Mindestbestellsumme sollte von 100 DM auf 300 DM für Privatpersonen (die ansonsten »an den Handel« verwiesen sollten) und auf 800 DM für Agenturen angehoben werden.207 Sogar der weitflächige Verkauf von Zweite-Wahl-Artikeln zu um 50 Prozent reduzierten Preisen wurde ins Auge gefasst. Zugleich wurden die Bemühungen intensiviert, möglichst »viele Neuheiten auf den Markt zu bringen«.208 Mit deren Entwicklung wurden nunmehr Designer*innen beauftragt, für die Glas zum Teil nur ein Werkstoff unter anderen war und die meist erst am Anfang ihrer Karriere standen. Diese konnten (noch) keine hohen Provisionen für ihre Entwürfe verlangen, aber ebenso wenig auf ein umfassendes Erfahrungswissen zurückgreifen, das bei der Gestaltung von Glas indes von enormer Bedeutung war.209 Die im Beirat aktualisierten Überlegungen, den Schwerpunkt der Investitionen generell auf den Bereich des Marketings zu verlagern,210 blieben aufgrund fehlender Gelder gleichwohl begrenzt. Eine Stabilisierung des Unternehmens konnten die geschäftsführenden Gremien hierdurch nicht herbeiführen. Die Entscheidungen der geschäftsführenden Gremien erhöhten die mit der produktstrategischen Neuausrichtung verbundene Komplexität und beeinträchtigten die Flexibilität des Unternehmens. »Vertretertagungen« konnten wegen des großen organisatorischen Aufwands maximal zweimal im Jahr stattfinden. Die verstärkte Abhängigkeit vom Fachhandel oder von anderen Großkund*innen zog erhebliche Schwierigkeiten in der Betriebsorganisation nach sich. Denn unerwartete Auftragsrücknahmen bzw. -schwankungen erzwangen kurzfristige Produktwechsel und damit Änderungen in der Werkstellenbesetzung, die die Arbeitsabläufe störten und mit temporären Produktionsausfällen verbunden waren, die wiederum die Koordination in der Produktions-, Vertriebs- und Lagerplanung erschwerten.211 Mit der ansteigenden Frequenz von Produktund Sortimentswechseln nahmen die Häufigkeit von produktionshemmenden und kostenverursachenden Musterarbeiten sowie die konfliktträchtigen Werkstellenumsetzungen und Akkordauspreisungen zu. Für die Glasmacher verkürzten sich die Zeiten, die sie aber benötigten, um sich in einen Artikel einzuarbeiten. Zugleich reduzierten sich die Voraussetzungen für ihre Fähigkeiten, auch andere Produkte zu fertigen, im Zuge der die Grundlagen der Qualitätsproduktion zerstörenden betrieblichen Rationalisierung. Vergrößert hatten sich stattdessen die Probleme mit der Fehlproduktion und

205 »Artikel mit niedrigen Gewinnspannen« seien aus dem Sortiment zu nehmen, um nur noch »Artikel mit höheren Gewinnspannen verstärkt zu produzieren und zu verkaufen.« [Müller], 12. Juni 1973 (s. Anm. 45), S. 2; Bericht HLT, 18. Juni 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 10. 206 HLT, 18. Juni 1973 (s. Anm. 205), S. 10. 207 Folgendes aus Plan Absatzförderungsmaßnahmen (GHS), 11. September 1975, in: AGI, S. 3; Protokoll Beirat (GHS), 21. Oktober 1975, in: AGI, S. 2; Information zur Preisliste (GHS), 1975, in: AGI. 208 Beirat [2], 17. März 1975 (s. Anm. 20), S. 1. 209 Siehe bspw. Anneli Kraft, Die Entwicklung des Gebrauchsglases von der manuellen zur maschinellen Herstellung am Beispiel der Kelchglasherstellung der Vereinigten Farbenglaswerke AG in Zwiesel von 1954 bis 1972, Hamburg 2015, S. 42. 210 HLT, 31. Oktober 1973 (s. Anm. 132); Vermerk HLT, 14. November 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 5; Beirat, 9. Mai 1974 (s. Anm. 150), S. 1f. 211 Siehe bspw. [Müller], 12. Juni 1973 (s. Anm. 45), S. 1.

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damit auch die Lagerbestände an Zweite-Wahl-Artikel, die wiederum Betriebsmittel banden und die Bilanz belasteten. Eine »[s]charfe Kritik […] an der Qualität« der Produkte, an einer »schleppenden Abwicklung im Verkauf« sowie an einer faktisch nicht existierenden Kundenbetreuung sei das Erste gewesen, was [Harald Meier] als neuer Geschäftsführer im Januar 1976 von den Fachhandelsvertreter*innen zu hören bekam.212 Als unzuverlässig habe auch Hans Theo Baumann die Zusammenarbeit mit der vorherigen Geschäftsführung empfunden.213 In der Belegschaft erhöhte sich die Unzufriedenheit massiv, da die Mängelproduktion sowohl ihren Qualitätsansprüchen an die eigene Arbeit als auch ihrer Verpflichtung gegenüber den Qualitätserwartungen der Kund*innen zu wider lief. Im Zuge der quantifizierenden Marktorientierung wurde die Angebotsgestaltung immer mehr aus dem Fertigungsprozess herausgelöst. Die Arbeitsbedingungen und -zufriedenheit rückten als ein hierfür relevantes Kriterium wieder in den Hintergrund, wie sich bereits bei der Halbierung der Sortimentsvielfalt zeigte, die für die Glasmacher eine »interessante« Abwechslung darstellte.214 Mit seinen entlang »Markterfordernissen« vorgenommenen Sortimentsveränderungen erregte [Hans Müller] den Unmut sowohl der Kelchglasmacher, die ihre Fähigkeiten entwertet sahen, als auch jener, die selbst zu Krugmachern aufsteigen wollten und sich über die Neueinstellung der [Kunzes] empörten.215 Unverständlich war auch dem Magazinleiter [Willi Voigt], der als gelernter Glasschleifer das Angebot von veredeltem Glas immer noch als ein lukratives Geschäft betrachtete, dass »man die Abteilung hat so eingehen lassen«.216 Nicht zufällig hatten sich im Laufe des Jahres 1973 gerade an sortiments- und vertriebsbezogenen Fragen heftige Konflikte zwischen Belegschaftsgremien und Geschäftsführung entzündet. Denn während im Betrieb unter vielfältigen Entbehrungen der Beschäftigten die Rationalisierung vorangetrieben wurde, hatte sich im Vertrieb nur wenig verändert. Anders als in der Produktion besaßen die Belegschaftsgremien im Vertrieb kaum materielle Ressourcen, um ihre Vorschläge durchzusetzen bzw. sie fühlten sich dazu auch nicht kompetent genug und vertrauten zunächst den Entscheidungen von [Hans Müller].217 Mit der seit Anfang 1973 rückläufigen Auftragslage wurde ihm jedoch vorgehalten, er habe den an ihn gestellten Erwartungen nicht entsprochen und trotz der verschiedenen vorgebrachten Empfehlungen den Vertrieb nicht krisenfest gemacht. Das »wissenschaftliche Team« hatte schon im August 1969 davor gewarnt, die »Absatzentwicklung […] sich selbst« bzw. dem Fachhandel zu überlassen.218 Auf dieses Defizit und den dringenden Reformbedarf verwies erneut der RKW-Berater [Michael Wiege] der seine Vorschläge mit verheißungsvollen Versprechungen und eindringli-

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[Harald Meier] an Beirat, 12. Januar 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen. Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 29. März 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 3f. [Paul Nowak] zitiert in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 111), S. 19. Siehe Kapitel 5.3. [Voigt], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 22), S. 2. Betriebsrat, 23. Mai 1973 (s. Anm. 80), S. 1; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Holger Neumer], 13. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 4. Das »wissenschaftliche Team« empfahl die Entwicklung eines firmeneigenen Vertriebsapparats. Wissenschaftliche Team, 25. August 1969 (s. Anm. 15), S. 8.

Die Produkte

chen Warnungen bzw. düsteren Prognosen verband.219 Hierdurch waren neben der bereits zuvor den Geschäftsführer kritisierenden Beschäftigtengruppe fortan auch der Betriebsrat und die Gesellschafterversammlung alarmiert.220 Der Betriebsratsvorsitzende [Holger Neumer] warf dem Geschäftsführer vor, sich den mehrfach vorgetragenen »Vorschlägen und Vorstellungen von uns wohlgesinnten, modern und erfolgreichen Geschäftsleuten« zu verschließen.221 [Müller] wehrte [Wieges] Vorstoß dagegen als unzulässige Kompetenzüberschreitung ab.222 Die wachsende Kritik an seiner Arbeit sei nicht sachlich begründet, sondern Teil eines gegen ihn geführten Machtkampfs. Die Vehemenz, mit der [Wiege] seine Vorschläge in der Gesellschafterversammlung und im Beirat vorbrachte und die Unterstützung, die er von der oppositionellen Gruppe erhielt, ließ [Müller] und andere Beschäftigte annehmen, er solle als Geschäftsführer gestürzt werden, damit [Wiege] seinen Posten übernehmen könne.223 Und in der Tat: [Wieges] Absage an jegliches Erfahrungswissen, das es auch in der Geschäfts- und Vertriebsleitung durch wissenschaftliches Wissen zu ersetzen galt, war ein direkter Angriff auf [Müllers] wichtigste Legitimationsbasis. Seine langjährigen Erfahrungen in der Vertriebsabteilung, seine persönlich engen Beziehungen zu und sein hohes Ansehen bei Geschäftspartner*innen stellten sein wichtigstes persönliches Kapital dar und waren zentrale Argumente für den Beirat und die Mehrheit der Gesellschafterversammlung, [Müllers] Tätigkeit als sehr wichtig für die Existenz des Unternehmens zu erachten. Im Sommer 1973 hatten sie sich deshalb intensiv darum bemüht, ihn zum Verbleib im Unternehmen zu überreden, nachdem er seine Kündigung eingereicht hatte.224 Als sich [Wieges] Warnungen angesichts der für Ende 1973 im Beirat (fehl-)prognostizierten Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens zu bestätigen schienen, gerieten aber selbst jene Belegschaftsvertreter*innen in Opposition zum Geschäftsführer, die ihn bis dahin gegenüber den Kritikern verteidigt hatten. Die sich durchsetzende Form der Marktorientierung war also auch den Dynamiken der betrieblichen Auseinandersetzungen geschuldet und Ausdruck der sich verändernden Machtverhältnisse. Die Attraktivität einer vorrangig auf die Umsatz-Kosten-Entwicklung fokussierenden Marktorientierung und der hiervon abgeleiteten Empfehlungen der ökonomischen Experten lag (ähnlich wie bei der betrieblichen Rationalisierung) 219

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Mit der von ihm vorgeschlagenen »Sortenoptimierung« habe die GHS »große Chancen […] vorwärtszukommen« bzw. läge hierin die »letzte Chance […], ein gewinnorientiertes Unternehmen zu werden«. Wenn die Firma aber »weiter auf dem riesigen Sortenprogramm beharrt, besteht die Gefahr, in den nächsten zwei Jahren vom deutschen Markt verschwunden zu sein.« Auch [Wieges] Vorgesetzter, der Leiter der RKW-Landesgruppe Hessen, teilte den Eindruck, dass »die Firma am Ende« sei, »wenn hier nicht bald ein Wandel eintritt«. [Wiege], 23. Mai 1973 (s. Anm. 196), S. 3; [Wiege], 14. Juni 1973 (s. Anm. 145), S. 3; Gesellschafterversammlung, 3. Juni 1973 (s. Anm. 81), S. 5. Gesellschafterversammlung, 3. Juni 1973 (s. Anm. 81), S. 4. Zur sich in der Belegschaft formierenden oppositionellen Gruppe siehe Kapitel 8.2. Betriebsrat, 23. Mai 1973 (s. Anm. 80), S. 2. Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 8. Mai 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 1; Gesellschafterversammlung, 3. Juni 1973 (s. Anm. 81), S. 2. [Hans Müller] in Handschriftliches Protokoll (Vitt) Beirat (GHS), 10. Juli 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 3f.; [Franke] und [Weber], 13. August 1973 (s. Anm. 71), S. 6; [Bruno Hager] in Protokoll Außerordentliche Gesellschafterversammlung (GHS), 28. Juni 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 4. Siehe Kapitel 4.2.

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in den vergleichsweise einfachen Lösungen. Versprach die Annahme von großen Aufträgen das Ziel einer Umsatzsteigerung relativ zügig erreichen zu können, suggerierte die Reduktion der Kundenwünsche auf den Preis allein durch dessen Senkung bzw. durch eine im Vergleich zur Konkurrenz geringere Preissteigerung einen größeren Personenkreis ansprechen und die Umsätze erhöhen zu können.225 Das Beauftragen von Marktforschungsinstituten eröffnete den geschäftsführenden Gremien die Aussicht, sich mit der komplexen Nachfrageproblematik nicht selbst beschäftigen zu müssen. Vor allem ermöglichte ihnen eine solche Professionalisierung des Marketings, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren und ihre Hilf- und Ratlosigkeit zu kaschieren, der wieder krisenhaften Unternehmensentwicklung keine tragfähigen Lösungs- und Reformkonzepte entgegenstellen zu können. Dementsprechend veränderten sich auch die Deutungen der Probleme im Unternehmen.226 »[W]esentlich gravierender« als »vorübergehende Umsatzausfälle«, die »wegen der begrenzten Möglichkeiten der Einflussnahme nicht vermeidbar« seien, war für [Müller] die zu gering ansteigende Produktionsleistung, die er vor allem auf »eine Krankheitswelle bei den Glasmachern« zurückführte. Oder er prangerte Komplikationen bei kurzfristigen Umstellungen in der Werkstellenbesetzung oder bei der Erfüllung von Großaufträgen als eine »immer wieder bewiesene Unfähigkeit« an. Der Geschäftsführer hätte die ihm eigentlich bekannten Merkmale der Mundglasfertigung bei der Planung berücksichtigen müssen – mit der Zuspitzung der betrieblichen Konfliktlage wurden sie für ihn nun jedoch zu einer Frage des guten Willens und der Bereitschaft zur Flexibilität, der sich die Beschäftigten verweigern würden.227 Solche Uminterpretationen, mit denen das Führungspersonal die Verantwortung für ihre Fehlentscheidungen oder Versäumnisse von sich wies und dabei von vermeintlicher Alternativlosigkeit gegenüber den »Marktzwängen« sprach, löste in der Belegschaft und insbesondere unter den Glasmachern Empörung aus. Frustriert waren letztere auch wegen der fehlenden Anerkennung und Würdigung ihrer Produktvorschläge.228 Anstatt die organisatorischen Voraussetzungen für die Flexibilität in Produktion und Vertrieb zu erhalten bzw. zu erweitern, delegierten die Führungskräfte diese Anforderung sukzessive an die Belegschaft bzw. vor allem an die Glasmacher. Aus dieser neuen Arbeitsanforderung leitete der Geschäftsführer den Vorwurf einer vermeintlich fehlenden Leistungsbereitschaft der Glasmacher ab, den andere Beschäftigtengruppen im

225 Zur Preisgestaltung siehe Kapitel 7.1. 226 Folgendes aus [Müller], 12. Juni 1973 (s. Anm. 45). 227 Ebd. Gegenüber Erasmus Schöfer hatte [Hans Müller] im Frühjahr 1973 noch betont, dass die Firma sich von der maschinell arbeitenden Industrie »entweder von Form oder Aussehen oder von der Stückzahl her« abheben und »bewusst das […] machen [müsse], was eben nur mit der Hand gemacht werden kann«. Ebenso wusste der Vertriebsleiter [Jürgen Schmitz] um den »großen Zeitaufwand« und die hohen Kosten, die mit der Musterproduktion verbunden waren und die eigentlich gegen eine hohe Frequenz von Produktneuheiten und Sortimentserneuerungen sprachen. [Hans Müller] zitiert in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 111), S. 3; Ebenso [Müller], [Juli 1969] (s. Anm. 26), S. 3. [Jürgen Schmitz] zitiert in Typoskript »Wo neues Bewusstsein wächst«, Ulrich Wickert für Panorama (ARD), 27. April 1973, in: FHI, Schöf-1212, S. 5. 228 [Schrödter], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 59), S. 11; Belegschaftsversammlung, [Februar 1974] (s. Anm. 58), S. 3.

Die Produkte

Betrieb zu teilen begannen.229 Die besondere »Schuld« der Glasmacher habe nach den Erinnerungen des Lagerverwalters [Walter Albrecht] auch darin bestanden, nur leicht zu formende und hierdurch im Akkord »lohnmäßig günstige Artikel« wie jene der Serie Meteor arbeiten zu wollen.230 Die ökonomische Rationalität einer material- und fertigungsgerechten Produktgestaltung nach den Grundsätzen der Guten Form wurde in dieser Deutung auf den (Lohn-)Egoismus der Glasmacher reduziert und abgewertet. Infolge der zuletzt wieder erhöhten Fehlproduktion wurde aus Rentabilitätsgründen und entgegen der einstigen Bemühungen um den Schutz der Qualitätsmarke vom Beirat entschieden, auch Zweite-Wahl-Artikel über die offiziellen Vertriebswege anzubieten, was im Betrieb angesichts der beibehaltenen Akkordentlohnung ein »erzieherisches« Dilemma erzeugte.231 Denn diese Artikel konnten den Glasmachern nicht mehr komplett vom Lohn abgezogen werden und bargen folglich die Gefahr eines Anreizes zur »Schlamperei«. Dass die Glasmacher auch für fehlerhaft gearbeitete Artikel entlohnt wurden bzw. werden wollten, weil sie sich nicht als Verursacher der Mängel sahen oder weil die Firma die Ergebnisse ihrer Arbeitsleistung dennoch weiterverkaufte, empörte wiederum Angehörige anderer Beschäftigtengruppen.232 Die Marktorientierung der geschäftsführenden Gremien erhöhte damit ebenso wie die von ihnen durchgesetzte Form der betrieblichen Rationalisierung das Konfliktpotenzial in der Belegschaft und trug zu der sich im Verlauf der Selbstverwaltung verschlechternden Betriebsatmosphäre bei. Erst am Ende der Selbstverwaltung – als die Beschäftigten kaum noch Einfluss auf die unternehmerische Entscheidungsfindung nehmen konnten – griffen die geschäftsführenden Gremien bei ihrer Suche nach neuen Absatzmöglichkeiten Elemente der »utopischen« Strategie auf. Im Rahmen der vom Beirat gegründeten Arbeitsgruppe Umsatz erstellte [Hans Müller] einen Maßnahmenkatalog zur Absatzförderung, der jene von ihm bis dahin abgelehnte Vertriebs- und Vermarktungsstrategien als Empfehlung beinhaltete.233 Der Direktvertrieb über »eigene Filialgeschäfte« oder über den »Versandhandel« wurde weiterhin als »nicht sinnvoll« erachtet. Nun aber sollte ein »Werkskleinverkauf« für »Gruppen, die das Werk besichtigen«, eingerichtet werden und der Verkauf mit einem »fliegenden Verkaufsstand« auf »Veranstaltungen wie Gewerkschaftskongressen, Schulungsveranstaltungen [oder] Parteitagen […] forciert werden.« Süßmuthglas sollte künftig in »Verkaufsstellen in Heimvolkshochschulen, Gewerkschaftsschulen und -häusern« erhältlich sein. Auch sollten »mit entsprechender politischer Argumentation politisch nahestehende Abgeordnete in Land und Bund sowie geeignete Funktionsträger jeder Art aufgefordert werden, ihren privaten Eigenund Geschenkbedarf in der Hütte zu decken.« In ähnlicher Weise seien die »Oberen« der Kommunen oder die »Arbeitsdirektoren und Aufsichtsräte in mitbestimmten Unternehmen« anzusprechen. Franz Fabian erklärte sich sogar dazu bereit, »eine Gruppe von Jungsozialisten zu organisieren, die in ihrem Umkreis bei Genossen, Kollegen, Kommu-

229 230 231 232 233

Siehe Kapitel 5.4. [Albrecht], 15. Juli 1993 (s. Anm. 28), S. 4. Folgende Zitate aus Beirat, 21. Oktober 1975 (s. Anm. 207), S. 2. [Becker] und [Köster], 18. März 2014 (s. Anm. 62), S. 11. Folgendes aus Plan, 11. September 1975 (s. Anm. 207).

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nen etc. unser Glas verkaufen sollen«.234 Wie im Bereich der Produktion eignete sich die Unternehmensführung zuletzt also im Bereich des Vertriebs und der Vermarktung das in der demokratischen Praxis aufgezeigte bzw. generierte Wissen implizit an, woraus vor allem die neue ab 1976 amtierende Geschäftsführung schöpfen sollte.235

6.4 Zwischenfazit Die während und unmittelbar nach der Betriebsübernahme sehr rege Beteiligung der Beschäftigten an der Produktentwicklung sowie an Vertriebs- und Vermarktungsüberlegungen wurde im konfliktträchtigen Verlauf der Selbstverwaltung zunehmend zurückgedrängt. Nach 1971 brachte die Glashütte Süßmuth keine auf kollektive Gestaltungsexperimente unter den Beschäftigten zurückgegangenen Erzeugnisse mehr auf den Markt bzw. wurden diese nicht als solche vermarktet. Die demokratische Form, deren Potenzial gerade im langfristigen Erfolg von Produkten wie der Serie Meteor sichtbar wurde, blieb eine Utopie. In den Bereichen Vertrieb und Vermarktung fehlte es an jener Materialität, die der Belegschaft das aufgezeigte Potenzial praktisch erfahrbar gemacht und sie in ihrem Selbstbewusstsein bestärkt hätte, zur Lösung der Probleme beitragen und die Realisierung ihrer Vorschläge von den geschäftsführenden Gremien vehementer einfordern bzw. im Informellen praktizieren zu können. Die Diskussion über die Bedürfnisse der Endverbraucher*innen war hochgradig spekulativ. Angesichts der Ungewissheit über die Nachfrageentwicklung beeinflussten – über den Beirat und die von diesem herangezogenen Experten – zunehmend neue Vorstellungen von Marktorientierung als einer vordringlichen Orientierung an Kosten- und Umsatzzahlen sowie Vorstellungen von industrieller Fertigung als einer Fertigung in großen Serien und damit eine Orientierung am Produktionsformat der mass production die Unternehmensleitung der Glashütte Süßmuth. Der hiermit implizit nahegelegte Wechsel von einer Strategie der Qualitäts- zu einer Strategie der Kostenführerschaft barg für die Qualitätsproduzentin, die die Mundglashütte nun einmal war, massive wettbewerbsstrategische Risiken in sich.236 Das Vermächtnis von Richard Süßmuth erwies sich demgegenüber als eine die Unternehmensexistenz sichernde Barriere. Entgegen allzu kurzfristig kalkulierender Maßnahmen der Umsatzsteigerung sahen sich die langjährigen Angestellten in der Vertriebs- und Unternehmensleitung wie auch die Beschäftigten als »Süßmuth-Erben« der Qualität der Produkte verpflichtet, so dass den qualitativen, nicht quantifizierbaren Bedürfnisse der Konsument*innen bei der produktstrategischen Neuausrichtung weiterhin ein zentraler Stellenwert zukam.237 Süßmuth hatte den handwerklichen Fähigkeiten der Facharbeiter und dem betrieblichen Ausbildungswesen große Bedeutung beigemessen. Das Resultat seiner Sozial- und Personalpolitik war ein dem Betrieb 234 Protokoll Beirat (GHS), 11. September 1975, in: AGI, S. 5. Zuvor war ein dahingehender Vorschlag von den geschäftsführenden Gremien aus Angst vor einer politisch unerwünschten Außenwahrnehmung bzw. Unterwanderung noch abgelehnt worden. Erasmus Schöfer in Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 111), S. 8. 235 Siehe Kapitel 9.2. 236 Siehe Kapitel 7.1. 237 Zitat [Jürgen Schmitz] aus Gesellschafterversammlung, 3. Juni 1973 (s. Anm. 81), S. 3.

Die Produkte

eng verbundener und besonders gut ausgebildeter Facharbeiterstamm. Von diesem »Erbteil« zehrte die selbstverwaltete Glashütte, gleichwohl widmeten die geschäftsführenden Gremien dessen Erhalt und Ausbau – trotz dahingehender Forderungen aus der Belegschaft – keine Aufmerksamkeit. Dass die Leitung die Arbeitenden weder als Produzent*innen noch als Konsument*innen in die Produkt-, Vertriebs- und Vermarktungspolitik einbezog, gehörte ebenfalls zum Erbe Süßmuths, das zu einem entscheidendem Hindernis für die notwendige produktstrategische Neuausrichtung wurde. Während den Beschäftigten hierfür die Erfahrungen und Fähigkeiten abgesprochen wurden, wirkte im Vertrieb jene tradierte Vorstellung eines mit mundgeblasenem Glas generell und mit Süßmuthglas im Besonderen assoziierten Konsummusters einer vorrangig zahlungskräftigen und politisch konservativen Kundschaft fort. Der bis zur Belegschaftsübernahme eng mit der Person des Firmengründers, Künstlers und katholischen Vertriebenenpolitikers Richard Süßmuth verbundene Markenname war für den Fortbestand und die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth daher ein ambivalentes Erbe. Inwieweit durch die Selbstverwaltung Süßmuthglas von den Konsument*innen nicht mehr nur als Ausdruck »zeitloser Schönheit«, sondern auch als Ausdruck »praktischer Utopie« betrachtet wurde, lässt sich schwer erfassen. Als »Teil komplexer Geschichten« können Dinge sich gegen Umdeutungen – wie Nicholas Thomas betont – nicht wehren und »verschiedene, zum Teil einander widersprechende Bedeutungen« erhalten.238 Design und Vermarktung von Produkten sind – wie Judith Attfield oder Ruth Oldenziel und Mikael Hård darlegen – nicht deckungsgleich mit ihrem Gebrauch und der Bedeutung, die ihnen die Verbraucher*innen beimessen.239 Die Aura von Süßmuthglas ließ sich nicht von der Unternehmensleitung steuern, sondern konstituierte sich vor allem in den Dynamiken der durch die Belegschaftsübernahme angestoßenen Kommunikationsprozesse zwischen den Beschäftigten der Glashütte Süßmuth mit Belegschaften anderer Unternehmen und Personen aus dem interessierten Umfeld. Mit der Belegschaftsübernahme zog die Glashütte Süßmuth die Aufmerksamkeit einer bundesweiten Öffentlichkeit auf sich. Printmedien, Rundfunk und Fernsehen berichteten über das bis dahin in der Bundesrepublik beispiellose Unterfangen. Angehörige der Belegschaft wurden zu zahlreichen politischen Veranstaltungen eingeladen. Viele an der Selbstverwaltung Interessierte besuchten die Glashütte in Immenhausen. Unabhängig von der offiziellen Vertriebs- und Vermarktungsstrategie sowie den internen Konflikten, die einer breiteren Öffentlichkeit verborgen blieben, konnte die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth zur Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Hoffnungen auf eine demokratischere Gesellschaft werden, die sich auch auf die Produkte übertrugen. Solche Austauschprozesse anzuregen und zu verstetigen war das Anliegen der solidarischen Vertriebs- und politischen Vermarktungsstrategie – nicht aber im rein kom-

238 Nicholas Thomas (1997) übersetzt und zitiert in Stefanie Samida, »Einleitung. Materielle Kultur in den Kultur- und Sozialwissenschaften«, in: Dies., Manfred K.H. Eggert und Hans Peter Hahn (Hg.), Handbuch materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart 2014, S. 8. 239 Judy Attfield, Wild things. The material culture of everyday life, Oxford 2000; Ruth Oldenziel und Mikael Hård, Consumers, Tinkerers, Rebels. The People Who Shaped Europe, Basingstoke 2013; Ebenso Gries, Produkte (s. Anm. 6), S. 119f.

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merziellen Sinne, weshalb die geschäftsführenden Gremien einzelne Elemente hiervon am Ende der Selbstverwaltung aufzugreifen begannen. In der belegschaftseigenen Glashütte Süßmuth war vielmehr im Ansatz die Möglichkeit zutage getreten, wie die Demokratisierung der Produktion mit einer Demokratisierung des Konsums hätte zusammenwirken können und wie sich nicht allein der materielle Zugang zu Konsumgütern für neue Bevölkerungsgruppen hätte erweitern, sondern ein qualitativ anderes, nämlich ein solidarisches Verhältnis zwischen Produzent*innen und Konsument*innen in einer hierdurch demokratischeren Gesellschaft hätte etablieren können. Diese zumindest von einem Teil der Belegschaft mit Menschen aus dem solidarischen Umfeld geteilte Hoffnung dürfte auch den Erfolg von Produkten der Serie Meteor ausgemacht haben, die indes – wie im Produktnamen eingeschrieben einer sporadischen Himmelserscheinung gleich – lediglich eine Ahnung davon vermittelten, wie es hätte anders sein können. Indem sich die Serie Meteor während der Selbstverwaltung zu einem Verkaufsschlager entwickelte und auch danach fester Bestandteil des Sortiments war, blieben die mit ihrem Ursprung verbundenen Hoffnungen und Erwartungen als ein nur für die damals Involvierten sichtbares Leuchten präsent, das über die Jahre erlosch.

7. »Jetzt glaubt jeder Einzelne, darüber mitentscheiden zu können.« Die Unternehmensführung

Mit der seit Beginn der 1960er Jahre krisenhaften Unternehmensentwicklung hatte die hochgradig personengebundene Form der Unternehmensorganisation Richard Süßmuths an Funktionalität eingebüßt.1 Während er ungeachtet der sich häufenden Probleme an seinem bisherigen Führungskonzept festhielt, begann sich in seinem Unternehmen ein »Abteilungsdenken« auszuprägen. Innerhalb und zwischen den Abteilungen der Produktion, des Vertriebs und der Verwaltung mangelte es an Absprachen sowie generell im Unternehmen an einer koordinierenden wie kontrollierenden Planung und Steuerung. Mit Süßmuths Reformverweigerung und der sich zuspitzenden Liquiditätskrise war in der unternehmerischen Entscheidungsfindung eine Pattsituation entstanden, die aufzubrechen allein der Initiative der Belegschaft gelang und die andernfalls das Unternehmen in den Konkurs geführt hätte. Nach der Belegschaftsübernahme erhöhte die eingeschlagene Expansion von Produktion und Vertrieb die organisatorische Komplexität der Unternehmensführung einmal mehr. Umso notwendiger war es, wohl überlegte Entscheidungen über Reformmaßnahmen auf Basis langfristiger Planungen und in Abstimmung mit allen Abteilungen im Unternehmen zu treffen und konsequent umzusetzen, damit die hiermit verbundenen Risiken und Kosten möglichst gering blieben. Die Frage, wie diese Herausforderungen bewältigt werden können, besaß für die Firma existenzielle Relevanz. Das Management wurde auch deshalb während der Selbstverwaltung zum Gegenstand sich verdichtender Konflikte.2 Die selbstverwaltete Glashütte Süßmuth unterschied sich in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich von anderen Unternehmen jener Zeit. Angesichts sich verschärfender Wettbewerbsbedingungen habe sich »die Unternehmensorganisation in den 1970er

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Folgendes siehe Kapitel 1.4 und 1.6; Unternehmenskonzeption [Hans Müller], undatiert [Juli 1969], in: Privatarchiv [Müller]; Notiz [Hans Müller], 20. September 1966, in: FHI, Schöf-1224. Siehe Kapitel 4.2.

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Jahren zu den umkämpften Feldern« entwickelt.3 Mit dem Übergang vom Verkäuferzum Käufer-Markt habe sich der Schwerpunkt der Unternehmensführung von der Produktion zum Marketing verschoben bzw. sei ein Wandel vom »technizistischen zum betriebswirtschaftlichen« Leitbild der Unternehmensorganisation erfolgt.4 Die vorangegangene Analyse hat gezeigt, dass diese Deutungen im Fall Süßmuth mitunter die zeitgenössischen Wahrnehmungen prägten. Allerdings stellt die mikrohistorische Fallstudie die Eindeutigkeit des konstatierten Wandels infrage. Unternehmen der Konsumgüterindustrie hatten schon zuvor den Bedürfnissen der Endverbraucher*innen einen zentralen Stellenwert eingeräumt, zudem war die bundesdeutsche Betriebswirtschaftslehre (BWL) in sich sehr heterogen. Insbesondere nach 1970 sei eine Spaltung in zwei gegensätzliche »Denkstilgemeinschaften« offenkundig geworden, die die um wissenschaftliche Anerkennung ringende Disziplin von Beginn an geprägt hatten und in der Nachkriegszeit Theorien- und Methodenstreitigkeiten austrugen.5 Eine stärker wirtschaftstheoretisch ausgerichtete BWL (in der Tradition von Erich Gutenberg) stand einer verhaltens- und sozialwissenschaftlich wie anwendungsorientierten Managementlehre gegenüber.6 Die Expansion der Disziplin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging mit einer Ausdifferenzierung und Spezialisierung einher.7 Ein »betriebswirtschaftliches« Leitbild konnte also keine eindeutige Orientierung in der Unternehmensführung gewähren, sondern war vielmehr – sowohl in der BWL als auch in den Unternehmen – selbst Gegenstand der Auseinandersetzungen.

7.1 Die Kostenrechnung Ein rückständiges Rechnungswesen hatten außenstehende Gutachter als gewichtigen Grund der Unternehmenskrise identifiziert.8 Richard Süßmuth wurde als unternehmerische Unfähigkeit ausgelegt, dass er kein Wissen über die Herstellungskosten der einzelne Artikel besessen und die Preisgestaltung hiervon unabhängig gestaltet habe.9 Ein »modernes« Rechnungswesen hatte dagegen alle Vorgänge und hierdurch entstandenen 3

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Stefanie van de Kerkhof, »Auf dem Weg vom Konzern zum Netzwerk? Organisationsstruktur der Rheinmetall Berlin AG im Kalten Krieg, 1956–1989«, in: Morten Reitmayer und Ruth Rosenberger (Hg.), Unternehmen am Ende des »goldenen Zeitalters«. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008, S. 81. Hartmut Berghoff, Moderne Unternehmensgeschichte. Eine themen- und theorieorientierte Einführung, Paderborn u.a. 20162 , S. 327f.; Morten Reitmayer und Ruth Rosenberger, »Einleitung«, in: Dies., Unternehmen (s. Anm. 3), S. 19. Fritz Klein-Blenkers und Michael Reiß, »Geschichte der Betriebswirtschaftslehre«, in: Waldemar Wittmann (Hg.), Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, Stuttgart 19935 , S. 1427. Während Erstere einem methodologischen Individualismus verpflichtet war, sah sich Letztere als ganzheitliche Organisationswissenschaft und orientierte sich hierbei insbesondere an angelsächsischen Managementtheorien. Dieter Schneider, Geschichte und Methoden der Wirtschaftswissenschaft, München u.a. 2001, S. 270. Ebd., S. 238, 255. Siehe Kapitel 1.6; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Franz Fabian, 22. April 1974, im Besitz der Autorin, S. 17. Bericht HLT, 2. November 1966, in: HHStAW, Abt. 507, Nr. 9707, S. 3.

Die Unternehmensführung

Kosten im Unternehmen detailliert zu erfassen und zu dokumentieren. Eine solche Kostenrechnung galt den betriebsexternen Beiratsmitgliedern als wichtigste Voraussetzung zur Wiederher- und Sicherstellung der Rentabilität im nunmehr belegschaftseigenen Unternehmen. Als Grundlage für eine »marktgerechte« Sortiments- und Preisgestaltung sollte sie eine Auslese von Verlustbringern sowie eine »drastische Preiserhöhung bei den zu niedrig ausgepreisten Artikeln« ermöglichen.10 Über die Methode und Funktionen der in der Glashütte Süßmuth einzuführenden Kostenrechnung kam es zu grundlegenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den neu im Unternehmen beschäftigten Angestellten und den vom Beirat hinzugezogenen Unternehmensberatern.

Voll- und Teilkostenrechnung Zur traditionellen Methode der Kostenrechnung gehörte die sogenannte Vollkostenrechnung, bei der alle anfallenden Kosten den einzelnen Erzeugnissen oder Leistungen zugeordnet wurden.11 Dieses Verfahren bestand aus drei Stufen: Zunächst wurde in einer Kostenartenrechnung zwischen Arbeits-, Material-, Energie- und Vermögenskosten auf der einen und in Einzel- und Gemeinkosten auf der anderen Seite unterschieden. Während bei den Einzelkosten eine eindeutige und unmittelbare Zuordnung zu einem Erzeugnis oder einer Leistung möglich war, so war dies bei Gemeinkosten (wie bei Gebäudekosten, bei Lohnkosten für den Pförtner oder Gehaltskosten für den Geschäftsführer) nicht der Fall. In einem zweiten Schritt waren daher in der Kostenstellenrechnung die Gemeinkosten den jeweiligen Kostenstellen mit Hilfe eines Betriebsabrechnungsbogens (BAB) in einem zu bestimmenden quantitativen Verhältnis (nach einem Verteilungsschlüssel) zuzuordnen. Schließlich erfolgten in einem dritten Schritt mit der Kostenträgerrechnung die direkte Zuteilung der Einzelkosten und die anteilsmäßige Zuteilung der Gemeinkosten nach Kostenstelle auf die einzelnen Kostenträger (Produkte oder Leistungen). Bei der Teilkostenrechnung wurden lediglich ein Teil der Kosten (die variablen Kosten und/oder die Einzelkosten), nicht aber die fixen Kosten bzw. die Gemeinkosten auf die Kostenträger verteilt.12 Bei Veränderungen in der Produktmenge oder den Preisen ermöglichte die Teilkostenrechnung differenziertere Aussagen über das Kostengefüge

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Maßnahmenkatalog zur drastischen Kostensenkung und Sicherung des Firmenstammkapitals (GHS), undatiert [Frühjahr 1971], in: FHI, Schöf-1196, S. 1. Bereits die im Sommer 1969 zur Begutachtung herangezogenen Glasindustriellen und das »wissenschaftliche Team« hatten die Preise der GHS als zu niedrig bewertet. Erstere schlugen »eine sofortige Anhebung der Preise auf das Konkurrenzniveau, d.h. um 15 bis 30 Prozent« vor. Richard Süßmuth kündigte daraufhin eine Preiserhöhung von acht bis zehn Prozent an. Interner Schriftverkehr HMdI, 28. Juli 1969, in: FHI, Schöf-1222, S. 6; Investitions- und Verkaufsplan des »wissenschaftlichen Teams«, 25. August 1969, in: FHI, Schöf-1222, S. 3; Rundbrief Richard Süßmuth, 19. August 1969, in: FHI, Schöf-1222. Folgendes aus Jürgen Webers Artikel »Kostenrechnung«, »Vollkostenrechnung« und »Teilkostenrechnung«, 14. Februar 2018, Online: https://wirtschaftslexikon.gabler.de. Im Gegensatz zu den Fixkosten als den Kosten der Betriebsbereitschaft (z.B. Mietkosten, Gehälter) verändert sich die Höhe der variablen Kosten in Relation zur Produktionsmenge (z.B. Rohstoffkosten, Fertigungslöhne).

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und den zu erwartenden Deckungsbeitrag, der sich aus der Differenz zwischen Umsatzerlös und variablen Kosten ergab. Im Gegensatz zur Vollkostenrechnung konnte die Teilkostenrechnung beispielsweise das Angebot eines Produkts als erhaltenswert ausweisen, wenn es zur Deckung der Fixkosten beitrug. Mit diesen Informationen konnte das Unternehmen auch kurzfristig auf Beschäftigungs- oder Nachfrageschwankungen reagieren. Die Teilkostenrechnung setzte sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts weitgehend durch und in den meisten BWL-Einführungsbüchern wird auf die Gefahren der Vollkostenrechnung hingewiesen.13 Betont wird zugleich, dass bei der Wahl der Methode eine Vielzahl von Faktoren, die im Betrieb selbst liegen, zu berücksichtigen sei. So liefere die Grenzkostenrechnung als Methode der Teilkostenrechnung in einer Situation der Unterbeschäftigung »adäquatere Daten für die Preisentscheidung […] als die Vollkostenrechnung«.14 Bei Überbeschäftigung, »Engpässe[n] durch ausgelastete maschinelle Kapazitäten, Mangel an Arbeitskräften [oder bei] Rohstoffknappheit« sei hingegen nicht von vornherein feststellbar, »ob es günstiger ist, Daten einer Vollkostenrechnung oder einer Grenzkostenrechnung […] für preispolitische Entscheidungen heranzuziehen«. Noch komplizierter sei es schließlich, wenn mehrere Engpässe zusammenfallen. Die Frage, welche der beiden Methoden die effizientere sei, führte in den 1970er Jahre zu einer offenen Kontroverse innerhalb der bundesdeutschen BWL. Im Kern ging es um die grundsätzliche Funktion der Kostenrechnung als einem zentralen Teilgebiet des Rechnungswesens. Die traditionelle BWL betrachtete das Rechnungswesen als eine Einrichtung der Erfassung, Darstellung und Verarbeitung von Geschäftsvorfällen.15 Die intern erhobenen Informationen sollten Orientierungshilfen der Entscheidungsfindung in der Unternehmensleitung sein (internes Rechnungswesen). Die Aufbereitung von Informationen dienten der Rechenschaftslegung und Dokumentation gegenüber außenstehenden Akteuren wie den Gläubigern, dem Staat oder den Kapitalgebern (externes Rechnungswesen). Neuere Ansätze in der BWL betonten den darüber hinaus gehenden funktionalen Aspekt, wonach die Ermittlung und Bereitstellung von Informationen zugleich ein zentrales Instrument der Unternehmensführung darstellte. Dem Rechnungswesen sollte nicht mehr nur eine dokumentierende und kontrollierende, sondern auch eine steuernde Funktion zukommen. Seit den 1960er Jahren habe sich mit dem Ausbau des Controllings in bundesdeutschen Unternehmen das deutsche Verständnis von »Kontrolle als Überwachung« um das angelsächsische Verständnis von »Kontrolle als Beherrschung« erweitert, das bis dahin in der hiesigen BWL kaum diskutiert wurde.16 13 14 15 16

Peter Swoboda, Kostenrechnung und Preispolitik. Eine Einführung, Wien 199116 , S. 50; Clemens Kaesler, Kosten- und Leistungsrechnung der Bilanzbuchhalter, Wiesbaden 20114 , S. 14. Folgendes aus Swoboda, Kostenrechnung (s. Anm. 13), S. 55. Folgendes aus Burkhard Huch, Einführung in die Kostenrechnung, Würzburg 19744 , S. 11–16. Rainer Schwarz, »Entwicklungslinien der Controllingforschung«, in: Jürgen Weber und Bernhard Hirsch (Hg.), Controlling als akademische Disziplin. Eine Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2002, S. 3f. In der Bundesrepublik widmete sich mit Péter Horváth an der Technischen Hochschule Darmstadt seit 1973 der erste Lehrstuhl der Entwicklung des Controllings. Christoph Binder und Utz Schäffer, »Controllinglehrstühle und ihre Inhaber. Ein Überblick«, in: Jürgen Weber und Matthias Meyer (Hg.), Internationalisierung des Controllings. Standortbestimmung und Option, Wiesbaden 2005, S. 16.

Die Unternehmensführung

Die Glashütte Süßmuth als Austragungsort betriebswirtschaftlicher Grundsatzfragen In der Glashütte Süßmuth existierten durchaus Strukturen einer Kostenrechnung, die offenbar erst während der Unternehmenskrise vernachlässigt worden waren.17 Eine starre Plankostenrechnung auf Vollkostenbasis als eine wenig aufwendig, aber nur begrenzt aussagekräftige Methode der Kostenkontrolle schien Richard Süßmuth bei der Preisbildung als Orientierung gedient zu haben.18 Die Preise der einzelnen Produkte bestimmte er nicht allein über die Kosten, sondern gleichermaßen mit Blick auf die Absetzbarkeit und die antizipierten Konsummuster im Verhältnis zu anderen Produkten einer Serie. Anwendung fand hierbei eine Mischkalkulation als Methode der Querfinanzierung sowohl zwischen den Produktbereichen Flach-, Wirtschafts- und Beleuchtungsglas als auch zwischen einzelnen Produkten einer Serie.19 So wurde ein in der Herstellung sehr teures, jedoch für die Vollständigkeit einer Serie oder für das Image der Firma als Qualitätsproduzentin unabdingbares Produkt durch ein anderes querfinanziert, mit dem eine größere Gewinnspanne zu erzielen war. Von immenser Bedeutung bei dieser Art der Kalkulation waren die Erfahrungswerte im Vertrieb und Handel über Bedürfnisse und Kaufkraft der Endverbraucher*innen. Diese Methode funktionierte, solange die Auftragslage stabil war. An Grenzen stieß sie, als im Laufe der 1960er Jahre die lukrativen Flachglasaufträge zurückgingen, der Fachhandel seine Auftragspolitik zu ändern begann und sich zugleich die Produktionskosten erhöhten. Unmittelbar nach Bewilligung der Ausfallbürgschaft wurde – den Forderungen der Hessischen Landesregierung Folge leistend – in der Glashütte Süßmuth mit dem Aufbau neuer Strukturen der Kostenrechnung begonnen.20 Bereits im Sommer 1969 hatte das »wissenschaftliche Team« hierfür erste Untersuchungen durchgeführt und war dabei auf das Problem gestoßen, dass die Artikel im Bereich Wirtschafts- und Beleuchtungsglas weitgehend gleiche Kostenstellen durchliefen.21 Durch die eng miteinander verflochtenen Arbeitsschritte bei der Herstellung, Weiterverarbeitung und Veredelung von Wirtschafts- und Beleuchtungsglas ergaben sich beim Erstellen einer exakten Übersicht über die Kostenstruktur ähnliche Schwierigkeiten wie bei den Versuchen einer analytischen Arbeitsplatzbewertung.22 Eine Vollkostenrechnung mit der Zuteilung der Gemeinkosten auf die einzelnen Kostenstellen erschien dem »wissenschaftlichen Team«

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Ausbildungsbericht [Ingrid Buchholz], undatiert [1961], in: Privatarchiv [Buchholz], S. 35f.; [Müller], [Juli 1969] (s. Anm. 1), S. 2. Zur Methode siehe Jochen R. Pampel und Kurt Vikas, »Plankostenrechnung«, in: Gabler Wirtschaftslexikon, 14. Februar 2018, Online: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/plankostenrech nung-42329/version-265680; Adolf G. Coenenberg, Thomas M. Fischer und Thomas W. Günther, Kostenrechnung und Kostenanalyse, Stuttgart 20169 , S. 256–258. Siehe Kapitel 1.3; Transkript Interview der Autorin mit [Ingrid Buchholz], 19. März 2014, im Besitz der Autorin, S. 10f. Konzeptpapier »Zur Neuordnung des Rechenwesens« (GHS), undatiert [Juni 1970], in: AGI, S. 2, 4. Nur im Bereich der Flachglasmalerei – d h. bei der Veredelung von zugekauftem Flachglas – waren die anfallenden Kosten problemlos den Artikeln zuzuweisen. Wissenschaftliche Team, 25. August 1969 (s. Anm. 10), S. 2. Siehe Kapitel 5.2.

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daher als wenig sinnvoll. Stattdessen empfahl es mit einer stufenweisen Deckungsbeitragsrechnung eine Methode der Teilkostenrechnung, bei der lediglich die eindeutig zuzuordnenden Materialkosten und die Akkordlöhne für die Kalkulation der Artikel heranzuziehen waren.23 Diese Überlegungen wurden aufgegriffen, als im Juli 1970 mit der Umstellung des Rechnungswesens auf das Teilkostenrechnungsverfahren des direct costing begonnen wurde.24 Neben einer »stärkeren Differenzierung der Kostenarten« wurden im Rahmen einer »umfassenden Neugliederung« nun fast 30 Kostenstellen definiert. Die hierfür erforderliche Neuordnung des Rechnungswesens sollte mit der zugleich in Angriff genommenen Einführung der EDV bewältigt werden. Zum Oktober 1970 wurde [Bernd Dietrich] als »erfahrener Bilanzbuchhalter mit [EDV-] Erfahrung« eingestellt, der diese Maßnahmen koordinieren sollte.25 Gegenüber dem Beirat erklärte die neue Geschäftsführung zuversichtlich, die Einführung der Kostenstellen- und Kostenträgerrechnung sei im Frühjahr 1971 abgeschlossen.26 Doch noch im August 1971 war man davon weit entfernt, obwohl [Dietrich] – angesichts des mit diesen Reformmaßnahmen verbundenen Arbeitsaufwandes – mit [Lutz Beyer] ein BWL-Student auf Basis eines Zeitarbeitsvertrages zur Seite gestellt wurde.27 Durch die Probleme im ersten Jahr der Selbstverwaltung und weil [Bernd Dietrich] zum September 1971 das Unternehmen wieder verließ, zögerte sich der Abschluss der Reform im Rechnungswesen weiter hinaus. Auf der Beiratssitzung im Dezember 1971, auf der die Absetzung der kollektiven Geschäftsführung und Entmachtung der Belegschaftsgremien beschlossen wurde, drängten die betriebsexternen Mitglieder erneut darauf, den Aufbau der Kostenrechnung »möglichst kurzfristig« fertigzustellen.28 Von den Beratern der Anfang 1972 mit einer Betriebsuntersuchung beauftragten RKW-Landesgruppe Hessen erwarteten sie diesbezüglich eine Empfehlung. Auf der im Februar 1972 einberufenen Beiratssitzung räumte [Bertold Ehlers] ein, »dass eine perfekte Kostenrechnung im ersten Jahr nicht möglich« sei.29 Massiv kritisierte er zugleich die vorangegangenen Bestrebungen, im Rechnungswesen der Glashütte Süßmuth eine Teilkostenrechnung einzuführen.30 Dies habe »Herr [Dietrich] in der übertriebenen Vorstellung [initiiert], dass das Rechnungswesen ein Führungs- und Steuerungssystem darstellt, obwohl es in Wirklichkeit nur eine Kontrolle und Information als Führungshilfe sein« könne. [Konrad Scholz] als [Dietrichs] Nachfolger warf er vor, auf »diesem Standpunkt zu verharren« und »die betriebsnotwendigen Zahlen als Grundlage der Kalkulation in nicht praktikabler Weise aufbereiten« zu wollen. [Ehlers] schlug dagegen die Einführung einer Vollkostenrechnung vor, wofür die »viel zu differenziert[e]« Gliederung der Kostenarten 23 24 25 26 27 28 29 30

Wissenschaftliche Team, 25. August 1969 (s. Anm. 10), S. 2. Folgendes aus Konzeptpapier, [Juni 1970] (s. Anm. 20). Übersicht Organisation der GHS, undatiert [September 1970], in: AGI, S. 7. Protokoll Beirat (GHS), 18. Dezember 1970, in: AGI, S. 4. Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 19. August 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 1f.; Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 16. September 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 5. Schlussprotokoll Beirat (GHS), 21. Dezember 1971, in: FHI, Schöf-1228. Protokoll Beirat (GHS), 24. Februar 1972, in: FHI, Schöf-1227, S. 2. Folgendes aus Bericht RKW Hessen über die Betriebsberatung der GHS, 18. Februar 1972, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 26–29; [Bertold Ehlers] in Beirat, 24. Februar 1972 (s. Anm. 29), S. 2f.

Die Unternehmensführung

und -stellen wieder zu straffen waren. Mittels eines von ihm erarbeiteten Betriebsabrechnungsbogens sollten die Einzel- und Gemeinkosten den jeweiligen Produkten zugeordnet und »eine Kostenpreisermittlung gewährleistet« werden. Ausdrücklich warnte [Ehlers] vor »einer überschlägigen pauschalisierten Rechnung auf Kilobasis oder Stückbasis«. Die selbstverwaltete Glashütte war zum Austragungsort einer Kontroverse über betriebswirtschaftliche Grundsatzfragen geworden, die die Ökonomen der älteren Generation (wie [Ehlers], der das Unternehmen schon länger kannte und 1973 verstarb) von denen der jüngeren Generation ([Dietrich] und [Scholz]) trennte. In dieser Auseinandersetzung setzten sich die Befürworter der klassischen Methode durch. Obwohl in der Glashütte Süßmuth bereits seit über einem Jahr an der Einführung der Teilkostenrechnung gearbeitet wurde, folgte der nunmehr alleinige Geschäftsführer [Hans Müller] dem Rat von [Ehlers] und begann Anfang 1972 mit dem Aufbau einer Vollkostenrechnung. Die Umstellung des Rechnungswesens auf EDV wurde abgebrochen.31 Der von [Dietrich] und [Scholz] vertretene Reformansatz war auch deshalb nicht mehr tragbar, weil sie sich in den Augen des Beirats mit ihrer politischen Positionierung disqualifiziert hatten. Ihr Verständnis von der Selbstverwaltung im Fall Süßmuth als ein sozialpolitisches Projekt mit besonderem Förderbedarf ließ ihre bisherigen Reformmaßnahmen verdächtig erscheinen.32 Die RKW-Berater schätzten sie ebenfalls als »ideologisch« motiviert ein.33

Aufwand und Schwierigkeiten der Kostenrechnung Der Ausbau der Kostenrechnung erforderte – unabhängig von der konkreten Methode – eine alle Bereiche des Unternehmens erfassende Struktur der Datenerhebung und eine entsprechende Reform des Belegwesens. Zur detaillierten Erfassung der Lohnkosten waren fortan Arbeitsleistungen und Ausfälle in einer nach Ofen, Werkstelle und Artikel differenzierenden Produktionsstatistik täglich zu dokumentieren.34 Nach jedem Arbeitsvorgang musste nun ein Formular (»Durchlaufzettel«) ausgefüllt und mit den Artikeln weitergereicht werden.35 Zur ähnlich systematischen Erhebung der Materialkosten waren ab Januar 1972 »eine permanente Inventur (Lagerbestandsfortschreibung)« und »monatliche Bestandsaufnahmen an Rohstoffen und Halbfabrikaten« geplant.36 Neben der Ausweitung der Lagerstatistik sollte eine nach den einzelnen Produkten und Produktgruppen differenzierende Umsatzstatistik implementiert werden, die zusammen mit den in der Produktionsstatistik ausgewiesenen Herstellungskosten und Ausschusszahlen eine »Erfolgsstatistik der einzelnen Artikel« ermöglichen sollte. Angesichts dieses enormen organisatorischen Aufwands wurde dem Beirat zu Beginn des Jahres 1972 31 32 33 34 35 36

Allein in der Lohnabrechnung wurde die zum 1. Januar 1971 erfolgte Umstellung auf EDV beibehalten. Erläuterungen zur Bilanz per 31. Dezember 1971 (GHS), 3. Dezember 1973, in: AGI, S. 9. Siehe Kapitel 4.3. RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 30), S. 6, 26. Für eine solch detaillierte Erfassung der Lohnkosten wäre ein Einzelakkordsystem von Vorteil gewesen, das in der GHS jedoch nicht existierte. Swoboda, Kostenrechnung (s. Anm. 13), S. 18. Protokoll Produktionsleiterbesprechung, 6. April 1973, in: AGI. Folgendes aus Situationsbericht Geschäftsführung (GHS), 22. Oktober 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 6.

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gewahr, dass der »Aufbau und [die] Einführung der Kostenrechnung« wider Erwarten ein zeitintensiverer Prozess war und mehr Personal erforderte.37 War man im Dezember 1971 noch davon ausgegangen, die Einführung der Kostenrechnung könne mit einem von der HLT für anderthalb Monate zur Verfügung gestellten »Mann« abgeschlossen werden, »empfahl« der Beirat im Februar 1972 zwei weitere Personen dafür einzustellen.38 Bis zum nächsten Beiratstreffen im Herbst 1972 wurde mit [Uwe Niemeier] ein Kommilitone von [Konrad Scholz] als neuer Mitarbeiter angestellt und [Scholz] selbst für die Hälfte seiner Arbeitszeit hierfür freigestellt.39 Im Laufe des Jahres 1972 gelang es, die »Kostensätze pro Stunde für die jeweiligen Kostenstellen bzw. Arbeitsgänge« zu ermitteln.40 Ab Sommer 1973 konnten die Gemeinkosten erfasst und auf die einzelnen Kostenstellen übertragen werden.41 Waren damit die Voraussetzungen für die Vorkalkulation geschaffen, so bereitete die für eine Vollkostenrechnung notwendige Nachkalkulation aller Artikel wegen der fehlerbehafteten Erfassung der Produktionsdaten große Probleme.42 Aufgrund der schwankenden Glasqualität waren die Ausfallzahlen nicht exakt kalkulierbar und mussten daher weiterhin geschätzt werden.43 Zudem brauchte man für die Nachkalkulation mindestens zehn Arbeiten des gleichen Artikels, um Durchschnittswerte zu erhalten, die »Zufallsergebnisse bei Leistung und Ausfall ausschließen«.44 Angesichts der Vielzahl an Artikeln, die täglich die Produktion durchliefen, und mit Blick auf die Personalausstattung in der Verwaltung war die Nachkalkulation nicht zu bewältigen. Die Produktvielfalt wurde faktisch zum Hindernis beim Schaffen der Voraussetzungen für eine Bereinigung des Sortiments, die der Beirat und die externen Experten als dringend notwendig erachteten. Die Schwierigkeiten beim Aufbau der Kostenrechnung bargen – wie die gescheiterten Maßnahmen der Rationalisierung und produktstrategischen Neuausrichtung – enormes Konfliktpotenzial in sich. Dass im Sommer 1973 – nach vier Jahren dahingehender Bemühungen – die Reform des Rechnungswesens immer noch nicht erfolgreich abgeschlossen werden konnte, löste bei den Arbeitenden im Betrieb großes Unverständnis aus. Infolgedessen erhöhte sich der Druck auf [Hans Müller] als Geschäftsführer.45 Zweifel an der fachlichen Eignung des damit beauftragten [Uwe Niemeier] nahmen zu.46 Schließlich häuften sich auch unter Kolleg*innen Streitigkeiten, die mit der Reform des

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Beirat, 24. Februar 1972 (s. Anm. 29), S. 2. Handschriftliches Protokoll (Vitt) Beirat (GHS), 21. Dezember 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 1; Beirat, 24. Februar 1972 (s. Anm. 29), S. 2. Offensichtlich konnte keine weitere Person dafür gewonnen werden. Protokoll Beirat (GHS), 12. Oktober 1972, in: FHI, Schöf-1227, S. 2. Ebd. Protokoll Beirat (GHS), 10. Juli 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 2. Stellungnahme [Jürgen Schmitz] an den Betriebsrat vorgelesen von [Holger Neumer] in Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Holger Neumer], 13. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 4. [Konrad Scholz] in Beirat, 10. Juli 1973 (s. Anm. 41), S. 2f.; Transkript Belegschaftsversammlung, undatiert [Februar 1974], im Besitz der Autorin, S. 3f. Folgendes von [Konrad Scholz] aus Beirat, 10. Juli 1973 (s. Anm. 41), S. 2f. [Neumer], 13. August 1973 (s. Anm. 42), S. 4f. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Holger Neumer], [Willi Voigt] und namentlich unbekanntem Arbeiter, 22. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 2.

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Belegwesens auf umfangreichere Dokumentationsleistungen verpflichtet wurden. Während einige Beschäftigte aus der Weiterverarbeitung in der »Zettelwirtschaft« einen zusätzlichen Arbeitsaufwand ohne Sinn sahen, kritisierte [Frank Weber] – der von dessen Notwendigkeit grundsätzlich überzeugt, in seiner isolierten und einfacher zu quantifizierenden Tätigkeit als Glasmaler aber nicht unmittelbar davon betroffen war – die Nachlässigkeit dieser Kolleg*innen und sah hierin wiederum einen Grund für die Probleme bei der Kostenrechnung.47 Die »demotivierende Belästigung mit Zahlen« wie auch die hieraus resultierenden Konflikte trugen zu einer Verschlechterung des Betriebsklimas bei.48 Die Schwierigkeiten beim Ausbau der Kostenrechnung waren weniger auf persönliche Unzulänglichkeiten der zuständigen Angestellten oder die Verweigerung bzw. Uneinsichtigkeit der Beschäftigten zurückzuführen, die sich von alten Arbeitsroutinen nicht lösen wollten, sondern vor allem auf die Produktionsweise in einer Mundglashütte, die einer Quantifizierung enge Grenzen setzte. Jegliche Veränderungen im technischen Bereich hatten große Auswirkungen »auf die Kostensituation und damit auf die Deckungsbeiträge, welche für die Produktionsbereinigung und die Absatzplanung (nach Produkt) erforderlich« waren, so dass im Sommer 1970 die »Durchführung der Kalkulationsarbeiten« erst nach Abschluss der Sanierung als sinnvoll erachtet wurde.49 Doch die Erneuerung der Produktionsanlage hatten sich während der Selbstverwaltung zum Dauerzustand entwickelt, wodurch sich zu Unregelmäßigkeiten der Produktion zusätzlich verstärkten. Seit 1973 zeigte sich zudem die grundsätzliche Schwäche einer Vollkostenrechnung, auf unerwartete Auftragsschwankungen nicht kurzfristig reagieren zu können.

Preisbildung als eine Frage der Wettbewerbsstrategie Der Aufwand, die Schwierigkeiten und Konflikte bei der Reform des Rechnungswesens hatten den Sinn einer nach den einzelnen Kostenträgern ausdifferenzierten Kalkulation infrage gestellt. Die hiermit gewonnenen Daten konnten bei der Sortiments- und Preisgestaltung eine Orientierung geben, eine darüber hinaus gehende Einschätzung von der Absetzbarkeit der Produkte und deren preisliche Bedingungen jedoch nicht ersetzen. Die geschäftsführenden Gremien mussten sich also – ebenso wie der vorherige Eigentümer – bei der Preisbildung vor allem auf ihre Wahrnehmungen von den Markterfordernissen stützen. Dabei ging es grundsätzlich um die Frage der zu verfolgenden Wettbewerbsstrategie, das heißt um die Frage, wie dem Konkurrenzdruck standzuhalten und welche Prioritäten zu setzen waren. Für die geschäftsführenden Gremien hatte eine Senkung der Produktionskosten Vorrang. Da sie am Fachhandel als Hauptvertriebsweg festhielten, mussten sie dessen

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Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Frank und Monika Weber], 12. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 7. Auf die »demotivierende Belästigung mit Zahlen, von deren Sinngehalt [die Mitarbeiter] regelmäßig und zu Recht nicht überzeugt werden können« verweist Dieter Schneider, »Versagen des Controllings durch eine überholte Kostenrechnung«, in: Der Betrieb 15 (1991), S. 769. Konzeptpapier, [Juni 1970] (s. Anm. 20), S. 4.

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Interessen und generell ablehnende Haltung gegenüber Preiserhöhungen berücksichtigen. Der Spielraum zur Kompensation von Kosten- durch Preissteigerungen erschien ihnen zudem angesichts des von maschinell produzierten und importierten Produkten ausgehenden Preisdrucks begrenzt. Um im Wettbewerb zu bestehen, müsse daher in erster Linie billiger produziert und könne erst in letzter Instanz die Preise erhöht werden. Diese Prioritätensetzung verwies die Firma implizit auf eine Strategie, sich durch niedrigere Kosten gegenüber der Konkurrenz einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, wie sie – mit seinen Vorschlägen zur radikalen Sortimentsverkleinerung und die Qualität vernachlässigenden Beschleunigung der Arbeitsabläufe – am offensichtlichsten der RKW-Berater [Michael Wiege] empfahl. Seine Vorschläge wurden nicht realisiert, denn eine kostensenkende Rationalisierung der Mundglasfertigung war nur begrenzt möglich und nicht der Preis, sondern die Qualität war beim Kauf von mundgeblasenem Glas ausschlaggebend.50 Unter Preisgabe ihrer Wettbewerbsvorteile hätte sich die Glashütte Süßmuth damit einem direkten Wettbewerb mit Maschinenglasproduzenten ausgesetzt, dem sie aufgrund der im Mundblasverfahren stets höheren Produktionskosten auf Dauer nicht hätte Stand halten können. Mit der vor allem auf eine Kostensenkung abzielenden Rationalisierung begann die Firma dennoch an Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren, wie die in den letzten Jahren der Selbstverwaltung zunehmende Mängelproduktion andeutete. Zugleich sah sich die Geschäftsführung nahezu jährlich zu Preiserhöhungen gezwungen.51 Aus Perspektive der Belegschaft war eine Senkung der Herstellungskosten im Mundblasverfahren nur begrenzt möglich. Da die Ursachen der Kostensteigerung – die Rohstoff- und Energiepreisentwicklung sowie die Personalkosten- im Rahmen der Branchentarifentwicklung – weitgehend außerhalb des Unternehmens lagen, galt es zuerst die Verkaufspreise hieran anzupassen. Eine Möglichkeit zur Preissenkung sahen manche Beschäftigte im Wegfall der hohen Handelsprovisionen durch einen Direktvertrieb an die Endverbraucher*innen, die jedoch während der Selbstverwaltung ungenutzt blieb. Die Preisbildung in der Mundglasbranche verglich der Glasmacher [Paul Nowak] – angesichts der Arbeitskräfteintensität und teils unberechenbaren Qualitätsschwankungen in der Fertigung – mit jener in der Landwirtschaft: Der Bauer könne seine Kuh nur begrenzt zu höheren Milchmengen zwingen und die Kartoffelernte falle je nach Witterung halt unterschiedlich aus.52 Auch die Orientierung an der Preisbildung der Konkurrenz machte für die Arbeiter*innen keinen Sinn, denn wenn diese »sich

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Hierauf verwiesen auch [Hans Müller] und [Jürgen Schmitz] in ihrer Ablehnung von [Wieges] Vorschlägen. Protokoll Beirat (GHS), 14. März 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 2; Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 3. Juni 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 3. Nachdem die Preise 1971 um durchschnittlich sieben bis acht Prozent erhöht wurden, waren Preisanhebungen für 1972 um sieben Prozent, für 1973 um fünf Prozent, für 1974 um sieben bis elf Prozent und für 1975 um zehn Prozent geplant. Bilanz 1971 (s. Anm. 31), S. 8; RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 30), S. 25; Vermerk HLT, 14. November 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 4; Protokoll Beirat (GHS), 22. März 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 6; Protokoll Beirat (GHS), 17. Dezember 1974, in: AGI, S. 6. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] am 23. Februar 1974, im Besitz der Autorin, S. 1.

Die Unternehmensführung

pleite wirtschaftet«, müsse man das nicht auch tun.53 Gerade die gehäufte Anzahl von Glashüttenschließungen jener Zeit führte ihnen vor Augen, dass hohe Auftragszahlen auf Basis möglichst geringer Preise kein Garant für eine stabile Unternehmensentwicklung war.54 Die Beschäftigten kritisierten die Geschäfts- und Vertriebsleitung für ihre insgesamt unökonomische Preisbildung: »[D]ass wir Artikel gut verkaufen, aber ohne Gewinn, und solche nur schlecht verkaufen, bei denen wir wesentlich geringere Herstellungskosten haben, also die Möglichkeit hätten, ins Mengengeschäft zu kommen, aber zu teuer anbieten«, fand der Betriebsratsvorsitzende [Holger Neumer] ungeheuerlich.55 Diese Kritik trug der traditionellen Wettbewerbsstrategie einer Mundglashütte Rechnung. In der Fähigkeit, eine Vielfalt an Produkten in hoher Qualität zu fertigen, lag die entscheidende Stärke und der Wettbewerbsvorteil – sowohl gegenüber der maschinellen Konkurrenz wie auch gegenüber anderen Mundglashütten. Im Wettbewerb galt es sich vor allem mit »einer guten Glasqualität […], guten Formgestaltung [sowie] einer guten Ausführung« der Produkte zu behaupten.56 Die Strategie der Qualitätsführerschaft ermöglichte es, den Preis erst an zweiter Stelle zu berücksichtigen. Sie versprach Schutz vor einem preis-fokussierten Wettbewerb, dem sich im Zuge der seit Anfang der 1970er Jahre krisenhaften Wirtschaftsentwicklung die gesamte Mundglasbranche ausgesetzt sah.57 Werde an dieser bereits von Richard Süßmuth verfolgten Wettbewerbsstrategie festgehalten, könne man – prognostizierte der Graveur [Wolfgang Franke] im Sommer 1973 – in »fünf Jahren […] unsere Gläser wie Gold verkaufen«.58 Als Voraussetzung hierfür musste jedoch in die Grundlagen der Qualitätsproduktion investiert werden, was von den Belegschaftsgremien einfordert, von den geschäftsführenden Gremien indes unterlassen wurde. In den Stellungnahmen der Beschäftigten trat das im selbstverwalteten Betrieb vorhandene Potenzial zutage, die Preise auf der Basis eines um die sozialen und nicht quantifizierbaren Faktoren der Produktion und Konsumtion erweiterten Kostenverständnisses festzulegen, die in einer Kostenrechnung zwangsläufig ausgeklammert wurden. Bei

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Namentlich unbekannte Person zitiert in Notizen Erasmus Schöfer, undatiert [1973/1974], in: FHI, Schöf-1197. Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Konrad Scholz] und zwei namentlich unbekannten Arbeitern, undatiert [1974], im Besitz der Autorin, S. 1f. [Neumer], 13. August 1973 (s. Anm. 42), S. 4; Zur Kritik an zu niedrigen Preisen siehe Schöfer, [1973/1974] (s. Anm. 53); [Nowak], 23. Februar 1974 (s. Anm. 52). Die Erfüllung dieser »drei Komponenten« sei in der Mundglasbranche »das A und O«. [Nowak], 23. Februar 1974 (s. Anm. 52), S. 1. Hierin liegt für Philip Scranton der entscheidende Wettbewerbsvorteil für KMU mit batch production. Auch Hartmut Berghoff hebt hervor, dass für Qualitätsproduzenten die »Konzentration auf Mengen- und Preiseffekte […] eine untergeordnete Rolle« spielt. Philip Scranton, Endless Novelty. Specialty Production and American Industrialization, 1865–1925, Princeton 1997, S. 17; Hartmut Berghoff, »Historisches Relikt oder Zukunftsmodell? Kleine und mittelgroße Unternehmen in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland«, in: Dieter Ziegler (Hg.), Großbürger und Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 264f. Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Wolfgang Franke] und [Frank Weber], 13. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 7.

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einer Beteiligung der Beschäftigten an den Preisdiskussionen hätte die bislang von Richard Süßmuth praktizierte Mischkalkulation um Informationen aus der Produktion erweitert und an die sich ändernden Wettbewerbsbedingungen angepasst werden können. Gerade die Verbindung der Erfahrungswerte aus dem Vertrieb, bis zu welchem Preis ein Artikel verkäuflich war, mit dem Erfahrungswissen aus der Produktion, wie viel ein Artikel mindestens kosten musste, bot die Möglichkeit zu einer die Rentabilität sichernden Preisgestaltung. Mit dieser im Vergleich zum enormen Aufwand einer Kostenrechnung einfach zu realisierenden Kalkulationspraxis hätte die Firma auch flexibel auf Veränderungen reagieren können. Eben auf Basis einer derart erweiterten Mischkalkulation fand die Preisbildung in der Glashütte Süßmuth nach der Selbstverwaltung statt.59 Im Unterschied zur Leitung Richard Süßmuths waren neben dem Geschäftsführer [Harald Meier] nun auch die Angestellten aus Vertrieb und Produktion involviert, was – laut [Ingrid Buchholz] – »sehr gut« funktioniert habe. Die Preisfindung gestaltete sich somit nicht allein als ein Kalkulationsprozess, sondern vor allem als ein sozialer Austauschprozess auf Basis von Erfahrungswerten und Einschätzungen des beteiligten Personals – was letztlich der Größe des Unternehmens, der Fertigungsweise und des Vertriebs sowie der heterogenen Kundenstruktur angemessen war.60 Süßmuth hatte das Potenzial dieser Form der Kalkulation aufgrund seiner exklusiven Entscheidungsfindung ebenso wenig zu nutzen vermocht wie die geschäftsführenden Gremien während der Selbstverwaltung. Letztere werteten die Forderungen der Beschäftigten, auf die Qualität der Produkte statt auf die Kosten der Produktion zu fokussieren – ähnlich wie in den Kontroversen um die Lohngestaltung und die Arbeitsorganisation – als Ausdruck eines Lohnegoismus oder einer fehlenden Leistungsbereitschaft ab.61 Die neue Form der Kostenrechnung diente in der selbstverwalteten Glashütte schließlich vor allem der Kontrolle durch den Beirat als dem Gremium der Geldgeber und Bürgen. Weil sie als Außenstehende kaum einen Ein- und Überblick besaßen, sollten ihnen die hiermit erhobenen Kennziffern eine Orientierung bei der Bewertung der Unternehmensentwicklung bieten. Die Vehemenz, mit der die Vertreter des Landes Hessen »Zahlenwerk und keine langatmigen Darlegungen« einforderten,62 verstärkte sich umso mehr, je weniger die Situation im Belegschaftsunternehmen ihren anfangs teilweise sehr hohen Erwartungen entsprach. Zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der Firma hatten die neuen Methoden der Quantifizierung indes nicht beigetragen, im Gegenteil: Die dahingehenden Reformbemühungen bewirkten eine Steigerung der Komplexität in der Unternehmensführung, lancierten Fehlentscheidungen und brachten sehr viel Unruhe in die zunehmend angespannten Arbeitsbeziehungen.

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Folgendes aus [Buchholz], 19. März 2014 (s. Anm. 19), S. 10f. Eine solche »Kombination aus Erfahrung, Tradition und behutsamer Innovation« bringe in Handwerksbetrieben »oft einen besseren Erfolg« als eine sich allein an den Stückkosten orientierende Kalkulation. Bernd Holtwick, »Rationalität und Rationalisierung. Das ›personale Wirtschaften‹ in Handwerksbetrieben und seine Konsequenzen«, in: Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hg.), Rationalisierung in Handwerksberufen, Steinfurt 2012, S. 44. Siehe bspw. Protokoll Beirat (GHS) [Version 2], 17. März 1975, in: AGI, S. 1. [Arthur von Grube] zitiert in Vermerk [Hans Müller], 15. Januar 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2.

Die Unternehmensführung

7.2 Zur Vermessung der Unternehmensentwicklung Die an Tabelle 3 zusammengefasste Entwicklung der Umsatz- und Gewinnzahlen der Glashütte Süßmuth suggeriert Eindeutigkeit, die in der zeitgenössischen Betrachtung zu keinem Zeitpunkt bestand.63 Der Beirat orientierte sich ausschließlich an sogenannten Erfolgsrechnungen, auf deren monatliche Vorlage er die Firma seit der Ablösung der ersten Geschäftsführung durch den geschäftsführenden Ausschuss im Frühjahr 1971 verpflichtet hatte. Darin wurden Betriebsleistung und Kosten aufgelistet, hieraus ein vorläufiges Betriebsergebnis (Gewinn oder Verlust) errechnet und alle Werte den aggregierten Ergebnissen der vorangegangenen Monate desselben Geschäftsjahres gegenübergestellt. Tendenzen in der Kostenentwicklung sollten hierdurch sichtbar werden und Prognosen zur Liquidität des Unternehmens ableitbar sein. Für diese in der Glashütte Süßmuth neue Praxis der Datenaufbereitung sollte die Kostenrechnung die kalkulatorische Grundlage schaffen, deren Aufbau mit vielfältigen Schwierigkeiten behaftet blieb. Die hiermit gewonnenen vorläufigen Kennzahlen zog der Beirat dennoch für seine jeweils kurzfristig vorgenommenen Bewertungen der Unternehmensentwicklung heran, wovon wiederum die Banken die Auszahlung der bewilligten Kreditmittel abhängig machten. Diese Beurteilungen erwiesen sich oftmals als fehlerhaft und mussten im Nachhinein mehrfach revidiert werden, was letztlich die Frage aufwarf, woran sich der Erfolg in der Entwicklung einer Mundglashütte bemessen ließ und vor allem zu welchem Zeitpunkt.

»Systematische Aufwärtsentwicklung« nach »steiler Talfahrt«. Die Jahre 1971 und 1972 Im März 1971 hatten die Gesellschafter aus guten Gründen zwei der drei Geschäftsführer entlassen.64 Vertreter des Landes Hessen und der Helaba, die gerade in diese Personen große Hoffnungen gesetzt hatten, deuteten dies als Zeichen einer krisenhaften Entwicklung und verweigerten deshalb die Freigabe der ein Jahr zuvor bewilligten Kredite. Nur die Bemühungen einzelner Beiratsmitglieder konnten verhindern, dass diese Mittel abgezogen wurden. Dem mittlerweile amtierenden FDP-Wirtschaftsminister HeinzHerbert Karry wurde versprochen, dass in den »folgenden Monaten nicht mehr mit Betriebsverlusten« und für 1971 mit einem Gewinn von 60.000 DM zu rechnen sei.65 Der Beirat hielt also an den während der Kreditverhandlungen im Frühsommer 1970 vereinbarten Unternehmenszielen fest, obwohl sich diese bereits als nicht realisierbar erwiesen hatten. Schon im November 1970 sagte [Hans Müller] vorher, das Jahr 1970 werde mit einem mindestens doppelt so hohen Verlust abschließen als in den Kreditverhandlungen prognostiziert.66 Mit mehr als 400.000 DM fiel der Verlust des Jahres 1970, der sich erst

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Siehe Tabelle 3 im Anhang. Folgendes siehe Kapitel 4.2. Stellungnahme Beirat (GHS), 20. April 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 1; Wilhelm Leveringhaus an Franz Fabian, 10. Mai 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 2. Für 1970 wurde ursprünglich ein Verlust in Höhe von 116.000 DM einkalkuliert. Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 12. November 1970, in: FHI, Schöf-1221.

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im Sommer 1971 exakt bestimmen ließ, sogar viermal höher als erwartet aus.67 Die monatlichen »Erfolgsrechnungen« im weiteren Verlauf des Jahres 1971 legten keinesfalls die Schlussfolgerung nahe, dass der gegenüber dem Land Hessen versprochene Aufschwung einzusetzen begann. Berechtigterweise kritisierte Wilhelm Leveringhaus, der als neuer Leiter der IG-Chemie-Verwaltungsstelle Kassel die Firma kaum kannte und der Selbstverwaltung sehr skeptisch gegenüberstand, dass bei diesen Verhandlungen mit geschönten Zahlen hantiert wurde, und erklärte, die finanzielle Lage des Unternehmens sei in Wirklichkeit sehr bedrohlich.68 Um den Bezirksleiter Franz Fabian im fernen Frankfurt am Main aus seiner »euphorischen« Stimmung zu holen, rechnete Leveringhaus ihm im August 1971 einen potenziellen Gesamtverlust in Höhe von 640.000 DM für das Jahr 1971 vor.69 Als die Firma im September 1971 den von der LKK eingeräumten Kontokorrentkredit um 100.000 DM überziehen musste – was die Bank zusammen mit dem in der »Erfolgsrechnung« von August 1971 ausgewiesenen Verlust dazu veranlasste, die für Oktober 1971 geplante Auszahlung der Kreditrate für den notwendigen Neubau des dritten Ofens zurückzustellen70  –, wiederholte Leveringhaus gegenüber Fabian seine »ernsthaften Bedenken, ob der Betrieb bei der derzeit so angespannten Liquiditätslage seinen Verpflichtungen nachkommen kann.«71 Die Mitglieder des geschäftsführenden Ausschusses waren über diese düsteren Prognosen geteilter Meinung.72 Vor dem Hintergrund dieser bedrohlichen Verlustprognose veranlassten die als zu hoch wahrgenommenen Lohnkosten den Beiratsvorsitzenden Franz Fabian im Herbst 1971 schließlich, massiv in die unternehmerische Entscheidungsfindung zu intervenieren.73 Der Verlust des Jahres 1971 fiel mit einer Summe von 227.000 DM letztlich sehr viel geringer als befürchtet aus.74 Der Umsatz konnte zwar nicht wie geplant um 35 Prozent, jedoch mit insgesamt 5,2 Millionen DM immerhin um 18 Prozent gesteigert werden. Der Erfolg der Sanierung zeigte sich auch hier erst auf längere Sicht, wie die Untersuchung der RKW-Landesgruppe Hessen Anfang 1972 konstatierte. In ihrem Bericht stuften die RWK-Berater die Kapitalsituation des Unternehmens zwar nach wie vor »als äußerst gefährdet« ein, hoben aber hervor, »dass [sich] die betriebliche Leistung von 1970 nach 1971, und da vor allem im letzten Drittel des Jahres 1971« merklich verbessert habe und »eine Mehrleistung erwirtschaftet« werden konnte.75 Diese »systematisch[e] Aufwärtsentwicklung« erschien den externen Gutachtern »nahezu wie ein Wunder« angesichts

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Bilanz GHS per 31. Dezember 1970, 19. Juli 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie. Leveringhaus, 10. Mai 1971 (s. Anm. 65), S. 2. Wilhelm Leveringhaus an Franz Fabian, 20. August 1971, in: FHI, Schöf-1228. Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 30. September 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 1. Wilhelm Leveringhaus an Franz Fabian, 16. September 1971, in: FHI, Schöf-1228. Während der neue Finanzleiter [Bernd Dietrich] »die Zukunft« der Firma ebenfalls als »nicht gut« bewertete, verwies der langjährige Vertriebsangestellte [Jürgen Schmitz] auf die bestehende positive Auftragslage. Der neue Betriebsleiter [Rudolf Woge] räumte ein, dass die Kalkulationen zur Produktivität der Hütte noch nicht abgeschlossen seien und für eine endgültige Bewertung nicht vorlagen. Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 2. September 1971, in: FHI, Schöf-1228. Siehe Kapitel 5.2. Folgendes aus Bilanz 1971 (s. Anm. 31). Folgendes aus RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 30), S. 4–6.

Die Unternehmensführung

der »steile[n] Talfahrt der Hütte Süßmuth innerhalb der letzten acht bis zehn Jahre […], die durch ideologische Scharlatanerei akademisch gebildeter Anfänger mehr beschleunigt als gebremst wurde.«76 Den Aufschwung führten die RKW-Gutachter auf »eindeutige Verbesserungen im Management« zurück, die sie der Intervention durch den Beirat seit Herbst 1971 und der von diesem im Dezember 1971 vorgenommenen Auflösung des geschäftsführenden Ausschusses sowie der Entmachtung der Belegschaftsgremien zugunsten des alleinigen Geschäftsführers [Hans Müller] zuschrieben. Doch hatten sich diese Veränderung in der Unternehmensführung tatsächlich so schnell in den betriebswirtschaftlichen Kennzahlen niederschlagen können? Bei dieser wie den folgenden jeweils kurzfristigen Beurteilungen der Unternehmensentwicklung auf Basis der monatlichen »Erfolgsrechnungen« blieb Folgendes unbeachtet: Da sich der Abschluss der Sanierung im Bereich der Produktion durch die erst im Herbst 1970 beendeten Übernahmeverhandlungen und die Zurückhaltung der Investitionsmittel weit über das Jahr 1971 hinaus erstreckt,77 konnten sich deren Effekte erst im letzten Drittel des Jahres 1971 auswirken und damit zu einer Zeit, die traditionell zu den Hochzeiten der Branche gehörte. Der Vertrieb über den Fachhandel – als dem Hauptvertriebsweg der Firma – unterlag generell saisonalen Schwankungen, die in den monatlichen »Erfolgsrechnungen« nicht erfasst wurden. Im Frühjahr und aufgrund des Weihnachtsgeschäfts insbesondere im Herbst wurden die stärksten Umsätze erzielt, während Jahresanfang und Sommer üblicherweise eine »Saure-Gurken-Zeit« war.78 Richard Süßmuth hatte deshalb bis 1967 zur Mitte des Geschäftsjahres bilanziert. Offensichtlich erst im Zusammenhang mit der Beantragung staatlicher Fördermittel stellte er diesen branchenspezifischen Modus auf die Praxis der Bilanzierung zum Ende des Kalenderjahres um. Die Einschätzungen des Geschäftsführers [Hans Müller] trugen diesen Branchenbesonderheiten Rechnung. Als langjähriger Angestellter im Vertrieb wusste er, dass die Sommermonate als saisonales Auftragstief mit der zeitgleich anfallenden Vorauszahlung der Urlaubsgelder und dem geschlossenen Betriebsurlaub stets eine prekäre Zeit waren.79 Im Juli 1971 berichtete er Werner Vitt von einer »langsamen, aber stetigen Aufwärtsentwicklung, [die] auch in den letzten Wochen angehalten« habe.80 Im November 1971 betonte er gegenüber den Gesellschaftern, er sehe »die Situation insgesamt […] nicht so ernst«, denn die Firma sei »ein gewaltiges Stück vorwärts gekommen«.81 Im Vergleich zum September 1969 wurde im September 1971 mit weniger Leuten mehr geleistet, was »auch ein Fortschritt« sei. Angesichts der Meinungsverschiedenheiten innerhalb des geschäftsführenden Ausschusses und insbesondere mit dem Betriebsausschuss nahm 76 77 78 79

80 81

Mit letzterem waren die Bemühungen von [Bernd Dietrich] und [Konrad Scholz] gemeint, das Rechnungswesen durch den Aufbau einer Teilkostenrechnung zu reformieren. Siehe Kapitel 7.1. Siehe Kapitel 5.1 und Kapitel 7.3. [Neumer], 13. August 1973 (s. Anm. 42), S. 5. Deshalb musste die Firma bereits in den vorherigen Sommer das Konto überziehen. Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Hans und Ursula Müller], 2. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 2. [Hans Müller] an Werner Vitt, 17. Juli 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie. Folgendes von [Hans Müller] aus Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 11. November 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 1.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

[Müller] seine positive Deutung der Situation im Unternehmen allerdings nicht zum Anlass, die letztlich zu seinen Gunsten ausfallende Intervention des Beirats abzuwehren. Nach Überwindung der Anfangsschwierigkeiten schloss das Geschäftsjahr 1972 mit einem Gewinn von 180.000 DM ab, was das beste Jahresendergebnis seit über einem Jahrzehnt war. Der Umsatz hatte sich mit insgesamt 6,3 Millionen DM um 21 Prozent erhöht, womit das ursprünglich für 1971 anvisierte Umsatzziel ein Jahr später tatsächlich erreicht wurde. Doch selbst in diesem so erfolgreichen Geschäftsjahr wiesen die monatlichen Erfolgsrechnungen außerhalb der saisonalen Hochzeiten teilweise nicht geringfügige Verluste auf.82 In den Monaten Juni bis August 1972 summierte sich der Verlust auf eine Höhe von ungefähr 163.000 DM. Das Minus von 94.000 DM Ende August 1972 konnte mit den umsatzstarken Herbstmonaten wieder ausgeglichen werden. Im Gegensatz zur temporären Verlustsituation des Vorjahres hielt der Beirat diesmal eine Intervention in die Unternehmensführung nicht für notwendig.

Das Ende der Zuversicht. Die Jahre 1973 und 1974 Im Jahr 1973 fielen in der Glashütte Süßmuth unternehmensspezifische und branchenweite Belastungen zusammen. Die Firma musste am 1. Juni 1973 mit der Rückzahlung der ersten Kreditrate beginnen, nachdem ihre Stundungsanträge abgelehnt worden waren.83 Zeitgleich wirkte sich der als Konjunktureinbruch interpretierte branchenweite Rückgang der Fachhandelsaufträge negativ aus. Nach den (eigentlich umsatzträchtigen) Frühjahrsmonaten, die gewöhnlich die Verluste der vorherigen Monate ausglichen, wies die Firma Ende Mai 1973 einen Verluststand in Höhe von insgesamt 80.000 DM auf.84 Nach dem positiven Abschluss des Jahres 1972 war diese Entwicklung für alle Beteiligten überraschend. Ein Teil der Belegschaftsvertreter*innen führte den Verlust auf das Versäumnis der Geschäfts- und Vertriebsleitung zurück, neben dem Fachhandel alternative Absatzwege zu etablieren.85 Eine solche Schuld wies der Geschäftsführer [Hans Müller] von sich: Der konjunkturbedingte Minderumsatz sei der Firma nicht anzulasten, hingegen eine hinter der Planung zurückgebliebene Produktionssteigerung sowie »bei vielen Mitarbeitern […] ein Nachlassen der Arbeitsenergie« zu beklagen.86 Zugleich betonte er erneut, dass er die Situation nicht so negativ sehe, da September bis November die umsatzstärksten Monate seien, in denen ein Drittel des Jahresumsatzes erwirtschaftet werde.87 Noch im September 1973 zeigte sich der Beirat offiziell – das heißt gegenüber der Belegschaft – optimistisch, die Verluste ausgleichen und 1973 mit einem Gewinn von 210.000 DM abschließen zu können.88 Insgeheim verfestigten die monatlichen »Erfolgsrechnungen« bei den betriebsexternen Beiratsmitgliedern indes ein düsteres Bild von der Zukunft der Firma. Auf der Bei82 83 84 85 86 87 88

Folgendes aus Erfolgsrechnungen (GHS), Februar bis Dezember 1972, in: AGI. Siehe Kapitel 7.3. Erfolgsrechnung (GHS), Mai 1973, in: AGI. Siehe Kapitel 6.3. Stellungnahme [Hans Müller], 12. Juni 1973, in: AGI; [Hans Müller] zitiert in Beirat, 10. Juli 1973 (s. Anm. 41), S. 2. Siehe Kapitel 5.3. Beirat, 10. Juli 1973 (s. Anm. 41), S. 2. Protokoll Beirat (GHS), 22. September 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 1f.

Die Unternehmensführung

ratssitzung im September 1973 stellte [Dieter Vogt] fest, dass »zum 31. Dezember 1973 die Voraussetzungen für den Konkurs gegeben« seien.89 Nach Abschluss seiner kurzfristig durchgeführten Betriebsbegutachtung kam der HLT-Beamte [Otto Maur] im November 1973 zu dem Ergebnis, die geplante elfprozentige Umsatzsteigerung auf sieben Millionen DM bis zum Ende des Jahres sei nicht realisierbar.90 Das Verfehlen der Umsatz-Planzahlen stand für ihn »ohne Zweifel« im Zusammenhang mit der »Hochzinspolitik«, der »der Handel mit radikalem Lagerabbau begegnet, der automatisch einen Nachfragerückgang bewirkt hat.« Die sich abzeichnende Verlustentwicklung hatte [Maur] bereits im Monat zuvor – hierin die Kritik des RKW-Beraters [Wiege] und eines Teils der Belegschaftsvertreter*innen aufgreifend – auf das »ungeeignet[e] Vertriebssystem« und die »mangelnde Marktbeobachtung« zurückgeführt.91 Für 1973 prognostizierte [Maur] einen Verlust in Höhe von 480.000 DM und kündigte für das erste Quartal 1974 die Zahlungsunfähigkeit der Firma an, wenn sich bis dahin nichts Grundlegendes ändere.92 In dieser dringlichen Situation gewann das Zweiofenmodell mit seinen umfassenden Rationalisierungsversprechungen an Attraktivität bzw. erhielt seine Berechtigung.93 Trotz aller Befürchtungen wies die im März 1974 vorläufig fertiggestellte Bilanz für 1973 einen Umsatz von 6,6 Millionen DM und einen Gewinn von 14.200 DM aus.94 Die pessimistische Verlustprognose war also nicht eingetreten, das angestrebte Umsatzziel von sieben Millionen DM stattdessen fast erreicht. [Otto Maur] musste nun einräumen, dass bei den »Erfolgsrechnungen« die Zweite-Wahl-Artikel zu niedrig bewertet und die Arbeit der Veredelungsabteilung nicht mit einbezogen worden waren. Aus der im Herbst 1973 an die Vertriebsleitung gerichteten Kritik wurde nun wieder ein Lob, denn das »relativ positive Ergebnis zum 31. Dezember 1973 [sei] trotz eines im Inland stagnierenden und im Auslandsgeschäft rückläufigen Umsatzes […] zustande gekommen«. Auch wenn für 1973 später doch ein negatives Betriebsergebnis in Höhe von 47.900 DM bilanziert wurde, stellte sich die auf kurzfristig erhobenen Unternehmenszahlen basierende Prognose im Nachhinein erneut als viel zu dramatisch heraus.95 Im Bereich der Produktion zog diese Fehlprognose – wie bereits 1971 – schwerwiegende Konsequenzen nach sich. Die von der Geschäfts- und Betriebsleitung kurzfristig beschlossene Zweiofenumstellung verursachte enorme Probleme, das Betriebsergebnis wurde insbesondere durch eine erhöhte Ausfallquote geschmälert. Auf der gleichen Sitzung, auf der sich »das Zahlenmaterial« für 1973 dem Beirat positiver als befürchtet dar-

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[Vogts] Einschätzung fand keinen Eingang in das offizielle Protokoll, da sie vor der Belegschaft geheim gehalten wurde. Handschriftliches Protokoll (Vitt) Beirat (GHS), 22. September 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 1. Folgendes von [Otto Maur] aus HLT, 14. November 1973 (s. Anm. 51), S. 4. Vermerk HLT, 31. Oktober 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 1f.; Ebenso HLT, 14. November 1973 (s. Anm. 51), S. 5. Siehe Kapitel 6.2. Handschriftliches Protokoll (Vitt) Besprechung im HWMi, 15. November 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 114; HLT, 14. November 1973 (s. Anm. 51), S. 4. Siehe Kapitel 5.1. Folgendes aus Beirat, 22. März 1974 (s. Anm. 51). Angabe für 1973 aus Jahresergebnis 1974, 15. März 1975, in: AGI. Im Mai 1974 wurde der vorläufige Jahresabschluss 1973 noch mit einem Gewinn in Höhe von 10.000 DM ausgewiesen. Protokoll Beirat (GHS), 30. Mai 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 5.

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stellte, wurde nun für 1974 ein Verlust in Höhe von 388.000 DM prognostiziert.96 Erst im Jahr 1975 sei – wie [Maur] dem Beirat vorrechnete – wieder ein ausgeglichenes Jahresendergebnis und ein »rechnerischer Gewinn von 125.000 DM« zu erwarten. Die Glashütte werde aber »weiterhin ein Grenzbetrieb bleiben.« Es gebe keine »Anhaltspunkte dafür, dass die Situation sich 1976 grundlegend zum Besseren ändern könnte«. Mit dieser erneuten, im Mai 1974 von [Maur] noch einmal nach oben korrigierten, Verlustprognose wurde fortan die Notwendigkeit zur Einführung und Aufrechterhaltung von Kurz- und Samstagsarbeit untermauert.97 Für 1974 sei demnach ein Verlust in Höhe von 461.000 DM zu erwarten, der ohne Kurzarbeit bei einem Betrag über 600.000 DM liegen würde. Doch auch diese Prognose stellte sich im Nachhinein als eine Fehleinschätzung heraus. Bereits im Oktober 1974 rechnete der Beirat nur noch mit einem Verlust in Höhe von 123.000 DM.98 Das vorläufige Ergebnis für das Jahr 1974 wies letztlich einen Gewinn in Höhe von 100.000 DM aus.99

Neuer Optimismus durch exkludierende Performance. Die Jahre 1975 und 1976 Den sich mehrfach als unsicher erwiesenen Modus der Beurteilung der Unternehmensentwicklung hielt der Beirat auch im Jahr 1975 bei, in dem eine Umsatzsteigerung von 22 Prozent erreicht werden sollte.100 Ungeachtet der Verzögerungen beim Neubau des dritten Ofens, der – anders als den Umsatzplanungen zugrunde gelegt – erst nach Abschluss der langwierigen Kreditverhandlungen im Frühjahr 1975 in Betrieb genommen werden konnte, hielt der Beirat an diesem Ziel fest. Als sich abzeichnete, dass Kostensenkung und Umsatzsteigerung bis zum Ende des Jahres nicht »nach Plan« realisiert werden konnten, sagte der Beirat im September 1975 für das erste Quartal des Jahres 1976 ein weiteres Mal die Zahlungsunfähigkeit voraus. Betont wurde dabei zugleich, dass »nur durch einschneidende Maßnahmen die Firma aus der augenblicklichen Krise herausgeführt werden« könne.101 In dieser Situation kam es – erstmals seit der Belegschaftsübernahme – zu absoluten Lohn- und Gehaltskürzungen sowie Personalentlassungen. Zudem beschloss der Beirat zusammen mit der Gesellschafterversammlung die Ablösung des Geschäftsführers [Hans Müller] durch [Harald Meier].102 Als [Meier] im Januar 1976 sein Amt antrat, lagen ihm für das zurückliegende Geschäftsjahr noch keine endgültigen Zahlen vor. Absehbar war für ihn jedoch, dass ein Umsatz von sechs Millionen DM konstant gehalten werden könne.103 Im Gegensatz zu seinem Vorgänger gelang es [Meier], den stagnierenden Umsatz mit Blick auf die Branchenkrise als einen Erfolg zu

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Folgendes aus Beirat, 22. März 1974 (s. Anm. 51), S. 4, 6. Folgendes aus Beirat, 30. Mai 1974 (s. Anm. 95), S. 7. Protokoll Beirat (GHS), 15. Oktober 1974, in: AGI, S. 3. Laut einer zweiten Protokollversion der Beiratssitzung am 17. März 1975 habe der Gewinn für 1974 sogar bei 150.000 DM gelegen. Jahresergebnis 1974 (GHS), 15. März 1975, in: AGI; Protokoll Beirat (GHS) [Version 1], 17. März 1975, in: AGI, S. 3; Beirat [2], 17. März 1975 (s. Anm. 61), S. 2. 100 Diese Umsatzsteigerung sollte durch eine zehn-prozentige Preiserhöhung und eine zwölf-prozentige Produktivitätssteigerung erreicht werden. Beirat, 17. Dezember 1974 (s. Anm. 51), S. 5f. 101 Folgendes aus Protokoll Beirat (GHS), 11. September 1975, in: AGI. 102 Siehe Kapitel 4.2. 103 [Harald Meier] an Beirat, 12. Januar 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1.

Die Unternehmensführung

verbuchen.104 Den Abschluss des Geschäftsjahrs 1975 bewertete er folglich als »den Umständen entsprechend gut«.105 [Harald Meier] bemühte sich im Folgenden darum, auf rhetorischer Ebene – sowohl gegenüber den Beschäftigten als auch gegenüber den Geldgebern und im/materiellen Bürgen – Optimismus und Tatkraft zu signalisieren, während er zugleich ihre Gremien aus der Unternehmensführung drängte. Einen detaillierten Einblick in die KostenUmsatz-Entwicklung verwehrte er den betriebsexternen Beiratsmitgliedern. Informationen hierüber wurden – wenn überhaupt – nur noch der bis Frühjahr 1977 tagenden Gesellschafterversammlung unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt. Das Zusenden monatlicher »Erfolgsrechnungen« an die Beiratsmitglieder stellte [Meier] sofort ein. Für die Zeit seit seinem Amtsantritt liegen daher kaum noch geschäftsinterne Unterlagen vor. Die wenigen überlieferten, nun »vertraulich« behandelten Dokumente belegen eine weiterhin angespannte Liquiditätslage.106 Die Diskussion hierüber beschränkte sich fortan auf einen exklusiven Personenkreis im Unternehmen. Ein halbes Jahr nach der Ernennung des neuen Geschäftsführers beurteilte [Otto Maur] in einer der letzten Beiratssitzungen die Unternehmensentwicklung – auf der Basis seines nur noch selektiven Einblicks – »insgesamt als positiv«, ohne dies weiter auszuführen (bzw. ausführen zu können).107

Von der Fehlplanung in der »Erfolgsplanung« Während der gesamten Selbstverwaltung standen keine für die Unternehmensplanung zuverlässigen betriebswirtschaftlichen Kennziffern zur Verfügung. Die Gründe hierfür lagen nicht nur in den aufgezeigten Problemen bei der Reform des Rechnungswesens, sondern auch in Schwierigkeiten bei der Bilanzierung. Dass im Juni 1971 noch keine Bilanz für 1970 vorlag, kritisierte der Diplom-Volkswirt [Ulrich Herzog], der als Vertreter der HLT damals mit der Überprüfung des Unternehmens beauftragt wurde, als Folge einer »mangelhaft« geführten Buchhaltung.108 Eine ähnliche Kritik äußerte Franz Fabian, als Anfang 1974 noch keine attestierten Bilanzen für 1972 und 1973 vorlagen, die er für die erneut aufgenommenen Finanzierungsverhandlungen mit dem Land Hessen dringend benötigte.109 Die Verzögerungen in der Bilanzerstellung hingen jedoch mit dem Beiratsbeschluss vom April 1971 zusammen, nicht wie in den Jahren zuvor einen externen Steuerberater und Wirtschaftsprüfer hiermit zu beauftragen.110 Offensichtlich um zu verhindern, dass die eigentlich zur Konkursanmeldung verpflichtende Überschuldung der Fir-

104 Mit Verweisen auf den »konjunkturellen Rückschlag, unter dem alle Glashütten zu leiden haben,« oder die im Vergleich zu Konkurrenzunternehmen relativ gute Auftragslage der GHS hatte [Hans Müller] hingegen im Beirat kaum noch Verständnis wecken können. Protokoll Beirat (GHS), 9. Mai 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2; Beirat [1], 17. März 1975 (s. Anm. 99), S. 2f. 105 [Harald Meier] zitiert in »Glashütte Süßmuth will exportieren«, in: Handelsblatt, 26. Februar 1976, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 106 Siehe bspw. Erfolgsrechnung (GHS), Juni 1976, in: AGI. 107 Protokoll Beirat (GHS), 20. Mai 1976, in: AGI, S. 1. 108 Vermerk HLT, 3. Juni 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 1. 109 Franz Fabian in Belegschaftsversammlung, [Februar 1974] (s. Anm. 43), S. 5f. 110 Folgendes aus Stellungnahme [Hans Müller], 13. Juni 1971, in: AGI.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

ma nach außen dringt, sollten Verwaltungsangestellte der Firma die Bilanz anfertigen, die hierdurch weitere Zusatzarbeit leisten mussten. Die Nicht-Anerkennung des Belegschaftsvereins erschwerte ebenfalls die Bilanzierung, deren Abschluss von der ausstehenden Entscheidung des zuständigen Finanzamts über die Frage der Besteuerung der Firma abhängig war.111 Ungeachtet des begrenzten bzw. unsicheren Aussagehalts zogen die geschäftsführenden Gremien die vorläufigen Unternehmenszahlen und Bilanzen für ihre Bewertungen des Unternehmenserfolgs heran, wobei sie sich unterschiedlicher Methoden bedienten. [Hans Müller] nahm in den ersten Jahren der Selbstverwaltung einen Vergleich der aktuellen Monatsergebnisse mit denen des Vorjahres vor. Sinnvoll war dies insofern, als hierdurch betriebs- wie branchenspezifische Besonderheiten berücksichtigt wurden. Unbeachtet ließ [Müller] jedoch, dass die Erfahrungswerte zurückliegender Jahre angesichts sich verändernden Wirtschaftsbedingungen nur noch begrenzte Orientierung bieten konnten. Im Zuge der branchenübergreifenden Krisenwahrnehmung des Jahres 1973 hatte diese Methode auch für [Müller] an Erkenntnispotenzial eingebüßt. Die Einschätzungen der betriebsexternen Beiratsmitglieder fußten dagegen auf branchenunspezifischen Idealzahlen einer effizienten Kosten- und Umsatz-Entwicklung. In Orientierung an diesen vermeintlich objektiven Rentabilitätsmaßstäben stellte der Beirat Jahres- und Monatspläne auf, zu deren Erfüllung in jeweils knapp bemessenen Zeiträumen er die Firma verpflichtete. Nicht die krisenbehaftete Vergangenheit, sondern die zuversichtlich geplante Zukunft wurde hierdurch zum Referenzrahmen der Bewertung.112 Die betriebsexternen Beiratsmitglieder legten ihren Urteilen und Entscheidungen für eine Mundglashütte ungeeignete Maßstäbe zugrunde, deren negativen Konsequenzen in den vorherigen Kapiteln bereits aufgezeigt wurden. Die begonnenen Reformen im Betrieb, im Vertrieb und in der Verwaltung waren fundamentale, langfristig zu meisternde Vorhaben, deren Effekte nicht kurzfristig nachweisbar waren. Die monatlichen »Erfolgsrechnungen« konnten auch die saisonalen Schwankungen – die nur durch den Auf- und Ausbau neuer Absatzverbindlichkeiten neben dem Fachhandel hätten ausgeglichen werden können – in der Vorhersage der Gesamtentwicklung des Unternehmens nicht abbilden. Die Zwischenbilanzierung fiel daher stets exakt in das branchenübliche Sommertief und bot eine Steilvorlage für sehr negative Prognosen über den Jahresabschluss, die in der Regel nach dem Weihnachtsgeschäft wieder revidiert werden mussten. Die vom Beirat eingeführte Methode der Unternehmensplanung zeigte, dass »[k]ostenrechnerische Plan-Ist-Vergleiche« nur nützen, »solange Pläne sinnvoll aufge-

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Siehe Kapitel 4.1. Der Vorzug der Plankostenrechnung (wie sie im Beirat Anwendung fand) gegenüber der Istkostenrechnung (der sich [Hans Müller] bediente) lag darin, in der Vergangenheit »vorhandene Unwirtschaftlichkeiten« in der Planung nicht zu verschleppen und »betriebliche Fehlsteuerungen« zu verhindern. Huch, Kostenrechnung (s. Anm. 15), S. 188; Zur bis ins 18. Jahrhundert zurückreichenden Geschichte der Plankostenrechnung siehe Dieter Schneider, »Managementfehler durch mangelndes Geschichtsbewusstsein in der Betriebswirtschaftslehre«, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 2 (1984), S. 115f.

Die Unternehmensführung

stellt werden können«.113 Wegen der generell mit vielen unvorhersehbaren Unregelmäßigkeiten behafteten Fertigung, dem Dauerzustand der Sanierung in sämtlichen Unternehmensbereichen sowie der ungewissen Nachfrageentwicklung war dies in der Glashütte Süßmuth aber nicht der Fall. Den geschäftsführenden Gremien offenbarte sich somit Jahr für Jahr aufs Neue, dass sie faktisch keine Grundlage besaßen, die Ist-Situation realistisch ein- und die zukünftige Entwicklung des Unternehmens abschätzen zu können. Die wiederholte Erfahrung der Unsicherheit führte nicht zu einer Revision der Maßstäbe und Methoden, mit denen der Beirat die Unternehmensentwicklung regelmäßig vermaß. Vielmehr wurden diese hierdurch als handlungsleitendes und Orientierung gewährendes Prinzip bekräftigt. Der Glauben an die vollständige Plan- und Kontrollierbarkeit aller Vorgänge im Unternehmen hielt sich ungebrochen. Die chronologische Übersicht veranschaulichte, dass die Interpretationen der aktuellen Zahlen und die Bewertung der Unternehmensentwicklung im Beirat und durch externe Gutachter hochgradig von zwei Faktoren abhängig waren: vom Vertrauen in die konkreten Personen in der Geschäftsführung und von der wahrgenommenen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik. Forderte der Beirat vom geschäftsführenden Ausschuss im Jahr 1971 detaillierte Erfolgsnachweise, wollte er von [Harald Meier] gar nichts Genaueres mehr wissen. Das Fehlen einer zuverlässigen Zahlengrundlage bot letztlich vor allem Raum für vorbehaltsbelastete Deutungen. Unter den Vertretern des Landes Hessen und der Hessischen Landesbank war die Skepsis gegenüber der demokratischen Unternehmensform von Beginn an besonders ausgeprägt. Der unverhältnismäßig tiefe Einblick in sensible Geschäftsdaten, den das Belegschaftsunternehmen den Gläubigern in Form der monatlichen Erfolgsrechnungen gewähren musste, rechtfertigte für sie die Zurückhaltung der Kreditmittel allein aus der Befürchtung heraus, öffentliche Gelder in ein dem Konkurs preisgegebenes Unternehmen zu investieren. Zusammen mit den Fehlprognosen trug jedoch gerade die restriktive Kreditvergabe dazu bei, dass die Befürchtungen der Skeptiker zu self-fulfilling prophecies wurden.

7.3 Das Eigentumsverhältnis im Kontext der Verschuldung Die Glashütte Süßmuth war als ein bereits verschuldetes Konkursunternehmen in das kollektive Eigentum der Belegschaft übergegangen, die für dessen Sanierung 1970 neue Kredite aufnehmen musste. Angesichts fehlender Sicherheiten war sie hierbei auf die Übernahme einer Ausfallbürgschaft durch das Land Hessen angewiesen. Ende 1973 wurden ein weiteres Mal Verhandlungen über staatliche Finanzierungshilfen begonnen, die im darauffolgenden Jahr zu einer weiteren Kreditaufnahme führten. Der bei oberflächlicher Betrachtung entstehende Eindruck, das Belegschaftsunternehmen sei lediglich mit

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Die Bedingungen für Plan-Ist-Vergleiche seien nach Dieter Schneider bspw. nur bei »standardisierten Tätigkeiten« vorhanden. Eine Prüfung, inwiefern »der Arbeitsanfall in leistenden Kostenstellen überhaupt planbar ist«, werde jedoch gerade »wegen der im derzeitigen Controlling verwurzelten Planungsgläubigkeit häufig unterlassen.« Schneider, Controlling (s. Anm. 48), S. 766f.

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öffentlichen Geldern künstlich am Leben erhalten worden, trügt jedoch. Die im Folgenden analysierte Entwicklung der Fremd- und Eigenkapitalausstattung zeigt vielmehr auf, wie sich die zunehmende Abhängigkeit von den Gläubigern nicht nur negativ auf die materiellen Bedingungen für eine ökonomische Stabilisierung des Unternehmens auswirkten, sondern auf lange Sicht zugleich einschneidende Veränderungen im Eigentumsverhältnis bedingten.

Das ferne Fremdkapital Die der Glashütte Süßmuth 1970 zugesagten Kreditmittel waren – mit Blick auf die erforderlichen Sanierungsmaßnahmen – knapp bemessen. Mit den zum Teil sehr hohen Zinssätzen und knappen Laufzeiten musste das Belegschaftsunternehmen zudem sehr ungünstige Konditionen akzeptieren.114 Am schwersten wog jedoch die stark eingeschränkte Verfügbarkeit über diese Mittel. Obwohl die Unternehmensgutachter bereits seit Frühjahr 1969 auf den dringenden Investitionsbedarf hinwiesen, wurde der Firma bis Ende 1970 lediglich der staatliche Zuschuss in Höhe von 225.000 DM zur Verfügung gestellt.115 Bis zum Frühsommer 1971 verweigerten Land und Landesbank die Freigabe der ein Jahr zuvor bewilligten Kreditmittel. Nur unter der Auflage einer strengen Kontrolle durch die »Wiesbadener Runden« wurde mit der ratenweisen Auszahlung der Kredite begonnen.116 Die LKK zahlte das über sie laufende Darlehen in Höhe von insgesamt 525.000 DM auch in den darauffolgenden Jahren nur zögerlich aus.117 Bis Ende 1971 gab sie hiervon lediglich 200.000 DM frei. Weitere Kreditraten wurden der Firma im Laufe des Jahres 1972 (in Höhe von insgesamt 175.000 DM) und im ersten Halbjahr 1973 zur Verfügung gestellt. Als die Glashütte Süßmuth nach Ablauf der zwei tilgungsfreien Jahre am 1. Juli 1973 mit der Rückzahlung dieses Darlehens beginnen musste, waren 12,5 Prozent (65.625 DM) der ursprünglichen Darlehenssumme noch gar nicht ausgezahlt. Das Darlehen der Bundesanstalt für Arbeit in Höhe von 750.000 DM hatte die Firma hingegen 1972 voll in Anspruch nehmen können. Für die Finanzierung der bereits im Sommer 1970 begonnenen Sanierungsmaßnahmen standen der Glashütte Süßmuth die Kreditmittel also nicht unmittelbar und auch nicht in vollem Umfang zur Verfügung.118 Die Firma brauchte aber nicht nur Geld, um zu investieren. Mit der anvisierten Umsatzsteigerung hatte sich auch ihr Bedarf an Betriebsmitteln erhöht, denn sie musste bei der Auftragsabwicklung zunächst in Vorleistung gehen und benötigte »Reserven zum Auffangen von Umsatzschwankungen«.119 Die von den Gläubigern nicht gewährte Option, Kreditmittel als Betriebsmittel zu nutzen, belastete die Liquidität der Firma im Zuge der saisonalen Schwankungen enorm. [Hans

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Siehe Kapitel 2.3. [Hans Müller] in Beirat, 18. Dezember 1970 (s. Anm. 26), S. 4. Siehe Kapitel 4.2. Folgendes aus Bericht HLT, 18. Juni 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. Deshalb ist anzunehmen, dass die IG-Chemie-Funktionäre das informelle Angebot des BfG-Vorstandsvorsitzenden eines verlorenen Zuschusses in Höhe von 500.000 DM im Frühsommer 1970 angenommen haben. Siehe Kapitel 3.5. Beirat, 12. Oktober 1972 (s. Anm. 39), S. 4.

Die Unternehmensführung

Müller] hatte dies bereits auf der ersten Beiratssitzung im Dezember 1970 kritisiert.120 Da sich hieran zunächst nichts änderte, musste die Firma im Mai 1971 den von der der LKK eingeräumten und mit ungünstigen Zinsbedingungen verbundenen Kontokorrentkredit in Höhe von 550.000 DM nahezu vollständig in Anspruch nehmen.121 Im September 1971 musste der Geschäftsführer schließlich das Konto um 100.000 DM überziehen, als das branchentypische Auftragstief der Sommermonate und die Zahlung von Urlaubsgeldern mit der noch nicht abgeschlossenen Sanierung bei zugleich wieder ansteigender Auftragslage zusammenfiel. Ungeachtet dieser besonderen Situation verweigerte die LKK daraufhin die für Oktober 1971 geplante Freigabe der Kreditrate für den dringlich anstehenden Neubau des dritten Ofens. Erst Anfang 1972 – nach der Ernennung [Müllers] zum alleinigen Geschäftsführer – gewährte die Hausbank der Firma die »vorübergehende Bereitstellung noch nicht ausgeschöpfter Investitionskredite als Betriebsmittel in Höhe von 160.000 DM«.122 Der Betriebsmittelbedarf blieb – angesichts der 1972 weiter angestiegenen Umsätze – indes bestehen.123 Hierfür sowie für den auf das Jahr 1973 datierten Rückzahlungsbeginn der Kredite galt es Rücklagen zu bilden. Auch dies dürfte ein Grund gewesen sein, weshalb die Geschäftsführung den Jahresgewinn 1972 nicht in den notwendigen Ofenneubau – wie von den Belegschaftsgremien gefordert – reinvestierte.

Das immobile Eigenkapital Durch einen bilanztechnischen Kunstgriff konnten die Kreditverhandlungen im Jahr 1970 zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden.124 Mit der Aussicht auf die Auflösung der Rentenrückstellung in Höhe von mehr als 500.000 DM und den Verkauf der für die Produktion nicht unmittelbar benötigten Immobilien, die in der Umwandlungsbilanz auf einen Wert von knapp 800.000 DM geschätzt wurden,125 konnte der vom Land Hessen geforderte Eigenkapitalnachweis erbracht werden. Zugleich sollte hierdurch die faktisch bestehende Überschuldung der Firma beseitigt werden, die nach geltendem Gesellschaftsrecht eigentlich zur Konkursanmeldung verpflichtet hätte. Nach der Belegschaftsübernahme zeigte sich, dass sich beide Bilanzposten nicht ohne Weiteres auflösen bzw. mit Gewinn »verflüssigen« ließen. Im Sommer 1971 beschloss die Gesellschafterversammlung die Auflösung der einst von Richard Süßmuth eingerichteten Pensionskasse, und die RKW-Gutachter kalkulierten deren Umwandlung in Eigenkapital im Februar 1972 bereits als Beitrag zur »Kapitalverbesserung« ein.126 Diesem Vorhaben standen jedoch Faktoren entgegen, die au120 121 122 123

Beirat, 18. Dezember 1970 (s. Anm. 26), S. 4. Leveringhaus, 10. Mai 1971 (s. Anm. 65), S. 1. Bilanz 1971 (s. Anm. 31), S. 8. Im Oktober 1972 beliefen sich bspw. die Kundenforderungen auf einen Betrag in Höhe von insgesamt 900.000 DM. Beirat, 12. Oktober 1972 (s. Anm. 39), S. 3. 124 Folgendes siehe Kapitel 2.1 und Kapitel 2.3. 125 Berichtigte Umwandlungsbilanz GHS zum 1. Januar 1970, gezeichnet von Richard Süßmuth, 22. September 1970, in: Archiv AGK, HRB 9011. 126 Gesellschafterversammlung, 19. August 1971 (s. Anm. 27), S. 1; Gesellschafterversammlung, 16. September 1971 (s. Anm. 27), S. 1f.; RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 30), S. 3.

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ßerhalb des Unternehmens lagen: Zum einen blieben angesichts der fehlenden rechtlichen Anerkennung des Modells Süßmuth die steuerlichen Folgen ungeklärt. Es stand zu befürchten, dass der hierbei entstandene »Gewinn« vom Unternehmen zu besteuern war.127 Zum anderen hatte im Oktober 1972 ein pensionierter Beschäftigter, der auf die Auszahlung seiner Rentenansprüche bestand, beim Arbeitsgericht Kassel Klage eingereicht.128 Der Kläger [Achim Pilz] war am 30. November 1971 aus dem Betrieb ausgeschieden und sollte als »erster Beschäftigter […] auf Grund der veränderten Verhältnisse keine Rente mehr« erhalten.129 [Hans Müller] vermutete hinter dieser Musterklage den Einfluss des einstigen Betriebsleiters [Ludwig Hager] und hielt sie für sachlich unbegründet.130 Dennoch kam es im Januar 1973 zu einem Vergleich.131 An dem ursprünglichen Plan wurde zwar festgehalten. Um eine weitere Musterklage zu verhindern, schlug der Geschäftsführer jedoch eine Stichtag-Regelung vor: Alle Beschäftigten sollten bei Renteneintritt bis zum 30. September 1981 die ursprünglich mit Richard Süßmuth vereinbarte Höhe der Rentenzusatzleistung erhalten, die statt aus der Rentenkasse aus den Mitteln des Unterstützungsvereins zu zahlen und gegebenenfalls aus Betriebsmitteln der Firma aufzustocken sei.132 Nach diesem Stichtag sollte an die Stelle der alten eine noch zu beschließende neue betriebliche Altersvorsorge treten – entsprechend einer zum damaligen Zeitpunkt »zu erwartenden Gesetzgebung«. Unvermeidlich erschien [Müller], »einen Teil der Prämienzahlung auf die Arbeitnehmer zu verlagern«, was »bei der Festlegung der Tariflohnerhöhung berücksichtigt« werden sollte. Von dieser Regelung hätten insgesamt 28 Beschäftigte profitiert, die bis September 1981 das Rentenalter erreichten.133 Der Rest der Belegschaft verlor hingegen die alten Ansprüche und ihm drohten indirekte Lohnabzüge, mit denen die neue Altersvorsorgeregelung finanziert werden sollte, weshalb diese Regelung dem Gerechtigkeitsempfinden der Belegschaftsvertreter*innen widersprach. Sie schlugen stattdessen vor, unter Beibehaltung der alten Rentenregelung nur einen Teil der Pensionsrückstellungen aufzulösen und die Rente für alle Empfänger*innen zu halbieren. Ihrem Vorschlag stand entgegen, dass er einen zweiten Musterprozess wahrscheinlich gemacht hätte. Für die Rechtfertigung einer solchen Maßnahme vor Gericht wäre – wie auch bei der Abwehr der Klage von [Pilz] – eine »totale Offenbarung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Hütte unvermeidbar gewesen«, was es angesichts der Überschuldung der Firma zu verhindern galt. Die Klärung dieses Sachverhalts hatte somit in eine Pattsituation manövriert, in der die Buchüberschuldung jenen Ansätzen zu ihrer Beseitigung im Wege stand, die in

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133

HLT, 18. Juni 1973 (s. Anm. 117), S. 4f. Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 4. Oktober 1972, in: FHI, Schöf-1227, S. 3. Vermerk [Hans Müller], 20. September 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 1. Ebd.; [Hans Müller] in Gesellschafterversammlung, 4. Oktober 1972 (s. Anm. 128), S. 3. Ergebnis dieses Vergleichs war, dass die Firma dem Kläger »zumindest für die Zeit von 1. Dezember 1971 bis 31. März 1973 eine volle Rente zahlen« werde. HLT, 18. Juni 1973 (s. Anm. 117), S. 5. Seit 1969 wurden zwar »keine neuen Pensionszusagen« mehr erteilt. Zum Stichtag 31. Dezember 1971 bezogen jedoch insgesamt 52 pensionierte Beschäftigte eine Rente von der GHS und 165 langjährige Beschäftigte hatten einen künftigen Anspruch darauf. Bilanz 1971 (s. Anm. 31), S. 8. Folgendes aus [Müller], 20. September 1973 (s. Anm. 129). Folgendes aus [Müller], 20. September 1973 (s. Anm. 129).

Die Unternehmensführung

den Übernahmeverhandlungen des Jahres 1970 zur Akzeptanz der prekären Finanzlage geführt hatte. Die Umwandlung der Pensionsrückstellungen in Eigenkapital wurde schließlich erst 1977 – als ein Bestandteil des umfassenden Sanierungsprogramms des Geschäftsführers [Harald Meier] – realisiert.134 Ähnlich kompliziert gestaltete sich der Verkauf der vermeintlich nicht-produktionsrelevanten Grundstücke und Immobilien.135 Bereits 1969 blieben dahingehende Bemühungen von Richard Süßmuth, der sich im Rahmen der Kreditverhandlungen mit dem Land Hessen dazu gezwungen sah, ohne Erfolg.136 In der akuten Unternehmenskrise ließ sich nur ein sehr niedriger Verkaufspreis erzielen, woraus die Firma – angesichts der auf den Grundstücken lastenden Hypotheken bzw. Grundschulden – keine zusätzlichen Finanzmittel gewonnen hätte.137 Da die Glashütte der größte und wichtigste Arbeitgeber in der Region war, hatte die ökonomische Stabilisierung des Unternehmens unmittelbaren Einfluss auf die Wertschätzung der Grundstücke und Immobilien. Deren »Liquidierung« wurde im Frühsommer 1970 daher auf einen Zeitpunkt verschoben, zu welchem »der Betrieb auch für mögliche Kaufinteressierte sichtbar weitergeführt würde.«138 Ein weiteres Hindernis stellte – wie weiter unten noch zu zeigen ist – die aufgrund der Förderung des Baus mit öffentlichen Mitteln geltende Mietpreisbindung dar. Schließlich wurden die Verkaufsverhandlungen auch deshalb vertagt, weil Geschäftsführung und Belegschaftsgremien die Dringlichkeit dieser Maßnahme nicht teilten. Angesichts erfolgsversprechender Gespräche mit »der Gewerkschaft«, im Hotel »Schulungen abzuhalten«, sah [Hans Müller] vielmehr eine gute Chance »zu einer vollständigen Auslastung zu kommen« und den »Betrieb des Hotels rentabel zu gestalten.«139 Auch der Verkauf der Werkswohnungen wurde zunächst nicht weiterverfolgt, weil diese »in den letzten Jahren einen Gewinn abgeworfen« hätten. Letzteres war allerdings auch darauf zurückzuführen, dass die Firma seit Anfang der 1960er Jahren kaum noch in den Wohnbestand investiert hatte und angefallene Instandhaltungsmaßnahmen von den größtenteils im Betrieb beschäftigten Mieter*innen vorgenommen wurden.140 Der Glasmacher und Gesellschafter [Manfred Hübner] riet deshalb von der auf Empfehlung der betriebsexternen Beiratsmitglieder geplanten Mietpreiserhöhung ab.141 134 135

Vermerk HMdF, 10. November 1978, in: Archiv HMdF. Siehe Kapitel 9.1. Zum Zeitpunkt der Belegschaftsübernahme besaß die Firma 70 Wohnungen in insgesamt 12 Häusern, die in den 1950er Jahren zu Gesamtkosten von 1,2 Millionen DM gebaut worden waren. Hinzu kamen zwei weitere Wohneinheiten in einem Zweifamilienwohnhaus, 19 Garagen, das sogenannte »Ausländerwohnheim« und das Hotel. Firmenbeschreibung GHS für Kaufinteressierte, Mai 1969, in: FHI, Schöf-1222, S. 3. 136 Richard Süßmuth an HWMi, 29. Mai 1969, in: FHI, Schöf-1222, S. 1. 137 Auf den Wohngrundstücken lasteten Verbindlichkeiten in Höhe von knapp 600.000 DM. Bilanz 1971 (s. Anm. 31), S. 4. 138 Franz Fabian an HWMi, 14. Mai 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. 139 Folgendes von [Hans Müller] aus Beirat, 18. Dezember 1970 (s. Anm. 26), S. 4. 140 Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Helga Wermke], [Ria Ulrich], [Monika Weber], [Rosa Schrödter] und namentlich unbekanntem Kollegen, 2. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 4f. 141 [Manfred Hübner] in Gesellschafterversammlung, 11. November 1971 (s. Anm. 81), S. 3. Eine Anhebung der »viel zu niedrig angesetzten« Mieten empfahl im Sommer 1970 Carl Backhaus. Dahingehende Planungen fanden im März 1971 Aufnahme in dem im Rahmen der »Wiesbadener Runden«

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In der Schuldenspirale Trotz Kreditaufnahmen blieb die Glashütte Süßmuth nach der Belegschaftsübernahme chronisch unterfinanziert. Die Buchüberschuldung und die knapp bemessenen Kreditmittel erschwerten die Sanierung der Produktionsanlage, die bereits im Normalbetrieb ein hohes finanzielles Risiko in sich barg, und machten die Firma besonders anfällig für saisonale wie konjunkturabhängige Auftragsschwankungen. Die Liquiditätsengpässe verschärften sich mit den Zinszahlungen und Tilgungen, die das Belegschaftsunternehmen nicht nur für die neuen Kredite, sondern auch für die Altlasten des vorherigen Eigentümers zu leisten hatte.142 Für den im Sommer 1973 anstehenden Rückzahlungsbeginn der beiden 1970 aufgenommenen Darlehen standen der Firma kaum Mittel zur Verfügung. Bereits im Oktober 1972 gab [Hans Müller] »eine Prolongation der Investitionskredite« zu Bedenken, wofür der ehemalige HLT-Geschäftsführer [Dieter Vogt] auf Basis »seiner weiterhin bestehenden guten Beziehungen zur Landesregierung […] seine Hilfe« anbot.143 Als die Firma im Mai 1973 bei der LKK und Bundesanstalt für Arbeit jeweils einen Antrag auf Verlängerung der Laufzeit und der tilgungsfreien Zeit einreichte, unterstützten dies zwar die mit einer Stellungnahme beauftragten HLT-Wirtschaftsprüfer, begründeten ihre Entscheidung jedoch mit einem sehr negativen Lagebericht.144 »[T]rotz der erheblichen Investitionen und damit verbundenen Modernisierung und Rationalisierung« sei es der Glashütte nicht gelungen, »eine nachhaltige Rentabilität herzustellen.« Die Buchüberschuldung sei – so ihre aufgrund fehlender endgültiger Bilanzen für 1971 und 1972 angestellte Vermutung – noch immer nicht behoben worden. Der Umsatzanstieg der letzten Jahre sei zwar »erfreulich«, der Kostenanstieg im Lohnbereich stimme jedoch »bedenklich«. Die Verluste der ersten Monate von 1973 führten die HLT-Beamten auf den branchenweiten Umsatzrückgang, die nachlassende »Arbeitsintensität« bei gleichzeitigem Anstieg der Krankheitstage sowie eine »Verschlechterung der Glasqualität« aufgrund unbekannter Ursachen zurück. Während sie die Gewinne für 1972 zu niedrig ansetzten, gingen sie von einem zu hohen Verlust für 1973 aus. Die Schlussfolgerung, aufgrund des hieraus resultierenden Fehlens von Tilgungsmöglichkeiten den Beginn der Kreditrückzahlung auf 1975 zu verschieben, war für die Gläubiger nicht nachvollziehbar. Das Bundesamt für Arbeit lehnte den Stundungsantrag ab, so dass im Sommer 1973 die erste Halbjahresrate in Höhe von 43.700 DM beglichen werden musste.145 Daraufhin bestand – anders als es die

ausformulierten Maßnahmenkatalog. Carl Backhaus an GHS, 6. Juli 1970, in: FHI, Schöf-1221, S. 2; Maßnahmenkatalog, [Frühjahr 1971] (s. Anm. 10), S. 4. 142 Neben den auf den Wohngrundstücken lastenden Hypotheken in Höhe von knapp 600.000 DM hatte das Belegschaftsunternehmen auch einen von Richard Süßmuth bei der LAB aufgenommen Investitionskredit in Höhe von 92.500 DM zu begleichen. Übersicht Kredite der GHS, Stand 31. Dezember 1970, in: AGI. 143 Beirat, 12. Oktober 1972 (s. Anm. 39), S. 4. 144 Autoren waren die HLT-Beamten [Herzog] und [Seiler]. Folgendes aus HLT, 18. Juni 1973 (s. Anm. 117). 145 Beirat, 22. September 1973 (s. Anm. 88), S. 2; Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 25. Oktober 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 2.

Die Unternehmensführung

HLT-Gutachter erwartet hatten146 – auch die Hausbank LKK auf den Beginn der Tilgung. Im Oktober 1973 buchte sie die erste Rate in Höhe von 46.000 DM vom Firmenkonto ab.147 Zusammen mit den Rückzahlungsraten für die alten Kredite war damit die Tilgungsverpflichtung im Jahr 1973 auf einen Gesamtbetrag von knapp 200.000 DM gestiegen.148 Zur Abwendung der seit Herbst 1973 prognostizierten Zahlungsunfähigkeit begann der Beirat unter Federführung des HLT-Beamten [Otto Maur] ein neues Finanzierungskonzept zu erarbeiten. Bei der Berechnung des diesem zugrunde gelegten Kapitalbedarfs schien [Maur] aus den vorangegangenen Erfahrungen gelernt zu haben. So veranschlagte er neben einem Finanzierungsbedarf für betriebliche Investitionen (500.000 DM) auch einen Betriebsmittelbedarf (200.000 DM) und einen Bedarf an Werbungsmitteln (100.000 DM).149 Angesichts des für 1973 prognostizierten Verlusts von 480.000 DM errechnete er hieraus einen Mindestkapitalbedarf von knapp 1,3 Millionen DM – ein Betrag, der im Zusammenhang mit den Verlustprognosen in den folgenden Monaten mehrfach korrigiert wurde.150 Zugleich sprach sich [Maur] gegen die Aufnahme neuer Kredite aus, da mit Blick auf die Ertragslage nur mit sehr ungünstigen Konditionen zu rechnen sei. Stattdessen sei »zusätzliches Eigenkapital« bereitzustellen, wozu sowohl die Hessische Landesregierung und die IG Chemie als auch die Belegschaft ihren Beitrag zu leisten hätten.151 Seit Herbst 1973 schien sich die Glashütte Süßmuth in einer ähnlichen Situation zu befinden wie einst 1970. Die Initiative zur Abwendung der (fehl-)prognostizierten Zahlungsunfähigkeit ging diesmal aber nicht von der Belegschaft, sondern von Repräsentanten der IG Chemie und der in Hessen regierenden SPD aus, für die sich die politische Brisanz des Falls Süßmuth – angesichts der andauernden Kontroverse über die gesetzliche Verankerung der Mitbestimmung und der im Herbst 1974 erneut anstehenden Landtagswahl – erhöht hatte.152 Auf oberster politischer Ebene wurde über mögliche Lösungen verhandelt. Der Ministerpräsident Albert Osswald und der Finanzminister Heribert Reitz stellten dem stellvertretenden IG-Chemie-Hauptvorstandsvorsitzenden Werner Vitt im November 1973 die Bewilligung eines verlorenen Zuschusses in Höhe von 200.000 DM in Aussicht.153 In einem informellen »Sechs-Augen-Gespräch« verdeutlichte Osswald gegenüber Vitt und Franz Fabian, er sei »zur Hilfe nur Arm in Arm« mit der Gewerkschaft bereit.154 Das hieß: Er forderte von der IG Chemie einen Beitrag zum

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HLT, 18. Juni 1973 (s. Anm. 117), S. 11. Gesellschafterversammlung, 25. Oktober 1973 (s. Anm. 145), S. 3. HLT, 18. Juni 1973 (s. Anm. 117), S. 2. Folgendes aus Besprechung HWMi, 15. November 1973 (s. Anm. 92), S. 1. Im Februar 1974 war von einem »Finanzbedarf von 2 Mio. DM, mindestens aber 1,5 Mio. DM« die Rede. Nachdem sich der prognostizierte Verlust für 1973 im Frühjahr 1974 als überzogen herausstellte, ging der Beirat von einem Kapitalbedarf von einer Millionen DM aus. Vermerk [Hans Müller], 4. Februar 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Beirat, 9. Mai 1974 (s. Anm. 104), S. 3. HLT, 31. Oktober 1973 (s. Anm. 91), S. 3; Beirat, 22. März 1974 (s. Anm. 51), S. 8f.; Beirat, 30. Mai 1974 (s. Anm. 95), S. 9. Siehe Kapitel 4.4. Werner Vitt an IG Chemie Hauptvorstand, 12. November 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. Handschriftliches Protokoll (Vitt) Besprechung mit Albert Osswald, 15. November 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie.

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»Gesamt-Finanzierungspaket«.155 Erneut spielte also bei der Verhandlung über Finanzhilfen die hiermit verbundene politische Verantwortung die ausschlaggebende Rolle.156 Für die Gewerkschafter war eine finanzielle Beteiligung grundsätzlich ausgeschlossen, sie bemühten sich zunächst darum, neben dem Land und der LKK auch die Bank für Gemeinwirtschaft davon zu überzeugen, das 1970 »gegebene Darlehen in Eigenkapital um[zu]wandeln.«157 Da die BfG darauf nicht einging, adressierten sie ihre Hilfsgesuche an den gewerkschaftseigenen Wohnungskonzern Neue Heimat (NH). Die NH sollte »dafür gewonnen werden, die […] Werkswohnungen und das Hotel zu übernehmen«, um den Eigenkapitalbestand der Glashütte Süßmuth zu erhöhen.158 Im November 1973 richtete Werner Vitt diese Forderung an Albert Vietor, den Vorstandsvorsitzenden der Unternehmensgruppe, persönlich. Vietor beauftragte die Frankfurter Regionalgesellschaft NH Südwest Verkaufsverhandlungen mit der Belegschaftsfirma aufzunehmen, obwohl diese zum damaligen Zeitpunkt grundsätzlich »keine fertigen Wohnungen« mehr erwarb.159 Ihre Rentabilitätsprüfung der Wohnbestände kam zu dem Ergebnis, dass nach ihren Wirtschaftlichkeitskriterien eine sofortige Erhöhung des bisherigen Mietpreises von 1,76 DM pro Quadratmeter auf 4,29 DM notwendig sei.160 Aufgrund der öffentlichen Förderung beim Bau der Wohnungen konnte die Quadratmetermiete lediglich auf maximal 2,60 DM erhöht werden, wozu die Zustimmung der »Bewilligungsbehörde« erforderlich war, die diese in der Vergangenheit bei ähnlichen Fällen in der Regel verwehrt habe. Der NH-Regionalverband lehnte daher den Erwerb der Wohnanlage ab und verwies die Firma an die »Zentrale Hamburg«, die allein in dieser Angelegenheit »eine politische Entscheidung bzw. die Grundsatzentscheidung« treffen könne.161 Der Einfluss, den die IG Chemie und das Land Hessen über NH-Vorstand und Aufsichtsrat auf den Regionalverband Südwest auszuüben vermochten, bewirkte, dass die Verkaufsverhandlungen fortgeführt wurden.162 Doch wie einst die BfG zeigte sich auch die NH unwillig, dem Belegschaftsunternehmen Sonderkonditionen einzuräumen, was die Gewerkschafter und [Hans Müller] erwarteten. Von dem erhofften »zwar realen, aber 155 156

Vitt, 12. November 1973 (s. Anm. 153), S. 2. Albert Osswald habe sich die »Vaterschaft« für das Modell Süßmuth »nicht andrehen« lassen wollen. Schöfer, [1973/1974] (s. Anm. 53). Siehe Kapitel 3.5. 157 HLT, 31. Oktober 1973 (s. Anm. 91), S. 3. Darüber hinaus bat Werner Vitt die BfG erneut um »einen verlorenen Zuschuss in Höhe von 100.000 DM«. Werner Vitt an Walter Hesselbach, 12. November 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. 158 Vitt, 12. November 1973 (s. Anm. 153), S. 2. 159 Vermerk [Konrad Scholz], 15. Januar 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. 160 Folgendes aus NH Südwest an Albert Vietor, 28. November 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 161 [Scholz], 15. Januar 1974 (s. Anm. 159), S. 3. 162 Werner Vitt und Albert Osswald führten persönlich Gespräche mit Albert Vietor und mit Mitgliedern des NH-Aufsichtsrats. Mit dem Verweis auf die »politische Brisanz des Problems für das Land Hessen« forderten sie sie auf, die Entscheidungsfindung im Aufsichtsrat entsprechend zu beeinflussen. Vermerk [Hans Müller], 23. Januar 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Vermerk Werner Vitt, 23. Januar 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Werner Vitt an Heinz Voßhenrich, 24. Januar 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Vermerk [Hans Müller], 1. Februar 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie; [Müller], 4. Februar 1974 (s. Anm. 150); Albert Vietor an NH Südwest, 12. Februar 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie.

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optimalen Preis« sowie der Forderung, »nicht nur rein ökonomische Aspekte [zu] berücksichtigen«, sondern die Firma nach »großzügigen, wirtschaftlichen Maßstäben« zu unterstützen, mussten sie sich sehr bald verabschieden.163 Den ursprünglich von der Glashütte veranschlagten Verkaufspreis in Höhe von 1,5 Millionen DM handelte die NH Südwest (als Kompensation der eingeschränkten Möglichkeiten künftiger Mietpreissteigerung) bis zum Frühsommer 1974 auf eine Verkaufssumme von 850.000 DM herunter.164 Hiervon waren die auf Richard Süßmuths Kredite zurückgehende hypothekarischen Belastungen in Höhe von 400.000 DM noch abzuziehen. Denn da die Wohngrundstücke auch als Sicherheit für das 1970 von der LKK gewährte Darlehen dienten, war die Hausbank nur gegen die Zahlung oder Übernahme einer Bürgschaft von 200.000 DM zur Freigabe der Grundschulden bereit.165 Die LKK untermauerte ihre Forderung mit der Androhung, andernfalls das Limit des Kontokorrentkredits herabzusetzen, womit wiederum »ein zusätzlicher Betriebsmittelbedarf in Höhe von mindestens 200.000 DM« entstanden wäre. Vom Verkauf der Werkswohnungen blieb der Firma lediglich ein Eigenkapitalbetrag in Höhe von maximal 250.000 DM. Die Verkaufsverhandlungen zum Zwecke der Eigenkapitalbildung wurden im Laufe des Jahres 1974 zur Farce. Das von den geschäftsführenden Gremien im Herbst 1973 skizzierte Bedrohungsszenario, das den Verhandlungsreigen mit dem Land Hessen und der NH erst eröffnet hatte, war in den ersten Monaten des Jahres 1974 nicht eingetreten. Infolge der von Geschäfts- und Betriebsleitung eigenmächtig beschlossenen Zweiofenumstellung hatte sich die Negativprognose für 1973 nunmehr aber für 1974 aktualisiert, weshalb der Beirat weiterhin von einem Kapitalbedarf in Höhe von einer Millionen DM ausging. Die Hessische Landesregierung sollte aufgefordert werden, die Glashütte Süßmuth »entweder durch Gewährung eines Zuschusses aus öffentlichen Mitteln in Höhe von 750.000 DM oder eines Zuschusses von 550.000 DM bei zusätzlicher Übernahme einer Landesbürgschaft in Höhe von 200.000 DM zugunsten der LKK Kassel« zu unterstützen. Aus diesem Grund sollten die Werkswohnhäuser, deren »Verflüssigung« die Landesregierung ja bereits seit Ende der 1960er Jahre von der Firma gefordert hatte, trotz des niedrigen Preises verkauft werden. Ebenso wie zur Kurzarbeit und Sechstagewoche sahen die geschäftsführenden Gremien hierzu keine Alternative. Obwohl die Gesellschafter*innen und Betriebsratsmitglieder Widerspruch einlegten, beauftragte der Beirat im Mai 1974 den Geschäftsführer damit, den Verkauf an die NH in die Wege zu leiten.166 Die Veräußerung der Immobilien hatte sich im Kontext der oben skizzierten Verhandlungskonstellation auf die Bedeutung eines von der Gewerkschaft zu leistenden »Beitrags« für ein neues Finanzierungskonzept reduziert, den das Land Hessen als Bedingung für eine weitere Unterstützung formuliert hatte. 163

[Hans Müller] an Werner Vitt, 23. November 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2; [Scholz], 15. Januar 1974 (s. Anm. 159), S. 1. 164 Folgendes aus Beirat, 9. Mai 1974 (s. Anm. 104), S. 3f. 165 Folgendes aus Beirat, 30. Mai 1974 (s. Anm. 95), S. 9–11. 166 Ebd., S. 11. In der Außendarstellung wurde die Kritik der Belegschaftsgremien hingegen verschwiegen. [Hans Müller] berichtete stattdessen der HNA, dass die »235 Beschäftigten« gegen den Verkauf der Werkswohnungen »keine Einwände« hätten. »Genossenschaftshütte braucht eine Million. Für Schuldenabbau und neue Investitionen«, in: HNA, 27. Februar 1974, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner.

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Trotz der Risiken einer weiteren Verschuldung, vor denen der HLT-Gutachter [Maur] explizit gewarnt hatte, mündete die Suche nach einem neuen Finanzierungskonzept schließlich in zusätzlichen Kreditaufnahmen. Denn die Landesregierung war lediglich zur Bewilligung des bereits im November 1973 zugesicherten Investitionszuschusses in Höhe von 200.000 DM bereit.167 Darüber hinaus gewährte sie eine 100-prozentige Landesbürgschaft für die Aufnahme eines Darlehens in Höhe von 350.000 DM und – als Ersatz für die auf den Wohngrundstücken lastenden Sicherheiten für die LKK – »die Übernahme einer weiteren Bürgschaft von 200.000 DM für einen auf den Kontokorrentkredit anzurechnenden Betriebsmittelkredit«. Zusammen mit dem Erlös aus dem Verkauf der Wohnhäuser standen der Firma Ende 1974 Finanzierungsmittel in Höhe von einer Million DM zur Verfügung, die nun jedoch gar nicht in vollem Umfang benötigt wurden.168 Die prognostizierte Liquiditätskrise, mit der die geschäftsführenden Gremien den Komplettverkauf der Werkswohnungen gerechtfertigt hatten, war auch 1974 nicht eingetreten. Auf die staatsverbürgten Kreditmittel wurde erst zurückgegriffen, als in den Anfangsmonaten des Jahres 1975 die prognostizierten Umsatzzahlen nicht erreicht wurden, sich die Liquidität des Unternehmens aus Perspektive des Beirats erneut zu verschlechtern und die Frist zur Inanspruchnahme abzulaufen drohte.169 Nur zum Zinssatz von 9,5 Prozent pro Jahr wollte die LKK – trotz der 100-prozentigen Landesbürgschaft – die Darlehen von insgesamt 550.000 DM (mit einer Laufzeit von 12 Jahren bei zwei tilgungsfreien Jahren) bewilligen. Zugleich bot sie an, das Restdarlehen aus dem Jahr 1970 (in Höhe von circa 393.000 DM) ebenfalls zum Zinssatz von 9,5 Prozent umzuschulden. Die Gesuche von [Otto Maur] und [Dieter Vogt], der bereits hochverschuldeten Firma kulantere Konditionen zu gewähren, blieben erfolglos.170 In mehrfacher Hinsicht unterschieden sich diese Entwicklungen grundlegend von jenen im Jahr 1970. Hatte damals eine jahrelange Verlustentwicklung die Firma zur Aufnahme von neuen Krediten gezwungen, so führten 1974 allein die negativen Konsequenzen des aufgrund einer verfehlten Prognose von den geschäftsführenden Gremien überstürzt vorgenommenen Eingriffs in die Produktion zu einer weiteren Kreditaufnahme. Die Belegschaft und ihre Gremien konnten hierauf keinen Einfluss nehmen. Der Mehrheit der Beschäftigten wurde die Prognose einer bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit zunächst vorenthalten, weil die geschäftsführenden Gremien unkontrollierbare Panikreaktionen in der Belegschaft befürchteten.171 Unter dem Siegel der Verschwiegenheit hatte der Beirat allein die Gesellschafterversammlung und den Betriebsrat informiert. Letzterer kritisierte das Vorgehen der geschäftsführenden Gremien und drängte darauf, die Belegschaft umgehend über die angespannte Finanzlage in Kenntnis zu setzen, da sie andernfalls »nicht besser als ein Privatunternehmer« wären. Zudem wurden die

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Folgendes aus Beirat, 15. Oktober 1974 (s. Anm. 98), S. 1f. Folgendes aus Beirat, 17. Dezember 1974 (s. Anm. 51). Folgendes aus Beirat [1], 17. März 1975 (s. Anm. 99). Handschriftliches Protokoll (Vitt) Beirat (GHS), 15. Oktober 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 1. Folgendes aus Wilhelm Leveringhaus an Karl Hauenschild, 1. Oktober 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Vermerk Franz Fabian, 6. Oktober 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Protokoll Gesellschafterversammlung, 8. Februar 1974, in: AGI.

Die Unternehmensführung

Arbeitenden zur Überwindung des Liquiditätsengpasses nunmehr selbst zur Kasse gebeten.172 Die explizite Forderung von Repräsentanten des Landes Hessen nach einem finanziellen Beitrag der Belegschaft, den die Gewerkschaftsfunktionäre einst mit Blick auf die Vorbildfunktion des Modells Süßmuth kategorisch ausgeschlossen hatten, rief unter den Belegschaftsvertreter*innen großes Unverständnis hervor. Den seit Jahren bereits geleisteten Verzicht der Beschäftigten – sei es in Form unbezahlter Mehrarbeit oder in Form des Verzichts auf die volle Auszahlung des Weihnachtsgelds – sahen sie in den Verhandlungen nicht ausreichend gewürdigt.173 Dennoch war dieser Punkt des neuen Finanzierungskonzepts am schnellsten geklärt. Nach kontroversen Diskussionen hatten Gesellschafterversammlung und Betriebsrat bereits im Herbst 1973 einem 75-prozentigen Teilverzicht auf die Auszahlung des Weihnachtsgelds zugestimmt.174 Anstatt den Verzicht jedoch wie bisher stillschweigend zu üben, sollte der hierdurch eingesparte Geldbetrag der Firma als Belegschaftsdarlehen zur Verfügung gestellt werden, um im »Konkurs- oder Liquidationsfall […] wieder in Forderungen der Belegschaft umgewandelt« werden zu können.175 Nur im Falle »einer Konsolidierung der Verhältnisse« sollte die Belegschaft »auf die Weiterführung der Forderung« verzichten und »einer Auflösung und Umwandlung in Eigenkapital« zustimmen. In einer geheimen Abstimmung erklärte die Belegschaft im Februar 1974 hierzu ihre Bereitschaft, die erst zu diesem Zeitpunkt über die finanziell angespannte Situation im Unternehmen informiert wurde. In den folgenden Jahren verstetigte sich der Verzicht auf die volle Auszahlung des Weihnachtsgelds, der in Form von Belegschaftsdarlehen nun in der Bilanz transparent wurde und zugleich als Quasi-Eigenkapitalposten fungierte.176

Kollektive versus individualisierte Haftung Die Mitglieder der Gesellschafterversammlung und des Betriebsrats stellten – zeitgleich zu den Verhandlungen, die die geschäftsführenden Gremien mit dem Land Hessen aufgenommen hatten – eigene Überlegungen über ein neues Finanzierungskonzept an. Sie hegten berechtigte Zweifel, ob der Verkauf aller Betriebswohnungen zu den von der NH diktierten Bedingungen überhaupt Sinn macht. Die Belegschaftsgremien regten an, stattdessen darüber nachzudenken, »ob nicht bei Veräußerung der Wohnhäuser oder der Wohnungen als Eigentumswohnungen im Einzelnen höhere Verkaufserlöse erzielt werden könnten.«177 Verhindern wollten sie vor allem, dass der Verkauf zu Lasten

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[Otto Maur] erachtete bspw. einen 50-prozentigen Verzicht auf das Weihnachtsgeld 1973 und auf »noch zu vereinbarende Lohn- und Gehaltsanteile« als notwendig. HLT, 31. Oktober 1973 (s. Anm. 91), S. 3. Protokoll Gesellschafterversammlung, 13. November 1973, in: AGI, S. 2. Es handelte sich hierbei um eine Summe von ungefähr 150.000 DM. Einen Verzicht auf Lohn- und Gehaltsanteile hatte der Betriebsrat hingegen kategorisch abgelehnt. Protokoll Gesellschafterversammlung, 19. November 1973, in: AGI; Beirat, 22. März 1974 (s. Anm. 51), S. 3f. Folgendes aus Beirat, 22. März 1974 (s. Anm. 51), S. 3f. Siehe Kapitel 5.2. Die Summe des zurückgestellten Weihnachtsgelds für 1974 betrug 130.000 DM. Protokoll Beirat (GHS), 2. Juli 1975, in: AGI, S. 2. Siehe Kapitel 9.1. Beirat, 30. Mai 1974 (s. Anm. 95), S. 10.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

der Mieter*innen ging, die ja mehrheitlich in der Glashütte arbeiteten. Der Vorschlag eines Einzel- und Teilverkaufs der Immobilien versprach – sowohl für die Beschäftigten als auch für die Firma – auf lange Sicht mehr Vorteile als der Komplettverkauf. Interesse am Erwerb einer Werksimmobilie ist von Facharbeitern überliefert, die noch kein Eigenheim in Immenhausen gebaut und die finanziellen Möglichkeiten dazu hatten.178 Ein Gesamtverkaufserlös von 1,5 Millionen DM schien hierüber realistisch. Außerdem sahen die Belegschaftsgremien in einer weiteren Vermietung der (noch) nicht verkauften Wohnungen keine zusätzliche finanzielle Belastung für die Firma, sondern vielmehr eine Einnahmequelle. Vor allem berücksichtigten ihre Einwände die ökonomische Bedeutung, die der betrieblichen Wohnungspolitik in der Geschichte der Mundglasbranche generell zukam. Das Bereitstellen von Wohnraum und ein günstiger Mietzins als nicht-monetäre Formen der Entlohnung waren traditionelle Mittel der Betriebsbindung und schufen Anreize zur Gewinnung von neuem Personal, an dem es in der Glashütte Süßmuth wie in der gesamten Branche mangelte.179 Der Einzelverkauf an Belegschaftsmitglieder und andere Interessierte sowie die Beibehaltung günstiger Mieten in den firmeneigenen Wohnungen bot eine Möglichkeit, die Suche nach neuen Finanzierungsstrategien zur Abwendung der prognostizierten Liquiditätskrise mit der Aufrechterhaltung bzw. Erhöhung der Betriebs- und Ortsbindung sowie der Zufriedenheit der Beschäftigten verbinden zu können. Die betriebsexternen Mitglieder des Beirats und Vertreter der Hessischen Landesregierung ignorierten hingegen das auf Betriebsbindung der Beschäftigten abzielende Motiv, das Richard Süßmuth einst zum Bau der Werkswohnhäuser veranlasst hatte, und saßen damit seiner Selbstrepräsentation als altruistischer Unternehmer auf. Sie beharrten auf eine »Verflüssigung« dieser für sie »nicht-produktionsrelevanten« Vermögensbestände, auch weil sie die Bilanz belasten bzw. die Unternehmensführung verkomplizieren würden.180 Die von der NH angekündigten Mitpreissteigerungen, die den mehrheitlich in den Werksimmobilien wohnenden Belegschaftsangehörigen drohten, nahmen sie billigend in Kauf. Gegenüber dem Argument, durch einen Einzelverkauf einen insgesamt höheren Verkaufserlös zu erzielen, führte der Beirat im Mai 1974 den »erheblichen Zeitdruck« an, der aus der befürchteten Liquiditätskrise bei zugleich dringendem Investitionsbedarf in einen dritten Ofen resultiere.181 »[E]in solcher Verkauf [sei] nicht mehr innerhalb der notwendigen Zeit zu realisieren«, »außerdem [könne] das darin liegende Risiko, dass nur ein Teil der Häuser verkauft, ein anderer Teil aber unverkäuflich bleibe, nicht mehr eingegangen werden«. Diese Ansicht teilte nunmehr auch [Hans Müller], der sich einige Jahre zuvor noch gegen die Veräußerung ausgesprochen hatte. Der Immobilienverkauf hatte das grundsätzliche Problem der Unterkapitalisierung und fehlenden Eigenkapitalausstattung nicht lösen und erneute Kreditaufnahmen 178

Folgendes aus Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak], [Dieter Schrödter], [Reinhard Krämer] und zwei namentlich unbekannten (ehemaligen) Arbeiter*innen, 13. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 6. 179 Bereits im September 1971 hob der technische Ausschuss die Notwendigkeit einer »besseren Wohnungspolitik« hervor, um dem mit der Expansion erhöhten Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken. Protokoll Technischer Ausschuss (GHS), 8. September 1971, in: FHI, Schöf-1228. 180 Siehe bspw. Backhaus, 6. Juli 1970 (s. Anm. 141), S. 2. 181 Folgendes aus Beirat, 30. Mai 1974 (s. Anm. 95), S. 10.

Die Unternehmensführung

nicht verhindern können. Auch das Dringlichkeitsargument relativierte sich im weiteren Verlauf: Die Hessische Landesregierung hatte erst kurz vor der Landtagswahl im Herbst 1974 – ein Jahr nach Beginn der Verhandlungen – über den Antrag der Glashütte Süßmuth entschieden.182 Der Verkauf an die NH trat nicht vor Januar 1975 in Kraft.183 Die Inbetriebnahme des neuen Ofens verzögerte sich bis Mai 1975.184 Zudem hatte die NH keineswegs den gesamten nicht-betrieblichen Immobilienbestand übernommen, sondern schwieriger zu vermietende bzw. zu verkaufende Objekte, wie das Hotel und das »Ausländerwohnheim«, aus dem Deal ausgeklammert.185 Dass die geschäftsführenden Gremien dennoch an ihren Verkaufsplänen festhielten, war vor allem der betrieblichen Konfliktlage geschuldet. Denn obiger Vorschlag der Belegschaftsgremien stand im Zusammenhang mit umfassenderen Überlegungen zur Neuausrichtung des Unternehmens und zur Vitalisierung der Selbstverwaltung als kollektive Antwort auf die von den geschäftsführenden Gremien in vermeintlicher Alternativlosigkeit forcierten Alleingänge. Angesichts der erneuten Konkursdrohung und der Unzufriedenheit mit den zurückliegenden Entwicklungen hielt es eine »klein[e] Gruppe von Kollegen« für ihre »Pflicht, als Verantwortung tragende Mitglieder des Vereins der Beschäftigten in der gegenwärtig schwierigen Situation der Hütte eigene Initiativen zu ergreifen«.186 Zusammen mit den Unterstützern aus dem Bochumer Gründerkreis der GLS-Bank begannen sie Anfang 1974 ein Alternativkonzept zu entwickeln, das die Gründung einer Genossenschaft vorsah.187 Ziel war es, die nach wie vor ungeklärte Rechtslage des Modells Süßmuth und hiermit verbundenen steuer- und haftungsrechtlichen Probleme zu beheben. Die von der Bochumer Gruppe in Aussicht gestellten Finanzierungsoptionen sollten zugleich die akuten Liquiditätsprobleme beseitigen und der Firma einen Weg aus der Schuldenspirale ermöglichen.188 Diesem Plan lag also die Hoffnung zugrunde, der demokratische Praxis der Unternehmensführung einen formalrechtlich anerkannten Rahmen zu geben und das Belegschaftsunternehmen zugleich von den Abhängigkeiten der im Beirat versammelten Gläubiger zu befreien, um endlich »in Ruhe arbeiten« zu können. Da sie (infolge ihrer »Erfahrungen der vergangenen Jahre«) befürchteten, [Hans Müller] werde das Nachdenken über alternative Entwicklungsoptionen bereits im Keim ersticken, hielten die Belegschaftsgremien ihre Planungen vor dem Geschäftsführer geheim.189 Mit dem Beiratsvorsitzenden Franz Fabian hatten sie hierüber »ein klärendes

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Beirat, 15. Oktober 1974 (s. Anm. 98), S. 1f. Beirat, 17. Dezember 1974 (s. Anm. 51), S. 4. Beirat, 2. Juli 1975 (s. Anm. 176), S. 5. Dementsprechend hatte sich der Verkaufspreis zuletzt auf einen Betrag in Höhe von 815.000 DM reduziert. Beirat, 17. Dezember 1974 (s. Anm. 51). 186 Stellungnahme Gesellschafterversammlung (GHS), undatiert [Frühjahr 1974], in: FHI, Schöf-1419. 187 Siehe Kapitel 4.1 und Kapitel 4.3. 188 Die Bochumer Gruppe hatte bei Gründung einer Genossenschaft Finanzierungshilfen in Aussicht gestellt, mit der alle Beschäftigten zur Einzahlung des Genossenschaftsanteils befähigt werden sollten. Folgendes aus Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Konrad Scholz], [Paul Nowak] und [Uwe Niemeier], 29. Mai 1974, im Besitz der Autorin. 189 Folgendes aus Gesellschafterversammlung, [Frühjahr 1974] (s. Anm. 186).

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Gespräch führen« wollen, der jedoch nur »in Gegenwart des Geschäftsführers« dazu bereit war, womit für die Belegschaftsvertreter*innen »der Sinn des Gesprächs hinfällig« war. Auf der Sitzung am 30. Mai 1974 präsentierten die Belegschaftsvertreter*innen dem Geschäftsführer und Beirat erstmals ihre Konzeption.190 Während die Vertreter der HLT und LKK dafür aufgeschlossen gewesen seien, stieß sie bei den Gewerkschaftsfunktionären und allen voran bei Fabian auf heftige Ablehnung. Die eigenmächtige Initiative der Belegschaftsgremien »rügte« er als einen »Vertrauensbruch«, als ein unlauteres sowie die laufenden Finanzierungsverhandlungen gefährdendes Agieren.191 Die Gewerkschaft könne sich – so Fabian – »mit einem solchen Projekt nicht identifizieren […], weil sie besonders im Falle Süßmuth jedes persönliche Obligo, das nur zu Lasten der Arbeitseinkommen gehen könne, für die Beschäftigten der Glashütte in jedem Falle ausschließen will und muss.« Angesichts der mit der Übernahme von Genossenschaftsanteilen für jeden einzelnen Beschäftigten verbundenen Haftung habe auch [Müller] »den Genossenschaftsgedanken äußerst kritisch« gesehen.192 Mit diesen reflexartig vorgebrachten Begründungen, die bereits 1970 gegen die Rechtsform einer Genossenschaft angeführt worden waren und auch vier Jahre später jede weitere Diskussion verhindern sollten, ignorierten Fabian und [Müller], dass sich die Rechtslage hinsichtlich der Haftungsfrage im Zuge der Novelle des Genossenschaftsgesetzes 1973 verbessert hatte. Mit der neuen Möglichkeit, im Statut den »Verzicht auf die Nachschusspflicht« festzuhalten, hatten Genoss*innen im Konkursfall nur noch den Verlust des eingezahlten Genossenschaftsanteils, »aber keine weitergehende Haftung mit ihrem Privatvermögen« zu befürchten.193 Für die zehn Beschäftigten in ihrer Funktion als Gesellschafter*innen erwies sich die Haftungsproblematik beim Modell Süßmuth angesichts der anhaltenden Rechtsunklarheit als sehr viel brisanter als in einer formalrechtlich anerkannten Genossenschaft.194 Insgesamt überwogen daher aus Perspektive der Belegschaftsgremien die Vorteile der Rechtsform der Genossenschaft – auch wenn diese nach bundesdeutscher Rechtslage mit neuen Abhängigkeiten von den genossenschaftlichen Prüfungsverbänden sowie deren Rentabilitätskriterien verbunden waren und die juristisch verpflichtenden Strukturelemente einer zentralen Organisationsstruktur tendenziell demokratische Entscheidungsprozesse begrenzte.195 Den Bedenken von Fabian und [Müller] lag ein einseitiges Verständnis von Haftung zugrunde, wie gerade die Kritik der Belegschaftsvertreter*innen offenlegte. Für letztere stellte sich in beiden Fällen – ob nun über den Genossenschaftsanteil oder über die

190 Diese wollten sie eigentlich zusammen mit Vertretern der Bochumer Gruppe vorstellen, die sich zu diesem Anlass bereits in Immenhausen befanden. Der Beirat ließ ihre Teilnahme an der Sitzung jedoch nicht zu. [Scholz] et al., 29. Mai 1974 (s. Anm. 188); Beirat, 30. Mai 1974 (s. Anm. 95), S. 2f. 191 Folgendes aus Beirat, 30. Mai 1974 (s. Anm. 95), S. 2f. 192 Wiedergegeben von [Konrad Scholz] in [Scholz] et al., 29. Mai 1974 (s. Anm. 188), S. 13. 193 Wolfgang Münst, »Juristische Grundlagen zur Gründung und Prüfung einer Genossenschaft«, in: Burghard Flieger (Hg.), Produktivgenossenschaften oder der Hindernislauf zur Selbstverwaltung, München 1984, S. 279. 194 Siehe Kapitel 4.1. 195 Burghard Flieger, »Kritisches Plädoyer für die genossenschaftliche Rechtsform«, in: Ders. (Hg.), Produktivgenossenschaften oder der Hindernislauf zur Selbstverwaltung, München 1984, S. 262f.; Münst, Genossenschaft (s. Anm. 193), S. 289f., 283, 285.

Die Unternehmensführung

vielfältigen Verzichtleistungen, die die Beschäftigten bereits geleistet und auch weiterhin zu leisten hatten – die Frage der Haftung. Der zentrale Unterschied zwischen den eigenmächtigen Beschlüssen der geschäftsführenden Gremien und den von den Belegschaftsgremien entwickelten Alternativen bestand in den Bedingungen, unter denen die Beschäftigten in die Haftung genommen wurden. Die Belegschaftsvertreter*innen zogen in ihre Gewinn-Verlust-Rechnung nicht nur die betriebswirtschaftlichen Kennziffern mit ein, sondern erweiterten diese um die (sozialen) Kosten der Arbeits- und Wohnbedingungen, denen in der arbeitskräfteintensiven Fertigung einer Mundglashütte hohe ökonomische Bedeutung zukam. Zugleich gründeten ihre Überlegungen auf einem Verständnis einer kollektiven Haftung, die die Belegschaft als Gesamtheit tragen sollte, anstatt diese – wie es in der ungeklärten Rechtslage des Modells Süßmuth der Fall war – implizit auf einzelnen Personen lasten zu lassen.

Bilanz der Selbstverwaltung Die trotz vorhandener Finanzierungsalternativen erneute Kreditaufnahme im Jahr 1974 beschleunigte die Schuldenspirale, in der sich die Glashütte Süßmuth seit Beginn der Selbstverwaltung befand. Die hieraus resultierende Zinslast und Abhängigkeit von Gläubigern, die weder für die juristischen Probleme eines selbstverwalteten Unternehmens noch für die Eigenarten einer Mundglashütte Verständnis aufbrachten, hatten sich weiter erhöht. Mit dem aus der Verschuldung resultierenden Handlungsdruck rechtfertigten die geschäftsführenden Gremien Kritik und Vorschläge der Belegschaftsgremien zu übergehen. Es war dabei zu einer Umverteilung der Schuldenlast gekommen, die faktisch auf die Belegschaft überging. Den Belegschaftsvertreter*innen war es lediglich gelungen, die anhaltenden Verzichtleistungen der Beschäftigten, die in der quantifizierenden Bewertung der Unternehmensentwicklung bis 1973 keine Berücksichtigung fanden, nunmehr in Form von Darlehen in der Bilanz sichtbar zu machen. Die Überschuldung fungierte durchweg als ein »Schreckgespenst«,196 mit dem die »Enteignung« der Belegschaft vorangetrieben wurde. Die »Enteignung« erfolgte durch »barbarische« Rationalisierung, auf Dauer gestellte Verzichtleistungen und Sechstagewoche mit Kurzarbeit oder auch durch die Veräußerung der Firmenwohnhäuser, die seit Anfang der 1950er Jahre von den Beschäftigten aufgebaut und Instand gehalten worden waren.197 Ihre unbezahlte oder nur gering entlohnte Arbeitskraft war in diesen Immobilien gebunden. Die folglich geringen Herstellungskosten wurden zur Berechnungsgrundlage für einen niedrigen Kaufpreis. Nach dem Eigentümerwechsel stiegen die Mietpreise auf Kosten der Beschäftigten, die in diesen Häusern wohnten. Durch den Komplettverkauf wurde ihnen die Möglichkeit zum Eigenerwerb verwehrt. In der Schuldenspirale fanden also grundlegende Veränderungen im Eigentumsverhältnis statt. Im Rückblick wurde mit der Belegschaftsübernahme weniger das Eigentum des Unternehmens als vielmehr dessen Schulden kollektiviert und schließlich zu Lasten

196 Zitat [Klaus Boehm] in Transkript Haustarifverhandlung, 21. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 3, 7. 197 Zum kostengünstigen Bau der Werkswohnhäuser aufgrund des unbezahlten oder nur gering entlohnten Einsatzes der Beschäftigten siehe Kapitel 1.5.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

der einzelnen Beschäftigten privatisiert. Dieser Prozess lässt sich ansatzweise in Zahlen nachvollziehen, die zugleich den Eindruck einer künstlichen Aufrechterhaltung der selbstverwalteten Firma mit öffentlichen Mitteln korrigieren hilft.198 Zwischen 1973 und 1978 erstattete das Belegschaftsunternehmen – neben den Altlasten von Richard Süßmuth – mit einem Betrag von 940.625 DM mindestens die Hälfte der 1970 und 1974 erhaltenen, staatsverbürgten Darlehen in Höhe von insgesamt 1,825 Millionen DM zurück.199 Da anzunehmen ist, dass dieser Betrag von der Firma nicht voll in Anspruch genommen wurde, dürfte die Rückzahlungsquote höher ausgefallen sein. Mit dem im Jahr 1978 vereinbarten Schuldenerlass verzichteten die Gläubiger (Land Hessen, LKK und BfG) auf die Tilgung des zum damaligen Zeitpunkt noch offenen Betrags in Höhe von insgesamt 650.000 DM.200 Zeitgleich hatte die Firma sehr hohe Zinszahlungen zu leisten, die sich allein zwischen 1970 und 1974 auf einen Gesamtbetrag von mehr als 600.000 DM beliefen.201 Für das Darlehen der LKK in Höhe von 525.000 DM hatte die Firma im Zeitraum von 1971 bis 1978 – nach einer hypothetischen Hochrechnung – vermutlich ungefähr 200.000 DM Zinsen gezahlt. Werden neben diesen Zahlen weitere Faktoren in den Blick genommen, die entweder aufgrund der Überlieferungslage oder der Materie nicht quantifizierbar sind, so ergibt sich folgende um qualitative Kriterien erweiterte »Gewinn- und Verlustrechnung«.

Tabelle 7: »Gewinn- und Verlustrechnung« der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Belegschaft

»Gewinn«

»Verlust«

Arbeitsplatzerhalt; Löhne / Gehälter

Unbezahlte Mehrarbeit; Arbeitszeitflexibilisierung; Verzicht auf tarifliche Leistungen, v.a. auf volle Auszahlung des Weihnachtsgelds vor der Darlehensregelung (1970–1972); Mieterhöhung nach Verkauf der Werkswohnungen; Auflösung Pensionsrückstellung; 1978: Verzicht auf Auszahlung der Belegschaftsdarlehen (1973–1978) in Höhe von ca. 1 Mio. DM

198 Dieser Eindruck traf höchstens für die Entwicklung seit Beginn der 1980er Jahre zu, als die nicht mehr selbstverwaltete GHS mehrfach staatlich verbürgte Darlehen erhielt. Siehe Kapitel 9.1. 199 Vom ersten Gesamtdarlehen (1970) in Höhe von 1.275.000 DM zahlte die Firma einen Betrag von 745.320 DM zurück und vom zweiten Darlehen (1974) in Höhe von insgesamt 550.000 DM einen Betrag von 195.305 DM. HMdF an LKK, 22. Dezember 1978, in: Archiv HMdF, S. 2. 200 Siehe Kapitel 9.1. 201 Folgendes siehe Betriebswirtschaftliche Unterlagen (GHS), 1970–1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie und AGI.

Die Unternehmensführung Land Hessen bzw. Kommune

Gewerbesteuern (zwischen 1970 und 1974 mind. 67.500 DM); Einkommenssteuern; Ersparnis von Sozialhilfe aufgrund Arbeitsplatzerhalt; Politische »Ruhe«

1978: Verzicht auf Kreditrestbetrag in Höhe von 362.000 DM; Teilübernahme von Beratungskosten (RKW, REFA); Kurzarbeitergeld (ab 1974)

IG Chemie

Mitgliedergewinn; Mitgliedsbeiträge; (Temporäres) politisches Prestige

Kosten der Verhandlungsführung; Beratungs- und Schulungskosten

Bank für Gemeinwirtschaft

Zinsen

1978: Verzicht auf Kreditrestbetrag in Höhe von 173.000 DM

LKK / Helaba

Zinsen; 1978: Verzicht auf Kreditrestbetrag in Rückerstattung früherer Darlehen Höhe von 115.000 DM

Quelle: Tabelle der Autorin

Die Angaben in Tabelle 7 sind – als Ausdruck der in den Ereignisverlauf und in die Überlieferungslage eingeschriebenen Machtverhältnisse – vage.202 Dennoch vergegenwärtigen sie, was auf den ersten Blick nicht offensichtlich ist. Zum einen weist diese Gegenüberstellung die landeseigene Bank als eindeutige »Gewinnerin« der Selbstverwaltung im Fall Süßmuth aus und damit eine Akteurin, die gegenüber der demokratischen Unternehmensform die größten Vorbehalte besaß und aus diesem Grund – mit Blick auf die restriktive Kreditpolitik – die Unternehmensentwicklung im negativen Sinne am nachhaltigsten prägte. Paradoxerweise zog die LKK auf lange Sicht den größten Vorteil aus der Belegschaftsübernahme, die 1970 den Konkurs des Unternehmens verhindert hatte, mit dem der Bank andernfalls die alten Kreditmittel verlustig gegangen wären. Durch die Kreditvergabe an die selbstverwaltete Glashütte konnte die LKK zudem Gewinn erwirtschaften. Ihr im Jahr 1978 erklärter Verzicht auf Rückzahlung des noch ausstehenden Darlehensbetrags in Höhe von 115.000 DM stand in keinem Verhältnis zu den bis dahin erhaltenen Zinszahlungen. Zum anderen trug der Staat keineswegs den Großteil der Kosten des wirtschaftsdemokratischen Experiments. Vielmehr subventionierte das Land Hessen faktisch den Transfer eines Teils des kollektiven Eigentums der Belegschaft in das Eigentum der landeseigenen Bank. Letztlich überwogen auch für die Landesregierung, deren Agieren wie das der Landesbank vorrangig von Skepsis geprägt war, bei der Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth eher die Vorteile: Durch den Arbeitsplatzerhalt in einer strukturschwachen Region wurden mit der Arbeitslosigkeit hunderter Menschen andernfalls verbundene Kosten und politische Unruhe vermieden.203

202 Aufgrund fehlender Überlieferung nicht erfasst sind bspw. auf der »Gewinn«-Seite der Gewerkschaft die Mieteinnahmen des gewerkschaftseigenen Immobilienkonzerns NH. 203 Die Bedeutung von Workers Takeovers in ihrer Funktion als Puffer gegenüber plötzlichen Massenentlassungen, die den lokalen Arbeitsmarkt schrittweise auf die Betriebsschließung vorbereiten, hebt Rob Paton (mit Verweis auf Keith Bradley) hervor. Rob Paton, Reluctant Entrepreneurs. The Extent, Achievements and Significance of Worker Takeovers in Europe, Milton Keynes 1989, S. 10f.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Schließlich vermochten auch die IG-Chemie-Funktionäre, ihrem obersten Anliegen einer politischen Schadensbegrenzung nachzukommen und ein öffentlichkeitswirksames Scheitern des Modells Süßmuth bis zur Verabschiedung des Mitbestimmungsgesetzes 1976 zu verhindern. Als Rechtsform für andere Belegschaftsübernahmen, als die dieses Modell ja konzipiert wurde, wurde sie von der Gewerkschaft allerdings nicht genutzt.204 Mitunter wurde der Fall Süßmuth in der theoretischen Diskussion über eine Demokratisierung der Wirtschaft und in der gewerkschaftlichen bzw. politischen Bildungsarbeit als ein (von der betrieblichen Realität losgelöst betrachtetes) Beispiel für Mitbestimmung und Humanisierung der Arbeit herangezogen.205 Als größte »Verliererin« weist die obige Tabelle die Belegschaft aus – und zwar in jeglicher Hinsicht. Weder erfüllten sich auf lange Sicht ihre mit der Betriebsübernahme verbundenen Hoffnungen auf eine gute Arbeit, gerechte Entlohnung und demokratische Teilhabe, noch konnten ihre vielfältigen Bemühungen und Entbehrungen verhindern, dass sie seit Anfang 1974 erneut um ihren Arbeitsplatz und damit um ihre finanzielle Existenzgrundlage zu fürchten hatten. In Form der Verstetigung des Verzichts auf Tarifleistungen, der Arbeitsintensivierungen und -flexibilisierungen, der Mietpreissteigerungen oder der seit Ende 1975 vorgenommenen Entlassungen mussten sie die Konsequenzen von Fehlentscheidungen und -entwicklungen ertragen, auf die ihre gewählten Vertreter*innen keinen Einfluss mehr nehmen konnten. Die Unternehmensentwicklung bis zum Konkurs 1996 brachte für die Belegschaft weitere materielle und immaterielle Verluste mit sich.206

7.4 Vom Management in zum Management der Selbstverwaltung. Chancen und Grenzen der demokratischen Praxis Als größter Nachteil einer demokratischen Unternehmensform wird häufig die schwache Position der Geschäftsführung angeführt. Der aufwendigere Meinungsbildungsprozesses erschwere »schnelle Entscheidungen in unübersichtlichen Märkten«.207 Auch stelle die Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin ohne Rückgriff auf Mittel des Zwangs

204 Allein im Fall Hirschberg ist überliefert, wie Franz Fabian der hiesigen Belegschaftsvertretung für die anvisierte Betriebsübernahme die Rechtsform und Kooperation mit der GHS nahelegte – allerdings nicht als Repräsentant der IG Chemie, die diese Belegschaftsinitiative nicht unterstützte. Protokoll Gespräch über Belegschaftsübernahme Hirschberg in der IG Chemie Vwst. Gießen, 26. Januar 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 205 Siehe bspw. Werner Vitt an Franz Fabian, 29. November 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Fritz Vilmar (Hg.), Menschenwürde im Betrieb. Modelle der Humanisierung und Demokratisierung der industriellen Arbeitswelt, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 236–255; Werner Nowak (Hg.), Humanisierung der Arbeit (Unterrichtsfernsehkurs im Medienverbund), [undatiert], in: FHI, Schöf-1205, S. 36–40. Auch in der marxistisch ausgerichteten Bildungsarbeit der Gewerkschaftslinken sei der Fall Süßmuth wichtiges Anschauungsmaterial gewesen. Protokoll Telefonat der Autorin mit Egon Kuhn, 3. März 2014, im Besitz der Autorin. 206 Siehe Kapitel 9. 207 Alex Demirović, Demokratie in der Wirtschaft. Positionen – Probleme – Perspektiven, Münster 2007, S. 28.

Die Unternehmensführung

ein grundsätzliches Problem dar: »Sollen sich doch die Herren des Geschäfts, die Genossen, einem Leiter unterordnen, der zugleich ihr Diener ist.«208 Die bisherige Analyse hat dagegen verdeutlicht: Die Unternehmensleitung der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth hatte in erster Linie Probleme zu lösen, die die Firma Ende der 1960er Jahre an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gebracht hatten und mit denen auch andere Unternehmen der Branche zu kämpfen hatten. Die Anpassung an sich ändernde Wettbewerbsbedingungen erforderte die permanente Synchronisation von Informationen aus Produktion, Vertrieb und Verwaltung mit jenen aus Distribution und Konsumtion. Die größte Schwierigkeit in der belegschaftseigenen Glashütte bestand folglich darin, eine Gesamtkoordination der Entscheidungsfindung in den einzelnen Unternehmensbereichen, in denen zeitgleich grundlegende Reformen durchgeführt wurden, sicherzustellen. Die dynamischen und ungewissen Marktentwicklungen erhöhten die Notwendigkeit, Planungssicherheit und Flexibilität in der Unternehmensleitung herzustellen und aufrechtzuerhalten. Mit dem dezentralen und dem zentralen Organisationsprinzip standen sich zwei konträre Ansätze einer Unternehmensreform gegenüber, die in der sich zuspitzenden Problem- und Konfliktlage an Kontur gewannen.

Dezentrale versus zentrale Unternehmensorganisation Die in den Selbstverwaltungsgremien aktiven Beschäftigten bestanden darauf, dass die Entscheidungsfindung im Unternehmen für die gesamte Belegschaft nachvollziehbar und demokratisch kontrollierbar war. Durch die wiederholte Erfahrung mit Fehlentscheidungen infolge eigenmächtig agierender Führungskräfte kamen die Belegschaftsvertreter*innen »zu der Einsicht«, dass es, »wenn es auch Anstrengungen kostet, doch besser ist, man bleibt innerhalb des Betriebs und versucht mit vereinten Kräften diese Sache doch noch aufrechtzuerhalten und voranzutreiben.«209 Habe man »anfangs« noch »starke Ambitionen« gehabt, »einen starken Mann [als Geschäftsführer] zu bekommen« – so ein namentlich nicht bekannter Betriebsrat im Frühjahr 1973 –, seien diese »Gedanken […] inzwischen […] längst verflogen.« Nach der Abberufung des »Triumvirats« im Frühjahr 1971 schwor die Redaktion der neuen Betriebszeitschrift die Belegschaft darauf ein, dass »[n]ur durch gemeinsame Arbeit auf breiter Ebene […] die Probleme gelöst werden [können], die vor uns stehen.«210 Das Ausschussprinzip, das sich während der Übernahmephase im Bereich der Produktion bewährt hatte, galt es auch auf Ebene der Unternehmensleitung anzuwenden.211 In Übertragung ihrer Erfahrungen im Betrieb auf die Verwaltung des gesamten Unternehmens befürworteten die Belegschaftsvertreter*innen eine dezentrale Organisationsstruktur, die alle Beschäftigten einbezog. Das parallel zum Modell Süßmuth entwickelte Ausschusskonzept sah vor, (operative) Entscheidungskompetenzen aus der Unter-

208 Franz Oppenheimer, Die Siedlungsgenossenschaft. Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage, Leipzig 1896, S. 45. 209 Folgende Zitate aus Transkript Erstes Treffen von Erasmus Schöfer mit der Belegschaft der GHS, 19. März 1973, im Besitz der Autorin, S. 10. 210 Kleine Zeitung der GHS [später Hüttenecho], 29. März 1971, in: AGI, S. 2. 211 Siehe Kapitel 4.

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nehmensführung herauszulösen und in den jeweiligen Abteilungen zu verankern. Informelle Praktiken (wie das Auspreisen oder die Produktionsplanung) galt es in einer dezentralen Struktur zu formalisieren und durch den permanenten Austausch zwischen den verschiedenen Gremien einer demokratischen Kontrolle zu unterwerfen. Als dezentrale Strukturelemente hatten diese informellen Praktiken bislang eine Flexibilität durch die Integration von Erfahrungswissen ermöglicht. Das in den Körpern und Praktiken gebundene tacit knowledge sollte fortan für die Suche nach Lösungen für die eng verflochtenen Probleme in den verschiedenen Bereichen des Unternehmens stärker erschlossen und miteinander kombiniert werden. Eine dezentrale Organisationsstruktur sollte zu einer Entlastung der Geschäftsführung und der Gesellschafterversammlung beitragen und beiden Gremien ermöglichen, sich »von Kleinigkeiten [zu] befreien«, um den Überblick zu behalten.212 Auf der Basis dieser veränderten Arbeitsteilung erwarteten die Belegschaftsvertreter*innen von den Entscheidungsgremien an der Spitze eine die Grundlagen der Qualitätsproduktion und verbindliche Absatzbeziehungen gewährleistende (strategische) Unternehmensplanung.213 Zur Bewertung der Unternehmensentwicklung zogen sie neben betriebswirtschaftlichen Kennziffern eine um soziale Faktoren in Produktion, Vertrieb und Konsum erweiterte Gewinn-Verlust-Rechnung heran. Zum Maßstab hierfür erhoben sie auch das in der Belegschaft geteilte Gerechtigkeits- wie Effizienzempfinden. Die Effizienz von Entscheidungen im Unternehmen drückte sich demnach nicht allein in der Kosten-Umsatz-Entwicklung aus, sondern bemaß sich auch an der Qualität der Produkte und Zufriedenheit der Kund*innen, an dem Qualifikationsniveau, der Betriebsbindung und Arbeitszufriedenheit der Beschäftigten sowie an der Aufrechterhaltung und Stabilisierung eines Konsenses im Unternehmen. Diese schwerlich quantifizierbaren, für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit einer Mundglashütte gleichwohl wesentlichen Kriterien sollten in einer langfristigen Unternehmensplanung berücksichtigt werden. Die geschäftsführenden Gremien wollten dagegen den organisatorischen Missständen in der Glashütte Süßmuth mit einer »straffen, planvollen und durchgreifenden Lenkung« beikommen.214 Der Eigentümer Richard Süßmuth, der sich das für die Unternehmensführung notwendige Wissen im Zuge seiner Erfahrungen autodidaktisch angeeignet hatte, wurde von einer »qualifizierten« Geschäftsführung abgelöst, die sich aus kaufmännisch und ingenieurwissenschaftlich geschultem Personal zusammensetzte. In der Überzeugung, die ökonomische Existenz hänge vor allem von Qualifikation und Fähigkeiten der Führungskräfte ab, wurde ihnen seitens der betriebsexternen Beiratsmitglieder eine dezidiert höhere Wertschätzung entgegengebracht.215 Die bislang auf vertrauensvollen Beziehungen zwischen Unternehmensgründer und ihm persönlich 212

[Paul Nowak] zitiert in Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 25. November 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 3; Ebenso Gesellschafterversammlung, 11. November 1971 (s. Anm. 81), S. 1. 213 [Nowak], 23. Februar 1974 (s. Anm. 52), S. 6f.; [Neumer], 13. August 1973 (s. Anm. 42), S. 4f. 214 Hierzu hatte [Hans Müller] – die dahingehenden Forderungen des HWMi nach organisatorischen wie personellen Veränderungen aufgreifend – seinen Schwiegervater Richard Süßmuth bereits im September 1966 aufgefordert. [Müller], 20. September 1966 (s. Anm. 1). 215 Daher wurden auch ihre Forderungen nach Gehaltserhöhung aufgegriffen. Siehe Maßnahmenkatalog, [Frühjahr 1971] (s. Anm. 10), S. 3; Protokoll Beratung der betriebsexternen Beiratsmitglieder (GHS), 20. Dezember 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 1; Kapitel 5.2.

Die Unternehmensführung

nahestehenden Angestellten beruhende Unternehmensorganisation sollte strikt hierarchisch strukturiert werden.216 Weitere Maßnahmen zielten auf eine klare Arbeitsteilung zwischen Produktion, Vertrieb und Verwaltung sowie präzise definierte Zuständigkeitsbereiche. Schriftliche Arbeitsanweisungen sollten »reibungslose« Abläufe und eindeutig abgegrenzte Verantwortlichkeiten gewährleisten.217 Anstelle informeller Absprachen und Routinen sollten regelmäßige und zu dokumentierende Besprechungen unter den Geschäftsführern bzw. zwischen dem seit Ende 1971 alleinigen Geschäftsführer [Hans Müller] und den ihm untergeordneten Bereichsleitern stattfinden.218 Die Turbulenzen im ersten Jahr der Selbstverwaltung führten die betriebsexternen Beiratsmitglieder und die von ihnen herangezogenen Berater nicht auf Defizite und Konsequenzen der Fehlentscheidungen des früheren Eigentümers oder des »Triumvirats«, sondern allein auf den nachfolgenden geschäftsführenden Ausschuss und die in dieser Zeit erweiterten Beteiligungsmöglichkeiten der Beschäftigten an der unternehmerischen Entscheidungsfindung zurück. Konträr zu den Belegschaftsvertreter*innen schlussfolgerten sie aus dieser Erfahrung, dass »anstelle der kollektiven Geschäftsführung ein alleiniger Geschäftsführer« treten müsse und die »vertikale Verantwortungsführung einer horizontalen Verantwortungsteilung vor[zu]ziehen« sei.219 Hatten sich Vertreter der Hessischen Landesregierung und der IG Chemie von Beginn an einen »Vollblut-Geschäftsführer« für das Belegschaftsunternehmen gewünscht,220 so gewann für sie die Vorstellung, ein »starker Mann« an der Spitze könne die anvisierte Aufwärtsentwicklung im Unternehmen einleiten,221 in dem Maße an Attraktivität, wie sie des ganzen Ausmaßes der komplexen Problemlage gewahr wurden. Die neuen Methoden der Quantifizierung sämtlicher Abläufe im Unternehmen sollten dem alleinigen Geschäftsführer einen Überblick über das Unternehmen verschaffen. Die unternehmerische Entscheidungsfindung sollte hierdurch und unter Zuhilfenahme externer Expertise auf eine über den erfahrungsbezogenen Deutungshorizont der Beschäftigten wie auch des Leitungspersonals hinausweisende und von subjektiven Interessen vermeintlich unabhängige Ebene gehoben werden. Eine dahingehende Professionalisierung der Unternehmensleitung sollte die konkreten Personen in Führungspositionen entbehrlich machen und zugleich deren »objektive« Kontrolle ermöglichen. Aus diesem Grund erschien es dem Beirat vertretbar, dass er selbst anstelle der Belegschaftsgremien die Geschäftsführung kontrollierte. Mit der Erstellung von monatlichen »Erfolgsrechnungen« und Jahresplänen musste sich [Hans Müller] auf Umsatz-, Kosten- und Produktivitätsziele verpflichten und deren Nichterfüllung am Ende des Monats bzw. Jahres vor dem Beirat rechtfertigen. Die betriebswirt216

Folgendes aus Geschäftsordnung und Geschäftsverteilungsplan der Geschäftsführung der GHS GmbH, undatiert [Herbst 1970], in: FHI, Schöf-1221; Organisation, [September 1970] (s. Anm. 25). 217 [Ewald Lenz] zitiert in Protokoll Technischer Ausschuss (GHS), 23. Februar 1971, in: FHI, Schöf-1228. 218 Siehe Kapitel 4.2. 219 Franz Fabian in Protokoll Beirat (GHS), 4. Juni 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 1; ders. in Gesellschafterversammlung an Beirat (GHS), 28. Juni 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 1; RKW Hessen, 18. Februar 1972 (s. Anm. 30), S. 8; Ebenso Leveringhaus, 10. Mai 1971 (s. Anm. 65). 220 Rudi Arndt an Karl Hauenschild, 24. März 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Fabian, 14. Mai 1970 (s. Anm. 138), S. 3; Franz Fabian an Wilhelm Leveringhaus, 30. August 1971, in: FHI, Schöf-1228. 221 Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 8), S. 1f.

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schaftlichen Kennziffern wurden zu alleinigen Maßstäben für die Bewertung der Unternehmensentwicklung. In allen Unternehmensbereichen dienten sie dem Führungspersonal in zunehmendem Maße als Entscheidungshilfen (wie bei der Unterscheidung nach rentablen und unrentablen Abteilungen oder Arbeitsplätzen, für eine marktgerechte Sortiments- und Preisgestaltung oder eine effiziente Werkstellenbesetzung). Dem Reformansatz der geschäftsführenden Gremien lag die Intention zugrunde, den Betrieb bzw. die Produktion unter eine zentrale Kontrolle zu bringen, und somit auch die Annahme, den technischen dem kaufmännischen Bereich unterordnen zu können. Die in einer Mundglashütte traditionell ausgeprägten informellen Praktiken wollten sie – ungeachtet ihrer bisherigen Flexibilität gewährenden und Kontrollkosten senkenden Funktionen – beseitigen und in einer zentralen Betriebsorganisation formalisieren, dabei das personengebundene durch wissenschaftliches Wissen ersetzen. Im Rahmen der von ihnen vorangetriebenen arbeitsorganisatorischen Rationalisierung begannen sie, vormals bei den (Hütten-)Meistern liegende Entscheidungskompetenzen in die Unternehmensführung zu verlagern.222 In der seit Ende 1973 wieder krisenhaften Entwicklung begannen sie – so zeigte es die Zweiofenumstellung – sehr viel stärker direkt und an den Meistern vorbei in die Betriebsorganisation einzugreifen. Dass sich der Effekt einer stärkeren Zentralisierung als »ungewollte Nebenfolge« von Dezentralisierungsmaßnahmen gerade in einer »organisatorischen Stresssituation« bzw. bei »zeitkritische[n] und kontroverse[n] Entscheidungen« bemerkbar macht,223 ließ sich auch in der selbstverwalteten Glashütte beobachten. Gemeinsam war beiden Reformansätzen eine stärker formalisierte Arbeitsteilung und Kontrolle in der Unternehmensführung, grundlegend unterschiedlich waren aber die Zielstellungen. Der dezentrale Reformansatz zielte darauf ab, die Diskussions- und Entscheidungsprozesse im Unternehmen stärker miteinander zu verzahnen und sie einer Kontrolle von unten zu unterwerfen. Im zentralen Reformansatz sollten hingegen eine klare Definition und Abgrenzung der Zuständigkeiten sowie die quantifizierende Erfassung sämtlicher Abläufe der Geschäftsführung eine Kontrolle von oben ermöglichen. Letzteres setzte voraus, dass die Arbeitsprozesse in Produktion, Vertrieb und Verwaltung relativ autonom voneinander und mit Regelmäßigkeit abliefen. Dies war aber in einer Mundglashütte – angesichts der engen, funktionalen Verflechtung der Unternehmensbereiche und deren Abhängigkeit von einem periodisch verlaufenden und mit unvorhersehbaren Schwankungen verbundenen Fertigungsprozess – nicht der Fall. Die Betriebsorganisation war hier traditionell auf den Rhythmus der der Stoffformung vorgelagerten Glasschmelze in Hafenöfen sowie auf die unternehmensspezifische Artikelvielfalt ausgerichtet und weniger einer vom Betrieb abstrahierenden Vorstellung einer effizienten Organisation verpflichtet.224 Während im zentralen Reformansatz gerade eine Beseitigung dieses »Hüttenempirismus« angestrebt wurde, implizierte der dezentrale Ansatz dessen formalisierte Ausweitung auf das gesamte Unternehmen, womit die or-

222 Siehe Kapitel 5.3 und Kapitel 5.4. 223 Stefan Kühl, »Zentralisierung durch Dezentralisierung. Paradoxe Effekte bei Führungsgruppen«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 3 (2001), S. 488, 484–488. 224 Siehe Kapitel 1.2 und Kapitel 5.5.

Die Unternehmensführung

ganisatorisch-hierarchische Trennung zwischen Betrieb und Unternehmen tendenziell aufgehoben wurde.

Ungenutzte Potenziale versus das Scheitern einer zentralen Unternehmensorganisation Die Demokratisierung der Unternehmensführung in einer dezentralen Unternehmensorganisation zeigte eine Möglichkeit auf, Richard Süßmuths ganzheitliche Unternehmenskonzeption und die bisherige Wettbewerbsstrategie der Qualitätsführerschaft an sich ändernde Wirtschaftsbedingungen anpassen und hierdurch den im Zuge der Expansion und der grundlegenden Sanierungsmaßnahmen gestiegenen Koordinationsbedarf bewältigen zu können. Entscheidend hierfür war die Grundannahme, die generellen Probleme im Mundblasverfahren und die aus zunehmend ungewissen Marktentwicklungen resultierenden Unsicherheiten als anhaltende Herausforderungen der Unternehmensführung zu verstehen, die weder in Form einmaliger Anstrengungen noch allein von einzelnen Personen an zentraler Stelle beseitigt werden konnten. Vielmehr galt es der Komplexität in der Unternehmensorganisation und -planung Rechnung zu tragen, wofür der dezentrale Ansatz einen strukturell abgesicherten, auf Dauer angelegten, prozess- und zugleich ressourcenorientierten Modus anbot. Im Verfolgen der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ziele der Selbstverwaltung als wechselseitige Bedingungen lag für die Unternehmensführung der Glashütte Süßmuth das (letztlich ungenutzte) Potenzial, Planungssicherheit zu gewährleisten und Flexibilität zu steigern: Die Formalisierung einer dezentralen Unternehmensorganisation hätte die Kommunikationsprozesse innerhalb und zwischen den Abteilungen und Unternehmensbereichen verstetigt. Die hierüber zusammengetragenen Informationen hätten Grundlage für eine auf langfristigen Planungen basierende Unternehmenskontrolle und -steuerung sein können. Die Arbeitsabläufe hätten sowohl horizontal als auch vertikal stärker aufeinander bezogen werden können. Die Verlagerung von Entscheidungs- und Kontrollkompetenzen in den Betrieb hätte günstige Voraussetzungen geschaffen, um zügig und in Koordination mit allen betreffenden Abteilungen auf unvorhersehbare Veränderungen bzw. Unregelmäßigkeiten reagieren zu können. Durch Nutzung des umfangreichen Erfahrungswissens der Beschäftigten und der aufgezeigten alternativen Finanzierungsstrategien wäre die Abhängigkeit der Firma von externen Akteur*innen (allen voran von den Gläubigern, aber auch von externen Beratern und den Ergebnissen ihrer aufwendigen wie kostenintensiven Untersuchungen) sehr viel geringer gewesen. Nicht zuletzt hätte ein auf den geteilten Gerechtigkeits- und Effizienzvorstellungen der Beschäftigten basierender Konsens das in der arbeitskräfteintensiven Qualitätsproduktion einer Mundglashütte traditionell besonders ausgeprägte »Princi-

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pal-Agent-Problem« und die hieraus für die Unternehmensführung resultierenden Kontrollkosten erheblich reduziert.225 Implizit kam im dezentralen Ansatz die Erkenntnis von der Funktionalität flacher, auf Vertrauen basierender Hierarchien zur Geltung, die »immer dann effizient [seien], wenn hierarchische Anreiz-, Kontroll- und Bewertungsmechanismen nicht mehr greifen« – wie dies vor allem bei »komplexen Produktionsprozessen« und »hochqualifizierten Tätigkeitsbereichen« der Fall sei, die nicht zentral gesteuert oder kontrolliert werden können und wo der »Unternehmenserfolg von der Eigeninitiative der Mitarbeiter und einer optimalen Nutzung des vorhandenen Humankapitals abhängt«.226 Eben diese Erkenntnis war in Mundglashütten kein Novum, sondern der Grund für die hier seit jeher ausgeprägten partnerschaftlichen Arbeitsbeziehungen. Verschlechterungen der Lohn-, Arbeits- oder Wohnbedingungen der Beschäftigten und hieraus resultierende Konflikte galt es vor allem aus ökonomischen Gründen möglichst zu vermeiden. Zugleich legten die neuen Beteiligungspraktiken einen Modus der offensiven Auseinandersetzung mit den betrieblichen Machtverhältnissen und mit tradierten Konfliktlinien nahe, die eben nicht nur zwischen Beschäftigten und Management, sondern quer durch die Belegschaft verliefen. Im selbstverwalteten Betrieb bot sich die Chance, die bislang beispielsweise für die Glasmacher bei der traditionellen Entlohnungspraxis im Betrieb vorhandenen informellen Verhandlungsspielräume für eigeninteressierte Behauptungstaktiken durch eine in dezentralen Strukturen formalisierte demokratische und solidarische Kontrolle nach von allen Beschäftigten geteilten Gerechtigkeitsvorstellungen einzuschränken. Allein zwischen März und Dezember 1971 konnte das Ausschussprinzip auf Ebene der Unternehmensleitung zur Geltung kommen, und dies auch nur ansatzweise und unter – angesichts des enormen Drucks und der massiven Einflussnahme durch den Beirat – sehr widrigen Bedingungen. Mit dem dezentralen Organisationsprinzip wären ebenfalls Probleme verbunden gewesen, insbesondere die Aufrechterhaltung eines Konsenses zwischen den verschiedenen Gremien wäre herausfordernd gewesen. Und in der Tat bedeutete die Beteiligung einer Vielzahl von Personen an der unternehmerischen Entscheidungsfindung zeitintensivere Beschlussfassungen. Der entscheidende Vorteil bestand jedoch darin, dass Entscheidungen nicht leichtfertig getroffen wurden und an Nachhaltigkeit gewannen, wofür in der bisherigen Analyse etliche empirische Beispiele angeführt wurden. Der zentrale Reformansatz, mit dem sich die geschäftsführenden Gremien im Belegschaftsunternehmen durchsetzten, war dagegen gescheitert. Unter dem Druck, die vom Beirat vorgegebenen Planzahlen einzuhalten, traf die Geschäftsführung eine Reihe

225 In der NIÖ wird mit »Principal-Agent-Problem« das Problem von Unternehmensleitungen bezeichnet, wie »das auf dem Arbeitsmarkt gekaufte Arbeitsvermögen in tatsächlich geleistete Arbeit umzusetzen« ist. Ruth Rosenberger, »Von der sozialpolitischen zur personalpolitischen Transformationsstrategie. Zur Verwissenschaftlichung betrieblicher Personalpolitik in westdeutschen Unternehmen 1945 bis 1980«, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 1 (2005), S. 63. 226 Heinrich Beyer und Hans G. Nutzinger, »Unternehmenskultur. Vom Schlagwort zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung«, in: Ders. (Hg.), Ökonomie der Werte oder Werte in der Ökonomie? Unternehmenskultur in genossenschaftlichen, alternativen und traditionellen Betrieben, Marburg 1996, S. 26f.

Die Unternehmensführung

überstürzter, hierdurch fehlerhafter und häufig nicht revidierbarer Entscheidungen.227 Problematisch war nicht nur die Orientierung an vorläufig erhobenen Zahlen, die sich im Nachhinein oftmals als falsch herausstellten, sondern auch die Orientierung an branchenunspezifischen Idealzahlen einer rentablen Kosten- und Umsatzentwicklung, die in der Mundglashütte kaum realisierbar waren. Allein auf eine kurzfristige Kostensenkung und Umsatzausweitung ausgerichtete Entscheidungen wirkten sich auf lange Sicht negativ auf die Wettbewerbsvorteile der Firma aus und behinderten notwendige Neuerungen. Wichtige Investitionen wurden nicht realisiert. Mehrfach wurde vom ursprünglichen Sanierungs- und Finanzierungskonzept abgewichen. Infolge der chronischen Unterkapitalisierung und des Versäumnisses, neue Absatzverbindlichkeiten aufzubauen, bedrohte jede Auftragsschwankung regelmäßig die Liquidität des Unternehmens. Die Abhängigkeit von den Gläubigern, die »heute […] das Geld« nur unter der Auflage vergaben, dass es sich »morgen […] positiv in der Bilanz auswirk[e]«, schränkte den Handlungsspielraum der Geschäftsführung stark ein und führte schließlich dazu, dass die Firma »praktisch nur noch Tagespolitik« machte.228 Eine langfristige Planung war unter diesen Bedingungen nicht möglich. Die geschäftsführenden Gremien unterschätzten auf fatale Weise die Herausforderungen vor allem im Bereich der Produktion. Dies hing vor allem damit zusammen, dass hierin mehrheitlich Personen tätig waren, die – [Hans Müller] ausgenommen – weder Betriebs- noch Branchenexpertise besaßen.229 Während sie den in der Mundglasfertigung hohen Stellenwert des Anwendungs- und Erfahrungswissens verkannten und abwerteten, überschätzten sie die Relevanz des (wissenschaftlichen) Wissens der kaufmännischen Angestellten und externer Experten, das für die Mundglasbranche kaum zur Verfügung stand.230 Die hinzugezogenen Berater konnten keine Abhilfe schaffen, sie sprachen gegenteilige und teils unangemessene Empfehlungen aus. Die neuen Praktiken der Quantifizierung und Formalisierung einer zentralen Unternehmenskontrolle trugen nichts dazu bei, die Probleme in ihrer Komplexität zu erfassen und aufeinander abgestimmte, langfristig erfolgreiche Lösungen zu finden, im Gegenteil: Die von den geschäftsführenden Gremien in Angriff genommenen Reformen erzeugten immensen bürokratischen Aufwand und verkomplizierten die ursprüngliche Problemlage. Anstatt Entscheidungen in den verschiedenen Unternehmensbereichen stärker aufeinander zu

227 Dieter Schneider sieht hierin eine generelle Folge des Controllings, das als schillernde Zauberformel mehr versprochen habe, als halten zu können. Fehlentscheidungen wurden befördert, indem »längst bekannte Einsichten der Betriebswirtschaftslehre« vernachlässigt wurden. Schneider, Controlling (s. Anm. 48), S. 772; Schneider, Managementfehler (s. Anm. 112). 228 Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Herman Freil], 7. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 10f. Ebenso Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Bernd Dietrich] und [Konrad Scholz], 14. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 3f. 229 [Stefan Kurtz] kam aus der Tourismusbranche, [Wilhelm Karze] aus der Lebensmittel- und auch [Harald Meier] wie sämtliche betriebsexterne Beiratsmitglieder nicht aus der Glasbranche. Der Ingenieur [Ewald Lenz] hatte zuvor zwar in einem Glasunternehmen gearbeitet, das jedoch kein hochwertiges Wirtschaftsglas, sondern maschinell Verpackungsglas produzierte. Siehe Kapitel 4.2. 230 Siehe Kapitel 5.5.

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beziehen, wurden diese zunehmend getrennt voneinander getroffen.231 Als Folge blieb der »Abteilungsegoismus« bestehen, der eben nicht allein auf Koordinationsprobleme zwischen oben und unten, sondern auch auf mangelnde Abstimmung innerhalb der einzelnen Geschäftsbereiche und zwischen den Abteilungen zurückging.232 Erheblich gesunken war die Flexibilität der Firma, auf unvorhersehbare Entwicklungen – wie akute technische oder Qualitätsprobleme, Liquiditätsengpässe, Nachfrage- oder Personalschwankungen – mit zwischen allen Bereichen koordinierten Maßnahmen reagieren zu können. Von zentraler Stelle aus fielen die Reaktionen hierauf verzögert und schwerfällig aus. Im konfliktträchtigen Verlauf der Selbstverwaltung war in der Glashütte Süßmuth zuletzt wieder eine ähnliche Situation wie während der Unternehmenskrise Ende der 1960er Jahre eingetreten. Angesichts gegenläufiger Problemdeutungen und Vorstellungen über die notwendigen Reformen verfestigte sich eine Pattsituation: Die geschäftsführenden Gremien blockierten die Lösungsvorschläge der Belegschaftsgremien, konnten selbst aber keine Erfolg versprechenden Optionen zur Sicherung der Unternehmensexistenz aufzeigen. Während unter den Beschäftigten der Eindruck entstand, die Führung lasse die Dinge schleifen und sei entscheidungsunfähig,233 war die Selbstverwaltung für die geschäftsführenden Gremien zu einem ordnungspolitischen Problem geworden, dem sie (implizit) mit neuen Machttechniken zu begegnen begannen.

Unternehmensorganisation als Ausdruck betrieblicher Machtverhältnisse Dass die geschäftsführenden Gremien trotz der vielfältigen Schwierigkeiten am zentralen Reformansatz festhielten, verweist zunächst auf die Wirkmächtigkeit von Leitbildern des richtigen Wirtschaftens. Die Wahrnehmung, das seit den 1950er Jahren »rapide Wachstum vieler Unternehmen« habe zu einem »organisatorischen Wildwuchs« und dieser wiederum habe mit der krisenhaften Wirtschaftsentwicklung seit Ende der 1960er Jahre »zur Überlastung der oberen Führungsebenen« geführt, war damals sehr verbreitet.234 Hierauf basierte der Erfolg der seitdem rasch wechselnden »Moden und Mythen des Organisierens«, die relativ schnelle Lösungen für komplexe Probleme versprachen.235 Mit der Verbindung von partizipativen Strukturelementen in einer weiterhin zentralen Organisationsstruktur und einer stärkeren Formalisierung der Kontrolle

231 Siehe Kritik von [Konrad Scholz] in Belegschaftsversammlung, [Februar 1974] (s. Anm. 43), S. 3f. 232 Siehe Kritik hieran in Protokoll Technischer Ausschuss (GHS), 13. Februar 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 1; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 29. März 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 5; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 13. August 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1. 233 [Neumer], 13. August 1973 (s. Anm. 42), S. 4f.; Transkript Gesellschafterversammlung, 13. November 1973, im Besitz der Autorin, S. 6; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak], 6. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 6f.; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak], [Konrad Scholz], [Heinz Schrödter], [Max Ulrich] und weiteren namentlich nicht bekannten Arbeitern, undatiert [1974], im Besitz der Autorin, S. 3. 234 Alfred Kieser, »Managementlehre und Taylorismus«, in: Ders. und Mark Ebers (Hg.), Organisationstheorien, Stuttgart 20066 , S. 131; Ebenso Reitmayer und Rosenberger, Einleitung (s. Anm. 4), S. 20. 235 Alfred Kieser, »Moden & Mythen des Organisierens«, in: Die Betriebswirtschaft (DBW) 1 (1996), S. 21.

Die Unternehmensführung

durch neue Praktiken der Quantifizierung korrespondierten die Vorstellungen der geschäftsführenden Gremien mit eben jenen zeitgenössisch diskutierten Konzepten einer effizienten Unternehmensorganisation.236 Den Belegschaftsgremien standen dagegen keine solche Leitbilder zur Verfügung, um ihre Vorschläge einer vom Betrieb ausgehenden Unternehmensorganisation und Kontrolle der Unternehmensleitung von unten zu untermauern.237 Auch konnten die Beschäftigten hierfür keine entsprechende Qualifikationen vorweisen und zunächst kaum auf eigenes Erfahrungswissen zurückgreifen.238 Betriebswirtschaftliches Wissen eigneten sich die Belegschaftsvertreter*innen durch Schulungen und im Zuge ihrer praktischen Erfahrungen im Verlauf der Selbstverwaltung zwar an, ihre Vorschläge fanden in den geschäftsführenden Gremien dennoch keine Anerkennung. Die Beschäftigten und ihre Gremien konnten aber – in weitaus größerem Umfang als in nicht-selbstverwalteten Unternehmen – ihren Unmut über aus ihrer Perspektive falsche Entscheidungen und Versäumnisse kundtun. Von Beginn an wiesen sie das Führungspersonal auf den dringlichen Handlungsbedarf in den verschiedenen Unternehmensbereichen hin, unterbreiteten Vorschläge und warnten vor den andernfalls zunehmenden Schwierigkeiten. Als diese dann tatsächlich eintraten, nahm ihre Kritik an der Planungs- und Konzeptlosigkeit der geschäftsführenden Gremien radikalere Formen an, wodurch deren Legitimation innerhalb der Belegschaft brüchig wurde. Die neuen Praktiken in der Unternehmensführung sind vor diesem Hintergrund – ähnlich wie die sich durchsetzenden Formen der betrieblichen Rationalisierung und der Marktorientierung – auch als Ausdruck der betrieblichen Machtverhältnisse zu verstehen. In den sich verdichtenden Konflikten besaßen sie für die geschäftsführenden Gremien wichtige machtstrategische Funktionen. Der Fokus auf betriebswirtschaftliche Zahlen ermöglichte ihnen, die Komplexität der Herausforderungen einzugrenzen und Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Die »Objektivität« der Zahlen verlieh ihnen Legitimation für ihr zunehmend eigenmächtiges Vorgehen, die sie gegen die Ansprüche und Kritik der Beschäftigten in Anschlag brachten. Die Belegschaftsgremien konnten zur Rechtfertigung ihrer Vorschläge und Forderungen dagegen keine solch »objektive« Fakten vorweisen. Anders als einst unter Richard Süßmuth konnten sie in ihrer Kritik

236 Der zentrale Reformansatz wies v.a. Ähnlichkeit zum Harzburger Modell und Controlling auf. Siehe Adelheid von Saldern, »Das ›Harzburger Modell‹. Ein Ordnungssystem für bundesrepublikanische Unternehmen, 1960–1975«, in: Thomas Etzemüller (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 303–329; Christian Kleinschmidt, Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer und japanischer Management- und Produktionsmethoden durch deutsche Unternehmer 1950–1985, Berlin 2002, S. 260–292. 237 Generell war die betriebs- oder produktionsnahe, branchenspezifische Theorie- und Modellbildung – in Form der Subdisziplinen einer »Industriebetriebslehre« und einer »BWL des Handwerks« – in der bundesdeutschen BWL »nur wenig ausgebaut«. Dietger Hahn, »Industriebetriebslehre«, in: Gabler Wirtschaftslexikon, Wiesbaden 1997, S. 1834. 238 Fehlende Managementkenntnisse habe auch in der Frauenkooperative Fakenham die Arbeiterinnen angreifbar gemacht – gegenüber Außenstehenden, die besser zu wissen meinten, wie das Unternehmen zu führen sei. Judy Wajcman, Women in Control. Dilemmas of a Workers’ Co-operative, New York 1983, S. 63.

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an der Geschäftsführung auch nicht mehr auf von außenstehenden Betrachtern geteilte Kriterien referieren. Vielmehr waren sie selbst angesichts der neuen Maßstäbe (vermeintlich zu hoher Lohnkosten oder Ausschusszahlen) in Erklärungsnot geraten. Die »Psychologie der Zahlen« lernten die geschäftsführenden Gremien aber nicht nur bei der Immunisierung gegenüber Kritik aus der Belegschaft zu schätzen, sondern auch um sie zu höheren Leistungen zu animieren.239 Als 1972 – dem seit langem ersten Jahr, das mit einem größeren Gewinn abschloss – die Kritik unter den Beschäftigten an der Geschäftsführung merklich zunahm, empfahl der Beirat [Hans Müller], »sich zukünftig besser selbst dar[zu]stellen«.240 Er solle die unternehmerischen Kennzahlen so aufbereiten, um der Belegschaft darzulegen, »was erreicht werden konnte und was noch zu gesehen ist.« Kosten- und Leistungstransparenz sollte – neben den materiellen Anreizen einer reformierten Leistungsentlohnung – immaterielle Anreizsysteme stärken und die Arbeitsdisziplin der Beschäftigten erhöhen. Als sich 1973 eine krisenhafte Unternehmensentwicklung abzuzeichnen begann, fungierten negative Prognosen künftiger Verluste hingegen zunehmend als Druckmittel gegenüber der Belegschaft und insbesondere gegenüber den Glasmachern, um sich ihrer Akzeptanz für verschlechterte Arbeitsund Lohnbedingungen zu vergewissern.241 Unter der Zielstellung, »bei der Belegschaft ein kosten- und leistungsbewusstes Denken herbeizuführen«, forderte der Beirat im Dezember 1974 die Geschäftsführung dazu auf, die monatlichen »Erfolgsrechnungen« fortan »so zu gestalten, dass [die zurückliegenden Werte] den jeweiligen Planzahlen unter Ausweis der Abweichung gegenübergestellt wird.«242 Der Beirat maß damit zuletzt der Kostenrechnung jene Steuerungsfunktion zu, die der RKW-Gutachter [Bertold Ehlers] Anfang 1972 noch als »ideologisch« abgelehnt hatte.243 Wie bei der betrieblichen Rationalisierung war auch bei der Unternehmensreform ein Prozess der Aneignung des in den Konflikten der Selbstverwaltung generierten Wissens durch die geschäftsführenden Gremien zu beobachten, das [Hans Müller] im Mai 1973 in einem Seminar für Führungskräfte auf den Punkt brachte.244 Aus seinen Erfahrungen zog [Müller] den Schluss, der »Nimbus scheinbarerer Machtkonzentration« und der bisherige »Dünkel« des Führungspersonals sei für die Belegschaft »gesellschaftlich unakzeptabel«. Ein überhebliches und arrogantes Auftreten sei »gesellschaftlich nicht klug«, von »gravierender, psychologisch negativer Wirkung« und »eine Gefahrenquelle für das ganze Unternehmen«, weil die Beschäftigten hierdurch »je nach Temperament und Bildung Minderwertigkeitskomplexe [bekämen] oder […] in offene Opposition über[gingen].« Die Vorgesetzten müssten deshalb ihr Wissen – das für [Müller] und den Beirat unhinterfragt das einzig relevante Wissen war – »pädagogisch« einsetzen. Der

239 Zitat von Franz Fabian in Belegschaftsversammlung, [Februar 1974] (s. Anm. 43), S. 4. 240 Folgende Zitate aus Beirat, 12. Oktober 1972 (s. Anm. 39), S. 6. 241 Siehe Beirat, 22. März 1974 (s. Anm. 51); Beirat, 9. Mai 1974 (s. Anm. 104); Beirat, 30. Mai 1974 (s. Anm. 95); Beirat, 2. Juli 1975 (s. Anm. 176). 242 Beirat, 17. Dezember 1974 (s. Anm. 51), S. 6. 243 Siehe Kapitel 7.1. 244 Folgendes aus Typoskript »Probleme der unternehmerischen Willensbildung in belegschaftseigenen Unternehmen«, Vortrag [Hans Müller] für das Führungsseminar in Deidesheim, Mai 1973, in: FHI, Schöf-1225.

Die Unternehmensführung

Formulierung von und Orientierung an quantitativen Zielvorgaben als neues Führungsinstrument lag offensichtlich jene »erstaunliche« Beobachtung zugrunde, »mit was für einer Energie und Opferbereitschaft die Belegschaft daran gegangen ist, [in unbezahlter Eigeninitiative] den Betrieb wieder auf die Beine zu stellen.« [Hans Müller] war sich »sicher«, dass die Beschäftigten »zu solchen Opfern« nur dann bereit wären, wenn ihr »existenzielles Sicherheitsbedürfnis […] gefährdet ist« – nicht aber, wenn der »Betrieb relativ gut dasteht«. Anstatt also Vorschläge und Kritik der Beschäftigten ernst zu nehmen und sich aufrichtig damit auseinanderzusetzen, suchten die geschäftsführenden Gremien nach neuen Führungsstrategien. Im Zuge der fehlgeschlagenen »Verwissenschaftlichung« der Unternehmensführung konnten die geschäftsführenden Gremien Komplexität allein dadurch reduzieren, indem sie vom sozialen Kontext der Fertigung absahen. Diese Abstraktion ermöglichte es ihnen, sich der Auseinandersetzungen mit den Beschäftigten, die aus den Missständen in der betrieblichen Praxis resultierten, zu entziehen und eigene Fehler sowie Versäumnisse nicht einräumen und die damit verbundene Verantwortung nicht übernehmen zu müssen.245 So konnte [Hans Müller] den positiven Jahresabschluss 1972 – Resultat der kollektiven Anstrengungen, die Fehlentscheidungen des »Triumvirats« zu kompensieren – als seinen Erfolg präsentieren, was dem Beirat im Rückblick als evidente Bestätigung für seine Selbstermächtigung und für die Notwendigkeit eines alleinigen Geschäftsführers galt. Zugleich begann [Müller] das Verfehlen der Planziele den Beschäftigten anzulasten – eine Argumentation, der sich auch der HLT-Beamte [Maur] und die anderen betriebsexternen Beiratsmitglieder bedienten. Ihre fatalen Fehlprognosen problematisierten sie dagegen im Nachhinein an keiner Stelle. Die hierdurch forcierte krisenhafte Unternehmensentwicklung führten sie stattdessen auf die Belegschaft und die seit 1973 gesamtwirtschaftliche Krise zurück. Mit diesem neuen »Führungsstil« konnte [Müller] gegenüber dem Beirat zunächst noch punkten, die Beschäftigten ließen sich indes nicht täuschen. In dem Maße, wie [Müller] 1974 und 1975 keine quantitativ untermauerten Unternehmenserfolge mehr aufweisen konnte, verlor er auch im Beirat seine Legitimation als Geschäftsführer. Obwohl der Beirat der Krisenentwicklung des Unternehmens ebenfalls »hilflos« gegenüberstand und der Vorsitzende Franz Fabian im Frühjahr 1974 »nicht mehr [wusste], was er von dem ganzen Kram halten« soll,246 wurde sie wie Ende der 1960er Jahre allein auf die persönlichen Unzulänglichkeiten des Geschäftsführers zurückgeführt und somit ein weiteres Mal die strukturelle Dimension im Führungsversagen ignoriert. Statt die organisatorischen Defizite zu beheben, schlug der Beirat lediglich eine Personalausweitung im Management vor, was er im Bereich der Produktion generell verweigert hatte.247 Als [Hans Müller] Ende 1975 schließlich durch [Harald Meier] ersetzt wurde, zeigte sich, welche Funktion die Position eines alleinigen Geschäftsführers an der Spitze einer zentralen

245 Folgendes siehe Kapitel 7.2. 246 Zitat [Otto Maur] aus HLT, 31. Oktober 1973 (s. Anm. 91), S. 2; Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 8), S. 1. 247 Für den Vertriebsleiter [Schmitz] und den Betriebsleiter [Woge] sollte »je ein Assistent« eingestellt werden. Handschriftliches Protokoll (Vitt) Beirat (GHS), 17. Dezember 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Unternehmensorganisation vor allem für den Beirat erfüllte: die eines greifbaren Verantwortlichen für die Unternehmensentwicklung. Der Beirat konnte, obwohl er von Beginn an über die Investitionsmittel verfügte und die Unternehmensziele festlegte, auf deren Einhaltung er den Geschäftsführer verpflichtete, Verantwortung für die von ihm lancierten Entscheidungen ablehnen. [Müller] hatte die massive Einflussnahme des Beirats akzeptiert, die Realisierbarkeit der vom ihm auferlegten Unternehmensziele nicht infrage gestellt und die Mitsprache der Beschäftigten zurückgedrängt. So war er zuletzt ins Fadenkreuz sowohl der Kritik von unten als auch von oben geraten. Der Beirat verstärkte seinen Einfluss auf die unternehmerische Entscheidungsfindung und intensivierte dabei die Zusammenarbeit mit den Mitgliedern der nach der Eskalation der Konfliktlage im Frühsommer 1974 personell neu zusammengesetzten Belegschaftsgremien (Gesellschafterversammlung und Betriebsrat). Diese Form der Unternehmensführung in einer zentralen Unternehmensorganisation basierte – aller Formalisierungsbemühungen zum Trotz – wie zu »Süßmuths Zeiten« weitgehend auf informellen Beziehungen und Praktiken als dezentralen Strukturelementen. Neu war, dass statt einer Person nun eine Gruppe von mehreren Personen an der Spitze des Unternehmens die Entscheidungen traf und damit eine Unklarheit über die Verantwortlichkeit bzw. eine Verantwortungsdiffusion einhergegangen war.248

7.5 Zwischenfazit Die ausgebliebene Aufwärtsentwicklung des selbstverwalteten Unternehmens war weder auf die mangelhafte Arbeitsdisziplin der Beschäftigten noch auf ein persönliches Versagen des Führungspersonals zurückzuführen, sondern vielmehr auf die Unangemessenheit einer zentralen Unternehmensorganisation und -führung in einer Mundglashütte, die wiederum Ausdruck der sich neu konstituierenden Machtverhältnisse waren. Die Fallstudie lenkt damit die Aufmerksamkeit auf einen in der unternehmenshistorischen Diskussion bislang vernachlässigten Aspekt: Neben den wettbewerbsbedingten Herausforderungen waren Unternehmensleitungen um »1968« zugleich mit einer ordnungspolitischen Problematik konfrontiert.249 Für die geschäftsführenden Gremien der selbstverwalteten Glashütte, in der »jeder Einzelne« den Anspruch erhoben habe, »mitentscheiden zu können«, war diese Problematik eine besondere Herausforderung.250 Im Fall Süßmuth lässt sich nachvollziehen, wie die Dynamiken der betrieblichen Auseinandersetzungen auf Ebene der Unternehmensführung neue Praktiken begründeten. Elemente von Mitbestimmung und flacher Hierarchien bei weiterhin aufrechterhaltener Zentralität der Beschlussfassung und Kontrolle erwiesen sich aus Perspektive des Managements als sehr funktional: Eine offizielle, faktisch aber höchstens selektive Berücksichtigung von Vorschlägen aus der Belegschaft, solange sie den eigenen Vorstellungen

248 Siehe Kapitel 8.3. 249 Siehe Kapitel 9.4 und Schlusskapitel. 250 [Hans Müller] zitiert in Hans See, »Arbeiterselbstverwaltung im Kapitalismus«, in: Franz Fabian (Hg.), Arbeiter übernehmen ihren Betrieb oder Der Erfolg des Modells Süßmuth, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 51.

Die Unternehmensführung

entsprachen, ermöglichte eine maximale Delegation von Verantwortung an dieselbe. Auf Ebene der Praktiken konnte das Führungspersonal über seine Überforderung und Ratlosigkeit damit aber nicht hinwegtäuschen. In der auf Ebene der unternehmerischen Entscheidungsfindung 1974 und 1975 erneut eingetretenen Pattsituation begannen die geschäftsführenden Gremien, den Wettbewerbsdruck an die Belegschaft weiterzugegeben. Statt die Voraussetzungen für die unternehmerische Flexibilität in einer Mundglashütte zu berücksichtigen und zu erhalten, richteten sie den Flexibilisierungsimperativ an bzw. gegen die Beschäftigten und initiierten damit einen die Grundlagen der Qualitätsproduktion zersetzenden Prozess. Erst im Zuge dieser konfliktträchtigen, für die Beschäftigten frustrierenden wie entbehrungsvollen Entwicklung nahmen zuletzt auch die Schwierigkeiten mit der Arbeitsdisziplin in der Belegschaft zu. Diese Entwicklung bekräftigte sowohl im Beirat als nunmehr auch bei den in den Selbstverwaltungsgremien zum damaligen Zeitpunkt noch aktiven Beschäftigten die Annahme von der Notwendigkeit eines durchgreifenden »Führungsstils«.251 Das Management in hatte sich zuletzt zum Management der Selbstverwaltung gewandelt. Die Selbstverwaltung reduzierte sich auf einen moralischen Appell zur Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin.

251

Siehe Kapitel 8.4.

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Resümee Teil II

Die Glashütte Süßmuth war das erste selbstverwaltete Industrieunternehmen der Bundesrepublik. Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive war es gleichwohl in erster Linie ein Konkursunternehmen in einer sich im Niedergang befindenden Branche. Als »extrem krisenhafte Prozesse« erzeugen Eigentümerwechsel generell »ein hohes ökonomisches Risiko für den Bestand des Unternehmens«, weshalb diese »nur langfristig gemeistert werden« können.1 Angesichts der Verschuldung und Unterfinanzierung war dieses Risiko in der belegschaftseigenen Glashütte besonders groß. Die unmittelbar nach der Übernahme eingeleitete Expansion sowie die nahezu in allen Bereichen gleichzeitig in Angriff genommenen, fundamentalen Reformen konfrontierten die Belegschaft als neue kollektive Eigentümerin und ihre Berater mit enormen, eng verzahnten Problemen, die jedem Unternehmen auch mit eingespieltem Management Schwierigkeiten bereitet hätten. Die Glashütte Süßmuth stand damit vor Problemen, die zunächst einmal gar nichts mit der Praxis der Selbstverwaltung zu tun hatten. Die Anpassung einer Mundglashütte an die veränderten Rahmenbedingungen des Wirtschaftens im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts stellte auf Ebene der Unternehmensführung eine enorme organisatorische Herausforderung dar, an der der alte Eigentümer Richard Süßmuth gescheitert war. Allein mit der Übertragung des Unternehmens auf die Belegschaft war der demokratische Anspruch keinesfalls realisiert. Die im Frühjahr 1969 forcierten Aneignungsprozesse, in denen die Beschäftigten in der Situation des akut drohenden Konkurses in neuer Intensität Verantwortung für ihren Betrieb zu übernehmen begannen, fanden auch nach der juristisch prekären Fixierung des kollektiven Eigentumsverhältnisses keinen Abschluss, sondern wurden zu einem grundlegenden Merkmal der Selbstverwaltung im Fall Süßmuth. Die Öffnung der unternehmerischen Entscheidungsfindung für Angehörige aus der Belegschaft bewirkte Aufbrüche in den alten Hierarchien und beförderte Lernprozesse, stellte sie doch für alle Beteiligte eine vollkommen neue Situation dar. Zugleich blieb die Selbstverwaltung auf Ebene der Praktiken bis zum Ende umkämpft. In der Analyse ermöglichte gerade der Fokus auf die Konflikte, die unterschiedlichen

1

Ulrike Schulz, Simson. Vom unwahrscheinlichen Überleben eines Unternehmens 1856–1993, Göttingen 2013, S. 11.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Vorstellungen der Beteiligten von der Selbstverwaltung freizulegen. Diese waren untrennbar verbunden mit spezifischen Annahmen von einer effizienten Betriebs- und Unternehmensführung, die sich nachhaltig auf die handlungsleitenden Wahrnehmungen und den Verlauf der Selbstverwaltung auswirkten. In der belegschaftseigenen Glashütte waren sämtliche Unternehmensbereiche zu Arenen der Auseinandersetzungen über teils konträre Vorstellungen von der richtigen Form des Wirtschaftens geworden. Grundlegende Konfliktlinien verliefen dabei zwischen dem praxisbasierten Erfahrungswissen der Beschäftigten und dem wissenschaftlichen Wissen der Experten, zwischen Betrieb und Unternehmensführung sowie zwischen betrieblicher und überbetrieblicher Ebene der Repräsentation. Die Konflikte der Selbstverwaltung berührten nicht nur Fragen der ökonomisch richtigen Entscheidungen, sondern auch die betrieblichen und über den Betrieb hinausweisenden Machtverhältnisse. Mit der Selbstverwaltung waren in der Glashütte Süßmuth günstige Voraussetzungen für die Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen entstanden. Die Arbeitskraft als das größte Kapital und zugleich wichtigster Produktionsfaktor in einer Mundglashütte wurde zum kollektiven Gut, über das die Belegschaft verfügte bzw. verfügen konnte.2 Im intensivierten Austausch zwischen den langjährig im Unternehmen beschäftigten Arbeiter*innen und Angestellten mit Personen aus einem solidarischen Umfeld wurden verschiedene Wissensbestände zusammengetragen und neues Wissen entstand, um für eine Mundglashütte angemessene Lösungen für bestehende Probleme und aus dynamischen Marktentwicklungen resultierende Unsicherheiten zu finden. Die Hoffnungen auf gute Arbeit, gerechte Löhne und demokratische Teilhabe stärkten nachhaltig den sozialen Zusammenhalt in der Belegschaft und schufen im Betrieb einen neuen Konsens, der während der vorangegangenen Unternehmenskrise brüchig geworden war. Im Fall Süßmuth wurde der Weg einer betrieblichen Rationalisierung in Verbindung mit einer Humanisierung der Arbeit durch die Demokratisierung der unternehmerischen Entscheidungsfindung in einer dezentralen Unternehmensorganisation aufgezeigt. Die Möglichkeit der Verbindung einer Demokratisierung der Produktion mit einer Demokratisierung des Vertriebs und des Konsums durch die Aktualisierung der Guten Form als demokratische Form und durch den Aufbau neuer Absatzverbindlichkeiten über solidarische Vertriebswege ließ sich erahnen. In der gleichberechtigten Verfolgung der ökonomischen, sozialen und politischen Ziele der Selbstverwaltung lag insgesamt das Potenzial einer Erweiterung der Grenzen des Möglichen. Dieses Potenzial war nur begrenzt quantifizierbar und beruhte auf einem um soziale Faktoren erweiterten Verständnis von ökonomischer Effizienz sowie auf einem solidarischen und kollektiven (statt einem kompetitiven und individualisierenden) Umgang mit Knappheit. Es blieb der demokratischen Praxis implizit und war unmittelbar an dieselbe gebunden. Es begründete zudem das Selbstbewusstsein, die Beharrlichkeit und Ausdauer, mit der Angehörige der Belegschaft über mehr als fünf entbehrungsreiche und konfliktträchtige Jahre hinweg immer wieder – entgegen der Vorbehalte in den geschäftsführenden Gremien – ihre Vorstellungen in die unternehmensinternen Diskussions- und Entscheidungsprozesse einzubringen und umzusetzen versuchten. Auf 2

Zu dieser Perspektive siehe Dario Azzellini, »Labour as a Commons. The Example of Worker-Recuperated Companies«, in: Critical Sociology 4–5 (2016), S. 1–14.

Resümee Teil II

den bereits während der Betriebsübernahme gemachten praktischen Erfahrungen, mit ihren Fähigkeiten und ihren Ideen einen Beitrag zur ökonomischen Stabilisierung des Unternehmens leisten zu können, fußte die trotz der widrigen Ausgangsbedingungen in weiten Teilen der Belegschaft ausgeprägte Zuversicht auf eine zukünftige Aufwärtsentwicklung, auf die der Glasmacher [Paul Nowak] gerade in einer Zeit rekurrierte, als seit Ende des Jahres 1973 erneut die Existenz des Unternehmens auf dem Spiel zu stehen schien: »Es ist gar nicht so kompliziert. Du brauchst nur produzieren und verkaufen!«3 Als kompliziert erwies sich dagegen die Überwindung der über den Betrieb hinausweisenden und in ihn hineinwirkenden Machtverhältnisse, die sich als Grenzen des demokratischen Aufbegehrens an der betrieblichen Basis manifestierten. Die Belegschaftsübernahme der Glashütte Süßmuth war nur zum Preis enormer Abhängigkeiten von den im Beirat versammelten Vertretern der Geldgeber, Bürgen und Gewerkschaft möglich gewesen, deren Einflussnahme sich im Verlauf der Selbstverwaltung sukzessive verstärkte. Einzug hielten hierdurch neue betriebs- und branchenunspezifische Vorstellungen von ökonomischer Effizienz, die fortan die Grundlage einer von den Bedingungen in der Produktion abstrahierenden unternehmerischen Entscheidungsfindung bildeten. Das Bestreben einer Quantifizierung sämtlicher Vorgänge im Unternehmen als Voraussetzung für eine zentrale und vermeintlich objektive Planung, Steuerung und Kontrolle ging einher mit Rationalisierungsmaßnahmen durch den Einsatz personalersetzender Maschinen-Werkzeug-Technik und einer die Kompetenzen der betrieblichen Fachkräfte reduzierenden arbeitsorganisatorischen Zentralisierung. In Orientierung an für eine Mundglashütte unangemessenen Idealvorstellungen einer rentablen Kosten-Umsatz-Entwicklung wurden Unternehmensentscheidungen nur noch auf kurze Sicht getroffen, die sich in der Praxis nicht bewährten. Ein alleiniger Geschäftsführer und eine zentrale Unternehmensorganisation konnten die an sie gestellten Erwartungen nicht erfüllen. Die wachsenden Probleme und die darüber zunehmenden Konflikte im Belegschaftsunternehmen führten die geschäftsführenden Gremien nicht auf die Unangemessenheit der von ihnen lancierten Entscheidungen, sondern auf menschliches Versagen und schließlich auf die demokratische Praxis selbst zurück. Dem Wissen der Beschäftigten brachten sie – für die Durchführung der betrieblichen Rationalisierung, hinsichtlich der produktstrategischen Neuausrichtung oder alternativer Finanzierungsstrategien wie auch bei der Unternehmensreform – keine Anerkennung entgegen. Stattdessen vertrauten sie auf das Wissen externer Experten, die mit ihren Methoden weder die generellen Charakteristika einer Mundglashütte noch die unternehmensspezifischen Gegebenheiten berücksichtigten. Weil die geschäftsführenden Gremien keine nachhaltigen Lösungen für die Probleme im Unternehmen aufzuzeigen vermochten, zugleich aber jene der Belegschaftsgremien blockierten, hatten sie die unternehmerische Entscheidungsfindung in eine neue Pattsituation manövriert. Die Selbstverwaltung war für sie in zunehmendem Maße zu einem ordnungs- und machtpolitischen Problem

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Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak], [Konrad Scholz], [Heinz Schrödter], [Max Ulrich] und weiteren namentlich nicht bekannten Arbeitern, undatiert [1974], im Besitz der Autorin, S. 14.

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Teil II: Die Praxis der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

geworden, dem sie mit einer umso verstärkten, vom Betrieb abstrahierenden Orientierung am Markt und an betriebswirtschaftlichen Kennzahlen als vermeintlich objektiven Referenzgrößen begegneten. Die Reformansätze der geschäftsführenden Gremien widersprachen der Materialität des Fertigungsprozesses in einer Mundglashütte, die die Aneignungs- und Selbstermächtigungsprozesse der Beschäftigten begünstigt hatte. Trotz der mangelhaften Absicherung ihrer Gremien, ihrer fehlenden Verfügungsgewalt über die Investitionsmittel oder ihre enorm eingeschränkten Einflussmöglichkeiten auf unternehmerische Grundsatzentscheidungen konnten die Beschäftigten ihre Vorstellungen in der betrieblichen Praxis zur Geltung bringen, solange sie keine zusätzlichen Kosten verursachten. Unter Einsatz der im Betrieb vorhandenen Ressourcen, ihrer Arbeitskraft, ihres Erfahrungswissens sowie ihrer Kreativität gelang es ihnen in den ersten Jahren nach der Übernahme durch fertigungstechnische und arbeitsorganisatorische Improvisationen die finanziell wie juristisch prekären Bedingungen zu kompensieren. Die sich im konfliktträchtigen Verlauf der Selbstverwaltung neu konstituierenden Machtverhältnisse wirkten sich aber auf jene Materialität der Fertigung aus, wodurch sich die Machtressourcen der Beschäftigten einschränkten. Vor allem die Zweiofenumstellung stellte in dieser Hinsicht eine Zäsur dar: Einerseits war sie das Resultat von sich zeitgleich zur branchenübergreifenden Krisenstimmung innerhalb des Betriebs verdichtenden (Macht-)Konflikten; andererseits verwies sie auf den Prozess der Aneignung des in der demokratischen Praxis generierten neuen Wissens um die Erweiterung der Grenzen des Möglichen durch die geschäftsführenden Gremien. Letztere griffen vor allem die freiwillige Leistungs-, Verzichts- und Toleranzbereitschaft der Beschäftigten auf und trennten sie durch ihre eigenmächtige Beschlussfassung von deren sozialen und politischen Voraussetzungen ab. Gegenüber dem Prozess der Selbstermächtigung und Aneignung hatte sich damit auf unterschiedlichen Ebenen ein Prozess der Entmachtung und »Enteignung« der Beschäftigten durchgesetzt. Der Verzicht auf tarifliche Leistungen verfestigte sich zu einer Normalität. Mit den durch Arbeitsintensivierung oder der räumlichen Enge an nur noch zwei Öfen verschlechterten Arbeitsbedingungen sowie der sich verstetigenden Flexibilisierung der Arbeitszeiten wurde die Verfügbarkeit der Beschäftigten über ihre eigene Arbeitskraft eingeschränkt. Die aus Richard Süßmuths betrieblicher Sozialpolitik resultierenden Ansprüche der Beschäftigten auf Betriebsrente und günstige Mieten in den Werkswohnungen wurden zurückgedrängt. Mit der für die Arbeitenden mit Lohneinbußen verbundene Kurzarbeit und den Entlassungen bedienten sich die geschäftsführenden Gremien am Ende der Selbstverwaltung klassischer Krisenstrategien. Wie in einem konventionellen Unternehmen hatte die Belegschaft der Glashütte Süßmuth letztlich die Konsequenzen von Entscheidungen zu erdulden, auf die sie keinen Einfluss nehmen konnte. Zuletzt war es zu einer Kollektivierung der Schuldenlast des Unternehmens und der durch unternehmerische Fehlentscheidungen verursachten Kosten sowie zu deren individualisierenden Privatisierung zulasten der Beschäftigten gekommen. Die geschäftsführenden Gremien provozierten damit einen fundamentalen Bruch mit den Gerechtigkeits- und Effizienzvorstellungen der Arbeitenden, der den Anfang vom Ende der Selbstverwaltung und den Beginn der Erosion der Grundlagen der arbeitskräfteintensiven Qualitätsproduktion gleichermaßen markierte. Die hierarchisierende Trennung der wirtschaftlichen von den sozialen und politischen Zielen der Selbstverwaltung durch die

Resümee Teil II

geschäftsführenden Gremien ließ nicht nur das der demokratischen Praxis inhärente Potenzial weitgehend brachliegen, sondern ging mit einer Verengung der Grenzen des Möglichen einher. Die seit Ende 1973 zunehmend krisenhafte Entwicklung, die letztlich nur durch massive soziale Einschnitte kompensiert werden konnte, hätte bei anderen Eigentumsverhältnissen die Existenz des Unternehmens ernsthaft infrage gestellt. Die Selbstverwaltung hatte sich damit im Endeffekt – sowohl hinsichtlich der Leidensfähigkeit der Beschäftigten als auch hinsichtlich der aufgrund der demokratischen Unternehmensform neu hinzugewonnenen Kund*innen – auf die Funktion eines Korrektivs von exklusiv getroffenen Fehlentscheidungen und Versäumnissen der geschäftsführenden Gremien reduziert, die dem Unternehmen das ökonomische Überleben sicherte. Die Selbstermächtigung und Entmachtung, die An- und »Enteignung« der Beschäftigten und ihrer Gremien im Fall Süßmuth verweisen auf die Ambivalenzen des basisdemokratischen Aufbruchs in der Arbeitswelt und zugleich auf Prozesse, die über die Intentionalität im Handeln der Akteur*innen hinaus reichten. Der Frage nach den Gründen, warum die aufgezeigten Potenziale der Selbstverwaltung in der Glashütte Süßmuth – jenseits der abfedernden Wirkung – ungenutzt blieb, ist daher synonym mit der Frage nach den Gründen für das Ende der Selbstverwaltung im folgenden Kapitel nachzugehen.

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Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

8. An den Grenzen der Macht. Die Gründe für das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Die Datierungen vom Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth fielen – in Abhängigkeit vom jeweiligen Verständnis und Ort der Betrachtung – weit auseinander. Zur Makulatur war sie für den Glasmacher [Rolf Schindler] bereits Ende 1971 geworden, als der Beirat die Rechte der Belegschaftsgremien massiv eingeschränkt hatte.1 Die 1973 unter den Beschäftigten lauter werdende Kritik an seiner Arbeit als Geschäftsführer interpretierte [Hans Müller] dahingehend, dass es offensichtlich gar keine Selbstverwaltung gebe, da ihm allein »die Last« zugeschoben werde.2 Zwei Jahre später präsentierte er der Öffentlichkeit die Glashütte wieder als einen »ganz normale[n] Betrieb«.3 Der Gewerkschafter [Thomas Beike] erkannte in den Sanierungsplänen des seit Anfang 1976 amtierenden Geschäftsführers [Harald Meier] den Beginn einer »Rekapitalisierung« und die Rückkehr zur »normalen Gangart«.4 Für den Schriftsteller Erasmus Schöfer hatte [Meier] lediglich die bereits zuvor vom Beirat lancierte »Tendenz zur Entmündigung der Arbeitervertreter« vollendet.5 Den Abschied vom »seinerzeitige[n] Experiment« konstatierte [Meier] im Nachhinein als eine wenn auch nicht explizit intendierte, letztlich jedoch unvermeidliche Folge der von ihm durchgeführten Reformen.6 Erst zu Beginn der

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Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Rolf Schindler], 15. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 6f. Handschriftliches Protokoll (Vitt) Beirat (GHS), 10. Juli 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 3f. [Hans Müller] zitiert in Fritz Mörschbach, »Ein fast normaler Betrieb. Seit fünf Jahren produziert die Glashütte Süßmuth in Selbstverwaltung«, in: FR, 14. Juni 1975, in: AGI. [Thomas Beike] wiedergegeben in [Harald Meier] an Franz Fabian, 3. Juni 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2; [Harald Meier] an [Thomas Beike], 8. Juni 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1. Typoskript »Machen wir heute, was morgen erst schön wird«, Hörspiel und Diskussion mit Erasmus Schöfer im HR, 17. März 1980, in: FHI, Schöf-1215, S. 6. [Harald Meier] wiedergegeben in Rudi Walther an Christian Gebert, 27. Dezember 1979, in: FHI, Schöf-1215, S. 1; Notiz [Harald Meier], 23. November 1976, in: AGI.

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Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

1980er Jahre berichteten Journalist*innen vom Ende der demokratischen Praxis.7 Ähnlich divers waren die Deutungen von den Problemen und den Gründen für das Ende der Selbstverwaltung. In der wissenschaftlichen und politischen Diskussion werden gemeinhin in unterschiedlicher Gewichtung interne und externe Faktoren angeführt, um das angeblich häufigere Scheitern demokratischer Unternehmensformen zu erklären. Wirtschaftswissenschaftliche Arbeiten heben neben der Schwäche des Managements und der geringeren Arbeitsdisziplin die in diesen Unternehmen fehlende Investitionsbereitschaft und Innovationsfähigkeit hervor.8 Den Arbeitenden wird unterstellt, als Unternehmer vorrangig den eigenen Interessen verpflichtet zu sein. Gewinne würden durch Lohnerhöhungen verkonsumiert, statt sie zu reinvestieren und langfristig vorzuhalten. In der Selbstverwaltungsforschung wird weniger das Fehlen eines unternehmerischen als vielmehr das eines politischen Bewusstseins problematisiert. Werde eine Produktivgenossenschaft allein zur Abwendung eines drohenden Arbeitsplatzverlustes anstatt aus ideellen Motiven gegründet, verliere die demokratische Form »im allgemeinen Aufwärtstrend«, nachdem sie also ihre »Auffang- und Abfederungsfunktion erfüllt« habe, an Bedeutung.9 Im Zentrum marxistischer Überlegungen stehen dagegen die für demokratisierte Unternehmen im Kapitalismus generell widrigen Umstände. Rosa Luxemburg oder Ernest Mandel nahmen an, »eine im kleinen sozialisierte Produktion« könne sich dem Druck des kapitalistischen Wettbewerbs nicht entziehen.10 Auf diese Annahme stützte sich auch das Transformationsgesetz von Franz Oppenheimer.11 Die Selbstverwaltungsforschung hat vor allem die ungünstige Rechtslage und die Probleme bei der Finanzierung als widrige Rahmenbedingungen für Kollektivunternehmen in der Bundesrepublik benannt.12 Diese wiederum begünstigten den Aufstieg einer »neuen Führungsschicht«, deren Funktion in den selbstverwalteten Projekten der »Alternativ-

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Christian Hülsmeier, »Die rote Hütte ist so rot nicht mehr. Das ›Modell Süßmuth‹. Erfolgreich auf Kosten der Selbstverwaltung«, in: Vorwärts, 18. Februar 1982, in: AGI; Anne Riedel, »Wie in ›ganz normalen Unternehmen‹ Die ›rote‹ Glashütte Süßmuth verringert die Belegschaft«, in: Vorwärts, 2. Dezember 1982, S. 22; Joachim Wille, »Abgesang auf ein Modell. Die ›rote Hütte‹ ist nicht mehr rot«, in: FR, 3. März 1983, in: Privatarchiv Siebert. Siehe Kritik von Virginie Pérotin, »The Performance of Workers’ Cooperatives«, in: Patrizia Battilani und Harm G. Schröter (Hg.), The Cooperative Business Movement, 1950 to the Present, Cambridge 2012, S. 195–221. Burghard Flieger, »Die soziale und politische Bedeutung produktivgenossenschaftlicher Betriebe«, in: Ders. (Hg.), Produktivgenossenschaften oder der Hindernislauf zur Selbstverwaltung, München 1984, S. 20. Bei beiden stand die Ablehnung genossenschaftlicher bzw. selbstverwalteter Unternehmensformen im Zusammenhang mit einer auf die Zukunft ausgerichteten revolutionären Strategie, für die es alle politischen Kräfte zu bündeln galt. Rosa Luxemburg, »Sozialreform oder Revolution?«, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, Berlin 1970, S. 418; Ernest Mandel an Ken Coates, 18. September 1969, Online: www.workerscontrol.net/theorists/letter-ernest-mandel-ken-coates-september-1969. Franz Oppenheimer, Die Siedlungsgenossenschaft. Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage, Leipzig 1896, S. 44, 55–57. Flieger, Produktivgenossenschaften (s. Anm. 9); Marlene Kück und Achim von Loesch (Hg.), Finanzierungsmodelle selbstverwalteter Betriebe, Frankfurt a.M. u.a. 1987.

Die Gründe für das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

szene« nach »1968« darin bestanden habe, sie »schrittweise wieder an den Hauptzyklus der kapitalistischen Ausbeutung anzubinden.«13 Auf unterschiedliche Weise legen diese Erklärungsansätze die Schlussfolgerung nahe, demokratisches Wirtschaften im Kapitalismus werde früher oder später mehr oder weniger zwangsläufig scheitern. Diese Annahme schien sich auch im Fall Süßmuth zu bestätigen. Zum Teil prägte sie hier bereits die zeitgenössischen Wahrnehmungen, und sie schrieb sich in die Erinnerungen ein. Gleichwohl reichen die genannten Faktoren – gerade mit Blick auf die in Teil II herausgearbeiteten Potenziale – nicht aus, um das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth zu verstehen. Die ahistorische Lesart eines unausweichlichen Scheiterns ist daher im Folgenden gegen den Strich zu bürsten.14 Intendiert ist damit keinesfalls eine Bagatellisierung der widrigen Umstände. Die bisherige Untersuchung hat aufgezeigt, dass insbesondere die ungelösten juristischen Fragen und die Unterfinanzierung die Selbstverwaltung erheblich erschwerten. Vor allem aber waren die Arbeiter*innen der Glashütte Süßmuth in ihrem demokratischen Aufbegehren an Grenzen der Macht gestoßen, die das Postulat eines zwangsläufigen Scheiterns im Vagen lässt und die es daher zu konkretisieren gilt.

8.1 Konträre Problemanalysen. Von Zugangsbarrieren und Bewusstseinsdefiziten Die Deutungen von den Problemen in der selbstverwalteten Glashütte variierten, implizierten unterschiedliche Lösungsansätze und veränderten sich im konfliktträchtigen Ereignisverlauf. Zu Beginn der Selbstverwaltung sahen die Gewerkschaftsfunktionäre und das Leitungspersonal vor allem die prekäre Finanzlage als das entscheidende Problem; sie waren zuversichtlich, es »bräuchte eigentlich nur Geld, um die nötigen Investitionen zu machen, und dann läuft die Sache wieder.«15 Den in der Produktion tätigen Arbeiter*innen war dies dagegen keine hinreichende Erklärung für die Schwierigkeiten; denn bereits während der Betriebsübernahme hatten sie die Erfahrung gemacht, selbst ohne Investitionsmittel erfolgreich wirtschaften zu können. Die von der ersten, dreiköpfigen Geschäftsführung getätigten Fehlinvestitionen bestätigten ihre Auffassung, dass die Ursachen der Probleme nicht allein im monetären Bereich lagen.

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Karl Heinz Roth, »Die Geschäftsführer der Alternativbewegung«, in: Rolf Schwendter (Hg.), Die Mühen der Berge. Grundlegungen zur alternativen Ökonomie Teil 1, München 1986, S. 95f. Siehe auch die Diskussion über den »Managersozialismus« in Jugoslawien und über Degenerationstheorien, von denen Oppenheimers Transformationsgesetz die bekannteste ist. Wolfgang Soergel, Arbeiterselbstverwaltung oder Managersozialismus? Eine empirische Untersuchung in jugoslawischen Industriebetrieben, München 1979, S. 24–31; Chris Cornforth, »Patterns of Cooperative Management. Beyond the Degeneration Thesis«, in: Economic and Industrial Democracy 4 (1995), S. 487–523. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, Berlin 2010 [1940]. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Herman Freil], 7. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 14. Ebenso [Klaus Boehm] in Transkript Haustarifverhandlung, 21. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 3, 7; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Franz Fabian, 22. April 1974, im Besitz der Autorin, S. 6f.; [Konrad Scholz] in Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Konrad Scholz] und [Bernhard Kolbe], 23. Februar 1974, im Besitz der Autorin, S. 1.

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Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Ein grundlegendes Problem der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth lag von Beginn an in der fehlenden Beteiligung eines Teils der Belegschaft. Auch ließ das Engagement vormals aktiver Belegschaftsmitglieder über die Zeit nach. Ein entschiedenes Interesse an der Selbstverwaltung bezeugten anfangs mehr als die Hälfte der Beschäftigten.16 Als im Herbst 1973 die erste Neuwahl der Gesellschafterversammlung regulär anstand, konnten nur noch mit großer Mühe die hierfür erforderliche Anzahl an Kandidat*innen gefunden werden.17 Ähnlich verhielt es sich bei den (nach den jeweiligen Rücktritten erforderlichen) Neuwahlen des Betriebsrats 1973 und 1974.18 Für die Betriebsratswahl 1974 ließ sich keine einzige Frau mehr aufstellen.19 An der letzten Vereinsversammlung im Februar 1977 nahmen nur noch 40 Beschäftigte – 28 Männer und 12 Frauen – der mittlerweile auf 170 Personen reduzierten Belegschaft teil.20 Unter allen Involvierten bestand Einigkeit, dass die geringe Partizipation vieler Beschäftigter für ein selbstverwaltetes Unternehmen ein großer Missstand ist. Konträr verliefen aber die Analysen der Gründe. Die Belegschaftsgremien sahen hierin Ausdruck und Folge struktureller Ausschlüsse und Zugangsbarrieren und diskutierten konkrete Ansätze, diese zu beseitigen. Die geschäftsführenden Gremien interpretierten dies hingegen als Ausdruck und Folge fehlenden Interesses und (politischem oder Verantwortungs-)Bewusstseins in der Belegschaft, dem sie mit einem neuen Autoritarismus gegenüberzutreten begannen.

Die Bedingungen für Partizipation Die bisherige Analyse hat gezeigt, dass die Problematisierung der strukturellen Hindernisse für die Beteiligung der Beschäftigten an der Selbstverwaltung sehr berechtigt war. Jenseits der Aufbrüche und Annäherungen innerhalb der Belegschaft, wirkten alte Hierarchien fort und neue kamen hinzu. Exklusionsmechanismen entlang Status, Geschlecht oder Qualifikation, sozialer oder geographischer Herkunft überlagerten sich mit Ausschlüssen, die das Modell Süßmuth produzierte. Die offizielle Struktur der Selbstverwaltung hielt viele Beschäftigten von den Entscheidungsprozessen und den hierfür notwendigen Informationen fern. Es entstand eine neue, quer zu den tradierten Kategorien sozialer Ungleichheit verlaufende Trennung der Belegschaft in jene Beschäftigte, die

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Ultimatum Belegschaft an Richard Süßmuth, 16. März 1970, in: FHI, Schöf-1221; Wahlergebnis Gesellschafterversammlung (GHS), 14. Mai 1970, in: AGI; Protokoll Gründungsversammlung des Vereins der Beschäftigten der GHS GmbH [Version 2], 15. Oktober 1970, in: FHI, Schöf-1221; Protokoll Besprechung über Bildungsprogramm Süßmuth, 10. Dezember 1970, in: FHI, Schöf-1221. »Am Modell Süßmuth wird mit Erfolg weiter gefeilt«, in: Hessische Allgemeine, 13. Oktober 1973, in: AGI; Emanuel LaRoche, »Selbstverwaltung. Das Modell Immenhausen«, in: Tagesanzeiger, 19. September 1973, in: Privatarchiv [Müller]. Typoskript »Glashütte in Arbeiterhand«, Irmgard Senger für HR Fernsehen, 27. September 1973, in: FHI, Schöf-1212, S. 8f.; Florian Fischer, Die Arbeit in der selbstverwalteten Glashütte. Für die Arbeiter kein Fortschritt. Eine Fotodokumentation und Kritik falscher Erwartungen, Selbstverlag, 1974, in: FHI, Schöf-1194, S. 15. [Paul Nowak] in Fischer, Selbstverwaltete Glashütte (s. Anm. 18), S. 15f. Protokoll Gesellschafterversammlung, 8. Februar 1977, in: AGI.

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in die Gremien gewählt wurden – die wiederum nicht alle die gleiche formale Anerkennung erhielten –, und jene, die deren Arbeit nur von außen verfolgen konnten. Während sich die Partizipationsmöglichkeiten für Erstere durch die Betriebsübernahme verbessert hatten, besaß ein großer Teil der Belegschaft noch nicht einmal einen Einblick in die finanzielle Lage des Unternehmens. Mit Blick auf die Hoffnungen, die die meisten Beschäftigten zu Beginn mit der Selbstverwaltung verbanden, war die fehlende Beteiligung eines großen Teils der Belegschaft kein Ausdruck von Desinteresse. Jenseits ihrer individuellen Interessen- und Motivlage standen den Arbeitenden in der selbstverwalteten Glashütte höchst ungleiche Handlungsbedingungen und -ressourcen zur Verfügung. Allein die höhere Fluktuationsquote unter den Nicht-Facharbeiter*innen und migrantischen Beschäftigten, die zu einem großen Teil erst nach der Belegschaftsübernahme ihre Tätigkeit in Immenhausen aufnahmen, trug dazu bei, dass sie kaum bzw. gar nicht in den Belegschaftsgremien vertreten waren.21 Wissens- und Informationsdefizite in betriebswirtschaftlichen Sachverhalten, begrenzte Zugänge zu materiellen Ressourcen sowie vor allem geringere Zeitressourcen schwächten zudem die Position der Belegschaftsgremien gegenüber der Geschäftsführung. Von Anfang an bemühten sich die Belegschaftsvertreter*innen um die Beseitigung dieser Bildungs-, Informations- und Zeitunterschiede, um die strukturellen Bedingungen für eine gleichberechtigte Partizipation zu verbessern und der Spaltung der Belegschaft sowie der Abhängigkeit ihrer Gremien von der Geschäftsführung entgegenzuwirken. Erstens setzten sie sich für eine systematische Bildung aller Belegschaftsmitglieder ein, die – im Gegensatz zum Geschäftsführer – »keine acht Semester Volks- und Betriebswirtschaft studiert, sondern […] eben nur [die] Volksschule« besucht hatten.22 Die Gewerkschafter entsprachen diesem Wunsch zwar zunächst.23 In ihren Bildungsangeboten unterschieden sie jedoch entsprechend der im Modell Süßmuth festgeschriebenen Rollenverteilung und sie bestimmten die Inhalte anhand dessen, was sie selbst als wichtig empfanden. Den »Funktionsträger[n] der Selbstverwaltung« sollte in regelmäßig alle vier Wochen stattfindenden Schulungen betriebswirtschaftliches Wissen durch die Geschäftsführung anhand aktueller Fragen in der Firma vermittelt werden.24 Dem Rest der Belegschaft wurden lediglich im Zeitraum zwischen November 1970 und Januar 1971

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Siehe Kapitel 4.3. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] am 11. Oktober 1973, im Besitz der Autorin, S. 2; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Manfred Hübner], [Frank Weber], [Anna Thiele] und namentlich unbekanntem Betriebsratsmitglied, 26. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 28, 35f.; [Paul Nowak] in Gerhard Braun, Reiner Etz und Klaus Volkenborn, Süssmuth e.V. Drei Jahre Selbstverwaltung (Dokumentarfilm), 1973, Online: https://dffb-archiv.de/dffb/suessm uth-ev-drei-jahre-selbstverwaltung, S. 17; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] und [Dieter Schrödter], 13. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 5. Seit Sommer 1970 erarbeiteten die IG-Chemie-Funktionäre des Bezirks Hessen und des Hauptvorstands mit dem Dortmunder Institut für Unternehmensanalyse und Branchenforschung ein Bildungsprogramm für die Belegschaft der GHS. Siehe diesbezügliche Unterlagen, Juni 1970 bis Januar 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie, sowie FHI, Schöf-1221 und Schöf-1228. Folgendes aus Protokoll Besprechung über Bildungsprogramm Süßmuth, 12. November 1970, in: FHI, Schöf-1221.

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»Grundlehrgänge« angeboten, in denen Gewerkschaftsfunktionäre sie mit den neuen »Rechten und Pflichten« sowie mit dem »Selbstverständnis der Selbstverwaltung« vertraut machten. Obwohl diese Bildungsangebote bei den Beschäftigten auf große Resonanz stießen und hohe Teilnahmezahlen verzeichneten,25 wurden sie nach der Absetzung der ersten Geschäftsführung im März 1971 abrupt beendet. In der ersten Jahreshälfte 1972 fanden noch einmal zwei »Lehrgänge« statt,26 dann stellten die Gewerkschaftsfunktionäre sie ohne Angabe von Gründen komplett ein. Als sich 1973 die Konflikte verdichteten und Kritik an [Hans Müller] zunahm, planten die Gesellschafter*innen die Wiederaufnahme betriebswirtschaftlicher Schulungen durch externe Experten.27 In der erneut krisenhaften Unternehmensentwicklung ließ sich dies aber nicht realisieren. Die Forderung nach einer alle Beschäftigten gleichermaßen emanzipierenden Bildungsarbeit, wie sie in Ansätzen während der Betriebsübernahme praktiziert wurde,28 blieb somit unerfüllt. Zweitens bemühten sich die Belegschaftsvertreter*innen um die Beseitigung des Informationsgefälles im selbstverwalteten Unternehmen. Da die nach dem Modell Süßmuth vierteljährlich vorgesehenen Vollversammlungen de facto noch seltener stattfanden, sollte ein »Informationsfluss« geschaffen werden, an dem alle Beschäftigten partizipieren konnten.29 Zu diesem Zwecke wurde im Frühjahr 1971 die Betriebszeitung Hüttenecho gegründet.30 Nach nur vier Ausgaben untersagte der Beirat die weitere Herausgabe im Zusammenhang mit der Auflösung des geschäftsführenden Ausschusses und der Entmachtung der Belegschaftsgremien Ende Dezember 1971.31 Wie bei der abrupten Einstellung der Bildungsarbeit erhielten die Belegschaftsgremien hierfür weder eine offizielle noch zu einem späteren Zeitpunkt eine ihnen plausible Erklärung.32 Die geschäftsführenden Gremien verkannten die wichtigen Funktionen, die eine Betriebszeitschrift im Unternehmen – allen voran in einem selbstverwalteten – besitzen konnte.

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Die überlieferten Angaben der Beteiligung an den Schulungen schwanken zwischen 60 und 80 Prozent der Beschäftigten. Bildungsprogramm Süßmuth, 10. Dezember 1970 (s. Anm. 16); Franz Fabian, »Vom ›Fall‹ zum ›Modell‹ Glashütte Süßmuth«, in: Ders. (Hg.), Arbeiter übernehmen ihren Betrieb oder Der Erfolg des Modells Süßmuth, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 23; Transkript Gruppeninterview der Autorin mit [Dieter und Sabine Vogt], 17. Mai 2014, im Besitz der Autorin, S. 2. An diesen zwei »Lehrgängen«, in denen der HLT-Beamte [Dieter Vogt] über das Thema Bilanzen und der Gewerkschaftsfunktionär [Thomas Beike] über das Thema Kostenrechnung referierten, habe ein »fester Kreis von ca. 50 Teilnehmern« teilgenommen. Protokoll Beirat (GHS), 12. Oktober 1972, in: FHI, Schöf-1227, S. 3. Reformvorstellung [Frank Weber], 12. Oktober 1973, in: AGI; Reformvorstellung [Manfred Hübner], 22. Oktober 1973, in: AGI; Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 25. Oktober 1973, in: FHI, Schöf-1226. Siehe Kapitel 3.3. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] am 18. April 1973, im Besitz der Autorin, S. 11f. Siehe Kapitel 4.2. Die letzte überlieferte Ausgabe vom Oktober 1971 hatte noch den Übergang zu einem künftig zwei- bis dreiwöchentlichen Veröffentlichungsmodus angekündigt. Hüttenecho. Zeitung der Belegschaft der GHS, 9. Oktober 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 1. Notizen Stellungnahme Gesellschafterversammlung auf der Beiratssitzung (GHS), 24. Februar 1972, in: FHI, Schöf-1227.

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Informationen verbreiteten sich stattdessen »von Mund zu Mund«, was ein großes Potenzial an Falschmeldungen, Missverständnissen und Gerüchten barg.33 Drittens diskutierten die Belegschaftsgremien über Wege, die Unterschiede bei den verfügbaren Zeitressourcen – die sowohl zwischen der hauptberuflich tätigen Geschäftsführung und den ausschließlich außerhalb der Arbeitszeit tagenden Belegschaftsgremien bestanden als auch innerhalb der Belegschaft zwischen Männern und Frauen – zu reduzieren.34 Nach Achtstundentag und Vierzigstundenwoche sowie den zur möglichst maximalen Auslastung der Produktionskapazitäten oftmals zusätzlich geleisteten Überstunden konnten die Beschäftigten nur begrenzte und Arbeiterinnen – aufgrund der genderspezifischen Arbeitsteilung und der Reproduktionsarbeiten, die sie in ihrer Freizeit zu erledigen hatten – noch weniger Zeit für den Wissenserwerb und die Gremienarbeit aufbringen, was wiederum eine Kontrolle der Geschäftsführung erschwerte. Die Belegschaftsvertreter*innen erwogen daher die Verlagerung der Bildungs- und Gremienarbeit in die bezahlte Arbeitszeit, die Bezahlung einer Aufwandsentschädigung oder die Gründung eines betriebseigenen Kindergartens.35 Die fehlende Verfügungsmacht über die Investitionsmittel, anhaltende Liquiditätsprobleme und zeitliche Engpässe angesichts eines chronischen Arbeitskräftemangels standen der Realisierung dieser Vorschläge entgegen. Ebenso wenig kam es zum geplanten Einsatz von Dolmetscher*innen, um dem Ausschluss der migrantischen Beschäftigten entgegenzuwirken.36 Aus Perspektive der Beschäftigten gehörte die demokratische Praxis selbst zur entscheidendsten Voraussetzung, Hierarchien und Zugangsbarrieren abzubauen, und sie war gleichermaßen der Weg, sich das notwendige Wissen anzueignen. Dieses praxisbezogene Demokratieverständnis war bereits während der Unternehmenskrise 1969/1970 zutage getreten, als aus den neuen Erfahrungen kollektiven Handelns heraus die Idee zur Betriebsübernahme entstand. Und es prägte auch die Haltung der Belegschaftsvertreter*innen während der Selbstverwaltung, die die geschäftsführenden Gremien immer wieder dazu aufforderten, wenn sie schon ihre Reformvorschläge ablehnten, zumindest die Bestimmungen des Modells Süßmuth einzuhalten.37 Vollversammlungen sollten regelmäßig durchgeführt werden, um dem großen Teil der nicht in die Gremienarbeit involvierten Belegschaftsmitglieder zumindest hierdurch die Möglichkeiten zu geben, Vorschläge, Kritik oder Bedürfnisse äußern zu können.38 Würden sie ernstgenommen und

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[Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 27; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak], [Konrad Scholz], [Heinz Schrödter], [Max Ulrich] und weiteren namentlich nicht bekannten Arbeitern, undatiert [1974], im Besitz der Autorin, S. 5. [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 1), S. 2–7; [Willi Voigt] in Transkript Erstes Treffen von Erasmus Schöfer mit der Belegschaft der GHS, 19. März 1973, im Besitz der Autorin, S. 8f. [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 1), S. 7; [Paul Nowak] in Hanno Brühl, »Glashütte Süßmuth. Ein Modell der Arbeiterselbstverwaltung«, Beitrag in der WDR-Sendung Klatschmohn, 24. März 1973, in: Archiv WDR; Hessische Allgemeine, 13. Oktober 1973 (s. Anm. 17); Konzept Änderung der Betriebsverfassung (GHS), 28. März 1973, in: FHI, Schöf-1226. Bildungsprogramm Süßmuth, 10. Dezember 1970 (s. Anm. 16), S. 1. Siehe Kapitel 4.3. Folgendes von [Frank Weber] aus Braun et al., Süssmuth e.V. (s. Anm. 22), S. 18; Ebenso [Weber], 12. Oktober 1973 (s. Anm. 27), S. 2.

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bei der Umsetzung von Änderungen mit einbezogen, könnten auch mehr Belegschaftsangehörige für die Selbstverwaltung gewonnen werden. Bereits die ersten Schulungen hatten gezeigt, dass in der Belegschaft nicht nur ein Informations-, sondern vor allem auch enormer Diskussionsbedarf bestand.39 Dass die geschäftsführenden Gremien diesen strukturellen Problemen nicht die notwendige Aufmerksamkeit widmeten, bewerteten die Belegschaftsvertreter*innen als fatalen Fehler mit zum Teil irreversiblen Folgen.40 Indem sie eigenmächtig die Initiativen der Belegschaftsgremien blockierten oder übergingen, verstärkten sie die Demokratiedefizite. Die Beschäftigten wollten – so legte es der Sprecher der Tarifkommission in seiner Kritik am undemokratischen Vorgehen der Gewerkschaftsfunktionäre dar, die im Herbst 1971 mit dem Geschäftsführer allein den Firmentarifvertrag aushandelten – »von Anfang an« gleichberechtigt in die Entscheidungsfindung einbezogen werden, um »Methode, Erfahrung und Erkenntnisse […] gewinnen [zu] können. Wenn wir von Euch aber nicht zur Mitarbeit herangezogen werden, nur Fertigprodukte bekommen, werden wir niemals Methode und Erfahrung bekommen, sicher aber Erkenntnisse.«41 Die Praxis selbst war also aus Belegschaftsperspektive der zentrale Ort des Erkenntnisprozesses, der indes – da es an einem für alle Personen gleichermaßen zugänglichen Praxisfeld fehlte – unterschiedlich bzw. ungleichzeitig verlief.

Abstraktion und Autoritarismus Die betriebsexternen Beiratsmitglieder verstanden sich (in ihrer faktisch geschäftsführenden Funktion) nicht als Teil eines kollektiven Lernprozesses. Vielmehr wollten sie ihre mehr oder weniger vorgefertigten, aus ihren theoretischen Überlegungen über eine Demokratisierung der Wirtschaft abgeleiteten Modellvorstellungen im Fall Süßmuth umsetzen bzw. ausprobieren. Die von den Belegschaftsgremien freigelegten strukturellen Defizite betrachteten sie – entsprechend ihrer hierarchisierenden Trennung der Ziele der Selbstverwaltung – als gegenüber der ökonomischen Stabilisierung des Unternehmens nachrangig zu bearbeitende Problemfelder. Weil die erhoffte Aufwärtsentwicklung nicht unmittelbar eintrat, stellten die Gewerkschaftsfunktionäre und der Geschäftsführer [Hans Müller] die Durchführung von Bildungsveranstaltungen zurück.42 39

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So konstatierten die Gewerkschaftsfunktionäre, dass bei den Bildungsveranstaltungen »nur zu einem kleineren Teil in den Diskussionen Fragen aus den Vorträgen und zur Funktionsweise des Modells der Selbstverwaltung« aufgekommen und stattdessen »überwiegend […] betriebliche und organisatorische Fragen angesprochen« worden seien. Bildungsprogramm Süßmuth, 10. Dezember 1970 (s. Anm. 16), S. 1. Als die geschäftsführenden Gremien bspw. im Sommer 1973 kurzzeitig über eine Wiederaufnahme der betrieblichen Bildungsarbeit nachdachten, gab [Manfred Hübner] zu bedenken, dass es »nach den Missständen« der zurückliegenden Jahre sehr schwierig werde, in der Belegschaft noch einmal ein derart reges Interesse zu erzeugen, wie es zu Beginn vorhanden war. [Nowak], 11. Oktober 1973 (s. Anm. 22), S. 2; [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 36. [Holger Neumer] an [Thomas Beike], 4. August 1972, in: FHI, Schöf-1227. Typoskript »Wo neues Bewusstsein wächst«, Ulrich Wickert für Panorama (ARD), 27. April 1973, in: FHI, Schöf-1212, S. 4; [Hans Müller] in Notizen Erasmus Schöfer, undatiert [1973/1974], in: FHI, Schöf-1197.

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Aus gleichem Grund sahen sich Erstere zur Intervention in die unternehmerischen Entscheidungsprozesse und zum eigenmächtigen Handeln berechtigt bzw. – um den Erfolg des Modells Süßmuth zu wahren oder zumindest dessen Scheitern zu verhindern – verpflichtet. Der sich innerhalb des selbstverwalteten Betriebs verdichtenden Konfliktlage meinte der Beirat – so als handelte es sich hier nur um Missverständnisse – mit »Aussprachen« beikommen zu können.43 Sowohl bei der Bewertung der wirtschaftlichen Probleme als auch bei der Bewertung der Demokratieprobleme abstrahierten die geschäftsführenden Gremien von den konkreten Herausforderungen in der Praxis. Ausgehend von der vermeintlichen Eindeutigkeit »ökonomischer Notwendigkeiten« betrachteten sie das für die Selbstverwaltung erforderliche (betriebswirtschaftliche wie politische) Wissen als abstrakte Bildungseinheiten, das es den Beschäftigten etappenweise zu vermitteln galt.44 Die Schulungsveranstaltungen oder das betriebliche Informationswesen konzipierten sie dementsprechend als frontale Formate zur Aufklärung der Belegschaft.45 Für die Forderungen der Beschäftigten nach einer an ihren Bedürfnissen und an den betrieblichen Verhältnissen orientierten Bildungsarbeit als Voraussetzung für eine gleichberechtigte Teilhabe und insbesondere für eine von der Geschäftsführung unabhängige Meinungsbildung brachten die Gewerkschaftsfunktionäre kein Verständnis auf. Verhindern wollten sie vielmehr, dass die Schulungen zum »Kummerkasten« verkommen46 oder dass die Beschäftigten zu einem falschen Selbstbewusstsein verleitet werden.47 Die Auszahlung einer »Aufwandsentschädigung« lehnte [Hans Müller] zudem ab, weil »ein beträchtlicher Teil des ›Idealcharakters‹ der Belegschaftshütte« hiermit verloren gegangen wäre.48 In der Problemdeutung der geschäftsführenden Gremien aktualisierte sich im konfliktträchtigen Verlauf der Selbstverwaltung eine in der Gewerkschaftsbewegung tradierte Argumentationsfigur vom »fehlenden Bewusstsein« der Arbeiterschaft. Für Franz Fabian bestätigte sich sein Vorurteil,

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Beirat, 12. Oktober 1972 (s. Anm. 26), S. 6; Ähnlich Werner Vitt in: Transkript Podiumsdiskussion im Anschluss an die Reportage »Die Belegschaft übernimmt den Betrieb«, Pierre Hoffmann für WDR, 6. Juni 1975, im Besitz der Autorin, S. 4. Franz Fabian in Wickert, 27. April 1973 (s. Anm. 42), S. 4; Werner Vitt in Podiumsdiskussion WDR, 6. Juni 1975 (s. Anm. 43), S. 2. Als dringend erforderlich erachteten es die Gewerkschaftsfunktionäre, »den 280 Beschäftigten […] die nun für sie völlig veränderte ›Unternehmerfunktion‹ darzustellen […], damit die ganze weitere Entwicklung bei Süßmuth von einer soliden Bewusstseinshaltung der Arbeitnehmer ausgehen kann.« Deshalb bestanden sie auch auf eine strikte Trennung von Bildungsarbeit und Unternehmensberatung, was Karl Zimmermann – der zur Vorbereitung des Schulungsprogramms konsultierte Leiter des Dortmunder Instituts für Unternehmensanalyse und Branchenforschung – in seinen Empfehlungen vermengt habe. Willi Brune an Hermann Rappe, 30. Juni 1970, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Bildungsprogramm Süßmuth, 10. Dezember 1970 (s. Anm. 16). Bildungsprogramm Süßmuth, 10. Dezember 1970 (s. Anm. 16), S. 1. [Hans Müller] erschien es als »ungemein gefährlich«, wenn die Beschäftigten – ausgestattet mit einem »oberflächliche[n] Wissen« und »ohne den Unterbau« – den Anspruch erhöben, eigenständige Entscheidungen treffen zu können. [Müller] zitiert in Braun et al., Süssmuth e.V. (s. Anm. 22), S. 19. [Müller] zitiert in Hessische Allgemeine, 13. Oktober 1973 (s. Anm. 17).

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»dass viele der Beschäftigten nicht in der Lage sind, die abstrakten Abläufe des betriebs- und volkswirtschaftlichen Gesamtgeschehens zu durchschauen. Sie sind die unschuldigen Erben eines schlechten Bildungssystems, einer fatalen Entpolitisierung und einer auf Befehl und Gehorsam, nicht auf Eigenverantwortlichkeit, Mit- oder gar Selbstbestimmung aufgebauten Betriebsorganisation.«49 Im nachlassenden Engagement der Beschäftigten erkannte Fabian das Fortwirken einer »Arbeitnehmer-Mentalität«, die ihre Wissensdefizite und Sozialisation zur Obrigkeitshörigkeit belege.50 Er schlussfolgerte, dass die »Kumpels noch nicht so weit« seien und dass die Einführung der Demokratie »zu schnell« erfolgte.51 Um den Schaden für die Forderung nach einer Demokratisierung der Wirtschaft zu begrenzen und zu verhindern, dass der Fall Süßmuth zu einem »Lehrstück […] gegen die Selbstbestimmung« wird, erachtete er einen »mitreiß[enden] Mann« an der Unternehmensspitze als notwendig – und die Rückkehr zur »Knute«. Laut [Hans Müller] hätten viele Belegschaftsangehörige von Beginn an »nicht aktiv« hinter der Selbstverwaltung gestanden, sondern seien einfach nur froh gewesen, »dass sie ihren Arbeitsplatz behalten« konnten.52 Den ehrenamtlich in den Gremien mitarbeitenden »Überengagierten« habe eine große Gruppe von »Mitläufern« und eine kleinere Gruppe von nur am Lohn interessierten Beschäftigten gegenübergestanden.53 Das »merklich erlahm[ende] […] Interesse an den Mitbestimmungsmöglichkeiten« führte [Müller] (implizit auf Oppenheimers Transformationsgesetz referierend) auf einen zwangsläufig nachlassenden »Idealismus« und zuletzt auch auf die Wiedereinführung der Samstagsarbeit zurück, die die gemeinsame Freizeit mit der Familie einschränke.54 An den freien Wochenenden würden sich die Beschäftigten »nur ungern zu einer Schulungsveranstaltung bitten« lassen. Im September 1973 sprach [Müller] öffentlich sogar von einem »Misserfolg« der »gewerkschaftlichen Schulungs- und Weiterbildungskurse«, die – weil sie erst nach Feierabend stattfanden und »TV und Hobbies […] eine zu große Konkurrenz« gewesen seien – nur von einer »Kerntruppe« besucht worden seien.55 Kurzum: Der Glashütte Süßmuth habe es an »eine[r] aufgeklärte[n] Belegschaft« gefehlt.56 Als einzigen Fehler seiner Geschäftsführung räumte [Hans Müller] ein, dass er

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Fabian, Fall (s. Anm. 25), S. 21. Franz Fabian zitiert in »›Der Betrieb gehört uns‹. Arbeiter retten Firmen«, in: Wirtschaftswoche, 4. Juli 1975, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 13. Folgendes aus Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 15), S. 3. [Müller] in Stefan Maul, »Am Tage Glasbläser. Am Abend Aufsichtsrat«, in: Weltbild, 26. Juli 1972, S. 29. Tagesanzeiger, 19. September 1973 (s. Anm. 17). Folgendes von [Müller] aus Wickert, 27. April 1973 (s. Anm. 42), S. 3; FR, 14. Juni 1975 (s. Anm. 3). Zu den Stadien der Transformation einer Produktivgenossenschaft, im Zuge dessen die bei der Gründung von den »Genossen« noch geteilten handlungsleitenden »Ideale« von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit an Bedeutung verlieren, siehe Oppenheimer, Siedlungsgenossenschaft (s. Anm. 11), S. 44–115. [Müller] zitiert in Tagesanzeiger, 19. September 1973 (s. Anm. 17). [Müller] in Sendebeitrag Panorama, Glashütte Süßmuth, 5. Januar 1976, Online: https://daserste.n dr.de/panorama/archiv/1976/panorama1717.html, 6. Minute.

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zu demokratisch gewesen sei und zu sehr auf die Eigeninitiative der Belegschaft gesetzt bzw. zu wenig Autorität gezeigt habe.57 Dass die gewerkschaftliche Bildungsarbeit einst gegen den expliziten Wunsch der Beschäftigten eingestellt wurde, blieb in [Müllers] Darstellungen ebenso unerwähnt wie die Ablehnung der Belegschaftsvorschläge zur Aufwertung der Gremienarbeit durch die Integration in die bezahlte Arbeitszeit oder durch die Berücksichtigung und Umsetzung ihrer kollektiven Beschlüsse. Auch ließ [Müller] den Hintergrund für die Wiedereinführung der Samstagsarbeit außen vor: Diese wurde allein als Kompensation der Fehlentscheidung der Geschäftsführung erforderlich, die Produktion von drei auf zwei Öfen zu reduzieren, was in den Belegschaftsgremien große Empörung hervorgerufen und schließlich zu einer Rücktrittswelle geführt hatte. Der Topos des fehlenden Bewusstseins erfüllte damit weniger eine erklärende als vielmehr eine rechtfertigende Funktion, die sich der Geschäftsführer [Hans Müller] und der Gewerkschaftsfunktionär Franz Fabian zunutze machten und, was – in einem Diskurs, in dem die Perspektive der Arbeitenden marginalisiert war – auch plausibel erschien.58 Indem sich die maßgeblichen Entscheidungsträger im Belegschaftsunternehmen außerhalb bzw. oberhalb der demokratischen Praxis positionierten, verweigerten sie sich einer Auseinandersetzung mit den Beschäftigten. Ihre eigenen Vorannahmen stellten sie ebenso wenig infrage wie ihre Urteilskraft und Fähigkeit, die für eine Mundglashütte richtigen Entscheidungen treffen zu können, die sie stark überschätzten. Über die Besonderheiten der Mundglasfertigung wussten jedoch insbesondere die betriebsexternen Beiratsmitglieder kaum Bescheid. Die Glasindustrie war für den IG-ChemieBezirksleiter Franz Fabian aufgrund des hier sehr hohen Organisationsgrads lediglich ein tarifpolitisch interessantes Terrain; mit der brancheninternen Heterogenität und der jeweils spezifischen Fertigungsweise war er nicht vertraut, es interessierte ihn auch nicht.59 Die Ignoranz der geschäftsführenden Gremien gegenüber Vorschlägen von Beschäftigten und kollektiven Beschlüssen der Belegschaftsgremien beruhte vor allem auf der fehlenden Anerkennung bzw. einer Abwertung des Wissens der Arbeitenden, denen sie keine von ihren subjektiven Lohninteressen losgelöste Entscheidungsfähigkeit zutrauten. Nicht reflektiert wurde in den geschäftsführenden Gremien, dass gerade ihre an unangemessenen Idealvorstellungen und Bewertungsmaßstäben ausgerichteten Entscheidungen Problemlösungen behinderten und Entscheidungsspielräume im Unternehmen sukzessive einschränkten. Im konfliktträchtigen Verlauf der Selbstverwaltung verfestigten sich ihre Vorstellungen vom richtigen Wirtschaften zu erfahrungsresistenten Gewissheiten, so dass sie das Scheitern ihrer Vorgaben nicht als solches wahrnahmen und das in der demokratischen Praxis aufgezeigte Potenzial verkannten. 57 58

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[Müller] in Beirat, 10. Juli 1973 (s. Anm. 2), S. 4; Panorama, 5. Januar 1976 (s. Anm. 56), 13f. Minute. Dass es im selbstverwalteten Betrieb zu Konflikten zwischen Beschäftigten und Vorgesetzten kam, führte auch Ulrich Wickert auf »eine zwanzig oder dreißigjährige Erziehung zu rücksichtslosem Egoismus und persönlichem Ehrgeiz« zurück. Fritz Mörschbach (FR) berichtete von einem »hinter dem Fortschritt des Süßmuth-Modells zurückliegenden Arbeiterbewusstsein«, das der »gesellschaftspolitischen Artikulationsbreite des Unternehmens Grenzpflöcke setzt und seine Ausstrahlung behindert«. Wickert, 27. April 1973 (s. Anm. 42), S. 8; FR, 14. Juni 1975 (s. Anm. 3). Franz Fabian in Transkript Belegschaftsversammlung, undatiert [Februar 1974], im Besitz der Autorin, S. 3f.

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Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Erst hierdurch zementierten sich im Unternehmen jene Sachzwänge, angesichts derer sich die Geschäftsführung gegenüber der Belegschaft zu einem autoritären Vorgehen gezwungen sahen.60

Die Krise der demokratischen Praxis Die strukturellen Demokratiedefizite standen ihrer Behebung im Wege; die demokratische Praxis geriet hierdurch in eine manifeste Krise. Diese wirkte sich – gerade weil der Praxis selbst eine entscheidende erkenntnisrelevante Bedeutung zukam – in ungleichzeitigen bis konträr verlaufenden Erkenntnisprozessen unter den Beschäftigten, ihren Gremien und den geschäftsführenden Personen aus. Letztere reduzierten diese Demokratiedefizite auf vermeintliche Missverständnisse, eine Bewusstseinsfrage und Ausdruck eines unter den Beschäftigten fehlenden Willens. Ihre an die Belegschaft gerichteten Appelle zum Engagement, zum Verzicht oder zur Akzeptanz verschlechterter Arbeitsbedingungen verbanden sie daher – anstatt sich über die Voraussetzungen hierfür zu verständigen – mit einem neuen Autoritarismus. Jenseits der Aufbrüche in der betrieblichen Praxis erschien den meisten Beschäftigten die Selbstverwaltung als ein von außen herangetragenes Modellprojekt, mit dem sie –eben weil sie hierauf keinen Einfluss nehmen konnten – nur wenig zu tun hatten. Die Arbeit in den Belegschaftsgremien blieb ein exklusives und unbezahltes Ehrenamt. Dass auch vormals aktiv mitwirkende Beschäftigte hieran das Interesse verloren, lag weniger an einem zwangsläufig sich aufbrauchenden Idealismus als vielmehr in einer nachlassenden Bereitschaft, die eigene Freizeit für eine Arbeit zu opfern, die letztlich doch nicht gewürdigt und folglich als sinnlos erlebt wurde. Aus der durch die Eigenmächtigkeit der geschäftsführenden Personen lancierten Ineffizienz der Gremienarbeit – der fehlenden Anerkennung und der ins Leere laufenden Bemühungen zur Lösung der vielfältigen Probleme – resultierte ein enormes Konflikt- und Frustrationspotenzial, die meisten Belegschaftsvertreter*innen legten ihr Amt früher oder später aus Enttäuschung, Ohnmacht und Resignation nieder.61 Die zunehmende Teilnahmslosigkeit der Belegschaft ist daher insgesamt als Resultat des konfliktbehafteten Prozesses der Selbstverwaltung zu deuten. Wie die bisherige Untersuchung zeigte, ergriffen die Beschäftigten keineswegs zu wenig, sondern in den Augen der geschäftsführenden Gremien schlichtweg die falschen Initiativen. Ein Bewusstsein konnten die Beschäftigten demnach nur erlangen, indem

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Besonders anschaulich war dieser Zirkelschluss bei der Zweiofenumstellung, die die geschäftsführenden Gremien gegen Widerstand aus der Belegschaft durchgesetzten. Als vermeintliche Lösung beförderten sie hiermit die eigentlich zu verhindernde Liquiditätskrise; das produktionstechnische Scheitern schuf erst jene Sachzwänge für die Einführung und Aufrechterhaltung von Kurzund Samstagsarbeit, die den Entscheidungsträgern angesichts der allgemeinen Krise als alternativlos erschienen, weshalb sie die Belegschaft dazu zwangen. Siehe Kapitel 5 und 7. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Holger Neumer], 13. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 2; [Udo Baldauf] in Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 29. November 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 1; [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 1), S. 10–17; [Nowak] et al., [1974] (s. Anm. 33), S. 13f.; Protokoll Gesellschafterversammlung, 19. September 1974, in: AGI; [Frank Weber] an Gesellschafterversammlung (GHS), 15. April 1975, in: AGI.

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sie eine bedingungslose Bereitschaft zu Verzicht und Mehrarbeit aufbrachten und eine Einsicht in die vermeintlich aus den ökonomischen Sachzwängen resultierenden, indes von den geschäftsführenden Personen definierten Notwendigkeiten. Für die Beschäftigten kam diese den eigenen praktischen Erfahrungen, Wissensbeständen, demokratischen Ansprüchen und Interessen zuwiderlaufende Erwartung des Geschäftsführers und der gewerkschaftlichen Repräsentanten einer Unterwerfung gleich. Wenn jemandem also ein fehlendes Bewusstsein zu attestieren war, dann in erster Linie den geschäftsführenden Personen – und zwar hinsichtlich der Wirkmächtigkeit der im selbstverwalteten Betrieb bestehenden Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen und ihrer eigenen sehr zentralen und hierdurch den Demokratisierungsprozess behindernden Position. Der Belegschaft das Bewusstsein abzusprechen, ermöglichte es ihnen, sich der Kritik an ihrem undemokratischen Vorgehen sowie den hierdurch re-/produzierten Barrieren im Zugang zu Wissen, Informationen und Entscheidungen zu entledigen und zugleich die eigenen demokratischen Ansprüche – denen sich Fabian wie [Müller] in ihrem Selbstverständnis ja bis zuletzt verbunden sahen – zu wahren.

8.2 Solidarität versus Loyalität. Von der Politisierung zur Moralisierung der (Macht-)Konflikte Sowohl Solidarität als auch Loyalität verpflichten im Handeln auf individuellen Interessen übergeordnete Wert- und Zielvorstellungen. Im hier verwendeten Begriffsverständnis impliziert Solidarität eine (angestrebte) Beziehung unter Gleichen und eine freiwillige, mitunter als Bedürfnis empfundene Bereitschaft, andere Menschen im Kampf um ihre Rechte zu unterstützen, während Loyalität vor allem auf eine vertikal verlaufende Beziehung und den mehr oder weniger freiwilligen Gehorsam der Untergebenen gegenüber Autoritäten referiert.62 (In der Regel explizit ergriffene) Strategien der Politisierung zielen auf die Herstellung von Öffentlichkeit zur Durchsetzung von Interessen durch Aushandlungsprozesse ab. In (häufig implizit verlaufenden) Prozessen der Moralisierung wird Legitimation zur Durchsetzung von Interessen hingegen durch die Bezugnahme auf geteilte Werte und damit auf einer nicht verhandelbaren Ebene hergestellt.63 Diese Begriffe werden im Folgenden herangezogen, um die Auswirkungen der sich verfestigenden Krise der demokratischen Praxis in der Glashütte Süßmuth auf den sozialen Zusammenhalt in der Belegschaft in ihrer wechselseitigen Bedingtheit zu erfassen. Denn diese Folgen waren gewichtige Faktoren für das Ende der Selbstverwaltung. Die lange Zeit erfolgreiche Unternehmensführung von Richard Süßmuth beruhte auf der Loyalität der leitenden Angestellten und der Belegschaft gegenüber ihm als Eigentümer und der »Betriebsgemeinschaft«. In dieser Loyalitätsbeziehung waren die

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Siehe Kurt Bayertz, »Begriff und Problem der Solidarität«, in: Ders. (Hg.), Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt a.M. 1998, S. 11–53, 11; Jana Osterkamp und Martin Schulze Wessel, »Texturen von Loyalität. Überlegungen zu einem analytischen Begriff«, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (2016), S. 554. Das hier angewandte Verständnis von Politisierung und Moralisierung basiert auf Diskussionen mit Anne Sudrow und Jens Beckmann.

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Beschäftigten aufgefordert, ihre Bedürfnisse dem allein von Süßmuth definierten »Betriebswohl« unterzuordnen. In der Unternehmenskrise erodierten die Voraussetzungen für eine solche Loyalität, weil Süßmuth die zunehmenden Komplikationen nicht zu meistern vermochte und dennoch keine Reformbereitschaft zeigte. Im Zuge einer Politisierung der betrieblichen Auseinandersetzung gelang es der Belegschaftsinitiative, diese Pattsituation innerhalb des Unternehmens zu durchbrechen und die Forderung nach Selbstverwaltung als sowohl das Interesse der Gemeinschaft im Betrieb wie auch das eines in Solidarität verbundenen und über den Betrieb hinausreichenden Kollektivs der Arbeitenden zu artikulieren. Für ein geschlossenes Auftreten gegenüber dem Unternehmer Richard Süßmuth und potenziellen Geldgebern war die Einheit der Belegschaft ein notwendiges soziales Konstrukt. In der akuten Situation des drohenden Konkurses half dieses, innerhalb der heterogenen Belegschaft bestehende Differenzen temporär zu überwinden, die aber nach der erfolgreichen Betriebsübernahme in neuer Intensität zutage traten. In den Konflikten der Selbstverwaltung überlagerten sich verschiedene Aspekte. Sie bezogen sich stets auf konkrete betriebliche bzw. unternehmerische Sachverhalte, verdichteten sich entlang der neuen Kompetenzverteilung im selbstverwalteten Unternehmen, entlang tradierter, aus den Arbeitsabläufen resultierender Hierarchien und Statusunterschiede sowie entlang persönlicher Dispositionen, denen gleichwohl eine zum Teil strukturelle, weil beispielsweise genderspezifische Komponente innewohnte: Männliches Dominanzverhalten und eine weibliche Sozialisation der Zurückhaltung erschwerten sowohl die Klärung als auch selbst die Benennung dieser Konfliktkonstellation. Das Fehlen eines offiziellen Modus zur Austragung und Beilegung von Konflikten erschwerte einen konstruktiven Umgang, um den Ursachen auf den Grund zu gehen und im besten Fall zu einer für alle Beteiligten tragbaren Lösung zu gelangen. Kompensiert werden konnte dieses strukturelle Defizit zu Beginn der Selbstverwaltung durch das Vertrauen der Beschäftigten untereinander und gegenüber den geschäftsführenden Gremien bzw. externen Unterstützern auf der einen Seite sowie der Zuversicht auf künftige Verbesserungen auf der anderen Seite.64 Die Grundlagen für diesen informellen Modus der Konfliktbearbeitung begannen jedoch mit der seit 1973 erneut krisenhaften Unternehmensentwicklung zu schwinden. In zunehmendem Maße verlagerten sich Konflikte von der sachlichen auf die Beziehungs- und schließlich auf die persönliche Ebene. Zugleich erfolgte eine Verengung der mehrschichtigen Konfliktlage, die allein als Widerstreit von Einzel- und Gesamtinteressen verhandelt wurde.

Einzel- versus Allgemeininteressen? Aus demokratietheoretischer Perspektive ist der »Vorwurf, da mache jemand nur sein oder ihr Partikularinteresse geltend«, ein antidemokratischer Akt.65 »Denn gerade von

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[Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 1), S. 7f., 14. Folgendes aus Alex Demirović, »Wirtschaft und Demokratie«, in: Axel Weipert (Hg.), Demokratisierung von Wirtschaft und Staat. Studien zum Verhältnis von Ökonomie, Staat und Demokratie vom 19. Jahrhundert bis heute, Berlin 2014, S. 39.

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diesem Partikularinteresse lebt die demokratische Vermittlung des Allgemeininteresses.« Die Partikularinteressen stoßen, werden sie zur Geltung gebracht, den demokratischen Prozess erst an, wodurch der »Raum des Allgemeinen immer offen« gehalten wird und – aus radikaldemokratischer Perspektive – offen gehalten werden muss.66 Die inhaltliche Bestimmung der Einzel- und Allgemeininteressen ist damit entweder – im demokratischen Sinne – ein Resultat von Aushandlungsprozessen oder – im antidemokratischen Sinne – ein Resultat von Setzungen infolge von Definitionsmacht. Letzteres war in der Glashütte Süßmuth der Fall bzw. das Problem. Die geschäftsführenden Gremien unterschieden von Beginn an klar zwischen den Allgemein- und den diesen unterzuordnenden Einzelinteressen. Sie nahmen an, dass das »Gesamtwohl der Firma« im selbstverwalteten Unternehmen unmittelbar auch »das Gesamtwohl der Arbeiter sein müsste«.67 Dies zu erkennen gehörte für [Hans Müller] zum »Hineinwachsen« der Arbeiter*innen in ihre neue Rolle als Eigentümer und Unternehmer – ein Rollenverständnis wiederum, dass mit »viel Bewusstseinsbildung hergestellt werden« müsse.68 Die Beschäftigten sollten demnach zur Selbstdisziplin erzogen werden und ihre eigenen Bedürfnisse zum Wohle des Unternehmens zurückstellen. Die Definition der Allgemeininteressen stellten die geschäftsführenden Personen nicht zur Disposition, sondern leiteten diese – in der Annahme eines one best way der Betriebsund Unternehmensführung – aus ihren Gewissheiten über das richtige Wirtschaften ab. Den Beschäftigten und ihren Gremien unterstellten sie – formulierten sie von ihren Vorstellungen abweichende Vorschläge, widersetzten sich ihren Anweisungen oder entsprachen aus anderen Gründen nicht ihren Erwartungen – vorrangig materielle, (lohn-)egoistische Beweggründe. Zur Aufgabe des Geschäftsführers gehöre es daher, »das Gesamtwohl der Firma« auch gegen »die Interessen Einzelner oder die Interessen von Gruppen« durchzusetzen.69 Allein in dieser Hinsicht erschien [Müller] der Vorwurf des Betriebsratsvorsitzenden, er benehme sich wie ein Privatunternehmer, »vielleicht gar nicht so ungerechtfertigt«. Die Auseinandersetzungen über einen gerechten Lohn oder über gute Arbeit haben gezeigt, dass aus Perspektive der Belegschaft das Erreichen kollektiver Ziele nicht zwangsläufig in einem Gegensatz zu ihren individuellen Zielen stand. In der Selbstverwaltung brauchte es demnach weniger einen voluntaristischen Idealismus, der auf einem bedingungslosen Verzicht der eigenen Bedürfnisse basierte und dem tatsächlich die Gefahr eingeschrieben war, sich mit der Zeit zu verbrauchen. Vielmehr war vor allem eine gleichberechtigte Verständigung darüber notwendig, wie die verschiedenen Bedürfnisse im Interesse der gesamten Belegschaft auf einen Nenner gebracht werden könnten. Die individuellen Interessen der Beschäftigten waren dabei ebenso wenig allein auf materielle Aspekte reduzierbar wie das Allgemeininteresse auf den Betrieb und die »öko66

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Ebd., S. 39f.; Reinhard Heil und Andreas Hetzel, »Die unendliche Aufgabe. Perspektiven und Grenzen radikaler Demokratie«, in: Dies. (Hg.), Die unendliche Aufgabe. Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie, Bielefeld 2006, S. 10. [Hans Müller] in Wickert, 27. April 1973 (s. Anm. 42), S. 8. [Müller] in Ebd.; Weltbild, 26. Juli 1972 (s. Anm. 52), S. 29; Ebenso Typoskript »Probleme der unternehmerischen Willensbildung in belegschaftseigenen Unternehmen«, Vortrag [Hans Müller] für das Führungsseminar in Deidesheim, Mai 1973, in: FHI, Schöf-1225. Folgendes von [Müller] aus Wickert, 27. April 1973 (s. Anm. 42), S. 8.

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nomischen Notwendigkeiten«, über die ja sehr unterschiedliche Ansichten existierten. Das Problem in der selbstverwalteten Glashütte bestand somit nicht in erster Linie darin, dass von Seiten der Belegschaft zu viele Forderungen auf einmal erhoben wurden, wie die Darstellungen des Geschäftsführers nahelegten. Was der »Wille der Kolleginnen und Kollegen« war, problematisierte [Frank Weber] vielmehr als »Gretchenfrage«, über die am Ende der Selbstverwaltung selbst in den Belegschaftsgremien großes Unwissen herrschte.70 Infolge der strukturellen Defizite der demokratischen Praxis konnte die Mehrheit der Beschäftigten im belegschaftseigenen Unternehmen ihre Interessen kaum (mehr) zum Ausdruck bringen. Zugleich lagen nicht alle Interessen offen auf dem Tisch und waren damit auch nicht verhandelbar. Letzteres betraf die Interessen der Gläubiger bei der Bewilligung, Vergabe und Rückzahlung der Kreditmittel zu den von ihnen gesetzten (ungewöhnlich restriktiven) Konditionen. Nicht verhandelbar war das Interesse der Gewerkschaftsfunktionäre, mit dem Modell Süßmuth ein auch für andere Unternehmen vorbildhaftes Exempel zu statuieren – ein Ansinnen, dass sich infolge der von ihnen nicht erwarteten Probleme und vor dem Hintergrund der langwierigen Kontroverse über die Verabschiedung des Mitbestimmungsgesetzes relativ schnell in ein Interesse an einer politischen Schadenbegrenzung transformierte. Die involvierten Gewerkschafter waren durchweg bemüht, in der belegschaftseigenen Glashütte die Kontrolle zu behalten bzw. einen Kontrollverlust durch die befürchtete Einflussnahme und Unterwanderung durch linksradikale »Ideologen« zu verhindern. Nach außen hin galt es die Tarifstandards und damit die Reputation der Gewerkschaft auf überbetrieblicher Ebene zu wahren. Beides waren wiederum die ausschlaggebenden Gründe, weshalb Ende 1971 – neben den später offiziell angeführten ökonomischen Faktoren – die Belegschaftsgremien entmachtet, die Bildungsarbeit eingestellt und die Betriebszeitschrift verboten wurde.71 Das Interesse, ein öffentlichkeitswirksames Scheitern des Modells Süßmuth zu verhindern, teilte auch die Hessische Landesregierung, hatte die skandalerschütterte SPD in Hessen doch von Wahl zu Wahl um ihre Mehrheit zu fürchten. Diese den Verlauf der Selbstverwaltung am nachhaltigsten prägenden Interessen außerbetrieblicher Akteure standen in der Glashütte Süßmuth nicht zur Diskussion und waren zum Teil auch nicht transparent. Über die Hintergründe der Einstellung der Bildungsarbeit oder des Verbots der Betriebszeitschrift konnten die Beschäftigten lediglich Vermutungen anstellen. Darüber hinaus: Subjektive Interessen (am Arbeitsplatzerhalt oder am Lohn zur Sicherung der eigenen finanziellen Existenzgrundlage) verfolgten in der selbstverwalteten Glashütte nicht allein die Beschäftigten. Der Geschäftsführer [Hans Müller] war ebenso

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[Weber], 15. April 1975 (s. Anm. 61). Die Einstellung der Bildungsarbeit in der GHS hing offensichtlich auch damit zusammen, dass mit Heinz-Günter Lang, dem Geschäftsführer der IG-Chemie-Verwaltungsstelle Darmstadt, ein Vertreter des für den Hauptvorstand zunehmend unbequemen linken Flügels als Referent vorgesehen war. Das Verbot des Hüttenecho ging vermutlich auf die Angst der Funktionäre zurück, dass die Arbeitgeberverbände hierdurch vom Verzicht auf die volle Auszahlung des Weihnachtsgeldes erfahren. [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 34f.; [Klaus Boehm] an Belegschaft, 18. Dezember 1970, in: FHI, Schöf-1221; Schöfer, [1973/1974] (s. Anm. 42); [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 29), S. 11f.

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an seiner finanziellen Absicherung und auch am Erhalt des Lebenswerks seines Schwiegervaters Richard Süßmuth interessiert, während dem Gewerkschaftsfunktionär und SPD-Politiker Franz Fabian als »geistiger Urheber« des Modells Süßmuth ein nicht unerheblicher persönlicher Reputationsgewinn winkte bzw. -verlust drohte. Für die Durchsetzung ihrer Interessen standen den verschiedenen Personen und Gruppen in der Glashütte Süßmuth höchst ungleiche Voraussetzungen zur Verfügung.

(Un-)Möglichkeiten der Interessendurchsetzung und Polarisierung Die im Beirat versammelten Geldgeber und (im/materiellen) Bürgen besaßen in der belegschaftseigenen Firma die meisten Möglichkeiten, ihre (jeweils spezifischen) Interessen durchzusetzen. Mit dem Zurückhalten der Kreditmittel oder der mehrfachen Androhung eines »geordneten Rückzugs« bedienten sie sich hierfür punktueller, aber sehr wirkmächtiger Interventionen. Sie delegierten die Verantwortung für das laufende Geschäft an die von ihnen ernannte und gestützte Leitung und setzten das Belegschaftsunternehmen unter enormen Druck, die von ihnen formulierten Unternehmensziele zu erreichen, ohne hierfür konkrete Maßnahmen aufzuzeigen oder – wenn sie den eigenen Interessen widersprachen – zuzulassen. Die Niederungen der (betrieblichen wie demokratischen) Praxis interessierte sie nicht; sie wollten einfach, dass alles entsprechend ihrer Vorstellungen funktioniert. Um beim Beirat ein »gutes Bild« abzugeben, forderte der Geschäftsführer [Hans Müller] wiederum die Belegschaftsvertreter*innen zur Beilegung von Kontroversen auf.72 Indem [Müller] die unzulässige Einflussnahme des Beirats akzeptierte, reichte er den von diesem ausgeübten Druck an die Belegschaftsgremien und Beschäftigten weiter. Zu Beginn der Selbstverwaltung setzten sich die Belegschaftsgremien gegenüber der Eigenmächtigkeit und den »Einschüchterungsversuchen« der dreiköpfigen Geschäftsführung noch geschlossen »zur Wehr«.73 Sie kündigten zwei Geschäftsführern und gründeten anschließend einen geschäftsführenden Ausschuss.74 Die insbesondere in dieser Zeit diskutierten Lösungsansätze zur Behebung der Demokratiedefizite sollten die Möglichkeiten verbessern, die Interessen der Beschäftigten »vorbringen zu können«.75 Die Abberufung dieser kollektiven Geschäftsführung und ihre faktische Entmachtung durch den Beirat Ende 1971 konnten die Belegschaftsvertreter*innen allerdings nicht verhindern. Dass sich der Beirat diese grundlegende Veränderung der Entscheidungsstrukturen, wozu er offiziell nicht befugt war, anschließend von der Mehrheit der gänzlich unbeteiligten Beschäftigten absegnen ließ, nahmen sie empört als eine Taktik wahr, wie sie sie nur gegenüber »politischen Gegnern« kannten.76 Nach dieser Ohnmachtserfahrung 72 73 74 75 76

[Müller] zitiert in Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 25. November 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 3. [Frank Weber] zitiert in Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Frank und Monika Weber], 12. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 1f. Siehe Kapitel 4.2. Hüttenecho. Zeitung der Belegschaft der GHS, April 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 2. Redebeitrag [Frank Weber] auf Beiratssitzung vom 24. Februar 1972, vorgelesen von demselben in Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Frank und Monika Weber], 12. Dezember 1973, S. 1–3, im Besitz der Autorin.

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wählten die Beschäftigten unterschiedliche Strategien der Interessendurchsetzung, die – da kaum noch eine Verständigung darüber stattfand – zur Gruppenbildung führten. Zu der sich informell formierenden oppositionellen Gruppe gehörten mit [Paul Nowak] und [Rolf Schindler] zwei langjährige, gewerkschaftlich sehr engagierte und durch die Qualität ihrer Arbeit in der Belegschaft zudem hoch angesehene Glasmacher.77 Die auf ihrer Reputation im Betrieb beruhende Handlungsmacht hatte sich zu Beginn der Selbstverwaltung durch [Nowaks] Mehrfachfunktion als Gesellschafter, Beiratsmitglied und Sprecher des technischen Ausschusses sowie [Schindlers] Wahl zum Vorsitzenden des Betriebsausschusses erheblich erweitert. Ihr ausgeprägtes Engagement während der Betriebsübernahme stellte eine für ihr Agieren wichtige Legitimationsgrundlage dar. Insbesondere unter den Glasmachern besaßen beide großen Rückhalt. Mit [Konrad Scholz] und [Uwe Niemeier] zählten zu dieser Gruppe auch jene neu im Rechnungswesen der Glashütte tätigen Angestellten, die – trotz der vom Beirat geforderten Distanzierung – weiterhin Verbindungen zu externen Unterstützer*innen außerhalb des gewerkschaftlichen Einflussbereichs aufrechterhielten.78 Waren diese Angestellten aufgrund ihres Fachwissens unentbehrlich, so ermöglichte es ihre Arbeit in der Verwaltung, an Informationen zu gelangen, die der Geschäftsführer den Belegschaftsgremien mitunter vorenthielt.79 Gerade weil die Mitglieder dieser kleinen Oppositionsgruppe damit sowohl in den Arbeitsabläufen als auch in den Strukturen des Modells Süßmuth wichtige Positionen besetzten, konnten sie trotz der geringen Anzahl ihren Vorstellungen von der Selbstverwaltung Geltung verleihen. Mit ähnlicher Vehemenz, mit der einst Richard Süßmuth zur Übergabe des Betriebs bewegt wurde, forderte diese Gruppe von den geschäftsführenden Gremien eine gleichberechtigte Zusammenarbeit mit den Belegschaftsgremien ein. Sie plädierten für eine experimentelle Offenheit bei der Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen. Man müsse das Neue – wie beispielsweise die Abschaffung des Akkords – in der Praxis »erst einmal probieren«, auch ohne bereits im Vorfeld zu wissen, ob es sich bewähren wird.80 Zudem verlangten sie einen offensiven Umgang mit Konflikten. Mit gegenteiligen Meinungen und Kritik sowie den unterschiedlichen Bedürfnissen der Beschäftigten müsse man sich – notfalls im Streit – konsequent auseinandersetzen, wodurch auch die eigenen Vorannahmen und Routinen überprüft werden könnten und müssten.81 In beidem sahen sie wesentliche Bestandteile einer demokratischen Praxis und zugleich Wege, um zu einem gegenseitigen Verständnis wie auch zu neuen Erkenntnissen zu gelangen und ökonomisch sinnvolle wie nachhaltige Entscheidungen treffen zu können, die »uns« weiterbringen.82 Aufgrund der mehrfach schlechten Erfahrungen mit allein entscheidenden 77 78 79 80 81

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Zu dieser Gruppe habe bis zur offenen Konfrontation mit [Hans Müller] im Sommer 1973 auch der Glasmacher [Max Ulrich] gehört. [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 41. Zum sogenannten Freundeskreis siehe Kapitel 4.3. Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Konrad Scholz], [Paul Nowak] und [Uwe Niemeier], 29. Mai 1974, im Besitz der Autorin, S. 24f. [Nowak], 18. April 1973 (s. Anm. 29), S. 10. Diesen Aspekt hob [Max Ulrich] in seiner Wertschätzung der neuen Meinungsfreiheit hervor. Typoskript »Arbeiter als Unternehmer. Ein Experiment und seine Folgen«, Ulrich Wickert für Monitor (ARD), 19. März 1973, in: FHI, Schöf-1212, S. 2. Siehe bspw. [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 1), S. 14.

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Geschäftsführungen fühlte sich diese Gruppe zu ihrem Engagement für eine wirkliche Selbstverwaltung nicht nur berechtigt, sondern – im Bestreben, die Existenz der Glashütte und damit den Arbeitsplatz für alle Beschäftigten zu sichern – verpflichtet.83 Vor einem Rückzug Franz Fabians hatten sie (anders als die meisten Gesellschafter) keine Angst – im Gegenteil, sie sahen hierin eher, da Fabian von Anfang an als Bremser auftrat, eine Chance für den demokratischen Prozess.84 In der ersten Jahreshälfte 1973 begann die oppositionelle Gruppe, ihre Unzufriedenheit über den bisherigen Verlauf der Selbstverwaltung im wie außerhalb des Betriebs öffentlich zu machen. Ihre Kritik richteten sie – weil der Beirat als maßgebliches Entscheidungsgremium nicht erreich- bzw. angreifbar war – gegen [Hans Müller].85 Die Strategie, über eine Politisierung der betrieblichen Auseinandersetzung den Geschäftsführer zum Rücktritt zu bewegen, zeitigte insofern den gewünschten Erfolg, als [Müller] daraufhin seine Kündigung einreichte. Zugleich kam es nun aber zu heftigen Spannungen unter den Beschäftigten. Die sich mit ihrer Kritik exponierenden Glasmacher [Schindler] und [Nowak] verloren infolgedessen bei ihren Kolleg*innen an Ansehen. Durch den im Frühjahr 1973 vom Beirat erzwungenen Rücktritt von [Schindler] als Betriebsratsvorsitzender und die Abwahl von [Nowak] als Gesellschafter im Herbst 1973 schränkte sich auch ihr Handlungsspielraum stark ein. Der sich in seiner öffentlichen Kritik zurückhaltende Angestellte [Scholz] wurde hingegen zeitgleich in die Gesellschafterversammlung gewählt. Aus seiner Schlüsselposition im Rechnungswesen heraus begann er, sich nunmehr – »mit Raffinessen, mit Tricksen, mit Spielereien« – unlauterer und seinem eigenen Kollegialitätsanspruch gegenüber [Müller] eigentlich zuwiderlaufender Praktiken zu bedienen.86 Als einzig verbleibende Option, »um Sachen durchzusetzen«, war dies für ihn gerechtfertigt. Die Politisierung der Auseinandersetzung bewirkte – anders als während der Betriebsübernahme – im selbstverwalteten Betrieb eine Polarisierung. Die Mehrheit der Gesellschafter*innen lehnte das konfrontative Vorgehen der oppositionellen Gruppe als unnötig Unruhe stiftende Provokationen ab. Sie befürchteten, dass ein erneuter Wechsel in der Geschäftsführung ein negatives Zeichen gegenüber den Kund*innen sei, weshalb ihnen dahingehende Forderungen als unverantwortlich erschien. Obwohl sie die Kritik an [Müller] in den konkreten betriebs- und unternehmensbezogenen Sachverhalten mitunter teilten, waren sie der Ansicht, ihm könnten nicht allein die Missstände im Unternehmen angelastet werden; vielmehr sahen sie sich mit ihm »an einem Strick« ziehen.87 Angesichts der komplexen Problemlage im Unternehmen, deren Lösung zum Teil die eigenen Kompetenzen überstieg, schätzten sie den Beirat als hilfreiches Gremium wohlmeinender Experten, dem sie wie auch den gewerkschaftlichen Stellvertretern weiter-

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Ebd., S. 5f.; [Konrad Scholz] in [Scholz] et al., 29. Mai 1974 (s. Anm. 79), S. 24; [Nowak] et al., [1974] (s. Anm. 33), S. 3–5; [Paul Nowak] in Protokoll Außerordentliche Gesellschafterversammlung (GHS), 28. Juni 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 5. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak], 6. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 8. Siehe Kapitel 4.2 und Kapitel 4.3. Folgendes von [Konrad Scholz] aus [Scholz] et al., 29. Mai 1974 (s. Anm. 79), S. 24–26. Gesellschafterversammlung, 28. Juni 1973 (s. Anm. 83), S. 3.

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hin großes Vertrauen entgegenbrachten.88 Das Selbstbewusstsein der oppositionellen Gruppe, fachlich richtige Entscheidungen auch gegen das »Expertenurteil« treffen zu können, empfanden sie als vermessen. Diese eher zögerliche Haltung vieler Gesellschafter*innen mag auch durch die für sie ungeklärte Haftungsfrage befördert worden sein. Im Gegensatz zur oppositionellen Gruppe – die offensiv die Machtfrage stellte und selbstbewusst die Auseinandersetzung suchte – übten die in dieser Hinsicht gemäßigt auftretenden Belegschaftsvertreter*innen bei ihrer Analyse der Probleme der Selbstverwaltung zunächst vor allem Selbstkritik an der eigenen Arbeitsweise, die sie durch organisatorische Reformen zu professionalisieren gedachten.89 Allein das »Absägen« des Geschäftsführers, ohne ein »Konzept« zu besitzen – wie es der oppositionellen Gruppe unterstellt wurde –, helfe nicht weiter, denn dann laufe »nur noch viel mehr schief«.90 Die sich zuspitzende Konfliktlage interpretierten diese Belegschaftsvertreter*innen – ebenso wie die geschäftsführenden Gremien – als Resultat von Missverständnissen, die mit der Zeit, mit Bildungs- und Bewusstseinsarbeit, vor allem aber in einer kollegialen Diskussionskultur, mit einem »vernünftigen Ton« und mit »Einfühlungsvermögen« geklärt werden könnten und müssten.91 In der Annahme, im Betrieb könne sich doch »jeder offen aussprechen«, ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen, befremdete sie vor allem, wie die oppositionelle Gruppe ihre Kritik am Geschäftsführer vorbrachte, die ihnen als »Rufmord« erschien.92 Auf Ablehnung stießen zudem das klandestine Vorgehen und der avantgardistische Gestus, mit dem sich die oppositionelle Gruppe aus strategischen Gründen vom Rest der Belegschaft abgesondert bzw. – so der implizite Vorwurf – über sie erhoben hatte.93 Hieran wird ersichtlich: Nicht nur die geschäftsführenden Personen, sondern auch die gemäßigten Belegschaftsvertreter*innen waren (anfangs) blind gegenüber den sich im selbstverwalteten Betrieb neu konstituierenden und in der Kritik der oppositionellen Gruppe offengelegten Abhängigkeits- und Machtverhältnissen, die sie (zunächst) nicht problematisierten bzw. die ihnen als durch individuelle Anstrengungen überwindbar erschienen. In Verkehrung der Verhältnisse deklarierten sie jene, die sich mit ihren begrenzten Mitteln für eine umfassendere Demokratisierung einsetzten, als deren Hindernisse. Dabei hatte sich die oppositionelle Gruppe gerade infolge der mehrfachen Erfahrungen konstituiert, dass jemand, der Demokratiedefizite offen kritisierte, mit massiven Anschuldigungen und hohem Druck rechnen musste.94 Mit ihrem Einsatz für das

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[Manfred Hübner] in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 25; Ebenso [Willi Voigt] und [Holger Neumer] in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 34), S. 12f. [Frank Weber] in Transkript Belegschaftsversammlung, undatiert [September 1973], im Besitz der Autorin, S. 1f. Siehe Kapitel 4.3. [Hübner] zitiert in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 39, 42. [Hübner] zitiert in Belegschaftsversammlung, [September 1973] (s. Anm. 89), S. 5. [Frank Weber] zitiert in [Webers], 12. Dezember 1973 (s. Anm. 73), S. 5. [Frank Weber] und [Walter Albrecht] zitiert in Gesellschafterversammlung, 28. Juni 1973 (s. Anm. 83), S. 3. [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 38f. Über die hiervon ausgehenden nervlichen Belastungen sprachen [Rolf Schindler] und [Konrad Scholz] in [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 1), S. 2f., 14f.; [Scholz] et al., 29. Mai 1974 (s. Anm. 79), S. 24.

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einst geteilte Anliegen hatten [Schindler] und [Nowak] selbst bei den eigenen Kolleg*innen an Glaubwürdigkeit verloren. In ihrer Kritik am Verlauf der Selbstverwaltung, die für sie unmittelbar verbunden war mit der Sorge um die wirtschaftliche Existenz des Unternehmens und damit um die Arbeitsplätze aller Beschäftigten, standen sie als »Störer« im demokratischen »Wachstumsprozess« zuletzt isoliert da.95 Die Verständigung über die kollektiven Interessen der Belegschaft, deren Durchsetzung und vor allem deren Verteidigung gegenüber dem zunehmend eigenmächtigen Vorgehen der geschäftsführenden Gremien geriet hierüber in den Hintergrund. Für die Mehrheit der Beschäftigten gehörten die Belegschaftsgremien bald schon zu denen »da oben«, die die Entscheidungen trafen, während sie selber »nichts zu sagen« hatten.96 Auf der anderen Seite sahen sich auch die Belegschaftsvertreter*innen zunehmend von den Beschäftigten getrennt, deren Ansichten und Verhaltensweisen sie mitunter nicht mehr nachvollziehen konnten.97

Delegitimierung von Belegschaftsinteressen durch Moralisierung Den Konflikten der Selbstverwaltung lagen – jenseits unterschiedlicher Vorstellungen vom richtigen Wirtschaften sowie jenseits von Missverständnissen und persönlichen Dispositionen – echte Interessen- und Machtkonflikte zugrunde, die in der Glashütte Süßmuth jedoch nicht als solche verhandelt wurden bzw. verhandelt werden konnten. Für die geschäftsführenden Gremien waren diese Konflikte von Beginn an ein Politikum. Ihre Position und Interessen, die sie als allgemeingültige deklarierten, drohten durch die von den Beschäftigten und ihren Gremien eingeforderten Ansprüche auf gleichberechtigte Teilhabe infrage gestellt und gefährdet zu sein. Aus Angst vor einem Kontrollverlust wehrten sie diese Ansprüche ab. Diese (bewusst oder unbewusst empfundene) Bedrohung beförderte in den geschäftsführenden Gremien jene beschriebene Tendenz zur Abstraktion von der betrieblichen wie demokratischen Praxis. Erst hierdurch war es ihnen möglich, den auf konkrete Sachverhalte bezogenen Vorschlägen und Beschwerden aus der Belegschaft eine egoistische oder eine politische, in beiden Fällen aber eine unökonomische und damit unlautere Motivation zu unterstellen. Auf Lohnegoismus oder sonstigen individuellen Interessen folgendes Fehlverhalten der Beschäftigten und insbesondere der Glasmacher führten sie die betrieblichen Konflikte (Neueinstellung der Krugmacher, Werkstellenbesetzung, Ofenstilllegung) und sogar fertigungsbedingte Besonderheiten (Lohnkostenhöhe, Ausschussquote, Produktspezialisierung) zurück. Die Einführung einer Teilkostenrechnung oder der Aufbau eines Direktvertriebsnetzes erschienen ihnen als utopisches Vorhaben eines politisch verdächtigen Personenkreises, die es – weil das Unternehmen nicht nach »Ideologien« sondern »nach betriebswirtschaftlichen Methoden« geführt werden müsse – zu verhindern galt.98 95 96 97 98

Gesellschafterversammlung, 28. Juni 1973 (s. Anm. 83), S. 4f.; [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 38–40. Problematisiert von [Frank Weber] in Braun et al., Süssmuth e.V. (s. Anm. 22), S. 18; [Holger Neumer] in Senger, 27. September 1973 (s. Anm. 18), S. 11. [Nowak] et al., [1974] (s. Anm. 33), S. 1–5; [Weber], 15. April 1975 (s. Anm. 61). Bericht RKW Hessen über die Betriebsberatung der GHS, 18. Februar 1972, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 6; Wilhelm Leveringhaus an Franz Fabian, 10. Mai 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 2.

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Mit der Polarisierung näherten sich die moderaten Belegschaftsvertreter*innen in ihren Deutungen jenen der geschäftsführenden Personen an. Das konfrontative Auftreten von [Schindler] und [Nowak] gegenüber [Müller] führten auch sie nunmehr auf eine vermeintliche Fernsteuerung und Instrumentalisierung durch eine über [Scholz] vermittelte »außenstehende Gruppe« zurück, deren Existenz sie gleichwohl nur vermuteten.99 In Referenz auf den zeitgenössischen Antikommunismus, der ja auch den Wahrnehmungshorizont der geschäftsführenden Gremien prägte, verglichen sie das Vorgehen der oppositionellen Gruppe mit dem Terror der RAF oder der Kulturrevolution in China, wo demokratische bzw. sozialistische Prozesse jeweils von kleinen radikalen Splittergruppen »kaputt« gemacht worden seien.100 Das von den geschäftsführenden Personen und moderaten Belegschaftsvertreter*innen gleichermaßen geteilte Bemühen um Entpolitisierung hatte letztlich eine Moralisierung der Konflikte zur Folge. Diese verlagerten sich dabei auf eine Ebene, auf der die Konfliktursachen, Bedürfnisse und Interessen nicht mehr verhandelbar waren. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit als politisch motiviert wahrgenommenen Vorstellungen könne sich die Belegschaftsfirma »nicht leisten«, da diese »erst einmal aus den roten Zahlen raus muss, um ein Polster zu kriegen.«101 Entkräftet wurden die Reformvorschläge der oppositionellen Gruppe auch durch Aufforderungen zum »Maßhalten« oder zu guter und qualitativ hochwertiger Arbeit.102 Im Rekurs auf die in der Belegschaft geteilte Arbeitsmoral und »ökonomische Vernunft« verloren nicht nur die von den Ansichten der geschäftsführenden Gremien differierenden Meinungen oder die Kritik an strukturell bedingten Missständen ihre Berechtigung, sondern selbst auch einst legitime Forderungen: Lohnforderungen oder Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen waren angesichts der finanziell prekären Lage der belegschaftseigenen Firma mit dem Vorwurf der egoistischen Bereicherung auf Kosten der Gemeinschaft behaftet. Dass der Betriebsrat auf die ihm zustehenden Rechte bestand, erschien nun als unlauter.103 Durch die Unterstellung von eigennützigen und damit dem Allgemeininteresse abträglichen Beweggründen waren dahingehende Wortmeldungen im belegschaftseigenen Betrieb »disqualifiziert«, das hieß delegitimiert.104

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Personen wie der frühere Finanzleiter [Dietrich] oder der RKW-Berater [Wiege] gerieten in Verdacht, sich unter dem Vorwand fachlicher Kritik an die Spitze des Unternehmens »putschen« und aus diesem Grund [Hans Müller] verdrängen zu wollen. Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Wolfgang Franke] und [Frank Weber], 13. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 2f.; [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 37f. [Franke] und [Weber], 13. August 1973 (s. Anm. 99), S. 5; [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 38. Namentlich nicht bekanntes Betriebsratsmitglied in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 38. [Holger Neumer] zitiert in Senger, 27. September 1973 (s. Anm. 18), S. 9f.; Ebenso Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Holger Neumer], [Willi Voigt] und namentlich unbekanntem Arbeiter, 22. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 3. [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 1), S. 7f. [Manfred Hübner] zitiert in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 41f.; Ebenso [Hans Müller] in »Die rote Hütte«, in: Konkret, März 1972, in: AGI.

Die Gründe für das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Personalisierung strukturell bedingter Konflikte Mit der Polarisierung und Moralisierung ging eine Personalisierung der Konflikte einher. Die Kritik des Betriebsratsvorsitzenden am Geschäftsführer, die im Kern sowohl den Zustand der Selbstverwaltung als auch vor allem die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens betraf, wurde in der Gesellschafterversammlung auf »eine einzelne Meinung« reduziert, die nur mit »private[n] Dinge[n]« zusammenhängen könne.105 Das taktische Agieren des bereits vor der Selbstverwaltung in der betrieblichen Interessenvertretung exponierten [Paul Nowak] wurde ihm nun als politische »Heimatlosigkeit«, Opportunismus oder sogar als Ausdruck einer Schizophrenie ausgelegt.106 Als pathologisch begannen die Beschäftigten auch das Verhalten von [Hans Müller] einzuordnen. Den Angehörigen der oppositionellen Gruppe erschien die ihm attestierte Unfähigkeit, einen professionellen Umgang mit Kritik zu entwickeln, und seine mangelnde Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Belegschaftsgremien als Ausdruck von Komplexen und Verfolgungsängsten.107 Die moderaten Belegschaftsvertreter*innen führten die internen Konflikte teils ebenfalls auf eine persönliche Schwäche des Geschäftsführers zurück, der zu wenig »hart durchgreifen« würde.108 [Müller] sei »zu kollegial« gewesen, was sich die »Baader-Meinhof-Gruppe« [Schindler], [Scholz] und [Nowak] habe zunutze machen können, um ihn als Geschäftsführer zu demontieren.109 Über die sich überlagernden Ursachen der Konflikte und die diesen zugrunde liegenden strukturellen Defizite der demokratischen Praxis – wie sie sich anhand der Geschäftsführerfrage im Sommer 1973 zugespitzt hatten – konnte in der belegschaftseigenen Glashütte keine Verständigung stattfinden; sie blieben aus Perspektive der Zeitgenoss*innen uneindeutig und für die meisten unbegreiflich. Die sich häufenden und sich ständig wiederholenden Konflikterfahrungen hatten quer durch sämtliche Gremien und Statusgruppen verlaufende Verwerfungen zur Folge. Die aus dem polarisierenden und personalisierenden Modus der Konfliktbearbeitung resultierenden Vorwürfe, Schuldzuweisungen und Verletzungen führten schließlich in eine Sackgasse; sie trugen maßgeblich zur allgemeinen Frustration und Resignation bei und wirkten sich nachhaltig negativ auf die bis dahin sehr engen Sozialbeziehungen aus.110 Als vermeintlich einzige Lösung für die Probleme im Unternehmen war nur noch der Appell an den guten Willen und an die Verantwortung eines jeden Belegschaftsmitglieds übrig geblieben.

105 [Fritz Ziegler] und [Friedrich Kramp] zitiert in Gesellschafterversammlung, 28. Juni 1973 (s. Anm. 83), S. 4; Ähnlich [Manfred Hübner] in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 37. 106 [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 37f., 41, 45–47. 107 [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 1), S. 6; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Bernd Dietrich] und [Konrad Scholz], 14. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 5–7; [Scholz] et al., 29. Mai 1974 (s. Anm. 79), S. 26. 108 [Fritz Ziegler] zitiert in Gesellschafterversammlung, 28. Juni 1973 (s. Anm. 83), S. 4; Ähnlich [Willi Voigt] in [Neumer] et al., 22. Januar 1974 (s. Anm. 102), S. 4; Protokoll Gespräch mit [Walter Albrecht], 15. Juli 1993, erstellt von Friedrich-Karl Baas, in: AGI, S. 4. 109 [Wolfgang Franke] zitiert in [Franke] und [Weber], 13. August 1973 (s. Anm. 99), S. 5. 110 Siehe Kapitel 5.4.

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Die Sehnsucht nach der Gemeinschaft in den Trümmern des Kollektivs Mit Aufforderungen zur Loyalität mit der Geschäftsführung versuchte der Beirat von Beginn an, interne Konflikte beizulegen und einen Konsens im Unternehmen herzustellen. Die von den Belegschaftsgremien anfangs noch gemeinsam vorgebrachte Kritik an der dreiköpfigen Geschäftsführung wehrte er mit der Unterstellung von Separatismus ab.111 Nach der Absetzung des geschäftsführenden Ausschusses im Dezember 1971 mussten sich die leitenden Angestellten auf eine künftig einvernehmliche Zusammenarbeit mit dem zum alleinigen Geschäftsführer ernannten [Hans Müller] verpflichten, dem sie sich seitdem unterzuordnen hatten.112 Als [Müller] im Sommer 1973 seinen Rücktritt ankündigte, forderte der Beirat – um ihn zum Verbleib im Unternehmen zu bewegen – die Führungskräfte erneut zu einer diesmal schriftlichen Erklärung auf, dass sie künftig »eng und loyal mit dem Geschäftsführer« zusammen arbeiten werden.113 Allein [Konrad Scholz] verweigerte sich dieser Loyalitätserklärung und gab – da der Beirat einen von ihm geforderten Personalwechsel in der Geschäftsführung ablehnte – seine Kündigung zu Ende 1973 bekannt, die er dann aber nicht realisierte.114 Dieser eingeforderten Unterwerfung hatten sich die Mitglieder der oppositionellen Gruppe widersetzt und die anderen Belegschaftsvertreter*innen gefügt.115 Letztere begegneten Ersteren mit ähnlich autoritären Zügen, wie sie das Auftreten der geschäftsführenden Gremien zuvor bereits angenommen hatte. Die »Kollegen« standen nunmehr einander in den Rollen des »Unternehmers« und »Arbeiters« gegenüber. Der Formenmacher [Friedrich Kramp] fand bei den anderen Gesellschaftern Zustimmung mit seiner Forderung, dass »solche Leute […] raus vor die Tür [müssen]. Wenn jemand immer wieder quer treibt, müssen wir uns von ihm trennen.«116 Um »endlich in Ruhe arbeiten [zu können] und […] vorwärts[zu]kommen«, erachtete es auch der Abteilungsleiter der Rauschleiferei [Josef Lehmann] als notwendig, »die zwei Leute ([Nowak] und [Schindler])« zu entlassen.117 Aus »Angst« vor den geschäftsschädigenden Auswirkungen eskalierender Konflikte – vor Augen geführt durch die Kündigung von [Hans Müller] – begannen die gemäßigten Belegschaftsvertreter*innen ebenfalls in den Kategorien eines zwangsläufigen Widerstreits zwischen Einzel- und Allgemeininteressen zu denken, demnach der individuelle »Egoismus« zur Wahrung des »Gesamtinteresse[s] der Firma«

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[Weber], 24. Februar 1972 (s. Anm. 76). Der Vertriebsleiter [Jürgen Schmitz], der Betriebsleiter [Rudolf Woge] und der Angestellte im Rechnungswesen [Konrad Scholz] mussten auf der Beiratssitzung am 20. Dezember 1971 eine dementsprechende mündliche Erklärung abgeben. Protokoll Beratung der betriebsexternen Beiratsmitglieder (GHS), 20. Dezember 1971, in: FHI, Schöf-1228, S. 197. Loyalitätserklärung, 10. Juli 1973, in: FHI, Schöf-1226. Protokoll Beirat (GHS), 10. Juli 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 4. Auch die Gesellschafter und der Betriebsratsvorsitzende mussten der vom Beirat eingeforderten Loyalitätserklärung zustimmen. Ebd. Gesellschafterversammlung, 28. Juni 1973 (s. Anm. 83), S. 4f. Ebd. Diese Forderung entbehrte jeglicher Rechtsgrundlage. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] am 23. Februar 1974, im Besitz der Autorin, S. 3f., 7; [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 1), S. 10.

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zurückzudrängen sei.118 Auf der Basis ihres zum damaligen Zeitpunkt noch bestehenden Vertrauens in [Müllers] fachliche Kompetenzen überließen es die Gesellschafter dem Geschäftsführer, das »Gesamtinteresse« zu definieren. Vor dem Hintergrund der sich im Betrieb zuspitzenden Problem- und Konfliktlage erhielt die Position eines dieses »Gesamtinteresse« notfalls mit Zwang durchsetzenden Geschäftsführers auch in Teilen der Belegschaftsgremien (wieder) eine Berechtigung. Zeitgleich aktualisierte sich unter den Belegschaftsvertreter*innen die Vision einer widerspruchsfreien Gemeinschaft, wie sie einst Richard Süßmuth adressierte und wie sie [Hans Müller] und die Gewerkschaftsfunktionäre im selbstverwalteten Betrieb durchweg vorausgesetzt hatten.119 Der Glasmaler [Frank Weber] forderte beispielsweise die Glasmacher auf, in den Akkordverhandlungen statt ihrer eigenen Interessen die der »[Werks-]Familie« zu berücksichtigen, die »leben und […] existieren« muss.120 Der Glasmacher [Manfred Hübner] appellierte an das »Gemeinschaftsgefüge« früherer Zeiten, als »nur in der Gemeinsamkeit was beweg[t]« werden konnte.121 Nicht (mehr) die strukturellen Defizite der demokratischen Praxis, die der Gruppenbildung ja zugrunde lagen, sondern die Gruppenbildung selbst erhoben sie – wie die geschäftsführenden Gremien in ihrem Separatismusvorwurf – zum ursächlichen Problem.122 Denn man habe »viel, viel weiter« sein können, »wenn wir diese scheiß Querelen nicht dazwischen hätten«.123 Vermochte die Artikulation eines in Solidarität verbundenen Kollektivs der Arbeitenden während und unmittelbar nach der Betriebsübernahme den in der Unternehmenskrise brüchig gewordenen Konsens temporär herzustellen, verstärkte sich im konfliktträchtigen Verlauf der Selbstverwaltung dagegen der Appell an den Zusammenhalt einer zur Loyalität verpflichteten Gemeinschaft. Bestehende soziale Ungleichheiten und Hierarchien im Unternehmen wurden dabei – indem sie zur Wahrung eines nicht mehr verhandelbaren und aus den »ökonomischen Notwendigkeiten« abgeleiteten Allgemeininteresses vorerst als unveränderlich zu akzeptieren seien – auf neue Weise essentialisiert. Ein solch organisches Verständnis von Gemeinschaft teilte auch (der einst sozialistisch orientierte) [Konrad Scholz] in seiner Hinwendung zur Anthroposophie.124 Den Betrieb betrachtete er »als etwas Organisches«, mit einem »Körper« vergleichbar, in welchem jedem einzelnen Beschäftigten und jedem Gremium wie dem »Kopf«, der »Lunge« oder

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[Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 40; Gesellschafterversammlung, 28. Juni 1973 (s. Anm. 83), S. 4. 119 Siehe bspw. [Thomas Beike] an [Holger Neumer], 28. Juli 1972, in: FHI, Schöf-1227, S. 2. 120 [Frank Weber] zitiert in Belegschaftsversammlung, [September 1973] (s. Anm. 89), S. 5. 121 [Manfred Hübner] zitiert in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 38f. 122 Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Willi Voigt], 22. Januar 1974, im Besitz der Autorin, S. 25. 123 [Hübner] in [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 41. 124 Zu [Scholz’] Interesse an der Anthroposophie siehe Transkript Gruppeninterview der Autorin mit [Edith Scholz] und [Norbert Reuter], 21. März 2014, im Besitz der Autorin, S. 2; Transkript Interview der Autorin mit [Jochen Schmidt], 7. Februar 2013, im Besitz der Autorin, S. 4; Transkript Interview der Autorin mit Erasmus Schöfer, 24. Januar 2013, im Besitz der Autorin, S. 4.

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dem »Magen« spezifische Funktionen zukämen, die nur im Vertrauen und im harmonisch aufeinander abgestimmten Wirken funktionieren könnten.125 Das Beschwören einer organisch gedachten »Betriebsgemeinschaft«, der zuliebe Konflikte beizulegen und individuelle Bedürfnisse zurückzustellen seien, konnte in der Glashütte Süßmuth jedoch nicht mehr erfolgreich sein. Dagegen sprachen die zurückliegenden kollektiven Erfahrungen der Aufbrüche und der die Grenzen des Möglichen erweiternden Potenziale der Selbstverwaltung ebenso wie der erlebten Widerstände und persönlichen Angriffe, die entsolidarisierend und vereinzelnd wirkten. In den veränderten Machtverhältnissen, die im Folgenden beleuchtet werden, waren die Voraussetzungen für eine solche Vergemeinschaftung nicht mehr gegeben. Die vielen ungelösten Probleme und die aus der Blockade alternativer Lösungsansätze auf Ebene der unternehmerischen Entscheidungsfindung resultierende Pattsituation torpedierten einen stabilen Konsens im Betrieb. Die Interessengegensätze zwischen außenstehenden Instanzen und dem Belegschaftsunternehmen wie auch innerhalb der Firma ließen sich allein voluntaristisch, das heißt selbst bei bestem Willen, nicht auflösen.

8.3 Verantwortungsdiffusion und Krise der Repräsentation. Die Reproduktion alter Machtverhältnisse in neuer Form Manche Zeitgenoss*innen glaubten, in der Glashütte Süßmuth sei – mit der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln durch die Belegschaftsübernahme – der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit sowie die Ausbeutung der Arbeiter*innen überwunden worden.126 Dabei war allein die Figur des »Arbeitgebers« weggefallen, wodurch die Eindeutigkeit der betrieblichen Machtverhältnisse verloren ging, wie der Grafik-Student Florian Fischer konstatierte.127 In seiner Untersuchung war ihm nicht klar geworden, welches der Gremien »denn jetzt eigentlich Interessenvertreter der Arbeiter« und wie generell die interne Machtkonstellation zu bewerten ist: Es gehe »alles durcheinander, eine unerträgliche Situation. […] Unklarheiten über Freund und Gegner« spalte die Belegschaft. Der Zwang zum »unternehmerischen Denken« hindere sie darin, ihre Rechte wahrzunehmen. Sein Urteil fiel dementsprechend vernichtend aus: Die Selbstverwaltung sei »für die Arbeiter kein Fortschritt.« Die Glashütte war keineswegs den über den Betrieb hinausweisenden und in ihn hineinwirkenden Machtverhältnissen entzogen, die zudem nicht allein im Interessen-

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[Konrad Scholz] in Belegschaftsversammlung, [September 1973] (s. Anm. 89), S. 4. [Scholz] bezog sich hier auf das biologistische Konzept der »Dreigliederung des sozialen Organismus« von Rudolf Steiner. Siehe Kapitel 4.3. Siehe Stellungnahme der aus sechs Süßmuth-Beschäftigten bestehenden Redaktion von Hüttenecho, 9. Oktober 1971 (s. Anm. 31), S. S. 7f.; Ähnlich Franz Fabian in Rolf Fischer, »Arbeiter und Angestellte als Unternehmer. Richard Süßmuth hat seine Glashütte an die Belegschaft überschrieben«, in: FR, 25. März 1970, in: AGI; Hans See, »Arbeiterselbstverwaltung im Kapitalismus«, in: Fabian, Arbeiter (s. Anm. 25), S. 52; Wickert, 27. April 1973 (s. Anm. 42). Solche Vorstellungen waren auch in der britischen Genossenschaftsbewegung verbreitet. Chris Cornforth, Alan Thomas, Jenny Lewis u.a., Developing Successful Worker Co-operatives, London u.a. 1988, S. 5. Folgendes aus Fischer, Selbstverwaltete Glashütte (s. Anm. 18), S. 14.

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gegensatz zwischen Kapital und Arbeit begründet waren. Die von Fischer beschriebene Unübersichtlichkeit der betrieblichen Machtverhältnisse war Ausdruck ihrer intersektionalen Verwobenheit, die in der Glashütte Süßmuth nicht durch die Selbstverwaltung erzeugt, aber sichtbarer wurde. Gerade weil Kategorien sozialer Ungleichheit auch in den Handlungsroutinen der Akteur*innen als ein praktisches Wissen verinnerlicht waren, bedurfte es zur Umsetzung des mit der Selbstverwaltung verbundenen egalitären Anspruchs einerseits individuelle Anstrengungen aller Beteiligten zur Reflexion, um diese andererseits in einer kollektiven Praxis zu ändern. In der Auseinandersetzung und im Umgang mit den dabei offen zutage tretenden Machtasymmetrien lag die Chance, sozialen Ungleichheiten im selbstverwalteten Betrieb zumindest entgegenzuwirken. Zugleich lag hierin die größte Herausforderung, an der die Selbstverwaltung im Fall Süßmuth letztlich scheiterte. Denn sowohl in den geschäftsführenden Gremien als auch von einem großen Teil der Belegschaftsvertreter*innen wurden die Machtverhältnisse negiert bzw. nicht problematisiert. Infolge der Demokratiedefizite und der Moralisierung der Auseinandersetzungen reproduzierten sich – mit dem Beirat und der Geschäftsführung auf der einen, der Belegschaft und ihren Gremien auf der anderen Seite – letztlich klassische Machtverhältnisse gleichwohl in neuer Form, die in der Glashütte Süßmuth eine fundamentale Krise der Repräsentation beförderten.

Vom »Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis« zum Gläubiger-Schuldner-Verhältnis Die Übernahme des unternehmerischen Risikos war für Richard Süßmuth die wichtigste Legitimationsfigur für das Privateigentum an und die alleinige Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, mit der er die gewerkschaftlichen Mitbestimmungsforderungen zurückwies.128 Die Betriebsaktivisten der Glashütte Süßmuth betrachteten Privateigentum dagegen als Ausdruck eines Macht- und Herrschaftsverhältnisses.129 Denn vom wirtschaftlichen Aufschwung profitierten in erster Linie die Unternehmer, in Zeiten der Krise trugen jedoch die Arbeitenden durch die unmittelbare Bedrohung ihrer finanziellen Existenzgrundlage das größte Risiko für von ihnen nicht zu verantwortende unternehmerische (Fehl-)Entscheidungen. Eben hierauf gründete die politische Forderung nach der Demokratisierung der Unternehmen bzw. der Wirtschaft. Die Überführung der Glashütte Süßmuth in kollektives Eigentum der Belegschaft schien erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik diesem für die Arbeitenden bestehenden Risiko im eigentumsrechtlichen Sinne Rechnung zu tragen. Im Unterschied zu konventionellen Unternehmen sollte es ihnen hier möglich sein, selbst jene Entscheidungen beeinflussen und kontrollieren zu können, von deren Konsequenzen sie existenziell betroffen waren. Weil die Beschäftigten nun »in allen wichtigen wesentlichen Fragen selbst über ihr eigenes Schicksal […] voll mitbestimmen« könnten, seien sie – so beton-

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Siehe Kapitel 1.4. Folgendes von [Paul Nowak] aus Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 34), S. 7.

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ten Franz Fabian und [Hans Müller] unmittelbar nach der Betriebsübernahme – auch »für das betriebliche Schicksal […] voll verantwortlich«.130 Bereits während der Unternehmenskrise hatten die Beschäftigten ihre ausgeprägte Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für ihren Betrieb unter Beweis gestellt und sie waren dieser – durch ihre freiwillige Mehrarbeit, Verzichte oder Verbesserungsvorschläge – auch in den folgenden Jahren nachgekommen. Die Voraussetzungen für die Übernahme von Verantwortung schwanden für sie indes in der Krise der demokratischen Praxis. Da immer häufiger ihre Ansichten ignoriert und ihre Lösungsansätze blockiert wurden, lehnten die meisten Belegschaftsvertreter*innen früher oder später die Verantwortung für den Ist-Zustand ab. Die Mitglieder der oppositionellen Gruppe waren die ersten, die hierfür den Geschäftsführer [Müller] zur Rechenschaft ziehen wollten. Sie forderten ihn auf, für seine Entscheidungen und sein Handeln einzustehen, und empörten sich darüber, dass er die Erfolge im Belegschaftsunternehmen seiner eigenen Leistung zurechnete, die Schuld an der sich abzeichnenden krisenhaften Entwicklung aber den Beschäftigten zuschob.131 Mit der seit Ende 1973 erneut virulenten Konkursbedrohung wurde deutlich, dass die Mehrheit der Belegschaft den Beiratsvorsitzenden Franz Fabian und die Gewerkschaft in der Verantwortung für ihr Modell sah.132 Eine solche Verantwortung wiesen [Müller] und Fabian vehement von sich. Ihr von Beginn an eigenmächtiges Handeln hatten sie zwar mit ihrem Verantwortungsgefühl gerechtfertigt,133 eine tatsächliche, praktische Konsequenzen für die eigene Position nach sich ziehende Übernahme von Verantwortung verweigerten sie aber. Denn sie verstanden sich im Belegschaftsunternehmen lediglich als Garanten ökonomisch richtiger Entscheidungen. Zu Unrecht sah sich daher [Müller] in die Rolle des »Schuldigen« gedrängt.134 Beide zeigten sich letztlich »enttäuscht« ob der Undankbarkeit der Belegschaft, die ihre Anstrengungen nicht zu würdigen wüssten.135 Die Verantwortung für die Unternehmensentwicklung sahen sie – in der Annahme, die Voraussetzungen hierfür seien mit der Betriebsübernahme bereits erfüllt gewesen – allein auf Seiten der Belegschaft. Um die Folgen ihrer Entscheidungen nicht verantworten zu müssen,

130 Franz Fabian zitiert in Typoskript »Eigentum verpflichtet«, Ulrich Happel für Panorama (ARD), 6. April 1970, in: Privatarchiv Siebert, S. 4; Ebenso [Hans Müller] in »Warum dieser Chef 280 Arbeitern seine Fabrik schenkt«, in: Neue Revue, 12. April 1970, in: AGI, S. 20. 131 [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 1), S. 9; Siehe auch [Paul Nowak] in [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 22), S. 20f.; Ähnlich [Neumer], 13. August 1973 (s. Anm. 61), S. 4f. Siehe Kapitel 7.2. 132 [Nowak] et al., [1974] (s. Anm. 33), S. 3–5; [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 1), S. 10; Wilhelm Leveringhaus an Karl Hauenschild, 1. Oktober 1973, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. 133 [Hans Müller] an Gesellschafterversammlung (GHS), 30. September 1971, in: FHI, Schöf-1228; Ebenso [Hans Müller] in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 34), S. 7f.; Leveringhaus, 1. Oktober 1973 (s. Anm. 132); [Freil], 7. Januar 1974 (s. Anm. 15), S. 14. 134 Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Hans Müller], 13. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 1. 135 [Müller] in Beirat, 10. Juli 1973 (s. Anm. 2), S. 3f.; Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Hans Müller], 18. August 1973, im Besitz der Autorin, S. 1; Antony Terry, »We have ways of making a co-op work«, in: The Sunday Times, 24. November 1974, in: Privatarchiv [Müller]; Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 15), S. 1; Protokoll Beirat (GHS), 30. Mai 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2f.

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konnten sie sich die Demokratiedefizite in der belegschaftseigenen Glashütte zunutze machen. Das Neue an der Machtkonstellation in der Glashütte Süßmuth bestand somit im Fehlen von Personen, die eindeutig für die Unternehmensentwicklung zur Verantwortung gezogen werden konnten und hiermit ihre Entscheidungsgewalt gegenüber den Beschäftigten hätten legitimieren können.136 Stattdessen schritt nach der Belegschaftsübernahme eine Trennung der unternehmerischen Entscheidungsgewalt (der mit dem Eigentum verbundenen Rechte) von der Übernahme der unternehmerischen Verantwortung (der mit dem Eigentum verbundenen Pflichten) voran. Zumindest im Selbstverständnis des vorherigen Eigentümers war beides noch zusammengefallen. Aus der Verschuldung des Belegschaftsunternehmens hatte sich ein Abhängigkeitsverhältnis entwickelt, das den im Beirat vertretenen Gläubigern eine sehr mächtige Position einräumte. Der Interessengegensatz des »Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnisses« hatte sich in den eines Gläubiger-Schuldner-Verhältnisses transformiert und dabei zugleich auf eine für die Beschäftigten nicht mehr greifbare Ebene außerhalb des Unternehmens verschoben, auf der vermeintlich objektive Sachzwänge über anonyme Kredit- und Marktbeziehungen vermittelt wurden. In dieser Konstellation kam der Figur des Geschäftsführers tatsächlich die Funktion eines »Sündenbocks« zu, die er allerdings nicht für die Belegschaft erfüllte, wie es [Hans Müller] wahrnahm, sondern für den Beirat. Denn obwohl dieses Gremium von Beginn an der unternehmerischen Entscheidungsfindung enge Grenzen steckte und massiven Einfluss auf dieselbe nahm, konnte der Beirat dafür nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Eben hierin lag der entscheidende Grund, weshalb der Appell an die Loyalität der »Betriebsgemeinschaft« mit dem Geschäftsführer nicht mehr jene konsensstiftende und befriedende Funktion wie einst unter Richard Süßmuth entfalten konnte. In den Konflikten der Selbstverwaltung hatten die Beschäftigten die Verantwortung der Entscheidungsträger markiert, die sie – weil ihnen die sich über das GläubigerSchuldner-Verhältnis eröffnenden Möglichkeiten der Einflussnahme und Inanspruchnahme von Entscheidungsbefugnissen rein formal gar nicht zustanden – leichtfertig abweisen konnten. In dieser veränderten Machtkonstellation büßten die tradierten Strategien der kollektiven (betrieblichen wie überbetrieblichen) Vertretung der Belegschaftsinteressen erheblich an Wirkmächtigkeit ein. Denn zum einen standen die Beschäftigten im Betrieb nicht mehr einem für seine Entscheidungen persönlich haftenden Unternehmer, sondern lediglich einem Geschäftsführer gegenüber, der sich aufgrund der Verschuldung der Firma gleichermaßen in Abhängigkeit zu den Gläubigern befand. Zum anderen waren die Gewerkschaftsfunktionäre in ihrer Rolle als

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Die ungeklärte Frage der Verantwortung schlug sich auch in den Quellen nieder. In den Protokollen der Beiratssitzungen wurden anfangs die jeweiligen Einschätzungen und Positionen noch einzelnen Personen zuordnet. Für die brisanten Entscheidungen in den letzten beiden Jahren der Selbstverwaltung (bspw. der Androhung einer »Liquidation« im Falle, dass sich die Belegschaft einer Sechstagewoche widersetzen würde, oder die »einschneidenden Maßnahmen« von Lohnkürzung und Entlassungen) wurde hingegen niemand mehr oder lediglich »der Beirat« als Entscheidungsträger genannt. Protokoll Beirat (GHS), 22. März 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 9; Protokoll Beirat (GHS), 11. September 1975, in: AGI, S. 2f.

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informelle Bürgen für das Modell Süßmuth faktisch dazu übergegangen, die GläubigerInteressen zu vertreten.

Verlust der überbetrieblichen Interessenvertretung Der gewerkschaftliche Organisationsgrad stieg in der Glashütte Süßmuth von 65 Prozent (1969) auf 85 Prozent (1975) an.137 Diese aus Perspektive der Gewerkschaft an sich erfreuliche Entwicklung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Beziehungen zwischen den Gewerkschaftsmitgliedern im Betrieb und den in ihrer Haltung gegenüber dem Modell Süßmuth zwiegespaltenen Funktionären der IG Chemie im Verlauf der Selbstverwaltung zunehmend gestört waren. Das unter dem Geschäftsführer der Verwaltungsstelle Kassel Werner Schepoks einst sehr enge Vertrauensverhältnis zwischen den lokalen Gewerkschaftern und den gewerkschaftlich aktiven Facharbeitern der Glashütte Süßmuth hatte sich unter dem neuen Verwaltungsstellenleiter abrupt gelockert. Wilhelm Leveringhaus stand der Selbstverwaltung von Anfang an sehr skeptisch gegenüber und übte Kritik an den für ihn tarifrechtlich bedenklichen Entwicklungen. Bereits im Sommer 1971 kündigte er an, die belegschaftseigene Glashütte »wie jede[n] andere[n] Betrieb« zu behandeln.138 In den folgenden Jahren traten die Kasseler Funktionäre allein während der jährlich stattfindenden Tarifverhandlungen oder durch Bemühungen um eine Erhöhung des Organisationsgrads in Erscheinung.139 Um eine Zusammenarbeit mit den Vertrauensleuten und die Fortsetzung der bisher vitalen Bildungsarbeit kümmerten sie sich hingegen nicht mehr.140 Auch die Beziehungen zu den Funktionären der Bezirksstelle Hessen verschlechterten sich. Sie engagierten sich zwar auf politischer Ebene für eine Demokratisierung der Wirtschaft, trugen dem in ihrem eigenen Handeln jedoch keine Rechnung. Vielmehr blieben sie – ebenso wie die Skeptiker der Verwaltungsstelle Kassel – den tradierten Routinen gewerkschaftlicher Stellvertreterpolitik verhaftet. Das hiervon abweichende Verhalten des eben deshalb strafversetzten Werner Schepoks war eine diese Regel bestätigende Ausnahme. Aus Perspektive der Belegschaft befremdend war vor allem das Agieren des hessischen Bezirksleiters. Während Franz Fabian in der von ihm – ohne Wissen und Beteiligung der Beschäftigten – herausgegebenen, 1972 beim Rowohlt-Verlag erschienenen Publikation nach außen hin den »Erfolg des Modells Süßmuth« propagierte,141 verletzte er selbst von Beginn an die darin festgelegten Regeln demokratischer Entscheidungsfindung. Als sich die Problem- und Konfliktlage zuspitzte, missbilligten die Beschäftigten Fabians Haltung, seinen »starken Worten nicht die entsprechenden Taten

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[Klaus Boehm] an [Rolf Schindler], 7. Januar 1972, in: FHI, Schöf-1227; IG Chemie-Papier-Keramik Kassel (Hg.), Von 1945 bis 1985. 40 Jahre Aufbau, Entwicklung und Bestand der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik Verwaltungsstelle Kassel, 1988, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 96. 138 Wilhelm Leveringhaus an Franz Fabian, 20. August 1971, in: FHI, Schöf-1228. 139 Siehe bspw. [Boehm], 7. Januar 1972 (s. Anm. 137). 140 [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 22), S. 15f.; [Nowak] et al., [1974] (s. Anm. 33), S. 5f.; Senger, 27. September 1973 (s. Anm. 18), S. 16–18. 141 Fabian, Arbeiter (s. Anm. 25).

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folgen« zu lassen, sondern stattdessen die Belegschaft unter Druck zu setzen und sich im Zweifelsfall aus der Schusslinie zu ziehen.142 Unabhängig davon, ob sie das Modell Süßmuth guthießen oder nicht, einte die IG-Chemie-Funktionäre das Interesse an der Einhaltung der branchenweiten Tarifstandards – das Unterlaufen der Tarifverträge und damit einen Betriebsegoismus galt es zu verhindern. Aus verschieden gelagerten Gründen sahen sie sich aber auch in der Pflicht, ein Scheitern des Modellunternehmens zu verhindern.143 Anstatt mit den Beschäftigten diesen grundlegenden Widerspruch zu thematisieren und zusammen nach Lösungen (für die wirtschaftlichen Probleme wie für die Probleme bei der Demokratisierung des Unternehmens und die Belange der Gewerkschaft) zu suchen, nahmen sie der Belegschaft gegenüber faktisch eine »Arbeitgeber«-Position ein. Sie versäumten hierdurch, die Erfahrungen im Fall Süßmuth als Impulse für die gewerkschaftliche Interessenvertretung und Demokratisierungspolitik auf überbetrieblicher Ebene aufzugreifen. Stattdessen spielten sie in der selbstverwalteten Glashütte eine ambivalente Doppelrolle, die in den Firmentarifverhandlungen besonders offensichtlich wurde.144 Während sie die Zusammenarbeit mit dem Geschäftsführer intensivierten, der – in der Annahme, dieser sei im Belegschaftsunternehmen unmittelbarer Vertreter der Beschäftigten – zu ihrem wichtigsten Ansprechpartner wurde,145 verloren sie letztlich den Kontakt zur gewerkschaftlichen Basis im Betrieb. Im Umgang mit diesem strukturellen Widerspruch machten sich die Gewerkschaftsfunktionäre jene unternehmerischen Spielräume zunutze, die sie in anderen Unternehmen bekämpften. Die Beibehaltung der Leistungsentlohnung versprach – gleichwohl nur zum Preis einer »barbarischen« Rationalisierung – das Ziel einer Lohnkostensenkung mit dem der Lohnerhöhungen nach dem Branchentarifvertrag verbinden zu können. Die Beseitigung von Süßmuths betrieblicher Sozialpolitik (Renten, Werkswohnungen, Ausbildungswesen) war für sie als Mittel zur Lösung der Liquiditätsengpässe attraktiv, weil hierdurch keine Tarifleistungen angetastet wurden. Ihr Beharren auf einem informellen Modus des Verzichts, offenbarte einmal mehr: Den Gewerkschaftsfunktionären ging es in der Glashütte Süßmuth zuletzt vor allem um die Aufrechterhaltung eines Anscheins. Nach außen sollte die Reputation der Gewerkschaft unbedingt gewahrt werden. Ihr Anspruch, die Interessen der Arbeitenden auf überbetrieblicher Ebene zu

142 Siehe Fischer, Selbstverwaltete Glashütte (s. Anm. 18), S. 18; Ebenso [Franke] und [Weber], 13. August 1973 (s. Anm. 99), S. 8; [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 22), S. 16; Franz Fabian galt als »ein Mann, der irgendwas aufriss, aber niemals zu Ende brachte.« Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Werner Schepoks, 1. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 12f.; Ebenso [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 44f.; [Freil], 7. Januar 1974 (s. Anm. 15), S. 13f. 143 Während es den Funktionären der Bezirksleitung und des Hauptvorstands vorrangig darum ging, ein Scheitern aufgrund der negativen Folgen für die politische Auseinandersetzung über die Mitbestimmungsgesetzgebung zu verhindern, befürchteten die lokalen Funktionäre vor allem die praktischen Konsequenzen des Unterwanderns der Tarife oder der Schließung der GHS als einem in ihrem Zuständigkeitsbereich liegenden Betrieb. Siehe Leveringhaus, 1. Oktober 1973 (s. Anm. 132). 144 Siehe Kapitel 5.2. 145 [Hans Müller] war nach der Betriebsübernahme der IG Chemie beigetreten. Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Volker Lange], undatiert [1973/74], im Besitz der Autorin, S. 2.

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schützen, fand im selbstverwalteten Betrieb keine Entsprechung. Der Belegschaft war hier vielmehr eine überbetriebliche Interessenvertretung abhanden gekommen, um der Informalisierung bislang formaler Standards und dem Prozess der »Enteignung« etwas entgegenzusetzen – beides Prozesse, die gerade von den im Beirat vertretenen Gewerkschaftern mit forciert wurden. Dass die eigenen Repräsentanten nicht nur ihr demokratisches Anliegen blockierten, sondern zugleich ihre existenziellen Interessen verletzten und Rechte unterhöhlten, führte unter den Gewerkschaftsmitgliedern der Glashütte Süßmuth zu einem fundamentalen und irreversiblen Vertrauensverlust.146 Die Begründungen, die die Funktionäre für ihr undemokratisches Vorgehen anführten (wie allen voran die Wahrung überbetrieblicher Tarifstandards) erschien ihnen vorgeschoben.147 Empörung löste vor allem ihre Haltung aus, im Zweifelsfall jegliche Verantwortung abzulehnen und »ihre Hände in Unschuld« zu waschen, während »der kleine Mann wieder einmal die Zeche bezahlen muss.«148 Aus diesen Gründen kam es schließlich »zum Bruch mit der Gewerkschaft.«149 Die Belegschaftsvertreter*innen sahen sich von ihrer Gewerkschaft »im Stich« gelassen und zur Kooperation mit außer- und teils antigewerkschaftlichen Unterstützer-Netzwerken gezwungen. Neben Carl Backhaus und dem anthroposophischen Gründerkreis der GLS-Bank aus Bochum gehörte hierzu auch der Verband der Partnerschaftsunternehmen Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der Partnerschaft in der Wirtschaft (AGP).150 Zusammen mit der Berufung von [Harald Meier] zum neuen Geschäftsführer waren damit die Weichen für den Weg aus der Selbstverwaltung gestellt.

Die Schwächung der betrieblichen Interessenvertretung Die Nicht-Erreichbarkeit von zur Verantwortung zu ziehenden Entscheidungsträgern, die Entfremdung zu den gewerkschaftlichen Repräsentanten und die vielen ungelösten Konflikte schwächten auch die Strukturen der betrieblichen Interessenvertretung. Die Defizite der demokratischen Praxis erschwerten eine Verständigung hierüber – was aber eine grundlegende Voraussetzung für kollektives Handeln war – und bewirkten in der Belegschaft ungleichzeitige Erkenntnisprozesse ob des veränderten Machtgefüges. Die Entmachtung der Belegschaftsgremien durch den Beirat im Dezember 1971 haben laut

146 Siehe bspw. [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 22), S. 15f.; [Nowak] et al., [1974] (s. Anm. 33), S. 5f.; Senger, 27. September 1973 (s. Anm. 18), S. 16–18; [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 1), S. 14; [Weber], 15. April 1975 (s. Anm. 61). 147 Siehe bspw. [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 1), S. 10. 148 [Dieter Schrödter] zitiert in [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 22), S. 16. [Holger Neumer] wiedergegeben in Leveringhaus, 1. Oktober 1973 (s. Anm. 132), S. 2; Ebenso [Paul Nowak] in [Nowak] et al., [1974] (s. Anm. 33), S. 5. 149 Folgende Zitate von [Paul Nowak] wiedergegeben in Vermerk Friedrich-Karl Baas, 6. September 2005, in: AGI. 150 Die AGP hatte ihren Sitz in Kassel. Im Mai 1973 erteilte [Hans Müller] einer Mitgliedsanfrage noch eine Absage, im Juni 1975 trat die GHS – repräsentiert durch [Konrad Scholz] – in die AGP ein. Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 24. Mai 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 3; Mitgliederverzeichnis AGP, in: Archiv AGP Kassel; Protokoll Gesellschafterversammlung, 15. Mai 1975, in: AGI, S. 2.

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[Rolf Schindler] viele Beschäftigte »gar nicht so richtig gemerkt«.151 Dass der Beirat ihnen damals »die Verantwortung genommen habe«, schienen zwei Jahre später – so der Eindruck [Paul Nowaks] – selbst viele Gesellschafter zu ignorieren.152 Die Delegation der Verantwortung an die Belegschaftsgremien durch die geschäftsführenden Gremien und dessen Übernahme von Teilen der Belegschaftsvertreter*innen – trotz der wiederholten Erfahrung, die Entscheidungsfindung im Unternehmen nicht gleichberechtigt beeinflussen oder kontrollieren zu können – befeuerte ebene jene beschriebene Polarisierung in der Belegschaft.153 Erst als die Geschäftsführung Ende 1973 gegen den vehementen Einspruch der Gesellschafterversammlung einen Ofen stilllegte, begannen auch die bis dahin moderaten Belegschaftsvertreter*innen die Ansicht zu teilen, das Führungspersonal wende die althergebrachte Strategie des »Teile[ns] und Herrsche[ns]« an und treibe die Spaltung der Belegschaft zum Zwecke des eigenen Machterhalts voran.154 [Manfred Hübner] blieb der Eindruck in Erinnerung, dass die Belegschaftsvertreter*innen, indem Maße wie sie gelernt hatten, Bilanzen zu lesen und »auch unangenehme Fragen [zu] stellen«, vom Beirat und vom Geschäftsführer zunehmend ausgebremst wurden.155 Auf Basis dieser wieder geteilten Deutung war im ersten Halbjahr 1974 ein letztes Mal ein gemeinsames Vorgehen der Belegschaftsgremien möglich geworden, das mit der diskussionslosen Ablehnung ihres Alternativplanes durch den Beirat jedoch vergeblich blieb.156 Gegen verschlechterte Arbeitsbedingungen, kurzarbeitsbedingte Lohneinbußen und der erneuten Bedrohung des Arbeitsplatzes konnten sich die Beschäftigten der Glashütte Süßmuth kaum noch kollektiv zur Wehr zu setzen. Der Streik als ein traditionelles Instrument des Arbeitskampfes stand ihnen im eigenen Unternehmen nicht wirklich zur Verfügung, gleichwohl mit der Zuspitzung der Konflikte durchaus dahingehende Überlegungen angestellt wurden – wie der Leiter der Verwaltungsstelle Kassel mit Sorge dem IG-Chemie-Hauptvorstand berichtete.157 Der einst »sehr gut funktionierende Vertrauensmänner-Körper«, der vor und während der Betriebsübernahme eine wichtige Rolle in der betrieblichen Interessenvertretung einnahm, war in den neuen Belegschaftsgremien aufgegangen und hatte an Bedeutung verloren.158 Selbst der Betriebsrat als gesetzlich verankerte Institution betrieblicher Interessenvertretung konnte der Eigenmächtigkeit der geschäftsführenden Gremien nichts entgegensetzen. Deshalb traten 1973 und 1974 zweimal kurz hintereinander die Betriebsratsvorsitzenden und mit ihnen jeweils der gesamte Betriebsrat geschlossen zurück. Weil er die »drängenden Fragen der Kollegen« nicht mehr be- und die Unternehmensentwicklung ihnen

151 152 153 154 155 156 157 158

[Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 1), S. 7. Folgendes aus [Nowak], 6. Januar 1974 (s. Anm. 84), S. 8. Siehe Kapitel 8.2. [Frank Weber] zitiert in [Webers], 12. Dezember 1973 (s. Anm. 73), S. 4; Ebenso [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 1), S. 5f.; [Neumer], 13. August 1973 (s. Anm. 61), S. 2. Transkript Interview der Autorin mit [Manfred Hübner], 11. Juni 2013, im Besitz der Autorin, S. 17f. Siehe Kapitel 4.1 und Kapitel 7.3. Wilhelm Leveringhaus an Erwin Grützner, 23. Januar 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie. [Nowak] und [Schrödter], 13. Dezember 1973 (s. Anm. 22), S. 15f.

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gegenüber nicht mehr verantworten konnte, wählte der Betriebsrat damit das letzte ihm zur Verfügung stehende Mittel des Protests.159 Der wiedergekehrten Angst vor einem Arbeitsplatzverlust standen die Beschäftigten damit – anders als noch während der Unternehmenskrise Ende der 1960er Jahre – kollektiv ohnmächtig und handlungsunfähig gegenüber. Ihnen blieben lediglich informelle wie individuelle Strategien der Interessenwahrung bzw. -durchsetzung, die vom Austritt aus den Belegschaftsgremien und dem Rückzug ins Private, dem Dienst nach Vorschrift und eigensinnigen Praktiken (wie Bummelei oder Krankmeldung) bis hin zur Kündigung reichen konnten. Je nach Statusgruppen standen ihnen diese in höchst ungleichem Maße zur Verfügung, was entsprechend vereinzelnd und entsolidarisierend wirkte. Die exponierte Position und informellen Verhandlungsspielräume im Arbeitsprozess vor dem Hintergrund des branchenweiten Fachkräftemangels ermöglichten es vor allem den Glasmachern, ihre Interessen auch weiterhin gegenüber der Geschäftsführung zu behaupten – im Gegensatz zu den Nicht-Facharbeiter*innen, für die der Arbeitsplatz in der Glashütte Süßmuth aufgrund der im Laufe der 1970er Jahre in der Region wieder sinkenden Beschäftigungsalternativen eine sehr viel existenziellere Bedeutung besaß.160 Demgegenüber sahen sich wiederum jene Belegschaftsvertreter*innen, die im Betriebsrat und der Gesellschafterversammlung aktiv blieben, in der Verantwortung, sich für den Erhalt zumindest eines Teils der Arbeitsplätze einzusetzen. Sie fühlten sich deshalb zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den geschäftsführenden Gremien verpflichtete, womit sie am Ende der Selbstverwaltung faktisch Teil derselben wurden. Eine hiervon unabhängige kollektive Interessenvertretung der Belegschaft war damit in der Glashütte Süßmuth nicht mehr vorhanden.

8.4 Der Siegeszug der »ökonomischen Vernunft« und die Preisgabe der Selbstverwaltung Die Reproduktion alter Machtverhältnisse in neuer Form war weniger Folge einer intendierten Strategie der geschäftsführenden Personen als vielmehr Resultat ihres Handelns entlang nicht hinterfragter Gewissheiten. Mit ihrem zunehmend eigenmächtigen Handeln gaben sie vor, lediglich einer »Objektivität« wirtschaftlicher Sachverhalte Rechnung zu tragen; das sich im Belegschaftsunternehmen etablierende Machtgefüge bewerteten sie als alternativlos. Gerade die Konflikte im selbstverwalteten Betrieb dechiffrierten indes den ideologischen Charakter jener »Objektivität« und »Alternativlosigkeit« ihrer Entscheidungen. Wie die in Teil II herausgearbeiteten Potenziale der Selbstverwaltung verdeutlichten, entpuppte sich (auf Ebene der Praktiken) weniger der Anspruch der Beschäftigten auf gleichberechtigte Mitbestimmung als »utopisch« als vielmehr das Vorhaben, eine expansive Unternehmensstrategie zu verfolgen, ohne hierfür die materiellen und personellen Voraussetzungen zu schaffen. Als »ideologisch« erwies sich die Ra-

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Rücktrittserklärung [Holger Neumer], 31. Mai 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Rücktrittserklärung Betriebsrat (GHS), 4. Juni 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 160 Anfang der 1980er Jahre war die Arbeitslosenquote im Kreis Hofgeismar auf zehn Prozent angestiegen. [Klaus Boehm] an Karl Hauenschild, 18. März 1982, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2.

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tionalisierung einer Mundglashütte mit am Produktionsformat der mass production orientierten Strategien und das Festhalten an einer zentralen Unternehmensorganisation, obwohl sich beides nicht bewährte. Das Beispiel der Zweiofenumstellung zeigte auf, dass in den vermeintlich rein ökonomischen Überlegungen der geschäftsführenden Gremien soziale und politische Aspekte eine entscheidende Rolle spielten: Während sie die Leidensfähigkeit der Belegschaft stillschweigend in ihre Kalkulation einpreisten, konnten sie mit der Reduktion der Produktionskapazitäten ihre Abhängigkeit von derselben erheblich reduzieren. Über fünf Jahre hinweg hatten die Beschäftigten die konkreten Missstände im Unternehmen benannt und zugleich jeweils alternative Gestaltungs- und Entwicklungsoptionen aufgezeigt, die jedoch – vor allem aus politischen Gründen – zum großen Teil nicht realisiert wurden. Dass die geschäftsführenden Gremien selbst aber kaum nachhaltige Lösungen vorweisen bzw. erfolgreich umsetzen konnten und dennoch keine Verantwortung für ihre Entscheidungen übernahmen, stellte einen fundamentalen Bruch im Gerechtigkeitsempfinden der Beschäftigten dar und legte die nicht legitimierten Machtverhältnisse in der Glashütte Süßmuth offen. In dieser Legitimationskrise trat die Vorstellung einer »ökonomischen Vernunft« ihren Siegeszug an – als eine aus den Erfahrungen der sich zuspitzenden Problem- und Konfliktlage hervorgegangene Gewissheit, das Ökonomische müsse frei von »Ideologie« sein. Die von Beginn an vorgenommene Trennung und Hierarchisierung der (für die Beschäftigten sich wechselseitigen bedingenden) Ziele der Selbstverwaltung erleichterte es den geschäftsführenden Gremien, zunächst die politischen und anschließend die sozialen zugunsten der ökonomischen Ziele aufzugeben. Die von politischen und sozialen Implikationen vermeintlich bereinigte »ökonomische Vernunft« bot ihnen einen Rechtfertigungsmodus, mit dem sie die – in der Kritik aus der Belegschaft markierte – Verantwortung für ihr Handeln von sich weisen konnten: Die generell widrigen Umstände für eine demokratische Form des Wirtschaftens im Kapitalismus – zumal in Zeiten der Krise – zwinge und verpflichte halt zum Ergreifen harter Maßnahmen.161 Denn die kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten könnten auch im selbstverwalteten Unternehmen nicht außer Kraft gesetzt werden.162 Dieses könne keine »Insel« bilden und komme »vor die Räder«, wenn es nicht »konkurrenzfähig« sei.163 Die »ökonomische Vernunft« stehe daher im Dienst der Allgemeininteressen und rechtfertige die Zurückdrängung der demokratischen Praxis wie auch letztlich soziale Einschnitte. Der Prozess der Entmachtung und »Enteignung« der Belegschaft, der den in der Betriebsübernahme begonnenen Prozess ihrer Selbstermächtigung und Aneignung ablöste, konnte somit als Resultat der schon immer vorhandenen Sachzwänge vermittelt und legitimiert werden. Der Siegeszug der »ökonomischen Vernunft« erfasste – trotz oder gerade aufgrund mitunter konträrer Wahrnehmungen und Erfahrungen – auch die Beschäftigten, insbe-

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162 163

[Hans Müller] in »Glashütte: Kurzarbeit und weitere Sorgen«, in: HNA, undatiert, [Frühjahr 1974], in: AGI; Protokoll Beirat (GHS) [Version 1], 17. März 1975, in: AGI, S. 2f.; Thesenpapier [Hans Müller], 2. Juni 1975, in: AGI. [Müller] in FR, 14. Juni 1975 (s. Anm. 3); Fabian, 22. April 1974 (s. Anm. 15), S. 11. [Müller] zitiert in Typoskript »280 Arbeiter = 280 Chefs. Die Süssmuth GmbH – ein neuer Versuch der Mitbestimmung«, Peter Marchal für »Die Welt von heute« (Südwestfunk Radio), 4. August 1971, in: FHI, Schöf-1212, S. 24.

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sondere jene, die in den Belegschaftsgremien zuletzt aktiv blieben. Obwohl sie die Entscheidungen im Unternehmen nach wie vor nicht gleichberechtigt mitgestalten konnten, nahmen sie die ihnen zugewiesene Verantwortung aus Einsicht in »ökonomische Notwendigkeiten« an. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen, der »sich fortsetzenden Frustration«164 und den vielfältigen Verwerfungen begann sich auf Basis der »ökonomischen Vernunft« am Ende der Selbstverwaltung ein (wenngleich fragil bleibender) Konsens in der Glashütte Süßmuth zu entwickeln. Ein solcher war für eine wirtschaftliche Stabilisierung des Unternehmens dringend notwendig, denn er wies einen Weg aus der Pattsituation, in die die unternehmerische Entscheidungsfindung in der Krise der demokratischen Praxis geraten war. Dieser Konsens richtete sich letztlich gegen die Person des bisherigen Geschäftsführers. Wie die im Herbst 1975 erstmals seit der Belegschaftsübernahme vorgenommenen Entlassungen zeigten, war [Hans Müller] selbst die Wahrung des einstigen kleinsten gemeinsamen Nenners – das Ziel, die Arbeitsplätze für alle Beschäftigten zu erhalten – nicht mehr gelungen. Dass der Geschäftsführerwechsel in der Öffentlichkeit mit [Müllers] zu zögerlichen Haltung gegenüber einem Personalabbau als »aus wirtschaftlichen Gründen längst überfällig[en]« Schritt begründet wurde, verweist wiederum auf die sich mit dem Siegeszug der »ökonomischen Vernunft« verändernden und insbesondere die Geschäftsführung [Harald Meiers] prägenden Interpretationen von den Notwendigkeiten im Unternehmen.165

Die narrative Reduktion des demokratischen Aufbegehrens auf den bread-nexus Der Siegeszug der »ökonomischen Vernunft« schlug sich in den (rückblickenden) Darstellungen der Belegschaftsübernahme nieder. So sei diese lediglich »eine Lösung in höchster Not« gewesen, um den Unternehmenskonkurs zu verhindern und die Arbeitsplätze in einer strukturschwachen Region zu erhalten, erklärte [Hans Müller].166 Das demokratische Aufbegehren der Beschäftigten – ihre jeweiligen Hoffnungen auf gute Arbeit, gerechte Löhne und demokratische Teilhabe – unterlag im konfliktträchtigen Verlauf der Selbstverwaltung einer narrativen Reduktion auf allein wirtschaftliche bzw. materielle Motive und den Minimalkonsens der Betriebsübernahme. Es handelte sich dabei um eben jene Sprachregelung, auf die Vertreter der in Hessen regierenden SPD das Belegschaftsunternehmen von Beginn an festlegen wollten.167 [Müller] half diese Darstellung, sein eigenmächtiges Vorgehen zu rechtfertigen. Trotz der vielfältigen Schwierigkeiten und Konflikte konnte er seine Geschäftsführung als erfolgreich herausstellen, solange keine Entlassungen vorgenommen wurden und damit jenes vermeintlich alleinige Ziel der Belegschaftsübernahme gewahrt blieb. Plausibilisieren konnte [Müller] zudem, dass

164 Zitat von [Weber], 15. April 1975 (s. Anm. 61). 165 Panorama, 5. Januar 1976 (s. Anm. 56), 13. Minute. 166 [Hans Müller] in Schöfer und Belegschaft, 19. März 1973 (s. Anm. 34), S. 1; Ebenso [Müller] in Marchal, 4. August 1971 (s. Anm. 163), S. 3; Weltbild, 26. Juli 1972 (s. Anm. 52), S. 23; Maximillian H. Petersen, »Eine Notlösung wurde zum Vorbild. Die Belegschaft rettete in Immenhausen einen Namen. Süßmuth-Modell macht Schule«, in: Westfälische Rundschau, 30. Juni 1972, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 167 Siehe Kapitel 3.1.

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mit Erreichen dieses Ziels das Engagement in der Belegschaft sank.168 Franz Fabian diente diese Darstellung dagegen der »Reinhaltung« seiner politischen Anliegen.169 Der bread-nexus löste schließlich auch den »Roman« vom euphorischen Aufbruch der in Solidarität verbundenen Belegschaft in seiner bislang konsensstiftenden Funktion ab.170 Ein Grund hierfür war, dass dieses reduzierende Narrativ immerhin die existenzielle Dimension der Ereignisse berücksichtigte, die mit der Krise der Repräsentation in den Hintergrund geraten war. Insbesondere die Gewerkschaftsfunktionäre waren mit ihrem Modelldenken oder ihren voluntaristischen Appellen an die Leistungs-, Verzichts- und Leidensbereitschaft der Brisanz der fehlenden Absicherung und faktischen Schwächung der Rechte der Arbeitenden nicht gerecht geworden. Die Betonung des Arbeitsplatzerhalts besaß somit angesichts der seit 1973 erneut krisenhaften Unternehmensentwicklung eine Schutzfunktion für die Beschäftigten, die sich im Herbst 1975 ja tatsächlich mit einer Kündigungswelle konfrontiert sahen. Zugleich ermöglichte diese Deutung, die unter den Arbeitenden unterschiedlich stark ausgeprägten persönlichen Enttäuschungen über das Scheitern ihrer vielfältigen über den Arbeitsplatzerhalt hinausgehenden Hoffnungen, die sie mit der Betriebsübernahme verbanden, zu verarbeiten sowie gegenüber der erfahrenen Ohnmacht und Erniedrigung Würde zu bewahren.

Die Selbstverwaltung als das Problem Aus den Blickwinkeln der »ökonomischen Vernunft« und dem bread-nexus erschien wiederum die Selbstverwaltung als das (zu beseitigende) Problem. Die Ansicht, »es brauche einen Chef«, der sich nicht »von vielen immer so beeinflussen lässt« und »einfach einen Standpunkt haben« muss, war nicht nur in den geschäftsführenden Gremien virulent, sondern gewann in den Konflikten der Selbstverwaltung quer durch die Belegschaft an Überzeugungskraft.171 Der Geschäftsführer müsse demnach nicht nur fachliche Fähigkeiten besitzen und unternehmerische Leistung zeigen, sondern auch »psychologische« Qualitäten aufweisen und es verstehen, mit großen Visionen und »Fingerspitzengefühl« die Beschäftigten »mitzureißen« und zu »begeistern«.172 Nicht der alte Autoritarismus, sondern ein neuer »Führungsstil« sei erforderlich, um die gerade in der Selbstverwaltung offengelegte Vielstimmigkeit und Bedürfnisvielfalt zu synchronisieren

168 [Müller] zitiert in Wickert, 27. April 1973 (s. Anm. 42), S. 3. 169 Die GHS und andere aus Gründen des Arbeitsplatzerhalts geretteten Belegschaftsbetriebe hätten »in der BRD mit Sozialismus nichts, aber auch rein gar nichts zu tun«. Franz Fabian zitiert in Wirtschaftswoche, 4. Juli 1975 (s. Anm. 50), S. 13. 170 Zum bread-nexus, demnach die Proteste im England des 18. Jahrhunderts allein mit gestiegenen Brotpreisen zu erklären seien und dem E.P. Thompson die Perspektive der moral economy gegenüberstellte, siehe Einleitung. Zum »Roman« der Süßmuth-Belegschaft siehe Kapitel 5.3. 171 Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit zwei namentlich nicht bekannten Arbeiter*innen aus der Glasmalerei, undatiert [1973/74], im Besitz der Autorin, S. 2. 172 [Franke] und [Weber], 13. August 1973 (s. Anm. 99), S. 3–5; Ebenso [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 1), S. 11. Ähnlich beschrieb auch Werner Vitt die notwendigen Führungsqualitäten der Geschäftsführer in Belegschaftsunternehmen. Siehe Podiumsdiskussion WDR, 6. Juni 1975 (s. Anm. 43), S. 4, 6.

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und die gesamte Belegschaft zu motivieren.173 Angesichts der komplexen Problemlage, anhaltenden Konflikte und ungeklärten Verantwortlichkeiten habe er im Unternehmen für Ruhe und Ordnung, Geschlossenheit und Klarheit zu sorgen.174 Eben diese Eigenschaften wurden am ersten Geschäfts- und Vertriebsleiter [Stefan Kurtz] geschätzt, bei [Hans Müller] vermisst und schließlich bei [Harald Meier] begrüßt. Darüber hinaus empfanden viele Beschäftigte die Erwartungshaltung des Umfelds in zunehmenden Maße als ein Problem bzw. mitunter als Ursache der internen Konflikte und somit als störend für die ökonomische Stabilisierung des Unternehmens.175 Das »von außen« herangetragene Politische habe die Arbeit erschwert.176 Die Beschäftigten sahen sich deshalb zur Abgrenzung von der Modell-Funktion gezwungen, die ihrem Betrieb von Seiten der Gewerkschaft oder anderen politisch interessierten Personen und Gruppen beigemessen wurde.177 Angesichts des »Wirbels«, der um ihr »Modell der Arbeiterselbstverwaltung« gemacht wurde, hob der Glasmacher [Dieter Schrödter] hervor, dass die Arbeiter*innen im Frühjahr 1970 keinesfalls »auf die Straße gegangen sind, um so ein Modell aufzubauen.«178 Vielmehr sei – so betonte der Glasmaler [Frank Weber] – das wichtigste Ziel gewesen, zu arbeiten, um »Geld [zu] verdienen« und »innerhalb des Betriebs eine Vermenschlichung [zu] schaffen«.179 Das könnten andere zwar »als Modell ansehen und nachmachen«; es sei aber eben nicht »von vornherein« darum gegangen.180 Das Statement, »wir sind kein Modell«,181 war im Kern eine Abwehrreaktion gegenüber einem praxisfernen Verständnis von Politik, das aus Perspektive der Belegschaft – sei es in der zentralen Organisationsform des Modells Süßmuths oder in Form basisdemokratischer Strukturelemente wie Aufhebung der Arbeitsteilung, Rotationsverfahren oder Konsensentscheidungen – sich in der betrieblichen Praxis nicht bewährte bzw. als nicht praktikabel erschien. Ihre Kritik richtete sich gegen eine von den materiellen Bedingungen in einer Mundglashütte abstrahierende politische Modellvorstellung, nicht aber gegen eine Demokratisierung der Entscheidungsfindung an sich. Implizit verwies die Ablehnung, als Modell für politische Überzeugungen zu fungieren, damit auf jenes praxisbezogene Demokratieverständnis, dass die Beschäftigten einst in der betriebli-

173 174

Zitat von [Weber], 15. April 1975 (s. Anm. 61). Siehe Kapitel 7.4. Rainer Merforth, »Neues Kapitel bei Süssmuth. Belegschaft trennt sich von langjährigem Geschäftsführer [Müller]«, in: Hessische Allgemeine, 5. Dezember 1975, in: AGI; Panorama, 5. Januar 1976 (s. Anm. 56), 7. Minute. 175 Den Konflikt zwischen der oppositionellen Gruppe und dem Geschäftsführer führte bspw. [Manfred Hübner] auf eine Diskussionsveranstaltung an der Universität Bochum zurück, wo sich »die ersten Differenzen« aufgetan hätten. [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 37f. 176 Namentlich nicht bekannter Betriebsrat zitiert in Ebd., S. 38. 177 [Paul Nowak] in Fischer, Selbstverwaltete Glashütte (s. Anm. 18), S. 18; [Schindler], 15. Dezember 1973 (s. Anm. 1), S. 10. 178 Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Dieter Schrödter], 11. Oktober 1973, im Besitz der Autorin, S. 7. 179 Folgende Zitate von [Frank Weber] aus [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 38; Ähnlich [Weber] in Hessische Allgemeine, 5. Dezember 1975 (s. Anm. 175). 180 [Frank Weber] zitiert in Hessische Allgemeine, 5. Dezember 1975 (s. Anm. 175). 181 Transkript Pausengespräch von Erasmus Schöfer mit [Wolfgang Franke], 6. Januar 1974, im Besitz der Autorin.

Die Gründe für das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

chen Praxis geeint und die Betriebsübernahme überhaupt erst ermöglicht hatte, wovon sie sich in den Konflikten der Selbstverwaltung aber immer mehr entfernten.

Synthese und Transformation An diese im konfliktträchtigen Verlauf der Selbstverwaltung sich ändernden Deutungen knüpfte der neue Geschäftsführer [Harald Meier] an, als er 1975 aktiv ins Geschehen eintrat. Als »junger, dynamischer Manager« vermittelte er die Zuversicht, das Unternehmen zügig wieder in die Gewinnzone führen zu können.182 Er bediente dabei sowohl die Hoffnungen der externen Beiratsmitglieder (die froh waren, die Verantwortung abgeben und sich mit gutem Gewissen aus dieser für sie leidigen Angelegenheit zurückziehen zu können) als auch die der Belegschaft (die um ihren Arbeitsplatz bangten) und die jener kleinen Gruppe von Belegschaftsvertreter*innen, die sich von ihm eine Vitalisierung der Selbstverwaltung versprachen.183 [Meier] präsentierte sich als einer, der nicht nur große Reden schwang (was an den Gewerkschaftsfunktionären kritisiert wurde), sondern diesen auch Taten folgen ließ. Diese Entschlossenheit hatte er bereits im Jahr vor seiner Berufung zum Geschäftsführer unter Beweis gestellt. Als neues Beiratsmitglied griff er eine Reihe von Forderungen und Kritikpunkten auf, die in den Belegschaftsgremien als Lösungen für die Probleme der Selbstverwaltung diskutiert, aber nicht realisiert wurden. Unter seinem Vorsitz formierte sich im Frühsommer 1975 ein Bildungsausschuss, der Schulungsangebote für die gesamte Belegschaft vorbereitete und hierfür Finanzierungsmöglichkeiten eruierte.184 Zur gleichen Zeit begann in der Glashütte Süßmuth wieder eine monatliche Betriebszeitschrift mit dem Namen Info-Dienst zu erscheinen, die die Belegschaft über Entwicklungen im Unternehmen informierte.185 Unmittelbar nach seinem Amtsantritt reaktivierte [Meier] mit der Einberufung der Abteilungsleiterkonferenz und den Gruppensprecher*innen kurzzeitig sogar Strukturelemente des Ausschusskonzepts.186 Diesem Aufgreifen der Bildungs-, Informations- und Partizipationsforderungen lag jedoch nicht der emanzipatorische Anspruch zugrunde, die Beschäftigten zu einem eigenständigen Handeln zu befähigen und hierdurch die Voraussetzungen für die demokratische Praxis zu schaffen bzw. zu verbessern. Vielmehr dienten diese Maßnahmen vorrangig dem Ziel, die Leistungs-, Verzichts- und Leidensbereitschaft der Belegschaft zu steigern, in ihren Reihen ein Verständnis für unliebsame Maßnahmen zu erzeugen und Konflikten vorzubeugen. Denn laut [Meier] erfordere die »Selbstverwaltung […] von den Mitarbeitern der Glashütte nicht weniger, sondern mehr an 182

Zitat aus Schöfer, 17. März 1980 (s. Anm. 5), S. 6; Siehe bspw. Typoskript »Notizen zur Situation im Mitarbeiterunternehmen«, Bericht [Harald Meier] auf der Bezirksausschusssitzung der SPD Hessen-Nord, 27. März 1976, in: AGI. 183 Protokoll Gesellschafterversammlung, 6. Januar 1976, in: AGI; Info Süssmuth, 7. Januar 1976, in: AGI. 184 Gesellschafterversammlung, 15. Mai 1975 (s. Anm. 150); Protokoll Beirat (GHS), 2. Juli 1975, in: AGI, S. 5f.; Protokoll Beirat (GHS), 21. August 1975, in: AGI, S. 2. 185 Beirat, 11. September 1975 (s. Anm. 136), S. 4f. 186 [Meier] wollte sich jeden Monat mit den Abteilungsleitern und Gruppensprecher*innen treffen. Protokoll Abteilungsleitersitzung (GHS), 5. April 1976, in: AGI.

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Arbeit und Leistung, mehr Interesse am Betrieb, mehr Einsatzwillen und Engagement«, und sie bedeute vor allem, »Verantwortung für den wirtschaftlichen Erfolg [zu] übernehmen«.187 »Sinn und Zweck« der Bildungsarbeit sei es, »alle Beschäftigten zum Mitdenken und dadurch zum mitverantwortlichen Mitarbeiter und Kollegen zu erziehen.«188 Von den einstigen »Bewusstseinsschulungen« der Gewerkschaft unterschied sich [Meiers] »Nachhilfeunterricht«189 also nur in der inhaltlich der »ökonomischen Vernunft« verpflichteten Ausrichtung, nicht aber in der frontalen Form. Ein solcher Erziehungs- bzw. Aufklärungsauftrag lag auch der Betriebszeitschrift als Teil eines sich nun im Aufbau befindlichen Informationswesens zugrunde, mit dem die Beschäftigten »zu umfassender Mitwirkung […], zu Selbstverantwortlichkeit und Engagement« stimuliert werden sollten.190 Die reaktivierten Belegschaftsgremien schufen keine Räume für eine gleichberechtigte Diskussion und Entscheidungsfindung, sondern fungierten vor allem als Sprachrohr für von oben nach unten verlaufende Anweisungen.191 [Harald Meier] synchronisierte die Erfahrungen der zurückliegenden Jahre und die Schlüsse, die die geschäftsführenden Personen und auch jene moderaten bzw. durch die Einsicht in die »ökonomischen Notwendigkeiten« geläuterten Belegschaftsvertreter*innen gezogen hatten.192 In der Pattsituation, in der sich die unternehmerische Entscheidungsfindung spätestens seit Ablehnung des Alternativplans im Frühsommer 1974 befand, trat [Meier] mit dem Gestus auf, durch eine »straffere Geschäftsführung« in der Glashütte wieder Ordnung und Stabilität herstellen zu können.193 Seiner Meinung nach habe das größte Problem der Selbstverwaltung darin bestanden, dass zu viele Personen in die Entscheidungsfindung involviert gewesen seien und zu »oft umfassende Diskussionen über periphere Fragen« geführt wurden.194 Dem Unternehmen habe es an Führung gefehlt.195 Für die Zeit der Sanierung und die Lösung der »Hauptprobleme« erbat sich [Meier] daher von den Belegschaftsgremien freie Hand; zugleich verpflichtete er sie 187 188 189 190 191

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[Harald Meier], »Die Firma Glashütte Süßmuth GmbH berichtet«, in: HNA, 10. Februar 1976, in: AGI; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 29. März 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 3. Beirat, 11. September 1975 (s. Anm. 136), S. 5. [Harald Meier] zitiert in Panorama, 5. Januar 1976 (s. Anm. 56), 16f. Minute. [Harald Meier] zitiert in »Süßmuth. Marketing und verbesserte Technologie«, in: Kurhessische Wirtschaft, August 1976, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 214. Die Treffen mit den Abteilungsleitern nutzte die Geschäftsleitung fortan, um ihre Produktivitätsund Rentabilitätsziele zu verkünden und über die Wege zu beraten, wie diese erreicht werden könnten. Da die Geschäftsleitung ihren Planungen weiterhin unrealistische Idealzahlen zugrunde legte, bezeichnete der Glasschleifer [Karl Schubert] diese Besprechungen als »Märchenstunden«. [Schmidt], 7. Februar 2013 (s. Anm. 124), S. 13; Gruppeninterview der Autorin mit [Ute Pfeiffer], [Sabine Röder], [Kurt Gebhardt], [Fritz Ziegler] und [Karl Schubert], 30. Juli 2014, im Besitz der Autorin. Den Aspekt, durch Bildungs- und Informationsarbeit die Beschäftigten zu motivieren und bei ihnen Verständnis für die »Schwierigkeiten im Betrieb« oder für »manch unliebsame Entscheidung« zu wecken, betonten bereits [Hübner] et al., 26. August 1973 (s. Anm. 22), S. 35; [Weber], 12. Oktober 1973 (s. Anm. 27); Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit [Konrad Scholz], 12. November 1973, im Besitz der Autorin, S. 1. Protokoll Gespräch mit Vertretern des Finanzamtes Kassel, 14. September 1976, in: AGI, S. 1. Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 11. und 14. Juni 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 3. [Meier], 3. Juni 1976 (s. Anm. 4), S. 2; [Harald Meier] an Charlotte Tangerding, 4. Mai 1977, in: AGI, S. 2; Ergebnisprotokoll Geschäftsleitungssitzung (GHS), 22. Mai 1978, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2.

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auf »strengstes Stillschweigen«.196 Von den leitenden Angestellten erwartete er, dass sie hinter der Geschäftsleitung wie »ein Mann stehen« und »aus einem Mund« sprechen.197 Dass sich gegen die von ihm anvisierten Reformen in der Belegschaft und auch unter den Führungskräften von Beginn an Bedenken, Kritik und in Ansätzen mitunter Protest und Widerstand zu regen begannen, führte [Meier] letztlich zu dem Beschluss, sämtliche Optionen der Mitbestimmung und Kontrolle durch die Beschäftigten abzuschaffen.198 [Harald Meiers] ebenfalls eigenmächtiges Vorgehen erschien legitim, da er sich erfolgreich als Träger von Verantwortung zu präsentieren und dies zunächst mit (dem Anschein) einer wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung zu untermauern vermochte. Von seinen Vorgängern unterschied er sich weniger in den Vorstellungen vom richtigen Wirtschaften als vor allem in den Konsequenzen, die er hieraus zog bzw. nunmehr ziehen konnte. Denn mit der Verabschiedung des Mitbestimmungsgesetzes 1976 entfiel für die Funktionäre des IG-Chemie-Bezirks Hessen und des Hauptvorstands die Notwendigkeit, ein Scheitern des Modells Süßmuth zu verhindern, woraufhin sie sich vollständig aus dem Belegschaftsunternehmen zurückzogen.199 Die Evidenz der »ökonomischen Vernunft« bestätigte [Meier] darin, die Beseitigung der bislang ungelösten Probleme in der Glashütte Süßmuth mit der Beseitigung der Selbstverwaltung als unumgänglich zu verbinden.200 Er wollte zwar die »Mitbestimmung […] zur Erreichung der ökonomischen Ziele nutzen«, verlangte aber weder »von [s]einen Kollegen und auch nicht von [sich], dass wir irgendwelche idealistischen Traumziele aufbauen, sondern unser vorrangiges Ziel wird sein: Stabilität, Gewinne und vernünftige Löhne«.201 Die durch den Siegeszug der »ökonomischen Vernunft« politisch bereinigte Deutung von der Entstehung, dem Verlauf und den Problemen der Selbstverwaltung wurde zur wichtigsten Legitimationsgrundlage des neuen Geschäftsführers. Zur Rechtfertigung der von ihm vorangetriebenen Unternehmensentwicklung griff [Meier] die Kritik der Beschäftigten auf, die die geschäftsführenden Personen zuvor ignoriert oder abgewehrt hatten: Zum einen sei die »Selbstverwaltung der Süßmuth-Leute […] de facto eine Verwaltung der Banken« gewesen.202 [Meier] problematisierte also das Abhängigkeitsverhältnis, unter das sich [Müller] und Fabian unterworfen und dies auch den Belegschaftsgremien abverlangt hatten. Zum anderen hätten die »von außen in das Unternehmen hineingetragenen, zum Teil politischen Losungen […] nicht das Denken der Mitar-

196 Geschäftsleitung, 29. März 1976 (s. Anm. 188), S. 5; Abteilungsleitersitzung, 5. April 1976 (s. Anm. 187), S. 2; Protokoll Abteilungsleiter (GHS), 11. Juni 1976, in: AGI, S. 2; Protokoll Gesellschafterversammlung, 9. September 1976, in: AGI; Notiz [Harald Meier], 14. Januar 1977, in: AGI. 197 Abteilungsleiter, 11. Juni 1976 (s. Anm. 197), S. 2. 198 Siehe Kapitel 9. 199 Nach der letzten Beiratssitzung im Dezember 1976 brach Franz Fabian den Kontakt zur GHS vollständig ab. Aus Gesundheitsgründen hatte er zum damaligen Zeitpunkt schon alle gewerkschaftlichen und politischen Ämter niedergelegt. Werner Vitt hatte bereits im Sommer 1975 seine Beiratstätigkeit aufgekündigt. Siehe Kapitel 4.4. 200 [Meier], 23. November 1976 (s. Anm. 6), S. 4. 201 [Harald Meier] in Panorama, 5. Januar 1976 (s. Anm. 56), 17.f. Minute; Geschäftsleitung, 11. und 14. Juni 1976 (s. Anm. 195), S. 3. 202 Folgendes aus »Glashütte Süßmuth GmbH. Betriebliche Partnerschaft und unternehmerisches Engagement«, in: Porzellan+Glas, Dezember 1981, in: AGI.

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beiter [getroffen], die lediglich ihren Arbeitsplatz erhalten wollten«, was sie wie auch die Kund*innen verunsichert hätte. Die Ablehnung der politischen Erwartungshaltung des Umfelds und die Kritik der Beschäftigten an der Dominanz der Banken und der Gewerkschaft knüpfte [Meier] also an den Minimalkonsens des bread-nexus und stellte damit die existenzielle Bedeutung des Arbeitsplatzerhalts für die Beschäftigten heraus. Insgeheim warf er den Gewerkschaftern vor, mit ihren »politischen Parolen« und »klugen Reden« nichts zur Stabilisierung des Unternehmens beigetragen, sondern mit ihren »unverantwortlichen« und »gegen ökonomische Gesetze« getroffenen Entscheidungen der Firma vielmehr geschadet zu haben.203 Im Gegensatz zu seinen Vorgängern würdigte [Meier] zumindest rhetorisch die bisherigen Leistungen der Belegschaft.204 Keinerlei Anerkennung zollte er jedoch den über den Arbeitsplatzerhalt hinausgehenden Ansprüchen, die die Beschäftigten einst mit der Betriebsübernahme verbanden und die für sie – wie noch zu zeigen ist – auf Ebene der betrieblichen Praktiken auch weiterhin Gültigkeit besaßen.

8.5 Zwischenfazit Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth war ein umkämpfter Prozess, der aus analytischer Perspektive – das heißt mit Blick auf die dieser Arbeit zugrunde gelegten Definition von Selbstverwaltung – im ersten Halbjahr 1974 begann. Nicht mehr nur auf der Ebene der Unternehmensführung, sondern auch im Betrieb blieb es den Belegschaftsvertreter*innen versagt, ihre Vorstellungen geltend zu machen. Gleichwohl sie um alternative Entwicklungsoptionen wussten, mussten sie infolge der von den geschäftsführenden Gremien eigenmächtig vorgenommenen Ofenstilllegung nachhaltige Verschlechterungen in den Arbeits- und Lohnbedingungen hinnehmen. Der bereits vor seinem Amtsantritt begonnenen Zurückdrängung der demokratischen Praxis gab der neue Geschäftsführer [Harald Meier] schließlich einen offiziellen Rahmen. Mit der Ablösung der Rechtskonstruktion des Modells Süßmuth durch die Süßmuth-MitarbeiterStiftung und der Veräußerung von 50 Prozent der Gesellschaftsanteile an die aus dem anthroposophischen Gründerkreis der GLS-Bank stammende Neuguss VerwaltungsGmbH veränderten sich die Entscheidungsstrukturen und Eigentumsverhältnisse zwischen 1976 und 1978 derart, dass die Beschäftigten und ihre Vertretung weder Einfluss auf noch Einblick in die unternehmerische Entscheidungsfindung mehr nehmen konnten.205 Seit 1989 befand sich die Glashütte Süßmuth schließlich wieder vollständig im Privateigentum zweier Kaufleute. Zur Klärung der Ursachen für diese Entwicklung müssen die eingangs angeführten äußeren wie inneren Faktoren präzisiert werden: Nicht allein die geringe Kapitalausstattung und die juristisch nicht anerkannte Rechtsform bereiteten im Fall Süßmuth enorme Schwierigkeiten, sondern vor allem die Beilegung der Kämpfe um die Entscheidungs-

203 [Meier], 4. Mai 1977 (s. Anm. 196), S. 1. 204 [Harald Meier] bspw. in »Süßmuth. Rettung durch Rückbesinnung auf die Handwerkskunst des Glasblasens«, in: Bilanz, August 1981, in: AGI S. 24f. 205 Siehe Kapitel 9.1.

Die Gründe für das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

und Verfügungsgewalt. Nicht nur die Aneignung von neuem Wissen, das die Beschäftigten zur Unternehmensführung benötigten, wurde zur Hürde für ihre Partizipation, sondern vor allem die Anerkennung und Berücksichtigung ihrer Kenntnisse als ein für unternehmerische Entscheidungen relevantes Wissen. Das geringe oder nachlassende Engagement der Beschäftigten war nicht Folge eines fehlenden Interesses oder sich aufbrauchenden Idealismus, sondern Ausdruck von strukturellen Ausschlüssen und Frustrationen über die unzulässige Eigenmächtigkeit der geschäftsführenden Gremien, die zum Teil falsche Entscheidungen trafen, hierfür jedoch keine Verantwortung übernahmen. Entgegen der sich durchsetzenden Deutungen: Die Selbstverwaltung im Fall Süßmuth scheiterte nicht an zu viel, sondern an zu wenig Demokratie. Die hohe Bedeutung, die der demokratischen Praxis für das Funktionieren von kollektivwirtschaftlichen Unternehmen zukommt, wird auch in der Genossenschaftsforschung diskutiert.206 Nur permanent alle Beteiligten gleichermaßen einbeziehende demokratische Verständigungsprozesse können einen Konsens in den Wert- und Zielvorstellungen hervorbringen und den sozialen Zusammenhalt sicherstellen, ohne die Kollektivunternehmen auf Dauer nicht überlebensfähig sind.207 Die Notwendigkeit hierzu war in einem von Arbeiter*innen übernommenen Konkursunternehmen umso dringlicher – angesichts der im Vergleich zu den in der Regel von politisch Gleichgesinnten neugegründeten Betrieben der Alternativökonomie sehr viel heterogeneren Trägerschaft. Mit der in demokratischen Prozessen unweigerlich hör- und sichtbar werdende Stimmenvielfalt und den dabei zutage tretenden Meinungs- und Interessenunterschieden galt es, einen offenen und solidarischen Umgang zu finden. Auch reichte es nicht aus, Rechte zu deklarieren, sondern – so hob es Karl Polanyi für das Ziel einer freien Gesellschaft hervor – es brauchte auch »Institutionen, die diese Rechte in die Praxis umsetzen.«208 Erforderlich waren Schutzmechanismen gegenüber undemokratischen Tendenzen und der Reproduktion von Machtasymmetrien. Denn die »Tragik der Allmende« – die langfristig ineffiziente und zerstörerische Übernutzung von Gemeingütern zugunsten kurzfristiger individueller Interessen – ist laut Elinor Ostrom nur vermeidbar, wenn es gelingt, solidarische, kollektiv vereinbarte und dadurch verbindliche Regeln des Zugangs sowie der Sanktionierung bei Verstößen zu etablieren.209 Die Belegschaftsgremien der Glashütte Süßmuth hatten von Beginn an das Fehlen der strukturellen Absicherungen ihrer Mitbestimmungsrechte und Schutzmechanismen gegen die Eigenmächtigkeit der Geschäftsführung problematisiert. Mit ihren Lösungsansätzen konnten sie sich aber nicht durchsetzen. Sie waren an die Grenzen der im Belegschaftsunternehmen in neuen Formen reproduzierten Machtverhältnisse geraten, die sich – weil insbesondere diejenigen Personen in den Machtpositionen eine 206 Patrizia Battilani und Harm G. Schröter, »Principal Problems and General Development of Cooperative Enterprises«, in: Dies. (Hg.), The Cooperative Business Movement, 1950 to the Present, Cambridge 2012, S. 10; Rainer Duhm, Wenn Belegschaften ihre Betriebe übernehmen. Probleme und Chancen selbstverwalteter Fortführung von Krisenbetrieben, Frankfurt a.M. u.a. 1990, S. 71f. 207 Hans G. Nutzinger (Hg.), Ökonomie der Werte oder Werte in der Ökonomie? Unternehmenskultur in genossenschaftlichen, alternativen und traditionellen Betrieben, Marburg 1996. 208 Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Berlin 2013, S. 338. 209 Elinor Ostrom, Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt, Tübingen 1999.

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Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Auseinandersetzung hierüber abwehrten – als unüberwindbar erwiesen. Die zeitlich versetzte und fehlende kollektive Reflexion über die ungleichen Voraussetzungen für eine demokratische Teilhabe und über die bestehenden Machtasymmetrien ist daher als eine entscheidende Ursache für das Ende der Selbstverwaltung hervorzuheben – ein Aspekt, der in der Forschung generell erstaunlich wenig Beachtung findet. Der von Franz Oppenheimer als Gesetzmäßigkeit deklarierte Transformationsprozess kann anhand des Falls Süßmuth als ein Resultat von Machtkämpfen beschrieben werden. Im Zuge einer Moralisierung wurden diese indes nicht macht-, sondern allein verteilungspolitisch interpretiert. Die Defizite der demokratischen Praxis, die alten wie neuen Machtasymmetrien, erschwerte den Beschäftigten, sich hierüber zu verständigen und anzunähern. Die Folgen waren fatal: Der personalisierte Modus der Konfliktbearbeitung beförderte – zeitgleich mit der sich im Betrieb durchsetzenden »barbarischen« Form der Rationalisierung – Prozesse der Gruppenbildung, der Vereinzelung und der Entsolidarisierung innerhalb der Belegschaft, die deshalb zu einer geschlossenen Gegenwehr gegenüber ihrer Entmachtung und »Enteignung« (auf Dauer) nicht mehr in der Lage war. Prozesse der Aufund Abwertung von Wissensbeständen waren mit Prozessen der Auf- und Abwertung von Interessen einhergegangen. Die zum Teil intransparenten Interessen der Gläubiger und Gewerkschaft wurden unter dem Deckmantel »ökonomischer Notwendigkeiten« universalisiert und als vermeintliche Allgemeininteressen vermittelt. Die während der Betriebsübernahme kollektiv artikulierten Forderungen und Hoffnungen der Belegschaft (auf gerechte Löhne, gute Arbeit und demokratische Teilhabe) wurden hingegen von ihrer ökonomischen Rationalität abgespaltet und hierdurch auf Lohn- oder sonstige Partikularinteressen reduziert. Vormals legitime Bedürfnisse der Beschäftigten waren im Belegschaftsunternehmen als unlautere Beweggründe in Verruf geraten. In der Krise der demokratischen Praxis war die Artikulation, Anerkennung und Durchsetzung individueller sowie kollektiver Interessen der Beschäftigten kaum noch möglich. Auf lange Sicht hatte sich damit im Fall Süßmuth weniger die Abhängigkeit der Belegschaft von einzelnen Personen in der Unternehmerfunktion reduziert, als vielmehr ihr Anspruch auf Rechte. Am Ende der Selbstverwaltung hatte sich bei allen Beteiligten eine tiefe Enttäuschung und Resignation eingestellt. Allein die Einsicht in die »ökonomische Vernunft« vermochte in der erneut eingetretenen Pattsituation zeitweilig einen neuen Konsens im Unternehmen herzustellen. Die »ökonomische Vernunft« implizierte eine diskursive Bereinigung des Ökonomischen vom Politischen, das zugleich einer Reduktion auf ein praxisfernes Verständnis unterlag. Erst als Resultat dieser Trennungs-, Reduktionsund Abstraktionsprozesse standen die »ökonomischen Notwendigkeiten« den demokratischen Ansprüchen als hiervon abgetrennte »Ideale« gegenüber. In Reaktion auf die Konflikte der Selbstverwaltung, die den ideologischen Charakter des vermeintlich objektiven Handelns der geschäftsführenden Gremien dechiffrierten, hatte sich auf Ebene der Deutungen eine Verkehrung in der Bestimmung des Ökonomischen und Politischen durchgesetzt: Die Forderungen und Vorschläge der Belegschaftsgremien wurden, obwohl sie ökonomische Funktionalität beanspruchen und diese ansatzweise auch zeigen konnten, als »politisch« und »idealistisch« delegitimiert, deren Zurückdrängung zugunsten einer zentralisierten Form der Unternehmensführung als »ökonomisch

Die Gründe für das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

vernünftig« und pragmatisch erschien, obwohl sich diese in der Mundglashütte nicht bewährt hatte. In der Krise der demokratischen Praxis konnten die Ansprüche der Beschäftigten auf Selbstverwaltung nicht mehr zur Geltung kommen und in der hieraus resultierenden Krise der Repräsentation auch nicht (mehr) politisch artikuliert werden. Die sich zu Gewissheiten verfestigenden Annahmen der geschäftsführenden Personen vom richtigen Wirtschaften erzeugten dagegen jene Sachzwänge, die im Zeichen der »ökonomischen Vernunft« ein Zurückdrängen der Mitsprache wie auch der Rechte der Belegschaft als erforderlich erscheinen ließen. Als Personifizierung dieser »ökonomischen Vernunft« nahmen [Harald Meier] und [Konrad Scholz] in der Glashütte Süßmuth letztlich die Rolle der von Karl Heinz Roth beschriebenen »Geschäftsführer der Alternativbewegung« ein.210 Der Siegeszug der »ökonomischen Vernunft« besiegelte die Niederlage des demokratischen Aufbruchs in der Glashütte Süßmuth, die sich schließlich in den Erinnerungen verfestigte. Dauerhaft verstummt waren die vom bread-nexus abweichenden Narrative wie auch jene in der Selbstverwaltung sehr aktiven Beschäftigten, die sich mit dem Amtsantritt des neuen Geschäftsführers ins Private zurückzogen oder den Betrieb verließen. Ihre Deutungen vom Ursprung und Verlauf der Selbstverwaltung sowie hiermit verbundenen Hoffnungen, Forderungen und Kritik hatten in der Krise der demokratischen Praxis ihre Berechtigung verloren. Die sich am Ende der Selbstverwaltung verfestigenden Gewissheiten von den »ökonomischen Notwendigkeiten« ermöglichte [Harald Meier], die Kritik an der undemokratischen Ausrichtung der von ihm vorbereiteten Sanierung als »baren Unsinn« und als »Kinderkram« abzutun.211 Die in den folgenden Jahren unter den Beschäftigten sich regende Unzufriedenheit über die nunmehr gänzlich fehlenden Mitsprachemöglichkeiten schien mit dem Hinweis entkräftet, dass die »vielen Versammlungen« und Diskussionen früher auch nichts »gebracht hatten«.212 Selbst die enttäuschende Erfahrung der Niederlage ihres demokratischen Aufbegehrens richtete die nunmehr vollends eigenmächtig agierende Geschäftsleitung zur Abwehr ihrer Ansprüche gegen die Belegschaft. Doch auch wenn die Erinnerungen an die Zeit der Selbstverwaltung für die Beschäftigten mehrheitlich negativ waren, so prägten die hierbei gesammelten Erfahrungen maßgeblich die weiteren Entwicklungen und Auseinandersetzungen in der Glashütte Süßmuth, wie im folgenden Kapitel herauszuarbeiten ist.

210 Roth, Geschäftsführer (s. Anm. 13). 211 [Meier], 3. Juni 1976 (s. Anm. 4). 212 Geschäftsleitung, 22. Mai 1978 (s. Anm. 196), S. 1.

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9. Transformation und Niedergang. Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

Geschwindigkeit und Umfang der Betriebsschließungen bzw. Produktionsstilllegungen rechtfertigen, auch in der Historisierung von einer Krise der bundesdeutschen Mundglasbranche zu sprechen, die letztlich zum Niedergang derselben führte. Seit den 1970er Jahren war in der Bundesrepublik ein regelrechtes Mundglashüttensterben zu beobachten.1 Im Wissen um die Narrativität von Krise als einer »gesellschaftlichen Selbstbeschreibungskategorie«2 gilt es aber, die zeitgenössischen Deutungen von den Krisenursachen in ihrer handlungsleitenden Bedeutung zu berücksichtigen und deren Relevanz für die Mundglashütten differenziert zu bewerten. Denn auch für die Mundglasbranche traf zu, was Ingo Köhler generell für die Erklärungen von Firmenzusammenbrüchen in den 1970er Jahren herausstellt: Im Zuge einer diffundierenden Trennlinie zwischen Ursachen und Symptomen der Krise wurden »externe Strukturund Umfeldveränderungen« als »unabwendbare Heimsuchung« überinterpretiert, der gegenüber endogene Faktoren »kaum mehr eine Rolle« spielten.3 Während die Krise in den Darstellungen der Unternehmensleitungen als eine kaum vermeidliche Naturge-

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Gab es in der Bundesrepublik Ende der 1970er Jahre noch ca. »40 Betriebe mit Mundglasfertigung«, so hatte sich diese Zahl Anfang der 1980er Jahre bereits halbiert. Der ersten Welle von Produktionsstilllegungen Mitte der 1970er folgte eine zweite Anfang der 1980er Jahre und schließlich eine dritte nach dem Fall der Mauer. Gerhard Faas, »Ihr Werkzeug ist die Glasmacherpfeife. Hohl- und Kelchglasmacher sind begehrte Fachleute«, in: [namentlich nicht bekannte Zeitung], 25. September 1980, in: AGI; »Glas im Museum«, in: Extra Tip, 13. Mai 1983, in: AGI; Helmut A. Schaeffer, Roland Langfeld und Margareta Benz-Zauner (Hg.), Werkstoff Glas, München 2012, S. 33f. Jakob Tanner, »Krise«, in: Christof Dejung, Monika Dommann und Daniel Speich Chassé (Hg.), Auf der Suche nach der Ökonomie, Tübingen 2014, S. 176. Ingo Köhler, »Havarie der ›Schönwetterkapitäne‹? Die Wirtschaftswunder-Unternehmer in den 1970er Jahren«, in: Ders. und Roman Rossfeld (Hg.), Pleitiers und Bankrotteure. Geschichte des ökonomischen Scheiterns vom 18. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a. 2012, S. 265f.

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Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

walt erschien, wurden das eigene Handeln bzw. die »eigenen Defizit[e] im Wettbewerb« nicht reflektiert, wie Ralf Ahrens für den westdeutschen Maschinenbau konstatiert.4 Die Glashütte Süßmuth war in der Bundesrepublik eine der letzten, die bis Mitte der 1990er Jahre im Mundblasverfahren produzierte. Von den acht zum Vergleich herangezogenen Unternehmen existierten zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur noch die beiden Glashütten im Bayerischen Wald: Eisch und Theresienthal. Die zeitgenössische und sich verfestigende Lesart von der krisenbedingten Unausweichlichkeit des Branchenniedergangs, der nur wenigen Unternehmen das ökonomische Überleben in der Nische ermöglicht hat, scheint sich bestätigt zu haben.5 Ausgehend von der historischen Kontingenz dieser Entwicklung sollen im Folgenden dagegen die Optionen aufgezeigt werden, die in der Mundglasbranche zur Verfügung standen. Für den Fall Süßmuth ist zu untersuchen, in welcher Hinsicht die Erfahrungen der Selbstverwaltung nach deren Ende fortwirkten. Wurde die Glashütte Süßmuth tatsächlich wieder ein »ganz normales Unternehmen«, wie es der Geschäftsführer [Harald Meier] darstellte?6

9.1 Der Preis der Flexibilität. Unternehmen und Branche im Überblick Die in den 1950er Jahren außerordentlich expansive Unternehmensentwicklung war in der Glashütte Süßmuth und einem Teil der Vergleichsglashütten bereits in den 1960er Jahren zum Stillstand gekommen.7 Gegenüber den sich ändernden Rahmenbedingungen des Wirtschaftens versuchten das Belegschaftsunternehmen und die meisten anderen Mundglashütten sich weiterhin mit Strategien der Expansion zu behaupten, was – wie für den Fall Süßmuth aufgezeigt – die organisatorischen Herausforderungen in der Betriebs- und Unternehmensführung massiv erhöhte.8 Um auf mehr denn je unvorher4

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Ralf Ahrens, »Eine alte Industrie vor neuen Herausforderungen. Aufbrüche und Niedergänge im ost- und westdeutschen Maschinenbau seit den 1960er Jahren«, in: Werner Plumpe und André Steiner (Hg.), Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960–1990, Göttingen 2016, S. 65f.; Ähnlich Werner Bührer, »›…insofern steckt in jedem echten Unternehmer auch ein künstlerisches Element‹. Die Erneuerung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) in den 1970er Jahren«, in: Morten Reitmayer und Ruth Rosenberger (Hg.), Unternehmen am Ende des »goldenen Zeitalters«. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008, S. 245. Siehe bspw. Friedrich Karl Hucke, »Quo vadis Glasindustrie?«, in: Die Schaulade, Juli 1973, S. 938–939; Lagebericht und Konsolidierungskonzept Klaus Breit, November 1982, in: CD-ROM-Beilage bei Ricke 2007, S. 4; Jürgen Dispan, Glasindustrie in Deutschland. Branchenreport 2013, Stuttgart 2013, S. 32. [Harald Meier] in Wolfgang Müller-Haeseler, »Wir sind ein ganz normales Unternehmen. Die Glashütte Süßmuth hat die turbulente Vergangenheit überwunden«, in: FAZ, 13. Dezember 1979, in: AGI; »›Wir verkaufen Glas und keine Politik‹. Süßmuth-Hütte in Immenhausen ist nach zehn Jahren Belegschaftsregie von Banken unabhängig«, in: FR, 1. März 1980, in: FHI, Schöf-1199; »Das Modell Süssmuth zehn Jahre danach. Heute ein Betrieb wie viele andere«, in: Westdeutsche Zeitung, 24. Oktober 1981, in: Privatarchiv Siebert. Siehe Kapitel 1.1. Von den branchenweiten Expansionsbestrebungen zeugten die in den 1970er Jahren mitunter stark angestiegenen Umsatzzahlen. Siehe Tabelle 3 im Anhang; Annemarie Rath, »Firmengeschichte der Wiesenthalhütte«, in: Helmut Ricke (Hg.), Wiesenthalhütte. Design in Glas 1957–1989, München u.a. 2007, S. 332.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

sehbare Marktentwicklungen reagieren zu können, war die unternehmerische Flexibilität aufrechtzuerhalten und bestenfalls zu steigern. In den zeitgenössischen und rückblickenden Branchenanalysen wurde Flexibilität nur unter dem Aspekt der Finanzierung erörtert. Demnach sei der Niedergang der Mundglasbranche auf eine »ungenügende Kapitalausstattung« der überwiegend mittelständischen Unternehmen und auf deren nur »begrenzten Zugang zu den Kapitalmärkten« zurückzuführen, die ihnen die Anpassung an verschärfte Wettbewerbsverhältnisse erschwert und ihren unternehmerischen Spielraum in einer »investitionsgetriebenen Branche« eingeschränkt habe.9 Anhand der Vergleichsunternehmen und der Glashütte Süßmuth lässt sich zeigen, dass diese Deutung zwar die unternehmerische Entscheidungsfindung prägte, zur Erklärung der Branchenentwicklung allerdings wenig Beweiskraft besitzt.

Die Entwicklungen in den Vergleichsunternehmen In den meisten Vergleichsunternehmen veränderten sich in den 1970er Jahren die Eigentumsverhältnisse.10 Zum Teil wechselten die Inhaber infolge von Liquiditäts- und Rentabilitätsproblemen, womit sich – weniger über eine Eigenkapitalzufuhr als vor allem über Fremdkapitalbezug – neue Finanzierungsoptionen eröffneten. Wie bei Süßmuth war dies in den Glashütten Hirschberg und Buder sowie in der Josephinenhütte der Fall. Letztere ging 1971 in Konkurs und wurde anschließend von der Gral-Glashütte übernommen.11 Das Kristallglaswerk Hirschberg wurde im Frühjahr 1972 vom Konzern VEBA-Glas abgestoßen, weil trotz Investitionen von über fünf Millionen DM in den 1960er Jahren jährlich zunehmende Verluste zu verzeichnen waren.12 Die Betriebsschließung wurde durch die staatlich geförderte Übernahme des Schweizer Handelsunternehmers Carl Josef Haefeli verhindert.13 Haefeli veranschlagte einen Kapitalbedarf in Höhe von 3,75 Millionen DM; das Land Hessen bewilligte ihm eine 100-prozentige Ausfall9

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»Die deutsche Glasindustrie und der Weltmarkt«, in: Die Schaulade, Juli 1976, in: AGI, S. 913; VdGMemorandum »Mehr Wettbewerb – auch für Staatshandelsländer« an BMWi, Juni 1980, in: BArch, B 102/273998, S. 5–7; Otto Moritz, Die Entwicklung der Glasindustrie in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Beitrag zur Industriegeografie, Regensburg 1989, S. 75–77; Dispan, Glasindustrie (s. Anm. 5), S. 1, 29. Siehe Tabelle 1 im Anhang. Über den Zeitpunkt der Übernahme sind unterschiedliche Angaben überliefert. Der Firmenbestand im WABW endet mit dem Jahr 1971, auf das der damalige Betriebsratsvorsitzende [Günter Nowak] die Übernahme durch Gralglas datierte. Laut der vom Gralglas-Museum erstellten Unternehmenschronik sei die Übernahme 1972, nach Ricke und Loyen hingegen erst 1975 erfolgt. Protokoll Interview der Autorin mit [Günter Nowak], 10. November 2014, im Besitz der Autorin, S. 7; Gralglas-Museum, Unternehmenschronik Gral-Glashütte, Online: www.duernau.de/index.php?id=109; Helmut Ricke und Wilfried van Loyen, »Firmengeschichte Gralglas«, in: Dies. (Hg.), gralglas. Deutsches Design 1930–1981, Berlin u.a. 2011, S. 206. Protokoll Besprechung zwischen VEBA-Glas-Vorstand und Betriebsrat des Kristallglaswerks Hirschberg, 22. November 1971, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner; Aktenvermerk Magistrat Stadt Allendorf, 16. Dezember 1971, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner. Protokoll Besprechung Hirschberg, 22. November 1971 (s. Anm. 12); Magistrat Stadt Allendorf, 16. Dezember 1971 (s. Anm. 12). Zum Zeitpunkt der Übernahme war der im Glas- und Porzellangroßhandel tätige Haefeli bereits Eigentümer einer Kristallglashütte in Sarnen/Schweiz. Werner Mascos, »Arbeitsplätze gesichert. Kristallglaswerk Hirschberg wird voll weiterarbeiten«, in: FR, 4. Mai

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Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

bürgschaft für ein Darlehen von zwei Millionen DM und einen Investitionszuschuss von 200.000 DM.14 Im April 1973 übernahm Haefeli auch die in Konkurs gegangenen Vereinigten Driburger Glaswerke im nordrhein-westfälischen Bad Driburg.15 Mit den Gewinnen aus der maschinellen Glasproduktion im Bad Driburger Werk wollte er die Mundglashütte Hirschberg subventionieren.16 Das Familienunternehmen Ernst Buder musste im August 1974 Konkurs anmelden, als nach verlustreichen Jahren die Summe der Verbindlichkeiten einen Betrag von fast vier Millionen DM erreicht hatte.17 Die Firma wurde ohne Beteiligung der Familie Buder in Form der Ende 1974 neugegründeten Kristallglaswerk Buder GmbH & Co KG fortgeführt.18 Das Land Hessen bewilligte ihr eine 100-prozentige Ausfallbürgschaft für einen Kredit in Höhe von 1,8 Millionen DM; als 1983 erneut ein Konkurs drohte, konnte Buder einen weiteren staatlich subventionierten Kredit aufnehmen.19 In manchen Unternehmen veränderte sich die Eigentümerstruktur im Zuge einer Angliederung an einen Konzern. Die Kristallglashütte Theresienthal wurde im November 1974 zur Hälfte von der Porzellanherstellerin Hutschenreuther AG übernommen, die im Rahmen umfassender Investitionen 1982 zur alleinigen Eigentümerin wurde.20 Die Wiesenthalhütte ging mit dem Verkauf durch Ludwig und Klaus Breit im Oktober 1975

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1972, in: AGI; Gustl Müller-Dechent, »In ›Hirschberg‹ ziehen alle an einem Strang«, in: FR, 20. Januar 1973, in: AGI. Bewilligungsbescheid HLT an Carl Haefeli vom 3. Juli 1972, in: HHStAW, Abt. 502, Nr. 1987. Protokoll Sitzung des Wirtschaftsausschusses des Kristallglaswerks Hirschberg, 9. Mai 1973, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner. Carl Josef Haefeli in ebd., S. 3. »Ein Vergleich zur rechten Zeit hätte viel Schaden erspart. Die Misere der Glashütte Volpriehausen«, in: Tageblatt, 20. September 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie. Die Eigentümerstruktur dieser KG konnte nicht rekonstruiert werden, da der HR-Eintrag beim zuständigen Amtsgericht Northeim bereits gelöscht war. Die Gesellschaft wurde offensichtlich von einer »Interessengruppe« getragen, zu der der Unternehmer Civati (als Vertreter einer Schweizer Glashütte, hinter der »angeblich eine amerikanische Gruppe« stand) und die Exportfirma Leupold gehörten. Mit rückständigen Forderungen als Einlagen finanziell beteiligt waren zudem Kund*innen, Lieferant*innen sowie Belegschaftsangehörige. Notiz Sitzung des Landeskreditausschusses, 27. August 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Notiz IG Chemie, 29. August 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie; »Landesbürgschaft über 1,8 Millionen DM. Kristallglaswerk in Volpriehausen beginnt mit 0,7 Millionen DM Eigenkapital«, in: HNA, 28. November 1974, in: KBV. Unternehmenschronik Glashüttenwerk Ernst Buder, erstellt von Detlev Herbst, in: KBV, S. 4–6. Von der erneuten Kreditaufnahme 1983 ist lediglich überliefert, dass sich die Stadt Uslar mit dem Kauf von Werksgrundstücken zum Preis von 350.000 DM an einem »größere[m] Sanierungskonzep[t] für das Kristallglaswerk« Buder beteiligte. »Beitrag zur Sanierung. Stadt will Grundstücke der Firma Buder kaufen«, in: HNA, 22. September 1983, in: KBV. Bereits 1963 hatte die Inhaberfamilie von Poschinger den Direktor der Glasfachschule Zwiesel Max Gangkofner als Teilhaber von Theresienthal aufgenommen, an den im Januar 1973 sämtliche Geschäftsanteile übergingen. Die Übernahme von 50 Prozent der Anteile an Theresienthal im November 1974 erfolgte für die bis dahin nicht an der Glasproduktion beteiligten Hutschenreuther AG im Rahmen einer Diversifikationsstrategie. Alfons Hannes, Glas aus dem Bayerischen Wald, Grafenau 1975, S. 128; Marita Haller und Gerhard Pscheidt, Theresienthal in alten Fotos, Riedlhütte 2008, S. 107–109; »Hutschenreuther an Glashütte beteiligt«, in: FR, 14. November 1974, in: AGI.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

vollständig in das Eigentum der Schott-Gruppe über.21 In beiden zuvor inhabergeführten Familienunternehmen wurden diese Entscheidungen nicht aus einer finanziellen Notlage heraus getroffen, sondern vor allem wegen einer ungeklärten Nachfolge.22 Die vormaligen (Allein-)Besitzer versprachen sich vom Zusammenschluss mit einem Konzern angesichts der ungewissen Branchenentwicklung eine langfristige Absicherung der Unternehmensexistenz.23 Neben einer Finanzierungssicherheit für künftige Investitionen erwarteten sowohl Theresienthal als auch Wiesenthal vertriebs- und marketingbezogene Synergieeffekte.24 Darüber hinaus hoffte Klaus Breit als nunmehr angestellter Geschäftsführer der Wiesenthalhütte, von Schotts technischer Expertise für künftige Rationalisierungen im Betrieb profitieren zu können.25 Allein die Glashütten Eisch und Gralglas verblieben in den 1970er Jahren weiterhin im Familienbesitz infolge geglückter Übergaben an die nachfolgenden Generationen. Der Unternehmensgründer Valentin Eisch übertrug 1963 die Geschäftsanteile zu gleichen Teilen seinen drei Söhnen Erich, Alfons und Erwin Eisch, die in verschiedenen Unternehmensbereichen bereits zuvor leitende Funktionen ausübten.26 Ende der 1990er Jahre ging die Unternehmensleitung auf Familienangehörige aus der dritten Generation über.27 In der Gral-Glashütte lag nach 1945 die kaufmännische Leitung bei Rolf Seyfang, während sich sein Vater und Unternehmensgründer Karl Seyfang auf die Produktentwicklung konzentrierte und hierauf auch noch in den 1960er Jahren aus dem Ruhestand heraus Einfluss nahm.28 Dessen Enkel Rolf-Peter Seyfang übernahm 1972 die technische Leitung, erhielt 1974 Prokura und wurde im Januar 1976 neben seinem Vater Rolf Seyfang zum zweiten Geschäftsführer berufen, als solcher war er nunmehr auch für Marketing und Produktentwicklung verantwortlich.29

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Rath, Wiesenthalhütte (s. Anm. 8), S. 335–337; Helmut Ricke, »Klaus Breit. Unternehmer, Designer, Wissenschaftler«, in: Ricke, Wiesenthalhütte (s. Anm. 8), S. 18. Haller und Pscheidt, Theresienthal (s. Anm. 20), S. 107; Ricke, Breit (s. Anm. 21), S. 18f.; Klaus Breit, Die Wiesenthaler Glashütte. Erinnerungen, Aufzeichnungen, Betrachtungen, Schwäbisch-Gmünd 1999, S. 543–549. Im Fall Theresienthal erfolgte der Anschluss an die Hutschenreuther AG auf Initiative des Alleininhabers Max Gangkofner, dem stand der als Inhaber ausgeschiedene Egon von Poschinger »mit Besorgnis« gegenüber. Haller und Pscheidt, Theresienthal (s. Anm. 20), S. 108f. Ebd., S. 108; Christoph Glaser und Dominik Wessely, Unternehmen statt unterlassen. Von der ungewöhnlichen Rettung eines Traditionsbetriebs, Berlin 2006, S. 50; Rückblick und Lagebericht Klaus Breit, 1. März 1979, in: CD-ROM-Beilage bei Ricke 2007, S. 4; Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 22), S. 543f. Breit, 1. März 1979 (s. Anm. 24), S. 2–4; Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 22), S. 543f. Erich Eisch hatte die kaufmännische Leitung inne, Alfons Eisch war für den Veredelungsbereich zuständig und Erwin Eisch war als Gestalter tätig. Hannes, Bayerischer Wald (s. Anm. 20), S. 114. Ariane P. Freier, »Eisch. Vom Glasveredeler zum Weltlieferanten«, in: Passauer Neue Presse, 26. März 2013, S. 6; Alfons Eisch, Familie Eisch. 300 Jahre im Glasgewerbe, Frauenau 2013, S. 64. Wann Karl Seyfang (1881–1971) in den Ruhestand trat, ist nicht überliefert. 1963 habe er sich noch mit eigenen Entwürfen in die Sortimentsgestaltung eingebracht. Helmut Ricke, »Von Gral-Glas zu gralglas. Gestaltung wird Design«, in: Ders. und Wilfried van Loyen (Hg.), gralglas. Deutsches Design 1930–1981, Berlin u.a. 2011, S. 100; Helmut Ricke, »Form, Farbe und Dekor. Konzepterweiterung 1959 bis 1970«, in: Ricke und Loyen, gralglas (s. Anm. 11), S. 99. Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 206–208.

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Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Die Entwicklung der Eigentumsverhältnisse der beiden Rosenthal-Glashütten wurde im Rahmen dieser Arbeit nicht rekonstruiert.30 Verwiesen sei allerdings auf den organisatorischen Aufbau der Rosenthal-Gruppe, an dem sich mitunter das Leitungspersonal mittelständischer Glashütten orientierte.31 Zur Rosenthal AG als HoldingGesellschaft gehörten die Produktionsgesellschaften der verschiedenen Produktgruppen.32 Als Vorreiter in der Branche hatte Rosenthal seit Mitte der 1950er Jahre eigene Vertriebsgesellschaften für das Inlands- und Auslandsgeschäft sowie mit den Rosenthal Studio-Häusern eigene Einzelhandelsgeschäfte gegründet.33 Die Tendenz zu einer konzernähnlichen Struktur und gesellschaftsrechtlichen Trennung von Produktion und Vertrieb ließ sich in Ansätzen – wenn auch zwangsläufig in sehr viel kleinerem Maßstab – im weiter unten darzustellenden Aufbau der Süßmuth-Unternehmensgruppe und in der Gral-Glashütte im Zusammenhang mit der Übernahme anderer Mundglashütten beobachten. Ende der 1950er Jahre hatte Gralglas die Glashütte Rheinkristall in Leichlingen und zu Beginn der 1970er Jahre die Josephinenhütte übernommen. Unter der Leitung von Gralglas wurden beide Firmen zunächst als gesellschaftsrechtlich eigenständige Produktionsgesellschaften weitergeführt; nach Einstellung der Produktion bestanden sie als Vertriebsgesellschaften fort.34 Auf eine Orientierung an Rosenthal und anderen Konzernen der Wirtschaftsglasbranche dürfte auch die Kombination von maschinellen und manuellen Produktionsstätten zurückgegangen sein, die der letzte Inhaber des Kristallglaswerks Hirschberg anstrebte.

Die Entwicklungen in der Glashütte Süßmuth Bei seinem Amtsantritt kündigte [Harald Meier] eine neue Etappe in der Unternehmensentwicklung und das Schlachten »heiliger Kühe« im Sinne von »festgefahrenen Vorstellungen« an.35 Diese Kampfansage richtete [Meier] gegen Strukturen und Prak30

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Zum defizitären Forschungsstand bzgl. Rosenthal siehe Yves Vincent Grossmann, Von der Berufung zum Beruf. Industriedesigner in Westdeutschland 1959–1990. Gestaltungsaufgaben zwischen Kreativität, Wirtschaft und Politik, München 2018, S. 188f. Belegt ist diese Orientierung für [Harald Meier]. Siehe Mitteilung [Harald Meier], 27. August 1976, in: AGI. Zur Rosenthal AG gehörten u.a. die als Tochtergesellschaften ausgegründeten Produktionsgesellschaften Rosenthal Glas und Porzellan AG (in Selb) und die Thomas Glas und Porzellan AG (in Waldershof), die 1974 zur Rosenthal Glas und Porzellan AG zusammengeführt wurden, verschiedene Gesellschaften im Bereich der technischen Keramik (wie die Rosenthal Isolatoren GmbH und die Rosenthal Technische Werke), die Anfang der 1970er Jahre zur Rosenthal Technik AG vereint wurden, und die Rosenthal Einrichtung KG. Siehe Unternehmenschronik in: Hermann Schreiber, Dieter Honisch und Ferdinand Simoneit (Hg.), Die Rosenthal-Story, Düsseldorf 1980, S. 219–223, 222f.; Bernd Fritz, Die Porzellangeschirre des Rosenthal-Konzerns, 1891–1979, Stuttgart 1989, S. 19; Grossmann, Industriedesigner (s. Anm. 30), S. 190f. Helga Hilschenz und Bernd Fritz, Rosenthal. Hundert Jahre Porzellan, Stuttgart 1982, S. 208; Ferdinand Simoneit, »Rosenthal und Rosenthaler«, in: Ders., Hermann Schreiber und Dieter Honisch (Hg.), Die Rosenthal-Story, Düsseldorf 1980, S. 184; Fritz, Porzellangeschirre (s. Anm. 32), S. 18f. Siehe Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 202–208; Ricke, Form (s. Anm. 28), S. 78–85. Ebenso Firmenpublikationen (Gralglas), 1948–1981, in: CD-ROM-Beilage bei Ricke und Loyen 2011. Rainer Merforth, »Bei Süssmuth bläst jetzt ein anderer Wind. Glashütte will ›heilige Kühe‹ nicht respektieren«, in: HNA, 10. April 1976, in: AGI.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

tiken aus der Zeit der Selbstverwaltung wie auch aus der Zeit Richard Süßmuths Unternehmensführung. Innerhalb weniger Jahre konnte die neue Geschäftsleitung die eng verwobenen finanziellen und juristischen Probleme, die den Handlungsspielraum des Belegschaftsunternehmens von Anfang an massiv eingeschränkt hatte, beseitigen.36 Sie aktivierte hierfür Kontakte zu den Geldgebern aus dem Gründerkreis der GLSBank, zu deren explizitem Anliegen die Förderung sozialer Wirtschaftsformen gehörte. Mit Hilfe des anthroposophischen Unternehmers Alfred Rexroth bzw. – nach dessen plötzlichen Tod im Januar 1978 – der Neuguss Verwaltungs-GmbH als Verwalterin seines Erbes gelang ihr die finanzielle Sanierung des Unternehmens, in deren Zentrum ein Schuldenschnitt stand.37 Die neuen Investoren stellten – unter der Voraussetzung einer Bereinigung der Passivseite – in Aussicht, den Eigenkapitalbestand der Glashütte Süßmuth um 500.000 DM aufzustocken.38 Das Land Hessen handelte daraufhin mit den Banken einen »Konzertverzicht« aus: Entsprechend der »damaligen Risikoverteilung« erließ das Land Hessen als Hauptgläubigerin der Firma die Rückzahlung eines Betrags von 362.000 DM, die BfG 173.000 DM und die LKK 115.000 DM.39 Sowohl die alten als auch die neuen Geldgeber knüpften ihr Engagement an die Bedingung, dass die Belegschaft auf die Auszahlung der seit 1973 als Darlehen zurückgestellten Weihnachtsgeldforderungen verzichtet, die sich Ende 1978 auf einen Betrag von knapp einer Million DM beliefen.40 Das steuer- und haftungsrechtlich brisante Modell Süßmuth wurde von einer völlig neuen Rechtskonstruktion abgelöst: Die im Juni 1977 gegründete Süßmuth-MitarbeiterStiftung trat an die Stelle des nicht-eingetragenen Belegschaftsvereins.41 Als alleinige Gesellschafterin der Glashütte sollte ihr die Tätigkeit der Vermögensverwaltung zukommen.42 Die Überführung des Firmenstammkapitals in das nicht veräußerliche Stif-

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Mit »Geschäftsleitung« ist im Folgenden das Leitungsgremium der GHS gemeint, zu dem neben dem Geschäftsführer und Vertriebsleiter [Harald Meier] der 1976 zum Finanz- und Personalleiter berufene [Konrad Scholz] und der bisherige Betriebsleiter [Rudolf Woge] gehörten. Auf [Meiers] Vorschlag erteilte die Gesellschafterversammlung [Scholz] und [Woge] im Herbst 1976 die Gesamtprokura. Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 18. Oktober 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 3; Meldung zum Eintrag ins Handelsregister, 2. November 1976, in: Archiv AGK, HRB 9011. Neuguss sah sich in unmittelbarer Tradition zur 1920 – nach Rudolf Steiners Theorie der »Dreigliederung des sozialen Organismus« – gegründeten Aktiengesellschaft Der Kommende Tag, in der Rexroth einst mitgearbeitet hatte. Neuguss GmbH (Hg.), Vergangenheit – Gegenwärtiges – Künftiges. Eine Suchbewegung. Festschrift anlässlich 40 Jahre Neuguss Verwaltungsgesellschaft mbH (1972–2012), Berlin 2012, in: Privatarchiv [Betz], S. 12, 4. Siehe Kapitel 4.3. Notiz [Harald Meier], 8. Februar 1977, in: AGI. HWMi an LKK und BfG, 2. Januar 1978, in: Archiv HMdF; HWMi an HLT, 13. Februar 1978, in: Archiv HMdF; HLT an Glashütte Süßmuth, 28. November 1978, in: Archiv HMdF. GHS an HLT, 29. September 1978, in: Archiv HMdF; HLT an Glashütte Süßmuth, 28. November 1978 (s. Anm. 39); Protokoll Vereinsversammlung, 10. Februar 1977, in: AGI. Verfassung Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung, 29. Juni 1977, in: Archiv AGK, HRB 9011; Neufassung Gesellschaftsvertrag der GHS GmbH, 5. Dezember 1977, in: Archiv AGK, HRB 9011. Protokoll Gespräch mit Vertretern des Finanzamtes Kassel, 14. September 1976, in: AGI. Anders als eine Unternehmensträgerstiftung übt eine vermögensverwaltende Unternehmensstiftung keine unternehmerische Einflussnahme aus. Siehe Annette Schneider, Unternehmensstiftungen. Formen, Rechnungslegung, steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten, Berlin 2004, S. 37–44.

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Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

tungsvermögen sollte den dauerhaften Erhalt des Unternehmens gewährleisten.43 Mit der Förderung kultureller und sozialer Anliegen war der Stiftungszweck gemeinnützig definiert.44 Der Status der Gemeinnützigkeit sollte die künftig nicht für Investitionen benötigten und dem Stiftungsvermögen zufließenden Gewinne der Glashütte von der Vermögens-, Gewerbe- und Körperschaftssteuer befreien und außenstehende Interessierte zu Spenden und Zustiftungen anregen.45 Neben den werbenden Effekten der gemeinnützigen Stiftungstätigkeit sollten sich der Glashütte Süßmuth mit der Option einer künftigen Darlehensvergabe durch die Stiftung auch günstige Finanzierungsmöglichkeiten erschließen.46 Die zuständige Stiftungsaufsicht im Regierungspräsidium Kassel meldete insbesondere wegen der zu geringen (Bar-)Vermögensausstattung Bedenken an.47 Dennoch genehmigte das Hessische Innenministerium in Übereinkunft mit den Hessischen Wirtschafts- und Finanzministerien im November 1977 die Gründung der gemeinnützigen Unternehmensstiftung.48 Daraufhin übertrugen die zehn Gesellschafter*innen ihre bislang für die Belegschaft treuhänderisch gehaltenen Geschäftsanteile der Glashütte Süßmuth GmbH auf die Stiftung.49

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»Süssmuth-Information. Ein Informationsblatt für unsere Kunden und Freunde der Handwerkskunst«, 2. Januar 1978, in: HHStAW, Abt. 818, Nr. 442, S. 2. Die Stiftung verpflichtete sich der »Wahrung und Förderung der Verbundenheit und Beziehung zwischen der bildenden, formgebenden Kunst und dem Kunsthandwerk sowie der Verbreitung durch Ausstellungen, Vorträge, Schulungsveranstaltungen und Publikationen« und der »Förderung der Heimatpflege und Heimatkunde, insbesondere der heimischen Sozial- und Handwerksgeschichte durch die Errichtung und Unterhaltung eines Glashütten- und Handwerksmuseums in Immenhausen«. 1979 kam die »Förderung der beruflichen Ausbildung Jugendlicher und [die] Eingliederung von Behinderten und jugendlichen Arbeitslosen in das Berufs- und Arbeitsleben, insbesondere durch Schaffung einer überregionalen Ausbildungsstätte für Berufe des Glashandwerks (Glasmacher und Glasfeinschleifer etc.)« als weiterer Stiftungszweck hinzu. Stiftungsverfassung, 29. Juni 1977 (s. Anm. 41); Genehmigung einer Ergänzung zur Verfassung der SüßmuthMitarbeiter-Stiftung durch den RP Kassel, 6. April 1979, in: AfsB, Bestand IG Chemie. Unternehmenskonzeption Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung, gezeichnet von [Konrad Scholz], 28. April 1977, in: Archiv RP Kassel, Bestand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung (B-Akte, Band 1); Protokoll Vorstand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung, 4. Januar 1978, in: AGI. Entwurf Verfassung der Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung, 13. Dezember 1976, in: Archiv RP Kassel, Bestand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung (B-Akte, Band 1). Vermerk Stiftungsaufsicht im RP Kassel, 7. März 1977, in: Archiv RP Kassel, Bestand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung (B-Akte, Band 1); RP Kassel an HMdI, 24. Mai 1977, in: Archiv RP Kassel, Bestand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung (B-Akte, Band 1). HMdI an RP Kassel, 17. November 1977, in: Archiv RP Kassel, Bestand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung (B-Akte, Band 1). Das Finanzamt Kassel stellte der Stiftung im Februar 1978 eine vorläufige Bescheinigung der Gemeinnützigkeit aus. Finanzamt Kassel an Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung, 13. Februar 1978, in: Archiv RP Kassel, Bestand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung (B-Akte, Band 1). Siehe Übertragungsurkunden vom 21. November 1977 in: Archiv AG Kassel, HRB 9011. Die Gesellschafter*innen waren hierzu auf der im Februar 1977 letztmalig stattgefundenen Mitgliederversammlung des Belegschaftsvereins ermächtigt worden. Vereinsversammlung, 10. Februar 1977 (s. Anm. 40).

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

Abbildung 16: Rechtskonstruktion der Glashütte Süßmuth GmbH (1978–1986)

Quelle: Grafik der Autorin, Gestaltung Julia Schnegg

Im Oktober 1978 verkaufte die Stiftung – ohne vorherigen kollektiven Beschluss – die Hälfte der Süßmuth-Gesellschaftsanteile zum Preis von 250.000 DM an die Neuguss GmbH, die damit zweite gleichberechtigte Gesellschafterin der Glashütte Süßmuth wurde.50 Über stille Beteiligungen brachten die Stiftung den Verkaufserlös und die Neuguss GmbH weitere 250.000 DM in die Glashütte ein.51 Auf diese Weise war die von Alfred Rexroth einst zugesicherte Kapitalaufstockung in Höhe von insgesamt 500.000 DM zustande gekommen. Die Glashütte Süßmuth befand sich nicht mehr im kollektiven Eigentum der Belegschaft bzw. der für diese treuhänderisch tätigen Belegschaftsvertreter*innen, sondern nur noch zur Hälfte im Eigentum der SüßmuthMitarbeiter-Stiftung. Über diese grundlegende Zäsur in den Eigentumsverhältnissen 50

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Verkaufsvertrag zwischen Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung und Neuguss GmbH, 16. Oktober 1978, in: Archiv RP Kassel, Bestand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung (B-Akte, Band 1). Unmittelbar vor dem Verkauf wurden die stimmrechtslosen Geschäftsanteile der GHS in Höhe von 247.000 DM eingezogen und hierdurch das Stammkapital der Firma von 427.000 DM auf 180.000 DM herabgesetzt. Einziehungsbeschluss der Gesellschafterversammlung (GHS), 16. Oktober 1978, in: Archiv AG Kassel, HRB 9011. [Harald Meier] und [Konrad Scholz] an Neuguss GmbH, 11. September 1978, in: Archiv RP Kassel, Bestand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung (B-Akte, Band 1); Vertrag Errichtung einer stillen Gesellschaft zwischen der Süssmuth-Mitarbeiter-Stiftung und der GHS GmbH, 16. Oktober 1978, in: Archiv RP Kassel, Bestand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung (B-Akte, Band 1).

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Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

hatte die Geschäftsleitung zuvor weder die Belegschaft noch die staatlichen Institutionen informiert. Obwohl die Belegschaft – und nicht der neue »finanzkräftige Partner«, wie es [Harald Meier] in der Öffentlichkeit darstellte52 – zur finanziellen Sanierung den weitaus größten Beitrag leistete (und auch darüber hinaus leisten musste), reduzierten sich ihre Mitbestimmungsrechte auf ein Minimum. Die Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung manifestierte – anders als ihr Name es suggerierte – die endgültige Exklusion der Belegschaft aus der unternehmerischen Entscheidungsfindung. Die weiteren Entwicklungen entzogen sich weitestgehend ihrer Kenntnis und Kontrolle. Das einzige über das Betriebsverfassungsgesetz hinausgehende – in der Praxis jedoch irrelevante – Mitbestimmungselement stellte nach der neuen Rechtskonstruktion die Wahl des Stiftungsvorstandes dar, den die Beschäftigten auf Vorschlag bzw. nach Prüfung der Geschäftsführung alle sechs Jahre wählen sollten.53 Seit 1977 bestand der Vorstand der Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung aus dem Betriebsratsvorsitzenden [Jochen Schmidt], dem bis dahin amtierenden Vorsitzenden der Gesellschafterversammlung [Frank Weber] und dem seit 1976 für die Firma tätigen Steuerberater [Herbert Fischer].54 Über eine Zustiftung durch die Rexroth-Stiftung für Arbeitsforschung traten 1982 mit [Rudolf Betz] als Geschäftsführer der Neuguss GmbH und Rolf Kerler als Vorstandsmitglied der GLS-Bank zwei weitere Mitglieder in den Stiftungsvorstand ein.55 Der Vorstand berief 1977 mit [Konrad Scholz] den Finanzleiter der Glashütte Süßmuth zum Geschäftsführer der Süßmuth-Stiftung, der dieses Amt – auch während seiner Tätigkeit als Geschäftsführer der Glashütte von 1982 bis 1989 und über deren Konkurs hinaus – bis zu seinem Tod im Jahr 2011 innehatte.56

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[Harald Meier] zitiert in FR, 1. März 1980 (s. Anm. 6). Stiftungsverfassung, 29. Juni 1977 (s. Anm. 41), Kap. § 6. Dieser Stiftungsvorstand war nicht von der gesamten Belegschaft gewählt worden, sondern wurde lediglich von der noch aus den zehn Belegschaftsvertreter*innen bestehenden Gesellschafterversammlung und der letzten Versammlung des Belegschaftsvereins im Februar 1977 bestätigt, an der knapp 40 Beschäftigte teilnahmen. Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 8. Februar 1977, in: AGI; Vereinsversammlung, 10. Februar 1977 (s. Anm. 40). Die Zustiftung von 130.000 DM durch die Rexroth-Stiftung war ursprünglich als Beitrag zur Errichtung einer »überregionalen Ausbildungsstätte für Berufe des Glashandwerks« in Immenhausen gedacht, die jedoch nicht realisiert werden konnte. Stattdessen wurde hiermit der 1988 gegründete gemeinnützige Aus- und Fortbildungsverbund im Landkreis Kassel e.V. gefördert, der »jugendlichen Arbeitslosen« und »Behinderten« durch »Ausbildung, Betreuung und Beschäftigungsprogrammen« die »Integration in das Arbeitsleben […] ermöglichen« sollte. Dieser Verein nutzte die Räume der Süßmuth-Villa, hatte mit der GHS und den Tätigkeiten des Glasmachens aber nichts zu tun. Genehmigung einer Ergänzung zur Verfassung der Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung durch den RP Kassel, 20. Juli 1982, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Protokoll Vorstand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung, 12. Juli 1984, in: AGI, S. 2; Protokoll Vorstand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung, 6. Mai 1985, in: AGI; Geschäftsbericht Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung 1987, 3. Januar 1989, in: AGI. Die Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung existierte auch nach dem Konkurs der GHS – seit 2005 unter dem Namen Süßmuth-Stiftung. Mit der Liquidation wurde erst 2013 begonnen. Siehe Unterlagen zur Süßmuth-Stiftung in: Archiv RP Kassel, Bestand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung (A-Akte).

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

Die Rechte der Gesellschafterversammlung wurden von einem Aufsichtsrat ausgeübt, dem die Bestellung, Abberufung sowie Kontrolle der Geschäftsführung oblag.57 Im Rahmen der Verkaufsverhandlungen wählte die (nun aus Vertretern der SüßmuthMitarbeiter-Stiftung und der Neuguss GmbH bestehende) Gesellschafterversammlung [Herbert Fischer] und [Jochen Schmidt] vom Stiftungsvorstand, [Rudolf Betz] und [Tilman Rapp] als Geschäftsführer der Neuguss GmbH sowie [Konrad Scholz] in den Aufsichtsrat.58 Im einzigen Kontrollgremium der Glashütte Süßmuth saß damit eine Handvoll von Personen, die der Geschäftsleitung nahe standen oder dieser angehörten. Die personelle Zusammensetzung des Aufsichtsrats blieb – wie die des Stiftungsvorstands – bis Anfang der 1980er Jahre unverändert. Mit der Ernennung von [Scholz] zum Geschäftsführer der Glashütte rückte im Juli 1982 der damalige Betriebsratsvorsitzende [Frank Weber] nach.59 Infolge des Rückzugs von Neuguss als Gesellschafterin der Glashütte Süßmuth im Februar 1986 trat der Aufsichtsrat geschlossen zurück. Der erst im August 1987 von der Gesellschafterversammlung berufene neue Aufsichtsrat, dem nunmehr mehrheitlich betriebliche und gewerkschaftliche Belegschaftsvertreter*innen angehörten,60 übte erstmals eine von der Geschäftsführung unabhängige Kontrolle aus, konnte im Folgenden jedoch nur noch die von dieser mittlerweile aufgenommenen Verhandlungen zum Verkauf des Unternehmens mitgestalten. Mit ihren Sanierungsmaßnahmen hatte die Geschäftsleitung statt der versprochenen Klärung der Eigentums- und Rechtsfragen eine neue Unübersichtlichkeit herbeigeführt.61 In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre errichtete sie eine Reihe neuer Gesellschaften, die über wechselseitige Beteiligungen, über Beteiligungen der Glashütte Süßmuth und deren Gesellschafterinnen – der Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung und der Neuguss GmbH – sowie über persönliche Beteiligungen der Mitglieder der Geschäftsleitung und unternehmensexterner Personen auf eine komplexe Weise miteinander verflochten waren. Zu Beginn 1976 wurde mit Vertretern des Hamburger Handelsunternehmens Esco die Süssmuth Export GmbH ins Leben gerufen, über die »sämtliche Auslandsgeschäfte« der Glashütte abgewickelt werden sollten.62 Das nach nur wenigen Monaten wieder stillgelegte Unternehmen bestand seit Juli 1977 als Süßmuth Glas- und Kunstwerkstätten GmbH fort.63 Im Februar 1977 wurde die (nach dem bei Kassel gelegenen Rokoko-

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Gesellschaftsvertrag, 5. Dezember 1977 (s. Anm. 41); Neufassung Gesellschaftsvertrag der GHS GmbH, 1. Januar 1979, in: Archiv RP Kassel, Bestand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung (B-Akte, Band 1). Verkaufsvertrag, 16. Oktober 1978 (s. Anm. 50); Gesellschaftsvertrag, 1. Januar 1979 (s. Anm. 57). Protokoll Betriebsrat (GHS), 7. Juli 1982, in: AGI. Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 6. August 1987, in: AGI; [Konrad Scholz] an das Amtsgericht Hofgeismar, 15. September 1987, in: AGI. [Harald Meier] an HMdI, 29. April 1977, in: Archiv RP Kassel, Bestand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung (B-Akte, Band 1); FAZ, 13. Dezember 1979 (s. Anm. 6). »Glashütte Süßmuth will exportieren«, in: Handelsblatt, 26. Februar 1976, in: AfsB, Bestand IG Chemie; HR-Eintrag Süssmuth Export GmbH, 19. Mai 1976, in: Archiv AGK, HRB 9026. Protokoll Geschäftsleitungssitzung (GHS), 16. Juli 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1; Protokoll Klausur Geschäftsleitung (GHS), 16. Juli 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 4; HR-Eintrag Süssmuth Glas- und Kunstwerkstätten GmbH, 19. Januar 1978, in: Archiv AGK, HRB 9026.

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Schloss benannte) Kunsthandwerk und Vertriebsgesellschaft Wilhelmsthal GmbH gegründet, die in den folgenden Jahren sogenannte Kunsthandwerkerhöfe aufbaute und mit stillen Einlagen an Handelsvertretungen im In- und Ausland beteiligt war.64 Im Umfeld der Glashütte Süßmuth agierten außerdem die IDE-Datenverarbeitung GmbH und die Carl-Backhaus-GmbH.65 Letztere wurde im Zuge der Verkaufsverhandlung zur Glashütte Süßmuth Industrieglas GmbH umfirmiert und fungierte für die seit Herbst 1989 neuen und letzten Betreiber der Produktionsstätte in Immenhausen unter dem Namen Süßmuth Glasmanufaktur GmbH als Komplementärin einer neu gegründeten GmbH & Co KG, die sie 1996 in Konkurs gehen ließen.66 Die Übernahme von Geschäftsanteilen an den neu gegründete Vertriebsgesellschaft Wilhelmsthal durch die Mitglieder der Geschäftsleitung ([Meier], [Scholz] und [Woge]) ging auf eine Forderung der Neuguss GmbH zurück, die ihr finanzielles Engagement von der Übernahme einer persönlichen Haftung der Geschäftsleitung wie auch von finanziellen Beiträgen der Belegschaft abhängig gemacht hatte.67 Für die Beschäftigten war eine Ausfallbürgschaft oder eine Beteiligung mit eigenen Mitteln als stille Gesellschafter*innen an der Glashütte Süßmuth indes nicht attraktiv. Der bereits institutionalisierte Modus des Verzichts auf Tarifleistungen verlangte von ihnen schon seit Jahren finanzielle Entbehrungen ab. Im Gegensatz zur stimmberechtigten Beteiligung des Führungspersonals und anders als im einst von den Belegschaftsgremien mit der Bochumer Gruppe entwickelten Alternativplan einer Genossenschaftsgründung wurde ihnen für ihre finanziellen Einlagen keinerlei Mitsprache an den unternehmerischen Entscheidungen in Aussicht gestellt.68 Hinzu kamen das schwindende Vertrauen in die Geschäftsleitung und die sich erneut abzeichnende Unternehmenskrise. Der Forderung von Neuguss wollte die Geschäftsleitung daher mit der Einführung eines »betrieblichen Beteiligungsmodells« entgegenkommen; die Beschäftigten sollten das Weihnachtsgeld

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Neben dem auf dem Betriebsgelände in Immenhausen eröffneten »Handwerkerhof« wurden drei »Kunsthandwerkerhöfe« gegründet: in der denkmalgeschützten Alten Zellerfelder Münze in Clausthal-Zellerfeld im Oberharz, im Gewölbekeller des alten Rathauses in Bad Karlshafen sowie im ebenfalls denkmalgeschützten Fachwerkhaus Ochsenkopf in Hann. Münden. HR-Eintrag Kunsthandwerk- und Vertriebsgesellschaft Wilhelmsthal mbH, 4. April 1977, in: Archiv AGK, HRB 182; Mitteilung [Harald Meier], August 1977, in: AGI; Werbeprospekte Kunsthandwerkerhöfe (GHS), undatiert, in: AGI; Protokoll Gespräch zwischen [Harald Meier] und [Konrad Scholz], 15. September 1982, gezeichnet von [Herbert Fischer], in: AGI. [Konrad Scholz] an Hans Iller, 20. September 1982, in: Privatarchiv (c) Immenhausen; Kopie HR-Auszug Carl-Backhaus-GmbH vom Amtsgericht Münden, undatiert, in: Archiv AGK, HRB 9102. Neufassung Gesellschaftsvertrag Glashütte Süßmuth Industrieglas GmbH, 20. Juli 1988, in: Archiv AGK, HRB 9102; HR-Eintrag Süßmuth Glasmanufaktur GmbH, 28. Dezember 1989, in: Archiv AGK, HRB 9102; Verfügung Amtsgericht Hamburg auf Eintragung der Süßmuth Glasmanufaktur GmbH&Co KG ins Handelsregister, 4. September 1990, in: Archiv AGK, HRA 12178; Beschluss Amtsgericht Hofgeismar Konkurseröffnung Süßmuth Glasmanufaktur GmbH&Co KG, 29. Oktober 1996, in: Archiv AGK, HRA 12178; Bericht HLT, 14. November 1990, in: Archiv HMdF. Notiz [Harald Meier], 23. November 1976, in: AGI, S. 3–5; [Meier], 8. Februar 1977 (s. Anm. 38); Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 9. Mai 1977, in: AGI, S. 2. Siehe Kapitel 7.3.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

wie bislang der Glashütte in Form von Darlehen zur Verfügung stellen, diese aber als stille Beteiligung in eine zu gründende Süßmuth-Partnerschafts-GmbH einbringen.69 In der konzernähnlich ausdifferenzierten Struktur der Süßmuth-Gruppe wurde die einst unternehmensinterne Arbeitsteilung faktisch auf separate Gesellschaften übertragen: Die Glashütte Süßmuth war allein für die Produktion zuständig. Der Vertrieb sollte über die eigens hierfür ausgegründeten Firmen laufen. Die Stiftung sollte die Finanzierungssicherheit gewährleisten. Von diesem Unternehmensgeflecht versprach sich die Geschäftsleitung – mit dem Status der Gemeinnützigkeit der Unternehmensstiftung oder dem Rückgriff auf »Eingliederungshilfen« des Arbeitsamtes bei der Neuanstellung ehemals in der Glashütte beschäftigter Personen und auf andere staatliche Fördermittel für die Tätigkeiten der ausgegründeten Firmen – umfassende steuerrechtliche und finanzstrategische Vorteile.70 Im Zusammenhang mit den noch darzustellenden neuen Angebots- und Vertriebsstrategien sollte hierdurch das unternehmerische Risiko reduziert werden.71 Der Auf- und Ausbau der Süßmuth-Unternehmensgruppe stand aber auch im Zusammenhang mit den sich im Betrieb erneut zuspitzenden Konflikten. Denn die Beschäftigten beanspruchten – trotz ihres Ausschlusses aus der Entscheidungsfindung – weiterhin Mitsprache, kritisierten Missstände und erhoben Ansprüche auf (materielle) Teilhabe.72 Indem sie Gesellschaftsanteile von Firmen der SüßmuthGruppe an Neuguss übertrug sowie die Kapitalausstattung von Stiftung und ausgegründeten Vertriebsgesellschaften bevorzugt verstärkte, verfolgte die Geschäftsleitung explizit das Ziel, sich von den Beschäftigten der Glashütte und vor allem von den Glasmachern mit ihren Lohnforderungen nicht länger »erpressen« zu lassen.73 Sie wollte ihnen den Einblick in die Geschäfte und den Zugriff auf den Unternehmensgewinn verwehren. Die neue Unübersichtlichkeit in den Eigentumsverhältnissen erfüllte für die

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Als Orientierung diente die »Mitarbeiterbeteiligung« in der Braun Melsungen AG. Protokoll Aufsichtsrat (GHS), 23. August 1979, in: Archiv RP Kassel, Bestand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung (BAkte, Band 1), S. 4f.; Ebenso Konzeptpapier »Sanierung« (GHS), 31. Januar 1978, in: AGI, S. 3–5. Eine finanzielle Förderung durch das Arbeitsamt konnte bei der »Umsetzung« von Beschäftigten aus den Abteilungen Vertrieb, Veredelung und Verwaltung der GHS in die Wilhelmsthal GmbH geltend gemacht werden. Für diese »neugeschaffenen Arbeitsplätze« stand ein »Einarbeitungszuschuss von 80 Prozent für ein Jahr« in Aussicht. In Anspruch genommen wurden öffentliche Gelder auch beim Kauf und der Sanierung denkmalgeschützter Gebäude als Standorte der neugegründeten Vertriebsfilialen. Im Fall des Handwerkerhofs in Clausthal-Zellerfeld hatte die Stadt offensichtlich »die gesamten Investitionskosten in Höhe von 200.000 DM übernommen.« [Meier], 23. November 1976 (s. Anm. 67), S. 2; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 31. Januar 1977, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2; [Meier], 8. Februar 1977 (s. Anm. 38); Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 17. März 1977, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 4f.; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 29. März 1977, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 5. Juni 1978, in: Privatarchiv (c) Immenhausen; »Leistungen des Betriebs gewürdigt. Erheblicher Eigenanteil der Mitarbeiter der Glashütte Süßmuth«, in: [HNA], 1979, in: AGI. [Meier], 23. November 1976 (s. Anm. 67), S. 1f.; Gesellschafterversammlung, 9. Mai 1977 (s. Anm. 67), S. 3. Siehe Kapitel 9.2. Siehe Kapitel 9.4. Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 13. September 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen; Zitat aus Ergebnisprotokoll Geschäftsleitungssitzung (GHS), 22. Mai 1978, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1f.

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Geschäftsleitung somit wichtige machtpolitische Funktionen: Die Komplexität der gesellschaftsrechtlichen Zusammenhänge der Süßmuth-Gruppe – zumal angesichts der mehrfachen Änderungen der Eigentumsverhältnisse, der Firmennamen sowie der Unternehmenssitze und die Anmeldung in verschiedenen Kommunen – erschwerte bzw. verhinderte eine Kontrolle der Unternehmensleitung durch die (inner- wie überbetriebliche) Belegschaftsvertretung und die staatlichen Aufsichtsbehörden gleichermaßen.74 Innerhalb der Glashütte setzte [Harald Meier] die Bemühungen seiner Vorgänger um den Aufbau einer den zeitgenössischen Vorstellungen entsprechenden effizienten Unternehmensorganisation und einer Professionalisierung der Unternehmensführung fort.75 Er veranlasste Stellenbeschreibungen, die für das Führungspersonal und »für alle Mitarbeiter« die jeweiligen Zuständigkeits- und Aufgabenbereiche im Rahmen einer hierarchisch abgestuften Arbeitsteilung klar voneinander abgrenzten.76 Die leitenden Angestellten sollten im von ihnen »zu verantwortenden Bereich selbstständig entscheiden« können, die »Gesamtverantwortung« und »die damit zusammenhängende letzte Entscheidung« sollte aber beim Geschäftsführer liegen.77 Mit dem Aufbau einer »optimaleren Organisation«, mit einer expansiven Umsatzstrategie sowie durch »couragiertes kreatives Sparen« meinte [Meier] die Probleme des Unternehmens zügig und endgültig beheben zu können.78 Dabei maß er dem Management entscheidende Bedeutung zu, weshalb Gehaltserhöhungen für sich und die leitenden Angestellten zu [Meiers] ersten Amtshandlungen gehörte.79 An den für eine Mundglashütte widersprüchlichen Unternehmenszielen der zuvor geschäftsführenden Gremien, Umsatzsteigerungen mit der Senkung des Lohnkostenanteils unter einen Wert von 55 Prozent zu verbinden, hielt auch die neue Geschäftsleitung fest.80 Orientierung gewährten auch ihr branchenunspezifische Idealkennziffern. EDV wurde nun in allen Bereichen des Unternehmens implementiert. Sie sollte die technischen Voraussetzungen für das Controlling verbessern so-

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Dieses Firmengeflecht weckte nicht nur in der Belegschaft, sondern auch bei den Aufsichtsbehörden großes Misstrauen gegenüber der Geschäftsleitung. Zu den Schwierigkeiten der kommunalen Behörden, einen Überblick über diese »verworrene Angelegenheit« zu erhalten, und ihrem hieraus im Zusammenhang mit den Verkaufsverhandlungen im Jahr 1989 resultierenden Betrugsverdacht siehe Vermerk Amtsgericht Hofgeismar, 21. Februar 1978, in: Archiv AGK, HRB 9026; Korrespondenz Amtsgericht Hofgeismar und Glashütte Süßmuth Industrieglas GmbH bzw. Notar Michael Ehlke, Dezember 1989, in: Archiv AGK, HRB 9026; Zitat aus Direktor Amtsgericht Hofgeismar an Notar Michael Ehlke, 9. Dezember 1989, in: Archiv AGK, HRB 9026, S. 7. Siehe Kapitel 7.4. Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 22. März 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 3; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 29. September 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 3. Geschäftsleitung, 18. Oktober 1976 (s. Anm. 36), S. 3. Zitat aus [Meier], 27. August 1976 (s. Anm. 31); [Harald Meier] an Beirat, 12. Januar 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen. Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 8. März 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 6f.; Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 17. März 1976, in: AGI, S. 1; [Harald Meier] an Gesellschafterversammlung (GHS), 31. August 1976, in: AGI; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 24. November 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1. Protokoll Geschäftsleitungssitzung, 16. Juli 1976 (s. Anm. 63), S. 2f.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

wie Rationalisierung und Personalabbau in allen Bereichen des Unternehmens ermöglichen.81

Bewährung und Bewertung der Unternehmensstrategien Die Vergleichsfirmen waren – mit Ausnahme von Hirschberg, Josephinenhütte und Rosenthal – bis Ende der 1960er Jahre Familienunternehmen, für die eine langfristig und wirtschaftlich erfolgreiche innerfamiliäre Unternehmensnachfolge generell eine enorme Herausforderung darstellt.82 Den Inhaberfamilien der Glashütten Süßmuth und Buder war dies nicht gelungen, die Besitzer der Glashütten Wiesenthal und Theresienthal hatten keine (männlichen) Nachkommen.83 Allein die Glashütten Eisch und Gralglas wurden als Familienunternehmen weitergeführt, denen sich infolge der Kontinuität im Eigentumsverhältnis kein zusätzliches Kapital neuer Anteilseigner erschloss. Eisch konnte aber eigene Finanzmittel für regelmäßig anstehende Investitionen erwirtschaften und ansparen, was der Gral-Glashütte zuletzt nicht mehr gelang. Im Dezember 1981 musste sie aufgrund Überschuldung nach einem fehlgeschlagenen Vergleich das Konkursverfahren einleiten. Fortgeführt wurde Gralglas bis 1992 von neuen Eigentümern, die den Schwerpunkt der Unternehmenstätigkeit auf den Handel legten.84 Der Erfolg von Eisch basierte auf den in der Inhaberfamilie gefestigten und trotz der krisenhaften Branchenentwicklung weiterhin geteilten Vorstellungen über Grundsätze der Unternehmensführung. Bei Gralglas war es dagegen zu »Unstimmigkeiten« und im Oktober 1980 schließlich zum Zerwürfnis zwischen Rolf Seyfang als Hauptgesellschafter und dessen Sohn Rolf-Peter Seyfang als Mitgesellschafter gekommen, der daraufhin aus dem Unternehmen ausschied.85 Unter veränderten Eigentumsverhältnissen war den meisten Mundglashütten keine positive Unternehmensentwicklung beschieden. Das Kristallglaswerk Hirschberg ging zwei Jahre nach der Übernahme durch Carl Josef Haefeli im Juli 1974 mit vier Millionen DM Schulden in Konkurs; im Driburger Glaswerk hatte er schon drei Monate zuvor Konkurs angemeldet.86 In der Josephinenhütte ließ Gralglas Ende der 1970er Jahre die Pro-

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Konzeptpapier »Einführung der EDV in 1976« (GHS), 15. Juni 1976, in: AGI; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 11. und 14. Juni 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 7; Klausur Geschäftsleitung, 16. Juli 1976 (s. Anm. 63), S. 4f.; Geschäftsleitung, 29. September 1976 (s. Anm. 76), S. 1; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 21. Januar 1977, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1. Unter [Harald Meier] wurde damit die von [Bernd Dietrich] und [Konrad Scholz] 1971 begonnene und durch den Beirat abgebrochene Computerisierung fortgesetzt. Siehe Kapitel 7.1. Siehe Christina Lubinski, Familienunternehmen in Westdeutschland. Corporate Governance und Gesellschafterkultur seit den 1960er Jahren, Göttingen 2010. Siehe Kapitel 1.6; Unternehmenschronik Buder (s. Anm. 19), S. 4; Haller und Pscheidt, Theresienthal (s. Anm. 20), S. 107; Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 22), S. 543–549. Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 208f. Ebd. »Kommt am Montag die Rettung? Entscheidende Gespräche über Glashütte Hirschberg stehen bevor«, in: [Hessische Allgemeine], 7. August 1974, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner; »Driburger Glashüttenwerke. Nach dem Konkurs erloschen die Öfen«, in: Gewerkschaftspost, Mai 1974, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner.

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duktion kurzfristig einstellen.87 Das Kristallglaswerk Buder konnte Anfang der 1980er Jahre dem Konkurs durch eine erneute Kreditaufnahme knapp entgehen bzw. diesen bis 1986 hinauszögern.88 Nach der Integration von Theresienthal und Wiesenthal in die Konzerne Hutschenreuther und Schott hatten sich die von den einstigen Alleineigentümern gehegten Hoffnungen auf wettbewerbsstrategische Vorteile nicht erfüllt.89 Beide Mundglashütten fanden sich vielmehr als Zweigwerke im Konzernverbund in einem neuen Abhängigkeitsverhältnis zu den Konzernleitungen wieder: Die Geschäftsführungen mussten in arbeitsaufwendigen Berichten und Strategieplanungen regelmäßig Rechenschaft ablegen, sich an (branchenunspezifischen) Rentabilitätskriterien messen lassen und sich Grundsatzentscheidungen der Konzernleitung letztlich unterordnen.90 Max Gangkofner schied 1982 aus Theresienthal aus, da er die von Hutschenreuther geplanten umfangreichen Sanierungsmaßnahmen nicht mittragen wollte.91 Im Fall der Wiesenthalhütte lässt sich gut veranschaulichen, wie verhängnisvoll sich die von Klaus Breit – im Rahmen seiner zwar vorausschauenden, aber auf Fehlprognosen basierenden Unternehmensplanung – ohne wirtschaftliche Not initiierte Fusion mit Schott auswirkte: Widerwillig musste Klaus Breit einen zweiten, von Schott ernannten betriebsfremden Geschäftsführer akzeptieren, mit dem er in den folgenden Jahren heftige Kompetenzstreitigkeiten austrug.92 Neben den von der Konzernleitung diagnostizierten Rentabilitätsdefiziten wurde das Konkurrenzverhältnis zu Schott Zwiesel eines der brisantesten Problemfelder.93 Statt auf Wiesenthal (wie von Klaus Breit erhofft) setzte die Konzernleitung auf Christinenhütte als in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre von Schott Zwiesel neu eingeführte Fachhandelsmarke für mundgeblasenes Wirtschaftsglas.94 Wiesenthal musste sich im eigenen Konzern fortan gegenüber der »schärfsten« Konkurrentin der bundesdeutschen Mundglashütten behaupten. Die Marke und Konzernzugehörigkeit der Wiesenthalhütte wurden im Marketingkonzept der Schott Gruppe nicht erwähnt.95 Das große Engagement des einstigen Eigentümers sicherte der Firma

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Laut [Nowak] wurden die Öfen im Dezember 1977, laut Ricke und Loyen im Dezember 1979 abgestellt. Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 208; [Günter Nowak], 10. November 2014 (s. Anm. 11), S. 9f. Unternehmenschronik Buder (s. Anm. 19), S. 6f. Siehe Kapitel 9.2 und 9.3; Haller und Pscheidt, Theresienthal (s. Anm. 20), S. 108f. Ricke, Breit (s. Anm. 21), S. 19. Siehe WTH-Firmenarchiv in: mkp.Gl-A 1-Wies. Haller und Pscheidt, Theresienthal (s. Anm. 20), S. 108f. Die Mainzer Konzernzentrale löste den 1976 berufenen zweiten Geschäftsführer 1978 durch einen neuen ab, der ebenfalls zwei Jahre später wieder ausschied. Ab 1980 war Klaus Breit als alleiniger Geschäftsführer tätig. Notiz Klaus Breit, 3. März 1976, in: mkp.Gl-A 1-Wies.37B; Zum Verhältnis von Schott Zwiesel und WTH siehe Breit, November 1982 (s. Anm. 5), S. 6–9; Rath, Wiesenthalhütte (s. Anm. 8), S. 336–338; Ricke, Breit (s. Anm. 21), S. 19f. Breit, 1. März 1979 (s. Anm. 24), S. 5–7. Klaus Breit warf der Konzernleitung vor, Christinenhütte in Form von sehr günstigen Vertriebskonditionen und »außerordentlich hohen [Werbe-]Mitteln« bevorzugt zu fördern. Folgendes aus Betrachtungen Klaus Breit, Mai/Juni 1979, in: mkp.Gl-A 1-Wies.41, S. 1f.; Breit, November 1982 (s. Anm. 5), S. 6f. »Schott-Zwiesel-Glaswerke AG. Wachwechsel zum richtigen Zeitpunkt«, in: Industriemagazin, September 1978, in: mkp.Gl-A 1-Wies.37B.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

zwar eine gewisse »organisatorische Selbstständigkeit«; seine Entscheidungsspielräume als nur noch angestellter Geschäftsführer hatten sich jedoch erheblich reduziert.96 Kurz nach Breits Pensionierung beschloss die Schott-Konzernleitung, die Produktion der Wiesenthalhütte zum März 1991 einzustellen.97 Wiesenthal wurde wie Hirschberg 1972, das Rosenthal-Glaswerk in Bad Soden 1984 und schließlich Theresienthal 1996 aus Rentabilitätsgründen oder im Zuge revidierter Diversifikationsstrategien von der Konzernleitung abgestoßen, was der einstige Firmeninhaber und die Betriebsangehörigen weder nachvollziehen noch verhindern konnten.98 Durch die Ausprägung konzernähnlich ausdifferenzierter Firmengruppen mit auf Einzelbereiche spezialisierten Tochterfirmen blieb den Glashütten Gralglas und Süßmuth zwar die volle Entscheidungsgewalt erhalten. Die Übernahme bzw. Ausgründung von Firmen überforderte jedoch die organisatorischen und finanziellen Kapazitäten der mittelständischen Glashütten. Mit der Trennung von Produktion und Vertrieb in separate Gesellschaften lockerte sich zudem der für die Flexibilität einer Mundglashütte notwendige enge organisatorische Zusammenhang zwischen diesen Bereichen. Von den Produktionsgesellschaften wurde tendenziell Kapital abgezogen, statt Mittel für die regelmäßig anstehenden Instandhaltungsmaßnahmen und insbesondere für die kostenintensive Erneuerung der Schmelzöfen anzusparen. Anfang der 1980er Jahre musste Gralglas Konkurs anmelden. Die seit 1976 amtierende Geschäftsleitung der Glashütte Süßmuth hatte in den ersten Jahren nach außen hin den Anschein einer Aufwärtsentwicklung erweckt.99 Entgegen der öffentlichkeitswirksam herausgestellten Erfolge und trotz der wohlwollenden Unterstützung von Seiten des Landes Hessen bei der Befreiung von der Schuldenlast – wie sie der selbstverwalteten Firma zuvor verwehrt wurde100 – war es ihr jedoch nicht gelungen, das Unternehmen langfristig zu stabilisieren. Die bereits im Mai 1979 von der Stiftungsaufsicht geäußerte Befürchtung, die Glashütte werde »in einigen Jahren wieder

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Breit, 1. März 1979 (s. Anm. 24), S. 4; Rath, Wiesenthalhütte (s. Anm. 8), S. 337. Im April 1989 schied Klaus Breit aus der Geschäftsleitung aus. Im Sommer 1990 verbreiteten sich das Gerücht einer baldigen Betriebsschließung, das die Schott-Konzernleitung Ende Oktober 1990 bestätigte. Wiesenthal sollte künftig nur noch als Marke und Handelsgesellschaft fortbestehen. »Firma stellt die Glasproduktion ein«, in: Gmünder Tagespost, 31. Oktober 1990, in: mkp.Gl-A 1-Wies.; »Wiesenthalhütte stellt ihr Glasproduktion ein«, in: Rems-Zeitung, 2. November 1990, in: mkp.Gl-A 1-Wies. 98 Offiziell begründete Schott die Stilllegung der WTH mit »immissionsrechtlichen Auflagen des RP Stuttgart«. Die hiermit verbundenen Investitionen hätten sich angesichts zu geringer Gewinnaussichten nicht gelohnt. Die Belegschaft war über diese Entscheidung ebenso empört wie Klaus Breit. Artikel in SCHOTT intern, 7 (1990), S. 4, in: mkp.Gl-A 1-Wies.; Franz Geschler an Klaus Breit, 28. Dezember 1990, in: mkp.Gl-A 1-Wies.; Betriebsrat und Belegschaft (WTH) an Klaus Breit, Weihnachten 1990, in: mkp.Gl-A 1-Wies. 99 Siehe bspw. FAZ, 13. Dezember 1979 (s. Anm. 6); Rainer Merforth, »Glashütte Süßmuth. Finanziell nicht mehr gar so zerbrechlich«, in: HNA, 15. Januar 1980, in: AGI; »Gut zufrieden«, in: Der Spiegel, 24. August 1981, in: AGI. 100 Der GHS wurde damals nicht einmal die Verlängerung der tilgungsfreien Zeit zugestanden. Siehe Kapitel 7.3.

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vor demselben Problem stehen, wie vor der Sanierung«, bewahrheitete sich.101 Konnten schon bis 1980 kaum Gewinne erwirtschaftet werden, so setzte 1981 eine anhaltende Verlustentwicklung ein.102 Erneut nahm die Glashütte Süßmuth Kredite auf. In den Jahren 1982 und 1984 erhielt sie von der Gemeinnützigen Kreditgarantiegenossenschaft Bochum (GKG) zu marktüblichen Konditionen zwei von der Neuguss GmbH verbürgte Darlehen in einer Höhe von insgesamt 335.000 DM.103 Zwischen 1983 und 1987 kamen drei jeweils zu 90 Prozent vom Land Hessen verbürgte Kredite in einer Höhe von insgesamt 850.000 DM hinzu.104 In die Produktionsanlage der Glashütte wurden diese neuen Kredite ebenso wenig investiert wie zuvor das von Neuguss eingebrachte Kapital oder der mit dem Schuldenschnitt entstandene Sanierungsgewinn. Die GKG-Darlehen dienten der Finanzierung von (schwierig zu rekonstruierenden) Eigentumsveränderungen innerhalb der Süßmuth-Gruppe. Hierbei ging es um den Ver- und Rückkauf von Anteilen an der Vertriebsgesellschaft Wilhelmsthal zwischen der Glashütte Süßmuth und Neuguss.105 Die staatsverbürgten Darlehen und die Belegschaftsverzichte kompensierten vor allem die anhaltenden Verluste und jährlich wachsenden Zinslasten.106 Erneut befand sich die Glashütte Süßmuth in einer Schuldenspirale, in der das Eigen- und schließlich das Stammkapital sukzessive schwand.107 1989 war die Firma mit knapp 4,4 Millionen DM 101 102

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Vermerk RP Kassel, 29. Mai 1979, in: Archiv RP Kassel, Bestand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung (BAkte, Band 1). Siehe Tabelle 3 im Anhang. Die Gewinne 1977 und 1978 waren vorrangig auf die finanzielle Sanierung zurückzuführen. Der Gewinn 1980 war offensichtlich der einzige nach der Selbstverwaltung, der auf die wirtschaftliche Leistung der GHS zurückging. Vermerk HMdF, 10. November 1978, in: Archiv HMdF; Aufsichtsrat, 23. August 1979 (s. Anm. 69), S. 3; Stellungnahme Stiftungsaufsicht, 2. März 1980, in: Archiv RP Kassel, Bestand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung (B-Akte, Band 1). Das Darlehen von 1982 (200.000 DM) war mit Jahreszinsen von 8,5 Prozent verbunden und mit jährlichen Raten von 25.000 DM zu tilgen. Das Darlehen von 1984 (135.000 DM) hatte eine Laufzeit bis Januar 1986 und wurde jährlich mit mindestens 10.000 DM verzinst. Bericht Treuarbeit, 16. März 1983, in: Archiv HMdF; Vermerk HLT-Bank, 5. Februar 1985, in: Archiv HMdF. Die Laufzeiten dieser Darlehen mussten mehrmals verlängert werden. Bis Oktober 1989 konnte die Firma von den insgesamt 850.000 DM nur 250.000 DM zurückzahlen. Siehe Beschlüsse des Bürgschaftsausschusses des Landes Hessens sowie Unterlagen und Korrespondenzen zu den Anträgen der GHS auf Laufzeitverlängerung, 1983–1989 in: Archiv HMdF. Im Januar 1982 verkaufte die GHS ihre Wilhelmsthal GmbH-Anteile an die Neuguss GmbH, die – nachdem auch die Mitglieder der Geschäftsleitung ihre bis dahin persönlich gehaltenen Anteile an Neuguss übertragen hatten – damit zur alleinigen Eigentümerin wurde. 1984 erwarb die GHS mit dem zweiten von Neuguss verbürgten GKG-Darlehen 90 Prozent der Wilhelmsthal-Anteile von Neuguss wieder zurück, wobei diese Anteile Neuguss wiederum als Sicherheit für ihre Bürgschaften der GKG-Darlehen dienten. Die restlichen zehn Prozent an Wilhelmsthal (im Wert von 15.000 DM) stiftete Neuguss 1984 der Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung. Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 12. Januar 1982, in: AGI; HLT-Bank, 5. Februar 1985 (s. Anm. 103); Geschäftsbericht Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung 1984, 13. September 1985, in: AGI, S. 1. Zu den betrieblichen Hintergründen dieser Vorgänge siehe Kapitel 9.4. Die jährlichen Zinszahlungen stiegen von 134.000 DM (1984) auf 149.000 DM (1985) auf 160.000 DM (1986). Gewinn- und Verlustrechnung GHS 1985, 25. Februar 1986, in: Archiv HMdF; Prognose Gewinn- und Verlustrechnung GHS für 1989/1990, 23. Juni 1989, in: Archiv HMdF. Die Geschäftsanteile an der GHS im Wert von insgesamt 180.000 DM und die stillen Beteiligungen der Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung und der Neuguss GmbH (jeweils in Höhe von 250.000 DM), die

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

verschuldet und nach Abzug des Umlaufvermögens mit 2,6 Millionen DM überschuldet.108 Auf Basis eines außergerichtlichen Vergleichs wurde zwischen 1987 und 1990 mit den Gläubigern ein 65-prozentiger Forderungsverzicht ausgehandelt.109 Neuguss erhielt in diesem Rahmen sämtliche Eigentumsrechte an der Wilhelmsthal GmbH.110 Die Belegschaft verlor hingegen nicht nur ihre jahrelang zurückgestellten Weihnachtsgeld- und Lohnansprüche, sondern größtenteils auch ihren Arbeitsplatz. Zum März bzw. Juni 1988 wurde der gesamten – von um die 170 Personen Anfang der 1980er Jahre auf mittlerweile 100 Personen reduzierten – Belegschaft betriebsbedingt gekündigt.111 Lediglich die Hälfte wurde anschließend mit mehrfach verlängerten, jeweils nur auf ein paar Monate befristeten Arbeitsverträgen weiterbeschäftigt.112 Seit dem Rückzug von Neuguss 1986 führte die Geschäftsleitung Übernahmeverhandlungen mit einer Vielzahl größtenteils branchenfremder Interessenten, die für die Sanierung der Glashütte Süßmuth jeweils einen Investitionsbedarf zwischen fünf und sechs Millionen DM veranschlagten.113 Ihre Bereitschaft, sich mit Eigenkapital in das Unternehmen einzubringen, reichte über einen Betrag in Höhe von 1,3 Millionen DM nicht hinaus; stattdessen erwarteten sie umfassende staatliche Unterstützung.114 bereits 1982 auf einen Betrag von jeweils 125.000 DM reduziert wurden, entsprachen 1987 keinem »Realwert« mehr und mussten voll abgeschrieben werden. »Buchhalterisch« war damit das Eigenkapital aufgezehrt. Treuarbeit, 16. März 1983 (s. Anm. 103); Geschäftsbericht Süßmuth-MitarbeiterStiftung 1984 (s. Anm. 105); Lagebericht [Konrad Scholz], 28. Juni 1988, in: AGI; Geschäftsbericht Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung 1987 (s. Anm. 55). 108 Finanzstatus GHS zum 30. April 1989, gezeichnet von [Herbert Fischer], 2. Juni 1989, in: Archiv HMdF. 109 Neben Lieferant*innen und Handelsvertreter*innen gehörte hierzu auch die Witwe Richard Süßmuths, die für ihre von der Belegschaftsfirma einst zugesicherte lebenslange Rente eine Abfindung in Höhe von 40.000 DM erhielt. Das Land Hessen verzichtete auf die Rückzahlung von 481.000 DM, die Deutsche Bank Kassel auf 37.000 DM und die Kreissparkasse Kassel auf 16.000 DM. [Scholz], 28. Juni 1988 (s. Anm. 107); Protokoll Aufsichtsrat (GHS), 30. November 1988, in: AGI; Vorlage Treuarbeit für den Bürgschaftsausschuss des Landes Hessen, 3. Oktober 1989, in: Archiv HMdF; HLT an [Gunter Kapp], 22. Februar 1990, in: Archiv HMdF. 110 Die GHS musste Neuguss die Wilhelmsthal-Anteile überlassen, weil sie die von Neuguss verbürgten GKG-Darlehen nicht zurückzahlen konnte. Von den noch offenen Forderungen erließ Neuguss der GHS 1989 die Rückzahlung eines Betrags von 26.000 DM. Urkunde Abtretung der GHS GmbH (Anteile an Wilhelmsthal GmbH) an die Neuguss GmbH, 31. Januar 1986, in: AGI; Geschäftsbericht Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung 1987 (s. Anm. 55); Beteiligung der Banken am außergerichtlichen Vergleich, 1. August 1989, in: Archiv HMdF. 111 Exemplarisch [Konrad Scholz] an [Ute Pfeiffer], 19. Dezember 1987, in: Privatarchiv [Pfeiffer]; »Glashütte in Immenhausen. Rettung für Süßmuth durch neuen Partner«, in: HNA, 24. Januar 1988, in: Privatarchiv Siebert. 112 Zwischen März und Juni 1988 wurden »drei Werkstellen« mit insgesamt 63 Mitarbeitern befristet weiterbeschäftigt; bis zum März 1989 waren es 54 Personen und bis September 1989 nur noch zehn bis 12 Personen an anderthalb Werkstellen. Vermerk HMdF, 23. Juni 1988, in: Archiv HMdF; Protokoll Aufsichtsrat (GHS), 29. Juni 1988, in: AGI; Lagebericht [Konrad Scholz], 19. August 1988, in: Archiv HMdF; Protokoll Aufsichtsrat (GHS), 26. September 1988, in: AGI; Aufsichtsrat, 30. November 1988 (s. Anm. 109); Erklärung Aufsichtsrat (GHS), 10. Februar 1989, in: AGI, S. 2. 113 Siehe Unterlagen zu den Verkaufsverhandlungen der GHS, 1986–1990 in: Archiv HMdF. 114 Eine der Übernahmeinteressierte war die Firma Auer, die 1987 bereits die Gral-Glashütte übernommen hatte. Vermerk HWMi, 6. Juli 1987, in: Archiv HMdF; HMdF, 23. Juni 1988 (s. Anm. 112).

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Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Beim Land Hessen lag somit Ende der 1980er Jahre ein weiteres Mal die Entscheidungsgewalt über die Zukunft der Glashütte Süßmuth. Den Zuschlag erhielten schließlich der bis dahin im Textilhandel tätige Hamburger Kaufmann [Lothar Rupp] und sein juristischer Berater [Gunter Kapp]. Auf der Basis eines vage formulierten Unternehmenskonzepts und einer erstaunlich unkonkreten Beweisführung hinsichtlich des erforderlichen Eigenkapitalanteils bewilligte ihnen das Land Hessen im Oktober 1989 eine Landesausfallbürgschaft über zwei Millionen DM und im Dezember 1990 einen Investitionszuschuss in Höhe von 500.000 DM mit der Auflage, »wenigstens 40 bis 50 Arbeitsplätze in Immenhausen zu erhalten.«115 Nur für die Übernahme von Geschäftsanteilen der Süßmuth-Unternehmensgruppe in Höhe von knapp 200.000 DM und zur Begleichung der nach Abschluss des außergerichtlichen Vergleichs auf 1,2 Millionen DM reduzierten Restschulden brachten [Rupp] und [Kapp] eigenes Kapital auf, womit sie zugleich »das Eigentum an den Grundstücken und Gebäuden« der Glashütte Süßmuth erwarben.116 Die von den Geschäftsleitungen nach der Selbstverwaltung – von [Harald Meier] über [Konrad Scholz] bis hin zu den letzten Eigentümern [Rupp] und [Kapp] – jeweils mit verheißungsvollen Versprechungen in Angriff genommenen Sanierungen blieben erfolglos und zeitigten für die Glashütte Süßmuth und die Belegschaft fatale Konsequenzen.117 Der Ausbau einer konzernähnlich ausdifferenzierten Firmengruppe lancierte die Abspaltung des Vertriebs als rentablen Unternehmensbereich vom kostenintensiven Bereich der Produktion.118 Befördert von Kapitalverstärkungen durch Neuguss und die Rexroth-Stiftung verselbstständigen sich die Tätigkeiten der Süßmuth-Stiftung und der Vertriebsgesellschaft Wilhelmsthal. Mit dem neuerlichen Schuldenschnitt Ende der 1980er Jahre wurden beide vollends aus der Süßmuth-Unternehmensgruppe herausgelöst; sie hatten über den Konkurs der Glashütte hinaus

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Das Unternehmenskonzept von [Rupp] und [Kapp] sah Investitionen in Höhe von sechs Millionen DM vor und bündelte all jene von externen Experten und Übernahmeinteressenten bereits zuvor vorgeschlagene Sanierungsmaßnahmen. Übernahmekonzept [Lothar Rupp] und [Gunter Kapp], 25. April 1989, in: Archiv HMdF; Beschluss Bürgschaftsausschuss des Landes Hessen, 10. Oktober 1989, in: Archiv HMdF, S. 2; Beschluss Interministerieller Kreditausschuss des Landes Hessen, 12. Dezember 1990, in: Archiv HMdF. Die Werksimmobilien und Grundstücke verpachteten die neuen Eigentümer fortan an die GHS. Zitat aus Treuarbeit, 3. Oktober 1989 (s. Anm. 109), S. 5; Urkunde Kauf der Süßmuth-Firmengruppe durch [Gunter Kapp], [Lothar Rupp] und [Amira Kaya], 11. Oktober 1989, in: Archiv AGK, HRB 9102; Vermerk Treuarbeit, 17. Mai 1990, in: Archiv HMdF. Im Zuge der Geschäftsführerwechsel 1976 und 1982 sowie mit den Anfang 1986 aufgenommenen Verkaufsverhandlungen und dem Eigentümerwechsel 1989 präsentierten die jeweiligen Entscheidungsträger bzw. Übernahmeinteressenten immer wieder Pläne zum Aufbau einer effizienten Unternehmensorganisation, einer marktorientierten Vertriebspolitik und betrieblichen Rationalisierung. Innerhalb kürzester Zeit stießen diese sich in ihrer Unangemessenheit für eine Mundglashütte ähnelnden Ansätze auf die gleichen Probleme, wie sie in Kapitel 5 bis 7 bereits ausführlich beschrieben wurden. Für die ausgegründeten Vertriebsgesellschaften liegen keine Bilanzen vor. Die Jahresergebnisse von Wilhelmsthal seien laut Geschäftsleitung – im Gegensatz zu jenen der Produktionsgesellschaft Süßmuth – positiv und selbst im Krisenjahr 1981 »ausgeglichen« gewesen. FAZ, 13. Dezember 1979 (s. Anm. 6); [Meier] und [Scholz], 15. September 1982 (s. Anm. 64).

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

Bestand.119 In die Produktionsstätte hatten die Geschäftsführer seit 1976 dagegen kaum noch investiert. Diese geriet zuletzt in die Hände von Wirtschaftskriminellen bzw. von Geschäftsleuten, die aus dem staatlichen Interesse am Erhalt von Arbeitsplätzen in der branchenübergreifenden Krisenstimmung für sich Kapital zu schlagen verstanden. Mit der Realisierung der versprochenen millionenschweren Investitionsvorhaben hatten [Rupp] und [Kapp] gar nicht erst begonnen. Stattdessen traten sie ab Sommer 1991 als (nunmehr brancheninterne) Interessenten bei Übernahmeverhandlungen von ostdeutschen Glasunternehmen in Illmenau und Weißwasser in Erscheinung.120 Zeitgleich planten sie den Verkauf der Glashütte Süßmuth und schrieben die Betriebsimmobilien im Februar 1992 zum Preis von fünf Millionen DM aus.121 Den noch etwa 50 Süßmuth-Beschäftigten wurde kurz darauf erneut gekündigt.122 Da sich die Hinweise auf eine Veruntreuung öffentlicher Gelder verdichteten, forderte das Land Hessen [Rupp] und [Kapp] im Sommer 1992 zur Rückerstattung der Landesmittel auf.123 In der Zwischenzeit war ihnen die Übernahme der Oberlausitzer Glaswerke (OLG) gelungen, wofür die Treuhand und die Sächsische Aufbaubank offenbar Fördermittel in zweistelliger Millionenhöhe zur Verfügung stellten.124 Im Rahmen einer »Kooperation« mit der OLG wurde die Glashütte Süßmuth – mit nur noch knapp 30 Beschäftigten zu höchst prekären Bedingungen – weiterbetrieben.125 Kurz nachdem im April 1996 die Gesamt119

Siehe Bestand Süßmuth-(Mitarbeiter-)Stiftung, 1977–2012, in: Archiv RP Kassel; Bestand Wilhelmsthal bzw. [Schmieder] GmbH, 1977–2005, in: Archiv AGK. 120 Die Oberlausitzer Glaswerke im sächsischen Weißwasser gehörten »mit über 1.200 Mitarbeitern zu den Hauptglasproduzenten der DDR«. Bericht des Betriebsleiters der Ilmenauer Kristallglaswerke, 20. März 1992, in: Archiv HMdF; Thomas Thiele, »Glashütte Süßmuth. Rettung aus dem Osten?«, in: HNA, 10. Juni 1992, in: Privatarchiv Siebert. 121 Das Verkaufsangebot wurde mit den Optionen versehen, das »Areal mit Mieter oder auch kurzfristig frei zu übergeben.« HNA, 10. Juni 1992 (s. Anm. 120); Verkaufsanzeige in HNA, 8. Februar 1992, in: AGI; Vermerk HLT-Bank, 28. April 1992, in: Archiv HMdF. 122 [Gunter Kapp] an HWMi, 1. Juli 1992, in: Archiv HMdF. Bereits im Jahr zuvor hatten [Rupp] und [Kapp] Kündigungen ausgesprochen, die sie nach Interventionen des Betriebsrats und der Gewerkschaft aber wieder zurücknehmen mussten. Protokoll Betriebsrat (GHS), 10. Juli 1991, in: Privatarchiv (c) Immenhausen. 123 Zuvor hatte eine einst für die GHS arbeitende Person den Hessischen Ministerpräsidenten Hans Eichel (SPD) über das unlautere Vorgehen von [Kapp] und [Rupp] informiert und ankündigt, hierüber auch das Nachrichtenmagazin Der Spiegel in Kenntnis zu setzen. Die Rückzahlung sollte eigentlich bis Ende 1992 erfolgen, [Rupp] und [Kapp] gelang es jedoch Anfang 1993 diese Frist – da sie die Weiterbeschäftigung eines Teils der Belegschaft am Standort Immenhausen vorweisen konnten – zu verschieben. Nicht mehr überliefert ist, ob sie die Fördermittel tatsächlich zurückführten. Schreiben an Hans Eichel, 23. Juli 1992, in: Archiv HMdF; HWMi an Hessische Staatskanzlei und HMdF, 11. September 1992, in: Archiv HMdF; Vermerk HMdF, 1. Februar 1993, in: Archiv HMdF. 124 [Rupp] und [Kapp] verpflichteten sich bei der Übernahme der OLG, in den nächsten fünf Jahren 50 Millionen DM zu investieren – Mittel, die »von der Treuhand und von der SAB Dresden zur Verfügung gestellt« worden seien, so die Auskunft der OLG-Geschäftsführerin. Gabriela Nitsch, »Lausitzer Glaswerke privatisiert. Interview mit der Geschäftsführerin Eveline Hubatsch«, in: Lausitzer Rundschau, 15. Juli 1992, in: Archiv HMdF; Eveline Hubatsch an Friedrich-Karl Baas, 28. Oktober 2002, in: AGI; HNA, 10. Juni 1992 (s. Anm. 120). 125 Siehe Übersicht befristeter Arbeitsverträge (GHS), 9. September 1994, in: AGI. [Kapp] und [Rupp] wollten die GHS als touristische Schau- und Kunstglashütte weiterbetreiben, in der maschinell gefertigte Produkte aus Weißwasser verkauft werden sollten. In den Belegschaften beider Glashüt-

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Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

vollstreckung der OLG angemeldet wurde, musste auch in der Glashütte Süßmuth der Betrieb eingestellt werden.126

Revision zeitgenössischer Deutungen Der Überblick über die Entwicklungen in der nicht mehr selbstverwalteten Glashütte Süßmuth und den Vergleichsunternehmen verdeutlichte, dass die meisten Mundglashütten erst nach mitunter sehr umfangreichen Investitionen – entweder aufgrund ihrer Zahlungsunfähigkeit infolge einer Verschuldung oder einer aus Rentabilitätsgründen getroffenen Entscheidung (der Mutterkonzerne) – die Produktion einstellten. Der Kapitalmangel war also nicht das ursprüngliche Problem, sondern Resultat von Fehlinvestitionen, Fehlentscheidungen oder Versäumnissen und zugleich Ausdruck dafür, dass den meisten Unternehmensleitungen – trotz Kapitalzufuhr durch neue Investoren oder über Fremdfinanzierung – eine Anpassung an die sich ändernden Rahmenbedingungen des Wirtschaftens nicht gelungen war. Der wirtschaftliche Erfolg der Glashütte Eisch beruhte hingegen weder auf Kreditaufnahmen noch auf einer Kooperation mit finanzkräftigen Partnern. Ihre über den Untersuchungszeitraum hinausreichende Existenz veranschaulicht, dass die Wahrung einer möglichst weitreichenden Eigenständigkeit in der Entscheidungsfindung und die Unabhängigkeit von unternehmens- und branchenfremden Akteur*innen bei der Bewältigung der sich ändernden Herausforderungen von zentraler Bedeutung waren. Der Preis der Flexibilität in einer Mundglashütte war folglich nicht allein ein monetärer, sondern vor allem eine Frage der richtigen Prioritätensetzung und (Investitions-)Entscheidungen, die die Unternehmensleitungen zu treffen hatten. Um die Gründe für das Schwinden der unternehmerischen Flexibilität vieler Mundglashütten und den hierdurch beschleunigten Niedergang der Mundglasbranche zu erklären, ist deshalb ein Blick auf die Produktstrategien und in die Betriebe vonnöten.

9.2 Abschied von der Guten Form. Die Produkte Mit der Guten Form waren Vertreter*innen des Deutschen Werkbunds wie Richard Süßmuth zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen den Historismus in der Glasgestaltung an-

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ten entstand der Verdacht, dass es hierbei zu Veruntreuungen kam. HNA, 10. Juni 1992 (s. Anm. 120); Manfred Schäfer, »Es war einmal …«, in: Neueste Nachrichten des Glasmuseums Weißwasser, 23. November 2012, Online: www.glasmuseum-weisswasser.de/neuste_nachrichten_29_2012.pdf. Gegen [Gunter Kapp] wurde 2005 – zunächst vor dem Landgericht Görlitz, später vor dem Landgericht Dresden – ein Verfahren wegen Subventionsbetrug geführt. Im September 2006 wurde er »zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung« verurteilt. Als Altlasten auf dem Werksgelände in Immenhausen beseitigt und die Zuständigkeit für deren Finanzierung geklärt werden sollten, waren weder [Kapp] noch [Rupp] für die lokalen Behörden auffindbar. »Betrugsprozess um Lausitzer Glaswerke Weißwasser beginnt«, in: Lausitzer Rundschau, 11. Januar 2005, und Lausitzer Rundschau, 16. September 2006, beides abgedruckt in: Neueste Nachrichten des Glasmuseums Weißwasser, 23. November 2012 (s. Anm. 125); AGK Aufenthaltsermittlung [Gunter Kapp], 15. Mai 2005, in: Archiv AGK, HRA 12178; AGK Aufenthaltsermittlung [Lothar Rupp], 15. Mai 2005, in: Archiv AGK, HRA 12178; AGK Aufenthaltsermittlung [Lothar Rupp], 5. Mai 2011, in: Archiv AGK, HRA 12178.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

getreten.127 Seit den 1960er Jahren grenzten sich hiervon Künstler*innen der internationalen Studioglasbewegung wie Erwin Eisch mit einem »funktionslosen Glas« ab, das »nicht aus den Grundformen des Hohlglases«, sondern aus einem skulpturalen Ansatz heraus entwickelt wurde.128 Sowohl die Gute Form als auch die »Rebellion« dagegen korrespondierten mit den vorherrschenden materiellen und ökonomischen Produktionsbedingungen in der Konsumgüterindustrie.129 Die Abkehr von einer bis dahin mit der Guten Form verbundenen schlichten und funktionalen Gestaltung besaß angesichts deren Maschinentauglichkeit in Zeiten des Vordringens der maschinellen Produktion von Wirtschaftsglas für Mundglashütten eine dezidiert ökonomische Rationalität. Die von der Studioglasbewegung propagierten Grundprinzipien einer individuelleren und experimentellen Vielfalt in der Produktgestaltung schlugen sich daher auch in den Angeboten dieser Firmen nieder. Zeitgenössische Einschätzungen gingen vom zwangsläufigen Sinken der Wettbewerbsfähigkeit von mundgeblasenem Wirtschaftsglas aus: Maschinell produzierende Unternehmen haben die Qualität ihrer Produkte stetig verbessern und hierdurch ebenbürtige Artikel zu sehr viel günstigeren Preisen anbieten können.130 Neben der maschinellen Konkurrenz habe sich auch der zunehmende Import, vor allem aus dem »östlichen Ausland«, negativ auf die Preisbildung der bundesdeutschen Mundglashütten ausgewirkt.131 Schließlich habe ein »Wertewandel« im Konsumverhalten den Niedergang der »Glasservice-Kultur« befördert; der »gedeckte Tisch« habe an Bedeutung verloren.132 Soziale Distinktion über »Tischglas« sei erschwert, da es sich durch die maschinelle Produktion zur »echten Massenware« entwickelt habe.133 Den Mundglashütten sei lediglich ein Marktanteil für »Luxuswaren« und »komplizierte Einzelstücke« für den »gehobenen Bedarf« oder für »Liebhaber […] althergebrachter Verfahren« geblieben.134 Auch diese sich im Nachhinein festsetzenden Erklärungen vermischen Ursachen und Symptome der Branchenkrise. Benannt waren hiermit in erster Linie die Heraus-

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Siehe Kapitel 1.3. Hannes, Bayerischer Wald (s. Anm. 20), S. 142; Siehe hierzu auch Schaeffer et al., Glas (s. Anm. 1), S. 188–190; Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 9), S. 67–72. 129 Zitat Erwin Eisch (1985) aus Alfons Hannes, Wolfgang Kermer und Erwin Eisch, Die Sammlung Wolfgang Kermer, Glasmuseum Frauenau, München 1989, S. 13. 130 Glas- und Porzellan-Telegramm, »Automaten-Kelchglas beherrscht und verstopft den Markt«, August 1971, in: mkp.Gl-A 1-Wies.; Protokollnotiz Besprechung zwischen VEBA-Glas-Vorstand und Betriebsrat des Kristallglaswerks Hirschberg, 20. Oktober 1971, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner, S. 3; Pressemitteilung Gral-Glashütte, Februar 1973, in: CD-ROM-Beilage bei Ricke und Loyen 2011; Breit, November 1982 (s. Anm. 5), S. 3. 131 Helmut Ricke, »Die Wiesenthalhütte im europäischen Kontext«, in: Ders., Wiesenthalhütte (s. Anm. 8), S. 30. Siehe Kapitel 1.1. 132 Breit, November 1982 (s. Anm. 5), S. 4; Ebenso Notiz [Ralf Köhler], 22. Mai 1981, in: AGI; Helmut Hannes, »Richard Süßmuth. Ein Bahnbrecher moderner Glasgestaltung«, in: Jahrbuch des Landkreises Kassel, 1987, S. 179. 133 Breit, November 1982 (s. Anm. 5), S. 4–6. 134 Hucke, Quo vadis Glasindustrie? (s. Anm. 5); Protokoll BMWi Länderausschuss Glas, Keramik, Steine und Erden, 24. März 1970, in: BArch, B 102/163459; Hannes, Bayerischer Wald (s. Anm. 20), S. 148f.

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Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

forderungen, denen sich die bundesdeutschen Mundglashütten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu stellen hatten. Die Gleichzeitigkeit des »rasant ansteigenden Massenkonsum[s]« und der krisenhaften Entwicklung der bundesdeutschen Mundglasbranche als Teil der Konsumgüterindustrie stellt einen erklärungswürdigen Widerspruch dar.135 Wenn die Branche Mitte der 1990er Jahre auf eine gesunkene Nachfrage nach »Glas für den gedeckten Tisch« zurückblickte,136 so war dies nicht zwangsläufig Ausdruck eines generell nachlassenden Interesses an hochwertigem Wirtschaftsglas, sondern vor allem Hinweis auf andere Konsumbedürfnisse sowie auf neue Gruppen von Konsument*innen. Neben Angehörigen nachrückender Generationen gehörte hierzu die seit Ende der 1960er Jahre – im Zuge höherer Einkommen und Renten – sozial aufsteigende und mit Abstand größte Bevölkerungsgruppe der Arbeiter*innen.137 Entgegen der kulturpessimistischen Lesart des Geschmackswandels als einer Bedrohung für die Mundglasbranche lagen in der steigenden Kaufkraft breiter Bevölkerungskreise entscheidende Wachstumschancen. Die Ausprägung einer Massenkonsumgesellschaft war nicht mit einer Nivellierung, sondern mit einer Ausdifferenzierung der Konsumwünsche und der Entwicklung subtilerer Distinktionsstrategien verbunden.138 In den paraphrasierten Krisendeutungen keine Beachtung fand dagegen die Notwendigkeit zum Auf- und Ausbau konjunkturunabhängiger Vertriebsverbindlichkeiten, worauf bereits die »Konjunkturdelle« 1966/1967 verwies und die – so konnte bereits herausgearbeitet werden – eine der zentralen Anforderungen an die Mundglashütten war.139

Die Strategien der Vergleichsunternehmen In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten wurden die Produkte der Vergleichsfirmen – als in Serie produzierte Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs – zum Teil als Kunst rezipiert, mit Designpreisen prämiert oder in Ausstellungen von Kultureinrichtungen präsentiert. Neben dem Konzern Rosenthal gewannen hierdurch auch mittelständische Unternehmen wie Wiesenthal, Eisch und Gralglas eine bundesweite Bekanntheit.140 Die Produktentwicklung war in allen Vergleichsunternehmen ein Aufgabenfeld, in dem ver-

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Auf diesen generellen Widerspruch verweist Anselm Doering-Manteuffel, »Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 4 (2007), S. 562f. 136 Jahresbericht des Bundesverbands der Glasindustrie und Mineralfaserindustrie (1995) zitiert in Peter Willett, Die Glasindustrie in der Bundesrepublik Deutschland, Mainz 1998, S. 401. 137 Christian Kleinschmidt, Konsumgesellschaft, Göttingen 2008, S. 140; Ebenso Alfred Reckendrees, »Die bundesdeutsche Massenkonsumgesellschaft. Einführende Bemerkungen«, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (2007), S. 22f. 138 Michael Wildt, Vom kleinen Wohlstand. Eine Konsumgeschichte der fünfziger Jahre, Frankfurt a.M. 1996, S. 239. 139 Siehe Kapitel 1.1 und Kapitel 6. 140 Grossmann, Industriedesigner (s. Anm. 30), S. 187–207; Ricke, Breit (s. Anm. 21), S. 15f.; Glashütte Valentin Eisch KG (Hg.), Künstlerisches Glas von Erwin Eisch. Dokumente, Pressestimmen, Materialien, Frauenau [undatiert], S. 25; Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 235.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

schiedene Personengruppen tätig waren.141 Bei Eisch und Wiesenthal sowie in geringerem Umfang auch bei Gralglas und Theresienthal gehörten hierzu die gestalterisch tätigen Inhaber.142 Die meisten Vergleichsunternehmen beauftragten in den 1950er und 1960er Jahren zum Teil namhafte Industriedesigner bzw. (Glas-)Künstler meist auf Provisionsbasis mit der Entwurfsarbeit.143 Häufig waren – wie bei Eisch, Wiesenthal, Rosenthal und Gralglas – auch Belegschaftsangehörige an Experimenten mit neuen Produkten beteiligt, die mitunter als Entwürfe eines »Ateliers« oder »Studios« verkauft wurden.144 In den 1970er Jahren gewannen in den meisten Unternehmen Angestellte der (neu entstandenen) Marketingabteilungen mehr Einfluss, was mitunter – wie bei Wiesenthal und Gralglas – mit heftigen Auseinandersetzungen in den Führungsetagen einher ging und den Bedeutungsrückgang namhafter Industriedesigner einläutete.145 Eisch, Gralglas und Rosenthal intensivierten den Kontakt zu Studioglaskünstler*innen, die sie zu Workshops in die Produktionsstätten einluden.146 Die Gestaltungsspielräume der Beschäftigten reduzierten sich dagegen in der Regel im Zuge betrieblicher Rationalisierungsmaßnahmen und Konflikte.147 Zu einem Trend in der Angebotsgestaltung gehörte eine erhöhte Frequenz von Produktneuheiten und Sortimentswechseln in zeitlich kürzeren Abständen, der bei Hirschberg und Wiesenthal nach den Eigentümerwechseln besonders ausgeprägt war.148 In der 141

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Die scheinbar vorrangig auf Auftrag bzw. nach den Entwürfen der Kund*innen arbeitende Glashütte Buder war in dieser Hinsicht unter den Vergleichsglashütten eine Ausnahme. Transkript Gruppeninterview der Autorin und Detlev Herbst mit Rudolf Raimann, Karl-Heinz Bolz und Siegfried Baumer, 27. Mai 2013, im Besitz der Autorin, S. 33. Bei Eisch entstand das Angebot ausschließlich in der betriebsinternen Produktentwicklung. Katharina Eisch, Die Eisch-Hütte. Portrait einer Bayerwald-Glashütte im 20. Jahrhundert, Grafenau 1988, S. 49, 126–131; Hannes, Bayerischer Wald (s. Anm. 20), S. 114; Ricke, Breit (s. Anm. 21); Ricke, GralGlas (s. Anm. 28), S. 48; Haller und Pscheidt, Theresienthal (s. Anm. 20), S. 100, 107. Für mehrere der Vergleichsunternehmen waren bspw. Wilhelm Braun-Feldweg (v.a. für Hirschberg, vorübergehend auch für die Josephinen- und Wiesenthalhütte) oder Hans Theo Baumann (zunächst für Rosenthal und Gralglas, ab Ende der 1960er Jahre für GHS) tätig. Xenia Riemann, Das Werk Wilhelm Braun-Feldwegs. Industrielle Formgebung in Deutschland nach 1945, Berlin 2007, S. 135–149; Kunstgewerbemuseum Köln und Künstlerhaus Wien (Hg.), H. Th. Baumann Design, Maulburg 1979. Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 102, 126–131; Fritz, Porzellangeschirre (s. Anm. 32), S. 18f.; Ricke, Form (s. Anm. 28), S. 90f.; Xenia Riemann, »Entwerfer und Designer«, in: Ricke und Loyen, gralglas (s. Anm. 11), S. 223f.; Ricke, Gral-Glas (s. Anm. 28), S. 70; Helmut Ricke, »Design im Zeichen des Marketings. Gralglas in den 1970er Jahren«, in: Ders. und Loyen, gralglas (s. Anm. 11), S. 144; Ricke, Breit (s. Anm. 21), S. 17; Notizen Klaus Breit, in: mkp.Gl-A 1-Wies.37A und B. Ricke, Breit (s. Anm. 21), S. 19f.; Ricke, Design (s. Anm. 144), S. 140–142; Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 208; Walter Scheiffele, Wilhelm Wagenfeld und die moderne Glasindustrie. Eine Geschichte der deutschen Glasgestaltung von Bruno Mauder, Richard Süssmuth, Heinrich Fuchs und Wilhelm Wagenfeld bis Heinrich Löffelhardt, Stuttgart 1994, S. 181. Eisch begann hiermit bereits Anfang der 1960er Jahre, Gralglas und Rosenthal ab Mitte der 1970er Jahre. Hannes, Bayerischer Wald (s. Anm. 20), S. 142–145; Ricke, Design (s. Anm. 144), S. 142, 163f.; Riemann, Entwerfer (s. Anm. 144), S. 216, 208; Werbebroschüre 7. Rosenthal-Künstlertage, 1984, in: Universitätsbibliothek HU Berlin. Siehe Kapitel 9.3 und 9.4. Der neue Hirschberg-Eigentümer wollte 40 Prozent des Sortiments sofort »verjüngen«. Hatten die von der WTH zu Beginn der 1970er Jahre einmal pro Jahr neu auf den Markt gebrachten Kollek-

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Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

Josephinenhütte, bei Wiesenthal, Buder und Gralglas ließ sich sogleich die Tendenz zur Reduktion der Serienfertigung besonders arbeitskräfteintensiver Produkte beobachten. Vor allem der Anteil von Kelchglas, von im Mundblasverfahren gefertigten oder mit Techniken der Kaltveredelung dekorierten Artikeln ging zurück, während andere manuelle Stoffformungsverfahren wie Press-, Guss-, Schleuder- oder Streichverfahren, bei denen mitunter Techniken der heißen Veredelung angewandt wurden, an Bedeutung gewannen.149 Rosenthal und Eisch setzten hingegen in erster Linie auf eine Wertsteigerung der Produkte durch eine aufwendigere Gestaltung und den Ausbau der Veredelung.150 Die Mundglashütten ergriffen verschiedene Strategien der Diversifikation. In nahezu allen Vergleichsunternehmen entwickelten sich Geschenkartikel für den privaten und kommerziellen Gebrauch aus dem Kernsegment Wirtschaftsglas heraus zu eigenständigen Produktbereichen.151 Rosenthal, Eisch und Gralglas bauten seit den 1960ern ihr Angebot von kunsthandwerklichen Produkten aus, die sie in Unikat- oder Kleinstserien verkauften.152 Die Erweiterung des Sortiments um Bleikristall wie bei Gralglas oder Eisch war ein branchenweit diskutierter Trend zu einer Zeit, als die maschinelle Konkurrenz in diesen Bereich noch kaum vorgedrungen war.153 Mit Architektur- und Spezialglas verlagerte Wiesenthal seit Ende der 1970er Jahre den Schwerpunkt auf Produktgruppen jenseits des Bereichs Wirtschaftsglas.154 Wiesenthal und vor allem Gralglas erweiterten ihr Angebot um gänzlich branchenfremde Produkte.155 tionen noch einen Umfang von 50 bis 80 Artikel, so präsentierte die Firma Ende der 1970er Jahre jährlich »zwei komplette Messekollektionen« mit insgesamt 300 bis 350 Artikel. »Glas. Ein faszinierender Stoff für künstlerisch begabte Hände. Kristallglaswerk Hirschberg in Stadt Allendorf lebt weiter«, in: Oberhessische Presse, 13. Mai 1972, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner; FR, 20. Januar 1973 (s. Anm. 13); Breit, 1. März 1979 (s. Anm. 24), S. 5. 149 Übersicht Produktbereiche Josephinenhütte 1958–1967, in: WABW, Bestand B 164 Bü 7; Rath, Wiesenthalhütte (s. Anm. 8), S. 334f.; Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 22), S. 481, 492–498; Notiz [Harald Meier], 28. März 1977, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1; Unternehmenschronik Buder (s. Anm. 19), S. 3–5; Helmut Ricke, »Experimentierfeld ›heiße Techniken‹«, in: Ders. und Loyen, gralglas (s. Anm. 11), S. 124–139. 150 Werbebroschüre 8. Rosenthal-Künstlertage, 1985, in: Universitätsbibliothek HU Berlin, S. 40; Werbebroschüre 7. Rosenthal-Künstlertage, 1984 (s. Anm. 146); Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 58, 143–147; Notiz [Harald Meier], 30. September 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen; Auch Theresienthal habe seit Mitte der 1970er Jahre den »Schwerpunkt auf eine exklusive Produktentwicklung« gelegt. Haller und Pscheidt, Theresienthal (s. Anm. 20), S. 108. 151 Siehe bspw. Übersicht Josephinenhütte 1958–1967 (s. Anm. 149); Ricke, Design (s. Anm. 144), S. 154; Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 22), S. 398, 496f., 550–552; Hucke, Quo vadis Glasindustrie? (s. Anm. 5). 152 Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 49; Hannes, Bayerischer Wald (s. Anm. 20), S. 114; Ricke, Experimentierfeld (s. Anm. 149); Hilschenz und Fritz, Rosenthal (s. Anm. 33), S. 18. 153 Ricke, Design (s. Anm. 144), S. 165–167; Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 75f. 154 Neben farbigen Dickglasplatten oder Butzenscheiben für die Flachglas- bzw. Fensterglasgestaltung fertigte die WTH auch Türgriffe, Tischplatten oder Hausnummern. Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 22), S. 398, 465–467, 550–561; Siehe Übersicht von Annemarie Rath, »Produkte der Wiesenthalhütte«, in: Ricke, Wiesenthalhütte (s. Anm. 8), S. 362–371. 155 Ende der 1970er Jahre begann Gralglas mit dem Verkauf von Produkten aus Holz, Porzellan und Metall (»bis hin zu Küchengeräten und Besteck«) und wie die WTH mit solchen aus Keramik. Ricke, Design (s. Anm. 144), S. 167; Rath, Wiesenthalhütte (s. Anm. 8), S. 338; Breit, 1. März 1979 (s. Anm. 24), S. 10.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

Alle Vergleichsunternehmen – mit Ausnahme von Eisch – begannen mit dem Zukauf und Vertrieb von Produkten (aus den eigenen Kernsegmenten, aber auch aus anderen Bereichen), die im Inland und insbesondere im osteuropäischen Ausland gefertigt wurden.156 Mundgeblasenes Glas gehörte bis Ende der 1960er Jahre zu den wenigen von Handelsliberalisierungen ausgenommenen Waren. Im Laufe der 1970er Jahre wurden die Einfuhrkontingente nur »vorsichtig angehoben«.157 Weggefallen waren sie aber für die SR Rumänien als deklariertes Entwicklungsland und für die SFR Jugoslawien, die aufgrund ihrer »sozialistischen Marktwirtschaft« nicht als »Staatshandelsland« galt.158 An Glashütten aus diesen Staaten sowie aus der ČSSR und der VR Polen erteilten nicht nur Handelsunternehmen oder Glaskonzerne, sondern auch mittelständische Mundglasunternehmen wie Gralglas, Wiesenthal, Buder oder Theresienthal vermehrt größere Aufträge, wobei sie bald dazu übergingen, die Produktion kompletter Serien bzw. mitunter sogar gesamter Produktbereiche auszulagern.159 Die Ausweitung des Zukaufs von Handelsware ging in der Gral-Glashütte mit einer radikalen Straffung des eigenen Produktionsprogramms einher.160 Wiesenthal und die meisten Glaskonzerne substituierten die eigene Mundglasfertigung von Wirtschaftsglas seit Anfang der 1980er Jahre durch den Zukauf von mundgeblasenem Glas letztlich vollends.161 Unternehmen der bundesdeutschen Wirtschaftsglasbranche sahen (wie jene anderer Branchen) seit Ende der 1960er Jahre im Auslandsgeschäft entscheidendes Wachstumspotenzial.162 Bei Wiesenthal und Theresienthal zählte der erhoffte Zugang zu den

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Dieser Trend habe laut [Harald Meier] Ende der 1950er Jahren begonnen und mit den Handelsliberalisierungen zugenommen. »Süssmuth-Information. Ein Informationsblatt für unsere Mitarbeiter«, 1. Januar 1979, in: AGI, S. 1. 157 Zwischen 1977 und 1979 wurde bspw. das Einfuhrkontingent für mundgeblasenes Glas von 6,1 auf 6,9 Millionen DM angehoben. Dieter von Würzen an Georg Freiherr von Waldenfels, undatiert [August/September 1980], in: BArch, B 102/273998; Vermerk BMWi, 24. Oktober 1980, in: BArch, B 102/273998. 158 VdG-Memorandum, Juni 1980 (s. Anm. 9), S. 18; BMWi, 24. Oktober 1980 (s. Anm. 157); Arbeitspapier BMWi, 4. November 1980, in: BArch, B 102/273998. 1980 schloss die EWG mit Jugoslawien ein Handels- und Kooperationsabkommen und mit Rumänien ein Kooperationsabkommen ab. 159 Ricke, Design (s. Anm. 144), S. 142f.; Breit, 1. März 1979 (s. Anm. 24); Rath, Wiesenthalhütte (s. Anm. 8), S. 338; Raimann etc., 27. Mai 2013 (s. Anm. 141), S. 24f.; Dominik Wessely, Die Unzerbrechlichen (PR-Film), Edition Salzgeber (Berlin), 2006, 1. Minute. 160 Dieses wurde offensichtlich von 1.500 Artikel (1971) auf 60 Artikel (1973) reduziert. Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 205; Entwurf Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 24. April 1973, in: FHI, Schöf-1226, S. 2. 161 Breit, November 1982 (s. Anm. 5), S. 2. Die Schließung von Konzernen zugehörigen Mundglashütten wie jener von Rosenthal in Bad Soden, von WMF in Geislingen oder von Villeroy&Boch in Wadgassen war »lediglich ein Ergebnis der Umstellung von Eigenfertigung auf Fremdbezug, wobei oft das gesamte Produktionsprogramm dem Lieferanten überlassen wurde.« Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 9), S. 194. 162 Siehe bspw. Protokoll Bundesausschuss Wirtschaftsglas, 22. Februar 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 7; VdG, Deutsches Glas für die Tische der Welt, 17. September 1974, in: BArch, B 102/208321. Zur verstärkten Exportorientierung als unternehmerische Krisenreaktion siehe bspw. Christian Marx, »Die Vermarktlichung des Unternehmens. Berater, Manager und Beschäftigte in der westeuropäischen Chemiefaserindustrie seit den 1970er Jahren«, in: Zeithistorische Forschungen 3 (2015), S. 405f.

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weltweiten Vertriebsnetzen von Schott und Hutschenreuther zu gewichtigen Gründen für die Fusionierung mit diesen Konzernen. Bereits zuvor hatte Klaus Breit den Auslandabsatz von Wiesenthal zu erhöhen versucht und neben dem Fachhandel der Glasund Einrichtungsbranche Absatzbeziehungen zu Warenhäusern aufgebaut.163 Nachdem Hirschberg aus den Vertriebsstrukturen des VEBA-Glas-Konzerns ausgeschieden war, setzte der neue Inhaber vor allem auf Export und Großhandelsaufträge.164 Für die Glashütte Buder lag auf beidem ebenfalls der Schwerpunkt; der Fachhandel wurde von ihr in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre gar nicht mehr beliefert.165 Rosenthal wurde durch Gründung eigener Vertriebsgesellschaften und Einzelhandelsgeschäfte dagegen zur wegweisenden Pionierin im Direktvertrieb an die Endverbraucher*innen.166 Auf verschiedenen Wegen stiegen auch Gralglas und Eisch in den Direktvertrieb ein, für beide besaß der Export eine untergeordnete Bedeutung.167 Die Gral-Glashütte nutzte hierfür die Kundenkontakte der 1958 übernommenen Glashütte Rheinkristall, die sie unter den Namen Leichlingen nach der Produktionseinstellung Mitte der 1960er Jahre als Vertriebsgesellschaft fortführte.168 Eisch weitete den Betriebsverkauf aus.169 Zugleich intensivierte Eisch die Fachhandelsbeziehungen und setzte auf eine »vertrauensvolle Zusammenarbeit« mit den freien Handelsvertreter*innen, deren Erfahrungswerte bei der Sortimentsgestaltung weiterhin berücksichtigt wurden.170 Die Produkte aus der Unikats- und Kleinserienfertigung vertrieben sowohl Eisch als auch Gralglas über »Sonderausstellungen« in Fachhandelsgeschäften.171 Die meisten Glashütten bemühten sich um eine Professionalisierung des Marketings.172 Branchenweit herrschte die Annahme vor, die Werbeanstrengungen müssten künftig verstärkt und hierfür »genaue Markt- und Trendanalysen« erstellt werden.173 Ende der 1960er Jahre diskutierten die Mitgliedsfirmen des Vereins der Glasindustrie (VdG) 163 164 165

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Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 22), S. 499, 390; Ricke, Breit (s. Anm. 21), S. 14; Klaus Breit an Firma Tritschler&Co, 19. April 1971, in: mkp.Gl-A 1-Wies.37A. Protokoll Wirtschaftsausschuss Hirschberg, 9. Mai 1973 (s. Anm. 15), S. 2f.; Notiz Carl Josef Haefeli, 17. November 1972, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner. Buder exportierte in den 1970er Jahren ungefähr 70 Prozent der Produkte in knapp 40 Staaten (vor allem EWG und USA) und belieferte »ausschließlich Großhändler«, vor allem Glaskoch. Unternehmenschronik Buder (s. Anm. 19), S. 5f.; [Meier], 28. März 1977 (s. Anm. 149). Siehe Kapitel 9.1. Bei Gralglas habe der Exportanteil Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre nicht mehr als 15 Prozent betragen. Eisch habe Mitte der 1970er Jahre »ausschließlich« auf dem Inlandsmarkt angeboten. Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 205; Hannes, Bayerischer Wald (s. Anm. 20), S. 114. Ricke, Form (s. Anm. 28), S. 78. Erich Eisch wiedergegeben in [Meier], 30. September 1976 (s. Anm. 150). Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 119, 114–119. Glashütte Valentin Eisch KG, Künstlerisches Glas (s. Anm. 140), S. 21–25; Wilfried van Loyen, »Werbung und Verkaufsförderung«, in: Ricke und Ders., gralglas (s. Anm. 11), S. 179. Auch hierin unterschied sich die Wirtschaftsglasbranche nicht von anderen Branchen. Siehe Ingo Köhler, »Marketing als Krisenstrategie. Die deutsche Automobilindustrie und die Herausforderungen der 1970er Jahre«, in: Hartmut Berghoff (Hg.), Marketinggeschichte, Frankfurt a.M. u.a. 2007, S. 259–295. Wolf von Lünen, »Harte Welle klingt ab. Glasabsatz im Wandel«, in: HAZ, 27. April 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 7; Ebenso VdG-Sonderrundschreiben, 8. Mai 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 7.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

über Möglichkeiten einer Gemeinschaftswerbung. Diese habe – so die Empfehlung des hinzugezogenen Beraters, der sich auf die Marktstudie eines Diplompsychologen der Gesellschaft für Konsumforschung stützte – vor allem der Verbraucheraufklärung und -lenkung zu dienen.174 Den Konsument*innen müsste, weil ihnen »technische Beurteilungskriterien« fehlten, erklärt werden, woran sie wertvolles (in Abgrenzung zu maschinell gefertigtem) Gebrauchsglas erkennen können; Informationen über die Mundglasfertigung und die Produzent*innen könnten bei ihnen Verständnis für den höheren Preis wecken. Zugleich müssten die Konsument*innen als Menschen angesprochen werden, die »in Bezug auf den eigenen Geschmack« unsicher seien. Mundgeblasenes Glas müsse als »Ausdruck der Persönlichkeit« vermarktet werden, »mit dem Ziel, eine gewisse ›Mode‹ zu propagieren«. Dabei gelte es, »Alters- und Statusunterschiede« zu berücksichtigen und die »weiche Stelle zu finden, in die eine Werbung beim Verbraucher eindringen könne«. Derart seien – so der VdG-Geschäftsführer – die Erzeugnisse »einem großen, aber von vielen Seiten umworbenen Verbraucherkreis wieder stärker in das Bewusstsein zu rücken […], die Wertvorstellung von ›gutem Glas‹ […] in der Öffentlichkeit zu verstärken und es zu einem ›Zeichen von Kultur‹ zu machen«.175 Die Gemeinschaftswerbung kam nicht zustande, da sich die Interessen der im Branchenverband vertretenen mittelständischen und großen Unternehmen nicht auf einen Nenner bringen ließen.176 Die in den verbandsinternen Diskussionen zusammengetragenen Aspekte lassen sich jedoch in den Strategien der einzelnen Firmen nachzeichnen. Die meisten Mundglashütten investierten mehr in Werbung, die der »Aufklärung« der Verbraucher*innen dienen und ihnen Identifikationsangebote unterbreiten sollte.177 Um eine möglichst breite Kundschaft zu erreichen, oszillierten die Werbebotschaften – mit unterschiedlicher Akzentuierung – zwischen »Tradition« und »Moderne«, zwischen der Rückbesinnung auf den »ursprünglichen« und »authentischen« Charakter eines jahrhundertealten »Handwerks« in einer »entfremdeten Gesellschaft« und der Befürwortung »moderner« Lebenskonzepte in einer »individualisierten und pluralisierten Gesellschaft«.178 Geworben wurde also – hierbei diskursive Versatzstücke rechter wie linker Konsumkritik aufgreifend – mit den dem mundgeblasenem Glas zugeschriebenen immateriellen Werten. Die in den neuen Marketingkonzepten erkennbare und der Abgren174 175 176

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Folgendes aus Protokoll Bundesausschuss Wirtschaftsglas, 25. Juli 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 7; Untersuchungsbericht Ernst Braunschweig, 12. August 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 7. VdG-Sonderrundschreiben, 20. November 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 7. Zu den Streitpunkten gehörte die Frage, wessen Produkte im Vordergrund stehen sollten oder von welchem Unternehmen die Filmaufnahmen für die Fernsehwerbung gemacht werden sollten. Siehe VdG-Korrespondenz, 1968/1969, in: BWA/F 064–76. Üblich war bspw. die Veröffentlichung von (vermeintlich neutralen) Artikeln in Branchenzeitschriften wie in der Schaulade oder Porzellan+Glas, die bei den Lesenden einen objektiv-informativen Eindruck erwecken sollte. Informationen über Produktneuheiten, Sonderaktionen oder Unternehmenserfolge wussten die Firmenleitungen auch in anderen Printmedien zu platzieren. Aus diesem Gründen sind öffentliche Selbstdarstellungen oder Berichte über Unternehmen mit besonderer Vorsicht bzw. im Wissen um deren werbende Funktionen als Quelle zu verwenden. Zitate aus Pressemitteilung Gral-Glashütte, Februar 1973 (s. Anm. 130); Ebenso Klaus Breit, »Wiesenthalhütte. Verwirklichung einer Designidee«, in: Die Schaulade, Oktober 1976, in: mkp.Gl-A 1Wies. S. 1486–1489; Katalog WTH Neuheiten, 1978/1979, in: CD-ROM-Beilage bei Ricke 2007; Werbeprospekte Glashütte Eisch, glas unserer zeit, undatiert [1975], im Besitz der Autorin.

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zung zur maschinellen Konkurrenz geschuldete Referenz an den Topos von der Rückständigkeit des Handwerks unterstrich aber implizit denselben: Die Daseinsberechtigung der Mundglasfertigung im Heute ging für die meisten Unternehmensleitungen – wie noch zu zeigen ist – über die Musealisierung der Produktion und die künstlerische bzw. dekorative Bedeutung der Produkte nicht hinaus. Die auf neue Formen des Direktvertriebs setzenden Mundglashütten intensivierten auch die direkte (bis dahin über den Fachhandel vermittelte) Ansprache der Endverbraucher*innen. Die Rosenthal-Vertriebsgesellschaft Bavaria warb seit Mitte der 1950er Jahre Angehörige verschiedenster Bevölkerungsgruppen (»darunter Hausfrauen, Lehrerwitwen und Pensionäre«) als Vertreter*innen an, die per Hausbesuch neue Konsument*innen gewinnen sollten.179 Gralglas schaltete Werbeanzeigen in auflagenstarken Zeitschriften und gab wie auch Rosenthal eine direkt an die Endverbraucher*innen adressierte Firmenzeitschrift heraus.180 Eisch offerierte zur Belebung der Verkaufsfiliale auf dem Firmengelände verstärkt Betriebsbesichtigungen.181 Außerdem nahmen diese Unternehmen eine zielgruppenspezifische Markenausdifferenzierung vor, wobei auch hier Rosenthal eine Vorreiterrolle innehatte. Seit Anfang der 1960er Jahre bot der Konzern die hochwertigen Produkte der Classic Rose Collection und der Rosenthal Studio Linie mit einer traditionellen und moderneren Kunstrichtungen verpflichteten Gestaltung neben preisgünstigeren Erzeugnissen der Thomas-Linie an, die eine jüngere und weniger zahlungskräftige Kundschaft ansprechen sollten.182 Die Glashütte Eisch offerierte ebenfalls eine traditionelle, künstlerische und junge Produktlinie, die sie alle drei unter der Qualitätsmarke Eisch im Fachhandel vertrieb.183 Hingegen nutzte die GralGlashütte zur »Gewinnung eines breiteren Kundenstamms« die von der Fachhandelsmarke Gralglas getrennt beworbene Zweitmarke Leichlingen, über die sie zugekaufte Produkte zu günstigeren Preisen über die gleichnamige Handelsgesellschaft vertrieb.184

Die Strategien der Glashütte Süßmuth Den Produkten, dem Vertrieb und der Vermarktung widmete [Harald Meier] seine größte Aufmerksamkeit. Er erklärte die Neuausrichtung dieses Unternehmensbereichs »Rosenthal-Porzellan. Die Bedarfsweckungstour«, in: Der Spiegel, 8. Mai 1956, Online: www.spiegel.de/spiegel/print/d-43062166.html; Fritz, Porzellangeschirre (s. Anm. 32), S. 18. 180 Siehe Firmenzeitschrift Gralglas Informationen, 1974–1981, in: CD-ROM-Beilage bei Ricke und Loyen 2011; Hilschenz und Fritz, Rosenthal (s. Anm. 33), S. 15; Rosenthal Bild-Post, August 1971, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 181 In kleinerem Umfang war das Angebot von Betriebsführungen auch bei Gralglas und in der WTH üblich. Werbeprospekt Glashütte Eisch, Von der Kunst des Glasmachens, undatiert [1975], im Besitz der Autorin; Die Glaskiste. Hausmitteilungen der Gralglashütte Dürnau, Nr. 11 (Januar 1958), in: CD-ROM-Beilage bei Ricke und Loyen 2011; Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 22), S. 582–584. 182 Fritz, Porzellangeschirre (s. Anm. 32), S. 132; Simoneit, Rosenthal (s. Anm. 33), S. 174. Eine ähnliche Marken-Zwei- bis Dreigliederung nach Preissegment und Kundengruppe nahmen auch Großunternehmen wie Kristallglasfabrik Spiegelau, Villeroy&Bosch oder Schott-Zwiesel vor. Eckhard Blaume, CI [Corporate Identity] und CD [Corporate Design]. Überarbeitung des Erscheinungsbildes der GHS GmbH, Unveröffentlichte Diplomarbeit 1986, in: AGI, Kap. 1, S. 20f. 183 Blaume, Erscheinungsbild (s. Anm. 182), Kap. 1, S. 18. 184 Ricke, Form (s. Anm. 28), S. 78; Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 204. 179

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

zur »Chefsache« und übernahm persönlich die Vertriebsleitung. Mit der Ausweitung der EDV wurden die Zuständigkeiten neu verteilt und zentralisiert, was umfangreiche personelle Veränderungen zur Folge hatte.185 Kurz nach [Hans Müller] verließ auch [Jürgen Schmitz] das Unternehmen.186 Langjährige Führungskräfte wie der Lagerverwalter [Walter Albrecht] wurden abgesetzt.187 Die von [Meier] in leitende Positionen beförderten Angestellten [Rita Abel] (Vertrieb Beleuchtungsglas) und [Volker Lange] (Export) schieden im Laufe des Jahres 1977 nach Meinungsverschiedenheiten und Konflikten mit den neuen Vertriebsangestellten aus.188 Zu diesen gehörte [Ralf Köhler], der im April 1976 als »Assistent der Geschäftsleitung für den Vertrieb« eingestellt wurde und die Verkaufsleitung für Wirtschaftsglas übernahm.189 1977 kamen [Hartmut Breuer] als Verkaufsleiter für Beleuchtungsglas und [Renate Turm] als Exportleiterin in das Unternehmen.190 Seit Mitte der 1980er Jahre war [Gerd Schmieder] in der neu geschaffenen Stelle des Marketingleiters tätig.191 Außer der langjährigen Verwaltungsangestellten [Ingrid Buchholz], die seit Ende der 1970er Jahre eine leitende Funktion im Vertrieb ausübte,192 trafen in der Glashütte Süßmuth nach der Selbstverwaltung vor allem Betriebsund Branchenfremde angebots- und vertriebsrelevante Entscheidungen. Anders als seine Vorgänger gewährte [Meier] den Fachhändler*innen und Handelsvertreter*innen bei der Auswahl der Produktneuheiten kaum noch Einfluss.193 Die nach der Belegschaftsübernahme etablierte Praxis, Produktentscheidungen im Kreise der Vertriebs- und Produktionsangestellten zu beraten, behielt er hingegen bei.194 Zu Beginn bezog er jene Beschäftigten mit ein, die sich während der Selbstverwaltung mit eigenen Produktideen hervorgetan hatten. Der Exportleiter [Volker Lange] und der Glasmaler [Frank Weber] wurden mit der Entwurfsarbeit beauftragt, sie sollten sich dabei regelmäßig mit den »Kollegen der Technik« austauschen.195 Für kurze Zeit war auch die Sprengerin [Ria Ulrich] in die Vertriebsabteilung befördert worden, wo sie für das 185 Klausur Geschäftsleitung, 16. Juli 1976 (s. Anm. 63), S. 4–7; Konzeptpapier, 15. Juni 1976 (s. Anm. 81). 186 Geschäftsleitung, 8. März 1976 (s. Anm. 79), S. 1. 187 Geschäftsleitung, 29. September 1976 (s. Anm. 76), S. 1; Protokoll Gespräch mit [Walter Albrecht], 15. Juli 1993, erstellt von Friedrich-Karl Baas, in: AGI, S. 5; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 13. Dezember 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1. 188 Geschäftsleitung, 21. Januar 1977 (s. Anm. 81), S. 2; Geschäftsleitung, 31. Januar 1977 (s. Anm. 70), S. 4f. 189 [Ralf Köhler] war zuvor als Vertreter bei dem Automobilzulieferer Continental tätig. Mitteilung [Harald Meier], 30. März 1976, in: AGI, S. 2; Info Süssmuth, 15. April 1976, in: AGI; Preisliste (GHS) 1977, in: AGI. 190 Katalog Süßmuth-Beleuchtungsglas, undatiert [1977], in: AGI. [Hartmut Breuer] blieb bis Anfang der 1980er Jahre, [Renate Turm] hatte die GHS bereits im Herbst 1977 wieder verlassen. Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 4. Oktober 1977, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2. 191 Preisliste (GHS) 1984/1985, in: AGI. [Gerd Schmieder] wurde im Sommer 1981 zunächst als »Assistent der Geschäftsleitung in der Firma Wilhelmsthal« eingestellt und war hier für den Aufbau der sogenannten Kunsthandwerkerhöfe zuständig. Notiz [Harald Meier], 16. Juni 1981, in: AGI. 192 Katalog Süßmuthglas, undatiert [1977/1978], in: mkp.Gl-A 1-Süss.13, S. 1. 193 Siehe bspw. Notiz [Harald Meier], 25. April 1976, in: AGI. 194 Siehe bspw. Bericht [Ralf Köhler], undatiert [Juni 1976], in: AGI, S. 2f. 195 Protokoll Abteilungsleitersitzung (GHS), 5. April 1976, in: AGI, S. 3; Protokoll Abteilungsleitersitzung (GHS), 5. Mai 1976, in: AGI; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 23. August 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2; Notiz [Harald Meier], 3. November 1976, in: AGI.

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Geschenkartikelgeschäft und die Organisation der Betriebsbesichtigungen zuständig war.196 Die Beteiligung von Belegschaftsangehörigen an der Produktentwicklung wurde in den Werbematerialien nicht vermerkt und angesichts der sich erneut verdichtenden Konflikte bald beendet.197 Zunächst intensivierte [Meier] die Zusammenarbeit mit den freiberuflichen Gestalter*innen Hans Theo Baumann, Christel und Christer Holmgren sowie Jørgen Kastholm; er wollte diese Kooperationen durch bessere Absprachen und regelmäßige Einladungen zu Arbeitsaufenthalten in Immenhausen verstetigen.198 Bald kam es jedoch zu Differenzen über die Vergütung.199 Der 1975 fest angestellte Glasgestalter Petr Horák hatte deshalb seinen Vertrag mit der Glashütte Süßmuth bereits im Frühjahr 1976 aufgekündigt.200 Im Jahr 1979 beschloss die Geschäftsleitung – angesichts erneuter Liquiditätsprobleme –, künftig sollten die Angestellten der Vertriebsabteilung für die Produktentwicklung zuständig sein.201 Kontinuierlich wurde nur mit dem jungen Gestalter Norbert Prangenberg zusammengearbeitet.202 Die seit 1977 im Verkauf angestellte Architektur- und Design-Absolventin [Jutta Martin], die nach der Heirat mit [Harald Meier] dessen Nachnamen annahm, war ebenfalls in die Produktentwicklung involviert.203 In den 1980er Jahren wurden unter der Bezeichnung Atelier Süßmuth auf (frühere) Belegschaftsvorschläge zurückgehende Produkte verkauft und unter dem Logo Design-Studio Süßmuth offenbar Entwürfe des Marketingangestellten [Gerd Schmieder].204 Es kamen einzelne Produkte von Designer*innen ins Sortiment, die teils der Studioglasbewegung angehörten, zum Teil aber auch nicht auf Glasgestaltung spezialisiert waren.205 [Konrad Scholz] bemühte sich, die Glashütte Süßmuth – ähnlich der Glashütte Eisch – als Zentrum der Studioglasbewegung zu profilieren. 1981 organisierte er über die SüßmuthMitarbeiter-Stiftung im Rahmen der Bundesgartenschau in Kassel eine internationale 196 Ein Jahr später wurde [Ria Ulrich] in den Werksverkauf versetzt. Werbeprospekt Süßmuth-Geschenkartikel, undatiert [Frühjahr 1976], in: AfsB, Bestand IG Chemie; Werbeprospekt SüßmuthBetriebsbesichtigungen, undatiert [Frühjahr 1976], in: AfsB, Bestand IG Chemie; Geschäftsleitung, 21. Januar 1977 (s. Anm. 81), S. 1. 197 Siehe Kapitel 9.4. 198 Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 15. März 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1f.; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 29. März 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 3f.; Notiz [Harald Meier], 25. August 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen. 199 Korrespondenz [Harald Meier] und Christel und Christer Holmgren, Juli bis September 1977, in: AGI; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 5. April 1979, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2. 200 Korrespondenz [Harald Meier] und Petr Horák, April/Mai 1976, in: AGI. 201 Geschäftsleitung, 5. April 1979 (s. Anm. 199), S. 2. Mitte der 1980er Jahre lag die Produktentwicklung im Verantwortungsbereich des Marketingleiters [Gerd Schmieder]. Preisliste 1984/1985 (s. Anm. 191). 202 Norbert Prangenberg war gelernter Gold- und Silberschmied und schloss 1973 an der Fachhochschule Dortmund sein Studium Produktdesign und Grafik ab. Anschließend war er in der Entwurfsabteilung der Glashütte Peill+Putzler tätig. Seit 1976 arbeitete er sehr eng mit der GHS zusammen, eine Festanstellung lehnte er ab. 1987 wechselte er zu Schott Zwiesel. Notiz [Harald Meier], 21. Oktober 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen; Katalog, [1977/1978] (s. Anm. 192), S. 2; Norbert Prangenberg an [Konrad Scholz], 25. März 1987, in: AGI. 203 Geschäftsleitung, 4. Oktober 1977 (s. Anm. 190), S. 2; Preisliste (GHS) 1982, in: AGI, S. 4. 204 Preisliste (GHS) 1980/1981, in: AGI; Preisliste (GHS) Frühjahr 1985, in: AGI. 205 Siehe Preislisten (GHS), 1982 bis 1989, in: AGI.

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Glaskunst-Ausstellung.206 1984 und 1985 wurden Künstler*innen – wie von Gralglas oder Rosenthal – zu Glasworkshops nach Immenhausen eingeladen.207 In allen Produktbereichen setzte [Harald Meier] auf Diversifizierung, zeigte sich wie seine Vorgänger zugleich aber darum bemüht, eine »ausufernde Artikelfülle« zu vermeiden und durch die laufende Herausnahme älterer Produkte das Sortiment auf ungefähr 400 Stück zu beschränken.208 Im Bereich Wirtschaftsglas wollte er – neben dem weiteren Ausbau des Geschenkartikelangebots – mit Strategien der Wertsteigerung an das vorherige Image als »Glashütte von hohem Niveau« anschließen.209 Das Angebot von Kelchglasgarnituren, einst Markenzeichen von Süßmuthglas, weitete er wieder aus; aufgrund der anhaltenden Nachfrage »ehemaliger Käufer« wurde auch die AE-Serie mit Strahlenschliff neu aufgelegt.210 Seit 1976 präsentierte die Firma eine Vielzahl an Produktneuheiten, die sich durch eine aufwendige Formgebung und ihr Dekor von maschinell gefertigten Produkten abheben sollten. Hierzu gehörten aufgetriebene Vasen, Schalen mit Zänkelrand oder Kelche mit langen Stielen.211 Als neue Variante einer heißen Veredelung wurde schwarzes Glas oder Feueropal angeboten, als neues Verfahren der kalten Veredelung Goldrandverzierung.212 Auch Schliff und Gravur gewannen wieder an Bedeutung – bei Aufträgen für eine individuelle Gestaltung von Seriengläsern.213 Im Bereich Beleuchtungsglas begann die Geschäftsleitung erneut zu expandieren, wobei sie innerhalb kurzer Zeit mehrfach ihre Strategie wechselte. Im Frühjahr 1976 kündigte sie den einst vom Beirat befürworteten Einstieg in die Eigenfertigung von komplettierten Leuchten an, die sie über den Fachhandel verkaufen wollte.214 Einige Monate später revidierte sie diese Entscheidung und weitete stattdessen die Zusammenarbeit mit Großunternehmen der Leuchtenbranche aus, für die auf Auftrag gefertigt wurde.215 Im Sommer 1977 nahm sie – nach den »ausschließlich hohe[n] Verluste[n]« in diesem Bereich – hiervon wieder Abstand und konzentrierte sich auf die Produktion »von gängigen Beleuchtungsglasartikeln« bei Schlechtglas für »Architekten und sonstige Kleinkunden«

206 Unterlagen zur Ausstellung »Glaskunst 81«, in: AGI. 207 Unterlagen zu den »Süssmuth-Glaskunsttagen« 1984 und 1985, in: AGI. 208 Konzeptpapier [Harald Meier], 28. September 1977, in: AGI, S. 2; Der Spiegel, 24. August 1981 (s. Anm. 99). 209 Werbeprospekt, [Frühjahr 1976] (s. Anm. 196); Zitat aus Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 27. Januar 1977, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 5. 210 Werbeprospekt Süssmuth-Kelch-Neuheiten, 1977, in: AGI; Notiz [Harald Meier], 26. Februar 1981, in: AGI, S. 1. 211 Katalog, [1977/1978] (s. Anm. 192); Süssmuth-Information, 2. Januar 1978 (s. Anm. 43); [Meier], 26. Februar 1981 (s. Anm. 210). 212 Mit Goldrandverzierungen als neue Veredelungstechnik für die Serienproduktion wurde ein von der Geschäftsleitung in der Porzellanbranche beobachteter Trend ins Angebot aufgenommen. Katalog, [1977/1978] (s. Anm. 192); [Meier], 26. Februar 1981 (s. Anm. 210). 213 Siehe bspw. Werbeprospekt Pokale und Präsente aus mundgeblasenem Süssmuthglas, undatiert, in: AGI; Ebenso Katalog, [1977/1978] (s. Anm. 192), S. 26. 214 Abteilungsleitersitzung, 5. April 1976 (s. Anm. 195), S. 2; Rundbrief [Harald Meier] und [Ralf Köhler], Juni 1976, in: AGI. 215 Protokoll Produktentwicklung, 8. September 1976, in: AGI, S. 1; Notiz [Harald Meier], 28. September 1976, in: AGI.

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im zuvor üblichen Umfang.216 Als die Firma Nettelhoff ein Jahr später ihre Leuchtenkollektion und Kundenkontakte zum Verkauf stellte, beschloss die Geschäftsleitung, diese zu übernehmen – nicht zuletzt weil es sich hierbei um den »größten Kunden« der Firma handelte.217 Sie tätigte Investitionen, um komplettierte Leuchten im großen Stil fertigen zu können. Das Ende der 1970er Jahre umfangreiche Angebot von Innen- und Außenleuchten wurde jedoch – nach etlichen Reklamationen – bereits Anfang der 1980er Jahre wieder stark reduziert.218 Die Glashütte Süßmuth bot – ähnlich wie Eisch, Rosenthal und Gralglas – nun auch künstlerische bzw. kunsthandwerkliche Produkte an, die unter dem Label süssmuthstudioglas als Unikate oder in limitierten Kleinserien im oberen Preissegment verkauft wurden.219 Reaktiviert wurde hierfür die zu Beginn der Selbstverwaltung geschlossene und seitdem von dem Glasmaler [Frank Weber] auf freiberuflicher Basis weiterbetriebene Flachglaswerkstatt. Die von [Weber] entworfenen und gestalteten Flachglasartikel für die Innenraumdekoration wie beispielsweise eine Edition bleiverglaster Glasgrafiken fanden wieder Eingang ins Sortiment.220 In fortlaufend aktualisierten Kleinserien wurden Repliken historischer Kelche des 17. und 18. Jahrhunderts »aus den Museen der Welt«, eine Edition Römisches Glas oder – anlässlich eines Grimm-Jubiläums – eine Vasen-Kollektion mit Märchen- und Sagenmotiven angeboten.221 Im Rahmen der Angebotsdiversifizierung begann die Geschäftsleitung mit dem Zukauf von Produkten aus Keramik und auch aus dem Kernsegment Wirtschaftsglas.222 Ursprünglich wollte [Meier] vor allem einfach zu fertigende »Serienware« in Auftrag geben und sich in der Eigenproduktion auf »besonders kompliziert zu fertigende Artikel« konzentrieren.223 Doch bereits im Frühjahr 1977 stellte die Leitung die Eigenproduktion der Glashütte Süßmuth wieder auf Artikel um, die »ohne größeren Aufwand gefertigt werden« konnten; Teile der arbeitskräfteintensiveren Kelchglasfertigung lagerte sie dage-

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Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 11. Juli 1977, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 3, 3–5; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 20. September 1977, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 3, 1–5; [Meier], 28. September 1977 (s. Anm. 208), S. 5, 2–5. 217 Geschäftsleitung, 5. Juni 1978 (s. Anm. 70), S. 2f.; Notiz [Harald Meier], 2. März 1979, in: Privatarchiv (c) Immenhausen. 218 Werbeprospekte Süssmuth-Leuchten, undatiert [Ende 1970er], in: AGI; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 28. Januar 1981, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2; Bericht [Konrad Scholz], 18. Juni 1982, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 3. 219 Katalog, [1977/1978] (s. Anm. 192), S. 51f.; Werbeprospekt süssmuth-studioglas, undatiert [Ende 1970er], in: AGI. 220 »Die Entdeckung einer alten Kunst für die Moderne. Eine Präsentation der Süßmuth-Glaskunstwerkstätten«, in: Sonderdruck aus Porzellan+Glas, August 1977, in: FHI, Schöf-1202. Ähnliche Produkte waren bereits im ersten Jahr der Selbstverwaltung angeboten worden. Siehe Kapitel 6.1. 221 »Historische Kelche aus den Museen der Welt«, in: Sonderdruck Porzellan+Glas, Oktober 1978, in: AGI; Preisliste (GHS) 1979, in: AGI; Werbeprospekt Edition Römisches Glas (GHS), undatiert [1980er], in: AGI; »Aschenputtel-Schuhe aus Glas«, in: [HNA], 1983, in: AGI. 222 Keramikprodukte wurden aus Jugoslawien zugekauft und über die Handelsgesellschaft Wilhelmsthal vertrieben. Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 10. Mai 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1; [Meier], 23. November 1976 (s. Anm. 67), S. 1f.; Werbeprospekt Wilhelmsthal Handgetöpferte Keramik, undatiert [Ende 1970er Jahre], in: FHI, Schöf-1202. 223 Protokoll Abteilungsleiter (GHS), 11. Juni 1976, in: AGI, S. 4, 2–4.

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gen als Auftragsarbeit zunächst in bundesdeutsche Glashütten wie Eisch aus.224 Immer öfter beauftragte sie hiermit jugoslawische, ungarische oder rumänische Glashütten.225 Die nach firmeneigenen Entwürfen und betriebsspezifischen Formungsverfahren hergestellten Produkte kamen verkaufsfertig in Immenhausen an. Anfang der 1980er Jahre wurden auch Bleikristall-Kelchserien ins Sortiment aufgenommen, die bei anderen Glashütten wie Buder in Auftrag gegeben und in der Glashütte Süßmuth veredelt wurden.226 Nach den Versäumnissen seiner Vorgänger kündigte die neue Geschäftsleitung eine »sehr viel aktivere Vertriebspolitik« an.227 Um das Auslandsgeschäft auszuweiten, gründete sie die (indes nur wenige Monate existierende) Süßmuth Export GmbH.228 Für Erste-Wahl-Wirtschaftsglas sollte der Fachhandel wichtigster Vertriebsweg bleiben, zu dem [Harald Meier] die Geschäftsbeziehungen intensivieren wollte.229 Die Verkaufsaktivitäten der Fachhandelsgeschäfte und freien Handelsvertreter*innen wollte er – durch regelmäßige Besuche, neue »Serviceleistungen« oder Einladungen zu Werbeveranstaltungen nach Immenhausen – zugleich stärker steuern.230 Über die 1977 gegründete Kunsthandwerk und Vertriebsgesellschaft Wilhelmsthal wurde der Direktvertrieb an die Endverbraucher*innen etabliert.231 Ein Versandhandel wurde aufund der bislang geringfügige Werksverkauf ausgebaut. Das von Richard Süßmuth Ende der 1950er Jahre errichteten Ausstellungsgebäude ließ [Meier] zu einem »Kaufhaus mit rustikalen Hüttencharakter« umbauen, hier sollten vor allem Zweite-Wahl-Artikel und Restbestände ausgelaufener Serien verkauft werden.232 Eigene Verkaufsfilialen wurden auch in den »Kunsthandwerkerhöfen« in Clausthal-Zellerfeld, Bad Karlshafen und Hann. Münden eröffnet, wo neben den Produkten der dort freiberuflich tätigen Kunsthandwerker*innen zugekaufte Handelsware und Zweit-Wahl-Artikel der Glashütte Süßmuth angeboten wurden.233 Die neue Produktgruppe »Kunstglas« sollte über einen

224 Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 16. Mai 1977, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1f. 225 Verhandlungen wurden auch mit Betrieben aus der DDR und der UDSSR geführt. Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 22. Mai 1979, in: Privatarchiv (c) Immenhausen; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 4. Juni 1981, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 5. 226 Preisliste 1980/1981 (s. Anm. 204); [Konrad Scholz] an Friedel Deventer, 23. September 1985, in: AGI. 227 Notiz [Harald Meier], 22. Januar 1976, in: AGI, S. 1. 228 Siehe Kapitel 9.1. 229 Mitteilung [Harald Meier], 1. April 1976, in: AGI; Notiz [Harald Meier], 15. April 1976, in: AGI, S. 2f. 230 Zu »Serviceleistungen« für den Fachhandel gehörten Werbeaktionen wie Preisausschreiben, Vorschläge zur Schaufenstergestaltung oder das Angebot von Gravur- und Schleiferaktionen. [Meier], 28. September 1977 (s. Anm. 208), S. 5f.; Notiz [Ralf Köhler], 31. Januar 1977, in: AGI; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 9. August 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen; Geschäftsleitung, 29. März 1976 (s. Anm. 198), S. 7; Abteilungsleiter, 11. Juni 1976 (s. Anm. 223), S. 4. 231 HR-Eintrag, 4. April 1977 (s. Anm. 64); [Meier], 28. September 1977 (s. Anm. 208), S. 7. 232 Für Erste-Wahl-Artikel aus dem aktuellen Programm sollten die Kund*innen auf die Fachhandelsgeschäfte verwiesen werden. [Meier], 1. April 1976 (s. Anm. 229); [Meier], 15. April 1976 (s. Anm. 229); Zitat aus Geschäftsleitung, 23. August 1976 (s. Anm. 195), S. 3. 233 Hinzu kamen kunsthandwerkliche Läden in Höxter Bad Lippspringe und Kassel. Süssmuth-Information, 1. Januar 1979 (s. Anm. 156); Rundbrief [Harald Meier], 20. Juli 1982, in: Privatarchiv [Pfeiffer].

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zu gründenden »Werkkunstverein« an »Freunde der Glashütte Süßmuth, Glassammler, Kunstinteressierte« sowie über die aus der Exportgesellschaft hervorgegangene Süßmuth Glas- und Kunstwerkstätten GmbH vertrieben werden.234 Zur Ankurbelung des Geschäftes mit Werbegeschenken nutzte [Meier] die Kommunikationskanäle von Verbänden, Parteien und staatlichen Einrichtungen.235 Verstärkt nahm die Firma große und kleine Auftragsarbeiten an. Den erst kurz zuvor angehobenen Mindestbestellwert ließ [Meier] 1976 wieder auf 100 DM absenken.236 Die Angebotsdiversifikation und Etablierung neuer Vertriebswege ging auch in der Glashütte Süßmuth mit einer zielgruppenspezifischen Markendifferenzierung einher. Die Qualitätsmarke Süßmuthglas für den regulären Fachhandel sollte weiterhin eine konservative Kundschaft ansprechen.237 Mit süssmuth-studioglas als »Kunstglasmarke« für »Fachhandelsgeschäfte des höheren Genres« wurde an den Elitarismus der nachrückenden Generationen in der Oberschicht appelliert. Mit Wilhelmsthal wollte die Geschäftsleitung eine von Süßmuth unabhängige Zweitmarke für preisgünstige Produkte entwickeln. Über die Vertriebsgesellschaft Wilhelmsthal sollte zunächst zugekaufte Handelsware angeboten werden und bei Bewährung später auch das Programm der Eigenproduktion.238 Ähnelte diese Markenstrategie jener von Rosenthal und der Gral-Glashütte, so näherte sich die Geschäftsleitung Anfang der 1980er Jahre – weil ihr die Ressourcen für die erfolgreiche Etablierung einer neuen Marke fehlten – der Strategie der Glashütte Eisch an. Mit der 1982 eingeführten Marke Ricardo von Süßmuth erfolgte nunmehr innerhalb der eigenen Qualitätsmarke der Einstieg in das Niedrigpreissegment. Mit dieser Marke, auf die sich der gute Ruf von Süßmuthglas übertragen und die von der »Publicity« der Marke Leonardo profitieren sollte, wollte man »insbesondere den jungen Ge-

234 Als Einrichtung der Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung wurde im September 1979 in Kassel zudem eine Glas- und Kunstgalerie (Galerie Wilhelmsstraße) eröffnet, was die Stiftungsaufsicht als Versuch, der GHS »zusätzliche Absatzchancen zu eröffnen«, kritisierte. [Meier], 28. September 1977 (s. Anm. 208), S. 6f.; HR-Eintrag, 19. Januar 1978 (s. Anm. 63); Protokoll Vorstand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung, 9. Juli 1979, in: Archiv RP Kassel, Bestand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung (B-Akte, Band 1); Stiftungsaufsicht, 2. März 1980 (s. Anm. 102). 235 Mit Aufforderungen zum Kauf für den privaten und organisationsinternen Eigenbedarf oder mit der Bitte um Werbe- und Lobbyarbeit wandte sich [Harald Meier] nicht mehr nur – wie im Jahr zuvor [Hans Müller] – an Funktionäre von Gewerkschaften und SPD, sondern u.a. auch an Arbeitergeber- und CDU-Verbände. Plan Absatzförderungsmaßnahmen (GHS), 11. September 1975, in: AGI; [Meier], 22. Januar 1976 (s. Anm. 227), S. 197; Notiz [Meier], 31. März 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen; Klausur Geschäftsleitung, 16. Juli 1976 (s. Anm. 63), S. 5; [Harald Meier] an Lothar Haase, 5. August 1976, in: ACDP, 01–374-14/1; [Harald Meier] an Werner Vitt, 8. Juni 1978, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 236 Darunter liegende Aufträge wurden gegen einen Aufpreis von fünf DM bearbeitet. Geschäftsleitung, 13. September 1976 (s. Anm. 73), S. 2; Preisliste (GHS), 1976, in: AGI. 237 Folgendes aus Geschäftsleitung, 27. Januar 1977 (s. Anm. 209), S. 7, 5–7. 238 Protokoll Geschäftsleitungssitzung, 16. Juli 1976 (s. Anm. 63), S. 1; [Meier], 23. November 1976 (s. Anm. 67).

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schmack treffen«.239 Im Unterschied zu Eisch sollte hierunter vorrangig Handelsware verkauft werden.240 Marketing war für die neue Geschäftsleitung das »eigentlich wichtigste Thema«.241 Sie maß ihm die Bedeutung bei, »imagebildend« auf den Fachhandel und die Endverbraucher*innen wirken und bei ihnen »im Bewusstsein« verankern zu können, dass die Glashütte Süßmuth »ästhetisch hochwertige Dinge produzier[t] und verkauf[t]«.242 Lag der Etat für Werbemittel während der Selbstverwaltung faktisch bei null, verschob sich der Investitionsschwerpunkt wieder – wie einst unter Richard Süßmuth und wie vom RKW-Berater [Michael Wiege] empfohlen – auf eine repräsentative Außendarstellung der Firma und der Produkte. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt gab [Meier] einen aufwendig gestalteten Katalog in Auftrag, in dem die Produkte erstmals in Farbe abgebildet waren.243 Produktneuheiten wurden in separaten Broschüren beworben, thematische Prospekte enthielten spezifische Gebrauchsempfehlungen.244 Die Herausgabe einer Firmenzeitschrift und in Branchenzeitschriften veröffentlichte Artikel dienten der gezielten Ansprache der Endverbraucher*innen.245 Über die Anfangszeit hinaus und aufgrund der ausgebliebenen Aufwärtsentwicklung war der umfangreiche Einsatz dieser kostspieligen Werbemittel indes nicht finanzierbar. Die neue Geschäftsleitung griff stattdessen öfter auf Praktiken zurück, mit denen die Beschäftigten einst an Solidarität für ihre Anliegen appelliert hatten, bereinigte sie jedoch von jeglicher politischen Botschaft bzw. Forderung nach einer Demokratisierung der Wirtschaft und Gesellschaft. Um mediale Berichterstattung für eine kostenlose Unternehmens- und Produktwerbung anzuregen, organisierte sie Kunstausstellungen in 239 Die namentliche Nähe zu der seit Beginn der 1970er Jahre sehr erfolgreichen Handelsmarke Leonardo des Unternehmens Glaskoch war von der Geschäftsleitung explizit »gewollt«, Ricardo sollte hiermit »verwechselt« werden. Auf den Kölner Einkaufstagen musste die Geschäftsleitung allerdings feststellen, dass diese Marke schon von einer anderen Firma verwendet wurde. Notiz [Harald Meier], 12. Mai 1982, in: AGI; Notiz [Hartmut Breuer], 22. Juli 1982, in: Privatarchiv (c) Immenhausen; Notiz [Hartmut Breuer], 30. Juli 1982, in: Privatarchiv (c) Immenhausen; Konzeptpapier [Konrad Scholz], 8. April 1983, in: AGI, S. 2. 240 [Meier], 12. Mai 1982 (s. Anm. 239), S. 3. 241 Klausur Geschäftsleitung, 16. Juli 1976 (s. Anm. 63), S. 1. 242 [Meier], 28. September 1977 (s. Anm. 208), S. 7. 243 Katalog, [1977/1978] (s. Anm. 192). Dieser 80-seitige Katalog war nahezu durchgängig mit hochwertigen Farbfotografien bebildert, was für ein mittelständisches Unternehmen damals eine hohe Investition erfordert haben dürfte. Selbst der Wirtschaftsglaskatalog des Großunternehmens WMF bildete die Produkte 1978 ausschließlich in schwarz-weiß ab. Katalog WMF, undatiert [1978], in: mkp.Gl-A 1-WMF-25. 244 Werbeprospekt, 1977 (s. Anm. 210); Werbeprospekt Süssmuth-Vasen, undatiert [1977/1978], in: AGI; Werbeprospekt Neuheiten (GHS), 1979, in: AGI; Werbeprospekt Süßmuth-Gläser Cocktailrezepte, undatiert [1981], in: mkp.Gl-A 1-Süss.25. 245 Zwischen 1977 und 1982 erschien die Süssmuth-Information. Ein Informationsblatt für unsere Kunden und Freunde der Handwerkskunst und zeitgleich die Süssmuth-Information als »Informationsblatt für unsere Mitarbeiter«. Abgelöst wurden beide durch den seit Ende 1982 erscheinendem Süssmuth Kurier, der sich an Kund*innen und Mitarbeiter*innen gleichermaßen richtete, wovon nur die erste Ausgabe überliefert ist. Siehe Süssmuth-Information und Süssmuth Kurier, 1976–1982, in: AGI; Sonderdruck aus Porzellan+Glas, August 1977 (s. Anm. 220); Sonderdruck aus Porzellan+Glas, Oktober 1978 (s. Anm. 221); »Glashütte Süßmuth in Immenhausen«, in: Sonderdruck LICHT, 1979, in: AGI.

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der Immenhausener Produktionsstätte oder stellte Produktneuheiten in einer Kasseler Bankfiliale aus.246 Sie öffnete den Betrieb für ein interessiertes Umfeld und baute – in Zusammenarbeit mit Fremdenverkehrseinrichtungen oder Busunternehmen – sukzessive das Angebot von Betriebsbesichtigungen aus, die bis dahin nur nach informellen Absprachen möglich waren.247 Zu einem geringen Eintrittspreis wurden täglich Führungen für Einzelpersonen, Reisegruppen sowie ausdrücklich für Schulklassen angeboten.248 Wie bei Eisch sollte hierdurch der Werksverkauf angekurbelt werden. Die Besucher*innen sollten über die Mundglasfertigung aufgeklärt,249 zu weiteren Käufen und zur Weiterempfehlung von Süßmuthglas im Bekanntenkreis animiert werden. Durch die explizite Einladung von Schulklassen wurden Kinder als Übermittler*innen von Werbebotschaften an die Eltern angesprochen.250 Das öffentliche Interesse für das Belegschaftsunternehmen wollte die Geschäftsleitung also weiterhin nutzen, das Image der »roten Hütte« aber loswerden, denn sie nahm wie die früheren geschäftsführenden Gremien an, dass ein solches »am Markt schadet.«251 In dieser Hinsicht wollte die Geschäftsleitung auf »jede Publizität« verzichten.252 Bei den Betriebsbesichtigungen sollte über die »Mitbestimmungsstruktur« nur in »geschlossenen Gruppen«, die »entsprechende Vorinformationen« besaßen, und gegen »ein angemessenes Honorar« gesprochen werden.253 [Harald Meier] kontaktierte die Kasseler IHK und HWK, um durch Artikel in ihren Publikationen das Ansehen in

246 »Wieder Grafikauktion in der Glashütte«, in: FR, 12. November 1976, in: AGI; »Kunst in der Fabrik. Süßmuth zeigt Arbeiten von Günter Wilkes«, in: HNA, 15. November 1977, in: AGI; Geschäftsleitung, 27. Januar 1977 (s. Anm. 209), S. 5; Sonderdruck LICHT, 1979 (s. Anm. 245); Extra Tip, 13. Mai 1983 (s. Anm. 1). 247 [Meier], 22. Januar 1976 (s. Anm. 227), S. 1; Mitteilung [Harald Meier], April 1976, in: AGI; Das »Glashaus Immenhausen« wurde bspw. zu einer zentralen Station verschiedener »Erlebnistouren«, die ein lokales Tourismusbüro organisierte. Werbeprospekt Fremdenverkehrsverband Weser-DiemelFulda, 1981, in: AGI. 248 Der Eintrittspreis betrug für Erwachsene 1 DM, für Kinder 0,50 DM. Werbeprospekt, [Frühjahr 1976] (s. Anm. 196). 249 [Harald Meier] in HNA, 10. April 1976 (s. Anm. 35). 250 Die Schulklassen seien mit Werbematerialien für die Eltern auszustatten und die Lehrer*innen zu instruieren, darauf »im Unterricht« noch einmal hinzuweisen. Auch wurde das Schauarbeiten von Glasschleifern oder -graveuren in Schulen angeboten. [Meier], 15. April 1976 (s. Anm. 229), S. 2; Aufsichtsrat, 23. August 1979 (s. Anm. 69), S. 6. 251 [Meier], 31. März 1976 (s. Anm. 235); Mitteilung [Harald Meier], 17. September 1976, in: AGI; FAZ, 13. Dezember 1979 (s. Anm. 6); Rudi Walther an Christian Gebert, 27. Dezember 1979, in: FHI, Schöf-1215. 252 Christian Hülsmeier, »Die rote Hütte ist so rot nicht mehr. Das ›Modell Süßmuth‹. Erfolgreich auf Kosten der Selbstverwaltung«, in: Vorwärts, 18. Februar 1982, in: AGI. 253 »Abbremsen« wollte [Meier] die Besuche von »politischen Gruppen […], die eigentlich gar nichts einkaufen, sondern vielmehr mit vielen Kollegen diskutieren wollen.« Laut Schöfer sei bei Fragen nach dem Modell Süßmuth während der Betriebsbesichtigungen auf die Geschäftsleitung verwiesen worden, die hierüber nur gegen Zahlung von 250 DM Auskunft geben wollte. Werbeprospekt, [Frühjahr 1976] (s. Anm. 196), S. 1f.; Geschäftsleitung, 11. und 14. Juni 1976 (s. Anm. 81), S. 2; Typoskript »Machen wir heute, was morgen erst schön wird«, Hörspiel und Diskussion mit Erasmus Schöfer im HR, 17. März 1980, in: FHI, Schöf-1215, S. 15.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

Unternehmenskreisen zu verbessern und »aus der [roten] Ecke herauszukommen«.254 Da sich das Interesse von Außenstehenden an der Fortentwicklung der Selbstverwaltung nicht unterdrücken ließ, ging [Meier] schließlich dazu über, die Glashütte Süßmuth als Partnerschaftsunternehmen zu präsentieren.255 Als ein Schlüsselbegriff der 1970er Jahre war der Begriff Partnerschaft (wie der Begriff Mitbestimmung) inhaltlich vage und für höchst unterschiedliche Assoziationen anschlussfähig. Für das schwierige Unterfangen – die Aufmerksamkeit für das Belegschaftsunternehmen aufrechtzuerhalten und dabei eine politisch »neutrale« Position zu beziehen – eignete er sich daher besonders gut. Dieser marketingstrategische Versuch einer politischen Neutralisierung ging einher mit der Uminterpretation der Firmen- und Regionalgeschichte. Die Glashütte Süßmuth wurde als ein Unternehmen vorgestellt, in dem »ähnliche rechtliche Verhältnisse« herrschen würden, wie sie »einst Ernst Abbé bei den Glaswerken Schott« geschaffen hatte.256 Die kollektive Unternehmensform sei auch bei Süßmuth auf einen sozialen Unternehmensgründer zurückgegangen, der aufgrund von »Nachfolgeprobleme in der Führung […] das Unternehmen auf seine Mitarbeiter« übertragen habe.257 In der Glashütte Süßmuth »lebendig geblieben« sei eine bis ins 15. Jahrhundert zurückreichende Tradition des Glasmachens des Standorts Immenhausen.258 Nahegelegt wurde also eine historische Kontinuität, die in Nordhessen – im Gegensatz zum Bayerischen Wald – nicht existierte.259 Ebenso konstruiert war die Verortung des Wirkens von Richard Süßmuth in einer Bauhaus-Tradition, die sich – neben der konservativeren Tradition des Deutschen Werksbunds – in einer zielgruppenspezifischen Werbung auch gut vermarkten ließ.260 Süßmuthglas wurde als Bindeglied zwischen »Vergangenheit« und »Zukunft« präsentiert

254 [Meier], 31. März 1976 (s. Anm. 235); Notiz [Harald Meier], 31. März 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen. 255 Bereits 1977 wurde in Immenhausen öffentlichkeitswirksam das AGP-Jahrestreffen durchgeführt. Im Frühjahr 1981 veröffentlichten die AGP-Mitteilungen ein Firmenportrait der GHS. Auf Fragen von Kund*innen nach dem »Genossenschaftsbetrieb« – so wies [Meier] im März 1981 die Verkaufsangestellten an – solle geantwortet werden, diesen gebe es »schon längst nicht mehr«, Süßmuth sei nun »ein Partnerschaftsunternehmen«. »AGP. Immer mehr Partnerschaftsbetriebe«, in: FR, 17. Mai 1977, in: AGI; [Konrad Scholz] und Norbert B. Breuer, »Glashütte Süßmuth GmbH. Betriebliche Partnerschaft als Unternehmenskonzeption«, in: AGP-Mitteilungen, 1981, in: AGI; Mitteilung [Harald Meier], 24. März 1981, in: AGI; »Glashütte Süßmuth GmbH. Betriebliche Partnerschaft und unternehmerisches Engagement«, in: Porzellan+Glas, Dezember 1981, in: AGI. 256 Sonderdruck LICHT, 1979 (s. Anm. 245). 257 Porzellan+Glas, Dezember 1981 (s. Anm. 255); [Konrad Scholz], »Eine Fabrik als Museum«, in: [Jahrbuch des Landkreises Kassel], 1978, in: AGI. 258 Porzellan+Glas, Dezember 1981 (s. Anm. 255); Werbeprospekt 60 Jahre Süssmuthglas, 1984, in: mkp.Gl-A 1-Süss.25. 259 Siehe Kapitel 1.1. 260 Werbeprospekt, 1977 (s. Anm. 210); »Zum Jubiläum Süßmuth-Glas. 60 Jahre maßgebend im Design«, in: die vitrine, September 1984, in: Privatarchiv Siebert S. 15–16. Mitunter wurde Richard Süßmuth fälschlicher Weise sogar als »Bauhaus-Schüler« vorgestellt. »Süssmuth-Hütte profitiert von neuem Trend zur Handwerkskunst«, in: [Neue Westfälische], 24. Oktober 1981, in: Privatarchiv Siebert; [Konrad Scholz] in Der Süßmuth-Kurier. Zeitung für Mitarbeiter und Freunde des Hauses, 1982/1983, in: AGI, S. 1.

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und die Firma als »Hort deutscher Handwerkskunst« in »einer immer bürokratischer und steriler werdenden Welt«.261 Gemessen an den Zielen des neuen Marketingkonzepts fielen die Ergebnisse der Repräsentativbefragung über den Bekanntheitsgrad von Süßmuthglas, womit die Geschäftsleitung Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre die Tübinger Wickert-Institute beauftragte, verheerend aus. Der Bekanntheitsgrad hatte sich zwar bei den befragten Fachhändler*innen zwischen 1979 und 1983 verdreifacht, in der Bevölkerung aber nahezu halbiert.262 Besonders groß war der Rückgang dieses Wertes in der Gruppe der »Besser-Verdienenden« von 42 auf 16 Prozent sowie unter jungen Menschen im Alter zwischen 18 und 29 Jahren von 22 auf 4 Prozent.263 Bei »Arbeitern« war die Bekanntheit von Süßmuthglas von 39 auf 18 Prozent gesunken und in der Gruppe der »Gering-Verdienenden« mit einem durchschnittlichen Netto-Monatseinkommen bis zu 1.500 DM – als der einzigen Bevölkerungsgruppe – von fünf Prozent auf 18 Prozent angestiegen.

Bewährung und Bewertung der Angebotsstrategien Mit der Fähigkeit zur Fertigung von Qualitätsprodukten in großer Vielfalt und in mitunter sehr kleinen Serien standen den Mundglashütten reichlich Möglichkeiten zur Verfügung, um mit ihren Produkten auf individuelle Kundenwünsche einzugehen und sich von denen der relativ unbeweglichen maschinellen Massenproduktion abzugrenzen. Ihre Angebote wiesen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts aber teilweise frappierende Ähnlichkeiten auf. Die traditionell ausgeprägten Unternehmensspezifika im Sortiment und Heterogenität in der Mundglasbranche begannen sich abzuschwächen. Das Paradox der Homogenität in der Vielfalt war das Ergebnis einer für die Branche neuen Form der Marktorientierung, wie sie anhand der Auseinandersetzungen in der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth bereits aufgezeigt wurde.264 Fehler in der Produktpolitik seien in den 1970er Jahren »bei einer Vielzahl von Unternehmen der Konsumgüterindustrie und des Handelssektors mit ausschlaggebend für existenzbedrohende Krisen« gewesen.265 Diese Einschätzung trifft auch für einen Großteil der hier betrachteten Mundglashütten zu. In der Theorie waren sich die Unternehmensleitungen zwar des Potenzials bewusst, sich mit Produkten der Mundglasfertigung sowohl in der Formgebung und Dekoration

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Typoskript »Notizen zur Situation im Mitarbeiterunternehmen«, Bericht [Harald Meier] auf der Bezirksausschusssitzung der SPD Hessen-Nord, 27. März 1976, in: AGI, S. 2; HNA, 10. April 1976 (s. Anm. 35); Der Spiegel, 24. August 1981 (s. Anm. 99); Siehe Werbeprospekte (GHS), 1970er und 1980er Jahre, in: AGI Die Bekanntheit von Süßmuthglas bei den befragten Privatpersonen sank von insgesamt 31 Prozent (1979) auf 17 Prozent (1983). Bei den befragten Inhabern von Fachgeschäften stieg dieser Wert hingegen von 25 auf 80 Prozent. Ergebnisbericht Wickert Institute Tübingen (1983) in: Anhang Blaume, Erscheinungsbild (s. Anm. 182); Blaume, Erscheinungsbild (s. Anm. 182), Kap. 1, S. 9–11. Die Kategorie der »Besser-Verdienenden« umfasste Personen mit einem Netto-Monatseinkommen von 2.500 bis 3.500 DM. Bei Personen mit einem Netto-Einkommen über 3.500 DM war der Bekanntheitsgrad von Süßmuthglas von 28 auf 5 Prozent gesunken. Folgendes aus Wickert Institute, 1983 (s. Anm. 262), S. 5f., 12. Siehe Kapitel 6.3. Köhler, Havarie (s. Anm. 3), S. 272f.

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als auch in der Losgröße vom Angebot der Maschinenglashütten abzuheben.266 In der Praxis versäumten sie – das heißt vor allem jene branchenfremde Personen, die in den meisten Vergleichsunternehmen leitende Funktionen übernahmen – indes, die Voraussetzungen für die Qualitätsproduktion und Flexibilität im Betrieb aufrechtzuerhalten und zu verbessern. Die gestiegene Anzahl an Produktneuheiten und Sortimentswechseln in zeitlich kürzeren Abständen verursachte horrende Kosten und massive Schwierigkeiten in Produktion, Auftragsabwicklung und Lagerhaltung. Diese Erfahrung wiederholte sich in der Glashütte Süßmuth nach der Selbstverwaltung;267 überliefert ist sie auch für Wiesenthal.268 Wenig erfolgreich verliefen die mitunter umfangreichen Expansions- und Diversifizierungsmaßnahmen und vor allem der Einstieg in neue oder gänzlich branchenfremde Produktbereiche, in denen die Mundglashütten kein Fertigungswissen besaßen. In der Glashütte Süßmuth musste die Eigenfertigung komplettierter Leuchten trotz umfangreicher Investitionen in eine eigens hierfür eingerichtete Metallwerkstatt nach kurzer Zeit wieder eingestellt werden. Ebenso gescheitert waren bei Gralglas die unter anderen zum Zwecke der Angebotserweiterung kostspieligen Übernahmen von Bleikristallglashütten, in denen nach wenigen Jahren die Produktion stillgelegt wurde.269 Der zuletzt begonnene Vertrieb von Produkten aus Holz, Porzellan, Keramik und Metall war Ausdruck einer existenziellen Unternehmenskrise. Wenn ein Konkurs dem nicht zuvorkam, revidierten viele Unternehmen seit Beginn der 1980er Jahre vorherige Diversifikationsstrategien.270 Die Kosten für fehlgeschlagene Angebotsdiversifizierungen führten zu einer Verknappung von Investitionsmitteln, die für den Erhalt und Ausbau von Wettbewerbsvorteilen im eigentlichen Kernsegment Wirtschaftsglas fehlten. Viele Mundglashütten bekamen Schwierigkeiten, die beworbene Qualität ihrer Produkte in der Serienproduktion zu gewährleisten. In der Glashütte Süßmuth nahm die zum Ende der Selbstverwaltung wieder angestiegene Mängelproduktion weiter zu; mit einer teils 50-prozentigen Ausfallquote hatte die Fehlproduktion zu Beginn der 1980er Jahre erneut existenzbedrohende Ausmaße angenommen.271 In der Josephinenhütte häuften sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die Beschwerden über fehlerhaft gearbeitete Produkte und die 266 Siehe bspw. Carl Josef Haefeli in Oberhessische Presse, 13. Mai 1972 (s. Anm. 148). 267 Im Frühjahr 1977 stellte die Geschäftsleitung der GHS erstaunt fest, dass die Produktentwicklung der vorangegangenen Monate insgesamt 1,2 Millionen DM gekostet hatte und von einem »außerordentlich schlechten Betriebsergebnis« sowie Lieferengpässen begleitet war. Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 25. April 1977, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1; Geschäftsleitung, 16. Mai 1977 (s. Anm. 224), S. 1. 268 Breit, 1. März 1979 (s. Anm. 24), S. 5. 269 Folgendes siehe Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 202–209; Ricke, Design (s. Anm. 144), S. 165–168. 270 Breit, November 1982 (s. Anm. 5), S. 3; Rath, Wiesenthalhütte (s. Anm. 8), S. 338; Gerd Materne, »Rosenthal auf einem Bein«, in: FAZ, 10. September 1984, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 9), S. 218f. 271 Geschäftsleitung, 29. März 1976 (s. Anm. 198), S. 5; Geschäftsleitung, 29. März 1977 (s. Anm. 70), S. 1f.; Protokoll Betriebsrat (GHS), 24. Juni 1981, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2; Protokoll Betriebsrat (GHS), 20. April 1982, in: AGI, S. 1; Unternehmenskonzeption 1982/83 von [Konrad Scholz], 7. Mai 1982, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1f.

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Zahl der Reklamationen.272 Der hohe Anteil an Zweite-Wahl-Artikeln und Ausschuss im Kristallglaswerk Hirschberg war für die VEBA-Konzernleitung einer der Gründe, das Zweigwerk in Stadt Allendorf 1971 abzustoßen.273 Unter dem neuen Eigentümer blieben die Qualitätsprobleme bestehen.274 Auch in der Glashütte Buder nahmen die Probleme mit »unsauberem Glas« zu.275 Der branchenweite Trend zu weniger aufwendig gefertigten Produkten war (neben dem Motiv, Herstellungskosten zu reduzieren) also mitunter auch dadurch bedingt, dass die Mundglashütten Qualitätsstandards in der Produktion nicht mehr gewährleisten konnten. Die Mängelproduktion hatte vielfältige Ursachen. Neben produktionsseitigen Faktoren trugen eine die Kapazitäten in der Produktion (sowohl hinsichtlich der Präzision der Produkte als auch hinsichtlich der Geschwindigkeit von Produktwechseln bei gleichzeitiger Fokussierung auf besonders aufwendig und schwieriger zu arbeitende Formen) überfordernde Angebotspolitik und Auftragsannahme dazu bei.276 In der Glashütte Süßmuth wiederholte sich hinsichtlich der Annahme von Beleuchtungsglasgroßaufträgen das bereits zuvor erfahrene Fiasko: Im Mundblasverfahren konnten Artikel in großen Stückzahlen nicht in der Exaktheit gefertigt werden, die für die Armaturen der Leuchtenfirmen erforderlich war.277 Reklamationen wurden aber auch durch nachlassende Qualitätskontrollen provoziert. Um den Erste-Wahl-Anteil zu erhöhen und die Kosten für die arbeitskräfteintensiven (zuvor von den Belegschaftsgremien ausgeweiteten) Kontrollen zu reduzieren, hatte die Süßmuth-Geschäftsleitung im Mai 1977 (wie einst vom RKW-Berater [Wiege] nahegelegt) eine »großzügigere Sortierung« veranlasst.278 Erst wenn »der Markt« die schlechtere Sortierung »spüre«, sollte diese wieder verbessert werden. Die Qualitätsprobleme hatten für die weitere Unternehmensentwicklung fatale Konsequenzen. Zu den gestiegenen Herausforderungen bei der Produktionsplanung, Sortierung und Auftragsabwicklung kamen sich erhöhende Lagerbestände an Zweite-WahlArtikeln, die Betriebsmittel banden und die Frage nach deren Verwendung aufwarfen.279 Diese zu verkaufen war in der Branche unüblich, um die im Fachhandel eingeführte Qualitätsmarke nicht zu schädigen und das Preisgefüge nicht zu stören. Dass in den 1970er Jahren dennoch immer mehr Mundglashütten dazu übergingen, zeugte – neben einer auf kurzfristige Umsatzziele fokussierenden Unternehmensstrategie – von krisenhaften 272 Knittel Kristallglaswerke an Josephinenhütte, 18. Mai 1967, in: WABW, Bestand B 164/14. Siehe BAB, 1959–1971, in: WABW Bestand B 164/49-61. 273 Aktenvermerk IG Chemie Vwst. Gießen, 21. September 1971, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner, S. 1; Protokoll Besprechung zwischen VEBA-Glas-Vorstand und Betriebsrat des Kristallglaswerks Hirschberg, 20. September 1971, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner, S. 2. 274 Protokoll Wirtschaftsausschuss Hirschberg, 9. Mai 1973 (s. Anm. 15), S. 2. 275 Raimann etc., 27. Mai 2013 (s. Anm. 141), S. 8, 28f. Auch bei WTH und Theresienthal schienen Qualitätsprobleme in den 1980er bzw. 1990er Jahren zuzunehmen. Strukturentwicklungsplan Klaus Breit, 19. März 1987, in: CD-ROM-Beilage bei Ricke 2007, S. 7; Wessely, Die Unzerbrechlichen (PRFilm) (s. Anm. 159), 2. und 13. Minute; Glaser und Wessely, Unternehmen (s. Anm. 24), S. 33, 52. 276 Zu den produktionsseitigen Gründen der zunehmenden Qualitätsprobleme siehe Kapitel 9.3. 277 [Meier], 28. September 1977 (s. Anm. 208), S. 2; Reklamation Firma Inter D an GHS, 11. August 1981, in: AGI. 278 Folgendes aus Geschäftsleitung, 16. Mai 1977 (s. Anm. 224), S. 2. 279 Siehe Kapitel 1.6 und Kapitel 6.3.

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Entwicklungen. Wollte [Harald Meier] Zweite-Wahl-Ware eigentlich nur im Werksverkauf oder bei werbewirksamen Gravuraktionen im Fachhandel als individuell veredelte Einzelstücke verkaufen,280 so wurde sie mit angestiegener Mängelproduktion schließlich unter der ursprünglich für den Vertrieb mit zugekaufter Handelsware eingeführten Zweitmarke Wilhelmsthal bzw. Ricardo und über die ausgegründeten Vertriebsgesellschaften vertrieben.281 Die nachlassende Produktqualität erschwerte die Rechtfertigung von Preiserhöhungen, die – aufgrund steigender Produktionskosten und vor allem auch aufgrund der erhöhten Ausfallverluste – weiterhin jährlich notwendig waren. Die Firmen, die mit Qualitätsproblemen zu kämpfen hatten, wurden also »von zwei Seiten in die Zange genommen: von oben durch die bessere Qualität, von unten durch günstigere Preise der Konkurrenz« – und allen voran von der Glashütte Eisch, die »eine ordentliche Ware« fertigte, die »preislich wesentlich unter« dem Niveau von Süßmuth und vieler anderer Mundglashütten lag.282 Bewährt hatten sich in den Vergleichsunternehmen dagegen die langfristige Spezialisierung und der konsequente Ausbau von Wettbewerbsvorteilen im Kernsegment sowie Sortimentserweiterungen um Produktgruppen, für deren Fertigung Ressourcen und vor allem Erfahrungswissen vorhanden waren, wodurch der organisatorische Aufwand im Betrieb wie auch im Vertrieb gering blieb. In dieser Hinsicht eignete sich die Ausweitung des Angebots von Geschenkartikeln, das aber – im Gegensatz zu Tischglasgarnituren und der hiermit verbundenen Nachkaufnachfrage – in der Regel nur kurzfristige und punktuelle Absatzsicherheiten gewährte. Das Angebot von Unikaten und limitierten Kleinserien hochwertiger Artikel konnte – zum Beispiel in Verbindung mit einem Sammelmotiv – neue Verbindlichkeiten schaffen. So war die Serie Historische Kelche, wofür das in der Kelchglasproduktion besonders elaborierte Wissen der Süßmuth-Glasmacher nützlich war, sehr erfolgreich und blieb bis zuletzt im Sortiment.283 Der Wiesenthalhütte ermöglichten die jahrzehntelangen Farbglaserfahrungen aus der Perlen- und Stangenglasfertigung im Bereich Spezialglas eine »relativ isolierte Positionierung auf dem Markt«.284 Die Glashütte Eisch konnte die Fähigkeiten, Reputation sowie Kontakte von Erwin Eisch als dem Pionier der Studioglasbewegung in der Bundesrepublik nutzen, um sich in dem neben Wirtschaftsglas etablierten neuen Produktsegment »Kunstglas« hervorzutun. Unter den Vergleichsunternehmen war es allein Eisch auf Dauer gelungen, auch innerhalb der normalen (das heißt nicht-limitierten) Serienproduktion eine hohe Qualität zu halten und die Strategie der Wertsteigerung erfolgreich umzusetzen. Mit dazu beigetragen hatte, dass der Umfang der jährlichen Produktneuheiten bei Eisch sehr

280 [Meier], 1. April 1976 (s. Anm. 229); [Köhler], 31. Januar 1977 (s. Anm. 230); [Scholz], 18. Juni 1982 (s. Anm. 218), S. 2. 281 Geschäftsleitung, 11. Juli 1977 (s. Anm. 216), S. 5; [Scholz], 8. April 1983 (s. Anm. 239), S. 2. 282 Ein vergleichbarer Teller kostete bei Süßmuth 6,30 DM und bei Eisch 4 DM. Eisch habe ungefähr 25 bis 30 Prozent unter den Preisen der GHS gelegen. Erich Hausen Handelsvertretungen an [Harald Meier] und [Ralf Köhler] am 28. September 1981, in: AGI, S. 2; Notiz Vertreterbesprechung (GHS), 16. Dezember 1982, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1. 283 Siehe Preisliste (GHS), 1994, in: AGI. 284 Breit, November 1982 (s. Anm. 5), S. 3.

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viel geringer ausfiel und sich – des großen Aufwands wegen – auf »zwei bis drei [Trinkglas-]Garnituren« und »mehrere neue Geschenkartikel« beschränkte.285 Durch Zukauf von Handelsware wollten Mundglashütten ihre Kosten senken und Gewinne steigern.286 Die Erträge aus dem Handelsgeschäft sollten die Mundglasfertigung im eigenen Betrieb subventionieren, wozu es angesichts der Lohnkostensteigerung in der Bundesrepublik keine Alternative gegeben habe. Kurzfristig konnten die Mundglashütten hiermit zwar hohe Gewinne erzielen, auf lange Sicht überwogen jedoch die Nachteile. Der Imageschaden für die eigene Qualitätsmarke infolge mangelnder Transparenz gegenüber dem Handel und den Konsument*innen war noch das geringste Problem. Schwerer wog der kostenlose Wissenstransfer. Die bundesdeutschen Unternehmen gaben an Glasproduzenten aus Staaten mit geringem Lohnkostenniveau und insbesondere aus dem Ostblock bereitwillig weiter, was einst wohl gehütetes Betriebsgeheimnis und größtes Kapital einer Mundglashütte war: die exakte Zusammensetzung der Gemengerezepturen, die Entwurfsunterlagen und mitunter selbst das Erfahrungswissen der Glasmacher. Dieses praktische (nur begrenzt formalisier- und patentierbare) Wissen konnten die osteuropäischen Firmen folglich auch für das eigene Angebot nutzen. Im Interesse kurzfristiger Rentabilitätsziele hatten die bundesdeutschen Mundglashütten über den Zukauf somit die eigene Konkurrenz gefördert – was ihnen offensichtlich in ihrer Überheblichkeit gegenüber den »Billigproduzenten« nicht bewusst war.287 Die Alternativlosigkeit zum Zukauf konstituierte sich in dem Maße, wie die Aufrechterhaltung der Qualitätsproduktion im eigenen Betrieb Schwierigkeiten bereitete. Erst hierdurch wurden die Mundglashütten in ihrer ökonomischen Existenz tatsächlich vom Zukauf von Handelsware abhängig, der bald gegenüber der Eigenproduktion überwog, diese oftmals ersetzte oder den Wechsel auf eine Nischenstrategie lancierte. Die infolge der Rezessionen 1973/1974 und 1981/1982 in der Mundglasbranche zu beobachtenden Absatzkrisen und sich häufenden Betriebsschließungen bzw. Produktionseinstellungen zeugten davon, dass es den meisten Mundglashütten nicht gelungen war, (neue) Absatzverbindlichkeiten zu sichern. Mit der Angliederung an einem Konzern waren keine Absatzgarantien verbunden. Ein halbes Jahr nach der Fusion mit Schott klagte Klaus Breit über einen »akuten Auftragsmangel«.288 Die Einbindung von Theresienthal in die Vertriebsstrukturen von Hutschenreuther verlief »weit weniger positiv als erhofft«.289 Ebenso wenig hatte sich die Ausweitung des Exports bewährt.290 Bundesdeut285 Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 131. 286 Folgendes aus [Meier], 23. November 1976 (s. Anm. 67); Süssmuth-Information, 1. Januar 1979 (s. Anm. 156), S. 1; Breit, November 1982 (s. Anm. 5), S. 2; Willett, Die Glasindustrie (s. Anm. 136), S. 436–439. 287 Siehe exemplarisch die Ignoranz von [Harald Meier] gegenüber der Warnung von Erich Eisch, der aus den genannten Gründen den Handel mit Importglas konsequent ablehnte. [Meier], 30. September 1976 (s. Anm. 150). 288 Notiz Klaus Breit, 25. Mai 1976, in: mkp.Gl-A 1-Wies.37B. 289 Glaser und Wessely, Unternehmen (s. Anm. 24), S. 50; Auf einen seit Mitte der 1970er Jahre (entgegen der Hoffnung auf eine Verbesserung der Auslastung durch die Fusion mit Hutschenreuther) stagnierenden Absatz verweisen: Haller und Pscheidt, Theresienthal (s. Anm. 20), S. 108. 290 Im Zuge der Währungsinstabilitäten seit Ende der 1960er Jahre (Rezession und Niedergang von Bretton Woods) kam es zu Schwankungen im Export. 1975 war der Export der bundesdeutschen Kristallglasbranche um insgesamt 17 Prozent zurückgegangen, er spielte fortan eine nachrangige

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

sche Mundglashütten setzten sich auf den Auslandsmärkten der osteuropäischen Konkurrenz aus, vor der sie auf dem Inlandsmarkt aufgrund bestehender Einfuhrbegrenzungen bis zum Mauerfall noch relativ geschützt waren. Auch über den Großhandel ließ sich der Absatz kaum stabilisieren. Wie generell bei Annahme von Großaufträgen manövrierten sich die mittelständischen Mundglashütten hierdurch vielmehr in neue Abhängigkeitsverhältnisse zu Geschäftspartner*innen, die wie der Fachhandel konjunkturabhängig disponierten und dazu tendierten, die Preise zu drücken. Der abrupte Wegfall solcher Aufträge konnte eine existenzielle Bedrohung darstellen. Ein Konzern wie Rosenthal konnte durch den Ausbau eines eigenen Vertriebsapparats den Abhängigkeiten vom Handel entgegenwirken und sich in den hieraus resultierenden Auseinandersetzungen erfolgreich durchsetzen.291 Den mittelständischen Mundglashütten mangelte es dagegen an Marktmacht, an finanziellen Ressourcen und – wie beim Einstieg in branchenfremde Produktbereiche – an Erfahrungswerten. Die mit hohen Investitionen und organisatorischem Aufwand ausgegründeten Vertriebsgesellschaften trugen nicht zur ökonomischen Stabilisierung der Glashütten Gralglas oder Süßmuth bei, sondern wurden vielmehr zu Konkurrentinnen. Der Direktvertrieb an die Endverbraucher*innen – über die Ausweitung und Belebung des Werksverkaufs durch das Angebot von Betriebsbesichtigungen – entwickelte sich in den Glashütten Süßmuth und Eisch dagegen enorm erfolgreich.292 Dieser für die Mundglasbranche neue Vertriebsweg bot etliche Vorteile: Durch die Umgehung von Provisionszahlungen an den Zwischenhandel ermöglichte er höhere Gewinnmargen.293 Er lag »voll in [den] Händen« der Glashütten und reduzierte die Abhängigkeit von einer saison- und konjunkturabhängig schwankenden Auftragserteilung.294 Zudem ließen sich die Jahresbilanz belastende Lagerbestände an Zweite-Wahl-Artikeln und Restposten, die im Fachhandel nicht ohne Weiteres zu verkaufen waren, gewinnbringend veräußern.295 Mit touristischen Dienstleistungen konnten (wenn auch oft nur temporär) neue Kund*innen gewonnen werden, die über den Einzelhandel nicht erreichbar waren. Der Fall Eisch zeigte auf: Ein Direktvertrieb ließ sich – entgegen der Vorbehalte von [Hans Müller] und [Jürgen Schmitz]296 – mit dem Vertrieb über den Fachhandel durchaus vereinbaren. Trotz nicht mehr vorhandener Auftragssicherheit wie während der Nachkriegskonjunktur blieb der Fachhandel ein wichtiger Vertriebsweg, weil er

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Rolle. Die Schaulade, Juli 1976 (s. Anm. 9), S. 913; VdG, 17. September 1974 (s. Anm. 162); Hannes, Bayerischer Wald (s. Anm. 20), S. 120. Zum Widerstand und Boykottaktionen aus dem Fachhandel siehe Der Spiegel, 9. Mai 1956 (s. Anm. 179); Simoneit, Rosenthal (s. Anm. 33), S. 184–187; Fritz, Porzellangeschirre (s. Anm. 32), S. 18. Die GHS habe bereits 1977 »im Schnitt circa 200 Besucher« täglich zu verzeichnen gehabt. Der Werksverkauf habe laut Erinnerung von Zeitzeug*innen hervorragend funktioniert, dies galt auch für die »Handwerkerhöfe«, die 1979 zwischen 15 und 20 Prozent des Gesamtumsatzes der GHS erwirtschafteten. [Meier], 29. April 1977 (s. Anm. 61), S. 2; Aufsichtsrat, 23. August 1979 (s. Anm. 69). Siehe Kapitel 6.3. Die Handelszuschläge betrugen zwischen 100 bis 120 Prozent des Einkaufspreises. Breit, 1. März 1979 (s. Anm. 24), S. 8. Süssmuth-Information, 1. Januar 1979 (s. Anm. 156). Stiftungsaufsicht, 2. März 1980 (s. Anm. 102); [Meier], 29. April 1977 (s. Anm. 61), S. 2. Siehe Kapitel 6.2.

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stabile Preise auf hohem Niveau sowie Verbindlichkeiten im Absatz gewähren konnte.297 Entscheidende Voraussetzung hierfür waren vertrauensvolle Geschäftsbeziehungen. Dass Eisch den Fachhandelsvertreter*innen weiterhin Möglichkeit zur Mitsprache bei der Sortimentsgestaltung einräumte, dürfte maßgeblich deren Bereitschaft zur Bestellung von Produktneuheiten und damit zur Übernahme eines Teils des hiermit verbundenen Risikos beeinflusst haben.298 Die meisten anderen Vergleichsunternehmen vermochten es bei der Etablierung neuer Vertriebswege indes nicht, mit dem Fachhandel eine einvernehmliche Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten und auf dessen Interessen Rücksicht zu nehmen.299 Vielmehr sahen sich die Unternehmensleitungen in einem Kampf mit dem Fachhandel; sie nahmen an, ihn zwingen zu können, »seine Läger wieder aufzustocken«,300 oder ihn täuschen zu können. So meinte die SüßmuthGeschäftsleitung die kurzzeitige Teilnahme an »Verkaufsfahrten« oder den Vertrieb preisgünstiger Importware über die Vertriebsgesellschaft Wilhelmsthal nach außen hin verbergen zu können; sie wägte das Risiko ab, »dass der Fachhandel davon erfährt«.301 Statt Absprachen zu treffen, beobachtete sie »gespannt«, ob die Werbung für Sonderposten in der lokalen Zeitung zu »Schwierigkeiten mit unseren Fachhändlern« führen werde.302 Zusammen mit der tendenziell nachlassenden Qualität der Produkte führte ein solch intransparentes Vorgehen und die »inkonsequente Preispolitik« vieler Herstellerfirmen auf Seiten der Fachhändler*innen zu »Enttäuschungen« und irreversiblen »Vertrauensbrüchen«.303 Angesichts der genannten Probleme bei der Aufrechterhaltung verbindlicher Absatzbeziehungen für Produkte der Serienproduktion gewann für die meisten Mundglashütten die Auftragsarbeit für gewerbliche Kund*innen immer mehr an Bedeutung. Ihr Umfang lässt sich schwer ermessen, da die Firmen sie zum Schutz des eigenen Angebots nur nach außen kommunizierten, wenn es sich um Aufträge oder Spezialanfertigungen für

297 Aus diesem Grund bemühte sich die Glashütte Buder Ende der 1970er Jahre darum, ihre Produkte nicht mehr allein über den Groß-, sondern auch über den Fachhandel zu verkaufen. [Meier], 28. März 1977 (s. Anm. 149); Unternehmenschronik Buder (s. Anm. 19), S. 5f. 298 Eisch hielt an der branchenüblichen Praxis der »Vertretertagungen« fest, auf denen mit Handelsvertreter*innen die Muster zukünftiger Produktneuheiten besprochen wurden. Eisch, Die EischHütte (s. Anm. 142), S. 115, 131. Siehe Kapitel 6.1. Seit 1995 wurde Eisch jährlich vom Zentralverband Hartwarenhandel e.V. für ihre »Fachhandelstreue« und Zuverlässigkeit ausgezeichnet. Ebd., S. 114–117; Unternehmensrepräsentation Glashütte Eisch, Online: www.eisch-glasshop.de/unternehmen. 299 Die Vorwürfe, die bislang enge Zusammenarbeit aufzukündigen, beruhten auf Gegenseitigkeit. Rundschreiben Bundesverband des Hohlglas- und Keramik- [Fach-]Großhandels e.V., 21. Dezember 1967, in: WABW, Bestand B 164 Bü 7; Stellungnahme VdG und VKI, Mai 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 7. 300 So die Stellungnahme von Carl Josef Haefeli gegenüber der Kritik des Betriebsrats, dass er sich nicht um den Fachhandelsvertrieb gekümmert hat. Notiz Haefeli, 17. November 1972 (s. Anm. 164), S. 2. 301 Geschäftsleitung, 13. September 1976 (s. Anm. 73), S. 3; [Meier], 24. März 1981 (s. Anm. 255). 302 Geschäftsleitung, 27. Januar 1977 (s. Anm. 209), S. 8. 303 Blaume, Erscheinungsbild (s. Anm. 182), Kap. 1, S. 11, 9–15; Wickert Institute, 1983 (s. Anm. 262), S. 48; Zur fehlgeschlagenen Markenprofilierung der Gral-Glashütte Ricke, Design (s. Anm. 144), S. 154; Ricke, Form (s. Anm. 28), S. 85.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

prestigeträchtige Kund*innen oder öffentliche Einrichtungen handelte.304 Nicht publik waren dagegen Auftragsarbeiten für andere Glashütten, wie beispielsweise von Gralglas und Süßmuth für Rosenthal.305 Süßmuth erteilte Aufträge an Eisch, Buder und Wiesenthal.306 Süßmuth führte wiederum Aufträge für Gralglas und Wiesenthal aus, nachdem beide Anfang der 1980er Jahre die Mundglasfertigung eingestellt hatten.307 Ein wichtiges Standbein der Glashütte Süßmuth blieb die Fertigung von Beleuchtungsglas in kleineren Stückzahlen, die 1988 mehr als die Hälfte der Aufträge darstellte.308 Auch die Veredlung von Pokalen für Sportvereine oder von Werbeartikeln für Unternehmen schien bis zuletzt gut zu laufen.309 Die »Wertschätzung jedes noch so kleinen Auftrags« hatte auch zum »Erfolgsrezept der Eisch-Hütte« gehört, das Risiko von Absatzschwankungen konnte hierdurch auf eine dem Bestellumfang nach heterogene Kundschaft verteilt werden.310 Im Zuge der Professionalisierung des Marketings wichen die meisten Vergleichsunternehmen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts – oftmals im Zusammenhang mit einem Eigentümer- oder Generationenwechsel in der Führungsetage – von bislang üblichen Praktiken ab. Das Marketing wurde zu einem der Produktion übergeordneten Unternehmensbereich aufgewertet – ein Trend, der in den Mundglashütten vielfältige Fehlschläge lancierte und die (finanziellen) Spielräume der Unternehmensleitungen sukzessive einschränkte.311 Im Zuge dessen verbreiteten sich in der Mundglasbranche eine Reihe unlauterer Praktiken, die dem Qualitätsanspruch dieser Firmen zuwiderliefen. So wurde Produkte angeboten, bei denen nur der Anschein einer aufwendigen handwerklichen Fertigung erweckt werden sollte, um sie mit einer möglichst hohen Gewinnspanne verkaufen zu können. Üblich wurden beispielsweise der Einsatz von (zugekauften und maschinell) gepressten Stielen bei der Kelchglasfertigung und diverse Klebetechniken, mit denen Henkel an Krügen befestigt oder Vasen- und Schalenhälften ver-

304 Gralglas habe in den 1950er Jahren Aufträge aus dem »Bundespräsidial- und Kanzleramt, Auswärtigem Amt, Botschaften und Vertretungen in zahlreichen europäischen und außereuropäischen Ländern« erhalten. GHS fertigte Mitte der 1980er Jahre Beleuchtungsglas für die Ausstattung historischer Gebäude wie die Villa Hammerschmidt oder den Kölner Dom. Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 201; »Auch die Glashütte Süssmuth war bei der Renovierung der Villa Hammerschmidt dabei«, in: Blickpunkt Hofgeismar, 23. Januar 1985, in: Privatarchiv Siebert. 305 Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 208.; Kapitel 6.2; Treuarbeit, 17. Mai 1990 (s. Anm. 116). 306 Geschäftsleitung, 16. Mai 1977 (s. Anm. 224), S. 1f.; Notiz [Konrad Scholz], 31. Mai 1983, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 3; [Scholz], 23. September 1985 (s. Anm. 226). 307 Aufsichtsrat, 29. Juni 1988 (s. Anm. 112); Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 209; [Scholz], 31. Mai 1983 (s. Anm. 306), S. 1; Lieferantenaufstellung WTH, undatiert [1980er Jahre], in: mkp.GlA 1-Wies. 308 Aufsichtsrat, 29. Juni 1988 (s. Anm. 112); Katalog Süßmuth-Beleuchtungsglas, undatiert [1980er Jahre], in: AGI. 309 Vorlage Treuarbeit für den Bürgschaftsausschuss des Landes Hessen, 8. April 1986, in: Archiv HMdF, S. 9. 310 Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 115, 117. 311 Während im Marketing das Finanzetat und auch die Zahl der Angestellten aufgestockt wurden, standen für die Produktion kaum noch Investitionsmittel zur Verfügung. Siehe bspw. Protokoll Wirtschaftsausschuss Hirschberg, 9. Mai 1973 (s. Anm. 15); Breit, 1. März 1979 (s. Anm. 24). Kapitel 9.3.

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bunden wurden.312 Zur gängigen Praxis wurde auch das Kopieren erfolgreicher Produkte der Konkurrenz, die für das eigene Sortiment nur geringfügig abgewandelt wurden, um Kosten für die Produktentwicklung zu sparen. Das Plagiieren besaß in der Geschichte der Glasgestaltung eine gewisse Tradition und war nicht zu unterbinden, da sich Formelemente hier nur begrenzt patentieren ließen.313 Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts nahm diese Praxis aber überhand und unverhohlene Züge an. Streitigkeiten über Urheberrechte brachten die Unternehmensleitungen nicht nur in Konflikt mit anderen Unternehmen und Gestalter*innen, sondern auch mit den eigenen Fachleuten im Betrieb. So regten sie in den Glashütten Gralglas oder Süßmuth die Beschäftigten zwar an, sich in die Produktentwicklung einzubringen, eine namentliche Nennung der Urheberschaft blieb allerdings aus Marketinggründen den »großen Namen« vorbehalten.314 Die Tatsache, dass in den Gestaltungsprozess von Glas stets mehrere Personen einbezogen waren und sich die Produkte daher nicht eindeutig auf einzelne kreative Köpfe zurückführen ließen, konnten sich Firmenleitungen zunutze machen, um Provisionszahlungen kurzfristig einzusparen. Nicht quantifizierbar waren allerdings die Kosten, die durch das erodierende Vertrauen der Gestalter*innen, Beschäftigten sowie der Händler*innen und Endverbraucher*innen auf lange Sicht entstanden. Urheberrechtsklagen zogen zwar oftmals keine juristischen Konsequenzen nach sich. Aber ein Verlust des Ansehens, auf dessen Pflege die Unternehmensleitungen eigentlich großen Wert legten, war hiermit allemal verbunden. Während sie sich auf die Imagebildung konzentrierten und die den Produkten zugeschriebenen, als besonders verkaufsfördernd erachteten immateriellen Werte akzentuierten, vernachlässigten sie die materielle Qualität ihrer Produkte, die die wichtigste Rechtfertigung für die gegenüber den maschinellen Produkten sehr viel höheren Preisen war. In der Annahme, die Konsument*innen durch verstärkte Werbebemühungen zum Kauf motivieren und auch ihre Zufriedenheit im Gebrauch des Produkts beeinflussen

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Diese Praktiken wurden selbstverständlich nicht nach außen kommuniziert und lassen sich deshalb auch nur schwierig rekonstruieren. Überliefert sind sie für die GHS, die sich hierin explizit an anderen Unternehmen der Branche orientierte. Bereits im Frühjahr 1976 hatte die Geschäftsleitung veranlasst, Vasen mit überhängendem Rand an der »Abschmelzmaschine« so zu fertigen, dass sie aussahen, wie »an der Trommer [kleiner Ofen, CM] aufgetrieben«. Im Fachhandel verfestigte sich der Eindruck, die GHS verkaufe maschinell gefertigtes Glas »mit dem Anschein […], es handle sich um handgefertigtes.« Notiz [Hartmut Breuer], 15. September 1982, in: AGI; Notiz [Hartmut Breuer], 20. Oktober 1982, in: AGI; Notiz [Hartmut Breuer], 4. November 1982, in: AGI; Notiz Produktentwicklung, 14. Mai 1976, in: AGI, S. 3; Die Anwendung von Klebe- und Löttechniken sowie der Einsatz von gepressten Stielen in der Kelchglasfertigung ist auch für die WTH überliefert. Siehe Betriebsleitung (WTH) an Werner Düsing, 10. Februar 1971, in: mkp.Gl-A 1-Wies.37B; Notiz Betriebsleitung (WTH), 12. Mai 1972, in: mkp.Gl-A 1-Wies.37B; Blaume, Erscheinungsbild (s. Anm. 182), S. Kap. I, S. 11. Ricke, Breit (s. Anm. 21), S. 16f., 21; Ricke, Wiesenthalhütte im europäischen Kontext (s. Anm. 131), S. 26; Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 22), S. 397; Helmut Ricke, »Gralglas. Ein Beitrag zur Glaskultur Europas«, in: Ders. und Loyen, gralglas (s. Anm. 11), S. 192. Ricke, Form (s. Anm. 28), S. 118; Werbematerialien GHS, 1976–1989, in: AGI. Der in der Produktentwicklung sehr aktive Hüttenmeister Roland Pösch verließ im Streit die Gral-Glashütte, da er seine Leistung nicht gewürdigt sah, und wechselte zu WMF. Ricke, Form (s. Anm. 28), S. 90–94, 123.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

zu können, maßen die Unternehmensleitungen dem Marketing faktisch eine manipulierende Wirkung bei. Sie meinten, Glasfehler und -mängel als Zeichen handwerklicher Fertigung oder gar als besonderes Qualitätsmerkmal von mundgeblasenem Glas werbestrategisch deuten315 bzw. die nur den Anschein einer aufwendigen Formung erweckenden Produkte als Resultat der »schönsten handwerklichen Möglichkeiten der Glasmacherkunst« glaubhaft offerieren zu können.316 Alle Marketingbemühungen waren jedoch vergebens, hielten die Produkte nicht das, was den Kund*innen versprochen wurde. Im Fall Süßmuth schlug sich das stärkere Umwerben des Fachhandels zwar in einem enormen Anstieg des Bekanntheitsgrads nieder. Aus der Studie der Wickert Institute Tübingen ging hervor, dass zwei Drittel der befragten Fachhandelsgeschäfte hinsichtlich Preis, Qualität und Wettbewerbsfähigkeit einen positiven Eindruck von Süßmuthglas besäßen. Dieses Resultat nützte der Firma allerdings wenig, als in dieser Zeit die Reklamationen und Beschwerden über Qualitätsmängel gerade seitens des Fachhandels ein solches Ausmaß angenommen hatten, dass Vertreter sogar den Verdacht hegten, im Betrieb müsse ein »Saboteur« arbeiten.317 Die erhöhte Frequenz von Produktwechseln und Sortimentserneuerungen, die mitunter umfangreichen Diversifizierungen wie auch die Professionalisierung des Marketings waren insgesamt Ausdruck von (oftmals fehlgeschlagenen) Annäherungsversuchen der Mundglashütten an eine ihnen unbekannte Nachfrage. Die Erosion bisher verbindlicher Vertriebsbeziehungen hatte erhebliche Wissensdefizite über die Konsumbedürfnisse freigelegt, die die Herstellerfirmen auch nicht durch die vielbeschworene Markbeobachtung zu beheben vermochten. Denn die Firmen beobachteten weniger die Endverbraucher*innen als vielmehr die Konkurrenzunternehmen.318 Die gegebenenfalls in Auftrag gegebenen, kostenintensiven Studien der Marktforscher*innen fassten vor allem die Strategien der Wettbewerbsteilnehmer zusammen und dürften selten über die Vorannahmen der Angestellten in den Vertriebs- und Marketingabteilungen hinausgehende Informationen über die Bedürfnisse der (potenziell neuen) Konsument*innen bereitgestellt haben.319 Das Potenzial, die Arbeiterschaft als größte Bevölkerungsgruppe mit stark wachsender Kaufkraft als Konsument*innen anzusprechen, war den Mundglashütten bewusst.320 Dennoch adressierten weder die Glashütte Süßmuth noch die Vergleichsun315

Dahin ging bereits die Empfehlung des RKW-Beraters [Wiege], die [Meier] – in Orientierung an Gralglas – aufgriff. [Harald Meier] an Betriebsleitung, Produktentwicklung und Versand, 22. Juli 1976, in: AGI. 316 Mit dieser Beschreibung wurden die »aufgetriebenen«, aber offenbar an der Abschmelzmaschine gefertigten Vasen beworben. Katalog, [1977/1978] (s. Anm. 192), S. 55. 317 Wickert Institute, 1983 (s. Anm. 262), S. 34, 46; Zitat aus Reklamation Fachhandlung Pfeiffer und Müller an GHS, 5. August 1981, in: AGI; Reklamation, 11. August 1981 (s. Anm. 277); Reklamation Töpferei Arnold Brockhoff KG an GHS, 17. August 1981, in: AGI. 318 [Harald Meier] verteilte bspw. unmittelbar nach seinem Amtsantritt PR-Unterlagen der Konkurrenz (v.a. von Rosenthal und Gralglas) und Artikel aus Fachzeitschriften an die leitenden Angestellten, um die Diskussion über künftige Sanierungs- und Reformmaßnahmen anzuregen. Siehe Mitteilungen [Meier], 1976, in: AGI. 319 Siehe Branchenuntersuchungen und Marktberichte, 1980–1984, im Anhang von Blaume, Erscheinungsbild (s. Anm. 182). 320 Braunschweig, 12. August 1968 (s. Anm. 174), S. 4; HNA, 10. April 1976 (s. Anm. 35).

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ternehmen ihre Produkte und Werbung explizit an die lohnarbeitende Bevölkerung als eigenständige Zielgruppe(n). Mit Strategien der Wertsteigerung oder der Unikat- und Kleinserienproduktion richteten sie sich weiterhin vorrangig an die (sich ausdifferenzierenden Distinktionsbedürfnisse der) Mittel- und Oberschicht. Die zeitgenössischen Werbematerialien illustrierten vor allem deren Ess-, Wohn-, Freizeit- oder Geschenkkultur. Arbeiter*innen tauchten darin lediglich als Produzent*innen im Rahmen einer »vermenschlichenden« Vermarktung der »Handwerkstradition« auf. Wurde diese Bevölkerungsgruppe nicht vollständig der maschinellen Konkurrenz überlassen, versuchten die Mundglashütten sie allein über den Preis als neue Kund*innen zu gewinnen. Diesem Versäumnis lag die Vorstellung zugrunde, die Geschmacksvorstellungen seien in den unteren Einkommensklassen »nicht ganz so ausgeprägt und anspruchsvoll«, es herrsche hier vor allem ein Interesse an möglichst billigen Produkten vor.321 Über den Preis hinausgehende Konsumbedürfnisse von Arbeiter*innen wurden daher nicht erfasst und spielten weder in der Produktentwicklung noch in der Außenrepräsentation, die sich höchstens als »Geschmackserziehung« an sie richtete, eine nennenswerte Rolle. Vor diesem Hintergrund ist der Bekanntheitsgrad von Süßmuthglas unter den in der Wickert-Studie befragten Arbeiter*innen als bemerkenswert hoch einzuschätzen und dies war – wie diese Studie auch belegt – Folge der Belegschaftsübernahme: Noch 1983, also lange nach dem Ende der Selbstverwaltung, verbanden 17 Prozent aller Befragten mit der Marke Süßmuth neben der »schön[en] Form« und der »gute[n] Qualität« der Produkte zugleich ein »für die Arbeitnehmer […] gute[s] Arbeitsklima«.322

Revision zeitgenössischer Deutungen Zur Bewältigung der Herausforderungen im Bereich der Produkte hatte sich den Mundglashütten – wollten sie weiterhin Qualitätsprodukte entwickeln, fertigen und verkaufen – die Gute Form angeboten, die an sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ändernde Verhältnisse in Produktion, Distribution und Konsumtion anzupassen war. Die Grundprinzipien der Guten Form legten keine bestimmte Ästhetik, sondern eine material-, fertigungs- und gebrauchsgerechte Gestaltung der Produkte nahe, die mit den ökonomischen Interessen der Herstellerfirmen übereinstimmten.323 Eine der Guten Form verpflichtete Produktentwicklung hatte in erster Linie die grundlegenden Materialeigenschaften des Werkstoffs Glas und Merkmale der Mundglasfertigung, die produktionstechnischen wie arbeitsorganisatorischen Gegebenheiten im Betrieb sowie die vorhandenen, nur in langjähriger Arbeitspraxis erlernbaren Fähigkeiten der Arbeitenden zu berücksichtigen. Ausgehend von den verfügbaren (materiellen wie immateriellen) Ressourcen im Betrieb waren Überlegungen darüber anzustellen, mit welchen Produkten den Alltagspraktiken möglichst breiter Bevölkerungskreise entsprochen werden konnte. Notwendig war hierfür eine langfristig angelegte und konsequent verfolgte Produktals Teil der Unternehmensplanung. Trotz der von Erwin Eisch ausgerufenen ästhetischen »Rebellion« gegen die Gute Form war eine dementsprechende Aktualisierung der321 Ricke, Form (s. Anm. 28), S. 78; Bundesausschuss Wirtschaftsglas, 25. Juli 1968 (s. Anm. 174), S. 3f. 322 Wickert Institute, 1983 (s. Anm. 262), S. 28. 323 Siehe Kapitel 1.3.

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selben in der Glashütte Eisch am ehesten gelungen. Durch die Gewährleistung einer hohen Qualität zu günstigeren Preisen als die Konkurrenz konnte Eisch jenseits der Nische die Serienproduktion von mundgeblasenem Glas und verbindliche Absatzbeziehungen zu einer (quantitativ) heterogenen Kundschaft in den 1970er und 1980er Jahren weiter ausbauen. Mit einer aus der Produktion herausgelösten sowie dem Vertrieb und Marketing untergeordneten Produktentwicklung hatten sich indes die meisten Mundglashütten von den Gestaltungsprinzipien der Guten Form verabschiedet. Reduziert auf eine ästhetische Kategorie, spielte sie höchstens noch – wie in der Glashütte Süßmuth – als Werbeslogan eine Rolle.324 Die beworbene und nachgefragte Qualität der Produkte konnte indes kaum noch in größerem Umfang sichergestellt werden, dementsprechende Probleme bereitete eine fehlerfreie und zügige Abwicklung angenommener Aufträge. Neben der Material- und Fertigungsgerechtigkeit verlor in der Produktentwicklung schließlich auch der Aspekt der Gebrauchsgerechtigkeit an Bedeutung. Die vorrangig der visuellen Abgrenzung gegenüber dem Maschinenglas geschuldete Tendenz zu aufwendig gestalteten Produkten erschwerte nicht nur die Fertigung, sondern auch den Gebrauch. Vasen mit ausladenden Öffnungen, schmalen Hälsen und breiten Bäuchen ließen sich schlecht reinigen, bei Kelchgläsern mit möglichst dünnen Stielen erhöhte sich die Bruchgefahr.325 Solche Produkte waren eher auf ihre dekorative Funktion reduziert. In der Glashütte Süßmuth läutete der Abschied von der Guten Form das Ende von Süßmuthglas ein. Der Bruch mit dem gestalterischen Erbe Süßmuths – das für [Harald Meier] zu jenen »heiligen Kühen« gehörte, die er zu schlachten angekündigt hatte – war radikal. Am wenigsten fielen ästhetische Zäsuren ins Gewicht, beispielsweise die Goldrandverzierung bei einer »Abwandlung der Kelchglasgarnitur AE« von Richard Süßmuth,326 der zeitlebens überflüssige Dekore abgelehnt hatte. Auch wollte der Namensgeber keineswegs hochwertige Artikel für eine Elite herstellen, sondern mit Qualitätsglas für den täglichen Gebrauch breite Bevölkerungskreise zum »guten Geschmack« erziehen. An diesen pädagogischen Ansatz knüpfte die Geschäftsleitung in ihrer Marketingstrategie zwar an, allerdings nicht mehr im Interesse, die Menschen zu »veredeln«, sondern allein aus dem kommerziellen Grund, zum Kauf zu motivieren. Am schwersten wogen die unlauteren Praktiken in der Produktentwicklung, der Fertigung und im Vertrieb sowie die Qualitätsverschlechterungen der Produkte. Das Vertrauen in die Qualitätsmarke, das für das Unternehmen von existenzieller Bedeutung war, wurde dadurch bei Händler*innen und Endverbraucher*innen nachhaltig zerstört.327 Auch Süßmuths Nachkommen stieß der Zukauf von Handelsware und der Verkauf von schlechter Qualität unter dem Marken- und Künstlernamen Richard Süßmuth übel auf;

324 Porzellan+Glas, Dezember 1981 (s. Anm. 255); [Scholz], 8. April 1983 (s. Anm. 239), S. 1. 325 Auch Gralglas wies im Gebrauch unpraktische Produkte auf wie bspw. Schalen mit Deckel ohne Griff. Siehe Die Glaskiste. Hausmitteilungen der Gralglashütte Dürnau, Nr. 31, Sommer 1972, in: CD-ROM-Beilage bei Ricke und Loyen 2011. 326 [Meier], 26. Februar 1981 (s. Anm. 210), S. 1. 327 Zur Bedeutung von Vertrauen in der Produktkommunikation siehe Rainer Gries, Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR, Leipzig 2003; Ebenso Blaume, Erscheinungsbild (s. Anm. 182), S. 2.

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da der Firmengründer im Frühjahr 1970 sein Unternehmen mit allen Rechten abgetreten hatte, konnten sie dagegen nichts ausrichten.328 In Revision der eingangs skizzierten Deutungen hatte sich also nicht nur die Qualität der maschinellen Produktion zunehmend verbessert, sondern zugleich auch jene der Mundglashütten teils massiv verschlechtert. Der Verlust an Marktanteilen war nicht allein der Expansion der Maschinenglashütten geschuldet, sondern auch den Mundglashütten, die – aus Rentabilitätsgründen, infolge fehlgeleiteter Angebotsstrategien oder einer bereits eingetretenen Krisenentwicklung – ihre Wettbewerbsvorteile nicht wahrten. Anstatt ihr spezifisches Produktprofil zu schärfen und ihre Alleinstellungsmerkmale zu stärken, gaben sie diese faktisch auf oder an Produzenten in anderen Staaten mit niedrigerem Lohnniveau ab. Indem sie osteuropäischen Glashütten immer größere Aufträge erteilten, trugen die westdeutschen Mundglashütten zur beklagten Erhöhung der Importquoten bei, beförderten so den Preisverfall und die eigene Konkurrenz. Durch den Zukauf von Handelsware oder verfehlte Auftragsannahmen (beispielsweise von einzelnen Großkunden) hatten sie sich in gefährliche Abhängigkeiten begeben. Schließlich waren weniger eine fehlende Nachfrage oder eine zu geringe Auftragslage entscheidende Ursachen der Krise der Mundglasbranche, als vielmehr eine veränderte Nachfrage, ein verändertes Verhalten des Handels sowie eine verfehlte Produkt- und Vertriebspolitik der Herstellerfirmen. Den meisten Mundglashütten war es nicht gelungen, eine sich ausdifferenzierende Nachfrage in größerem Umfang zu bedienen und neue Absatzverbindlichkeiten herzustellen. Die sinkenden Verkaufszahlen für die Produkte der Serienproduktion von Mundglashütten wie Süßmuth gingen somit weniger auf einen »Werteverfall« bei den Konsument*innen zurück, als vielmehr auf deren fehlende Bereitschaft, hohe Preise für mangelhafte Qualität zu zahlen. Die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gestiegene Kaufkraft für hochwertiges Wirtschaftsglas ließen die westdeutschen Mundglashütten für den Absatz ihrer Produkte jenseits der Nische und des Hochpreissegments weitgehend ungenutzt. Dies war teils auch dem Konservatismus der Hersteller geschuldet, die sich ihre mundgeblasenen Glasprodukte lediglich im Kontext des normativ festgelegten Konsummusters eines »gedeckten Tischs« vorstellen konnten – ungeachtet der sich ändernder Lebensstile und Alltagspraktiken. Die Bedürfnisse der Arbeiterschaft als der Mehrheit der Bevölkerung ignorierten die Mundglashütten völlig. Erst in der Konsequenz solcher Setzungen und Auslassungen konstituierte sich jener Sachzwang einer vermeintlichen Alternativlosigkeit zur Produktion von Luxuswaren. Die Verengung auf eine zahlungskräftige Kundschaft aus der Mittel- und Oberschicht erfolgte vor dem Hintergrund, dass deren Konsumwünsche von den häufig dieser angehörigen Angestellten der Vertriebs- und Marketingabteilungen noch am ehesten antizipiert werden konnten und hatte darüber hinaus – wie im Folgenden aufzuzeigen ist – innerhalb der Betriebe auch machtpolitische Gründe.

328 Transkript Interview der Autorin mit [Ursula Müller], 13. Juni 2013, im Besitz der Autorin, S. 10f.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

9.3 Zwischen Maschinisierung und Musealisierung. Die Produktion Zeitgenössische Einschätzungen sahen die Mundglashütten vor die Wahl gestellt, entweder auf maschinelle Fertigung umzustellen oder bei der »traditionellen Produktionsweise [zu bleiben] in der Hoffnung, nach dem Ausscheiden weiterer Mitbewerber […] den dann noch vorhandenen Bedarf mit einigen wenigen gleichgearteten Betrieben gemeinsam befriedigen zu können.«329 Die Firmen selbst warben damit, sich ganz bewusst für die Pflege der »althergebrachten handwerklichen ›Mundblaskunst‹« entschieden zu haben.330 Rückblickend sieht Georg Goes mit der »Einführung der automatischen Kelchglasproduktion in Zwiesel« Anfang der 1960er Jahre »das Ende einer Epoche« eingeläutet, das manuelle Mundblasverfahren sei fortan vom maschinellen Fertigungsverfahren abgelöst worden.331 Wie andere »Traditionsindustrien« schien auch die Mundglasbranche dem Strukturwandel zum Opfer gefallen zu sein, da an ihr »die technische Weiterentwicklung zur Automatisierung und dann die Revolution der Mikroelektronik vorbeigegangen« sei.332 Doch welche technischen Möglichkeiten standen den Unternehmen dieser Branche überhaupt zur Verfügung bzw. waren ökonomisch sinnvoll? Der Eindruck, die Fertigung in Mundglashütten habe sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts »nicht oder nur in sehr geringem Maße« geändert,333 trügt. Angesichts steigender Produktionskosten (insbesondere der fertigungsbedingt bereits sehr hohen Lohn- und Energiekosten) bei sich verschärfenden Konkurrenzverhältnissen konnten die Mundglashütten nicht im Status quo verharren und allein auf den Konkurs der Konkurrenten hoffen. Vielmehr hatte sich der Druck zur betrieblichen Rationalisierung enorm erhöht. Die Unternehmen der Mundglasbranche ergriffen hierfür verschiedene Strategien, die in diesem Kapitel aufzuzeigen und hinsichtlich ihrer praktischen Bewährung zu bewerten sind. Gemessen am Maßstab der maschinellen Fertigung mögen die technischen und arbeitsorganisatorischen Neuerungen im Einzelnen geringfügig erscheinen – sie konnten jedoch in ihrer Gesamtheit sehr einschneidende Veränderungen im Betrieb bewirken und die Unternehmensentwicklung maßgeblich prägen.

Die Strategien der Vergleichsunternehmen Bei den Vergleichsunternehmen lassen sich jene zwei Strategien fertigungstechnischer Rationalisierung unterscheiden, die in der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth kontrovers diskutiert wurden. Die Belegschaftsgremien schlugen die Rationalisierung durch eine an die Besonderheiten der Mundglasfertigung, an die Gegebenheiten im 329 Hucke, Quo vadis Glasindustrie? (s. Anm. 5); Ebenso Willett, Die Glasindustrie (s. Anm. 136), S. 402–404. 330 So bspw. die Außendarstellung der Glashütten Süßmuth und Eisch. [Meier], 27. März 1976 (s. Anm. 261), S. 2; Glashütte Valentin Eisch KG, Künstlerisches Glas (s. Anm. 140), S. 9. 331 Georg Goes, Arbeitermilieus in der Provinz. Geschichte der Glas- und Porzellanarbeiter im 20. Jahrhundert, Essen 2001, S. 135f., 324. 332 Doering-Manteuffel, Boom (s. Anm. 135), S. 563, 572. 333 Theodor Hettinger, Christian Averkamp und B.H. Müller (Hg.), Arbeitsbedingungen in der Glasindustrie. Manuelle und maschinelle Hohl- und Kelchglasherstellung, Berlin u.a. 1986, S. 58; Ebenso Günther Nölle, Technik der Glasherstellung, Stuttgart 19973 , S. 161.

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Betrieb und an die unternehmensspezifische Sortimentsvielfalt angepasste Technik vor, wie sie im Glashüttenwesen traditionell üblich war. Die geschäftsführenden Gremien verfolgten dagegen wie die meisten Unternehmen der Branche die Strategie einer TeilMaschinisierung. Unter Beibehaltung des Mundblasverfahrens an Hafenöfen lag dabei der Schwerpunkt auf der Ablösung von Hand-Werkzeug-Technik durch MaschinenWerkzeug-Technik in möglichst allen der Stoffformung vor- und nachgelagerten sowie zuarbeitenden Arbeitsbereichen – mit dem Ziel, durch technische Neuerungen Personal zu ersetzen oder zumindest die Lohnkosten zu senken. Zu den Vorreitern dieser Form der fertigungstechnischen Rationalisierung gehörte das Kristallglaswerk Hirschberg. Im Zuge der expansionsbedingten Standortverlagerung von Essen nach Allendorf hatte Hirschberg 1958 eine Produktionsstätte in Betrieb genommen, die »nach rationellen Gesichtspunkten und unter Anwendung moderner Erkenntnis des Produktionsablaufes in Hohlglashütten« umfassend umgebaut worden war.334 In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurden erneut umfangreiche Investitionen in technische Neuerungen getätigt. Mit Eintragbändern zwischen Schmelzöfen und Kühlaggregaten sowie Transportbändern zwischen den Kühlaggregaten und den Abteilungen der Weiterverarbeitung wurde das betriebliche Transportwesen rationalisiert.335 Zur Beschleunigung der Arbeit der Glasmacher wurden mechanische »Pressen zur Herstellung von Stielen« sowie eine Anlage angeschafft, in der die Glasmacherpfeife mit einem Motor im Fahleisen statt per Hand gedreht wurde.336 Eine »neue Hafenofenanlage« wurde in Betrieb genommen, die – ähnlich wie jene in der Glashütte Süßmuth – mit einer zentralen Steuerung versehen war.337 Die manuelle Zubereitung des Rohstoffgemenges wurde von einer Mischmaschine abgelöst. »Automatische« Dekorschleifmaschinen begannen in der Veredelungsabteilung das handwerkliche Schleifen zu ersetzen.338 Auch die Gral-Glashütte stellte im Laufe der 1970er Jahre »auf teilmechanisierte Fertigung« um.339 Überliefert ist die Anschaffung von »elektronisch gesteuerten hochmodernen Schmelzöfen«.340 Als die neuen Eigentümer in den 1980er Jahren den Schwerpunkt auf den Vertrieb von zugekaufter Ware verlagerten, schränkten sie die Produktionskapazitäten erheblich ein. Seit 1982 war nur noch ein Fünf-Hafenofen und nach

334 Skizze Entwicklung des Kristallglaswerkes Hirschberg, 3. Oktober 1958, in: Archiv DIZ, Bestand 206. R 106/1, S. 4. 335 [Erich Peters] in Protokoll Abteilungsleiterkonferenz (GHS), 24. Mai 1971, in: AGI, S. 1f. Folgendes auch aus Transkript Interview der Autorin mit Max Kleiner, 13. November 2014, im Besitz der Autorin. 336 Protokollnotiz Besprechung Hirschberg, 20. Oktober 1971 (s. Anm. 130), S. 3. 337 Protokoll Besprechung Hirschberg, 20. September 1971 (s. Anm. 273), S. 2. Siehe Kapitel 5.1. 338 Protokollnotiz Besprechung Hirschberg, 20. Oktober 1971 (s. Anm. 130), S. 3. 339 Pressemitteilung Gral-Glashütte, Februar 1973 (s. Anm. 130); Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 206, 208. 340 Gralglas Information, Nr. 1, undatiert [1974/1975], in: CD-ROM-Beilage bei Ricke und Loyen 2011, S. 2. Strom kam bei der Steuerung der Öfen zum Einsatz, nicht aber bei deren Beheizung. Generell hatte Strom als Energieträger in der Glasbranche aufgrund hoher Preise im Untersuchungszeitraum wenig Relevanz. Siehe Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 9), S. 115–118; Gerhard Neckermann und Hans Wessels, Die Glasindustrie. Ein Branchenbild, Berlin 1987, S. 124.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

dessen Löschung 1987 lediglich eine kleine Schmelzwanne und ein Schauglasofen in Betrieb.341 Die Glashütte Buder war im Zuge der Spezialisierung auf die Fertigung von Bleikristall im Pressverfahren am weitesten in Richtung maschineller Fertigung vorangekommen. Die neuen Eigentümer setzten nach dem Konkurs 1974 auf die in der Branche neueste Technik, die in der betrieblichen Praxis bis dahin wenig erprobt war.342 Die für das Pressverfahren üblichen Eisenformen wurden in den 1960er Jahren noch von sechs bis sieben Ziseleuren hergestellt, die das Dekormuster mit Hammer und Meißel spiegelverkehrt eingaben; Mitte der 1970er Jahre übernahm eine Kopiermaschine diese Tätigkeit.343 Mit Förderbändern zwischen den Schmelz- und Kühlöfen wurde das Transportwesen rationalisiert. Als einziges unter den Vergleichsunternehmen ersetzte Buder die beiden (zum Teil erst kurz zuvor neugebauten) Hafenöfen durch eine ölbeheizte Schmelzwanne, an der das Glas zunächst weiterhin größtenteils im manuellen Press- und zu einem geringeren Teil im Mundblasverfahren geformt wurde. Der »Bohemian Melter« signalisierte die Intention seiner Anschaffung, sich einen technischen Vorteil gegenüber der tschechoslowakischen Konkurrenz aus der Glasregion Böhmens zu verschaffen, bereits im Namen.344 Mit der Inbetriebnahme eines »Kugelspeisers mit einem MehrstationenPressautomaten« wurde 1983 das bislang manuelle Pressverfahren maschinisiert, das Mundblasverfahren blieb hiervon aber unberührt.345 Die Erwartung einer voranschreitenden Maschinisierung der Wirtschaftsglasproduktion war für den Eigentümer von Wiesenthal Klaus Breit einer der ausschlaggebenden Gründe, in der ersten Hälfte der 1970er Jahre die Fusion mit Schott in die Wege zu leiten.346 Seine Hoffnungen, von dem in der Glasbranche marktführendem Anbieter maschineller Technik profitieren zu können, erfüllten sich jedoch nicht – weil eine solche Technik für Mundglashütten nicht zur Verfügung stand.347 Stattdessen kam in der Wiesenthalhütte eine Strategie der fertigungstechnischen Rationalisierung zum Tragen, die auf Technik- und Verfahrensinnovationen des Führungspersonals mit den betriebsinternen Fachleuten beruhte.348 Ende der 1980er Jahre waren bei Wiesenthal drei mittlerweile erdgasbeheizte Hafenöfen mit insgesamt neun Häfen in Betrieb, an denen Glas in manuellen Guss- und Pressverfahren geformt wurde.349 Zusammen mit einer Kippwanne 341 Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 208f. 342 Folgendes aus Raimann etc., 27. Mai 2013 (s. Anm. 141). 343 Der Ziseleur habe nur noch ein kleines Segment der Form per Hand gearbeitet, das anschließend von der Maschine abgetastet und in die Form eingefräst wurde. 344 Dieser Wannenofen habe knapp eine Millionen DM gekostet – und damit zwei- bis dreimal so viel wie ein Hafenofen. Unternehmenschronik Buder (s. Anm. 19), S. 5. 345 In den letzten Jahren bis zum Konkurs 1986 sei »80 Prozent maschinell und 20 Prozent mundgeblasenes Bleikristallglas« gefertigt worden. Ebd., S. 5f.; Raimann etc., 27. Mai 2013 (s. Anm. 141), S. 36. 346 Breit, 1. März 1979 (s. Anm. 24), S. 4. 347 Die »Einführung maschineller Methoden war nur in Teilbereichen möglich, insbesondere im Bereich des Spezialglases, nicht jedoch des großen Aufwandes wegen im Bereich des geblasenen Glases«. Breit, November 1982 (s. Anm. 5), S. 3. 348 Siehe Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 22), S. 468–473; Breit, 19. März 1987 (s. Anm. 275). 349 Folgendes aus Breit, 19. März 1987 (s. Anm. 275), S. 9; Rückblick und Lagebericht Klaus Breit, 30. März 1988, in: mkp.Gl-A 1-Wies.37B, S. 18.

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sowie drei bis vier Zwischenwannen schufen diese Öfen die Voraussetzungen für die unternehmensspezifische Angebotsvielfalt.350 Für die Rationalisierung durch eine angepasste Technik, wie sie in der Wiesenthalhütte jenseits der Maschinisierungsüberlegungen des Geschäftsführers praktiziert wurde, hatten sich die wenigsten Unternehmen der Branche entschieden. Die Glashütte Eisch beschritt diesen Weg dagegen seit Unternehmensbeginn. Eisch investierte zwar ebenfalls in Lohnkosten einsparende Maschinen im Bereich Weiterverarbeitung,351 der Schwerpunkt lag allerdings auf den Schmelzöfen als dem Rhythmus gebenden Zentrum einer jeden Mundglashütte. 1952 nahm das bis dahin ausschließlich Glas veredelnde Unternehmen einen ölbeheizten Zwei-Hafenofen in Betrieb. Dieser damals in der Bundesrepublik seltene Ofentyp ging auf eine experimentelle Zusammenarbeit mit der Glasfachschule in Zwiesel zurück, die der jungen Firma den Einstieg in die Glasproduktion ermöglicht hatte.352 Bis 1956 konnte sich Eisch eine Basis erwirtschaften für die Expansion der Produktionsanlage durch den Bau eines größeren Ofens mit acht Häfen und vier Satzeln, der wie zu jener Zeit branchenüblich mit Kohlengas befeuert wurde.353 Im Jahr 1965 baute Eisch den ersten Studioglasofen der Bundesrepublik, der seit 1969 mit Flüssiggas befeuert wurde. Ein neuer, ebenfalls mit Flüssiggas beheizter FünfHafenofen ging 1972 in Betrieb, an dem das Glas nicht – wie in der Branche üblich – in fünf gleich großen Häfen, sondern in »einem Hafen, zwei Satzeln und zwei Farbtiegeln« geschmolzen wurde. Mit dem Studioglasofen und dem Fünf-Hafenofen sowie dem bis 1977 mit Braunkohle beheizten großen Hafenofen wurden in der Glashütte Eisch verschiedene Ofen- und Befeuerungstechnologien miteinander kombiniert. Die Produktionstechnik der Glashütte Eisch korrespondierte wie bei Wiesenthal mit der angebotenen Sortimentsvielfalt. Die »ungewöhnliche Mischung verschiedener Hafenarten« am Fünf-Hafenofen, wie sie einst die Beschäftigten der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth vergeblich angeregt hatte, sollte einer »hohen Differenzierung der Produktion« in Farbgebung und Stückgrößen dienen.354 Solche Möglichkeiten erweiterten sich auch durch den kleinen Studioofen, an dem Erwin Eisch seit 1965 seine künstlerische Glasgestaltung entfaltete. Beim Neubau eines Ofens, der 1987 an der Stelle des Fünf-Hafenofens trat, war die Kombination von einem Satzel, zwei Tiegeln und vier »besonders großen Häfen« auf die Fertigung von »Großzeug [wie Bowlen oder Krüge] und Farbglas« ausgerichtet. Zudem gelang an diesem neuen Ofen, was bis dahin »weithin als technisch nicht umsetzbar galt«: An den Häfen waren jeweils zwei

350 Breit, 30. März 1988 (s. Anm. 349), S. 18. 351 Hierzu gehörten eine Säurepolituranlage und Absprengmaschinen. Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 87, 73; Erich Eisch wiedergegeben in [Meier], 30. September 1976 (s. Anm. 150). 352 Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 41. 353 Satzel waren »kleinere Häfen, in denen Farbglas und andere, seltener gebrauchte Glassorten geschmolzen« wurden. Folgendes aus Ebd., S. 55, 53–58, 64–73. 354 Die Leitung von Eisch berücksichtigte, worauf auch die Facharbeiter der GHS hingewiesen hatten: An einem »großen Schmelzofen war es […] immer schwieriger gewesen, große Dinge wie Bowlen oder Krüge zu blasen, da für diese die Glasmasse zäher und damit die Ofentemperatur niedriger sein muss als für die kleinen Trinkgläser.« Siehe Kapitel 5.1; Zitat und folgendes aus Ebd., S. 70f., 87.

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Arbeitsöffnungen eingelassen, die gleichzeitig von zwei Werkstellenteams ausgearbeitet werden konnten. Der »großdimensioniert[e] Steinrekuperator und [die] warm[e] Glastasche« habe eine größere Energieeffizienz und längere Lebensdauer dieses Ofens bedingt. Das körperlich sehr anstrengende Glastasche-Ziehen war weggefallen. In den meisten Mundglashütten ging die Tendenz einer Teil-Maschinisierung der Produktion mit verschiedenen Maßnahmen der Arbeitsintensivierung einher, die ebenfalls in erster Linie auf eine Senkung der Lohnkosten ausgerichtet waren und eine Zentralisierung der Betriebsführung ermöglichen sollten. Die Unternehmensleitungen orientierten sich dabei – wie die geschäftsführenden Gremien der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth – an vom REFA-Verband entwickelten und somit an branchenfremden Verfahren.355 Dies galt vor allem für die Reform der Leistungsentlohnung.356 Um höhere Leistungen anzuregen und die Voraussetzungen für schnellere Produkt- und Sortimentswechsel zu schaffen strebten die meisten Mundglashütten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts »wissenschaftliche« Lohnformen an.357 Manche Hütten planten die Umstellung auf ein »totales Akkordsystem«: Dabei sollten »alle Arbeiten verakkordisiert« werden, »bis auf die Musterfertigung [waren] keine Durchschnittszahlungen« mehr vorgesehen (die bislang bei Qualitätsschwankungen und während der Einarbeitungszeit der Glasmacher in neue Artikel gezahlt wurden); jegliche »Schwierigkeiten in der Produktion [sollten als] entsprechende Abschläge vom Akkord angerechnet« werden.358 Andere Firmen wie Buder bereiteten die Einführung eines Prämienlohnsystems vor und beschäftigten hierfür einen »REFA-Fachmann«.359 Die meisten Mundglashütten seien letztlich auf einen »Zeitakkord umgestiegen«.360 Mit einer dichteren Personalbesetzung und Vertiefung der Arbeitsteilung an den Ofenwerkstellen wollten viele Unternehmensleitungen die Fertigungsabläufe beschleunigen.361 Den branchenweiten Bemühungen um Arbeitsverdichtung fiel auch die 355

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VdG-Sonderrundschreiben, 18. Dezember 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 2; Typoskript »Integration von Auftragsabwicklung – Fertigungssteuerung und Lagerhaltung«, Referat Süddeutsche Treuhand-Gesellschaft, 5. Juni 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 7. VdG-interne Überlegungen über die Reform der Leistungsentlohnung (bspw. durch die Einführung eines Prämienlohnsystems) sind seit den frühen 1960er Jahren überliefert. Aktennotiz VdG, 20. März 1963, in: WABW, Bestand B 164 Bü 1; Aktennotiz VdG, 8. Oktober 1963, in: WABW, Bestand B 164 Bü 1. Zur Reform der Entlohnung bei Josephinenhütte, Hirschberg und Buder siehe [Günter Nowak], 10. November 2014 (s. Anm. 11), S. 11; Übersicht Betriebsvereinbarungen Kristallglaswerk Hirschberg, März 1972, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner; Notiz Besprechung zwischen Betriebsrat Kristallglaswerk Hirschberg und Funktionäre der IG Chemie Vwst. Giessen, 7. Oktober 1972, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner; [Meier], 28. März 1977 (s. Anm. 149). Kleiner, 13. November 2014 (s. Anm. 335), S. 16; Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 101. Siehe Kapitel 5.2. Die Einführung eines solchen Akkordsystems hatte die neue GHS-Geschäftsleitung in Orientierung an »anderen Hütten« erwogen, aber schließlich nicht umgesetzt. Geschäftsleitung, 5. Juni 1978 (s. Anm. 70), S. 4. Siehe Bericht über einen Besuch in der Glashütte Buder in [Meier], 28. März 1977 (s. Anm. 149). Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 101. Siehe bspw. Protokoll Besprechung Hirschberg, 20. September 1971 (s. Anm. 273), S. 3. Dieser Trend zeigte sich bereits Mitte der 1950er Jahre. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 331), S. 103; Ludwig Springer, Die Glasindustrie im Bundesgebiet unter besonderer Berücksichtigung des Kristall- und des Wirtschaftsglases, Trautheim 1955, S. 41.

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traditionelle Praxis des Schindens zum Opfer. Unter anderem mit dem Argument, die Leistung der Glasmacher werde hierdurch beeinträchtigt, wurde sie in den meisten Mundglashütten verboten.362 Buder führte als einziges Vergleichsunternehmen Schichtarbeit ein. Die Inbetriebnahme einer Schmelzwanne hatte 1977 die technischen Voraussetzungen für zwei Tagesschichten geschaffen; 1982 kam eine Nachtschicht hinzu.363 Eine solche Flexibilisierung der Arbeitszeiten war an den in den anderen Vergleichsunternehmen weiterhin üblichen Hafenofenanlagen nicht möglich. In gewisser Weise kam sie aber in Form der krisenbedingten Kurzarbeit zustande, die seit Anfang der 1970er Jahre zur Normalität in der Branche wurde.364 Zeitgleich sanken in den meisten Mundglashütten die Beschäftigtenzahlen.365 Der sukzessive Personalabbau war Ausdruck krisenhafter Unternehmensentwicklungen, ging teils aber auch auf Unternehmensleitungen zurück, die Entlassungen zum Zwecke der Lohn- bzw. Fixkostensenkung vornahmen. Die alten wie auch die neuen Eigentümer des Kristallglaswerks Hirschberg sahen in der »Schrumpfung des Belegschaftsstandes« eine notwendige Sanierungs- bzw. Einsparmaßnahme.366 Von Kündigung betroffen waren hier insbesondere »Belegschaftsmitglieder mit fünfzehn- und zwanzigjähriger Betriebszugehörigkeit«.367 In der Glashütte Buder schickten die neuen Eigentümer nach dem Konkurs von 1974 ebenfalls vor allem die älteren Beschäftigten in die (vorzeitige) Rente.368 Als im Sommer 1983 erneut ein Konkurs drohte und Buder bereits mit Lohnzahlungen im Rückstand war, empfahlen Hamburger Unternehmensberater als Sanierungsmaßnahme, mindestens 50 Beschäftigte zu entlassen, Löhne und Gehälter um zehn Prozent zu kürzen sowie Urlaubs- und Weihnachtsgelder zu streichen.369 Bei Gralglas und Wiesenthal halbierte sich Anfang der 1980er Jahre die Belegschaft mit der Reduktion bzw. Einstellung der Mundglasfertigung bei gleichzeitiger Schwerpunktverlagerung auf den Zukauf bzw. auf neue Produktbereiche.370 Im Zusammenhang mit der

362 Reinhard Haller, Geschundenes Glas. Brauchtümliches Glasmachen. Volkstümliche Gläser im Bayerischen Wald und anderen europäischen Glashüttenlandschaften, Grafenau 1985, S. 21, 18–23; Ingolf Bauer, Glas zum Gebrauch, Ostfildern-Ruit 1996, S. 134; Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 9), S. 155f. 363 Unternehmenschronik Buder (s. Anm. 19), S. 5; Raimann etc., 27. Mai 2013 (s. Anm. 141), S. 28; Hermann Oberhofer an Peter Weith, 26. April 1982, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 364 Notiz Haefeli, 17. November 1972 (s. Anm. 164); Transkript Interview von Erasmus Schöfer mit Franz Fabian, 22. April 1974, im Besitz der Autorin, S. 11; »Die Rosenthal-Gruppe 1975«, in: Present, August 1976, in: AGI S. 682–683; Heinz Dieter Simon an Klaus Breit, 5. August 1980, in: mkp.Gl-A 1-Wies.37B; Rath, Wiesenthalhütte (s. Anm. 8), S. 338. 365 Siehe Tabelle 4 im Anhang. 366 Protokoll Besprechung Hirschberg, 20. September 1971 (s. Anm. 273), S. 3; Protokoll Besprechung Hirschberg, 22. November 1971 (s. Anm. 12), S. 7; Bericht Betriebsrat Hirschberg, Juli 1973, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner, S. 1; Betriebsrat an Geschäftsleitung Hirschberg, 18. August 1973, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner. 367 Betriebsrat an Geschäftsleitung Hirschberg, 29. Dezember 1973, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner, S. 1. 368 Aktennotiz IG Chemie Vwst. Hann. Münden, 29. August 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 1f. 369 Unternehmenschronik Buder (s. Anm. 19), S. 6f. 370 Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 208f.; Ricke, Breit (s. Anm. 21), S. 18; Personalliste WTH, 31. August 1982, in: mkp.Gl-A 1-Wies.37B; Bericht Klaus Breit, September 1988, in: mkp.Gl-A 1Wies.37B, S. 26.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

Rücknahme früherer Diversifikationen verringerte auch Rosenthal seit Mitte der 1970er Jahre die Zahl der Beschäftigten.371 Die Glashütte Eisch hob sich auch bei der arbeitsorganisatorischen Rationalisierung von diesen Branchentrends ab. Eine Produktivitätssteigerung strebte Eisch weniger über Arbeitsverdichtung und -beschleunigung an, als vielmehr durch die firmeninterne Entwicklung neuer Ofentechnologien, wie das Beispiel des 1987 in Betrieb genommenen Hafenofens zeigte. Statt auf Lohnkostensenkung lag die Priorität weiterhin auf der Qualifizierung der Beschäftigten.372 Wie einst Richard Süßmuth investierte Eisch in das betriebliche Ausbildungswesen; seit Anfang der 1970er Jahre engagierte sich die Firma zusammen mit der nahegelegenen Glasfachschule Zwiesel für die Entwicklung eines auf überbetrieblicher Ebene abgesicherten Ausbildungswegs für Glasmacher.373 Das Schinden wurde in der Glashütte Eisch nicht verboten, sondern klar regelt, da es die Qualifikation der Glasmacher sowie Produkt- oder Verfahrensinnovationen fördert. Festgehalten wurde zudem am traditionellen Stückakkord, der entsprechend der Sortimentswechsel »laufend neu ausgepreist« wurde.374 Die Akkordsätze wurden von der Betriebsleitung und einer Preiskommission festgelegt, die sich aus »am Akkord beteiligten Arbeiter[n] und Vertreter[n] des Betriebsrats« zusammensetzte.375 Auf den in anderen Mundglashütten üblich gewordenen Verkauf von Zweite-Wahl-Artikel, infolge dessen auch fehlerhaft gearbeitete Artikel entlohnt wurden, verzichtete Eisch, um die eigene Qualitätsmarke zu schützen und keine falschen Anreize zu setzen. Arbeitsfehler wurden weggeworfen und den Glasmachern – da sie im Gegensatz zu Glasfehlern von ihnen verschuldet waren – vom Akkord abgezogen.376

Die Strategien der Glashütte Süßmuth Als [Harald Meier] 1976 in die Glashütte Süßmuth kam, fand er – als Resultat der mehr als fünf Jahre andauernden Auseinandersetzungen über die Sanierung – eine weitgehend instandgesetzte Produktionsanlage vor. Die Inbetriebnahme eines neugebauten Ofens gehörte zu seinen ersten Aktivitäten als Geschäftsführer.377 Im Rahmen der von ihm wieder ins Leben gerufenen Abteilungsleiterkonferenz widmete er sich zunächst einigen der von den Beschäftigten seit langem kritisierten Missständen.378 [Meier] erkannte beispielsweise an, dass das Kühlproblem kein personelles, sondern ein technisches war. Die 371 Present, August 1976 (s. Anm. 364); FAZ, 10. September 1984 (s. Anm. 270). 372 Mit dem Direktor der Glasfachschule Zwiesel Max Gangkofner als Teilinhaber dürfte auch Theresienthal bis zu dessen Ausscheiden 1982 eine auf die Qualifizierung der Belegschaft setzende Betriebsführung verfolgt haben. Siehe Gernot H. Merker, »Max Gangkofner. Schulleiter von 1956 bis 1984«, in: Gesellschaft von Freunden der Glasfachschule Zwiesel (Hg.), Glasfachschule Zwiesel, Zwiesel 2004, S. 106–109. 373 Folgendes aus Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 88–91, 102. Siehe Kapitel 1.4 und Kapitel 1.5. 374 Erich Eisch wiedergegeben in [Meier], 30. September 1976 (s. Anm. 150), S. 19. 375 Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 101. 376 Erich Eisch wiedergegeben in [Meier], 30. September 1976 (s. Anm. 150). 377 [Meier], 12. Januar 1976 (s. Anm. 78), S. 1. 378 Folgendes aus Protokoll Abteilungsleitersitzung (GHS), 11. August 1976, in: AGI; Ebenso Abteilungsleitersitzung, 5. April 1976 (s. Anm. 195), S. 1; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 20. November 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2.

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»mangelhaften Kühlbänder« wurden überholt und hiermit eine entscheidende Ursache für den Kühlbruch beseitigt. Darüber hinaus hat die Geschäftsleitung nach dem Ende der Selbstverwaltung aber kaum noch in Produktionstechnik investiert, sondern den gesamten Bereich der Produktion einer rigiden Sparpolitik unterworfen. Ausnahmen waren die (sich als Fehlinvestitionen herausstellende) Einrichtung einer Metallwerkstatt für die Herstellung komplettierter Leuchten und das Ende der 1970er Jahre begonnene Experiment, an den Schmelzöfen eine Wärmerückgewinnungsanlage zu installieren.379 Dieses Modellprojekt ging auf eine Kooperation mit der Arbeitsgruppe Angepasste Technologie der Gesamthochschule Kassel und des Arbeitskreises für Kommunalfragen KasselLand zurück und wurde vom Bundesministerium für Forschung und Technologie gefördert.380 Um Personal abbauen und hierdurch die Lohnkosten senken zu können, hatte die Geschäftsleitung Ende 1976 beschlossen, einen der drei Hafenöfen stillzulegen und zur erst im Frühjahr 1975 beendeten Zweiofenproduktion zurückzukehren.381 Nach dem Fiasko mit den angenommenen Großaufträgen im Bereich Beleuchtungsglas sprach sie sich im Juli 1977 gegen die geplante Reparatur des Opalglaswannenofens aus.382 Im November 1977 fiel der Beschluss, den Personalbestand für Instandhaltungsarbeiten zu reduzieren und künftig »Reparatur- und Erneuerungsarbeiten an Fremdfirmen« zu vergeben.383 1982 wurde schließlich der zweite, erst Mitte der 1970er Jahre neu gebaute und eigentlich reparaturfähige Hafenofen stillgelegt.384 Seitdem wurde bei Süßmuth nur noch an einem Fünf-Hafenofen produziert. Dieser ebenfalls im letzten Jahr der Selbstverwaltung neu gebaute Ofen blieb bis zum Konkurs 1996 in Betrieb. Die ein bis zwei Anfang der

379 Die Wärme der Schmelzöfen sollte zur Warmwasseraufbereitung genutzt und für die Beheizung der Betriebsräume, der benachbarten Wohnhäuser sowie der Schwimmhalle in Immenhausen verwendet werden. Die Energiekosten sollten um 20 Prozent bzw. um jährlich 120.000 DM bis 150.000 DM gesenkt und durch den Verkauf der Energie eine zusätzliche Einnahmequelle geschaffen werden. Siehe Aufsichtsrat, 23. August 1979 (s. Anm. 69), S. 4; »Wärme aus Schmelzöfen für Wohnhäuser«, in: FR, 26. November 1979, in: AGI; »Mit heißer Luft 150.000 DM gespart. Glashütte Süßmuth in Immenhausen als Modellprojekt für Wärmerückgewinnung«, in: FR, 18. Dezember 1979, in: AGI. 380 Die Arbeitsgruppe Angepasste Technologie wurde 1977 an der Gesamthochschule Kassel gegründet und gehörte »zu den wichtigsten Institutionalisierungen der Alternativ-Technik-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland«. Der Arbeitskreis für Kommunalfragen Kassel-Land war ein Zusammenschluss ca. 50 mittelständischer Unternehmen, in dessen Vorstand [Harald Meier] zum damaligen Zeitpunkt vertreten war. Peter Doege, »›Klein ist schön‹. Neuere Technikkritik als Kritik an der Großen Technik«, in: Reinhold Reith und Dorothea Schmidt (Hg.), Kleine Betriebe – Angepasste Technologie? Hoffnungen, Erfahrungen und Ernüchterungen aus sozial- und technikhistorischer Sicht, Münster 2002, S. 133f.; FR, 26. November 1979 (s. Anm. 379). 381 Entwurf Sanierungsprogramm (GHS), 16. Dezember 1976, in: AGI, S. 4. 382 Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 23. Juli 1977, in: Privatarchiv (c) Immenhausen. 383 Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 1. November 1977, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2f. Ähnliche Überlegungen wurden auch für die Formenstube angestellt. Ebd.; Geschäftsleitung, 29. März 1976 (s. Anm. 198), S. 4. 384 Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 3. Dezember 1981, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 3f.; Protokoll Betriebsrat (GHS), 20. September 1982, in: AGI, S. 2; Treuarbeit, 16. März 1983 (s. Anm. 103), S. 10.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

1980er Jahre aufgestellten Studioglasöfen konnten bei weitem nicht den Verlust an Produktionskapazitäten der stillgelegten Hafenöfen kompensieren – sie dienten vorrangig touristischen Zwecken.385 Die Bemühungen seiner Vorgänger um eine »Verwissenschaftlichung« der Betriebsführung setzte [Harald Meier] fort. Im Zusammenhang mit der geplanten »Steuerung des Produktionsprozesses […] per EDV« bereitete er die Einführung einer zentralen Arbeitsvorbereitung vor, von der die RKW-Gutachter einst des großen organisatorischen Aufwandes wegen abgeraten hatten.386 Erweitert wurden – auf Basis hierarchisch abgestufter Zuständigkeiten – die Anzahl und Kompetenzen der Führungskräfte im Betrieb. Die Entscheidungsspielräume des seit 1973 alleinigen Hüttenmeisters [Gerhard Schinkel] wollte die Geschäftsleitung wieder vergrößern.387 Mit dem Glasmacher und Betriebsratsvorsitzenden [Jochen Schmidt] wurde ihm im November 1976 ein zweiter, gleichberechtigter Hüttenmeister sowie mit dem Glasmacher [Max Ulrich] eine »dritte Führungskraft« zur Seite gestellt.388 Neben »Führungs- und Kontrollaufgaben« sollten die Hüttenmeister eine »optimale Organisation« garantieren und in außerbetrieblichen Einrichtungen »planmäßig qualifiziert werden«.389 In der Hierarchie zwischen Betriebsleiter und den Meistern der »Hilfsabteilungen« (Schlosserei, Formenstube und Hofkolonne) wurde die neue Position des Werksmeisters eingeführt, der für die Instandhaltung der Produktionstechnik und der Werksgebäude verantwortlich sein sollte.390 Mit [Detlef Wenzel] stellte [Meier] im Frühjahr 1976 hierfür einen betriebs- und branchenfremden Maschinenbaumeister ein, dem sich die langjährigen Führungskräfte der »Hilfsabteilungen« unterordnen mussten.391 Diese erneute Reform der Betriebsorganisation sollte den Betriebsleiter [Rudolf Woge] von der »Belästigung« mit »Kleinigkeiten« und »Detailproblemen« des Produktionsalltags befreien und es ihm ermöglichen, sich auf die »sehr viel wichtigeren und größere Priorität besitzenden Arbeiten« (vor allem die Beseitigung der Mängelproduktion) zu konzentrieren.392 Sein Büro wurde aus der Hütte in das Verwaltungsgebäude verlegt, wo er nur noch während der Sprechzeiten

385 Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 30. April 1981, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2; Protokoll Betriebsrat (GHS), 18. Oktober 1982, in: AGI, S. 1. 386 Konzeptpapier, 15. Juni 1976 (s. Anm. 81), S. 1; Geschäftsleitung, 11. und 14. Juni 1976 (s. Anm. 81), S. 1; Protokoll Geschäftsleitungssitzung, 16. Juli 1976 (s. Anm. 63); Geschäftsleitung, 29. September 1976 (s. Anm. 76), S. 1. Siehe Kapitel 5.3. 387 Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 13. Juli 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1. 388 Geschäftsleitung, 20. November 1976 (s. Anm. 378), S. 2; Geschäftsleitung, 24. November 1976 (s. Anm. 79). 389 Hierfür wurden Kurse der Volkshochschule, der IHK, der HWK oder auch der Gewerkschaft ins Auge gefasst. Geschäftsleitung, 11. und 14. Juni 1976 (s. Anm. 81), S. 1; Klausur Geschäftsleitung, 16. Juli 1976 (s. Anm. 63), S. 6f.; Geschäftsleitung, 29. September 1976 (s. Anm. 76), S. 1. 390 [Harald Meier] war sehr unzufrieden, dass Formenstube und Schlosserei den Arbeitsaufwand infolge der erhöhten Anzahl an Produktneuheiten kaum zu bewältigen vermochte. Der »Werkmeister« sollte diesem Missstand Abhilfe schaffen. Geschäftsleitung, 8. März 1976 (s. Anm. 79), S. 2; Geschäftsleitung, 29. September 1976 (s. Anm. 76), S. 2f.; Mitteilung [Harald Meier], 5. Oktober 1976, in: AGI. 391 [Meier], 30. März 1976 (s. Anm. 189), S. 2; [Meier], 5. Oktober 1976 (s. Anm. 390). 392 Geschäftsleitung, 29. März 1976 (s. Anm. 198), S. 2f.; Geschäftsleitung, 22. März 1976 (s. Anm. 76), S. 5.

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aufgesucht werden durfte.393 Die Koordination zwischen technischem Führungspersonal und dem Geschäftsführer sollten regelmäßig durchzuführende Besprechungen gewährleisten. Bei der arbeitsorganisatorischen Rationalisierung verfolgte [Harald Meier] das widersprüchliche Unterfangen, auf Lohnkostensenkung abzielende Strategien der Arbeitsintensivierung mit Strategien der Qualifizierung zu verbinden. Die Reformierung der Glasmacherentlohnung gehörte auch für ihn zu den dringlichsten Anliegen. Zunächst veränderte er die bislang zwischen Werkstellenmeistern, Hüttenmeistern und Betriebsleiter geführten Auspreisungsverhandlungen: Neben den Angaben der Glasmacher sollten nun vor allem die Berechnungen der »Kaufleute« im Unternehmen darüber, wie teuer ein Artikel überhaupt sein durfte oder »wieviel Stück in einer bestimmten Zeit gefertigt werden müssen«, Berücksichtigung finden.394 Auspreisungen fanden nun in kürzeren Abständen statt, um die Akkordentwicklung stärker kontrollieren zu können und den Anteil der Durchschnittsarbeit gering zu halten, der durch die erhöhte Anzahl an Produktneuheiten und den hiermit verbundenen Muster- und Einarbeitungszeiten angestiegen war.395 Die Anreize für »schludrige« Arbeit wollte [Meier] ursprünglich dadurch reduzieren, dass Arbeitsfehler (wie bei Eisch) weder entlohnt noch als Zweite-Wahl verkauft wurden.396 Dieses Vorhaben gab er angesichts der Qualitätsprobleme auf, die – zusammen mit dem erhöhten Verhandlungsaufwand infolge der schnelleren Produkt- und Sortimentsveränderungen – die traditionelle Entlohnung im Gruppenakkord erschwerten. Im Sommer 1978 beschloss die Geschäftsleitung deshalb die schrittweise Einführung eines prämienorientierten Zeitlohns.397 Der Monatslohn aller Werkstellenmitglieder setzte sich nun aus einem »leistungsunabhängigen« fixen Basislohn, einem in Abhängigkeit von der Lohngruppe festgelegten Zuschlag sowie einer qualitätsabhängigen Prämie zusammen.398 Die Einteilung in die Lohngruppen erfolgte nach den Stückzahlvorgaben der Unternehmensleitung.399 Die Hütten- und Werkstellenmeister sollten deren Einhaltung kontrollieren und bei Abweichungen ggf. Neueinstufungen vorschlagen.400 Auf die von der Geschäftsleitung festgelegte Definition der »Normalleistung«

393 Geschäftsleitung, 20. November 1976 (s. Anm. 378), S. 3. 394 Abteilungsleiter, 11. Juni 1976 (s. Anm. 223), S. 4. 395 Klausur Geschäftsleitung, 16. Juli 1976 (s. Anm. 63), S. 3f.; Geschäftsleitung, 13. Juli 1976 (s. Anm. 387), S. 1; Abteilungsleiter, 11. Juni 1976 (s. Anm. 223), S. 3. 396 Geschäftsleitung, 13. September 1976 (s. Anm. 73), S. 1. 397 Geschäftsleitung, 17. März 1977 (s. Anm. 70), S. 4; Geschäftsleitung, 5. Juni 1978 (s. Anm. 70), S. 3; [Scholz], 7. Mai 1982 (s. Anm. 271), S. 1. 398 [Scholz], 7. Mai 1982 (s. Anm. 271), S. 1. 399 Für eine Einstufung in Lohngruppe I mussten die Werkstellenmitglieder 30 Prozent, für Lohngruppe II 25 Prozent und für Lohngruppe III 20 Prozent über der »Normalleistung« liegen, die allein von der Geschäftsführung definiert wurde. 1980 betrug der Basislohn für die Glasmacher 1.825 DM. Glasmacher der Lohngruppe I erhielten hierauf einen Zuschlag von 960 DM, jene der Lohngruppe III einen Zuschlag von 755 DM. Übersicht Lohngruppen (GHS), 1. Februar 1980, in: AGI; Lohntarifvertrag (GHS), 24. September 1981, in: AGI. 400 »Süßmuth. Rettung durch Rückbesinnung auf die Handwerkskunst des Glasblasens«, in: Bilanz, Juli/August 1981, in: AGI; Betriebsrat, 24. Juni 1981 (s. Anm. 271), S. 1f.

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konnten sie und die Glasmacher keinen Einfluss nehmen.401 Die Höhe der Prämie richtete sich nach der Anzahl der Erste- oder Zweite-Wahl-Artikel. Mit dieser Qualitätsprämie sollte – um die Entlohnung »einfach« zu halten – die Differenzierung nach Arbeits- und Glasfehler wegfallen. Dieses Lohnsystem widersprach jeglicher Vorstellung von Lohngerechtigkeit unter den Glasmachern402 und bewirkte einen quantitativen und qualitativen Leistungsrückgang.403 Im Sommer 1982 bereitete die Geschäftsleitung deshalb die Einführung eines »Prämienlohnsystems auf Erste-Wahl-Basis« vor.404 Demnach sollte »für die Leistung der Hütte insgesamt eine durchschnittliche Prämie gezahlt« und »jeder Glasmacher durch seine individuelle Leistung in entsprechende Lohngruppen« eingestuft werden. Doch auch diese Lohnreform blieb erfolglos.405 Ein Jahr später wandte man wieder die traditionelle Praxis des Auspreisens an; fortan legte der Hüttenmeister »in Rücksprache« mit der Verwaltung die »Soll-Stückzahlen« fest.406 Zur Beschleunigung der betrieblichen Arbeitsabläufe setzte die Geschäftsleitung die bereits zuvor begonnene personelle Verdichtung der Werkstellenbesetzung fort.407 Je nach Auftragslage und im Zuge der innerhalb kurzer Zeit mehrfach revidierten Entscheidungen im Bereich Beleuchtungsglas veranlasste sie kurzfristig personelle Umbesetzungen oder gar die Auflösung kompletter Werkstellen.408 Gegen das Schinden ging sie mit Verbot vor.409 Das Recht zur »Privatarbeit« sollte nur jenen Glasmachern zustehen, die sich zum »Mustermachen in der Freizeit« bereit erklärten.410 [Meier] schränkte experimentelles Arbeiten und die Möglichkeiten zur Aus- und Weiterbildung im Rahmen des Fertigungsprozesses weiter ein und bot lediglich vereinzelte »Schulungsmaßnahmen« außerhalb der bezahlten Arbeitszeit an.411 Als der Fachkräftemangel im Betrieb nicht mehr zu ignorieren war, begann die Geschäftsleitung Ende der 1970er Jahre mit den Vorbereitungen zur Gründung einer

401 Der im Sommer 1978 von der Geschäftsleitung festgesetzte Stundenlohn der Glasmacher ging bspw. von einer Normalleistung auf dem Niveau von »130 Prozent der jetzigen Stückzahlen« aus. Folgendes aus Geschäftsleitung, 5. Juni 1978 (s. Anm. 70), S. 3. 402 Siehe Kapitel 5.2. 403 Geschäftsleitung, 3. Dezember 1981 (s. Anm. 384), S. 9f.; [Scholz], 7. Mai 1982 (s. Anm. 271), S. 1. 404 Folgendes aus [Scholz], 7. Mai 1982 (s. Anm. 271), S. 4; Protokoll Produktionsleiterbesprechung (GHS), 18. Februar 1983, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2f. 405 [Scholz], 31. Mai 1983 (s. Anm. 306), S. 4f.; Stellungnahme [Jochen Schmidt], 1. Mai 1983, in: Privatarchiv (c) Immenhausen. 406 Anweisung [Konrad Scholz], 8. Juni 1983, in: Privatarchiv (c) Immenhausen. 407 Dies erfolgte vor allem im Zuge der Ofenstilllegungen 1976/1977 und 1982. Betriebsrat, 18. Oktober 1982 (s. Anm. 385), S. 1; [Scholz], 31. Mai 1983 (s. Anm. 306), S. 4. 408 Siehe bspw. Geschäftsleitung, 22. Mai 1978 (s. Anm. 73), S. 3. 409 Notiz [Harald Meier], 2. April 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen. Die anhaltende Problematisierung des Schindens verweist darauf, dass die Leitung es nicht gänzlich unterbinden konnte. Betriebsrat, 20. September 1982 (s. Anm. 384), S. 1; [Scholz], 31. Mai 1983 (s. Anm. 306), S. 5. 410 [Meier], 2. April 1976 (s. Anm. 409); Geschäftsleitung, 16. Mai 1977 (s. Anm. 224), S. 1. 411 Dennoch erwartete er von den Glasmachern, sich auf die Fertigung »besonders komplizierter Artikel« zu konzentrieren, »nach neuen Verfahren zu arbeiten« und bezüglich Produktumstellungen flexibler zu werden. Geschäftsleitung, 24. November 1976 (s. Anm. 79), S. 3; Abteilungsleiter, 11. Juni 1976 (s. Anm. 223), S. 5.

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»überregionalen Ausbildungsstätte für Glasmacher und Glasschleifer«, womit sie frühere Überlegungen von Richard Süßmuth und der Beschäftigten aufgriff.412 »Eigens hierfür« sollte in der Glashütte Süßmuth ein neuer Ofen gebaut werden.413 Für die Realisierung standen eine bis zu 90-prozentige Übernahme der Investitionskosten und bis zu 50-prozentige Bezuschussung des laufenden Betriebs (als Kompensation für durch die Ausbildung entstandenen Defizite) durch das Bundesinstitut für berufliche Bildung in Aussicht. Als Träger der überbetrieblichen Ausbildungsstätte sollte ein mit anderen Glashütten, der IHK und dem Arbeitgeberverband der Glasindustrie gegründeter gemeinnütziger Verein fungieren. Als dahingehende Verhandlungen gescheitert waren, startete die Glashütte Süßmuth 1981 eine auf den eigenen Betrieb beschränkte Ausbildungsoffensive mit 16 Jugendlichen.414 Bereits im Jahr zuvor hatte sich die Geschäftsleitung darum bemüht, bei Jugendlichen aus der Region mit an jedem zweiten Samstag angebotenen Einführungskursen Interesse für den Beruf des Glasmachers zu wecken oder über das Arbeitsamt vermittelte Arbeitslose in »Schnellkursen« zu Glasmachern auszubilden.415 Rationalisierende Effekte versprach sich die neue Geschäftsleitung insbesondere von einem Personalabbau und der Ausweitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse. Habe sein Vorgänger [Hans Müller] das Unternehmen ökonomisch nicht stabilisieren können, weil er zu weich gewesen sei, griff [Harald Meier] von Anfang an hart durch und begann mit der Korrektur der seiner Meinung nach »völlig schief gelaufenen Personalpolitik der letzten Jahre«.416 [Meier] war der Auffassung, mit wesentlich weniger Personalkosten könne »das gleiche, wenn nicht [sogar] ein größeres Ergebnis erzielt werden«.417 In den der Hütte zu- oder nacharbeitenden Abteilungen sollte nur noch eine »möglichst kleine Kernmannschaft« tätig sein »ausscheidende Mitarbeiter« sollten »auf keinen Fall ersetzt werden.« Zur Bewältigung der saisonalen Mehrarbeit sei auf »kurzfristig einsetzbare Aushilfskräfte« zurückzugreifen. Von Entlassungen betroffen waren zunächst vor allem Beschäftigte, die bereits das Rentenalter erreicht hatten oder kurz davor standen.418 Die meisten konnten, da sie eine lange Betriebszugehörigkeit aufwiesen und in der Regel noch nie eine Abmahnung erhalten hatten, nur zum »Preis einer erheblichen Abfindung« entlassen werden.419 Die Geschäftsleitung beschäftigte deshalb einen 412 Der Zweck der Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung wurde hierum erweitert. Protokoll Vorstand Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung, 15. Dezember 1978, in: AGI. Siehe Kapitel 1.4, Kapitel 5.3 und Kapitel 9.1. 413 Folgendes aus Aufsichtsrat, 23. August 1979 (s. Anm. 69), S. 1f. 414 Geschäftsbericht Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung 1981, 24. August 1982, in: AGI, S. 1; Stiftungsvorstand, 12. Juli 1984 (s. Anm. 55), S. 2; Protokoll Betriebsratssitzung, 17. August 1981, in: AGI; »Glas hat Zukunft. Unternehmen hofft auf Zusammenarbeit«, in: HNA, 4. August 1981, in: AGI. 415 Aushang [Harald Meier], 20. Mai 1980, in: AGI; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 15. Januar 1981, in: Privatarchiv (c) Immenhausen. 416 Geschäftsleitung, 29. September 1976 (s. Anm. 76), S. 3f.; [Harald Meier] an Charlotte Tangerding, 4. Mai 1977, in: AGI. 417 Folgendes aus Geschäftsleitung, 13. Dezember 1976 (s. Anm. 187), S. 1. 418 Geschäftsleitung, 8. März 1976 (s. Anm. 79), S. 5f.; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 16. November 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2; Geschäftsleitung, 13. Dezember 1976 (s. Anm. 187), S. 1f. 419 Geschäftsleitung, 29. September 1976 (s. Anm. 76), S. 3f.

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Teil der Belegschaft in der Wilhelmsthal GmbH mit neuen Arbeitsverträgen weiter.420 Für die sogenannten Handwerkshöfe versuchte sie »so viel wie möglich freie Mitarbeiter zu gewinnen«.421 Langjährigen Beschäftigten, die sich wie [Paul Nowak] oder [Frank Weber] mit großem persönlichen Engagement für den Betrieb eingesetzt hatten, wurde nahegelegt, in unsichere bzw. prekäre Beschäftigungsverhältnisse zu wechseln.422 Der ursprünglich sehr viel weitreichendere Plan, in der Glashütte Süßmuth den Konkurs zu eröffnen und nur einen Teil der Belegschaft – unter Inanspruchnahme staatlicher Eingliederungshilfen – in einer Auffanggesellschaft neu anzustellen, scheiterte infolge der Intervention lokaler IG-Chemie-Funktionäre beim Arbeitsamt.423 Realisiert wurde dieses Vorhaben Ende der 1980er Jahre, als die Geschäftsleitung mit neuen Investoren verhandelte und hierdurch die Attraktivität zur Übernahme des Unternehmens zu erhöhen gedachte.424 Insgesamt lancierte die Süßmuth-Geschäftsleitung nach der Selbstverwaltung in weitaus größerem Umfang, als dies für die Vergleichsunternehmen überliefert ist, eine Flexibilisierung des Faktors Arbeit in Anpassung an sukzessive reduzierte Produktionskapazitäten. Zu einer fast dauerhaften Einrichtung entwickelte sich die Sechstagewoche durch Wiedereinführung von Samstagsarbeit in Verbindung mit einer Reduzierung der täglichen Arbeitszeit durch Kurzarbeit oder Teilzeitbeschäftigung.425 Teils wurde in einem Schichtversatzsystem gearbeitet, ähnlich dem, das die Belegschaftsgremien einst temporär eingeführt hatten.426 Nach der Umstellung auf den Einofenbetrieb plante der neue Geschäftsführer [Konrad Scholz] die Ausweitung der Arbeitszeit auf eine Siebentagewoche.427 Die Gesellschafterin Neuguss forderte im Frühjahr 1983 eine »flexible Arbeitszeitregelung«, die es der Geschäftsleitung »erlaubt, die durchschnittliche Wochen-Arbeitszeit« – je nach Auftragslage und ohne Lohnausgleich – von 40 »auf 30 Stunden zu reduzieren«.428 Wie die zuvor geschäftsführenden Gremien nahmen 420 Siehe Auflistung von knapp 40 Mitarbeiter*innen aus nahezu allen Abteilungen, die schrittweise in die Wilhelmsthal GmbH »umgesetzt« werden sollten. Geschäftsleitung, 17. März 1977 (s. Anm. 70), S. 4f. 421 [Meier], 26. Februar 1981 (s. Anm. 210), S. 3. 422 Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 11. Februar 1980, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2–4; Produktionsleiterbesprechung, 18. Februar 1983 (s. Anm. 404), S. 4. 423 [Harald Meier] an Charlotte Tangerding, 23. Mai 1977, in: AGI. 424 Siehe Kapitel 9.1. 425 Da Samstagsarbeit gegen geltendes Arbeitsrecht verstieß, musste sich die Geschäftsleitung hierfür immer wieder die Zustimmung der Belegschaft bzw. des Betriebsrats einholen. Siehe Protokolle der Geschäftsleitungssitzung, November 1976 bis November 1978, in: Privatarchiv (c) Immenhausen; Aufsichtsrat, 23. August 1979 (s. Anm. 69), S. 3f.; Notiz [Harald Meier], 24. Juli 1980, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 3; Betriebsrat, 24. Juni 1981 (s. Anm. 271), S. 2f.; Protokoll Betriebsrat (GHS), 12. Februar 1982, in: AGI; Protokoll Betriebsrat (GHS), 3. März 1983, in: AGI; [Klaus Boehm] an Horst Mettke und Werner Beck, 13. September 1983, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2; Betriebswirtschaftliche Unterlagen der Süssmuth Glasmanufaktur GmbH&Co KG, 1993–1995, in: AGI. 426 [Scholz], 18. Juni 1982 (s. Anm. 218), S. 1; Betriebsrat, 3. März 1983 (s. Anm. 425). Siehe Kapitel 5.3. 427 Horst Seidenfaden, »Nach ›Magerkur‹ bei Süssmuth soll Belegschaft auf 120 schrumpfen. Ein Ofen abgeschaltet – 300.000 DM Verlust wird in diesem Jahr erwartet«, in: HNA, 16. November 1982, in: AGI. 428 Produktionsleiterbesprechung, 18. Februar 1983 (s. Anm. 404), S. 2; Zitat aus [Scholz], 31. Mai 1983 (s. Anm. 306), S. 4; [Rudolf Betz] an Treuarbeit, 8. April 1983, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 1.

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auch die neuen Entscheidungsträger an, durch solche die Rechte und Interessen der Beschäftigten verletzenden Arbeitsflexibilisierungen und trotz der Stilllegung von Öfen die Produktivität auf gleichem Niveau halten zu können.429 Im Zuge dieser Rationalisierungsmaßnahmen sowie infolge (konfliktbedingter) Degradierungen und tarifpolitischer Deregulierungen mussten die Beschäftigten relative und absolute Einkommenskürzungen hinnehmen.430 Die Geschäftsleitung weitete nach der Selbstverwaltung den Modus des Verzichts auf tarifliche Einkommenserhöhungen und Leistungen wie Weihnachts- und Urlaubsgelder sowie Überstundenzuschläge aus.431 Die Ausbildungsvergütung wurde um mindestens zehn Prozent gekürzt.432 Mit dem Verbot des Schindens für den Eigenbedarf, den Mieterhöhungen in den verbliebenen betriebseigenen Wohnungen, der Einschränkung günstiger Konditionen beim Kauf firmeneigener Produkte und der Verpachtung der Betriebskantine an externe Betreiber beseitigte die neue Geschäftsleitung sämtliche in der Glasbranche tradierten Formen nicht-monetärer Entlohnung und Gewohnheitsrechte der Beschäftigten.433 Die letzten Relikte Süßmuths betrieblicher Sozialpolitik waren nach der Selbstverwaltung vollends dem Sparkurs zum Opfer gefallen.

Bewährung und Bewertung der Rationalisierungsstrategien Im Kontrast zur marketingstrategischen Betonung des »handwerklichen Charakters« der Mundglasfertigung begannen die meisten Unternehmensleitungen ihre Entscheidungen am Leitbild der mass production auszurichten. Die neuen branchenfremden Methoden der Rationalisierung brachten in den Vergleichsunternehmen ähnliche Probleme mit sich, wie für die Glashütte Süßmuth bereits aufgezeigt.434 Der Mundglasfertigung unangepasste Technik verursachte auch bei Hirschberg und Buder massive Anwendungsschwierigkeiten, sie wurde zum Hindernis und musste oftmals wieder außer Betrieb genommen werden.435 Für Hirschberg ist überliefert, dass die mit einer zentra-

429 Protokoll Betriebsrat (GHS), 10. Mai 1982, in: AGI, S. 2. 430 Zu den verschärften Formen der Disziplinierung siehe Kapitel 9.4. 431 Geschäftsleitung, 13. September 1976 (s. Anm. 73); Konzeptpapier, 31. Januar 1978 (s. Anm. 69); Lohntarifvertrag, 24. September 1981 (s. Anm. 399); Protokoll Tarifkommissionssitzung, 19. August 1982, in: AGI. Protokolle Betriebsratssitzungen (GHS) am 11. Juni 1980, 25. November 1980, 9. Juni 1981, 14. Oktober 1981, 20. September 1982 und 2. Februar 1983, in: AGI. [Konrad Scholz] stellte im Februar 1983 sogar die Überlegung an, gar keine Überstunden mehr zu entlohnen ebenso wenig wie Betriebsratssitzungen, Hafeneinfahrten und sonstige »Extras«. Produktionsleiterbesprechung, 18. Februar 1983 (s. Anm. 404), S. 3f. 432 [Klaus Boehm] an Karl Hauenschild, 18. März 1982, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. 433 [Meier], 2. April 1976 (s. Anm. 409); Geschäftsleitung, 29. März 1976 (s. Anm. 198), S. 5; [Meier], 1. April 1976 (s. Anm. 229); Abteilungsleiter, 11. Juni 1976 (s. Anm. 223), S. 5; Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 24. August 1976, in: AGI. 434 Siehe Kapitel 5. 435 Bei Hirschberg traf dies für die Eintragbänder zu, in denen die Facharbeiter der GHS »keine nachahmenswerte Anlage« sahen. Bei Buder mussten der Press-»Automat mit vier Stationen« und die »Förderbänder« zwischen Schmelz- und Kühlofen wieder »ausgemustert« bzw. »abgerissen« werden. Abteilungsleiterkonferenz, 24. Mai 1971 (s. Anm. 335); Raimann etc., 27. Mai 2013 (s. Anm. 141), S. 35f.

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len Steuerung versehene neue Hafenofenanlage eine Verschlechterung der Glasqualität und Produktionsverluste verursachte.436 Das periodisch verlaufende und mit unvorhersehbaren Unregelmäßigkeiten behaftete Stoffgewinnungsverfahren in Hafenöfen, in denen gleichzeitig unterschiedliche Glassorten mit jeweils spezifischen Rohstoffgemengen und Temperaturverläufen geschmolzen wurden, setzte einer zentralen Steuerung – sei sie »automatisch«, »elektronisch« oder manuell – enge Grenzen. Eine Maschinisierung der Stoffformung war an diesem Ofentyp deshalb nicht sinnvoll. Das nicht eingelöste Versprechen, auch an Hafenöfen die Voraussetzung zur Anwendung »halb-/automatischer« Regelungstechniken zu schaffen und dadurch die Temperaturverläufe präziser kontrollieren zu können, schien ein gewichtiger Grund für die in den 1960er Jahren mitunter überstürzten Energieträgerwechsel gewesen zu sein.437 Die Einführung von Maschinen-Werkzeug-Technik zog oftmals technische Neuerungen nach sich, die die Fähigkeit der Unternehmen, mit einer wechselnden Angebotsvielfalt und in kleineren Stückzahlen auf quantitative wie qualitative Nachfrageschwankungen reagieren zu können, weiter einschränkten. So musste bei einer »automatischen« Dekorschleifmaschine – im Gegensatz zum manuell bedienten Schleifgerät – der Glasartikel »auf den Millimeter genau stimmen«, was bei der Stoffformung höchste Präzision erforderte.438 Weil Holzformen im Kontakt mit dem heißen Glas ausbrannten und deshalb die hiermit geformten Artikel geringfügige Abweichungen aufwiesen, waren Hirschberg und Buder gezwungen, (verstärkt) Einblasformen aus Graphit oder Eisen anzuwenden.439 Diese waren haltbarer als Holzformen, ihre Herstellung jedoch mit einem größerem Aufwand bzw. höheren Kosten verbunden, die – wie auch der Einsatz von Spezial-Maschinen in der Weiterverarbeitung oder Veredelung – Produktwechsel verteuerten.440 Während bei Hirschberg Anfang der 1970er Jahre nicht weiter investiert wurde, folgte bei Buder die Anschaffung von Kopiermaschinen und mit der Umstellung auf den Wannenofenbetrieb schließlich auch die Maschinisierung der Stoffformung. Mit dem Zwei- bzw. Dreischichtbetrieb am Wannenofen konnte Buder die Produktivität zunächst beachtlich steigern. Die Dauernutzung führte jedoch zur Überhitzung der Maschinen und zur Verschlechterungen der Glasqualität; schließlich häuften sich 436 Protokoll Besprechung Hirschberg, 20. September 1971 (s. Anm. 273), S. 2; IG Chemie Gießen, 21. September 1971 (s. Anm. 273); Protokollnotiz Besprechung Hirschberg, 20. Oktober 1971 (s. Anm. 130), S. 3; Protokoll Besprechung Hirschberg, 22. November 1971 (s. Anm. 12), S. 7f. 437 Hans Joachim Hirsch, »Beheizung eines Hafenofens der Rundofenbauart mit Flüssiggas«, in: Glastechnische Berichte 3 (1965), S. 92–98. Siehe Kapitel 1.2. 438 Kleiner, 13. November 2014 (s. Anm. 335), S. 10f. Computergesteuerte Schleifmaschinen, die im Gegensatz zu solchen mit pneumatischer Steuerung Abweichungen an den Glasartikeln erkennen und dementsprechend beim Dekor berücksichtigen konnten, wurden erst Mitte der 1990er Jahre entwickelt. Willett, Die Glasindustrie (s. Anm. 136), S. 338, 409. 439 Im Gegensatz zu Hirschberg, wo bis dahin »überwiegend« Holzformen angewandt wurden, kamen Eisenformen bei Buder im manuellen Pressverfahren auch schon vorher zum Einsatz. Kleiner, 13. November 2014 (s. Anm. 335), S. 10; Raimann etc., 27. Mai 2013 (s. Anm. 141), S. 12. 440 Auch die Vereinigten Farbenglaswerke Zwiesel arbeiteten nach einigen Versuchen mit Eisenformen weiterhin vorrangig mit Holzformen. Anneli Kraft, Die Entwicklung des Gebrauchsglases von der manuellen zur maschinellen Herstellung am Beispiel der Kelchglasherstellung der Vereinigten Farbenglaswerke AG in Zwiesel von 1954 bis 1972, Hamburg 2015, S. 93.

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die Ausfälle.441 In dem Maße, wie sich in den 1980er Jahren im Bereich Bleikristall die Wettbewerbsbedingungen verschärften – sei es durch neue Umweltschutzauflagen, die Kontroverse über mögliche Gesundheitsrisiken im Gebrauch von Bleikristallgläsern oder die zunehmende Konkurrenz anderer maschinell produzierender Bleikristallglashütten442  –, bekam Buder die Konsequenzen der durch die Schmelzwanne und die maschinisierte Stoffformung eingeschränkten Flexibilität zu spüren. Glashütten mit Hafenöfen konnten sich im verschärften Wettbewerb dagegen mit verschiedenen Glassorten und wechselnden Produktformen in auch sehr kleinen Serien behaupten; Sortimentsveränderungen waren durch Neuzusammensetzungen des Gemenges je Hafen oder dem Auswechseln der eigenproduzierten Einblasformen mit einem vergleichsweise geringen Aufwand möglich. Die von Otto Moritz beschriebene Substitution von Hafen- durch Wannenöfen traf also für die Mundglasbranche auch in den 1970er und 1980er Jahre nicht zu.443 Das Verschwinden der Hafenöfen aus der bundesdeutschen Glasbranche war – wenn nicht Teil von fehlgelagerten Rationalisierungsstrategien wie bei Buder – vielmehr dem Mundglashüttensterben geschuldet. Ähnlich enge Grenzen wie einer Lohnkosten senkenden Technik waren in der Mundglasfertigung einer Energiekosten einsparenden Technik gesetzt. Diese traten im Fall Süßmuth beim vergeblichen Versuch die Wärmerückgewinnungsanlage in Betrieb zu nehmen zutage; ihr Aufbau blieb mit technischen Problemen verbunden und störte die Arbeitsabläufe.444 Angesichts steigender Energiepreise experimentierten auch andere Unternehmen mit energieeffizienten Techniken, die bei Hafenofenanlagen jedoch selten Erfolge brachten.445 Dies galt ebenso für Versuche, durch Gebläse über der Arbeitsbühne an den Öfen die Hitzebelastungen für die Glasmacher zu reduzieren.446 441 »Diese Maschinen« seien für die Fertigung von Bleikristall, das »zu lange eine Hitze speicherte«, nicht geeignet gewesen, sondern nur »für [minderwertigeres] Wirtschaftsglas«. Raimann etc., 27. Mai 2013 (s. Anm. 141), S. 7f., 28f. 442 Siehe Willett, Die Glasindustrie (s. Anm. 136), S. 162–185, 406–408; Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 9), S. 159–165; Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 73–76; Kleiner, 13. November 2014 (s. Anm. 335), S. 8. 443 Auch die vermeintliche Ablösung von Holz- durch Eisenformen traf – wie gezeigt – für die Mundglasbranche nicht zu. Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 9), S. 96–100, 154. 444 »Süssmuth-Information. Ein Informationsblatt für unsere Mitarbeiter«, 7. Mai 1981, in: AGI, S. 1; Geschäftsleitung, 4. Juni 1981 (s. Anm. 225), S. 4; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 25. Juni 1981, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1f. 445 Energiesparende Techniken wie bspw. Isoliermaßnahmen oder eine verbesserte Wärmerückgewinnung konnten an Hafenöfen nicht erfolgreich angewendet werden, da hierdurch die »periodische Fahrweise behindert oder unmöglich gemacht« wurde. Wolfgang Trier, Glasschmelzöfen. Konstruktion und Betriebsverhalten, Berlin u.a. 1984, S. 249f.; Ebenso Breit, 19. März 1987 (s. Anm. 275), S. 18. 446 Solche Luftduschen wurden laut Georg Goes während der Zwischenkriegszeit »in mehreren Betrieben« der Glasindustrie als eine Maßnahme zur Arbeitserleichterung eingeführt. In den hochwertiges Wirtschaftsglas fertigenden Mundglashütten kamen sie allerdings nicht zur Anwendung, da sie das Erzielen der für die Umformung am Ofen benötigten Temperatur erschwerten und damit die Qualität der Produkte beeinträchtigten. Dahingehend fehlgeschlagene Versuche sind von der selbstverwalteten GHS wie auch für Theresienthal überliefert. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 331), S. 102, 130.; Kapitel 5.1; Notiz der Autorin zur Betriebsbesichtigung in der Kristallglasmanufaktur Theresienthal, 5. August 2018, im Besitz der Autorin.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

Die Flexibilität in der Produktion wurde durch solche technischen Fehlschläge ebenso eingeschränkt wie durch branchenfremde Methoden der arbeitsorganisatorischen Rationalisierung. Heftige Auseinandersetzungen zwischen Belegschaftsvertretung und Unternehmensleitung begleiteten insbesondere die Einführung neuer Leistungslohnsysteme.447 Dahingehende Reformen fanden meist keinen erfolgreichen Abschluss.448 Konflikte resultierten aus dem Paradoxon, dass die Unternehmensleitungen diese Reformen zwar mit der Notwendigkeit einer stärker leistungsabhängigen Entlohnung begründeten, gerade damit jedoch die Entlohnung von der individuellen Leistung der Beschäftigten lösten.449 Indem allein das Führungspersonal die Leistungsvorgaben definierte, die bislang mit der Belegschaftsvertretung ausgehandelt wurden, erfolgte eine Koppelung der Entlohnung an den Unternehmenserfolg bzw. vielmehr an die Verluste, die den Glasmachern – beispielsweise durch die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Glas- und Arbeitsfehler – faktisch in Rechnung gestellt wurden. Die nicht von ihnen zu verantwortenden Schwierigkeiten in der Produktion, die Kosten einer erhöhten Ausschussquote oder auch die (je nach Auftragslage) kurzfristig vorgenommenen Personal- oder Produktumstellungen an den auf eingespielte Zusammenarbeit angewiesenen Werkstellen wurden den Glasmachern als vermeintlich individueller Leistungsabfall vom Lohn abgezogen. Ebenso wie die zum Zwecke der Beschleunigung vorgenommene personelle Verdichtung und Vertiefung der Arbeitsteilung an den Werkstellen schufen diese neuen Formen der Leistungsentlohnung zudem falsche, das heißt auf Geschwindigkeit statt auf sorgfältige Arbeit abzielende Anreize. Das Arbeitstempo und die quantitative Produktivität ließen sich hierdurch zwar erhöhen, in der Regel ging damit allerdings ein rasanter Anstieg der Ausfall- und Mängelproduktion einher, der sich wiederum zwangsläufig auch in einem Anstieg des Lohnkostenanteils niederschlug.450 In der Glashütte Süßmuth konnten die mit mehr Kompetenzen ausgestatteten betrieblichen Führungskräfte diese Entwicklung nicht aufhalten. Das »Drei-Hütten-

447 Siehe Unterlagen des Betriebsrats (Hirschberg), 1972–1973, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner; [Günter Nowak], 10. November 2014 (s. Anm. 11), S. 10; Abteilungsleiter, 11. Juni 1976 (s. Anm. 223), S. 3; Betriebsrat, 24. Juni 1981 (s. Anm. 271). 448 Seit Mitte der 1970er Jahre versuchte Buder, ein Prämienlohnsystem einzuführen, aber noch 1983 war die Abschaffung des alten Stückakkordsystems scheinbar lediglich Bestandteil von Planungen der Unternehmensleitung. [Meier], 28. März 1977 (s. Anm. 149); Unternehmenschronik Buder (s. Anm. 19), S. 7. 449 Besonders augenfällig war die Entkoppelung der Entlohnung von der individuellen Leistung durch pauschale Abpreisungen, die die Geschäftsleitung der GHS bspw. im März 1976 und im März 1979 vornahm, oder durch die ebenfalls allein von der Geschäftsleitung vorgenommene Neueinstufungen der Glasmacher in eine reduzierte Anzahl von Lohngruppen, wie im Dezember 1981. Geschäftsleitung, 22. März 1976 (s. Anm. 76), S. 1; Geschäftsleitung, 29. September 1976 (s. Anm. 76), S. 7; [Meier], 2. März 1979 (s. Anm. 217); Geschäftsleitung, 3. Dezember 1981 (s. Anm. 384), S. 9f. Siehe Kapitel 5.2. 450 Im September 1976 bezeichnete Erich Eisch das »Tempo der Glasmacher« der GHS als »flott«. Bei Hirschberg wurde zwischen 1958 und 1970 die Arbeitsproduktivität um 14,7 Prozent gesteigert. [Meier], 30. September 1976 (s. Anm. 150); Protokoll Besprechung Hirschberg, 22. November 1971 (s. Anm. 12), S. 5. Zu den bei Süßmuth und Hirschberg zugleich zunehmenden Qualitätsproblemen siehe Kapitel 9.2.

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meister-System« wurde daher bereits ein halbes Jahr nach seiner Formalisierung wieder abgeschafft.451 Alleiniger Hüttenmeister wurde der Betriebsratsvorsitzende [Jochen Schmidt], dem der vormalige Hüttenmeister [Gerhard Schinkel] nunmehr unterstellt war. Der Betriebsleiter [Woge] übernahm wieder die »direkte Verantwortung für die Produktion«, ihm waren sämtliche Meister und Abteilungsleiter untergeordnet.452 Auf den kurzzeitigen Ansatz einer Dezentralisierung folgte also wieder eine Zentralisierung in der Betriebsorganisation, deren Reform ebenso wie die der gesamten Unternehmensorganisation ein Dauerzustand blieb.453 Mit der Unterscheidung zwischen »Kleinkram« und »Hauptproblemen« war die Komplexität der Ursachen für die Mängelproduktion nicht zu erfassen; ebenso wenig ließen sich diese von einzelnen Führungskräften bzw. von zentraler Stelle aus beheben. Statt klare Zuständigkeiten im Unternehmen zu schaffen, war es zu einer umfassenden Verantwortungsdiffusion gekommen: Die erneut fehlgeschlagene Zentralisierung der Betriebsführung überforderte das Führungspersonal, das zur Behebung der vielfältigen Missstände »keine Zeit« hatte oder sich dafür nicht verantwortlich fühlte.454 Besonders fatal wirkte sich der sukzessive (in rationalisierender Absicht forcierte) Personalabbau aus. Mit den bei Süßmuth, Hirschberg oder Buder vorgenommenen Entlassungen älterer Beschäftigter ging wertvolles Erfahrungswissen unwiederbringlich verloren, das nicht nur Facharbeiter, sondern auch Nicht-Facharbeiter*innen besaßen. Nachdem [Harald Meier] 1976 und 1977 vielen Beschäftigten der Weiterverarbeitung gekündigt hatte und 1978 wieder neues Personal einstellte, musste er erstaunt feststellen, »dass die Anlernzeit neuer Mitarbeiter gerade in diesem Bereich recht erheblich ist.«455 Als ähnlich kurzschlüssig erwies sich seine Abwehr von Forderungen nach Lohnerhöhung und Auszahlung des Weihnachtsgeldes unter Inkaufnahme eines »Aderlasses insbesondere im Kölbelmacherbereich«, handelte es sich doch hier um den betriebsinternen Glasmachernachwuchs.456 Der trotz Arbeitskräfte- und Nachwuchsmangel betriebene Personalabbau führte zu einer Überbeanspruchung der Beschäftigten; langjährige Fachleute mussten Hilfsarbeiten ausführen oder Produktionskapazitäten konnten nicht voll ausgelastet werden, weil »immer wieder Einträger fehlen«.457 Als Ersatz herangezogen wurden hierfür oftmals Auszubildende. Von den knapp 20 jungen Menschen, die Anfang der 1980er Jahre in der Glashütte Süßmuth zu arbeiten begannen, 451 Folgendes aus Geschäftsleitung, 29. März 1977 (s. Anm. 70). 452 Geschäftsleitung, 20. September 1977 (s. Anm. 216), S. 4f. 453 1979 wurden die Zuständigkeiten unter den Führungskräften erneut neu verteilt, die eine weitere Zentralisierung implizierten, um »die Organisation und Produktivität des Betriebes und der Abteilungen effektiver zu gestalten.« Der im Sommer 1982 berufene Geschäftsführer [Konrad Scholz] versprach den Abbau von Hierarchien, wovon er jedoch im Zuge der ersten Konflikte mit den Beschäftigten wieder Abstand nahm. Aufsichtsrat, 23. August 1979 (s. Anm. 69), S. 4; [Scholz], 7. Mai 1982 (s. Anm. 271). Siehe Kapitel 9.4. 454 Protokoll Betriebsrat (GHS), 9. Juni 1981, in: AGI; Protokoll Betriebsrat (GHS), 25. November 1982, in: AGI. 455 Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 6. November 1978, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2. 456 Geschäftsleitung, 22. Mai 1978 (s. Anm. 73), S. 1. 457 Protokoll Betriebsratssitzung, 17. August 1981 (s. Anm. 414), S. 2; Betriebsrat, 25. November 1982 (s. Anm. 454), S. 1; Einspruchserklärung Betriebsrat (GHS), 13. Oktober 1982, in: AGI; Ebenso Protokoll Betriebsrat (GHS), 3. November 1982, in: AGI.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

hatte nach nicht einmal zwei Jahren mehr als die Hälfte nach Protest den Betrieb wieder verlassen.458 Erfolgreich verlief dagegen die betriebliche Rationalisierung in den Glashütten Eisch und Wiesenthal, deren Unternehmensleitungen die betrieblichen Fachexpertise und Erfahrungswerte bei der Anwendung und Weiterentwicklung der Produktionstechnik zu nutzen verstand. Bewährt hatten sich technische Neuerungen, die in erster Linie auf bessere Bedingungen für die Fertigung einer Artikelvielfalt in hoher Qualität und auf eine Erleichterung der Arbeitsabläufe abzielten und auf diesem Weg die Lohn-, Energieoder Materialkosten senkten und Rentabilität erhöhten. Mit der Kombination mehrere kleinerer, jeweils leichter (und dezentral) zu regulierender Öfen war diesen Firmen eine an ihr Sortiment angepasste fertigungstechnische Flexibilisierung gelungen. Erhöht hatten sich hierdurch die Kapazitäten für die Schmelze spezieller Glassorten, die sich für das Nebeneinander an einem großen Hafenofen nicht eigneten oder wie im Fall Süßmuth nur unter Inkaufnahme schlechterer Arbeitsbedingungen und Qualitätsmängel an einem solchen gefertigt werden konnten.459 Die technischen Möglichkeiten für Arbeitserleichterungen waren in einer Mundglashütte generell gering, in der Glashütte Eisch dennoch Anspruch bei der Technikentwicklung. Für Eisch und Wiesenthal ist nicht überliefert, dass Rationalisierungsmaßnahmen die Arbeitsbedingungen derart verschlechterten, wie dies in den meisten anderen Unternehmen der Fall war. Die Gewährung bzw. Erweiterung von Möglichkeiten der Mitsprache und experimentellen Gestaltung dürfte vielmehr aus Perspektive der Beschäftigten eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen dargestellt haben. Wichtigste Voraussetzungen für den Erhalt und die Erhöhung der Flexibilität in der Qualitätsproduktion waren gut ausgebildete Fachkräfte und die Arbeitsdisziplin in der Belegschaft. Kontinuierliche Investitionen in die Nachwuchsförderung zahlten sich daher ebenso aus wie eine Betriebsführung, die auf Akzeptanz in der Belegschaft setzte und deren Interessenvertretung weiterhin Einflussmöglichkeiten bei Rationalisierungsentscheidungen oder der Lohngestaltung gewährte. Der Erfolg der auf Qualifizierung und Kooperation ausgerichteten (und in der Mundglasbranche bislang üblichen) Formen der Arbeitsorganisation wirkte sich in der Glashütte Eisch in einer vergleichsweise niedri-

458 Die Auszubildenden der GHS hatten – weil der Lehrplan in vielerlei Hinsicht nicht eingehalten wurde – zusammen mit der Gewerkschaft 1982 eine Klage bei der IHK eingereicht. Siehe Protokoll Betriebsrat (GHS), 9. Dezember 1981, in: AGI; Protokoll Betriebsrat (GHS), 14. September 1982, in: AGI; Beschwerde der Auszubildenden an Geschäftsführung der GHS, 5. Oktober 1982, in: AGI. Im März 1983 reduzierte die Geschäftsleitung die Zahl der »Ausbildungsplätze von 20 auf sieben«. »Grüne machen sich für Glashütte Süßmuth stark. Ausbildungsplätze durch Vorschaltgesetz sichern«, in: HNA, 3. März 1983, in: AGI; Aufsichtsrat, 29. Juni 1988 (s. Anm. 112). 459 In der GHS wiederholte die Geschäftsleitung die Fehlentscheidung, die Stilllegung eines Ofens durch eine dichtere Belegung der verbleibenden Produktionskapazitäten zu kompensieren. Ähnlich wie 1974 bei der Umstellung vom Dreiofen- auf den Zweiofenbetrieb kam es 1982 bei der Umstellung vom Zweiofen- auf den Einofenbetrieb zu »erheblichen technischen Schwierigkeiten«. Der reduzierte »Frischluftanteil« und die hierdurch »verstärkte Hitzeentwicklung« verschlechterte sowohl die Arbeitsbedingungen als auch die Qualität der Produkte. Betriebsrat, 10. Mai 1982 (s. Anm. 429), S. 2f.; Treuarbeit, 16. März 1983 (s. Anm. 103). Siehe Kapitel 5.1.

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gen Ausfallquote aus.460 Als einziges unter den Vergleichsunternehmen hatte Eisch in den 1980er Jahren weiterhin kontinuierlich steigende Beschäftigtenzahlen zu verzeichnen, was auf eine erfolgreiche Unternehmensexpansion und auf kooperative Arbeitsbeziehungen verwies. Die Stilllegung der Wiesenthalhütte Anfang 1991 ging hingegen auf das Konto der nach Klaus Breits Pensionierung von Schott neu ernannten Geschäftsführung, die »glaubte, durch technische Neuerungen und Änderungen jahrzehntelange Erfahrung ersetzen zu können«.461

Revision zeitgenössischer Deutungen Mit Ausnahme der Glashütte Buder stellte keines der Vergleichsunternehmen den Betrieb auf maschinelle Fertigung um, weil dies für Mundglashütten keine ökonomisch sinnvolle Option war. Denn diese Entscheidung war mit dem Eintritt in ein seit Anfang der 1970er Jahre von Überproduktion sowie starkem Konkurrenz- und Preiskampf geprägtes Marktsegment verbunden, in dem tendenziell der Zwang zum nicht-kostendeckenden Verkauf bestand, um Marktanteile zu erobern und zu halten.462 Auch stand ein maschinelles Äquivalent, das die Qualität und Flexibilität des manuellen Verfahrens zu gleichen oder gar geringeren Kosten gewährte, gar nicht zu Verfügung.463 Die Beibehaltung der Mundglasfertigung war daher weniger den begrenzten Kapitalressourcen oder gar einer vermeintlich technologischen Rückständigkeit kleinerer Unternehmen geschuldet, sondern wettbewerbsbedingt. Damit sie eine wachsende, heterogene und fluktuierende Nachfrage nach hochwertigen Produkten bedienen konnten, unterhielten selbst große Konzerne der Branche – Schott, Rosenthal, WMF, Ritzenhoff oder Hutschenreuther – neben maschinellen weiterhin manuelle Produktionsstätten.464 Die in den meisten Mundglashütten ergriffenen branchenfremden und auf kurzfristige Kosteneffekte abzielenden Rationalisierungsmaßnahmen zerstörten indes die

460 Die Ausfallquote habe hier 1976 lediglich 15 Prozent betragen. Erich Eisch wiedergegeben in [Meier], 30. September 1976 (s. Anm. 150). 461 Geschler, 28. Dezember 1990 (s. Anm. 98); Ähnlich Notiz Klaus Breit, 5. Oktober 1990, in: mkp.GlA 1-Wies.60 B2, S. 2. 462 Glas- und Porzellan-Telegramm, August 1971 (s. Anm. 130); Pressemitteilung Gral-Glashütte, Februar 1973 (s. Anm. 130); Hucke, Quo vadis Glasindustrie? (s. Anm. 5); Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 9), S. 136–138, 193–195. 463 Zu dieser Erkenntnis gelangte die VEBA Glas-Leitung erst nach umfangreichen Rationalisierungsbemühungen im Kristallglaswerk Hirschberg. Protokoll Besprechung Hirschberg, 22. November 1971 (s. Anm. 12), S. 5; Ähnlich Breit, November 1982 (s. Anm. 5), S. 3; Sie war auch in den 1990er Jahren noch gültig. Siehe Willett, Die Glasindustrie (s. Anm. 136), S. 79. Voraussetzung für eine Maschinisierung der Stoffgewinnung und -formung von Glas war der Einsatz von Wannenöfen, die zwangsläufig eine Verengung des Produktionsprogramms nach sich zog. In der brandenburgischen Glashütte Baruth zog die Umstellung von Hafen- auf Wannenofenbetrieb in den 1950er Jahre eine Produktstandardisierung nach sich wie auch in der Glashütte Stubbe, wo sie – anders als jene in der Planwirtschaft – in den Konkurs führte. Siehe Kapitel 1; Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 331), S. 83, 134; Friedrich Brinkmann-Frisch und Heinrich Wegener, Ausstellungskatalog Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Stadtmuseum Allendorf, Marburg 2011, S. 108. 464 Siehe Kraft, Kelchglasherstellung (s. Anm. 440), S. 70–81; Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 9), S. 136, 138.

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Voraussetzungen für die Qualitätsproduktion. Als Folge und Kompensation von Fehlentscheidungen investierten Geschäftsleitungen oftmals gar nicht mehr in den Bereich der Produktion; selbst die regelmäßig notwendigen Instandhaltungen unterließen sie. Statt zu einer produktionstechnischen und organisatorischen Flexibilisierung kam es in diesen Unternehmen nur noch zu einer Flexibilisierung des Faktors Arbeit. Mit der Anpassung der Arbeitszeiten, der Entlohnung oder des Personalbestands jenseits der Facharbeiterschaft an die jeweiligen Produktionskapazitäten und Auftragslagen zur Überbrückung temporärer Engpässe und saisonaler Schwankungen aktualisierte sich eine bis ins 19. Jahrhundert im Glashüttenwesen übliche Strategie der Unternehmensführung, die einst von der erstarkenden Arbeiterbewegung zurückgedrängt wurde, was wiederum von deren Schwäche im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zeugte.465 Indem Produktivitätssteigerungen allein über die Arbeitskraft in Form erhöhter Arbeitsanforderungen und parallel dazu Einsparungen vorrangig auf Kosten der Belegschaft erzielt wurden, nahm die betriebliche Rationalisierung »barbarische« Züge an.466 Der von der Geschäftsleitung der Glashütte Süßmuth verkündete Erfolg einer »strammen Rationalisierung«, mit der die »Personalkosten drastisch gedrückt« worden seien, war somit weder das Resultat eines »aufwendigen Technologie-Einsatz[es]« noch das einer »vernünftigen« Organisation, sondern einzig und allein die Folge eines sukzessiven Personalabbaus durch einen ebenso kontinuierlichen Abbau der Produktionskapazitäten.467 Während die Eigenproduktion zurückgefahren wurde, nahm der Handel von zugekaufter Ware zu, der sich zum wichtigen, bei Gralglas und Wiesenthal zuletzt sogar zum einzigen Standbein entwickelte.468 Der Betrieb wurde mitunter zur Kulisse für das zunehmend professionalisierte Angebot touristischer bzw. kultureller Dienstleistungen, die sich zu eigenständigen Produkten entwickelten. Dem Ausbau der Infrastruktur für die Betriebsbesichtigungen in Verbindung mit gastronomischen Angeboten oder den Planungen zur Gründung eines Glasmuseums auf dem Betriebsgelände widmete die Süßmuth-Leitung nach der Selbstverwaltung große Aufmerksamkeit.469 Seit 1978 wurden alljährlich während des Betriebsurlaubs Kurse für Anfänger*innen und Amateur*innen zum Erlernen des Glasblasens, Glasschleifens und Glasmalens durchgeführt.470 Seit Stilllegung des zweiten Hafenofens und dem Neubau eines kleinen Studioglasofens bot die Glashütte Süßmuth diese Kurse auch außerhalb

465 Siehe Kapitel 5.3 und Schlusskapitel. 466 Siehe Kapitel 5.5. 467 Zitate aus Der Spiegel, 24. August 1981 (s. Anm. 99); Klausur Geschäftsleitung, 16. Juli 1976 (s. Anm. 63). 468 Gralglas und Wiesenthal bestanden nach den Konkursen und den (schrittweise) Produktionsstilllegungen (letztlich aber nur für wenige Jahre) als Handelsgesellschaften fort. Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 208f.; Rath, Wiesenthalhütte (s. Anm. 8), S. 338–340. 469 Abteilungsleitersitzung, 11. August 1976 (s. Anm. 378), S. 2; Geschäftsleitung, 16. November 1976 (s. Anm. 418), S. 2; Süssmuth-Information, 2. Januar 1978 (s. Anm. 43); Einladung »Großer Hüttenabend« in der GHS, Dezember 1982, in: AGI; Rundbrief [Gerd Schmieder], Januar 1983, in: AGI. Dokumente zur Gründung des Glasmuseum Immenhausen in: AGI. 470 »Neues Angebot der Glashütte Süssmuth in den Sommerferien. Glasblasen auch für Laien«, in: HNA, 25. Juli 1978, in: AGI.

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der Sommerferien an.471 Die Wegrationalisierung der Mundglasfertigung ging mit ihrer Musealisierung und Kommerzialisierung einher. Als Prozess der Stoffgewinnung und -formung im industriellen Maßstab verlor die Produktion an Relevanz, als touristische Attraktion zur Ankurbelung des Verkaufsgeschäfts und als Abgrenzung gegenüber den seit den 1970er Jahren in der Bundesrepublik gehäuft gegründeten Schauglashütten kam ihr eine neue Bedeutung zu.472

9.4 Kooperation versus Konfrontation. Die Arbeitsbeziehungen Der Arbeitskräftemangel gehörte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den dringlichsten Problemen der Mundglasbranche473 – trotz der seit den 1970er Jahren häufigen Glashüttenschließungen und bundesweit ansteigenden Arbeitslosenzahlen. Es fehlte der Nachwuchs. Zugleich war eine »starke Abwanderung in andere Industriezweige« zu verzeichnen.474 In der Forschung wird diese Entwicklung als Ausdruck eines Ansehensverlusts der Glasberufe diskutiert.475 Unternehmensleitungen bemühten als Erklärung mitunter kulturpessimistische Deutungen vom Verfall der Arbeitsmoral in der Arbeiterschaft und insbesondere in der nachrückenden Generation.476 Manche gaben den Arbeitenden mehr oder weniger explizit die Schuld am Scheitern der Rationalisierung oder den zunehmenden Qualitätsproblemen. Die öffentlich erhobene Klage über die stetig steigenden Lohnkosten als Ursache der Krise fungierte faktisch als Synonym für diese Schuldzuweisung, die in den Betrieben – so ist es für den Fall Süßmuth eindrücklich überliefert – in deutlichen Worten zum Ausdruck kam. Frappierend ähnlich wie seine Vorgänger bewertete [Harald Meier] den Anstieg des Lohnkostenanteils als Ausdruck und Resultat eines Lohnegoismus insbesondere der Glasmacher.477 Ihnen unterstellte er einen Leistungsrückhalt – hinsichtlich ihrer

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»Vom Umgang mit Glas«, in: Brigitte, 9. März 1983, in: AGI; »Laien erlernen uraltes Handwerk. Faszination ungebrochen«, in: HNA, 9. August 1984, in: AGI; Anmeldeformular Hobby-Kurse (GHS), 1985, in: FHI, Schöf-1196. Die GHS warb damit, »eine der wenigen Mundblashütten in Deutschland [zu sein], die voll in der Produktion steht« und daher »keine Demonstrationshütte« oder »Studioglashütte« sei, in der generell vorrangig maschinell gefertigtes Wirtschaftsglas mit der Aura eines Artikels aus der Handfertigung verkauft wurde. HNA, 15. Januar 1980 (s. Anm. 99); Werbeprospekt »Zu Gast in der weltbekannten Glashütte Süßmuth«, undatiert [Mitte der 1980er Jahre], in: AGI; Werbeprospekt Kunsthandwerkliche GHS, undatiert [1980er], in: AGI; Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 9), S. 77, 189f. Siehe Kapitel 1.1. Bericht VdG Hessen, 13. November 1968, in: FHI, Schöf-1219, S. 14. Johannes Laufer, Von der Glasmanufaktur zum Industrieunternehmen. Die Deutsche Spiegelglas AG (1830–1955), Stuttgart 1997, S. 487; Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 331), S. 184–190; Ebenso Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 80–84. Zur Klage von Unternehmensleitungen über eine »nachlassende Arbeitsmoral« in den Belegschaften siehe Glaswerke Ruhr an IHK Kassel, 17. Dezember 1959, in: Archiv DIZ, Bestand 206. R 106/2; Richard Süßmuth in: »Sorgen der hessischen Glasindustrie«, in: FR, 1. Oktober 1960, in: AGI; Breit, Mai/Juni 1979 (s. Anm. 94), S. 3; Breit, November 1982 (s. Anm. 5), S. 3. Siehe Kapitel 1.6 und Kapitel 5. Folgendes aus Klausur Geschäftsleitung, 16. Juli 1976 (s. Anm. 63); Geschäftsleitung, 16. Mai 1977 (s. Anm. 224); Geschäftsleitung, 22. Mai 1978 (s. Anm. 73).

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Spezialisierung auf die Fertigung bestimmter Artikel oder der erforderlichen Einarbeitungszeiten bei Produktneuheiten. Die komplexe Ursachenlage für die erhöhte Mängelproduktion reduzierte er auf das »schludrige« Arbeiten oder die »Unaufmerksamkeit« der Beschäftigten.478 Die Probleme bei der Bewältigung des mit den neuen Angebots- und Vertriebsstrategien entstandenen Arbeitsaufwandes, die durch fehlgeschlagene Organisationsreformen hervorgerufenen Komplikationen, ja sogar generelle Merkmale der Mundglasfertigung führte er auf persönliche Unzulänglichkeiten oder Unfähigkeiten der Beschäftigten zurück.479 Auch in anderen Mundglashütten bekam das Führungspersonal seit den 1960er Jahren so deutlich wie nie zuvor seine Abhängigkeit von den Beschäftigten zu spüren. Stellten in der Mundglasfertigung seit jeher Arbeitskräftemangel und -fluktuation vorzubeugende Problemfälle dar, so galt dies umso mehr angesichts der in Reaktion auf sich ändernde Wettbewerbsbedingungen angestrebten Unternehmensexpansionen. Aufgrund der nur begrenzt sinnvollen Anwendung einer Personal ersetzenden Maschinen-Werkzeug-Technik und der folglich weiterhin hohen Arbeitskräfteintensität der Fertigung von hochwertigem Wirtschaftsglas erforderte eine Steigerung der Produktivität eine Personalausweitung und entsprechende Maßnahmen zur Bindung der Beschäftigten an den Betrieb. Traditionell sicherten sich Unternehmensleitungen die für die Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin und das Funktionieren der Abläufe in der Qualitätsfertigung notwendige Kooperation im Betrieb durch eine hierarchischmaterielle Anreizstruktur und einen oftmals paternalistischen Führungsstil.480 Mit dem basisdemokratischen Aufbruch um »1968« galt es den »Produktionspakt« zwischen Belegschaften und Unternehmensleitungen neu zu definieren. In vielen Mundglashütten begann er stattdessen zu erodieren.

Die Verhältnisse in den Vergleichsunternehmen Auch hinsichtlich der Arbeitsbeziehungen können die Vergleichsunternehmen in zwei Gruppen unterteilt werden. Mit einer partnerschaftlichen oder familiären Unternehmensführung gelang es Rosenthal, Wiesenthal und Eisch einen – im Vergleich zu den anderen Unternehmen – relativ stabilen Konsens im Betrieb aufrechtzuerhalten. Die (Teil-)Inhaber gehörten wie Richard Süßmuth zu gesellschaftlich anerkannten Persönlichkeiten,481 die sich um eine enge Beziehung zur Belegschaft und eine Stärkung des 478 Geschäftsleitung, 13. September 1976 (s. Anm. 73), S. 1; Protokoll Abteilungsleiterbesprechung (GHS), 10. August 1981, in: AGI, S. 1. 479 Dies war der Fall bei der Überlastung der Formenstube und Schlosserei infolge der erhöhten Anzahl an Produktneuheiten (1976), beim Scheitern des »Drei-Hüttenmeister-Systems«, bei der »Beleuchtungsglaskatastrophe« (1977) oder als es Anfang der 1980er Jahre gehäuft zu Reklamationen und Lieferverzögerungen kam. Geschäftsleitung, 29. September 1976 (s. Anm. 76), S. 2f.; Geschäftsleitung, 24. November 1976 (s. Anm. 79), S. 1; Geschäftsleitung, 29. März 1977 (s. Anm. 70); [Meier], 28. September 1977 (s. Anm. 208), S. 2f.; [Meier], 12. Mai 1982 (s. Anm. 239), S. 4. 480 Siehe Kapitel 1.4. 481 Philip Rosenthal erhielt 1973 das kleine und 1981 das große Bundesverdienstkreuz. Klaus Breit wurde im März 1989 das kleine Bundesverdienstkreuz verliehen. Erwin Eisch war als Mitbegründer der Studioglasbewegung international bekannt. Wilhelm Siemen, »Rosenthal, Philip«, in: Neue Deutsche Biographie, 2005, Online: www.deutsche-biographie.de/pnd118602780.html#ndbcontent;

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für die Fertigung notwendigen sozialen Zusammenhalts bemüht zeigten. In ihrer unternehmerischen Praxis akzentuierten sie spezifische Werte, die sich in ihrer politischen Ausrichtung von Süßmuths Konservatismus unterschieden. Die Rosenthal AG war in der Bundesrepublik einer der ersten Konzerne, der Anfang der 1960er Jahre ein Programm zur Vermögensbildung für die Beschäftigten einführte.482 Als einstiger Kritiker der gewerkschaftlichen Forderung nach Mitbestimmung erklärte Philip Rosenthal Mitte der 1970er Jahre in einer WDR-Talkshow, weshalb er seine Meinung geändert hatte: Die Mitbestimmung der Beschäftigten erschwere der Unternehmensleitung zwar die Beschlussfassung; sie sei aber entscheidend für die Stabilität der Volkswirtschaft, und stabil seien nur jene Systeme, in denen die Majorität beteiligt ist.483 Als Angehöriger einer von den Nazis verfolgten und enteigneten Familie thematisierte Rosenthal – anders als Süßmuth – nach 1945 die eigene Biografie angesichts des weiterhin virulenten Antisemitismus eher »zurückhaltend und selten«.484 Stattdessen trat er öffentlich als sozialdemokratischer Reformpolitiker mit einem auf die Zukunft gerichteten Engagement auf.485 Zum IG-Chemie-Hauptvorstand unterhielt er gute Beziehungen.486 Auch Rosenthal organisierte – zumindest am Standort des Porzellanwerks in Selb – kulturelle Veranstaltungen für die Beschäftigten und die ansässige Bevölkerung.487 Der Erfolg von Rosenthals partnerschaftlichem Führungsstil und betrieblicher Sozialpolitik wirkte sich in einem geringeren Streikpotenzial und scheinbar auch

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Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 22), S. 589, 604; Miriam von Gehren und Dedo von Kerssenbrock-Krosigk (Hg.), 50 Jahre Studioglas-Bewegung. Die Eisch-Ausstellung 1962, Düsseldorf 2012. Beschäftigte hatten seit 1962 die Möglichkeit, sich (in Form von »Belegschaftsaktien«) an der AG zu beteiligen. 1979 war 7,5 Prozent des Aktienkapitals im Eigentum von Beschäftigten. Fritz, Porzellangeschirre (s. Anm. 32), S. 19, 132; Simoneit, Rosenthal (s. Anm. 33), S. 196. Transkript Podiumsdiskussion im Anschluss an die Reportage »Die Belegschaft übernimmt den Betrieb«, Pierre Hoffmann für WDR, 6. Juni 1975, im Besitz der Autorin, S. 3–5. Zitat von Axel Schildt in Bezug auf in die Bundesrepublik zurückkehrenden Menschen, die während des NS als »Juden« verfolgt worden waren. Axel Schildt, Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90, München 2007, S. 6. Philip Rosenthals Erinnerungen an seine Zeit in der Fremdenlegion, der er sich im Kampf gegen die Nazis angeschlossen hatte, veröffentlichte er erst 1981 – dem Jahr, in dem er altersbedingt aus seinem Amt als Vorstandsvorsitzender ausschied. Philip Rosenthal, Einmal Legionär, Hamburg 1981. Philip Rosenthal trat 1969 in die SPD ein, wurde im gleichen Jahr in den Bundestag gewählt und im September 1970 zum parlamentarischen Staatssekretär im BMWi berufen, das er »aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit [Karl] Schiller« im November 1971 wieder verließ. Bis März 1983 blieb er Abgeordneter des Bundestags und setzte sich hier für ein »Partizipationsmodell und eine Vermögensbildung für Arbeitnehmer ein.« Grossmann, Industriedesigner (s. Anm. 30), S. 200f. Siehe Korrespondenz Philip Rosenthal und Werner Vitt in: AfsB Bochum, Bestand IG Chemie. Mit Konzerten von Musikern wie Stan Kenton und seiner Bigband oder Hans-Werner Henze lagen den seit 1956 monatlich stattfindenden »Rosenthal Feierabenden« ein anderer Bildungsauftrag zugrunde als Süßmuths »Heimatabenden der schlesischen Kultur«. Fritz, Porzellangeschirre (s. Anm. 32), S. 18; Grossmann, Industriedesigner (s. Anm. 30), S. 201–203; Siehe Kapitel 1.4.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

in einer geringeren Personalfluktuation aus.488 Den Betriebsrat der Glashütte in Bad Soden vermochte die Geschäftsleitung eng an sich binden, er handelte den Sozialplan für die 50 im Jahr 1976 entlassenen Beschäftigten an den lokalen IG-Chemie-Funktionären vorbei aus.489 Kritik der Belegschaftsvertretung an der Konzernleitung wurde öffentlich erst vernehmbar, als 1984 – im Einvernehmen mit dem IG-Chemie-Hauptvorstandsvorsitzenden Hermann Rappe als stellvertretender Vorsitzender im Aufsichtsrat – die Betriebsschließung beschlossen wurde.490 Im Familienunternehmen Wiesenthal entstanden in der Nachkriegszeit – ähnlich wie bei Süßmuth – kooperative Arbeitsbeziehungen zunächst aufgrund der von Inhabern und einem Großteil der Belegschaft geteilten Fluchterfahrung. In seiner »Heimatverbundenheit« habe sich Klaus Breit indes nicht »die rückwärtsgewandte Haltung der Vertriebenenverbände zu eigen« gemacht.491 Vielmehr sei er ein Humanist und wie sein Vater Ludwig Breit ein Unternehmer gewesen, der sich »um alle Belange des Betriebs persönlich kümmerte« und das »Unternehmen mit einer sozial geprägten, letztlich patriarchalischen Grundhaltung führte«. Mit anderen Firmen (wie der Josephinenhütte) hatte Ludwig Breit am Nachkriegsstandort Schwäbisch-Gmünd die Gemeinnützige Gablonzer Wohnungsbau GmbH begründet. In den 1960er Jahren war Wiesenthals finanzielles Engagement in dieser Gesellschaft aber rückläufig, Anfang der 1970er Jahre ging sie vollständig in kommunale Verwaltung über.492 Klaus Breit sei für »Gestaltungsvorschläge und Ideen« der Beschäftigten offen gewesen und habe diese aufgegriffen, wenn sie »ihm einleuchteten und Verkaufserfolg versprachen«.493 Wiesenthal gehörte (wie Rosenthal) zu den wenigen Unternehmen der Branche, die vom IG-Chemie-Streik im Mai 1963 nicht betroffen waren.494 Zum Betriebsrat und den zuständigen Gewerkschaftsfunktionären habe Klaus Breit ein einträchtiges Verhältnis unterhalten.495 Sogar die Halbierung der Belegschaft im Zuge der Einstellung der Mundglasfertigung 1982 sei in »freundschaftlicher Atmosphäre« vollzogen worden.496 Breits Äußerung, es habe in der 120-jährigen Firmengeschichte »niemals einen Streik«

488 Bei der Urabstimmung über die Teilnahme am branchenweiten Streik im Mai 1963 votierten lediglich 19 Prozent der in der Rosenthal-Glashütte in Bad Soden beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder dafür. VdG-Sonderrundschreiben, 24. Mai 1963, in: WABW, Bestand B 164 Bü 1, S. 2; Bernd Berger, »Ein Hauch von Porzellan«, in: Berliner Zeitung, 2. April 1969, in: ZEFYS. Zum Streik 1963 siehe Kapitel 1.5. 489 »Entlassen oder ›umsetzen‹. Maßnahmen der Rosenthal Glas und Porzellan AG in Bad Soden«, in: FR, 18. Februar 1976, in: AGI. 490 »Mitbestimmung. Schwärzer als die Nacht«, in: Der Spiegel, 8. Januar 1984, Online: www.spiegel.de/spiegel/print/d-13508463.html. 491 Folgendes aus Ricke, Breit (s. Anm. 21), S. 8–12, 17f. 492 WTH an Gemeinnützige Gablonzer Wohnungsbau GmbH, 15. November 1963, in: mkp.Gl-A 1Wies.37A; Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 22), S. 380f. 493 So die Erinnerungen ehemaliger Belegschaftsmitglieder wiedergegeben in Ricke, Breit (s. Anm. 21), S. 17. 494 Bei der Urabstimmung im Mai 1963 votierten 61 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in der WTH für die Teilnahme am branchenweiten Streik, womit die notwendige 75-prozentige Zustimmung verfehlt wurde. VdG-Sonderrundschreiben, 18. Mai 1963, in: WABW, Bestand B 164 Bü 1, S. 2. 495 Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 22), S. 538–542. 496 Unternehmensplanung WTH, 1982/1983, in: mkp.Gl-A 1-Wies.41, Kap. 5.

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gegeben,497 sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass es Arbeitskonflikte gab, die jenseits der offiziellen Formen ausgetragen wurden. Im Juli 1970 legten beispielsweise zehn jugoslawische Arbeiter*innen für 30 Minuten die Arbeit nieder, worauf die Betriebsleitung mit aller Härte reagierte.498 Der »geistige Rädelsführer« sollte »bei nächster Gelegenheit fristlos entlassen und nach Jugoslawien ab[geschoben]« werden, die anderen wurden abgemahnt und mit Lohnabzug abgestraft. In der Glashütte Eisch habe sich aufgrund der »gleiche[n] lokale[n] und soziale[n] Herkunft« in der Anfangszeit ein »starkes Zusammengehörigkeitsgefühl« zwischen den Mitgliedern der Inhaberfamilie und den Beschäftigten entwickelt.499 Auch die Widrigkeiten der Firmengründung in einem – angesichts der Blockadebemühungen der in Frauenau bereits etablierten Glashütten – feindlichen Umfeld habe zusammengeschweißt. Zwar lockerten sich diese »alten Bindungen« und die »Intimität« im Zuge des rasanten Unternehmenswachstums, doch zeugte das gemeinsame Feiern von Weihnachts-, Betriebsjubiläums- und Familienfesten mit der Belegschaft im Hüttengebäude vom Bestreben der Leitung, ein »familiäres Klima zu erhalten«. Um die Voraussetzungen für die weitere Expansion des Unternehmens zu schaffen, begann die Firma Mitte der 1960er Jahre in Frauenau »Arbeiterwohnhäuser« zu bauen.500 In den 1970er Jahren erwarb sie die Betriebswohnungen der ehemaligen Gistl-Glashütte. Aus Belegschaftsangehörigen zusammengesetzte Sportgruppen im Fußball oder Eisstockschießen waren auch noch Ende der 1980er Jahre im Ort aktiv. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad war in der Eisch-Belegschaft sehr hoch. Im Mai 1963 beteiligte sich die Belegschaft am branchenweiten Streik. Die Beziehung zwischen Unternehmensleitung und Belegschaftsvertretung sei jedoch von »gute[r] Verständigung und Vertrauen« geprägt gewesen, was sich nicht zuletzt in der Kontinuität der personellen Zusammensetzung des Betriebsrats niederschlug.501 Von zunehmend konfrontativen Arbeitsbeziehungen zeugten dagegen die Entwicklungen in den anderen Vergleichsunternehmen. Bei Hirschberg als Zweigwerk eines Großkonzerns waren die Arbeitsbeziehungen unpersönlicher als in den inhabergeführten Mundglashütten. Einer engen Betriebsbindung der Beschäftigten hatte auch die aus Expansionsgründen von Essen ins hessische Allendorf vorgenommene Standortverlagerung entgegengewirkt, wo Hirschberg von Anfang an und in allen Bereichen Arbeitskräftemangel und -fluktuation zu beklagen hatte.502 Vor allem für Nicht-Facharbeiter*innen gab es in der Industriesiedlung Allendorf vielfältige Beschäftigungsalternativen. Dennoch investierte die Konzernleitung kaum in die betriebliche 497 Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 22), S. 541. 498 In diesem Konflikt ging es um die Höhe des Urlaubsgeldes. Folgendes aus Notiz Betriebsleitung (WTH), 23. Juli 1970, in: mkp.Gl-A 1-Wies.37B. 499 Folgendes aus Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 103–110. 500 Ein Teil der Belegschaft wurde damals aus den umliegenden Orten in »betriebseigenen Bussen zur Arbeit und wieder zurück« gefahren. Ebd., S. 105. 501 Im Jahr 1987 blickte der Betriebsratsvorsitzende der Glashütte Eisch auf eine zwanzigjährige Amtszeit zurück. Ebd., S. 108. 502 Die von der Firma angebotenen Bustransporte im »Umkreis bis zu 35 km« brachten nur begrenzt Abhilfe. Glaswerke Ruhr an Aufbaugesellschaft Allendorf, 16. Februar 1959, in: Archiv DIZ, Bestand 206. R 106/2; Glaswerke Ruhr, 17. Dezember 1959 (s. Anm. 476).

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

Sozial- oder Wohnungspolitik als den branchenüblichen Formen der Arbeitskräftebindung.503 Der akute Arbeitskräftemangel dürfte mit ausschlaggebend für die auf Personaleinsparung ausgerichtete Rationalisierung gewesen sein, in deren Verlauf sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die betrieblichen Konflikte zuspitzten. Im Mai 1968 kam es bei Hirschberg zu einem wilden Streik in Form einer einstündigen Arbeitsniederlegung.504 Als sich im Sommer 1971 abzeichnete, dass die Konzernleitung den Standort Stadt Allendorf schließen will, äußerte der Betriebsrat fundamentale Kritik an den zurückliegenden Entscheidungen des technischen Leitungspersonals, das »bei der Belegschaft keinerlei Vertrauen mehr« genoss.505 Der neue Eigentümer Carl Josef Haefeli konnte die versprochene Aufwärtsentwicklung nicht herbeiführen, baute sukzessive Personal ab und ordnete bereits im Dezember 1972 Kurzarbeit an.506 Auch Haefeli wurde seitens der Belegschaft wegen einer verfehlten Investitionspolitik kritisiert.507 Entsprechend angespannt blieben die Arbeitsbeziehungen in den letzten beiden Jahren der Unternehmensexistenz. Trotz frühzeitiger Bemühungen, das Unternehmen in Form einer Genossenschaft fortzuführen, konnte der Betriebsrat den Konkurs im Juli 1974 und die endgültige Betriebsschließung im Oktober 1974 nicht verhindern.508 Konfliktive Arbeitsbeziehungen entstanden auch in (vormals) von Mitgliedern der Inhaberfamilie geführten Mundglashütten. Der Gründer der nach ihm benannten Glashütte Ernst Buder wird aufgrund seiner betrieblichen Sozialpolitik, des Angebots von Werkswohnungen oder Räumlichkeiten für Freizeitaktivitäten ähnlich wie Richard Süßmuth von den Beschäftigten als ein sehr »sozialer« Unternehmer erinnert.509 Er sei nicht nur ein »Chef von oben« gewesen, sondern habe oft den Feierabend mit den Beschäftigten im betriebseigenen Gemeinschaftsraum verbracht, wo ferngesehen, gespielt und getrunken wurde. Wie nicht unüblich für Unternehmenspatriarchen zeigte sich die Kehrseite der sozialen Fürsorglichkeit und Nähe darin, dass Buder den Beschäftigten teils cholerisch und autoritär gegenübertrat und für den Betriebsratsvorsitzenden kaum erreichbar war. Die in der Erinnerung vorrangig positive Bewertung des 1969 verstorbenen

503 Stattdessen forderte die Konzernleitung die kommunalen Einrichtungen zur Wohnraumbeschaffung auf. Für den Bau der ersten 30 Wohnungen stellte sie lediglich ein Arbeitgeberdarlehen in Höhe von jeweils 2.000 DM bereit. Glaswerke Ruhr, 16. Februar 1959 (s. Anm. 502); Steinkohlenbergwerke Mathias Stinnes AG an Gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsbau GmbH, 28. April 1959, in: Archiv DIZ, Bestand 206. R 106/2. 504 Der VdG betrachtete diesen Arbeitskampf als eine Protestaktion im Zusammenhang mit dem damals tariflosen Zustand in der Hohlglasindustrie. VdG-Situationsbericht, 10. Mai 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 2, S. 2. 505 IG Chemie Gießen, 21. September 1971 (s. Anm. 273); Ebenso Protokollnotiz Besprechung Hirschberg, 20. Oktober 1971 (s. Anm. 130), S. 3f.; Protokoll Besprechung Hirschberg, 22. November 1971 (s. Anm. 12), S. 7–10. 506 Folgendes aus Unterlagen Betriebsrat (Hirschberg), 1972–1974, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner. 507 Auf Kritik stieß vor allem die kostenintensive Übernahme des Glaswerks in Bad Driburg und die Ausweitung der Finanzmittel für das Marketing, während Haefeli Investitionen in die Instandhaltung der Produktionsanlage unterließ. Protokoll Wirtschaftsausschuss Hirschberg, 9. Mai 1973 (s. Anm. 15). 508 Siehe Christiane Mende, »Den Betrieb übernehmen. Belegschaftsinitiativen in der Mundglasbranche«, in: Sozial.Geschichte Online (im Erscheinen). 509 Folgendes aus Raimann etc., 27. Mai 2013 (s. Anm. 141), S. 13–23, 46f.

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Unternehmensgründers resultierte auch aus den negativen Erfahrungen mit dem ihm nachfolgenden Leitungspersonal. Buders Sohn hatte sich als Geschäftsführer nicht bewährt und genoss deshalb in der Belegschaft kein hohes Ansehen. Nach dem Konkurs 1974 hatten die neuen Eigentümer anfangs erwogen, ein partnerschaftliches »Beteiligungsmodell« einzuführen.510 Bald schon gerieten sie aber im Zuge ihrer Rationalisierungsmaßnahmen mit Betriebsrat und Gewerkschaft in Konflikt.511 Aus Perspektive der Beschäftigten besaß der neue Betriebsleiter wenig fachliche Kompetenzen und reagierte wie die neuen Eigentümer generell »sehr abweisend« auf Verbesserungsvorschläge, Ideen oder Kritik aus der Belegschaft.512 Die Geschäftsführung der Josephinenhütte sei – so der Glasmacher und langjährige Betriebsratsvorsitzende [Günter Nowak] – gewerkschaftsfeindlich, hinsichtlich der betrieblichen Sozial- und Wohnungspolitik aber zunächst, das heißt in der Nachkriegszeit, paternalistisch gewesen.513 [Nowak] charakterisierte seine Beziehung zu ihr im Rückblick als »sehr gut« – gemessen daran, dass vor allem seit dem altersbedingten Personalwechsel in der Führungsetage Anfang der 1960er Jahre die »Zeichen auf Konfrontation« standen. Mit der neuen Geschäftsführung habe es von Anfang an große Schwierigkeiten gegeben. In einer im März 1964 mit den Kölbelmachern ausgetragenen Auseinandersetzung blieb sie unnachgiebig, ging auf ihre Forderungen nicht ein und nahm ihr Ausscheiden in Kauf.514 Als ein alter Glasmacher durch einen jüngeren ersetzt werden sollte, legten die Glasmacher spontan die Arbeit nieder, um die Wiedereinstellung des langjährigen Kollegen zu erwirken.515 Im Sommer 1966 eskalierten schließlich die Konflikte: Zwanzig Glasmacher kündigten und verließen geschlossen den Betrieb, nachdem die Geschäftsführung ihre (wiederum in Reaktion auf vorangegangene Reformen erhobenen) Lohnforderungen abgeblockt hatte.516 Sechs Wochen später sei zwar ungefähr die Hälfte der Glasmacher in das Unternehmen zurückgekehrt.517 Es habe allerdings mindestens ein halbes Jahr gedauert, bis mit den neuen, größtenteils aus Portugal und Griechenland angeworbenen Glasmachern an den Werkstellen wieder eine für die Qualität wie Quantität der produzierten Artikel notwendige Routine erreicht war. Von dieser Störung der Arbeitsabläufe habe sich die Firma nicht mehr erholt. Betriebliche Spannungen

510 IG Chemie Hann. Münden, 29. August 1974 (s. Anm. 368), S. 2. 511 Insbesondere die Einführung des Schichtbetriebs habe zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Gewerkschaft geführt. Als bereits 1983 der Konkurs des Unternehmens drohte, trat das Unternehmen aus dem Arbeitgeberverband aus und war künftig nicht mehr an den Branchentarifvertrag gebunden. [Meier], 28. März 1977 (s. Anm. 149); Unternehmenschronik Buder (s. Anm. 19), S. 6. 512 Raimann etc., 27. Mai 2013 (s. Anm. 141), S. 46. 513 Folgendes aus [Günter Nowak], 10. November 2014 (s. Anm. 11), S. 6–10. Die Betriebsabrechnungsbögen wiesen seit 1962 vier Werkswohnhäuser mit mehreren Wohnungen und eine Wohnbaracke als Eigentum der Firma auf. Siehe BAB, 1959–1971, in: WABW Bestand B 164/49-61. 514 Die Geschäftsführung informierte hierüber den VdG, der die Mitgliedsfirmen aufforderte, die betreffenden Kölbelmacher nicht zu beschäftigen. VdG-Sonderrundschreiben, 5. März 1964, in: WABW, Bestand B 164 Bü 1. 515 [Günter Nowak], 10. November 2014 (s. Anm. 11), S. 6. 516 VdG-Sonderrundschreiben, 7. September 1966, in: WABW, Bestand B 164 Bü 2. 517 Folgendes aus [Günter Nowak], 10. November 2014 (s. Anm. 11), S. 7f.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

blieben bestehen. Im Mai 1968 kam es erneut zu einem wilden Streik.518 1971 meldete die Unternehmensleitung den Konkurs an. Nach der Übernahme durch Gralglas verbesserte sich in der Josephinenhütte das Betriebsklima nicht. Als weiterhin amtierender Betriebsratsvorsitzender habe [Günter Nowak] mit dem neuen Eigentümer viele Auseinandersetzungen austragen müssen.519 Auch Rolf Seyfang erhielt 1969 das Bundesverdienstkreuz für seine unternehmerischen Leistungen.520 Im Gegensatz zu Richard Süßmuth, Philip Rosenthal oder Klaus Breit hatte er sich aber nicht durch einen partnerschaftlichen oder »sozialen« Führungsstil einen Namen gemacht. In den 1950er Jahren investierte die Gral-Glashütte zwar noch in den betrieblichen Wohnungsbau.521 Auch zeigte sich das betriebliche Führungspersonal von Gralglas offen für Vorschläge und eine (experimentelle) Zusammenarbeit mit den Beschäftigten.522 Das Verhältnis zwischen kaufmännischer Leitung und Belegschaftsvertretung war jedoch angespannt. Nach der Beilegung des im Frühsommer 1963 branchenweit geführten Streiks war es bei Gralglas zu einer wilden Arbeitsniederlegung gekommen, weil die Unternehmensleitung die in den Tarifverhandlungen von der Gewerkschaft erkämpften Zugeständnisse auf betrieblicher Ebene durch Akkorderhöhungen zu kompensieren gedachte.523 In der Josephinenhütte ließ Seyfang kurz vor Weihnachten Ende der 1970er Jahre für die Belegschaft völlig überraschend die Beheizung der Schmelzöfen einstellen, ohne zuvor mit dem Betriebsrat darüber gesprochen zu haben.524 Gegen diese rechtswidrige und – da stillgelegte Öfen nicht ohne größere Investitionen wieder in Betrieb genommen werden konnten – irreversible Entscheidung konnte der Betriebsrat nichts ausrichten. In den folgenden Verhandlungen mit der Gralglas-Leitung sah er sich vielmehr zu einer konsensorientierten Verhandlungstaktik gezwungen, galt es doch möglichst vielen Beschäftigten der Josephinenhütte einen alternativen Arbeitsplatz im Mutterunternehmen zu verschaffen.

Die Verhältnisse in der Glashütte Süßmuth Den Geschäftsführerwechsel Anfang 1976 erlebte ein Teil der Belegschaft als Neuanfang.525 [Harald Meier] trat den Beschäftigten gegenüber zunächst zugewandt auf: 518

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Dieser Streik wurde wie im Fall Hirschberg von der Unternehmensleitung und vom Arbeitgeberverband im Zusammenhang mit dem damals tariflosen Zustand in der Hohlglasbranche als Warnstreik interpretiert. Josephinenhütte an VdG, 28. Mai 1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 2. [Günter Nowak], 10. November 2014 (s. Anm. 11), S. 9f. Die Glaskiste. Hausmitteilungen der Gralglashütte Dürnau, Nr. 27, Winter 1969, in: CD-ROM-Beilage bei Ricke und Loyen 2011. Anfang der 1950er Jahre ließ Gralglas in Zusammenarbeit mit der Württembergischen Heimstätte Stuttgart in Dürnau zwei Wohnkomplexe mit jeweils 30 Wohnungen errichten. 1959 kamen zwölf weitere Mehrfamilienhäuser hinzu. Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 199, 203. Das war bei dem bis Anfang der 1970er Jahre für Produktion und Produktentwicklung gleichermaßen zuständigen Personal der Fall. Siehe Kapitel 9.2.; Ricke und Loyen, gralglas (s. Anm. 140). Der VdG setzte die Mitgliedsfirmen über diesen Streik in Kenntnis und bat darum, Gralglas-Beschäftigte nicht einzustellen. VdG-Sonderrundschreiben, 18. November 1963, in: WABW, Bestand B 164 Bü 1. Folgendes aus [Günter Nowak], 10. November 2014 (s. Anm. 11), S. 9f. So bspw. [Frank Weber] in Info Süssmuth, 7. Januar 1976, in: AGI.

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Künftig wollte er sich mit ihnen jeden ersten Montag im Monat zu einem »Clubabend« im firmeneigenen Hotel treffen.526 [Meier] erklärte, jeder könne »ungestraft seine Vorstellungen einbringen«, betonte zugleich jedoch die »klare« Entscheidungsgewalt des Führungspersonals, das »die volle Verantwortung« trage.527 Die Präsentation als Partnerschaftsunternehmen stand in eklatantem Widerspruch zur in der Glashütte Süßmuth schon bald herrschenden Atmosphäre der Angst.528 Denn [Meier] wandte verschärfte Disziplinierungsmethoden an, die den sukzessiven Personalabbau begleiteten. Beschäftigten wurden bei einem (vermeintlichen) Fehlverhalten – nun wieder ohne kollektive Beschlussfassung – Verwarnungen und Abmahnungen ausgesprochen, die bei einer gewissen Anzahl zur Entlassung führten.529 Die Verweigerung der Samstagsarbeit oder häufiges krankheitsbedingtes Fehlen wurden nicht mehr nur mit Abzügen vom bereits reduzierten Weihnachtsgeld sanktioniert, sondern gehörten zu (indirekten) Kündigungsgründen.530 Mit (durch Abreden von fachlichen Fähigkeiten und Fleiß bis hin zu Pathologisierung begleiteter) Degradierung abgestraft oder mit Entlassung bedroht wurden vor allem jene Beschäftigten, die sich kritisch zu den geplanten Reformvorhaben der Geschäftsleitung äußerten oder deren Beschlüsse nicht befolgten. Dabei spielte keine Rolle, ob dies aus einer dezidierten Verweigerungshaltung heraus geschah oder ob die Anweisungen der Geschäftsleitung schlichtweg nicht realisierbar waren. Zu abgestraften Kritiker*innen gehörten beispielsweise der Lagerverwalter [Walter Albrecht], die Vertriebsangestellte [Rita Abel] und eine Gruppe von Auszubildenden, denen nach ihren Beschwerden über die Qualität der Ausbildung gekündigt wurde.531 Aufgrund ihrer Überbelastung, die als persönliche Unzulänglichkeit ausgelegt wurde, waren der Exportleiter [Volker Lange], der Abteilungsleiter der Formstube [Friedrich Kramp] oder der Hüttenmeister [Gerhard Schinkel] für die Geschäftsleitung nicht mehr tragbar.532 Ansätzen kollektiver Gegenwehr begegnete sie mit gezielten Sanktionen gegen Einzelne.533 Selbstbewusst auftretende Facharbeiter wie die Graveure [Wolfgang Franke] und [Holger Neumer] oder der Glasmaler [Frank Weber] sollten in

526 Protokoll Gesellschafterversammlung (GHS), 6. Januar 1976, in: AGI, S. 2f. Siehe Kapitel 8.4. 527 [Meier], 27. August 1976 (s. Anm. 31). 528 Von der Angst der Beschäftigten, tarifliche Ansprüche geltend zu machen oder Kritik öffentlich zu äußern, ist die Rede in Wilhelm Leveringhaus an Egon Schäfer, 19. April 1977, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Schöfer, 17. März 1980 (s. Anm. 253), S. 9; [Boehm], 18. März 1982 (s. Anm. 432); [Frank Weber] an Karl Hauenschild und Werner Vitt, 1. April 1982, in: AfsB, Bestand IG Chemie. 529 Siehe bspw. Geschäftsleitung, 29. September 1976 (s. Anm. 76), S. 2. 530 Verwarnung [Harald Meier], 4. November 1976, in: AGI; Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 1. Dezember 1977, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1–3; Betriebsrat, 24. Juni 1981 (s. Anm. 271), S. 1f. 531 Siehe bspw. Notiz [Harald Meier], 10. Januar 1977, in: Privatarchiv (c) Immenhausen; [Albrecht], 15. Juli 1993 (s. Anm. 187), S. 5; Notiz [Rudolf Woge], 17. Dezember 1982, in: AGI. 532 Siehe Protokolle der Geschäftsleitungssitzung, Juni 1976 bis November 1977, in: Privatarchiv (c) Immenhausen. 533 Als sich 22 Beschäftigte der Weiterverarbeitung geschlossen der Aufforderung zur Samstagsarbeit verweigerten, griff die Geschäftsleitung zwei Mitarbeiterinnen heraus und entließ sie – die eine, weil sie sich offensichtlich noch in der Probezeit befand und die andere »aufgrund von permanentem Kranksein und Unzuverlässigkeit«. Geschäftsleitung, 1. November 1977 (s. Anm. 383), S. 3.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

die Selbstständigkeit oder in die an anderen Orten eröffneten Handwerkerhöfe versetzt werden.534 Die Geschäftsleitung wollte die Belegschaft stärker kontrollieren und sich ihrerseits einer Kontrolle durch die Belegschaftsvertretung entziehen. Sie spielte auf der Klaviatur der alten Machttechnik des Teilens und Herrschens, was sie – wie generell die Machtverhältnisse im Unternehmen – negierte. Aus der Partnerschaftsbewegung kommend, war [Harald Meier] davon überzeugt, der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapitel könne zumindest innerbetrieblich aufgehoben werden.535 Dementsprechend sah er in der Glashütte Süßmuth eine »Interessenidentität« zwischen »Management und Mitarbeiter-Eigentümern« gegeben; das »gemeinsame Interesse« bestände in der Erwirtschaftung von Gewinnen als Voraussetzung für die Aufwärtsentwicklung des Unternehmens, für »gute Löhne« und für »menschliche Arbeitsplätze«. In diesem Punkt stimmte [Meier] mit der neuen Anteilseignerin Neuguss überein, deren anthroposophischer Überzeugung er ansonsten (im Gegensatz zu [Konrad Scholz]) eher distanziert gegenüberstand.536 In der an Rudolf Steiner orientierten Annahme eines natürlichen Wirkens der »Kräfte des sozialen Organismus« kam eine essentialistische Vorstellung vom Sozialen zum Ausdruck (ähnlich wie sie einst Richard Süßmuths Unternehmensführung zugrunde lag);537 Verhandlung von Interessen war demnach ebenso wenig vorgesehen wie die Durchsetzung bestimmter Interessen transparent. Wie die zuvor geschäftsführenden Gremien vertrat [Meier] den technokratischen Standpunkt, Meinungsunterschiede darüber, wie die gemeinsamen Ziele zu erreichen sind, seien illegitim. Er strebte vielmehr reibungslose Abläufe an und betrachtete die Geschäftsleitung gar als »ein Selbstverwaltungsorgan«, das »im Gesamtinteresse des Betriebes und damit aller Mitarbeiter vernünftige Entscheidungen« treffe.538 Im Glauben an die Existenz einer ökonomischen Objektivität meinte die Geschäftsleitung – wie ihre Vorgänger – diese in ihrem eigenmächtigen Handeln und notfalls gegen den Widerstand der Beschäftigten zur Geltung zu bringen.539 »Partnerschaftlich« arbeitete die neue Geschäftsführung nur mit jenen Belegschaftsangehörigen zusammen, die ihre Ansichten teilten, sich diesen unterordneten und freiwilliger (unbezahlter) Mehrarbeit oder Verzicht zustimmten. Unter Partnerschaft verstand sie – ähnlich wie jene zuvor unter Selbstverwaltung – faktisch die

534 Geschäftsleitung, 31. Januar 1977 (s. Anm. 70), S. 3; Aufsichtsrat, 23. August 1979 (s. Anm. 69), S. 4; Geschäftsleitung, 4. Juni 1981 (s. Anm. 225), S. 4; Geschäftsleitung, 11. Februar 1980 (s. Anm. 422), S. 2f. 535 Folgendes von [Harald Meier] aus »Süßmuth. Marketing und verbesserte Technologie«, in: Kurhessische Wirtschaft, August 1976, in: AfsB, Bestand IG Chemie S. 214; Ebenso [Scholz] und Breuer, Glashütte Süßmuth GmbH (s. Anm. 255); Porzellan+Glas, Dezember 1981 (s. Anm. 255). 536 Siehe [Rudolf Betz] in Betriebsrat, 10. Mai 1982 (s. Anm. 429); [Rudolf Betz] an Betriebsrat (GHS), 8. November 1983, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Notiz [Harald Meier], 14. Januar 1977, in: AGI. 537 Zitat aus [Rudolf Betz], Zu den Bochumer Bankeinrichtungen in den 70er, 80er, 90er Jahren, unveröffentlichte Publikation 2011, in: Privatarchiv [Betz], S. 16. Siehe Kapitel 1 und Kapitel 4.3. 538 Geschäftsleitung, 11. und 14. Juni 1976 (s. Anm. 81), S. 3. 539 So diene die Einflussnahme der »Kaufleute« auf die Lohngestaltung, die lediglich die »Markterfordernisse« berücksichtigten, den »gesamten Betriebsinteressen« und nicht den Interessen eines »Kapitalisten«. [Harald Meier] zitiert in Abteilungsleiter, 11. Juni 1976 (s. Anm. 223), S. 4; Ähnlich [Herbert Fischer] an Werner Wiegand, 8. Juni 1984, in: Privatarchiv (c) Immenhausen.

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Unterwerfung der Beschäftigten unter die von ihr definierten ökonomischen Notwendigkeiten und hiervon abgeleiteten, vermeintlich alternativlosen Entscheidungen. Das war die »Leistung«, die das Führungspersonal von den Beschäftigten zusätzlich zu ihrer Arbeitsleistung erwartete und mitunter durch individuelle Aufstiegsoptionen oder Einkommensverbesserungen honorierte. Das Einfordern tarif- und arbeitsrechtlicher Standards, das Äußern abweichender Meinungen oder Kritik wurde dagegen auf unlautere Partikularinteressen zurückgeführt oder als Ausweis des Unvermögens diffamiert, die »manchmal schwer darstellbaren ökonomischen Unternehmensziele« zu begreifen oder selbstständig und eigenverantwortlich zu handeln.540 Die Behauptung einer Interessenidentität und der Verantwortung der Beschäftigten für den Erhalt ihres Unternehmens wurde zur wichtigsten Rechtfertigung der Geschäftsführung für die weitere »Enteignung« der Belegschaft.541 Das anhaltende Beschneiden ihrer Ansprüche und Rechte löste unter den Arbeitenden großen Unmut aus. Kollektiver Widerstand war indes erschwert, weil die bereits am Ende der Selbstverwaltung virulente Krise der Repräsentation auch nach der Beseitigung des Modells Süßmuth fortbestand.542 Auf der Basis eines Vertrauensvorsprungs und der nach den zurückliegenden Erfahrungen vollzogenen Einsicht in ökonomische Notwendigkeiten ließ der Betriebsrat die Geschäftsleitung bei ihren Sanierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen anfangs gewähren – in der Intention, zumindest einen Teil der Arbeitsplätze abzusichern. Die Geschäftsleitung konnte mit diesem Versprechen den Druck zur Kooperation zunächst aufrechterhalten und den Betriebsrat an sich binden. Im Unterschied zu Richard Süßmuths Hausmachtpolitik wurde in die Akzeptanz beim Rest der Belegschaft nicht mehr investiert. Mit der Einsparung sämtlicher Überreste der betrieblichen Sozialpolitik war vielmehr die endgültige Abkehr vom alten Paternalismus vollzogen. Entgegen der Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes tagte der Betriebsrat außerhalb der Arbeitszeit und unter Teilnahme der Geschäftsleitung.543 Belegschaftsversammlungen fanden ebenfalls nur nach Feierabend und zuletzt offenbar gar nicht mehr statt.544 Erschwert bzw. verhindert wurde eine kollektive Interessenvertretung der Belegschaft auch aufgrund ihrer Spaltung durch den Aufbau der Süßmuth-Firmengruppe und die Neuanstellung von ehemals Süßmuth-Beschäftigten in den ausgegründeten Vertriebsgesellschaften.545

540 Klausur Geschäftsleitung, 16. Juli 1976 (s. Anm. 63), S. 2f.; Geschäftsleitung, 13. September 1976 (s. Anm. 73); [Meier], 8. Juni 1978 (s. Anm. 235), S. 1; Geschäftsleitung, 22. Mai 1978 (s. Anm. 73); Notiz [Harald Meier], 9. Juni 1981, in: AGI. 541 Laut Wilhelm Leveringhaus wurde der Betriebsrat von der Geschäftsführung »seit Jahren erpresst« – mit der drohenden »Gefährdung des Betriebes und der Verantwortung für ›seine‹ Hütte«. Anne Riedel, »Wie in ›ganz normalen Unternehmen‹ Die ›rote‹ Glashütte Süßmuth verringert die Belegschaft«, in: Vorwärts, 2. Dezember 1982, S. 22. 542 Siehe Kapitel 8.3. 543 Hiervon zeugte der Beschluss des 1980 neu gewählten Betriebsrats, diese Vereinbarungen aufzukündigen. Protokoll Betriebsrat (GHS), 11. April 1980, in: AGI. 544 Schöfer, 17. März 1980 (s. Anm. 253), S. 10; Vorwärts, 18. Februar 1982 (s. Anm. 252). 545 So wurde der Betriebsrat der GHS Anfang der 1980er Jahre des »Kleinverkaufs« verwiesen; er habe dort »nichts zu suchen«, weil dieser zur Wilhelmsthal GmbH gehöre. Betriebsrat (GHS) an [Rudolf Betz], 21. November 1983, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2.

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Zugleich war es der Geschäftsleitung innerhalb kurzer Zeit gelungen, den zuvor sehr starken Einfluss der Gewerkschaft auf die Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen in der Glashütte Süßmuth nahezu vollständig zurückzudrängen.546 Mit der IG Chemie wollte [Harald Meier] zwar weiterhin einen Haustarif vereinbaren. Vertraglich fixiert werden sollte dabei jedoch nicht mehr die regionale Branchentarifentwicklung, sondern jene Bestimmungen, über die [Meier] in internen Verhandlungen mit den »Kollegen des Betriebs« eine »Übereinkunft« treffen wollte.547 Die Gewerkschaft sollte die zwischen Geschäftsführer mit der Tarifkommission ausgehandelten Haustarifverträge lediglich unterschreiben. Die Haustarifverhandlungen der Jahre 1976 und 1977 verliefen entsprechend konfliktreich.548 In Form von Betriebsvereinbarungen mit dem Betriebsrat institutionalisierte die Geschäftsleitung den oben dargestellten Verzicht der Beschäftigten auf Tarifleistungen.549 Die betriebsnahe Tarifpolitik – einst als Instrument einer offensiven Gewerkschaftspolitik konzipiert – hatte in der Krise der Repräsentation einer Verbetrieblichung der Tarifpolitik auf einem untertariflichen Niveau Vorschub geleistet. Dennoch unternahm die IG Chemie – abgesehen von vereinzelten Interventionsversuchen der lokalen Funktionäre – keine Anstrengungen, dieser Entwicklung etwas entgegenzuhalten. Neben der bereits in den Konflikten der Selbstverwaltung sich manifestierenden Distanz zur gewerkschaftlichen Basis im Betrieb und der defensiven Grundhaltung des Kasseler Verwaltungsstellenleiters war dies auch auf die Rückendeckung zurückzuführen, die die Angehörigen der Geschäftsleitung – selbst ebenfalls Mitglieder der IG Chemie – von Seiten der Bezirksleitung Hessen und des Hauptvorstands für ihre Sanierungsvorhaben erhielten.550 Mit der Beseitigung der Selbstverwaltung hatte die Geschäftsleitung ihre Handlungsmacht erweitert und die Deutungshoheit über die Verhältnisse in der Glashütte Süßmuth vollends übernommen. Die Fortsetzung der »barbarischen« Rationalisierung

546 Der gewerkschaftliche Organisationsgrad blieb in der GHS indes hoch: er betrug 84 Prozent im Jahr 1975 (bei einer Beschäftigtenzahl von 212) und 87 Prozent im Jahr 1985 (bei einer Beschäftigtenzahl von 110). IG Chemie-Papier-Keramik Kassel (Hg.), Von 1945 bis 1985. 40 Jahre Aufbau, Entwicklung und Bestand der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik Verwaltungsstelle Kassel, 1988, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 96. 547 Folgendes aus Geschäftsleitung, 13. September 1976 (s. Anm. 73), S. 3f. 548 Geschäftsleitung, 22. März 1976 (s. Anm. 76), S. 2f.; Geschäftsleitung, 29. März 1976 (s. Anm. 198), S. 1f.; Leveringhaus, 19. April 1977 (s. Anm. 528). Die mit Ausnahme der Jahre 1976, 1977, 1980 und 1981 fehlende Überlieferung von Haustarifverträgen legt nahe, dass die Gewerkschaft Vertragsabschlüsse zu den von der Geschäftsleitung diktierten Bedingungen ablehnte. 549 Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 5. Februar 1977, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1. Diese ohne die Gewerkschaft getroffenen Vereinbarungen bezeichnete die Geschäftsleitung mitunter dennoch als Haustarifverträge. Siehe FAZ, 13. Dezember 1979 (s. Anm. 6); Bilanz, Juli/August 1981 (s. Anm. 400). 550 In den ersten Jahren informierte [Harald Meier] den Hauptvorstand der IG Chemie in größeren Abständen über den Verlauf der Sanierung. [Meier] genoss das Vertrauen des stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden Werner Vitt, beide waren seit langem miteinander bekannt, da Vitt dem Beirat des Ahrensburger Modellunternehmens angehörte. Mit Wohlwollen sei ihm auch der Vorstandsvorsitzende Karl Hauenschild begegnet. Klausur Geschäftsleitung, 16. Juli 1976 (s. Anm. 63), S. 8; [Harald Meier] an Werner Vitt, 8. Juni 1976, in: AfsB, Bestand IG Chemie; [Meier], 8. Juni 1978 (s. Anm. 235).

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und die hierdurch beschleunigte »Enteignung« der Beschäftigten vermochte sie in der außerbetrieblichen Öffentlichkeit als Sicherung vermeintlicher Allgemeininteressen zu rechtfertigten. Dem Anschein nach griff sie einstige kollektive Forderungen und Kritikpunkte aus der Belegschaft auf, brachte diese jedoch gegen ihre Interessen in Stellung. So bereitete die Geschäftsleitung im Sommer 1976 einen betriebseigenen Manteltarifvertrag vor, der »im mentalen Bereich fortschrittliche[r]« sein und hinsichtlich des »Mitbestimmungs-, Informations- und Selbstverwaltungsrechts« günstigere Bestimmungen als der Branchentarifvertrag enthalten sollte, um die »materiellen Forderungen der Gewerkschaft« entkräften zu können.551 Als Kompensation für die Kürzung tariflicher wie übertariflicher Leistungen stellte sie eine Erfolgs- bzw. Gewinnbeteiligung in Aussicht.552 Die mit Lohneinbußen und schlechteren Arbeitsbedingungen verbundenen Reformen der Entlohnung präsentierte die Geschäftsleitung als vermeintliche Abschaffung des Akkords und der hiermit verbundenen »Hetze«.553 Das in weiten Teilen des Betriebs untertarifliche Einkommensniveau wurde von ihr bestritten und schlichtweg das Gegenteil behauptet, wobei sie wiederum auf das »großzügige Vermögensbildungsprogramm« verwies.554 Letzteres blieb für die Beschäftigten eine Fiktion, da die Firma auch nach der Selbstverwaltung – zumindest laut Bilanz der Produktionsgesellschaft und entgegen der öffentlichen Darstellungen der Geschäftsleitung – keine nennenswerten Gewinne aufzuweisen hatte. Das Versprechen, den »einzelnen Mitarbeiter bei allen Entscheidungen, die ihn angehen«, einzubeziehen und die Belegschaft »über alle geschäftlichen Dinge« zu informieren, erwies sich wie generell die vermeintlich praktizierten »Glaubenssätze« eines »partnerschaftlichen Credos« als Chimäre.555 Die Diskrepanz zwischen den marketingstrategischen Erfolgsmeldungen nach außen und der zur Rechtfertigung sozialer Einschnitte im Inneren betriebenen »Schwarzmalerei« schürte Misstrauen gegen die Geschäftsleitung und führte Anfang der 1980er Jahre zu einer erneuten Zuspitzung der betrieblichen Konflikte.556 Der im Januar 1980

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Geschäftsleitung, 23. August 1976 (s. Anm. 195), S. 1; Geschäftsleitung, 13. September 1976 (s. Anm. 73), S. 4. 552 Geschäftsleitung, 5. Februar 1977 (s. Anm. 549), S. 1f.; Konzeptpapier, 31. Januar 1978 (s. Anm. 69), S. 3. 553 Geschäftsleitung, 4. Juni 1981 (s. Anm. 225), S. 5; [Rudolf Woge] an Karl Hauenschild, 27. Februar 1982, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2. Diese Behauptung entlarvte der Kasseler Funktionär [Klaus Boehm] als eine Täuschung, da »der Akkord nicht offiziell abgeschafft, sondern [durch die leistungsabhängige Lohngruppeneinstufung lediglich] in den Monatslohn eingebaut« wurde. [Boehm], 18. März 1982 (s. Anm. 432), S. 2. 554 Bilanz, Juli/August 1981 (s. Anm. 400); [Scholz] und Breuer, Glashütte Süßmuth GmbH (s. Anm. 255); Zitat aus Westdeutsche Zeitung, 24. Oktober 1981 (s. Anm. 6). Auch Erasmus Schöfer nahm an, dass die neue Geschäftsleitung der GHS – im Gegensatz zur Zeit der Selbstverwaltung – »übertarifliche Löhne und Weihnachtsgeld« zahle und den Akkord abgeschafft habe. [Klaus Boehm] stellte hingegen klar, dass die Löhne nur im Bereich der Hütte dem Niveau des Kreises Kassel entsprachen. In den anderen Abteilungen lagen »sie erheblich unter dem Durchschnitt anderer Betriebe«. Schöfer, 17. März 1980 (s. Anm. 253), S. 11; [Boehm], 18. März 1982 (s. Anm. 432), S. 2. 555 [Konrad Scholz] zitiert in Bilanz, Juli/August 1981 (s. Anm. 400), S. 25. 556 [Boehm], 18. März 1982 (s. Anm. 432), S. 3; Betriebsrat, 10. Mai 1982 (s. Anm. 429), S. 2.

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neu gewählte Betriebsrat verlieh der angestauten Unzufriedenheit Ausdruck.557 Unter Rückgriff auf das Betriebsverfassungsgesetz und die Verfassung der Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung bemühte er sich darum, Möglichkeiten der Kontrolle und Einflussnahme auf die Unternehmensleitung zurückzugewinnen.558 Erstmals seit Jahren traf er sich wieder mit den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten.559 Vor allem setzte er sich für eine Annäherung der Einkommen an das Niveau der Branchentarifverträge ein. Nach den Jahren der Zurückhaltung und des Verzichts sollte die Belegschaft künftig am von der Geschäftsleitung öffentlich propagierten Unternehmenserfolg und an den Gewinnen der ausgegründeten Vertriebsgesellschaft Wilhelmsthal teilhaben.560 Unterstützung erhielt der Betriebsrat vom Kasseler IG-Chemie-Funktionär [Klaus Boehm], der mit der Geschäftsleitung Verhandlungen über dahingehende Haustarifverträge aufnahm.561 Zur Klärung der im September 1981 nur »durch Zufall« bekannt gewordenen Übertragung bislang von den Mitgliedern der Geschäftsleitung persönlich gehaltener WilhelmsthalAnteile auf die Neuguss GmbH forderten sie die Einberufung eines Wirtschaftsausschusses.562 Um diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen, erschien im Februar 1982 in der SPD-Parteizeitung Vorwärts ein überaus kritischer Artikel über die prekäre Situation der Belegschaft in der Glashütte Süßmuth.563 Die Geschäftsleitung setzte alles daran, die erneute Einflussnahme der Gewerkschaft abzuwehren.564 Auf informellen Wegen versuchte sie, den Betriebsrat wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Es gelang ihr den Betriebsratsvorsitzenden [Rolf Schindler] für einen Meisterlehrgang zu gewinnen, weshalb dieser sein Amt nach einem Jahr niederleg-

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Der seit 1974 amtierende Betriebsratsvorsitzende [Jochen Schmidt] wurde von der Geschäftsleitung zum Prokuristen berufen und schied Anfang 1980 aus dem Betriebsrat aus. Zwischen Januar 1980 und Mai 1981 hatten der Glasmacher [Rolf Schindler] und von Mai 1981 bis März 1985 der Glasmaler [Frank Weber] den Betriebsratsvorsitz inne. Im Frühjahr 1985 wurde [Schindler] erneut zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt. Eine hohe Fluktuation unter den Betriebsräten machte immer wieder vorzeitige Neuwahlen notwendig und war Ausdruck der sehr widrigen Bedingungen für die Arbeit der betrieblichen Interessenvertretung in der GHS. Siehe Unterlagen aus der Betriebsratsarbeit, (GHS) 1980–1985, in: AGI. Protokoll Betriebsrat (GHS), 2. Februar 1980, in: AGI; Betriebsrat, 11. April 1980 (s. Anm. 543); Protokoll Betriebsrat (GHS), 5. Mai 1980, in: AGI; [Frank Weber] an [Klaus Boehm] am 7. Oktober 1981, in: AGI. Protokoll Treffen Betriebsrat und Vertrauensleute, 22. Mai 1980, in: AGI. Betriebsrat, 2. Februar 1980 (s. Anm. 558); Protokoll Betriebsrat (GHS), 9. September 1981, in: AGI; Protokoll Betriebsrat (GHS), 14. Oktober 1981, in: AGI. Kurz nach Erscheinen eines Spiegel-Artikels vom 24. August 1981 (s. Anm. 99), in dem die Geschäftsleitung auf eine erfolgreiche Unternehmensentwicklung verwies, forderte die Belegschaftsvertretung den Abschluss von Haustarifverträgen, die erstmals seit Jahren eine Lohn- und Gehaltserhöhung um 4,9 Prozent vorsahen. Betriebsrat, 9. September 1981 (s. Anm. 560). [Boehm], 18. März 1982 (s. Anm. 432), S. 1f.; Betriebsrat, 9. September 1981 (s. Anm. 560), S. 2; Wahlergebnis Wirtschaftsausschuss (GHS), 24. September 1981, in: AGI. Stellvertretend für die Süßmuth-Beschäftigten, die bei namentlicher Nennung »Repressalien durch die Geschäftsleitung« befürchteten, übte [Klaus Boehm] in diesem Artikel umfassende Kritik an den Lohn- und Arbeitsbedingungen. Vorwärts, 18. Februar 1982 (s. Anm. 252); [Boehm], 18. März 1982 (s. Anm. 432), S. 1. Geschäftsleitung, 3. Dezember 1981 (s. Anm. 384), S. 7.

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te.565 Auf die Vorschläge von [Harald Meier], anstelle des neu zu wählenden Betriebsrats einen (außerhalb der Rechtsgrundlage des Betriebsverfassungsgesetzes tätigen) »Partnerschaftsausschuss« zu berufen oder sich im Wirtschaftsausschuss ohne »Hinzuziehung von Gewerkschaftsvertretern« lediglich über Möglichkeiten zur Senkung der Ausschussquote zu verständigen, gingen die restlichen und neu gewählten Betriebsratsmitglieder indes nicht ein.566 Ebenso erfolglos blieb der Versuch, die Einflussnahme des lokalen Gewerkschaftsfunktionärs durch Diffamierung bei seinen Vorgesetzten zurückzudrängen. Aus Protest gegen die Intervention seitens der Verwaltungsstelle Kassel traten [Meier] und [Konrad Scholz] aus der Gewerkschaft aus.567 Nach Erscheinen des VorwärtsArtikels erklärte auch der Betriebsleiter [Rudolf Woge] in einem persönlichen Schreiben an den Hauptvorstandsvorsitzenden Karl Hauenschild das Ende seiner 32-jährigen Mitgliedschaft in der IG Chemie, das er mit den von [Klaus Boehm] veröffentlichten »Unwahrheiten« begründete.568 [Meier] habe [Paul Nowak], [Frank Weber] und andere gewerkschaftlich aktive Belegschaftsmitglieder zu ähnlichen Schreiben aufgefordert.569 Die Geschäftsleitung konnte die Reaktivierung einer ihr kritisch gegenüberstehenden Interessenvertretung der Beschäftigten nicht verhindern und sich deren rechtlich abgesicherten Forderungen offiziell nicht entziehen. Mit ihrer Hinhaltetaktik hatte sie jedoch Fakten geschaffen.570 In der Zwischenzeit vollzog sie jene von der Belegschaft zunächst völlig unbemerkten Eigentumsveränderungen, aus denen Neuguss als alleinige Eigentümerin der Vertriebsgesellschaft Wilhelmsthal hervorging.571 Entgegen ihrer Versprechungen ließ sie den Anfang 1982 heruntergefahrenen (noch funktionsfähigen) Ofen nicht durch einen neuen bzw. umgebauten Ofen ersetzen.572 Die dauerhafte Umstel565 Protokoll Betriebsrat (GHS), 8. Januar 1981, in: AGI. 566 Protokoll Betriebsrat (GHS), 2. Februar 1981, in: AGI; [Weber], 7. Oktober 1981 (s. Anm. 558). Zum »Partnerschaftsausschuss« als Element des AGP-Konzepts »betrieblicher Partnerschaft« siehe Ruth Rosenberger, Experten für Humankapital. Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland, München 2008, S. 253. 567 [Boehm], 18. März 1982 (s. Anm. 432), S. 2; [Weber], 7. Oktober 1981 (s. Anm. 558), S. 1. 568 [Woge], 27. Februar 1982 (s. Anm. 553). 569 Dies gab [Paul Nowak] in der Verwaltungsstelle Kassel mündlich zu Protokoll. [Frank Weber] schrieb daraufhin tatsächlich einen Brief an Hauenschild und Vitt. In diesem dankte er [Boehm] im Namen der Belegschaft für seine »Einsatzbereitschaft«. [Boehm], 18. März 1982 (s. Anm. 432), S. 3; [Weber], 1. April 1982 (s. Anm. 528). 570 Die im September 1981 ausgehandelten Haustarifverträge hatte die Geschäftsleitung im März 1982 noch nicht unterschrieben. Der seit September 1981 vom Betriebsrat geforderte Wirtschaftsausschuss mit gewerkschaftlicher Beteiligung trat erst im Oktober 1982 zusammen. Betriebsrat, 9. Dezember 1981 (s. Anm. 458); [Klaus Boehm] an Geschäftsleitung (GHS), 15. Dezember 1981, in: AfsB, Bestand IG Chemie; [Boehm], 18. März 1982 (s. Anm. 432); Tagesordnung Wirtschaftsausschuss, 5. Oktober 1982, in: AGI. 571 Weil die Geschäftsleitung diese Vorgänge vor der Belegschaftsvertretung geheim hielt, ist der Zeitpunkt und Ablauf der Anteilsübertragungen nicht vollständig rekonstruierbar. Auch die staatliche Prüfungsgesellschaft konnte diese Eigentumsveränderungen im März 1983 nur vage datieren: Die GHS habe »vor einiger Zeit« ihre Beteiligung an der Wilhelmsthal GmbH »aufgegeben«, die »nunmehr« im alleinigen Besitz der Neuguss GmbH war. Treuarbeit, 16. März 1983 (s. Anm. 103), S. 3. Siehe Kapitel 9.1. 572 Betriebsrat, 24. Juni 1981 (s. Anm. 271), S. 2f.; Betriebsrat, 12. Februar 1982 (s. Anm. 425). Siehe Kapitel 9.3.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

lung auf den Einofenbetrieb ermöglichte es ihr, den bis dahin schleichenden Personalabbau zu forcieren.573 Zeitgleich kündigte [Harald Meier] seinen Rückzug aus der Glashütte Süßmuth an, um sich auf die Geschäftsführung der gesellschaftsrechtlich nunmehr aus der Süßmuth-Gruppe herausgelösten Wilhelmsthal GmbH zu konzentrieren.574 Die Handwerkerhöfe sollten wiederum aus Wilhelmsthal ausgegliedert und als eigenständige Gesellschaft vom Marketingangestellten [Gerd Schmieder] fortgeführt werden.575 Über beide Vertriebsgesellschaften sollte künftig der Zukauf ausgeweitet werden.576 Diese Entscheidungen waren Bestandteil eines spätestens Ende der 1970er Jahre insgeheim besiegelten Plans, das Unternehmen stärker auf den Vertrieb mit zugekaufter Handelsware bei gleichzeitigem Abbau der Produktionskapazitäten auszurichten.577 Der Belegschaft wurden sie 1982 jedoch – mit Verweis auf eine rückläufige Auftragslage bei zugleich steigenden Energiekosten – als akut krisenbedingte Maßnahmen zur Anpassung an die »allgemeine Wirtschaftslage« und die »Strukturprobleme der Glasbranche« vermittelt; um die Existenz des Unternehmens nicht zu gefährden, gebe es dazu keine Alternativen.578 Die Geschäftsleitung änderte nun auch ihre Öffentlichkeitsstrategie. Statt wie bislang den Unternehmenserfolg herauszustellen, stimmte sie in den branchenübergreifenden Krisentenor ein und startete im Dezember 1982 eine entsprechende PR-Kampagne: In mehreren Regionalzeitungen erschienen wortgleiche Artikel, in denen der neue Geschäftsführer [Konrad Scholz] über die im »Partnerschaftsunternehmen« vermeintlich praktizierte »Politik der gläsernen Taschen« informierte.579

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Im August 1982 beschloss die Geschäftsleitung im Zusammenhang mit der Umstellung auf den Einofenbetrieb einen Personalabbau von 170 auf 100 Beschäftigte, den sie der Belegschaft nur häppchenweise vermittelte. So sprach sie im Herbst 1982 von zunächst nur 30 bis 40 Entlassungen. Protokoll Geschäftsleitung (GHS), 6. August 1982, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 1; DGB Kassel an [Otto Rentsch], 26. Oktober 1982, in: AGI. Ab Juni 1982 übernahm [Konrad Scholz] die Geschäftsführung der GHS, [Harald Meier] blieb noch bis Ende 1982 »mitverantwortlicher Geschäftsführer«. Betriebsrat, 10. Mai 1982 (s. Anm. 429), S. 2; Protokoll Betriebsrat (GHS), 17. Mai 1982, in: AGI, S. 1. Zu diesem Zwecke sollte die [Gerd Schmieder] GmbH gegründet werden. [Scholz], 20. September 1982 (s. Anm. 65); Entwurf Gesellschaftsvertrag [Gerd Schmieder] GmbH, undatiert [September 1982], in: Privatarchiv (c) Immenhausen. Lagebericht [Harald Meier], 7. Dezember 1981, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2, 4. Unter dem Siegel strengster Vertraulichkeit hatte die Geschäftsleitung im Mai 1979 endgültig beschlossen, »die Produktion nach unten zu fahren und gleichzeitig das Handelsgeschäft anzukurbeln und steil nach oben zu fahren.« Geschäftsleitung, 22. Mai 1979 (s. Anm. 225); Ähnlich bereits: Sanierungsprogramm, 16. Dezember 1976 (s. Anm. 381); Bekräftigt: Geschäftsleitung, 3. Dezember 1981 (s. Anm. 384). Betriebsrat, 20. April 1982 (s. Anm. 271); Betriebsrat, 20. September 1982 (s. Anm. 384); Betriebsrat, 18. Oktober 1982 (s. Anm. 385); [Meier], 12. Mai 1982 (s. Anm. 239), S. 3; Vorwärts, 18. Februar 1982 (s. Anm. 252); HNA, 16. November 1982 (s. Anm. 427); Vorwärts, 2. Dezember 1982 (s. Anm. 541). Folgende Zitate von [Konrad Scholz] aus »Gläserne Taschen helfen Arbeitsplätze zu sichern. Arbeiternehmer verzichten jetzt auf Lohnerhöhung«, in: Westfälischer Anzeiger, 11. Dezember 1982, in: Privatarchiv Siebert. Überlieferte Zeitungen, in denen dieser Artikel (teils in gekürzter Fassung) erschien: Frankfurter Neue Presse, Hessische/Niedersächsische Allgemeine, Donau Kurier, General-Anzeiger, Kölnische Rundschau, Münchener Merkur, Nürnberger Zeitung, Offenbacher-Post, Oldenburgische Volkszeitung, Die Rheinpfalz, Stuttgarter Nachrichten, Werra-Rundschau, Wetzlarer Neue Zeitung, in: Privatarchiv Siebert und AGI.

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Die Belegschaft könne es »nicht ignorieren, wenn die Taschen leer sind«, und habe »deshalb beschlossen, auf eine Lohnerhöhung zu verzichten«. Dieses trickreiche Vorgehen und die trotz der umfangreichen Entbehrungen der Belegschaft in den vorangegangenen Jahren sich erneut abzeichnende krisenhafte Unternehmenswicklung führte beim Betriebsrat zu einem endgültigen Vertrauensverlust in die Geschäftsleitung. Bis dahin hatte er sich – aus Verständnis für die wirtschaftlich schwierige Lage des Unternehmens – noch kooperationsbereit gezeigt.580 In den von der Geschäftsleitung und der Anteilseignerin Neuguss lancierten Plänen konnte er aber keinen Beitrag zur künftigen Stabilisierung der Firma und zur Sicherung der Arbeitsplätze erkennen, im Gegenteil: Die betrieblichen Belegschaftsvertreter*innen führten hinsichtlich der Einofenumstellung 1982 die gleichen Bedenken an wie bereits bei der Zweiofenumstellung 1974, die sich in beiden Fällen bewahrheiteten.581 Ebenso lehnten sie die Ausweitung des Zukaufs ab, da dieser das Unternehmen erst »in sehr ernste Schwierigkeiten gebracht hat«.582 Grundsätzlich forderten sie eine Rückverlagerung des Investitionsschwerpunkts auf den Bereich der Produktion und die Beseitigung der Missstände im Betrieb, wozu sie in ihrer Kritik mehrfach Verbesserungsvorschläge unterbreitet hatten. Die Fronten zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat hatten sich im Frühjahr 1982 verhärtet.583 Die auf sachlicher Ebene bestehenden Meinungsverschiedenheiten wurden – in einem von wechselseitigem Misstrauen und Vorwürfen geprägten Betriebsklima – als jeweils unlautere Absichten ausgelegt. Von Anfang an hatte [Harald Meier] insbesondere die Glasmacher verdächtigt, sie würden mit falschen Angaben in den Akkordverhandlungen »mögliche Gewinne […] privatisier[en]«, während die Verluste »von der Betriebsgemeinschaft zu tragen« seien.584 Dem sollte die Gründung der Wilhelmsthal GmbH einen Riegel vorschieben.585 Alarmiert von der Forderung des 1980 neugewählten Betriebsrats, die Belegschaft sei künftig an Wilhelmsthal finanziell zu beteiligen, übertrugen [Meier], [Scholz] und [Woge] ihre Gesellschaftsanteile an Neuguss. Die Mitglieder der Geschäftsleitung standen dagegen unter dem Verdacht, sie wollten sich »die Firma unter den Nagel reißen« bzw. sich über die Ausgründung der Vertriebsgesellschaften persönlich bereichern.586 Als [Meier] im Mai 1982 seinen Wechsel in die Geschäftsführung der aus der Süßmuth-Gruppe herausgelösten Wilhelmsthal GmbH ankündigte,

580 Seine Kooperationsbereitschaft untermauerte der Betriebsrat mit dem Beschluss, seit Juni 1981 wieder außerhalb der Arbeitszeit zu tagen. Auch gab er weiterhin seine Zustimmung zur Samstagsarbeit, zum Verzicht auf die eigentlich vereinbarte Weihnachtsgelderhöhung und im Februar 1982 schließlich zur Wiedereinführung von Kurzarbeit. Immer wieder forderte der Betriebsrat von der Geschäftsleitung, auch sie müsse stärker kooperieren und vor allem weitere Entlassungen vermeiden. Siehe Protokolle Betriebsratssitzungen (GHS), 1981–1982, in: AGI. 581 Siehe Kapitel 5.1 und Kapitel 9.3. 582 Protokoll Betriebsrat (GHS), 2. Februar 1983, in: AGI, S. 2. 583 Protokoll Betriebsrat (GHS), 23. März 1982, in: AGI; Betriebsrat, 10. Mai 1982 (s. Anm. 429). 584 Geschäftsleitung, 13. September 1976 (s. Anm. 73), S. 1. 585 Geschäftsleitung, 22. Mai 1978 (s. Anm. 73). 586 [Harald Meier] an Franz Fabian, 3. Juni 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen, S. 2. Die Intransparenz der Eigentumsverhältnisse in der Süßmuth-Firmengruppe hatte in Belegschaft und unter Gewerkschaftsfunktionären diesen Verdacht verfestigt.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

befürchtete der Betriebsrat, er werde diese in seiner »Verärgerung« künftig als Konkurrenzunternehmen aufbauen.587 Der vom neuen Süßmuth-Geschäftsführer [Scholz] forcierte Personalabbau trotz bestehendem Personalmangel erweckte im Betriebsrat den Eindruck, man habe »es mit einer verdeckten Liquidation des Unternehmens zu tun«.588 Der Neuguss-Geschäftsführer [Rudolf Betz] schaltete sich in dieser Situation erstmals direkt in die betrieblichen Auseinandersetzungen ein.589 Als Vertreter der neben der Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung gleichberechtigten Eigentümerin war er wie die Geschäftsleitung von der Notwendigkeit einer Schwerpunktverlagerung auf neue Geschäftsfelder überzeugt. Der Belegschaft stellte er informell in Aussicht, Neuguss werde künftig als »Klammer« zwischen Süßmuth und Wilhelmsthal fungieren, eine Konkurrenzsituation sei daher nicht zu befürchten. Die Anteile an Süßmuth und Wilhelmsthal wusste Neuguss vor allem aber als Druckmittel gegenüber dem Betriebsrat einzusetzen, um diesen wieder auf den Verzichtsmodus zu verpflichten.590 Neuguss machte hiervon seine Bereitschaft für die (im Zuge der erneuten Kreditaufnahme vom Land Hessen als Voraussetzung für eine Ausfallbürgschaft geforderte) Darlehensvergabe und die Rückübertragung der Wilhelmsthal-Anteile an die Glashütte Süßmuth abhängig. Seine darüber hinausreichenden Flexibilisierungsvorstellungen konnte [Betz] nicht durchsetzen.591 Auch seine Vorschläge zur Neuausrichtung des Unternehmens auf andere handwerkliche, soziale oder landwirtschaftliche Tätigkeitsfelder waren für die Beschäftigten komplett abwegig, da sie mit dem Kerngeschäft der Glashütte Süßmuth in keinerlei Zusammenhang standen. Der Betriebsrat konnte die Planungen der Geschäftsleitung durchkreuzen – einen grundlegenden Richtungswechsel in der Unternehmensentwicklung konnte er aber nicht mehr herbeiführen. Kurzzeitig gewann er Mitsprache- und Kontrollmöglichkeiten zurück, die ihm der neue und seit [Meiers] Ausscheiden alleinige Geschäftsführer [Scholz] den Beschäftigten bei seinem Amtsantritt auch zusicherte.592 Im Juni 1982 wurde der Betriebsratsvorsitzende [Frank Weber] in den Aufsichtsrat berufen.593 [Weber] nahm in den erneuten Kreditverhandlungen mit dem Land Hessen eine vermittelnde Rolle ein.594 Die geplante Gesellschaftstrennung wurde vom Betriebsrat blockiert: Die Vertriebsgesellschaft Wilhelmsthal wurde (temporär) in das Eigentum der Süßmuth GmbH rückgeführt und der Zukauf von Handelsware wieder gedrosselt.595 Trotz seines 587 588 589 590

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Betriebsrat, 10. Mai 1982 (s. Anm. 429), S. 2. Betriebsrat, 14. September 1982 (s. Anm. 458), S. 2. Folgendes aus Betriebsrat, 10. Mai 1982 (s. Anm. 429). Folgendes aus Rundbrief [Konrad Scholz] an die Belegschaft, 3. Februar 1983, in: AGI; [Betz], 8. April 1983 (s. Anm. 428); [Boehm], 13. September 1983 (s. Anm. 425), S. 2; [Rudolf Betz] an Treuarbeit, 5. August 1983, in: Archiv HMdF. Siehe Kapitel 9.3. [Scholz], 7. Mai 1982 (s. Anm. 271); Betriebsrat, 17. Mai 1982 (s. Anm. 574). Betriebsrat, 7. Juli 1982 (s. Anm. 59), S. 2. [Frank Weber] stand in Kontakt mit dem SPD-Landtagsabgeordneten Udo Schlitzenberger und sei als Stiftungsvorsitzender vom Land Hessen »ins Obligo genommen« worden, was für die kurzfristige Beantragung der Kreditmittel von Vorteil gewesen sei. Protokoll Betriebsrat (GHS), 12. Februar 1983, in: AGI, S. 2. Dem Betriebsrat war dabei bewusst, dass aufgrund der stark reduzierten Produktionskapazitäten ein »Teilzukauf notwendig« geworden war, der Zukauf sollte aber künftig »im Rahmen der richti-

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Einspruchs konnte der Betriebsrat weitere Entlassungen jedoch nicht verhindern.596 Auch wurde im Zuge der erneuten Verschuldung der kurz zuvor in Angriff genommene Plan unterlaufen, die Einkommen in der Glashütte Süßmuth wieder auf Tarifniveau zu heben.597 Die ersten fachlichen Meinungsverschiedenheiten bestärkten [Scholz] schließlich in einer weiterhin eigenmächtigen und gegenüber den Beschäftigten intransparenten Entscheidungsfindung.598 Zeigten sich die Entscheidungsträger in der Glashütte Süßmuth nach der Selbstverwaltung – auf ähnliche Weise wie bereits zuvor Richard Süßmuth, [Hans Müller] oder Franz Fabian – enttäuscht von der Unvernunft, Uneinsichtigkeit und Undankbarkeit der Beschäftigten, deren »Politik der Interessenvertretung und eines künstlich aufgebauten Gegensatzes zwischen Arbeit und Kapital« ihnen »einfach unbegreiflich« war,599 so war es diesem Personenkreis am ehesten gelungen, die eigenen Interessen zu wahren. [Harald Meier] gründete – da sich der Wilhelmsthal-Plan nicht realisieren ließ – mit seiner bis dahin im Vertrieb arbeitenden Ehefrau [Jutta Meier] und dem Süßmuth-Verkaufsleiter [Ralf Köhler] im September 1982 ein eigenes Handelsunternehmen.600 In dessen Angebot fanden sich von [Jutta Meier] einst für Süßmuth entworfene Produkte wieder.601

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gen Relation« liegen. Protokoll Betriebsrat (GHS), 12. Januar 1983, in: AGI; Betriebsrat, 2. Februar 1983 (s. Anm. 582), S. 2. Siehe Protokolle Betriebsratssitzungen (GHS) am 23. März, 14. September und 7. Dezember 1982, in: AGI; Betriebsrat, 13. Oktober 1982 (s. Anm. 457). Die in den Haustarifen vereinbarten Lohn- und Gehaltserhöhungen um 4,9 Prozent (1981) und um 4,2 Prozent (1982) wurden den Beschäftigten nicht ausgezahlt, sondern in Form eines dem Unternehmen als Rücklage zugeführten »Investivlohns« vorgenommen. Jene der Jahre 1983 und 1984 um insgesamt 3,1 Prozent sowie jene in Höhe von insgesamt 75.000 DM für 1985 flossen »in einen Fond zur Schaffung von Eigenkapital«. Im Zuge des Schuldenschnitts wurden die zurückgestellten Lohnansprüche der Beschäftigten ein weiteres Mal ohne Entschädigung gestrichen. Entgegen der 1980 getroffenen Vereinbarung wurden weiterhin weder Weihnachtsgeld noch Überstundenzuschläge gezahlt. Tarifkommissionssitzung, 19. August 1982 (s. Anm. 431); Betriebsrat, 20. September 1982 (s. Anm. 384); Betriebsrat, 2. Februar 1983 (s. Anm. 582); Betriebsrat, 3. März 1983 (s. Anm. 425); [Boehm], 13. September 1983 (s. Anm. 425); Treuarbeit, 8. April 1986 (s. Anm. 309), S. 2. Siehe bspw. die Kontroverse zwischen Geschäftsführer und den Facharbeitern über die Möglichkeiten der Fertigung von spülmaschinenfestem Glas. Notiz [Hartmut Breuer], 3. September 1982, in: AGI; [Konrad Scholz] an [Rolf Schindler] am 3. September 1982, in: AGI; [Rolf Schindler] an [Konrad Scholz], 6. September 1982, in: AGI. [Betz], 8. November 1983 (s. Anm. 536), S. 2; [Fischer], 8. Juni 1984 (s. Anm. 539), S. 2; [Harald Meier] in Geschäftsleitung, 3. Dezember 1981 (s. Anm. 384); [Konrad Scholz] in Betriebsrat, 18. Oktober 1982 (s. Anm. 385). Siehe Handelsregistereinträge [Jutta Meier] KG und [Jutta Meier] GmbH, in: Archiv AGK. Über die Lizenzen und Urheberrechte der Entwürfe [Jutta Meiers] war es bereits bei den Verhandlungen über die zunächst geplante gesellschaftsrechtliche Trennung von Wilhelmsthal und Süßmuth im Sommer 1982 zum Streit gekommen. [Harald Meier] stellte der GHS hierfür knapp 20.000 DM in Rechnung, was der Betriebsrat als ungerechtfertigt ablehnte: [Jutta Meier] habe einst ihre kostenlose bzw. im Rahmen ihrer Festanstellung abgeglichene Mitarbeit zugesichert, so wie dies auch von allen anderen Beschäftigten erwartet und geleistet wurde. Zudem habe es sich laut Erinnerung von Zeitzeug*innen hierbei um geringfügige Abänderungen früherer Entwürfe von Richard Süßmuth oder Hans Theo Baumann gehandelt. [Herbert Fischer] an [Harald Meier] und [Konrad Scholz], 20. September 1982, in: AGI, S. 2.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

Auch konnten [Meier] und [Köhler] Kund*innen und Handelsvertreter*innen der Glashütte Süßmuth, zu denen sie durch ihre leitenden Positionen im Vertrieb Kontakte besaßen, offensichtlich zum Teil erfolgreich abwerben.602 Mit dem Angebot sehr ähnlicher Produkte zu aufgrund des Zukaufs sehr viel günstigeren Preisen entwickelte sich dieses Unternehmen in den folgenden Jahren zum größten Konkurrenten für Süßmuth.603 Ein justiziabler Rechtsbruch lag offenbar nicht vor, doch selbst [Konrad Scholz] und [Rudolf Betz] – die zunächst von einer einvernehmlichen Zusammenarbeit mit [Meiers] und [Köhlers] Firma ausgegangen waren und die Warnungen des Betriebsrats ignorierten – teilten schließlich dessen Bewertung vom Vorgehen des einstigen Geschäftsführers als einen Verstoß gegen »Treu und Glaube«.604 Die Gesellschafterin Neuguss zog sich Anfang 1986 ebenfalls aus der Glashütte Süßmuth zurück. Als Entschädigung für ihre an Wert verlorenen Anteile an der verschuldeten Glashütte gingen die Wilhelmsthal-Anteile zuletzt wieder auf Neuguss über.605 Wie teils bereits 1982 geplant, wurden dieses Handelsunternehmen und die dazugehörenden Handwerkerhöfe von [Gerd Schmieder] übernommen.606 Auch diese seit 1991 als [Schmieder] GmbH firmierende Firma war fortan Konkurrentin für Süßmuth. Ende der 1980er Jahre wurde in der Süßmuth-Villa ein sozialpädagogisches Projekt zur »Integration [von] jugendlichen Arbeitslosen in das Arbeitsleben« eröffnet, was [Rudolf Betz] bereits seit 1977 angeregt hatte.607 Für Neuguss hatte sich damit eine Nachhaltigkeit ihrer Investition im Fall Süßmuth hergestellt, worauf sie durchweg bedacht war. Aus Perspektive der Beschäftigten war die Firma letztlich zu einem »Selbstbedienungsladen« verkommen. Der Werkmeister [Detlef Wenzel] stand beispielsweise in der Kritik, [Meier] kostenlos mit für die Schmelze noch verwertbaren Scherben beliefert oder Material und Arbeitskräfte für Privatarbeiten genutzt zu haben.608 Unangenehme Geschichten habe es auch mit dem Steuerberater [Herbert Fischer] gegeben, der bis 1986 als Aufsichtsrats-

602 Treuarbeit, 16. März 1983 (s. Anm. 103), S. 3. 603 [Harald Meier] habe eine eigentlich für die GHS geplante »Streichglaskollektion« mitgenommen und »entgegen früherer Absprachen Kelchglas aus Billigimporten« verkauft. [Boehm], 13. September 1983 (s. Anm. 425), S. 1; Ebenso [Konrad Scholz] in Betriebsrat, 12. Februar 1983 (s. Anm. 594), S. 2. 604 Obwohl der Betriebsrat schon im Juli 1982 vor der gefährlichen Konkurrenz warnte, bewarb [Scholz] im August 1982 gegenüber Kund*innen die künftig »enge« Zusammenarbeit beider Firmen. Erst Anfang 1983 räumte [Scholz] seine »Entrüstung« ein, da [Meier] sich nicht an die »nur mündlichen Absprachen« hielt. Neuguss kündigte daraufhin ihre Kommanditbeteiligung an [Meiers] Unternehmen auf. Betriebsrat, 7. Juli 1982 (s. Anm. 59), S. 1; Rundbrief [Konrad Scholz] an die Kund*innen, August 1982, in: AGI; Betriebsrat, 12. Februar 1983 (s. Anm. 594), S. 2; Treuarbeit, 16. März 1983 (s. Anm. 103), S. 3. 605 Siehe Kapitel 9.1. 606 Siehe Handelsregisterauszug der [Gerd Schmieder] GmbH, in: Archiv AGK. 607 Realisiert wurde dieses dem Zweck der Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung entsprechende Projekt über einen neugegründeten Verein, der hierfür die Mittel aus der Zustiftung der Rexroth-Stiftung in Anspruch nahm. Geschäftsbericht Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung 1987 (s. Anm. 55), S. 2; Geschäftsleitung, 20. September 1977 (s. Anm. 216), S. 5–7. Siehe Kapitel 9.1. 608 Betriebsrat, 2. Februar 1983 (s. Anm. 582), S. 1; [Konrad Scholz] an [Detlef Wenzel], 9. Februar 1983, in: AGI.

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vorsitzender amtierte und der Firma rückwirkend seine Beratungsarbeit zu einem Stundensatz von 120 DM in Rechnung stellte.609 Die Belegschaft sah sich dagegen gezwungen, sich der »fast bis an die Grenzen des Erträglichen gehenden Machtausübung von Seiten der Geschäftsführung beugen« zu müssen, und stand am Ende mit leeren Händen da.610 Zwar hatte der Betriebsrat seit Anfang der 1980er Jahre wieder zu einer kollektiven Form der Interessenvertretung zurückgefunden, aber seine Handlungsoptionen waren stark eingeschränkt. Mit der Stilllegung des zweiten Ofens wurde er erneut vor vollendete, aus seiner Position irreversible Tatsachen gestellt. Der fehlende Ein- und Überblick über Entwicklungen innerhalb des Süßmuth-Firmengeflechts erschwerte ihm eine verlässliche Einschätzung der ökonomischen Situation des Unternehmens und somit darüber, inwiefern die Krisenrhetorik der Geschäftsleitung gerechtfertigt war oder nicht. Angesichts der seit 1982 permanent thematisierten Konkursbedrohung verfestigten sich die Entbehrungen der Beschäftigten, auf die sie im Zuge der erneuten Verschuldung nicht nur von der Geschäftsleitung, sondern auch von Neuguss und erneut vom Land Hessen als Voraussetzung für deren jeweilige Finanzhilfen verpflichtet wurden.611 Im Gegensatz zu den Gläubigern konnten die Beschäftigten weder Sicherheiten für ihre Beiträge zum Erhalt des Unternehmens in Anspruch nehmen, noch hatten sich ihre Einflussmöglichkeiten auf die unternehmerische Entscheidungsfindung erweitert. Die Schwächung der Belegschaft und ihrer Interessenvertretung war mit dem Verlust nahezu jeglicher Legitimität ihrer Ansprüche einhergegangen. Hatte sich am Ende der Selbstverwaltung die Deutung durchgesetzt, die Forderung nach demokratischer Teilhabe sei utopisch und einer ökonomischen Stabilisierung des Unternehmens abträglich, so erschien in Zeiten der Krise nun selbst die Verteidigung der Arbeitsplätze und der finanziellen Existenzgrundlage der Beschäftigten als unvernünftig und vermessen.612 Die Geschäftsleitung vermochte die außerbetriebliche Öffentlichkeit und die Gewerkschaft glauben machen, sie habe das Unternehmen bis zur (vorrangig durch externe Fak-

609 [Fischer] beanspruchte auf dem Betriebsgelände gelagerte Glasbestände als seinen Besitz, dessen Rechtmäßigkeit die Belegschaftsvertreter*innen im neu gewählten Aufsichtsrat bestritten. Daraufhin legte [Fischer] dem Aufsichtsrat eine Rechnung in Höhe von 50.000 DM vor, was – da alle Mitglieder ohne Entgelt arbeiteten – Proteste auslöste. Aufsichtsrat, 30. November 1988 (s. Anm. 109), S. 4. 610 [Weber], 1. April 1982 (s. Anm. 528). Mit der Belegschaft war in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre über einen Sozialplan in Höhe von 150.000 DM verhandelt worden, noch im November 1988 war dessen Finanzierung indes völlig unklar. Zu welchen Konditionen ein Sozialplan in Kraft trat, ist nicht überliefert. Der Glasmacher [Bernhard Kolbe] erhielt bei seiner Kündigung eine – gemessen an 31 Jahren Betriebszugehörigkeit – nur geringe Abfindung in Höhe von 4.000 DM. Aufsichtsrat, 30. November 1988 (s. Anm. 109); Protokoll Telefonat der Autorin mit [Bernhard Kolbe], 24. Juni 2014, im Besitz der Autorin, S. 1. 611 Treuarbeit, 8. April 1986 (s. Anm. 309), S. 2; Treuarbeit, 16. März 1983 (s. Anm. 103), S. 9. Der Betriebsrat sah sich zum Einlenken gezwungen, da andernfalls die Landesregierung die Übernahme der Ausfallbürgschaft verweigert hätte und damit der Betrieb »pleite« gewesen sei. Betriebsrat, 3. März 1983 (s. Anm. 425). 612 Siehe bspw. [Fischer], 8. Juni 1984 (s. Anm. 539).

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

toren hervorgerufenen) Krise stabilisieren können,613 der Betriebsrat konnte dagegen seine Kritik und Proteste kaum noch rechtfertigen.614 Aufgrund der »ständigen Querelen mit der Geschäftsleitung« trat er im September 1983 geschlossen zurück.615 Bis zuletzt blieben die Arbeitsbeziehungen in der Glashütte Süßmuth angespannt und die Belegschaft gespalten. Zeitweilig einte sie die Empörung über [Meiers] Abgang, aber Meinungsverschiedenheiten über die künftige Unternehmensentwicklung und über die Notwendigkeit des Zukaufs von Handelsware blieben bestehen. Insbesondere die Glasmacher forderten eine Revision dieser Entwicklung,616 während Angehörige andere Beschäftigtengruppen – vor allem aus dem Vertrieb – eher zu der Ansicht tendierten, dass die Firma ohne Zukauf nicht mehr existieren könne.

Bewährung und Bewertung der Unternehmensstrategien aus betrieblicher Perspektive Kooperative Arbeitsbeziehungen herrschten in jenen Unternehmen vor, deren Leitungen bei der Anpassung an sich ändernde Wettbewerbsbedingungen die Charakteristika der Mundglasfertigung berücksichtigten und vor allem den hohen Stellenwert des erfahrungsbasierten und betriebsspezifischen Fertigungswissens der Beschäftigten anerkannten. Um diese in weiten Teilen nicht formalisierten, für die Qualitätsproduktion aber sehr wertvollen körper- und praxisgebundenen Wissensbestände für die Produktentwicklung oder betriebliche Rationalisierung nutzen zu können, musste das Führungspersonal bereit sein, sich ernsthaft mit Hinweisen und auch mit Kritik aus der Belegschaft auseinanderzusetzen. Der langfristig stabile Konsens in diesen Mundglashütten basierte auf von Geschäftsführung wie Belegschaft geteilten Vorstellungen vom richtigen Wirtschaften, die im Unternehmenserfolg Bekräftigung fanden. Hierüber vermochten die Leitungen der Glashütten Eisch, Wiesenthal und Rosenthal ihre Autorität im Betrieb sowie die Arbeitsdisziplin und Kooperationsbereitschaft der Belegschaft aufrechtzuerhalten. Die Disziplinierung der Arbeitenden erfolgte wie bislang üblich im Fertigungsprozess über die materielle Qualität der Produkte, was mit deren Qualitätsansprüchen an die eigene Arbeit im Einklang stand. Diesen der Qualitätsproduktion inhärenten Anreiz zur intrinsischen Motivierung der Beschäftigten durch die Lohn- und Personalpolitik zu verstärken, lag nahe, da mit dem basisdemokratischen Aufbruch um 613

[Klaus Boehm] in Vorwärts, 18. Februar 1982 (s. Anm. 252); [Boehm], 18. März 1982 (s. Anm. 432), S. 1; Betriebsrat, 25. November 1982 (s. Anm. 454), S. 2; Ebenso Treuarbeit, 16. März 1983 (s. Anm. 103); Bericht HMdF, 25. Februar 1986, in: Archiv HMdF. 614 Nur aufgrund der »gegenwärtigen Presseveröffentlichungen« der Geschäftsleitung und der Gefahr, »in der Öffentlichkeit das Gesicht zu verlieren«, nahm der Betriebsrat im November 1982 von einem geschlossenen Rücktritt Abstand. Betriebsrat, 25. November 1982 (s. Anm. 454). 615 [Boehm], 13. September 1983 (s. Anm. 425), S. 2. 616 Im Sommer 1985 legten die Glasmacher für eine Stunde die Arbeit nieder aus Protest gegen die »seit Jahren« anhaltende »ständige Kurzarbeit« und unbezahlten Überstunden, während zugleich die »ständige Zukaufware […] mit dazu beiträgt, dass eine Vollbeschäftigung bisher nicht erreicht wurde.« [Rolf Schindler] an [Konrad Scholz], 24. Juni 1985, in: AGI. Hinzu kam die Kritik am unprofessionellen Vorgehen der Geschäftsleitung beim Zukauf von »Fremdglas«, das bspw. 1982 aufgrund der schlechten Qualität unter dem Einkaufspreis weiterverkauft werden musste und in diesem Fall ein Verlustgeschäft war. Betriebsrat, 21. November 1983 (s. Anm. 545).

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»1968« in der Bundesrepublik externe oder repressiv formulierte Leistungsanreize an Wirksamkeit einbüßten. Regelmäßige Investitionen in die Produktionsanlage sicherten die Grundlagen für eine hohe Qualität der Produkte, die auf die Belegschaft sinnstiftend und arbeitsmotivierend wirkte. Zur grundlegenden Bedingung kooperativer Arbeitsbeziehungen gehörte, dass die Unternehmensleitungen ernsthaft mit den Belegschaftsvertretungen zusammenarbeiteten und sie – wie in den Mundglashütten traditionell üblich – konsequent an den Lohnverhandlungen beteiligten. Überliefert ist dies für die Glashütte Eisch, die zwar im Laufe der 1970er Jahre (wie viele andere Mundglashütten) aus dem Arbeitgeberverband ausgestiegen war.617 Aufgrund des Fachkräftemangels und der Beschäftigungsalternativen in den »Hütten der Umgebung« orientierte sie sich aber weiterhin an den Inhalten der Tarifverträge.618 Die Tarifflucht ermöglichte Eisch, die Entlohnung gemeinsam mit den Belegschaftsvertreter*innen auf die unternehmensspezifische Artikelvielfalt abzustimmen, die in den überbetrieblich ausgehandelten Tarifverträgen nicht berücksichtigt wurde bzw. für diese zu einem Hindernis werden konnte.619 Für den Erfolg der Rationalisierung und der Expansion der arbeitskräfteintensiven Qualitätsproduktion schuf die betriebliche Sozialpolitik die notwendigen Voraussetzungen. Nicht zuletzt förderte das Festhalten an bislang branchenüblichen Praktiken (betrieblicher Wohnungsbau und Freizeitangebote) bei Eisch ein positives Betriebsklima. Diese Praktiken trugen zur Arbeitszufriedenheit und Betriebsbindung der Beschäftigten bei, stärkten den für die Teamarbeit der Glasmacher wie auch für das Funktionieren der Arbeitsabläufe im gesamten Betrieb notwendigen sozialen Zusammenhalt und machten Eisch für neu zu gewinnende Arbeiter*innen und Auszubildende attraktiv. Die in anderen Mundglashütten dagegen von zunehmender Konfrontation geprägten Arbeitsbeziehungen standen im Zusammenhang mit einem Nachrücken von (oftmals branchenfremden) Managern in die Führungsetagen, die im Versuch einer Neujustierung der Wettbewerbsstrategie die Eigenarten der Mundglasfertigung zu überwinden gedachten. Ihre Annahme, die komplexen Herausforderungen von zentraler Stelle und ohne die Beschäftigten bewältigen zu können, zeugte von einer enormen Selbstüberschätzung und zugleich Unterschätzung der zu bewältigenden Herausforderungen. Das Wissen und die Fähigkeiten der Fach- wie Nicht-Facharbeiter*innen wurde meist nicht gewürdigt, ihre Verbesserungs- und Reformvorschläge wurden ignoriert.620 Unrealistische Erwartungen an die Flexibilität und Arbeitsgeschwindigkeit der Glasmacher prägten die Definition der »Normalleistung« in der Akkordfestsetzung oder bei der Lohngruppeneinstufung, auf die die Belegschaftsvertretung kaum noch

617 Folgendes aus [Meier], 30. September 1976 (s. Anm. 150). 618 Die Löhne der Glasmacher hätten bei Eisch sogar »115 bis 125 Prozent über [dem tariflich fixierten] Richtsatz« gelegen. Ebd. 619 Siehe Kapitel 5.2. 620 Für den Fall Süßmuth siehe bspw. Geschäftsleitung, 29. September 1976 (s. Anm. 76), S. 3; Ebenso Geschäftsleitung, 29. März 1976 (s. Anm. 198), S. 3; Klausur Geschäftsleitung, 16. Juli 1976 (s. Anm. 63), S. 1f. Für den Fall Hirschberg siehe Protokollnotiz Besprechung Hirschberg, 20. Oktober 1971 (s. Anm. 130); Betriebsrat an Geschäftsleitung Hirschberg, 20. Mai 1973, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

Einfluss nehmen konnte. Die neuen aus dem Fertigungsprozess herausgelösten Disziplinierungsmethoden übten auf die Beschäftigten einen enormen Leistungsdruck aus und beeinträchtigten ihr Wohlbefinden.621 Mit der Einsparung der betrieblichen Sozialpolitik und den zunehmenden, durch unternehmerische Fehlentscheidungen bzw. Versäumnisse lancierten Qualitätsproblemen schwanden die intrinsischen, betriebsbindenden und den sozialen Zusammenhalt stärkenden Leistungs- und Motivationsanreize.622 Nicht nur zwischen Leitung und Belegschaft, sondern auch unter den Beschäftigten erhöhten sich die Spannungen.623 Für die Glashütte Süßmuth und die meisten Vergleichsunternehmen wirkten sich die konfrontativen Arbeitsbeziehungen nachhaltig negativ aus; sie waren Ursache und Folge krisenhafter Unternehmensentwicklungen gleichermaßen. Die Unternehmensleitungen konnten im Betrieb zwar gegen den Widerstand aus der Belegschaft ihre Vorstellungen durchsetzen. In dem Maße, wie sich ihre Entscheidungen nicht bewährten und Schwierigkeiten beförderten, verloren sie indes an Autorität. Unternehmenspatriarchen wie Richard Süßmuth traten den Beschäftigten mit einem zunehmend autoritären Führungsstil gegenüber.624 Manager wie [Harald Meier] und [Konrad Scholz] setzten auf die pädagogischen Funktionen betriebswirtschaftlicher Kennziffern als Disziplinierungsmethode, zu der bereits die geschäftsführenden Gremien in den Konflikten der Selbstverwaltung übergegangen waren.625 Oder sie propagierten geteilte Werte des Wirtschaftens – wie die Verpflichtung auf den Erhalt des Glasmacherhandwerks, das Angebot von Qualitätsprodukten oder »betriebliche Partnerschaft« –, um die Arbeitsmotivation der Beschäftigten zu stimulieren. Diesen Disziplinierungsmethoden war kein Erfolg beschieden, wenn die Geschäftsleitung – mit der fortgesetzten »Enteignung« der Beschäftigten, der »barbarischen« Rationalisierung oder unrealistischen bzw. intransparenten »Zahlen« – die Voraussetzungen für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit untergrub.

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Für den Fall Süßmuth siehe bspw. Notiz [Harald Meier], 6. Oktober 1976, in: Privatarchiv (c) Immenhausen. Die arbeitswissenschaftliche Untersuchung der Hohlglasindustrie von Hettinger et al. kam zu dem Ergebnis, dass – obwohl »Lärm und Hitzebelastung […] bei der Nennhäufigkeit an oberster Stelle« stand – aus Perspektive der Beschäftigten vor allem »psychische Belastungen« ihre Arbeitsbedingungen negativ beeinträchtigten. Theodor Hettinger, Christian Averkamp und B.H. Müller (Hg.), Belastung und Beanspruchung an Arbeitsplätzen der Glasindustrie, Köln 1984, S. 87–91. Die Reduktion betrieblicher Sozialpolitik gehörte in die zweite Hälfte und v.a. im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einem branchenweiten und -übergreifenden Trend. Siehe Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 331), S. 220; Werner Milert und Rudolf Tschirbs, Die andere Demokratie. Betriebliche Interessenvertretung in Deutschland, 1848 bis 2008, Essen 2012, S. 485–487. Tendenzen der Entsolidarisierung unter Kolleg*innen lassen sich nicht nur in der GHS nachweisen, sondern auch bei Hirschberg, Josephinenhütte und Buder. Siehe bspw. Betriebsrat Hirschberg, Juli 1973 (s. Anm. 366), S. 1; [Günter Nowak], 10. November 2014 (s. Anm. 11), S. 7f.; Raimann etc., 27. Mai 2013 (s. Anm. 141), S. 20; Ein »schlechtes Verhältnis« bzw. »fehlender Kontakt zu anderen Kollegen« nannten viele von Hettinger et al. befragten Beschäftigten als ihre Arbeit belastende Faktoren. Hettinger et al., Arbeitsbedingungen (s. Anm. 333), S. 67f., 75f., 242, 259f. Siehe Kapitel 1.5 und Kapitel 1.6. Geschäftsleitung, 13. Juli 1976 (s. Anm. 387), S. 1; Konzeptpapier, 15. Juni 1976 (s. Anm. 81), S. 2; Klausur Geschäftsleitung, 16. Juli 1976 (s. Anm. 63), S. 5. Siehe Kapitel 7.4.

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Den in vielen Mundglashütten sich verdichtenden und teils eskalierenden Konflikten lag somit ein fundamentaler Bruch mit dem Effizienz- wie Gerechtigkeitsempfinden der Belegschaften zugrunde, der umso tiefer ging, wenn Warnungen der Arbeitenden vor fachlich falschen Entscheidungen nicht gehört wurden oder wenn sie aussichtsreiche Alternativen nicht durchsetzen konnten. Auf Empörung stieß vor allem, wenn Effekte des Verzichts der Belegschaft und des auf Verschleiß Fahrens als kaufmännische Leistung des Managements präsentiert wurden oder wenn – wie eingangs dargelegt – die Schuld für Missstände den Beschäftigten zugeschoben wurde, die hierauf keinen Einfluss nehmen konnten. Angesichts dessen avancierten die Androhung von Entlassungen bzw. die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust und schließlich die Drohung mit dem Konkurs des Unternehmens zu den wichtigsten und oftmals einzigen Disziplinarmitteln, mit denen die Unternehmensleitungen die Beschäftigten auf ein Erdulden der sich verschlechternden Einkommens- und Arbeitsbedingungen sowie die sukzessive Beschneidung ihrer Rechte zu verpflichten versuchten. Selbst der Führungsstil von eigentlich um partnerschaftliche Arbeitsbeziehungen bemühten Geschäftsführern wie [Harald Meier] oder [Konrad Scholz] hatte hierdurch – ähnlich wie zuvor bei [Hans Müller] und Franz Fabian626 – autoritäre Züge angenommen.

Revision zeitgenössischer Deutungen Für den branchenweiten Arbeitskräfte- und Nachwuchsmangel lassen sich jenseits des eingangs erwähnten Ansehensverlusts der Glasberufe handfeste und insbesondere hausgemachte Gründe anführen: Die meisten Mundglashütten investierten kaum noch in das betriebliche Ausbildungswesen und die Nachwuchsförderung. Um junge Menschen für diese vorrangig in der betrieblichen Praxis und nicht innerhalb von drei Jahren zu erlernenden Berufe zu gewinnen, mussten die Unternehmen ihnen Perspektiven zur Weiterqualifizierung, Aufstiegsmöglichkeiten und Arbeitsplatzsicherheit in der Zukunft aufzuzeigen. Dem standen die auf Arbeitsintensivierung abzielenden Rationalisierungsmaßnahmen, die Abwertung des Erfahrungswissens und die Drohung mit dem Arbeitsplatzverlust als Mittel der Disziplinierung entgegen. Hinzu kamen das umfassende Einsparen betrieblicher Sozialpolitik sowie sich verschlechternde Arbeits- und Lohnbedingungen im Zuge gescheiterter Rationalisierungsmaßnahmen. Es waren also in erster Linie die Unternehmensleitungen, die den für die arbeitskräfteintensive Qualitätsproduktion unerlässlichen »Produktionspakt« sukzessive aufgekündigt hatten. An die Stelle bislang branchenüblicher Betriebsbindungpraktiken traten verstärkte Ab- und Anwerbepraktiken. Viele Firmen gingen dazu über, Beschäftigte anderer Glashütten abzuwerben.627 Die Gral-Glashütte war dabei so weit gegangen, dass sie im Sep626 Siehe Kapitel 8.1. 627 Bereits in den 1950er Jahren häuften sich entsprechende Konflikte zwischen den VdG-Mitgliedsfirmen, die 1961 den Ausschlag zum verbandsinternen Abwerbeverbot gaben. Die zahlreichen Ermahnungen des VdG zur Einhaltung dieses »Gentlemen Agreement« zeugen davon, dass Abwerbung gängige Praxis blieb bzw. zunahm. Notiz Georg Peter, 2. März 1955, in: BWA, F 064–75; Korrespondenzen Josephinenhütte und VdG, 1964–1968, in: WABW, Bestand B 164 Bü 1 und 2. Auch die seit 1976 amtierende Süßmuth-Geschäftsleitung bemühte sich um die gezielte Abwerbung von Glasmachern und kompletter Werkstellen aus anderen Glashütten. Geschäftsleitung, 16. Novem-

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tember 1966 temporär aus dem VdG ausgeschlossen wurde.628 Die erhoffte Verfügbarkeit über qualifiziertes Personal gehörte für Gralglas zu einem der Gründe, andere Glashütten zu übernehmen.629 Zudem gewann auch in der Mundglasbranche die Arbeitsmigration an Bedeutung. Nahezu alle Vergleichsunternehmen beschäftigten Arbeiter*innen aus Italien, Griechenland, Portugal, der Türkei oder Jugoslawien.630 Ab- und Anwerbung konnten den Personalmangel jedoch nicht reduzieren, wenn im Unternehmen konfrontative Arbeitsbeziehungen vorherrschten. Der Arbeitskräfte- und Nachwuchsmangel in der Mundglasbranche war aber nicht allein auf unattraktive Arbeits- und Lohnbedingungen zurückzuführen oder auf gestiegene materielle Ansprüche bzw. Bequemlichkeiten der Beschäftigten, wie es manche Unternehmensleitungen in diffamierender Absicht darstellten, sondern auch auf eine nachlassende Bereitschaft zur Unterwerfung. Mit Blick auf die im Vergleich zu anderen Facharbeiterberufen widrigeren Arbeitsbedingungen und geringeren Löhne wurden die Glasberufe vor allem aufgrund einer hohen persönlichen Identifikation ausgeübt oder erlernt. Der Zwang zum Ausführen von fachlich als falsch bewerteten Anweisungen und des Erdulden deren Scheiterns dürfte für langjährige Glasfachleute nur schwer ertragbar gewesen sein und erklären, weshalb sich viele von ihnen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts für den Wechsel des Betriebs, der Branche oder in die Selbstständigkeit entschieden.631 Die für das Erlernen des Glasmacherberufs erforderliche Disziplin wurde in den meisten Mundglashütten weiterhin vor allem durch Unterordnung unter die Meisterwillkür gesichert, wozu Angehörige der nachrückenden Generation – so zeigte es die Lehrlingsbewegung632 – immer weniger bereit waren. Entgegen der Annahme einer vermeintlich größeren (betriebs- oder gewerkschafts-)politischen Passivität von Arbeitsmigrant*innen – ein Eindruck, der höchstens ihre (aufenthalts-)rechtlich prekäre Position in der bundesrepublikanischen Gesellschaft

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ber 1976 (s. Anm. 418), S. 2; Geschäftsleitung, 20. September 1977 (s. Anm. 216), S. 4f.; Geschäftsleitung, 28. Januar 1981 (s. Anm. 218), S. 3. Anlass dieses »zum ersten Mal in der 20-jährigen Geschichte« vollzogenen (kurz darauf aber wieder revidierten) Verbandsausschlusses war die Einstellung der Glasmacher der Josephinenhütte, die im Sommer 1966 aus Protest gekündigt hatten. Notiz Klaus Breit, 22. September 1966, in: mkp.Gl-A 1-Wies.37B; VdG-Sonderrundschreiben, 13. Oktober 1966 und 16. November 1966, in: WABW, Bestand B 164 Bü 2. Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 202, 204; VdG-Sonderrundschreiben, 27. November 1964, in: WABW, Bestand B 164 Bü 1; Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Hans und Ursula Müller], 2. September 1973, im Besitz der Autorin, S. 11–13; [Günter Nowak], 10. November 2014 (s. Anm. 11), S. 9f. Bei Unternehmen in weit abgelegenen Standorten wie Immenhausen oder Frauenau im Bayerischen Wald war die Anzahl migrantischer Arbeit*innen geringer. »Allendorf. Zu wenig Arbeiter«, in: FR, 7. August 1961, in: AGI; Notiz Personalabteilung Hirschberg, 26. Januar 1970, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner; Notiz Personalabteilung Hirschberg, 21. Oktober 1970, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner; Übersicht jugendliche und weibliche Arbeitnehmer*innen (WTH), 24. April 1973, in: mkp.Gl-A 1-Wies.37B; Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 80. Dementsprechend empfanden die Beschäftigen weniger die körperlichen Anstrengungen als vielmehr fehlende Möglichkeiten der Mitsprache im Betrieb als belastend. Siehe Hettinger et al., Arbeitsbedingungen (s. Anm. 333), S. 26f., 67f., 75f., 242, 259f.; Kapitel 5.3. Siehe David Templin, »Lehrzeit – keine Leerzeit!« Die Lehrlingsbewegung in Hamburg 1968–1972, München u.a. 2011.

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widerspiegelte –, widersetzten sie sich ebenso wie ihre deutschen Kolleg*innen.633 Sie nahmen an Arbeitskämpfen teil; gegen Lohn- und Arbeitsverschlechterungen setzten sie sich auch ohne Betriebsrat und Gewerkschaft zur Wehr.634 Den migrantischen Beschäftigten der Euskirchener Ingridhütte, die knapp 70 Prozent der Belegschaft ausmachten, war es gelungen, über ihre fragwürdigen Arbeitsverträge, »katastrophalen Behausungen« sowie die körperliche Gewalt und Diskriminierung im Arbeitsalltag – das heißt über rassistische Zustände, wie sie auch in vielen anderen Betrieben vorherrschten – bundesweit eine Öffentlichkeit herzustellen.635 Zu Beginn der 1970er Jahre wurden diese Verhältnisse zu einem Skandal, mit dem sich sogar die Bundesregierung beschäftigen musste.636 Der zunehmende Arbeitskräfte- und Nachwuchsmangel in der Mundglasbranche war somit auch Ausdruck des basisdemokratischen Aufbruchs in der Arbeitswelt um »1968«: Die Arbeitenden ließen sich von den Unternehmensleitungen nicht mehr so lenken wie zuvor und verließen im Zweifelsfall den Betrieb oder gar die Branche. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, weshalb Unternehmensleitungen neue, für Produktion und Vertrieb einer Mundglashütte unangemessene Reformen in Angriff nahmen und hieran auch dann noch festhielten, als sie in der Praxis enorme Schwierigkeiten bereiteten. Denn viele dieser Neuerungen dienten nicht allein ökonomischen, sondern auch machtpolitischen Zwecken: Die Unternehmensführungen wollten auf diese Weise – sei es direkt oder indirekt – ihre im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts einmal mehr gestiegene Abhängigkeit von den Beschäftigten reduzieren. Der möglichst weitreichende Einsatz von personalersetzender Maschinen-Werkzeug-Technik hatte wie die Reformen der Leistungsentlohnung oder die »Verwissenschaftlichung« der Betriebsund Unternehmensführung eine zentrale Kontrolle über die Produktion und damit über die Arbeitenden zum Ziel. Insbesondere die traditionell sehr weitreichenden Dispositionsspielräume der Glasmacher sollten dadurch minimiert werden. Ältere Beschäftigte wurden vermutlich auch deshalb bevorzugt entlassen, weil sie sich mit ihrem auf langjährigem Erfahrungswissen basierenden Selbstbewusstsein gegenüber Vorgesetzten am stärksten zu behaupten wussten und für diese am unbequemsten waren. Die von den meisten Unternehmensleitungen ergriffenen Rationalisierungsstrategien kamen einer Kampfansage an die Arbeitenden gleich. Da sie in der arbeitskräfteintensiven Mundglasfertigung aber der wichtigste Faktor blieben, konnten die Leitungen diesen Machtkampf nicht gewinnen. Von der Belegschaft »emanzipieren« konnten sie sich nur durch die Reduktion der Produktionskapazitäten und den hierdurch möglich gewordenen Personalabbau bei gleichzeitigem Ausbau des Handelsgeschäfts – das

633 Siehe Simon Goeke, »Wir sind alle Fremdarbeiter!« Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in Westdeutschland 1960–1980, Paderborn 2020; Manuela Bojadžijev, Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster 2008. 634 Siehe bspw. »Streik in hessischen Glashütten. 1000 Arbeiter im Ausstand«, in: FR, 21. Mai 1963, in: AGI; VdG-Sonderrundschreiben, 1. September 1964, in: WABW, Bestand B 164 Bü 1. 635 Entwurf Mündliche Anfrage im Bundestag, 25. Februar 1970, in: BArch, B 149/76197; Sendebeitrag Panorama, Ausbeutung in der Glashütte. Die Leibeigenen von Euskirchen, 2. März 1970, Online: https:/ /daserste.ndr.de/panorama/archiv/1970/Panorama-vom-02031970,panorama2595.html. 636 Siehe Bestand zum Fall Ingridhütte, 1970–1972, in: BArch Koblenz, B 149/76197.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

heißt: zum Preis der Transformation von einem Industrie- zu einem Dienstleistungsunternehmen. Kein Zufall war, dass die durch den autoritären Inhaber Kurt Wokan branchenweit berüchtigte Ingridglashütte zu den Vorreitern beim Zukauf von Handelsware gehörte und bereits 1976 die Produktion in der Bundesrepublik vollends eingestellt hatte.637 (Angedrohte) Ofenstilllegungen wurden zu einem neuen Kampfmittel des Führungspersonals bei der Abwehr von Forderungen der Belegschaftsvertretung. Die Gefahr einer »kritischen Situation«, die durch die »Abwanderung von Glasmachermeistern« jederzeit eintreten könne, gehörte selbst in Unternehmen mit vergleichsweise kooperativen Arbeitsbeziehungen wie bei Wiesenthal zu den Gründen, weshalb die Leitung die Eigenproduktion von mundgeblasenem Glas einstellte und durch Zukauf substituierte.638

9.5 Vom basisdemokratischen Aufbruch in die Krise. Das Ende der bundesdeutschen Mundglasbranche Entgegen der zeitgenössischen und sich verfestigenden Deutung von der Zwangsläufigkeit des Niedergangs besaß die bundesdeutsche Mundglasbranche Existenz- und Entwicklungsoptionen. Als arbeitskräfte- und feuerungsintensive Branche war sie von Lohn- und Energiekostensteigerungen zwar besonders betroffen, das steigende Einkommensniveau stellte zugleich aber entscheidendes Wachstumspotenzial dar. In den 1970er und 1980er Jahren war die Kaufkraft in der Bundesrepublik so hoch wie nie zuvor. Da mundgeblasenes Gebrauchsglas vor allem aufgrund der hohen Qualität gekauft wurde, konnten die Mundglashütten den Vorteil einer relativ geringen Preiselastizität nutzen.639 Die Preise konnten ohne allzu starken Nachfragerückgang angehoben werden.640 Angesichts von Kostensteigerungen und des erhöhten Konkurrenzdrucks standen die bundesdeutschen Mundglashütten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts allerdings vor der großen Herausforderung, die (in der Branche bislang übliche) Wettbewerbsstrategie der Qualitätsführerschaft an sich ändernde Rahmenbedingungen des Wirtschaftens anzupassen. Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass zu jenen Veränderungen auch der basisdemokratische Aufbruch um »1968« beitrug. Mit der Entwicklung eines von »Vollbeschäftigung« geprägten Arbeitsmarkts und der Etablierung der Bundesrepublik als ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat hatte sich die Handlungsposition der Beschäftigten in den Betrieben enorm verbessert. Die Belegschaften der Glashütte Süßmuth und der zum Vergleich herangezogenen Mundglashütten erhoben nicht nur materielle Forderungen, sondern beanspruchten auch Mitsprache am Arbeitsplatz. Zeitgleich

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Siehe Protokoll Geschäftsleitungssitzung, 16. Juli 1976 (s. Anm. 63), S. 1. Breit, Mai/Juni 1979 (s. Anm. 94), S. 19; Breit, November 1982 (s. Anm. 5), S. 4. Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 9), S. 124. Allein zwischen 1964 und 1974 stiegen die Preise von Fertigprodukten im Wirtschafts- und Beleuchtungsglassektor (und hier offensichtlich vor allem die Preise der mundgeblasenen Produkte) mit 96 bzw. 103 Prozent stärker als mit 46,1 Prozent in der gesamten Glasindustrie und mit 36,8 Prozent in der gesamten Industrie. Vermerk BMWi, 30. November 1978, in: BArch, B 102/208321; »Teures Glas und Porzellan soll Absatzeinbruch verhindern«, in: FR, 4. März 1980, in: AGI.

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traten neue Käufer*innen aus den nachrückenden Generationen und aus der in höhere Einkommensklassen aufsteigenden Bevölkerungsgruppe der Arbeiter*innen auf den Markt, über deren Konsumbedürfnisse die Unternehmensleitungen kaum Informationen besaßen. Der basisdemokratische Aufbruch hatte die Mundglashütten sowohl auf Seiten der Produktion als auch in gewisser Weise auf Seiten des Konsums herausgefordert: Der Arbeitskräftemangel und die Unkenntnis über die Nachfrage für hochwertiges Gebrauchsglas entwickelten sich zu den dringlichsten Problemen der Branche. Die Konzentration auf die Gewährleistung einer hohen materiellen Qualität der Produkte war eine naheliegende Strategie, diesen Herausforderungen zu begegnen. Denn sowohl in den Arbeits- als auch in den Absatzbeziehungen der Mundglashütten stifteten die Produkte Vertrauen und stärkten Verbindlichkeit. Sie fungierten gleichermaßen als Mittel der Disziplinierung und Motivierung der Arbeitenden und als Medien der Werbung. Bei der Betriebsführung waren die Ansichten und Interessen der Arbeitenden ernst zu nehmen, in der Angebotspolitik die der privaten Endverbraucher*innen. Hierauf eingegangen zu sein, machte den Erfolg der Glashütten Rosenthal, Wiesenthal und Eisch aus. Philip Rosenthal plädierte in kritischer Auseinandersetzung mit den Gestaltungsprinzipien des Deutschen Werkbunds für eine »›Kunst des Möglichen‹, die sich insbesondere an der Nachfrage zu orientieren habe«, und sah auch »Kitsch« als Ausdruck eines legitimen »Verlangens […] nach Variation«.641 Eine ähnliche Position bezog Klaus Breit mit seiner Annahme einer »zeitechten« »Schönheit« und »Einfachheit«; ausgehend von den Bedürfnissen der Menschen wollte er eine »gute, vorbildliche Form« entwickeln.642 Der Studioglaskünstler Erwin Eisch und seine ebenfalls gestalterisch tätigen Familienangehörigen lehnten die »Idee und Ideologie modernen Designs« ab, »die handwerklichen Produktionsprozessen vorangestellt oder übergestülpt« werde und »den Glasmacher zum Werkzeug« degradiere.643 Statt in der Arbeitsteilung zwischen Entwurf am Schreibtisch und Ausführung am Ofen wurden die Produkte von Eisch »so weit als möglich im direkten Dialog mit dem Material Glas und im Austausch einer ganzen Reihe von Menschen« entwickelt, die Seriengläser wurden deshalb auch nicht als Entwurf einer einzelnen Person vermarktet. Die Expansion der Produktion auf Basis einer erfolgreichen Neuausrichtung der Qualitätsstrategie gelang im Untersuchungszeitraum der Glashütte Eisch als einzigem Vergleichsunternehmen. Die Unternehmensführung hielt hier an bewährter Technik und tradierten Praktiken fest, von denen sich viele Mundglashütten abwandten, und vertraute weiterhin in erster Linie auf die Expertise und Erfahrungswerte der eigenen Fachleute. Bei den in Konzernstrukturen eingebundenen Glashütten wie Rosenthal und 641 Christopher Oestereich, »Gute Form« im Wiederaufbau. Zur Geschichte der Produktgestaltung in Westdeutschland nach 1945, Berlin 2000, S. 252; Grossmann, Industriedesigner (s. Anm. 30), S. 190, 197–199. 642 Klaus Breit ging von der Zeitgebundenheit des Geschmacks aus, dem in der Gestaltung Rechnung zu tragen sei. Er betrachtete »bestimmte Formen nicht als individuelle Leistung einer bestimmten Person, sondern als vom Zeitstil vorgegebenes Allgemeingut«. Mit seiner hieran orientierten Produktgestaltung geriet er auch in Kritik und unter Plagiatsverdacht. Siehe Breit, Wiesenthaler Glashütte (s. Anm. 22), S. 385–398; Ricke, Breit (s. Anm. 21), S. 11f., 16f. 643 Folgendes aus Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 128f.; Ebenso Erwin Eisch in Glashütte Valentin Eisch KG, Künstlerisches Glas (s. Anm. 140), S. 15f.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

Wiesenthal waren die Entscheidungsspielräume durch die Prämissen der Konzernleitungen begrenzt. Eisch konnte dagegen ihre unternehmerische Flexibilität durch eine weitgehende Unabhängigkeit von externen Akteuren – von Gläubigern, Anteilseignern, einzelnen Großkund*innen oder Zulieferfirmen von Handelsware – erhalten und ausbauen. Diese Eigenständigkeit war wiederum entscheidende Voraussetzung für eine langfristige Unternehmensplanung, die weiterhin den Schwerpunkt auf Investitionen in die Grundlagen der Qualitätsproduktion legte. Neben der regelmäßig notwendigen Erneuerung der Schmelzaggregate sowie einer an die Besonderheiten der Mundfertigung und das unternehmensspezifische Sortiment angepassten Technik gehörten hierzu vor allem die Qualifizierung der Beschäftigten sowie die Sicherstellung ihrer Leistungsbereitschaft und Arbeitsmotivation. Durch die Integration der Wissensbestände und Kreativität der Beschäftigten und Handelsvertreter*innen in die Entscheidungsfindung vermochte die Glashütte Eisch im Betrieb und im Vertrieb ihre Beweglichkeit aufrechterhalten, sich mit einer Artikelvielfalt auf hohem Qualitätsniveau und in mitunter auch kleinen Serien von der maschinellen sowie manuellen Konkurrenz aus dem In- und Ausland abzugrenzen, auf Nachfrageveränderungen zu reagieren und auch bei anderen unvorhersehbaren Entwicklungen (wie beispielsweise Kostensteigerungen, Schäden an der Produktionsanlage oder neuen Umweltschutzauflagen) handlungsfähig zu bleiben. Dies erforderte permanente Anstrengungen und den ständigen Austausch zwischen allen Beteiligten. Die meisten Unternehmensleitungen konnten (oder wollten) die veränderten Herausforderungen dagegen nicht bewältigen. Die Annahme der Perspektivlosigkeit und Unausweichlichkeit des Branchenniedergangs beeinflusste mitunter ihre Entscheidungsfindung. Viele maßen den mundgeblasenen Produkten gegenüber dem Maschinenglas höchstens noch immaterielle Werte bei. Vor allem trafen sie für eine Mundglashütte unangemessene Entscheidungen und sie verfolgten widersprüchliche Zielvorstellungen: Die Expansion der arbeitskräfteintensiven Produktion wollten sie mit einer Personalreduktion verbinden oder die Qualitäts- und Wertsteigerung der Produkte mit einer auf Arbeitsintensivierung setzenden Rationalisierung. Mit dem Einstieg ins Niedrigpreissegment durch den Vertrieb von Zweite-Wahl-Artikeln und von zugekaufter Handelsware schufen sie sich eine Konkurrenz zu den eigenen Qualitätsprodukten, die sich negativ auf deren Markenimage und Preisniveau auswirkte. Im Übergang zu einer vorrangig auf (kurzfristige) Kostensenkungen und Umsatzsteigerungen setzenden Unternehmensplanung sowie mit der Orientierung an den Preisen der (manuellen wie auch maschinellen) Konkurrenz hatten die meisten Unternehmensleitungen (implizit) einen Wechsel zur Wettbewerbsstrategie der Kosten- bzw. Preisführerschaft vollzogen. Der Fall Süßmuth zeigt auf: Es war nicht möglich, Strategien der Qualitäts- und Preisführerschaft gleichberechtigt miteinander zu verbinden. Die Schwerpunktverlagerung auf das Marketing zog eine Vernachlässigung von Investitionen in die Produktion, zunehmende Qualitätsprobleme sowie letztlich den Verlust von Wettbewerbsvorteilen nach sich. Erst hierdurch gerieten Mundglashütten in unmittelbare Konkurrenz und in einen Preiskampf zu Unternehmen mit maschineller Produktion, in dem sie sich mit ihren höheren Produktionskosten nicht behaupten konnten. Die fehlgeschlagenen Reformen und Sanierungsmaßnahmen erhöhten die Komplexität in der Betriebs- und Unternehmensführung. Hierdurch überfordert, ergriffen

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die Entscheidungsträger zunehmend rabiate Methoden einer »barbarischen« Rationalisierung, und sie bedienten sich (mitunter als Kompensation ihres Unwissens über die Bedürfnisse der Endverbraucher*innen) unlauterer Praktiken im Marketing. Indem sie die Bedürfnisse der Arbeitenden wie auch der Konsument*innen übergingen, zerstörten sie Vertrauen und Verbindlichkeiten in den Arbeits- und Absatzbeziehungen, die für den Fortbestand der Mundglashütten existenziell waren. Sowohl in der Vorstellung, die Belegschaft durch äußeren Druck auf Leistungssteigerungen und Verzicht verpflichten zu können, als auch in der Vorstellung einer durch Werbung zu täuschenden bzw. manipulierbaren Kundschaft trat ein Autoritarismus zutage, mit dem diese Unternehmensleitungen den basisdemokratischen Aufbruch abwehrten. Unternehmerische Flexibilität missverstanden viele Leitungen als Unabhängigkeit von den Beschäftigten. Durch Reduzierung von Fixkosten (sprich Personalkosten), »Gesundschrumpfen« (sprich Verkleinerung der Belegschaft) oder Flexibilisierung des Faktors Arbeit glaubten sie, die Beweglichkeit der Firma (sprich ihre eigene Beweglichkeit) erhöhen zu können. Diese war jedoch vielmehr gesunken: aufgrund der mehr oder weniger direkten Einflussnahme durch neue externe Akteure, von denen die meisten Vergleichsunternehmen im Zuge von Inhaberwechsel oder Fremdkapitalbezug abhängig wurden, durch die sich verdichtenden und mitunter eskalierenden Konflikte im Betrieb oder durch den Verschleiß von Ressourcen bei ausgebliebenem Unternehmenserfolg. Erheblich reduziert hatte sich die Fähigkeit dieser Mundglashütten, auf nicht einkalkulierte Entwicklungen reagieren zu können. Die Kostensteigerungen oder konjunkturabhängigen Auftragseinbrüche infolge der Ölpreiskrisen waren daher nicht ursächlich für den Niedergang der bundesdeutschen Mundglasbranche; sie waren lediglich Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten.

Die »ökonomische Vernunft« als Katalysator der Krise In den Führungsetagen vieler Mundglashütten gewannen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts für die Mundglasbranche neue Vorstellungen von »ökonomischer Vernunft« an Bedeutung, denen zufolge sich unternehmerische Entscheidungen nicht an sozialen oder politischen Kriterien, sondern allein an betriebswirtschaftlichen Idealkennziffern zu orientieren haben. Branchenunspezifische, vom Leitbild der mass production geprägte Vorstellungen von ökonomischer Rationalität und Effizienz wurden zu handlungsleitenden Deutungsmustern. Der Einzug der »ökonomischen Vernunft« erfolgte meist über neues (branchenfremdes) Personal an der Unternehmensspitze oder neue Anteilseigner, die nicht selten Unternehmensberater zu Hilfe zogen.644 Die Begutachtung und Beratung durch externe Experten stand häufig im Zusammenhang mit einer staatlichen Förderung bzw. war hierfür eine Voraussetzung. Eine Mundglashütte – mit einem knapp 70-prozentigen Lohnkostenanteil, dem überwiegenden Gebrauch von Hand-Werkzeug-

644 Überliefert ist dies – neben der GHS – auch für die Glashütten Gralglas, Theresienthal und Buder, deren Unternehmensleitungen Anfang der 1980er Jahre externe Experten heranzogen und sich von ihnen einen Ausweg aus der krisenhaften Entwicklung erhofften. Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 208f.; Unternehmenschronik Buder (s. Anm. 19), S. 6; Haller und Pscheidt, Theresienthal (s. Anm. 20), S. 108f.

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Technik und der enormen Artikelvielfalt – dürfte externe Ökonomen als Lehrbuchbeispiel eines ineffizienten Unternehmens besonders stimuliert haben, den Leitungen radikale Reformen zu empfehlen. Von einem solchen Rationalisierungseifer zeugten die Ratschläge der Berater im Fall Süßmuth, die aufgrund der Selbstverwaltung nicht ohne Weiteres umgesetzt werden konnten.645 Die Glashütten Gralglas, Buder und Theresienthal folgten dagegen konsequenter den Empfehlungen der Experten, die – sei es durch Zukauf, Maschinisierung der Produktion oder Wechsel auf eine Nischenstrategie – im Kern auf einen umfassenden Personalabbau hinaufliefen.646 Der Einzug der neuen »ökonomischen Vernunft« in die Mundglasbranche stand aber auch im Zusammenhang mit dem basisdemokratischen Aufbruch um »1968«, der den Unternehmensleitungen ihre einmal mehr gestiegene Abhängigkeit von den Arbeitenden (wie auch von den Konsument*innen) verdeutlicht hatte. Die an den neuen Leitbildern ausgerichteten Maßnahmen suggerierten vergleichsweise einfache Lösungen, simulierten (kurzfristig) Entscheidungssicherheit und gewährten Handlungsfähigkeit.647 Letzteres war für das Führungspersonal umso wichtiger, je brüchiger mit den krisenhaften Entwicklungen seine Autorität in den Betrieben wurde. Die Unternehmensleitungen hatten ihrerseits das Vertrauen in das betriebsinterne Erfahrungswissen verloren und setzten deshalb auf externes Expertenwissen. Dabei wurde zum Problem, dass für die Mundglasbranche kaum wissenschaftliches Wissen zur Verfügung stand und die Leitungen stattdessen auf in der Tradition von Frederick W. Taylor und Henry Ford stehende Rationalisierungsstrategien zurückgriffen, die für Großunternehmen mit maschineller Produktion entwickelt worden waren – paradoxerweise zu einem Zeitpunkt, als sich Unternehmen anderer Branchen davon zu verabschieden begannen.648 In der Mundglasbranche wirkten diese Strategien als Katalysator der Krise. Die von den Besonderheiten der Mundglasfertigung abstrahierenden Strategien der Unternehmen beschleunigten den Niedergang der Branche.

»Krise« als Rechtfertigung versus Legitimationskrise Der Wechsel in den Krisenmodus erfolgte, als die in den Mundglashütten ergriffenen Strategien nicht den erhofften Erfolg zeitigten. In dem Maße, wie die Leitungen keine angemessenen Antworten auf die sich ändernden Bedingungen des Wirtschaftens

645 Siehe Kapitel 5 bis 7. 646 Im Fall Gralglas übernahm der ein Jahr vor dem Konkurs 1981 engagierte Unternehmensberater sogar die Firma, die er von 1982 bis 1987 (und nach ihm ein Kölner Kaufmann bis 1992) als Handelsgesellschaft weiterbetrieb. Ricke und Loyen, Gralglas (s. Anm. 11), S. 208f.; Unternehmenschronik Buder (s. Anm. 19), S. 5f.; Haller und Pscheidt, Theresienthal (s. Anm. 20), S. 108f. 647 In der Simulation von »Entscheidungssicherheit« sieht Werner Plumpe »das eigentliche Ziel« von Unternehmensberatung und Beratungsliteratur, deren Empfehlungen sich als »nützliche Fiktionen« erwiesen. Werner Plumpe, »Nützliche Fiktionen? Der Wandel des Unternehmens und die Literatur der Berater«, in: Reitmayer und Rosenberger, Unternehmen (s. Anm. 4), S. 254. 648 Siehe Kapitel 5.5; Horst Kern und Michael Schumann, Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion, Bestandsaufnahme, Trendbestimmung, München 1984; Alfred Kieser, »Managementlehren. Von Regeln guter Praxis über den Taylorismus zur Human Relations-Bewegung«, in: Ders. und Mark Ebers (Hg.), Organisationstheorien, Stuttgart 20147 , S. 73–117.

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fanden und der Druck auf sie stieg, ihrer wichtigsten Aufgabe nachzukommen – nämlich die Existenz des Unternehmens abzusichern –, besaß das Sprechen von der Krise für sie vor allem legitimierende Funktionen: Es ermöglichte, von eigenen Versäumnissen und Fehlern abzusehen und deren negative Konsequenzen für Belegschaft und Unternehmen einer höheren Macht – dem »Strukturwandel«, der »internationalen Konkurrenz« oder dem »technischen Fortschritt« – zuzuschreiben. Pfadabhängigkeiten ihrer Entscheidungen präsentierten die Führungskräfte als krisenbedingte »Sachzwänge«, »ökonomische Notwendigkeiten« und »alternativlos«. Explizit ist dies für die Glashütten Süßmuth und Wiesenthal überliefert. Der »in sozialer und rechtlicher Hinsicht […] problematische Prozess« des Personalabbaus, den sich die Geschäftsführungen beider Firmen insgeheim bereits Ende der 1970er Jahre zum Ziel gesetzt hatten, wurde zunächst nur sukzessive realisiert.649 Die durch den Ölpreisschock 1982 ausgelösten Marktturbulenzen zogen sie als Begründung heran, um die bereits zuvor geplanten Entlassungen zügiger durchführen zu können. Die Krisenrhetorik war also sowohl Ausdruck von Hilflosigkeit bzw. Verunsicherung als auch Bestandteil des beschriebenen Machtkampfes, mit dem Unternehmensleitungen ihre Abhängigkeit von den Beschäftigten reduzieren, sie unter ihre Vorgaben unterwerfen sowie auf weiteren Verzicht und mehr Leistung verpflichten wollten. [Harald Meier] wie auch Klaus Breit schienen davon überzeugt, das Richtige und für alle Beteiligten – auch für die Beschäftigten – Beste zu tun. Kritik und Protest aus der Belegschaft änderte hieran nichts, im Gegenteil: Am Beispiel Süßmuth konnte nachgewiesen werden, dass sich beim Leitungspersonal hierdurch vielmehr branchenunspezifische Gewissheiten von »ökonomischen Notwendigkeiten« verfestigten. Eine entscheidende Rolle spielte dabei, dass gerade der Widerstand aus der Belegschaft die Verantwortlichen unternehmerischer (Fehl-)Entscheidungen markierte. Demgegenüber hatten sich die Führungskräfte zu rechtfertigten und sie taten dies, indem sie zunehmend auch die Beschäftigten für die Miseren verantwortlich machten – eine Schuldverschiebung, die in der zeitgenössischen Klage der Unternehmer über hohe Lohnkosten rhetorischen Ausdruck fand und oft in wissenschaftlichen Betrachtungen (in Form der mit der voranschreitenden Globalisierung an Bedeutung gewinnenden Standortargumentation) übernommen wurde.650 In der Deutung vom »Werteverfall« konnten die Arbeitenden und die Konsument*innen gleichermaßen als Mit-Verursacher*innen des Niedergangs der Mundglasbranche erscheinen.651 Die Wirkmächtigkeit dieser ideologischen Verkehrung in der unternehmerischen Rechtfertigung war derart groß, dass die Führungskräfte ernsthaft daran glaubten und auch ungehindert daran glauben konnten, weil die Beschäftigten ihre eigenen Ansichten demgegenüber nicht (mehr) legitimieren konnten. Solche Rechtfertigungen vertieften die Legitimationskrise der Unternehmensleitungen in den Betrieben. So war es kein Zufall, dass sich Anfang der 1980er Jahre in der

649 [Harald Meier] zitiert in Geschäftsleitung, 22. Mai 1979 (s. Anm. 225); Der zunächst nur schrittweise Personalabbau sollte Sozialpläne wie auch Proteste im Betrieb oder eine »Totalabwanderung der Glasmacher« vermeiden. Breit, Mai/Juni 1979 (s. Anm. 94), S. 11, 19f. 650 Siehe bspw. Willett, Die Glasindustrie (s. Anm. 136), S. 193–195, 424. 651 Zum »deutschen Verbraucher« als »Problem« siehe Industriemagazin, September 1978 (s. Anm. 95); Ebenso Breit, November 1982 (s. Anm. 5), S. 4.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

Glashütte Süßmuth die betriebliche Konfliktlage wieder verdichtete und der fragile Konsens wieder zerbrach. Angesichts der Massenentlassungen hatte die Androhung des Arbeitsplatzverlusts an disziplinierender Wirkung verloren. Das Handeln der Unternehmensleitung empfanden die Beschäftigten als illegitim. Auch in Belegschaften anderer Mundglashütten verfestigte sich der Verdacht auf unlautere, eigennützige bis betrügerische Beweggründe der Führungskräfte.652 Selbst die Beschäftigten der Glashütten Rosenthal und Wiesenthal, in denen die Arbeitsbeziehungen relativ gut waren, äußerten angesichts der für sie überraschenden Betriebsschließungen den Eindruck, getäuscht worden zu sein.653 Doch ihnen standen keine effizienten bzw. legitimen Mittel der kollektiven Gegenwehr mehr zur Verfügung. Die Reduktion der Produktionskapazitäten hatte ihre materiellen Machtressourcen im Betrieb geschmälert; alternative Entwicklungsoptionen konnten sie nicht einbringen, auch ihre Interessen nicht mehr wahren. Unterstützung für ihre Ansichten, Belange und Kämpfe blieb ihnen seitens der ähnlich wie die Unternehmer von den »ökonomischen Notwendigkeiten« überzeugten Gewerkschaft und Behörden versagt. Eben darin bestand die Krise der Repräsentation: Die Unternehmensleitungen vermochten sich sowohl auf Ebene der betrieblichen Praktiken als auch auf Ebene der überbetrieblichen Deutungen durchzusetzen. Die Rechtfertigungen für ihr Handeln und dabei vorgenommene Schuldverschiebungen blieben außerhalb des Betriebs unwidersprochen, denn sie besaßen angesichts der »Widerspenstigkeit« der Mundglasfertigung in einem vom Leitbild der mass production sowie den hieran orientierten Vorstellungen von ökonomischer Effizienz und Rationalität geprägten Diskurs eine hohe Plausibilität. Die Unternehmer mussten sich deshalb auch nicht wirklich mit ihrer Verantwortung für Fehlentscheidungen auseinandersetzen. Stattdessen konnten sie Arbeitsintensivierungen und -flexibilisierungen bei zugleich (absoluten wie relativen) Einkommenseinbußen sowie sonstige soziale Einschnitte als in Zeiten der Krise »ökonomisch vernünftig« und »alternativlos« und selbst den Personalabbau als im Interesse der Beschäftigten präsentieren – gingen doch nicht (sofort) alle Arbeitsplätze verloren. Die Beschäftigten waren dagegen im Kampf um ihre Arbeitsplätze in Erklärungsnot geraten. Die Besonderheiten der arbeitskräfte- und folglich lohnintensiven Qualitätsproduktion, die bisher den Arbeitenden starke Verhandlungspositionen im Betrieb gewährt und den Spielraum der Unternehmensleitungen determiniert hatten, entwickelten sich zu Tatbeständen, für die sich die Beschäftigten quasi rechtfertigen mussten. Forderungen nach Erhalt ihrer finanziellen Existenzgrundlage erschienen nun als utopische Träumerei. Den Unternehmensleitungen waren bei der »Enteignung« der Beschäftigten kaum noch Grenzen gesetzt – letzteren blieb allein der Rückzug.

652 Für den Fall Süßmuth siehe Kapitel 9.4. Für den Fall Hirschberg siehe Ulrich Stang an die Fraktionen von SPD und FDP im Hessischen Landtag, 5. August 1974, in: Archiv DIZ, Bestand Kleiner; Gewerkschaftspost, Mai 1974 (s. Anm. 86); »Hirschberg – Ein Problem. Schweizer Juwelier sicherte sich Markennamen«, in: FR, 8. August 1974, in: AGI. 653 Der Spiegel, 8. Januar 1984 (s. Anm. 490); Breit, 5. Oktober 1990 (s. Anm. 461); Betriebsrat und Belegschaft, Weihnachten 1990 (s. Anm. 98); Geschler, 28. Dezember 1990 (s. Anm. 98).

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Transformation und Nische Die anhand der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth aufgezeigten Potenziale für die Aufrechterhaltung der Produktion von Qualitätsware im industriellen Maßstab wurden in der Mundglasbranche nicht genutzt. Es blieb Utopie, die Demokratisierung der Produktion mit der Demokratisierung des Konsums, die Politisierung des Betriebs mit einer Solidarisierung des Umfelds zu verbinden. Obwohl gerade die Kaufkraft in der Arbeiterschaft erheblich anstieg, adressierte keine der untersuchten Glashütten diese Bevölkerungsgruppe als eigenständige, bei Produktentwicklung, Vertrieb und Vermarktung ernst zu nehmende Zielgruppe(n). Das Führungspersonal der Glashütte Eisch griff zwar auf das Fertigungswissen der Beschäftigten zurück; ihre Vorstellungen vom Gebrauch der Produkte konnten hier indes höchstens die Glasmacher gegebenenfalls über das Schinden einbringen. Die Konsumbedürfnisse der eigenen Mitarbeiter*innen nutzten die Unternehmensleitungen ebenso wenig zur Kompensation ihres Wissensdefizits wie die der Endverbraucher*innen, zu denen manche Mundglashütten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts direkte Absatzbeziehungen aufbauten. Über die unmittelbare (und mitunter nach außen kommunizierte) Koppelung von Preis- an Lohnerhöhungen wurden stattdessen die Interessen der Arbeitenden und die der Konsument*innen von den Unternehmensleitungen gegeneinander ausgespielt.654 Arbeitende konnten auch nach »1968« kaum Einfluss auf unternehmerische Entscheidungen nehmen, waren im Vergleich zu früher jedoch weniger gezwungen, ungünstige Arbeits- und Lohnbedingungen aus Gründen der finanziellen Existenzsicherung dauerhaft zu akzeptieren. Mit der Zunahme von Beschäftigungsalternativen und der zeitgleich in den Mundglashütten voranschreitenden Abwertung des Fertigungswissens – als dem einst mit Arbeitsplatzgarantie und guten Löhnen verbundenen und daher innerhalb der Familien über Generationen hinweg weitervererbten kulturellen Kapital – war für die Glasfacharbeiter die Schwelle zum Arbeitsplatz- und Berufswechsel enorm gesunken. Mit den Einkommen stiegen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Konsummöglichkeiten vieler Menschen.655 Die von den Herstellerwie Handelsfirmen beklagte Marktmacht der Endverbraucher*innen bestand indes lediglich darin, sich Manipulationsversuchen zu erwehren und – aufgrund der sinkenden Attraktivität der Produkte – dieselben nicht (mehr) zu kaufen. Das Verweigern der eingeforderten Unterwerfung und im Notfall die Kündigung sowie der Nicht-Kauf waren also die einzigen Optionen, die den Arbeitenden und den Konsument*innen zur Verfügung standen. Dass beide Gruppen hiervon im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts mehrheitlich Gebrauch machten, erklärt, weshalb die Krise der Branche so schnell und umfassend zum Niedergang derselben führte. 654 Die Geschäftsleitung der GHS begründete bspw. die Preiserhöhungen Anfang der 1980er Jahre gegenüber den Kund*innen mit den »unverantwortlichen Lohnerhöhungen der IG Chemie«. Alfred Trepte an GHS, 27. September 1981, in: AGI; [Boehm], 18. März 1982 (s. Anm. 432), S. 2. 655 Diese Entwicklung wird mitunter als eine »Demokratisierung des Konsums« historisiert. Kleinschmidt, Konsumgesellschaft (s. Anm. 137), S. 152; Zum Verhältnis zwischen Massenkonsum und Demokratie in der Bundesrepublik siehe Michael Wildt, »›Wohlstand für alle‹. Das Spannungsfeld von Konsum und Politik in der Bundesrepublik«, in: Heinz-Gerhard Haupt und Claudius Torp (Hg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurt a.M. u.a. 2009, S. 313–316.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

Die Schwerpunktverlagerung auf andere Geschäftsfelder, das Angebot von Dienstleistungen und die Reduzierung der Produktion durch den Wechsel auf eine Nischenstrategie schufen dem Leitungspersonal die Voraussetzungen für eine zentrale und von der Belegschaft unabhängigere Unternehmensführung. Am umfassendsten hatte sich diese Abhängigkeit in den zu Handelsunternehmen transformierten Mundglashütten reduziert, wie sie nach den Konkursen von Gralglas oder Wiesenthal für einige Jahre fortbestanden. Die wenigen hier noch Beschäftigten waren schneller zu ersetzen und konnten von den Unternehmensleitungen einfacher diszipliniert werden, da betriebsspezifisches, körpergebundenes Erfahrungswissen hier eine geringere Rolle als in der Mundglasfertigung spielte. In der Nischenproduktion – bei Spezialanfertigungen oder dem Angebot von hochpreisigen Einzelstücken und Kleinstserien – blieb wegen des nur in jahrelanger Erfahrung zu erwerbenden Fertigungswissens zwar eine höhere Abhängigkeit der Leitung von den Beschäftigten bestehen. Diese waren jedoch aufgrund der geringeren Anzahl und stärker vereinzelten Tätigkeiten (die in der Glasveredelung seit jeher dominierten und beim Glasmachen durch die Einführung von Studioöfen möglich wurden) leichter zu kontrollieren und zu disziplinieren als jene für eine umfangreichere Serienproduktion erforderlichen Glasmacher-Mannschaften, die auf der Basis ihrer engen Kooperationsbeziehungen im Arbeitsprozess als geschlossener Block auftreten und das Führungspersonal massiv unter Druck setzen konnten. Die Attraktivität der Nische bestand schließlich auch darin, dass die Konsumbedürfnisse einer Elite (weil diskursiv präsenter als jene der anonymen Arbeiterschaft) einfacher zu antizipieren und Absatzbeziehungen zu ihr ebenfalls einfacher (als zu einer heterogenen Kundschaft) herzustellen und aufrechtzuerhalten waren. Mit der Konzentration auf Auftragsarbeiten fiel die Abhängigkeit von den Endverbraucher*innen vollends weg. In den Vertriebsgesellschaften hatte die größere Unabhängigkeit von den Beschäftigten dagegen den Preis einer gestiegenen Abhängigkeit von Zulieferfirmen, Konsument*innen und den Marktentwicklungen. Nach dem Mauerfall im November 1989 – als in der »alten« Bundesrepublik die Mundglasbranche faktisch schon nicht mehr existierte – veränderten sich die Wettbewerbsbedingungen grundlegend. Sowohl die Importbeschränkungen für mundgeblasenes Glas als auch die sogenannte Zonenrandförderung fielen weg. Bundesdeutsche Glasunternehmen, allen voran Konzerne wie Schott lagerten ihre Produktionsstätten in andere (vor allem osteuropäische) Staaten aus.656 Die aus den mittelständischen Glashütten hervorgegangenen Vertriebsgesellschaften konnten der Konkurrenz auf dem nunmehr liberalisierten Markt wenig entgegenhalten. Mit der Stilllegung der Eigenproduktion und Entlassung der Fachleute hatten Gralglas und Wiesenthal ihr ökonomisches Fundament verloren, auf dem hingegen die Existenz der Glashütten Eisch und Theresienthal sowie bis Mitte der 1990er Jahre die von Süßmuth beruhte. Erst in den 2000er Jahren begann auch die Glashütte Eisch die eigenen Produktionskapazitäten auf ein für Sonderanfertigungen bzw. touristische Schaublaszwecke notwendiges Minimum zu reduzieren und die Serienproduktion als Auftragsarbeit an ausländische

656 Dispan, Glasindustrie (s. Anm. 5), S. 32; Schaeffer et al., Glas (s. Anm. 1), S. 33f.; Glaser und Wessely, Unternehmen (s. Anm. 24), S. 42; Willett, Die Glasindustrie (s. Anm. 136), S. 436–439.

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Glashütten zu verlagern; sie lebt seitdem vorrangig vom Handel der als »Innovations Made in Germany« beworbenen Produkte.657

Bedeutung des außerbetrieblichen Umfelds Dass mit Eisch und Theresienthal die zwei Vergleichsunternehmen aus dem Bayerischen Wald den Übergang ins 21. Jahrhundert schafften, verweist auf die Bedeutung des außerbetrieblichen Umfelds und damit auf die über das unternehmerische Handeln hinausgehenden Faktoren für den Niedergang der Branche. Der Bayerische Wald als eine – im Gegensatz zu den Standorten der anderen Vergleichsunternehmen – über Jahrhunderte von der Glasindustrie geprägte Region hielt für Mundglashütten günstige Bedingungen bereit. Hierzu gehörte mit der Glasfachschule in Zwiesel eine überbetriebliche Ausbildungsstätte, die sich seit Ende der 1950er Jahre auch um eine bessere Ausbildung in Berufen des Mundglasmachens bemühte.658 Die Ansässigkeit einer großen Anzahl spezifisch qualifizierter Fachkräfte war ausschlaggebend dafür, dass der »ostbayerische Grenzraum […] der wichtigste Standort der Kristall- und Wirtschaftsglasproduktion« blieb, dessen Bedeutung »[d]urch die vielen Betriebsstillegungen andernorts« zunahm.659 Als wichtiger Industriezweig der Region, dessen »Fortbestand […] für viele Orte und deren Bewohner eine Existenzfrage« darstellte, wurde die Branche staatlich gefördert.660 Die überbetriebliche Infrastruktur und Entwicklungspotenziale einer Verbindung mit der Tourismusbranche wurden auch in Zeiten der Krise subventioniert. Das 1975 eröffnete kommunale Glasmuseum Frauenau präsentierte beispielsweise Produkte aus den aktuellen Sortimenten aller Glasunternehmen der Region.661 Der Fortbestand der Mundglasbranche im Bayerischen Wald basierte also auf historisch gewachsenen Clusterstrukturen und verweist auf die ökonomische Bedeutung

657 Zum Jahreswechsel 2004/2005 wurde in der Glashütte Eisch der zweite Hafenofen stillgelegt. Von den damals 70 Glasmachern arbeiteten im Sommer 2018 nur noch zwei in der Glashütte. Auf einem ähnlichen Stand befanden sich die ebenfalls in Frauenau und im benachbarten Zwiesel ansässigen Glashütten Poschinger und Theresienthal. Notizen der Autorin zu den Betriebsbesichtigungen dieser Glashütten am 5. und 6. August 2018; Werbeprospekte Glashütte Eisch, Made in Germany, Online: https://eisch.de/wp-content/uploads/2016/10/Made-in-Germany-Eisch-flyer.pdf. 658 Siehe Kapitel 1.5. 659 Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 9), S. 203. Zu einem der dringlichsten Probleme der heute noch existierenden Mundglashütten gehört jedoch, dass dieses Fachkräftepotenzial auch im Bayerischen Wald zuneige geht und es kaum noch Nachwuchs gibt. Dauerausstellung Theresienthaler Museumsschlösschen; Notiz der Autorin zur Betriebsbesichtigung in der Glashütte Valentin Eisch, 6. August 2018, im Besitz der Autorin. 660 Zitat von Hannes, Bayerischer Wald (s. Anm. 20), S. 148. 661 Alfons Hannes, Glasmuseum Frauenau. Ein Führer durch die Sammlungen, Grafenau 1980, S. 33f. Zu den von unternehmerischen, künstlerischen und kommunalpolitischen Akteur*innen getragenen Bemühungen für Erhalt und touristische Vermarktung der Glasbranche im Bayerischen Wald gehören auch die seit 1987 jährlich stattfindenden Zwieseler Glastage, die 1997 eingerichtete Glasstraße oder das 2010 gegründete Netzwerk Glas. Selbstdarstellung Zwieseler Glastage, Online: htt ps://glastage.zwiesel.de/; Tourismusverband Ostbayern e.V. (Hg.), Die Glasstraße. Bayerischer Wald. Oberpfälzer Wald, Regensburg 1997; Selbstdarstellung Netzwerk Glas, Online: www.glasregion-arberland.de/de/netzwerk-glas/.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

der Kooperation unter den Unternehmen, auf die Spezialproduzenten generell angewiesen waren.662 Die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit nahm in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den veränderten Herausforderungen zu. Für die 1950er und 1960er Jahre lassen sich dahingehende Anstrengungen nachweisen – seien es gemeinsame Vertriebs- und Marketingkampagnen, Absprachen über ein koordiniertes Auftreten gegenüber dem Handel oder der Erfahrungsaustausch auf betrieblicher Ebene.663 Üblich war zunächst auch eine geschlossene Haltung der Unternehmerschaft gegenüber Forderungen der Arbeitenden und bei Arbeitskämpfen – beispielsweise in Form des vom VdG eingerichteten Streik-Unterstützungsfonds oder des Abwerbebeschlusses.664 Die Kooperation zwischen den Unternehmen der Branche schwächte sich mit Verschärfung der Wettbewerbsverhältnisse aber ab. Geplante Gemeinschaftsprojekte – sei es die Vertriebs- und Marketingoffensive im Ausland oder die überbetriebliche Nachwuchsförderung – kamen aufgrund divergierender Interessen nicht zustande.665 Alte Vereinbarungen – vor allem hinsichtlich der Abwerbung von Arbeitskräften – verloren an Verbindlichkeit. Aufgrund der Wahrnehmung eines »grausamen Ausleseprozesses«, den nur einige wenige Mundglashütten überleben würden, sank die Bereitschaft zu einer aufrichtigen Zusammenarbeit.666 Sicherheitsbedenken blockierten den Austausch von Erfahrungen mit technischen und organisatorischen Neuerungen oder mit neuen Vertriebsstrategien. Statt zu kooperieren, gingen viele Firmen zu unlauteren Praktiken über und begannen nicht nur die gut verkäuflichen Produkte, sondern auch die Krisenstrategien der Branchenteilnehmer zu kopieren. Im Einzelkämpfermodus machten sie dabei jedoch die gleichen Fehler – mitunter waren sie den marketingstrategisch geschönten Erfolgsmeldungen ihrer Konkurrenten aufgesessen. Die Erosion der überbetrieblichen Kooperationsbeziehungen verweist auch auf Veränderungen in der Repräsentation der Mundglasbranche durch die Arbeitgeberverbände. Die mittelständischen Mundglashütten sahen ihre Interessen gegenüber denen der (maschinell produzierenden) Großunternehmen vom VdG immer weniger vertreten, was – neben der Tarifflucht – einer der Gründe für ihren Austritt war.667

662 Siehe Philip Scranton, Endless Novelty. Specialty Production and American Industrialization, 1865–1925, Princeton 1997, S. 18f.; Charles Sabel und Jonathan Zeitlin, »Historical Alternatives to Mass Production. Politics, Markets and Technology in Nineteenth Century Industrialization«, in: Past and Present 108 (1985), S. 144–156. 663 Siehe bspw. Gemeinschaftswerbung Gläser und Getränke, 1959, in: mkp 83.216 G; Fritz, Porzellangeschirre (s. Anm. 32), S. 19, 132; Loyen, Werbung (s. Anm. 171), S. 178f. 664 Siehe Kapitel 1.1 und Bestand VdG, 1954–1963, in: BWA/F 064–75. 665 Bundesausschuss Wirtschaftsglas, 25. Juli 1968 (s. Anm. 174), S. 5; »Der ›gedeckte Tisch‹ hat keine Konjunktur«, in: FAZ, 19. März 1982, in: Archiv HMdF; Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung 1981 (s. Anm. 414); Stiftungsvorstand, 12. Juli 1984 (s. Anm. 55), S. 2. 666 Zitat [Konrad Scholz] aus Betriebsrat, 17. Mai 1982 (s. Anm. 574); Ebenso [Meier], 7. Dezember 1981 (s. Anm. 576), S. 4. 667 Laut Erich Eisch seien die Glashütte Eisch sowie »andere kleine Hütten« des Bayerischen Walds Mitte der 1970er Jahre aufgrund der Dominanz von Schott aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten. Die Glashütte Buder trat 1983 aus, um die Voraussetzungen für die von den Unternehmensberatern empfohlenen Einkommenskürzungen zu schaffen. Erich Eisch wiedergegeben in [Meier], 30. September 1976 (s. Anm. 150); Unternehmenschronik Buder (s. Anm. 19), S. 6.

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Damit reduzierten sich für die Gewerkschaft die Möglichkeiten, in diesen Unternehmen die Anliegen ihrer Mitglieder zu vertreten. Das Interesse der IG Chemie an der einstigen (aufgrund ihres hohen Organisationsgrades) tarifpolitischen Zugpferd-Industrie war aber auch mit dem gewerkschaftsinternen Richtungswechsel, dem Übergang zur Industriepolitik und der Schwerpunktverlagerung auf die großindustrielle und zukunftsträchtige Chemiebranche seit den 1970er Jahren enorm gesunken.668 Die Gewerkschaft intervenierte weder gegen Maßnahmen »barbarischer« Rationalisierung, die die Unternehmensleitung erst aufgrund der Schwäche der Belegschaftsvertretung durchführen konnten, noch sah sie bei Betriebsschließungen Handlungsoptionen.669 Während sie der (Mund-)Glasbranche kaum noch Zukunftschancen beimaß, erhöhte sie mit einer am Produktionsformat der mass production orientierten Tarifpolitik zusätzlich den Druck auf die Mundglashütten, die die Leitungen darin bestärkten, Tarifflucht zu begehen oder für die Mundglasfertigung unangemessene Entscheidungen zu treffen. In der Annahme sinkender Zukunftsaussichten war die Mundglasbranche sowohl vom Arbeitgeberverband als auch von der Gewerkschaft aufgegeben worden. Die auf beiden Seiten virulente Krise der Repräsentation führte dazu, dass diese Branche auf politischer Ebene kaum noch eine Lobby bzw. Fürsprecher besaß. Die Förder-, Steuer- oder Bildungspolitik der Bundesregierung orientierte sich generell nicht an den Bedürfnissen von kleinen und mittelgroßen Unternehmen (KMU), aus denen die Mundglasbranche größtenteils bestand.670 Die Auswirkungen der Reform der Mehrwertsteuer und die daraufhin veränderte Lagerhaltung des Handels hatte Mundglashütten in große Bedrängnis gebracht; auch die Reform des dualen Ausbildungssystems entsprach nicht den Anforderungen einer stark praxisbezogenen und weit über drei Jahre hinausgehenden Ausbildung, die für das Erlernen des Glasmacherberufs notwendig war.671 In Schulen oder beim Arbeitsamt wurde mitunter sogar explizit von einem Glasberuf abgeraten.672 Nach 1945 wurde die Niederlassung von »Vertriebenen«-Glasunternehmen und der Aufbau überbetrieblicher Infrastrukturen der Branche aus bevölkerungs- und strukturpolitischen Motiven staatlich gefördert. Insbesondere das Land Hessen setzte in die vollständig neu angesiedelte Glasindustrie die Hoffnung, dass sie strukturschwache

668 Siehe Kapitel 3.2; Jürgen Kädtler und Hans-Hermann Hertle, Sozialpartnerschaft und Industriepolitik. Strukturwandel im Organisationsbereich der IG Chemie-Papier-Keramik, Opladen 1997, S. 321. 669 Das galt selbst für den Bereich der maschinellen Produktion, wie der Behälterglasindustrie. Die IG Chemie regte hier zwar 1978 die Gründung eines Strukturkrisenkartells an, stimmte aber letztlich den Bedenken des BMWi zu, »dass es z.Z. am sinnvollsten sei, nicht grundsätzlich in das marktwirtschaftliche Geschehen einzugreifen«. BMWi, 30. November 1978 (s. Anm. 640); Interner Bericht BMWi, 8. März 1979, in: BArch, B 102/208321. 670 Hans-Liudger Dienel, »Das Bild kleiner und mittlerer Unternehmen in der bundesdeutschen Forschungs- und Wirtschaftspolitik 1949–1999«, in: Reith und Schmidt, Kleine Betriebe (s. Anm. 380), S. 101–122; Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 331), S. 54. 671 Siehe Kapitel 1.1; Christian Ebner und Alexandra Uhly, »Entstehung und Merkmale des dualen Ausbildungssystems«, in: Dossier Bildung, 27. Mai 2016, Online: www.bpb.de/gesellschaft/bildung/zukunft-bildung/228394/entstehung-und-merkmale. 672 Eisch, Die Eisch-Hütte (s. Anm. 142), S. 80; Notiz IHK Oberfranken, 14. Dezember 1965, in: BWA, K 008–936.

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

Regionen vitalisieren werde.673 Mit den Wettbewerbsbedingungen wandelten sich in den 1960er Jahren aber die Kriterien der hessischen Förderpolitik. Die Mundglashütten mussten sich in dem Maße, wie die »Vertriebenen«-Eigenschaft als ein soziales Förderkriterium an Bedeutung verlor, an neuen und das hieß an großbetrieblichen Rentabilitätsmaßstäben messen lassen. In den Glashütten Süßmuth oder Hirschberg zeigte sich, dass potenzielle Investoren bzw. Übernahmeinteressierte die Behörden vor allem mit großformatigen Sanierungsplänen überzeugen konnten und (ungeachtet, dass sich diese in einer Mundglashütte nicht bewährten und im Gegensatz zu den jeweiligen Belegschaftsinitiativen) auch großzügig gefördert wurden. Andere Regionen ließen die nach 1945 angesiedelte Glasbranche ebenfalls fallen.674 Von staatlicher Seite wurde der Niedergang der Branche höchstens sozialpolitisch flankiert oder der Übergang vom produzierenden Gewerbe zur Dienstleistung im Tourismus als neuer zukunftsträchtiger Wirtschaftszweig strukturschwacher Regionen gefördert.

9.6 Die Glashütte Süßmuth – wieder ein »ganz normales Unternehmen«? Die Glashütte Süßmuth war nach dem Ende der Selbstverwaltung insofern wieder ein normales Unternehmen geworden, als die Geschäftsleitung außerhalb der Kontrolle der Belegschaft agierte und eigenmächtige Entscheidungen traf. Die von den Beschäftigten nach der Betriebsübernahme als ein hohes Gut wertgeschätzte Möglichkeit, offen und ohne Angst vor negativen Konsequenzen die eigene Meinung und auch Kritik an den Vorgesetzten äußern und gemeinsame Überlegungen zur Behebung der Probleme im Betrieb anstellen zu können, war nicht mehr vorhanden. Im Gestus einer nachholenden und längst überfälligen Entwicklung wollte [Harald Meier] die Firma wieder an Branchentrends anschließen. Jedoch gelang es ihm so wenig wie seinen Vorgängern und Nachfolgern, die Wettbewerbsfähigkeit der Mundglashütte zu erhalten. Mit ihrer finanzpolitischen Findigkeit, dem Aufbau neuer Vertriebswege sowie den kulturellen Aktivitäten im Rahmen der Süßmuth-Stiftung trugen [Meier] und [Konrad Scholz] zwar zum Überleben der Glashütte Süßmuth bei. Negativ auf die weitere Unternehmensentwicklung wirkte sich allerdings aus, dass sie die Fehlentscheidungen ihrer Vorgänger wiederholten und sich an denen der Konkurrenzunternehmen orientierten. Zurückzuführen waren diese Fehlentwicklungen auf die Exklusion der Beschäftigten aus der unternehmerischen Entscheidungsfindung wie bei Richard Süßmuth, auf fehlende Berücksichtigung der Eigenarten der Mundglasfertigung wie bei den geschäftsführenden Gremien während der Selbstverwaltung und auf die Orientierung an unangemessenen Leitbildern des Wirtschaftens, die als eine neue »ökonomische Vernunft« von 673 Wolfgang Eckart, Neuanfang in Hessen. Die Gründung und Entwicklung von Flüchtlingsbetrieben im nordhessischen Raum 1945–1965, Wiesbaden 1993, S. 82–84. Siehe Kapitel 1.1. 674 So bspw. in Schwäbisch-Gmünd, wo keine branchenspezifische Ausbildungsinfrastruktur vorhanden war und sich die zur Fachhochschule für Design reformierte Werkkunstschule Anfang der 1970er Jahre einmal mehr von den Interessen der ansässigen Glasindustrie entfernte. Die meisten »Vertriebenen«-Glashütten hatten an den Nachkriegsstandorten auf Dauer nicht überlebt. Siehe Unterlagen des Kuratoriums der Staatlichen Werkkunstschule Schwäbisch-Gmünd, 1969–1971, in: mkp.Gl-A 1-Wies.37B; Moritz, Glasindustrie (s. Anm. 9), S. 204, 226.

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den Leitungen vieler Mundglashütten übernommen wurden. Die Beschäftigten der Glashütte Süßmuth konnten wie die in anderen, konventionellen Unternehmen diese Entscheidungen größtenteils weder beeinflussen noch verhindern. Mit dem Anstieg der Qualitätsprobleme und der Unzufriedenheit in der Belegschaft setzte sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre jene krisenhafte Entwicklung fort, die die Firma bereits in den 1960er Jahren an den Rand der Zahlungsunfähigkeit geführt hatte. Eine ähnliche Pattsituation wie 1969/1970 und 1974/1975 war unter der neuen Geschäftsleitung allein deshalb nicht entstanden, weil sie die Beteiligungsstrukturen wegsanierte und zugleich die Mundglasfertigung wegrationalisierte. Die nach der Belegschaftsübernahme umkämpfte Unternehmensexpansion über die Steigerung der Produktionskapazitäten hatte [Meier] bereits im ersten Jahr seiner Tätigkeit revidiert und stattdessen eine Expansion über die Steigerung des Vertriebs von zugekaufter Ware eingeleitet. Die bereits am Ende der Selbstverwaltung erodierenden Grundlagen für die Qualitätsproduktion wurden unter den folgenden Geschäftsleitungen weiter vernachlässigt. Die Glashütte Süßmuth transformierte sich in ein Handels- und Tourismusunternehmen mit Nischen-Produktion. Weichen hierfür hatte mit dem Bau des repräsentativen Ausstellungsgebäudes und des Hotels in gewisser Weise noch Richard Süßmuth gestellt.675 Vor allem aber war diese Unternehmensentwicklung das Ergebnis anhaltender Auseinandersetzungen innerhalb des Betriebs, in denen die Erfahrungen aus der Selbstverwaltung nachwirkten. In zweierlei Hinsicht unterschied sich die Glashütte Süßmuth von den anderen Unternehmen der Branche. Zum einen konnte die Geschäftsleitung auf das in der demokratischen Praxis generierte Wissen und auf die aus Solidarität mit dem Belegschaftsunternehmen entstandenen Kontakte und Netzwerke zurückgreifen. Viele Vorschläge der Belegschaftsgremien setzte sie erfolgreich um, die zuvor aufgrund der Blockadehaltung der geschäftsführenden Gremien nicht realisiert werden konnten. Auch nach Beseitigung der Selbstverwaltung konnte sie auf Ebene der Repräsentation deren Potenzial nutzen: als Herrschaftswissen bzw. Rechtfertigungsrhetorik gegenüber der Belegschaft und als Marketingwissen bzw. PR-Rhetorik gegenüber der Kundschaft. Dieses Wissen verschaffte der Süßmuth-Leitung nach dem basisdemokratischen Aufbruch um »1968« einige Vorteile. Denn durch die Auseinandersetzungen während der Selbstverwaltung wussten [Scholz] und [Meier] relativ gut über die Wertvorstellungen der Arbeitenden Bescheid. Diese griffen sie rhetorisch auf, um die sehr viel weitreichendere »Enteignung« der Beschäftigten zu legitimieren. Unter Berufung auf den »Süßmuth-Geist« wurden die Beschäftigten aufgefordert, für ihren Betrieb »umfassende Verantwortung durch Selbstbestimmung mitzutragen«, zusammenzuhalten und sich anzustrengen – ein »jeder an seinem Platz«.676 Die auf einen moralischen Appell reduzierte Bezugnahme auf die demokratische Unternehmensform ging – wie bei den geschäftsführenden Gremien zuvor – mit einer individualisierenden Delegitimierung einst kollektiv vertretener

675 Das Ausstellungsgebäude wurde für den Werksverkauf genutzt. Das firmeneigene Hotel wurde als Übernachtungsmöglichkeit nach einer Betriebsführung beworben. Werbeprospekt, [Frühjahr 1976] (s. Anm. 196); [Meier], 22. Januar 1976 (s. Anm. 227), S. 197. 676 Gesellschafterversammlung, 9. Mai 1977 (s. Anm. 67), S. 2; [Meier], 28. September 1977 (s. Anm. 208), S. 1; [Köhler], 22. Mai 1981 (s. Anm. 132).

Die Glashütte Süßmuth und die bundesdeutsche Mundglasbranche (bis 1989)

Belegschaftsinteressen an gerechten Löhnen oder guter Arbeit einher, die als Ausdruck von Egoismus und fehlendem wirtschaftlichen Sachverstand dem »Gesamtwohl des Unternehmens« abträglich seien. Die Negierung der betrieblichen Machtverhältnisse und die Behauptung einer Interessenidentität konnte in einem Unternehmen, das sich formal zur Hälfte in kollektivem bzw. zumindest in nicht-privatem Eigentum befand, nachvollziehbar erschienen. In Zeiten eines in den Auseinandersetzungen um »1968« konturierten Antagonismus wirkte die Erfahrung der Selbstverwaltung somit in Form einer sozialen Rationalisierung nach. Über die Repräsentation als Partnerschaftsunternehmen konnte die Geschäftsleitung eine (links-)liberale Kundschaft ansprechen und über die Öffentlichkeit zugleich den Druck zur Kooperation auf die Beschäftigten erhöhen. Sie bediente sich hierbei also eben jener Strategie, mit der einst die Betriebsaktivisten Richard Süßmuth bewegt hatten, ihren Forderungen nachzukommen. Zum anderen belegt die Wirkmächtigkeit des moralischen Appells an die Verantwortung der Beschäftigten aber auch den hohen Grad der Aneignung ihres Betriebs, die den Handlungsspielraum der Geschäftsleitung der Glashütte Süßmuth sehr viel weitreichender als in anderen Mundglashütten begrenzte. Auch nach der Selbstverwaltung konnte das Führungspersonal »nie so frei arbeiten« und agieren wie in einem Privatunternehmen. Informell beanspruchten die Beschäftigten im Betrieb weiterhin Mitsprache. Sie kritisierten Missstände und widersetzten sich Anweisungen der Geschäftsleitung, die für sie aus fachlichen und sozialen Gründen keine positiven Ergebnisse erwarten ließen. An diesem (in der Selbstverwaltung gestärkten) Selbstbewusstsein der Beschäftigten schien sich [Harald Meier] aufgerieben zu haben. Bezeichnenderweise entlud sich die betriebliche Spannung in der Glashütte Süßmuth nicht wie in der Josephinenhütte in einem geschlossenen Rücktritt der Glasmacher,677 sondern im Ausscheiden und der Gründung eines Konkurrenzunternehmens durch den Geschäftsführer. Das vergleichsweise lange Überleben der Glashütte Süßmuth war also nicht allein auf die hohe Betriebsbindung, Verzichts- und Leidensbereitschaft der Beschäftigten zurückzuführen. Diese waren auch in anderen Unternehmen mitunter sehr ausgeprägt, konnte deren Schließung aber nicht verhindern, sondern lediglich kurzzeitig hinauszögern.678 Vielmehr sicherten vor allem die personelle Kontinuität und eben jene auch weiterhin informelle Einflussnahme der Beschäftigten der Glashütte Süßmuth die ökonomische Existenz.679 In weitaus größerem Ausmaß als in anderen Mundglashütten konnten sie, wenn schon nicht Fehlentscheidungen oder Investitionsversäumnisse der Geschäftsleitung abwenden, zumindest deren negative Konsequenzen abfedern. Auf Druck 677 Siehe Kapitel 9.4. 678 Zu den mehrfachen Lohnverzichten und vorübergehenden Freistellungen in den Glashütten Buder und Hirschberg siehe Notiz Hermann Unterhinninghofen, 25. September 1974, in: AfsB, Bestand IG Chemie; Unternehmenschronik Buder (s. Anm. 19), S. 6f.; »70 Prozent Lohn bezahlt. Kristallglaswerk Hirschberg in Schwierigkeiten«, in: FR, 25. Juli 1974, in: AGI. 679 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Ulrike Schulz in ihrer Studie zur Firma Simson in Suhl. Ulrike Schulz, Simson. Vom unwahrscheinlichen Überleben eines Unternehmens 1856–1993, Göttingen 2013. Auch die Wiederinbetriebnahme der 2001 konkursgegangenen Glashütte Theresienthal im Jahr 2004 wäre ohne das Engagement der Beschäftigten bei der Aufrechterhaltung der Produktion nicht möglich gewesen. Siehe Haller und Pscheidt, Theresienthal (s. Anm. 20), S. 109–111; Glaser und Wessely, Unternehmen (s. Anm. 24).

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Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

des Betriebsrats wurde zu Beginn der 1980er Jahre der Zukauf von Handelsware wieder zurückgefahren und damit nach der Umstellung auf den Einofenbetrieb (noch) nicht jener von der Geschäftsleitung geplante Weg eingeschlagen, der in anderen Mundglashütten nach dem Wegfall der produktiven Basis relativ schnell das Aus bedeutete. Auch war es dem Engagement und technischen Improvisationstalent der Beschäftigten zu verdanken, dass die Produktion trotz der nur geringfügigen Investitionen über knapp zwanzig Jahre aufrechterhalten werden konnte.680 Die Glashütte Süßmuth zehrte nach der Selbstverwaltung gerade von jenen »heiligen Kühen«, die [Harald Meier] im Zeichen der »ökonomischen Vernunft« zu beseitigen angekündigt hatte und die in aller Konsequenz erst von den letzten Eigentümern auf die Schlachtbank gelegt wurden: den engen sozialen Bindungen der Beschäftigten und der Kund*innen an das Unternehmen – als das durch die Selbstverwaltung erhaltene und (gleichwohl unter politisch anderen Vorzeichen) fortgeführte Erbe von Richard Süßmuths unternehmerischer und gestalterischer Tätigkeit. Erst nach der vollständigen Privatisierung im Jahr 1989 entwickelte sich die Glashütte Süßmuth wieder zu einem »ganz normalen Betrieb«. Ungeachtet jeglicher Erfahrungen planten [Lothar Rupp] und [Gunter Kapp] großformatige Sanierungen in Produktion und Vertrieb, deren Ansätze bereits zuvor so oft gescheitert waren. Ein weiteres Mal setzten sie auf Großaufträge für industrielle Massenware, die die Firma nicht bedienen konnte, weil sich die Mundglasfertigung für standardisierte Produkte in großen Serien nicht eignete.681 Bezeichnend hierfür war ein Großauftrag für Klobürstenbehälter, die nicht den Maßen der Halterung entsprachen und deren Restbestände noch heute im Glasmuseum Immenhausen als Blumenvasen verkauft werden. Die neuen Eigentümer hoben den Mindestauftragswert an und sortierten alle Kleinkund*innen aus der Kartei aus, worin die langjährige Vertriebsangestellte [Ingrid Buchholz] – hatte sich diese heterogene und teils der Firma über Jahrzehnte verbundene Kundschaft doch bis zuletzt als entscheidendes Rückgrat erwiesen – eine Ursache für das Unternehmensende sah.682 Der ausschlaggebende Grund für die Schließung 1996 lag indes außerhalb des Betriebs: in den wirtschaftskriminellen Aktivitäten von [Kapp] und [Rupp] im Zusammenhang mit der treuhandgeförderten Übernahme der Oberlausitzer Glaswerke in Weißwasser. Der Bankrott der OLG zog für die Glashütte Süßmuth Konsequenzen nach sich, die auch von den Beschäftigten nicht mehr abgefedert werden konnten. In der Überzeugung, dass das Unternehmen (ähnlich wie bis heute die Glashütte Eisch) in der Nische für »Anfertigungsware« und im »Hochpreissegment« weiter hätte existieren können, war der Konkurs für die zuletzt noch knapp 30 Beschäftigten umso schmerzhafter.683 680 Seit 1976 war in der GHS bspw. kein großer Hafenofen mehr neu gebaut worden, obwohl in der Regel spätestens nach zwölf Jahren ein Neubau zu erfolgten hatte. Die große Bedeutung der »Eigeninitiative der Belegschaften« hinsichtlich der Instandhaltung und Improvisationen in der Produktionstechnik, wie sie sich vor allem in Krisenzeiten zeigte, hebt auch Goes am Beispiel von Glasbetrieben der SBZ hervor. Goes, Arbeitermilieus (s. Anm. 331), S. 134. 681 Siehe Auftragsbestand Süssmuth Glasmanufaktur GmbH&Co KG zum 30. April 1993 und zum 30. April 1994, in: AGI; Transkript Interview der Autorin mit [Jochen Schmidt], 7. Februar 2013, im Besitz der Autorin, S. 10f., 14f. 682 Transkript Interview der Autorin mit [Ingrid Buchholz], 19. März 2014, im Besitz der Autorin, S. 4f. 683 [Schmidt], 7. Februar 2013 (s. Anm. 681), S. 10–12, 14f.; Ebenso [Buchholz], 19. März 2014, S. 5, 23.

Resümee Teil III

Belegschaftsübernahmen konkursbedrohter Unternehmen waren der öffentlichen Wahrnehmung nach in der Regel Fehlschläge.1 Weitgehend trifft dies auch für die Erinnerungen an die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth zu. Ein Teil der Arbeitsplätze konnte zwar durch die Belegschaftsübernahme 1970 über zweieinhalb Jahrzehnte hinweg erhalten werden. Die Beschäftigten mussten allerdings immer prekärere Bedingungen in Kauf nehmen und vielfältigen Verzicht leisten, der sich über die Rentenansprüche bis in die Gegenwart hinein negativ auswirkt. Für die Funktionäre der IG Chemie wurde das Modell Süßmuth deshalb zu einem Anti-Modell. Andere Belegschaftsinitiativen erhielten von dieser Gewerkschaft keine Unterstützung.2 Der Fall Süßmuth galt in der gewerkschaftsinternen Verständigung Anfang der 1980er Jahre nur noch als ein »Beispiel dafür«, dass »Einkommensverzichte der Beschäftigten kein Mittel sind, um zur Gesundung eines Unternehmens beizutragen.«3 Rob Paton plädiert dafür, bei der Bewertung von Erfolg und Scheitern differenziert vorzugehen und auch die zeitgenössischen Ansprüche und Kriterien der Akteur*innen heranzuziehen.4 Im Fall Süßmuth war demnach nicht jene praxisbezogene Vorstellung von Selbstverwaltung gescheitert, die die Beschäftigten seit der Übernahme ihres Betriebs als befreiend und ökonomisch sinnvoll erfuhren. Gescheitert war vielmehr die mit der Befürwortung einer zentralen Form der Unternehmensorganisation verbundene 1 2

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Rob Paton, Reluctant Entrepreneurs. The Extent, Achievements and Significance of Worker Takeovers in Europe, Milton Keynes 1989, S. 2. Bei der Belegschaftsinitiative im Fall Hirschberg 1974 zeigte die IG Chemie ihre ablehnende Haltung noch nicht so explizit wie Anfang der 1980er Jahre bei jener im Fall Kaffee HAG in Oldenbüttel. Rainer Duhm, »Manege oder Parkett? Die Rolle deutscher Gewerkschaften bei Betriebsübernahmen«, in: Gisela Notz, Klaus-Dieter Heß, Ulrich Buchholz u.a. (Hg.), Selbstverwaltung in der Wirtschaft. Alte Illusion oder neue Hoffnung?, Köln 1991, S. 82. Bericht Vorstand der IG Chemie Vwst. Kassel, 2. September 1983, in: AfsB, Bestand IG Chemie, S. 2; [Klaus Boehm] an Horst Mettke und Werner Beck, 13. September 1983, in: AfsB, Bestand IG Chemie; [Klaus Boehm] in Christian Hülsmeier, »Die rote Hütte ist so rot nicht mehr. Das ›Modell Süßmuth‹. Erfolgreich auf Kosten der Selbstverwaltung«, in: Vorwärts, 18. Februar 1982, in: AGI. Paton, Reluctant Entrepreneurs (s. Anm. 1), S. 8–11; Ebenso Ed Mayo, »The Hidden Alternative. Conclusion«, in: Anthony Webster, Linda Shaw und John K. Walton (Hg.), The Hidden Alternative. Co-operative Values, Past, Present and Future, Manchester 2011, S. 350f.

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Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

technokratische Vorstellung von Selbstverwaltung, mit der sich die gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Unterstützer sowie die von ihnen ernannten Führungskräfte in jahrelangen Konflikten durchzusetzen vermochten.5 Ihre für eine Mundglashütte unangemessenen Rationalisierungsvorhaben und Unternehmensreformen wurden begrenzt von der Materialität der Fertigung und von der Materialität der betrieblichen Machtverhältnisse. Der Demokratisierung der Unternehmensführung und der Rationalisierung der arbeitskräfteintensiven Qualitätsproduktion gemeinsam war, dass sie nicht ohne die Beteiligung der Beschäftigten und erst recht nicht gegen die Beschäftigten erfolgreich sein konnten. Die Blindheit der sich im Belegschaftsunternehmen durchsetzenden Entscheidungsträger gegenüber den Charakteristika der Mundglasfertigung ging einher mit einer Blindheit gegenüber der Machtfrage, die in den Auseinandersetzungen während der Selbstverwaltung aufgeworfen war. Offenkundig wurde ihr Versäumnis bzw. ihre fehlende Bereitschaft, die eigenen Machtpositionen zu reflektieren und entsprechend des demokratischen Anspruchs das eigene Handeln zu verändern. Die Analyse in Teil III hat gezeigt: Um sich in den verschärften Wettbewerbsverhältnissen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu behaupten, waren Unternehmen der Mundglasbranche unmittelbar von den Beschäftigten abhängig und zwar nicht allein hinsichtlich ihrer Leistungsbereitschaft und Arbeitsmotivation, sondern auch hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, ihres Erfahrungswissens und ihrer Kreativität. Aufgrund der Körper- und Praxisgebundenheit konnten diese Ressourcen nur durch eine physische Beteiligung der Beschäftigten an der Entscheidungsfindung oder eine Berücksichtigung ihrer Hinweise und Empfehlungen genutzt werden. Die über den Unternehmensvergleich vorgenommene Einbettung der Fallstudie zur Glashütte Süßmuth in die Branchenentwicklung hat somit das Ergebnis aus Teil II bekräftigt: Die Selbstverwaltung bewirkte im Fall Süßmuth auf lange Sicht (und auch nach deren Ende) eine Anpassung der Unternehmensführung an sich ändernde Rahmenbedingungen des Wirtschaftens, wozu auch der basisdemokratische Aufbruch in der Arbeitswelt um »1968« gehörte. Im Zuge dessen hatte sich der Stellenwert des Faktors Arbeit als wichtigster Produktionsfaktor in einer Mundglashütte einmal mehr erhöht, was die Unternehmensleitungen in massive Bedrängnis brachte. In zunehmend konfrontativen Arbeitsbeziehungen verschloss sich nicht nur das in den Belegschaften vorhandene Potenzial, sondern es schwanden auch die Voraussetzungen für die Rationalisierung einer Mundglashütte sowie letztlich die Grundlagen für die Qualitätsproduktion. Die meisten Mundglashütten waren an eben jenen Bedingungen gescheitert, die die Betriebsübernahme und Selbstverwaltung der 5

Dieses Ergebnis deckt sich mit jenem von Peter Kramper, der die skandalbehaftete Krise der Gemeinwirtschaft in den 1980er Jahren als langfristige Folge von Zentralisierungsprozessen beschreibt. Ebenso betonen Ann Hoyt und Tito Menzani, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht die Gemeinwirtschaft bzw. Genossenschaftsbewegung an sich, sondern eine expansive Entwicklungsstrategie gescheitert war, im Zuge dessen hatten sich viele Genossenschaften und gemeinwirtschaftliche Unternehmen zu Großunternehmen bzw. Konzernen entwickelt. Peter Kramper, »Das Ende der Gemeinwirtschaft. Krisen und Skandale gewerkschaftseigener Unternehmen in den 1980er Jahren«, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 111–138; Ann Hoyt und Tito Menzani, »The International Cooperative Movement. A Quiet Giant«, in: Patrizia Battilani und Harm G. Schröter (Hg.), The Cooperative Business Movement, 1950 to the Present, Cambridge 2012, S. 23–62.

Resümee Teil III

Firma Süßmuth möglich und – mit Blick auf das vergleichsweise lange Überleben – auch erfolgreich gemacht hatte. Die Entwicklungen der Glashütte Süßmuth nach dem Ende der Selbstverwaltung konturierten die Bedeutung, die die demokratische Praxis trotz aller Defizite für die Beschäftigten besessen hatte. Die Übernahme ihres Betriebs erlebten sie einst als einen selbstermächtigenden Aufbruch. Mussten sie vorher und nachher Sanktionen seitens der Geschäftsleitung befürchten, so konnten sie während der Selbstverwaltung frei ihre Meinung sagen und offen Kritik an den Kolleg*innen wie auch an den Vorgesetzten üben. Angehörige marginalisierter Beschäftigtengruppen ergriffen mitunter erstmals öffentlich das Wort. Die Beschäftigten machten die Erfahrung, dass sie mit ihren Vorschlägen und mit gemeinsamen Anstrengungen etliche Verbesserungen im Unternehmen bewirken konnten. Ihre Arbeit war für sie dadurch sinnstiftend und freudvoller. Über den bereits zuvor (gewerkschafts- und betriebs-)politisch aktiven Facharbeiterkreis hinaus war ein Zugewinn an Selbstbewusstsein in der gesamten Belegschaft zu beobachten. In den intensivierten, wenn auch mitunter sehr konfliktträchtigen Austauschprozessen fanden Verständigungen und Annäherungen zwischen Angehörigen verschiedenen sozialer Gruppen innerhalb wie auch außerhalb des Betriebs statt, in denen in Ansätzen eine neue Kollektivität und übergreifende Solidarität zutage traten. Die kollektive Selbsthilfe der Süßmuth-Beschäftigten wurde Anfang der 1970er Jahre auch zur Inspiration für andere Belegschaften.6 Ungeachtet der aufgezeigten und weitgehend ungenutzten Potenziale blieben allein die Probleme der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth in Erinnerung. Die Misserfolge der eigenmächtig entscheidenden Geschäftsleitungen wurden hingegen mit der Branchenkrise plausibilisiert. Dieses Paradoxon verweist auf eine dreifache Niederlage des basisdemokratischen Aufbruchs – und zwar auf den Ebenen der Praktiken, der Deutungen und der Visionen. Auf Ebene der Praktiken konnten die Beschäftigten ihre Vorstellungen nur für einige Jahre und nur in Ansätzen zur Geltung bringen. Ihre Hoffnungen auf demokratische Teilhabe, auf gute Arbeit und gerechte Löhne wurden enttäuscht. Selbst ihre vormals legitimen Interessen konnten sie zuletzt nicht mehr wahren. In den sich am Ende und nach der Selbstverwaltung festigenden neuen Machtkonstellationen mussten sie (falls sie im Betrieb blieben bzw. bleiben konnten) vielfältige Verschlechterungen erdulden. Es kam hierbei in gewisser Weise zu einer doppelten »Enteignung« der Belegschaft – einerseits hinsichtlich ihrer materiellen Arbeits- und Lebensbedingungen: Die Geschäftsleitung hatte die einst unter demokratischen Bedingungen freiwillig geleistete Verzichts- und Leidensbereitschaft der Belegschaft aufgegriffen und auf Dauer gestellt. Die Entscheidungsträger reichten damit den Wettbewerbsdruck ebenso wie die 6

Neben den bereits genannten Fällen Hirschberg, Buder und Josephinenhütte ist auch von Belegschaften in den von Schließung bedrohten Firmen Beku in Thüngersheim, Fromme GmbH in Wetzlar, Recenia in Raunheim oder C.O. Mangels KG in Wilhelmshaven überliefert, dass sie sich in ihren Übernahmeüberlegungen auf die GHS bezogen. Maximillian H. Petersen, »Eine Notlösung wurde zum Vorbild. Die Belegschaft rettete in Immenhausen einen Namen. Süßmuth-Modell macht Schule«, in: Westfälische Rundschau, 30. Juni 1972, in: AfsB, Bestand IG Chemie; »Bald neue Produktion auf Admira-Maschinen. Jusos: Süßmuth-Modell für die Fromme GmbH«, in: FR, 1. August 1973, in: AGI; »Glashütte Süßmuth – Exempel für Recenia«, in: FR, 13. März 1974, in: AGI; »Betriebsübernahme gescheitert«, in: Wilhelmshavener Zeitung, 4. November 1974, in: FHI, Schöf-1198.

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Teil III: Das Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth

durch unternehmerische Fehler verursachten Kosten an die Beschäftigten weiter. Andererseits hatten die Führungskräfte versucht, sich das die Grenzen des Möglichen erweiternde Potenzial anzueignen, was zwar – eben weil dieses Potenzial der demokratischen Praxis inhärent und an dieselbe gebunden war – nur begrenzt realisierbar war. Das hierbei genierte Wissen konnte die Geschäftsleitung allerdings als Herrschaftswissen nutzen und als Rechtfertigung für soziale Einschnitte gegen eine kollektive Interessenvertretung der Beschäftigten in Stellung bringen. Auf Ebene der Deutungen hatte sich die Annahme vom vermeintlich unvermeidlichen Scheitern des demokratischen Wirtschaftens durchgesetzt. Der Fall Süßmuth schien hierfür lediglich ein weiterer Beleg zu sein. Als Ausdruck ihrer Niederlage und mitunter auch aus Gründen des Selbstschutzes hatten zuletzt die meisten Beschäftigten die narrative Reduktion auf den Arbeitsplatzerhalt als einzigem Beweggrund für die Betriebsübernahme akzeptiert. Die von diesem (von den staatlichen Gläubigern wie den geschäftsführenden Personen von Beginn an lancierten) Narrativ abweichenden Stimmen verstummten. Mit dem Siegeszug einer von jeglichen sozialen und politischen Implikationen befreiten »ökonomischen Vernunft« schwanden in der Krise der Repräsentation die Voraussetzungen, sich mit gegenteiligen Deutungen Gehör zu verschaffen bzw. darin ernst genommen zu werden. Vor allem für jene während der Selbstverwaltung sehr engagierten Beschäftigten dürfte dies eine umfassende Ohnmachtserfahrung gewesen sein. Die Erinnerungen an ihr Aufbegehren und ihre Selbstermächtigung wurden von ihrer Niederlage überlagert und gerieten demgegenüber nahezu vollständig in Vergessenheit. Schließlich war die Demokratisierung der Wirtschaft auch über den Fall Süßmuth hinaus als Forderung und Vorstellung vom künftig Erstrebenswerten diskreditiert. Die Niederlage auf Ebene der Visionen fand Ausdruck darin, dass das Denken von Alternativen jenseits der »ökonomischen Vernunft« kaum noch Legitimität (mehr) zu besitzen schien. Jene, die an solchen »Hirngespinsten« festhielten, erweckten den Eindruck, »von Tuten und Blasen« keine Ahnung zu haben und sich den »Realitäten« verweigern zu wollen. Die Delegitimierung wirtschaftsdemokratischer Vorstellungen wirkte sich in einer hiervon bereinigten Erinnerung aus.

Einordnung und Ausblick

Der Fall Süßmuth im Kontext der (west)deutschen Geschichte des kollektiven Wirtschaftens Die Geschichte der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth war eine Geschichte von Konflikten um die konkrete Praxis der Selbstverwaltung, die bis zuletzt umkämpft blieb. Um Selbstverwaltung in diesem prozessualen und dynamischen Verständnis analytisch zu erfassen, hat sich die in der Einleitung dargelegte Arbeitsdefinition bewährt. Eine normative Vorbestimmung der Werte und Ziele des selbstverwalteten Wirtschaftens war nicht erforderlich, denn in der Praxis zeigte sich: Das Verständnis der Akteur*innen von demokratischer Teilhabe, guter Arbeit oder gerechten Löhnen – vom guten und richtigen Wirtschaften – variierte mitunter enorm. Im Fall Süßmuth waren verschiedene Ansichten aufeinandergeprallt und letztlich in fundamentalen Widerstreit geraten. Die beiden idealtypisch gegenübergestellten Vorstellungen von der demokratischen Unternehmensführung in einer entweder vom Betrieb ausgehenden dezentralen Form der Unternehmensorganisation oder in einer zentralen Form der Unternehmensorganisation, die dezentrale Strukturelemente der Mitarbeiterbeteiligung partiell auf betrieblicher Ebene integrierte,1 unterschieden sich nach den Orten der Erkenntnis, den zugrunde liegenden Wissensbeständen und in der Prioritätensetzung bei der Realisierung des demokratischen Anspruchs. Hierin verwiesen sie auf unterschiedliche Traditionen des kollektiven Wirtschaftens. Das aus den Erfahrungen in der betrieblichen Praxis und den Dynamiken der Auseinandersetzung während der Unternehmenskrise gewonnene Selbstverwaltungsverständnis der Beschäftigten lässt sich in eine Tradition der Produktivgenossenschaften und der Rätedemokratie einordnen. Selbstverwaltung begriffen viele von ihnen als die Möglichkeit, in Angelegenheiten, die ihre Arbeitsbereiche betrafen und in denen sie jeweils am besten Bescheid wussten, mitentscheiden zu können. Um eine Beteiligung möglichst aller Belegschaftsmitglieder an der unternehmerischen Entscheidungsfindung zu gewährleisteten, befürworteten sie eine dezentrale Organisationsstruktur.

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Siehe Kapitel 4.1 und Kapitel 7.4.

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Spur der Scherben

Ansätze einer solchen hatten sich mit den Ausschüssen als provisorische Entscheidungsgremien während der Betriebsübernahme herausgebildet und – weil sie den Merkmalen der Mundglasfertigung Rechnung trugen – sich in der Praxis bewährt. Die Ausschussstruktur ähnelte einer rätedemokratischen Organisationsform, die historisch oftmals in Krisen bzw. revolutionären Situationen zur Geltung kam bzw. zur Geltung kommen konnte und wofür es – wie Hannah Arendt hervorhob – kein theoretisches Wissen brauchte.2 Aus Perspektive der Arbeitenden erschienen ökonomische, soziale und politische Ziele der Selbstverwaltung als wechselseitige Bedingungen: Eine ökonomische Stabilisierung des Unternehmens und eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen sollte durch die Demokratisierung der Entscheidungsfindung erfolgen. Dem formalisierten Modell Süßmuth lag – in Anlehnung an die parlamentarische Demokratie – ein repräsentativdemokratisches Verständnis zugrunde. Das Verständnis der IG-Chemie-Funktionäre von Selbstverwaltung als eine erweiterte Form der Mitbestimmung stand in einer Tradition sozialdemokratischer Reformkonzepte der Wirtschaftsdemokratie und Gemeinwirtschaft. Eine Demokratisierung der Wirtschaft sei demnach schrittweise über die Ausweitung der Mitbestimmung von Vertreter*innen der Arbeitenden in den Unternehmen oder über einen gemeinwirtschaftlichen Sektor zu realisieren – mit dem Ziel, den Kapitalismus von innen heraus zu verändern bzw. zu überwinden.3 Das diesen Reformvorstellungen zugrunde liegende Demokratieverständnis war insofern technokratisch, als – aus dem theoretischen Nachdenken jenseits einer (betrieblichen wie politischen) Praxis und in der Annahme einer »Objektivität« bzw. eines one best way bei der Bestimmung des ökonomisch Guten und Richtigen konzipiert – von der Möglichkeit einer problemlosen Vereinbarkeit demokratischer Elemente mit einer zentralistischen Politik bzw. Strukturen ausgegangen wurde. Im Fall Süßmuth nahmen die Gewerkschafter dementsprechend eine hierarchisierende Trennung in den Zielen der Selbstverwaltung vor: Es galt zuerst die ökonomische Stabilisierung des Unternehmens zu erreichen – als Voraussetzung für die Umsetzung der sozialen und schließlich der politischen Ziele. Dieses in der Fallstudie aufgezeigte Spannungsverhältnis zwischen dem dezentralen Ansatz einer Demokratisierung der Wirtschaft von unten und dem zentralen Ansatz einer Demokratisierung der Wirtschaft von oben, zwischen in kollektiven Praktiken gefundenen Organisationsformen und den aus der Theorie abgeleiteten Reformkonzepten prägte seit jeher die Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung. Dem Mitbegründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins Ferdinand Lasalle galten Produktivgenossenschaften einst als Weg zur »Verbesserung der Lage des Arbei-

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Seit der Französischen Revolution 1789 haben sich »in jeder Revolution spontan Räte gebildet, ohne dass irgendeiner der Beteiligten je wusste, dass es dies schon einmal gegeben hat«. Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1994, S. 336, 338; Ähnlich Ernest Mandel, Arbeiterkontrolle, Arbeiterräte, Arbeiterselbstverwaltung. Eine Anthologie, Frankfurt a.M. 1971, S. 10; Siehe auch Alex Demirović, »Rätedemokratie oder das Ende der Politik«, in: Prokla 2 (2009), S. 181–206. Siehe Alex Demirović, Demokratie in der Wirtschaft. Positionen – Probleme – Perspektiven, Münster 2007, S. 9–30; Horst Thum, Wirtschaftsdemokratie und Mitbestimmung. Von den Anfängen 1916 bis zum Mitbestimmungsgesetz, Köln 1991.

Einordnung und Ausblick

terstandes in politischer, materieller und geistiger Beziehung«.4 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es mehrere Gründungswellen von Produktivgenossenschaften, die teilweise im Zusammenhang mit Arbeitskämpfen standen.5 Weil diese Erfahrungen als (ökonomisch) wenig erfolgreich galten, stießen Produktivgenossenschaften in der SPD und den Gewerkschaften zunehmend auf Ablehnung. Die (von der liberal-konservativen Genossenschaftsbewegung abzugrenzende) sozialistische Genossenschaftsbewegung galt zwar als »dritte Säule der Arbeiterbewegung«, damit war aber »fast immer die konsumgenossenschaftliche Bewegung gemeint«.6 Im Zuge der »Revisionismusdebatte« um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, des »Kriegssozialismus« während des Ersten Weltkriegs, der Niederschlagung der aus der Novemberrevolution 1918 hervorgegangenen Rätebewegung und der Abgrenzung zur kommunistischen Bewegung dominierten zentralistische Reformkonzepte die strategische Ausrichtung der deutschen Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung, die »der Entfaltung demokratischer Entscheidungs- und Arbeitsstrukturen wenig Raum« ließen.7 In der Weimarer Republik entstand dennoch eine organisatorische und programmatische Vielfalt von »Wirtschaftsunternehmen der Arbeiterbewegung«.8 Während sich die expandierenden Konsumgenossenschaften von den ursprünglichen Prinzipien direkter Demokratie verabschiedeten, denen sich die neugegründeten Gewerkschaftsunternehmen gar nicht erst verpflichtet hatten, taten sich Arbeiter*innen im Kontext einer historisch »einmaligen Gründungswelle von Selbsthilfeinitiativen« und aus Enttäuschung über nicht eingehaltene Sozialisierungs- und Demokratisierungsversprechen ihrer Repräsentanten in Produktivgenossenschaften zusammen. Einen jähen und nachhaltigen Abbruch fand diese Entwicklung mit der Machtübergabe an die Nazis. Die Genossenschaftsbewegung und gewerkschaftliche Gemeinwirtschaft wurden seit 1933 staatlicher Kontrolle und einer rigiden Zentralisierung unterworfen, die nach 1945 in Form einer Verengung des einst breiten »Spektrums auf verhältnismäßig wenige, zentralisierte Großunternehmen« ohne bzw. mit einem nur noch geringfügigen gesell-

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Lassalles Forderung nach der »Errichtung von sozialistischen Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volkes« fand Aufnahme in das Gothaer Programm der vereinigten Sozialistischen Arbeiterpartei von 1875. Hans Joachim Sperling, »Ein Blick zurück. Arbeiterbewegung und Genossenschaften«, in: Gisela Notz, Klaus-Dieter Heß, Ulrich Buchholz u.a. (Hg.), Selbstverwaltung in der Wirtschaft. Alte Illusion oder neue Hoffnung?, Köln 1991, S. 29. Folgendes aus Christiane Eisenberg, Frühe Arbeiterbewegung und Genossenschaften. Theorie und Praxis der Produktivgenossenschaften in der deutschen Sozialdemokratie und den Gewerkschaften der 1860er/1870er Jahre, Bonn 1985; Sperling, Arbeiterbewegung (s. Anm. 4); Burghard Flieger, Produktivgenossenschaft als fortschrittsfähige Organisation. Theorie, Fallstudie, Handlungshilfen, Marburg 1996, S. 49–51. Klaus Novy und Michael Prinz, Illustrierte Geschichte der Gemeinwirtschaft. Wirtschaftliche Selbsthilfe in der Arbeiterbewegung von den Anfängen bis 1945, Berlin u.a. 1985, S. 18. Zitat von Sperling, Arbeiterbewegung (s. Anm. 4), S. 37; Siehe auch Demirović, Demokratie (s. Anm. 3), S. 22–32; Else Fricke, Gisela Notz und Wilgart Schuchardt, Arbeitnehmerbeteiligung in Westeuropa. Erfahrungen aus Italien, Norwegen und Schweden, 1986, S. 58–62. Folgendes aus Novy und Prinz, Gemeinwirtschaft (s. Anm. 6), S. 64–231, 82.

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Spur der Scherben

schaftspolitischen Gestaltungsanspruch fortwirkte.9 An die vielfältigen Erfahrungen des kollektiven Wirtschaftens der Weimarer Republik wurde in den westlichen Besatzungszonen und im »Frontstaat« Bundesrepublik zunächst nicht angeknüpft.10 Der unter den politischen Kräften im besiegten Deutschland zeitweilige Konsens über eine Sozialisierung der Wirtschaft wurde im Westteil vom antikommunistischen Konsens über eine »soziale Marktwirtschaft« und Politik der Sozialpartnerschaft abgelöst.11 In der SPD manifestierte sich die dahingehende programmatische Wende (und damit die endgültige Abkehr vom Marxismus, von der Kritik am Kapitalismus und vom Klassenkampf) spätestens 1959 auf dem Parteitag in Bad Godesberg, der die DGB-Gewerkschaften – gleichwohl ebenso wie in der SPD von heftigen internen Richtungskämpfen begleitet – früher oder später folgten.12 Ende der 1960er Jahre rückte die Demokratisierung der Wirtschaft wieder stärker auf die politische Agenda bzw. mit dem Regierungsantritt Willy Brandts als erster SPD-Bundeskanzler in scheinbar greifbare Nähe. Das sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Lager brachte – mit der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 und der Verabschiedung des Mitbestimmungsgesetzes 1976 – auf parlamentarischem Wege indes lediglich die Ausweitung der Mitbestimmung von Betriebsräten und jener von Arbeitnehmervertretern in Aufsichtsräten von Großunternehmen voran.13 Von der (Mitglieder-)Basis ausgehende Initiativen, Betriebe zu übernehmen und Kollektivunternehmen zu gründen,

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Ebd., S. 11; Siehe auch Rüdiger Hachtmann, Das Wirtschaftsimperium der Deutschen Arbeitsfront 1933–1945, Göttingen 2012. Zu diesen Großunternehmen gehörten die Volksfürsorge, die Neue Heimat, die Bank für Gemeinwirtschaft und die (zunächst noch dezentral aufgestellte und erst in Reaktion auf gestiegenen Wettbewerbsdruck zentralisierte) co op AG. Peter Kramper, »Das Ende der Gemeinwirtschaft. Krisen und Skandale gewerkschaftseigener Unternehmen in den 1980er Jahren«, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 113f. Programmatisch bezogen sich die Gewerkschaften mit ihrer Forderung nach paritätischer Mitbestimmung zwar auf die wirtschaftsdemokratischen Überlegungen der Weimarer Republik; sie verloren allerdings (jenseits der Montanindustrie) diesen »Kampf um die halbe Macht«. Die Wirtschaftsdemokratie wurde in der Bundesrepublik zwar »als Gedankengut gepflegt, als Politikansatz [aber] bekämpft«. Karl Lauschke, Die halbe Macht. Mitbestimmung in der Eisen- und Stahlindustrie 1945 bis 1989, Essen 2007; Jörg Roesler, Die kurze Zeit der Wirtschaftsdemokratie. Zur »Revolution von unten« in Kombinaten und Betrieben der DDR während des ersten Halbjahres 1990, Berlin 2005, S. 8–11. Siehe Kapitel 3.1. Zur »Godesberger Wende« und der »Entideologisierung« der SPD siehe Robert Philipps, Sozialdemokratie, 68er Bewegung und gesellschaftlicher Wandel 1959–1969, Baden-Baden 2012, S. 45–63. Zur realpolitischen Wende der Gewerkschaften nach ihrer Niederlage bei der Verabschiedung des BetrVG 1952 siehe Werner Milert und Rudolf Tschirbs, Die andere Demokratie. Betriebliche Interessenvertretung in Deutschland, 1848 bis 2008, Essen 2012, S. 430–439. Zum bereits mit der Zustimmung zum Marshall-Plan im Juni 1948 sich abzeichnenden Positionswechsel der westdeutschen Gewerkschaften »auf Kosten der wirtschaftsdemokratischen Zielstellung« siehe Ruth Rosenberger, Experten für Humankapital. Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland, München 2008, S. 104, 104–108. Das jahrelang kontrovers verhandelte Mitbestimmungsgesetz von 1976, das sich von den einstigen Gewerkschaftsforderungen nach einer paritätischen Mitbestimmung weit entfernt hatte, war aus Perspektive der Gewerkschaftslinken eine Niederlage. Milert und Tschirbs, Demokratie (s. Anm. 12), S. 462–476.

Einordnung und Ausblick

wurden dagegen nicht unterstützt. Der Fall Süßmuth wurde zu einer die Regel bestätigende Ausnahme dafür, dass SPD und DGB-Gewerkschaften mit solchen konkreten Ansätzen einer Demokratisierung der Wirtschaft von unten nichts anfangen konnten und de facto nichts zu tun haben wollten. Eine Aktualisierung der dezentralen Tradition kollektiven Wirtschaftens erfolgte nach »1968« daher vorrangig im sich herausbildenden linksalternativen Milieu, in dem die Selbstverwaltung einen Aufschwung erlebte.14 Den Betrieben der Alternativökonomie standen die Organisationen der Arbeiterbewegung (zunächst) ablehnend bis feindlich gegenüber.15 Mit zunehmender Arbeitslosigkeit entstand in den 1980er Jahren kurzzeitig ein parteiübergreifendes Interesse an dem neu entstandenen »Sektor selbstverwalteter Betriebe und örtlicher Beschäftigungs- und Ausbildungsinitiativen mit rund 150.000 Beschäftigten in rund 15.000 Projekten«.16 Auch bei den Gewerkschaften wurde eine leichte Öffnung gegenüber Belegschaftsübernahmen zur Abwendung drohender Betriebsschließungen registriert.17 Die öffentlichen Sympathiebekundungen oder Einrichtung von thematischen Arbeitskreisen in Parteien und Gewerkschaften hatten allerdings für die Bedingungen von Belegschafts- bzw. Kollektivunternehmen kaum praktische Folgen.18 Nicht zuletzt die Krisen und Skandale der Gemeinwirtschaft der 1980er Jahre diskreditierten nachhaltig jegliche Idee demokratischen Wirtschaftens im politischen Diskurs.19 Die während der »Betriebswende« 1989/1990 in der DDR von Beschäftigten eingeforderte Demokratisierung der Volkseigenen Betriebe und die in der westdeutschen Alternativökonomie aufkeimende Hoffnung, vom ostdeutschen Genossenschaftssektor könne eine Vitalisierung des kollektiven Wirtschaftens im vereinigten 14 15

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Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 319–350. Siehe Arbeitsgruppe Genossenschaftswesen/Genossenschaftsrecht, »Anders Arbeiten, anders Leben«, in: Vorstand der SPD (Hg.), Selbstbestimmt arbeiten. Materialien zum Genossenschaftswesen und zur Selbstverwaltungswirtschaft, Bonn 1985, S. 24f.; Heinz Bierbaum, »Selbstverwaltung und Gewerkschaften«, in: Notz et al., Selbstverwaltung (s. Anm. 4), S. 63; Irmtraud Schlosser und Bodo Zeuner, »Gewerkschaften, Genossenschaften und Solidarische Ökonomie«, in: Elmar Altvater und Nicola Sekler (Hg.), Solidarische Ökonomie. Reader des Wissenschaftlichen Beirats von Attac, Hamburg 2006, S. 37f. Frank Heider, »Selbstverwaltete Betriebe in Deutschland«, in: Roland Roth und Dieter Rucht (Hg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 516; AG Genossenschaftswesen, Arbeiten (s. Anm. 15), S. 25; Hans-Ulrich Klose und Michael Müller, »›Dann schaffen wir uns unsere Arbeitsplätze selbst‹. Selbstverwaltete Betriebe (Fortführungsgesellschaften)«, in: SPD, Materialien (s. Anm. 15), S. 76. Dahingehende Diskussionen wurden vor allem in der IG Metall geführt. Siehe Rainer Duhm, »Manege oder Parkett? Die Rolle deutscher Gewerkschaften bei Betriebsübernahmen«, in: Notz et al., Selbstverwaltung (s. Anm. 4), S. 73–86; Bierbaum, Selbstverwaltung (s. Anm. 15). Eine Ausnahme stellten die in den 1980er Jahren in Westberlin und Hessen implementierten Förderprogramme für selbstverwaltete Unternehmen bzw. Selbsthilfeinitiativen dar. Zur Kontroverse über die »Staatsknete« innerhalb der »Szene« siehe die Beiträge von Christa Nesemann, Andrea Wahlfeldt und Anita Heiliger in Martina Rački (Hg.), Frauen(t)raum im Männerraum. Selbstverwaltung aus Frauensicht, München 1988, S. 219–238. Kramper, Gemeinwirtschaft (s. Anm. 9), S. 135f.; Wolfgang Beywl, »Selbstverwaltete und produktivgenossenschaftliche Unternehmen in Deutschland. Perspektiven für gewerkschaftliches Handeln?«, in: Notz et al., Selbstverwaltung (s. Anm. 4), S. 53f.

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Staat ausgehen, wurden von DGB-Gewerkschaften und der Bundesregierung nicht unterstützt.20 Im Zuge der von der Treuhand forcierten Privatisierungen erwiesen sich dahingehende Erwartungen als illusorisch. Für selbstverwaltete Unternehmen – seien sie aus der »alten« Arbeiterbewegung oder aus den Neuen Sozialen Bewegungen heraus entstanden – herrschten somit in der Bundesrepublik enorm widrige Entstehungs- und Existenzbedingungen vor. Bis zur Gründung der Partei Die Grünen hatten sie keine Lobby. Es fehlte an einer die kollektive Form des Unternehmensbesitzes mit einer demokratischen Entscheidungsfindung absichernden Rechtsform ebenso wie an Finanzierungs-, Beratungs- und Vernetzungsmöglichkeiten.21 Diese waren von den (einstigen) »Säulen« der Arbeiterbewegung – der sich von der Arbeiter- zur Volkspartei transformierenden SPD, den in korporatistische Strukturen der Sozialpartnerschaft eingebundenen Gewerkschaften und der von den liberal-konservativen Verbänden dominierten Genossenschaften – auch nicht erkämpft, auf- oder ausgebaut worden.22 Deshalb waren in der Bundesrepublik Versuche von Betriebsübernahmen und -fortführung durch Belegschaften so selten und noch seltener erfolgreich – im Gegensatz zu anderen westeuropäischen Industriestaaten wie allen voran Italien, Frankreich oder Spanien, in denen sich seit den krisenhaften 1970er Jahren sogenannte Worker Takeovers häuften.23 In der Bundesrepublik wurden Massen-

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Bernd Gehrke und Renate Hürtgen (Hg.), Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989. Die unbekannte Seite der DDR-Revolution, Berlin 20012 ; Renate Hürtgen, »›Die Erfahrung laß ick mir nicht nehmen!‹ Demokratieversuche der Belegschaften in den DDR-Betrieben zwischen Oktober 1989 und Januar 1990«, in: Bernd Gehrke und Wolfgang Rüddenklau (Hg.), …das war doch nicht unsere Alternative. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende, Münster 1999, S. 200–221; Notz et al., Selbstverwaltung (s. Anm. 4). Das bundesdeutsche Genossenschaftsrecht wirkte als Hürde für Genossenschaftsneugründungen, weshalb diese Rechtsform in der Alternativen Ökonomie kaum verbreitet war. Burghard Flieger, »Kritisches Plädoyer für die genossenschaftliche Rechtsform«, in: Ders. (Hg.), Produktivgenossenschaften oder der Hindernislauf zur Selbstverwaltung, München 1984, S. 262f.; Holm-Detlev Köhler, Ökonomie und Autonomie. Historische und aktuelle Entwicklungen genossenschaftlicher Bewegungen, Frankfurt a.M. 1986, S. 112; Beywl, Unternehmen (s. Anm. 19), S. 42f.; Frank Heider, »Kooperation und Gesellschaftsreform. Selbstverwaltete Betriebe in Hessen«, in: Jan-Otmar Hesse, Tim Schanetzky und Jens Scholten (Hg.), Das Unternehmen als gesellschaftliches Reformprojekt. Strukturen und Entwicklungen von Unternehmen der »moralischen Ökonomie« nach 1945, Essen 2004, S. 41. Zu einer grundlegenden Reform des Genossenschaftsgesetzes von 1889, die die »neue Genossenschaftsbewegung« seit den 1980er Jahren gefordert hatte, kam es erst 2006. Burghard Flieger, »Das novellierte Genossenschaftsgesetz als Chance für die Sozialwirtschaft«, in: Clarita MüllerPlantenberg (Hg.), Solidarische Ökonomie in Europa. Betriebe und regionale Entwicklung, Kassel 2007, S. 265–273; Herbert Klemisch und Moritz Boddenberg, »Zur Lage der Genossenschaften. Tatsächliche Renaissance oder Wunschdenken?«, in: WSI Mitteilungen, August 2012, S. 570–580. Siehe die Länderfallstudien in Rob Paton, Analysis of the Experiences of and Problems Encountered by Worker Take Overs of Companies in Difficulty or Bankrupt. Main Report, Luxembourg 1987; Rob Paton, Reluctant Entrepreneurs. The Extent, Achievements and Significance of Worker Takeovers in Europe, Milton Keynes 1989; Rainer Duhm, »Betriebsübernahmen durch Belegschaften. Ein Blick zu unseren europäischen Nachbarn«, in: Notz et al., Selbstverwaltung (s. Anm. 4), S. 216–236. Für Frankreich siehe Jens Beckmann, Selbstverwaltung zwischen Management und »Communauté«. Arbeitskampf und Unternehmensentwicklung bei LIP in Besançon 1973–1987, Bielefeld 2019.

Einordnung und Ausblick

entlassungen und Betriebsschließungen – in Form von Sozialplänen oder Auffang- und Transfergesellschaften – allein sozialstaatlich abgefedert.24 Die Glashütte Süßmuth stand als erster selbstverwalteter Belegschaftsbetrieb der Bundesrepublik – auch weil andere Belegschaftsübernahmen wie die im nahegelegenen Kristallglaswerk Hirschberg scheiterten – isoliert da. Konkrete Unterstützung bei Finanzierung und Beratung erhielten solche Initiativen in der ersten Hälfte der 1970er Jahren mitunter von einzelnen sozialreformerischen Unternehmern wie Carl Backhaus, Louis Fischer oder Hannsheinz Porst, die beispielsweise im Fall Beku als Bürgen einsprangen.25 Ein breiteres, für die Existenz von Kollektivunternehmen wichtiges solidarisches Umfeld begann sich erst mit den Neuen Sozialen Bewegungen zu entwickeln, deren Infrastrukturen in den 1980er Jahren Belegschaftsinitiativen eine Hilfestellung bieten konnten.26 Auch im Fall Süßmuth hatten Betriebsaktivisten im Kampf um die Betriebsübernahme mit undogmatischen Linken zusammengearbeitet. Einer Entfaltung solcher Verbindungen stand allerdings die Abwehrhaltung der Gewerkschaftsfunktionäre entgegen, von denen die Belegschaft wiederum sehr abhängig war, da sie den Kontakt zu den Gläubigern vermittelten. Die Bedingungen für eine Annäherung von Arbeiter*innen und Neuen Linken waren in der Bundesrepublik sehr widrig.27 Die häufig aus der (akademischen) Mittelschicht stammenden Praktiker*innen der alternativökonomischen Kollektivbetriebe hatten mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie jene in Belegschaftsbetrieben; ihnen standen allerdings günstigere Bedingungen und Ressourcen zur Verfügung, um hiermit einen Umgang zu finden.28 Das Startkapital von Alternativbetrieben kam nicht selten aus der Kasse der Gründungsmitglieder bzw. aus dem Vermögen ihrer Familien- oder Bekanntenkreise. Zugleich war ihr Kapitalbedarf entsprechend der meist kleinen Größe der Alternativbetriebe, die zudem häufig im Dienstleistungssektor aktiv waren, um eine Vielfaches geringer als in jenen sanierungsbedürftigen Industriebetrieben, die von ihren oftmals weit mehr als hundert Personen umfassenden Belegschaften fortgeführt wurden.29 Erstere waren daher meist unabhängig von Banken, Bürgen oder anderen externen Unterstützern, die im Fall Süßmuth 24 25

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Klose und Müller, Selbstverwaltete Betriebe (s. Anm. 16), S. 75; Ebenso Beywl, Unternehmen (s. Anm. 19), S. 41. Hans Ott Eglau, »Die Pioniere von Thüngersheim. Wie die Belegschaft der Konkursfirma Beku den Betrieb in eigener Regie weiterführen will«, in: Die Zeit, 26. Mai 1972, Online: www.zeit.de/1972/21/die-pioniere-von-thuengersheim; Podiumsdiskussion im Anschluss an die Reportage »Die Belegschaft übernimmt den Betrieb«, Pierre Hoffmann für WDR, 6. Juni 1975, in: Archiv WDR. Rainer Duhm, Wenn Belegschaften ihre Betriebe übernehmen. Probleme und Chancen selbstverwalteter Fortführung von Krisenbetrieben, Frankfurt a.M. u.a. 1990, S. 43, 40–44. Siehe Kapitel 3.3. Diese Bedingungen geraten durch eine vorschnelle Separierung zwischen beiden Bewegungen (wie es Peter Birke an der »Bewegungsforschung« moniert) aus dem Blick. Peter Birke, »Der Eigen-Sinn der Arbeitskämpfe. Wilde Streiks und Gewerkschaften in der Bundesrepublik vor und nach 1969«, in: Bernd Gehrke und Gerd-Rainer Horn (Hg.), 1968 und die Arbeiter. Studien zum »proletarischen Mai« in Europa, Hamburg 2007, S. 75. Folgendes aus Reichardt, Authentizität (s. Anm. 14), S. 329; Heider, Kooperation (s. Anm. 21), S. 41–43. Laut Sven Reichardt habe das Gründungskapital eines Alternativbetriebs im Durchschnitt 8.350 DM betragen. Für die Belegschaftsfortführung der Glashütten Süßmuth und Hirschberg war da-

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hingegen massiv in die interne Entscheidungsfindung intervenierten und in anderen Betrieben wie im Fall Hirschberg bereits die Belegschaftsübernahme vereitelten. Die Handlungsspielräume waren bei den Alternativen folglich um einiges größer und angesichts der in der Regel ähnlichen politischen Überzeugungen der beteiligten Personen die Voraussetzungen günstiger, interne Meinungsverschiedenheiten und Konflikte austragen und bestenfalls beilegen sowie informellen Hierarchien entgegenwirken oder vorbeugen zu können. Beide Traditionsstränge – einer Demokratisierung der Wirtschaft von oben und von unten – standen in engem historischen Zusammenhang zueinander. Der Zentralismus der Organisationen der deutschen Arbeiterbewegung (und ihrer Reformkonzepte) prägte sich in Reaktion auf die Dynamiken an der (Mitglieder-)Basis aus.30 Dem zugrunde lagen sich verfestigende politische und ökonomische Vorbehalte gegenüber basisdemokratischen Initiativen und Organisationsformen. Die reformorientierten Repräsentanten befürchteten einen Kontrollverlust über die Arbeitenden und eine aus der Spaltung der Arbeiterschaft resultierende Schwächung ihrer Interessenvertretung auf politischer bzw. überbetrieblicher Ebene (artikuliert als Revolutionsfurcht und Furcht vor Belegschaftsegoismus bzw. Betriebssyndikalismus).31 Ökonomische Bedenken gegenüber basisdemokratischen Unternehmensformen beruhten auf der Annahme, dass diese – wie Franz Oppenheimer es mit seinem Transformationsgesetz prognostizierte – im Kapitalismus zwangsläufig zum Scheitern verurteilt seien und damit keinen Weg zur Überwindung oder Reform desselben aufzeigten. Die geringe bzw. sinkende Reputation des produktivgenossenschaftlichen, meist kleinbetrieblichen Sektors verweist aber auch auf Leitbilder der industriellen Moderne und hiervon abgeleitete Vorstellungen von ökonomischer Effizienz, Rationalität und Fortschritt, wie sie auch in

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gegen ein Startkapital von einer Million DM das absolute Minimum. Reichardt, Authentizität (s. Anm. 14), S. 341. Siehe Überblick von Ralf Hoffrogge, »Vom Sozialismus zur Wirtschaftsdemokratie? Ein kurzer Abriss über Ideen ökonomischer Demokratie in der deutschen Arbeiterbewegung«, in: Marcel Bois und Bernd Hüttner (Hg.), Geschichte einer pluralen Linken. Bewegungen, Parteien, Ideen, Berlin 2011, S. 93–101. Ebd., S. 97f.; Sperling, Arbeiterbewegung (s. Anm. 4), S. 38. Die Rätebewegung nach dem Ersten Weltkrieg wurde nicht nur vom Unternehmerlager und politisch konservativen bzw. reaktionären Kräften, sondern – aus geteiltem Antibolschewismus heraus – auch von der SPD und den Gewerkschaften bekämpft. Robert Gerwarth, »Die Geburt des Antibolschewismus«, in: Norbert Frei und Dominik Rigoll (Hg.), Der Antikommunismus in seiner Epoche. Weltanschauung und Politik in Deutschland, Europa und den USA, Göttingen 2017, S. 49–64; Peter von Oertzen, Betriebsräte in der Novemberrevolution. Eine politikwissenschaftliche Untersuchung über Ideengehalt und Struktur der betrieblichen und wirtschaftlichen Arbeiterräte in der deutschen Revolution 1918/19, Berlin u.a. 19762 ; Axel Weipert, Die Zweite Revolution. Rätebewegung in Berlin 1919/1920, Berlin 2015. Ansätze einer Demokratisierung von unten wurden auch in der kommunistischen Bewegung zurückgedrängt – wie die in der Oktoberrevolution 1917 entstandenen Fabrikkomitees (von den Belegschaften gewählte Arbeiterräte) durch die Bolschewiki. Anita Friedetzky und Rainer Thomann, Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland, Berlin 2017; David Mandel, »Die Bewegung der Fabrikkomitees in der Russischen Revolution«, in: Dario Azzellini und Immanuel Ness (Hg.), Die endlich entdeckte politische Form. Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute, Köln 2012, S. 129–164.

Einordnung und Ausblick

den Organisationen der deutschen Arbeiterbewegung vorherrschten.32 Der »moderne Fabrikbetrieb« bzw. Großbetriebe besaßen für die Gewerkschaften nicht zuletzt aufgrund der günstigen Voraussetzungen für Mitgliederrekrutierung und Arbeitskämpfe sowie für eine zentralistische Form der Stellvertreterpolitik eine hohe Attraktivität. Spätestens seit der Jahrhundertwende konzentrierten sich (die Mehrheiten in) SPD und Gewerkschaften vorrangig auf die Eroberung der politischen Macht im Staat und nach 1945 auf die Hebung des Lebensstandards der Arbeitenden, weshalb sie nicht mehr die Überwindung als vielmehr die »Zähmung des Kapitalismus« durch eine »keynesianische und sozialreformerische Politik« anstrebten und eine »Modernisierung« der Industrie durch in der Tradition von Frederick W. Taylor oder Henry Ford stehenden Rationalisierungsstrategien befürworteten.33 Für die (west)deutsche Geschichte des kollektiven Wirtschaftens lassen sich aus der Fallstudie zur Glashütte Süßmuth zweierlei Erkenntnisse ableiten: Zum einen wurden die in den Organisationen der bundesdeutschen Arbeiterbewegung tradierten politischen und ökonomischen Vorbehalte gegenüber einer Demokratisierung von unten in den Dynamiken der Auseinandersetzungen um und nach »1968« eher konturiert als überwunden. Auf Seiten der (sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen) Repräsentanten wurde dabei nicht reflektiert, dass die eigene vorbehaltsgeleitete Politik und Haltung eben zu jenen widrigen Rahmenbedingungen für eine basisdemokratische Erneuerung der Wirtschaft (und Gesellschaft) beitrugen und diese einschränkten, weshalb das Scheitern dahingehender Versuche letztlich zur self-fulfilling prophecy wurde.34 Das größte Problem der Selbstverwaltung im Fall Süßmuth lag in den großen Defiziten der demokratischen Praxis, die hierdurch in eine letztlich unüberwindbare Krise geriet. Zum anderen verweist die mangelnde Bereitschaft der Stellvertreter, ihre Rolle im historischen Ereignisverlauf kritisch zu analysieren und politisch aufzuarbeiten,35 auf die Komplexität der den Antagonismus von Kapital und Arbeit intersektional überlagernden Machtverhältnisse, die in selbstverwalteten bzw. produktivgenossenschaftlichen Unternehmen besonders deutlich zutage traten. Die »Auseinandersetzung um eine Demokratisierung der Wirtschaft [war] keine Frage des besseren Arguments […], sondern ein Machtkampf zwischen den Eigentumsansprüchen der Besitzenden und dem Streben der Besitzlosen nach demokratischer Teilhabe und sozialer Sicher-

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Folgendes aus Köhler, Ökonomie (s. Anm. 21), S. 45; Sperling, Arbeiterbewegung (s. Anm. 4), S. 35; Heider, Kooperation (s. Anm. 21), S. 30; Eisenberg, Frühe Arbeiterbewegung (s. Anm. 5), S. 79–82. Philipps, Sozialdemokratie (s. Anm. 12), S. 55; Wolfgang Schroeder, »Die Politik der Zähmung des Kapitalismus im Wandel. Mitbestimmung und Beteiligung«, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 3 (2016), S. 73–86; Heider, Kooperation (s. Anm. 21), S. 30; Fricke et al., Arbeitnehmerbeteiligung (s. Anm. 7), S. 61f.; Rüdiger Hachtmann, »Gewerkschaften und Rationalisierung. Die 1970er Jahre – ein Wendepunkt?«, in: Knud Andresen, Ursula Bitzegeio und Jürgen Mittag (Hg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitswelten, Bonn 2011, S. 181–209. Auf diesem Zirkelschluss verweist auch Duhm, Krisenbetriebe (s. Anm. 26), S. 31. Siehe Bierbaum, Selbstverwaltung (s. Anm. 15), S. 67; Burghard Flieger, »Betriebe in Belegschaftshand. Ideengeschichte und Erklärungen der fehlenden Umsetzung produktivgenossenschaftlicher Unternehmen in Deutschland«, in: Marcel Bois und Bernd Hüttner (Hg.), Geschichte einer pluralen Linken. Bewegungen, Parteien, Ideen, Berlin 2011, S. 91.

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heit.«36 Sie implizierte zugleich aber auch Machtkämpfe innerhalb der Strukturen der Repräsentation zwischen den Repräsentanten und den Repräsentierten sowie unter den Arbeitenden und Angestellten entlang der verschiedenen Kategorien sozialer Ungleichheit. Mit diesen (nicht nur) den selbstverwalteten Betrieb prägenden und über ihn hinausreichenden Machtverhältnissen hätten alle Beteiligten einen offensiven Umgang finden müssen, der zugleich – einer radikaldemokratischen Lesart folgend – eine »unendliche Aufgabe« geblieben wäre und permanente Reflexionen erfordert hätte,37 um der Transformation in ein konventionelles Unternehmen vorzubeugen. Darin bestanden die entscheidenden Herausforderungen und zugleich Chancen, alte Hierarchien und Ungleichheiten abzubauen, sich darüber hinweg zu verständigen und anzunähern. Die Bedingungen dafür waren im Fall Süßmuth letztlich nicht vorhanden.

Nach dem basisdemokratischen Aufbruch. Erweiterte Perspektiven auf das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts Das stille Ende der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth stand im Kontrast zu dem politischen Wirbel, den die Belegschaftsübernahme einst ausgelöst hatte. Im Arbeitgeberlager wurde die Polemik von der »sozialistischen Machtergreifung« bald schon abgelöst vom Verweis auf die »einsichtige« Süßmuth-Belegschaft, die sich – angesichts ihrer Verzichte auf tarifliche Ansprüche – den »wirtschaftlichen Notwendigkeiten und Sachzwängen besser angepasst [habe] als [die] Gewerkschaftsfunktionäre«.38 Im sozialdemokratischen Lager folgte der Hoffnung auf ein »in die Zukunft weisendes gesellschaftspolitisches Modell« die Ernüchterung, dass die allein aus Gründen des Arbeitsplatzerhalts geretteten Belegschaftsbetriebe »keinen neuen Weg zur Überwindung des Kapitalismus« wiesen.39 Im linksalternativen Milieu wurde der Fall Süßmuth (wenn überhaupt) nur noch als ein »recht zweifelhaftes Beispiel« einer »von oben verordneten Form von Selbstverwaltung« erinnert, aus der die Gewerkschaft das gemacht habe, »was ›gestandene Gewerkschafter‹ eben unter Selbstverwaltung verstehen, eine etwas andere Form der Bürokratie nämlich.«40 Dass vom demokratischen Aufbegehren der Beschäftigten höchstens noch die ökonomische Effizienz der Übernahme von Eigenverantwortung und der Aspekt der Selbstausbeutung übrig bzw. erwähnenswert blieb, 36 37 38

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Hoffrogge, Sozialismus (s. Anm. 30), S. 94. Reinhard Heil und Andreas Hetzel, Die unendliche Aufgabe. Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie, Bielefeld 2006. »Glashartes hessisches Sozialisierungsmodell. Wie man einen mittelständischen Unternehmer erpresst«, in: Der Selbstständige, 15. April 1970, abgedruckt in: Fabian, Arbeiter übernehmen ihren Betrieb, S. 107–109; Fritz Mörschbach, »Ein fast normaler Betrieb. Seit fünf Jahren produziert die Glashütte Süßmuth in Selbstverwaltung«, in: FR, 14. Juni 1975, in: AGI. Franz Fabian zitiert in Typoskript »Eigentum verpflichtet«, Ulrich Happel für Panorama (ARD), 6. April 1970, in: Privatarchiv Siebert, S. 4; »›Der Betrieb gehört uns‹. Arbeiter retten Firmen«, in: Wirtschaftswoche, 4. Juli 1975, in: AfsB, Bestand IG Chemie S. 12f. Arbeiterselbsthilfe Krebsmühle, Acht Jahre Betriebe in Selbstverwaltung, Oberursel 1983, S. 42; Ähnlich Sozialistisches Büro (Hg.), Sommerschule ›80. Selbstbestimmt lernen, Offenbach 1980, S. 5; Gruppe Arbeiterpolitik, »Überproduktionskrise«, in: Arbeiterpolitik, 1. Mai 1975, Online: https://archiv.a rbeiterpolitik.de/Zeitungen/PDF/1975/arpo-3-1975.pdf, S. 7.

Einordnung und Ausblick

scheint auf den ersten Blick die (häufig implizit bleibende) Annahme zu bestätigen, selbstverwaltete Betriebe seien eine Art Vorhut oder gar Keimzellen eines neoliberal dynamisierten, reflexiv modernisierten Kapitalismus gewesen, der sich seit den krisenhaften 1970er Jahren weltweit durchzusetzen begann. Der gesellschaftliche Wandel im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wird in der zeithistorischen Forschung vorrangig aus dem Blickwinkel des Booms und aus einer Perspektive von oben betrachtet. Demgegenüber hat Lutz Raphael jüngst zu einem Perspektivenwechsel angeregt: Der wirtschaftliche Strukturwandel sei als eine Geschichte von unten zu beschreiben, das heißt aus einer »Erzählperspektive, die die Lebenslagen und Erfahrungswelten von Industriearbeiterinnen und -arbeitern in den Mittelpunkt stellt«.41 Die vorliegende Untersuchung plädiert dafür, einen Schritt weiter zu gehen und beide Perspektiven in ihrer sozialen Bedingtheit miteinander zu verbinden. Wird also der Fall Süßmuth als eine Spur zum basisdemokratischen Aufbruch in der Arbeitswelt um »1968« gelesen, auf den der Blick in der zeithistorischen Debatte – nicht zuletzt durch den Fokus auf den Strukturwandel und den Niedergang der arbeitskräfteintensiven »Traditionsindustrien« – häufig verstellt ist, so ließe sich über die Fallstudie hinaus folgende Perspektivenerweiterung vornehmen: Der Wandel nach dem Boom kann demnach – aus der Perspektive von unten – zugleich als ein Wandel nach dem basisdemokratischen Aufbruch historisiert werden. In den Blick gerät hierdurch der Betrieb, der um »1968« in neuer Intensität zu einem politischen Ort wurde und der sich auf besondere Weise dazu eignet, die Komplexität, die sozialen Dynamiken und zugleich die historische Kontingenz sowie Ambivalenz der Wandlungsprozesse zu erfassen und zu analysieren. Im Folgenden wird thesenhaft aufgefächert, welches Erkenntnispotenzial diese Perspektivenerweiterung in sich birgt. Der Betrieb war um »1968« nicht erstmals Ort politischer Auseinandersetzungen geworden.42 Als das historisch Neue wird oft ein Wertewandel bzw. die Akzentverschiebung von monetären hin zu qualitativen Forderungen angeführt.43 Die »eindrucksvollen Streikwellen« jener Zeit seien Ausdruck einer »neue[n] Anspruchshaltung« der Arbeitenden gewesen, die das »Ende der Bescheidenheit der Nachkriegsgeneration« signalisiert habe; nun hätten die »nach wie vor unterprivilegierten Arbeiterschichten einen größeren Anteil an der gesellschaftlichen Wertschöpfung, qualitative Verbesserungen ihrer Arbeitssituation sowie ein Mehr an Partizipation und betrieblicher Demokratie« gefordert.44 Mitunter wird dieser Wandel auf Einflüsse von oben (sprich: das sozialdemokra-

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Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019, S. 11f. Beachte Kritik an einem in dieser Hinsicht inflationären Gebrauch des Politikbegriffs in der Arbeitergeschichte: Thomas Welskopp, »Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungsansätze in der Industrie- und Arbeitergeschichte«, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 118–142. Milert und Tschirbs, Demokratie (s. Anm. 12), S. 483f.; Karl Lauschke, »Der Wandel in der betrieblichen und gewerkschaftlichen Interessenvertretung nach den westdeutschen Septemberstreiks«, in: Bernd Gehrke und Gerd-Rainer Horn (Hg.), 1968 und die Arbeiter. Studien zum »proletarischen Mai« in Europa, Hamburg 2007, S. 76–80. Ingrid Artus, »Mitbestimmung versus Rapport de force. Geschichte und Gegenwart betrieblicher Interessenvertretung im deutsch-französischen Vergleich«, in: Andresen et al., Nach dem Strukturbruch? (s. Anm. 33), S. 225.

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tische Regierungsprogramm)45 oder andere Einflüsse von außen (sprich: die Studierenden- und Jugendbewegung) zurückgeführt.46 Der obige Überblick über die Geschichte des kollektiven Wirtschaftens zeigte, dass Forderungen wie die nach Demokratie in der Wirtschaft zu den traditionellen Forderungen der Arbeiterbewegung gehörten. Als die gewichtige Veränderung um »1968« hebt Peter Birke den Aspekt der »Veröffentlichung« hervor, demnach die Arbeitenden lediglich »ihr Visier« öffneten, die »bereits zuvor vorhandenen sozialen Ansprüche und Forderungen […] auf den Tisch [legten] und öffentlich [verhandelten].« Das historische Novum war also, dass immer mehr Beschäftigte bereit waren, sich betriebs- oder gewerkschaftspolitisch zu engagieren, und hierfür teilweise auch Formen außerhalb der etablierten Strukturen der Interessenvertretung wählten.47 Es waren nunmehr die Repräsentierten selbst, die das Wort ergriffen und sich mit ihren Vorstellungen in die Auseinandersetzungen einbrachten. Die vermeintlich »neue Unübersichtlichkeit« in der Arbeitswelt – ein zeithistorischer Topos, um den Wandel der Arbeit zu thematisieren – war folglich auch einer erhöhten Sichtbarkeit von zuvor marginalisierten Perspektiven geschuldet.48 Das heißt im Umkehrschluss: »1968« in der Arbeitswelt war weniger Signum eines Wertewandels als vielmehr Indiz für einen Wandel der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Der basisdemokratische Aufbruch wurde weder von den parteipolitischen oder gewerkschaftlichen Repräsentanten noch von den Studierenden in die Betriebe getragen, sondern fand hier einen unmittelbar praktischen Ausdruck. Im Zuge der Etablierung der Bundesrepublik als demokratischer und sozialer Rechtsstaat mit einem von »Vollbeschäftigung« geprägten Arbeitsmarkt hatten sich die Handlungsbedingungen für die Beschäftigten verbessert: Sie mussten die Fremdbestimmung und Unterwerfung unter autoritäre Vorgesetzte in den Betrieben nicht mehr derart akzeptieren, wie sie es unter den ökonomischen und politischen Verhältnissen vor »1968« aus sehr viel existenzielleren Gründen noch mussten. In Arbeitskämpfen wie im Arbeitsalltag kündigten die Beschäftigten den vormaligen Gehorsam auf – vor allem Angehörige der nachrückenden Generation waren nicht mehr bereit, lediglich »Befehlsempfänger« zu sein.49 Auch Angehörige der kaum gewerkschaftlich vertretenen Gruppen – wie migrantische und weibliche Beschäftigte – forderten in eigenständigen Aktions- und Protestformen eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen ein.50 45 46

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Mit Verweis auf Hermann Kotthoff (1994): Lauschke, Wandel (s. Anm. 43), S. 79f. Siehe Kritik von Peter Birke, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt a.M. u.a. 2007, S. 328, 154; Ebenso Wolfgang Hindrichs, Uwe Jürgenhake, Christian Kleinschmidt u.a., Der lange Abschied vom Malocher. Sozialer Umbruch in der Stahlindustrie und die Rolle der Betriebsräte von 1960 bis in die neunziger Jahre, Essen 2000, S. 80f. Siehe Einleitung. Siehe kritische Diskussion der Diagnose »Unübersichtlichkeit« von Nicole Mayer-Ahuja, »Jenseits der ›neuen Unübersichtlichkeit‹. Annäherung an Konturen der gegenwärtigen Arbeitswelt«, in: SOFI Arbeitspapier 6 (2011). Zitat eines Betriebsrats in Hindrichs et al., Malocher (s. Anm. 46), S. 81f.; Siehe auch David Templin, »Lehrzeit – keine Leerzeit!« Die Lehrlingsbewegung in Hamburg 1968–1972, München u.a. 2011. Zu den vorrangig von migrantischen Arbeiter*innen angeführten wilden Streiks bspw. bei Hella in Lippstadt (1969) oder bei Pierburg in Neuss (1973) siehe Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 46); Manuela Bojadžijev, Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster 2008; Dieter

Einordnung und Ausblick

Die Unterscheidung in materielle (unpolitische) und immaterielle (politische) Forderungen bzw. die These vom Wertewandel kann den Kern dieser betrieblichen Auseinandersetzungen und die Sprengkraft, die von deren Politisierung ausging, nur unzureichend erfassen. Klar, die Arbeitenden erhoben in der Regel keine (abstrakten politischen) Forderungen, die aus ihrer Perspektive dem Unternehmen und damit dem Erhalt der eigenen Arbeitsplätze abträglich waren, was auch mit der Illegalisierung von außerbetrieblich-politisch motivierten Streiks seit Anfang der 1950er Jahre zusammen hing.51 Auch stand ihr Demokratie- und Gerechtigkeitsempfinden nicht im Widerspruch zu ihren Vorstellungen von ökonomischer Effizienz.52 In ihren Forderungen nach linearen Lohnerhöhungen oder nach Abschaffung der frauendiskriminierenden »Leichtlohngruppen«, in ihren Protesten gegen altersdiskriminierende Entlassungen von Kolleg*innen oder der Betonung der Gleichwertigkeit aller Beschäftigter unabhängig von ihrer formalen Qualifikation kamen Ansätze einer die sozialen Unterschiede in der Belegschaft transzendierenden Solidarität und Kollektivität zum Ausdruck.53 Diese Verständigungs- und Politisierungsprozesse schwächten die Wirksamkeit eines an die »Betriebsgemeinschaft« appellierenden Führungsstils charismatischer Unternehmerpersönlichkeiten wie Richard Süßmuth. Ebenso wenig konnten Gewerkschaften oder Betriebsräte noch für sich beanspruchen, der »einheitliche Repräsentant« der Arbeiterschaft bzw. »der Belegschaft als Ganzes« zu sein.54 Der basisdemokratische Aufbruch um »1968« stellte den Status quo der betrieblichen wie überbetrieblichen Arbeitsbeziehungen und Repräsentationsverhältnisse infrage, drohte das korporatistische Arrangement zwischen Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und Staat zu sprengen und forderte damit Unternehmensleitungen wie Stellvertreter der Arbeiterschaft gleichermaßen heraus. Für beide Seiten der Sozialpartnerschaft waren die Dynamiken der Auseinandersetzungen in den Betrieben bzw. an der (Mitglieder-)Basis um »1968« zu einem ordnungspolitischen Problem geworden – es ging hier nicht nur um Verteilungskämpfe, sondern vor allem um Machtfragen. Diese vom basisdemokratischen Aufbruch ausgehenden Dynamiken sind als relevante Faktoren des nach dem Boom konstatierten Wandels bundesdeutscher Unternehmen zu historisieren. Viele der in der Unternehmensgeschichte für das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts beobachteten Entwicklungstrends können auf Strategien zurückgeführt werden, mit denen das Führungspersonal sowohl auf Marktveränderung als auch auf zunehmend selbstbewusste Belegschaften reagierten. Beispiele hierfür waren: der

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Braeg (Hg.), »Wilder Streik. Das ist Revolution.« Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973, Berlin 2012. Hierzu kam es nur ansatzweise in den Protesten gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze 1968 oder anlässlich des Misstrauensvotums gegen Willy Brandt 1972. Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 46), S. 341f., 286. Siehe bspw. die Forderung der Vertrauensleute und Betriebsräte in Unternehmen der Stahlindustrie nach Einführung von Gruppenarbeit, die sowohl ihrer politischen Überzeugung als auch ihrer Arbeitserfahrungen entsprach. Hindrichs et al., Malocher (s. Anm. 46), S. 46–49, 56f. Siehe Fallbeispiele von Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 46), S. 176, 297f., 179; Duhm, Krisenbetriebe (s. Anm. 26), S. 41–43 und in Kapitel 9.4. Hermann Kotthoff (1995) zitiert in Milert und Tschirbs, Demokratie (s. Anm. 12), S. 29.

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Wechsel von einem patriarchalisch-autokratischen zu einem kooperativ-partnerschaftlichen Führungsstil, die Abflachung von Hierarchien und Einführung von partizipativen Organisationsstrukturen, Methoden intrinsischer Motivierung durch das Herausstellen gemeinsamer Werten einer Unternehmenskultur, einer Corporate Identity oder von (qualitativen wie quantitativen) Unternehmenszielen, die Implementierung von Wettbewerbsverfahren als strukturierendes Prinzip der Arbeitsorganisation, die Bemühungen um »Transparenz« durch Ausbau des unternehmensinternen Kommunikationsund Informationswesens oder die Anwendung von Strategien der Selbstführung. Dieser neuen Praktiken zeugten nicht von einer demokratischen oder »antiautoritären Grundüberzeugung« in den Chefetagen, sondern von der Überforderung bislang »strikt zentralisierte[r] Entscheidungsstrukturen« in Zeiten sich verschärfender Wettbewerbsbedingungen55 und zugleich von der nachlassenden Wirksamkeit externer Anreize und Mittel äußeren Zwangs zur Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin und Erhöhung der Leistungsbereitschaft in den Belegschaften.56 Angesichts der Politisierung der Betriebe um »1968«, die die Machtverteilung und Antagonismen in Unternehmen wie Gesellschaft offenlegte bzw. konturierte, suchten Führungskräfte nach neuen Methoden sozialer Rationalisierung, um die für möglichst »reibungslose« Abläufe notwendige Kooperation in der Belegschaft aufrechtzuerhalten bzw. zu festigen.57 Den Unternehmensleitungen ging es dabei vor allem um die Wahrung einer zentralen Kontrolle und die Absicherung ihrer Machtpositionen in den Betrieben (wie auch in der Gesellschaft).58 Vor diesem Hintergrund erscheinen auch die seit den 1960er Jahren schnell wechselnden Moden der Unternehmensorganisation, der Ausbau des Controllings, die zunehmende Bedeutung wissenschaftlichen Wissens gegenüber Erfahrungswissen und das verstärkte Hinzuziehen von externen Experten und Unternehmensberatern in einem neuen Licht. Anhaltende Unternehmensreformen erschwerten der Belegschaftsvertretung einen Überblick und eine Kontrolle. Die »Verwissenschaftlichung« der Betriebs- und Unternehmensführung suggerierte eine »Objektivität« und eine von subjektiven bzw. gruppenspezifischen Interessen vermeintlich losgelöste Neutralität und 55

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Werner Plumpe, »1968 und die deutschen Unternehmer. Zur Markierung eines Forschungsfeldes«, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 1 (2004), S. 54f., 62; Ebenso Rosenberger, Experten (s. Anm. 12), S. 417. Dies demonstrierten auch die zeitgenössischen Diagnosen vom »Verfall der Leistungsbereitschaft« oder dem Niedergang des »bürgerlichen Arbeitsethos«. Siehe dazu Jörg Neuheiser, »Der ›Wertewandel‹ zwischen Diskurs und Praxis. Die Untersuchung von Wertvorstellungen zur Arbeit mit Hilfe von betrieblichen Fallstudien«, in: Bernhard Dietz, Christopher Neumaier und Andreas Rödder (Hg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014, S. 144f. Zur Vorstellung eines »reibungslosen Flusses« im betrieblichen und gesellschaftlichen Ordnungsdenken in Großbritannien und der Bundesrepublik siehe Timo Luks, »Kanalisierte Dynamik, angeordnete Körper. Bewegungsmetaphern, Gesellschaftsordnung und der Industriebetrieb (1920–1960)«, in: Lars Bluma und Karsten Uhl (Hg.), Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper?, Berlin 2012, S. 251–282. Aus dieser Perspektive ist der zentralisierende Effekt von Methoden organisatorischer Dezentralisierung nicht so paradox, wie es zunächst scheint. Stefan Kühl, »Zentralisierung durch Dezentralisierung. Paradoxe Effekte bei Führungsgruppen«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 3 (2001), S. 467–496.

Einordnung und Ausblick

Versachlichung, um Lohn- oder sonstigen Arbeitskonflikten vorzubeugen bzw. diese zu befrieden. In als unsicher wahrgenommenen Zeiten des Wandels bzw. der Krise nach dem Boom konnte das Führungspersonal hierdurch Handlungs- und Reformfähigkeit unter Beweis stellen, was nicht nur bei den Anteilseigner*innen, Geschäftspartner*innen oder Beamten der (Kontroll- oder Förder-)Behörden, sondern eben auch in den Belegschaften das Vertrauen in ihre unternehmerischen Kompetenzen stärken sollte. Angesichts der »Identitäts- und Legitimationskrise«, in die viele Unternehmer infolge der »tief greifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturbrüche[n] seit Mitte der 1960er Jahre« geraten seien,59 gewannen die Fähigkeiten, Zuversicht vermitteln, »mitreißen« und allen voran die mit den Reformen entstandenen Konfliktpotenziale »managen« zu können, an Bedeutung. Diese neuen Anforderungen hatten wiederum eine Aufwertung des Managements zur Folge. Es wäre zu prüfen, inwiefern die Ergebnisse aus der Fallstudie zur Glashütte Süßmuth auf andere Unternehmen und Branchen übertragbar sind. Die Geschäftsführung nutzte hier am Ende bzw. nach der Selbstverwaltung zur Rechtfertigung eigenmächtiger Entscheidungen jene Informationen, die die Arbeitenden zuvor (betriebs-)politisch artikuliert hatten. Ihre Reformen gingen auf frühere Vorschläge der Belegschaftsgremien zurück und wiesen frappierende Ähnlichkeiten zu den in (späteren) Managementlehren propagierten Methoden auf. Die hiervon abgeleitete Vermutung lautet: In ihren neuen Strategien knüpften Unternehmensleitungen selektiv an die Bedürfnisse, Forderungen, Kritikpunkte, Wissensbestände und Wertvorstellungen der Beschäftigten an, die in den betrieblichen Auseinandersetzungen jener Zeit öffentlich geworden waren. Aufgegriffen wurden Aspekte der (von den Gerechtigkeitsvorstellungen abgetrennten) Effizienzvorstellungen der Arbeitenden oder der (an sich ja nicht neue) Tatbestand, dass sie mit der Arbeit einen über materielle Interessen am Lohn bzw. an der Existenzsicherung hinausgehenden Sinn verbanden. Der Wandel in den Unternehmen war also – so die weiter zu überprüfende These – auch ein Ergebnis von Versuchen des Leitungspersonals, sich die im basisdemokratischen Aufbruch aufgezeigten Entwicklungspotenziale als Herrschaftswissen anzueignen, ohne indes an den Entscheidungs- und Kontrollbefugnissen in den Unternehmen etwas Grundsätzliches zu verändern. Die Genese dieser neuen Herrschaftstechniken ist nicht funktionalistisch zu interpretieren; sie vollzog sich nicht zwingend intentional als vielmehr relational. Das heißt diese neuen Praktiken gingen nicht immer auf bewusste Entscheidungen zurück, die in den Unternehmensleitungen getroffen oder versäumt wurden. Die Führungskräfte besaßen zwar die Macht, im Betrieb ihre Entscheidungen durchzusetzen. Je nach Produktionsformat unterschiedlich stark eingeschränkt waren allerdings ihre Möglichkeiten, die Beschäftigten zu kontrollieren und zu steuern. Ihre Beschlüsse konnten daher auch konträr zu ihren Intentionen verlaufende Konsequenzen zeitigen. Die mit einem selbstbewussteren Auftreten der Beschäftigten einhergehenden Konflikte beförderten in der Leitung der Glashütte Süßmuth den obigen Trends entgegengesetzte Entwicklungen: Der einst »soziale« Unternehmer Richard Süßmuth trat der Belegschaft im Laufe der 59

Ingo Köhler, »Havarie der ›Schönwetterkapitäne‹? Die Wirtschaftswunder-Unternehmer in den 1970er Jahren«, in: Ders. und Roman Rossfeld (Hg.), Pleitiers und Bankrotteure. Geschichte des ökonomischen Scheiterns vom 18. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a. 2012, S. 256f.

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1960er Jahre zunehmend autoritär gegenüber, und die Tendenz zum Autoritarismus war auch bei seinen Nachfolgern – entgegen ihres Selbstverständnisses und ihrer Rhetorik – früher oder später zu beobachten. Der Fall Süßmuth hat aufgezeigt: Die in Managementtheorien als strategisches Wissen über die ökonomische Rationalität intrinsischer Leistungsmotivation ausgewiesenen neuen Herrschaftstechniken resultierten vor allem aus den Dynamiken der Konflikte im Betrieb. Das Aufgreifen der Werte oder der Kritik der Arbeitenden zur Rechtfertigung bei der Abwehr ihrer Forderungen und der Beschneidung ihrer Rechte blieb ein den Entscheidungsträgern im Unternehmen weitgehend unbewusster Prozess bzw. ihren Bemühungen um den Erhalt der eigenen Machtposition und einer zentralen Kontrolle implizit. Die neuen Herrschaftstechniken hatten sich in Unternehmen der arbeitskräfteintensiven »Traditionsindustrien«, insbesondere in solchen mit custom und batch production, am wenigsten bewährt. Hervorzuheben ist dabei zunächst, dass einige der vermeintlich neuen Unternehmensstrategien – wie für die Mundglasbranche herausgearbeitet, aber auch für die Werftindustrie, den Maschinenbau oder die Eisen- und Stahlindustrie bekannt – gar keine Neuerungen darstellten.60 Das betraf vor allem dezentrale Strukturelemente in der Betriebs- und Unternehmensorganisation oder den »sozialen« Führungsstil, die weniger (human-)wissenschaftlichen Erkenntnissen, als vielmehr den Anforderungen in den Betrieben Rechnung trugen, in denen das Wissen der Arbeitenden und kooperative Arbeitsbeziehungen zu den wichtigsten Produktionsfaktoren gehörten. Auf den ersten Blick paradox erscheint, dass sich Firmen dieser Branchen hiervon seit den 1960er Jahren zu entfernen und eine zu den aufgezeigten Trends gegenläufige Richtung einzuschlagen begannen. Zu einem Zeitpunkt, als Unternehmen aus »Zukunftsindustrien« sich (zumindest in der Theorie) von tayloristischen und fordistischen Rationalisierungsstrategien verabschiedeten,61 gewannen in der Mundglasbranche – wie auch in anderen »Traditionsindustrien« – die Zentralisierung der Betriebs- und Unternehmensführung oder die Umstellung auf eine maschinisierte (Massen-)Produktion standardisierter Produkte an Bedeutung. In der betrieblichen Praxis hatten sich diese Strategien oftmals nicht bewährt und wirkten kontraproduk-

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Zu den anderen Branchen siehe Thomas Welskopp, »Soziale Kontinuität im institutionellen Wandel. Arbeits- und industrielle Beziehungen in der deutschen und der amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von der Jahrhundertwende bis zu den 1960er Jahren«, in: Matthias Frese und Michael Prinz (Hg.), Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996, S. 222–224, 232; Welskopp, Betrieb (s. Anm. 42), S. 133. Zur generellen Kritik an undifferenzierten bzw. ahistorischen Diagnosen von Neuheiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe Karsten Uhl, »Der Faktor Mensch und das Management. Führungsstile und Machtbeziehungen im industriellen Betrieb des 20. Jahrhunderts«, in: Neue Politische Literatur 55 (2010), S. 237–246. Siehe Rüdiger Hachtmann und Adelheid von Saldern, »›Gesellschaft am Fließband‹. Fordistische Produktion und Herrschaftspraxis in Deutschland«, in: Zeithistorische Forschungen 2 (2009), S. 203–207; Uhl, Faktor Mensch (s. Anm. 60), S. 246–248; Matthias Müller, »Taylorismus. Abschied oder Wiederkehr?«, in: Magazin Mitbestimmung, Juli 2000; Horst Kern und Michael Schumann, Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion, Bestandsaufnahme, Trendbestimmung, München 1984.

Einordnung und Ausblick

tiv.62 Speiste sich die »einzigartige Überlebensfähigkeit« der »sozialen Systeme der craft production« in manchen Bereichen »bis weit ins 20. Jahrhundert hinein« aus den Möglichkeiten, »die Produktivität und Rentabilität der Produktion zu erhöhen, ohne gravierend in die Arbeitsprozesse und Kooperationsbeziehungen eingreifen zu müssen«,63 so war dies im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zunehmend der Fall. Sei es durch Einsparungen bislang üblicher betrieblicher Sozialleistungen oder durch Verschlechterungen der Arbeits- und Einkommensbedingungen infolge fehlgeschlagener Rationalisierungsmaßnahmen – der für die Fertigung wichtige »Produktionspakt« erodierte in vielen dieser Unternehmen und wurde von konfrontativen Arbeitsbeziehungen abgelöst.64 Die unternehmerischen Reaktionen auf veränderte Wettbewerbsverhältnisse und auf die Herausforderungen des basisdemokratischen Aufbruchs in der Arbeitswelt beschleunigten – so die von den Ergebnissen für die Mundglasbranche abgeleitete und weiter zu prüfende These – den mehr oder weniger rasanten Niedergang der »Traditionsindustrien« in der Bundesrepublik. Auch wenn die wirkmächtigen (neuen) Leitbilder des Wirtschaftens dies nahelegten: Nicht allein der Markt regelte die Produktion; Industrieunternehmen hatten bei der Wahl ihrer Wettbewerbsstrategien aufgrund ihres Körperschaftscharakters auch die Materialität der Fertigung und die Materialität der betrieblichen Machtverhältnisse zu berücksichtigen, die der Flexibilität in der Unternehmensführung Grenzen setzten. Die in arbeitskräfteintensiven Industrien seit jeher hohe Abhängigkeit der Leitungen von den Beschäftigten, von deren körper- und praxisgebundenen Fertigungswissen und ihrer Leistungsbereitschaft hatte seit den 1960er Jahren umso mehr zugenommen, wenn expansive Strategien ergriffen wurden (was die Regel war) und zugleich (wie in der Mundglasbranche) weder ein branchenspezifisches wissenschaftliches Wissen noch (mit Blick auf die angestrebte betriebliche Flexibilität zur Artikelvielfalt) ökonomisch sinnvolle Maschinen-Werkzeug-Technik zur Verfügung standen, deren Entwicklung zu unrentabel war. Infolge des aus ihren Arbeitserfahrungen resultierenden Wissensvorsprungs der Beschäftigten gegenüber den Vorgesetzten fielen die Machtkämpfe in diesen Betrieben heftig aus; sie bildeten wiederum den Hintergrund für Fehlentscheidungen, mit denen Unternehmensleitungen versuchten, ihre Abhängigkeit von den Arbeitenden zu reduzieren. Das Wissen der Beschäftigten ließen sie damit ungenutzt; zugleich schwanden die Grundlagen der (Qualitäts- oder flexiblen) Produktion. Die Fallstudie zur Glashütte Süßmuth zeigte auf, dass die genannten Strategien zur intrinsischen Motivierung der Belegschaft nichts bewirkten und erfolglos waren, wenn sie nur Rhetorik blieben und keiner Praxis entsprachen. Die Arbeitenden konnten zwar übergangen und unter angedrohter Entlassung zum Teil auch gezwungen werden; sie ließen sich 62

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Siehe Kapitel 9; Sarah Graber Majchrzak, Arbeit – Produktion – Protest. Die Leninwerft in Gdańsk und die AG »Weser« in Bremen im Vergleich (1968–1983), Köln 2020, 167–209; Hindrichs et al., Malocher (s. Anm. 46), S. 15–17, 28f., 25, 96f.; Stephan H. Lindner, »Die westdeutsche Textilindustrie zwischen ›Wirtschaftswunder‹ und Erdölkrise«, in: Konrad H. Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht?, Göttingen 2008, S. 59–63. Welskopp, Betrieb (s. Anm. 42), S. 133. Graber Majchrzak, Arbeit (s. Anm. 62), 369–464; Hindrichs et al., Malocher (s. Anm. 46), S. 81–85; Milert und Tschirbs, Demokratie (s. Anm. 12), S. 445, 485–487.

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aber hinsichtlich einer nicht-praktizierten partnerschaftlichen Unternehmenskultur oder ihrer vermeintlichen Verantwortung für eine durch sie nicht beeinflussbare Unternehmensentwicklung nicht täuschen. Der Unternehmensvergleich hat verdeutlicht, dass das Führungspersonal in Mundglashütten die Abhängigkeit von den Beschäftigten allein zum Preis der Transformation der Produktions- zu Handelsgesellschaften sowie durch die Verlagerung von Produktionsstätten in Staaten mit einem niedrigeren Lohnniveau und in der Regel geringeren demokratischen Standards bzw. mit autoritären politischen Verhältnissen reduzieren konnte. Die Berücksichtigung der durch den basisdemokratischen Aufbruch in bundesdeutschen Unternehmen ausgelösten machtpolitischen Dynamiken könnte daher auch die weitere Analyse des Strukturwandels – des für die 1970er Jahren konstatierten Wandels von der Industrie- in eine Dienstleistungsgesellschaft – bereichern. Diese Dynamiken trugen mit dazu bei, dass sich seit den 1970er Jahren der Körperschaftscharakter von Unternehmen abzuschwächen und die Unternehmensstrukturen zu »verflüssigen« begannen.65 Die vorgeschlagene Perspektiverweiterung birgt auch Potenzial für die Erklärung des jähen Verlusts von Gestaltungsmacht für die bundesdeutschen Gewerkschaften. Nach dem Aufschwung seit den 1950er Jahren und dem Zugewinn an politischem Einfluss während der sozialdemokratischen Bundeskanzlerschaft gerieten sie seit den 1980er Jahren in die Defensive und hatten fortan mit Legitimationsproblemen zu kämpfen. In der Gewerkschaftsforschung werden als Gründe vor allem äußere Faktoren angeführt – die Wirtschaftskrisen, der Anstieg der Arbeitslosigkeit, der Antritt der Kohl-Regierung 1982 oder die nach dem Mauerfall forcierten globalen Marktliberalisierungen.66 Etwas seltener wird auf innere Faktoren bzw. Versäumnisse der Gewerkschaftsvorstände verwiesen, die die »Zeichen der Zeit« für notwendige organisatorische Reformen nicht rechtzeitig erkannt oder die Chance vertan hätten, demokratische Beteiligungsformen zu erproben.67 Jenseits struktureller Zwänge und individueller Fehlentscheidungen legen die Ergebnisse dieser Arbeit nahe, auch die von »1968« ausgehenden Dynamiken der gewerkschaftsinternen Auseinandersetzungen mit einer Demokratisierung einfordernden (Mitglieder-)Basis sowie die – die Unterscheidung in innere und äußere Faktoren transzendierende – Ebene der handlungsleitenden Deutungen und Vorstellungen als Erklärung heranzuziehen.

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Thomas Welskopp, »Das Unternehmen als Körperschaft. Entwicklungslinien der institutionellen Bindung von Kapital und Arbeit im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Karl-Peter Ellerbrock und Clemens Wischermann (Hg.), Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, Dortmund 2004, S. 213; Werner Plumpe, »Das Ende des deutschen Kapitalismus«, in: WestEnd 2 (2005), S. 15, 19. Siehe bspw. Michael Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfängen bis heute, Bonn 20002 , S. 363–482; Günter Braun, Schichtwechsel. Arbeit und Gewerkschaft in der Chemie-Stadt Ludwigshafen, Mannheim 1994, S. 153f. Wolfgang Schroeder, »Gewerkschaften als soziale Bewegungen – soziale Bewegungen in den Gewerkschaften in den Siebzigerjahren«, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 265; Werner Fricke (2004) zitiert in Anne Seibring, »Die Humanisierung des Arbeitslebens in den 1970er Jahren – Forschungsstand und Forschungsperspektiven«, in: Andresen et al., Nach dem Strukturbruch? (s. Anm. 33), S. 124; Fritz Vilmar (1994) zitiert in Roesler, Wirtschaftsdemokratie (s. Anm. 10), S. 12.

Einordnung und Ausblick

Die DGB-Gewerkschaften standen der betrieblichen Aufbruchsbewegung gespalten gegenüber. Die Mehrheit befürchtete einen Kontroll- und Machtverlust; aus Angst vor einer Schwächung »der erreichten Verhandlungsposition gegenüber dem Staat und den Unternehmern« trat sie dem eigenmächtigen Agieren an der Basis mit Ablehnung bis Abwehr gegenüber.68 Linke Gewerkschaften dagegen – wie die IG Metall und allen voran die IG Chemie – griffen deren Forderungen und Kritikpunkte selektiv auf.69 Die (viel diskutierten und ansatzweise praktizierten) Konzepte einer betriebsnahen Tarifpolitik, einer die Mitglieder ermächtigenden Bildungsarbeit oder einer Mitbestimmung am Arbeitsplatz sollten die alte Forderung nach einer Demokratisierung der Wirtschaft voranbringen und hierüber auch die eigene Organisation demokratisieren.70 Die von einer solchen basismobilisierenden Gewerkschaftspolitik ausgehenden Turbulenzen entwickelten sich zu innergewerkschaftlichen Politika, die – so die weiter zu erforschende These – die Organisationsentwicklung nachhaltig prägten. Es kam zu Konflikten zwischen hauptamtlichen Funktionären in den Vorständen und Aktivist*innen in den Betrieben, die mitunter eskalierten. In der IG Metall hatten sich diese Auseinandersetzungen im Zuge der Septemberstreiks 1969 zu einer »offenen Konfrontation« ausgeweitet;71 in der IG Chemie entzündeten sich an der Frage nach der künftigen Rolle der Vertrauensleute die Richtungskämpfe der 1970er Jahre.72 Deren selbstbewusstes Auftreten wurde – nachdem ihnen in den 1960er Jahren eine im Vergleich zu den anderen DGB-Gewerkschaften sehr weitreichende Beteiligung an der tarifpolitischen und innergewerkschaftlichen Willensbildung eingeräumt worden war – dem 1969 neugewählten Hauptvorstand zunehmend unbequem.73 In diesen Konflikten trat zutage, dass IG Metall und IG Chemie unter Demokratisierung eher das »Projekt einer funktionalen Dezentralisierung« verstanden – als eine Taktik im »Stellungskrieg« mit den Arbeitgebern.74 Es ging diesen Gewerkschaften um die Ausweitung ihres Einflussbereichs und die Erhöhung des Organisationsgrads,

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Birke, Eigen-Sinn (s. Anm. 27), S. 67; Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 46), S. 189; Milert und Tschirbs, Demokratie (s. Anm. 12), S. 468–470; Fritz Vilmar (Hg.), Strategien der Demokratisierung. Band II. Modelle und Kämpfe der Praxis, Darmstadt u.a. 1973, S. 348–356; Robert Lorenz, Gewerkschaftsdämmerung. Geschichte und Perspektiven deutscher Gewerkschaften, Bielefeld 2013, S. 59f. Siehe Kapitel 3.2; Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 46), S. 162, 277; Milert und Tschirbs, Demokratie (s. Anm. 12), S. 488. Siehe Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 46), S. 164f.; Oskar Negt, Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen, Frankfurt a.M. 19716 ; Milert und Tschirbs, Demokratie (s. Anm. 12), S. 468–470; Fritz Vilmar (Hg.), Mitbestimmung am Arbeitsplatz. Basis demokratischer Betriebspolitik, Neuwied u.a. 1971. Milert und Tschirbs, Demokratie (s. Anm. 12), S. 468; Udo Achten, Flächentarifvertrag und betriebsnahe Tarifpolitik. Vom Anfang der Bundesrepublik bis in die 1990er Jahre, Hamburg 2007, S. 65. Jürgen Kädtler und Hans-Hermann Hertle, Sozialpartnerschaft und Industriepolitik. Strukturwandel im Organisationsbereich der IG Chemie-Papier-Keramik, Opladen 1997, S. 69–101. Die Vertrauensleute formulierten in der Regel radikalere Forderungen, die den »Empfehlungen« des Hauptvorstands widersprachen. Die hauptamtlichen Funktionäre empfanden dies als »Meinungsterror« und »Nervenklau« oder sie unterstellten ihnen, von »politisch unliebsamen Gruppen (also DKP und andere K-Gruppen)« unterwandert zu sein und nicht die Interessen der »eigentlichen Basis« zu vertreten. Ebd., S. 79–81, 85. Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 46), S. 167.

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aber eben auch um die Rückgewinnung der Kontrolle über eine sich zu verselbstständigen drohende Basis. Die Beschäftigten nahmen sie vorrangig als »Opfer« von »Entpolitisierung« und »Fremdbestimmung« wahr, ihre Anliegen aber nicht als eigenständige und »legitim[e] soziale[e] Ansprüche« ernst.75 Ihrem Verlangen nach Lohngerechtigkeit kamen sie mit einer auf Lohnerhöhungen zielenden »offensiven« Tarifpolitik nach, nicht jedoch – wie es die Arbeitenden in den wilden Streiks oder in der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth gefordert hatten – in Form von Festgeldforderungen bzw. linearen Lohnerhöhungen.76 Dies wiederum lag an einem in den Gewerkschaften offensichtlich unerschütterlichen Verständnis von ökonomischer Effizienz, die es unter anderem durch die Arbeitsleistungen unterschiedlich honorierende Löhne sicherzustellen gelte. Darüber könne nicht hinweggesehen werden, wenn die Tarifhoheit der Gewerkschaften erhalten bleiben soll.77 Selbst sich für eine Demokratisierung einsetzende Funktionäre zeigten selten Bereitschaft, ihre tradierte Stellvertreterposition und hiermit verbundenen Vorannahmen vom ökonomisch Richtigen und politisch Wünschenswerten zu revidieren bzw. anzupassen und wurden damit – so zeigt der Fall Süßmuth eindrücklich auf – selbst zum Hindernis des angestrebten Ziels. Die Dynamiken der betrieblichen Aufbruchsbewegung brachten die Gewerkschaftsvorstände in eine ähnliche Situation wie die Unternehmensleitungen. Zwar aus konträren Motiven, einte Gewerkschafts- und Unternehmensvorstände um »1968« das Ziel, die Arbeitenden einer zentralen Kontrolle und Steuerung zu unterwerfen. Im Konkreten teilten sie das Interesse an einer Beseitigung der Lohndrift, die nach 1945 – anders als in der Weimarer Republik – nicht mehr nur einer antigewerkschaftlichen Taktik der Unternehmen, sondern vor allem der Verhandlungsstärke der Arbeitenden auf einem von »Vollbeschäftigung« geprägten Arbeitsmarkt geschuldet war.78 Konfrontiert mit den Folgen ihrer aktivierenden Mitgliederpolitik begannen (einst) linke Gewerkschaften sich gegen eine von ihren Vorgaben abweichend agierende Basis zu positionieren.79 Mit der Zuspitzung der internen Spannungen vollzogen auch diese Gewerkschaften jene von anderen DGB-Gewerkschaften bereits zuvor eingeschlagene realpolitische Wende in Richtung Sozialpartnerschaft, Industriepolitik, tarifpolitischer und organisatorischer Zen75 76

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Ebd., S. 98. Siehe Kapitel 8.1. Ebd., S. 281f.; Christian Testorf, »Welcher Bruch? Lohnpolitik zwischen den Krisen. Gewerkschaftliche Tarifpolitik von 1966 bis 1974«, in: Andresen et al., Nach dem Strukturbruch? (s. Anm. 33), S. 293–315. Folgendes siehe Kapitel 5.2. Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 46), S. 225f.; Ebenso Werner Fricke (2004) wiedergegeben von Seibring, Humanisierung (s. Anm. 67), S. 124; Testorf, Lohnpolitik (s. Anm. 76), S. 311f. Die wilden Streiks der 1950er und 1960er Jahre hatten oftmals die Bedeutung einer »zweiten Lohnrunde«, die im Anschluss an Tarifverhandlungen stattfand und die eine betriebsnahe Tarifpolitik wieder einfangen sollte. Selbst die Rücknahme tradierter Leistungen betrieblicher Sozialpolitik seit Mitte der 1960er Jahre begrüßten die Gewerkschaften als Beitrag zur Reduktion der Lohndrift. Rudi Schmiede und Edwin Schudlich, Die Entwicklung der Leistungsentlohnung in Deutschland. Eine historisch-theoretische Untersuchung zum Verhältnis von Lohn und Leistung unter kapitalistischen Produktionsbedingungen, Frankfurt a.M. u.a. 19814 , S. 403f.; Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 46), S. 162, 277; Milert und Tschirbs, Demokratie (s. Anm. 12), S. 448–452, 487–489. In der IG Chemie, der IG Metall und der IG DruPa »begann um 1973 eine massive betriebliche Repressions- und überbetriebliche Ausschlusswelle, die in ihrem Ausmaß schließlich das der antikommunistischen ›Säuberungen‹ der 1950er Jahre erreichte.« Birke, Eigen-Sinn (s. Anm. 27), S. 71f.

Einordnung und Ausblick

tralisierung.80 In der IG Metall war dieser Umbruch bereits Mitte der 1960er Jahre zu beobachten und vergleichsweise »konziliant« verlaufen.81 In der IG Chemie endeten die internen Richtungskämpfe der 1970er Jahre mit einer völligen Niederlage des linken Flügels, entsprechend radikal fiel der Kurswechsel aus: Mit einer Drehung um 180 Grad hatte sich diese Gewerkschaft innerhalb eines Jahrzehnts vom linken zum rechten Rand des DGB bewegt.82 Die historische Chance für eine Demokratisierung der Wirtschaft von unten ließen die bundesdeutschen Gewerkschaften nach »1968« ebenso ungenutzt wie einst nach den beiden Weltkriegen.83 Bei allen Herausforderungen und auch Konflikten, die demokratische Prozesse zwangsläufig mit sich brachten, lag in der Demokratisierung der Gewerkschafts- und Tarifpolitik das Potenzial, die Position der Gewerkschaften in den Betrieben zu stärken und hierdurch ihren Einflussbereich auf überbetrieblicher Ebene auszudehnen.84 Eine betriebsnahe Tarifpolitik hätte die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse der sozial heterogenen Belegschaften berücksichtigen und die Voraussetzungen für ein (betrieblich wie überbetrieblich) geschlossenes Auftreten der Arbeiter*innen gegenüber den Unternehmen verbessern können. Auch wäre es hierüber möglich gewesen, das Wissen der Beschäftigten über die Vielfalt der betrieblichen Lohnsysteme – deren »Wildwuchs« (wie im Fall Süßmuth aufgezeigt) nicht allein das Resultat verteilungspolitischer Verhandlungen war, sondern auch mit der Fertigungsweise und dem Produktionsprogramm korrespondierte – bei der Formulierung überbetrieblich gültiger Tarifstandards aufzugreifen. Über die in den Betrieben bestehenden Verhandlungsspielräume der Unternehmensleitungen bei der Lohngestaltung wussten die Beschäftigten am besten Bescheid, die Gewerkschaftsfunktionäre dagegen konnten diese – angesichts der enormen Heterogenität in den Tarifbereichen zwischen wie auch innerhalb der Branchen, in denen die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens zur gleichen Zeit schnellen und mitunter grundlegenden Änderungen unterlagen – von außen bzw. von oben nur begrenzt überblicken. Gerade dieses Potenzial erklärt den heftigen Widerstand von Seiten der Arbeitgeberverbände gegen die betriebsnahe Tarifpolitik.85 Als Voraussetzung für eine stattdessen tarifpolitische und organisatorische Zentralisierung setzten die Gewerkschaften auf eine am Leitbild der mass production orientierte »Verwissenschaftlichung«. Der Glaube an eine hierdurch herzustellende, von individuellen bzw. gruppenbezogenen Interessen befreite »Objektivität« und an eine durch Pro-

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Ggf. ließe sich die im Kontext von Organisationsreformen in Unternehmen gemachte Beobachtung einer Zentralisierung als unbeabsichtigte Folge von Dezentralisierungsprozessen auch auf die Demokratisierungsansätze von IG Chemie und IG Metall übertragen. Kühl, Zentralisierung (s. Anm. 58). Die »konziliante« Wende der IG Metall stand nicht im Widerspruch zu zeitgleich »aktivistischen« Kampagnen und dem Image als »IG Krawall«. Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 46), S. 168–171. Siehe Kapitel 3.2. Zu den jeweiligen Aufbrüchen nach dem Ende des Ersten und des Zweiten Weltkriegs siehe Weipert, Rätebewegung (s. Anm. 31); Uwe Fuhrmann, Die Entstehung der »Sozialen Marktwirtschaft« 1948/49. Eine historische Dispositivanalyse, Konstanz 2017. Folgendes siehe Kapitel 5.2. Achten, Flächentarifvertrag (s. Anm. 71), S. 78, 106–115; Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 72), S. 58f.

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fessionalisierung herbeizuführende »Versachlichung« von Tarifverhandlungen gewann auch für sie in den durch den basisdemokratischen Aufbruch aufgeworfenen Konfliktkonstellationen an Attraktivität. Mit den Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre verstärkten sie ihre industriepolitische Ausrichtung mit einem Hauptaugenmerk auf die großbetrieblichen »Zukunftsindustrien«, demgegenüber sich der Stellenwert von Tarifpolitik abschwächte.86 Die Gewerkschaften setzten sich also nicht mehr nur für die Interessen der Arbeitenden ein, sondern (zum Erhalt von Arbeitsplätzen) zunehmend auch für eine Förderung der (als fortschrittlich wahrgenommenen) Industrien und somit indirekt auch für die Interessen der Unternehmen. Der »Wert des Produktivitätszuwachses« entwickelte sich zum entscheidenden Kriterium bei der Begründung gewerkschaftlicher Lohnforderungen, hinter das »Vorstellungen vom sozialem Ausgleich durch Umverteilung zurücktraten«.87 Die kleinen, mittelständisch geprägten, arbeitskräfteintensiven Industriezweige (wie die Mundglasbranche) wurden aufgrund der ihr attestierten Rückständigkeit hingegen aufgegeben, was deren Niedergang beschleunigte.88 Die Folgen dieser Gewerkschaftspolitik waren auf lange Sicht fatal. Die Gewerkschaften hatten sich immer mehr aus den Betrieben zurückgezogen und sie faktisch den Unternehmensleitungen überlassen. Die gewerkschaftlich protegierte Implementierung »wissenschaftlicher« Lohnsysteme verursachte in der betrieblichen Praxis oftmals viele Schwierigkeiten und zog einen Wandel in den Entlohnungsprinzipien nach sich: Eine forcierte Individualisierung der Leistungsanreize ging mit einer Loslösung der »Lohnbestimmung von der individuellen Arbeitsleistung« einher, was den Unternehmensleitungen enorme Spielräume bei der Entlohnung eröffnete, die sie zunehmend an die Unternehmensergebnisse oder Marktentwicklungen koppelten.89 Mit ihrem Festhalten am tarifpolitischen Status quo – wie bei der Verteidigung von prozentualen statt linearen Lohnerhöhungen auf Basis einer nicht hinterfragten Leistungsideologie – hatten die Gewerkschaften zur Verfestigung der in den Tarifverträgen fixierten Ungleichheiten beigetragen, womit sie weiterhin vorrangig die Interessen der männlichen westdeutschen Industriefacharbeiter vertraten, die aber nur einen, überdies kleiner

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Die Tarifpolitik sei nur noch »ein Teilbereich untere anderem« gewesen. Die Hinwendung zur Industriepolitik gehörte zu einem generellen Trend in bundesdeutschen Gewerkschaften, die von der IG Chemie am »konsequentesten« verfolgt worden sei. Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 72), S. 16f., 120, 23. Karl Christian Führer, »Tarifbeziehungen und Tarifpolitik als Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Einige einführende Bemerkungen«, in: Ders. (Hg.), Tarifbeziehungen und Tarifpolitik in Deutschland im historischen Wandel, Bonn 2004, S. 21; Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 46), S. 168–171; Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 72), S. 53, 169; Tätigkeitsbericht IG Chemie Bezirksleitung Hessen 1972–1975, in: AfsB, Bestand IG Chemie. Siehe Kapitel 9.5. Zu den anderen »Verliererbranchen« im Organisationsbereich der IG Chemie siehe Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 72), S. 32, 38. Siehe Kapitel 5.2 und Kapitel 9.3; Schmiede und Schudlich, Leistungsentlohnung (s. Anm. 78), S. 422–427; Sarah Nies, Nick Kratzer und Wolfgang Menz, »Die Interessenpolitik des ›nutzbringenden Individuums‹. Interessenhandeln und Interessenvertretung in individualisierter Leistungspolitik«, in: Arbeits- und Industriesoziologische Studien 2 (2008), S. 27, 30f.; Holger Lengfeld, »Lohngerechtigkeit im Wandel der Arbeitsgesellschaft«, in: APuZ 4–5 (2007), S. 11–17.

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werdenden Teil der Arbeiterschaft darstellten.90 Immer mehr Beschäftigte sahen ihre Interessen von den Gewerkschaften dagegen nicht (mehr) vertreten, weshalb für sie eine Mitgliedschaft keine Attraktivität besaß bzw. an Attraktivität verlor. In der sich verfestigenden Krise gewerkschaftlicher Repräsentation war die Vertretung der Belegschaftsinteressen auf betrieblicher wie überbetrieblicher Ebene nachhaltig geschwächt. Entsolidarisierung unter den Arbeitenden verstärkte sich sowohl zwischen als auch innerhalb der Betriebe und Branchen.91 Die Krise der Repräsentation ermöglichte es den Unternehmensleitungen – so wäre an die oben ausgeführte These anzuschließen –, sich die im demokratischen Aufbegehren der Beschäftigten markierten Potenziale ungehindert anzueignen und zugleich individualisierend gegen die Belegschaft und ihre kollektive Interessenvertretung zu richten. Bei der Wahrung und Durchsetzung ihrer Interessen konnten sie sich den individuellen Ehrgeiz der Beschäftigten ebenso wie die Komplexität der Machtverhältnisse zunutze machen, zu denen die Differenzen zwischen verschiedenen Statusgruppen in den Belegschaften oder die Kompetenzkonkurrenz zwischen Betriebsräten, Vertrauensleuten und anderen betrieblichen Interessenvertreter*innen und den hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionären der verschiedenen Organisationsebenen (Verwaltungsstellen, Bezirke, Hauptvorstand) gehörten.92 Die erfolgreiche Einbindung betrieblicher Interessenvertretungen in soziale Einschnitte betreffende Unternehmensentscheidungen (wie Lohn- oder Personalabbau) war mitunter dem Machtwillen von »Betriebsratsfürsten« geschuldet, aber auch – wie im Fall Süßmuth und in den von den Gewerkschaften fallengelassenen »Traditionsindustrien« – den strukturellen Zwängen und Verpflichtungen gegenüber den Beschäftigten, wenigsten einen Teil der Arbeitsplätze zu erhalten.93 Indem die Gewerkschaften die Überzeugungen der Unternehmerschaft vom richtigen Wirtschaften teilten und keine eigenständigen, hiervon abweichenden Entwicklungskonzepte erarbeiteten, hatten sie sich in enorme Abhängigkeiten manövriert, die sich bei jeder Androhung von Personalabbau oder Standortverlagerung aufs Neue offenbarte. Das Dilemma »[h]ochorganisierte[r], zentralisierte[r] Gewerkschaften« bestand daher weniger darin, zum Schutz der langfristigen Interessen der Arbeitenden deren

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Siehe Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 46), S. 117–121, 235–238, 301f.; Wolfgang Schroeder, »Gewerkschaften in drei Welten. Ein Überblick«, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 4 (2009), S. 14f.; Lorenz, Gewerkschaftsdämmerung (s. Anm. 68), S. 63–66. Siehe Artus, Mitbestimmung (s. Anm. 44), S. 230–234; Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 72), S. 17; Ulrich Beck und Christoph Lau, »Theorie und Empirie reflexiver Modernisierung. Von der Notwendigkeit und den Schwierigkeiten, einen historischen Gesellschaftswandel innerhalb der Moderne zu beobachten und zu begreifen«, in: Soziale Welt 2–3 (2005), S. 113. Strategien des Teilens und Herrschens ließen sich sowohl auf betrieblicher Ebene als auch auf Verbandsebene beobachten. So habe der Arbeitgeberverband der Chemieindustrie (bspw. durch ein geschlossenes Auftreten oder die Provokation zum Streik 1971) die internen Spannungen der IG Chemie verstärken und sie damit »manövrierunfähig« machen wollen. Siehe Kapitel 9.4; Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 72), S. 48f., 53, 60–68. Zur Diskussion über »Ökonomismus« und »Co-Management« von Betriebsräten und Arbeitsdirektoren siehe Hindrichs et al., Malocher (s. Anm. 46), S. 53, 55–59, 91–103; Milert und Tschirbs, Demokratie (s. Anm. 12), S. 29, 37; Hermann Kotthoff, Betriebsräte und Bürgerstatus. Wandel und Kontinuität betrieblicher Mitbestimmung, München 1994, S. 288–296.

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unmittelbare Interessen verletzen zu müssen,94 sondern vielmehr darin, dass sie sich mit der Übernahme dieser unternehmerischen Sachzwang-Argumentation faktisch erpressbar gemacht hatten. Der Verlust von Gestaltungsmacht ist folglich auch auf die Folgen des realpolitischen Kurses von SPD und DGB-Gewerkschaften zurückzuführen, die sich nach 1945 vollends vom Marxismus als Methodik einer kapitalismuskritischen Gesellschaftsanalyse und als Orientierungsrahmen für die strategische Ausrichtung verabschiedet hatten. Sie »übersahen«, dass eine »Objektivität« im Ökonomischen beispielsweise bei der Bewertung und Entlohnung von Leistung in asymmetrischen Machtverhältnissen nicht möglich war und diese stets sozial (Anerkennung) und politisch (Interessendurchsetzung) bedingt waren. Auf die mit den Wirtschaftskrisen sich rasant ändernden Arbeits- und Lohnbedingungen in den Betrieben konnten sie schließlich kaum noch gestaltenden Einfluss nehmen. Den sich verstärkenden Tendenzen zur Tarifflucht und zur Erosion der Flächentarifverträge vermochten sie nur wenig entgegenzusetzen.95 Anfang der 1990er Jahre gaben sie dem Druck der Arbeitgeberverbände nach und akzeptierten zunächst in den Tarifverträgen für die neuen, kurz darauf auch für die alten Bundesländer sogenannte »Härtefallklauseln«, was eine Verbetrieblichung der Tarifpolitik vorantrieb.96 Damit war genau das eingetreten, was die Gewerkschaften eigentlich verhindern wollten und was sie einst mitunter als Argumente gegen eine Demokratisierung der Tarifpolitik angeführt hatten.97 In den sich seit Ende der 1960er Jahre verdichtenden und mitunter eskalierenden Konflikten zwischen Repräsentanten und Repräsentierten – und damit inmitten der Phase des Aufschwungs – wurde also bereits eine der Weichen für den Weg in die Defensive gestellt, in die die Gewerkschaften seit den 1980er Jahren gerieten. Angesichts des zunächst noch anhaltenden Mitgliederanstiegs und der tarifpolitischen Erfolge der 1970er Jahre brauchten sie die mit den Zentralisierungsprozessen einhergegangene Entfernung und Entfremdung von der Basis nicht zu problematisieren. Mitunter wähnten sie sich sogar auf Erfolgskurs, befand sich der Lebensstandard der abhängig Beschäftigten doch auf einem historischen Höhepunkt. An der Basis in den Betrieben waren die Frustration, Enttäuschung und Empörung dagegen teils enorm. Die Arbeitenden sahen sich um die demokratischen Versprechungen betrogen, die ihre Repräsentanten lautstark verkündetet hatten.98 Die Gewerkschaften hatten ihre Anliegen nicht ernst94 95 96 97

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Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 72), S. 314. Siehe Achten, Flächentarifvertrag (s. Anm. 71); Nies et al., Interessenpolitik (s. Anm. 89); Schroeder, Zähmung (s. Anm. 33). Milert und Tschirbs, Demokratie (s. Anm. 12), S. 622–626; Artus, Mitbestimmung (s. Anm. 44), S. 232f.; Siehe auch Achten, Flächentarifvertrag (s. Anm. 71). Die Mehrheit der Gewerkschaften hatte die betriebsnahe Tarifpolitik abgelehnt, weil sie eine Erosion der Flächentarifverträge befürchteten. In der Kritik standen v.a. die hiermit verbundenen (demokratisch gestalteten und kontrollierten) Öffnungsklauseln, die die Befürworter*innen als notwendig erachteten, um – da sich die Flächentarifverträge an den »wirtschaftlich schwächsten Unternehmen der Branche« orientierten – den tarifpolitischen Verhandlungsspielraum der »wirtschaftlich florierenden Betriebe« besser ausschöpfen zu können. Milert und Tschirbs, Demokratie (s. Anm. 12), S. 488. Siehe Hindrichs et al., Malocher (s. Anm. 46), S. 57, 99, 120; Milert und Tschirbs, Demokratie (s. Anm. 12), S. 456; Fuhrmann, Soziale Marktwirtschaft (s. Anm. 83), S. 97–100; Lorenz, Gewerkschaftsdämmerung (s. Anm. 68), S. 58–66.

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genommen, allein verteilungspolitisch interpretiert und allein als Forderungen nach immer weiteren Lohnerhöhungen aufgriffen, denen sie ebenso wie die sozial-liberale Regierung seit der Rezession 1973/1974 wiederum mit Appellen an das Maßhalten begegneten.99 Es verbreitete sich der Eindruck, die Gewerkschaften verfolgten von den Interessen der Arbeitenden unabhängige Verbandsinteressen.100 Der sich in den 1990er Jahren durchsetzende Trend zur wilden Dezentralisierung der Tarifpolitik dürfte für jene Gewerkschaftsaktive, die dies zuvor in Form einer betriebsnahen Tarifpolitik zu demokratischen Bedingungen vergeblich eingefordert hatten, umso tragischer gewesen sein.101 Unter diesen Bedingungen vollzog sich der »Triumph des Unternehmers«.102 Um Komplexität zu reduzieren gingen Unternehmen verstärkt dazu über, vor allem den Faktor Arbeit zu flexibilisieren sowie Verantwortung und Kosten weiter zu externalisieren. Auf makropolitischer Ebene lancierte dies einen Klassenkampf von oben bzw. einen Umverteilungsprozess von unten nach oben.103 Der Fall Süßmuth hat in dieser Hinsicht zweierlei deutlich gemacht: Prozesse der »Enteignung« fanden auch dort statt, wo es vermeintlich nichts zu holen gab (wie in Konkursunternehmen der »Traditionsindustrien«). Und der Verschuldung (sei es von Unternehmen oder von kompletten Volkswirtschaften) kam dabei eine zentrale Rolle zu. Während die Gewinne von Unternehmen private Angelegenheiten blieben, wurden unternehmerisch verursachte Verluste immer mehr den Beschäftigten und der öffentlichen Kasse in Rechnung gestellt.104 Forderungen nach guter Arbeit transformierten sich seit den 1970er Jahren zu Forderungen um den Erhalt des Arbeitsplatzes an sich.105 Vermochten die Beschäftigten auf einem von »Vollbeschäftigung« geprägten Arbeitsmarkt die Unternehmensleitungen noch zu Zugeständnissen zu bewegen, indem sie – durch Androhung eines Arbeitskampfes oder einer Kündigung – ihre Arbeitskraft als Druckmittel einsetzten, so eigneten sich die Unternehmen eben dieses Druckmittel in der »Krise« an, um die Rechte der Arbeitenden zurückzudrängen und zu schwächen: Angesichts zunehmender Arbeitslosenzahlen und neuer Möglichkeiten der Produktionsverlagerung setzten sie die Ankündigung von Personalabbau und Betriebsschließung gezielt zur Disziplinierung der Belegschaften 99 Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 46), S. 97, 172. 100 Der Glasmacher [Dieter Schrödter] bspw. fühlte sich von der Gewerkschaft betrogen. Demokratische Teilhabe habe sie den aktiven Mitgliedern so lange versprochen, wie sie sie zur Anwerbung neuer Mitglieder benötigten; als dieses Ziel angesichts des gestiegenen Organisationsgrads erfüllt war, habe sich die Gewerkschaft von der Basis entfernt und sich letztlich nicht an ihre Versprechungen gehalten. Transkript Gruppeninterview von Erasmus Schöfer mit [Paul Nowak] und [Dieter Schrödter], 13. Dezember 1973, im Besitz der Autorin, S. 16. 101 So [Paul Nowak] in Vermerk Friedrich-Karl Baas, 6. September 2005, in: AGI. 102 Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 20135 , S. 50–54. 103 Im Zuge dessen stieg seit den 1970er Jahren die soziale Ungleichheit bzw. die Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung rapide an. Siehe Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2015. 104 Siehe Maurizio Lazzarato, Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Ein Essay über das neoliberale Leben, Berlin 2012. 105 Dieter Sauer, »Von der ›Humanisierung der Arbeit‹ zur ›Guten Arbeit‹«, in: APuZ 15 (2011), S. 18; Welskopp, Unternehmen (s. Anm. 65), S. 213.

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und ihrer (betrieblichen wie überbetrieblichen) Interessenvertretung ein wie auch zur Untermauerung von an den Staat gerichteten Forderungen nach standortpolitischer Förderung. Sogar das Einfordern der alternativlosen Unterwerfung unter das Primat der Lohnkostensenkung konnten sie als Beitrag zum Erhalt von Arbeitsplätzen und deshalb als das Interesse der Arbeitenden präsentieren. Die (zum Teil fehlgeschlagenen) Rationalisierungsmaßnahmen und Standortverlagerungen der Produktionsstätten hatten dagegen die Machtressourcen der Arbeitenden in den Betrieben für eine politische Artikulation ihrer Bedürfnisse nachhaltig geschmälert, in den »Traditionsindustrien« gehörte hierzu auch die Ab- und Entwertung ihres Fertigungswissens. Der Wandel der Arbeit nach »1968« wie auch die Massenentlassungen und Betriebsschließungen wurden von den Beschäftigten keineswegs stillschweigend hingenommen. Vielmehr waren diese Entwicklungen von vielfältigen Protesten begleitet,106 die – so die empirisch weiter zu untersuchende These – als Ausläufer und Endpunkt des basisdemokratischen Aufbruchs in der Arbeitswelt gedeutet werden können. Als neue Form des Arbeitskampfes gewannen seit Anfang der 1980er Jahre – eben weil tradierte Mittel des Streiks und der Arbeitsverweigerung in der Krise an Wirksamkeit einbüßten bzw. für den Erhalt der Arbeitsplätze eher kontraproduktiv waren – Betriebsbesetzungen durch die Beschäftigten auch in der Bundesrepublik an Bedeutung, die dabei zum Teil die Produktion aufrechterhielten.107 Wie im Fall Süßmuth war die akute Bedrohung der finanziellen Existenzgrundlage der Anlass für das kollektive Handeln, der sich zugleich aber nicht auf die Angst vor Arbeitslosigkeit reduzieren lässt. Denn die Weigerung der Arbeitenden, sich »dem kapitalistischen Schicksal« widerstandslos auszuliefern,108 verwies auch auf Vorstellungen von Entwicklungsalternativen, die je nach den Hintergründen für den Personalabbau bzw. die Betriebsschließungen sehr unterschiedlich ausfielen. Manche Beschäftigten versuchten ihre Betriebe fortzuführen und gründeten mitunter als Vorbereitung hierfür Arbeitskreise, in denen sie sich über Möglichkeiten alternativer Produktion und Produkte verständigten.109 Mit solchen Protest- und Aktionsformen gelang es – wie Nelli Tügel am Beispiel der über fünf-monatigen Besetzung des Krupp-Werks im Duisburger Stadtteil Rheinhausen (1987/1988) aufzeigt –, den »von Sachzwang-Argumenten dominiert[en] […] Diskurs um die Bewältigung« der Branchenkrisen (wenn auch nur punktuell und kurzzeitig) zu unterlaufen.110 Jen106 Siehe bspw. Raphael, Jenseits (s. Anm. 41), S. 143–199. 107 Reinhard Hedden, Wolfgang Hindrichs und Claus Mäulen, Widerstand gegen Betriebsstillegungen. Aktionen, Erfahrungen und Lernprozesse von Belegschaften, Bremen 1993. 108 Zitat aus der Streikzeitung der Belegschaft der Zementfabrik Seibel & Söhne Erwitte (1975) als Beilage von Dieter Braeg (Hg.), »Wir halten den Betrieb besetzt«. Texte und Dokumente zur Betriebsbesetzung der Zementfabrik Seibel & Söhne in Erwitte im Jahre 1975, Berlin 2015; Ebenso Duhm, Krisenbetriebe (s. Anm. 26), S. 5f. 109 Siehe Graber Majchrzak, Arbeit (s. Anm. 62), S. 484f.; Klaus Mehrens (Hg.), Alternative Produktion. Arbeitnehmerinitiativen für sinnvolle Arbeit, Köln 1983; Ulrich Briefs, Anders produzieren, anders arbeiten, anders leben. Von der Alternativproduktion zur demokratischen Produktionspolitik, Köln 1986; Klose und Müller, Selbstverwaltete Betriebe (s. Anm. 16). 110 Nelli Tügel, »Streik, Solidarität, Selbstermächtigung? Aushandlungsprozesse im Umfeld des wilden Streiks bei den Kölner Fordwerken 1973 und des Besetzungsstreiks bei Krupp in Duisburg Rheinhausen 1987/88«, in: Arbeit. Bewegung. Geschichte. Zeitschrift für Historische Studien 1 (2016), S. 86.

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seits von Sympathiebekundungen und dem Engagement lokaler Funktionäre erhielten diese Belegschaftsinitiativen weder von Seiten der Gewerkschaften noch von Seiten der SPD konkrete Unterstützung.111 Selbst als in den 1980er Jahren die Schwäche ihrer Verhandlungspositionen immer offenkundiger wurde, ließen gewerkschaftliche und parteipolitische Repräsentanten der Arbeiter*innen die letzte Chance verstreichen, die Impulse aus dem basisdemokratischen Aufbruch für eine strategische Neuausrichtung zu nutzen. So trugen sie mit dazu bei, dass die Machtverhältnisse in ihren Grundzügen erhalten blieben bzw. sich die (alten) Machtasymmetrien in veränderten (neuen) Erscheinungsformen verfestigten, die umso wirkmächtiger waren, als sie in der »Unübersichtlichkeit« weniger eindeutig und kaum angreifbar zu sein schienen. Zur Niederlage des basisdemokratischen Aufbruchs in der Arbeitswelt gehörten auf Ebene der Erinnerung eine ideologische Verkehrung und das hiermit verbundene Vergessen.112 Ähnlich wie die Geschichte der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth wurde das Aufbegehren von Arbeitenden um »1968« im Nachhinein von jeglichem politischen Gehalt bereinigt und allein auf materielle Beweggründe reduziert oder im Kontext von Betriebsschließungen lediglich als Verzweiflungstaten erinnert. Schließlich setzte sich die Deutung durch, jenseits ihres Engagements für Lohnerhöhungen oder für den Arbeitsplatzerhalt sei die Mehrheit der (wohlstandsgesättigten) Beschäftigten politisch passiv und desinteressiert gewesen.113 Dies vergegenwärtigt: Die Bevölkerungsgruppe der Arbeitenden vermochte es nach »1968« am wenigsten, auf Dauer eine Öffentlichkeit für ihre Anliegen und ihre Perspektiven herzustellen, was sich letztlich in der Historisierung einer vermeintlichen »Ruhe« in bundesdeutschen Betrieben um »1968« niederschlug und so auch den Fall Süßmuth in Vergessenheit geraten ließ. Die Gründe hierfür lagen einerseits in den Unternehmen, deren Leitungen nicht nur die Gestaltungs-, sondern auch die Deutungshoheit innehatten, und andererseits in der Nicht-Repräsentation durch Gewerkschaften, SPD und auch durch die Neue Linke, die sich im Laufe der 1970er Jahre in Ernüchterung über die ausgebliebene Revolution in der Regel von den Betrieben und den Arbeitenden abwendeten.114 Die betrieblichen Protestbewegungen, die Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre einen vorläufigen Höhepunkt erreichten, wurden – gerade weil sie auch die etablierten Strukturen der (gewerkschaftlichen wie parteipolitischen) Repräsentation infrage stellten – nicht als politisch repräsentiert und letztlich auch nicht als politisch historisiert.

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Duhm, Betriebsübernahmen (s. Anm. 23), S. 74f.; Duhm, Krisenbetriebe (s. Anm. 26), S. 24–26; Herbert Klemisch, Kerstin Sack und Christoph Ehrsam, Betriebsübernahme durch Belegschaften. Eine aktuelle Bestandsaufnahme, Köln 2010, S. 52. Siehe Resümee Teil III; Fuhrmann, Soziale Marktwirtschaft (s. Anm. 83), S. 167; Birke, Wilde Streiks (s. Anm. 46), S. 333; Arne Hordt, Kumpel, Kohle und Krawall. Miners’ Strike und Rheinhausen als Aufruhr in der Montanregion, Göttingen 2018, S. 18. Siehe Einleitung; Testorf, Lohnpolitik (s. Anm. 76), S. 310f.; Milert und Tschirbs, Demokratie (s. Anm. 12), S. 433f., 456; Kädtler und Hertle, Sozialpartnerschaft (s. Anm. 72), S. 60. Birke, Eigen-Sinn (s. Anm. 27), S. 72. Zur selbstkritischen Reflexion siehe »Spätschicht. Interviews [mit ehemaligen Betriebsinterventionist*innen]«, in: Wildcat, Sommer 2011, S. 76–78; Karl Heinz Roth in Sebastian Kasper, »Unter der Parole »Kampf gegen die Arbeit!« Die Betriebsintervention der frühen Sponti-Bewegung«, in: Arbeit, Bewegung, Geschichte 1 (2016), S. 55f.

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Für die Diskussion über den Zustand der Demokratie in Zeiten des Neoliberalismus wäre zu überprüfen, inwiefern sich die Ausführungen zur Krise der gewerkschaftlichen Repräsentation auf die Krise der (partei-)politischen Repräsentation der Arbeitenden bzw. generell auf die konstatierte Krise der Demokratie übertragen ließen.115 Die Dynamiken von »1968« hatten beispielsweise auch innerhalb der SPD die Spannungen erhöht, und auch hier war die Enttäuschung über die Begrenztheit bzw. Nichterfüllung des Versprechens von »mehr Demokratie« an der Basis groß.116 Die von den Ergebnissen aus dieser Studie abgeleitete und weiter zu diskutierende These lautet daher: Die Genese des Neoliberalismus stand im Zusammenhang mit der Niederlage des basisdemokratischen Aufbruchs und der hierauf folgenden Krise der Repräsentation. Der Neoliberalismus wäre demnach nicht allein als eine »wirtschaftspolitische Ideologie« oder als eine »Privatisierungs- und Flexibilisierungsideologie«, sondern als Ausdruck jener veränderten gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu historisieren, die sich seit den 1970er Jahren konstituierten – nachdem also die etablierten Machtkonstellationen im basisdemokratischen Aufbruch um »1968« erschüttert wurden – und in denen diese »Denkrichtung des Liberalismus« als handlungsleitende Ideologie in umfassenden Maße zur Geltung kommen konnte.117 Die Berücksichtigung der Ambivalenzen und Grenzen des basisdemokratischen Aufbruchs in der historischen Analyse und die der Perspektive von unten in einem relationalen Zugang kann verhindern, das demokratische Aufbegehren selbst als eine Ursache der Wirtschaftskrisen oder der neuen Machtkonstellationen zu beschreiben. Ein solcher Zugang ermöglicht, sich dem in der Forschungsdiskussion über den Neuen Geist des Kapitalismus oder über das Aufkommen des Neoliberalismus impliziten Eindruck einer Unmittelbarkeit zwischen den Forderungen nach Demokratie, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung und deren entsolidarisierender Umdeutung zu einer individualisierenden Eigenverantwortlichkeit als zentrale ideologische Figur des Neoliberalismus zu verwehren. Aus Perspektive der Moralischen Ökonomie können solche Schlussfolgerungen selbst auch als Ausdruck der Niederlage des basisdemokratischen Aufbruchs markiert und historisiert werden.

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Siehe Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Postdemokratie?, APuZ 1–2 (2011); Wolfgang Merkel, Krise der Demokratie? Anmerkungen zu einem schwierigen Begriff, Kiel u.a. 2016; Anselm Doering-Manteuffel, Die Entmündigung des Staates und die Krise der Demokratie. Entwicklungslinien von 1980 bis zur Gegenwart, Stuttgart 2013. Siehe Philipps, Sozialdemokratie (s. Anm. 12); Manfred Kittel, Marsch durch die Institutionen? Politik und Kultur in Frankfurt nach 1968, München 2011; Bernhard Gotto, Enttäuschung in der Demokratie. Erfahrung und Deutung von politischem Engagement in der Bundesrepublik Deutschland während der 1970er und 1980er Jahre, Berlin 2018. Zitate aus Philipp Ther, »Der Neoliberalismus, Version 1.0«, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 5. Juli 2016, Online: https://doi.org/10.14765/zzf.dok.2.647.v1; Dietmar Süß, »Idee und Praxis der Privatisierung. Eine Einführung«, in: Ders. und Norbert Frei (Hg.), Privatisierung. Idee und Praxis seit den 1970er Jahren, Göttingen 2012, S. 29; Bibliographisches Institut (Hg.), »Neoliberalismus«, in: Duden Wirtschaft von A bis Z, Mannheim 2016, Online: www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/20176/neoliberalismus.

Einordnung und Ausblick

Erkenntnisgewinn der Moralischen Ökonomie Der Verzicht, ein bestimmtes normatives Verständnis vom Ökonomischen vorauszusetzen, öffnete den Blick auf jene Akteur*innen, die sich mit ihren Vorstellungen im historischen Verlauf nicht durchzusetzen vermochten. In ihrem Aufbegehren legten Arbeitende um »1968« den sozialen Kontext, in dem das Produzieren und jedes Wirtschaften stets eingebettet ist, offen, deklarierten diesen als demokratisch gestalt- und veränderbar und agierten hierin politisch. Zutage traten dabei Ansätze einer Vorstellung vom Ökonomischen, in der wirtschaftliche mit sozialen und politischen Zielen vereinbar waren; der zufolge könnten eine Verbesserung der materiellen Existenzgrundlage für die Arbeitenden und eine Maximierung der Wohlfahrt für alle Menschen, die Humanisierung der Arbeit und die Demokratisierung der Unternehmen auch ökonomisch effizient sein. Dieser Vorstellung lag ein um soziale und schwierig zu quantifizierende Aspekte erweitertes Verständnis von Effizienz, Leistung und Kosten zugrunde. Im basisdemokratischen Aufbruch wurden alternative, letztlich aber im Bereich der Utopie verbleibende Handlungsoptionen aufgezeigt und damit zugleich der Preis sowie die Verantwortlichkeiten für die stattdessen eingetretenen Entwicklungen markiert – sei es in Unternehmen, in den Organisationen der Repräsentation oder in staatlichen Einrichtungen bzw. in der Gesellschaft generell. Zeitgleich gewann die Vorstellung vom vermeintlich wert- oder ideologiefreien Wirtschaften an Bedeutung, was im Fall Süßmuth als eine Reaktion auf den basisdemokratischen Aufbruch in der Arbeitswelt um »1968« herausgearbeitet werden konnte. Die von sozialen Verpflichtungen und politischen Implikationen bereinigte »ökonomische Vernunft« galt demnach als oberste Maxime und Garant für ökonomische Effizienz, und sie hielt selbst in den Unternehmen Einzug, in denen wie jenen der Mundglasbranche nichtökonomische Praktiken eine dezidiert ökonomische Bedeutung besaßen. Es dürfte vor allem dieses Verständnis vom Ökonomischen gewesen sein, dass in Prozessen der Ökonomisierung nicht nur in Unternehmen, sondern auch in Gewerkschaften und andere vormals nicht-ökonomische Bereiche der Gesellschaft vordrang und die Entscheidungsfindung zunehmend zu prägen begann.118 Angesichts der infolge des basisdemokratischen Aufbruchs erhöhten Spannungen im mikro- wie makropolitischen Machtgefüge lag die Attraktivität dieser Vorstellung vom Wirtschaften in ihrer vermeintlichen Objektivität, mit der Entscheidungsträger ihre durch die Bewegung von unten konturierte Verantwortung von sich weisen (und in der Regel an den »Markt« delegieren) konnten. Die so definierte »ökonomische Vernunft« ermöglichte in Zeiten der »Krise« einen über politische Lager hinweg reichenden Konsens und suggerierte eine Interessenidentität sich ansonsten antagonistisch gegenüberstehender Gruppen. Bekräftigt wurden dabei die am Produktionsformat mass production orientierten Leitbilder des guten und richtigen Wirtschaftens als Grundlagen für den gesellschaftlichen Wohlstand und die parlamentarische Demokratie.119 118 119

Siehe Rüdiger Graf (Hg.), Ökonomisierung. Debatten und Praktiken in der Zeitgeschichte, Göttingen 2019. Siehe bspw. Horst Kern und Michael Schumann, »Das Ende der Arbeitsteilung? Eine Herausforderung für die Gewerkschaften«, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 1 (1985), S. 28f.

711

712

Spur der Scherben

Mit Edward P. Thompsons’ Ansatz der moral economy können die zwischen den 1960er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik (wie auch in anderen Staaten) gehäuften Arbeitskonflikte als Indizien für einen grundlegenden Wandel des Wirtschaftens im Kapitalismus – sowohl auf Ebene der Produktions- und Distributionspraktiken als auch auf Ebene der handlungsleitenden Deutungen – historisiert werden. Der Siegeszug der »Alternativlosigkeit« einer von sozialen Verbindlichkeiten und politischen (Entscheidungsund Kontroll-)Mechanismen befreiten »ökonomischen Vernunft« als zentrale Rechtfertigung der Machtkonstellationen des Neoliberalismus blieb in der Krise der Repräsentation weitgehend unwidersprochen – eben, weil dem Handeln der Repräsentanten der Arbeiter*innen selbst diese Deutung zugrunde lag. Die hieraus resultierende, bis in die Gegenwart anhaltende Schwächung einer kollektiven Interessenvertretung wirkte aus Perspektive der Unternehmen enorm effizienzsteigernd. Auf Seiten der Arbeitenden stellte diese Entwicklung indes einen fundamentalen Bruch mit ihren Gerechtigkeits-, Demokratie- und Effizienzvorstellungen dar. Anders als es Thompson für die food riots im England des 18. Jahrhunderts beschrieb,120 hatten sich Arbeiter*innen um »1968« nicht mit einem rückwärtsgewandten Appell an den Paternalismus der Autoritäten zur Erhaltung der alten Ordnung gewandt. Vielmehr waren sie für eine Demokratisierung (in und außerhalb) der Betriebe eingetreten und erlitten hierin eine umfassende Niederlage. Angesichts der Vermittlung von entscheidungsbedingten Pfadabhängigkeiten als aus dem »Strukturwandel« oder der »Krise« resultierende Sachzwänge, als von außen einwirkende und einer Naturgewalt gleichende Ereignisse, schien es für diese Entwicklungen keine Verantwortlichen zu geben. Ihre Forderungen liefen deshalb ins Leere. Den negativen Konsequenzen von unternehmerischen (Fehl-)Entscheidungen – in Form von Flexibilisierung oder Prekarisierung ihrer Arbeit bis hin zur Arbeitslosigkeit – konnten sie kaum noch etwas entgegensetzen. Der Ansatz der Moralischen Ökonomie half, anhand der Geschichte der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth und der bundesdeutschen Mundglasbranche, den basisdemokratischen Aufbruch in der Arbeitswelt um »1968« freizulegen, dessen historische Bedeutung weiter zu erforschen ist. Diese Analyseperspektive sensibilisiert für Deutungen vom Wirtschaften in ihren auch legitimierenden Funktionen, die in ihrer erkenntnistheoretischen Plausibilität vor dem Hintergrund sich ändernder Machtverhältnisse zu historisieren sind. Offen bleibt somit der Blick auf die Werte und Interessen, die dem vermeintlich wert- und ideologiefreien Wirtschaften zugrunde liegen. Offen bleibt zugleich aber auch der Blick für mögliche Alternativen in der Ausgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft, die in basisdemokratischen Aufbrüchen wie im Fall Süßmuth zutage traten und als historische Erfahrungswerte jenseits ihrer Niederlagen fortbestehen.

120 Edward P. Thompson, »The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century«, in: Past & Present 50 (1971), S. 76–136. Siehe hierzu auch Einleitung.

Danksagung

Sehr viele Menschen haben mich bei der Entstehung dieses Buchs unterstützt und inspiriert. Danken möchte ich jenen Menschen, die diese Geschichte »gemacht« haben – den Beschäftigten der Glashütte Süßmuth und der zum Vergleich herangezogenen Mundglashütten sowie ihren Unterstützer*innen – und die mir in persönlichen Begegnungen Einblicke in ihre Erinnerungen, Deutungen und teils in ihre Privatarchive gewährten. Ihrem demokratischen Aufbegehren und ihren kollektiven Suchbewegungen ist diese Arbeit gewidmet. Das Buch basiert auf einer Studie im Rahmen des Forschungsprojekts »Moralische Ökonomie? Selbstverwaltete Industrieunternehmen Westeuropas in den 1970er und 1980er Jahren« am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam unter der Leitung von Anne Sudrow. Ihr wie dem gemeinsamen Austausch mit Jens Beckmann, der zeitgleich zur Selbstverwaltung des französischen Uhrenunternehmens LIP forschte, habe ich sehr viel zu verdanken. André Steiner danke ich für die Begleitung und Begutachtung meiner Dissertation sowie Alexander Nützenadel für das Zweitgutachten. Für die Projektfinanzierung danke ich der Stiftung Bildung und Wissenschaft, dem ZZF Potsdam und der Universität Potsdam. Die Recherche zu diesem Buch führte mich durch etliche Archive, Museen und Behörden und ich danke allen Kolleg*innen, die mir den Zugang erleichterten und bei der Sichtung der Bestände halfen. Bedanken möchte ich mich insbesondere bei Dagmar Ruhlig-Lühnen und Monika Rudolph vom Glasmuseum Immenhausen, Fritz Brinkmann-Frisch vom Dokumentations- und Informationszentrum Stadtallendorf, Detlev Herbst vom Kali-Bergbaumuseum Volpriehausen sowie bei Laura Schibbe und Gilla Dölle vom Archiv der deutschen Frauenbewegung, die mich bei der Suche nach Interviewpartner*innen unterstützten. Für die verständnisvolle Zusammenarbeit und Beratung bei der Buchveröffentlichung danke ich Mirjam Galley und den Mitarbeiter*innen des transcript Verlags sowie den Herausgeber*innen der Reihe »1800 | 2000. Kulturgeschichten der Moderne« Peter Becker, Alexander C.T. Geppert, Martin H. Geyer, Maren Möhring und Jakob Tanner. Dem ZZF Potsdam, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und der Universität Potsdam danke ich sehr für die Unterstützung bei der

714

Spur der Scherben

Finanzierung des Drucks. Großer Dank geht an Maria Matschuk für das sorgfältige Lektorat und an Julia Schnegg für die Gestaltung der Grafiken. Für anregende Diskussionen, Kapitellektüre, wichtige Hinweise, Zuspruch beim Durchhalten und sonstige Hilfestellungen danke ich meinen Kolleg*innen vom ZZF Potsdam, vom Gesprächskreis Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung und vom Arbeitskreis Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West sowie meinen Freund*innen und meiner Familie – insbesondere Alexandra Fritzsch, Anna-Maria Mende, Asita Behzadi, Axel Weipert, Christiane Leidinger, Cornelia Teklenborg, Gisela Notz, Ingrid Mende, Katharina Zeiher, Kristin Schmiedl, Lea Höppner, Lisa Wildenhain, Markus Mischkowski, Nils Baratella, Rüdiger Graf, Rüdiger Hachtmann, Sascha Frank und Sebastian Stahn. Besonderer Dank gebührt Sarah Graber Majchrzak für die Unterstützung in jeglicher Hinsicht und Albert Zecheru darüber hinaus für seine Geduld, sein Verständnis und den Rückhalt.

Anhang

Abkürzungen

ACDP

Archiv für Christlich-Demokratische Politik

AdsD

Archiv der sozialen Demokratie

AfsB

Archiv für soziale Bewegungen

AfA

Ausschuss für Arbeitnehmerfragen

AGI

Archiv Glasmuseum Immenhausen

AGK

Amtsgericht Kassel

AGP

Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der Partnerschaft in der Wirtschaft e.V.

APuZ

Aus Politik und Zeitgeschichte

ASG

Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer/Sozialistischer Gewerkschafter

BAB

Betriebsabrechnungsbogen

BArch

Bundesarchiv

BDI

Bundesverband der Deutschen Industrie

BfA

Bundesanstalt für Arbeit

BfG

Bank für Gemeinwirtschaft

BetrVG

Betriebsverfassungsgesetz

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BMWi

Bundesministerium für Wirtschaft

bpb

Bundeszentrale für politische Bildung

BWA

Bayerische Wirtschaftsarchiv

BWL

Betriebswirtschaftslehre

CDA

Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft

CDU

Christlich Demokratische Union Deutschlands

ČSSR

Československá socialistická republika/Tschechoslowakische sozialistische Republik

DAF

Deutsche Arbeitsfront

DGB

Deutscher Gewerkschaftsbund

718

Spur der Scherben DGG

Deutsche Glastechnische Gesellschaft

DIZ

Dokumentations- und Informationszentrum

DKP

Deutsche Kommunistische Partei

DM

Deutsche Mark

DWG

Demokratische Wählergruppe der Alt- und Neubürger

EDV

Elektronische Datenverarbeitung

ERP

European Recovery Program

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

FAU

Freie Arbeiter*innen-Union

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

FDP

Freie Demokratische Partei

FHI

Fritz-Hüser-Institut

FR

Frankfurter Rundschau

GB/BHE

Gesamtdeutsche Partei/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten

GhK

Gesamthochschule Kassel

GHS

Glashütte Süßmuth

GKG

Gemeinnützige Kreditgarantiegenossenschaft

GLS

Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken

GmbH

Gesellschaft mit beschränkter Haftung

GoG

Gruppe oppositioneller Gewerkschafter/Gruppe ohne Grenzen

HAZ

Hannoversche Allgemeine Zeitung

HdA

Humanisierung des Arbeitslebens

Helaba

Hessische Landesbank

HHStAW

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden

HLT

Hessische Landesentwicklungs- und Treuhandgesellschaft mbH

HMdF

Hessisches Ministerium der Finanzen

HMdI

Hessisches Ministerium des Inneren

HWMi

Hessisches Wirtschaftsministerium

HNA

Hessische/Niedersächsische Allgemeine

HR

Hessischer Rundfunk

HR-Auszug

Handelsregisterauszug

HR-Eintrag

Handelsregistereintrag

HStAM

Hessisches Staatsarchiv Marburg

HTV

Hessische Treuhandverwaltung GmbH

HVG

Hüttentechnische Vereinigung der deutschen Glasindustrie

HWA

Hessisches Wirtschaftsarchiv

HWK

Handwerkskammer

IG BCE

Industriegewerkschaft Bergbau Chemie Energie

Abkürzungen IG DruPa

Industriegewerkschaft Druck und Papier

IHK

Industrie- und Handelskammer

IKB

Industriekreditbank

Jusos

Jungsozialist*innen

JRSO

Jewish Restitution Successor Organization

KAB

Katholische Arbeiternehmer-Bewegung

k.A.

keine Angaben

KBV

Kali-Bergbaumuseum Volprieshausen

KMU

Kleine und mittelgroße Unternehmen

KPD

Kommunistische Partei Deutschlands

LAA

Lastenausgleichsarchiv

LAB

Lastenausgleichsbank

LDP

Liberal-Demokratische Partei Deutschlands

LKK

Landeskreditkasse Kassel

LWL

Landschaftsverband Westfalen-Lippe

MdB

Mitglied des Deutschen Bundestags

MdL

Mitglied des Landtags

mkp.Gl

Museum Kunstpalast, Glasmuseum Hentrich

NDR

Norddeutscher Rundfunk

NH

Neue Heimat

NIÖ

Neue Institutionenökonomik

NPD

Nationaldemokratische Partei Deutschlands

NS

Nationalsozialismus

NSDAP

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

OLG

Oberlausitzer Glaswerke

ÖTV

Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr

RAF

Rote Armee Fraktion

REFA

Verband für Arbeitsstudien und Betriebsorganisation e.V.

RGO

Revolutionäre Gewerkschaftsopposition

RKW

Rationalisierungskuratorium der deutschen Wirtschaft

RM

Reichsmark

RP

Regierungspräsidium

SBZ

Sowjetische Besatzungszone

SDS

Sozialistischer Deutscher Studentenbund

SFR

Sozialistische Föderative Republik (Jugoslawien)

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SR

Sozialistische Republik

StBA

Statistisches Bundesamt

719

720

Spur der Scherben SWR

Südwestrundfunk

TDM

Tausend Deutsche Mark

Treuarbeit

Deutsche Revisions- und Treuhand-AG

VdG

Verein der Glasindustrie e.V.

VEBA

Vereinigte Elektrizitäts- und Bergwerks-AG

VHW

Vertretung der Heimatvertriebenen- und Flüchtlingswirtschaft e.V.

VKI

Verein der Keramischen Industrie e.V.

VR

Volksrepublik

VR-Eintrag

Vereinsregistereintrag

Vwst.

Verwaltungsstelle

w.A.

widersprüchliche Angaben

WABW

Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg

WBG

Wärmetechnische Beratungsstelle der Deutschen Glasindustrie

WDR

Westdeutscher Rundfunk

WTH

Wiesenthalhütte

WTO

Workers Takeover

WWI

Wirtschaftswissenschaftliches Institut

ZEFYS

Zeitungsinformationssystem, Zeitungsportal der Staatsbibliothek zu Berlin

Tabellen

Tabelle 1: Übersicht Glashütte Süßmuth und Vergleichsunternehmen Firmenname

Standorte

Eigentumsverhältnisse

Glashütte Süßmuth

1924–1945 Penzig, Schlesien 1924–1970 Familie Süßmuth (heute: Pieńsk) 1970–1977 Verein der Beschäftigten 1946–1996 Immenhausen, Hessen 1978–1989 Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung und Neuguss Verwaltungs-GmbH 1989–1996 [Gunter Kapp] und [Lothar Rupp] → Konkurs

1 Kristallglaswerk Hirschberg

1923–1945 Hirschberg, Schlesien (heute: Jelenia Gorá) 1948–1958 Essen-Karnap, Nordrhein-Westfalen 1958–1974 (Stadt)Allendorf, Hessen

1923–1937 Kristallglaswerk Hirschberg AG 1938–1972 Ruhrglas AG / Veba Glas AG 1972–1974 Carl Josef Haefeli → Konkurs

2 Glaswerk Rosenthal

1951–1984 Bad Soden, Hessen

1951–1984 Rosenthal AG → Stilllegung

seit 1962 Amberg, Bayern

1962–1995 Rosenthal AG seit 1995 Nachtmann GmbH

3 Gral-Glashütte

1930–1950 Göppingen, BadenWürttemberg 1950–1992 Dürnau, BadenWürttemberg

1933–1981 Familie Seyfang → Konkurs 1982–1987 Hubert Merk → Konkurs 1987–1992 Edgar Auer → Konkurs

4 Glashütte Wiesenthal

1868–1945 Wiesenthal an der Neiße, Nordböhmen (heute: Lučany nad Nisou) 1948–1991 Schwäbisch-Gmünd, Baden-Württemberg

1868–1975 Familie Breit 1975–1991 Schott AG → Konkurs

722

Spur der Scherben 5 Graf Schaffgotsch'sche Josephinenhütte

1842–1945 Schreiberhau, Schlesien (heute: Szklarska Poręba) 1951–1977/1979 SchwäbischGmünd, Baden-Württemberg

6 Glashüttenwerk Ernst Buder

bis 1945 Triebel, Schlesien (heute: bis 1945: k.A. Trzebiel) 1950–1974 Familie Buder → Konkurs 1950–1986 Volpriehausen, 1974–1986 Auffanggesellschaft → Konkurs Niedersachsen

7 Glashütte Eisch

seit 1946 Frauenau, Bayern

seit 1946 Familie Eisch

8 Kristallglashütte Theresienthal

seit 1836 Zwiesel, Bayern

1837–1861 Aktiengesellschaft 1861–1963 Familie von Poschinger 1963–1973 Familie von Poschinger und Max Gangkofner 1973–1982 Max Gangkofner und Hutschenreuther AG 1982–1996 Hutschenreuther AG 1997–2001 zwei Eigentümerwechsel → Konkurs 2004 Wiederaufnahme der Produktion auf Initiative der Eberhard-von-KuenheimStiftung

Quelle: Tabelle der Autorin

1842–1923 Familie von Schaffgotsch 1923–1945 Aktiengesellschaft 1951–1971 Gruppe von Fürstenberg, Gruppe Staebe, Gotthard Graf von Schaffgotsch 1972/1975–1977/1979 Gralglas → Konkurs

Tabellen

Tabelle 2: Bevölkerungsentwicklung an den Standorten der Glashütte Süßmuth und der Vergleichsunternehmen (1950–1989) Gemeinde / Einwohner*innen

1950

1961

1981

1989

Immenhausen (Süßmuth)

3.844

4.107

6.973

6.909

(Stadt) Allendorf (Hirschberg)

4.058

10.824

20.310

20.809

Bad Soden (Rosenthal)

6.567

7.626

18.331

18.609

Dürnau (Gralglas)

801

1.143

1.501

1.553

SchwäbischGmünd (Wiesenthal und Josephinenhütte)

35.968

41.050

56.808

58.892

Volpriehausen (Buder)

1.822

1.535

Eingemeindet in Uslar: 16.289

Uslar: 16.251

Frauenau (Eisch)

3.925

3.717

3.087

3.050

Zwiesel (Theresienthal)

8.347

8.068

10.411

10.349

Quelle: Tabelle der Autorin

723

724

Spur der Scherben

Tabelle 3: Umsatz- und Gewinnentwicklung der Glashütte Süßmuth und der Vergleichsunternehmen in TDM (1946–1989) Jahr

1946

Süßmuth

Hirschberg

Gralglas

Wiesenthal

Josephinenhütte

Umsatz

Gewinn

Umsatz

Gewinn

Umsatz

Umsatz

Gewinn

Umsatz

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

1947

Eisch

Gewinn Umsatz

k.A.

[18 TRM]

2

k.A.

1948

610

41

23

1949

990

75

k.A.

1950

1.100

59

62

1951

1.500

320

-4

k.A.

1952

2.000

k.A.

21

138

1953

2.500

894

-1

k.A.

1954

2.800

1.039

-17

434

1955

3.100

1.641

k.A.

k.A.

1956

3.900

1.800

75

614

1957

4.400

1.970

k.A.

1.000

1958

4.500

k.A.

107

k.A.

1959

4.500

1960 4.200 1961

4.300

1962

k.A.

∑ (19541959) =1.200

-995

∑ (19591963) = 185

1963 4.000

2.500

-944

201

k.A.

-824

k.A.

245

3.500

2.500

183

k.A.

k.A.

269

1964

3.800

-28

-130

5.600

390

1965

4.300

-66

464

6.400

490

1966 4.400

-101

489

6.500

360

1967

4.300

-142

58

4.425

5.700

350

2.800

1968 4.200

-320

-615

4.309

5.400

160

k.A.

7

-341

5.852

5.600

270

1969

4.300

Tabellen Jahr

Süßmuth

Hirschberg

Gralglas

Wiesenthal

Josephinenhütte

Eisch

Umsatz

Gewinn

Umsatz

Gewinn

Umsatz

Umsatz

Gewinn

Umsatz

Gewinn Umsatz

1970 4.400

- 429

k.A.

-333

k.A.

6.900

497

k.A.

1971

5.200

-227

7.500

k.A.

10.000

9.000

1.096

1972

6.300

186

k.A.

k.A.

12.600

2.132

4.800

1973

6.400

-48

4.800

11.400

1.271

k.A.

1974

6.500

105

k.A.

10.000

710

1975

6.000

w.A.

8.000

475

1976

k.A.

-11

8.900

317

k.A.

k.A.

1977

w.A.

12.500

10.000

208

7.200

1978

160

k.A.

10.700

282

k.A.

k.A.

14.200

10.900

-234

1980 8.300

37

13.500

11.700

268

1981

8.500

-43

k.A.

11.300

565

1982

7.500

-344

11.000

-1.700

10.800

1983

k.A.

-99

11.400

204

k.A.

k.A.

12.800

407

1985 6.000

12.600

59

1986

11.300

-774 k.A.

1979

7.900

1984 6.000

k.A.

1987

-714

10.900

1988

-505

k.A.

1989

k.A.

13.000

Quelle: Tabelle der Autorin

18.400 k.A.

725

726

Spur der Scherben

Tabelle 4: Entwicklung der Beschäftigtenzahlen in der Glashütte Süßmuth und in den Vergleichsunternehmen (1946–1989) Jahr

Süßmuth

Hirschberg

Gralglas

Wiesenthal

Josephinenhütte

Buder

Eisch

Theresienthal

1946

50

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

3

k.A.

1947

85

250

k.A.

1948

128

k.A.

4

1949

150

250

k.A.

1950

170

k.A.

1951

197

85

1952

310

111

36

1953

355

118

47

1954

346

123

57

1955

420

131

400

1956

430

146

k.A.

1957

406

161

1958

k.A.

k.A.

1959

400

1960

k.A.

340

1961

400

k.A.

1962

380

1963

k.A.

1964

343

290

1965

k.A.

290

15

5

k.A.

12

k.A. 400

100

k.A.

152 k.A.

220

300

k.A.

195 k.A.

1966

283

1967

305

1968

297

1969

269

k.A.

319

k.A. 440 326

k.A.

300

222

304

k.A.

290 271

Tabellen Jahr

Süßmuth

Hirschberg

Gralglas

Wiesenthal

Josephinenhütte

Buder

Eisch

Theresienthal

1970

250

über 300

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

272

1971

253

über 300

1972

253

220

300

1973

250

188

k.A.

1974

220

170

1975

200

1976

180

1977

170

300

1978

160

k.A.

1979

170

285

185

271

1980

160

270

k.A.

262

1981

164

180

1982

135

80

90

195

208

276

1983

120

k.A.

k.A.

157

k.A.

200

1984

117

1985

111

1986

111

1987

102

40

80

258

1988

w.A.

k.A.

k.A.

k.A.

1989

50

Quelle: Tabelle der Autorin

242

242

199

250

k.A.

249

100

240

250

145

222

190

k.A.

243

k.A.

191

243

k.A.

262

250

k.A.

k.A.

140

727

Personenverzeichnis1

[Rita Abel]

GHS: kaufmännische Angestellte, Gesellschafterin (1974–1977), Beiratsmitglied (1974–1976), Verkaufsleiterin Beleuchtungsglas (1976–1977).

[Walter Albrecht]

GHS: Leiter des Fertigwarenlagers (1952–1976), Gesellschafter (1970–1977), Beiratsmitglied (1974–1976).

Hans-Jürgen Allendörfer

CDU-Kreisverband Hofgeismar.

Walter Arendt

SPD; Bundesarbeitsminister (1969–1976).

Rudi Arndt

SPD; Hessischer Wirtschaftsminister (1964–1970).

Friedrich-Karl Baas

Kunstlehrer; Glasmuseum Immenhausen: Leiter (1987–2007).

Carl Backhaus

Unternehmer; GHS: stellvertretender Beiratsvorsitzender (1970–1976).

Hans Theo Baumann

Gestalter.

Siegfried Baumer

Glashütte Buder: Ziseleur, Betriebsrat.

Werner Beck

IG Chemie Bezirk Hessen: Leiter (ab 1982).

[Margrit Becker]

GHS: Einträgerin, Packerin, Rauschleiferin, Endkontrolleurin.

[Thomas Beike]

IG Chemie Bezirk Hessen.

[Heinrich Berger]

GHS: Glasmacher.

Winfried Berger

SPD: AfA Hessen-Nord.

[Rudolf Betz]

Neuguss Verwaltungs-GmbH: Geschäftsführer; GHS: Aufsichtsratsmitglied (1979–1986); Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung: Vorstandsmitglied (1982–1995).

Maurice Blumenfeld

Freier Handelsvertreter.

[Klaus Boehm]

IG Chemie Vwst. Kassel; GHS: Beiratsmitglied (1970–1976).

Karlheinz Böker

IG Chemie Hauptverwaltung.

Karl-Heinz Bolz

Glashütte Buder: Glasmacher, Betriebsrat.

1

Dieses Verzeichnis beinhaltet nur jene Personen, die in den zitierten Quellen genannt werden. Vorgestellt werden sie hier nur in den Rollen, in denen sie in den Quellen auftreten. Bei Namen in [eckigen Klammern] handelt es sich um Aliasnamen.

730

Spur der Scherben Ernst Braunschweig

Büro für Markt- und Werbeforschung Essen: Unternehmensberater und Inhaber.

Klaus Breit

WTH: Inhaber (bis 1975), Geschäftsführer (1956–1989).

[Hartmut Breuer]

GHS: Verkaufsleiter Beleuchtungsglas (ab 1977).

Willi Brune

IG Chemie Bezirk Hessen.

[Ingrid Buchholz]

GHS: kaufmännische Angestellte, Verkaufsleiterin (1980er Jahre).

[Franz Büttner]

GHS: Finanz- und Verwaltungsleiter (1950–1970).

Friedel Deventer

Grafiker.

[Bernd Dietrich]

GHS: Leiter des Rechnungswesens (1970–1971).

[Bertold Ehlers]

RKW-Landesgruppe Hessen.

Ferdinand Eichhorn

IG Chemie Hauptvorstand.

Hans Eichel

SPD; Hessischer Ministerpräsident (1991–1999).

[Johann Elze]

GHS: Prokurist, Vertriebsleiter (bis 1970), Verkaufsleiter Beleuchtungsglas (bis 1972).

Franz Fabian

IG Chemie Bezirk Hessen: Leiter (1963–1973); SPD; MdL Hessen (1970–1974); GHS: Beiratsvorsitzender (1970–1976).

Kuno Fenner

Wirtschaftsprüfer und Steuerberater.

Florian Fischer

GhK Grafik-Absolvent, Abschlussarbeit über die Selbstverwaltung der GHS (1974).

[Herbert Fischer]

GHS: Steuerberater, Aufsichtsratsvorsitzender (1979–1986); SüßmuthMitarbeiter-Stiftung: Vorstandsmitglied (ab 1977), Vorstandsvorsitzender (ab 1989).

[Wolfgang Franke]

GHS: Graveur.

[Herman Freil]

IG Bau; Sozialpfarramt der Evangelischen Landeskirche KurhessenWaldeck.

Georg Freiherr von Waldenfels

CSU; Bayerisches Wirtschaftsministerium: Staatssekretär.

Christian Gebert

Hessischer Rundfunk.

[Kurt Gebhardt]

GHS: Formenmacher, Betriebsrat (1973–1974).

Franz Geschler

WTH: leitender Angestellter.

[Karl Rubert]

Hessisches Innenministerium.

Walter Gläsner

IG Chemie Hauptverwaltung.

Erwin Grützner

IG Chemie Hauptvorstand.

Heinz Günther

Rechtsanwalt und Steuerberater.

Lothar Haase

CDU: Vorsitzender Bezirksverband Nordhessen (1962–1988), MdB (1961–1983).

[Ludwig Hager]

GHS: Betriebsleiter (bis 1969).

Jürgen Hämer

Unternehmensberater.

Alfred Härtl

SPD; HWMi: Staatssekretär (1967–1971).

Karl Hauenschild

IG Chemie Hauptvorstand: Vorsitzender (1969–1982).

Detlev Herbst

Ortschronist Volpriehausen.

Walter Hesselbach

BfG: Vorstandsvorsitzender (1958–1977).

Diether H. Hoffmann

BfG-Vorstand.

Personenverzeichnis Armin Hoffrath

SPD: AfA Hessen-Nord.

[Manfred Hübner]

GHS: Glasmacher, Gesellschafter (1970–1974).

Hans Iller

Rechtsanwalt und Notar.

Heinz Jünemann

DGB-Kreisverband Kassel.

[Gunter Kapp]

Süßmuth Glasmanufaktur: geschäftsführender Gesellschafter (1989–1996).

Heinz-Herbert Karry

FDP; Hessischer Wirtschaftsminister (1970–1981).

[Amira Kaya]

GHS: Gesellschafterin (ab 1989); Lebenspartnerin von [Gunter Kapp].

Max Kleiner

Kristallglaswerk Hirschberg: Glasmacher, Betriebsratsvorsitzender.

[Heinz Kluge]

GHS: Pförtner, Gesellschafter (1974–1975).

[Ralf Köhler]

GHS: Verkaufsleiter Wirtschaftsglas (1976–1982).

[Udo Kohler]

HWMi.

[Egon Köster]

Selbstständiger Klempner.

[Bernhard Kolbe]

GHS: Glasmacher.

[Reinhard Krämer]

GHS: Glasmacher.

Egon Kuhn

SPD; ÖTV.

[Volker Lange]

GHS: Exportleiter (bis 1977).

[Josef Lehmann]

GHS: Abteilungsleiter Feinschleiferei/Rauschleiferei.

Tidemann Ulrich Lemberg

Wirtschaftsprüfer und Steuerberater.

[Ewald Lenz]

GHS: Geschäftsführender Betriebsleiter (1970–1971).

Martin Lepper

Rechtsanwalt.

Wilhelm Leveringhaus

IG Chemie Vwst. Kassel: Geschäftsführer (1970–1984).

[Klaus Liebscher]

GHS: Schlossermeister.

Hans Löber

Glaswerk Wertheim: geschäftsführender Gesellschafter.

[Pavel Marek]

Glasingenieur.

[Harald Meier]

GHS: Carl Backhaus’ Stellvertreter im Beirat (1970–1975), Beiratsmitglied (1975–1976), Geschäftsführer und Vertriebsleiter (1976–1982).

[Jutta Meier]

GHS: Vertriebsangestellte, Gestalterin.

Horst Mettke

IG Chemie Hauptvorstand.

Wilm Mirbach

CDU Kreisverband Hofgeismar: Geschäftsführer.

[Hans Müller]

GHS: kaufmännischer Angestellter, Geschäftsführer (1969–1975).

[Ursula Müller]

Ehefrau von [Hans Müller].

Peter Paul Nahm

CDU; Bundesvertriebenenministerium: Staatssekretär (1953–1967, 1969/1970).

[Holger Neumer]

GHS: Graveur, Betriebsratsvorsitzender (1973–1974), Sprecher der Tarifkommission.

[Uwe Niemeier]

GHS: kaufmännischer Angestellter, Gesellschafter (1974–1977).

[Günter Nowak]

Josephinenhütte: Glasmacher, Betriebsratsvorsitzender.

731

732

Spur der Scherben [Paul Nowak]

GHS: Glasmacher, Sprecher der IG-Chemie-Vertrauensleute, Gesellschafter und Beiratsmitglied (1970–1973), Sprecher des technischen Ausschusses (seit 1970).

Hermann Oberhofer

IG Chemie Hauptverwaltung.

Albert Osswald

SPD; Hessischer Ministerpräsident (1969–1976).

Wolfgang Pennigsdorf

IG Chemie Hauptverwaltung.

Georg Peter

VdG: Geschäftsführer der Hauptgeschäftsstelle München.

[Erich Peters]

GHS: Abteilungsleiter Rauschleiferei (bis 1972).

[Ute Pfeiffer]

GHS: Graveurin.

Hans Pierach

Rechtsanwalt und Notar.

Ernst Platner

CDU, Vorsitz Kreisverband Kassel-Land (1968–1972).

Robert Polzer

CDU; Bundesvertriebenenministerium.

Rudolf Raimann

Glashütte Buder: Glasmacher, Betriebsratsvorsitzender.

Hermann Rappe

IG Chemie Hauptvorstand.

Heribert Reitz

SPD; Hessischer Finanzminister (1972–1984).

[Otto Rentsch]

GHS: Kölbelmacher/Kaier.

Clemens Riedel

CDU; MdB (1957–1972).

Edelhard Rock

CDU; MdB (1965–1972).

[Sabine Röder]

GHS: Glasmalerin.

[Ernst Rohde]

GHS: Schmelzmeister (bis 1970).

Karl Roth

Freier Handelsvertreter.

Dagmar Ruhlig-Lühnen

Glasmuseum Immenhausen: Leiterin (seit 2007).

[Lothar Rupp]

Süßmuth Glasmanufaktur: geschäftsführender Gesellschafter (1989–1996).

[Brigitte Schäfer]

GHS: kaufmännische Angestellte, leitende Funktion in der Lohnbuchhaltung (ab 1971), Gesellschafterin (1974–1977).

Egon Schäfer

IG Chemie Bezirk Hessen: Leiter (ab 1973).

Friedrich Robert Schebitz

Rechtsanwalt und Notar.

Werner Schepoks

IG Chemie Vwst. Kassel: Geschäftsführer (1964–1970).

[Rolf Schindler]

GHS: Glasmacher, Betriebsratsvorsitzender (1971–1973; 1980–1981; ab 1985).

[Gerhard Schinkel]

GHS: Glasmacher, Betriebsratsvorsitzender (bis 1970), Hüttenmeister (1969–1977).

[Marie Schlüter]

GHS: Glasmalerin.

Erich Schmidt

IG Chemie Vwst. Gießen: Geschäftsführer.

[Jochen Schmidt]

GHS: Glasmacher, Betriebsratsvorsitzender (1974–1980), Aufsichtsratsmitglied (1979–1986), Prokurist (1980–1989), Produktionsleiter (bis 1996); Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung: stellvertretender Vorstandsvorsitzender (1977–1985), Vorstandsvorsitzender (1985–1989).

[Gerd Schmieder]

GHS: Marketingleiter (1980er Jahre).

Personenverzeichnis [Jürgen Schmitz]

GHS: kaufmännischer Angestellter, Gesellschafter (1970–1973), Beiratsmitglied (1970–1973), Vertriebsleiter (1971–1975).

Heinrich Schneider

SPD; Hessischer Innenminister (1955–1969).

Erasmus Schöfer

Journalist und Schriftsteller, Werkkreis Literatur der Arbeitswelt.

[Edith Scholz]

Ehefrau von [Konrad Scholz].

[Konrad Scholz]

GHS: kaufmännischer Angestellter, Gesellschafter (1973–1977), Finanzleiter (1976–1982), Aufsichtsratsmitglied (1979–1982), Geschäftsführer (1982–1989); Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung: Geschäftsführer (1977–2011).

[Dieter Schrödter]

GHS: Glasmacher.

[Heinz Schrödter]

GHS: Glasmacher, Abteilungssprecher Hütte (ab 1970), Betriebsrat (1973–1974).

[Rosa Schrödter]

Ehefrau von [Dieter Schrödter].

[Karl Schubert]

GHS: Glasschleifer, Betriebsrat (ab 1974).

Wolfgang Schultze

IG Chemie Hauptvorstand.

Hans Schütz

Kirchliche Hilfsstelle München.

Hans See

Sozialwissenschaftler.

Rudolf Segall

IG Chemie Bezirk Hessen.

Florian Seiffert

Gestalter.

Heinz Dieter Simon

Schott Zwiesel AG Vorstand.

Ulrich Stang

DKP, Stadtverordneter Marburg.

Manfred Striegel

Rechtsanwalt und Notar.

Hans Stürm

Filmemacher.

Margarete Süßmuth

Ehefrau von Richard Süßmuth.

Richard Süßmuth

GHS: Unternehmensgründer, geschäftsführender Inhaber und künstlerischer Leiter (1946–1970).

Charlotte Tangerding

Südstahl GmbH: Gründerin und Inhaberin.

[Anna Thiele]

GHS: Rauschleiferin, Abteilungssprecherin (ab 1970), Betriebsrätin (1973–1974).

[Torsten Tiegel]

IG Chemie Hauptverwaltung; GHS: Aufsichtsratsmitglied (1987–1989).

Alfred Trepte

Freier Handelsvertreter.

[Gisela Ulbricht]

GHS: Einträgerin, Vertriebsangestellte.

[Ria Ulrich]

GHS: Sprengerin, Gesellschafterin (1974–1977), Vertriebsangestellte (ab 1977).

[Max Ulrich]

GHS: Glasmacher.

Hermann Unterhinninghofen

IG Chemie Hauptverwaltung.

Albert Vietor

NH: Vorstandsvorsitzender (1963–1982).

Werner Vitt

IG Chemie Hauptvorstand: Stellvertretender Vorsitzender (1969–1988); GHS: Beiratsmitglied (1970–1975).

Bernhardt Vocke

SPD; Bürgermeister von Immenhausen (1953–1981).

[Dieter Vogt]

HWMi: Oberregierungsrat (ab 1969), HLT-Geschäftsführer (1969–1972); GHS: Beiratsmitglied (1970–1976).

733

734

Spur der Scherben [Sabine Vogt]

Ehefrau von [Dieter Vogt].

[Willi Voigt]

GHS: Glasschleifer, Magazinleiter (1964–1976), Vorsitzender der Gesellschafterversammlung (1970–1975).

Heinz Voßhenrich

IG Chemie Hauptvorstand.

Rudi Walther

SPD, MdB (1972–1994).

[Frank Weber]

GHS: Glasmaler, Gesellschafter (1970–1977), Vorsitzender der Gesellschafterversammlung (1975–1977), Beiratsmitglied (1973–1977), Betriebsratsvorsitzender (1981–1985), Aufsichtsratsmitglied (1982–1985); Süßmuth-Mitarbeiter-Stiftung: Vorstandsvorsitzender (1977–1985).

[Monika Weber]

GHS: Kühlbandabnehmerin.

Peter Weith

IG Chemie Vwst. Hann. Münden.

[Detlef Wenzel]

GHS: Werksmeister (1976–1983).

[Helga Wermke]

GHS: Rauschleiferin, Sprengerin, Kühlbandabnehmerin.

Werner Wiegand

Stadtverordnetenversammlung Immenhausen: Vorsitzender.

[Michael Wiege]

RKW: Unternehmensberater.

[Horst Wilke]

GHS: Glasmacher, Hüttenmeister (1962–1970).

[Rudolf Woge]

GHS: Betriebsleiter (ab 1971).

Dieter von Würzen

BMWi: Staatssekretär.

[Fritz Ziegler]

GHS: Glasmacher, Gesellschafter (1970–1974).

Georg August Zinn

SPD; Hessischer Ministerpräsident (1950–1969).

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6 und 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16:

Fertigungsprozess und Arbeitsabläufe in der Glashütte Süßmuth ......... 58 Generatorwärter bei der Arbeit .......................................... 63 Die Arbeit an den Öfen .................................................. 65 Einträger am Kühlband.................................................. 69 Arbeiter*innen in der Rauschleiferei..................................... 70 Feinschleifer bei der Arbeit; Graveure bei der Arbeit ..................... 72 Formenmacher beim Drechseln ......................................... 74 Kelchglasserie AE mit Strahlenschliff .................................... 87 Luftaufnahme vom Betriebsgelände der Glashütte Süßmuth (1957)........ 90 Unternehmensbereiche der Glashütte Süßmuth .......................... 92 Demonstration der Süßmuth-Belegschaft durch Immenhausen (6. März 1970) ...................................................................164 Das Modell Süßmuth ....................................................248 Das Ausschusskonzept .................................................. 251 Becherglasserie Meteor ................................................. 411 Rechtskonstruktion der Glashütte Süßmuth GmbH (1978–1986) ............ 571

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Übersicht Glashütte Süßmuth und Vergleichsunternehmen..........................721 Tabelle 2: Bevölkerungsentwicklung an den Standorten der Glashütte Süßmuth und der Vergleichsunternehmen (1950–1989) ................................................723 Tabelle 3: Umsatz- und Gewinnentwicklung der Glashütte Süßmuth und der Vergleichsunternehmen in TDM (1946–1989).........................................725 Tabelle 4: Entwicklung der Beschäftigtenzahlen in der Glashütte Süßmuth und in den Vergleichsunternehmen (1946–1989) ................................................727 Tabelle 5: Belegschaft der Glashütte Süßmuth (September 1969) ..............................105 Tabelle 6: Geschäftsführung der Glashütte Süßmuth (1946–1989) ..............................262 Tabelle 7: »Gewinn- und Verlustrechnung« der Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth ......492

Archive und unveröffentlichte Quellen

Archiv der Arbeitsgemeinschaft Partnerschaft in der Wirtschaft (AGP), Kassel AGP-Mitteilungen Mitgliedsverzeichnis Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), Bonn SPD Hessen-Nord und Hessen-Süd (unverzeichnet) SPD Kassel-Land (unverzeichnet) Jusos Kassel-Stadt und Kassel-Land (unverzeichnet) 1/RAAB Rudi Arndt 1/WVAA Werner Vitt Archiv Deutsches Museum, München Firmenschriften Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), Sankt Augustin 01–094 Clemens Riedel 01–374 Lothar Haase 01–401 Edelhard Rock 02–154 Kreisverband Kassel-Land 03–020 Landesverband CDU Hessen 04–032 CDA Hessen 05–008 CDU-Landtagsfraktion Hessen Archiv für soziale Bewegung (AfsB), Bochum IG Chemie-Papier-Keramik (unverzeichnet) Archiv Glasmuseum Immenhausen (AGI) Glashütte Süßmuth (unverzeichnet) Archive hessischer Behörden Archiv Hessisches Finanzministerium (HMdF) Wiesbaden

740

Spur der Scherben

Archiv Handelsregister im Amtsgericht Kassel (AGK) Archiv Stiftungsaufsicht Regierungspräsidium (RP) Kassel Bayerisches Wirtschaftsarchiv (BWA), München F 064 Kristallglashütte Theresienthal K 008 IHK Oberfranken S 014–166 Verein der Glasindustrie e.V., München S 014–212 Bundesverband Glasindustrie e.V., Düsseldorf Bundesarchiv (BArch), Koblenz B 102 Bundesministerium für Wirtschaft B 149 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung B 150 Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte Z 4 Länderrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes Z 18 Kirchliche Hilfsstelle München Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ), Stadtallendorf 4016/18 Glasindustrie GmbH Adolf Stubbe 247. R 147 Aufbaugesellschaft Allendorf GmbH 206. R 106 Glaswerke Ruhr der Stinnes AG I 207. R 107 Glaswerke Ruhr der Stinnes AG II Max Kleiner Fritz-Hüser-Institut (FHI), Dortmund Schöf Erasmus Schöfer Stiftung Museum Kunstpalast, Glasmuseum Hentrich (mkp.Gl), Düsseldorf mkp.Gl-A 1-Gral Gral-Glashütte mkp.Gl-A 1-Süss Glashütte Süßmuth mkp.Gl-A 1-Wies Glashütte Wiesenthal Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW) 502 Hessischer Ministerpräsident, Staatskanzlei 507 Ministerium für Wirtschaft und Verkehr 2064 DGB Bezirk Hessen Hessisches Staatsarchiv Marburg (HStAM) 180 Landkreis Hofgeismar 330 Gemeinde Immenhausen 401 Regierungsbezirk Kassel 405 Landratsamt Kassel Hessisches Wirtschaftsarchiv (HWA), Darmstadt 3 IHK Frankfurt am Main 8 IHK Kassel

Archive und unveröffentlichte Quellen

9 IHK Limburg 10 IHK Offenbach Kali-Bergbaumuseum Volprieshausen (KBV) Glashüttenwerk Ernst Buder (unverzeichnet) Lastenausgleichsarchiv (LAA), Bundesarchiv Außenstelle Bayreuth ZLA 1 Lastenausgleichsakte Richard Süßmuth Stadtarchiv Kassel S 1 Richard Süßmuth S 5 Glashütte Süßmuth S 5 IG Chemie Kassel Stadtarchiv Marburg S 4 SM DKP Marburg Steeler Archiv, Essen Glashütte Wisthoff Rundfunkanstalten Archiv Hessischer Rundfunk, Frankfurt am Main Archiv Norddeutscher Rundfunk, Hamburg Archiv Südwestrundfunk, Stuttgart Archiv Westdeutscher Rundfunk, Köln Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg (WABW), Stuttgart B 164 Graf Schaffgotsch’sche Josephinenhütte

741

Literatur und veröffentlichte Quellen1

Udo Achten, Flächentarifvertrag und betriebsnahe Tarifpolitik. Vom Anfang der Bundesrepublik bis in die 1990er Jahre, Hamburg 2007. Ralf Ahrens, »Eine alte Industrie vor neuen Herausforderungen. Aufbrüche und Niedergänge im ost- und westdeutschen Maschinenbau seit den 1960er Jahren«, in: Werner Plumpe und André Steiner (Hg.), Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960–1990, Göttingen 2016, S. 55–119. Ulrich von Alemann (Hg.), Partizipation, Demokratisierung, Mitbestimmung. Problemstand und Literatur in Politik, Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft. Eine Einführung, Opladen 1975. Elmar Altvater und Nicola Sekler (Hg.), Solidarische Ökonomie. Reader des Wissenschaftlichen Beirats von Attac, Hamburg 2006. Knud Andresen, Linde Apel und Kirsten Heinsohn (Hg.), Es gilt das gesprochene Wort. Oral History und Zeitgeschichte heute, Göttingen 2015. Knud Andresen, Ursula Bitzegeio und Jürgen Mittag, »Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) im Wandel. Problemfelder und Fragestellungen«, in: Dies. (Hg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitswelten, Bonn 2011, S. 7–23. Knud Andresen, Michaela Kuhnhenne, Jürgen Mittag u.a. (Hg.), Der Betrieb als sozialer und politischer Ort. Studien zu Praktiken und Diskursen in den Arbeitswelten des 20. Jahrhunderts, Bonn 2015. Knud Andresen, Ursula Bitzegeio und Jürgen Mittag (Hg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitswelten, Bonn 2011. Arbeiterselbsthilfe Krebsmühle, Acht Jahre Betriebe in Selbstverwaltung, Oberursel 1983. Arbeitsgruppe Genossenschaftswesen/Genossenschaftsrecht, »Anders Arbeiten, anders Leben«, in: Vorstand der SPD (Hg.), Selbstbestimmt arbeiten. Materialien zum Genossenschaftswesen und zur Selbstverwaltungswirtschaft, Bonn 1985, S. 19–32. Arbeitswissenschaftliches Institut der Deutschen Arbeitsfront (Hg.), »Glas als Austauschstoff«, in: DAF-Rohstoff-Dienst 26 (1939) S. 759–808. Hannah Arendt, Über die Revolution, München 19944 .

1

Sämtliche Internetquellen wurden am 30. Dezember 2022 abgerufen.

744

Spur der Scherben

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Literatur und veröffentlichte Quellen

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Sämtliche Internetquellen wurden am 30. Dezember 2022 abgerufen.

Geschichtswissenschaft Manuel Gogos

Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft DOMiD – Ein Verein schreibt Geschichte(n) 2021, 272 S., Hardcover, Fadenbindung, durchgängig vierfarbig 40,00 € (DE), 978-3-8376-5423-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5423-7

Thomas Etzemüller

Henning von Rittersdorf: Das Deutsche Schicksal Erinnerungen eines Rassenanthropologen. Eine Doku-Fiktion 2021, 294 S., kart. 35,00 € (DE), 978-3-8376-5936-8 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5936-2

Thilo Neidhöfer

Arbeit an der Kultur Margaret Mead, Gregory Bateson und die amerikanische Anthropologie, 1930-1950 2021, 440 S., kart., 5 SW-Abbildungen 49,00 € (DE), 978-3-8376-5693-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5693-4

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Geschichtswissenschaft Norbert Finzsch

Der Widerspenstigen Verstümmelung Eine Geschichte der Kliteridektomie im »Westen«, 1500-2000 2021, 528 S., kart., 30 SW-Abbildungen 49,50 € (DE), 978-3-8376-5717-3 E-Book: PDF: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5717-7

Frank Jacob

Freiheit wagen! Ein Essay zur Revolution im 21. Jahrhundert 2021, 88 S., kart. 9,90 € (DE), 978-3-8376-5761-6 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5761-0

Verein für kritische Geschichtsschreibung e.V. (Hg.)

WerkstattGeschichte 2022/2, Heft 86: Papierkram September 2022, 192 S., kart., 24 SW-Abbildungen, 1 Farbabbildung 22,00 € (DE), 978-3-8376-5866-8 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5866-2

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