Die Blätter für deutsche und internationale Politik [8 / 2023, 8 ed.]

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Die Blätter für deutsche und internationale Politik [8 / 2023, 8 ed.]

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8’23

Blätter

8’23

Einzelheft 11 € Im Abo 7,80/6,20 €

Blätter für deutsche und internationale Politik

Der ewige Berlusconi Ida Dominijanni Russlands neue Zeit der Wirren Wladislaw Subok

das blätter-sommerabo Jetzt kennenlernen und verschenken: Drei Monate für nur 15 Euro! www.blaetter.de/sommer

Das RammsteinSyndrom Sonja Eismann Revisionismus als Versuchung Norbert Frei

USA: Mit Sozialpolitik gegen China Grey Anderson Iran: Abschied von der Religion Katajun Amirpur Kita – Krise – Kollaps? Meyer-Lantzberg, Kerber-Clasen, Kutlu Untergang oder Utopie: Der Klimawandel in der Literatur Steffen Vogel

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Autorinnen und Autoren 8/2023 Katajun Amirpur, geb. 1971 in Köln, Dr. phil., Professorin für Islamische Studien sowie stellvertretende Direktorin der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg, Mitherausgeberin der „Blätter“.

Jena sowie Leiter des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Grey Anderson, Ph.D., Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Université de Caen Normandie.

Stefan Kerber-Clasen, geb. 1984, Dr. phil., Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg.

Jens Balzer, geb. 1969 in Buchholz/ Nordheide, Autor und Journalist u.a. für den „Deutschlandfunk”. Jens Becker, geb. 1964 in Frankfurt a. M., Dr. rer. soc., Referatsleiter der Abteilung Studienförderung der Hans-Böckler-Stiftung. David Begrich, geb. 1972 in Erfurt, Theologe, Mitarbeiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei Miteinander e.V. in Magdeburg.

Wir wollen reden. Über globale Ungerechtigkeit und imperiale Lebensweisen; globale Gesundheit und krankmachende Verhältnisse; globale Migration und nationale Abschottungen; globale Lieferketten und einstürzende Textilfabriken; über weltweite Krisen, transnationale Bewegungen und länderübergreifende Solidarität. Ein Podcast mit den Perspektiven von Menschen aus dem Netzwerk von medico international und darüber hinaus. Wir müssen reden. Zu hören auf Spotify, Apple Podcasts und überall, wo es Podcasts gibt.

Frank Braßel, geb. 1958 in Herne, Historiker und Germanist, längjähriger Mitarbeiter von FIAN sowie Oxfam, freier Publizist. Annette Dittert, geb. 1962 in Köln, Auslandskorrespondentin und Filmemacherin, Leiterin des ARD-Studios in London. Ida Dominijanni, geb. 1954 in Catanzaro/Italien, Philosophin, unabhängige Wissenschaftlerin und Journalistin. Vedran Dzˇihic´, geb. 1976 in Prijedor/ heutiges Bosnien-Herzegowina, Dr. phil., Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip). Sonja Eismann, geb. 1973 in Heidelberg, Literaturwissenschaftlerin, Mitbegründerin und Mitherausgeberin des „Missy Magazine“. Marcus Engler, geb. 1979 in Berlin, Dr. phil., Sozialwissenschaftler, wiss. Mitarbeiter am DeZIM-Institut.

www.medico.de/podcast

Norbert Frei, geb. 1955 in Frankfurt a. M., Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität

Bernward Janzing, geb. 1965 in Furtwangen, Geograph und Geologe, freier Journalist.

Yalçın Kutlu, geb. 1985, Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am IMU Institut Stuttgart. Albrecht von Lucke, geb. 1967 in Ingelheim am Rhein, Jurist und Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Julia Macher, geb. 1975 in Freiburg, Historikerin und Germanistin, freie Journalistin in Barcelona. Annett Mängel, geb. 1976 in Rodewisch, Politikwissenschaftlerin und Germanistin, „Blätter“-Redakteurin. Franziska Meyer-Lantzberg, geb. 1990, Politikwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hannover. Arezao Naiby, geb. 1993 in Kabul, Juristin, Redakteurin und Autorin u.a. für das Politikmagazin „Monitor“ und „WDRforyou“. Rita Schäfer, geb. 1965 in Paderborn, Dr. rer. nat., freiberufliche Afrikawissenschaftlerin, Dozentin und Beraterin für Entwicklungsorganisationen. Wladislaw Subok, geb. 1958 in Moskau, Historiker, Professor für internationale Geschichte an der London School of Economics and Political Science. Steffen Vogel, geb. 1978 in Siegen, Sozialwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Janine Walter, geb. 1989 in Neubrandenburg, Politikwissenschaftlerin, Direktorin des Regionalbüros Südliches Afrika der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Blätter für deutsche und internationale Politik

Monatszeitschrift 68. Jahrgang Heft 8/2023 Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Peter Bofinger . Ulrich Brand Micha Brumlik . Dan Diner Jürgen Habermas . Detlef Hensche Rudolf Hickel . Claus Leggewie Ingeborg Maus . Klaus Naumann Jens Reich . Rainer Rilling Irene Runge . Saskia Sassen Karen Schönwälder . Friedrich Schorlemmer Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin

INHALT 8’23

KOMMENTARE

5 Gemeinsam nach unten: Das Elend der Ampel Albrecht von Lucke 9 AfD oder: Der Kampf um die ostdeutsche Zivilgesellschaft David Begrich 13 Heizungsdebakel: Die Kommunen müssen es richten Bernward Janzing 17 Spanien auf dem rechten Weg Julia Macher 21 Geisterschiff Großbritannien: Verdrängen ohne Ende Annette Dittert 25 Kosovo, Serbien und das Appeasement des Westens Vedran Dzˇihic´

REDAKTION Anne Britt Arps Albrecht von Lucke Annett Mängel Ferdinand Muggenthaler Steffen Vogel

29 BRICS: Angriff auf den Dollar Janine Walter

ONLINE-REDAKTION Tessa Penzel

37 Simbabwe: Gewalt gegen Frauen als Machttechnik Rita Schäfer

BESTELLSERVICE Tel: 030 / 3088 - 3644 E-Mail: [email protected] WEBSITE www.blaetter.de

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2023

33 Ecuador: Vom »Guten Leben« zur Unregierbarkeit Frank Braßel

DEBATTE

41 Aus den Augen, aus dem Sinn: Flüchtlingsabwehr in der EU Marcus Engler

ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

47 Das Rammstein-Syndrom Junge Frauenkörper als Wegwerfware Sonja Eismann 55 Maskierte Ohnmacht: Berlusconi als Ikone des Populismus Ida Dominijanni 62 Revisionismus als Versuchung Die deutschen Deutungseliten und die NS-Vergangenheit Norbert Frei 77 Russlands neue Zeit der Wirren Prigoschins Putschversuch und Putins Schwäche Wladislaw Subok 83 Im Alarmzustand: Nordosteuropa und der Ukrainekrieg Jens Becker 89 Bidenomics: Mit Sozialpolitik gegen China Grey Anderson 97 Ein Land als Gefängnis Zwei Jahre Taliban-Herrschaft in Afghanistan Arezao Naiby 103 Iran und die Religion: 70 Jahre Putsch gegen Mossadegh Katajun Amirpur 111 Kita – Krise – Kollaps? Meyer-Lantzberg, Kerber-Clasen, Kutlu 117 Untergang oder Utopie: Der Klimawandel in der Literatur Steffen Vogel

AUFGESPIESST

54 Der neue Berliner Autowahn Annett Mängel BUCH DES MONATS

125 Nach Trans: Sex, Gender und die Linke Elizabeth Duval EXTRAS

45 82 128

Kurzgefasst Dokumente Zurückgeblättert, Impressum, Autoren und Autorinnen

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2023

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KOMMENTARE

Albrecht von Lucke

Gemeinsam nach unten: Das Elend der Ampel Wenigstens auf Karlsruhe ist noch Verlass: Am Ende war es nicht der Kanzler, sondern das Bundesverfassungsgericht, das ein Machtwort im ewigen Ampel-Streit sprach. Schonungslos und unbestechlich untersagte es im Eilverfahren eine zweite und dritte Lesung des umstrittenen Gebäudeenergiegesetzes (GEG) vor der Sommerpause – nachdem die FDP zuvor stolz verkündet hatte, dass es sich nach all den Korrekturen nun um ein ganz anderes Gesetz handele und damit die vorangegangene erste Lesung zur Makulatur gemacht hatte. Das Dilemma der Angelegenheit: So sehr das oberste deutsche Gericht zum Schutze des parlamentarischen Verfahrens und damit der Demokratie entschied, so sehr wird durch das desaströse Agieren der Ampelkoalition dieser Demokratie Schaden zugefügt. Mit der Karlsruher Entscheidung, das GEG wegen „rechtsmissbräuchlicher Beschleunigung“ vorerst zu stoppen, ist die Regierung an einem – vielleicht nur vorläufigen – Tiefpunkt angelangt. Denn das Scheitern des ursprünglichen GEG steht nicht nur für das Scheitern der Klimapolitik, sondern für eine nach den ersten bald zwei Jahren insgesamt gescheiterte Koalition. Kurz vor der Halbzeit dieser „Zukunftskoalition“ ist die Hoffnung zerstoben, dass dort zusammenwachsen könnte, was angeblich zusammengehört. Wir erleben stattdessen eine Ampel im permanenten Modus der Selbstblockade. Jetzt bewahrheitet sich das, was – aller Selfie-Besoffenheit zum Trotz – von Beginn an zu befürchten war: dass diese Koalitionäre über keinen tauglichen

Modus Vivendi verfügen, sondern fast immer gegen- statt füreinander spielen würden.1 Während die FDP als klassische Klientelpartei vor allem die Interessen der Bessersituierten befriedigen will, setzt die SPD primär auf den eigenen Erfolg bei der nächsten Bundestagswahl – bei zumindest klammheimlicher Freude über das Ende des Höhenflugs der Grünen als des einzigen Konkurrenten im links-mittigen Lager. In dieser primär parteitaktischen Orientierung treffen sich die Interessen von SPD und FDP: Auch den Liberalen ist in erster Linie daran gelegen, zu starke Grüne zu verhindern, damit jegliche Zweier-Koalition ausscheidet und sie auch in der kommenden Regierung dabei sein werden – ob in Jamaika oder einer weiteren Ampel. Diese rein taktischen Kalkulationen sind der Hauptgrund, warum die Grünen keine echte Wärmewende durchsetzen konnten und in den Umfragen abgestürzt sind. Anstatt den mangelhaften grünen Gesetzesentwurf und die vom Wirtschafts- und Klimaministerium zu verantwortenden inhaltlichen Fehler kooperativ zu diskutieren und zu verbessern, setzte die FDP als Fundamentalopposition in der Regierung sofort auf Konfrontation. Und anstatt entschlossen zu führen und den Streit frühzeitig zu schlichten, hüllte sich der Kanzler in Schweigen – und brachte damit zum Ausdruck, dass ihm an der Durchsetzung einer wirkungs1 Albrecht v. Lucke, Ampel auf Grün: Die sozialökologisch-liberale Illusion?, in: „Blätter“, 11/2021; ders., Nach der Wahl ist in der Qual: Die Ampel auf Rot?, in: „Blätter“, 12/2021.

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6 Kommentare vollen Klimapolitik nicht wirklich gelegen ist. Klopft man den vermeintlichen „Klimakanzler“ (Scholz über Scholz im Wahlkampf) auf seine öffentlichen umweltpolitischen Positionen in der Regierung ab, bleiben vor allem zwei Aussagen im Gedächtnis: das ignorant-schnoddrige „Nö“ auf die Frage, ob ihm ökologische Sparmöglichkeiten in der Gaskrise einfallen, und – nicht weniger aussagekräftig – das Wort „bekloppt“ für die sogenannten Klimakleber. Auch wenn es gute Gründe dafür gibt, die Aktionen der Letzten Generation als in der Sache kontraproduktiv zu kritisieren, zeigt das schnöde „bekloppt“, dass dem Kanzler das Verständnis für die Verzweiflung und das berechtigte Krisenempfinden eines Teils der jungen Generation völlig abgeht. In einer solchen Situation nicht wenigstens den Versuch zu unternehmen, Empathie aufzubringen, bringt ein dreifaches Versagen zum Ausdruck: den Unwillen, die wirkliche Dimension der Klimakrise zu verstehen, sodann die erforderlichen Maßnahmen adäquat zu erklären und, am wichtigsten, diese auch gegen die Interessen der FDP und eines erheblichen Teils der eigenen Wählerschaft durchzusetzen. Die Grünen als Verlierer So aber stehen die Grünen nach dem gescheiterten GEG als die alleinigen Verlierer da; und zugleich dürfte mit den dadurch ausgelösten wütenden Protesten eine tiefer gehende Klimapolitik bis auf weiteres wenn nicht ausgeschlossen, so doch massiv erschwert sein – zur Freude der FDP und der sie unterstützenden medialen Bataillone, insbesondere des Springer-Verlages. Symptomatisch dafür waren der Jubel und Triumphalismus der Liberalen, gemeinsam mit CDU/CSU, angesichts der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur Vertagung des GEG als einem weiteren Tiefschlag für

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die Grünen. Insofern geht die Krise der Ampel längst über die normale Halbzeitkrise jeder Koalition hinaus. In Teilen liegt dies in der Natur der Sache begründet, nämlich den divergierenden Interessen der höchst unterschiedlichen Akteure dieser Dreier-Koalition – zumal in einer historischen Krisenzeit. Grünen-Co-Chefin Ricarda Lang hat insofern Recht mit ihrer Aussage, dass die Ampel die Konflikte stellvertretend für die gesamte Gesellschaft austrägt. Die entscheidende Frage ist allerdings, wie diese Konflikte ausgetragen werden. Denn in der Ampel geschieht dies auf rein destruktive Weise, vor allem seitens der FDP. Dass eine Dreierkonstellation keineswegs immer so desaströs agieren muss wie die Ampel, bewies von 2017 bis 2022 die Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein. Sie funktionierte fast reibungslos, weil die Grünen, obwohl dort sie mit dem gegnerischen Lager aus CDU und FDP koalierten, völlig anders agierten als heute die FDP im Bund, nämlich kooperativ, und weil Ministerpräsident Daniel Günther für den erforderlichen Interessenausgleich sorgte. Die Konsequenz: Bei der letzten Landtagswahl fiel die AfD unter die Fünfprozenthürde und verpasste den Wiedereinzug ins Parlament. Im Bund erleben wir dagegen das glatte Gegenteil: einen dramatischen Niedergang der Ampel, bei gleichzeitigem Höhenflug der AfD – maßgeblich befördert durch das desaströse Erscheinungsbild der Regierung. Längst färbt deren Niedergang auch auf die Bundesländer ab, und zwar besonders dramatisch in Thüringen, der Wahlheimat des heimlich-unheimlichen rechtsextremistischen AfD-Anführers Björn Höcke: Laut jüngster Umfrage im Auftrag des MDR kommen die Rechtspopulisten dort auf 34, sämtliche Ampel-Parteien zusammen dagegen nur auf 19 Prozent (SPD 10, Grüne 5, FDP 4).2 2 Linkspartei und CDU kommen auf 20 bzw. 21 Prozent; vgl. MDR-Umfrage: AfD in Thüringen bei 34 Prozent, www.mdr.de, 5.7.2023.

Wenn man sich daher eines für das Land wünschen muss, dann einen Neustart der Ampel für die verbleibenden gut zwei Jahre. Das allerdings verlangt ein regelrecht kathartisches Moment, die Besinnung aller drei Koalitionäre darauf, dass man nur gemeinsam gewinnen kann – und daher auch den Partnern Erfolge gönnen muss. Kein »Zurück auf Los« Dieses „Zurück auf Los“ ist allerdings schon deshalb reichlich illusorisch, weil auch eine Koalition niemals in den gleichen Fluss springt. Bald zwei Jahre nach dem Beginn haben sich alle drei Parteien radikal nach unten gewirtschaftet. Die vormals guten Startbedingungen gehören längst der Vergangenheit an. Die Wahrscheinlichkeit, dass alle nur umso mehr auf eigene Rechnung spielen, ist daher weit größer als noch zu Beginn der Koalition. Schon mit Blick auf die wichtigen Landtagswahlen am 8. Oktober in Bayern und Hessen wird vor allem die FDP alles daransetzen, sich selbst zu profilieren und den Wiedereinzug in beide Parlamente zu schaffen. Darauf folgen Anfang Juni 2024 die Europa-Wahlen und dann im Herbst 2024 die so wichtigen Landtagswahlen in den drei ostdeutschen Bundesländern Brandenburg, Sachsen und Thüringen, bei denen sowohl FDP als auch Grüne um den Wiedereinzug bangen müssen. Was die Grünen betrifft, sind sie aufgrund des verkorksten GEGs und der Kampagne gegen Habecks „Heizhammer“ („Bild“) in Teilen des Ostens, aber keineswegs nur dort, regelrecht verhasst. Hinzu kommt, dass auf dem umweltpolitischen Feld bereits jetzt derartig viel verbrannte Erde hinterlassen wurde, dass es für die Partei ungemein schwer werden wird, ihre eigene Anhängerschaft insbesondere in der Klimabewegung zu befriedigen. Die Partei befindet sich faktisch in der Zange:

Kommentare

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Während erhebliche Teile der Bevölkerung nach dem GEG-Debakel jede entschiedene Klimapolitik ablehnen, wird die Kritik speziell der Umweltverbände weiter zunehmen. Man erlebt daher einen regelrecht demütig auftretenden Robert Habeck, der sich höchst selbstkritisch gibt und die Koalitionspartner förmlich anfleht, in Zukunft kooperativ zu agieren – auch weil er weiß, dass er auf Gedeih und Verderb von einer konzilianten Haltung speziell der FDP abhängig ist. Immerhin ist einem Teil der Liberalen nicht verborgen geblieben, dass die eigene aggressive Strategie gegen die Grünen zu Lasten der gesamten Ampel-Koalition geht – und damit letztlich auch zu Lasten der eigenen Partei. Derzeit ringen in der FDP zwei Fraktionen miteinander: eine eher sozialliberal ausgerichtete um den Sozialpolitiker Johannes Vogel, die auf konstruktive Verständigung mit den Grünen setzt – und eine rein populistisch-destruktive um den stellvertretenden Bundestagspräsidenten Wolfgang Kubicki und den renitenten Abgeordneten Frank Schäffler. Dabei agieren Letztere offenbar mit Duldung, wenn nicht sogar mit ausdrücklicher Unterstützung von Parteichef Christian Lindner. Der Grund dafür: Das ausgesprochen gute Ergebnis der FDP bei der letzten Bundestagswahl wurde primär mit einer AfD-light-Strategie (gegen die Coronapolitik der großen Koalition) erzielt, die die Kubicki-Fraktion seit Beginn der Ampel faktisch in eine Anti-Grünen-Politik übersetzt hat und die sie mit jeder weiteren Wahlniederlage immer mehr verschärft. Das zeigt sich exemplarisch bei Lindners Haushaltsgesetz und speziell beim Kampf um die Kindergrundsicherung. Auch hier lag, wie beim GEG, der Anfangsfehler bei den Grünen, deren Familienministerin Lisa Paus mit einer nicht ausreichend unterlegten Forderung von zwölf Mrd. Euro für die Kindergrundsicherung in die Haushaltsverhandlungen gegangen und zudem

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8 Kommentare offenbar nicht in der Lage war, frühzeitig einen klaren Finanzierungsvorschlag zu unterbreiten. Allerdings zeigte der Finanzminister ihr – und damit dem im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Projekt – mit einem „Merkposten“ von gerade einmal zwei Mrd. Euro brutalstmöglich die kalte Schulter. Zugleich fehlte den Grünen bei diesem, ihrem sozialen Prestigeobjekt die klare Unterstützung auch des Kanzlers. Anstatt mit Lisa Paus den Elterngeldbezug auf Paare von – bisher – einem gemeinsam zu versteuernden Einkommen von bis zu 300 000 Euro auf dann immer noch sehr beträchtliche 150 000 Euro zu begrenzen (was einem Bruttoeinkommen von circa 180 000 Euro entspricht), lehnte die SPD dies ab und konterte es mit der Forderung nach der – in der Sache durchaus richtigen – Abschaffung des Ehegattensplittings, allerdings im Wissen darum, dass die FDP dem ohnehin nicht zustimmen würde. An dieser Kakophonie der Vorschläge zeigt sich, dass sich die Parteien längst wieder im Wahlkampfmodus befinden und daher jedes Gesetzesvorhaben immer und zuerst auf die Verteidigung der eigenen kurzsichtig kalkulierten Interessen abklopfen werden. Und daran wird sich auch nach der Sommerpause nichts ändern, im Gegenteil: Mit Blick auf den 8. Oktober wird sich das Strampeln gegeneinander noch intensivieren. Und mit anhaltendem Versagen der Koalition dürfte der Wutpegel im Land weiter steigen und die AfD noch mehr triumphieren. Die fatale Konsequenz: Am Ende geht es weiter nach unten, und zwar keineswegs nur für die Koalition, sondern für das gesamte demokratische System. Auf der Koalition ruht daher eine immense staatspolitische Verantwortung, auch für die Zukunft kommender Generationen. Sie muss in den nächsten zwei Jahren das unter Beweis stellen, woran sie bisher völlig gescheitert ist – vernünftig zu regieren. Getreu dem so oft bloß behaupteten Leitmotiv: Erst das Land, dann die Partei.

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Ein Gutes allerdings hat die Krise: Inzwischen ist sie in aller Härte beim Kanzler angekommen, steht Olaf Scholz selbst im Mittelpunkt der Kritik. Seine ständigen fast autosuggestiven Aufrufe zu mehr „Optimismus“, „Gelassenheit“ und „Coolness“ verfangen nicht mehr, beziehungsweise erzeugen die gegenteilige Wirkung. Umso mehr wird an diesem Punkt deutlich, wie sehr es jetzt auf den Kanzler ankommt. „Ich muss daran denken, was der Feldherr Helmut Schmidt mit uns gemacht hätte, wenn wir so gezankt hätten wie die Ampel“, erinnert sich fast schon nostalgisch der frühere Innenminister Gerhart Baum (FDP).3 „Auch früher flogen die Fetzen“, so Baum weiter, „aber nicht in der Regierung, sondern zwischen Regierung und Opposition. Er [Schmidt] hätte gesagt: Setzt euch gefälligst mal an einen Tisch, und zwar ohne Papier. Und dann redet ihr, bis ihr euch einig seid. Oder ihr gebt das Projekt auf.“ Gewiss, man wird aus Olaf Scholz keinen schneidigen Redner wie Helmut Schmidt oder gar einen visionären Charismatiker vom Schlage Willy Brandts machen. Doch dass diese Koalition sich erst intern über ein Gesetzesvorhaben streitet, um sich dann auf einen gemeinsamen Entwurf zu einigen und diesen dann geschlossen zu vertreten, das ist in der Tat das Mindeste, was man von ihr erwarten darf. Bei seinem Amtsantritt hat Olaf Scholz eine „Gesellschaft des Respekts“ zu seinem Ziel erklärt. Dieser Respekt gebührt auch der Demokratie und verlangt damit nach vernünftigem Regieren, zumal in solchen Krisenzeiten. Sollte dies dem Kanzler und der Koalition weiter nicht gelingen, könnte schon bald der Punkt erreicht sein, an dem man sich für die Ampelkoalition lieber ein schnelles Ende mit Schrecken wünscht – als einen blau-braunen Schrecken ohne Ende. 3 „Teile des Bürgertums verachten die Demokratie“, www.faz.net, 27.6.2023.



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David Begrich

AfD oder: Der Kampf um die ostdeutsche Zivilgesellschaft Die AfD ist im Aufwind: Die Wahl Robert Sesselmanns zum Landrat in Sonneberg (Thüringen) und von Hannes Loth zum Bürgermeister in RaguhnJeßnitz (Sachsen-Anhalt) stattet ihre Vertreter erstmals mit direkter exekutiver Macht aus. Dies ist ein weiterer, wichtiger Schritt der Normalisierung der Partei im politischen Betrieb. Manch einer in der AfD glaubt bereits an eine blaue Welle, die sie ohne weitere Hindernisse sukzessive erst in kommunale Machtpositionen und dann in Landes- und Bundesämter spülen wird. In ihrer strategischen Kommunikation wird die AfD jedenfalls alles daransetzen, aus den kommunalen Erfolgen im Osten noch weit mehr zu machen, als diese sind. Und angesichts bundesweiter Zustimmungswerte zwischen 19 und 21 Prozent kann ihr Erfolg in der Tat nicht mehr allein aus ostdeutscher Perspektive erklärt werden – auch wenn die AfD in weiten Teilen Ostdeutschlands laut Umfragen inzwischen sogar stärkste Partei ist. Der symbolische Wert ihrer ersten beiden kommunalen Amtsträger ist für die AfD dabei mindestens ebenso wichtig wie die Tatsache der beiden erfolgreichen Wahlen. Was für die extreme Rechte dabei ganz besonders zählt, ist das Signal des Erfolgs im Vorfeld der ostdeutschen Landtagswahlen 2024 in Sachsen, Brandenburg und Thüringen. Aus Sicht der AfD stellt speziell Sonneberg den ersten Stein in einem blauen Domino dar, welches jetzt sukzessive in jenen Regionen in Gang kommen soll, in denen die AfD gute Aussichten hat, in die Stichwahl zu kommen, wie etwa im August im branden-

burgischen Seelow. Außerdem, so das Ziel, sollen die zahlreichen Kommunalwahlen 2024 die durchaus noch bestehenden Lücken in der lokalen Präsenz der AfD schließen. Zwar ist man sich im extrem rechten Vorfeld der AfD sicher, dass Sesselmann oder Loth ihre politische Agenda nicht eins zu eins werden umsetzen können.1 Doch gerade das, was lange als Schwäche der AfD galt, nämlich dass ihr die Verankerung in den Netzwerken des vorpolitischen Raumes in den Kommunen fehlt, kann sie nun als Stärke ausspielen – ihre Nicht-Zugehörigkeit zum politischen Establishment der „Altparteien“. Bis zu den Landtagswahlen im Herbst 2024 ist nun tatsächlich nicht mehr viel Zeit, um zu verstehen, was derzeit speziell im Osten passiert – und um endlich nach tauglichen Wegen zu suchen, den scheinbaren Automatismus des AfD-Erfolgs zu unterbrechen. Faktisch verfolgt die AfD sehr geschickt eine Doppelstrategie. Während sie ihre Kernwählerklientel über extrem rechte Inhalte erreicht, erzielt sie ihre Mobilisierungserfolge bei bisherigen Nichtwählern mit gezielter Anti-Establishment-Rhetorik, die jeweils thematisch an die diskursiven Gegebenheiten angepasst werden kann. Was die radikal rechten Inhalte der AfD anbelangt, ist deren weitgehende Enttabuisierung und Normalisierung in der ostdeutschen Lebenswelt ein seit zwei Jahrzehnten vielfach beschriebenes, aber – gemessen an der politischen Debatte über den Erfolg der AfD – wei1 Vgl. Benedikt Kaiser, Dammbruch in Thüringen, www.dereckart.at, 27.6.2023.

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10 Kommentare terhin völlig unverstandenes Faktum. Das wird besonders deutlich, wenn der Bundeskanzler völlig verharmlosend von einer „Schlechte-LaunePartei“ spricht. Die Zahlen der im Juni 2023 erschienenen Studie des Leipziger Else-Frenkel-Brunswik-Instituts belegen, dass bei ungefähr 20 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung eindeutig rechtsradikale Einstellungsmuster vorliegen und „dass extrem rechte Parteien mit ihren ideologischen Angeboten zahlreiche Anknüpfungspunkte in die Breite der Bevölkerung haben.“2 In ihrem Kern schreibt die Studie damit fort, was seit mehr als einem Jahrzehnt für Ostdeutschland evident ist: eine Kontinuität latent rechtsextremer Einstellungen in der mittleren Generation ostdeutscher Erwerbstätiger. Allerdings ist die gestiegene Zustimmung für rechtsextreme Einstellungsmuster nur ein Faktor, der den Aufstieg der AfD begünstigt. Am Beispiel des frisch gewählten AfD-Bürgermeisters in Raguhn-Jeßnitz lässt sich dagegen zeigen, dass das Klischee eines zu jeder Zeit im ideologischen Gewand des Rechtsextremismus auftretenden AfD-Mandatsträgers keineswegs immer zutrifft. Im Gegenteil: Hannes Loth, von Beruf Landwirt, präsentierte sich seinen Wählern als dezidiert pragmatisch und unideologisch – obwohl er seit 2013 Mitglied der AfD ist und somit jeden Schritt der Radikalisierung der Partei mitgetragen hat, sich dabei aber stets extrem rechter Äußerungen enthielt.3 Dass er in der Pandemie ein Corona-Testzentrum betrieb und zugleich den lokalen Protest gegen die Corona-Schutzmaßnahmen organisierte, wird vor Ort nicht als Ausweis von Doppelmoral und Gewinnsucht verstanden, son2 Vgl. Oliver Decker u.a., Autoritäre Dynamiken und die Unzufriedenheit mit der Demokratie, Leipzig 2023, www.efbi.de. 3 Vgl. MDR, Deutschlands erster gewählter AfD Bürgermeister: Wer ist Hannes Loth?, www. mdr.de, 3.7.2023.

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dern als Zeichen eines authentischen, glaubwürdigen Engagements für seine Mitbürger vor Ort, was ihm wiederum politischen Kredit verschaffte. Strategische Entpolitisierung Loth betonte in seinem Wahlkampf, es gehe vor Ort gar nicht um Parteipolitik, sondern um Sacharbeit im Interesse der Menschen. Diese strategische Entpolitisierung des Politischen im kommunalen Raum steht nur scheinbar im Widerspruch zur erfolgreichen Strategie des studierten Juristen Sesselmann. Bei seinem Wahlkampf um das Landratsamt in Sonneberg setzte er ganz bewusst auf bundespolitische Themen, die mit den vor Ort zu treffenden Entscheidungen nichts zu tun hatten. In beiden Fällen wählten die Kandidaten eine jeweils zu ihnen und ihrer Situation passende Strategie der Beglaubigung ihres politischen Handelns, die eines gemeinsam hat – sie hält Distanz von allem, für das die beiden vormaligen Landtagsabgeordneten hätten haftbar gemacht werden können. Sesselmann hatte keinen Einfluss auf die von ihm brachial attackierte Bundespolitik, und Loth musste bisher noch keine Verantwortung für kommunale Entscheidungen übernehmen. Das versetzte ihn in die Lage, vage Entwürfe zu präsentieren, an denen er, anders als sein Konkurrent, nicht weiter gemessen wurde. Kurzum: Letztlich agierte die Partei, vor allem im Falle Sesselmanns, mit permanenter Anklage der Etablierten bei faktisch eigener Verantwortungslosigkeit. Speziell am Beispiel Raguhn-Jeßnitz zeigt sich des weiteren: Die kritische mediale Thematisierung des extrem rechten Kontextes der AfD-Kandidaten mag moralisch geboten sein, entfaltet vor Ort jedoch keine für die AfD-Kandidaten negative Wirkung. Im Gegenteil: Die Berichterstattung über den eigenen Sozialraum wird ganz schnell als Stigmatisierung wahrge-

nommen und bestätigte so nur die ohnehin vorhandenen Ressentiments gegen den Westen, die sich so umso leichter in Zustimmung für die AfD umleiten lassen. Besonders bemerkenswert sind in diesem Kontext die Reaktionen auf das Verhalten eines bekannten Neonazis in Sonneberg. Dieser hatte nach der Stichwahl Luftballons an Kindergartenkinder verteilt, ohne dass die Betreuerinnen dagegen eingeschritten wären. Diese plumpe AfD-Propaganda führte neben massiver überregionaler Empörung und Skandalisierung umgekehrt auch zu Verharmlosung, Entpolitisierung und sogar Solidarisierung in der Region. Ein Reflex, der allzu oft gerade dann greift, wenn der mediale Eindruck erzeugt wird, Rechtsextremismus sei allein ein ostdeutsches Phänomen. Für die AfD zahlt sich speziell in Ostdeutschland heute aus, dass sie seit 2016, dem Jahr ihres erstmaligen Einzugs in den Landtag von Sachsen-Anhalt, kontinuierlich politisch Präsenz auf der Straße zeigt und dort ganz gezielt eine lokale Wut- und Ressentimentbewirtschaftung betreibt. Damit wird eine regelrechte Gegenöffentlichkeit erzeugt, die das Wählermilieu der AfD im Alltag sichtbar macht und damit immer mehr normalisiert. Dass die AfD gleichzeitig ihre Arbeit in den kommunalen Gremien und Ausschüssen vernachlässigt, sich vielfach an Sachfragen gar nicht interessiert zeigt oder durch Abwesenheit glänzt, bekommen ihre Wähler in der Regel dagegen gar nicht mit oder es interessiert sie auch nicht. Stattdessen adressiert die AfD in ihrer Kommunikation ganz gezielt jene Themen, die komplexe Sachzusammenhänge emotionalisieren, personalisieren und somit ständig neue Anlässe für Protest und Empörung schaffen. Des weiteren kommt der Partei zugute, dass die Fähigkeit der ostdeutschen Zivilgesellschaft, einen Cordon sanitaire gegen die Hegemoniebestrebungen der extremen Rechten aufzu-

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bauen, durch den Aufstieg der AfD und die Normalisierung einer rechten Öffentlichkeit deutlich geschwächt wurde. Sonneberg und Raguhn-Jeßnitz haben zudem gezeigt: Selbst eine bei Stichwahlen gestiegene Wahlbeteiligung ist inzwischen kein Garant mehr dafür, dass der Stimmenanteil für rechte Parteien sinkt. Auch in größeren Städten (Schwerin und Cottbus) konnte der jeweilige AfD-Kandidat in der Stichwahl leicht zulegen, in ländlicheren Regionen, wie Sonneberg und Raguhn-Jeßnitz, aber auch im Landkreis Oder-Spree, sogar weit deutlicher (mit Zuwächsen von 6, 11 bzw. sogar 23 Prozentpunkten). Wie opponieren gegen die AfD? Was aber sind die Folgen dieser Entwicklung? Natürlich ist ein Landrat oder Bürgermeister nicht der Kaiser von China oder Bundeskanzler, aber er kann erheblichen Einfluss auf so sensible Bereiche wie Gleichstellungspolitik, Jugendarbeit oder auch den ÖPNV nehmen. Insofern werden die Menschen nun damit leben müssen, was der Bürgermeister auf kommunaler und der Landrat auf lokaler Ebene entscheidet. Was aber passiert mit den gesellschaftlichen, etwa sexuellen Minderheiten, was mit den Zugewanderten und was auch mit den ausländischen Investoren in den neuen AfD-Hochburgen? Diejenigen, die nicht AfD gewählt haben, sind all jene, die in all ihrer Heterogenität für demokratische Kultur eintreten oder sie zu schätzen wissen. Wie aber – so die mitentscheidende Frage – lassen sich diese Menschen dabei unterstützen, die demokratische Kultur zu verteidigen, und zwar ganz konkret in Sportvereinen, Schulen, Kirchengemeinden? Denn die AfD weiß ganz genau, dass dies ihre Gegner sind. Sie kompensiert ihre mangelnde Verankerung in den sozialen Orten des vorpolitischen Raums mit zunehmendem Erfolg über eine klein-

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12 Kommentare teilige Socialmediastrategie, in der harte politische Inhalte nur eine Teilmenge all dessen bilden, was die Partei dort an weichen, alltagstauglichen Infohäppchen und Bildern bietet. Die Schwäche der anderen Parteien besteht dagegen darin, sich zu sehr darauf zu verlassen, dass die demokratischen Regeln der Institutionen selbsterklärend seien, aus sich heraus funktionierten und das eigene Handeln darin keiner gesonderten Erklärung bedürfe. Speziell in Ostdeutschland, wo das Vertrauen in die demokratischen Institutionen deutlich geringer ausgeprägt ist, ist das ein folgenreicher Fehlschluss. Im Fall der Landratswahl in Sonneberg ist die Schwäche der anderen Parteien bei der Mobilisierung in kleinstädtischen Sozialräumen brutal zu Tage getreten. Dabei ist dies im Osten ein lange bekanntes Phänomen. Der Politikwissenschaftler und vormalige stellvertretende Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Peter Reif-Spirek, hat für sein Bundesland und andere ostdeutsche Länder zu einem frühen Zeitpunkt des AfD-Erfolgs darauf hingewiesen, dass es den vermeintlich „etablierten“ Volksparteien in Ostdeutschland an Verankerung, aber auch an Organisationsstruktur und Kampagnenfähigkeit fehle, weil sie, die CDU ausgenommen, bloß in den Oberzentren agierten und weder hinreichend Interesse noch Ressourcen und politische Strategie für den ländlichen Raum haben würden.4 An diesem Befund, dass es den Parteien im Osten an regionalem Unterbau fehlt, hat sich seitdem nichts geändert. Im Gegenteil: Die personellen Ressourcen der Parteien sind weiter erodiert. Ihnen fehlt es nicht nur an Mitgliedern, sondern auch an Personen, die für Amts- und Mandatspositionen infrage kommen und dann auch kandidieren. Dass an deren Stelle vielerorts Wählervereinigungen der Freiwilligen Feuer4 Vgl. Peter Reif-Spirek, AfD oder die Krise der Repräsentation, in: „Blätter“, 5/2016, S. 25-28.

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wehr, der Schützen- oder Heimatbünde getreten sind, hat den Rückzug der demokratischen Parteien aus den Regionen zusätzlich begünstigt. Profiteur dieser Strukturschwäche anderer Parteien im Osten ist die AfD. Zudem zeichnet sich im Wahlverhalten in Ostdeutschland eine vertiefte Spaltung zwischen Metropole und Peripherie ab, bei der etwa die Grünen in wenigen ausgewählten großstädtischen Quartieren in Halle, Potsdam und Leipzig dominieren, während die AfD im jeweiligen Umland weiter auf dem Vormarsch ist. Auch wenn es beileibe keinen Erfolgsautomatismus der AfD bei den Landtagswahlen im Herbst 2024 gibt, steht doch zu erwarten, dass sie in ländlichen und mittelstädtischen Lagen Ostdeutschlands weitere Erfolge erzielen wird. Doch um ihre guten Umfrageergebnisse in echte Wählerstimmen zu verwandeln, muss die Partei in erheblichem Umfang Wähler mobilisieren, die nicht zu ihrer Kernwählerklientel gehören, mithin nicht von rechtsextremen Identitätsthemen erreicht werden. Diese Wechsel- und Nichtwähler zu erreichen, ohne die inhaltliche Agenda der AfD zu bedienen –, genau das ist die eigentliche Herausforderung für die demokratischen Parteien in Ostdeutschland. Dazu gehört, eine auf die ostdeutsche Kultur und ihre Kontexte abgestimmte politische Kommunikation zu entwickeln, die sich gezielt an jene wendet, die von Formaten der öffentlich-rechtlichen Sender ebenso wenig erreicht werden wie von der regionalen Tageszeitung. Bürgerforen auch und gerade in kleinen Orten, gezielte Arbeit mit Multiplikatoren im vorpolitischen Raum, sind dafür gute Anfänge. Ganz entscheidend aber ist es, die erprobten Formen regionaler Gemeinwesenarbeit zu stärken, damit die vor Ort handelnden demokratischen Akteure unter dem Druck der AfD nicht alleingelassen werden. Für all das ist – immerhin – bis zu den Wahlen 2024 noch ein gutes Jahr Zeit. Sie muss aber jetzt unbedingt genutzt werden.



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Bernward Janzing

Heizungsdebakel: Die Kommunen müssen es richten Das Chaos begann damit, dass die Bundesregierung den zweiten Schritt vor dem ersten plante: Schon ab dem kommenden Jahr wollte sie im Rahmen eines neuen Gebäudeenergiegesetzes (GEG) flächendeckend den Neueinbau reiner Öl- und Erdgasheizungen verbieten. Dafür schlug ihr umgehend heftige Kritik entgegen – von der überschießenden Boulevardpresse wurde diese im Begriff „Heiz-Hammer“ verdichtet.1 Notgedrungen entschärfte die Bundesregierung ihr Gesetz schließlich in einem wesentlichen Punkt: Es wurde mit dem „Gesetz für die Wärmeplanung und zur Dekarbonisierung der Wärmenetze“ gekoppelt. Das heißt: Die Vorschriften beim Heizungstausch greifen jeweils erst dann, wenn für den betreffenden Ort eine kommunale Wärmeplanung vorliegt. Denn erst diese legt offen, wo sich beispielsweise Nahwärmenetze lohnen, an die sich Anwohner anschließen könnten. So sollen nun nach den Vorstellungen der Bundesregierung bis Juni 2026 für Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern und bis Juni 2028 für alle anderen Orte kommunale Wärmepläne vorliegen. Erst dann kommen die neuen Heizungsvorschriften zur Anwendung. Durch diese Verknüpfung der beiden Gesetze gestand die Bundesregierung indirekt ein, dass allzu starre Vorgaben bei der Heiztechnik ohne lokale Datengrundlage nicht sachgerecht sind. Kluge Wärmekonzepte müssen sich immer an der örtlichen 1 Vgl. Malte Kreutzfeldt, Heizen klimaneutral: Die befeuerte Angst, in: „Blätter“, 4/2023, S. 13-16.

Siedlungsstruktur orientieren; zwingend braucht man vor der flächendeckenden Umstellung der Gebäude auf klimafreundliche Heizungen lokale Daten zum Wärmebedarf und Wärmeangebot. Damit erst ermöglicht die Wärmeplanung ein optimiertes Vorgehen – nachdem man in der Vergangenheit manchmal eher zufällig auf sinnvolle Wärmekonzepte stieß. Exemplarisch zeigt ein Beispiel aus Baden-Württemberg, wie wichtig lokale Daten sind: In Bonndorf im Schwarzwald begann das Bürgerunternehmen Solarcomplex vor Jahren mit der Planung eines Nahwärmenetzes. Auf der Suche nach möglichen Wärmeabnehmern traten die Projektierer auch an die örtliche Schinkenfabrik heran. Die Antwort des Unternehmens kam überraschend: Nein, man brauche wirklich keine Wärme, man habe selbst mehr als genug Abwärme aus der Produktion. So übernahm das Unternehmen am Ende genau die gegenteilige Rolle als jene, die ihr ursprünglich zugedacht war. Heute liefert der Betrieb einen guten Anteil der Wärme im Bonndorfer Netz. Eine sachgerechte Lösung kam also nur zustande, weil sich vor Ort Akteure die Mühe machten, die vorhandenen Potenziale auszuloten. Aber nicht überall gibt es solche Macher; auch denken die Unternehmen oft wenig darüber nach, ob es mögliche Abnehmer für ihre Abwärme gibt. Werden Städte nun verpflichtet, das Wärmeangebot und den Wärmebedarf auf ihrer Gemarkung systematisch zu kartieren, können daraus individuell optimierte Konzepte entstehen. Deswegen begrüßen Branchenakteure wie etwa der

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14 Kommentare Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft diese Vorgehensweise: „Vor Ort kann am besten entschieden werden, welche Technologie am sinnvollsten ist, um die Wärmeversorgung schnell und effizient klimaneutral zu machen.“ Für die betroffenen Kommunen steht am Anfang einer solchen Bedarfsanalyse im Rahmen der Wärmeplanung immer die Erfassung des Ist-Zustands. Dafür liefern die Daten von Energieversorgern und Schornsteinfegern das Grundgerüst – aus der Heizleistung der Kessel lassen sich die Bedarfswerte abschätzen. Vorreiter Baden-Württemberg Der Bund kann sich bei seinen Plänen übrigens auf ein Vorbild stützen: In Baden-Württemberg haben viele Städte ihre Wärmepläne schon fast oder sogar komplett fertiggestellt. Hier wurden nämlich schon im Herbst 2020 noch unter dem grünen Umweltminister Franz Untersteller die 104 größten Städte – all jene mit mehr als 20 000 Einwohnern – per Landesgesetz verpflichtet, bis Ende 2023 Wärmepläne vorzulegen. Damit gab die grün-schwarze Landesregierung den Städten im Südwesten eine Hausaufgabe, die in dieser Form in Deutschland noch immer einmalig ist. Erst mit dem jüngsten Gesetzesvorhaben aus Berlin rückte das Konzept nun deutschlandweit ins Blickfeld. Die Kommunen im Südwesten müssen einen Plan entwickeln, der für das Jahr 2050 aufzeigt, wie ihr gesamter Wärmesektor klimaneutral werden kann. Für das Jahr 2030 sind Zwischenziele zu definieren. Der betreffende Wärmeplan muss aus vier Teilen bestehen: Die ersten beiden Schritte sind eine Bestandsanalyse und eine Potenzialanalyse, aus denen dann im dritten Schritt ein Zielszenario zu entwickeln ist. Dazu gehöre, so das Umweltministerium in Stuttgart, „eine räumlich aufgelöste Beschreibung der dafür benötigten zukünftigen Ver-

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sorgungsstruktur im Jahr 2050“. Als vierter und wichtigster Teil muss eine „Wärmewendestrategie“ formuliert werden, die einen „Transformationspfad zur Umsetzung des kommunalen Wärmeplans“ umfasst. Dazu gehören „ausgearbeitete Maßnahmen, Umsetzungsprioritäten und Zeitplan für die nächsten Jahre“ sowie eine Beschreibung möglicher Maßnahmen, um die erforderliche Energieeinsparung zu erreichen. Die landeseigene Klimaschutz- und Energieagentur Baden-Württemberg (Kea-BW) unterstützte die Kommunen bei dem Projekt in fachlicher Hinsicht, auch indem sie Beratungsstellen schuf, etwa bei regionalen Energieagenturen. Das Land wiederum ersetzte den Städten die Kosten der Planung auf Basis einer Pauschale. Auch für kleinere Kommunen, die freiwillig einen Wärmeplan erstellen möchten, wurde ein Förderprogramm aufgelegt. In Baden-Württemberg müssen sich die Wärmepläne nicht unbedingt an Gemarkungsgrenzen orientieren, sondern pragmatisch an den örtlichen Strukturen. Daher taten sich die Gemeinden oft zusammen. Im südbadischen Lörrach erarbeitete man sogar einen interkommunalen Plan für den gesamten Landkreis, womit dann auch all die kleinen Gemeinden mit eingebunden wurden, die gar nicht dazu verpflichtet gewesen wären. Das Landratsamt übernahm im Rahmen dieses Musterprojekts das Projektmanagement für die 35 Gemeinden, von denen eigentlich nur drei der Pflicht zur Wärmeplanung unterlagen. Auch mittelgroße Städte taten sich in Baden-Württemberg zusammen, wenn es für sie passte. Ein Beispiel dafür sind Kornwestheim und Ludwigsburg im Großraum Stuttgart. Dort bot sich die Zusammenarbeit an, weil die beiden Städte ohnehin über ein gemeinsames Stadtwerk verfügen. Mitunter beteiligten sich auch kleinere Kommunen an der Wärmeplanung ihrer großen Nachbarn, obwohl sie nach dem Landes-

gesetz bisher gar nicht zur Wärmeplanung verpflichtet waren. Diese Kombination hatte auch die Kea-BW immer sehr propagiert, denn städtische und ländliche Gebiete ergänzen sich bei gemeinsamen Energiekonzepten oft gut. Die kommunalen Verwaltungen im Südwesten zeigen sich – nun, da sie in der Endphase ihrer Pläne stehen – mit dem Projektverlauf zufrieden. Die Vorgaben seien durchaus praktikabel gewesen, heißt es oft. Und das Ergebnis sei für die weitere Planung ausgesprochen hilfreich. Der Landkreis Lörrach beispielsweise konnte seinen Plan bereits vor Ablauf der Frist abschließen. Auch die Stadt Offenburg will ihren Wärmeplan noch im Juli beim Regierungspräsidium einreichen. Ein großer Pluspunkt der Wärmeplanungen liegt in der technologieoffenen Strategie. So kann jede Stadt eigene Ideen entwickeln, wie sie der gestellten Anforderung der Klimaneutralität gerecht werden will. Sie kann stark auf Wärmepumpen setzen, muss dann aber darlegen, aus welchen Quellen der Strom für deren Betrieb kommen soll. Möglich ist auch der Einsatz von Gas, sofern dieses als „grün“ anerkannt ist. Nicht zuletzt soll Abwärme bestmöglich eingebunden werden. Entsprechend gibt es immer mehr solcher Projekte in Baden-Württemberg: So wird beispielsweise in Rheinfelden am Hochrhein, wo das Chemieunternehmen Evonik bislang mit seiner Abwärme den Rhein heizte, diese nun über ein Nahwärmenetz an Kunden geliefert. Andere Netze nutzen Hackschnitzel oder auch Biogas als Wärmequelle; immer öfter wird auch Solarwärme aus einem Kollektorfeld eingebunden. Ideal ist das, wenn die Sonne im Sommer die Grundlast decken kann, die allein durch den Warmwasserbedarf entsteht. Dann muss man bei sommerlicher Hitze keinen Brennstoff für die Warmwasserbereitung einsetzen. Die Liste der unterschiedlichen Konzepte ist mit den genannten Beispielen längst nicht erschöpft. So wurde

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im badischen Schallstadt ein „kaltes Nahwärmenetz“ aufgebaut, um ein Wohngebiet mit 200 Wohneinheiten zu versorgen: Die Wärme stammt dabei aus dem Wasser eines großen Abwassersammlers, das im Jahresverlauf eine Temperatur zwischen zwölf und 18 Grad aufweist. Über Wärmetauscher wird die Energie an einen Wasserkreislauf übergeben und gelangt so in die Häuser. Dort wird mittels Wärmepumpe das Temperaturniveau so weit erhöht, dass es für die Heizung reicht. Damit brauchen die Häuser keine Erdbohrung, um ihrer Wärmepumpe ein ausreichend temperiertes Medium zur Verfügung zu stellen, und sie müssen auch nicht auf die zwar einfache, aber auch deutlich weniger effiziente Luftwärmepumpe zurückgreifen. Benachteiligte Pioniere? Das Wärmegesetz des Bundes könnte die größeren Städte im Südwesten also kaltlassen – sie haben ihre Hausaufgaben schließlich schon gemacht. Doch plötzlich sollte nach den Berliner Regierungsplänen den Kommunen und ihren Bürgern im Südwesten ihre Vorreiterrolle zum Nachteil gereichen. Mit der Kopplung von GEG und Wärmeplanung sollten die Bürger in den Pionier-Städten beim Heizungstausch schon ab dem kommenden Januar Regeln einhalten, für die der Gesetzgeber anderen Städten noch bis zu fünf Jahre Aufschub gewährt. Einer der betroffenen Oberbürgermeister, Marco Steffens aus dem badischen Offenburg, kritisierte die zeitweise diskutierte Regelung als „nicht in Ordnung“. Auch der Städtetag Baden-Württemberg betonte, es dürfe nicht sein, dass die Bürger im Südwesten Nachteile erleiden, nur weil ihre Städte schon weiter sind als andere. Damit stand die Bundesregierung vor dem nächsten Dilemma: Zwar ist die Kopplung des GEG an die Existenz kommunaler Wärmepläne von der Sache her vernünftig. Schließlich

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16 Kommentare kann es kaum zielführend sein, Hauseigentümer zum Einbau bestimmter Heizungstechniken zu verpflichten, wenn zuvor Optionen wie Wärmenetze vor Ort nicht einmal untersucht wurden. Es ist aber politisch unklug, wenn eine solche Regelung ausgerechnet die Wegbereiter – und eben nur diese – unter enormen Zeitdruck setzt und Entscheidungsspielräume schon zu einem frühen Zeitpunkt erheblich einschränkt. Das Problem in der Praxis: So wertvoll die kommunalen Wärmepläne für die erste Orientierung vor Ort auch sind, so reichen sie dennoch für eine sinnvolle Investitionsentscheidung des einzelnen Hauseigentümers oft noch lange nicht aus. Dazu braucht man nämlich Quartierskonzepte, die noch deutlich präziser die Handlungsoptionen darstellen. Mancher Hauseigentümer wird also selbst bei Vorliegen eines Wärmeplans in seiner Heimatgemeinde noch immer vor einer schweren Entscheidung stehen, wenn er eine neue Heizung braucht. Eine solche Entscheidung sollte man aber nicht überstürzt treffen müssen. Naturgemäß stieß dieser Sachverhalt vor allem in der Opposition auf Kritik. Andreas Jung, Sprecher für Klimaschutz und Energie der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, sprach von einer „Schieflage“ im Gesetz, wenn es Nachteile für die Vorreiter gebe, und forderte „gleiche Regeln für alle“. Aber auch die Grünen im Südwesten wollten die angedachten Regelungen ihrer Parteikollegen in Berlin nicht mittragen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann sagte, Baden-Württemberger dürften durch die frühzeitige Wärmeplanung ihrer jeweiligen Kommune keine Nachteile erleiden. Am Ende zeigte sich die Landesregierung in Stuttgart mit den Verhandlungen aber doch zufrieden: Die Kommunen könnten nun „selbst entscheiden, wann die Vorgaben des GEG ausgelöst werden“, ließ schließlich das Staatsministerium wissen.

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Doch dann kam der wahre „Heiz-Hammer“: Weil angesichts der Vielfältigkeit der Interessen die Bundesregierung im Gesetzgebungsprozess immer mehr den roten Faden verlor, wurde das Verfahren zunehmend intransparent – für die Abgeordneten, die Akteure in der Energiewirtschaft und ebenso für die Medien. Die Bundesregierung machte zugleich Tempo und wollte das GEG noch vor der Sommerpause durch Bundestag und Bundesrat bringen. Heiztheater bis zum Herbst Anfang Juli endete dieser Schweinsgalopp im Fiasko: Das Bundesverfassungsgericht stoppte auf Eilantrag eines CDU-Abgeordneten die angesetzte Abstimmung im Bundestag – und verlängerte damit das Heiztheater wohl bis in den Herbst. Vor allem für die Grünen ist das höchstrichterliche Urteil ein Desaster, weil hier nicht einfach ein politisches Detail abgewatscht wurde, sondern gleich ein sich zunehmend etablierender Politikstil: Gesetzentwürfe, die sich von Stunde zu Stunde ändern und somit den Abgeordneten wie auch der Öffentlichkeit aufgrund der Komplexität des Sachverhalts jede Chance verbauen, die Vorgänge nachzuvollziehen, sind einer Demokratie unwürdig. Oder, wie es das Gericht formulierte: „Den Abgeordneten steht nicht nur das Recht zu, im Deutschen Bundestag abzustimmen, sondern auch das Recht zu beraten.“ Dies setze „eine hinreichende Information über den Beratungsgegenstand voraus“. Und dann kommt ein Satz, der für die Hybris einer Bundesregierung steht, die das Parlament offenbar nur noch als Stimmvieh ansieht: „Die Abgeordneten müssen dabei Informationen nicht nur erlangen, sondern diese auch verarbeiten können.“2 Ein Satz für die Geschichtsbücher. Ein Satz, den sich merken sollte, wer hier im Lande Politik macht. 2 BVerfG, BvE 4/23, 5.7.2023.



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Julia Macher

In der Identitätsfalle: Spanien auf dem rechten Weg Im spanischen Wahlkampf ist keine Partei so präsent wie die rechtsextreme Vox. Seit Wochen beherrscht die Formation die Schlagzeilen. Sie setzt die Themen, über die die spanischen Medien diskutieren, und hat die konservative Volkspartei (PP) zu Zugeständnissen bewegt. Der regierenden Linkskoalition wiederum, zuvorderst dem sozialistischen PSOE, dient Vox als die Bedrohung schlechthin, als die dunkle Macht, gegen die sich Wähler mobilisieren lassen. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass Vox am 23. Juli erneut drittstärkste Kraft im spanischen Parlament werden wird, so wie bereits 2019, als sie bei den damals notwendigen zwei Wahlgängen quasi aus dem Stand erst auf über zehn Prozent und ein halbes Jahr später auf fast 16 Prozent kam. Die Konservativen, die Wahlsieger werden dürften, haben bereits angekündigt, dass sie beim wahrscheinlichen Verfehlen der absoluten Mehrheit eine Koalition mit Vox eingehen werden. Erstmals seit dem Ende der Franco-Diktatur (1939 bis 1975) säßen dann Mitglieder einer rechtsextremen Partei im spanischen Kabinett. In den Regionalregierungen in Extremadura, Valencia und Castilla y León ist das bereits jetzt Realität. Auf den Balearen verhalf Vox der Kandidatin des PP durch Enthaltung ins Amt, nach der Zusage einer ganzen Reihe von Maßnahmen. Gelungen ist der rechtsextremen Partei dieser Aufstieg durch die geschickte Besetzung von Identitätsthemen, die im stark vom Blockdenken geprägten Spanien besondere Relevanz besitzen. Groß geworden ist die 2013

von Santiago Abascal gegründete Partei, ursprünglich eine Abspaltung von der Volkspartei, durch den Katalonienkonflikt im Herbst 2017. Als Vertreter eines radikalen spanischen Nationalismus stellte sie sich an die Spitze derjenigen, die die Haltung des damals regierenden konservativen Premiers Mariano Rajoy als zu zögerlich empfanden. Neben der Abwehr der „inneren Feinde“ Spaniens, namentlich der separatistischen Strömungen in Katalonien und im Baskenland, hat Vox inzwischen ein ganzes Portfolio an Forderungen aufgestellt, über das die Partei geschickt den Unmut bestimmter Bevölkerungsgruppen kanalisiert. Damit ist Vox Spaniens neue Protestpartei, ähnlich wie vor wenigen Jahren noch die heute mitregierende linksalternative Podemos. Am meisten Rückhalt haben die Rechtsextremen derzeit bei Jungwählern: Laut spanischen Meinungsforschungsinstituten sind 12,5 Prozent der Vox-Wähler zwischen 18 und 24 Jahren alt. Unter denen, die zum ersten Mal wählen gehen, stimmen sogar 20 Prozent für die Ultrarechten. Zum Vergleich: Die regierenden Sozialisten und die konservative Volkspartei haben ihre stärkste Wählergruppe in der Altersgruppe der 65bis 74jährigen. „In den Augen vieler junger Menschen ist Vox schlicht ‚Punk‘: eine radikale Möglichkeit, ihre Opposition zum Bestehenden, zum System kundzutun“, sagt die Politologin Astrid Barrio von der Universität Valencia im Gespräch mit der Autorin. Während die Partei ihre älteren Wählerschichten mit Themen wie der „Verteidigung der

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18 Kommentare Einheit Spaniens“ erreicht, punktet sie unter jungen Männern vor allem mit ihrer Kritik an der „Gender-Politik“ der regierenden Linkskoalition. Gegen die feministische Politik Wie ihr das gelingt, lässt sich exemplarisch an der Debatte über das sogenannte „Nur Ja ist Ja“-Gesetz illustrieren. Das Gesetz, das jeden Geschlechtsverkehr, der nicht ausdrücklich einvernehmlich ist, strafrechtlich als Vergewaltigung behandelt, sollte ein Meilenstein feministischer Politik werden. Mit ihm wollte die Linkskoalition von Premier Pedro Sánchez die Politik von dessen Parteigenossen José-Luis Rodríguez Zapatero fortführen, der 2004 das Gesetzespaket zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt initiiert hatte und Spanien damit zum europäischen Vorreiter in Sachen Frauenrechte machen wollte. Doch bereits die Debatte über das „Nur Ja ist ja“-Gesetz schlug hohe Wellen. In den sozialen Netzwerken zirkulierten Memes, auf denen stand, Männer kämen künftig bereits „fürs Flirten in den Knast“ oder müssten vor dem Sex eine schriftliche Einverständniserklärung unterzeichnen lassen. Die andalusische Soziologin Carmen Ruiz Repullo ist sich sicher, dass sie gezielt gestreut wurden – aus dem Umfeld von Vox. „Egal, mit wem wir wo sprachen – der Inhalt war identisch und wurde in Interviews im Wortlaut wiedergegeben.“ Verfangen konnte das auch deshalb, weil unter jungen Männern seit einigen Jahren veraltete Geschlechterstereotype reüssieren. Laut einer Studie des Jugendforschungsinstituts FAD des Centro Reina Sofía in Madrid bezeichnet es jeder zehnte junge Mann zwischen 15 und 29 Jahren als „wahrhaft männlich“, wenn der Mann das letzte Wort hat, knapp 13 Prozent halten Gewalt gegenüber der Partnerin für gerechtfertigt. Die Existenz von strukturell bedingter, geschlechtsspe-

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zifischer Gewalt hält jeder Fünfte für „erfunden“.1 Angesichts dessen spricht die Soziologin Ruiz Repullo von einem sich gegenseitig verstärkenden System: Männliche Jugendliche und junge Männer sprängen auf diese Themen altersbedingt an – und Vox nutze das gezielt zur Stimmungsmache. Der Partei spielte zudem in die Hände, dass das Gesetz in der Praxis für die Linkskoalition zum politischen Fiasko geriet. Denn durch den gleichzeitigen Wegfall des Straftatbestands der sexuellen Nötigung konnten Hunderte verurteilte Sexualstraftäter auf vorzeitige Haftentlassung plädieren, woraufhin das Gesetz nachträglich mit den Stimmen der Opposition reformiert werden musste. Auf Wahlkampfveranstaltungen verspricht Vox-Chef Abascal nun, nicht nur das Ja-ist-Ja-Gesetz, sondern auch das Gesetz zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt zu kippen – und Frauen stattdessen „wahrhaft zu schützen“: durch eine harte Hand gegenüber Straftätern, selbstredend ohne Berücksichtigung struktureller Ungerechtigkeiten. Ganz ähnlich ist die Argumentation bei der Frage von LGBTIQ+-Rechten: „In unserem Spanien werden Schwule sich sicherer fühlen als heute, weil wir alle, die sie an Laternenpfählen aufhängen möchten, zurück in ihre Heimatländer schicken“, tönte Abascal etwa auf der Eröffnung des Vorwahlkampfes in Barcelona. Es ist ein unverhohlener Appell an tief in der spanischen Gesellschaft verwurzelte Vorurteile und Befindlichkeiten. Im Schulterschluss mit der Volkspartei konnte Vox damit bereits bei den Kommunal- und Regionalwahlen im Mai punkten. Erfolgreich entwarfen beide Parteien das Feindbild des Sanchismo. Unter diesem Etikett fassten sie alles zusammen, was ihrer Vorstellung von einer Regierung für das „wahre Spanien“ zuwiderläuft: zuvor1 FAD Centro Reina Sofia, Barómetro de Juventud y Genero, www.fad.es, September 2021.

derst die punktuelle Unterstützung von Regierungsinitiativen durch die baskische EH Bildu, in der auch die politischen Erben der 2018 aufgelösten baskischen Terrororganisation ETA sitzen, und Zugeständnisse an die katalanischen Parteien. Die herben Verluste in Rathäusern und Regionen veranlassten Sánchez schließlich dazu, die eigentlich auf September terminierten Wahlen vorzuverlegen. Versuchte der PSOE dem Bild des Sanchismo zunächst mit der Beschwörung einer protofaschistischen Bedrohung durch Vox und dem PP zu begegnen, setzten die Parteistrategen zuletzt verstärkt auf Sachargumente. In jedem seiner Fernseh- und Wahlkampfauftritte wiederholt Sánchez die sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften seiner Regierung. Zum ersten Mal seit 2008 sind weniger als 2,7 Millionen Menschen arbeitslos. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverträge befindet sich mit knapp 21 Millionen auf einem historischen Höchststand. In keinem Land der Eurozone wächst die Wirtschaft stärker, in keinem ist die Inflation niedriger: Sie liegt derzeit mit 1,6 Prozent deutlich unter dem Durchschnitt von 5,5 Prozent. „Wir machen Politik zum Wohle der gesamten Gesellschaft.“ Variationen dieses Satzes bringt Sánchez – 51 Jahre alt, studierter Betriebswirt und seit gut zwei Jahrzehnten in der Politik – in jedem Interview unter. Der gleichen Linie folgt Arbeitsministerin Yolanda Díaz mit ihrer Bewegung Sumar, unter deren Dach auch der bisherige kleinere Koalitionspartner Unidas Podemos in den Wahlkampf zieht. Sie weiß, dass eine Wiederholung der derzeitigen Linkskoalition nur möglich sein wird, wenn ihr Zusammenschluss aus 16 Parteien und Bewegungen die gesamte Wählerschaft links der PSOE erreicht. Die Arbeitsministerin, auf deren Konto unter anderem das erfolgreiche spanische Kurzarbeitsprogramm während der Pandemie und der Ausbau der Arbeits-

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rechte von Fahrradkurieren zurückgeht, gibt sich ähnlich staatstragend wie Sánchez. Das Problem bei all dem ist: Die guten makroökonomischen Zahlen kommen im Alltag vieler Spanierinnen und Spanier nicht an. Die Lebenshaltungskosten sind trotz der niedrigen Inflation gestiegen, der Verbraucherpreisindex hat sich um knapp 13 Prozentpunkte verteuert. „Auch wenn im Unterschied zur Finanzkrise 2008 während der aktuellen Krise keine Arbeitsplätze vernichtet wurden, sorgen die steigenden Kosten vor allem bei der steuerlich besonders belasteten Mittelschicht für Unzufriedenheit“, sagt Politologin Barrio. Auf Platz eins des monatlichen Sorgen-Rankings des staatlichen Meinungsforschungsinstituts CIS standen im Juni „wirtschaftliche Probleme“, gefolgt von Sorgen um das Gesundheitssystem und die Jobqualität.2 Eine Gemengelage, die, verbunden mit der Politikmüdigkeit aufgrund der sich aneinanderreihenden Krisen – von der Pandemie über den Ukrainekrieg bis hin zur in Spanien besonders stark spürbaren Klimakrise –, für Wahlenthaltungen sorgen oder sogar identitären Konzepten zum Aufschwung verhelfen könnte. Das Beispiel Valencia Was passiert, wenn Vox hier punktet, lässt sich in der Region Valencia beobachten. Dort ist die rechtsextreme Partei im Juni eine Koalition mit der konservativen Volkspartei eingegangen und stellt drei von zehn Regionalministerien: jene für Kultur, Justiz und Inneres sowie Landwirtschaft. Die Koalitionsvereinbarung lese sich „wie von Vox diktiert“, kommentierten Spaniens Analysten. Statt vom Schutz vor „geschlechtsspezifischer“ ist nur noch von „intrafamiliärer Gewalt“ die 2 CIS, Barómetro de Junio 2023, www.cis.es, Juni 2023.

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20 Kommentare Rede. Referenzen an die Klimakrise fehlen in Gänze – und das in einer landwirtschaftlich geprägten Region, die besonders unter Dürre und Extremwetter leidet. Daneben stehen erinnerungspolitische Maßnahmen wie eine Datenbank zu mutmaßlichen Fällen illegaler Kinderadoptionen während der Franco-Diktatur auf dem Prüfstand. Und Vox hat angekündigt, ein Räumungsbüro einzurichten, um mit harter Hand und „allen rechtlichen und wirtschaftlichen Mitteln“ gegen Hausbesetzer vorzugehen. Alberto Feijóo, dem um ein moderates Image bemühten Parteichef des PP, gingen diese Zugeständnisse deutlich zu weit; ein Machtwort sprach die Madrider Parteizentrale dennoch nicht. Während in anderen europäischen Ländern Brandmauern gegen rechtsextreme Parteien errichtet werden, sind die Berührungsängste von Spaniens Konservativen, ein Sammelbecken verschiedener Strömungen, traditionell gering. Das liegt zum einen an der Tatsache, dass Vox-Gründer Santiago Abascal selbst fast 20 Jahre lang PP-Mitglied war. Er ist ein politischer Ziehsohn von José María Aznar, dem ehemaligen, stramm konservativen, spanischen Ministerpräsidenten. Es liegt zum anderen aber auch am schlichten Machtkalkül. Verfehlt der PP die absolute Mehrheit, garantiert nur Vox den Einzug in den Regierungspalast Moncloa. Denn eine große Koalition ist im ideologisch gespaltenen Spanien undenkbar. Droht Spanien also ein Rechtsruck, der das Land in seinen Grundfesten erschüttert? Politologin Astrid Barrio relativiert diese Gefahr: „Der parlamentarische Alltag wird Vox schnell entzaubern“, prognostiziert sie und verweist auf Erfahrungen in Frankreich und Deutschland: „Wo die traditionellen Volksparteien Brandmauern gegen die extreme Rechte errichtet haben, ist diese gewachsen. Doch wo man versucht hat, sie in die Institutionen einzubinden, hat sich zwar der

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Diskurs verschärft, der politische Einfluss und das Wachstum dieser Parteien aber wurden begrenzt.“ Vox könnte also bald dasselbe widerfahren wie bereits Podemos, dem einstigen Hoffnungsträger der Linken: Ernüchterung durch die Macht des Faktischen und das Ende des gegenwärtigen Höhenflugs. Der harte Kern des Vox-Programms ist schlicht nicht realisierbar“, so Barrio. Die Abschaffung der autonomen Regionen oder eine radikale Einschränkung ihrer Rechte verbietet die Verfassung, deren Reform aufgrund der hohen Hürden so gut wie aussichtslos ist. Und auch eine Kehrtwende in der Klimapolitik ist wegen bindender internationaler Vereinbarungen nicht möglich. Doch die Grenzen zwischen Symbolund Realpolitik sind in Spanien fließend. Das zeigt sich vor allem in Katalonien. Der Traum von einer unabhängigen Republik scheiterte im Herbst 2017 zuvorderst an den separatistischen Parteien, die leichtfüßig eine Sezession zum Unkostenpreis versprochen hatten – ohne internationale Unterstützung, ohne Pläne für die Zeit nach dem Referendum. Ihre „Fake-Revolution“ aber hatte handfeste Folgen: Schwere Unruhen erschütterten Barcelona, die politische Spitze der Unabhängigkeitsbewegung wurde wegen Aufruhr mit bis zu 13 Jahren Gefängnis bestraft. Spanien war gespalten wie noch nie in seiner kurzen demokratischen Geschichte. Zwar begnadigte die spanische Regierung die politische Spitze der Unabhängigkeitsbewegung im Sommer 2021 und tilgte kurz darauf das Delikt „Aufruhr“ aus dem Strafgesetz. Seitdem ist das Katalonien-Thema aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Doch sowohl Vox als auch die Volkspartei haben angekündigt, diese Strafrechtsreform rückgängig zu machen. Das könnte den Konflikt erneut entfachen. Somit ist eines schon klar: Kommt es in Spanien tatsächlich zu einer konservativ-rechten Koalition, stehen dem Land unruhige Zeiten bevor.



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Annette Dittert

Geisterschiff Großbritannien: Verdrängen ohne Ende In diesem Sommer ist es sieben Jahre her, seit die Briten für den Brexit gestimmt haben. Die Zeit davor erscheint im Rückblick wie eine Ära, in der man drohende Katastrophen noch für nichts anderes hielt als ferne Zukunftsszenarien, in deren Schatten man es sich mit wohligem Schaudern gemütlich machte. Damals gab es sie noch, die berühmte „Keep calm and carry on“-Attitüde, diesen besonderen britische Stoizismus, gepaart mit einer oft leichtsinnigen Abenteuerlust. Eine Mentalität, die dazu führte, dass 52 Prozent der Inselbewohner sich auf das Brexit-Wagnis einließen in der Hoffnung, es werde am Ende schon nicht so schlimm kommen. Sieben Jahre später ist der berühmte ewige Gleichmut der Briten einer tiefgreifenden Depression über den Zustand ihres Landes gewichen. Eine deutliche Mehrheit der Briten hält den Austritt mittlerweile für einen Fehler.1 Als die BBC kürzlich zu einer großen Diskussionsrunde zum Brexit-Jahrestag einlud, konnte trotz hartnäckigen Werbens seitens der Redaktion kein einziges Regierungsmitglied dafür gewonnen werden. Selbst die radikalsten Brexiteers müssen zugeben, dass ihre Versprechen noch nicht einmal ansatzweise eingetreten sind, auch wenn sie die Schuld dafür natürlich anderen zuschieben.2 Stattdessen ist Großbritannien das einzige der G7-Länder, das sich von den Folgen der Pandemie 1 Peter Raven, One in five who voted for Brexit now think it was the wrong decision, yougov. co.uk, 17.11.2022. 2 Paul Speed, Brexit has failed says Nigel Farage, www.mirror.co.uk, 17.5.2023.

nicht hat erholen können. Auch wenn der Brexit hierfür nicht die alleinige Ursache ist, er hat jedes einzelne der bereits bestehenden strukturellen Probleme so stark vergrößert, als habe man ein Brennglas darüber gehalten. Das regierungseigene Steuerschätzungsinstitut geht davon aus, dass der EU-Austritt als solcher die Insel in den nächsten Jahren rund vier Prozent ihrer Wirtschaftsleistung kosten dürfte, Tendenz steigend. Andere Ökonomen kommen auf weit dramatischere Zahlen. All das ist kaum überraschend, sondern war von den allermeisten Wirtschaftsexperten seit Jahren vorhergesagt worden. Die eigentliche Überraschung ist die Tatsache, dass die mittlerweile offen zutage liegenden Schäden, die der Brexit dem Land zufügt, auch sieben Jahre später von keiner der großen Parteien offen diskutiert werden. Womit ein echter politischer Richtungswechsel, der wegführen würde von der Johnsonschen Post-Truth-Politik, auch sieben Jahre danach in weiter Ferne zu liegen scheint. Stattdessen geht die Fahrt mit dem Geisterschiff munter weiter. Der einstmalige Kapitän Boris Johnson scheint nun zwar endgültig von der Brücke getreten zu sein, seit ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss ihn nach monatelangen Beratungen offiziell zum Lügner erklärte, was ihm ein politisches Comeback für absehbare Zeit unmöglich machen dürfte.3 Die große Chance aber, mit diesem Bericht eine echte 3 Hannah White, The extraordinary significance of the Privileges Committee verdict on Boris Johnson, www.instituteforgovernment.org.uk, 9.6.2023.

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22 Kommentare Zäsur zum Populismus der JohnsonZeit zu setzen, hat sein Nachfolger Rishi Sunak gründlich verspielt. Als im Unterhaus die entscheidende Abstimmung über den Ausschussbericht anstand, war von Sunak nichts zu sehen. Für ein klares Statement wider den Verfall der politischen Sitten unter Johnson fehlte ihm ganz offensichtlich die Kraft. Schlimmer noch: So sehr Sunak auf den ersten Blick im Vergleich zu seinen Vorgängern als pragmatischer Technokrat und rationaler Politiker alten Stils daherkommen mag, er führt die antidemokratischen und autoritären Tendenzen, die die Tory-Partei seit dem Brexit zunehmend verfolgt, auf fast allen Ebenen fort. Am deutlichsten wird das bei seinem Versuch, gleich zwei fundamentale Menschenrechte so gut wie ganz abzuschaffen, das Asyl- und das Demonstrationsrecht. Migranten nach Ruanda Mit der von Johnson übernommenen „Ruanda-Policy“ sollen sogenannte illegale Migranten, die derzeit vermehrt in kleinen Booten an der britischen Küste landen, ohne jede richterliche Überprüfung erst festgenommen und anschließend nach Ruanda ausgeflogen werden. In ein Land, mit dem Großbritannien ein entsprechendes Abkommen hat. De facto wird ihnen damit das Recht genommen, Asyl auf britischem Boden überhaupt erst zu beantragen. Dieser Ansatz ist weder mit der Genfer Flüchtlingskonvention noch mit den Prinzipien der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar. Nachdem das nationale Berufungsgericht den Gesetzentwurf jetzt als illegal ablehnte, attackierte Sunak die Richter indirekt und ließ seine Innenministerin Braverman die Klagen der Menschenrechtsorganisationen als „phoney humanitarianism“ beschimpfen, ganz in der Tradition Johnsons, der ihm nicht genehme Anwälte und

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Richter immer wieder als „linke Aktivisten” denunziert hatte. Die Brexit-Versprechen basierten auf Lügen und konnten, nachdem der Austritt real stattgefunden hatte, naturgemäß nicht umgesetzt werden. Was in den Jahren danach folgte, war dementsprechend eine zunehmend performative Politik. Johnson blieb im Modus der permanenten Kampagne, schwungvolle Schlagzeilen und politisches Schattenboxen ersetzten die eigentliche Regierungsarbeit. Stattdessen wurden – wie beim Brexit selbst – Probleme geschaffen, die keine waren, die aber den Blick auf die realen Folgen des EU-Austritts verstellen sollten. Sunaks Ruanda-Policy folgt exakt diesem Schema. Die rund 40 000 Menschen, die derzeit jährlich in kleinen Booten auf der Insel landen, sollten für ein Land mit mehr als 67 Millionen Einwohnern eigentlich leicht zu bewältigen sein, zumal die Insel seit dem EU-Austritt unter massivem Arbeitskräftemangel leidet und viele dieser Menschen sinnvoll integrieren könnte. Die Tories nutzen das Thema stattdessen mittels einer sich ständig verschärfenden xenophoben Rhetorik, um von ihren gescheiterten Brexit-Versprechen abzulenken. Hauptsache, die polarisierende Debatte darüber hält an, und wenn man dafür die Justiz als Gegner des Volkes angreifen muss, ist das ein Preis, den Sunak ganz offenbar – genau wie Johnson – gern zu zahlen bereit ist.4 Und auch ganz konkret bewegt sich der Preis für Sunaks Polittheater bereits jetzt in schwindelerregenden Höhen. Als die Regierung kürzlich einen Report zur „Ruanda-Policy“ vorlegen musste, ergab der, dass jeder einzelne Flüchtling, der so abgeschoben würde, den Steuerzahler umgerechnet 200 000 (!) 4 Der einflussreiche Tory Tim Montgomery erklärte gar, die Gerichte unterminierten systematisch den Willen der Bürger und ihrer Regierung, eine Haltung, die kaum ein demokratisches Verständnis von Gewaltenteilung verrät. https://twitter.com/montie/status/1674476131481796609.

Euro kosten würde. Der mehrheitlich konservativen britischen Presse war das kaum eine Schlagzeile wert, ebenso wenig wie die rund anderthalb Millionen Euro Steuergelder, die Sunak bereits jetzt für die juristischen Auseinandersetzungen mit den britischen Gerichten zahlen musste. Mutlose Labour-Partei Besonders gravierend ist dabei, dass die Opposition, also die Labour-Partei unter Keir Starmer, ein gutes Jahr vor den nächsten Wahlen trotz guter Umfragewerte offensichtlich nicht den Mut hat, dieser Dynamik ernsthaft entgegenzutreten.5 Starmer kritisiert zwar die Tatsache, dass die Ruanda-Politik nicht praktikabel und zu teuer sei, scheut aber immer wieder davor zurück, eine klare moralische Gegenposition zu der xenophoben Haltung der Sunak-Regierung zu formulieren. Das macht sie nicht nur hoffähig, sondern führt auch dazu, dass das von den Tories zur Krise aufgebauschte Scheinproblem in der allgemeinen Wahrnehmung zu einem realen wird. Kurz vor dem Beginn der heißen Phase des Wahlkampfs im Herbst6 mag das große Schweigen bei diesem Thema für Labour ein taktisch richtiges Manöver sein, so macht man sich an dieser Front erst einmal unangreifbar, das Land aber bezahlt einen hohen Preis dafür. Denn letztlich verstrickt sich damit auch die Labour-Partei in die Rhetorik des illiberalen Rechtspopulismus und wird damit zum Komplizen der Tories. Deutlich zeigt sich das auch beim Umgang mit dem von der Regierung verabschiedeten sogenannten public 5 Michael Savage, Labour has clear lead over Tories in more than 100 battleground seats, poll finds, in: „The Guardian“, 10.6.2023. 6 Die nächste Wahl muss verfassungsgemäß spätestens im Januar 2025 stattfinden, die meisten Beobachter in GB gehen aber davon aus, dass sie im Frühjahr oder Herbst 2024 kommen wird.

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order act. Mit diesem Gesetz ist die Polizei angewiesen, Demonstranten bereits dann zu verhaften, wenn auch nur der Verdacht besteht, sie könnten die öffentliche Ordnung stören. Praktisch ist damit das freie Demonstrationsrecht in England ausgehebelt. Die Premiere dazu fand ausgerechnet bei der Krönung Charles III. statt, als Monarchiekritiker von der Polizei festgenommen wurden, bevor sie überhaupt nur ihre Schilder ausgepackt hatten. Demontiertes Demonstrationsrecht Man sollte meinen, dass eine Partei, die sich im weitesten Sinne als linksliberal bezeichnet, das Recht auf öffentliches Demonstrieren eigentlich entschieden verteidigen müsste. Nicht so die Labour-Partei. Führende Mitglieder erklärten, man werde dieses Gesetz selbst dann nicht zurücknehmen, wenn man die nächste Wahl gewinnen sollte. Und als die grüne Baroness Jenny Jones im Oberhaus einen Antrag gegen eine nochmalige Verschärfung des „public order acts“ stellte, waren die Labour-Peers angewiesen, sich zu enthalten, woraufhin der Antrag scheiterte.7 Die Angst der Labour-Partei, in einem durch populistische Rhetorik radikalisierten Umfeld klar für demokratische Grundprinzipien einzutreten, wird erst wirklich nachvollziehbar, wenn man sich das britische Wahlsystem ansieht. Durch das weiterhin geltende Mehrheitswahlrecht ist Starmer auf einige wenige Wahlkreise angewiesen, die es zurückzuholen gilt, wenn er die nächste Wahl gewinnen will. Dabei geht es vor allem um Wähler in der sogenannten red wall, die 2019 an Johnson und seine Brexit-Rhetorik verloren gingen, die mehrheitlich weiter dem rechten antieuropäischen 7 Josiah Mortimer, Anger as Labour Refuses to Back Bid to Stop Government Quietly Changing Definition of Disruptive Protest, www. bylinetimes.com, 8.6.2023.

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24 Kommentare Lager anhängen und die Labour für einen Wahlsieg dringend braucht. Aus dem gleichen Grund ist Starmer, wenn es um den Brexit selbst geht, mehr als defensiv. Einen Wiedereintritt in den Binnenmarkt schloss er kürzlich ohne Not prinzipiell aus. Seitdem verstrickt er sich zunehmend in Widersprüche. Schon sein zentrales Mantra, „We will make Brexit work“, ist irreführend, weil es unterstellt, dass die Idee des EU-Austritts eigentlich etwas Positives gewesen sei, was nur richtig umgesetzt werden müsse. Damit stützt Labour letztlich auch hier genau das, was die Brexiteers am rechten Rand der Tory-Partei weiter behaupten, und verwischt damit die bittere Realität, dass der Austritt als solcher ein selbstzerstörerisches Unternehmen war. Gelegentlich führt diese Taktik auch dazu, dass Starmer ganz direkt falsche Aussagen macht. Als er zum Beispiel vor einiger Zeit in einem Radiointerview gefragt wurde, ob es der britischen Wirtschaft denn nicht besser ginge, wenn man wieder dem Binnenmarkt beiträte, war seine Antwort ein klares Nein. Eine echte Lüge, denn Starmer weiß natürlich, dass das nicht stimmt.8 Schäden an der Demokratie Das eigentliche Problem dieser Strategie aber liegt tiefer. Selbst wenn Starmer auf diese Weise die nächste Wahl gewinnen sollte, aus dem Sumpf der britischen Permakrise wird er das Land so kaum befreien können. Ein Labour-Chef, der sich selbst in populistischen Halbwahrheiten und Lügen verstrickt, kann den für das Land so nötigen politischen Neuanfang nicht anstoßen. Starmers gegenwärtiger Kurs birgt damit die große Gefahr in sich, dass die Parameter auf der politischen Bühne Großbritanniens stattdessen dauerhaft verschoben bleiben. Ohne 8 Amy Gibbons, Starmer claims rejoining single market would not boost economic growth, www.standard.co.uk, 5.12.2022.

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eine Rückkehr zum liberaldemokratischen Status quo ante aber dürfte auch für Starmer selbst das Regieren im Falle eines Wahlsiegs unendlich viel mühsamer werden. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Tories sich nach einer Wahlniederlage noch weiter an den ganz rechten Rand des politischen Spektrums bewegen dürften.9 Einer Partei, die daran gescheitert ist, die Versprechen ihres ideologischen Brexit-Traums in die Realität zu übersetzen, bleibt nur die radikale Flucht nach vorn. Die aktuellen Rufe aus der Tory-Partei nach einem zweiten Referendum über den Austritt aus der europäischen Menschenrechtskonvention, ein Schritt, den bislang nur Russland und Weißrussland gegangen sind, zeigen bereits jetzt, dass diese Partei durchaus bereit ist, sich den ideologischen Fanatikern in ihren Reihen zukünftig noch stärker auszuliefern, als das bislang der Fall war.10 Hinzu kommt, dass die wirtschaftlich katastrophale Situation des Landes kurz- und mittelfristig nur mit einem Wiedereintritt in den Binnenmarkt verbessert werden kann. Dafür aber hätte Starmer durch seinen defensiven Brexit-Kurs im Falle eines Wahlsiegs auf absehbare Zeit gar kein Mandat. Und so dürfte selbst im Falle eines Labour-Wahlsiegs das angeschlagene Geisterschiff Großbritannien noch lange weiter richtungslos vor sich hintreiben. Die Tatsache, dass selbst der Chef der Labour-Opposition nicht den Mut hat, auf die Brücke zu steigen, um laut und deutlich den so nötigen Kurswechsel vorzugeben, zeigt einmal mehr, wie dauerhaft geschwächt, ausgelaugt und zerrieben das Land durch die vielfältigen Folgen des Brexit auch nach sieben Jahren noch immer ist. 9 Siehe z.B. David Gauke, The National Conservatives are a glimpse of the Tories’ grim future, www.newstatesman.com, 18.5.2023. 10 Arj Singh und Katy Balls, Tories call for new UK referendum on migrants after Rwanda plan thwarted by Appeal Court, www.inews.co.uk, 30.6.2023.



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Vedran Dzˇihic´

Kosovo, Serbien und das Appeasement des Westens Viele westliche Beobachter verstehen derzeit kaum, was denn nun schon wieder am Westbalkan los ist: Noch im Februar einigten sich Serbien und der Kosovo auf einen Weg zur allmählichen Annäherung, im März folgte dann im mazedonischen Ohrid der nächste Schritt mit konkreten Abmachungen zwischen Belgrad und Pristina. Unterzeichnet haben die beiden Seiten die Vereinbarung zwar nicht, sie verpflichteten sich aber dennoch zu ihrer Umsetzung. Das verkündete zumindest der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, nach dem Treffen. Wenige Wochen später war jedoch von dem vermeintlichen Durchbruch nichts mehr zu spüren, stattdessen kam es zu einem Gewaltausbruch mit schwerverletzten KFOR-Soldaten und Hasstiraden. Beide Seiten entfernen sich nun rasend schnell wieder voneinander. Tatsächlich liegen seit dem Sommer 2022 zwischen Serbien und dem Kosovo die Nerven blank. Man stolperte von einer Krise in die nächste und bezichtigte sich gegenseitig der Eskalation. Je besorgniserregender die Lage wurde, desto stärker drängten die USA und die EU auf eine Deeskalation. In Washington und den europäischen Hauptstädten konzentrierte man sich Ende des Jahres 2022 und zu Beginn des Jahres 2023 darauf, beide Seiten an den Verhandlungstisch zu bringen, um einen großen Wurf zu versuchen – eine langfristige Entschärfung des Konflikts durch eine pragmatische Lösung, mit der sowohl Belgrad als auch Pristina leben können. Die Verhandlungsgrundlage wurde der sogenannte

deutsch-französische Vorschlag. Die vermeintliche Zauberformel darin: Nach dem Vorbild des deutsch-deutschen Grundlagenvertrags sollen sich die beiden Staaten zwar nicht anerkennen, aber auch nicht in ihrer Entwicklung behindern. Serbien solle die kosovarische Unabhängigkeit nicht mehr torpedieren, der Kosovo im Gegenzug der serbischen Minderheit breite Autonomie im Rahmen des sogenannten serbischen Gemeindeverbandes einräumen. So weit, so gut und klar. Vom Durchbruch zum Alptraum Dynamik in den Verhandlungsprozess kam im Januar 2023 nach dem Besuch eines Fünfergespanns, bestehend aus Vertretern der EU, der USA, Frankreichs, Deutschlands und Italiens, in Belgrad und Pristina. Vor allem beim serbischen Präsidenten Aleksandar Vucˇic´, so schien es, hinterließ dieser Besuch einen starken Eindruck. In einer fast schon melodramatischen Fernsehansprache kurz nach dem Besuch deutete Vucˇic´ eine Wende an: Der Druck des Westens sei zu groß, der deutsch-französische Plan für die Lösung des Konflikts zwischen dem Kosovo und Serbien müsse akzeptiert werden. Tue das Serbien nicht, so Vucˇic´, drohten der Verlust der EU-Perspektive und weitreichende wirtschaftliche Folgen. Im serbischen Parlament kam es daraufhin Anfang Februar 2023 zu tumultartigen Szenen – die rechten und prorussischen Parteien bezichtigten Vucˇic´ des Verrats an der serbischen Sache und lehnten

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26 Kommentare jeglichen Kompromiss mit dem Kosovo ab. Dennoch trafen sich Vucˇic´ und der kosovarische Premierminister Albin Kurti unter EU-Ägide zu zwei schwierigen Verhandlungsrunden im Februar und März, an deren Ende am 19. März im mazedonischen Ohrid Josep Borrell besagte Vereinbarung zur Normalisierung der Beziehungen verkündete. Der Tod der Ohrid-Vereinbarung Die Wochen nach diesem „Durchbruch“ verwandelten sich rasch in einen Alptraum. Die kosovarische Seite beschloss mit Rückendeckung des Westens, die längst fälligen Gemeindewahlen in vier mehrheitlich serbisch dominierten Gemeinden durchführen zu lassen. Diese waren nach der kosovarischen Verfassung bereits seit November 2022 notwendig, auf ausdrückliche Bitte des Westens aber verschoben. Die unter den Kosovoserben dominante und von Vucˇic´ kontrollierte „Srpska Lista“ boykottierte die Wahl am 24. April, Vucˇic´ selbst gab sich im Vorfeld ausnehmend aggressiv und wettert sowohl gegen die kosovo-albanische Seite als auch gegen den Westen – die Wahl bezeichnete er als „Schande Europas“ und drohte indirekt mit einer weiteren Eskalation. Bei einer extrem geringen Wahlbeteiligung von etwa 3,5 Prozent wurden schließlich albanische Bürgermeister für eine mehrheitlich serbische Bevölkerung gewählt. Die USA unterstützten den Wahlgang explizit und deuteten auch danach an, dass die Ergebnisse legitim sind. In direkter Kommunikation mit Pristina teilten sie Albin Kurti aber wohl mit, dass er nicht versuchen solle, mit Polizeigewalt die Bürgermeister in den vier serbischen Gemeinden zu installieren. Trotzdem entschied sich der kosovarische Premierminister Ende Mai zu diesem Schritt. Beim Gemeindeamt im Dorf Zvecˇan trieb die kosovarische Polizei serbische Demonstranten auseinander, sie setzte

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Tränengas und Blendgranaten ein. Gewalttätige serbische Protestteilnehmer steckten mehrere Autos in Brand, darunter ein Polizeifahrzeug. Am 29. Mai attackierten dann die offenbar gut organisierten serbischen Protestierenden die KFOR-Soldaten mit Blendgranaten und Steinen und verletzten 30 von ihnen zum Teil schwer. Vucˇic´ versetzte sofort das serbische Militär in erhöhte Alarmbereitschaft und ließ unter dem Applaus aus Moskau Soldaten an die Grenze zum Kosovo verlegen. Die Vereinbarung von Ohrid ging im Lärm der Granaten und im Nebel des Tränengases unter. Die vorerst letzte Verhandlungsrunde in Brüssel im Mai, die Josep Borrell einberief, um die beiden Seiten zur Vernunft und wieder zurück zu Gesprächen über die Ohrid-Vereinbarung zu bringen, verlief ohne Ergebnisse. Vucˇic´ und Kurti trafen sich separat mit Borrell und bewegten sich keinen Millimeter von ihren Grundpositionen: Kurti forderte die Verhaftung der gewalttätigen Serben im Norden des Kosovo und pochte auf sein Recht, die Souveränität des Kosovo auf dem gesamten Staatsgebiet zu schützen. Vucˇic´ bezichtigte Kurti der Eskalationstaktik und warf ihm vor, Serben aus dem Kosovo vertreiben und einen Krieg gegen Serbien riskieren zu wollen. Kosovo-albanische Bürgermeister und die Spezialpolizei sollten sich aus dem Norden zurückziehen, erst danach könne man reden. Und überhaupt, so Vucˇic´, solle die Regierung Kurti zuerst den serbischen Gemeindeverband installieren, bevor man weiter sprechen könne. Kurti als Störenfried Die Verhandlungsführer in den USA und der EU schienen am Ende ihres Lateins. Sie entschieden sich dennoch, den Druck vor allem auf einen auszuüben – auf den kosovarischen Premierminister Albin Kurti. Er habe eine rote

Linie überschritten und sei verantwortlich für die Eskalation. Überhaupt sei er sehr stur, so der Tenor. Man drohte zuerst mit Maßnahmen gegen Prishtina, den natürlichen Partner der USA und der der EU, von Sanktionen gegen Kurti war die Rede. Im Juni machte man diesen Schritt wahr und führte Maßnahmen gegen den Kosovo ein. So setzte Brüssel vorübergehend die Arbeit der gemeinsamen Kommissionen zwischen der EU und dem Kosovo aus, die bilateralen Besuche der kosovarischen Vertreter in der EU-Kapitale wurden eingeschränkt, auch die Programme aus dem sogenannten Instrument for Pre-Accession Assistance für 2024 wurden ausgesetzt. Albin Kurti wurde mit den Maßnahmen gegen seine Regierung zum Störenfried erklärt, der demokratische und plurale Kosovo mit einer überwältigend prowestlichen Bevölkerung zur Zielscheibe der westlichen Kritik. Der sehr starke Druck auf die Regierung Kurti, ohne klare Worte und Maßnahmen wegen der aggressiven Schritte und Rhetorik aus Belgrad, sind unverhältnismäßig und haben eine politische Schieflage produziert, die sich wohl mittelfristig kaum positiv auf die Stabilität in der Region auswirken wird. Albin Kurti sitzt derzeit politisch fest im Sattel, die neuesten Umfragen weisen auf den „Rally around the flag“-Effekt hin – die Unterstützung für seinen Kurs ist im Kosovo überwältigend. Die meisten Kosovo-Albaner haben den Eindruck, dass das serbische Regime in der Person von Aleksandar Vucˇic´ die aggressive serbische Politik der Ära Miloševic´ aus den 1990er Jahren fortsetzt, und wollen, dass sich ihre politische Führung dagegenstemmt. Albin Kurti zeigt auch angesichts der westlichen Maßnahmen gegen den Kosovo Standfestigkeit und positioniert sich als kompromissloser Verfechter der kosovarischen Souveränität und territorialen Integrität. Er beruft sich weiterhin auf Prinzipien der kosovari-

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schen Verfassung und auf Rechtsstaatlichkeit, die auf dem gesamten Territorium des Kosovo zu gelten haben. Der britische Journalist und Buchautor Tim Judah zitierte unlängst auf Twitter einen westlichen Botschafter im Kosovo mit den Worten, es sei sehr schwer, Druck auf Albin Kurti auszuüben, weil er schlicht nicht korrupt sei. Westliches Appeasement stärkt Vucˇic´ Als der Druck auf Albin Kurti stieg und Maßnahmen gegen den Kosovo beschlossen wurden, lachte sich Vucˇic´ wohl ins Fäustchen. Sein autoritäres Regime, das zu diesem Zeitpunkt unter dem größten Druck der oppositionellen Proteste „Serbien gegen Gewalt“ stand, wurde vom Westen geschont – eine für die serbische Demokratie verhängnisvolle Entscheidung. Innenpolitisch war nach zwei Amokläufen Anfang Mai mit 18 Toten der Druck auf das Regime enorm gestiegen. Die Massenproteste in Belgrad und anderen serbischen Städten, die zu den größten in den vergangenen zehn Jahren gehörten, sorgten bei Vucˇic´ und der Regierung für wachsende Nervosität. Auch die zunehmend kritische Berichterstattung namhafter westlicher Medien wie der „New York Times“ oder des „Guardian“ über Vucˇic´s Verbindungen zum kriminellen Milieu und den Charakter seines Regimes trugen zu dieser Nervosität bei. Aus der Sicht von Vucˇic´ kam die Eskalation im Kosovo zum richtigen Zeitpunkt, wie bestellt, um sich als Schützer und Vater der Nation zu stilisieren und von den Protesten abzulenken. Das legt den Eindruck nahe, dass Vucˇic´, wie bereits wiederholt in den jüngsten Jahren, seine politischen Handlanger im Norden des Kosovo bewusst zu Provokationen und zur Eskalation einsetzt. Von „Zensur durch Lärm“ spricht der Russland-Kenner Peter Pomerantsev und beschreibt damit jene Stra-

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28 Kommentare tegie, die in Serbien unter Vucˇic´ zum System wurde. „Statt ihre Gegner auszuschalten, fluten autokratische Systeme die Welt mit vielen Lügen, die am Ende die Wahrheit unter sich begraben.“ Vor wenigen Wochen veröffentliche die unabhängige serbische NGO CRTA die Ergebnisse der Untersuchung der medialen Berichterstattung in Serbien im Jahr 2022. Eine Ziffer verblüffte: Vucˇic´ absolvierte im vergangenen Jahr sage und schreibe 300 abendfüllende Fernsehauftritte. Vucˇic´ spricht nahezu täglich zu allen möglichen Themen, zuletzt bevorzugt über die angebliche Kriegslüsternheit des kosovarischen Premierministers Albin Kurti, aber auch über den, ach so unmoralischen, Westen im allgemeinen oder auch Deutschland im speziellen, das seine Position nicht verstehen wolle und die kosovo-albanische Seite unterstützen würde. Es ist klar, die Proteste tun Vucˇic´ weh und er sieht sie als eine Gefahr. Daher setzt er vorerst innerstaatlich auf stärkere Kontrolle, mediale Aggressivität und Abrechnung mit Regimegegnern. Vucˇic´ verstärkt die bereits eingeübten populistischen Mittel, die sich bis jetzt als zuverlässige Stimmenlieferanten herausgestellt haben: In seiner Rhetorik sind die Kosovo-Albaner und Albin Kurti absolute und brutale Gegner, die auf die „Vernichtung der Serben“ im Kosovo und eine „ethnische Säuberung“ aus sind. Die Dämonisierung von Albin Kurti hat in den letzten Wochen in den von Vucˇic´ kontrollierten Boulevardmedien neue Höhepunkte erreicht. Der prorussische Kurs Serbiens Die USA und die EU setzten lange Zeit auf die Strategie der Kompromisse mit Aleksandar Vucˇic´ und erhofften sich im Gegenzug eine pragmatische Politik von Vucˇic´ in Bezug auf den Kosovo und auch Bosnien-Herzegowina. Seit Beginn des russischen Aggressi-

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onskrieges in der Ukraine erhöhte der Westen den Druck auf Vucˇic´. Offenbar unternahm dieser daraufhin Schritte, die insbesondere den USA wichtig waren. Vor allem die Lieferung von in Serbien produzierter Munition an die Ukraine wiegte Washington in Sicherheit. Offenbar hatten westliche Regierungen den Eindruck, Serbiens Nähe zu Russland verringere sich, ihre Strategie trage Früchte. Die russisch-serbischen Beziehungen bleiben aber intakt. Ende Mai besuchten der als prorussisch geltende Chef des serbischen Geheimdienstes, Aleksandar Vulin, und der serbische Außenminister Ivica Dacˇic´ Moskau und nahmen dort an einer Sicherheitskonferenz teil. Auch der Gleichklang zwischen Belgrad und Moskau während der jüngsten Eskalation rund um den Kosovo deutet darauf hin, dass die Strategie des Westens gescheitert ist. So wie Aleksandar Vucˇic´ die kosovo-albanische Seite und den gesamten Westen geißelt, so macht es auch regelmäßig das russische Außenministerium und seine starke Stimme in Serbien, der russische Botschafter Alexander Botsan-Kharchenko. Mit dem vorläufigen Scheitern des Kosovo-Dialogs ist offensichtlich geworden, dass USA und EU derzeit keinen sinnvollen Umgang mit dem Regime Vucˇic´ finden und ihn letztlich gewähren lassen. Wenn man das regionale Bild mit der Situation in Bosnien-Herzegowina vervollständigt, wo der Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik, Anfang Juli eine Frontalattacke gegen die bosnisch-herzegowinische Verfassungsordnung gestartet hat, wohl mit den Plazet aus Belgrad und der unüberhörbaren Unterstützung aus Moskau, sollten im Westen die Alarmglocken schrillen. Noch aber tun sie es nicht. Und so besteht die große Gefahr, dass sich die Eskalationsspirale am Westbalkan weiter dreht und in einem neuerlichen bösen Erwachen für den Kontinent enden wird.



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Janine Walter

BRICS: Angriff auf den Dollar Wenn im August die Staats- und Regierungschefs der BRICS-Staaten im südafrikanischen Johannesburg zu ihrem jährlichen Gipfeltreffen zusammenkommen, ist ihnen internationale Aufmerksamkeit gewiss. Denn nachdem die 2009 im russischen Jekaterinburg offiziell als BRIC gegründete und ein Jahr später um Südafrika erweiterte Gruppe aus Brasilien, Russland, Indien und China1 in den 2010er Jahren aufgrund strategischer Differenzen eher als Dialogforum denn als relevanter geopolitischer Akteur agiert hatte, ist das Staatenbündnis seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine bestrebt, sein geopolitisches Gewicht zu steigern. Insbesondere Russland und China wollen das BRICS-Bündnis als geopolitisches Gegengewicht zum Westen und damit als zentrale Plattform des Südens positionieren. Brasilien, Indien und Südafrika verstehen die Staatengruppe dagegen vorrangig als Plattform zur Sicherung ihrer nationalen Interessen. Was also ist vor diesem Hintergrund vom kommenden BRICS-Gipfel zu erwarten? Auf der Agenda steht in Johannesburg zum einen die Expansion des Bündnisses – erstmals seit seiner Erweiterung um Südafrika im Jahr 2010. Die Liste der Länder, die Interesse an einer Mitgliedschaft bekundet haben, ist in den letzten Monaten immer länger geworden: Mit Saudi-Arabien, Iran, Ägypten, Argentinien und den Vereinigten Arabischen Emiraten ha1 Der Name des Bündnisses geht auf einen ehemaligen Chefökonomen von Goldman Sachs zurück, der Brasilien, Russland, Indien und China Anfang der 2000er Jahre als die relevantesten aufstrebenden Volkswirtschaften bezeichnet hatte.

ben geopolitisch relevante Staaten bereits offiziell ihre Aufnahme beantragt, aber auch Länder wie beispielsweise Venezuela, Kuba, Mexiko oder Nigeria zeigen sich interessiert. Allerdings herrscht unter den BRICS-Staaten keineswegs Einigkeit über die mögliche Erweiterung, und auch offizielle Beitrittskriterien gibt es bislang nicht. Ein alternatives Finanzsystem gegen die US-Hegemonie Zum anderen soll es bei den Gipfelgesprächen, neben der bereits 2022 beim virtuellen BRICS-Gipfel in China diskutierten Alternative zum SWIFT-System für Finanztransaktionen, um die Einführung einer BRICS-Währung gehen – und damit um ein Kernanliegen des Bündnisses: das Bestreben, die Hegemonie des westlich dominierten Finanzsystems im Allgemeinen und des US-Dollars im Besonderen zu brechen. Bereits 2014 stieß die BRICS mit der Gründung des Contingent Reserve Arrangement – eines Liquiditätsmechanismus für in Zahlungsschwierigkeiten geratene Mitglieder – und der New Development Bank (auch BRICS-Bank) die Entwicklung eines alternativen Finanzgefüges an. Indem die BRICSBank ihre Kredite nicht ausschließlich in US-Dollar auszahlt, sondern auch in den Währungen der Mitgliedstaaten, verkörpert sie nicht nur eine Alternative zur Weltbank oder zum Internationalen Währungsfonds, sondern auch zum US-Dollar. Bereits 2021 sind Bangladesch und die Vereinigten Arabischen Emirate der BRICS-Bank beigetreten, Ägypten folgte in diesem Jahr. Auch Saudi-Arabien

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30 Kommentare hat Interesse an einer Aufnahme signalisiert, womit die Bank aufgrund der finanziellen Ressourcen des Wüstenstaats an Bedeutung gewinnen würde. Zugleich zeigen die BRICS-Staaten damit, dass sie kein geschlossener Club sind, sondern prinzipiell auch anderen Staaten offenstehen. Zwar ist die Einführung einer gemeinsamen Währung bereits seit 2009 in der ein oder anderen Form im Gespräch, aber angesichts der sich beschleunigenden Dynamiken innerhalb des Bündnisses nimmt die Debatte aktuell an Fahrt auf. Brasiliens Präsident Luis Inácio Lula da Silva fragte während seiner jüngsten China-Reise in Schanghai: „Ich frage mich jede Nacht: Warum müssen alle Länder ihren Handel an den Dollar binden? Warum können wir unseren Handel nicht durch unsere eigene Währung absichern? Warum verpflichten wir uns nicht zur Innovation?“2 Eine BRICS-Währung als das Ziel Tatsächlich wird es zwar noch Jahre dauern, bis es zur Einführung einer BRICS-Währung kommt, doch mögliche Konzepte dürften beim Gipfel im August intensiv diskutiert werden. Fest steht dabei, dass eine BRICS-Währung die nationalen Währungen nicht ablösen, sondern für den grenzüberschreitenden Handel – innerhalb der BRICS und mit anderen an der Währung interessierten Staaten – eingesetzt werden würde. Zwar haben die BRICS-Staaten mit einem Anteil von 31,5 Prozent am Bruttoinlandsprodukt der Weltwirtschaft die G7-Staaten inzwischen knapp überholt; die neue Währung würde aber nicht im gleichen Umfang verwendet werden. Denn ein Großteil des Handels der BRICS-Staaten erfolgt mit EU-Staaten oder den USA und wird damit weiterhin in US-Dollars abge2 „Warum der Dollar?“ Brasilien, Lula und Rousseff krempeln BRICS-Bank um, https://de. euronews.com, 13.4.2023.

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rechnet werden. Eine eigene Währung könnte indes den Handel innerhalb der BRICS und mit möglichen neuen Mitgliedstaaten attraktiver machen. Schon heute akzeptiert beispielsweise Brasilien im Handel und bei Investitionen zunehmend auch den chinesischen Yuan als Zahlungsmittel. Zwar kann von einem Ende der Hegemonie des US-Dollars einstweilen keine Rede sein – Ende 2022 betrug der Anteil des Yuan an den weltweiten Währungsreserven lediglich 2,7 Prozent, während jener des US-Dollars bei 59 Prozent lag. Aber der US-Dollar, der 1999 noch einen Anteil von 71 Prozent ausmachte, verliert stetig an Relevanz. Staatenbündnis am Scheideweg Trotz dieser neuen Dynamik wird in der deutschen Außenpolitik weiterhin die Heterogenität der BRICS-Staaten betont und damit auf eine vermeintlich geringe Handlungsfähigkeit des Bündnisses verwiesen. Demnach will man in den BRICS dezidiert nicht den Kern des organisierten Globalen Südens sehen. Entsprechend spricht die deutsche Außenpolitik die BRICS-Staaten nicht als Gruppe an und setzt stattdessen auf bilaterale Dialogformen. Vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine war dies noch eine nachvollziehbare Position, denn insbesondere im Zuge der Amtsantritte von Jair Bolsonaro in Brasilien und Narendra Modi in Indien war ein gewisser Bedeutungsverlust des Staatenbündnisses nicht von der Hand zu weisen. Auch die Beziehungen zwischen Indien und China, die über Grenzkonflikte in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt sind, stellen die gemeinsame Handlungsfähigkeit des Staatenbündnisses grundsätzlich infrage. Doch seitdem sind die Prozesse im Globalen Süden dynamischer geworden: Die Sanktionen gegen Russland und dessen Ausschluss aus dem SWIFT-System haben angesichts der

Hegemonie des US-Dollars die Verwundbarkeit vieler Staaten verdeutlicht. Vor diesem Hintergrund sehen immer mehr Staaten im BRICS-Bündnis eine Absicherung gegen mögliche negative Auswirkungen im globalen Finanzgefüge. Hinzu kommt, dass sich neuerdings Staaten wie Saudi-Arabien und der Iran bemühen, ihre Differenzen zu überbrücken, um eine internationale Zusammenarbeit zu ermöglichen. Und Formate, wie etwa die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (Shanghai Cooperation Organization), verdeutlichen, dass sich einige Staaten zunehmend von westlichen Entwicklungs- und Kooperationsmodellen abwenden. Zwar bestehen innerhalb der Staaten Differenzen in zentralen Politikfeldern fort, etwa in der Klimapolitik oder bei der Frage der Menschen- und Freiheitsrechte. Doch nicht wenige Staaten des Globalen Südens suchen explizit nach alternativen Bündnissen, die konsequent dem Grundsatz der Nichteinmischung folgen. Sicher, die weitere Entwicklung der BRICS hängt von vielen Faktoren ab. Hierzu zählen etwa innenpolitische und wirtschaftliche Entwicklungen, die teilweise stagnieren, aber auch der Fortgang des Ukrainekrieges. Doch mit den Entscheidungen über die Erweiterung und die Einführung einer BRICS-Währung im August steht das Staatenbündnis an einem Scheideweg. Südafrika zwischen den Stühlen Allerdings könnte sich das BRICS-Treffen speziell für den Gastgeber Südafrika als zweischneidiges Schwert entpuppen. Zum einen sieht das Land einer schnellen Erweiterung, wie sie Russland und China forcieren, nicht ganz so glücklich entgegen. Denn die Ausweitung des Staatenbündnisses könnte für Südafrika – wie auch für Indien – einen relativen Bedeutungsverlust im Bündnis bedeuten.

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Zum anderen steht das Land gerade hinsichtlich seiner Positionierung zu Russland, global gesehen, zwischen den Stühlen. So hat sich Südafrika der internationalen Isolation Russlands nicht angeschlossen und enthielt sich bei den Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen, die den russischen Angriffskrieg verurteilten. Den Krieg in der Ukraine betrachtet die südafrikanische Regierung, der russischen Linie folgend, vorrangig als Konflikt zwischen den USA bzw. der Nato und Russland. Die Gründe für diesen halben Schulterschluss mit Russland sind vor allem ideologischer, wenn nicht gar nostalgischer Natur: Die Sowjetunion hatte viele Jahre die südafrikanischen Befreiungsbewegungen unterstützt. Kurzfristige wirtschaftliche Gründe können dagegen weitgehend ausgeschlossen werden, ist doch die Europäische Union mit einer Abnahme von 30 Prozent der südafrikanischen Exporte weiterhin der größte Handelspartner, während die Exporte nach Russland nur marginal sind – laut „Financial Times“ beliefen sie sich 2022 auf lediglich 0,2 Prozent.3 Bemerkenswert waren auch die dubiosen Vorkommnisse um den unter US-Sanktionen stehenden russischen Frachter „Lady R“, der im Dezember 2022 mehrere Tage im Hafen von Simon‘s Town lag und auf den nach US-Informationen Waffen für Russland geladen wurden. Dies stellt die angeblich neutrale Position Südafrikas genauso infrage wie das gemeinsam mit China und Russland am 24. Februar 2023 – am Jahrestag des russischen Einmarschs in die Ukraine – begonnene Militärmanöver in Südafrika. Spätestens aber seit der Internationale Strafgerichtshof im März dieses Jahres einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin erließ, gerät Pretorias Balanceakt einer vermeintlichen Neutralität im Ukrainekrieg endgültig ins 3 Joseph Cotterill, South Africa’s flirtation with Moscow risks billions of dollars in US exports, www.ft.com, 17.5.2023.

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32 Kommentare Wanken. Denn als Unterzeichner des Rom-Statuts müsste Südafrika Putin bei einer Teilnahme am BRICS-Gipfel eigentlich verhaften. Mit diplomatischen Schlupflöchern will die Regierung von Präsident Cyril Ramaphosa nun jedoch allen Teilnehmenden und damit auch Putin im Vorfeld Immunität garantieren. Zuletzt ging Südafrika diesen Weg, als der langjährige sudanesische Diktator Omar al-Bashir im Land weilte und trotz Haftbefehls wieder ausreisen durfte. Nicht zuletzt daran zeigt sich: Auch die – durchaus unterschiedlichen – Positionierungen der BRICS-Staaten gegenüber dem russischen Angriffskrieg sind von doppelten Standards gekennzeichnet – damit aber tun die BRICS-Staaten genau das, was sie dem Westen an anderer Stelle zu Recht vorwerfen. Der häufig vorgebrachte Bezug auf die Bewegung der Blockfreien Staaten der 1960er Jahre ist geradezu fadenscheinig – wendete sich diese Bewegung doch gerade gegen die Zuordnung zu einer militärischen Macht im Kalten Krieg. Emanzipation oder Elitenprojekt? Zwar ist das Streben von Staaten des Globalen Südens nach Unabhängigkeit von westlich dominierten Institutionen, die in der Regel nachteilig für sie sind, aus progressiver Perspektive grundsätzlich zu begrüßen. Zugleich stellt sich jedoch die Frage, inwiefern diese Bündnisse transformative Politikansätze vertreten, die der Mehrheit ihrer Bevölkerungen und nicht nur einer politischen und wirtschaftlichen Elite zugutekommen. Genau daran sind beim BRICS-Bündnis erhebliche Zweifel angebracht. Fest steht: Die BRICS-Staaten stellen keine antikapitalistische Alternative dar. Ihre staatlich durchdrungenen Marktökonomien verdanken ihre hohe globale Wettbewerbsfähigkeit gerade der Existenz eines großen, nicht regu-

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lierten prekären Sektors, der gekennzeichnet ist durch niedrige Löhne, einen geringen Organisationsgrad, hohe Unsicherheit und ein autoritäres und paternalistisches Management.4 In Russland wie in China stoßen Arbeitskämpfe nicht nur auf den Widerstand der Arbeitgeber:innen, sondern auch auf den der Polizei, der Gerichte und weiterer staatlicher Akteure.5 Schaut man zudem auf die Rolle Chinas in Afrika, wird deutlich, dass das chinesische Engagement auf dem Kontinent nicht allein an einer Ermächtigung des Globalen Südens, sondern vor allem an eigenen Interessen orientiert ist. Die von China geförderten Infrastrukturprojekte werden bekanntermaßen häufig als Schuldenfallen bezeichnet. Und auch die Arbeitsbedingungen in chinesischen Konzernen sind keineswegs besser als die in westlichen Unternehmen. Darüber hinaus spielt der Klimaschutz bei der Fokussierung der BRICSStaaten auf wirtschaftliche und entwicklungspolitische Zusammenarbeit nur eine untergeordnete Rolle. So finanziert die BRICS-Bank noch immer extraktivistisch orientierte Projekte.6 Auch daran wird der kommende Gipfel voraussichtlich nichts Grundlegendes ändern. Und schließlich ist bislang völlig unklar, ob friedenspolitische Fragen überhaupt auf der Agenda in Johannesburg stehen werden. Im kommenden Gipfel einen Hoffnungsschimmer für eine gerechtere Weltordnung zu sehen, wäre aus linker Sicht daher völlig vermessen. 4 Andreas Nölke, Brasilien, Indien, China und die Institutionen der globalen Wirtschaftsregulierung, in: Andreas Nölke, Christian May und Simone Claar (Hg.), Die großen Schwellenländer: Ursachen und Folgen ihres Aufstiegs in der Weltwirtschaft, Wiesbaden 2014, S. 413-431. 5 Vgl. Ralf Ruckus, Arbeitskämpfe, Organisationsprozesse und Repression in China: Interview über neuere Trends, in: „PERIPHERIE Politik, Ökonomie, Kultur”, 2/2016, S. 327-343. 6 Patrick Bond, BRICS New Development Bank Corruption in South Africa, www.cadtm.org, 5.9.2021.



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Frank Braßel

Ecuador: Vom »Guten Leben« zur Unregierbarkeit Noch in der ersten Dekade dieses Jahrtausends machte Ecuador mit den damals frisch in einer neuen Verfassung verankerten „Rechten der Natur“ und dem Konzept des Buen vivir, des Guten Lebens, weltweit auf sich aufmerksam.1 Doch von beidem ist in dem südamerikanischen Land schon lange keine Rede mehr. Nachdem Ecuador über zehn Jahre von einer zumindest nominell linksgerichteten Regierung geführt wurde, hat in den vergangenen zwei Jahren ein rechtskonservativer Präsident den Andenstaat in eine veritable Staatskrise gesteuert: der ehemalige Banker Guillermo Lasso. Um einem Amtsenthebungsverfahren durch das oppositionelle Parlament zu entgehen, löste Lasso Mitte Mai die Nationalversammlung auf und kündigte Neuwahlen an. Diese Option der sogenannten muerte cruzada (des gegenseitigen Todes) bietet die Verfassung an, wenn der Präsident der Ansicht ist, das Parlament bedrohe seine Regierungsfähigkeit. Am 20. August sind die Ecuadorianer:innen nun aufgefordert, sowohl ein neues Parlament als auch einen neuen Präsidenten zu wählen. Bis dahin kann Lasso, der selbst nicht wieder kandidieren will, „ungestört“ per Dekret regieren. Tatsächlich hielt die Opposition während Lassos gesamter Amtszeit die Mehrheit in der nun aufgelösten Nationalversammlung. Das von ihr – und 1 Dabei handelt es sich um einen in den Anden und dem Amazonasgebiet entwickelten Ansatz, der sich als Alternative zur Entwicklung versteht. Vgl. Alberto Acosta, Vom guten Leben. Der Ausweg aus der Entwicklungsideologie, in: „Blätter“, 2/2013, S. 91-97.

speziell von der linken Partei des wegen Korruption verurteilten früheren Präsidenten Rafael Correa – forcierte Absetzungsverfahren begründete sie damit, Lasso habe von einer Veruntreuung öffentlicher Gelder der staatlichen Öltankerflotte gewusst. Doch auch ohne das drohende Impeachment war die Popularität des neoliberalen und erzkonservativen Präsidenten – langjähriger Präsident einer der größten Privatbanken Ecuadors und Mitglied des Opus Dei – mit nur noch 13 Prozent Zustimmung an einem Tiefpunkt angelangt. Dass er die Präsidentschaftswahlen 2021 überhaupt gegen seinen Herausforderer, den Rafael Correa nahestehenden Andrés Arauz, gewann, war nicht etwa einer rechten Mehrheit in der Bevölkerung geschuldet, sondern hatte vor allem damit zu tun, dass viele unabhängige Linke und Indigene keine Wiederauflage der zunehmend autokratischen Regierungszeit von Ex-Präsident Correa wollten. Unter Lasso haben sich die vielfältigen Krisen im Land zuletzt allerdings massiv verschärft. Zwar steht der Name seiner Partei CREO für Creando oportunidades, also: Möglichkeiten schaffen. Und eine zügige Impfkampagne ließ ihn während der Pandemie zunächst als effizienten Macher erscheinen. Doch danach folgte nichts mehr, was der Bevölkerungsmehrheit in irgendeiner Weise genutzt hätte. So war dem Präsidenten die Bedienung der Schulden ganz offenbar wichtiger als die Sanierung der maroden öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssysteme. Vermeintlich um die Folgen der

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34 Kommentare Pandemie zu überwinden, setzt Lasso zudem auf die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, mit der Folge, dass heute nur ein gutes Drittel der Beschäftigten sozialversichert ist und den Mindestlohn von 450 US-Dollar pro Monat erhält, während annähernd zwei Drittel unter prekären Bedingungen arbeiten oder arbeitslos sind.2 Demgegenüber verzeichnen die für Ecuadors Wirtschaft wichtigen, aber nicht nachhaltigen Exportsektoren – allen voran die Erdölförderung, aber auch Krabbenzucht, Bananenanbau und Bergbau – ein überproportionales Wachstum. Doch diese Exportprodukte bringen nur einer kleinen Schicht ein gutes Einkommen, während sie jene Umwelt zerstören, die vielen Menschen als Lebensgrundlage dient und aus der sie nun vertrieben werden. Dazu passt, dass auch die Gewinne der Privatbanken im vergangenen Jahr um 71 Prozent auf 664 Mio. US-Dollar anstiegen und damit sogar das beste Ergebnis von vor der Pandemie noch übertrafen3, während die Armut im Land weiter wächst. Lasso schafft also durchaus ein positives Wirtschaftsklima – allerdings ausschließlich für eine elitäre Klientel. Die Brutalisierung der Gesellschaft Doch es sind nicht nur die ungerechten Wirtschaftsstrukturen, die viele Menschen frustrieren, sondern auch das offensichtliche Desinteresse der Regierung an ihrem Schicksal. Vor allem die wachsende Kriminalität und die damit einhergehende Unsicherheit bewegen weite Teile der Bevölkerung. Folgende Szenen gehören in Ecuador für viele Menschen zum Alltag: Zwei Maskierte steigen in den Bus und verlangen mit vorgehaltener Waffe von allen Passagieren Geld und Handy; wer im falschen Taxi sitzt, kann leicht Opfer einer 2 Vgl. www.ecuadorencifras.gob.ec. 3 Las utilidades en la banca crecieron 71,3% al cierre de 2022, in: „expresso“, 10.1.2023.

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„Expressentführung“ werden und erst nach dem Besuch eines Geldautomaten wieder freikommen; kleine Gewerbetreibende müssen Schutzgeld zahlen – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Die Statistiken der vergangenen zwei Jahre zeigen zudem eine dramatische Zunahme der Morde, insbesondere in der nördlichen Küstenprovinz Esmeraldas an der Grenze zu Kolumbien und der Hafenstadt Guayaquil im Süden Ecuadors. Mit 25 Tötungsdelikten je 100 000 Einwohner hat die Mordrate im vergangenen Jahr einen historischen Höchststand erreicht und überstieg sogar jene von Mexiko und Brasilien. Zum Vergleich: Im ersten Quartal 2023 verloren in Guayaquil im Durchschnitt mehr Menschen pro Woche gewaltsam ihr Leben als im gleich großen Berlin in einem Jahr.4 Anstatt das Problem anzugehen, versuchen die Behörden zu beschwichtigen: Sie behaupten, etwa 80 Prozent der Opfer entstammten rivalisierenden Drogenbanden. Dass die Gewalt und der boomende Drogenhandel immer stärker mit der Politik verzahnt sind, wird dabei gerne verschwiegen. Im Ergebnis führt das zu einer Brutalisierung der für lateinamerikanische Verhältnisse traditionell eher friedlichen Gesellschaft Ecuadors. So ist die Zahl der Femizide 2022 mit 332 Opfern auf den höchsten Stand seit 2014 gestiegen.5 Im Zuge der jüngsten Kommunalwahlen fielen 22 Politiker:innen einem Attentat zum Opfer. Ende Februar wurde Eduardo Mendúa vom Indigenen-Dachverband CONAIE ermordet, der sich gegen die Ausweitung der Erdölförderung im Amazonasgebiet engagiert hatte. Im März musste die Journalistin Karol Noroña nach Morddrohungen aufgrund ihrer Berichterstattung über Drogenge4 Vgl. Guayaquil registra aumento del 66% de muertes violentas en 2023, in: „Primicias“, 24.4.2023. 5 2022, año mortal para las mujeres en Ecuador con 332 casos de femi(ni)cidio, www.fundacionaldea.org, 17.1.2023.

schäfte ins Exil gehen. Bei einem Dutzend Gefängnisrevolten sind in den vergangenen beiden Jahren 431 Menschen zu Tode gekommen.6 Wenn ein Staat die Kontrolle über seine repressivsten Strukturen, also die Gefängnisse, verliert – oder verlieren will –, kann man sich die Ineffizienz seiner klassischen Schutzfunktionen leicht ausmalen. Entsprechend dieser Logik erleichterte Lasso am 1. April per Dekret den Zugang zu Schusswaffen für die Bevölkerung – damit sie sich vermeintlich besser selbst gegen Delinquenten wehren kann. Ebenfalls im April verhängte Lasso den Ausnahmezustand über einige Provinzen, deklarierte mehrere Drogenbanden als „Terroristen“ und nahm zwei Ex-Generäle in sein Kabinett auf. All das ist Ausdruck einer Militarisierung der Kriminalitätsbekämpfung. Die oftmals sozialen Ursachen der Kriminalität werden dadurch allerdings nicht adressiert, wie auch Menschenrechtsorganisationen immer wieder kritisieren.7 Narco-Staat Ecuador? Noch gravierender aber ist die wachsende Verquickung von Drogenmafia und staatlichen Stellen. Es war dem US-Botschafter Michael J. Fitzpatrick vorbehalten, erstmals über „NarcoGeneräle“ zu sprechen. Die Kontakte der Drogenmafia scheinen bis in den engsten Kreis von Präsident Lasso zu reichen. So galt der mittlerweile ermordete Unternehmer Rubén Cherres nicht nur als Verbindungsmann zur albanischen Drogenmafia, sondern auch als enger Freund des Schwagers und Beraters des Präsidenten. Cherres brüstete sich in einem abgehörten Telefonat, er habe diversen Politikern Kabinettsposten verschafft, darunter auch dem damaligen Landwirtschafts6 Vgl. Doce presos muertos en un nuevo motín en una cárcel de Guayaquil, „El Pais“, 15.4.2023. 7 Vgl. dazu auch: El CDH frente a política antiterrorista, www.cdh.org.ec, 29.4.2023.

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minister Bernardo Manzano, zuvor ein langjähriger Manager im Imperium des „Bananen-Königs“ Álvaro Noboa. Zwar trat Manzano daraufhin sofort zurück. Doch erstaunlich ist, dass niemand weitere Recherchen anstellte, obwohl die sieben Mio. Bananenkisten, die Ecuador wöchentlich verlassen, beliebte Transportbehälter für Kokain sind. Auch hört man von keinerlei Nachforschungen über den Mord an Cherres, der Ende März mit Folterspuren tot aufgefunden wurde. Angesichts dessen verwundert es kaum, dass Ecuador zum wichtigsten Kokain-Exporteur in Richtung EU avanciert; auch deutsche Häfen werden dabei zunehmend angesteuert.8 Obwohl in dem Land selbst kein Kokain produziert wird, entwickelt es sich, auch aufgrund seiner „dollarisierten“ Wirtschaft, zum beliebten Umschlagplatz für Drogen aus den Nachbarländern Kolumbien und Peru.9 Angesichts solcher Zustände entscheiden sich immer mehr Menschen zur Migration, vornehmlich in Richtung USA. Allein in den vergangenen zwei Jahren der Lasso-Regierung sollen 190 000 der knapp 18 Millionen Ecuadorianer:innen das Land verlassen haben – und damit mehr als in den gesamten zwölf Jahren zuvor.10 Der wachsende Unmut der Menschen drückte sich Anfang Februar aber auch bei den Kommunal- und Regionalwahlen aus: Die beiden konservativen Parteien – die Präsidentenpartei CREO und die rechte sozialchristliche Partei PSC – büßten dabei fast ein Drittel ihrer Stimmen ein, während die Partei des linksgerichteten Expräsidenten Correa, Revolución 8 Wie Kokain Kurs auf deutsche Häfen nimmt, www.tagesschau.de, 18.3.2023 sowie Tjerk Brühwiller, Mehr Koks für Europa – mehr Gewalt in Lateinamerika, www.faz.net, 6.4.2023. 9 Vgl. Global report on Cocaine 2023 – Local dynamics, global challenges, www.unodc.org, März 2023. 10 En dos años, la emigración de ecuatorianos superó las cifras de los últimos 12 años, www. labarraespaciadora.com, 17.2.2023.

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36 Kommentare Ciudadana (RC), nicht nur das Bürgermeisteramt der Hauptstadt Quito eroberte, sondern auch das der Hafenstadt Guayaquil, die seit mehr als drei Jahrzehnten von der PSC regiert worden war. Allerdings verfügt RC damit noch nicht über eine Mehrheit im Land. In der Summe kam RC bei den Wahlen zu den Präfekten (Provinzvorsteher) aber auf 29 Prozent und hat ihre Stimmen im Vergleich zu 2019 damit mehr als verdoppelt. Ebenso bemerkenswert ist das Ergebnis der indigenen Partei Pachakutik, die landesweit zwölf Prozent der Stimmen einholte, ein Gewinn von 90 Prozent. Diese kamen ganz überwiegend aus der Amazonasregion und dem Andenhochland; in dem bevölkerungsreichen Küstenstreifen mit geringer indigener Bevölkerung dominierte bislang hingegen traditionell die Rechte. Eine Niederlage erlitt der Präsident auch beim zeitgleich zu den Wahlen abgehaltenen Referendum, bei dem ein Sammelsurium von teils populären Themen wie die Auslieferung von Drogenhändlern an die USA, Umwelt- und Wasserfragen oder die Reduzierung der Parlamentssitze abgefragt wurden. Vermutlich hatte Lasso zumindest an einen Teilsieg seines Referendums geglaubt. Doch die Bevölkerung lehnte alle acht Fragen ab. Schon damals wurden die Rufe nach seinem Rücktritt lauter. Doch Lasso ließ sie zunächst an sich abprallen und nahm lediglich eine Kabinettsumbildung vor. Anfang Juni zog er dann aber doch die Konsequenzen aus der Regierungskrise und kündigte an, nicht mehr für die Präsidentschaftsneuwahl zu kandidieren. Nun stellt sich die Frage nach den Alternativen. Die eher „fortschrittlichen“ Kräfte – Correisten und Indigene – sind untereinander verfeindet. Trotzdem ist ein Sieg der RC möglich, da für immer mehr Menschen die positiven Erinnerungen an die Correa-Ära von 2007 bis 2017 gegenüber der derzeitigen Krise überwiegen. Nicht vergessen werden sollten zudem diejenigen, die trotz

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Wahlpflicht bei den jüngsten Wahlen nicht an die Urnen gegangen sind oder Enthaltungen und ungültige Stimmen abgegeben haben. Diese summieren sich zunehmend zu einer Mehrheit der Wahlberechtigten. Der Politikwissenschaftler Napoleón Saltos spricht deshalb von einer „Demokratie der Minderheit“11. Offenbar gerät in Ecuador die traditionelle rechte Politik an ihre Grenzen – ebenso wie die linke. Eine klassische Situation, in der sich größere frustrierte Bevölkerungsschichten für populistische, autoritäre Optionen à la Nayib Bukele in El Salvador oder Álvaro Uribe in Kolumbien mobilisieren lassen könnten – wenn sich denn eine charismatische Führungspersönlichkeit findet. Dies ist in Ecuador derzeit glücklicherweise nicht absehbar. Ganz unabhängig von ihrem Ausgang dürften die vorgezogenen Wahlen indes kaum zu einer Stabilisierung des krisengeschüttelten Landes beitragen, denn 18 Monate nach Amtsantritt der neuen Abgeordneten und des neuen Präsidenten wird die Bevölkerung routinemäßig wieder an die Urnen gerufen werden; faktisch steht das Land damit vor einer langen Übergangsphase. Grundlegende Reformen sind in dieser Zeit, obwohl dringend notwendig, kaum zu erwarten. Einen Hoffnungsschimmer bietet dagegen das zeitgleich zu den Neuwahlen stattfindende Referendum über die Zukunft der Erdölförderung im megadiversen Yasuní-Nationalpark. Die überwiegend von jungen, parteilosen Aktivist:innen getragene Kampagne für einen Stopp der umweltschädlichen Ölförderung war zehn Jahre lang mit juristischen Tricks paralysiert worden. Anfang Mai entschied das Verfassungsgericht, sie zuzulassen. Ist sie erfolgreich, wäre das ein Meilenstein für die Klimabewegung im Land – und ein Rüffel für die Correa-Partei RC, die das Vorhaben jahrelang sabotiert hatte. 11 Napoleón Saltos Galarza, Cambio de escena, continuación del poder, www.rebelion.org 15.3.2023.



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Rita Schäfer

Simbabwe: Gewalt gegen Frauen als Machttechnik Wenn am 23. August in Simbabwe Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden, geht es für Präsident Emmerson Mnangagwa und dessen Regierungspartei Zimbabwe African National Union – Patriotic Front (ZANU-PF) um viel: Nach dem Sturz des Langzeitherrschers Robert Mugabe durch das Militär im Jahr 2017 übernahm er, einst ein Parteikollege Mugabes, 2018 das Präsidentenamt. Nun strebt der 80jährige eine zweite Amtszeit an. Doch in Umfragen vom März lag sein Herausforderer, der 45jährige Nelson Chamisa mit seiner neu gegründeten Citizens Coalition for Change (CCC), knapp vorn.1 Denn viele der etwa 15 Millionen Einwohner:innen des Binnenstaats im südlichen Afrika führen die Missstände im Land – allen voran die sich seit Jahren auf Talfahrt befindliche Wirtschaft und die dadurch rasant gewachsene Massenarbeitslosigkeit – auf die Regierung der ZANU-PF zurück, die Simbabwe seit dessen Unabhängigkeit autoritär regiert.2 Der Staat, der 1980 nach einem langen Unabhängigkeitskrieg gegen eine weiße, rassistische Minderheitsregierung seine politische Souveränität erhielt, befindet sich seit langem im Niedergang. Galt Simbabwe einst als Kornkammer auf dem Kontinent, ist das Land mittlerweile zum Empfänger internationaler Nahrungsmittelhilfe geworden. Existenznot und poli1 Simbabwe aktuell März 2023, www.kasa.de, 9.3.2023. 2 Jabusile Shumba, Zimbabwe’s predatory state. Party, military and business, Scotsville 2018; Nathan Guma, Unfulfilled 2018 promises haunt, taint the President, www.thenewshawks.com, 18.6.2023.

tische Verfolgung durch das repressive Regime haben etwa eine Million Simbabwer:innen zur Flucht gezwungen, vorwiegend nach Südafrika; manche Schätzungen gehen sogar von noch höheren Migrationsraten aus. Hinzu kommt die politische wie ökonomische Abhängigkeit vom südlichen Nachbarn, dessen unzuverlässige Stromlieferungen der simbabwischen Industrie massive Probleme bereiten. Mit harter Hand gegen Kritiker Angesichts der nun bevorstehenden Wahlen geht die Regierung hart gegen ihre Kritiker:innen vor: Kurz vor Beginn des Wahlkampfes haben Parlament und Senat zwei Gesetzesergänzungen verabschiedet, die Regierungskritiker:innen kriminalisieren und zivilgesellschaftliche Arbeit drastisch beeinträchtigen. Beobachter:innen gehen davon aus, dass Präsident Mnangagwa sie in Kürze unterzeichnen wird. Danach kann Regimekritik als nationale Sicherheitsbedrohung eingestuft werden. Die Arbeit und Konten von Nichtregierungsorganisationen sollen auf diese Weise noch strenger kontrolliert werden, was vor allem Menschenrechtsorganisationen unter Generalverdacht stellt. Damit wird auch der Kampf für Frauenrechte und gegen politisch motivierte, sexualisierte Gewalt noch schwieriger – ein Thema, das in der Geschichte des Landes von besonderer Bedeutung ist und das sich auch die Bundesregierung und speziell Außenministerin Annalena Baerbock auf die Fahne geschrieben hat.

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38 Kommentare Bereits seit den ersten Wahlen im Zuge der Unabhängigkeit im Jahr 1980 gehören politisch motivierte Gewalt und systematische Repression in Simbabwe zum Alltag: Über 1000 Menschen wurden damals im Kontext der Wahlen getötet.3 1985 waren es 100; in den Jahren 2000 und 2008 abermals jeweils über 100. Neben Todesdrohungen, Folter und Vertreibungen kamen dabei auch grausame körperliche und sexualisierte Misshandlungen zum Einsatz. Den Tätern – staatlichen Sicherheitskräften und Schlägern im Auftrag der Regierung – gewährte diese im Nachhinein weitgehende Straffreiheit. Auch die Wahl von Emmerson Mnangagwa 2018 war von tödlicher Polizeigewalt begleitet. Nun setzt er abermals auf parteinahe Schlägertrupps4 und Geheimdiensteinheiten, die Menschenrechtsorganisationen auch für das Kidnapping und die sexualisierte Folter der Oppositionellen Joanah (Joanna) Mamombe, Cecillia Chimbiri und Netsai Marova verantwortlich machen. Auch sonst dürfte der nun bevorstehende Urnengang kaum demokratischen Standards genügen. Zwar hat das Land regionale wie kontinentale Richtlinien zu freien und fairen Wahlen unterzeichnet, doch wie schon bei früheren Wahlen dürfen außerhalb des Landes lebende simbabwische Staatsbürger:innen nicht wählen, sind die Wählerlisten mangelhaft und der Zuschnitt etlicher Wahlbezirke ist nicht vorschriftsgemäß.5 Jurist:innen kritisieren zudem die politische Einflussnahme simbabwischer Ex-Militärs auf den Wahlprozess. Diese besetzen Führungsposten in allen wichtigen staatlichen Institutionen und parastaatlichen 3 Loyd Sachikonye, When a state turns on its citizens. Institutionalized violence and political culture, Harare 2011. 4 Zimbabwe Peace Project, The predators are known. Beyond reporting, we must resist an reject violence in Zimbabwe, Monthly Monitoring Report, www.zimpeaceproject.com, Februar 2023. 5 Election Watch 3-2022 – Delimitation and the Law, www.veritaszim.net, 19.9.2022.

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Konzernen und sind am Machterhalt der Regierungspartei ZANU-PF interessiert, um ihre Pfründe zu sichern. Und dabei kommt in Simbabwe schon seit Jahrzehnten sexualisierte Gewalt als Machtmittel zum Einsatz. Bereits im Unabhängigkeitskrieg zwischen der Zimbabwe African National Union (ZANU) und der rhodesischen Armee in den 1970er Jahren wendeten beide Seiten sexualisierte Gewalt an. Kommandanten der ZANU-Guerilla missbrauchten dabei auch Kämpferinnen aus den eigenen Reihen und bestraften junge Frauen, denen sie oft unbegründet Spionage unterstellten. Diese Gewalt wurde strafrechtlich nie verfolgt; vielmehr umfasste eine Generalamnestie später auch Täter der staatlichen rhodesischen Armee, die ihrerseits potenzielle Unterstützerinnen der Guerillas vergewaltigt hatten. Und bereits drei Jahre nach der politischen Unabhängigkeit überzogen militärische Spezialtruppen und Geheimdiensteinheiten die ndebelesprachige Bevölkerung mit exzessiver Gewalt. Ihnen wurde pauschal Regierungsfeindlichkeit unterstellt, denn sie hatten während des Unabhängigkeitskampfes nicht die ZANU, sondern die Zimbabwe African People’s Union (ZAPU), eine andere, temporär mit ihr konkurrierende, antikoloniale Bewegung unterstützt, die sich nach 1980 zu einer gleichnamigen Partei formierte. Als Terrortaktik dienten auch sexualisierte Gewalt an Frauen und Männern sowie weitere Foltermethoden, die den sozialen Zusammenhalt brechen sollten. Neben Militärs war der damalige Sicherheitsminister und heutige Präsident Emmerson Mnangagwa dafür verantwortlich. Seine Hassreden ähnelten denen des langjährigen Präsidenten Robert Mugabe, dem Planer der Massaker (wörtlich: Gukurahundi – reinigender Regen, der die Spreu wegfegt). Die Planungen auf Regierungsebene regelte das Joint Operations Command, ein parlamentarisch nicht kontrolliertes Gremium, das vom rho-

desischen Regime übernommen und lange von Mnangagwa geleitet wurde und das bis heute die politisch motivierte Gewalt des Regimes steuert. Doch trotz der Gewalt blieben die Wahlen 1985 hinsichtlich des Stimmenzugewinns hinter den Erwartungen der Regierenden zurück. Massaker, Morde, Vergewaltigungen und Folter dauerten zwei weitere Jahre an und forderten bis zu 20 000 Menschenleben. Anschließend sprach der Staat alle Täter mittels einer Generalamnestie frei. Frauen als Feindinnen Während die Staatsgewalt mit den Gukurahundi-Massakern vor allem gegen die ländliche Bevölkerung vorging, statuierte die Regierung der ZANU-PF zeitgleich auch im urbanen Raum ein Exempel ihrer Macht. 1983, kurz nach der Verabschiedung eines Gleichheitsgesetzes für Frauen aus dem Vorjahr, ließ sie Krankenschwestern, Lehrerinnen und Sekretärinnen, die ökonomisch und sozial als zu eigenständig galten, willkürlich verhaften – und das, obwohl etliche von ihnen Ex-Kombattantinnen in Guerillagruppen gewesen waren. Sie wurden der Prostitution bezichtigt, von der Polizei gewaltsam aus ihren Wohnungen gezerrt und in Lager außerhalb der Städte verfrachtet. Kritik von Seiten der Frauenministerin, der parteinahen Frauenliga und der Parlamentarierinnen, die immer eine kleine Minderheit bildeten, blieb aus. Für sie war Parteidisziplin ausschlaggebend. Die „Operation clean up“ bot den Auftakt für weitere Polizeiwillkür gegen Stadtbewohnerinnen, wobei die Übergriffe als Maßnahmen gegen kriminelle Umtriebe und zur Stadtreinhaltung gerechtfertigt wurden – mit ähnlichen Begründungen hatte schon die Kolonialpolizei schwarze Frauen aus den Städten vertrieben. Insbesondere in Wahljahren gerieten zudem Kleinhändlerinnen ins Visier staatlicher Sicherheitskräfte. Als in

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den Jahren 2008 und 2009 verseuchtes Trinkwasser über 4200 Todesopfer forderte, wurde diesen unterstellt, durch unsauberes Gemüse Cholerabakterien verbreitet zu haben. Damit wurden sie zu Südenböcken für ein durch lokalpolitisches Machtgerangel, Missmanagement und Korruption verursachtes Problem stilisiert. Bereits im Winter 2005 waren ganze Stadtviertel einer Strafaktion unterzogen worden, denn im Rahmen der Operation Murambatsvina („den Müll wegräumen“), die offiziell der Slumreinigung dienen sollte, wurden Häuser, Handwerksbetriebe und Marktstände flächendeckend zerstört, weil die dort informell Tätigen unter Generalverdacht standen, während der Parlamentswahl 2005 die Opposition gewählt zu haben. Unter den etwa 700 000 Betroffenen, die von der Polizei schikaniert wurden, waren vor allem Frauen und Kinder. Und obwohl die Regierung mit Emanzipationspostulaten zur Frauenbefreiung frühere Solidaritätsgruppen in Westeuropa, die Regierung in der DDR und spätere Geber rhetorisch umgarnt hatte, gerieten auch unabhängige Frauenorganisationen immer wieder unter Druck. Mitte der 1990er Jahre wurde der Vorstand der erfolgreichen basisorientierten Association of Women’s Clubs um die Agrarwissenschaftlerin Sekai Holland abgesetzt und durch Mitglieder der regierungsnahen Frauenliga der ZANU-PF ersetzt. Internationale Geber froren daraufhin ihre Fördergelder ein; nur ein Gerichtsurteil konnte verhindern, dass Parteifunktionärinnen die Organisation komplett vereinnahmten. Sekai Holland, die sexuelle Ausbeutung von Kämpferinnen durch Guerillachefs im Unabhängigkeitskrieg und eine Gesetzesverschärfung zur Kontrolle von Nichtregierungsorganisationen kritisiert hatte, überlebte ein Attentat und Folter schwer verletzt. Auch Mitglieder der autonomen Frauenorganisation Women of Zimbabwe Arise, die wegen unbezahlbarer

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40 Kommentare Lebenshaltungskosten und Schulgebühren protestierten, wurden wiederholt verhaftet und misshandelt. Wie sehr der Slogan „Dank an die Mütter der Revolution“ zur Phrase verkam, erfuhr auch die Ex-Kämpferin Margaret Dongo, die zunächst für das Mugabe-Regime gearbeitet hatte und 1995 als unabhängige Kandidatin zur Wahl antrat. Weil sie sich gegen Korruption und für Kriegsveteraninnen einsetzte, wurden gleich mehrere Anschläge auf sie verübt. Sexistische Hassgewalt und Wahlfälschung sollten ihren Einzug ins Parlament verhindern. Selbst Ministerinnen waren im männerdominierten politischen System Simbabwes nicht sicher: So wurde beispielsweise die Ex-Kämpferin Joice Mujuru, die verschiedene Ministerien geleitet hatte und mehrere Jahre Vizepräsidentin Simbabwes sowie Vorsitzende der ZANU-PF-Frauenliga war, 2014 in parteiinternen Fraktionskämpfen abgesetzt und aus der Partei ausgeschlossen, weil sie angeblich Umsturzpläne gegen Präsident Mugabe gehegt hatte. Zu ihren schärfsten Kritikerinnen zählte dessen zweite Ehefrau Grace, deren frauenfeindliche Agitation den Angriffen männlicher Kritiker in nichts nachstand. Die Präsidentengattin hegte Ambitionen auf das höchste Amt im Staat, doch das Militär durchkreuzte mit einem Coup im November 2017 ihre Pläne. Daneben wurde in den 1990er Jahren aber auch die Interessenvertretung sexueller Minderheiten, GALZ, Opfer von Polizeigewalt und politisch motivierter Homophobie – ein klares Ablenkungsmanöver von den sich verschlechternden Lebensbedingungen infolge der Sparvorgaben internationaler Kreditgeber und der von der Mugabe-Regierung verantworteten Finanzmisere. Angesichts dieser langen Geschichte von politisch motivierter Gewalt gegen Frauen und sexuelle Minderheiten sollte sich gerade auch die deutsche „feministische“ Außen- und Entwick-

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lungspolitik für Simbabwe interessieren. Denn gegenüber dieser früheren Siedlerkolonie kann sie beweisen, wie ernst sie es mit der postkolonialen Ausrichtung, Frauen- und Menschenrechtsorientierung sowie der Förderung der Zivilgesellschaft meint. Ein Fall für die feministische Außenpolitik Das Beispiel Simbabwes zeigt allerdings, dass die Ursachen für geschlechtsspezifische Ungleichheit und Gewalt nicht allein in kulturell geprägten patriarchalen Normen zu suchen sind, die das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) als zentral ansieht6, sondern auch historisch-politische Gründe – wie Kriege und Kriegsfolgen – haben kann. Um so wichtiger wäre es im Falle Simbabwes, den Blick weg vom Kulturellen auf die politische Ebene zu richten. Die aktuell von internationalen Gebern geförderten und von UN-Women umgesetzten Antigewaltprojekte in Postkonfliktländern wie Simbabwe klammern die politischen Kontexte jedoch nach wie vor aus und sind deshalb nur bedingt zielführend. Umso wichtiger ist es für die deutsche Außen- und Entwicklungspolitik zu erkennen, dass kriegerische Männlichkeit Gesellschaften und politische Systeme langfristig prägt, speziell dann, wenn Straflosigkeit herrscht und die Gewalt gegen Oppositionelle und zivilgesellschaftliche Gruppen weitergeht. Fest steht: Gegenstrategien gegen diese Form der institutionalisierten geschlechtsspezifischen Gewalt erfordern differenziertere Analysen. Im Falle Simbabwes heißt das: Nur wenn die Gewalt als Folge der martialischen Machtpraktiken im und nach dem Unabhängigkeitskrieg erkannt wird, kann sie langfristig bekämpft werden. 6 Frauen in bewaffneten Konflikten: Überlebende, Kämpferinnen, Friedensstifterinnen, www.bmz.de.

DEBATTE

Aus den Augen, aus dem Sinn: Flüchtlingsabwehr in der EU Die Einigung der EU-Innenminister zur Reform des EU-Asylsystems von Anfang Juni bezeichneten viele als „historischen Erfolg“. Dem widerspricht der Migrationsforscher Marcus Engler. Er hält die Strategie der EU-Kommission, den Konflikt um die europäische Asylpolitik einzuhegen, für gescheitert. Als sich die EU-Innenminister:innen nach jahrelangem Streit Anfang Juni auf eine gemeinsame Position zur Reform der europäischen Asylpolitik einigten, feierten EU-Kommission und nationale Regierungen – darunter auch Bundesinnenminsterin Nancy Faeser (SPD) – dies als „historischen Erfolg“. Vor allem NGOs und viele Wissenschaftler:innen sehen in der Einigung hingegen das Ende des europäischen Asylrechts, wie wir es kennen; die den Kompromiss als Teil der Ampelregierung mittragenden Grünen stellte dieser vor eine regelrechte Zerreißprobe, gehört doch die Forderung nach einer humaneren Flüchtlingspolitik seit jeher zum Markenkern der Partei. Die nun getroffene Einigung sieht vor, zunächst alle Schutzsuchenden in geschlossenen Erstaufnahmezentren an den Außengrenzen der EU zu registrieren. Anschließend soll ein Teil der Asylsuchenden ein beschleunigtes Asylverfahren von maximal zwölf Wochen durchlaufen und abgelehnte Asylbewerber:innen direkt aus diesen Zentren abgeschoben werden, was wiederum mehrere Monate dauern kann. Dies betrifft unter anderem Menschen aus Herkunftsländern mit einer durchschnittlichen Schutzquote

von unter 20 Prozent, aber auch Personen, die aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten stammen oder über „sichere Drittstaaten“ eingereist sind. Zwar betonen EU-Kommission und die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten, dass die Standards bei den Asylverfahren und der Unterbringung in diesen Einrichtungen hoch sein werden und es keine Überbelegung geben werde. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit solchen Lagern, allen voran dem 2020 abgebrannten und bis dahin notorisch überbelegten Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos1, sind Zweifel daran allerdings mehr als angebracht. Die Bundesregierung konnte in den Verhandlungen nicht einmal erreichen, dass Familien mit Kindern von diesen Verfahren in haftähnlichen Lagern ausgenommen werden. Problematisch ist auch, dass die Schutzgründe in Schnellverfahren weniger gründlich geprüft werden. Zudem ist die Annahme, abgelehnte Asylbewerber:innen könnten schnell in Drittstaaten zurückgeführt werden, vollkommen unrealistisch, schließlich müssen diese Staaten erst einmal 1 Vgl. Ramona Lenz und Anita Starosta, Die Vergessenen der Coronakrise: Flüchtlinge an Europas Grenzen, in: „Blätter“, 5/2020, S. 13-16.

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42 Marcus Engler bereit sein, Geflüchtete zurückzunehmen. Das aber ist oft nicht der Fall. Vereinbart wurde auch ein „verpflichtender Solidaritätsmechanismus“: Fortan sollen Staaten je nach Bevölkerungszahl und Bruttoinlandsprodukt unterschiedliche Beiträge leisten. Dabei können sie wählen, ob sie Schutzsuchende aufnehmen, finanzielle Hilfe an aufnehmende Staaten leisten oder Personal und technische Ausrüstung entsenden wollen. Auch die Finanzierung von Grenzschutzoder Migrationskontrollpolitiken in Staaten außerhalb der EU soll angerechnet werden können. Der Beschluss sieht vor, zunächst mindestens 30 000 Geflüchtete pro Jahr innerhalb der EU umzuverteilen. Sollten die Pläne vom EU-Parlament angenommen werden, hätte die Union damit erstmals einen dauerhaften Solidaritätsmechanismus eingerichtet, inklusive der Umverteilung von Schutzsuchenden; alle bisherigen Programme hatten nur temporären Charakter. Schon seit Jahren streiten die EU-Mitgliedstaaten über eine gerechtere Verteilung von Asylsuchenden – doch alle Versuche, dies zu erreichen, sind in der Vergangenheit gescheitert. Dabei führt die äußerst ungleichmäßige Verteilung von Schutzsuchenden innerhalb der EU immer wieder zur Überlastung einzelner Aufnahmesysteme. Weil sie gemäß der DublinIII-Verordnung als Ersteinreisestaaten formal für die meisten Asylgesuche zuständig sind, drängen vor allem jene Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen wie Griechenland, Italien, Malta, Zypern und Spanien auf eine verbindliche und gerechtere Verteilung der Asylsuchenden. Länder wie Deutschland, Frankreich, die Beneluxstaaten oder Schweden, in die traditionell ein größerer Teil der Schutzsuchenden weiterreist, wollen diese sogenannten secondary movements hingegen durch den Ausbau der Asylzuständigkeit im Ersteinreisestaat begrenzen, sind aber im Gegenzug für

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Umverteilungen offen. Weitere Staaten – insbesondere die osteuropäischen Visegrád-Staaten – wenden sich wiederum gegen eine verpflichtende Umverteilung und plädieren für eine sehr begrenzte Aufnahme von Schutzsuchenden sowie für Asylverfahren in außereuropäischen Drittstaaten. » Die Stärkung des Außengrenzschutzes ist zum Minimalkonsens in der europäischen Asylpolitik geworden.« Angesichts dieser schier unüberwindbaren Konflikte innerhalb der EU ist die Stärkung des Außengrenzschutzes zum Minimalkonsens in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik geworden. Die EU-Flüchtlingspolitik der vergangenen Jahre ist zudem geprägt von politischen Abkommen mit Nachbarstaaten – wie etwa der Türkei und Libyen – mit dem Ziel, die Zahl der in die EU gelangenden Schutzsuchenden und Migrant:innen zu begrenzen. Diese Ideen haben weiterhin Hochkonjunktur, wie die aktuellen Verhandlungen mit Tunesien und anderen Staaten zeigen. Doch die Abkommen werden zu Recht kritisiert: Sie werden häufig unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Beteiligung von Parlamenten verhandelt. Zudem gehen sie oft mit der Unterstützung von und mit politischen Zugeständnissen an autokratische Herrscher einher.2 Dass im Juni letztlich eine Einigung der Innenminister:innen gelang, ist auch darauf zurückzuführen, dass die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen den rechten EU-Regierungen bereits zuvor weit entgegengekommen war. So basiert der aktuelle Asylkompromiss maßgeblich auf dem im 2 Vgl. Anne Koch, Annette Weber und Isabelle Werenfels (Hg.), Migrationsprofiteure? Autoritäre Staaten in Afrika und das europäische Migrationsmanagement, SWP-Studie 3, April 2018.

Flüchtlingsabwehr in der EU September 2020 vorgestellten „Neuen Pakt für Asyl und Migration“, der bereits verpflichtende Grenzverfahren sowie die Idee einer flexiblen Solidarität beinhaltet – ein Konzept, das die Visegrád-Staaten in die Debatte eingebracht hatten. Dadurch erhoffte man sich in Brüssel eine Beilegung des Dauerkonflikts, an dem die EU einigen Beobachtern zufolge zu zerbrechen droht. Bis Ende Februar 2024 wollen Europäisches Parlament (EP) und die zuständigen Ratspräsidentschaften die Verhandlungen zur Asylreform abschließen. Welche Auswirkungen die Einigung haben wird, ist indes noch nicht klar abzusehen, denn in den weiteren Verhandlungen kann noch viel passieren. Auch ein komplettes oder weitgehendes Scheitern ist nicht ausgeschlossen. Die gerade auch von den Grünen geäußerte Hoffnung, dass das EP noch substanzielle Verbesserungen im Sinne des Flüchtlingsschutzes in die Texte hineinverhandeln können wird, ist allerdings nicht sehr realistisch. Denn der Rechtsruck in vielen europäischen Gesellschaften spiegelt sich auch im Europäischen Parlament wider. Und auch einige der progressiveren Stimmen im EP stehen unter dem Druck ihrer nationalen Regierungen und Parteien. Diese argumentieren, dass sich die politischen Kräfteverhältnisse in Zukunft noch weiter nach rechts verschieben könnten und man das Thema Asyl- und Migrationspolitik lieber vor dem anstehenden Wahlkampf zum EU-Parlament abräumen solle. Daher sei es besser, sich jetzt zu einigen und dabei auch Dinge zu akzeptieren, die man eigentlich nicht gutheißt. Das ist allerdings sehr kurzfristig gedacht: Ob mit oder ohne Einigung über eine gemeinsame europäische Asylpolitik werden rechtsextreme und rechtspopulistische Kräfte in Deutschland und anderswo das Thema Migration auch in Zukunft dauerhaft eskalieren. Schließlich begreifen sie das Asylrecht als störende Variable bei der

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Verfolgung ihrer rassistischen Politik. Unabhängig davon, wie die Verhandlungen in den nächsten Monaten verlaufen werden, kann man schon jetzt festhalten: Die Strategie der EU-Kommission, den politischen Konflikt um die europäische Asylpolitik einzuhegen, ist krachend gescheitert. » Ob mit oder ohne Einigung über eine gemeinsame europäische Asylpolitik werden rechtspopulistische Kräfte das Thema Migration auch in Zukunft eskalieren.« Denn die migrationsfeindlichen Regierungen in Warschau und Budapest votierten wenig überraschend gegen den jüngsten Beschluss und stellten auf dem EU-Gipfel Ende Juni die Abstimmung der Innenminister:innen grundsätzlich infrage. Wie schon in der Vergangenheit beharren sie darauf, dass Beschlüsse im Migrationsbereich mit Einstimmigkeit und nicht mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden sollen. Man kann das Vorgehen der Regierungen aus Warschau und Budapest nicht getrennt sehen von dem viel größeren Konflikt um die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien. Jedoch sind diese Staaten heute nicht mehr isoliert. Anders als 2015 vertreten inzwischen zahlreiche europäische Regierungen – darunter auch von sozialdemokratischen Parteien geführte –, Positionen und implementieren eine Politik, die weder mit bestehendem Völkerrecht noch mit der Idee eines ernst gemeinten Flüchtlingsschutzes vereinbar sind. Darunter finden sich so gut wie alle EU-Staaten mit Außengrenzen. Aber auch die Regierungen Österreichs und Dänemarks vertreten schon länger radikale Positionen. Mit dem Verweis auf die vermeintliche oder tatsächliche Instrumentalisierung von Migrationsbewegungen durch autokratische Regierungen rechtfertigen viele Staaten etwa die verbotenen Push-

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44 Marcus Engler backs an ihren Grenzen – und verletzen damit klar die in der EU geltenden rechtlichen Standards. Seit einigen Jahren geschieht dies zunehmend systematisch und unverhohlen.3

» Erst wenn die Parteien der Mitte konsequent für eine alternative Politik eintreten, wird sich etwas zum Positiven ändern.« Dass dabei regelmäßig Menschen sterben, wie jüngst bei dem dramatischen, wahrscheinlich von der griechischen Küstenwache mitverschuldeten, Untergang eines völlig überladenen Fischkutters mit Hunderten von Toten vor der griechischen Küste,4 nehmen sie sehenden Auges in Kauf. Doch anstatt diese Praktiken zu beenden, verhandeln die EU-Staaten nun auch darüber, diese europa- und völkerrechtswidrige Politik zu legalisieren. Mehrere Staaten haben bereits nationale Gesetze erlassen, die ihnen im Falle einer Instrumentalisierung von Migrationsbewegungen durch Drittstaaten ein weitgehendes Abweichen von rechtlichen Standards ermöglichen, was de facto auch Pushbacks einschließt. Nun wird auch auf EU-Ebene über Regeln für derartige Situationen verhandelt. Auch für den Fall, dass die Beschlüsse in EU-Recht umgesetzt werden, bleiben viele Fragen offen. Ob dieser Mechanismus tatsächlich zu einer gerechteren Verantwortungsteilung zwischen den EU-Staaten führt und damit auch dazu, dass das Recht an den EU-Außengrenzen wieder eingehalten wird, erscheint mehr als zweifelhaft. Denn Vergangenheit und Gegenwart zeigen, dass Staaten kaum oder keine Konsequenzen zu befürch3 Vgl. Maximilian Pichl, Europas Abschied vom Asylrecht: Das Drama an Polens Grenze, in „Blätter“, 1/2022, S. 17-20. 4 Vgl. Ronen Steinke, Das ist kein Unglück, das ist Unrecht, www.sueddeutsche.de, 19.6.2023.

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ten haben, wenn sie EU-Recht brechen. Für wenige, besonders vulnerable Personen könnte sich die Situation mit den neuen Regeln vielleicht sogar verbessern, wenn sie bei der Registrierung identifiziert werden und dann in einem geordneten Verfahren auf andere Staaten umverteilt werden. Für die vielen Menschen aber, die ihr Asylverfahren in den Grenzlagern durchlaufen müssen, ist mit einem stark erschwerten Zugang zum europäischen Asylsystem zu rechnen. Und schließlich werden auch die Risiken für Schutzsuchende, auf den gefährlichen Migrationsrouten über das Mittelmeer zu sterben oder jahrelang in äußert prekären Schwebezuständen auszuharren, weiter steigen. Denn noch mehr als heute werden sie versuchen, Polizeikontrollen und damit die Schnellverfahren an der Grenze zu umgehen. Zudem ist es ein zentrales Ziel der Reform, dass Schutzsuchende die EU gar nicht erst erreichen, sondern in vermeintlich sicheren Staaten außerhalb Europas verbleiben. Damit machen die EU-Regierungen die Welt für viele Menschen in voller Absicht zu einem noch unsicheren Ort. Zwar lohnt es sich, in den nächsten Wochen und Monaten das Beste aus den Verhandlungen herauszuholen. Das Problem ist jedoch viel Grundlegender: Die menschen- und völkerrechtswidrige Praxis vieler EU-Staaten wird sich nicht durch eine technische Einigung auf neue Asylregeln ändern. Hier braucht es einen grundsätzlicheren Kurswechsel in der Migrationspolitik. Erst wenn die Parteien der Mitte ihre Angst davor überwinden, bei Wahlen für eine menschenrechtsbasierte und humanere Migrationspolitik abgestraft zu werden, den Konflikt mit rechten und rechtspopulistischen Kräften aufnehmen und ihn nicht mehr durch das Aufgeben ihrer Positionen zu entschärfen versuchen, erst wenn sie konsequent für eine alternative Politik eintreten, erst dann wird sich wieder etwas zum Positiven im Sinne des Flüchtlingsschutzes ändern können.

KURZGEFASST

Sonja Eismann: Das Rammstein-Syndrom. Junge Frauenkörper als Wegwerfware, S. 47-53 Mit den Vorwürfen junger Frauen gegen den Sänger der deutschen Rockband „Rammstein“, Till Lindemann, scheint die „MeToo“-Bewegung auch in der Musikbranche angekommen zu sein. Die Literaturwissenschaftlerin Sonja Eismann beleuchtet die Machtmechanismen hinter dem mutmaßlichen System Lindemann und fordert, den vielstimmigen Opfern zuzuhören.

Ida Dominijanni: Maskierte Ohnmacht: Berlusconi als Ikone des Populismus, S. 55-61 Die Philosophin Ida Dominijanni beschreibt, wie Silvio Berlusconi die politische Landschaft Italiens über seinen Tod hinaus verändert hat und fragt: Wie war der gesellschaftliche Nährboden Italiens beschaffen, auf dem der Berlusconismus gedeihen konnte?

Norbert Frei: Revisionismus als Versuchung. Die deutschen Deutungseliten und die NS-Vergangenheit, S. 62-76 Die großen Kämpfe über die „Bewältigung“ der deutschen NS-Vergangenheit schienen weitestgehend ausgefochten, bis die AfD diese in revisionistischer Manier wieder aufnahm. Der Historiker Norbert Frei zeichnet die wichtigsten Etappen diese Diskurses bis in die Gegenwart nach.

Wladislaw Subok: Russlands neue Zeit der Wirren. Prigoschins Putschversuch und Putins Schwäche, S. 77-81 Der Aufstand der Wagner-Söldner Ende Juni hat viele, darunter Wladimir Putin, zu Vergleichen mit der Russischen Revolution 1917 bewegt. Dem widerspricht der Historiker Wladislaw Subok. Er sieht viel mehr Parallelen zu einer anderen Ära: der „Zeit der Wirren“ Anfang des 17. Jahrhunderts.

Jens Becker: Im Alarmzustand: Nordosteuropa und der Ukrainekrieg, S. 83-88 Mit ihrem Nato-Beitritt vollziehen Finnland und Schweden einen fundamentalen Politikwechsel. Der Sozialwissenschaftler Jens Becker beleuchtet die Dynamiken, die der Krieg gegen die Ukraine dort und in den drei baltischen Staaten hervorgerufen hat und stellt fest: Trotz aller Dramatik hat die russische Bedrohung diese Staaten nicht in Verlegenheit gebracht.

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Grey Anderson: Bidenomics: Mit Sozialpolitik gegen China, S. 89-96 Die aktuelle Industriepolitik der USA, die „Bidenomics“, wurde von der Linken wegen ihrer klima- und sozialpolitischen Fortschritte insgesamt positiv aufgenommen. Das unterschlage aber den aggressiven, gegen China gerichteten Charakter dieser Politik, so der Historiker Grey Anderson.

Arezao Naiby: Ein Land als Gefängnis. Zwei Jahre Taliban-Herrschaft in Afghanistan, S. 97-102 Als vor zwei Jahren die Taliban erneut die Macht im Land übernahmen, veränderte dies das Leben für die Menschen vor Ort schlagartig. Die Journalistin Arezao Naiby beleuchtet die katastrophale Lage im Land, das heute speziell für Frauen und Minderheiten einem Gefängnis gleicht.

Katajun Amirpur: Iran und die Religion: 70 Jahre Putsch gegen Mossadegh, S. 103-110 Ohne den Putsch gegen Irans demokratisch legitimierten Premier Mohammad Mossadegh lassen sich die Entwicklungen in dem Land nicht verstehen. Die Islamwissenschaftlerin und „Blätter“-Mitherausgeberin Katajun Amirpur erinnert an dieses prägende Ereignis und sieht in dem säkularen Politiker einen Bezugspunkt für die Protestbewegung heute.

Franziska Meyer-Lantzberg, Stefan Kerber-Clasen und Yalçın Kutlu: Kita – Krise – Kollaps?, S. 111-116 Nicht erst seit der Coronakrise leiden Eltern, Erzieherinnen und Kinder unter einem massiven Fachkräftemangel. Die Soziologin Franziska Meyer-Lantzberg und ihre Kollegen Stefan Kerber-Clasen und Yalçın Kutlu analysieren, warum bisherige Lösungsstrategien keine Abhilfe schaffen.

Steffen Vogel: Untergang oder Utopie: Der Klimawandel in der Literatur, S. 117-124 Kann die Literatur uns helfen, angesichts der schon jetzt dramatischen Folgen des Klimawandels nicht in Hilflosigkeit zu erstarren? Der „Blätter“-Redakteur Steffen Vogel hat die wichtigsten Neuerscheinungen gelesen und sieht in einigen Werken konkrete Utopien aufscheinen.

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ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

Das Rammstein-Syndrom Junge Frauenkörper als Wegwerfware Von Sonja Eismann

A

nfang 2020 tauchte im Internet ein Video1 von einem Liveauftritt des Musikers Till Lindemann im Wiener Gasometer auf.2 Der RammsteinSänger, der auch eine Solokarriere als Lindemann verfolgt, ist darauf am Ende eines Konzerts auf der großen Bühnenleinwand so zu sehen, als sei er in diesem Moment „backstage“ und werde dabei live gefilmt. Alles erinnert dabei an einen 100 Jahre alten Stummfilm: Zu heiterer Klaviermusik und mit abgehackten Bewegungen wird in einer Schwarz-weiß-Aufnahme gezeigt, wie der knapp 60jährige stehend die Köpfe von zwei vor ihm knienden Frauen dirigiert. Die beiden nehmen abwechselnd sein erigiertes Glied in den Mund und machen dabei schnelle, ruckartige Bewegungen mit den Köpfen. Lindemann äfft diese Bewegungen simultan mit übertriebenem Grinsen für die Kamera nach und nuckelt dabei mit höhnischem Gesichtsausdruck an seinem eigenen Finger. Das Publikum lacht anfangs ungläubig, dann fängt es an zu johlen und im Takt zu klatschen, während Lindemann, zu wackeligen Kamerabewegungen, die beiden Frauen nacheinander von hinten penetriert. Das gut zweiminütige Video endet damit, dass die Frauen sich die Kleidung zurechtrücken und Lindemanns Weg von unter der Bühne bis auf die Bühne verfolgt wird. Außerhalb der Rammstein-Fangemeinde nahm niemand Notiz von dieser Performance. Die Fans hingegen diskutierten in verschiedenen Foren des Social-Media-Netzwerks Reddit, in dem der Clip geteilt wurde, darüber, wie diese Verwendung von pornografischem Material in einer Konzertsituation zu bewerten sei. Ob hier tatsächlich live von hinter der Bühne gestreamt oder voraufgezeichnet worden sei, ob es sich um vertraglich abgesicherte Sexarbeiterinnen oder freiwillig tätige Fans gehandelt habe, ob alles, auch die Filmübertragung auf die Bühne, konsensuell arrangiert gewesen sei. Der Tenor: Rammstein und insbesondere Till Lindemann seien genau für diese Schockmomente zu Recht so beliebt und lebten von der Provokation. Kein Star dieser Größenordnung würde es riskieren, sich mit erzwungenem Sex bzw. nicht abgesprochenen Darstellungen davon einem öffentlichen Skandal und sogar etwaigen juristischen Konsequenzen auszusetzen. Viele Frauen

1 www.reddit.com/r/Lindemann/comments/f2f7vj/heres_the_video_at_the_end_of_the_lindemann_show. 2 Vgl. Anika Haider, Wir glauben euch, in: „an.schläge“, 5/2023, S. 5.

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48 Sonja Eismann würden quasi Schlange stehen, um mit Lindemann Sex zu haben. Der User WaldemarKoslowski schrieb: „Till ist viel zu intelligent, um solche Aufnahmen ohne die Zustimmung der Mädchen zu verwenden. Es würde ihn für immer ruinieren, und er ist nicht einmal Amerikaner.“3 Doch auch andere Stimmen wurden laut. Solche, die den Film „abstoßend“, „respektlos“ oder einfach „erbärmlich“ fanden. Oder solche, die darauf hinwiesen, dass der Akt höchstwahrscheinlich real und nicht zuvor inszeniert und aufgezeichnet worden sei, da solche Backstage-Szenen bei fast jedem Rammstein-Konzert an der Tagesordnung seien.

Ein nie versiegender Strom jugendlicher Frauenkörper Als die Nordirin Shelby Lynn Ende Mai dieses Jahres auf ihrem TwitterAccount öffentlich machte, ihr seien nach dem Rammstein-Konzert in Vilnius rund um eine Backstage-Begegnung mit Till Lindemann ohne ihr Wissen Drogen verabreicht worden und sie sei erst im Hotel mit Hämatomen zu sich gekommen4, war die Überraschung groß. Sie hätte es nicht sein müssen. Denn die vielen Berichte anderer junger Frauen, die sich nach dem Vorfall mit ähnlichen Erfahrungen an Shelby Lynn wandten, zeichneten ein deutliches Bild5, darunter auch jene der 21jährigen Influencerin Kayla Shyx.6 In den Schilderungen der jungen Frauen ging es nicht um spontane Partyexzesse und lustvolle sexuelle Begegnungen im gegenseitigen Einverständnis, sondern um ein gut durchorganisiertes System, das darauf ausgelegt zu sein scheint, Till Lindemann Zugang zu einem nie versiegenden Strom jugendlicher Frauenkörper zu gewähren. Immer wieder ist in diesen Berichten die Rede davon, dass die Mädchen und Frauen auf diesen Aftershow-Partys abwesend gewirkt hätten, oft getaumelt oder gestürzt seien, sich atypisch „wild“ verhalten hätten oder auch vom Verhalten Lindemanns verängstigt gewesen seien, der in den Räumlichkeiten mitunter randaliert oder mit Gegenständen um sich geworfen habe.7 Während medial in der Russin Alena M. schnell eine Hauptschuldige ausgemacht wurde, die als „Casting-Direktorin“ junge Frauen eingeladen, sie in den vorab angemahnten sexy Outfits in der „Row Zero“ direkt vor der Bühne postiert und anschließend nach Lindemanns Wünschen selektiert habe, äußerte Shelby Lynn auf ihrem Instagram-Account, dass auch andere Personen aus Lindemanns Inner Circle Teil dieses Systems seien.8 Es hätte also alles längst bekannt sein können, was sich mutmaßlich regulär rund um Auftritte von Till Lindemann abspielen könnte 3 4 5 6

Ebd. – Übersetzung durch die Verfasserin. Vgl. www.twitter.com/Shelbys69666. Vgl. www.instagram.com/shelbys69666. Was wirklich bei Rammstein Afterpartys passiert, www.youtube.com/watch?v=9YLsMXyo3Uc, 5.6.2023. 7 Till Lindemanns Anwälte bezeichnen diese Vorwürfe in einer Presseerklärung als „ausnahmslos unwahr“. Schertz Bergmann Rechtsanwälte, Presseerklärung zu Till Lindemann, www.presseportal.de, 8.6.2023. 8 Von ihr benannt werden beispielsweise der Drummer Joe Letz, der Security-Mitarbeiter Danny Uhlmann oder der Manager Anar Reiband. Vgl.www.instagram.com/shelbys69666.

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Das Rammstein-Syndrom 49 (und es erscheint wenig wahrscheinlich, dass ausgerechnet seine eigene Band von all dem nichts mitbekommen haben soll). Dass zuvor niemand darüber gesprochen hat, ist auf vielerlei Ebenen bezeichnend. Weil es, wie die vielen Fan-Diskussionen in den Rammstein gewidmeten Reddit-Foren zeigen, als normal männliches „Rockstar-Verhalten“ toleriert und als legitime Fortführung der künstlerischen „Provokationen“ von Lindemann verteidigt wird. Aber auch, weil die Frauen, die Ähnliches wie Shelby Lynn schildern – die übrigens klar gesagt hat, dass es in ihrem Fall nicht zu Sex gekommen sei –, davon ausgehen müssen, dass ihre Äußerungen diskreditiert und delegitimiert bzw. schlichtweg als Lügen bezeichnet werden. Der Instagram-Account von Lynn wurde binnen kürzester Zeit mit Kommentaren von „I stand with Rammstein“-Unterstützern geflutet, die sie bezichtigten, aus dem Wunsch nach Internet-Ruhm heraus die Unwahrheit zu sprechen – oder aus der Frustration darüber, von ihrem Idol abgewiesen worden zu sein (Lynn bezeichnet sich selbst als „gay“). Zudem verschickten Rammsteins Anwälte massenhaft Abmahnungen bezüglich „unzulässiger Berichterstattung“, die vor allem auf medienferne Personen extrem einschüchternd wirken mussten.

Das Postulat der Freiwilligkeit – und seine perfide Verkehrung Die öffentlichen Debatten drehten sich immer wieder um zwei Punkte: Sind hier strafrechtlich relevante Dinge vorgefallen? Und ist ein solches System, wenn es im Rahmen der Freiwilligkeit operiert, nicht nur im Sinne einer überkommenen Sexualmoral verwerflich? So wichtig die Klärung dieser Punkte ist, lassen sie doch einen Kernbereich der Problematik unberührt. Nämlich jenen der Dominanzverhältnisse in unserer Gesellschaft und der Frage, wie wir miteinander leben wollen und können. In perfider Weise wird hier nämlich das Postulat der Freiwilligkeit und der sexuellen Befreiung, das als Forderung prominent in den feministischen Bewegungen ab den 1960er Jahren verankert war, gegen Frauen gewendet. Aus der Prämisse, dass die sexuelle Revolution stattgefunden und alle befreit hat, wird abgeleitet, dass es nun keine Hindernisse mehr gibt, die eigene Lust zu artikulieren und durchzusetzen – und im Falle mangelnden Begehrens einfach „nein“ gesagt werden kann. Und ein liberaler „Choice-Feminismus“, der mit den radikal emanzipatorischen Kämpfen feministischer Aktivist:innen quasi nichts mehr gemein hat, suggeriert, dass Frauen heute ein unendlicher Strauß an Wahlmöglichkeiten offen stehe, aus dem sie nur die richtige herauspicken müssten. Im Umkehrschluss ist somit auch jede von ihnen getroffene Entscheidung eine bewusste und damit inhärent feministische, so beispielsweise auch jene, den Nachnamen des Ehemannes anzunehmen oder für die Kinderbetreuung auf ein eigenes Einkommen zu verzichten. Ähnlich argumentieren RammsteinFans, die beteuern, jede Frau, die auf eine Backstage-Party gehe, wisse, worauf sie sich einlasse, und habe damit implizit allem Kommenden zugestimmt. Doch inwieweit können wir von Freiwilligkeit sprechen, wenn hier sehr junge Frauen, teilweise fast noch Mädchen, auf einen internationalen, über

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50 Sonja Eismann 60jährigen Superstar treffen, von dem sie in vielen Fällen begeistert und glühende Fans sind? Ein Idol, das nicht nur über weltweiten Ruhm und über mehr als eine Million Social-Media-Follower verfügt, sondern auch über riesiges ökonomisches Kapital sowie einen gut geölten Machtapparat? In dieser asymmetrischen Situation von freiem Willen zu sprechen, wirkt überaus zynisch – auch ohne mitzubedenken, dass vielen Schilderungen zufolge zudem heimlich verabreichte Drogen, die die Handlungsfähigkeit einschränken, mit im Spiel gewesen sein könnten, die Handys der Frauen eingesammelt und die Wege zum Ausgang versperrt worden sein sollen.

Das Groupietum zwischen Befreiung und patriarchalen Klischees Irritierend ist in der Debatte auch, dass Fans und Groupies gleichgesetzt werden. Denn der nicht gegenderte Begriff Fan bezeichnet im herkömmlichen Sprachgebrauch „Follower“ eines Stars oder einer Band, die nicht primär von sexuellen oder romantischen Motiven getrieben werden, sondern von ihrer Begeisterung für die Person oder deren Werk. Den Schilderungen rund um den Rammstein-Skandal zufolge handelte es sich bei den meisten jungen Frauen um Fans der Band oder ihres Sängers. Der Terminus Groupie hingegen impliziert stets ein sexuelles Interesse am Star – er ist übrigens rein weiblich, denn männliche Groupies sind allen Schilderungen von Musikerinnen zufolge so häufig wie Einhörner, da Männer in der Regel lieber selbst auf der Bühne bejubelt werden, als bewundernd bei weiblichen Stars im Bett zu liegen. Er fand erstmals Mitte der 1960er Jahre Verbreitung – die Musikzeitschrift „Rolling Stone“ widmete ihm 1969 eine ganze Ausgabe – und hatte zuerst einen pejorativen Beigeschmack, bis er von weiblichen Musikbegeisterten, die das unbürgerliche Leben der Stars teilten und oft einen veritablen Ehrgeiz entwickelten, mit Rockgrößen zu schlafen, im Lauf der Zeit positiv angeeignet wurde. Dieser Prozess war Teil einer Überwindung bürgerlicher Moralkonzepte, die vor allem Frauen in ihrem sexuellen Handeln einschränkten. Doch auch hier ist das Credo der Freiwilligkeit aus heutiger Perspektive mit Vorsicht zu genießen, denn auch wenn ein Leben als Groupie für einige Frauen den ersehnten Weg aus erdrückend (spieß)bürgerlichen Lebensentwürfen zwischen Ehe, Mutterschaft und Haushaltspflichten bedeuten konnte, so heißt dies nicht, dass diese Existenzform die erträumte war. Denn wahrscheinlich, so vermutet die Musikerin Christiane Rösinger im Gespräch mit der Autorin, war eine Groupie-Existenz der mehr oder weniger einzige Weg, um als Frau aktiv am Musikleben teilzunehmen. Viele dieser Frauen, die wir heute als klassische Groupies wahrnehmen, hätten vermutlich lieber selbst mit der Gitarre in der Hand als Rockstars auf der Bühne gestanden. In diesem Kontext erscheint der Untertitel der damaligen „Rolling Stone“-Ausgabe mehr als vielsagend: „The Girls of Rock“ lautete er – ganz so, als könnten Frauen (hier nur als Mädchen gesehen) lediglich als Groupies ein Teil der Rockkultur werden. Zudem war die sexuelle Revolution, als deren wichtiger Bestandteil das Groupiesystem bis heute gefeiert wird, nicht nur, aber auch

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Das Rammstein-Syndrom 51 eine Überaffirmation bestehender Verhaltenscodices: Männliche Promiskuität, über Jahrhunderte mal mehr und mal weniger still geduldet, wurde nun zum Prinzip erhoben, und Frauen, denen ebendiese sexuellen Ausschweifungen nie zugestanden worden waren, konnten nur um den Preis daran partizipieren, dass sie eine umsorgende und dienende – und damit wieder sehr klassisch weibliche – Form von Sexualität lebten. Sie waren in erster Linie dafür zuständig, zur rechten Zeit sexuell verfügbar zu sein und männliche Stars mit rekreativem Sex zu entspannen. Ihre Körper wurden so zu einer Ressource, anhand derer Männer einerseits gegen das System mit seiner Betonung von heterosexueller Ehe rebellieren konnten, andererseits das patriarchale Klischee vom potenten, promisken Mann überbetonten. Wer sich heute Schilderungen von berühmten „Groupie-Anekdoten“ vornimmt, wird in frappierender Weise an die aktuellen Debatten erinnert. So geistert bis heute der „Mud Shark Incident“ durch Buch- und Internetseiten. 1969 sollen Mitglieder der Bands Led Zeppelin und Vanilla Fudge in Seattle einen Grauhai gefangen, in einem Hotelzimmer ein nacktes Groupiemädchen an ein Bett gefesselt und ihr den zappelnden Fisch dann in Vagina und Rektum gestopft haben, während der Vanilla-Fudge-Sänger Mark Stein den Vorgang mit einer Super-8-Kamera gefilmt haben soll.9 Auch wenn wir heute nicht wissen können, ob sich die Ereignisse wirklich so zugetragen haben und ob die junge Frau hysterisch geweint oder gelacht hat (beides wird berichtet), erscheint es doch relativ unwahrscheinlich, dass diese Situation aus öffentlicher Demütigung, Ausgeliefertsein und Schmerz in irgendeiner Weise zu einem sexuellen Lustgewinn für sie beigetragen hat. Denn es handelte sich offensichtlich nicht um eine konsensuelle BDSM-Session10 mit klaren Regeln, sondern um einen Überrumpelungs- und Überraschungsmoment zum Gaudium der Bands und der Öffentlichkeit – bereits 1971 spielte Frank Zappa auf seinem Livealbum „Fillmore East“ in einem „The Mud Shark“ benannten Song darauf an.

Überrumpelungstaktiken gegenüber weiblichen Fans Diese Überrumpelungstaktiken scheinen auch in Till Lindemanns Begegnungen mit seinen weiblichen Fans eine Rolle zu spielen: Glaubt man den Schilderungen mutmaßlich Betroffener, werden diese vorher offenbar nicht explizit gebrieft, dass sie den Musiker für Sex treffen sollen. Denn wenn es nur um den massenhaft verfügbaren sexuellen Akt an sich ginge, wäre es sicherlich kein Problem, eine klar formulierte Einladung an RammsteinGroupies zu verbreiten. Oder auch Sexarbeiterinnen zu engagieren, da diese Tätigkeit in den meisten Ländern, in denen Lindemann auftritt, legal ist, und der Multimillionär selbstverständlich über das dafür nötige Budget ver9 Rob Hughes, What really happened with Led Zeppelin and the mudshark?, www.loudersound.com, 9.6.2016. 10 „BDSM“ bezeichnet eine Reihe sexueller oder sexualisierter Verhaltensweisen, die u.a. mit Dominanz und Unterwerfung, spielerischer Bestrafung sowie Lustschmerz oder Fesselspielen in Zusammenhang stehen.

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52 Sonja Eismann fügt. Doch hier scheint es eine deutliche Freude an der Ausübung von Macht gegenüber unvorbereiteten oder sogar wehrlosen Körpern zu geben. Die Parallelen zwischen den Schilderungen von betroffenen Frauen, von denen beispielsweise eine äußerte, aus einem möglicherweise drogeninduzierten Torpor – einem physiologischen Schlafzustand – mit einem auf ihr liegenden Lindemann aufgewacht zu sein11, und dem Lindemann-Gedicht „Wenn du schläfst“ sind frappant, heißt es dort doch: „Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst. Wenn du dich überhaupt nicht regst. Mund ist offen, Augen zu“, um zum Schluss noch die Vorteile von „etwas Rohypnol im Wein“ zu preisen.12 Innerhalb dieses Machtgefälles spielt auch das Alter eine verstärkende Rolle. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Lindemann angeblich nach besonders jungen Fans Ausschau halten ließ, denn die Geschichte ist voll von sehr jungen bis minderjährigen Groupies. In Los Angeles gab es die Gruppe der sogenannten Baby Groupies, zu denen unter anderem Sable Starr und Lori Mattix gehörten. Starr hatte nach eigenen Angaben im Alter von zwöf Jahren ihren ersten Sex mit dem Spirit-Gitarristen Randy California13; Iggy Pop sang in „Look Away“: „I slept with Sable when she was thirteen“ – „Ich schlief mit Sable, als sie 13 war.“ Mattix, mitunter auch als Maddox bekannt, wurde als 14jährige von David Bowie „entjungfert“.14 Der Radio-DJ John Peel versteckte seine pädosexuellen Neigungen nicht, sondern hielt lange Jahre einen „Schoolgirl of the Year“-Wettbewerb ab und sagte in den 1960ern über 13jährige Musikfans: „Sie wollten nur, dass ich sie sexuell missbrauche, und wer war ich, da nein zu sagen?“ Mit 26 Jahren heiratete er ein 15jähriges Mädchen.15

MeToo im Musikbusiness: Die Macht der Stars Es ist sicher ebenfalls kein Zufall, dass in den wenigen MeToo-Fällen im Musikbusiness, die der Öffentlichkeit überhaupt bekannt wurden, die männlichen Täter offensichtlich bewusst nach viel jüngeren Opfern suchten, die sie für ihre eigenen Bedürfnisse „groomen“ (zurichten) konnten. Michael Jacksons pädosexuelle Neigungen waren Inhalt einer ganzen Dokumentarserie wie auch die sexualisierte Gewalt und Freiheitsberaubung, die der R’n’B-Star R. Kelly über viele Jahre an jungen Frauen verübte – wofür er Anfang 2023 zu 31 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Die Schauspielerin Evan Rachel Wood schilderte Jahre nach dem Ende ihrer Beziehung mit Marilyn Manson, wie der 18 Jahre ältere Star sie als 19jährige gegroomt, terrorisiert, gefoltert und antisemitisch beleidigt habe. Auch der Sänger der Indieband Arcade Fire, Win Butler, soll über Jahre hinweg mindestens fünf deutlich jüngere Frauen 11 Juliane Löffler, Elisa von Hof, Jurek Skrobala u.a., Sex, Macht, Alkohol – Was die jungen Frauen aus der „Row Zero“ berichten, www.spiegel.de, 9.6.2023. 12 Till Lindemann, Wenn du schläfst, www.lyricstranslate.com. 13 Sable Starr, www.en.wikipedia.org. 14 Pubali Dasgupta, The troubling life of Lori Maddox, the „baby groupie of the stars“, www.faroutmagazine.co.uk. 15 Manfred Sax, Bob Dylan et al. – Halbgötter & Baby Groupies, www.wiener-online.at, 2.11.2021.

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Das Rammstein-Syndrom 53 sexuell angegriffen und emotional belästigt haben.16 Diese Fälle zeigen nicht nur, dass männliche Musiker in machtvollen Positionen gezielt jüngere, von ihrem Ruhm geblendete und verletzliche Personen ins Visier nehmen, sondern auch, was jugendliche Weiblichkeit in unserer Gesellschaft darstellt: Eine für mächtige, alte Männer frei verfügbare Ressource, an der sie sich vampiresk wie an einem Jungbrunnen laben können. Immer wieder wurde in den Diskussionen rund um die mutmaßlichen Lindemann-Übergriffe betont, dass es ihm offensichtlich wichtig sei, sich an diesem „Fleischmarkt“ gratis und ad infinitum bedienen zu können. Intern sollen die für Lindemann ausgewählten und ihm zugeführten Frauen „Schlampenparade“ genannt worden sein, die übrigen, die im regulären Partyraum der Crew verblieben, wurden „Resteficken“ tituliert.17 Jugendliche Frauen(körper) werden fetischisiert und dabei warenförmig und identitätslos behandelt. Die Serialität des Fließbandsexes, den Lindemann angeblich in seiner unter der Bühne aufgebauten „Suckbox“ und an anderen Orten performt, wird so der ultimative Ausdruck des sexistischen Machtverhältnisses. „Das Mädchen ist wegwerfbar, der Mann nicht. Es ist eine sehr einfache Erklärung“, fasst in der Dokumentation „Look Away“ über Teen-Groupies eine weibliche Musikbusiness-Mitarbeiterin die Situation zusammen.18

Die Vielstimmigkeit der Opfer: Wider die männliche Verfügungsgewalt Es bleibt also, neben den juristischen wie auch ethischen Fragen, der große soziale Komplex: Möchten wir in einer Gesellschaft leben, in der Kapitalismus und Patriarchat so verzahnt sind, dass mächtige, reiche Männer in der Lage sind, den vielleicht vulnerabelsten Teil unserer Gesellschaft als eigenschaftslose Verschiebemasse zu konsumieren (und wegzuwerfen)? Oder anders gefragt: Warum sind wir als Kollektiv so verliebt in das archaische Bild des mächtigen alten Mannes, dass wir trotz Hinweisen auf massives Fehlverhalten weiterhin seine Produkte konsumieren (kurz nach Beginn des Skandals belegten sechs Rammstein-Alben Plätze in den Top100-Albumcharts, manche kletterten deutlich nach oben)? Dass wir lieber an seine Unschuld glauben wie die Heerscharen von apologetischen Rammstein-Fans, als der Vielstimmigkeit der Opfer zuzuhören? Am 8. Juni, mitten im Auge des Skandal-Sturms, verabschiedete sich Till Lindemann mit den folgenden Worten von der Bühne des ausverkauften Münchener Olympiastadions: „Wir hatten ein Riesenglück mit dem angekündigten Unwetter, glaubt mir, das andere wird auch vorbeiziehen“. Auch wenn er damit wahrscheinlich Recht haben wird, sollten wir diese Debatte dennoch zum Anlass nehmen, weiter dafür zu kämpfen, dass feministische Unwetter die Matrix aus männlicher Verfügungsgewalt und ökonomischer Macht dauerhaft ins Wanken bringen. 16 Marc Hogan, Arcade Fire’s Win Butler Accused of Sexual Misconduct by Multiple Women; Frontman Responds, www.pitchfork.com, 27.8.2022. 17 Löffler/von Hof/Skrobala u.a., a.a.O. 18 Look Away examines sexual abuse in the music business, www.ft.com, 10.9.2021.

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AUFGESPIESST

Ganz unideologisch wolle er regieren, hatte Kai Wegner im Wahlkampf getönt, die Stadt wieder vereinen, eine Politik für alle machen. Nun ist der CDU-Mann tatsächlich der neue Berliner Regierende und wie zum Beweis verkündet seine Parteifreundin und Verkehrssenatorin Manja Schreiner: „Wir machen keine Politik für das Auto, wir machen keine Politik gegen das Auto. Wir machen eine Politik mit dem Auto“. Wenn das nicht nach Ideologiefreiheit klingt! Dass vom Fahrrad keine Rede ist, obwohl Frau Schreiner auch für den Klimaschutz zuständig ist – geschenkt! Dafür immer fest im Blick: die armen, ach so gebeutelten Berliner Autofahrer, die nun endlich wieder durch die zuvor grün-gesperrte Friedrichstraße brausen dürfen.

Der neue Berliner Autowahn Und das aus gutem Grund: Schließlich haben die Autofahrer vor allem der städtischen Außenbezirke der Union den Wahlsieg beschert. Und dafür werden sie jetzt belohnt, wird dem Auto endlich wieder jener Stadtraum eingeräumt, der ihm gebührt. Das derweil beispielsweise die einstige Autostadt Hannover eine autofreie Innenstadt plant, ist den Berliner Machern Wumpe. Freie Fahrt für freie Bürger, lautet hier noch immer die Devise. Kein Autoparkplatz soll fallen für andere Verkehrskonzepte – das ist das neue Mantra in der Hauptstadt. So hält auch Bundesverkehrsminister Volker Wissing am völlig antiquierten Weiterbau der A  100 durch die Berliner Innenstadt fest, zu Lasten von Wohnungen und Clubs, die – man höre und staune – dafür sogar enteignet werden! Hier gehts schließlich um die Raserei, aller städtischen Luftver-

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schmutzung zum Trotz. Aber was soll‘s: Wissing braucht aufs Klima ja seit neuestem nicht mehr zu achten – die Ampel macht’s möglich, sollen doch die anderen Ministerien seine verpassten Sektorziele kompensieren. Die Verkehrssenatorin wollte sich da nicht lumpen lassen und stoppte unzählige bereits geplante Radwege. Dass die Bezirke damit Gefahr laufen, Bundes- und EU-Zuschüsse in zweistelliger Millionenhöhe zu verlieren: Wen schert‘s! Wer schon einmal zig Milliarden für einen untauglichen Flughafen in den märkischen Sand gesetzt hat, für den sind so ein paar Millionen doch schlicht Peanuts. Dachte sich der neue Senat. Doch da hatte er sich verrechnet: Mit einem acht Kilometer langen Fahrradkorso protestierten mehr als 13 000 Berliner gegen den neuen Autowahn und für die nötige Verkehrswende – angesichts rasant gestiegener Fahrradfahrerzahlen und dem immer drängender werdenden Klimaschutz. Und wie reagierte Frau Schreiner? Wie Vogel Strauß: Auf einmal wollte sie den Radwegestopp gar nicht persönlich verhängt haben, sondern eine untergeordnete Behörde, angeblich ohne ihre Kenntnis. Die bereits im Bau befindlichen Radwege dürften natürlich weitergebaut werden. Für alle anderen aber gilt weiter die neue Maßgabe: Kein Fahrradweg, wenn es auch nur einen Autoparkplatz kostet. Was für ein Berliner Irrsinn! Dabei hat sich eines längst gezeigt: Eine fahrradfreundliche Stadt sorgt für mehr Verkehrssicherheit, spart CO2 und führt sogar zu schnellerem Autoverkehr. So liegt die Auto-Durchschnittsgeschwindigkeit in der Fahrrad-Metropole Amsterdam bei 40 km pro Stunde – derweil deutsche Städte oft kaum auf 30 km/h kommen. Ganz in diesem Sinne, lieber Berliner Senat, Reisen bildet! Haltet es deshalb in Zukunft bitte mit Eurem großen Ernst Reuter: „Schaut aus dieser Stadt!“ Annett Mängel

Maskierte Ohnmacht: Berlusconi als Ikone des Populismus Von Ida Dominijanni

D

ie Aussicht auf Krankheit und Tod hat das Leben von Silvio Berlusconi wie ein Gespenst begleitet, besser gesagt, wie ein unaussprechliches Doppel, das er von sich fernhalten und mit allen Mitteln zu bannen suchte: beginnend mit seinem illusorischen Optimismus ewiger Jugend, über die Schönheitschirurgie bis hin zur Konstruktion eines eigenen monumentalen Grabmals im Garten seiner Villa in Arcore. Dieses Gespenst war wahrscheinlich, wie man in der Psychoanalyse sagen würde, sein Fundamentalphantasma, die verdrängte Obsession, die alles andere bewegte, ein Energieerzeuger auf abstürzendem Grund. Doch alle Menschen wissen, und auch Berlusconi kam nicht umhin zu wissen, dass jenes Gespenst, wie auch immer sein Einfluss auf unser Unbewusstes sein mag, früher oder später dazu bestimmt ist, sich zu materialisieren. Die letzte Stunde kommt für alle, für Berlusconi schlug sie am 12. Juni. Eine politische Vita, die eine Epoche geprägt hat, endete, ohne dass auch nur eine der großen Fragen gelöst wäre, die sie in einem nach ihrer Vorstellung und zu ihrem Ebenbild geformten Land aufgeworfen hat. Nur um sechs Monate verpasste Berlusconi den dreißigsten Jahrestag seines legendären „Gangs auf das Spielfeld“1 der Politik am 26. Januar 1994. Er ist für das kollektive Gedächtnis zu jenem periodisierenden Ereignis geworden, das die Grenze zwischen der (sogenannten) ersten und der (sogenannten) zweiten italienischen Republik markiert. Niemand von den renommierten Kommentatorinnen und Kommentatoren glaubte damals, dass der Begründer des Medienkonzerns Fininvest mit der im Fernsehen ausgestrahlten Liebeserklärung – „Italien ist das Land, das ich liebe“ – tatsächlich das Herz einer Wählerschaft erobern würde, die nach Tangentopoli2 und den

* Deutsche Erstveröffentlichung eines Textes von Ida Dominijanni, der unter dem Titel „Dopo Berlusconi. Il lutto che resta da fare“ zuerst am 14. Juni in der Zeitschrift „Internazionale“ erschienen ist. Die Übersetzung aus dem Italienischen stammt von Catrin Dingler. 1 Berlusconi, der von 1986 bis 2017 Besitzer des Fußballclubs AC Mailand war, verkündete seinen Eintritt in die Politik mit der aus der Sprache des Fußballs entlehnten Wendung „discesa in campo“ (etwa: aufs Spielfeld gehen, den Rasen betreten). 2 Tangentopoli (wörtlich: Stadt der Schmiergelder) ist eine journalistische Wortschöpfung für die kriminellen Verstrickungen des politischen Systems der italienischen Nachkriegsrepublik, das zu Beginn der 1990er Jahre im Rahmen umfangreicher staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen unter dem Namen Mani pulite („Saubere Hände“) ein System aus Korruption, Amtsmissbrauch und illegaler Parteienfinanzierung aufdeckte und den Zusammenbruch der Parteienlandschaft der „ersten“ Republik nach sich zog.

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56 Ida Dominijanni Bombenattentaten der Mafia3 traumatisiert war und sich von der Staatsanwaltschaft die Aufarbeitung des Zusammenbruchs des politischen Systems erhoffte. Aber – „amor ch’a nullo amato amar perdona“4 – Berlusconi gewann die Herzen mit dem Versprechen auf eine strahlende Zukunft, die alle auf magische Weise erlösen würde aus einer „politisch und ökonomisch bankrotten Vergangenheit“. Mit der Wahl vom 27. März 1994 verschrieb sich Italien also Silvio Berlusconi, der mit drei Neuheiten, von der die eine in der anderen steckte wie in einer siegreichen Matrjoschka, die politische Struktur des Landes radikal veränderte: Zum ersten Mal gelang einer „Partei-Firma“, die völlig auf die Figur ihres Vorsitzenden ausgerichtet und nicht nur in ihrem Namen Forza Italia an die Sprache des Privatfernsehens und der Werbung angepasst war, der politische Durchbruch. Zum ersten Mal verbündete sich eine Partei, die sich der politischen Mitte zuordnete, jedoch erkennbar der politischen Kultur Craxis5 entstammte, dauerhaft mit zwei rechten Parteien. Somit wurde die bis dahin von jeder Regierung ausgeschlossene neofaschistische Partei von Gianfranco Fini, der Movimento Sociale Italiano (MSI), politisch salonfähig, und der bis dahin auf die Dimensionen einer Regionalpartei begrenzten Lega Nord von Umberto Bossi wurde nationale Bedeutung zuteil. Zum ersten Mal verwirklichte eine Mitte-rechts-Koalition, indem sie einen breit angelegten, schon länger eingeleiteten Prozess für sich vereinnahmte, ein Mehrheitswahlrecht, nachdem das politische System ein halbes Jahrhundert auf der Grundlage eines Verhältniswahlrechts funktioniert hatte. Zusammengenommen verliehen diese drei Neuheiten dem deutlich von persönlichen Interessen getriebenen Abenteuer Berlusconis eine staatstragende Bedeutung. Auch wenn ihm die angestrebte Modifizierung der Verfassung letztlich nicht gelang, erwarb sich Berlusconi auf politischer Ebene die Rolle des Gründervaters der zweiten Republik. Das garantierte ihm eine Zentralität, die langlebiger war als seine vier Regierungen (1994-1995; 20012005; 2005-2006 und 2008-2011) und sicherte ihm einen Einfluss, der dauerhafter war als seine erfolgreichen Jahre. So erklärt sich, warum die auf seinen Eintritt in die Politik folgenden (fast) zwanzig Jahre in die Geschichtsschreibung als das „berlusconianische Ventennio“6 eingegangen sind, obwohl sie von zwei Regierungszeiten des Mitte-links-Bündnisses Ulivo unterbrochen waren (1996-2001 und 2006-2008); und warum seine politische Rolle wichtig 3 Als Antwort auf die Urteile im sogenannten Maxiprozess gegen Cosa Nostra antwortete die sizilianische Mafia mit einer Serie von Bombenattentaten: Im Frühsommer 1992 wurden die führenden Antimafia-Richter Giovanni Falconi und Paolo Borsellino ermordet, bis 1994 folgten zahlreiche weitere Terroranschläge gegen Politiker und Journalisten sowie auf Sport- und Kulturstätten. Vgl. Theresa Reinold, „Basta Mafia!“ Wie sich der Rechtsstaat gegen das organisierte Verbrechen behauptet, in: „Blätter“, 5/2022, S. 95-100. 4 Berühmter Vers aus Dantes „Göttlicher Komödie“, im fünften Gesang des Inferno heißt es in der deutschen Übersetzung von Kurt Flasch „Amor, der keinem Geliebten das Lieben erlässt“. 5 Bettino Craxi (1934-2000) war von 1976 bis 1993 Vorsitzender des Partito Socialista Italiano (PSI) und in den Jahren 1983 bis 1987 Ministerpräsident. Um einer Inhaftierung im Zuge der Ermittlungsverfahren Mani pulite zu entgehen, flüchtete Craxi 1994 nach Tunesien und lebte bis zu seinem Tod im nordafrikanischen Exil. Vgl. Susanna Böhme-Kuby, Die Craxi-Berlusconi-Connection, in: „Blätter“, 4/2010, S. 27-31. 6 Das Ventennio umfasst allgemein einen Zeitraum von zwanzig Jahren, dient in Italien jedoch als Bezeichnung für die zwanzigjährige faschistische Diktatur Benito Mussolinis (1925-1945).

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Berlusconi als Ikone des Populismus 57 blieb, auch nach seiner endgültigen Entfernung aus dem Amt des Ministerpräsidenten 2011, als er aufgrund der Nachwirkungen der Sexgate, der Verurteilung wegen Steuerbetrugs und der Finanzkrise von mehreren Seiten gleichzeitig unter Beschuss geriet und sein unaufhaltsamer politischer Abstieg begann.

Prägung aus Granit Richtig ist, dass das letzte Jahrzehnt seine eigene Geschichte geschrieben hat. Mit dem Movimento 5 Stelle (M5S) tauchte eine politische Bewegung auf, die sich „weder rechts noch links“ verorten wollte und damit, wenngleich nur vorübergehend, zum Bruch der bipolaren Logik des Parteiensystems führte. Es gab außerdem die Wechsel zwischen „technischen“ Regierungen, die von parteilosen Fachleuten geführt und im Parlament von großen Koalitionen gestützt wurden, und den die Parteilager übergreifenden „populistischen“ Regierungen. Richtig ist aber auch, dass Berlusconi den Fortgang der Politik weiterhin entscheidend beeinflusst hat und darüber hinaus mit bemerkenswerter Klugheit das eigene Image des permanenten Ausnahmepolitikers in das vertrauensvollere Image des moderaten (und moderierenden) Garanten des politischen Systems verwandelte, bis er sich schließlich 2022 selbst als Kandidat für das Amt des Staatspräsidenten vorschlug. Richtig ist aber vor allem, dass die politische Ordnung, mit der Italien es heute zu tun hat, ganz und gar jener entscheidenden Wendung geschuldet ist, die Berlusconi im lang zurückliegenden 1994 der nationalen politischen Geschichte gegeben hat. Berlusconis einstiges Mitte-rechts-Bündnis hat sich zwar inzwischen in ein Rechts-mitte-Bündnis verwandelt, in dem die Forza Italia gegenüber den extremistischen Verbündeten eine Minderheitenposition einnimmt. Dennoch ist die bizarre und widersprüchliche Koalition, die seinerzeit von ihm ins Leben gerufen wurde, erneut sicher an der Regierung, mit sehr geringer Hoffnung für das Mitte-links-Lager, sie zu verdrängen. Und obwohl der postfaschistische Souveränismus von Giorgia Meloni in mehr als einer Hinsicht mit der unzweifelhaft viel genussfreudigeren und weniger illiberalen Weltsicht Berlusconis kollidiert, so wären doch die aktuellen Kulturkriege – vom fortschreitenden Geschichtsrevisionismus bis zu den Bekenntnissen zum Anti-Antifaschismus, vom migrationsfeindlichen Rassismus bis zum genderfeindlichen Kreuzzug – nicht möglich ohne die politische Anerkennung der alten und neuen extremistischen Rechten, die das berlusconianische Ventennio charakterisiert haben. Lange vor dem Aufstieg Melonis haben im Übrigen die Ereignisse während des G8-Gipfes in Genua 2001, auf dem der stellvertretende Regierungschef Fini als bewaffneter Arm des gastgebenden Ministerpräsidenten Berlusconi auftrat,7 bezeugt, dass es sich um alles 7 Während des G8-Gipfeltreffens in Genua im Juli 2001 kam es zu gewalttätigen Übergriffen und Misshandlungen der italienischen Carabinieri gegen globalisierungskritische Demonstrantinnen und Demonstranten, die von Fini, der selbst vor Ort war, gerechtfertigt wurden. Der Student Carlo Giuliani wurde von der Polizei erschossen.

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58 Ida Dominijanni andere als eine zufällige Partnerschaft zweier unterschiedlicher Rechtsparteien handelt. Unter diesem Blickwinkel kommt Berlusconis Tod in einem ungünstigen historischen Moment, da er die kriegstreibenden Kräfte der Regierung und die Pläne der Ministerpräsidentin für ein „Europa der Nationen“ vielleicht hätte entschärfen können. Auf politischer Ebene wird Berlusconis Prägung, widerständig wie Granit, in allen Formen des öffentlichen Handelns nachwirken, die sich mit ihm und nach ihm in der unumkehrbaren Krise der repräsentativen und partizipativen Demokratie durchgesetzt haben: die Privatpartei und die Personalisierung der Parteiführung; die Medialisierung des politischen Diskurses und die Transformation der demokratischen Agora in eine TV-Arena; der Aufruf ans Volk ohne Intermediation als Chiffre des Populismus; die Identifikation der Bevölkerung mit dem Parteiführer und die Publikumsdemokratie. Auch die Verflechtung von persönlicher Biographie, privaten Geschäftsinteressen und der Ausübung eines öffentlichen Amts gehören inzwischen zur Phänomenologie einer Dekomposition der Politik und einer Deformation der Demokratie, die sich längst weltweit ausgebreitet hat, für die der Berlusconismus jedoch ein antizipatorisches und auf seine Weise geniales Laboratorium war. Dies gilt es anzuerkennen in Anbetracht einer zerstreuten Linken, die im schlimmsten Fall als Komplizin agierte und im besten Fall an verbrauchten kulturellen Mustern festhielt.

Der unerforschte Kern Wenn man vom Berlusconismus spricht, spricht man jedoch zugleich von etwas anderem, von einem Kern, der in vielerlei Hinsicht noch unerforscht ist. Man spricht von etwas, das die italienische Gesellschaft verführt und geformt hat und um das herum sich bis heute das Verhältnis spinnt zwischen dem kollektiven Imaginären und dem Gespenst eines Anführers (capo), dessen Zeit seit langem zu Ende ist und dennoch immer weiter über dem Land schwebt. Um diesen Kern genau in den Blick zu nehmen, fehlte lange und fehlt noch immer die richtige Distanz, insbesondere in einer vertikal gespaltenen Gesellschaft zwischen geneigter Bewunderung und hochmütiger Verachtung für Berlusconi. „Wir machen uns zu groß vor seiner mutmaßlichen Kleinheit. Wir machen uns zu klein vor seiner mutmaßlichen Größe“, schrieb der Soziologie Alberto Abruzzese prophetisch schon 1994. Wenig hilfreich für die umfassende Erforschung dieses Kerns war außerdem ein auf die juristische Aufarbeitung fixierter Moralismus, der weite Teile des Anti-Berlusconismus antrieb, als ob ein Phänomen, das an eine anthropologisch-politische Transformation anknüpft, wie eine amoralische und illegale Wucherung entfernt werden und auf ein dreißigjähriges Duell zwischen Ex-Ministerpräsident und Staatsanwaltschaft herabgestuft werden könnte (36 Prozesse, eine Vielzahl an beauftragten Anwälten und nur eine endgültige Verurteilung zwischen lauter Freisprüchen, Archivierungen, Verjährungen und Amnestien).

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Berlusconi als Ikone des Populismus 59 Wenn man aus der beeindruckenden Bibliographie über das biographische und politische Abenteuer des Cavaliere die vielen Titel herausnimmt, die seine Vita auf das Skandalöse und Folkloristische reduzieren, zeigen sich drei wiederkehrende kritische Erklärungsansätze.

Kollektive Identifikationen Der erste Ansatz wirft Berlusconi seine radikale Anomalie vor (Interessenkonflikte, Gesetze ad personam, wiederholte Angriffe auf die Verfassung) im Vergleich zur liberaldemokratischen Norm und Normalität und angesichts der von ihm selbst zu Beginn seiner politischen Karriere angekündigten „liberalen Revolution“. Es ist ein irreführender Ansatz, der die typisch neoliberale Konterrevolution, die Berlusconi in Italien dreißig Jahre angeführt hat, auf das klassische Modell der Liberaldemokratie zurückführen will, obwohl der Neoliberalismus schon seit einem halben Jahrhundert die liberalen Demokratien des Westens zerstört, indem er das Leben der Individuen, die sozialen Beziehungen und die institutionelle Architektur zu Waren erklärt und den Regeln des Marktes, einer Ethik des Selbstunternehmertums, der Konkurrenz und einem von Verantwortung und Gesetz losgelösten Verständnis von Freiheit unterwirft. Der zweite Ansatz betont zu Recht die Durchschlagskraft von Berlusconis Fernsehimperium, mit dem der politische Konsens geschaffen wurde. Er läuft aber Gefahr, den verführerischen Wert jener programmatischen Umwandlung der Realität in reality und fiction zu unterschätzen, die schon vor den Parlamentswahlen Geist und Körper der zur audience reduzierten Bevölkerung verändert hat – von der Fähigkeit, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden, bis hin zur ästhetischen Sensibilität. Der dritte Ansatz verweist auf den Erfolg von Berlusconis Wahlprogramm bei einem aus der Asche des Fordismus entstandenen sozialen Block aus Kleinunternehmern, (Schein-)Selbstständigen sowie Wissens- und Kreativarbeitenden, der bei der Linken kein Gehör und keine Repräsentation fand. Er erklärt aber nicht, wie sich dieser originäre Zuspruch umgehend in einen transversalen, landesweiten und klassenübergreifenden Konsens verwandelte und zum festen Fundament eines Populismus wurde, den Berlusconi inauguriert, der aber nach ihm nur seine Form und seine Interpreten gewechselt hat. Keiner der drei Ansätze vermag letztlich umfassend zu erklären, warum sich die Ikone Berlusconi dauerhaft im italienischen Imaginären festsetzen konnte. Jenseits der Faszination für den erfolgreichen Selfmademan und den milliardenschweren Tycoon geht es dabei um das Verhältnis zwischen den bewussten und unbewussten kollektiven Identifikationen und dem Profil der politischen Führung. Das berlusconianische Experiment sollte genauer am Schnittpunkt dreier Tendenzen verortet werden: der bereits erwähnten neoliberalen Konterrevolution; dem durch die Mediatisierung der Öffentlichkeit ausgelösten Wechsel

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60 Ida Dominijanni des Regimes des Wahren und des Falschen, des Sichtbaren und des Unsichtbaren, des Sagbaren und des Unsagbaren sowie der Transformation der symbolischen Ordnung. Diese trägt in der psychoanalytischen Literatur den Titel „Der Untergang des väterlichen Gesetzes“, mit den dazugehörigen Folgen für den Niedergang der Autorität und der Legalität. In der feministischen Literatur trägt sie den Titel „Das Ende des Patriarchats“, mit den dazugehörigen Folgen für das Rollenbild der Männlichkeit, für die Geschlechterverhältnisse und für die Gesamtverfassung des sozialen Zusammenhalts. Eingeordnet in diese Transformation der symbolischen Ordnung gewinnt die Ikone Berlusconi das präzisere, zugleich unheimlichere Profil eines postödipalen und postpatriarchalen Leaders,8 der nicht das Gesetz verkörpert, sondern das Genießen und die Überschreitung, und der versucht, die verlorene Bedeutung einer ins Wanken geratenen Männlichkeit wiederherzustellen, indem er Frauen mit den erpresserischen Waffen der Macht und des Reichtums zu verführen sucht. Ein idealer Spiegel für ein Land, das mit der Legalität immer ein Problem hatte und sich nie mit der Freiheit der Frauen auseinandergesetzt hat.

Ein Tauschsystem aus Sex, Macht und Geld Es ist das Profil Berlusconis, das aus dem sogenannten Sexgate hervorgeht, das dank der öffentlichen Wortmeldungen einiger Frauen – allen voran der damaligen Ehefrau des Ministerpräsidenten, Veronica Lario, – ein Tauschsystem aus Sex, Macht und Geld ans Licht brachte. In diesem Tauschsystem waren Berlusconis privates und öffentliches Leben nahtlos miteinander verbunden, vereint durch dasselbe Regime des Genießens, dieselbe Amoralität, dieselbe Vorstellung von Freiheit als Marktfreiheit, derselben Überzeugung, dass alles zur Ware reduziert, verkauft und gekauft werden kann, derselben Aufforderung zur Übertretung, derselben Machtausübung, die von einem Hofstaat aus Imitatoren und Schmeichlern unterstützt wurde. Die SexgateAffäre war alles andere als ein einfacher Fehltritt, auf den sie seinerzeit reduziert wurde und auf den sie der Kreis derer, die Berlusconi post mortem ihre Ehre erweisen, noch heute zu reduzieren versucht, sie war vielmehr das Unvorhergesehene, das den Schleier des Systems zerriss. Unter dem zerrissenen Schleier gab es keinen Vater des Vaterlandes, es gab nur den „Papi“ der Bunga-Bunga-Partys. Es gab keine bewusste Identifikation mit einem reichen und mächtigen Leader, sondern die unbewusste Identifikation mit einer Maske: der Maske eines sexuellen und politischen Hochstaplers, die das ihn verfolgende Phantasma der politischen und sexuellen Impotenz bedecken sollte.9 Der König war nackt, entblößt hatten ihn seine 8 Hier und im Folgenden Englisch im Original – Anm. d. Ü. 9 Vgl. hierzu Ida Dominijanni, Il trucco. Sessualità e biopolitica nella fine di Berlusconi, Rom 2014. Ein Kapitel dieses Buches, das die psychoanalytische und feministische Deutung der Transformation der symbolischen Ordnung ausführlicher reflektiert, liegt in deutscher Übersetzung vor, vgl. Ida Dominijanni, Papi und der Name des Vaters, in: Tove Soiland, Marie Frühauf und Anna Hartmann (Hg.), Sexuelle Differenz in der postödipa-len Gesellschaft, Wien 2022, S. 198-230.

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Berlusconi als Ikone des Populismus 61 eigenen Frauen, die Ehefrau und eine Reihe von Mätressen. Seine politische Karriere beendeten Hunderttausende von Frauen, die auf ihren Demonstrationen „Basta“ riefen, lange bevor die europäischen Staatspräsidenten und Regierungschefinnen seine nunmehr offen zu Tage getretene Vulnerabilität ausnutzten und den Ministerpräsidenten für die italienische Staatsverschuldung und den Zinsaufschlag für Staatsanleihen zur Verantwortung zogen und zum Rücktritt drängten.

Unvermeidbare Trauerarbeit Die jüngste Polemik zum Tod des polarisierenden Leaders spaltete Italien in diejenigen, die die angeordnete Nationaltrauer, zu der sich alle vereinigen sollten, akzeptierten, und diejenigen, die sie ablehnten. Die Gründe derjenigen, die sie ablehnten, sind über jede Kritik erhaben, doch wichtiger scheint mir, dass endlich getrauert wird. Im Juni ist der Mensch Berlusconi gestorben, der Politiker Berlusconi ist schon 2011 abgetreten – nur folgte auf sein Ende keine Trauerarbeit, deshalb konnte er politisch nicht begraben werden und überlebte sich selbst um mehr als zehn Jahre. Die Weitergabe des politischen Zepters von Berlusconi an Mario Monti, die unter Umgehung des Wahlritus vom damaligen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano angeordnet worden war, garantierte eine passive Transition vom Karneval des Genießens zur Fastenzeit der Austerity, ohne aufzuarbeiten, was endete und was anfing, oder was aus der Vergangenheit fortbestehen würde in der Gegenwart und in der Zukunft. Wie alle narzisstischen Leader, die die Weltbühne heimsuchen, hat Berlusconi im eigenen Land keine Nachfolger hervorgebracht, doch kann er, angefangen mit Donald Trump, auf viele Imitatoren im Ausland verweisen. Er hinterlässt ein Land, das unter seiner glitzernden Hegemonie vor dreißig Jahren einen Weg des unumkehrbaren Niedergangs eingeschlagen hat; eine Politik, deren Grammatik und Syntax entstellt ist; ein Informationssystem, das in seinen Inhalten und seiner Sprache für immer verändert ist; eine Justiz, die ständigen Angriffen ausgesetzt ist; eine Gesellschaft, die sich in Körper und Seele verändert hat; und eine widerspenstige Erbin, Giorgia Meloni, die nach der postpatriarchalen Unordnung, durch die Berlusconi mit Rückenwind zu navigieren verstand, nach der Wiederherstellung der traditionellen Ordnung strebt und diese mit einem weiblichen Stempel besiegeln will. Vor allem aber hinterlässt Berlusconi diese unbewusste Identifikation mit der Maske einer Macht, die die Ohnmacht verdeckt. Es ist eine depressive Identifikation, die den sozialen Protest verstummen lässt und stets neu erfundenen Leadern Erfolg beschert, die nicht für das gewählt werden, was sie tun können, sondern dafür, wie sie es schaffen, das zu verbergen, was sie nicht wissen oder nicht tun können. Trauerbewältigung nach dem Tod von Berlusconi bedeutet, dieser depressiven Identifikation ein Ende zu setzen und endlich etwas Neues anzufangen.

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Revisionismus als Versuchung Die deutschen Deutungseliten und die NS-Vergangenheit Von Norbert Frei

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ie Carl Friedrich von Siemens Stiftung war in den vergangenen Monaten wiederholt Gegenstand kritischer Berichterstattung in den deutschen Feuilletons. Mindestens zu Teilen hing das mit jenem Thema zusammen, von dem heute Abend ausführlich die Rede sein soll: nämlich mit dem Umgang der deutschen Deutungseliten mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Ich werde auf diesen Zusammenhang im Laufe des Vortrags zurückkommen, will aber schon hier sagen: Dazu gehört natürlich auch, dass die Stiftung bereits vor Jahrzehnten Anlass gehabt hätte, sich von ihrem langjährigen Geschäftsführer Armin Mohler zu distanzieren, zum Beispiel 1995, als er sich in einem Interview mit der Leipziger Volkszeitung ausdrücklich zwar nicht als Nationalsozialist, aber zum Faschismus bekannte. Dass diese Distanzierung nicht geschah, liegt als Schatten auch über der Amtsführung seines damaligen Wunschnachfolgers Heinrich Meier. Aber lassen Sie mich zunächst die Umstände offenlegen, unter denen der heutige Abend zustande gekommen ist. Ende April letzten Jahres erreichte mich eine Nachricht von Marcel Lepper, der sich als neuer Geschäftsführer dieses Hauses vorstellte und mir dann in einem Telefonat sein Vorhaben skizzierte, dessen Geschichte in der Ära seines Vor-Vorgängers Mohler aufzuarbeiten. Dazu, so erklärte er mir, wolle er die Akten der Stiftung digital aufbereiten lassen und zu gegebener Zeit den Rat externer Fachleute einholen. Als jemand, der dieses Haus seit Mohlers Zeiten skeptisch im Blick behalten hatte, schien mir das ein überaus sinnvolles, für eine neue Geschäftsführung geradezu zwingendes Vorhaben zu sein, und so sagte ich die erbetene Unterstützung prinzipiell zu. Kurz darauf kam die Einladung zum heutigen Vortrag, dessen Termin und Thematik also seit über einem Jahr feststehen. Mitte Februar bat mich eine Mitarbeiterin der Stiftung um den genauen Titel meines geplanten Vortrags und um ein paar erläuternde Zeilen dazu, und ich bat meinerseits um die in der Stiftung womöglich vorhandenen Unterlagen zu einem Vortrag, den ich im Frühjahr 1980 hier gehört hatte. Der Redner vor 43 Jahren war niemand anderer als Ernst Nolte; ihn, ebenso wie Mohler, hatte ich im Sinn, als ich in meinem kleinen Erläuterungstext, der

* Bei dem Beitrag handelt es sich um die ungekürzte Wiedergabe eines Vortrags in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München am 22. Juni 2023.

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Revisionismus als Versuchung 63 Ihnen als Einladung zugegangen ist, vom „Genius Loci“ sprach – aber auch dazu später mehr. Am 22. Februar, exakt zwei Tage, nachdem mir Herr Lepper die erbetenen Unterlagen zu Noltes Vortrag hatte schicken lassen, erhielt ich seine Nachricht, man habe ihn „gestern in einer nebulösen Aktion aus dem Amt befördert“. Leppers schon nicht mehr aus der Stiftung, sondern über seinen Leipziger Universitätsaccount versandte Nachricht bestand ansonsten nur aus dem knappen Hinweis: „Mir haben schon viele Fachkollegen vorher gesagt: Wer weiß, wie lange man die historische Aufarbeitung gewähren lässt.“ Alles Weitere habe ich, wie vermutlich viele hier im Publikum, in den Wochen danach der Presseberichterstattung bzw. der Stellungnahme auf der Homepage der Stiftung entnommen. Ich muss sagen, dass mich diese widerstreitenden Informationen bis heute ratlos machen. Und ich glaube, so geht es den meisten Außenstehenden. Lassen Sie mich ganz offen hinzufügen, dass ich deshalb zwischenzeitlich überlegt habe, ob es richtig und sinnvoll ist, den doch unter ganz anderen Umständen verabredeten Vortrag zu halten. Nachdem aber von Seiten der Stiftung keine Signale kamen – man hätte mich unter Hinweis auf veränderte Planungen und Intentionen ja auch wieder ausladen können –, spreche ich im Folgenden über das, worüber zu sprechen ich mir vor mehr als einem Jahr vorgenommen hatte. Und ich danke dafür, dies an einem symbolträchtigen Ort zu einem symbolträchtigen Datum tun zu können: am 82. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, mit dem der von Hitler begonnene Krieg in Europa in ein neues Stadium eintrat und das Zentralverbrechen der NSZeit, der systematische Mord an den europäischen Juden, seinen Lauf nahm.

Die »Bewältigung« der NS-Vergangenheit als kommunikativer Prozess Der Begriff der Deutungseliten im Titel meines Vortrags bedarf wohl der Erläuterung. Ich habe ihn in Anknüpfung an Axel Schildt gewählt, unseren zu früh verstorbenen Historikerkollegen, dessen Opus Magnum die „Medien-Intellektuellen“ der alten Bundesrepublik in den Blick nahm. Mit diesem Bindestrich-Begriff suchte Schildt „die unauflösliche Verbindung von Medien und Öffentlichkeit auf der einen und der in ihnen und durch sie agierenden Intellektuellen auf der anderen Seite“ zu fassen.1 Schildts Medien-Intellektuelle sind natürlich von besonderem Interesse, wenn es darum geht, den Prozess der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu analysieren und zu beschreiben. Armin Mohler spielt in Schildts umfangreicher Darstellung übrigens keine kleine Rolle. Aber zu den Akteuren dieses Prozesses der diskursiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gehörten von Anfang an nicht nur Journalisten, Publizisten und Schriftsteller, sondern auch Politikerinnen und Politiker, 1 Axel Schildt, Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, Göttingen 2020, S. 10.

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64 Norbert Frei Juristen, Historiker und viele andere, die als Fürsprecher und Lobbyisten unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen und Gruppierungen Stellung bezogen, Meinungen vertraten und Positionen durchzusetzen versuchten. Um dieses weitere Feld öffentliches Gehör findender Akteure ist es mir zu tun, nicht allein um die Medien-Intellektuellen; daher der breitere Begriff der Deutungseliten. Gleichwohl geht es im Folgenden in erster Linie um den kommunikativen Prozess, weniger um die konkrete Politik zur – wie es bald hieß – „Bewältigung“ dieser Vergangenheit. Das ist natürlich nicht haarscharf voneinander zu trennen. Aber mein Fokus liegt nicht auf jenem Ensemble politischer Entscheidungen, gesetzgeberischer Maßnahmen und juristischer Urteile, für das sich der Begriff Vergangenheitspolitik eingebürgert hat. Im Zentrum dessen, was mich hier interessiert, steht, wie gesagt, der von den westdeutschen Deutungseliten geprägte, mehr oder weniger intellektuelle Diskurs über die Vergangenheit. Natürlich wäre es vermessen, diesen mittlerweile fast acht Jahrzehnte umspannenden Diskurs in einer Stunde umfassend darstellen zu wollen. Wenn ich einigermaßen bis in die Gegenwart kommen will, muss ich mich auf Schlaglichter und einzelne Stationen von zäsurhafter Bedeutung beschränken. Die erste betrifft den Übergang von den Jahren der unmittelbaren Besatzungsherrschaft in die frühe Bundesrepublik. Dabei interessiert jetzt weniger die Praxis der politischen Säuberung nach dem Ende des sogenannten „Dritten Reiches“ – also die Politik der Internierung von NS-Funktionären, der Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst, der Entnazifizierung und der strafrechtlichen Ahndung von NS- und Kriegsverbrechen in Nürnberg und in vielen weiteren Militärgerichtsverfahren der Alliierten. All das ist recht gut erforscht, und zum Thema Entnazifizierung gibt es inzwischen sogar interessante neue Arbeiten. Diese lesen die Akten aus den Entnazifizierungsverfahren einschließlich der dabei entstandenen sogenannten Persilscheine noch einmal neu, nämlich als sozialpsychologisch aufschlussreiche Egodokumente. Und sie lassen damit die seit langem unproduktiv gewordene, letztlich in der Betroffenenperspektive verharrende Frage hinter sich, ob die Entnazifizierung nun gescheitert sei oder nicht.

Nach 1945: Die Kollektivschuldthese und ihre Instrumentalisierung Wichtig festzuhalten ist allerdings: Der zeitgenössische Diskurs über die Entnazifizierung ging von deren Scheitern geradezu aus. Und er artikulierte sich sehr früh – ich spreche jetzt von den Jahren 1946, 47 und 48, also von der Zeit vor Gründung der Bundesrepublik – als höhnische Kritik an den Siegermächten und als sarkastische Abrechnung mit ihren Intentionen. Die Delegitimierung der intendierten politischen Säuberung schritt dadurch rasch voran, und dabei half, was ich einmal die „Erfindung“ der Kollektivschuldthese genannt habe: die Behauptung nämlich, die Politik der Alliierten sei von der Annahme einer kollektiven Schuld aller Deutschen ausgegangen.

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Revisionismus als Versuchung 65 Ihre vermeintliche Berechtigung fand diese Behauptung in ein paar frühen, improvisierten Plakaten mit Fotos von den Leichenbergen in den befreiten Konzentrationslagern, die im Sommer 1945 vor allem in der amerikanischen Zone zu sehen waren. „Diese Schandtaten: Eure Schuld!“, hieß es dort. Ansonsten aber war die Behauptung ohne Substanz; in keinem einzigen offiziellen Dokument der Alliierten findet sich das Postulat einer deutschen Kollektivschuld. Doch das tat der Wirkung und Verbreitung der Kollektivschuldthese keinen Abbruch. Wichtige Teile der sich rekonsolidierenden deutschen Deutungseliten, zunächst vor allem etliche prominente Kirchenführer, entwickelten daraus eine ebenso willkommene wie wirksame Waffe. Denn mit dem Argument, die Annahme einer Kollektivschuld widerspreche jeder zivilisierten Rechtsordnung und sei reines Barbarentum, ließ sich so ziemlich jede Frage nach Schuld und Verantwortung zurückweisen. Und genau darum ging es. Es ging um pauschale Schuldabwehr – wohl vielfach aus dem diffusen Gefühl heraus, auf die eine oder andere Weise eben doch schuldig oder mitschuldig geworden zu sein. Einer, der diese Gemengelage sehr früh und sehr klar erkannte, war Eugen Kogon, der in München geborene katholische Intellektuelle mit russisch-jüdischen Wurzeln, der 1938 in Wien in die Fänge der Gestapo geraten war. Der vormalige Buchenwald-Häftling hatte noch in Weimar auf Bitte der amerikanischen Psychological Warfare Division zusammen mit Kameraden einen Bericht verfasst, der dann auch die Grundlage wurde für seine berühmte Darstellung über den „SS-Staat“, Untertitel: „Das System der deutschen Konzentrationslager“. Kogon, der gemeinsam mit Walter Dirks bald die einflussreichen Frankfurter Hefte herausgeben sollte, hatte erkannt, dass die pauschale Schuldabwehr sozialpsychisch fest verbunden war mit einer ebenso energischen, bereits im Moment der Niederlage einsetzenden Pauschaldistanzierung der Deutschen von dem verflossenen Regime – insgesamt ein Syndrom, das die vorrückenden Besatzer ziemlich verwundert konstatierten: „Niemand will Nazi gewesen sein.“ Vor diesem Hintergrund sparte Kogon im Schlusskapitel seines Buches zunächst nicht mit Kritik an den Besatzungsmächten. Deren „‚Schock’-Politik“ im Namen der „Umerziehung“, gerade auch die Konfrontation der Deutschen mit den „massierten Haufen nackter Leichen“, habe kontraproduktiv gewirkt und als „These von der deutschen Kollektivschuld“ Abwehrreaktionen erzeugt. Außerdem, so Kogon, hätten die Alliierten zu wenig in Rechnung gestellt, dass Geheimhaltung zu Wesen und Wirkungsmacht des SS-Terrors gehörte: Dann aber die entscheidende Volte: „Und dennoch! Kein Deutscher, der nicht gewußt hätte, daß es Konzentrationslager gab. Kein Deutscher, der sie für Sanatorien gehalten hätte. Wenig Deutsche, die nicht einen Verwandten oder Bekannten im KL gehabt oder zumindest gewußt hätten, daß der und jener in einem Lager war. Alle Deutschen, die Zeugen der vielfältigen antisemitischen Barbarei geworden, Millionen, die vor brennenden Synagogen und in den Straßenkot gedemütigten jüdischen Männern und Frauen gleichgültig, neugierig, empört oder schadenfroh gestanden haben.“ Kogons erfahrungs-

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66 Norbert Frei satte Argumentationskette, die auch die für viele lukrativen Geschäftsbeziehungen zwischen Stadt und Lager nicht vergaß, in seinem Fall zwischen Weimar und Buchenwald, mündete in die rhetorische Frage: „Ist eine einzige dieser Feststellungen falsch?“2

Im Osten wie im Westen: Schuldabwehr als erste Distanzierung vom NS Wenn nüchterne Gegner des verflossenen Regimes kaum ein Jahr nach ihrer Befreiung glaubten, sich eines solchen Modus der Beweisführung bedienen zu müssen, dann erlaubt das Rückschlüsse auf die Dimensionen der Schuldabwehr, in der sich die post-nationalsozialistische Volksgemeinschaft unterdessen eingerichtet hatte. Man musste kein Psychologe sein, um zu ahnen, dass hinter dieser Abwehr und Blockade ein uneingestandenes Schuldbewusstsein lag. Der irisch-britische Schriftsteller James Stern, der im Sommer 1945 im Auftrag des United States Strategic Bombing Survey zahlreiche Interviews mit deutschen Zivilisten geführt hatte, brachte dies schon kurz nach seiner Rückkehr aus Europa auf den Punkt: „Die Deutschen haben ein so ungeheures Schuldgefühl, daß sie sich diesem einfach nicht stellen, geschweige denn es ausdrücken können.“3 Für Menschen wie Kogon, wie für alle eben noch Verfolgten und standhaft gebliebenen Anti-Nazis, die einen demokratischen Neuanfang erstrebten, lag in einer solchen Diagnose kaum Trost. Und doch enthielt die Diagnose einen Keim der Hoffnung, der ein paar Jahre später sichtbar zu werden begann. Denn mit Gründung der beiden deutschen Staaten war gewissermaßen Staatsraison geworden, was die Deutschen seit ihren ersten Begegnungen mit den Besatzern eingeübt hatten: die mehr oder weniger pauschale Distanzierung vom Nationalsozialismus. Das galt im Osten wie im Westen, wenngleich auf unterschiedliche Weise: Dass niemand Nazi gewesen sein wollte, wurde in der Bundesrepublik zum Ausgangspunkt einer anfangs zaghaften, bald aber in hinreichende Abstraktheit gekleideten Erörterung der „jüngsten Vergangenheit“. Diese früh gefundene Sprechweise lud alle Schuld bei „Hitler, Himmler und Heydrich“ ab und bei ein paar sogenannten „asozialen Elementen“ der SS – und sie setzte ansonsten auf Integration durch Diskretion: Sie setzte auf das „kommunikative Beschweigen“ der je eigenen Vergangenheit, das der Sozialphilosoph Hermann Lübbe drei Jahrzehnte später als alternativlos rechtfertigen sollte – gegen die daran inzwischen vorwaltende Kritik. Im Osten wurde die apologetische Distanzierung der Deutschen zum Einsatzpunkt eines Antifaschismus, der sich rhetorisch auf Dauer radikal gab, der aber ebenfalls schon bald recht anspruchslos gegenüber jenen operierte, die beim Aufbau des Sozialismus mitzumachen willens waren. Während 2 Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1946, Neuausgabe München 1974, S. 290, 394 f. 3 James Stern, Die unsichtbaren Trümmer. Eine Reise im besetzten Deutschland 1945, Frankfurt a.M., 2004, S. 106.

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Revisionismus als Versuchung 67 der Antifaschismus der DDR deshalb nach innen zusehends in ideologischer Formelhaftigkeit erstarrte, richtete er sich in seinem agitatorischen Potential höchst einfallsreich nach außen. So ging es etwa gegen „Hitlers Blutrichter in Adenauers Diensten“, gegen das „klerikalfaschistische Adenauer-Regime“ und schließlich ein ganzes „Braunbuch“ lang gegen weite Teile der westdeutschen Funktionseliten, meist detailliert belegt mit den Mitgliedsnummern der NSDAP. Mit diesen Attacken trug die Ost-Berliner Propaganda, natürlich ungewollt, dazu bei, dass der kritische Diskurs über die Vergangenheit im Westen auf mittlere Sicht an Dynamik gewann. Lassen Sie mich deshalb, und auch weil diese Entwicklung historiographisch sehr viel ergiebiger ist als der versteinerte Antifaschismus im Osten, bei den westdeutschen Deutungseliten bleiben und einen ersten Blick auf die politische Spitze der jungen Bundesrepublik werfen.

»Das Schlimmste, was der Hitler uns antat«: Die Deutschen als erste Opfer Begreift man Konrad Adenauer als obersten Manager der zu Anfang der 50er Jahre vorherrschenden vergangenheitspolitischen Erwartungen, dann war Theodor Heuss ihr Interpret. Wo es dem Kanzler vor allem darum gehen musste, die Rehabilitierungsverlangen der mittlerweile sogenannten „Ehemaligen“ realpolitisch zu steuern, oblag es dem Bundespräsidenten, eine sowohl nach außen wie nach innen akzeptable Deutung der Vergangenheit anzubieten. Dabei kam auch Heuss nicht völlig umhin, das populäre Selbstbild zu bedienen, wonach die Deutschen selbst im Grunde die ersten Opfer Hitlers gewesen seien. Die deutschen Opfer von Krieg, Flucht und Vertreibung zu betrauern, ohne einer Konkurrenz mit den Opfern der Deutschen das Wort zu reden, das war ein Balanceakt, dem sich das Staatsoberhaupt von Anfang an stellen musste. Dass Heuss dies aufs Ganze gesehen gelang, verdankte sich nicht zuletzt seinen schöpferischen Formulierungskünsten: An die Stelle des Begriffs der Kollektivschuld, den er zurückwies, setzte er die „Kollektivscham“. So heißt es in seiner berühmten Wiesbadener Rede vom Dezember 1949, in der er Empathie mit den jüdischen Überlebenden und den Gegnern des NS-Regimes verlangte: „Das Wort Kollektivschuld und was dahintersteht, ist eine zu simple Vereinfachung, eine Umdrehung, nämlich der Art, wie die Nazis gewohnt waren, die Juden anzusehen: dass die Tatsache, Jude zu sein, ein Schuldphänomen in sich geschlossen hat. Aber etwas wie Kollektivscham ist aus dieser Zeit gewachsen und geblieben. Das Schlimmste, was der Hitler uns antat – und er hat uns viel angetan –, ist doch dies gewesen, dass er uns in die Scham gezwungen hat, mit ihm und seinen Gesellen den Namen Deutsche zu tragen.“ Unüberhörbar ist in diesen Worten, ganz abgesehen von dem seltsamen Vergleich mit dem Blick der Nazis auf die Juden, die Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der post-nationalsozialistischen Volksgemeinschaft und die von ihr herbeiphantasierte Kollektivschuldthese. Aber zugleich eröffnete der Bundespräsident mit dieser Rede den Raum für eine Zukunft der diskursiven Aus-

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68 Norbert Frei einandersetzung mit der Vergangenheit. Denn im nächsten Atemzug sprach er sich dagegen aus, die Dinge zu vergessen, „die Menschen gerne vergessen möchten, weil das so bequem ist“. Und weiter: „Wir dürfen nicht vergessen die Nürnberger Gesetze, den Judenstern, den Synagogenbrand, den Abtransport von jüdischen Menschen in die Fremde, ins Unglück, in den Tod.“4 Mit dieser Mahnung war von staatspolitisch höchster Stelle ein Pfad des Erinnerns und Gedenkens vorgebahnt, den viele Deutsche noch lange nicht beschreiten mochten, der aber in eine Zukunft wies, die sich gegen Ende des ersten Jahrzehnts der Bundesrepublik deutlicher abzuzeichnen begann.

Der erste Drehpunkt der Debatte: Von »Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?« (Adorno 1959) zu »Unser Auschwitz« (Walser 1965) Eines von mehreren Stichworten, die man hier nennen könnte, gab Theodor Adorno im November 1959 auf einer sogenannten „Erzieherkonferenz“ der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit mit seinem bald berühmten Vortrag: „Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?“ Adornos Antwort hatte es in sich: Nicht nur witterte er hinter der Parole von der „Aufarbeitung“ – der damals geläufigere, eigentlich noch sprechendere Begriff war jener der „Bewältigung“ – den Wunsch, von der Vergangenheit loszukommen, ja den berüchtigten „Schlussstrich“ zu ziehen. Mehr noch: Das darin sich ausdrückende falsche Bewusstsein erschien ihm gefährlicher als die Existenz rechtsradikaler Organisationen: „Ich betrachte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie.“5 Keine zwei Monate später, an Heiligabend 1959, beschmierten zwei junge Rechtsradikale die erst kurz zuvor wieder eingeweihte Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen und antisemitischen Parolen. Der Skandal zerrte die – wie es bald vielfach hieß – verdrängte deutsche Vergangenheit ans Licht der internationalen Öffentlichkeit, wie das seit dem Nürnberger Prozess nicht mehr der Fall gewesen war. Der Sturm der Entrüstung, der nun buchstäblich um den Globus ging, brachte die Bundesregierung derart in Erklärungsnot, dass sich Adenauer im Fernsehen zu einer eindrücklichen, passagenweise sehr persönlichen Adresse an die Juden in Deutschland veranlasst sah. Nicht zuletzt war die Empörung ein Zeichen für jene, die darauf spekulierten, mit der anstehenden Verjährung von Totschlagsverbrechen fünf Monate später, am 8. Mai 1960, komme das Ende der strafrechtlichen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen überhaupt in Sicht. Dass dem nicht so sein würde, signalisierte kurz darauf auch die Entführung Adolf Eichmanns aus Argentinien und sein Prozess in Jerusalem 1961, der den Mord an den europäischen Juden sowohl in der Bundesrepublik als auch in Israel in bis dahin nicht gekannter Weise in den Blick der Deutungseliten rückte. 4 Theodor Heuss, Mut zur Liebe, in: ders., Die großen Reden, München 1967, S. 113-118. 5 Theodor W. Adorno, Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit, in: ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt a.M., 1963, S. 125-146, hier S. 126, Hervorhebung im Original.

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Revisionismus als Versuchung 69 Die späten 50er und frühen 60er Jahre, das mögen diese knappen Hinweise verdeutlicht haben, waren ein Drehpunkt in der öffentlichen Debatte über die NS-Vergangenheit. Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963 bis 1965) bildete eine weitere wichtige Etappe auf dem Weg der gesellschaftlichen Vergegenwärtigung dessen, was damals noch, ganz in der Sprache der Täter, die „Judenvernichtung“ genannt wurde. Und das Verfahren war Anlass für neue intellektuelle Reflexionen, bei denen nun zunehmend auch die um 1930 geborene Generation der Flakhelfer und jungen Frontsoldaten das Wort ergriff. Martin Walser war einer davon. Sein Text über „Unser Auschwitz“ im ersten Kursbuch, das Hans Magnus Enzensberger im Frühjahr 1965 begründet hatte, zeigte die Richtung an, in die sich die neulinke junge Deutungselite bewegte: Schroff gegen die von ihr diagnostizierte biedermännische Verlogenheit einer Vergangenheitsbewältigung, wie sie sich in der tatsächlich oft rührselig-selbstmitleidigen Rezeption des Tagebuchs der Anne Frank offenbarte, das ein paar Jahre zuvor, übrigens auch in der DDR, zu einem der meistinszenierten Bühnenstücke avanciert war. Für Walser, ähnlich wie für Peter Weiss, war auch die vergleichsweise breite Berichterstattung über den Auschwitz-Prozess in der bundesdeutschen Presse nur bürgerliche Pseudoaufklärung: Dort, so Walser, „sitzen nur noch Chargen auf der Bank. Handlanger, Henker, Verführte. Produkte eines heftigen deutschen Erziehungsaufwandes. Täter im altmodischsten Wortsinn.“ Besonders stieß sich Walser an der Tendenz, den Judenmord herauszulösen „aus den Bedingungen des Systems, aus unserer deutschen Geschichte von 1918 bis 1945. Und so lange löst man die Tat als ein persönliches Verbrechen heraus aus unserem nationalen Zusammenhang, bis nichts mehr übrig bleibt als die pure Brutalität.“6 Hannah Arendt hatte, zwei Jahre zuvor anlässlich des Eichmann-Prozesses, bekanntlich von der „Banalität des Bösen“ gesprochen. Mitte der 60er Jahre, so wird man bilanzieren können, war die NS-Vergangenheit vorübergehend mit Macht zurück im öffentlichen Diskurs. Ein Indiz dafür war auch das Interesse der Studenten an den Lebensläufen ihrer Professoren und an deren Schriften aus der Nazizeit; entsprechende Ringvorlesungen in Tübingen, dann auch in München, Marburg und schließlich an der FU in Berlin waren die Folge. Ein weiteres Indiz war die aufgewühlte Debatte um die Notstandsgesetzgebung der Großen Koalition, in der Karl Dietrich Bracher, der liberale Weimar-Historiker, zusammen mit erklärten Linken warnte, mit Ausnahme- bzw. NS-Gesetzen (NS wie Notstand) sei schon einmal der „Tod der Demokratie“ beschlossen worden. Ein drittes Indiz war die verhinderte Verjährung von NS-Mordverbrechen am 8. Mai 1965. Mittels einer Stichtagsänderung wurde die Frist damals bis 1969 und dann noch einmal für zehn Jahre hinausgeschoben, um 1979 schließlich mit dem Bundestagsbeschluss zur Unverjährbarkeit von Mord beendet zu werden. Zumal in der juristischen Literatur firmieren diese Debatten vielfach unter dem Rubrum „Sternstunden des Parlaments“; hätte ich jetzt die Zeit, darauf genauer einzugehen, bliebe von diesem pauschalen Lob wenig übrig. 6 Martin Walser, Unser Auschwitz, in: „Kursbuch“, 1/1965, S: 189-200, hier S. 194.

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70 Norbert Frei Und ich habe eben auch nicht ohne Grund von einer vorübergehenden Konjunktur der kritischen NS-Debatte Mitte der 60er Jahre gesprochen: Denn gegen Ende des Jahrzehnts fiel diese Konjunktur bereits wieder in sich zusammen. Die Empörung über die „unbewältigte Vergangenheit“, das politisch-moralische Skandalon der nahezu ungebrochenen Kontinuität der Funktionseliten, hatte zwar zum Aufkommen der studentischen Protestbewegung maßgeblich beigetragen, auf dem Höhepunkt der Revolte aber veränderte sich die Stoßrichtung: Jetzt galt die Kritik der später sogenannten Achtundsechziger bestenfalls noch am Rande dem konkreten Nationalsozialismus und seinen Folgen; stattdessen galt der Kampf dem aktuellen „Faschismus nebenan“ in Griechenland, Portugal oder Spanien – und dem kapitalistischen Imperialismus in der damals sogenannten „Dritten Welt“. In der ideologisch aufgeladenen Atmosphäre der folgenden Jahre – im vielzitierten „roten Jahrzehnt“ der Bundesrepublik, das allerdings auch eines des Terrors von rechts werden sollte – geriet die Debatte über die NS-Vergangenheit in den Hintergrund; Joachim Fests gefeierte Hitler-Biographie von 1973 bestätigte im Grunde nur, was vier Jahre zuvor bereits der Sensationserfolg der von ihm mehr verfassten als redigierten Erinnerungen Albert Speers angezeigt hatte: Nämlich dass es jenseits des kritischen Blicks der Jüngeren ein Nostalgiebedürfnis der Zeitgenossen der NS-Zeit gab, das seit Mitte des Jahrzehnts in den bunten Bilderheften der sogenannten Hitler-Welle seinen Ausdruck fand. Die zünftige Zeitgeschichtsforschung, verhakt in einen zusehends unproduktiv gewordenen Streit zwischen Intentionalisten und Funktionalisten, richtete gegen derlei Verharmlosungen einstweilen wenig aus.

1979: Die TV-Serie »Holocaust« als »schwarzer Freitag« der akademischen Geschichtswissenschaft – und der Aufmarsch der Revisionisten Ihren „schwarzen Freitag“ erlebte die Geschichtswissenschaft dann, wie der Spiegel nicht zu Unrecht meinte, im Januar 1979. Die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ über die dritten Programme der ARD – die Oberen des Bayerischen Rundfunks hatten eine Sendung im Hauptprogramm verhindert – wurde zu einer Zäsur, nicht allein im deutschen Diskurs über den Genozid an den Juden, der damit schlagartig auf einen weltweit verstandenen Begriff gebracht war. „Holocaust“ markierte einen erneuten Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“ und seinen Folgen: für die akademische Forschung, für die intellektuellen Deutungseliten, aber auch für das breite Publikum. Wohl nie zuvor war die Aufmerksamkeit der nichtjüdischen Deutschen für die Geschichte der Verfolgung und Ermordung der deutschen und europäischen Juden größer gewesen, und erst jetzt stieg der Holocaust in der öffentlichen Wahrnehmung zum Zentralereignis der NS-Zeit auf. Er hatte bis dahin sogar in den seriösen historischen Gesamtdarstellungen über die Jahre 1933-45 nur einen Randplatz eingenommen, in Brachers „Deutscher Diktatur“ zum Beispiel ganze zwölf von fast 600 Seiten.

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Revisionismus als Versuchung 71 Zu jenen in den deutschen Deutungseliten, die die historisch-politische Tragweite des Fernsehereignisses „Holocaust“ sofort begriffen, gehörten Armin Mohler und Ernst Nolte: Rund zwanzig Millionen Zuschauer, etwa die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung in der Bundesrepublik, hatten die Serie gesehen. Das konnte nicht ohne Auswirkungen bleiben auf den künftigen Umgang mit der Vergangenheit, der mindestens Mohler seit langem plagte. Seine Verachtung für die „Vergangenheitsbewältiger“ schwelte seit Jahrzehnten; er hatte daraus nie einen Hehl gemacht, 1968 dazu ein kleines Buch geschrieben und in Criticón, der Zeitschrift seines neurechten Gesinnungsgenossen Caspar von Schrenck-Notzing, immer wieder zu dem Thema publiziert. (Wobei noch zu klären bleibt, ob Mohlers „Förderung“ dieses Organs auch bedeutete, dass dafür Gelder der Siemens-Stiftung flossen.) Aus dem Programm der Stiftung hingegen hatte Mohler die Auseinandersetzung mit der ihm – so sein neurechter Hagiograph Karlheinz Weißmann – „verhassten Vergangenheitsbewältigung“ bis dahin tunlichst herausgehalten. Nach „Holocaust“ gab es jedoch kein Halten mehr: Schon im Oktober 1979 startete Mohler in diesem Haus eine achtteilige Vortragsreihe unter dem Titel „Die deutsche Neurose“. Klar, dass damit kein klinischer, sondern jener historische Schuldkomplex gemeint war, dessen angebliche Förderer Mohler so sehr verabscheute. Den Eröffnungsabend bestritt der um keine Sottise verlegene Starpublizist Johannes Gross, ein eleganter Konservativer. Doch schon am nächsten und übernächsten Tag – die Reihe kam als eine Art Blockseminar daher – traten mit Hans-Joachim Arndt und Robert Hepp zwei harte Neue Rechte auf, die zwei Jahre später dann zusammen mit Mohler, dem Historiker Hellmut Diwald, dem Politologen Bernhard Willms und dem Republikaner-Chef Franz Schönhuber einen kurzlebigen „Deutschlandrat“ bildeten. Der Titel des Vortrags von Arndt, „Die Befreiten als Besiegte. Deutsche Identität nach zwei Weltkriegen“, fasste den Geist der Reihe ganz gut zusammen, in der an den nächsten Abenden neben Diwald noch der Soziologe Wilfried Schlau, der Sozialpsychologe Peter R. Hofstätter, der Staatsrechtler Dieter Blumenwitz und der weit nach rechts gewanderte protestantische Theologe Helmut Thielicke auftraten. Eine derart geballte Runde, die Mohlers vergangenheitspolitische Idiosynkrasien mehr oder weniger teilte, hat es, wenn ich nichts übersehen habe, nie zuvor und nie mehr danach ins offizielle Programm dieser Stiftung geschafft. Im Sinne unseres Themas noch folgenreicher allerdings war der Abend, zu dem Mohler ein paar Monate später Ernst Nolte nach München holte. „Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus? Das Dritte Reich im Blickwinkel des Jahres 1980“ lautete der Titel von Noltes Vortrag in der Reihe „Zeitkritik außerhalb der Geleise“. Wenn Sie mir gestatten, Mohlers schiefen Reihentitel ein wenig zu ironisieren: Es war der Moment, in dem der anerkannte Faschismusforscher Nolte zu entgleisen begann. Wie sein Gastgeber, war der Berliner Historiker über den Erfolg der Serie „Holocaust“ und die seitdem nicht mehr abreißende öffentliche Debatte über den nationalsozialistischen Judenmord zutiefst beunruhigt. Wo aus Noltes Sicht jahrzehntelang alles seinen ruhigen Erkenntnisgang genommen hatte

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72 Norbert Frei und die NS-Zeit auf dem besten Weg schien, als ein Kapitel des „Faschismus in seiner Epoche“ – das war der Titel seiner Habilitationsschrift von 1963 – historisch-politisch ad acta gelegt zu werden, da brach sich plötzlich „Die negative Lebendigkeit des Dritten Reiches“ Bahn.

Die 1980er Jahre: Der entgleiste Ernst Nolte und der Historikerstreit Exakt so lautet denn auch die Überschrift, unter der die FAZ Noltes Vortrag im Sommer 1980 druckte. Es war, verpackt in aufwendige Vergleichshuberei und garniert mit den für ihn typischen obskuren Lesefrüchten, nichts anderes als der Versuch einer historiographischen Revision. Gewiss, so konstatierte Nolte, die „Gewalttaten des Dritten Reiches sind singulär“ und der „innerste Kern“ seines „negativen Bildes“ „ist weder revisionsbedürftig noch revisionsfähig“. Aber das war nichts weiter als eine salvatorische Klausel vor einem Publikum, in dem er, wie ihm Mohler auf Nachfrage versichert hatte, weder „Chaoten“ noch „Spontis“ noch „ähnliches Volk“ zu gewärtigen hatte. Am Ende eines abenteuerlichen Zickzackritts durch die neuere Weltgeschichte, von Napoleon III. über Pol Pot in Kambodscha zurück zu den Frühsozialisten und schließlich zum Terror des Stalinismus kam Nolte zu seinem politisch vorbestimmten Ergebnis: „Auschwitz resultierte nicht in erster Linie aus dem überlieferten Antisemitismus und war im Kern nicht ein bloßer Völkermord, sondern es handelte sich vor allem um die aus Angst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der russischen Revolution. Diese Kopie war um vieles irrationaler als das frühere Original, und es fällt schwer, ihr auch nur ein pervertiertes Ethos zuzugestehen. Sie war entsetzlicher als das Original, weil sie die Menschenvernichtung auf eine quasi industrielle Weise betrieb. Das begründet zwar Singularität, ändert aber nichts an der Tatsache, dass die sogenannte Judenvernichtung des Dritten Reiches eine Reaktion oder verzerrte Kopie und nicht ein erster Akt oder das Original war.“ Aus dieser Einsicht, so Nolte, seien drei Postulate abzuleiten: 1. dürfe das „Dritte Reich“ künftig nicht mehr isoliert, sondern müsse im Kontext einer krisenhaften Moderne und der kommunistischen Befreiungsbewegungen der Gegenwart betrachtet werden; 2. sei seine Instrumentalisierung zum Zwecke der Kritik der Bundesrepublik oder des kapitalistischen Systems zu beenden und 3. könne seine „Dämonisierung“ nicht länger akzeptiert werden.7 Zwar fehlte in diesem Text noch der später berühmt-berüchtigte „kausale Nexus“ zwischen dem Archipel GULag und Hitlers „‚asiatischer‘ Tat“ – beides lieferte Nolte, wiederum in der FAZ, im Frühsommer 1986 nach: unter der fast sprichwörtlich gewordenen Überschrift „Vergangenheit, die nicht vergehen will“. Doch die Ingredienzen für den daraufhin von Jürgen Habermas entfachten „Historikerstreit“ waren faktisch alle bereits im Sommer 7 Ernst Nolte, Die negative Lebendigkeit des Dritten Reiches. Eine Frage aus dem Blickwinkel des Jahres 1980, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 24.7.1980; längere Fassung in: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987, S. 13-35; dort passim auch die folgenden Zitate.

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Revisionismus als Versuchung 73 1980 beisammen. Und offensichtlich sprach sich damals in einschlägigen Kreisen rasch herum, dass Nolte in München einen trefflichen Impuls zur Revision beziehungsweise, um mit Habermas zu sprechen, zur „Entsorgung“ der Vergangenheit vorgelegt hatte: Unter denen, die bei der Stiftung um ein Exemplar des Vortrags baten, war jedenfalls auch SS-Brigadeführer Werner Naumann, Anfang Mai 1945 Goebbels’ Kurzzeitnachfolger als Reichspropagandaminister und 1953 Hauptmatador der von den Briten ausgehobenen Gauleiter-Verschwörung mit dem Ziel einer nationalsozialistischen Übernahme der nordrhein-westfälischen FDP. Habermas hatte freilich nicht nur Nolte im Blick, als er im Juli 1986 in Bezug auf die NS-Zeit „Eine Art Schadensabwicklung“ im Gange sah, die es – im Sinne der unter den Jüngeren bereits im Entstehen begriffenen „postkonventionellen Identität“ der Bundesrepublik – zu verhindern gelte. Tatsächlich war die erste Hälfte der 80er, marktgängig forciert von dem preußenbegeisterten Berliner Verleger Wolf Jobst Siedler, durch einen steilen Aufwuchs neohistoristischer Deutungsangebote gekennzeichnet, und in der Auseinandersetzung damit löste die Geschichtswissenschaft dann zusehends auch die Soziologie als öffentliche Leitwissenschaft ab. Einer der medial präsentesten geschichtspolitischen Protagonisten der damals schon seit Jahren propagierten konservativen Tendenzwende, zeitweise auch Einflüsterer des neuen Kanzlers Helmut Kohl, war der Erlanger Historiker Michael Stürmer. Seine kulturpessimistische Klage über ein angeblich „geschichtsloses Land“ zielte auf Sinnstiftung via Historie. Denn die Zukunft gewinne nur, so Stürmer, „wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet“. Bei alledem ging es natürlich darum, der berüchtigten „zwölf Jahre“ Herr zu werden, die, in den Worten des Althistorikers Christian Meier, „zwischen uns und unserer Geschichte liegen“. Es ging darum, die NS-Zeit einzuordnen oder einzubetten, und das meinte letztlich: zu überwinden. Das war, im Januar 1983, jedenfalls für einen Teil der Teilnehmer, auch bereits das unausgesprochene Ziel einer internationalen Konferenz zum 50. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtübernahme im Berliner Reichstagsgebäude gewesen. Wenn dort verdiente Zeithistoriker der ersten Generation von einer „Bilanz der Forschung“ sprachen, dann nicht selten im Sinne einer Abschlussbilanz. Meine Generation dagegen – und ich bitte diesen Moment des Zeitzeugenhaften zu entschuldigen – hatte damals das Gefühl: wir fangen gerade erst an. Faktisch wurde die zweite Hälfte der 80er, befeuert durch den „Historikerstreit“ und am Ende gegen die Befürchtungen der Habermas-Fraktion, zum Auftakt einer langen Phase der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und schließlich auch der Beginn der zuvor sträflich vernachlässigten empirischen Holocaust-Forschung. Neue Ansätze wie die Alltagsgeschichte attrahierten ein wachsendes Publikum, viele aus der 68erGeneration engagierten sich in der Geschichtswerkstätten-Bewegung, und auch wenn der Begriff der Deutungseliten in diesem Kontext nicht leicht über die Lippen geht: Die vielgesehenen Produktionen von Guido Knopp im ZDF, der sich seit Anfang der 90er Jahre ganz auf die Hitler-Zeit konzentrierte, tru-

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74 Norbert Frei gen über mehr als zwei Dekaden zweifellos zur Verbreitung von Faktenwissen bei, wenn auch eher nicht zur Stärkung der historisch-politischen Urteilskraft.

Im Zeichen des wachsenden Holocaust-Bewusstseins: Weizsäcker zum 8. Mai 1985 Zu den Meilensteinen auf dem Weg zur gesellschaftlichen Verankerung dessen, was bald mit dem Begriff „Erinnerungskultur“ belegt werden sollte, gehörte fraglos die Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985. Für die historisch Interessierten und für jeden, der mit dem Gang der Forschung ein wenig vertraut war, sagte Weizsäcker im Bundestag nichts Neues. Aber dass es eben der Bundespräsident war, der dem Vergessenwollen widersprach, der die Erinnerung an den Holocaust in den Mittelpunkt rückte und dafür nichts weniger als „Erlösung“ in Aussicht stellte – das war ein Grund zum Aufatmen, jedenfalls für eine an Kanzler Kohl und dessen geschichtspolitischen Fehltritten leidende linksliberale Öffentlichkeit. Genauer gesagt: Die Wirkung der Weizsäcker-Rede verdankte sich zu einem guten Teil der unmittelbar zuvor als Bitburg-Skandal in die Annalen eingegangenen Ehrenbezeugung von US-Präsident Reagan gegenüber den Gefallenen der Wehrmacht, die Kanzler Kohl gegen alle Ratschläge über den Gräbern auch von Angehörigen der Waffen-SS erzwungen hatte. Ähnliches hatte übrigens 34 Jahre zuvor Konrad Adenauer auf Druck seiner Wehrmachtsgeneräle auf dem Frankfurter Flughafen von Dwight D. Eisenhower verlangt, dem späteren Präsidenten und damaligen Nato-Oberkommandierenden in Europa. Dass Weizsäcker – wie zehn Jahre vor ihm allerdings auch schon Bundespräsident Scheel – den 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“ apostrophierte und damit das von außen herbeigeführte Ende des Nationalsozialismus höher gewichtete als das Ende des Deutschen Reiches, das war für Teile seines eigenen politischen Lagers und zumal für harte Rechte ein im Grunde inakzeptables Faktum. Insofern war die normative Bedeutung seiner Rede auch vier Jahrzehnte nach Kriegsende keine demokratiepolitische Kleinigkeit, obgleich der große Zuspruch, den er im Innern und fast mehr noch im Ausland fand, dies so nicht mehr unbedingt erkennen ließ. Doch das gehört eben auch zur Ära des wachsenden Holocaust-Bewusstseins in der Bundesrepublik: Seit Ende der 70er Jahre nahmen die Aktivitäten der rechten Geschichtsrevisionisten deutlich zu. Was seit den späten 50ern mit der Bezweiflung der Existenz von Gaskammern begann – zunächst vor allem durch einen ins Deutsche übersetzten ehemaligen französischen Buchenwald-Häftling –, das nahm nun als Holocaust-Leugnung Fahrt auf. Armin Mohler interessierte sich nicht nur insgeheim für diese Literatur. Als ich bei der Recherche zu einem der widerwärtigsten Machwerke dieser sogenannten Revisionisten herausfand, dass Mohler das 1979 erschienene Buch „Der Auschwitz-Mythos“ des ehemaligen Finanzrichters Wilhelm Stäglich für beachtenswert hielt, stellte ich ihn während eines Mitarbeitergesprächs

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Revisionismus als Versuchung 75 im Institut für Zeitgeschichte zur Rede – und durfte beobachten, wie er es in diesem Kreis dann doch vorzog, auf die Thesen des Holocaust-Leugners halbwegs ausweichend zu reagieren. Sein Hagiograph Weißmann bestätigt übrigens Mohlers Sympathie für die Revisionisten und zitiert seinen Meister mit der Behauptung, das „Dogma der ‚Einzigartigkeit‘“ habe längst dazu geführt, „dass gar keine Forschung mehr erlaubt ist, deren Ergebnisse mit jenem Dogma nicht vereinbar wäre“. Allerdings, so Weißmann, sei Mohler trotz seiner angeblichen Radikalisierung im Alter lediglich „bis an die Grenze ‚negationistischer‘ Thesen gegangen“, weil „seine eigenen Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland keinen Zweifel daran erlaubten, dass es Massenverbrechen gegeben hatte“.8 Nur eben vorhalten hätten sich die Deutschen diese Verbrechen nicht lassen dürfen: Das war Mohlers Mantra, und dafür stand das Cover seines im Epochenjahr 1989 erschienenen Buchs „Der Nasenring“. Es zeigte den Kopf eines Wisents mit einem durch die Nüstern gezogenen Hakenkreuz-Amulett, geführt von einer anonymen Hand, und es war so etwas wie die Summe seines jahrzehntelangen Feldzugs gegen den verachteten, wie er es nannte, „Bewältigungsbetrieb“. An dessen Erfolg aber war, als dann die deutsche Einheit kam, nicht mehr zu deuteln; angesichts der neuen Herausforderungen im Umgang mit der DDR-Vergangenheit ging das Interesse an der NS-Vergangenheit keineswegs zurück, im Gegenteil. Vielleicht muss man die nun einsetzende Ostwanderung etlicher Protagonisten des altbundesrepublikanischen Rechtskonservatismus und Rechtsradikalismus – von Gauland über Höcke bis Kubitschek – auch so verstehen: Als Aufbruch in ein erinnerungspolitisch vermeintlich unberührtes Territorium, auf dem man in Missionierungskonkurrenz mit den liberalen westdeutschen Deutungseliten seine Saat noch einmal neu ausbringen könnte, die in den alten Bundesländer nie richtig und zuletzt immer weniger aufgegangen war. Doch das ist, um im Bild zu bleiben, ein weites Feld, das ich hier nicht mehr beackern kann. Wir sind in den 90er Jahren angekommen, einer Phase gegenüber dem Jahrzehnt seit „Holocaust“ nochmals gesteigerter, weiterhin freilich immer auch ambivalenter gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit der Geschichte des „Dritten Reiches“ und des Holocaust. Nur wenige Stichworte genügen, um dies zu verdeutlichen: 1994, nach langem bürgerschaftlichen Engagement, die Ausschreibung des Architektenwettbewerbs für das Berliner Holocaust-Denkmal und der Welterfolg des Spielberg-Films „Schindlers Liste“; 1995, ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende, ein internationales Gedenken im Überschwang des Endes auch des Kalten Krieges und der demokratischen Öffnung Osteuropas, aber auch das Jahr der Klemperer-Tagebücher und der Eröffnung der heftig umstrittenen Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht; 1996 dann die Debatte über das Goldhagen-Buch; 8 Karlheinz Weißmann, Armin Mohler. Eine politische Biographie, Schnellroda 2011, S. 220.

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76 Norbert Frei 1998 die Walser-Bubis-Kontroverse und die Washingtoner Erklärung zum Umgang mit NS-Raubkunst; im Jahr 2000 das Stockholm International Forum on the Holocaust und die bundesdeutsche Zwangsarbeiter-Entschädigung; 2004 Hitlers „Untergang“ als Filmdrama nach Joachim Fest; 2005 erneutes Kriegsende-Gedenken und Eröffnung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin.

Die AfD und die Revitalisierung des Geschichtsrevisionismus An diese hier nicht mehr näher zu erläuternde Phase einer – in vieler Hinsicht geradezu globalen – Hochpräsenz der Vergangenheit schloss sich in Deutschland etwa ein Jahrzehnt einer weitgehenden konsensuellen, sich damit freilich auch weiter ritualisierenden Erinnerungspolitik an. Die alten Kämpfe, so schien es, waren ziemlich ausgekämpft – bis dann die AfD in der andauernden Befassung mit der NS-Vergangenheit eine besonders verabscheuungswürdige Form der angeblichen deutschen Selbsterniedrigung erkannte. Vor allem ihr Thüringer Landesvorsitzender Björn Höcke, selbst ehemaliger Geschichtslehrer, nahm sich in seiner Agitation gegen den „liberalen Mainstream“ der geschichtspolitischen Deutungseliten an. 2017 forderte er unter dem Applaus seiner Anhänger eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“, und 2018 kam sein Parteichef Gauland auf einen Gedanken zurück, der ihn seit seinen Zeiten als graue Eminenz der Frankfurter CDU verfolgte: nämlich dass die glorreiche deutsche Geschichte nicht länger durch den „Vogelschiss“ des Nationalsozialismus als befleckt betrachtet werden dürfe. Inzwischen kommen, wie Sie wissen, anders gelagerte Attacken von links hinzu. Im Zeichen des Postkolonialismus und einer natürlich nicht grundlos schärfer gewordenen Kritik an Israel sieht sich, wer für die Bewahrung der Erinnerung an den Holocaust eintritt, dem Vorwurf ausgesetzt, die Wahrnehmung und Anerkennung anderer historischer Verbrechen verhindern zu wollen. Gar von einer Hohepriesterherrschaft ist die Rede, und gemeint sind damit jene linksliberalen Deutungseliten, die, in einem jahrzehntelangen Lern- und Aushandlungsprozess, die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und die Erinnerung an seine Opfer zu einem Bestandteil der politisch-kulturellen Identität dieses Landes gemacht haben. Vor 43 Jahren, als ich diese Stiftung kennenlernte, weil mein damaliger Chef, Martin Broszat, als Mentor des Abends mit Ernst Nolte fungierte und ich deshalb mit ein paar Kollegen aus dem Institut für Zeitgeschichte eingeladen war, hätte dieser Vortrag hier schwerlich gehalten werden können – und zwar nicht nur, weil viele Forschungen noch fehlten, die ihm zugrunde liegen. Er hätte auch nicht gehalten werden können, weil ein frischpromovierter junger Zeithistoriker aus der Sicht der Leitung dieses Hauses nicht der rechte Redner gewesen wäre. Und er hätte nicht gehalten werden können, weil es dem damaligen Publikum, wiewohl Teil der Deutungseliten, kaum gefallen hätte, selbst Gegenstand der zeithistorischen Betrachtung zu sein.

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Russlands neue Zeit der Wirren Prigoschins Putschversuch und Putins Schwäche Von Wladislaw Subok

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ährend der kurzen Rebellion des Söldnerführers Jewgeni Prigoschin am 24. Juni verglich der russische Präsident Wladimir Putin den „Verrat“ des Chefs der Wagner-Paramilitärs mit den Revolutionswirren von 1917: „Intrigen, Zankereien, das Politisieren hinter dem Rücken der Armee und des Volkes führten zur großen Katastrophe, zur Zerstörung der Armee und dem Untergang des Staates, zum Verlust enormer Gebiete und am Ende zur Tragödie des Bürgerkriegs“, sagte Putin in einer im Fernsehen übertragenen Rede. Er gab dem „Verrat im Inneren“ die Schuld für Russlands Niederlage im Ersten Weltkrieg und am Zusammenbruch seines Reiches. „Genau so einem Verrat stehen wir jetzt gegenüber.“ Einige westliche Analysten schienen Putins Argument aufzugreifen, als sie Prigoschin mit Lawr Kornilow verglichen: Der General des russischen Reiches verlegte im August 1917 seine Truppen von der Front in die damalige Hauptstadt Petrograd, um diese von den Revolutionären zu räumen – nur um wegen versuchten Staatsstreichs angeklagt und eingesperrt zu werden. Mehr als einhundert Jahre später, so behaupten viele von Putins Feinden, sei Russland wieder im Begriff zu implodieren. Nachdem sie ein zentrales Hauptquartier des russischen Militärs in Rostow besetzt hatten, zogen Prigoschins Söldner in einer geordneten Kolonne nach Norden Richtung Moskau, durch eine Region nach der anderen, ohne auf irgendeinen Widerstand zu stoßen. Währenddessen war aus dem Kreml kein Pieps zu hören, und es gab Gerüchte, dass Putin Moskau per Flugzeug verlassen habe. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj behauptete, dass Putin die Kontrolle verloren habe. Michail Chodorkowski, der im Exil lebende russische Dissident, forderte die russische Zivilbevölkerung auf, sich zu bewaffnen, da ein Bürgerkrieg im Gange sei. Binnen weniger Stunden brach Prigoschin allerdings seinen Vormarsch Richtung Moskau ab und stimmte einem Deal zu, den der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko ausgehandelt hatte: Prigoschin würde einer Anklage wegen Landesverrats entgehen, wenn er Russland Richtung Belarus verließe, und die Wagner-Kämpfer könnten entweder mit ihm gehen oder

* Deutsche Erstveröffentlichung eines Textes von Wladislaw Subok, der unter dem Titel „Russia’s New Times of Troubles“ zuerst am 28. Juni auf www.foreignaffairs.com erschienen ist. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Thomas Greven.

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78 Wladislaw Subok Verträge mit dem russischen Verteidigungsministerium abschließen. Was wie ein Drama ausgesehen hatte, das in Putins Untergang hätte gipfeln können, wirkte plötzlich eher wie eine Farce. Es besteht dennoch kein Zweifel, dass die Prigoschin-Affäre die Situation in Russland unumkehrbar verändert hat. Viele Aspekte der Rebellion und ihrer Nachwirkungen bleiben im Unklaren. Klar ist allerdings: Putin, genau wie seine Kritiker und Gegner, haben bei ihrem Rückgriff auf die Ereignisse von 1917 die falsche historische Analogie bemüht. Was derzeit in Russland geschieht, hat weniger Ähnlichkeiten mit den Ereignissen von 1917 als mit denen einer früheren Ära: mit der Smuta, der Zeit der Wirren, die von 1604 bis 1613 andauerte. Während dieser Periode fand die russische Dynastie der Rurikiden ein gewaltsames Ende und es brauchte ein Jahrzehnt Krieg und Aufruhr, bis die Dynastie der Romanows die monarchische Autorität festigen konnte. Zwischenzeitlich hatte Russland beinahe aufgehört als souveräne Einheit zu bestehen – ein Schicksal, das Russland heute wieder ereilen könnte, weil Putins personalisierte autokratische Herrschaft eine geordnete Machtübergabe schwer vorstellbar macht.

Moderne Schurken, altes Skript Die Bühne für die Smuta wurde von Iwan dem Schrecklichen bereitet, dessen brutale und Unruhe stiftende Herrschaft im Jahr 1584 endete. Iwan erschöpfte sein Volk und seine Finanzen durch endlose Kriege zur Erweiterung seines Reiches, vor allem im Baltikum. Er dezimierte die russische Elite in einer paranoiden Exekutionsorgie, um seine absolute Macht zu festigen. Und er tötete in einem Wutanfall den Sohn, der ihm hätte nachfolgen können, womit er den Thron in einen Gegenstand erbitterter Konkurrenz zwischen Elitenclans verwandelte. Was folgte, war eine Periode ökonomischen Niedergangs, der Hungersnöte und der Konflikte – inklusive zwischen einem ambitionierten Höfling namens Boris Godunow, der den Thron von 1598 bis 1605 einnahm, und einem abenteuerlustigen jungen Mann, der behauptete, Iwans Sohn zu sein. Der Thronprätendent oder „Falscher Dmitri“ genoss die Unterstützung der polnisch-litauischen Herrscher, die ein Auge auf Russlands Bodenschätze geworfen hatten, sowie die der Moskauer Eliten und, vorübergehend, der russischen Bevölkerung. Der Tod von Godunow im Jahr 1605 führte schnell zum Triumph des Falschen Dmitri, der in Moskau einzog und sich zum Zaren erklärte – nur um ein Jahr später gemeinsam mit seinem polnischen Gefolge von einem ernüchterten Mob getötet zu werden. Als die Smuta sich verschärfte, wurde Russland von Bürgerkrieg und ökonomischer Krise verschlungen. Äußere Feinde rückten ein: Die Schweden kamen aus dem Norden; das Khanat der Krim, ein Arm des ottomanischen Reiches, plünderte im Süden; und polnische Truppen besetzen sogar den Kreml. Es ist unklar, wie Russland das Überleben gelang. Nationalistische Historiker behaupten, dass es an einem Ausbruch von Patriotismus und reli-

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Russlands neue Zeit der Wirren 79 giösem Eifer des russischen Volkes lag. Gesichert ist, dass zwei Runden massiver Einberufungen den Russen halfen, den Kreml von den Polen zurückzuerobern und schrittweise die Ordnung wiederherzustellen. Im Jahr 1613 wählten Russen aus allen Schichten der Gesellschaft den „rechtmäßigen“ Zaren Michail Romanow. Fünf Jahre später wurde Frieden mit den westlichen Ländern geschlossen.

Putin als isolierter Zar In seinen Vorlesungen zur russischen Geschichte, die im Jahr 1904 veröffentlicht wurden, argumentierte der Reichshistoriker Wassili Kljutschewski, dass die Smuta die „zugrundeliegende Basis der modernen Lebensweise“ in Russland formte. „Diese Zeit zu studieren“, sagte Kljutschewski, „fühlt sich an, wie eine Autobiographie zu schreiben.“ Einhundertzwanzig Jahre später treffen diese Worte immer noch zu. Russland, eine Nuklearmacht mit einer gebildeten, kultivierten urbanen Bevölkerung, einer stabilen digitalen Wirtschaft und einem widerstandsfähigen Finanzsystem, bleibt merkwürdig altmodisch, was seine soziopolitischen Strukturen und Institutionen betrifft. In mancher Hinsicht ist Russland sogar weniger modern, als es die Sowjetunion war. Der Schriftsteller und Bühnenautor Wladimir Sorokin formulierte es im Februar 2022 so: „Die Grundlage der russischen Macht hat sich in den letzten fünf Jahrhunderten nicht im Entferntesten verändert.“ Dies ist eine Übertreibung, die trotzdem tiefe Einsichten offenlegt. Jedes Mal, wenn Russland beginnt, dem modernen Europa stärker zu ähneln, schickt eine Erschütterung das Land zurück zu seinen mittelalterlichen Ursprüngen. Ein halbes Jahrhundert Industrialisierung und Modernisierung endete mit den Schrecken der russischen Revolution und der bolschewistischen Tyrannei. Drei Jahrzehnte Auseinandersetzungen, um das brutale Erbe des Sowjetführers Josef Stalin zu überwinden, schienen unter Michail Gorbatschow zum Erfolg zu führen, endeten aber mit dem Kollaps der Sowjetunion im Jahr 1991. Vielversprechende Versuche der „Europäisierung“ des Landes in den 1990er Jahren lösten schließlich den Rückfall unter Wladimir Putin aus. Putins Russlands ähnelt nicht der kommunistischen Diktatur, aber es ist seltsam archaisch. In mancherlei Hinsicht passt es besser ins 17. Jahrhundert als in dieses oder das vergangene. Das kulturelle Kapital des Zarenreiches oder der Sowjetunion ist verschwunden. Verschwunden sind auch die idealistischen Sozialisten und die aufgeklärten Bürokraten. Verschwunden sind die Vorstellungen von Ritterlichkeit und Ehre, die Kornilow zum Versuch bewogen, Russland vor dem Chaos zu retten. Man findet nicht einmal mehr die Zimperlichkeit, die den KGB im August 1991 davon abhielt, die russische Opposition zu massakrieren, als eine Gruppe sowjetischer Hardliner damit scheiterte, Gorbatschow die Macht zu entreißen. Humanistische und aufgeklärte Impulse, die jahrzehntelang Russlands intellektuelle und soziale Modernisierung vorangetrieben haben, sind nun im Untergrund.

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80 Wladislaw Subok Übriggeblieben ist ein fast opernhaft anmutendes Figurenensemble: ein isolierter Zar, ein träge gewordener Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, treulose Höflinge, geldgierige Warlords und schließlich der wagemutige Thronprätendent – und sie alle operieren nach dem alten Skript. In der Geschichte der Smuta gibt es jede Menge Rollenvorbilder für Prigoschin. Er könnte der moderne Wassili Schuiski sein, eine ränkeschmiedender, verlogener Höfling, der plante, den Thronprätendenten zu ermorden. Ein anderes Rollenvorbild könnte der rebellische Warlord und ehemalige Strafgefangene Iwan Bolotnikow sein, der im August 1606 eine bunt zusammengewürfelte Armee nach Moskau führte, um die Eliten umzubringen und einen „Zaren des Volkes“ zu wählen. Von den Regierungstruppen besiegt, wurde er von seinen Gefolgsleuten verraten, geblendet und ertränkt. Für einen einzigen Tag wurde Prigoschin zu einem Thronanwärter in Moskau – zur Verkörperung der Hoffnungen, Erwartungen und Beschwerden von Millionen von Menschen. Doch zur großen Enttäuschung vieler auf allen Seiten entzog er sich dieser Rolle schnell.

Das Stabilitätsdreieck Die Schilderungen der Smuta sagen mehr über das heutige Russland aus als die von 1917, die aus mehreren Gründen in die Irre führen. Erstens gibt es im Kreml einen Zaren, keine machtlose Übergangsregierung wie 1917. Und nirgends – nicht einmal in den düstersten Ecken der westlichen Bibliotheken – gibt es radikale Russen wie Wladimir Lenin und Leon Trotzki. Zudem gibt es keine Ähnlichkeiten zwischen Prigoschin und Kornilow. Letzterer war bereit, für sein Land und für demokratische Prinzipien zu sterben, was weniger als ein Jahr nach seinem gescheiterten Marsch auf Petrograd dann auch geschah – auf einem Marsch, um Russland von den Bolschewiken zu befreien. Prigoschin dagegen ist ein Söldnerführer, der an nichts glaubt. Er ist eine Mischung zwischen einem Höfling und einem Mafiaboss. Er war empört, als seine Feinde, Putins andere Höflinge, sich gegen ihn durchsetzen konnten und entschieden, ihm sein Geschäft, sein Geld und seine Privatarmee wegzunehmen. Er hatte nie die Absicht, der nächste Zar zu werden. Und seine Meuterei war kein sorgfältiger Plan zur Machtübernahme, sondern eher ein verzweifelter Akt, um zu verhindern, dass Wagner aufgelöst würde. Die Smuta liefert uns auch einen nützlichen Rahmen, um sowohl die Brüchigkeit als auch die Widerstandsfähigkeit des russischen Staates zu verstehen. Im frühen 17. Jahrhundert hing die Stabilität von den Interaktionen von vier Machtzentren ab, drei heimischen und einem im Ausland: Der Zar, die Eliten, das Volk, und die äußeren Feinde. Während der Smuta war Russland nahezu ständig in Kriege mit seinen westlichen Nachbarn verstrickt, vor allem mit der Polnisch-Litauischen Union. Das heimische Dreieck war allerdings für das Ergebnis der Entwicklungen in dieser Periode entscheidend. Jeder verstand, dass Russland ohne den Zaren zerfallen würde. Die russischen Eliten fürchteten ihre eigene

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Russlands neue Zeit der Wirren 81 Bevölkerung jedoch mehr als die äußeren Feinde und waren bereit, eine fremde Herrschaft zu akzeptieren oder jedenfalls mit westlichen Herrschern Kompromisse einzugehen, um Aufstände der Massen und die Umverteilung des Wohlstands zu verhindern. Doch jedes Mal, wenn sie einen vom Westen geförderten Thronanwärter, wie den Falschen Dmitri, unterstützten, scharten sich die Massen um den Zaren, die Religion und den russischen Staat. Der Bürgerkrieg in Russland endete mit einem neuen Leviathan, dem Bund zwischen den Eliten, dem Volk und dem Zaren. Dieses innenpolitische Machtdreieck dominiert Russland auch heute noch. Die Prigoschin-Meuterei hat den Zaren geschwächt, sie hat Putins Autorität und Image angekratzt. Seine hölzernen Auftritte im Fernsehen zu Zeiten, als die meisten Menschen schliefen, erinnerten an die unruhigen Tage der Periode von 1991 bis 1993. Putin wusste nicht, was er sagen sollte, und selbst seine Warnung vor einem „neuen 1917“ klangen schwach. Man stoppt keinen Staatsstreich, indem man den Menschen sagt, wie schlimm es wäre, wenn die Verschwörer gewännen. Putin führte nicht und übernahm auch nicht die volle Verantwortung für das Chaos. Seine Drohungen klangen hohl. So sehr der Putsch auch eine Farce war, er hat den russischen Führer geschwächt. Doch Putins faktische Schwäche bedeutet nicht, dass das Ende seiner Herrschaft naht. Die russischen Eliten, das Militär und das Volk haben sich nicht an die Seite eines abenteuerlustigen Warlords und gegen Putin gestellt. Sie befürchteten richtigerweise, dass der Streit und das Chaos ihnen schaden würden und zu einer neuen Smuta führen könnten mit riesigen finanziellen Verlusten und möglicherweise mit Gewalt. Die Meuterei endete, bevor die Russen dazu gezwungen waren, sich für eine Seite zu entscheiden, aber Prigoschin hatte niemals eine Chance, die Eliten in Moskau und die breitere Bevölkerung für sich zu gewinnen. Je länger der Krieg in der Ukraine dauert, desto größer wird das Risiko einer neuen Smuta in Russland. Es gibt wieder eine Kluft zwischen den russischen Eliten und den Massen, genau wie zur Zeit der Wirren. Die Figur des Zaren ist das Einzige, was sie verbindet und den Staat funktionieren lässt. Aber sollte Putin plötzlich aus dem Bild verschwinden, stünden seine Höflinge vor einer krassen Wahl: dem Weg von Godunow zu folgen und das Land ins Chaos zu stürzen, oder eine Wagenburg zu bauen, interne Fehden zu vermeiden und allen Gruppen zu ermöglichen, in Notstandswahlen einen neuen Präsidenten zu bestimmen. Zwei Tage nachdem die Prigoschin-Meuterei verpufft war, sprach Putin erneut zum russischen Volk, mit Lob für alle, sogar für die Wagner-Kämpfer aufgrund ihres patriotischen und vernünftigen Verhaltens. Aber er erwähnte auch die Smuta, eine Warnung, die immer noch von allen Russen verstanden wird. Die Aussicht, dass eine Nuklearmacht in eine moderne Zeit der Wirren abstürzen könnte, sollte westlichen Ländern genauso Angst bereiten wie dem russischen Volk. Die Chancen für einen schnellen Übergang einer Autokratie im Kriegszustand zu einem kompromissbereiteren liberaleren Regime in Moskau stehen schlecht. Und sie verschlechtern sich noch zusätzlich – durch die Skripte der russischen Geschichte.

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DOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem: • »Die Zahl der Opfer von Häuslicher Gewalt lag im Jahr 2022 bei 240 547 und ist damit um 8,5 Prozent im Vergleich zum Jahr 2021 gestiegen« Lagebild zu Häus­li­cher Ge­walt des BKA, 11.7.2023 • »Im Sommer 2022 gab es mehr als 60 000 hitzebezogene Todesfälle in Europa« Studie in »Nature Medicine«, 10.7.2023 (engl. Original) • »Beide Seiten sollten im Krieg in der Ukraine den Einsatz von Streumunition sofort einstellen« Pressemitteilung von Human Rights Watch, 6.7.2023 (engl. Original) • »Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen« Kinderreport 2023 des Deutschen Kinderhilfswerkes, 6.7.2023 • »Der Fetisch der schwarzen Null und die Tabuisierung jeglicher Steuermehrbelastung Wohlhabender machen diese Bundesregierung letztlich handlungsunfähig« Pressestatement des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, 5.7.2023 • »Das erste Mal seit sieben Jahren haben sich El Niño-Bedingungen entwickelt« Pressemitteilung der Weltorganisation für Meteorologie, 4.7.2023 (engl. Original) • »Berlin hat die Kompetenz für eine Gesetzgebung zur Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne« Abschlussbericht der Expertenkommission Vergesellschaftung, 28.6.2023 • »Ein Viertel der Ostdeutschen zeigt sich geschlossen ausländerfeindlich und ein Fünftel geschlossen chauvinistisch« Studie des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Universität Leipzig, 27.6.2023 • »Der Aufstand der Wagner-Soldaten ist wie ein Messerstoß in den Rücken unseres Landes« Ansprache des russischen Präsidenten Wladimir Putin, 24.6.2023 (engl. Version) • »Ein gerechter ökologischer Wandel, der niemanden zurücklässt, erfordert überall langfristige Investitionen« Offener Brief von 13 Weltpolitikern – darunter Olaf Scholz, Joe Biden und Emmanuel Macron, 21.6.2023 • »Im Jahr 2022 wurden 10 Prozent mehr Regenwald zerstört als 2021 – fast die Hälfte davon in Brasilien« Bericht des World Resources Instituts zum Waldverlust 2022, 21.6.2023 (engl. Original) • »Neun von zehn Männern hegen Vorurteile gegenüber Frauen« Studie des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP), 12.6.2023 (engl. Original)

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Im Alarmzustand: Nordosteuropa und der Ukrainekrieg Von Jens Becker

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ie allgemeine gesellschaftliche Unrast, die seit dem russischen Angriff auf die Ukraine das „neue Gesicht Europas“ prägt,1 hat auch die Staaten Nordosteuropas erfasst. Allenthalben werden russische Angriffshandlungen, zu Lande, zu Wasser oder in der Luft, erwartet. Doch schon zuvor, spätestens seit der Krim-Annexion und den folgenden westlichen Sanktionen von 2014, hat der „Informationskrieg des Kremls gegen die demokratische Welt“2 für Ängste, Hysterie und nicht zuletzt für Konfusion gesorgt. An der sogenannten Nordostflanke der Nato intensiviert sich eine seit dem Zweiten Weltkrieg ungekannte Militarisierung. „Seit dem brutalen, groß angelegten Angriff Russlands auf die Ukraine leben wir in einer neuen geopolitischen Realität“, sagt die lettische Verteidigungsministerin Inara Murniece. Die Wiedereinführung des Wehrdienstes sei „Lettlands Antwort auf die neue Sicherheitslage in unserer Region“. Denn man wisse „aus der Erfahrung der Ukraine, dass es ohne eine moralisch stabile und vorbereitete Gesellschaft nicht möglich ist, einem Aggressor entgegenzutreten“.3 Innerhalb weniger Wochen revidierten Finnland und Schweden im vergangenen Jahr ihre lange bewährte Politik militärischer Neutralität und beantragten den Nato-Beitritt. In beiden Ländern haben seitdem die Regierungen gewechselt, inzwischen koalieren konservative Parteien mit Rechtspopulisten, die Änderungen in der Einwanderungs-, Wirtschafts-, Sozialund Umweltpolitik durchsetzen konnten. Die baltischen Staaten wiederum werden aufgrund ihrer schmerzhaften historischen Repressionserfahrungen mit dem russischen Nachbarn seit dem 24. Februar 2022 in ihrem nationalen Selbstbehauptungswillen bestärkt und gehören zu den antirussischen Falken des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses. Lautstark fordern ihre aus dem konservativ-liberalen Spektrum kommenden Staatschefs, Wladimir Putin und andere Verantwortliche als Kriegsverbrecher anzuklagen. Wie Finnland streben sie eine massive Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts an, Estland habe diesen Schritt schon vollzogen, verkündete die kürzlich wiedergewählte Minister1 Steffen Vogel, Gezwungen zur Abschreckung. Das neue Gesicht Europas, in: „Blätter“, 4/2023, S. 73-80. 2 So der Untertitel des Bestsellers der finnischen Journalistin Jessikka Aro, Putins Armee der Trolle, München 2022. 3 Lettland führt Wehrdienst wieder ein, www.tagesschau.de, 5.4.2023.

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84 Jens Becker präsidentin Kaja Kallas. „Aber allein stärker dazustehen, reicht nicht aus“, betont Lettlands Regierungschef Krišjaˉnis Karin¸š, alle Nato-Alliierten müssten mindestens das Zweiprozentziel erreichen „und möglichst noch darüber hinausgehen, so wie wir das auch tun“.4 Von deutscher Seite wird dieser Prozess lebhaft unterstützt. Ende Juni sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius die dauerhafte Stationierung von 5000 Bundeswehrsoldaten in Litauen zu, obgleich Deutschlands Streitkräfte, jahrelang kaputtgespart, kaum noch einsatzbereit sind. Der Bundeskanzler scheint bereit, jeden Quadratzentimeter des Nato-Territoriums zu verteidigen. So jedenfalls wurde Olaf Scholz kürzlich beim Staatsbesuch im estnischen Tallinn zitiert, während die baltischen Staatschefs den baldigen Beitritt der Ukraine zur Nato fordern.5 Darüber hinaus drängen Lettland, Estland und Litauen auf die Beschaffung von deutschen Luftabwehrwaffen mittlerer Reichweite. Bislang hatte die Nato mit Rücksicht auf Moskaus Interessen auf die dauerhafte Stationierung solcher Raketensysteme an der russischen Grenze verzichtet. Doch seit Beginn des Ukrainekrieges bröckelt die bisherige Zurückhaltung. Auf dem Gipfel der Allianz am 11. und 12. Juli in Vilnius wurde auch die weitere Stärkung der Nato-Präsenz im Baltikum vorangetrieben. Doch vermögen weitere Abschreckungsmaßnahmen die zunehmende Unsicherheit und Unrast einzudämmen? Jedenfalls hat sich die Lage in der unmittelbaren Nachbarschaft der nordosteuropäischen EU-Mitglieder keineswegs beruhigt: Nur wenige Tage nach dem gescheiterten „Marsch auf Moskau“ sorgen Jewgenij Prigoschins berüchtigte Wagner-Söldner erneut für Schlagzeilen: Rund 8000 von ihnen sollen nach Belarus mit dem Auftrag verlegt worden sein, von dort aus die angrenzenden Nato-Staaten Polen, Lettland und Litauen zu destabilisieren. Nachdem 2021 Staatspräsident Alexander Lukaschenko mit Unterstützung Moskaus Tausende afghanische, syrische und andere Flüchtlinge an die benachbarten Grenzen karren ließ, wäre dies eine neue Phase der hybriden Kriegsführung, die an der Ost- und Nordostflanke der Nato zunimmt. Die Bilder von den teils gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen polnischen Grenzschützern und Flüchtlingen, offenkundig von belarussischen Soldaten dabei unterstützt, sorgten weltweit nicht nur für Schlagzeilen, sondern beschleunigten den Ausbau umfangreicher Grenzsicherungsmaßnahmen auf polnischer, lettischer und litauischer Seite. Nun sollen die Befestigungsanlagen weiter ausgebaut werden, um gegen die von Polens Vizepremier Jarosław Kaczyn’ski und Lettlands Premierminister Krišjaˉnis Karin¸š antizipierte militärische Bedrohung durch Wagner-Einheiten noch besseren Schutz zu bieten und die anhaltenden Grenzüberschreitungsversuche einzudämmen.6 Angesichts der rund 1340 Kilometer langen finnisch-russischen Grenze verschärft auch Helsinki sein Grenz- und Sicherheitsregime. Russische Bür4 Mareike Müller, Baltische Regierungschefs dringen auf höhere Verteidigungsausgaben, www.handelsblatt.com, 26.5.2023. 5 Vgl. Bundeskanzler Scholz bekräftigt deutsches Bekenntnis zur Nato-Verteidigung, www.deutschlandfunk.de, 26.5.2023. 6 Vgl. Ein Zaun gegen Wagner, in: „Süddeutsche Zeitung“, 1.7.2023.

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Im Alarmzustand: Nordosteuropa und der Ukrainekrieg 85 ger erhalten keine Touristen- und bald auch keine Einreisevisa mehr. Eingeleitet hatte dies schon die am 2. April abgewählte, von der Sozialdemokratin Sanna Marin geführte Regierung, und die neue Mitte-rechts-Koalition um Premierminister Petteri Orpo hält an diesem Kurs fest. Parteiübergreifend wird in Finnland auch die Solidarität mit der Ukraine getragen, ebenso wie die Bereitschaft, viele ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen. Während Orpos Regierung das von ihren Vorgängern ausgegebene ambitionierte Ziel, bis 2035 klimaneutral zu werden, kassiert hat, bleibt die sicherheitspolitische Kontinuität gewährleistet. Daran ändern auch dubiose NS-Affinitäten einzelner Regierungsmitglieder der rechtspopulistischen PS („Wahre Finnen“) wenig – neben Nationaler Sammlungspartei, Schwedischer Volkspartei und Christdemokraten einer der Koalitionspartner Orpos. Der wegen pronazistischer Äußerungen in die Kritik geratene Wirtschaftsminister Vilhelm Junnila musste nach einer Woche im Amt zurücktreten. Nicht nur die geopolitischen und historischen Realitäten prägen die politische Kultur Finnlands, sondern auch die Checks and Balances einer demokratischen Öffentlichkeit.

Finnland in Alarmbereitschaft Basierten die russisch-finnischen Beziehungen vor dem russischen Angriff auf die Ukraine auf einer intensiven wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit (Warenaustausch, Städtepartnerschaften, Tourismus), sind sie unmittelbar nach Beginn des Krieges eingebrochen.7 Seitdem ist die finnische Gesellschaft in Alarmbereitschaft.8 Finnland erlangte erst 1917 seine Unabhängigkeit von Russland, Patriotismus und Demokratie gelten dort daher nicht als Gegensatz. Der Ukrainekrieg hat Erinnerungen an den sowjetischen Überfall auf Finnland 1940 und den für beide Seiten opfervollen Winterkrieg wachgerufen sowie an den Fortsetzungskrieg bis 1944, bei dem Helsinki als Bündnispartner des Dritten Reiches versuchte, die territorialen Verluste wieder wettzumachen. Damals stand die Unabhängigkeit des Landes gleich mehrfach auf der Kippe. Diese historischen Erfahrungen erklären, warum die finnische Regierung 2022 so bereitwillig die jahrzehntelange Neutralität des Landes – die sogenannte Finnlandisierung als Folge des sowjetisch-finnischen Krieges – über Bord warf. Gerüstet war Finnland schon lange zuvor. Bei fünf Millionen Einwohnern kann das Land im Ernstfall mehr als 430 000 Soldaten mobilisieren, jährlich werden im Rahmen der allgemeinen Wehrpflicht 28 000 junge Männer, bis zu 80 Prozent eines Jahrgangs, ausgebildet. Das Land verfügt über eine der schlagkräftigsten Armeen der Nato, eine moderne Rüstungsindustrie und über mehr Bunkerkapazitäten, als zum Schutz der Bevölkerung notwendig wären. Allein in Helsinki mit seinen 640 000 Einwohnern gibt es 5500 Bunker mit einer Gesamtfläche bis zu 15 000 Quadratmetern, die im Alltag teil7 Bis zu drei Millionen Menschen überschritten bis 2021 die finnisch-russischen Grenzübergänge. Gegenwärtig tendiert die Zahl der Ankommenden in Finnland gen null. 8 Alex Rühle, Tiefer Graben, in: „Süddeutsche Zeitung“, 1./2.7.2023.

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86 Jens Becker weise auch für Shopping, Sport und andere Aktivitäten genutzt werden. Der Anteil der Militärausgaben umfasst mehr als zwei Prozent des BIP, Tendenz steigend, bekräftigt Tuomas Iso-Markku, Senior Research Fellow am Finnish Institute of International Affairs (FIIA). Der marode Zustand der Bundeswehr und der aus finnischer Sicht immer noch geringe deutsche Wehretat von 1,4 Prozent des BIP werden im stets wehrhaften Finnland, dem die Bundeswehr lange als Vorbild galt, mit Besorgnis zur Kenntnis genommen.9 Derweil verweist ein viel beachtetes FIIA Briefing Paper vom April auf die russischen Bemühungen, die militärische Kontrolle über die handels- und rohstoffstrategisch wichtige europäische Arktis (Grönland und Neufundland) zu gewinnen, was der Westen mit erhöhten militärischen Abschreckungsmaßnahmen beantworten müsse.10 Ähnlich wie in der Ostsee, heißt es auch in einem Positionspapier des baltischen Büros der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, könne eine militärische Konfrontation zwischen den Nato-Staaten und Russland in der Arktis nicht mehr ausgeschlossen werden. Wegen der Suspendierung des Arktischen Rates infolge des Ukrainekrieges finde kein institutionalisierter Dialog über Klimawandel, geschweige denn Sicherheit in der Arktis mehr statt.11 Das Misstrauen wächst auch in anderen Bereichen. Argwöhnisch beobachten finnische Sicherheitsexperten wie Alpo Rusi die Spionageaktivitäten des russischen Konsulats auf der demilitarisierten finnischen Insel Äland. Das zwischen dem Bottnischen Meerbusen und dem schwedisch-finnischen Festland in der Ostsee gelegene Atoll gilt neben der schwedischen Insel Gotland als strategisch bedeutsam, weil hier wichtige Schiffsrouten und Datenkabel unterm Meer zusammenlaufen. Eine finnische Razzia rund um das russische Konsulatsgelände im Jahr 2018 habe jedoch wenig ergeben.12 Laut Experten zählen Finnlands Cyberabwehrkapazitäten zu den effizientesten der Welt.13 Gleichwohl nähren die Erfahrungen der Investigativjournalistin Jessikka Aro Zweifel daran. Aufgrund ihrer Recherchen über russische Desinformationskampagnen gegen kremlkritische Akteure im Baltikum und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken wurden Aros Accounts gehackt und bösartige Rufmordaktionen gegen sie gestartet. Da die finnischen Sicherheitsbehörden ihr keinen effektiven Schutz bieten konnten, tauchte Aro ab 2015 immer wieder unter, ihre bürgerliche Existenz vermochte sie nicht mehr aufrechtzuerhalten. Erst 2018 konnte sie nach Finnland zurückkehren.14 9 Das Gespräch fand am 28.4.2023 im Rahmen eines Seminars der Hans-Böckler-Stiftung in Helsinki, Tallinn und Riga statt. 10 Vgl. Russian Aggression and the European Arctic. Avoiding the trap of Arctic Exceptionalism, FIIA Briefing Paper 359, April 2023. 11 Lukas Hassebrauck, No Longer off the Radar – Nato’s Enlargement to the North and its Implications for the Baltic States, Riga 3/2023, S. 14. 12 Die Präsenz der Russen dort bei gleichzeitiger Demilitarisierung der Insel ist Teil der Bedingungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ausgehandelt wurden, ein Relikt des Friedensabkommens mit Russland 1947, das Finnland russische Besatzungstruppen ersparte. Vgl. auch Strategisch wichtige Inselgruppe, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 18.4.2023. 13 Das behauptete der ehemalige Premier Alexander Stubb gegenüber dem „Focus“, 20/2022, S. 44. 14 Vgl. Jessikka Aro, Putins Armee der Trolle. Der Informationskrieg des Kreml gegen die demokratische Welt, München 2022, S. 14 ff.

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Im Alarmzustand: Nordosteuropa und der Ukrainekrieg 87 Auch Estland und Lettland zeigen sich wegen einer drohenden russischen Einflussnahme besorgt. Seit ihrer wiedererlangten Unabhängigkeit 1991 gehören Sprachpolitik und Sprache zu den Identitätsmarkern beider Gesellschaften. Das macht sie verwundbar gegenüber systematischen Desinformationsversuchen in der Infosphäre, mit denen Russland Soft Power auszuüben versucht. Denn anders als im benachbarten Litauen leben in Estland und Lettland starke russischsprachige Minderheiten. Je nach Lesart und je nachdem, ob man staatenlose Bürger mitzählt, umfassen sie zwischen 23 Prozent und knapp 30 Prozent der Bevölkerung. Daher sind auch die Medienräume gespalten: Die russischsprachigen Minderheiten bevorzugen russische Medien, obgleich bei den kosmopolitisch geprägten jüngeren Teilen Absetzungsbewegungen und Assimilierungsbemühungen zu erkennen sind. Estland unternimmt mit dem 2015 gegründeten ETV+, einem russischsprachigen Fernsehkanal der öffentlichen Rundfunkanstalt, den Versuch, der russischen Staatspropaganda etwas entgegenzusetzen15 – und zugleich der russischen Minderheit ein konkretes Angebot zu machen.

Die russischstämmige Minderheit im Fokus Zu den neuen, progressiv eingestellten russischstämmigen Balten gehört Antonina Nenaseva, Mitglied des lettischen Parlaments, des Saeima. Die 34jährige Russin, die fließend Lettisch und Englisch spricht und an der London School of Economics Politik studierte, schloss sich zunächst der sozialdemokratischen Partei „Harmonie“ an, verließ diese aber wieder. Die langjährige Regierungspartei, die auch von der russischen Minderheit in Lettland unterstützt wurde, geriet 2020 durch Korruptionsskandale in der Hauptstadt Riga in einen Abwärtsstrudel. Bei den Parlamentswahlen 2022 fiel sie unter die Fünfprozenthürde.16 Nenaseva gehört zu den Mitgründern der Progressiven Partei, einem linksökologischen Parteienbündnis, das zur größten Oppositionspartei avancierte. Sie bestätigt, dass ein Teil der russischen Minderheit für den lettischen Staat „verloren“, weil unerreichbar ist. 17 Einige von ihnen, so erwartet Nenaseva, würden sich auch dem modifizierten Sprachengesetz verweigern, das ab kommenden Dezember von jedem Bürger verbindlich lettische Sprachkenntnisse verlangt. Dabei droht bei einem verweigerten Sprachtest die Ausweisung. Anders als Teile des russischen Milieus unterstützt Nenaseva die umfassenden lettischen Hilfen für die Ukraine und grenzt sich von Putins Politik ab. Dem drohenden Lizenzentzug des russischen Exilsenders „Doschd“, dem die lettische Regierung Sympathien für die russische Regierung unterstellt,18 steht sie jedoch kritisch gegenüber, weil die russischspra15 Kai Olaf Lang, Die baltischen Staaten und ihr schwieriges Verhältnis zu Russland, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte“, 8/2017, S. 35. 16 Iveta Kazoka, Desire for Stabilty versus Desire for Change. Polarization of Attitudes during Latvia´s General Elections of 2022, Dezember 2022. 17 Das Gespräch fand am 4.5.2023, dem lettischen Nationalfeiertag, im Parlament statt. 18 Vgl. FAZ, 6.12.2022.

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88 Jens Becker chige Bevölkerung Lettlands auch kritische russische Stimmen hören müsse. Unklar bleibt allerdings selbst nach den Recherchen von „Süddeutscher Zeitung“, NDR und WDR, wie stark Moskau sich im Baltikum einmischen will. Zwar habe, so lautet ein Ergebnis der Recherchen, die russische „Präsidialdirektion für grenzüberschreitende Zusammenarbeit“ im Sommer 2021 „konkrete Szenarien“ ausgearbeitet, mit denen die Stimmung und die Meinung in den baltischen Staaten – „auf wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Ebene“ – gesteuert werden solle.19 In dem erwähnten neunseitigen Papier finden sich jedoch nur allgemeine Zielvorgaben für 2022 bis 2030, ohne konkrete Fundierung. Einerseits verstärken solche Drohkulissen die überlieferten historischen Traumata der lange Zeit unter deutscher, schwedischer und russischer Herrschaft stehenden baltischen Gesellschaften; der Hagener Historiker Felix Ackermann hebt dabei vor allem die russisch-deutsche „Kolonisierungspolitik“ hervor. Andererseits stärken die historischen Erfahrungen insbesondere des 20. Jahrhunderts die Resilienz dieser Gesellschaften: „Unsere Geschichte gibt uns die Fähigkeit zu wissen, dass wir die härtesten Zeiten überstehen können“ – dieses Diktum, das an Winston Churchills Blut-Schweiß-undTränen-Rede zu Beginn des Zweiten Weltkrieges gemahnt, verdeutlicht die politische Kultur des nationalen Selbstbehauptungswillens, die nicht nur in Estland, sondern auch in Finnland, Lettland und Litauen vorherrscht. Es stammt von Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas, deren Familienbiografie eng mit der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und den damit verbundenen Freiheits- und Unabhängigkeitskämpfen der genannten Länder verbunden ist.20 Daher wird in den estnischen, lettischen und litauischen Mehrheitsgesellschaften eine national geprägte Erinnerungskultur gepflegt, die viele westliche Kosmopoliten eher befremdet und viele Angehörige der russischen Minderheit abstößt, weil sie sich eher mit der russisch-sowjetischen Lesart der „Befreiung vom Faschismus“ identifizieren. Insbesondere für die baltischen Staaten ist nach dem Auflösungsprozess der Sowjetunion und der erkämpften Unabhängigkeit 1991 klar: Nationale Souveränität und freiheitliche Demokratie sind kein Widerspruch, müssen aber mit gleichgesinnten Bündnispartnern abgesichert werden. Der Beitritt der baltischen Staaten zu EU und Nato, die Westintegration als souveräne nationalstaatliche Demokratien, wurde 2004 trotz russischer Drohungen konsequent betrieben. Diese Konsequenz eint die baltischen Staaten und die ehemals neutralen Länder Schweden und Finnland. Die allgemeine Unrast und die instabile Lage ob der russischen Bedrohung bringen die nordosteuropäischen Staaten, so scheint es, nicht in Verlegenheit.

19 Manuel Bewarder, Jörg Schmitt und Palina Milling, Eine Liste frommer Wünsche, www.sueddeutsche.de, 25.4.2023. 20 Kallas Mutter wurde als Kleinkind mit Familie infolge von sowjetischen Massenrepressionen im Viehwagen nach Sibirien deportiert. Ihre Eltern spielten eine wichtige Rolle vor und nach der estnischen Unabhängigkeit. Vgl. „Der Spiegel“, 25.2.2023, S. 86.

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Bidenomics: Mit Sozialpolitik gegen China Von Grey Anderson Trotz der jüngsten vorsichtigen Annäherung zwischen den USA und China rund um die PekingBesuche von US-Außenminister Anthony Blinken und Finanzministerin Janet Yellen bleiben die massiven Spannungen zwischen den Weltmächten bestehen. Selbst ein Krieg der beiden Atomwaffenstaaten infolge eines chinesischen Angriffs auf Taiwan ist denkbar. Die „Blätter“ haben diesen Konflikt wiederholt zum Thema gemacht, zuletzt mit einem Beitrag des ehemaligen französischen Präsidenten Francois Hollande, der einen Systemgegensatz zwischen Demokratie und Autoritarismus diagnostiziert („Blätter“, 3/2023). Eine andere Sichtweise nimmt der Historiker Grey Anderson ein, der mit einer fundamental-kritischen Sicht auf westliche Bündnisse hervorgetreten ist, einschließlich der EU. Im folgenden Text beschreibt er die innere wie äußere Aufrüstung der USA gegen den chinesischen Rivalen. Im Zentrum seiner Kritik stehen die Bidenomics, die Noah Smith in den „Blättern“ 5/2021 noch als neues progressives Paradigma gewürdigt hatte. Andersons Artikel erschien unter dem Titel „Strategies of Denial“ zuerst am 15. Juni bei „Sidecar“, dem Blog der „New Left Review“. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Karl D. Bredthauer. – D. Red.

I

n der amerikanischen Linken ist eine lebhafte Debatte über die Industriestrategie der Regierung Biden entbrannt. Die Diskussion konzentriert sich auf die Perspektiven, die durch die massiven Konjunkturprogramme eröffnet wurden. Diese umfassen insgesamt etwa vier Bill. US-Dollar, wenn man neben dem Inflationsbekämpfungsgesetz (Inflation Reduction Act, IRA) auch den amerikanischen Rettungsplan, das überparteilich beschlossene Infrastrukturpaket und das CHIPS- und Wissenschaftsgesetz berücksichtigt. Debattiert wurde vieles: von der Ausbildung „fortschrittlicher Technokraten“1 über die Nachrüstung von Gebäuden bis hin zur Möglichkeit einer vom kapitalistischen Staat geleiteten „Dekarbonisierung“ unter den Bedingungen globaler Überkapazitäten und sinkenden Wirtschaftswachstums. Bisher sind die Beurteilungen gemischt, wobei zwischen „dem Guten, dem Schlechten und dem Hässlichen“ unterschieden wird, die Betonung liegt allerdings auf Ersterem. Der vom Inflationsbekämpfungsgesetzes (IRA) versprochene Beschäftigungsschub und die „grünen“ Wohltaten sind nicht von der Hand zu weisen, ebenso wenig wie ihre Mängel: fehlende Mittel für 1 Kate Aronoff, The IRA Is an Invitation to Organizers, in: „Dissent“, www.dissentmagazine.org, Frühjahr 2023.

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90 Grey Anderson den Wohnungsbau und den öffentlichen Nahverkehr, aufgeweichte Regulierungsstandards im Elektrizitätssektor, Pachtverträge, die Öl- und Gasproduzenten Zugang zu öffentlich em Grund und Boden verschaffen. Das IRA, so eine repräsentative Einschätzung in der Zeitschrift „Jacobin“, „ist gleichzeitig ein massives Geschenk an die fossile Brennstoffindustrie, eine historische, aber unzureichende Investition in saubere Energie und unsere beste Hoffnung, die planetarische Katastrophe abzuwenden.“Mit anderen Worten, die linke Kritik ist über „gut, aber nicht gut genug“ hinausgegangen – aber nicht sehr weit. Die geostrategischen Überlegungen, die hinter dieser nationalen Investitionsoffensive stehen, bei der die Produktion auf das US-amerikanische Festland verlagert, Lithiumminen geplündert und der Bau von Mikrochipfabriken gefördert werden, um China militärisch zu überflügeln, werden in diesen Diskussionen fast völlig ausgeblendet.

Antichinesische Industriepolitik Von den Schaltstellen der Macht aus betrachtet, ist die antichinesische Ausrichtung der US-Industriepolitik kein unglückliches Nebenprodukt des grünen „Übergangs“, sondern ihr motivierender Zweck. Für ihre Begründer ist die Logik der neuen Ära der Infrastrukturausgaben von grundlegender geopolitischer Bedeutung. Ihr Vorbild ist nicht im New Deal zu suchen, sondern im militärischen Keynes ianismus des Kalten Krieges, der als Voraussetzung für den Sieg der USA im Kampf gegen die Sowjetunion angesehen wurde. Heute, wie nach 1945, sehen sich die politischen Entscheidungsträger an einem „Wendepunkt“. „Die Geschichte“, schrieb der künftige Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan während der Präsidentschaftskampagne 2020, „klopft wieder an“: „Der wachsende Wettbewerb mit China und die Verschiebungen in der internationalen politischen und wirtschaftlichen Ordnung sollten im heutigen außenpolitischen Establishment einen ähnlichen Instinkt auslösen. Die heutigen nationalen Sicherheitsexperten müssen über die vorherrschende neoliberale Wirtschaftsphilosophie der letzten vierzig Jahre hinausgehen[...]. Die nationale Sicherheitsgemeinschaft der USA beginnt zu Recht, auf die Investitionen in Infrastruktur, Technologie, Innovation und Bildung zu drängen, die die langfristige Wettbewerbsfähigkeit der Vereinigten Staaten gegenüber China bestimmen werden.“2 In einem ausführlichen Bericht für die Carnegie-Stiftung, der von Sullivan und einer ganzen Reihe anderer Biden-Berater unterzeichnet wurde, wurde die „Außenpolitik für die Mittelschicht“ so dargestellt, dass die Unterscheidungen zwischen nationaler Sicherheit und Wirtschaftsplanung aufgehoben wurden. Die Hoffnung, dass der globalisierte doux commerce3 andere Mächte dauerhaft dazu bewegen könnte, die Hegemonie der USA zu akzeptieren, hatte sich als trügerisch erwiesen. Ein anderer Ansatz war angesagt. „Es gibt keine klare Linie mehr zwischen Außen- und Innenpolitik“, erklärte 2 Jennifer Harris and Jake Sullivan, in „Foreign Policy“, www.foreignpolicy.com, 7.2.2020. 3 Entspricht etwa dem deutschen „Wandel durch Handel“.

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Bidenomics: Mit Sozialpolitik gegen China 91 Biden in seiner außenpolitischen Antrittsrede. „Jede Maßnahme, die wir im Ausland ergreifen, muss mit Blick auf die amerikanischen Arbeiterfamilien getroffen werden.“ Trumps Sieg, der in den deindustrialisierten Kerngebieten der Opioidkrise und des „amerikanischen Gemetzels“ errungen wurde, hatte das Establishment der Demokraten erschüttert. Was gut für Goldman Sachs ist, schien nicht mehr unbedingt gut für Amerika zu sein. Die globale Motivation für diesen Bruch mit der Orthodoxie ist kein Geheimnis. China, so betonte Außenminister Antony Blinken im Mai 2022, „ist das einzige Land, das sowohl die Absicht hat, die internationale Ordnung neu zu gestalten, als auch in zunehmendem Maße über die wirtschaftliche, diplomatische, militärische und technologische Macht verfügt, dies zu tun“. Schlimmer noch: „Pekings Vision würde uns von den universellen Werten abbringen, die in den letzten 75 Jahren einen Großteil des weltweiten Fortschritts ermöglicht haben.“ Erfreulicherweise war der Garant dieser Werte jedoch bereit zu reagieren. „Die Biden-Administration tätigt weitreichende Investitionen in unsere wichtigsten Quellen nationaler Stärke – beginnend mit einer modernen Industriestrategie, um unseren wirtschaftlichen und technologischen Einfluss aufrechtzuerhalten und auszuweiten, unsere Wirtschaft und unsere Lieferketten widerstandsfähiger zu machen und unseren Wettbewerbsvorteil auszubauen.“ Wettbewerb, fügte Blinken hinzu, muss nicht zwangsläufig zu Konflikten führen. Aber das Weiße Haus, das China als seine „schrittweise Herausforderung“ identifiziert hat, würde nicht vor der Möglichkeit eines Krieges zurückschrecken und damit beginnen, „unsere militärischen Investitionen weg von Plattformen, die für die Konflikte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, hin zu asymmetrischen Systemen zu verlagern, die eine größere Reichweite haben, schwerer zu finden und leichter zu bewegen sind“.

Kontrolle über Schlüsseltechnologien Drei Monate später wurde mit der Verabschiedung des Inflationsbekämpfungsgesetzes und des CHIPS-Gesetzes die „tiefe Verflechtung von Innenund Außenpolitik“ deutlich gemacht. Die im September beschlossenen und im darauffolgenden Monat bestätigten Ausfuhrbeschränkungen für wichtige KI- und Halbleiterkomponenten nach China bestätigten das Bestreben, „Chokepoint“- oder „Stranglehold“-Technologien zu monopolisieren, eine regelrechte Erklärung des Wirtschaftskriegs. „Diese Maßnahmen“, so die Schlussfolgerung des „Center for Strategic and International Studies“, „zeigen ein noch nie dagewesenes Ausmaß an Intervention der US-Regierung, um nicht nur die Kontrolle über die Chokepoints zu bewahren, sondern auch eine neue US-Politik des aktiven Strangulierens großer Teile der chinesischen Technologieindustrie einzuleiten – ein Strangulieren mit der Absicht zu töten.“4 Unheilvoll berief sich Sullivan auf das Manhattan-Projekt. Zu 4 Gregory C. Allen, Choking off China’s Access to the Future of AI, www.csis.org, 11.10.2022.

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92 Grey Anderson lange hätten die USA nur einen „relativen“ Vorsprung in sensiblen HightechBereichen angestrebt; von nun an würden sie „einen so großen Vorsprung wie möglich halten“.

Abkehr von der strategischen Zweideutigkeit In Washington ist die Musik militärisch. Wochen bevor der Kongress über das IRA abstimmte, traf die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, an Bord eines Air-Force-Jets in Taipeh ein, eskortiert von einem Dutzend F-15 und der Flugzeugträgerkampfgruppe USS Ronald Reagan („völlig leichtsinnig, gefährlich und unverantwortlich“ in den Worten von Thomas Friedman; „eine große politische Provokation“ laut dem chinesischen Außenministerium). Doch die verstärkte militärische Bedrohung durch die USA hatte bereits zu Beginn der Biden-Administration begonnen, die Trumps Tiraden keineswegs zurücknahm, sondern auf sie aufbaute und sich nur mäßigte, um verärgerte Nato-Staaten und Verbündete des Südostasienvertrags für das Projekt zurückzugewinnen. Seit der Wiederbelebung der Quad-Allianz5 Anfang 2021, die bald durch den AUKUS6 -Pakt gestärkt wurde, haben die USA ihr ohnehin schon riesiges Archipel an Stützpunkten vergrößert und mit schnell verlegbaren mobilen Kräften, Deep-Strike-Fähigkeiten und unbemannten Systemen ausgestattet. Laut Ely Ratner, dem Beauftragten für asiatische Angelegenheiten im Verteidigungsministerium, besteht das Ziel darin, „eine widerstandsfähigere, mobilere und tödlichere Präsenz in der indopazifischen Region“ aufzubauen. Die Intensivierung der gemeinsamen US-amerikanisch-japanischen Marineübungen im Herbst 2022 signalisierte einen bedeutsamen Wandel in Tokio, der in einer neuen Nationalen Sicherheitsstrategie skizziert wurde, die auf die „beispiellose“ Bedrohung durch China ausgerichtet ist; Bestellungen von Hunderten von Tomahawk-Marschflugkörpern folgten ebenso wie die Stationierung eines neu aufgestellten Marine-Küstenregiments auf Okinawa. Anfang 2023 fiel die Panik über unidentifizierte Ballonsichtungen mit dem Durchsickern eines Memos des Leiters des US Air Mobility Command zusammen, dessen „Bauchgefühl“ ihm sagte, dass sich die USA bis 2025 im Krieg mit China befinden würden. Im Februar kündigte das Pentagon Pläne zur Vervierfachung der in Taiwan stationierten Streitkräfte an, verbunden mit einem Anstieg der Waffenverkäufe, und Beamte erwägen nun öffentlich, die Halbleiterproduktionsanlagen der Insel im Falle einer chinesischen Invasion in die Luft zu jagen. In offener Abkehr von der langjährigen diplomatischen Formel „Ein China“ (die von Washington im Shanghai-Kommuniqué von 1972 formell anerkannt wurde) hat Biden wiederholt seine Absicht bekräftigt, in einem solchen Fall Gewalt anzuwenden. Die Abkehr der Regierung von der „strategischen Zweideutigkeit“ wurde von Avril Haines, 5 Ein 2007 initiiertes informelles Bündnis zwischen den USA, Australien, Japan und Indien. 6 Trilaterales Militärbündnis, das Mitte September 2021 zwischen Australien, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten geschlossen wurde.

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Bidenomics: Mit Sozialpolitik gegen China 93 der Direktorin des Nationalen Nachrichtendienstes, in einer Zeugenaussage im Senat im März dieses Jahres bestätigt. Das gelegentliche Gerede von einem „Tauwetter“ unterstreicht nur die Tendenz zur Eskalation. Falls in der amerikanischen Linken noch Unklarheiten über die internationalen Auswirkungen der Bidenomics bestanden, sollten sie mit der Rede Sullivans Ende April über die „Erneuerung der amerikanischen Wirtschaftsführerschaft“ an der Brookings Institution ausgeräumt sein. Denjenigen, die sich wunderten, dass das Thema dem nationalen Sicherheitsberater anvertraut werden sollte, erklärte Sullivan erneut, dass machtpolitische Bedenken Vorrang vor überoptimistischem Marktfundamentalismus haben. Der Aufstieg Chinas sei ein Beweis gegen die Sehnsucht nach globalistischem Laissezfaire. Chinesische „militärische Ambitionen“, „nicht marktwirtschaftliche Praktiken“ und das Fehlen westlicher „Werte“ – ganz zu schweigen von Pekings Griff nach Lithium, Kobalt und anderen „kritischen Mineralien“ – erforderten eine entschlossene Antwort. Investitionen in die Produktion von Elektrofahrzeugen und Mikrochips waren ein erster Schritt, ebenso wie die „Partnerschaft für globale Infrastruktur und Investitionen“, ein antichinesisches Handelskartell, das als Antwort auf die Initiative der neuen Seidenstraße gedacht ist.

Ein außenpolitischer Konsens Um das Ausmaß dieses „neuen Washingtoner Konsenses“ zu ermessen, genügte es, sich die jüngste Rede von Finanzministerin Janet Yellen vor der Johns Hopkins School of Advanced International Studies anzuhören. Yellen, die im Gegensatz zum „Falken“ Sullivan als „Taube“ gilt, eröffnete ihre Ausführungen mit dem Hinweis auf „Chinas Entscheidung, sich von den Marktreformen abzuwenden und einen stärker staatlich geprägten Ansatz zu verfolgen, der seine Nachbarn und Länder auf der ganzen Welt unterminiert hat. Dies geschah in einer Zeit, in der China eine konfrontativere Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten und unseren Verbündeten und Partnern einnahm – nicht nur im indopazifischen Raum, sondern auch in Europa und anderen Regionen.“ Angesichts der angespannten Lage werde die US-Wirtschaftspolitik vier Zielen gehorchen: erstens der Gewährleistung der „nationalen Sicherheitsinteressen“ Washingtons und seiner Verbündeten; zweitens der weiteren „Nutzung unserer Instrumente um Menschenrechtsverletzungen, wo immer sie auf der Welt vorkommen, abzustellen oder zu verhindern“; drittens einem „gesunden Wettbewerb“ mit China, der von der Abkehr von dessen „unfairen Wirtschaftspraktiken“ und der Einhaltung der „regelbasierten Weltwirtschaftsordnung“ abhänge; viertens der „Zusammenarbeit in Fragen wie Klima und Schuldenkrise“. Nationale Sicherheit, Weltpolizei, Wettbewerb, Zusammenarbeit: Die Hierarchie war klar. Rhetorisch hat das Weiße Haus darauf bestanden, dass sein Ziel nicht die wirtschaftliche „Abkopplung“ von China ist, sondern vielmehr „De-Risking“ – eine glückliche Wortschöpfung von Ursula von der Leyen, der EU-Kommis-

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94 Grey Anderson sionspräsidentin, die die Europäer dazu bringt, nach Washingtons Pfeife zu tanzen. Bidens Politik hat jedoch Zweifel daran aufkommen lassen, welches Schicksal für die „Freunde“ in diesem neuen Vorgehen vorgesehen ist. Die jahrzehntelange Absicherung der Klimaziele durch die USA, begleitet von Lobeshymnen auf die Unantastbarkeit des Freihandels, hat Deutschland und Frankreich unvorbereitet auf die peitschende Rückkehr von Zöllen, Kapitalverkehrskontrollen und nationalen Subventionen für die Industrie getroffen. Das „NextGenerationEU“-Programm, Kernstück des „Green Deal“, den von der Leyen im Januar 2023 vorgestellt hat, bietet rund 720 Mrd. Euro an Zuschüssen und Darlehen für europäische Regierungen, eine Summe, die mit der Größenordnung des IRA vergleichbar ist; doch wie Kate Mackenzie und Tim Sahay feststellen, haben die EU-Länder allein im vergangenen Jahr fast genauso viel an Subventionen ausgezahlt, um die Energiekrise infolge des Stellvertreterkriegs7 in der Ukraine auszugleichen. Trotzdem zeigt die EU wenig Appetit darauf, in Europa eigenständig zu handeln und genauswenig – abgesehen von den Besuchen von Scholz und Macron in Peking – ihrem Nato-Beschützer in Asien die Stirn zu bieten. Josep Borrell, von der Leyens Sidekick in Brüssel, forderte zuletzt die Mitgliedstaaten auf, Kriegsschiffe zur Patrouille im Südchinesischen Meer zu entsenden.

China die Weltmacht verweigern Technologieembargos, Sanktionen und Bündnispolitik haben ihren Platz in einer expansiveren strategischen Perspektive, die von den Kriegsplanern des Pentagon unter dem Schlagwort „Verweigerung“ (denial) zusammengefasst wird. Angeblich zielen diese Maßnahmen darauf ab, die amerikanischen Vorposten an den Grenzen Chinas zu verteidigen, angefangen mit dem „militärischen Igel“ Taiwan. Dass die Regierung sich darauf vorbereiten sollte, chinesische Ambitionen in der Region zu „verweigern“, findet die breite Zustimmung des Establishments, vom auf „Zurückhaltung“ bedachten „Quincy Institute“ bis zur „Heritage Foundation“ und dem „Center for a New American Security“, auch wenn man sich über die Einzelheiten nicht einig ist. Wie sein unmittelbarer Vorgänger, die Eindämmung, ist auch die „Verweigerung“ ein labiles Konzept. Während für die einen der Schwerpunkt auf der Gegenposition zur Kontrolle oder der Vorrangstellung liegt – der Vorstellung, dass die amerikanische Macht so gewaltig sein sollte, dass jeder Gedanke an eine Infragestellung ausgeschlossen ist -, unterscheiden andere, die sich von der Abschreckungstheorie inspirieren lassen, zwischen „Bestrafung“ oder der Androhung, einem Gegner post facto inakzeptablen Schaden zuzufügen, und einer aktivistischen militärischen Haltung, die darauf abzielt, ein Gebiet uneinnehmbar zu machen. So oder so muss Washington das Gebot, einen anderen Staat als sich selbst daran zu hindern, eines der großen Zentren der Weltmacht (Asien, Europa, 7 Kritisch zum Begriff des „Stellvertreterkrieges“: Paul Schäfer, Ein Jahr russischer Angriffskrieg: Das Elend der linken Legenden, in: „Blätter“, 2/2023, S. 55-62 – d. Red.

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Bidenomics: Mit Sozialpolitik gegen China 95 Persischer Golf) zu beherrschen, mit der Tatsache in Einklang bringen, dass seine Bürger nach zwanzig Jahren nicht enden wollender bewaffneter Eskapaden wahrscheinlich nicht mehr bereit sind, einen größeren internationalen Krieg im Ausland zu unterstützen. Nach Ansicht von Elbridge Colby, ihrem einflussreichsten Theoretiker, erfüllt eine „Strategie der Verweigerung“ beide Kriterien, indem sie die Ressourcen schont und gleichzeitig die Grundlage für die Mobilisierung der öffentlichen Meinung schafft.8 In diesem Zusammenhang erinnert die engstirnige Konzentration der amerikanischen Linken auf die innenpolitischen Auswirkungen der Bidenomics an den „Sozialimperialismus“ der europäischen Belle Époque, als die Webbs und Bernsteins einen größeren Anteil am Kuchen für die heimische Arbeiterklasse feierten, während sich die zwischenimperialen Rivalitäten und kolonialen Plünderungen immer mehr zur Katastrophe hin entwickelten.

Das Schwinden der Macht verleugnen Im Idealfall würde Washington es natürlich vorziehen, dass die Raffinesse der amerikanischen Hardware und die Stärke seiner „antihegemonialen“ Koalition in Asien Peking davon abhalten, seine Pläne in Bezug auf Taiwan oder die Philippinen zu verfolgen. Wie Konteradmiral Michael Studeman, Direktor des Marinegeheimdienstes, jedoch warnte, „könnten wir zu spät dran sein“. Sollte dies der Fall sein, muss China unbedingt gezwungen werden, die Feindseligkeiten zu eröffnen. Als historischer Vergleich kann das kaiserliche Japan im Jahr 1941 herangezogen werden, das sich durch das USÖlembargo veranlasst sah, den verheerenden Angriff auf Pearl Harbor zu starten und damit eine bis dahin zögernde Bevölkerung aufzurütteln. „Unter Umständen, in denen eine gezielte Verweigerungshaltung zu wahrscheinlich scheitern würde“, schreibt Colby, „sollte das strategische Ziel der Vereinigten Staaten darin bestehen, China zu zwingen, das zu tun, was Japan freiwillig getan hat: Um seine Ambitionen zu verwirklichen, müsste China sich so verhalten, dass die Völker in der breiteren Koalition zum Eingreifen angespornt und verhärtet werden und dass die Beteiligten den Krieg intensivieren und auf ein Niveau ausweiten, auf dem sie ihn gewinnen würden.“ Dementsprechend sollten Pläne gemacht werden. „Wir haben die Chance verpasst, eine nuanciertere Verteidigungsstrategie zu verfolgen“, bedauerte Colby, „und jetzt müssen wir Dinge tun, die sehr extrem erscheinen.“ Denial (verweigern) bedeutet, etwas nicht zuzulassen, zurückzuhalten oder abzuschwören. Denial (verleugnen) hat in der Freudschen Sprache noch eine weitere Bedeutung und beschreibt die Unfähigkeit oder den Unwillen, eine unangenehme oder traumatische Realität anzuerkennen. Sie hat auch mit Perversion zu tun – wenn das Gewünschte abwesend ist, kann sich die Aufmerksamkeit auf ein vorhandenes Surrogat oder einen Fetisch richten. Dem 46. Präsidenten können solche Gefühle nicht fremd sein. Aber Selbst8 Elbridge A. Colby, The Strategy of Denial, American Defense in an Age of Great Power Conflict, New Haven und London, 2021.

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96 Grey Anderson betrug gibt es überall. Als Pelosi ihre chauvinistische Demarche in Taiwan inszenierte, spielten die Apparatschiks der Demokraten die Folgen herunter. Für Matt Duss, den ehemaligen außenpolitischen Berater von Sanders, und die progressive Aktivistin Tobita Chow bestand die wirkliche Gefahr weniger in Pelosis Rundreise als in denjenigen, die durch sie alarmiert wurden und deren Warnungen einen Fall von „Bedrohungsinflation“ darstellten. Häufiger nimmt die Leugnung die Form des Schweigens an. Selbst durchdachte Kritiken – das jüngste „Dissent“-Symposium „What‘s Next for the Climate Left?“ enthält eine Auswahl davon – berücksichtigen kaum die relationale Logik zwischen erweiterten Inlandsausgaben und einer zunehmend aggressiven Pazifikpolitik, die in einer Rede nach der anderen von Bidens Funktionären wiederholt wird. Diese Kritik gilt auch für die Debatte, die NLR über die „Sieben Thesen zur amerikanischen Politik“ von Dylan Riley und Robert Brenner geführt hat (obwohl die Zeitschrift den sozialimperialen Charakter von Bidenomics an anderer Stelle angegriffen hat).9 Dieser Punkt wurde in einem Beitrag des Wirtschaftswissenschaftlers J. W. Mason aufgegriffen, der eine eingeschränkte Befürwortung von Bidens Ausgabenprogramm wagte, in der er „die beängstigende Anti-China-Rhetorik, die ein allgegenwärtiger Teil der Argumente für öffentliche Investitionen ist“, einräumte. „Krieg ist etwas anderes als Industriepolitik“, bemerkte Mason. Verstehen Amerikas Radikale diesen Unterschied?

Die ökosozialistische Linke ist zu gutgläubig Zuetzt war die Finanzpresse der ökosozialistischen Linken voraus, indem sie ihr Unbehagen über die aggressive Haltung von Biden und Sullivan äußerte. Der „Economist“ und die „Financial Times“ haben sich von den Höhenflügen der Regierung distanziert und auf die Notwendigkeit hingewiesen, die hitzige Rhetorik abzukühlen, bevor sie zu einer neuen Realität wird, wie Rumsfeld gesagt haben könnte. Die FT veröffentlichte einen eindringlichen Meinungsartikel von Adam Tooze, in dem er eine Strategie der Anpassung an den Aufstieg Chinas fordert – ein Vorschlag, der vom Weißen Haus als „entweder verräterisch oder unplanmäßig“ eingestuft werden könnte. Als die chinesischen Behörden ein Verbot der Verwendung von Mikrochips ankündigten, die von dem in Boise ansässigen Unternehmen Micron Technology hergestellt wurden, erklärte Handelsministerin Gina Raimondo, dass die USA diese Entscheidung „nicht tolerieren“ würden. „Wir betrachten dies schlicht und einfach als wirtschaftliche Nötigung.“ Zwang oder Besonnenheit, „Bewahrung unseres Vorsprungs in Wissenschaft und Technologie“ oder „Modernisierung der Tötungskette“, „marktverzerrende Praktiken“ oder Unterstützung des „amerikanischen Arbeiters“, „Umweltgerechtigkeit“ oder atomarer Showdown um die Straße von Taiwan? Kritische Beurteilungen von Bidenomics sollten sicher sein, was was ist. 9 Dylan Riley und Robert Brenner, Seven Theses on American Politics, www.newleftreview.org, November 2022.

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Ein Land als Gefängnis Zwei Jahre Taliban-Herrschaft in Afghanistan Von Arezao Naiby

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s war der Tag, der das Leben von Millionen Menschen in Afghanistan völlig verändert hat: Vor zwei Jahren, am 15. August 2021, übernahmen die Taliban die Macht im Land. Quasi über Nacht war das zuvor vom Westen gestützte politische System wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen. Leicht und fast ohne Widerstand rückten die Taliban nach dem Abzug der westlichen Truppen in die Hauptstadt Kabul vor, dem Sitz der damaligen afghanischen Regierung. Lediglich einige Gebiete, wie Pandschir, in denen es bis heute Widerstände gibt, setzten sich damals zur Wehr. Die Mehrheit der Mitglieder der ehemaligen afghanischen Regierung floh in westliche Länder. Hauptverliererin dieses abrupten Endes eines zwei Dekaden währenden Kriegs zwischen Regierung und Taliban ist die afghanische Bevölkerung. Die Bilanz des überhasteten Abzugs der USA und ihrer Verbündeten ist erschreckend: Für Millionen von Menschen sind die Zustände im Land heute katastrophal. Die Rechte von Frauen, Minderheiten und bestimmten ethnischen Gruppen, wie den Hazaras, wurden in den vergangenen zwei Jahren drastisch eingeschränkt, die Medien mit Repression überzogen, das – schon zuvor unzureichende – Gesundheitssystem bröckelt, Armut und Hunger breiten sich aus. Fast die Hälfte der afghanischen Bevölkerung leidet aktuell unter Hunger. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind rund 18 Millionen der insgesamt rund 41 Millionen Afghaninnen und Afghanen von schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen, 3,2 Millionen Kinder leiden an akuter Unterernährung. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) warnt angesichts dessen bereits vor einer der größten und schwersten Hungerkrisen der Welt.1 Zu dieser Notlage beigetragen hat zum einen der abrupte Stopp westlicher Unterstützung nach der Machtergreifung durch die Taliban. Zum anderen haben die nun herrschenden Taliban all das, was bereits in der Vergangenheit zu Hunger und Ernährungsunsicherheit im Land geführt hat, noch verschärft: Zunehmende Vertreibung, Konflikte und politische Instabilität beeinträchtigen die Landwirtschaft wie die Ökonomie insgesamt und zerstören die Infrastruktur, was einen Rückgang der Nahrungsmittelproduktion und -verfügbarkeit zur Folge hat. Zugleich ist das Land sehr anfällig für Naturkatastrophen 1 Half of Afghanistan’s population face acute hunger as humanitarian needs grow to record levels, www.fao.org, 25.10.2021; Afghanistan crisis: Hunger in the land, www.worldvision.org, 12.4.2022.

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98 Arezao Naiby wie Dürren, Überschwemmungen und Erdbeben, was sich ebenfalls negativ auf die Versorgungslage auswirkt. Die Taliban sind ganz offenbar nicht in der Lage, diese dramatische Situation in den Griff zu bekommen – auch weil sie Hilfe von außen nur in wenigen Fällen zulassen und dabei unter anderem die Mitarbeit von Frauen untersagen. Dies aber stellt viele Hilfsorganisationen vor immense Probleme. Angesichts dessen wächst der Anteil der Bevölkerung rasant, der auf Hilfe angewiesen ist. Besonders Frauen und Kinder leiden unter den schlechten humanitären Bedingungen. Vor allem aber ist Afghanistan derzeit das Land der Welt, in dem Frauen am massivsten unterdrückt werden. Seit der Machtübernahme der Taliban wurde ihr Leben de facto aus der Öffentlichkeit verbannt: Die neuen Machthaber verwehren ihnen systematisch den Zugang zu Bildung, Arbeit, Reisen und ausreichender medizinischer Versorgung – mit weitreichenden Folgen. So schaffte das – rein männliche – Kabinett der Taliban direkt nach der Machtübernahme das Ministerium für Frauenangelegenheiten ab und ersetzte es durch das Ministerium für „Laster und Tugend“. Seither dürfen Frauen lange Strecken in der Regel nicht alleine reisen und auch das Land nicht alleine verlassen. Frauen, die vor Gewalt und Lebensgefahr Zuflucht an sicheren Orten wie Frauenhäusern oder dem ehemaligen Frauenministerium gesucht hatten, schickten die Taliban zurück zu ihren Familien, vor denen sie geflohen waren. Niemand weiß, was mit diesen Frauen passiert ist.  Nachdem die Zahl der Mädchen, die in Afghanistan eine weiterführende Schule besuchten, nach dem Ende der vorherigen Taliban-Herrschaft von sechs Prozent im Jahr 2003 auf 39 Prozent im Jahr 2017 gestiegen war, haben die Taliban im vergangenen Jahr fast alle weiterführenden Schulen für Mädchen geschlossen und Frauen den Zugang zu Universitäten untersagt. Die Folgen dieses Bildungsverbots sind katastrophal, gerade auch im Gesundheitsbereich: In Afghanistan herrscht seit Jahren ein Mangel an Hebammen und Gynäkologinnen. Jetzt, da Frauen offiziell vom Studium ausgeschlossen sind, wird sich die Zahl der Gynäkologinnen und Ärztinnen noch weiter reduzieren. Dadurch dürfte sich die Müttersterblichkeitsrate im Land, ohnehin eine der höchsten weltweit, noch einmal deutlich erhöhen.2 Auch das Reiseverbot wirkt sich negativ auf die Gesundheit der Frauen aus. Mittlerweile müssen zehn Prozent der Bevölkerung des Landes mehr als zwei Stunden reisen, um ein Gesundheitszentrum zu erreichen. Dies führt dazu, dass Frauen ohne Begleitung durch einen Mahram – also ihren Ehemann oder eine männliche Person, mit der die Ehe für sie verboten ist, etwa Eltern, Großeltern und Geschwister – keinen Zugang zu Gesundheitszentren haben. Und selbst Frauen mit Begleitperson fühlen sich möglicherweise nicht wohl dabei, besondere Bedürfnisse vor dieser mit einer Ärztin zu besprechen. Zudem ist es Frauen heute weitgehend verboten zu arbeiten, mit wenigen Ausnahmen in bestimmten Bereichen wie dem Gesundheitswesen – dieses Zugeständnis kam allerdings nur durch massiven Druck zustande: Zahlrei2 Im Jahr 2020 starben 620 von 100 000 Müttern bei der Geburt, in Deutschland waren es vier. Vgl. Maternal mortality ratio – Afghanistan, www.data.worldbank.org, 2023.

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Afghanistan: Ein Land als Gefängnis che NGOs stellten ihre Arbeit ein, weil sie ohne ihre Mitarbeiterinnen nicht arbeitsfähig waren und Frauen wie Mädchen nicht gesundheitlich versorgen konnten, da männliche Ärzte Frauen nicht mehr behandeln dürfen.3

Keine Arbeit, keine wirtschaftliche Teilhabe, keine Gesundheit Insgesamt aber führt das Arbeitsverbot nicht nur zu einer Verschlechterung der Gesundheitsversorgung von Frauen, sondern auch zu einem erheblichen Rückgang ihrer wirtschaftlichen Teilhabe und Unabhängigkeit, die sie sich in den vergangenen 20 Jahren teilweise erarbeiten konnten. So war die Zahl der berufstätigen Frauen nach Angaben der Weltbank zwischen 2001 und 2019 immerhin von 15 auf 22 Prozent gestiegen. Frauen eröffneten Unternehmen etwa im Modebereich, in der Buchhaltung oder Elektrotechnik. In dieser Zeit waren Frauen in der Gesellschaft zunehmend sichtbar, sei es im Journalismus oder im Gesundheitswesen, aber auch im Justizwesen und in der Politik. So hatten Frauen bis zur Machtübernahme durch die Taliban aufgrund einer Verfassungsquote 27 Prozent der Sitze im Unterhaus des Parlaments inne. Mit dem Sturz der vom Westen gestützten Regierung verloren Tausende Frauen über Nacht ihre Arbeit. Witwen, von denen es in Afghanistan aufgrund des langen Krieges viele gibt, bleibt heute kaum etwas anderes übrig, als auf der Straße zu betteln, um ihre Kinder und sich selbst zu versorgen. Zudem werden immer mehr Ehen mit minderjährigen Frauen geschlossen und Frauen zwangsverheiratet, auch mit Mitgliedern der Taliban. Diese wiederum haben unter ihrem Anführer, Mullah Hibatullah Achundsada, die Verschleierung für alle Frauen und sogar für die jungen Mädchen verpflichtend gemacht und neue Verhaltensregeln für sie aufgestellt, die sie mit Gewalt durchsetzen – so dürfen Frauen nur noch komplett verhüllt mit einer Burka oder einem Tschador samt Gesichtsschleier auf die Straße gehen, womit sie als Individuen unsichtbar gemacht und in ihrem Gesichtsfeld massiv eingeschränkt werden. Demonstrationen gegen diese Zustände werden gewaltsam unterdrückt. Angesichts dieser drastischen Einschränkungen ihrer Rechte ist die Zahl der Selbstmorde unter Frauen, insbesondere unter jungen Frauen, in den vergangenen zwei Jahren um ein Vielfaches gestiegen.4 Seit der Machtübernahme der Taliban sind nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) aufgrund dieser katastrophalen Lage 1,6 Millionen Menschen aus Afghanistan geflohen. Damit leben mittlerweile 5,2 Millionen afghanische Geflüchtete in den Nachbarländern, vor allem in Pakistan, Iran und Tadschikistan. Der Großteil der Vertriebenen – laut UN-Flüchtlingshilfe etwa drei Millionen Afghaninnen und Afghanen – befindet sich nach wie vor innerhalb Afghanistans.5 Wie aber konnten sich die Taliban über die vergangenen Jahrzehnte zu jener 3 Vgl. dazu Marc Thörner, Afghanistan: Frauen als Faustpfand, in: „Blätter“, 3/2023, S. 71-76. 4 Vgl. Yogita Limaye, Afghan women in mental health crisis over bleak future, www.bbc.com, 5.6.2023. 5 Afghanistan: Vertriebene in großer Not, www.uno-fluechtlingshilfe.de, 15.6.2023.

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100 Arezao Naiby politisch wie militärisch dominanten Kraft im Land entwickeln, die sie heute sind? Um das zu verstehen, ist ein Blick in die Geschichte nötig: in die Zeit des afghanischen Bürgerkriegs, der auf den Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan im Jahr 1989 folgte. Damals wandten sich die Mudschaheddin-Gruppen, die während des Kalten Krieges mit Unterstützung der USA und anderer Länder in einem Stellvertreterkrieg gegen die sowjetischen Streitkräfte gekämpft hatten, in einem Machtkampf um die Kontrolle des Landes gegeneinander. Die fundamentalistisch-islamischen Taliban entwickelten sich in dieser Zeit zu einer bedeutenden politischen und militärischen Kraft. Aufgrund ihres Versprechens von Stabilität und Sicherheit erhielten sie Unterstützung von verschiedenen Fraktionen, darunter konservativen Paschtunenstämmen. Im Jahr 1996 gelang es ihnen schließlich, die Hauptstadt Kabul zu erobern und ihre Herrschaft über den größten Teil Afghanistans zu etablieren. Die Taliban-Bewegung hat ihre Wurzeln in Religionsschulen für afghanische Geflüchtete in Pakistan, wo bis in die 1990er Jahre eine extreme Interpretation des sunnitischen Islam gepredigt wurde. Ihre Ideologie basiert auf einer radikalen Form des Deobandismus und ist auch stark von der hanfitischen Lehre, dem paschtunischen Recht und dem paschtunischen Ehrenkodex (Pashtunwali) beeinflusst.  Unter der Taliban-Herrschaft erlebte Afghanistan entsprechend eine strenge Auslegung des islamischen Rechts, der sogenannten Scharia. Die Taliban verhängten eine Reihe strenger Beschränkungen, die sich insbesondere gegen Frauen und religiöse Minderheiten richteten und deren Rechte verletzten. So besteht nach Ansicht der Taliban die Aufgabe der Frauen ausschließlich darin, Männer sexuell zu befriedigen und Kinder in die Welt zu setzen. Die Anwesenheit von Frauen in der Gesellschaft hingegen würde das tägliche Leben der Männer beeinträchtigen, da diese durch deren Anblick sexuell stimuliert würden. Dadurch könnten sie ihre Arbeit und gesellschaftlichen Aufgaben nicht mehr ungestört fortsetzen. Aus diesem Grund sind jegliche gesellschaftlichen Aktivitäten von Frauen, ihre Bildung, ihr Engagement in der Politik, ja sogar ein individueller Kleidungsstil unerwünscht und verboten. Das Bildungsverbot führte in dieser Zeit zu einem erheblichen Rückgang der Alphabetisierungsraten von Mädchen und Frauen. Die Taliban zerstörten auch Kulturstätten, die sie für unislamisch hielten, darunter die berühmten Bamiyan-Buddha-Statuen. Zudem boten sie internationalen Terrorgruppen Zuflucht, allen voran Al-Qaida unter Führung Osama bin Ladens. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, in Reaktion auf die Unterstützung Al-Qaidas durch die Taliban, marschierten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten in Afghanistan ein mit dem Ziel, Al-Qaida zu zerschlagen und die Taliban von der Macht zu entfernen. Beides gelang, langfristig gesehen, nicht6 – und doch trat Afghanistan in eine neue Phase seiner Geschichte ein: Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 6 Vgl. dazu auch Bernd Greiner, »Nine Eleven«, Afghanistan, Irak: Das Ende des amerikanischen Jahrhunderts, in: „Blätter“, 9/2021, S. 43-52.

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Afghanistan: Ein Land als Gefängnis erlebte das Land bedeutende politische, soziale und wirtschaftliche Veränderungen. Doch mit der Zeit zeigte sich, dass sich auch die vom Westen gestützte Regierung durch Korruption und Ineffizienz auszeichnete und sie die enormen sozialen und wirtschaftlichen Probleme im Land nicht entschärfen konnten – trotz der Milliarden von Dollar, die in den Afghanistaneinsatz der westlichen Länder flossen.7 So gelang es ihr nicht, grundlegende Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung, Bildung und eine öffentliche Infrastruktur flächendeckend bereitzustellen. Das größte Problem allerdings war die fehlende Sicherheit und Stabilität im Land. Insbesondere nach 2012 gewannen die Taliban vielerorts wieder an Boden und verübten häufig Angriffe. Explosionen und gewalttätige Überfälle auf Schulen, Krankenhäuser, Moscheen, Regierungsbehörden und Unternehmen nahmen elf Jahre nach dem Einmarsch der USA dramatisch zu, täglich starben Menschen.8 Dies untergrub das Vertrauen der Menschen in die Regierung weiter, die sich außerstande sah, die Ursachen des gewaltsamen Konflikts anzugehen und eine dauerhafte Lösung zu finden.

Das Friedensabkommen von 2018: Schlüssel zur Rückkehr der Taliban Als die Vereinigten Staaten und die Taliban im Juli 2018 unter dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump über den Kopf der afghanischen Regierung unter Ashraf Ghani hinweg in Katar Gespräche begannen und schließlich am 29. Februar 2020 ein „Friedensabkommen“ unterzeichneten, ahnten viele Kritiker in Afghanistan, wohin die Reise gehen würde: Sie bezeichneten das Abkommen, das offiziell „Agreement for Bringing Peace to Afghanistan“ heißt, als Schlüssel der Machtübergabe an die Taliban. Tatsächlich regelte es den Abzug aller amerikanischen Truppen und ihrer Verbündeten aus Afghanistan, darunter auch Deutschland. Die westlichen Staaten sollten sich künftig aus den inneren Angelegenheiten Afghanistans heraushalten. Im Gegenzug verpflichteten sich die Taliban sicherzustellen, dass Afghanistan keine Bedrohung für die Nato-Staaten darstelle. Dieser Vertrag sah auch den Beginn innerafghanischer Verhandlungen über die politische Struktur und Führung des Landes vor. So sollte ein Waffenstillstand zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban vereinbart werden. Doch dieser kam nie zustande, denn die Taliban erkannten die afghanische Regierung, deren Autorität durch das ohne ihre Beteiligung zustande gekommene Abkommen ohnehin zerstört war, nicht als Verhandlungspartner an und entschlossen sich, sie zu stürzen. Nun aber zeigt sich angesichts der dramatischen wirtschaftlichen und humanitären Situation immer deutlicher: Die Taliban sind offenbar nicht in der Lage, die grundlegende Versorgung der Menschen im Land sicherzustellen. Stattdessen stützen sie ihre Macht vor allem auf Unterdrückung und Einschüchterung und verkaufen all ihre Handlungen im Namen des Islam. 7 Vgl. Jeffrey D. Sachs, Afghanistan: Blutiger Irrweg, in: „Blätter“, 9/2021, S. 39-40. 8 Aufgrund des Mangels an Daten ist es allerdings schwierig, eine genaue Zahl anzugeben.

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102 Arezao Naiby In einer Gesellschaft, in der die Mehrheit der Menschen aufgrund der vielen Kriege seit Jahrzehnten sehr wenig oder gar keine Bildung genossen hat und zugleich stark gläubig ist, sind sie damit in Teilen durchaus erfolgreich. Die Taliban, überwiegend ethnische Paschtunen, versuchen, ihre streng sunnitische Auslegung des Islam landesweit durchzusetzen. Infolgedessen sind die anderen ethnischen Gruppen und Minderheiten wie Hazaras, Tadschiken, Usbeken und schiitische Muslime mit ihren je eigenen kulturellen und religiösen Praktiken Diskriminierung, Verfolgung und gezielter Gewalt ausgesetzt. Grundsätzlich trifft die Gewalt all jene, die die Herrschaft der Taliban kritisieren oder von deren Moralvorstellungen abweichen: Journalisten und Medienschaffende, die über sensible Themen berichten, sowie alle, die sich für Menschenrechte, Demokratie und sozialen Fortschritt einsetzen. Besonders bedroht sind Personen, die mit den afghanischen Sicherheitskräften oder der vorherigen Regierung in Verbindung standen. Sie wurden infolge des überhasteten Rückzugs der westlichen Verbündeten vielfach im Stich gelassen.9 Viele von ihnen werden gezielt angegriffen, festgenommen oder sogar getötet.10 Da die Auslegung des islamischen Rechts durch die Taliban Homosexualität als ein Verbrechen betrachtet, das mit der Todesstrafe geahndet wird, sind nicht zuletzt auch LGBTIQ+ extremer Verfolgung ausgesetzt. Ihnen bleiben nur zwei Optionen: ihre Identität zu verbergen oder das Land zu verlassen. Trotz all dieser Einschränkungen setzen Frauen in Afghanistan ihre Demonstrationen und Proteste fort, auch wenn diese angesichts der Repression mittlerweile deutlich weniger geworden sind. So sind Frauendemonstrationen verboten. Diejenigen, die an ihnen teilnehmen, werden verhaftet und oft schwer gefoltert. In den Gefängnissen sind die Frauen den schlimmsten Formen sexueller Gewalt ausgesetzt. Das hält viele dennoch nicht davon ab, ihren Widerstand fortzusetzen: So organisieren ehemalige Lehrerinnen Geheimschulen für Mädchen, die nun keine offizielle Schule mehr besuchen dürfen, unterrichten an wechselnden Orten oder versuchen, Mädchen und junge Frauen mit Online-Programmen zu Hause zu erreichen – das allerdings gestaltet sich als äußert schwierig, da nur wenige Menschen über einen verlässlichen Internetzugang verfügen.11 Seit zwei Jahren haben die Taliban das Land wieder in ein Gefängnis verwandelt, aus dem es für die dort lebenden Menschen – insbesondere Frauen und Minderheiten – kaum ein Entrinnen gibt. Umso wichtiger ist es, genau hinzuschauen und den internationalen Druck auf die Taliban zu erhöhen. Doch Afghanistan steht, so scheint es, seit dem Abzug der westlichen Truppen und angesichts der vielen Krisen und Kriege weltweit schon lange nicht mehr oben auf der Agenda der internationalen Staatengemeinschaft. Daran muss sich dringend etwas ändern. 9 Vgl. Erik Marquardt, Die deutsche Schande von Kabul, in: „Blätter“ 11/2021, S. 77-82. 10 Vgl. etwa: Afghanistan: Sicherheitskräfte der ehemaligen afghanischen Regierung außergerichtlich getötet, www.amnesty.de, 5.10.2021. 11 Daneben organisiert auch die afghanische Diaspora Online-Unterricht für Mädchen und Frauen in Afghanistan; die BBC bietet eine Unterrichtssendung für Kinder und Mädchen an. Vgl. BBC education show in Afghanistan helps children banned from school, www.bbc.com, 1.4.2023.

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Iran und die Religion: 70 Jahre Putsch gegen Mossadegh Von Katajun Amirpur

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or 70 Jahren wurde Irans demokratisch legitimierter Premierminister Mohammad Mossadegh aus dem Amt geputscht. Eine Figur, die sich in mancher Hinsicht besser als historischer Bezugspunkt für die heutige Demokratiebewegung eignen würde als der Schah, dessen Herrschaft von manchen jetzt romantisiert wird.1 Ein säkularer Politiker, auf den sich das heutige Regime nur dann bezieht, wenn es an den identitätsstiftenden Antiamerikanismus appellieren will, der wiederum ohne den Putsch von 1953 nicht zu verstehen ist. Ein Blick zurück auf dieses Ereignis – von manchen als Irans Urkatastrophe bezeichnet – lohnt sich aber auch, um zu verstehen, wie sich die Rolle der Religion in der iranischen Gesellschaft verändert hat. Während seiner Amtszeit ab 1951 setzte Mossadegh die schon zuvor beschlossene Verstaatlichung der Erdölindustrie durch und beendete damit das fast 50 Jahre währende britische Monopol auf die Gewinnung, Förderung, Erforschung, Vermarktung und den Verkauf des iranischen Öls. Britische („Operation Boot“) und US-Geheimdienste („TPAJAX“) setzten mit Hilfe von Teilen des iranischen Militärs einen Putsch gegen ihn in Gang. Am 17. August 1953 kam es zu Straßenschlachten vor Mossadeghs Haus, wenige Tage später wurde er festgenommen und vor ein Militärtribunal gestellt.

Demokratischer Aufbruch Das formal unabhängige Land war schon lange Spielball der Großmächte. Im Zweiten Weltkrieg besetzen dann britische und sowjetische Truppen das Land. Um den persischen Herrscher Reza Schah loszuwerden, der ihnen als zu deutschlandfreundlich gilt, heben die Besatzungsmächte 1941 den 21 Jahre alten Kronprinzen Mohammad Reza auf den Thron. Mit ihm setzt zunächst eine gewisse Liberalisierung ein: Die Presse blüht auf, Gewerkschaften werden gegründet, politische Gefangene freigelassen. Es kommt sogar zur Gründung einer kommunistischen Partei, der Tudeh-Partei. Abgeordnete nutzen die sich erstmals bietende Möglichkeit zur politischen Teilhabe. Die seit 1907 gültige Verfassung, die das Land zur konstitutionellen 1 Katajun Amirpur, Die Sehnsucht nach dem Schah, in: „Blätter“, 5/2023, S. 57-64.

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104 Katajun Amirpur Monarchie mit weitgehenden demokratischen Rechten erklärt, scheint sich mit Leben zu füllen. Allerdings ist Iran in den 1940er Jahren von Instabilität und zahlreichen Regierungswechseln geprägt. Denn der neue Schah, Mohammad Reza Pahlavi, zugleich Oberbefehlshaber der Armee, sabotiert jeden stark erscheinenden Ministerpräsidenten, um die Machtfülle seines Vaters zu erreichen. Im Ausland erscheint er so als der einzige stabile Pol im politischen System des Landes. Für die iranische Regierung hat es oberste Priorität, das Vereinigte Königreich und die Sowjetunion auf einen Abzug bei Kriegsende zu verpflichten. Dazu bemüht man sich, die USA als weiteren Player ins Boot zu holen. Die Amerikaner erscheinen als der ideale Partner, denn sie haben keine koloniale Vergangenheit in Iran. Zwar kann die iranische Regierung die USA nicht zur Verurteilung der völkerrechtswidrigen Besatzung bewegen, aber Washington kommt der Bitte um Hilfe bei der Modernisierung des Landes nach. Iran braucht vor allem Fachleute, es kommen jedoch auch Zehntausende amerikanische Soldaten ins Land, unter anderem, um den Betrieb des südlichen Teils der Eisenbahnlinie, der Transitstrecke zur Sowjetunion, zu übernehmen. Zwischen den „alteingesessenen“ Ausländern, den Briten, und den neu Hinzukommenden gibt es immer häufiger Spannungen, insbesondere ab 1944, als nicht nur britische, sondern auch US-Firmen sich für Ölvorkommen im Norden Irans zu interessieren beginnen. Die Sowjetunion macht ebenfalls Forderungen geltend, diese Vorkommen auszubeuten. Hier hat Mohammad Mossadegh nun seinen ersten großen Auftritt: Als Abgeordneter bringt er einen Gesetzentwurf ein, der die Erteilung von Ölkonzessionen in Kriegszeiten untersagt. Das Gesetz wird im Dezember 1944 verabschiedet. Als der Zweite Weltkrieg vorbei ist, beauftragt das iranische Parlament 1947 die Regierung, Verhandlungen mit der britischen Anglo-Iranian Oil Company (AIOC) aufzunehmen. Iran ist nicht an der Gesellschaft beteiligt, welche die Ölvorkommen ausbeutet; ihm fließen lediglich zehn Prozent der Konzessionsabgaben und 16 Prozent der Gewinne zu. Das neu ausgehandelte Abkommen erhöht zwar den Ertragsanteil, bleibt aber unter den iranischen Vorstellungen. Auch die anderen iranischen Forderungen werden nicht berücksichtigt – die AIOC stellt sich so lange stur, bis Teheran schließlich komplett einlenkt. In der iranischen Öffentlichkeit wird das Abkommen mit großer Empörung aufgenommen. Man sieht darin einen Ausverkauf des Landes an Großbritannien und fühlt sich an das 19. Jahrhundert erinnert, als der damalige Schah dem britischen Major Gerald F. Talbot das Tabakmonopol überließ. Einige Abgeordnete verhindern daraufhin durch endlose Reden die Ratifizierung im Parlament, das kurz vor dem Ende der Legislaturperiode steht. Bis zur nächsten Legislaturperiode bleibt die öffentliche Stimmung so aufgeheizt, dass die Regierung es nicht wagt, dem Parlament das Gesetz erneut zur Ratifizierung vorzulegen. Erst 1950 gelingt es dem Schah, General Ali Razmara als Ministerpräsidenten durchzusetzen. Da dieser als stark gilt, erwarteten die Briten, dass er es schaffen wird, das Parlament zur Ratifizierung des Ölabkommens zu

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Iran und die Religion: 70 Jahre Putsch gegen Mossadegh

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bewegen. Doch selbst Razmara traut sich nicht, das Abkommen dem Parlament zu präsentieren, und bemüht sich um Zugeständnisse seitens der AIOC.

Nationale Front mit Klerus Gleichzeitig organisieren sich die Gegner eines Arrangements mit den Briten: Im Vorfeld eines USA-Besuches des Schahs und der bevorstehenden Parlamentswahl flüchtet sich eine Gruppe Politiker, unter ihnen Mossadegh, in einen Schrein, um gegen die erwartete Wahlfälschung zu protestieren. Dort genießt sie Asyl und ist für die Staatsmacht unantastbar. Aus dieser Protestgruppe entsteht die sogenannte Nationale Front, ein Bündnis verschiedenee Oppositionsgruppen, angeführt von Mossadegh. Er profitiert dabei von seinem Ruf als furchtloser und – was selten genug ist – unbestechlicher Politiker. Erklärte Ziele des Bündnisses sind zunächst freie Wahlen und dann die Verstaatlichung der Ölindustrie. Zweitwichtigster Mann der Nationalen Front ist Ayatollah Abol-Qasem Kaschani, der als hochrangiger Mullah die Bewegung vor dem gefährlichen Vorwurf der Gottlosigkeit bewahrt und imstande ist, die religiösen Massen zu mobilisieren. Einigendes Band der Nationalen Front ist jedoch im Grunde ihre Haltung in der Ölfrage. Nach einem tödlichen Attentat auf Ministerpräsident Ali Razmara wird schließlich Mossadegh vom S chah zum Premierminister ernannt und später vom neu gewählten Parlament im Amt bestätigt. Seine Regierungszeit ist von Anfang an vom anhaltenden Konflikt mit der AIOC und Großbritannien geprägt. Seine Partei, die Nationale Front, hat zwar keine Mehrheit im Parlament, sie profitiert aber davon, dass auch ihre politischen Gegner von der öffentlichen Stimmung beeindruckt sind. Die Bevölkerung steht mit überwältigender Mehrheit hinter der Verstaatlichung, wie auch der damalige ARD-Korrespondent Horst Scharfenberg berichtet: „Liebe Hörer, vor einer halben Stunde, als ich zum Studio von Radio Teheran fuhr, kam ich an einer großen Menschenmenge vorbei, die rund um ein mächtiges Bürogebäude die Straßen verstopfte und allen Verkehr lahmlegte. Es war das Gebäude der britischen Ölgesellschaft, der Anglo-Iranian Oil Company. Und auf seinem Dach waren etwa ein Dutzend Männer damit beschäftigt, mit kräftigen Hammerschlägen das riesige Firmenschild der Gesellschaft zu demontieren, um an seiner Stelle die neue Firmenbezeichnung der nationalisierten Gesellschaft, nationale Petroleumgesellschaft Irans, zu setzen. Jedes Mal, wenn eine der blechernen Lettern mit großem Getöse zu Boden fiel, ging eine Welle der Begeisterung durch die Menge, ein Jubelschrei, ein Händeklatschen. Man feierte in diesem symbolischen Akt gewissermaßen das Wahrzeichen für den Beginn einer neuen Ära persischer Geschichte.“2 London reagiert empört. Obwohl die Briten immer betont haben, dass Downing Street nicht zuständig sei, da die AIOC ein Privatunternehmen ist, wird der Konflikt nun auf Regierungsebene gehoben. Zudem wird umgehend eine 2 Zit. nach Katajun Amirpur und Reinhard Witzke, Schauplatz Iran. Ein Report, Freiburg/Br. 2004, S. 52.

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106 Katajun Amirpur militärische Besetzung der Ölfördergebiete vorbereitet. Die USA verhindern diese jedoch. In den Vereinigten Staaten gibt es durchaus Sympathie für die iranische Position im Ölstreit – das Magazin „Time“ wählt Mossadegh 1951 gar zum „Mann des Jahres“. Das Veto der USA ist für die Briten eine tiefe Demütigung. Die Verstaatlichung trifft Großbritannien zunächst wirtschaftlich, was die britische Regierung jedoch einigermaßen kompensieren kann. Nicht zu kompensieren ist jedoch der Statusverlust: Vor dem Zweiten Weltkrieg war Großbritannien noch eines der mächtigsten Länder der Welt. Danach ist es, obwohl Siegermacht, nur noch ein Schatten seiner selbst und finanziell auf US-Hilfe angewiesen. Den USA und deren Engagement im Koreakrieg verdanken es die Briten auch, dass sie sich in Iran weiterhin als Großmacht gebärden dürfen. Zu Beginn des Kalten Krieges überlässt Washington ihnen die Verteidigung Irans gegen die Sowjetunion. Dass sie der Juniorpartner ihrer ehemaligen Kolonie Amerika sind, ist unangenehm genug –, dass aber ein „Kolonialvolk“ wie die Iraner es wagt, eine gleichberechtigte Position zu beanspruchen, will die britische Regierung nicht zulassen. In London befürchtet man, ein Erfolg Irans werde eine fatale Signalwirkung für andere Länder haben, und beginnt einen Propagandakrieg, in dem Mossadegh als nicht zurechnungsfähiger Fanatiker dargestellt wird. In regierungsnahen Medien werden skurrile Angewohnheiten des iranischen Premiers in den Vordergrund gerückt, mit denen er westliche Gesprächspartner mitunter irritiert. Diplomatisches Protokoll gilt ihm nichts, ausländische Botschafter empfängt er bisweilen an seinem Bett. Doch gerade wegen seines selbstsicheren, fast schon herablassenden Umgangs mit den Mächtigen der Welt wird er für viele Iraner zu einer Identifikationsfigur. Den USA kommt in dem Ölkonflikt die entscheidende Rolle zu. Militärisch im Koreakrieg gebunden, befürchtet man in Washington, dass Moskau versuchen könnte, seinen Machtbereich in Iran auszudehnen. Angefacht durch den republikanischen Senator Joseph McCarthy, erreicht in den USA die Furcht vor dem Sozialismus in den frühen 1950er Jahren ungekannte Ausmaße und führt zu einer Hatz auf alles, was als links wahrgenommen wird. Dies bestimmt auch die US-Außenpolitik maßgeblich. In Iran lehnt die kommunistische Tudeh-Partei die Mossadegh-Regierung im Grunde zwar ab, kooperiert aber im Konflikt mit den Briten mit ihr. Die Opposition genießt unter Mossadegh relativ große Freiheit, inklusive der Tudeh – was für Washington einem Flirt mit dem Kommunismus gleichkommt. Als Mossadegh tatsächlich mit einer Annäherung an Moskau droht, löst dieser Bluff in Washington Alarmstimmung aus. Dabei hegen Teile der US-Administration unter Präsident Harry S. Truman angesichts des arroganten kolonialen Auftretens der Briten durchaus Sympathie für Iran. So wird die angestrebte Verstaatlichung begrüßt, allerdings solle die AIOC entschädigt werden. Zugleich versucht das Vereinigte Königreich, Iran durch Anrufung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag und des UN-Sicherheitsrates in die Knie zu zwingen – scheitert aber vor beiden. Der Internationale Gerichtshof entscheidet im Juli 1952, dass der Vertrag zwischen Iran und der AIOC keine Angelegenheit für die britische Regierung sei und Iran deshalb das

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Recht zur Verstaatlichung habe. Doch die Briten möchten so rasch nicht aufgeben, schließlich geht es nicht nur um Iran: Das Vereinigte Königreich beutet vier Fünftel aller Erdölvorkommen am Persischen Golf aus, Iran ist damals der viertgrößte Öllieferant der Welt, 90 Prozent des in Europa verbrauchten Öls kommen von dort. London befürchtet, andere Staaten könnten es Iran gleichtun – eine Befürchtung, die Washington mit Blick auf eigene Beziehungen zu anderen ölfördernden Ländern der Region durchaus teilt. Das britische Kabinett verhängt Wirtschaftssanktionen gegen Iran, die Ölgesellschaft zieht ihre Ingenieure und Fachleute ab, und britische Kriegsschiffe errichten eine Seeblockade im Persischen Golf, damit ausländische Tanker – eigene Tankschiffe besitzt Iran nicht – kein iranisches Öl mehr exportieren können. Man will die Iraner ausbluten lassen. Die aber stehen so sehr hinter Mossadegh und der Nationalisierung des Erdöls, dass sie dem Staat Geld leihen. Mossadegh gibt Staatsanleihen aus, und die Menschen verkaufen ihren Schmuck und ihre Goldmünzen, die nationale Reservewährung, um sie erwerben zu können. Meine Großmutter erzählte immer stolz, wie sie alle das nationale Projekt unterstützten. Mit Freude habe sie ihren Schmuck hergegeben: „Damit unser Öl uns gehört, für unsere Unabhängigkeit.“

Der Schwenk der USA Zwischen 1951 und 1953 beschäftigt kaum ein anderes Ereignis die Welt mehr als der britisch-iranische Konflikt. Ein „Volksführer“ der „Dritten Welt“ fordert eine Weltmacht heraus. Die Blockade trifft Iran empfindlich. Mehrere Verhandlungsmissionen bemühen sich vergeblich um eine Einigung. Im Juli 1952 spitzt sich auch der Konflikt zwischen dem Schah und Mossadegh über die Kontrolle der Armee zu. Als Regierungschef will Mossadegh, dass die Armee ihm und nicht dem Schah untersteht. Der jedoch weigert sich, seine Machtbefugnisse abzugeben. Am 16. Juli 1952 tritt Mossadegh demonstrativ zurück, und sein Kalkül geht auf: Mobilisiert sowohl von den Kommunisten als auch von Klerikern um den Ajatollah Abol-Ghasem Kaschani geht das Volk auf die Straße, skandiert „Tod oder Mossadegh“. Gezwungenermaßen bittet der Schah Mossadegh, sein Amt wieder zu übernehmen. Doch nun bröckelt die Nationale Front. Insbesondere mit Ayatollah Kaschani kommt es zum Konflikt, der nun ebenfalls auf den Sturz Mossadeghs hinarbeitet. Im Oktober bricht Iran die diplomatischen Beziehungen zum Vereinigten Königreich ab, womit 150 Jahre britischer Dominanz enden. Allerdings fällt in den Herbst 1952 auch der Anfang vom Ende der Ära Mossadegh, denn im November wird Dwight D. Eisenhower zum US-Präsidenten gewählt – und dieser gibt kurz nach seinem Amtsantritt grünes Licht zu dessen Sturz. Die Planung übernehmen der MI6 und die CIA, der britische und der USAuslandsgeheimdienst. Man entscheidet sich für einen Putsch, an dessen Spitze General Fazlollah Zahedi stehen soll, der schon mehrfach versucht hat, Mossadegh zu stürzen. Am 19. Juli 1953 reist der CIA-Agent Kermit Roosevelt unter falschem Namen nach Iran. Nach langem Hin und Her gelingt es

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108 Katajun Amirpur ihm, den zaudernden Schah zur Teilnahme am Putsch zu bewegen. Die vom Schah unterzeichnete Entlassungsurkunde wird Mossadegh am 15. August von Oberst Nematollah Nassiri überbracht. Mossadegh aber lässt Nassiri verhaften und erklärt am folgenden Morgen im Rundfunk, dass ein Staatsstreich abgewehrt worden sei. Der Schah flieht daraufhin aus dem Land, General Zahedi verbringt die nächsten Tage in einem Versteck der CIA. Die darauffolgenden Ereignisse können auch Historikerinnen und Historiker noch immer nicht überzeugend erklären. Denn obwohl ihm klar gewesen sein muss, dass ein Putsch bevorsteht, schreitet Mossadegh nicht zur Gegenwehr, sondern lässt den Dingen ihren Lauf: Am 17. August findet eine Demonstration gegen den Schah statt; ursprünglich von CIA-Provokateuren begonnen, schließen sich ihr später echte Tudeh-Anhänger an. Ziel dieser CIA-Inszenierung ist es, den Eindruck zu erwecken, ein kommunistischer Umsturz stünde bevor. So will man die Bevölkerung zur Verteidigung der Monarchie mobilisieren. Tags darauf organisiert Kaschani den Marsch eines bezahlten Mobs gegen Mossadegh, dem sich Soldaten und Teile der Bevölkerung anschließen. Am 19. August stürmt General Zahedi für den Schah schließlich das Haus Mossadeghs, der in der Folge festgenommen wird. Auch wenn die iranischen Akteure wie Kaschani oder Zahedi ihre eigene Agenda verfolgten, wäre der Putsch ohne US-Orchestrierung kaum möglich gewesen. Er bringt den Schah, der bereits vor Mossadegh nach Rom geflüchtet war, zurück an die Macht. Der inszenierte Aufstand wird uminterpretiert in einen spontanen Ausdruck des Willens des Volkes, das sich hinter den Monarchen gestellt habe. General Zahedi wird Ministerpräsident und regiert mit Kriegsrecht sowie umfangreicher finanzieller Unterstützung der USA. Die vordringliche Aufgabe seiner Regierung ist die Beilegung des Konfliktes mit der AIOC. Die Briten erwarten, dass die Iraner nun endlich alle ihre Forderungen erfüllen. Doch auch Zahedi weiß, dass dies politischer Selbstmord wäre, weil die Haltung der iranischen Öffentlichkeit in der Ölfrage unverändert ist. Um die Lage zu stabilisieren, machen die USA nun ihren Einfluss auf die Briten geltend. Gemeinsam wird ein internationales Konsortium gebildet, an dem die AIOC 40 Prozent der Anteile hält. Mossadegh wird derweil wegen versuchter Rebellion der Prozess gemacht. Er kommt für Jahre ins Gefängnis und steht anschließend bis zu seinem Tod 1967 unter Hausarrest. Die Menschen in Iran verehren ihn jedoch bis heute als Märtyrer: Er ist zu einem Mythos geworden, nicht zuletzt, weil die Parteinahme für das wehrlose Opfer in der schiitischen Tradition eine zentrale Tugend ist. Mossadegh wusste das. Als die Militärs ihn abführten, soll ein Vertrauter zu ihm gesagt haben: „So schlecht ist alles gelaufen, so schlecht.“ Woraufhin Mossadegh lächelnd erwidert habe: „Und doch ist es so gut gelaufen – wirklich gut.“3  In Iran folgte auf den Putsch die Etablierung der Schah-Diktatur: Während seines kurzen Exils 1953 hatte der Schah begriffen, dass das Volk bzw. ein vom Volk gestützter Ministerpräsident ihm gefährlich werden konnte. So riss er in der Folge immer mehr Macht an sich und hebelte die Verfassung peu à 3 Roy Mottahedeh, Der Mantel des Propheten, München 1988, S. 119.

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peu aus. In einem ersten Akt verbot er die Nationale Front, als nächstes gründete er 1957 mit Hilfe der USA den SAVAK, einen Geheimdienst, der unter seiner Herrschaft zum Inbegriff von Terror und Repression werden sollte. Ab den frühen 1960er Jahren begann das Schah-Regime dann, jegliche politische Opposition mundtot zu machen, womit es die Unzufriedenen immer stärker in die Arme Ayatollah Ruhollah Khomeinis trieb, der 1979 die Islamische Revolution anführte und der Monarchie in Iran ein Ende bereitete. Zwei Jahre zuvor, im November 1977, war der Schah noch in die USA gereist und von US-Präsident Jimmy Carter ausdrücklich gelobt worden: „Iran ist dank der großartigen Staatsführung des Schahs eine Insel der Stabilität in einer der problemreichsten Regionen der Welt.“4 Doch mit der Stabilität war es nicht weit her – und mit der Gründung der Islamischen Republik als schiitischer Gottesstaat kam das Land vom Regen in die Traufe. Im Geschichtsverständnis vieler Iraner kamen sie von einer Diktatur zur nächsten, weil westliche Mächte den einzig jemals demokratisch legitimierten Ministerpräsidenten Irans weggeputscht hatten, nachdem er tat, was alle Iraner wollten. Für die Mullahs dagegen ist Mossadegh, der antiklerikal eingestellte Aristokrat und im Westen ausgebildete Anwalt, wegen seiner Herkunft und Haltung eigentlich Persona non grata. Nur wenn sie das Narrativ vom bösen Onkel Sam bemühen wollen, der Iran sein verbrieftes Recht verweigert, ziehen sie ihn aus dem Zauberkasten.

Die Islamische Revolution reißt die islamischen Wurzeln aus Seit der Revolution von 1978/79 gilt Iran der US-Regierung als Bedrohung, George W. Bush reihte das Land ein in seine Achse des Bösen. Iraner erschienen im Fernsehen lange vor allem als Kalaschnikows schwenkende Islamisten, die ein Stirnband tragen, auf dem „Allahu akbar“ steht, und „Nieder mit Amerika“ schreien. Seriösen Beobachtern gilt Iran jedoch schon längst als postislamistisch und ausgesprochen ideologiefrei. Die meisten Menschen können mit dem islamistischen Regime und seinen für die fortwährende Revolution identitätsstiftenden antiamerikanischen und antiisraelischen Parolen nur noch wenig anfangen – und oft nicht einmal mehr mit der Religion. Ja, Iran war einst ein sehr religiöses Land. Doch schon Reza Pahlavi, der Vater des letzten Schahs, hatte in Kemal Atatürk ein Vorbild gesehen: Wie der türkische Präsident, der um jeden Preis den gesellschaftlichen Fortschritt beschleunigen wollte, unternahm Reza Pahlavi nicht nur Anstrengungen zur Hebung des Bildungsniveaus und zur Besserstellung der Frauen, sondern betrieb auch autoritär und rigide Kahlschlag unter den Traditionen – seinem Vorbild Atatürk gleich und sogar noch extremer: Er verbot das Kopftuch vollständig, überall – um nur das prägnanteste Beispiel für seine religionsfeindliche Politik zu nennen –, und meinte, Iran auf diese Weise zu einer modernen Nation zu machen. Diesen Kurs zog er unerbittlich durch: Er betrat mit Reit4 Jimmy Carter Toasts the Shah, 31.12.1977, www.bunkhistory.org.

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110 Katajun Amirpur stiefeln den Schrein von Qom und peitschte den Mullah, der der Schah-Gattin ohne Kopftuch den Zutritt verweigert hatte. Unter Rezas Sohn, Mohammad Reza Pahlavi, folgten auf den Putsch gegen Mossadegh Jahre, in denen Oppositionelle sich nur heimlich treffen konnten. Man traf sich zum Gebet – aber dort, wo man betete, in den Moscheen, wurde die Revolution vorbereitet. Aus dieser Zeit stammt der Begriff von den Geistlichen als posht-o-panah-e mardom, als Rückhalt und Zuflucht des Volkes. Die Form von Religiosität, in die man sich flüchtete, war sehr politisch. Was man beim Gebet hörte, war Khomeini, der, körperlich fern, aber über Kassetten präsent, den Schah angriff, den Handlager der imperialistischen US-Politik. Die Revolution lief bekanntlich anders, als von den meisten erhofft, und gilt als die Widerlegung der Säkularisierungsthese5: Diese besagt, dass die Religion in naher Zukunft aus dem öffentlichen Raum verschwände. So prognostizierte es der amerikanische Religionssoziologe Charles Wright Mills 1959 in seinem Buch „Sociological Imagination“. Wissenschaft und Journalismus folgten ihm in dieser Analyse. Es wurde fortan, in den 1960er und 1970er Jahren, zum Gemeinplatz soziologischer Forschung, dass die Religion überall auf der Welt im öffentlichen Raum an Bedeutung verliert. Doch dann folgte die Erfahrung der Revolution in Iran sowie der religiösen Erweckungsbewegungen in Lateinamerika. Daraufhin leiteten Rodney Stark und Roger Finke im Jahre 2000 eine Kehrtwende ein, als sie in ihrem Buch „Acts of faith“ erklärten, nach beinahe drei Jahrzehnten von Fehleinschätzungen sei es nun an der Zeit, die Säkularisierungsthese zu begraben. Als Beleg hierfür wurde meist an allererster Stelle Iran genannt. Doch heute scheint ausgerechnet Iran der Säkularisierungsthese recht zu geben. Iran ist vergleichenden Umfragen zufolge das mit Abstand säkularisierteste Land im Nahen und Mittleren Osten. Iran ist postislamistisch, wie Forschungen zum Beispiel von Asef Bayat zeigen. Man will dort aber nicht nur keine Einmischung der Religion in die Politik, sondern ist generell eslamzade – vom Islam geschlagen, in Analogie zum einstigen Neologismus gharbzade (vom Westen geschlagen sein). Irans größter Philosoph, Abdolkarim Soroush, sagte einmal: Der Islam war im Volk so tief verwurzelt, dass nur eine Islamische Revolution diese Wurzeln ausreißen konnte. Soroush hat recht: Die Bevölkerung war so religiös, dass auch Mossadegh nur im Bündnis mit Klerikern regieren und schließlich auch nur im Bündnis mit ihnen gestürzt werden konnte. Aber über vierzig Jahre real existierender Islamismus haben dies geändert. Mittlerweile ist die Mehrheit der Menschen nicht mehr religiös. Zudem hat der Iran einen hohen Bildungsstandard und ist ein sehr urbanes Land. 74 Prozent der Bevölkerung leben in Städten und haben dort Zugang zu modernen Kommunikationsmitteln, auch an der Zensur vorbei. Auch deshalb hat der Iran heute ein größeres Potenzial, die erste säkulare Demokratie des Nahen und Mittleren Ostens zu werden, als zu Mossadeghs Zeiten. Jetzt kommt es darauf an, dass der seit September 2022 anhaltende Aufstand nicht wieder scheitert. 5 Vgl. auch: Katajun Armirpur, Iran ohne Islam. Der Aufstand gegen den Gottesstaat, München 2023.

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Kita – Krise – Kollaps? Von Franziska Meyer-Lantzberg, Stefan Kerber-Clasen und Yalçın Kutlu

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nterhält man sich derzeit mit Eltern von Kindern im Krippen- und Kindergartenalter, beschleicht einen das Gefühl, dass zur „normalen“ Dauerbelastung aus Erwerbsarbeit, Krankheitswellen und viel zu geringen Erholungsphasen ein weiteres gravierendes Problem hinzugetreten ist: Kindertagesstätten bieten häufig kein verlässliches Betreuungsangebot mehr an. Wer für kleine Kinder verantwortlich ist, rotiert daher, um kurzfristige Schließungen zu kompensieren, verkürzte Öffnungszeiten privat aufzufangen oder gar in den Kitas auszuhelfen. Die massiv eingeschränkte außerhäusliche Kindertagesbetreuung ist mittlerweile auch ein öffentliches Thema. Besondere Aufmerksamkeit erregte Anfang des Jahres die Stadt Tübingen, deren Gemeinderat beschloss, die Öffnungszeiten der städtischen Kitas dauerhaft zu verkürzen.1 Die Stadt ist kein Einzelfall: Wo Betreuungszeiten noch nicht politisch eingeschränkt wurden, gehören sie dennoch häufig zum Alltag. Das zeigt sich etwa, wenn Kita-Träger und -leitungen entscheiden müssen, Gruppen oder die ganze Einrichtung zu schließen, die Zahl der betreuten Kinder zu reduzieren oder Gruppen zusammenzulegen, weil eine verantwortungsvolle Beaufsichtigung der Kinder nicht mehr gewährleistet werden kann – von pädagogischer Zuwendung ganz zu schweigen. Gegen die Maßnahmen regen sich, nicht nur in Tübingen, Proteste der Eltern und der Erzieher:innen unter Slogans wie „Kitastrophe“ (Stuttgart, Bremen) oder „Kitakollaps“ (Brandenburg).2 Der Protest spiegelt sich vor allem in den Sozialen Medien, vereinzelt auch in Demonstrationen oder einem medienwirksamen „Abhol-Streik“ von Eltern.3 Auch die Gewerkschaften reagieren auf die Situation: Im Februar dieses Jahres folgten in mehreren Städten Erzieher:innen einem Aufruf von ver.di und übergaben die von den Bundesländern verabschiedeten Bildungspläne in einer symbolischen Geste an Archive und Museen. Da die aktuelle Situation in den Kitas keine Bildungsarbeit mehr ermögliche, sollten die Bildungspläne besser gleich in den Archiven abgelegt werden, so die Kritik.4 Alle Proteste verweisen auf eine zentrale Ursache der Misere: den eklatanten Fachkräftemangel. Der Mangel an pädagogischen Fachkräften, der hinter der derzeiti* 1 2 3 4

Für hilfreiche Anmerkungen zum Text danken wir unserem Kollegen Lars Alberth. Vgl. Städtetag: Beschluss zu Kita-Öffnungszeiten nächster Schritt, www.zeit.de, 8.2.2023. „Kitastrophe“ in Stuttgart: Eltern und Erzieher werden laut, www.stuttgarter-zeitung.de, 25.5.2023. Sascha Schmierer, Eltern treten in den „Abhol-Streik“, www.stuttgarter-nachrichten.de, 10.2.2023. Vgl. Kita-Fachkräfte schlagen Alarm: Bildung in Kitas nicht mehr möglich, www.verdi.de, 13.2.2023.

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112 Franziska Meyer-Lantzberg, Stefan Kerber-Clasen und Yalçın Kutlu gen akuten Krise in den Kitas steht, ist kein neues Phänomen. Seit mehr als zehn Jahren warnen Gewerkschaften und Bildungsverbände, dass ausgebildete Erzieher:innen fehlen und sich das Problem absehbar noch enorm verschärfen wird. Die aktuelle Kitakrise offenbart sich bei genauerer Betrachtung als Ergebnis eines Widerspruchs, der die politische Regulierung der Kindertagesbetreuung seit dem „PISA-Schock“ von 2001 durchzieht.

Wie konnte es so weit kommen? Angesichts der unübersehbar gewordenen Mängel im deutschen Bildungssystem vollzog sich Mitte der 2000er Jahre ein folgenreicher Paradigmenwechsel: Die vorschulische Phase in den Kindertagesstätten sollte als erste Etappe der kindlichen Bildungsbiographie etabliert werden. Damit aber veränderten sich die Anforderungen an Einrichtungen und Beschäftigte grundlegend, weil nun überall verbindlich und als solche explizit von der spielerischen Bildung abgrenzbare vorschulische Bildungsarbeit geleistet werden sollte. Das erhöhte auch den formalen Dokumentationsaufwand im Arbeitsalltag. Politisch festgeschrieben wurden die neuen Anforderungen in Bildungsplänen und -programmen der einzelnen Bundesländer. Während die frühkindliche Bildung als Investition in das „Humankapital“ angelegt war, zielte der parallel stattfindende massive Ausbau der Betreuungskapazitäten darauf, die Erwerbsbeteiligung von Müttern zu steigern sowie die Geburtenrate zu erhöhen. Die Ziele des Ausbaus waren ehrgeizig: Mit der Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für unter Dreijährige im Jahr 2013 setzte die Bundespolitik einen Standard, der vor allem in westdeutschen Ballungsräumen bis heute nicht flächendeckend erreicht worden ist. Dennoch wuchs die Zahl an Einrichtungen, Betreuungsplätzen und damit auch die der Beschäftigten enorm. So hat sich die Anzahl der Fachkräfte von 2006 bis 2022 nahezu verdoppelt.5 Während der Kita-Bereich damit also exemplarisch für eine sozialinvestive Politik stehen kann,6 erfolgte diese Neuorientierung zugleich unter den Bedingungen neoliberaler Austeritätspolitik. Besonders folgenschwer erweist sich dabei die 2009 im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse: Zwar sind die Kommunen als Träger der laufenden Kosten nur indirekt betroffen, gleichzeitig schwinden aber die Spielräume von Bund und Ländern, finanziell klamme Kommunen zu entlasten oder über Förderprogramme selbst maßgeblich zu unterstützen. Trotz der massiven Investitionen innerhalb der letzten 20 Jahre ist der Bereich deshalb strukturell unterfinanziert. Nicht selbstverständlich ist angesichts dessen, dass sowohl vereinzelte Maßnahmen zur Verbesserung der Betreuungsqualität – beispielsweise ein höherer Betreuungsschlüssel im Krippenbereich – als auch eine gewisse 5 Vgl. Fachkräftebarometer Frühe Bildung, Kita-Personal, www.fachkraeftebarometer.de. 6 Vgl. Stefan Kerber-Clasen, Umkämpfte Reformen im Kita-Bereich. Veränderte Arbeitsprozesse, alltägliche Aushandlungen und Streiks von Kita-Fachkräften, Baden-Baden 2017.

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Kita – Krise – Kollaps? 113 materielle Aufwertung der pädagogischen Tätigkeiten in den Kitas erreicht werden konnten. Zu verdanken ist dies vor allem den Gewerkschaften ver.di und GEW, die 2009 und 2015 eindrucksvoll demonstrierten, dass im KitaBereich mit seinen überwiegend weiblichen Beschäftigten ein enormes arbeitskämpferisches Potenzial steckt. Es gelang den Gewerkschaften mit den sogenannten Kita-Streiks, die Professionalität und die hohen Anforderungen des Erzieher:innenberufs dauerhaft im öffentlichen Diskurs zu verankern und auch höhere Entgelte auszuhandeln, wenngleich letztere hinter den Erwartungen der Streikenden zurückblieben. Jene Probleme aber, welche die Qualität der Arbeit betreffen, vermochten die Gewerkschaften nicht wirkungsvoll zu adressieren (anders als in der Krankenpflege, wo erfolgreich Entlastungstarifverträge verhandelt wurden). Dabei leiden die pädagogischen Beschäftigten massiv darunter, ihre Arbeit unter widrigen Bedingungen ausüben zu müssen. Sie empfinden es vielfach als frustrierend, systematisch das eigene Berufsethos verletzen zu müssen, wenn sie etwa aufgrund von Personalmangel den einzelnen Kindern nicht ausreichend gerecht werden oder ihren Bildungsauftrag nicht erfüllen können. Das hat mitunter gar langfristige körperliche und psychische Erkrankungen zur Folge. All das verdichtet sich zu einem Ergebnis: Viele Fachkräfte verlassen die Branche zugunsten besser bezahlter und vor allem weniger belastender Berufe. Da es aber aufgrund des massiven Ausbaus und der zumindest programmatisch angestrebten Qualitätsverbesserungen einen exorbitanten Mehrbedarf an Personal gibt, führt dies zum heutigen katastrophalen Fachkräftemangel.

Corona als Brandbeschleuniger In dieser Gemengelage wirkte die Coronakrise ab 2020 wie ein Brandbeschleuniger. Das betrifft einerseits die Belastung der Beschäftigten: Nicht nur erkrankten im ersten Jahr der Pandemie besonders viele Erzieher:innen an Covid-19; Studien weisen auch darauf hin, dass viele Beschäftigte in diesem Bereich an Langzeitfolgen der Erkrankung leiden.7 Im Vergleich zu anderen Berufsgruppen hatten die Beschäftigten in den Kitas besonders wenig Möglichkeiten, sich vor Infektionen zu schützen, und waren gleichzeitig als offensichtlich „systemrelevante“ Berufsgruppe durchgängig gefordert. Kitas blieben während der Krise nur über sehr kurze Phasen geschlossen, die meiste Zeit über wurde zumindest eine Form der Notbetreuung angeboten, die meist aufwendig in den Kitas selbst entwickelt und teils konfliktreich mit Eltern ausgehandelt werden musste. Dieser zweijährige Ausnahmezustand hat viele Beschäftigte ausgebrannt zurückgelassen – an oder jenseits der Grenzen ihrer Belastbarkeit. Andererseits erwiesen sich die eingeschränkten Betreuungsleistungen während der Coronapandemie als ein Testfeld: Verkürzte Öffnungszeiten, 7 Vgl. AOK-Analyse: Long Covid betrifft Erzieherinnen und Erzieher am stärksten, www.news4teachers.de, 14.4.2023.

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114 Franziska Meyer-Lantzberg, Stefan Kerber-Clasen und Yalçın Kutlu Betreuung nur an gewissen Tagen oder komplette Schließungen der Einrichtungen waren durch das Infektionsgeschehen legitimiert, und Familien mussten kurzfristig einen Umgang damit finden. Vor allem Mütter mussten dabei zeitweise ihre Erwerbstätigkeit einschränken oder Homeoffice mit gleichzeitiger Kinderbetreuung zu Hause verbinden. Dass diese Ausnahmesituation größtenteils ohne massive Erwerbsausfälle von Eltern bewältigt werden konnte, ist auch dem enormen Engagement der Beschäftigten in den Kitas zu verdanken. Ob die unbestreitbare Mehrbelastung in der Pandemie an den Fachkräften in den Kitas, den Eltern und Kindern spurlos vorübergegangen ist, darf indes bezweifelt werden. Die Politik wiederum traf dabei arbeitsrechtliche Entscheidungen, die noch immer nachwirken. So erließen mehrere Bundesländer Ausnahmeregelungen, die es erlauben, unterhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Personalschlüssel zu arbeiten und Engpässe mit ungelernten Kräften abzufedern. Dass unter diesen besonders prekären Bedingungen auch die in den Bildungsplänen vorgesehenen Bildungsangebote nicht wie gewünscht stattfinden konnten, ist offensichtlich. Die Diskussionen um Kitaschließungen und Notbetreuung drehten sich folgerichtig ausschließlich um die Betreuungsfunktion der Kindertagesstätten. Die Bildungsangebote, die in den vergangenen 15 Jahren so häufig im Fokus standen, verkamen hingegen allenfalls zur Nebensache.

Eingeschränkte Betreuung, abgesenkte Standards, weniger Bildung Eingeschränkte Betreuung, abgesenkte Standards, verringerte Bildungsaktivitäten – einmal etabliert, erschienen diese Zustände als zumutbar. Daher hält die Politik eine Rückkehr zu den Standards von vor 2020 derzeit offenbar überwiegend nicht für dringend notwendig. Im Gegenteil: Angesichts des massiven strukturellen Fachkräftemangels werden die während der Pandemie eingeführten Maßnahmen auf Dauer gestellt, da eine Rückkehr zum vorherigen Regelbetrieb schlicht nicht mehr möglich ist. Es gibt allerdings zahlreiche Hinweise darauf, dass diese vermeintlich praktischen „Notpflaster“ die Situation mittelfristig noch verschlimmern, denn aufgrund der immer schlechter werdenden Bedingungen fallen noch mehr Fachkräfte dauerhaft aus oder verlassen resigniert den Beruf. Dem dringend notwendigen kollektiven Handeln der Beschäftigten hat die Krise ebenfalls einen Dämpfer versetzt: Die für das Jahr 2020 geplante Verhandlungsrunde für den kommunalen Sozial- und Erziehungsdienst wurde angesichts der Pandemie ausgesetzt. Und als man sie im Frühjahr 2022 nachholte, blieb die öffentliche Aufmerksamkeit massiv hinter den letzten Auseinandersetzungen zurück – nicht zuletzt, weil es zu deutlich weniger Streiks in den Kitas kam. Die Gewerkschaften schonten nicht nur bewusst die Familien der betreuten Kinder, sondern auch die Beschäftigten, denen sie angesichts der Belastungen der Vorjahre nicht die Motivation und Energie für einen intensiven Arbeitskampf zutrauten. Im Ergebnis

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Kita – Krise – Kollaps? 115 wurden neben moderaten Entgeltsteigerungen zusätzliche Regenerationstage vereinbart, die zwar das Problem der Überlastung adressieren, allerdings nur hinsichtlich seiner Symptome. Die Einigung weist somit keinen Ausweg aus dem Fachkräftemangel, da sie dessen Ursachen nicht systematisch zu beheben versucht und zugleich darauf verzichtet, die Personalbemessung zukünftig stärker tarifvertraglich zu regulieren.  Wie groß das Ausmaß der Krise in den über 55 000 Kitas in Deutschland momentan tatsächlich ist, darüber gibt es keine gesicherten Daten. Erhebungen darüber, wie viele Kitas aktuell regelmäßig schließen müssen oder ihre Öffnungszeiten dauerhaft verkürzen, liegen schlicht nicht vor. Doch in einer Befragung von über 5000 Kitaleitungen vom Herbst 2022 gab fast die Hälfte an, aufgrund des Personalmangels bereits die Öffnungszeiten zu reduzieren.8 Dass in Kindertagesstätten die gesetzlichen Regelungen zur Personalabdeckung nicht eingehalten werden können, gehört für die Fachkräfte zum Alltag. Doch angesichts der sich verschärfenden Umstände lässt sich dieser offensichtlich nicht so aufrechterhalten wie zuvor, und immer mehr Träger, Leitungen und Beschäftigte ziehen Grenzen. Dennoch: Wie groß die Probleme tatsächlich sind, ist regional unterschiedlich und variiert selbst lokal zwischen den einzelnen Einrichtungen.

Von der Dauerkrise zum stillen Kollaps: Kein Ausweg in Sicht? Die Lösungsstrategien, die zumindest kurzfristig – allerdings prekär und problematisch – die Einschränkung des Betreuungsangebotes verhindern können, liegen auf der Hand: So wird der Trend stärker, nicht oder nur gering qualifiziertes Personal einzustellen; in der erwähnten Umfrage unter Kitaleitungen berichten bereits mehr als ein Drittel davon. Zwar hilft das dabei, die Betreuung aufrechtzuerhalten, und nimmt damit Druck aus den Familien und Einrichtungen. Doch für die Beschäftigten bringt das oft nur bedingt Entlastung und kann mit einer Dequalifizierung der Berufsgruppe einhergehen. Dennoch propagieren einige Stimmen aus Politik und Öffentlichkeit den Einsatz „helfender Hände“ neben pädagogischen Fachkräften bereits als Lösung der Krise und fordern zudem, dauerhaft den Mindestpersonalschlüssel zu unterschreiten und die Kindergruppen vergrößern zu können. Auf diese Weise sollen die vorübergehenden Regelungen der Corona-Ausnahmesituation institutionalisiert werden – womit beiläufig auch der Bildungsauftrag wieder aufgegeben würde. Ein eingeschränktes Betreuungsangebot ist die zweite akute Lösungsstrategie: Sie schützt Beschäftigte und Kinder vor schlechten Betreuungssituationen. Langfristig dürfte jedoch die steigende Überforderung von Eltern den Kindern durchaus schaden. Denn die Betreuungslücken werden absehbar mehrheitlich von Müttern (und anderen Frauen) aufgefangen werden, mit entsprechend negativen Auswirkungen auf Gender Pay- und Gender Care 8 Vgl. Deutscher Kitaleitungskongress, DKLK-Studie 2023, Themenschwerpunkt: Personalmangel im Fokus, Düsseldorf 2023.

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116 Franziska Meyer-Lantzberg, Stefan Kerber-Clasen und Yalçın Kutlu Gap. Dass ver.di angesichts des fehlenden Personals ein eingeschränktes Angebot als einen politischen Umgang mit der Krise befürwortet, ist zwar nachvollziehbar. Aber vom politischen Druck, den sich die Gewerkschaft davon erhofft, ist aktuell noch nicht viel zu sehen. Die ernüchternde Wahrheit ist daher: Kurzfristig gibt es aus der politisch herbeigeführten Misere der Kitas keinen einfachen Ausweg. Hieraus den Schluss zu ziehen, die verschärfte Krise politisch auf Dauer zu stellen, wäre allerdings fatal: Dies ist weder wünschenswert noch mittel- und langfristig praktikabel. Möchte man eine Kindertagesbetreuung, die Familien und Kindern gerecht wird und den Beschäftigten eine Arbeit unter guten Bedingungen ermöglicht, bräuchte man bereits jetzt 100 000 Fachkräfte mehr, als überhaupt verfügbar sind. Da die Ausbildung in den pädagogischen Berufen mehrere Jahre dauert, kann dieser Mangel selbst mit den größten Anstrengungen nicht kurzfristig behoben werden. Wahr ist aber auch: Nur wenn wir jetzt beginnen, die strukturelle Unterfinanzierung endlich zu beenden, haben wir in fünf bis zehn Jahren die Chance auf bessere Verhältnisse. Dafür sind attraktive Arbeitsbedingungen durch verbesserte Ausstattungen und Personalschlüssel, eine flächendeckende Reform der Ausbildung – vor allem durch eine Abschaffung der Schulgelder und die Einführung von Ausbildungsvergütungen – und eine starke Anhebung der Entgelte unerlässlich. Auch wenn die Verdienstfrage für viele Beschäftigte nicht die zentrale ist, bleibt sie langfristig ein wichtiger Hebel, den Beruf auch für jene interessant zu machen, die ihn nicht vorrangig aus intrinsischen Motiven ergreifen. Die Frage ist: Wie soll es zu diesen Veränderungen kommen? Wer soll sie gegen die vorherrschende Sozial- und Bildungspolitik und angesichts der absehbaren Verteilungskämpfe unter einem die schwarze Null propagierenden FDP-Finanzminister erkämpfen? Zwar kann man in Zeiten des 100-Milliarden-Sondervermögens für die Bundeswehr auch für die soziale Infrastruktur große Investitionssummen einfordern. Aber dafür fehlt es sowohl an öffentlichem Rückhalt als auch an Kapazitäten bei den Beschäftigten: Diese scheinen sich gegenwärtig eher auf den Selbstschutz zu konzentrieren. Die Phase der großen gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen liegt inzwischen einige Jahre zurück – und hat nicht verhindern können, dass sich die Krisen verschärften, trotz unbestreitbarer Verdienste. Zwar schaffen die eingangs genannten kleinen Aktionen von Eltern und Fachkräften Sichtbarkeit und ein begrenztes öffentliches Problembewusstsein, sie führen allerdings nicht zu materiellen Veränderungen. Der kürzlich veröffentlichte Appell „Bildungswende JETZT“9 ist ein Versuch, Kräfte über den Kita-Bereich hinaus zu bündeln. Bleibt zu hoffen, dass die Initiative den nötigen politischen Druck entfalten kann, damit endlich gelingt, was längst überfällig ist – ein gesellschaftlicher Aufbruch im Sinne der Bedürfnisse und Interessen von Kindern, Eltern und den Beschäftigten in den Kitas.

9 Vgl. Bildungswende jetzt!, www.nifbe.de, 2.6.2023.

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Untergang oder Utopie: Der Klimawandel in der Literatur Von Steffen Vogel

D

er Sommer auf der Nordhalbkugel hatte noch nicht begonnen, El Niño die Pazifikregion noch nicht zusätzlich aufgeheizt, da schien der Planet schon zu glühen und zu brennen. In den kanadischen Wäldern erstreckten sich bereits im Frühjahr gewaltige Feuer vom Atlantik bis zum Pazifik, quer durch das zweitgrößte Land der Erde. Thailand verwandelte sich im April in einen regelrechten Glutofen; angesichts einer ungewöhnlichen Hitze von 45 Grad im Schatten schickte die Regierung ihre Bürger in den Lockdown. Und aus dem Irak wurde gemeldet, dass die seit Jahrhunderten so fruchtbare Region zwischen Euphrat und Tigris vertrocknet und damit ausgerechnet jene Gegend, die in der biblischen Überlieferung als der blühende Garten Eden beschrieben wird. Schon ein oberflächlicher Blick in die Nachrichten zeigt also, wie bedrohlich der Klimawandel für die Menschen inzwischen geworden ist – und wie nah er uns angesichts von Überflutungen in Norditalien, Dürren in Spanien und Waldbränden in Brandenburg inzwischen kommt. Selbst im wohlhabenden Westeuropa müssen bereits scharfe Maßnahmen ergriffen werden, weil sich die Probleme endgültig nicht mehr aufschieben lassen. In den Niederlanden sah sich die (kürzlich zerbrochene) rechtsliberal geführte Regierung gezwungen, ein Drittel der Bauernhöfe zur Aufgabe zu drängen, um die viel zu hohen Stickstoffwerte zu senken. In Frankreich haben erste dürregeplagte Kommunen in ländlichen Regionen damit begonnen, den Bau neuer Eigenheime zu untersagen – weil das Wasser vielerorts schon jetzt kaum reicht. Doch die gesellschaftlichen Reaktionen auf diese enormen Herausforderungen sind oft paradox. Während beispielsweise eine Mehrheit der Bundesbürger in Umfragen immer wieder bekennt, dass dem Klimaschutz mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden müsse, so wächst doch der Widerstand, sobald es um konkrete Maßnahmen geht. Das ist nicht bloß Ausdruck massiver Kampagnen der fossilen Industrien, es ist auch nicht allein mit Fehlern der Klimabewegung oder der Grünen zu erklären. Vielmehr zeigt sich hier ein unglückliches Bewusstsein: Die meisten Menschen wissen um die grundsätzliche Notwendigkeit des Klimaschutzes, aber andere Dinge wiegen schwerer: materielle Verlustängste, Schuldabwehr angesichts des eigenen Anteils an der Erderhitzung oder schlicht die Unwilligkeit, seinen Lebensstil zu ändern. Dabei haben dieselben Bürger während der Coronapandemie

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118 Steffen Vogel mehrheitlich noch weit drastischere, wenn auch zeitlich beschränkte, staatliche Eingriffe in ihr Privatleben akzeptiert. Einen wesentlichen Anteil an der damaligen Einsicht in die Notwendigkeit dürften die Bilder von Armeelastwagen voller Särge aus dem norditalienischen Bergamo gehabt haben. Wer diese und ähnliche Aufnahmen gesehen hatte, musste die Krise als akut wahrnehmen. Angesichts dessen stellt sich die Frage: Welches Bild machen wir uns vom Klimawandel? Begreifen wir seine Dringlichkeit – oder halten wir ihn für ein Problem kommender Generationen,? Sehen wir in ihm ein schicksalhaftes Verhängnis – oder erkennen wir noch Möglichkeiten, zu handeln und zu gestalten? Wer könnte darüber Aufschluss geben, wenn nicht die Literatur? Schließlich finden in ihr gesellschaftliche Stimmungen und gedankliche Strömungen einen verdichteten Ausdruck – oft noch bevor etwa die Soziologie sie methodisch zu definieren vermag. Doch umso mehr erstaunt der Blick auf die Neuerscheinungen der vergangenen Jahre. Fast könnte es scheinen, als spiegele die Literatur bloß das unglückliche Bewusstsein unserer Gesellschaften. Zwar avancierten einzelne Romane, die sich der Erderwärmung widmen, zu Bestsellern, darunter das „Klima-Quartett“ der norwegischen Schriftstellerin Maja Lunde, das mit „Die Geschichte der Bienen“ begann und dessen vierter Teil „Der Traum von einem Baum“ soeben auf Deutsch erschienen ist. Aber dieser und andere Verkaufserfolge können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Klimawandel weder in der Breite noch in der Spitze der Literaturszene angekommen ist: Noch erscheinen vergleichsweise wenig Romane zu dieser existenziellen Menschheitsfrage und wenn, dann werden sie selten von bekannten Autoren verfasst; Margaret Atwood („Orxy und Crake“, 2003) und T.C. Boyle (zuletzt „Blue Skies“, 2023) markieren mit ihren Büchern hier eher die Ausnahmen. Dieser auffällige Mangel veranlasste den indischen Schriftsteller Amitav Ghosh schon 2016 zu einem fulminanten kulturkritischen Großessay. Das Grundproblem unserer modernen Rationalität bestehe darin, so Ghoshs These, dass wir verlernt haben, das Unwahrscheinliche zu denken. Wir gehen derart von stabilen ökologischen Zuständen aus, die sich allenfalls graduell verändern, dass wir die Möglichkeit außergewöhnlicher Ereignisse – wie Jahrhundertstürme – weitgehend ausblenden. Das präge auch den zeitgenössischen Roman: „Der Gestus, mit dem er Realität hervorzaubert, dient in Wirklichkeit dem Verbergen des Realen.“ Denn tatsächlich bricht in Zeiten des Klimawandels das Außergewöhnliche immer wieder über uns herein. Vorstellungen einer geordneten Normalität erweisen sich zunehmend als trügerisch. Das nicht erkennen zu können, verweise auf eine „Krise der Kultur und [...] der Imagination“ – auf eine „große Verblendung“.1 Doch zeigt ein zweiter Blick auf die aktuelle Lage: Ganz so düster ist es um unsere Kultur nicht bestellt. In den wenigen Jahren, die seit Ghoshs Kritik ins Land gegangen sind, haben neue literarische Stimmen von sich hören 1 Amitav Ghosh, Die große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare. München 2017, S. 39, S. 19 und S. 22.

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Untergang oder Utopie: Der Klimawandel in der Literatur 119 lassen, die sich der Herausforderung des Klimawandels stellen. Im englischen Sprachraum laufen diese Bücher längst unter einem Label, das auch in der deutschen Debatte zunehmend verwendet wird: Der Begriff „Climate Fiction“ nimmt sprachlich eine Anleihe bei Science Fiction, dient hier aber als Sammelbegriff für alle Romane, die sich mit der Erderwärmung befassen.2 Es ist eine Bewegung, die noch eher vom Rand des Literaturbetriebes kommt: Unter den entsprechenden Titeln findet sich so manches Debüt, oft verfasst von Frauen, zuweilen auch von Autoren, die sich in den vermeintlichen Niederungen der Genre-Literatur tummeln. Doch gerade sie zeigen zunehmend ein mutigeres, da realistischeres Bild der Klimakrise. Oft gehen sie dabei weg von den reinen, wenn auch aufrüttelnd gemeinten Schreckensbildern oder Dystopien, hin zu einer Reflexion über den veränderten Alltag unter den Bedingungen des Klimawandels – und sogar zu ersten konkreten Utopien.

Apokalypse als Gemeinplatz Unter den neueren eher dystopischen Vertretern der „Climate Fiction“ sticht ein Roman besonders heraus: „Die Töchter des Nordens“ von Sarah Hall.3 Die britische Schriftstellerin ruft darin einen Zusammenhang in Erinnerung, der in tagespolitischen Debatten um die Erderwärmung oft untergeht: Ein kollabierendes Klima führt auch zum Verlust von Ernten wie Ressourcen und untergräbt damit die wirtschaftliche Stabilität selbst noch der reichsten Länder – und ökonomische Unsicherheit hat bekanntlich schon oft den Nährboden für antidemokratische Bestrebungen bereitet. Im England der nahen Zukunft, das Hall entwirft, ist das Parlament aufgelöst worden und die Regierung betreibt eine durch militärische Repression gestützte Mangelverwaltung mit strikter Rationierung von Arbeitsplätzen, Wohnraum und Lebensmitteln sowie strenger Geburtenkontrolle, zu deren Zweck Frauen eine Zwangsverhütung auferlegt wird. Gegen diese Zustände rebelliert die Ich-Erzählerin, die sich einer rein weiblichen Widerstandsgruppe in den Bergen anschließt – teils landwirtschaftliche Kommune, teils Guerillaarmee. Selbst in einem gekippten Klima, in dem der legendär kühle englische Sommer längst subtropischen Verhältnissen gewichen ist, dient die Natur Halls Protagonistin noch als Quelle der Erleichterung, als Ort des Trostes in trostlosen Zeiten. Ihre persönliche Befreiung vollzieht sich dann aber über die Vorbereitung eines bewaffneten Aufstandes. Mit diesem rebellischen Grundton kontert Sarah Hall jenes Problem, vor dem alle Dystopien angesichts des Klimawandels stehen: Während George Orwell („1984“) oder Margaret Atwood („Der Report der Magd“) einst Sze2 Rebecca Tuhus-Dubrow, Cli-Fi: Birth of a Genre, www.dissentmagazine.org, Sommer 2013; Thekla Dannenberg, Auf der Sturmhöhe der Zeit: Wie Climate Fiction vom aufgeheizten Planeten erzählt, www.deutschlandfunk.de, 13.3.2022. 3 Sarah Hall, Die Töchter des Nordens. Roman. München 2021.

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120 Steffen Vogel narien entwarfen, in denen sie gefährliche Entwicklungen der Gegenwart bewusst extrem zuspitzten, um so mit ihren literarischen Warnungen die geschilderte düstere Zukunft vielleicht doch noch abzuwenden, wirken klassische Klima-Dystopien heute oft nicht aufrüttelnd, sondern abstumpfend. Denn wo alle Hoffnung vergebens erscheint, wächst nicht das Engagement, sondern die Apathie. Insofern ist es durchaus unklug, wenn gerade ökologisch besonders sensibilisierte Menschen zunehmend von „Klimakatastrophe“ statt von „Klimawandel“ sprechen: Die „Katastrophe“ lähmt, der „Wandel“ hingegen ist gestaltbar. Auch auf einem sich erhitzenden Planeten sind es weiterhin die Menschen, die ihre Geschichte machen. Im Anthropozän gilt das sogar umfassender denn je – im Guten wie im Bösen. Ganz anders klingt das hingegen bei einer nicht minder bemerkenswerten Dystopie: In seiner „Southern Reach“-Trilogie beschwört der US-Schriftsteller Jeff VanderMeer einen ganz besonderen Horror herauf – eine Natur, die sich gegen den Menschen wendet.4 An der Südküste der USA bildet sich ein Ökosystem heraus, in dem Menschen auf mysteriöse Weise scheinbar aktiv abgestoßen und bekämpft werden. Den Rätseln dieser sich wuchernd ausbreitenden Zone versucht eine staatliche Behörde auf den Grund zu gehen, deren Alltag VanderMeer beklemmend kafkaesk schildert. Zwar fällt die Erklärung für dieses geheimnisvolle Phänomen am Ende hinter die interessanteren Fährten zurück, die er im Lauf der Handlung legt; bis dahin aber schlägt VanderMeer seine Leser mit der Beschreibung eines Ökosystems in den Bann, das einerseits keinen Platz für Menschen hat, aber andererseits äußerst lebendig ist. Die für Menschen „unbewohnbare Erde“, vor der Autoren wie David Wallace-Wells warnen,5 begegnet uns in dieser Trilogie einmal nicht als lebensfeindliche Wüste, sondern in voller Blütenpracht. Doch auch bei anregenden Dystopien wie diesen, in denen der Klimawandel nicht bloß ein narrativer Vorwand für eine actiongetriebene Handlung à la „Mad Max“ ist, bleibt ein entscheidendes Manko: Solche Phantasien verlagern die Folgen des Klimawandels in eine entfernte Zukunft. Selbst Autorinnen und Autoren, die in warnender Absicht schreiben, bedienen damit jene Verdrängungsleistung, die darin besteht, den Klimawandel nur als Belastung kommender Generationen zu sehen. Das schwächt den kritischen Impuls von Dystopien entscheidend: Wer das veränderte Klima als Zukunftsproblem schildert, lenkt die Aufmerksamkeit – wohl unfreiwillig – weg von den drängenden Erfordernissen der Gegenwart. Im schlimmsten Fall schlägt der kritische Gestus so in einen antiaufklärerischen Impuls um. Das liegt sicher nicht in der Absicht einer Autorin wie Sarah Hall, es verweist eher darauf, wie Diskurs und gesellschaftliches Bewusstsein sich weiterentwickelt haben: Halls Roman erschien im englischen Original 2007, also weit vor dem Pariser Weltklimavertrag von 2015 und vor dem Auftreten einer globalen Klimabewegung. Dennoch erweisen sich Klima-Dystopien letztlich als Teil der von Ghosh diagnostizierten „Krise der Imagination“. Statt einer spektakulären Apokalypse gehen wir schließlich eher einer neuen Norma4 Jeff VanderMeer, „Auslöschung“, „Autorität“, „Akzeptanz“, München 2014, 2015 und 2015. 5 David Wallace-Wells, Ausblick auf das Höllenjahrhundert, in: „Blätter“, 11/2019, S. 47-57.

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Untergang oder Utopie: Der Klimawandel in der Literatur 121 lität – oder zumindest einer postnormalen Zwischenzeit – entgegen, in der nicht mehr der Untergang der menschlichen Zivilisation droht, aber doch die Unbewohnbarkeit ganzer Regionen.

Schöne neue Normalität Angesichts dessen braucht es Erzählungen, die – in Anlehnung an Ghosh – das Reale nicht länger verbergen. Wie das gelingen kann, zeigt brillant verdichtet eine Kurzgeschichte der irischen Schriftstellerin Caoilinn Hughes: Eine Klimaforscherin verlässt, überwältigt von den verheerenden Erkenntnissen, eine Fachkonferenz in Andorra und unternimmt spontan einen nostalgisch gemeinten Skitrip in die Berge: „Sie schloss die Tür vor den Teilantworten auf absolute Fragen.“6 Doch die kleine Flucht misslingt, selbst hoch oben ist die Schneedecke dünn, abschalten kann sie nicht. Die Wissenschaftlerin erfährt, was sie doch längst weiß: Es gibt für sie kein Außen im Angesicht des Klimawandels und wenig Hoffnung auf einen Rest unbeschwerter Gegenwart. Die dramatischen Veränderungen sind schon da. Diese Erkenntnis lässt sich ganz unterschiedlich in Literatur ummünzen, aber alle gelungenen Versuche zeigen einen durch den Klimawandel massiv veränderten Alltag – und ergründen so die Lebensweise im Anthropozän. Das Wissen um die Dringlichkeit der Klimakrise, so lässt sich dabei lernen, treibt Menschen allerdings keineswegs zwangsläufig zum Handeln. Im Gegenteil kann es sogar lähmen, besonders dann, wenn man seine Lebensumstände eigentlich radikal ändern müsste, das aber nicht schafft – oder nicht schaffen kann. Das schildert die deutsche Schriftstellerin Franziska Gänsler in ihrem Debüt „Ewig Sommer“. Ihre Ich-Erzählerin Iris hat vom Großvater ein Hotel in einem Kurort übernommen, der aber aufgrund regelmäßiger sommerlicher Waldbrände inzwischen kaum noch Besucher anzieht. Die einst gute Luft ist nun über lange Wochen beißend und gesundheitsschädlich. Doch veräußern lässt sich das Hotel genau deswegen auch nicht mehr. So existenzgefährdend die Lage für die Protagonistin also ist, so distanziert zeigt sie sich doch: „Obwohl ich das Feuer durch die Fenster sehen konnte, die Situation im Wald blieb für mich ungreifbar. Meine eigene Auseinandersetzung mit dem Brand erschöpfte sich im Beseitigen der Flugasche, im Instandhalten meiner kleinen Welt. [...] Leute wie ich, die keine Kinder hatten, die sich nirgendwo anders ein Leben vorstellen konnten, waren geblieben. Alles, was mir gehörte, war hier, und so ging es vielen.“7 Diese Ausweglosigkeit spiegelt Gänsler gekonnt in der Lage des einzigen Hotelgastes: Dori, die mit ihrer kleinen Tochter aus einer toxischen Beziehung geflüchtet ist, aus der sie sich aber schließlich doch nicht lösen kann. Womöglich ist das auch ein Sinnbild für das toxische Verhältnis, das viele von uns an eine Lebensweise bindet, von der wir wissen, dass sie unsere Existenzgrundlage zerstört. 6 Caoilinn Hughes, Creep, in: „Granta” Nr. 153, Herbst 2020, S. 105-113, hier: S. 106. 7 Franziska Gänsler, Ewig Sommer. Roman. Zürich und Berlin 2022, S. 44.

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122 Steffen Vogel Aber nicht nur der lokal gebundene Mensch kann den Folgen des Klimawandels nicht entrinnen, sondern auch der Kosmopolit mit Wohnsitzen auf mehreren Kontinenten. Nicht zuletzt davon erzählt Amitav Ghosh, selbst der Inbegriff eines Kosmopoliten, in „Die Inseln“.8 Er greift dabei auf eine alte bengalische Legende zurück, die der New Yorker Antiquar Dinanath Datta erforschen will: Ein hochmütiger Kaufmann zieht sich den tödlichen Zorn der Schlangengöttin zu, flieht vor ihr über die Weltmeere, entgeht ihren Heimsuchungen aber nicht. Bei seinen Recherchen bemerkt der eigentlich streng westlich-rationale Datta zunehmend beunruhigende Parallelen zwischen dem Mythos und seinem Leben: Ob in den indischen Mangrovenwäldern der Sundarbans, an der Küste Kaliforniens oder in Venedig, stets wird er mit den Folgen des Klimawandels konfrontiert. Unaufdringlich nutzt Ghosh die intellektuelle Abenteuerreise seines Protagonisten, um den alten Stoff zu aktualisieren: Da steht der Kaufmann aus der Legende für den modernen Menschen, der sich über die Natur erhebt, und die Schlangengöttin für die Naturkräfte, die zurückschlagen. Im furiosen Ende sind es aber ausgerechnet diese Naturkräfte, die ein Schiff mit jenen Menschen retten, die sich ob der Erderwärmung zwangsweise auf den Weg machen: Klimaflüchtlinge. Jene wiederum, die angesichts des Klimawandels nicht resignieren, sind allerdings auch keineswegs frei von Widersprüchen, so eine schöne Pointe aus „Doggerland“ von Élisabeth Filhol. Der Roman der französischen Schriftstellerin spielt an vier Tagen, in denen ein schwerer Sturm von West nach Ost über die Nordsee zieht. Er trifft im schottischen Aberdeen auf Land, wo zwei der drei Protagonisten sich gerade auf den Weg zu einer Konferenz im dänischen Esbjerg machen. Einer ist Stephen Ross, Leiter für Umweltstudien bei einem Windenergieproduzenten mit Offshoreanlagen in der Nordsee. Ihn, und damit ausgerechnet einen Vertreter der grünen Energiewirtschaft, zeichnet Filhol als Repräsentanten eines entfremdeten technischen Machbarkeitsdenkens: „Schon eine schöne und große Sache, dieser Sturm, der alles durchschüttelt, aber nichts beherrscht, meint Stephen, der meint, der Mensch habe den Kampf gegen die Naturgewalten endgültig für sich entschieden. Er liebt die Idee, diese vergeudete Kraft in Antriebskraft zu verwandeln, aus dieser Entfesselung, dieser blinden Gewalt eine Ressource zu machen.“9 Der betreffende Windpark, den Ross dabei im Sinn hat, liegt ausgerechnet auf der Doggerbank, der Ruhestätte einer von einem Klimawandel vor rund 7500 Jahren unter Meer und Sedimenten begrabenen Zivilisation. Am Beispiel Doggerlands – das im Roman Margaret Ross, Geologin und Stephens Frau, erforscht – weist Filhol auf einen beunruhigenden Umstand hin: Auch ein klimatischer Umschwung, der über lange Jahre erfolgt und zunächst beherrschbar erscheint, kann verheerende Folgen haben. Umso drängender stellt sich die Frage: Kann das Anthropozän, wenn schon nicht zum Guten, so doch wenigstens zum Besseren gestaltet werden? Das auszumalen wäre die Aufgabe für eine klassische literarische Gattung: die Utopie. 8 Amitav Ghosh, Die Inseln. Roman. München 2019. 9 Élisabeth Filhol, Doggerland. Roman. Hamburg 2020, S. 72.

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Untergang oder Utopie: Der Klimawandel in der Literatur 123 Doch nicht nur die Dystopie ist heute fragwürdig geworden, sondern die Utopie gleich mit. Wenn das Unheil nicht in eine ferne Zukunft verlagert werden kann, weil es schon da ist, so kann das Morgen auch nicht mehr die Verheißung des revolutionär Anderen bieten: An der Realität des Klimawandels kommt kein noch so kühner Zukunftsentwurf vorbei. Das bedeutet aber nicht, dass Utopien undenkbar wären, sie müssen nur anders gedacht werden, als wir es seit Thomas Morus kennen. Eine andere Welt ist nach wie vor möglich, sie müsste aber die Last unserer ökologisch verheerten Gegenwart tragen, könnte also nicht perfekt sein.10 Wie utopisches Denken heute aussehen kann, zeigt am besten der Vergleich zwischen Ernest Callenbachs umweltbewegtem Klassiker „Ökotopia“ von 1975, kürzlich bei Reclam in einer Neuausgabe erschienen,11 und Kim Stanley Robinsons „Das Ministerium für die Zukunft“ von 2020, der Referenz schlechthin für alle, die sich nach einem klimagerechten Zukunftsentwurf sehnen.12 Beiden Romanen ist gemeinsam, dass sie nichts imaginieren, was in ihrer jeweiligen Zeit nicht technisch oder gesellschaftlich als möglich galt oder zumindest als realisierbare Option diskutiert wurde: Sie verzichten bewusst darauf, die Probleme der Menschheit durch eine nur in der Phantasie der Autoren existente Wundertechnologie lösen zu wollen. Davon abgesehen zeigt sich jedoch ein fundamentaler Unterschied zwischen beiden Entwürfen, der viel über die dazwischen liegenden knapp vier Jahrzehnte verrät: Callenbach siedelt seine Utopie noch ganz zeittypisch in einem räumlich begrenzten Gebiet an, mehreren Bundesstaaten an der US-Westküste, die sich abgespalten haben und nun eine Republik namens Ökotopia bilden. Dort sind Verbrennungsmotoren ebenso verboten wie Flugzeuge, die öffentlichen E-Busse verkehren gratis, die Arbeitszeit wurde auf 20 Wochenstunden reduziert und die Landwirtschaft verstaatlicht – wie radikal und frisch sich diese Vision teils immer noch liest, sagt nicht zuletzt viel über unsere Gegenwart.

Utopie in planetaren Grenzen Wo Callenbach also der langen Tradition seit Morus folgt und eine im Entstehen begriffene Mustergesellschaft auf begrenzter Fläche zeichnet, geht Robinson von den Bedingungen der Weltgesellschaft aus. Statt wie Callenbach eine ideale Gemeinschaft zu zeigen – irgendwo zwischen großer Hippiekommune und unabhängig gewordener Kolonie –, beschreibt er einen globalen Wandel, der nicht zentral gesteuert wird und den höchst unterschiedliche Akteure tragen: eine UN-Behörde, Regierungen, soziale Bewegungen, Dorfgemeinschaften, selbst die Finanzindustrie und das Militär. Es geht dem erklärten Linken Robinson um das Mögliche und Machbare, 10 Mit dem „Solarpunk“ entsteht derzeit ein neues Subgenre, das auf dieser Grundlage höchst diverse Utopien entwirft. Vgl. Joey Ayoub, What if We Cancel the Apocalypse?, www.newlinesmag.com, 22.11.2022. 11 Ernest Callenbach, Ökotopia. Roman. Stuttgart 2022. 12 Kim Stanley Robinson, Das Ministerium für die Zukunft. Roman. München 2021.

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124 Steffen Vogel nicht um das Reine und Ideale. Verluste – an Biodiversität, an bewohnbaren Lebensräumen oder kulturellen Gewohnheiten, nicht zuletzt an Menschenleben – spart er nicht aus, sie erden seine konkrete Utopie.13 Auf die Spitze treibt den Zug in die konkrete Utopie der amerikanische Schriftsteller Andrew Dana Hudson. Er nutzt sein Wissen als Nachhaltigkeitsforscher, um ein Gedankenexperiment des Weltklimarates literarisch auszugestalten. Der IPCC hatte 2021 fünf Szenarien präsentiert, wie sich die Welt  entwickeln könnte, abhängig davon, wie hoch die Hürden für Emissionssenkungen und/oder Anpassung an den Klimawandel sind. Hudson übersetzt das in seinem Roman „Our Shared Storm“ in fünf Geschichten, die alle auf der Weltklimakonferenz 2054 in Buenos Aires spielen. Vier Personen treten in allen Episoden auf, und jedes Mal fegt ein Jahrhundertsturm über die argentinische Hauptstadt. Aber die Biografien der Protagonisten unterscheiden sich je nach Szenario radikal, ebenso wie die Folgen des Unwetters: Mal erleben wir eine Verlängerung gegenwärtiger Halbherzigkeiten, mal hyperkapitalistische oder militaristische Dystopien. Utopisch ist aber immerhin eine von Hudsons Geschichten, angelehnt an den Nachhaltigkeitspfad des IPCC. Dort zeichnet er das Bild einer resilienten Gesellschaft: Durch das Zusammenwirken von nachbarschaftlichen Solidaritätsnetzwerken und einem vorausschauend agierenden Staat kommt Buenos Aires glimpflich durch den Jahrhundertsturm. Es entstehen nur geringe Schäden, mit denen niemand allein gelassen wird. Die Welt, die Hudson da skizziert, ist alles andere als perfekt, aber sie ist eine, in der wichtige Weichen richtig gestellt wurden: Bei allem weltweiten Austausch wurden Wirtschaftskreisläufe regionalisiert und auf Nachhaltigkeit orientiert, für die Anpassung an den Klimawandel erhebt eine massiv gestärkte UN drastische globale Vermögenssteuern, CO2 wird mit technischen Verfahren der Atmosphäre entzogen und gespeichert. Darauf lässt sich trotz aller verbleibenden Unsicherheiten und nach wie vor drohenden Katastrophen aufbauen: „Ein weiter Raum an Möglichkeiten hatte sich vor uns geöffnet. Wir mussten nicht mehr im Schatten des anstürmenden Verhängnisses leben [...].“14 Kim Stanley Robinson hat jüngst einen Arbeitsauftrag an seine Zunft formuliert: „Um realistisch zu bleiben, muss man über den Klimawandel schreiben.“15 Damit hat die Literatur in den vergangenen Jahren zumindest begonnen und sie übersetzt dies in Geschichten, in denen die Dringlichkeit der Aufgabe aufscheint und zuweilen sogar menschliche Handlungsmacht erkennbar wird. Wie stark sich diese Bilder verbreiten, wird darüber mitbestimmen, ob die Menschheit das Ruder rechtzeitig herumzureißen vermag – oder ob die Dystopien von heute nicht morgen schon als Realitätsbeschreibung durchgehen können.

13 Vgl. auch Steffen Vogel, Das gute Anthropozän, in: „Blätter“, 2/2022, S. 121-123. 14 Andrew Dana Hudson, Our Shared Storm. A Novel of Five Climate Futures. New York 2022, S. 204. 15 Vgl. „Es wird Leid geben und Gewalt“. Interview mit Kim Stanley Robinson, www.taz.de, 28.11.2021.

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BUCH DES MONATS

Worüber reden wir, wenn wir von »trans« reden? Von Jens Balzer Über Transsexualität und Transgender wird seit einigen Jahren erregt debattiert. Trans Menschen streiten für ihr Recht auf Selbstbestimmung. Konservative und rechtspopulistische Stimmen verhöhnen diese Emanzipationsbemühung als letzte Verirrung einer spinnerten Linken, das Schmähwort vom „Gendergaga“ ist zu einem zentralen Kampfbegriff geworden. Als im Juni zwei Drag- und trans Personen in der Münchener Stadtbibliothek eine Vorlesestunde für Kinder organisierten, mobilisierte die Rechte zu Demonstrationen, eine 13-jährige trans Jugendliche erhielt Morddrohungen und zog sich von der Lesung zurück. Aber die Kritik kommt nicht nur von rechts: Auch ältere Feministinnen fürchten darum, Elizabeth Duval, Nach Trans. Sex, dass mehr Rechte für trans Menschen gleich-beGender und die Linke. Aus dem deutend seien mit weniger Rechten für Frauen. Spanischen von Luisa Donnerberg. Wagenbach, Berlin 2023, 224 S., Von aktivistischer Seite wird gegen solche 24 Euro. Bedenken in mitunter aggressiver Weise der Vorwurf der Transphobie erhoben. Die Feministinnen werden als „TERFs“ verunglimpft, als „Trans-Exclusionary Radical Feminists“ (trans-ausschließende radikale Feministinnen). Manche von ihnen, wie die britische Philosophin Kathleen Stock, empfinden sich als Opfer einer „Cancel Culture“. Stock trat nach Protesten und Gewaltandrohungen von Studierenden von ihrer Professur an der Universität von Sussex zurück. Die Lage ist verfahren, die Stimmung unversöhnlich. Umso wertvoller ist daher das Buch, das die spanische Schriftstellerin und Philosophin Elizabeth Duval jetzt vorgelegt hat. In „Nach Trans. Sex, Gender und die Linke“ befasst sie sich mit der Diskriminierung von trans Menschen und mit den politischen und juristischen Initiativen zu ihrem Schutz. Vor allem stellt sie noch einmal in grundlegender Weise die Frage: Worüber reden wir, wenn wir von „trans“ reden? Was bedeutet es, „trans“ zu sein?

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126 Buch des Monats

Die einfache, allgemein gängige Antwort ist: Menschen werden als trans bezeichnet, wenn sie sich mit einem anderen sexuellen Geschlecht bestimmen, als ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Das heißt aber nicht ­– so eine zentrale These Duvals –, dass trans Menschen ihr Geschlecht „frei wählen“ wollen oder können. Vielmehr wird das Beharren auf der freien Wahl von konservativen Kritikern polemisch unterstellt: Demnach würden trans Aktivisten bekunden, dass jeder Mensch sich jederzeit dazu entscheiden könne, mit einem Federstrich auf einer Urkunde sein Geschlecht zu ändern – um dann etwa als Mann auf Frauentoiletten gehen zu können. Dieses Bedenken räumt Duval mit leichter Hand aus: Es müsse ja jetzt schon niemand seinen Ausweis vorzeigen, um auf eine Toilette zu gehen. Aber auch von manchen trans Aktivisten wird die Vorstellung von der „freien Wahl“ positiv ins Feld geführt. Sie sehen den emanzipatorischen Kern der trans Sexualität gerade in dem Nachweis, dass Menschen jenseits vorgegebener gesellschaftlicher Regeln frei über ihre (nicht nur sexuelle) Identität verfügen könnten.

Trans sein ist keine Wahl

Beidem widerspricht Elizabeth Duval entschieden. Im ersten Fall würden trans Menschen diskriminiert, im zweiten würde ihr Dasein symbolisch überlastet. Trans Menschen sind für Duval aber einfach nur Menschen mit einem bestimmten sexuellen Selbstempfinden, das sich von jenem anderer Menschen – in ihrer Summe: der Mehrheit – unterscheidet. Trans zu sein, schreibt sie, sei keine Wahl. Man entscheide sich nicht dafür, sein Geschlecht zu wechseln, sondern beuge sich einer Entscheidung, die immer schon für einen getroffen wurde. „Trans zu sein ist keine Erfahrung des Habens, sondern eine Strategie des Seins“, zitiert sie zustimmend die Psychoanalytikerin Patricia Gherovici: Man „hat“ kein Geschlecht, sondern „ist“ sein Geschlecht. Damit wendet sie sich zugleich gegen die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die in einem „falschen“ Körper gefangen sind und den Körper nun also ihrer „richtigen“ Geschlechtsidentität anpassen. Diese Vorstellung nennt sie „neuplatonisch“, sie gehe von einer falschen Trennung von Körper und Geist aus. Man könne den Vorgang der Transition aber nur verstehen, wenn man von einem Konzept der Subjektivität ausgehe, in dem Körper und Geist immer schon untrennbar ineinander verflochten sind. Für Elizabeth Duval ist trans Sexualität keine Frage des Besitzes, also des Habens, und generell kein Zustand, sondern vielmehr ein Prozess: eine Bewegung, die das Selbstempfinden des Körpers, die gesamte Subjektivität eines Menschen von einem Punkt des sexuellen Spektrums an einen anderen bewegt. Diese Bewegung setze ein Mensch aber nicht selbst in Gang, vielmehr werde sie von diesem Menschen „erfahren“. Sie ergebe sich aus der Verflechtung von biologischen und kulturellen Prägungen. Das Empfinden, trans zu sein, habe also auch einen historischen Kern: Wer sich heute als trans bestimme, hätte sich vor zwanzig Jahren vielleicht als besonders weiblicher Schwuler – wie man damals sagte: als Tucke – verstanden oder als besonders

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2023

Buch des Monats 127

männliche Lesbe – in der älteren Sprache der Emanzipationsbewegung: als Butch. Damit prägen die in den vergangenen beiden Jahrzehnten veränderten Diskurse über die Selbstbestimmung von Menschen, die sich in der binären Geschlechterordnung nicht aufgehoben fühlen, auch deren individuelles Selbstverständnis: Geschlechtsidentität werde „erlernt“, so wie man eine Sprache erlerne, und wenn sich die Sprache – oder allgemeiner: die symbolische Ordnung der Sexualität – verändere, dann veränderten sich auch die Arten der Identifikation mit dem eigenen Körper und dem eigenen Selbst. Duval – selber trans Frau – beschreibt präzise, wie sie unter den Diskursbedingungen der 2010er Jahre diese Bewegung erlebt hat und warum sie es nie als ihre freie Wahl angesehen hat, sich als Frau zu bestimmen, sondern als Anerkennung einer Realität, die ihr vorgegeben ist und über die sie nicht verfügen kann. In nicht immer einfacher Sprache, aber mit Argumenten, die sich bei gründlicher Lektüre klar nachvollziehen lassen, entwickelt sie aus ihren autobiografischen Schilderungen und im Anschluss an die Theorien von Sigmund Freud, Jacques Lacan und Judith Butler eine Philosophie der Subjektivität, die das Selbstempfinden als trans Mensch gut zu beschreiben vermag, ohne es zu einem revolutionären Akt zu überhöhen. Sie widerspricht Kritikerinnen des Trans-Konzeptes wie Kathleen Stock – aber dies ohne Erregung, sondern auf Grundlage einer genauen Lektüre ihrer Thesen und mit Zustimmung dort, wo es ihr angebracht scheint. Sie widerspricht aber auch prominenten Queer-Theoretikern wie dem trans Mann Paul B. Preciado und seiner Utopie einer vollständig fluiden Gesellschaft: Das tauge vielleicht für die Erschaffung von Kunst, aber nicht für emanzipatorische Politik.

Keine Avantgardisten, sondern Individuen mit besonderer Prägung

Wer für die Rechte von trans Menschen kämpfe, so Duval, solle trans nicht zur emanzipatorischen Kategorie überhöhen – und schon gar nicht, wie Paul B. Preciado, darauf hoffen, dass trans Menschen Vorboten einer universellen Aufhebung der Geschlechtergrenzen seien. Denn das binäre System der Geschlechterorganisation sei so tief in der menschlichen Kultur verankert, dass es uns noch sehr lange begleiten werde. Darum gelte es, trans Menschen nicht als Avantgardisten zu beschreiben, sondern als Individuen mit einer besonderen Prägung, die es anzuerkennen und zu schützen gelte. Mit diesem philosophisch realistischen und politisch pragmatischen Blick werde es auch wesentlich leichter, die Solidarität der gesellschaftlichen Mehrheit zu erlangen und zu behalten. Aus diesen Einsichten entwickelt Elizabeth Duval zum Ende ihres glänzenden Essays – über die Diskussion des Trans-Themas hinaus, oder wie der Name des Buchs schon sagt: „nach Trans“ – das Programm für eine neue, nicht-dogmatische Linke, die sich nicht mehr in Binnenkonflikten verliert, sondern das Gespräch mit der Mehrheitsgesellschaft sucht und auf diese Weise für ihre Anliegen wirbt. Das ist eine wichtige Aufgabe, auch wenn sie angesichts der aktuellen Verfassung der Linken – darüber macht Duval sich keine Illusionen – ihrerseits utopisch erscheint.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2023

Zurückgeblättert... Vor 20 Jahren fand, aus Anlass des völkerrechtswidrigen Irakkriegs, die letzte große internationale Auseinandersetzung über die Zukunft der Europäischen Union statt: Fusion oder Spaltung? Die Kerneuropa-Initiative in der Debatte. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Jutta Limbach, Zdislaw Krasnodebski, Adolf Muschg und Wolfgang Schäuble, in: »Blätter«, S. 935-945. Den Text finden Sie wie gewohnt auf www.blaetter.de

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An der Ausgabe wirkten Moritz Hentz und Enrico Floris mit. Die gemeinnützige Blätter-Gesellschaft – Gesellschaft zur Förderung politisch-wissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Initiativen e.V. gibt in Verbindung mit dem Herausgeberkreis der Zeitschrift die »Blätter für deutsche und internationale Politik« heraus. Ihr stehen Dr. Corinna Hauswedell, Dr. Wolfgang Zellner und Inken Behrmann vor. Die »Blätter« erscheinen zugleich als Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft. Beiträge – ab 12,50 Euro monatlich – und Spenden sind steuerabzugsfähig. Sitz: Bonn, Beringstr. 14, 53 115 Bonn; Büro Berlin: Postfach 40147, 10061 Berlin. Bankverbindung: Santander Bank IBAN: DE26 5003 3300 1028 1717 00, BIC: SCFBDE33XXX. Preise: Einzelheft 11 Euro, im Abonnement jährlich 93,60 Euro (ermäßigt 74,40 Euro). Alle Preise inklusive Versandkosten. Auslandszuschläge auf Anfrage. Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, sofern es nicht sechs Wochen vor Ablauf des Bezugszeitraums beim Verlag schriftlich gekündigt wurde. Das Register des laufenden Jahrgangs erscheint zeitgleich mit der Dezemberausgabe auf www.blaetter.de. Heft 9/2023 wird am 31.08.2023 ausgeliefert. © Blätter für deutsche und internationale Politik. ISSN 0006-4416. G 1800 E

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2023

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Autorinnen und Autoren 8/2023 Katajun Amirpur, geb. 1971 in Köln, Dr. phil., Professorin für Islamische Studien sowie stellvertretende Direktorin der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg, Mitherausgeberin der „Blätter“.

Jena sowie Leiter des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Grey Anderson, Ph.D., Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Université de Caen Normandie.

Stefan Kerber-Clasen, geb. 1984, Dr. phil., Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg.

Jens Balzer, geb. 1969 in Buchholz/ Nordheide, Autor und Journalist u.a. für den „Deutschlandfunk”. Jens Becker, geb. 1964 in Frankfurt a. M., Dr. rer. soc., Referatsleiter der Abteilung Studienförderung der Hans-Böckler-Stiftung. David Begrich, geb. 1972 in Erfurt, Theologe, Mitarbeiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei Miteinander e.V. in Magdeburg.

Wir wollen reden. Über globale Ungerechtigkeit und imperiale Lebensweisen; globale Gesundheit und krankmachende Verhältnisse; globale Migration und nationale Abschottungen; globale Lieferketten und einstürzende Textilfabriken; über weltweite Krisen, transnationale Bewegungen und länderübergreifende Solidarität. Ein Podcast mit den Perspektiven von Menschen aus dem Netzwerk von medico international und darüber hinaus. Wir müssen reden. Zu hören auf Spotify, Apple Podcasts und überall, wo es Podcasts gibt.

Frank Braßel, geb. 1958 in Herne, Historiker und Germanist, längjähriger Mitarbeiter von FIAN sowie Oxfam, freier Publizist. Annette Dittert, geb. 1962 in Köln, Auslandskorrespondentin und Filmemacherin, Leiterin des ARD-Studios in London. Ida Dominijanni, geb. 1954 in Catanzaro/Italien, Philosophin, unabhängige Wissenschaftlerin und Journalistin. Vedran Dzˇihic´, geb. 1976 in Prijedor/ heutiges Bosnien-Herzegowina, Dr. phil., Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip). Sonja Eismann, geb. 1973 in Heidelberg, Literaturwissenschaftlerin, Mitbegründerin und Mitherausgeberin des „Missy Magazine“. Marcus Engler, geb. 1979 in Berlin, Dr. phil., Sozialwissenschaftler, wiss. Mitarbeiter am DeZIM-Institut.

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Norbert Frei, geb. 1955 in Frankfurt a. M., Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität

Bernward Janzing, geb. 1965 in Furtwangen, Geograph und Geologe, freier Journalist.

Yalçın Kutlu, geb. 1985, Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am IMU Institut Stuttgart. Albrecht von Lucke, geb. 1967 in Ingelheim am Rhein, Jurist und Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Julia Macher, geb. 1975 in Freiburg, Historikerin und Germanistin, freie Journalistin in Barcelona. Annett Mängel, geb. 1976 in Rodewisch, Politikwissenschaftlerin und Germanistin, „Blätter“-Redakteurin. Franziska Meyer-Lantzberg, geb. 1990, Politikwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hannover. Arezao Naiby, geb. 1993 in Kabul, Juristin, Redakteurin und Autorin u.a. für das Politikmagazin „Monitor“ und „WDRforyou“. Rita Schäfer, geb. 1965 in Paderborn, Dr. rer. nat., freiberufliche Afrikawissenschaftlerin, Dozentin und Beraterin für Entwicklungsorganisationen. Wladislaw Subok, geb. 1958 in Moskau, Historiker, Professor für internationale Geschichte an der London School of Economics and Political Science. Steffen Vogel, geb. 1978 in Siegen, Sozialwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Janine Walter, geb. 1989 in Neubrandenburg, Politikwissenschaftlerin, Direktorin des Regionalbüros Südliches Afrika der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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Der ewige Berlusconi Ida Dominijanni Russlands neue Zeit der Wirren Wladislaw Subok

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Das RammsteinSyndrom Sonja Eismann Revisionismus als Versuchung Norbert Frei

USA: Mit Sozialpolitik gegen China Grey Anderson Iran: Abschied von der Religion Katajun Amirpur Kita – Krise – Kollaps? Meyer-Lantzberg, Kerber-Clasen, Kutlu Untergang oder Utopie: Der Klimawandel in der Literatur Steffen Vogel