Die Blätter für deutsche und internationale Politik [1 / 2023, 1 ed.]

Die »Blätter« sind die größte politisch-wissenschaftliche Monatszeitschrift im deutschen Sprachraum. Sie erscheinen im E

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Die Blätter für deutsche und internationale Politik [1 / 2023, 1 ed.]

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Blätter

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Einzelheft 11 € Im Abo 7,80/6,20 €

Blätter für deutsche und internationale Politik

Die Privatisierung des Weltalls Max Goldenbaum

Für neue Ein-, Durchund Lichtblicke. Verschenken Sie die »Blätter«!

Die Privatisierung des Weltalls Max Goldenbaum Der neue Materialismus: Wie die ökologische Klasse entsteht Bruno Latour und Nikolaj Schultz

Rechte Systemsprenger Thomas Assheuer Wie pazifiziert man Putin? Herfried Münkler

Der neue Materialismus: Wie die ökologische Klasse entsteht Bruno Latour und Nikolaj Schultz

1’23

Einzelheft 11 € Im Abo 7,80/6,20 €

Die Boomer und der Altenboom Stefan Schulz Tory-Elend ohne Ende Annette Dittert Europa ohne Öffentlichkeit Elisa Simantke und Harald Schumann Wohin gehören die Benin-Bronzen? Manfred Clemenz

Unser Weihnachtspaket – auf blaetter.de

Rechte Systemsprenger Thomas Assheuer Wie pazifiziert man Putin? Herfried Münkler

Die Boomer und der Altenboom Stefan Schulz Tory-Elend ohne Ende Annette Dittert Europa ohne Öffentlichkeit Elisa Simantke und Harald Schumann Wohin gehören die Benin-Bronzen? Manfred Clemenz

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Autorinnen und Autoren 1/2023 Thomas Assheuer, geb. 1955 in Neheim-Hüsten, Germanist, freier Autor und davor Redakteur im Feuilleton der Wochenzeitung „Die Zeit“. Ulrike Baureithel, geb. 1957 in Freiburg, Literaturwissenschaftlerin, freie Journalistin, Mitbegründerin der Wochenzeitung „Der Freitag“. Manfred Clemenz, geb. 1938 in Stuttgart, Dr. phil., Professor em. für Soziologie und Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt a. M.

KRISEN OHNE ENDE. RETTET SICH, WER KANN? GLOBALE SOLIDARITÄT IST FÜR UNS WEG UND ZIEL ZUGLEICH.

Annette Dittert, geb. 1962 in Köln, Auslandskorrespondentin und Filmemacherin, Leiterin des ARD-Studios in London.

Herfried Münkler, geb. 1951 in Friedberg/Taunus, Dr. phil., Professor em. für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Maike Rademaker, geb. 1963 in Lank, Volkswirtin, freie Journalistin. Nikolaj Schultz, geb. 1990 in Aarhus, Soziologe und PhD Fellow an der Universität Kopenhagen. Stefan Schulz, geb. 1983 in Jena, Soziologe, Journalist, Publizist und Podcaster.

Achim Engelberg, geb. 1965 in Berlin, Dr. phil., Historiker, Journalist und Buchautor.

Harald Schumann, geb. 1957 in Kassel, Buchautor und Redakteur beim „Tagesspiegel“.

Max Goldenbaum, geb. 1993 in Berlin, Politikwissenschaftler, Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin.

Elisa Simantke, geb. 1986 in Köln, Journalistin beim „Tagesspiegel“, Editorial Director des europäischen Rechercheverbunds „Investigate Europe“.

Susanne Götze, geb. 1980 in Berlin, Dr. phil., Historikerin, Buchautorin sowie Redakteurin im Hauptstadtbüro des „Spiegel“. Troels Heeger, geb. 1977 in Kopenhagen, Literaturwissenschaftler, Journalist bei „Berlingske Opinion“. Fabian Kretschmer, geb. 1986 in Berlin, Kommunikationswissenschaftler, China-Korrespondent der „taz“ mit Sitz in Peking. Jan Kursko, geb. 1967 in Hildesheim, freier Journalist in Berlin. Bruno Latour, geb. 1947 in Beaune/ Frankreich, gest. 2022 in Paris, Soziologe und Philosoph, war Professor an der Sciences Po in Paris.

VERBINDEN SIE SICH. WWW.MEDICO.DE/VERBINDEN

Matthias Meisner, geboren 1961 in Frankfurt a. M., freier Journalist und Buchautor.

Albrecht von Lucke, geb. 1967, in Ingelheim am Rhein, Jurist und Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur.

Anita Starosta, geb. 1985 in Düsseldorf, Historikerin, Referentin für Syrien, Türkei und Irak bei medico international. Marianne Zepp, geb. 1952 in Rockenhausen, Dr. phil., Historikerin, bis 2016 Programmkoordinatorin für deutschisraelischen Dialog im Israelbüro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv.

Blätter für deutsche und internationale Politik

Monatszeitschrift 68. Jahrgang Heft 1/2023 Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Peter Bofinger . Ulrich Brand Micha Brumlik . Dan Diner Jürgen Habermas . Detlef Hensche Rudolf Hickel . Claus Leggewie Ingeborg Maus . Klaus Naumann Jens Reich . Rainer Rilling Irene Runge . Saskia Sassen Karen Schönwälder . Friedrich Schorlemmer Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin

INHALT 1’23

KOMMENTARE

7 Ukrainekrieg und Klimakrise: Die geschürte Polarisierung Albrecht von Lucke 11 COP27: Weltklima auf verlorenem Posten Susanne Götze 15 China: Die Revolution der leeren Blätter Fabian Kretschmer 19 Erdog˘ans Krieg: Das Ende von Rojava? Anita Starosta 23 Israel: Auf dem Weg in die illiberale Demokratie Marianne Zepp

REDAKTION Anne Britt Arps Dr. Thomas Greven Albrecht von Lucke Annett Mängel Steffen Vogel ONLINE-REDAKTION Tessa Penzel BESTELLSERVICE Tel: 030 / 3088 - 3644 E-Mail: [email protected] WEBSITE www.blaetter.de

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2023

27 Johnson, Truss, Sunak: Tory-Elend ohne Ende Annette Dittert 31 Dänemark: Eine Sozialdemokratie für das 21. Jahrhundert? Troels Heeger 35

Unter der Flagge der Selbstbestimmung: Das Geschäft mit dem Kinderwunsch Ulrike Baureithel

39 Streit ums Sorgerecht: Das umkämpfte Wechselmodell Matthias Meisner

ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

49 Rechte Systemsprenger: Die Politik mit dem Mythos Thomas Assheuer 61

Von Putin bis Erdog˘an: Wie pazifiziert man die Revisionisten? Die Rückkehr der Geopolitik nach Europa Herfried Münkler

75 Das privatisierte Weltall: Die Utopie der Rechtslibertären Max Goldenbaum 83 Für die Bewohnbarkeit des Planeten: Wie die ökologische Klasse entsteht Bruno Latour und Nikolaj Schultz 93 Die Boomer und der Altenboom Wie wir aus der Demographiefalle herauskommen Stefan Schulz 107 Kontinent ohne Öffentlichkeit Europas Krisen und das Versagen der Medien Elisa Simantke und Harald Schumann 117 Wem gehören die Benin-Bronzen, und wohin? Der Streit um die Restitution afrikanischer Kunstschätze Manfred Clemenz DEBATTE

43 Frauen in den Fokus: Der ungehobene Fachkräfteschatz Maike Rademaker

AUFGESPIESST

105 Kubicki mit dem Hackebeilchen Jan Kursko BUCH DES MONATS

123 Von Zeit zu Zeit Rafael Chirbes EXTRAS

5 47 127 128 128

In eigener Sache Kurzgefasst Dokumente Zurückgeblättert Impressum und Autoren

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2023

Wolfgang Abendroth

Ernst Fraenkel

Paul Kennedy

Jan M. Piskorski

Elmar Altvater

Nancy Fraser

Navid Kermani

Samantha Power

Samir Amin

Norbert Frei

Ian Kershaw

Heribert Prantl

Katajun Amirpur

Thomas L. Friedman

Parag Khanna

Ulrich K. Preuß

Günther Anders

Erich Fromm

Michael T. Klare

Karin Priester

Franziska Augstein

Georg Fülberth

Naomi Klein

Avi Primor

Uri Avnery

James K. Galbraith

Alexander Kluge

Tariq Ramadan

Susanne Baer

Heinz Galinski

Jürgen Kocka

Uta Ranke-Heinemann

Patrick Bahners

Johan Galtung

Eugen Kogon

Jan Philipp Reemtsma

Egon Bahr

Timothy Garton Ash

Otto Köhler

Jens G. Reich

Etienne Balibar

Bettina Gaus

Walter Kreck

Helmut Ridder

Ekkehart Krippendorff

Rainer Rilling

Paul Krugman

Romani Rose

Adam Krzeminski

Rossana Rossandra

Erich Kuby

Werner Rügemer

Jürgen Kuczynski

Irene Runge

Charles A. Kupchan

Bertrand Russell

Ingrid Kurz-Scherf

Yoshikazu Sakamoto

In den »Blättern« schrieben bisher Wolf Graf Baudissin

Günter Gaus

Oskar Lafontaine

Saskia Sassen

Fritz Bauer

Heiner Geißler

Claus Leggewie

Albert Scharenberg

Yehuda Bauer

Susan George

Gideon Levy

Fritz W. Scharpf

Ulrich Beck

Sven Giegold

Hans Leyendecker

Hermann Scheer

Seyla Benhabib

Peter Glotz

Jutta Limbach

Robert Scholl

Homi K. Bhabha

Daniel J. Goldhagen

Birgit Mahnkopf

Karen Schönwälder

Norman Birnbaum

Helmut Gollwitzer

Peter Marcuse

Friedrich Schorlemmer

Ernst Bloch

André Gorz

Mohssen Massarrat

Harald Schumann

Norberto Bobbio

Glenn Greenwald

Ingeborg Maus

Gesine Schwan

E.-W. Böckenförde

Propst Heinrich Grüber

Bill McKibben

Dieter Senghaas

Thilo Bode

Jürgen Habermas

Ulrike Meinhof

Richard Sennett

Bärbel Bohley

Sebastian Haffner

Manfred Messerschmidt

Vandana Shiva

Heinrich Böll

Stuart Hall

Bascha Mika

Alfred Sohn-Rethel

Pierre Bourdieu

H. Hamm-Brücher

Pankaj Mishra

Kurt Sontheimer

Ulrich Brand

Heinrich Hannover

Robert Misik

Wole Soyinka

Karl D. Bredthauer

David Harvey

Hans Mommsen

Nicolas Stern

Micha Brumlik

Amira Hass

Wolfgang J. Mommsen

Joseph Stiglitz

Nicholas Carr

Christoph Hein

Albrecht Müller

Gerhard Stuby

Noam Chomsky

Friedhelm Hengsbach

Herfried Münkler

Emmanuel Todd

Daniela Dahn

Detlef Hensche

Adolf Muschg

Alain Touraine

Ralf Dahrendorf

Hartmut von Hentig

Gunnar Myrdal

Jürgen Trittin

György Dalos

Ulrich Herbert

Wolf-Dieter Narr

Hans-Jürgen Urban

Mike Davis

Seymour M. Hersh

Klaus Naumann

Gore Vidal

Alex Demirovic

Hermann Hesse

Antonio Negri

Immanuel Wallerstein

Frank Deppe

Rudolf Hickel

Oskar Negt

Franz Walter

Dan Diner

Eric Hobsbawm

Kurt Nelhiebel

Hans-Ulrich Wehler

Walter Dirks

Axel Honneth

Oswald v. Nell-Breuning

Ernst U. von Weizsäcker

Rudi Dutschke

Jörg Huffschmid

Rupert Neudeck

Harald Welzer

Daniel Ellsberg

Walter Jens

Martin Niemöller

Charlotte Wiedemann

Wolfgang Engler

Hans Joas

Bahman Nirumand

Rosemarie Will

Hans-M. Enzensberger

Tony Judt

Claus Offe

Naomi Wolf

Erhard Eppler

Lamya Kaddor

Reinhard Opitz

Jean Ziegler

Gøsta Esping-Andersen

Robert Kagan

Valentino Parlato

Moshe Zimmermann

Iring Fetscher

Petra Kelly

Volker Perthes

Moshe Zuckermann

Joschka Fischer

Robert M. W. Kempner

William Pfaff

Heiner Flassbeck

George F. Kennan

Thomas Piketty

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2023

...und viele andere.

IN EIGENER SACHE

Liebe Leserinnen und liebe Leser Mit diesem Heft endet in den „Blättern“ eine Tradition, die die Zeitschrift fast seit ihren Anfängen begleitet hat. Seit Januar 1962, sprich: seit unglaublichen 61 Jahren, hat Hans-Waldemar Goldschmidt mit absoluter Zuverlässigkeit und voller Leidenschaft allmonatlich die „Chronik“ der politischen Ereignisse zusammengestellt. Dafür sind wir ihm zu großem Dank verpflichtet. Gerade in Zeiten ohne Internet war diese Übersicht für unzählige Leserinnen und Leser unverzichtbar. Heute sind die Zeiten andere, kann sich jeder digital mit den einschlägigen Daten versorgen – wenngleich auch nicht so treffend journalistisch aufbereitet. Doch mit dem wohlverdienten Ruhestand unseres Autors im zarten Alter von nun 90 Jahren [!] stellen wir diese Rubrik jetzt ein, gerade auch in dem Wissen, dass niemand sie so gut erstellen konnte und könnte wie Hans-Waldemar Goldschmidt. Zum 1. Januar 2023 treten die „Blätter“ in das 20. Jahr ihres Erscheinens in Berlin ein. Und auch hier geht etwas zu Ende: Bereits im Sommer hat Daniel Leisegang – nicht zuletzt, neben Redaktion und Werbung, unser „Mann für alles Digitale“ – unser Projekt nach 17 erfolgreichen Jahren verlassen, um Co-Chefredakteur bei der renommierten Digital-Plattform netzpolitik.org zu werden. Ohne ihn sähen die Blätter heute nicht so aus, wie sie aussehen, mit dem 2006 erneuerten Layout und mehrfach relaunchter professioneller Website. Wir schauen dankbar auf die gemeinsame Zeit zurück und wünschen Dir, lieber Daniel, an neuer Wirkungsstätte alles Gute und weiterhin viel Erfolg! Zugleich sind wir sehr glücklich, dass wir mit Tessa Penzel eine junge, hochengagierte Online-Redakteurin für die „Blätter“ gewinnen konnten. Auch auf diesem Wege noch einmal ein herzliches Willkommen im „Blätter“-Team! Sicherlich gibt es bessere Zeiten als diese, um in ein Jubiläumsjahr zu gehen. Aber als Blattmacher und Redakteurinnen können wir uns unsere Zeit ebenso wenig aussuchen wie Sie, unsere Leserinnen und Leser. Erschwerend kommt hinzu, dass die massive Inflation auch den Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt voll erfasst hat, schon aufgrund der rasant gestiegenen Papier- und nicht zuletzt Energiepreise, die unsere Produzenten und Versender an uns weiterreichen. Da wir jedoch wissen, dass derzeit viele mit den gestiegenen Lebenshaltungskosten zu kämpfen haben, verzichten wir auf die eigentlich wieder erforderliche Erhöhung unserer Bezugspreise. Die letzten Jahre, die unser Engagement mit stetig wachsenden Abozahlen belohnt haben, machen uns dies möglich. Allerdings sehen wir, dass die Krise auch unter unseren (potenziellen) Abonnentinnen und Abonnenten ihren Tribut fordert. Der Zuwachs bei den Bestellungen fällt weit geringer aus als in den Vorjahren, dafür sind die Abbestellungen gestiegen. Noch geht das in keiner Weise an die Substanz.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2023

6 In eigener Sache Dennoch steht und fällt die redaktionelle Unabhängigkeit der „Blätter“ natürlich mit ihrer verlegerischen Unabhängigkeit. Deshalb würden wir uns speziell in diesem Jahr sehr freuen, wenn Sie darüber nachdenken könnten, ob Sie uns nicht mit einem Abonnement unterstützen möchten – als Weihnachtsgeschenk für einen guten Freund oder eine Freundin oder auch eine Tochter oder einen Sohn. Denn eines wissen wir seit vielen Jahren: Unsere größten Werbeträger und Unterstützerinnen sind Sie, unsere treuen Leserinnen und Leser. Deshalb sind wir für jede Empfehlung dankbar. Unsere aktuelle Jahresendaktion – erstens das „Blätter“-Abo, dazu zweitens alle „Blätter“-Texte (seit dem ersten Erscheinen der Zeitschrift 1956) auf einem USB-Stick-Archiv, und drittens eine Buchprämie, entweder der ganz aktuelle, quasi druckfrische Reader der „Edition Blätter“ mit den wichtigsten Texten zum russischen Krieg in der Ukraine oder ein anderes Buch – finden Sie auch unter www.blaetter.de. Das kommende Jahr, soviel dürfte heute schon feststehen, wird kaum weniger problematisch werden als das vergangene. Umso wichtiger ist und bleibt die politische Einordnung. Wir werden unser Bestes geben, auch weiterhin, Monat für Monat, für Sie die entscheidenden Ereignisse zu kommentieren und zu analysieren und neue Perspektiven und Alternativen aufzuzeigen. Nun aber wünschen wir Ihnen, trotz alledem und umso mehr, besinnliche Weihnachtstage und einen guten Start in ein hoffentlich friedlicheres neues Jahr! Ganz herzlich, Ihre „Blätter“-Redaktion Berlin, im Dezember 2022

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2023

KOMMENTARE

Albrecht von Lucke

Ukrainekrieg und Klimakrise: Die geschürte Polarisierung „Gestern standen wir am Abgrund, heute sind wir schon einen Schritt weiter.“ Dieser Sponti-Spruch der 1980er Jahre könnte der passende Kommentar zum Jahreswechsel 2022 auf 2023 sein, wenn uns nicht die Ironie vor zehn Monaten ausgetrieben worden wäre. Allzu oft war in den letzten Jahren von einem annus horribilis die Rede, doch das Horror-Jahr 2022 stellte – jedenfalls aus europäischer Sicht – das Vorangegangene klar in den Schatten. Als vor drei Jahren die Coronakrise begann, wurde diese umgehend als die größte Herausforderung des Kontinents nach 1945 begriffen. Heute sehnen sich viele fast schon in diese Zeit zurück. Deutlicher könnte nicht zum Ausdruck kommen, wie radikal der 24. Februar, der Beginn von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Zeit in ein davor und danach teilt. Russland zerstört mit seinem Bombenterror nicht nur ganz systematisch die Existenzgrundlage der Ukraine, sondern versucht damit auch den Zusammenhalt des Westens und speziell der EU zu untergraben, durch die dadurch ausgelöste Migration und Energiekrise. Faktisch hat das Jahr 2022 unsere gleich vierfache Abhängigkeit schlagend deutlich gemacht: erstens energiepolitisch von Russland, zweitens militärpolitisch von den Vereinigten Staaten, drittens industriepolitisch von China und viertens ökologisch von globalen Natur- und Klimabedingungen, die von einer expansiven Wirtschaftsweise zunehmend zerstört werden. All das führt – außen- wie innenpolitisch – zu einer zunehmenden Radikalisierung und Polarisierung.

Wenigstens einen kleinen Lichtblick zum Ende des Jahres beschert uns das kontrafaktische Denken, zeigt es doch, dass alles noch weitaus schlimmer hätte kommen können. Wäre die Ukraine nicht – aufgrund der US-amerikanischen Ausbildung und Aufrüstung seit 2014 – zu ihrer Verteidigung in der Lage gewesen, stünde Russland heute an der polnischen Grenze und die am 4. Februar zwischen Xi Jinping und Putin verkündete grenzenlose Freundschaft der Autokraten hätte weltweite Ausstrahlung. Keine Rede wäre dann von einer Isolation Russlands dank der Distanzierung wichtiger Staaten, wie auf dem jüngsten G20-Gipfel in Bali geschehen. Stattdessen würden sich die entscheidenden Mächte in der zweiten Reihe – Indien, Indonesien, Brasilien und Südafrika –, klar gen China und Russland orientieren. Denn noch immer sind es die Sieger, die die Geschichte schreiben. Und wenn nicht Donald Trump bei den jüngsten Zwischenwahlen in den Vereinigten Staaten massiv an Zustimmung verloren und den Republikanern eine gewaltige Führungsdebatte beschert hätte, stünde mit Sicherheit Joe Biden, der mittlerweile 80 Jahre alte US-Präsident, voll in der Kritik und damit die Frage im Raum, ob bei der Präsidentschaftswahl 2024 das autoritäre Comeback überhaupt noch zu verhindern sei. Und schließlich drittens: Hätte nicht Lula da Silva mit hauchdünnem Vorsprung die Wahl in Brasilien gegen Jair Bolsonaro gewonnen, wäre dies ein Verhängnis für die Zukunft des Regenwalds und damit auch für die ökologische Zukunft des Planeten.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2023

8 Kommentare Das aber verweist auf die zweite dramatische Entwicklung des Jahres 2022: die Radikalisierung der ökologischen Krise, die immer mehr Richtung Katastrophe tendiert. „Wir sind auf dem Highway zur Klimahölle – mit dem Fuß auf dem Gaspedal“, sagte UN-Generalsekretär António Guterres in seiner Eröffnungsrede auf der Weltklimakonferenz COP27. „Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens – und sind dabei zu verlieren“, so seine ultimative Warnung. Und dennoch konnte von überzeugenden Ergebnissen keine Rede sein, weil nationalstaatlicher Egoismus zum wiederholten Male eine überzeugende globale Lösung verhindert hat. Obwohl rhetorisch unvermindert am Pariser 1,5-Grad-Ziel festgehalten wird, rückt dieses doch immer mehr in weite Ferne.1 Die dramatische klimapolitische Lage spiegelt sich in einer zunehmenden Polarisierung auch in den westlichen Gesellschaften – und in einer immer verzweifelteren Klimabewegung, die in den letzten Monaten vor allem durch die Aktionen der „Letzten Generation“ in Erscheinung getreten ist. Doch so berechtigt das grundsätzliche Anliegen, so fatal in ihrer Wirkung sind die durchgeführten Blockaden von Straßen und Flughäfen. Eine Bewegung, die für sich in Anspruch nimmt, Mensch und Natur retten und bewahren zu wollen, konterkariert ihr eigenes Anliegen, wenn sie die Gefährdung von Menschenleben in Kauf nimmt. Selbst wenn der Tod einer Radfahrerin in Berlin im Ergebnis nicht durch die Straßenblockade der Letzten Generation herbeigeführt wurde, wird durch derartige Aktionen die vorhandene Zustimmung in der Bevölkerung zu intensiverer Klimapolitik nicht vergrößert, sondern verringert. Ja, mehr noch: Die Gegenseite nimmt diese Steilvorlage dankbar auf, wenn etwa CSU-Landesgruppen-

„Opfer fragen sich: Bin ich eigentlich machtlos? Oder kann ich denen eine kleben?“, lautete denn auch die Frage der „Bild“-Zeitung, die massiv an der Empörungswelle gegen die „Klimakleber“ dreht. Der Jurist und „Bild“-Kolumnist Joachim Steinhöfel musste zwar mit Bedauern feststellen, „Ohrfeigen als erste Maßnahme wären wohl unverhältnismäßig“, aber, so sein triumphierendes Resümee, „Notwehr ist ein scharfes Schwert. Sie gestattet alles, was erforderlich ist, um eine Straftat ,sicher und endgültig‘ zu beenden.“ Wie das aussehen könnte, teilt der einschlägig bekannte Medienanwalt Ralf Höcker mit: „Autofahrer dürfen #Klimakleber selbst von der Straße zerren. Sie müssen nicht auf die Polizei warten. Verletzungen, z.B. an den Handflächen der #Klimaaktivisten, sind hinzunehmen und ändern nichts am Notwehrrecht des Autofahrers.“2 Hier zeigt sich: Weil sich der radikale Teil der Klimabewegung durch seine nicht vermittelbaren Aktionen selbst delegitimiert, können seine Gegner eine rhetorische Aufrüstung betreiben, die zunehmend selbst zur Tat drängt.

1 Vgl. dazu den Beitrag von Susanne Götze in dieser Ausgabe.

2 Hendrik Wieduwilt, Warum hilft die Union der „Klima-RAF“?, www.n-tv.de, 25.11.2022.

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chef Alexander Dobrindt eine „Klima-RAF“ an die Wand malt. „Hallo Justizminister! Hallo Innenministerin! Sperrt diese Klima-Kriminellen einfach weg! [...] Täter müssen Konsequenzen spüren“, twitterte ausgerechnet Ex-Verkehrsminister Andreas Scheuer. So unverfroren eine derartige Forderung aus dem Munde eines Mannes ist, der den Staat – und damit die deutsche Bevölkerung – mit seiner verfehlten Mautpolitik Milliarden gekostet und dafür nie Konsequenzen gespürt hat, artikuliert sich hier doch auch ein forcierter Volkszorn, der regelrecht zur Selbstjustiz auffordert. Rhetorische Aufrüstung

Weniger brachial, aber dafür nicht weniger ambitioniert agiert die soeben im CDU-Umfeld gegründete „Denkfabrik für neue bürgerliche Politik“, R21.3 Deren Initiator und Vordenker, der CDU-Historiker Andreas Rödder, bringt die Strategie in einem „Spiegel“-Artikel auf den Punkt.4 Rödder sieht den gesamten Westen in einer historischen Auseinandersetzung mit neuen totalitären Kräften, weshalb er eine neue Eindämmungspolitik nach dem Vorbild des Kalten Krieges fordert: „Die moderne westliche Lebensform [...] sieht sich von innen und von außen herausgefordert. Und so wie es George F. Kennan 1946 postulierte, so muss sich der Westen auch in der neuen Systemauseinandersetzung sowohl auf militärisch-politischer als auch auf gesellschaftlich-kultureller Ebene behaupten.“ Die Ironie der Argumentation besteht darin, dass es Rödder neben der erfolgreichen Außenpolitik des Westens vor allem um dessen Verteidigung nach innen, gegen die neuen Systemgegner von links, geht. Denn, so Rödder: „Das historisch einmalige und zugleich so tief internalisierte Wohlstands- und Freiheitsversprechen des westlichen Gesellschaftsmodells steht unter dem Verdacht [!], die Lebensgrundlagen der Menschheit zu zerstören. Weite Teile der Klimabewegung sehen im Kapitalismus den Verantwortlichen für das drohende Ende der Welt, das an die Stelle des hoffnungsfrohen Narrativs vom ‚Ende der Geschichte‘ nach 1989 getreten ist.“ Rödder negiert hier bewusst die Tatsache, dass für den Klimawandel heute primär der im Kapitalismus angelegte Wachstumszwang verantwortlich ist. Stattdessen stigmatisiert er Kapitalismuskritiker, die die Idee des 3 Vgl. www.denkfabrik-r21.de, siehe dort auch die Aufzeichnung des fünfstündigen Gründungskongresses „Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit?“, www.youtube.com, 7.11. 2022. 4 Andreas Rödder, Die Selbstbehauptung der bürgerlichen Gesellschaft, in: „Der Spiegel“, 47/2022, 18.11.2022.

Kommentare

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Postwachstums verfechten, umgehend als antibürgerliche, ja sogar antimoderne Ideologen: „Vorstellungen von ‚Verlust als Gewinn‘, ‚Degrowth‘ oder ‚anderem Wachstum‘ suchen die Lösung für die Probleme der marktwirtschaftlichen Moderne nicht mit ihren eigenen Mitteln, das heißt durch Entwicklung und Einsatz neuer Technologien. Sie setzen auf eine Revision der wachstumsorientierten Marktwirtschaft, die mit weitreichenden staatlichen Regulierungen einer ‚Großen Transformation‘ einhergehen soll.“ Anstatt also die globale Klimakrise in ihrer ganzen Radikalität zur Kenntnis zu nehmen, was auch bedeuten würde, grundsätzliche Denkansätze nicht nur zuzulassen, sondern sogar zu fördern, schließt Rödder von vornherein jede Lösung aus, die über die „Entwicklung und den Einsatz neuer Technologien“ hinausgeht. Dadurch schrumpft die westliche Moderne zu einer kapitalistisch-marktwirtschaftlichen – alles was darüber hinausdenkt, liegt für Rödder nicht mehr im Rahmen des demokratisch Zulässigen. Verengung des Diskursraums Das ist natürlich eine völlig unzulässige Verengung des Denk- und Diskursraums. Damit unternimmt die neue Denkfabrik genau das, was sie der Linken vorwirft, dass „legitime Positionen aus dem Diskurs ausgeschlossen werden“.5 Um diesen Eindruck zu erhärten, bedient sie sich des neuen Kampfbegriffs der „Wokeness“, unter dem sich angeblich die diversen linken Bewegungen zu einer großen Erziehungsdiktatur versammeln.6 Dabei wird der Begriff Wokeness bisher von der bundesrepublikanischen Linken gar nicht nennenswert benutzt. Vielmehr handelt es sich um einen klassischen „Containerbegriff“, unter dem 5 Gespräch mit Andreas Rödder in der Sendung „Politikum“, www.wdr.de, 24.11.2022. 6 Vgl. das Gründungskongress-Video, a.a.O.

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10 Kommentare sich jeder etwas Anderes vorstellen kann und in den fast alles hineinpasst – also ein idealer Kampfbegriff. „Die Debatten um Cancel Culture, Identitätspolitik und Wokeness legen nicht weniger als die Systemfrage auf den Tisch“, so Rödders pauschalisierende Kritik bereits in einem früheren „Spiegel“-Essay.7 Nun aber dreht der politisierende Professor den Spieß um und stellt selbst die Systemfrage: Seiner Logik zufolge haben wir es bei all jenen, die über das marktwirtschaftliche Fortschritts- und Wachstumslogik hinausdenken, faktisch mit Systemgegnern zu tun – was umgehend den Beifall von Jens Spahn hervorruft: „Das klingt alles wie Bullerbü, das ist aber am Ende Planwirtschaft, die im Extremfall in eine Klimadiktatur führt“, popularisierte der Ex-Gesundheitsminister prompt die R21-Thesen bei einer Veranstaltung der Jungen Union. Diese maximale Diskreditierung abweichender Meinungen hat mit der behaupteten Verteidigung des Grundgesetzes nichts zu tun, da dieses gerade keine spezifische Wirtschaftsordnung vorschreibt. Offensichtlich stellt die „kapitalistische Moderne“ derzeit nicht die tauglichen Mittel zur Bekämpfung der ökologischen Krise zur Verfügung, so das Ergebnis der COP27. Insofern trifft die Beweislast, wie der Krise Abhilfe zu schaffen wäre, diejenigen, die dem immer gleichen Konsum- und Wachstumsmodell das Wort reden, das uns diese Krise doch gerade erst beschert hat. Im Kern geht es um eine entscheidende Frage: Akzeptieren wir die notwendige Begrenzung unserer Freiheit, die der Club of Rome bereits mit Erscheinen der „Grenzen des Wachstums“ vor 50 Jahren anmahnte, oder akzeptieren wir sie nicht – koste es, was es wolle, und zwar insbesondere, aber längst nicht nur, die Ärmsten und Verletzbarsten. 7 Andreas Rödder, Identitätspolitik und Cancel Culture: Wo bleiben die Gegenkonzepte aus der Mitte der Gesellschaft?, in: „Der Spiegel“, 52/2020, 18.12.2020.

Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2023

Bisher werden auf den Klimagipfeln die Verbrauchswerte nur national verglichen und verhandelt. Dabei hat bereits 2020 ein Bericht von Oxfam gezeigt, dass die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung – ganz unabhängig von ihrer Nationalität – für über die Hälfte der Emissionen verantwortlich sind und dass das reichste eine Prozent das Klima doppelt so stark schädigt wie die ärmere Hälfte der Menschheit zusammen. Die Frage des Ressourcenverbrauchs entpuppt sich damit als die zentrale ökologische Gerechtigkeitsfrage, die über die Zukunft der kommenden Generationen entscheidet. Darüber muss diskutiert werden können, ohne dass daraus bereits eine Systemgegnerschaft oder gar der Weg in die Ökodiktatur gemacht wird. Eine solche rhetorische Aufrüstung steht in einer fatalen Tradition. Im vergangenen Jahrhundert gab es zwei Epochen radikaler Polarisierung: die 1920er Jahre, die am 30. Januar 1933 mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten endeten, und von deren mörderischem Radikalismus wir zum Glück weit entfernt sind, und die 1970er Jahre, das „Rote Jahrzehnt“ (Gerd Koenen), das mit dem Terror der RAF im „Deutschen Herbst“ 1977 endete. Erst dann setzte auf der radikalen Linken schockartig die Besinnung ein. Dem vorausgegangen war aber auch eine Phase maximaler Konfrontation und Verständnislosigkeit seitens der Konservativen gegenüber der jungen Generation, was wiederum die Polarisierung von links nur verstärkte. Es wäre daher verheerend, wenn treibende Kräfte in der Gesellschaft heute wieder diesen Weg gingen. An die Stelle rhetorischer Aufrüstung muss endlich eine offene Debatte über die notwendigen Antworten auf die dramatischen Krisen treten – auch mit dem politischen Gegner. Vielleicht ließe sich dann ja sogar am Ende des Jahres 2023 sagen: „Gestern standen wir am Abgrund, heute sind wir einen Schritt zurückgetreten.“



Kommentare

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Susanne Götze

COP27: Weltklima auf verlorenem Posten Ein Treffen von 34 000 Menschen in klimatisierten Zelten mitten in der Wüste, an einem Ort, der ohne Flugzeug nicht erreichbar ist, und in einem Land, in dem Menschenrechte und Pressefreiheit nicht respektiert werden. Das war die 27. UN-Klimakonferenz im ägyptischen Scharm el-Scheich, die COP27. Nicht nur das Setting, sondern auch die Ergebnisse dieses zweiwöchigen Gipfels verraten viel darüber, wie die Weltgemeinschaft derzeit mit ihrer größten Bedrohung umgeht: dem Klimawandel. Die letzten Tage der Konferenz, die am Morgen des 20. November 2022 endete, waren ein geopolitisches Ränkespiel, das in einer lauwarmen Gipfelerklärung mündete. Dies zeigte überdeutlich, in welcher Krise die internationale Diplomatie steckt und wie nationale Interessen, ob militärisch oder wirtschaftlich, eine konstruktive Zusammenarbeit blockieren: Bei einem nächtelangen Armdrücken zwischen den USA und der EU auf der einen, China und einer Gruppe von Entwicklungsländern sowie ölproduzierenden Staaten wie Saudi-Arabien auf der anderen Seite, ging es um das ohnehin kaum mehr zu haltende 1,5-Grad-Ziel, um fossile Energien, Gas als Brückentechnologie, gebrochene Versprechen bei den Klimahilfen für arme Länder und darum, wer die Schuld am Klimawandel trägt. Ukrainekrieg, Energiekrise und die Folgen der Pandemie haben das Momentum nach der Klimakonferenz in Glasgow 2021 ausgebremst. Anstelle des gemeinsamen Handelns tritt der Rückzug auf eigene Interessen. An Ausreden dafür mangelt es nicht: Die einen müssen russisches Gas ersetzen,

um ihre Speicher zu füllen, die anderen Millionen Haushalte elektrifizieren. Jeder fordert Verständnis ein und keiner tut genug. Um das Drama komplett zu machen, sind die Folgen der Klimakrise in vielen Ländern mittlerweile deutlich spürbar. Auch das haben die vergangenen zwölf Monate gezeigt: gewaltige Überflutungen in Pakistan, monströse Stürme im Pazifik und im Westatlantik oder die Dürren in Europa und Nordamerika. Forscher verfügen über immer detailliertere Kenntnisse darüber, welchen Anteil der Klimawandel an diesen Ereignissen hat. Die Katastrophe ist messbar geworden, aber die Ursachenbekämpfung – der Klimaschutz – steckt immer noch in den Kinderschuhen, während gleichzeitig Tausende Ölpumpen weltweit sich weiter heben und neigen, Frackingtürme Gas aus dem Untergrund pressen und schwarze Kohle aus den Stollen gebrochen wird. Das Resultat der 27. Klimakonferenz spiegelt all diese Probleme wider, ist ein Abbild für die Abkehr vieler Länder vom Weg hin zur Klimaneutralität. So geriet die Abschlusserklärung zur Absage an den Ausstieg aus fossilen Energien. Explizit erwähnt wird weiterhin nur das Herunterfahren der Kohle – ein Copy-and-Paste des Glasgow-Pakts. Dabei hätte es allen Anlass gegeben, darüber hinauszugehen, etwa weil Indien – für viele überraschend – einen schrittweisen Ausstieg aus allen fossilen Brennstoffen forderte. Auch Großbritannien, die EU und ärmere Staaten plädierten dafür. Der Vorschlag konnte sich aber nicht durchsetzen, vor allem wegen des Widerstands arabischer Staaten, die erklär-

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12 Kommentare ten, man solle sich auf Emissionen, nicht aber auf Energiequellen konzentrieren. Immerhin wird im Abschlussdokument erstmals auf erneuerbare Energien verwiesen. Doch die deutsche Energiewende zeigt, was passiert, wenn mit dem Ausbau von Wind- und Sonnenenergie nicht gleichzeitig auch Kohle, Öl und Gas heruntergefahren werden. Ein Parallelsystem nützt dem Klima wenig. Lasche Klimaziele Auch über das 1,5-Grad-Ziel stritten die Länder erbittert. Zwar hatten die G20 in Bali bekräftigt, daran festhalten zu wollen, doch dann versuchten einige Länder auf der COP mit Hilfe der ägyptischen Präsidentschaft, das Temperaturziel in letzter Minute zu streichen. Dieses wurde von EU und westlichen Staaten zwar wieder ins Abschlussdokument hineinverhandelt – aber in den Abschnitt über die Wissenschaft verschoben, während es in Glasgow an zentralerer Stelle stand. Bei aller Kritik daran ist der Streit um das Temperaturziel aber auch aberwitzig: Bereits im Jahr 2021 wurden weltweit 1,1 Grad durchschnittliche Erwärmung über dem vorindustriellen Wert erreicht. Klimaforscherinnen und -forscher gehen davon aus, dass die 1,5-Grad-Marke bereits in den nächsten Jahren dauerhaft überschritten werden könnte.1 Das Festhalten an dem Ziel hat bestenfalls noch symbolischen Charakter, um schnelle Einsparungen anzumahnen. Doch die sind ohnehin geboten, da laut Klimaforschern jedes Zehntelgrad zählt. Allerdings haben nur knapp 30 Länder seit 2021 überhaupt neue nationale Klimaziele beim Weltklimarat eingereicht, und nur wenige davon bedeu1 Four key climate change indicators break records in 2021, www.public.wmo.int, 18.5.2022; Susanne Götze, Kritische Schwelle der Erderwärmung könnte schon 2030 gerissen werden, www.spiegel.de, 9.8.2021.

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ten eine echte Ambitionssteigerung. Einzig die EU sorgte auf der Konferenz kurzfristig für Aufsehen, weil sie ihr Klimaziel von 55 auf 57 Prozent Einsparung bis 2030 aufstockte. Selbst das ist nicht genug – für das 1,5-Grad-Ziel müsste die EU 65 Prozent einsparen –, aber sie konnte damit dennoch glänzen, weil sonst kaum jemand etwas anzubieten hatte. Enttäuschend war auch das sogenannte Arbeitsprogramm zur Treibhausgasreduktion. Nach sehr kontroversen Diskussionen einigten sich die Staaten in Ägypten auf einen losen Fahrplan bis 2030: Es soll unter diesem Programm keine neuen Klimaziele geben, dafür aber eine regelmäßige Berichterstattung über die nationalen Klimapläne. Unklar ist jedoch, ob das wirklich etwas bringt. Es klingt nach dem Motto: „Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis.“ Wenig Ambitionen, lasche Klimaziele, und dann machte dem Gipfel auch noch die Renaissance der Fossilen zu schaffen. Gefragt, wovor er am meisten Angst habe, sagte der Präsident der COP27, der ägyptische Außenminister Sameh Shoukry: „Dass die Länder den einfachsten Weg nehmen und in ihren Ambitionen zurückfallen.“ „Backsliding“ war denn auch das meistgebrauchte Wort auf der Konferenz. Ursprünglich beschrieb es im Englischen den Abfall vom christlichen Glauben und den Rückfall in einen sündhaften Zustand. Bei Klimakonferenzen bedeutet „Backsliding“ das Zurückfallen beim Klimaschutz und das Einreißen von Zielen und Versprechen, die mühsam erkämpft wurden – den Rückfall in den Sündenpfuhl von massiver Öl-, Gas- und Kohleverbrennung. Noch nie wurde auf einer Klimakonferenz gleich zu Beginn so viel davor gewarnt. Deshalb schrieben einige NGOs wie Germanwatch nach der Konferenz fast erleichtert: „Weltgemeinschaft rettet wesentliche Elemente für globalen Klimaschutz.“ Von Fortschritten war da schon keine Rede mehr.

Bezeichnend ist auch, dass der einzige echte Erfolg der COP27 nicht beim Klimaschutz, sondern bei der Abmilderung von Klimafolgen erreicht wurde. Erstmals einigten sich die rund 200 beteiligten Staaten auf Kompensationen für Verluste und Schäden aufgrund des durch den Klimawandel verursachten Extremwetters. Bis zur nächsten COP Ende 2023 soll es eine finanzielle „Unterstützungsstruktur“ für die durch den Klimawandel verwundbarsten Länder geben. Damit wurde die wichtigste Forderung der armen Staaten erfüllt, die bereits heute unter den Klimafolgen leiden. Unklar bleibt jedoch, wer in den Geldtopf einzahlen soll und wer am Ende wirklich ein Anrecht auf solche Hilfen hat. Trotz großen Drucks ist es der EU und der deutschen Delegation nicht gelungen, die Formulierung einer „breiten Geberbasis“, die auch China einbeziehen würde, durchzusetzen. Auch über die Höhe von Einzahlungen besteht noch keine Klarheit. Wer ist Täter, wer ist Opfer? Wer zahlt, war am Ende umstrittener als die Errichtung eines neuen Fonds. Dahinter steckt die Gretchenfrage der Klimakonferenzen: wer Täter und wer Opfer ist, wer geben kann und wer bedürftig ist. Die EU und Deutschland beharrten zu Recht darauf, dass China die USA in ein paar Jahren auch bei den historischen Emissionen überholen wird. China ist schlicht kein bedürftiges Entwicklungsland mehr. Allerdings argumentiert Peking mit der historischen Verantwortung der USA und Europas, pro Kopf gerechnet seien die chinesischen Emissionen zudem viel niedriger. Die chinesische Delegation tat deshalb alles, um sich hinter der G77 – einer Gruppe aus mehr als 130 Entwicklungsländern – zu verstecken. Die USA wiederum blockierten lange, weil sie keine zusätzlichen Staatsgelder für Klimahilfen haben –

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weder jetzt noch künftig, auch wegen wackliger Mehrheiten im Kongress. Eine verfahrene Situation also, in der es teils zu schmutzigen Erpressungen kam. So berichteten mehrere Beteiligte, dass ärmere Länder sich aufgrund von wirtschaftlichen Abhängigkeiten nicht trauten, gegen China aufzubegehren. Viele von ihnen sind bei Peking hoch verschuldet und nutzen chinesische Infrastruktur. „Manche könnten im Dunkeln sitzen, wenn sie hier gegen China aufbegehren“, hieß es von Verhandlern. Diese Geiselhaft versuchte die EU bis zum Ende zu durchbrechen – doch ohne Erfolg. Fortschritte gab es immerhin beim Umbau der Finanzwelt. Erstmals forderte die COP eine Reform der multilateralen Entwicklungsbanken und der internationalen Finanzinstitutionen wie dem IWF oder der Weltbank. Sie sollen die Folgen der Klimakrise und den Klimaschutz in ihre Finanzpolitik einpreisen. Das Verblüffende: Der erste Vorschlag dazu kam von der Premierministerin von Barbados, Mia Mottley – also von der Vertreterin eines kleinen, einflusslosen Landes. Doch recht schnell erhielt sie prominente Unterstützung, etwa von Frankeich, Großbritannien, Deutschland aber auch den USA. Der US-Klimagesandte John Kerry erklärte in Scharm el-Scheich, er halte die Reform der Entwicklungsbanken für „absolut entscheidend“. Ärmere Länder sollen durch eine solche Reform etwa einen vereinfachten Zugang zu Krediten bekommen, und es soll leichter werden, an Garantien für Investoren zu gelangen. Dabei geht es etwa um den Bau von Windund Solarparks oder den Wiederaufbau nach einem Extremwetter. Dieses Bekenntnis könnte mehr Gelder mobilisieren, als die Staaten in den nächsten Jahren bereitstellen wollen. Das Problem ist allerdings, dass arme Länder bisher ein extrem schlechtes Ranking auf internationalen Finanzmärkten haben, weil ihre politischen Strukturen instabil sind, oder

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14 Kommentare ihre Wirtschaftskraft gering ist. „Es macht einen Unterschied, ob ich 1,4 oder zehn Prozent Zinsen zahle – und das sind aktuell die Unterschiede zwischen einem reichen und einem armen Land“, sagte Avinash Persaud, Klimasondergesandter von Barbados. „Würden Sie als Privatperson einen Kredit mit einem Zinssatz von zehn Prozent aufnehmen?“, fragte der Ökonom kopfschüttelnd. Auch forderte Barbados, nach einer Katastrophe die Tilgung von Schulden auszusetzen. Außerdem soll ein Treuhandfonds mit 500 Mrd. Dollar aufgesetzt werden, mit dem der Bau von Wind- oder Solarparks abgesichert werden kann. Den Zuschlag könnten dann solche Projekte erhalten, die am meisten CO2 einsparten, meint Persaud. Das könnte Investoren motivieren, in „unsicheren“ Ländern, etwa in Afrika, zu bauen. Denn der Finanzbedarf wird in den kommenden Jahren riesig sein. Der Globale Süden benötigt im Kampf gegen die Klimakrise bis 2030 jährlich 2,4 Bill. Dollar, wie ein Bericht um den britischen Ökonomen Nicholas Stern eindrücklich zeigt, der auf der Konferenz vorgestellt wurde. Sie werden für die Energiewende, den Kohleausstieg, die Anpassung an Dürren, Stürme und Starkregen gebraucht und für die Folgen von Naturkatastrophen. Rund eine Billion Dollar müsste aus Industrieländern, aber auch von Investoren und Entwicklungsbanken kommen, heißt es weiter. Eine Billion pro Jahr: Das sind tausend Milliarden. Aktuell zahlen die reichen Länder pro Jahr nicht mal hundert Milliarden Dollar an den Süden. Die Lücke zwischen Ankündigungen und dem tatsächlichen Bedarf wird derzeit rasend schnell größer. Erstmals bekamen immerhin die Just Transition Partnerships größere Bedeutung zugesprochen. Das sind Abkommen für die Unterstützung der Energiewende und einen Kohleausstieg. So wollen westliche Ländern wie die USA, Deutschland oder Großbri-

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tannien künftig Indonesien und Ägypten finanziell unterstützen; Gespräche laufen auch mit Vietnam und Indien. Und die G7-Länder stellten einen Schutzschirm für ärmere Länder gegen Klimarisiken vor, in den bisher allerdings lächerlich wenig Geld fließt. Es wäre deshalb zu einfach, das Treffen bloß als Scheitern zu verbuchen. Es gab kleine Schritte nach vorn und ein ständiges Abwehren von Rückschlägen. Doch unterm Strich reicht das alles nicht aus. Die Probleme werden mit jedem Jahr größer, sie wachsen schneller, als die Staatengemeinschaft reagiert. Hätten die Länder sich bereits im Jahr 2000 auf ein Pariser Klimaabkommen geeinigt und sich dann in diesen Trippelschritten vorwärts bewegt, wäre das vielleicht noch gutgegangen. Doch sie brauchten 21 Klimakonferenzen, bis sie überhaupt ein Abkommen beschlossen. Auch das ist mittlerweile nun schon sieben Jahre her, und der CO2-Ausstoß stagniert auf hohem Niveau. Dabei müssen die Emissionen bis 2030 um fast die Hälfte sinken, um die Temperaturziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen – in nur noch acht Jahren. Jetzt geht es nach dem Motto: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Die Welt verfügt spätestens seit der Klimakonferenz in Glasgow über ein Regelbuch zum Pariser Abkommen. Es ist seitdem klipp und klar, wie die Staaten ihre Emissionen senken müssen. Die Lösungen sind bekannt. Die Weltklimakonferenz in Scharm el-Scheich hätte deshalb die erste werden sollen, bei der es um die Umsetzung geht – und nicht nochmals alle Konflikte aufgerollt werden. Doch genau das trat ein: Die westlichen Länder zahlen nicht genug Klimahilfen, China ist nicht bereit, global Verantwortung zu übernehmen, und die arabischen Länder wollen ihr fossiles Geschäftsmodell retten. Und es steht zu befürchten, dass es bei der COP28 Ende 2023 nicht besser werden wird – denn dann tagen die Klimadiplomaten ausgerechnet in Abu Dhabi.



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Fabian Kretschmer

China: Die Revolution der leeren Blätter In der Nacht von Sonntag auf Montag, den 28. November, wehte der Wind des Wandels durch die chinesische Hauptstadt. Wie aus dem Nichts versammelten sich hunderte, möglicherweise sogar über tausend junge Chinesinnen und Chinesen im Pekinger Botschaftsviertel und hielten ein leeres Blatt Papier vor ihre Brust, unbeschrieben und weiß. Doch die Botschaft ihres symbolischen Protests verstand jeder der Anwesenden sofort: Die Din A4-Zettel stehen für all das, was die Menschen sagen wollen, jedoch nicht dürfen. „Wir wollen Freiheit, wir wollen Menschenrechte!“, schreit die Menge immer wieder. Eine Frau, die ihre Coronamaske abgenommen – und damit auch die Furcht vor den Überwachungskameras überwunden – hat, ruft laut in die Nacht: „China ist ein Land, keine Partei!“ Von den Massen erhält sie jubelnden Zuspruch. Die anwesenden Sicherheitskräfte bleiben auf Distanz und schreiten nicht ein. Noch nicht. Erst am nächsten Tag schlägt die staatliche Gewalt mit voller Wucht zurück. Am Ort des Geschehens, wo noch vor wenigen Stunden die Menschen politischen Wandel gefordert hatten, patrouillieren nun Polizisten in Mannschaftsstärke. Im Radius von mehreren Kilometern wachen zudem Beamte in Zivil an den Straßenkreuzungen. Selbst aus der Ferne sind sie leicht zu erkennen – an ihren weißen N95-Coronamasken, die die Regierung an ihre Bediensteten ausgibt. Und so blieben die ersten politischen Proteste in der chinesischen Hauptstadt seit den 1990er Jahren notgedrungen nur ein kurz Aufflackern. Für einen Moment haben sie jene kritischen Stimmen sichtbar gemacht, die unter Staats-

präsident Xi Jinping bislang stumm blieben. Die Weltöffentlichkeit erinnert sich jährlich am 4. Juni an die blutige Niederschlagung der Studierendenbewegung vom Pekinger Tian‘anmen-Platz im Jahr 1989. Damals zog die Jugend des Landes, später unterstützt durch Arbeiter und Bauern, für mehr Mitbestimmung und gegen Korruption auf die Straßen. Die Parteiführung ließ daraufhin die Panzer der Volksbefreiungsarmee anrollen. Ein über Jahre angestauter Frust Seither hat es immer wieder Proteste im Land gegeben. Doch meist handelte es sich um regionale Konflikte, um ein Aufbegehren gegen schlechte Arbeitsbedingungen oder Umweltskandale. Diesen Winter jedoch ist es anders: Erstmals seit Jahrzehnten haben junge Menschen wieder gegen die Verhältnisse im Land aufbegehrt, kam es zu einer breiten Form von politischem Widerstand im öffentlichen Raum, der sich in nahezu allen Landesteilen zeigte. Der Frust hat sich über Jahre angestaut. Die Gängelungen der Partei, die dystopische Überwachung und die immer erdrückendere Zensur: Fast sämtliche autoritäre Tendenzen, die seit dem Amtsantritt von Staatschef Xi Jinping zu beobachten waren, haben sich im Zuge der Pandemie auf ein unvorstellbares Maß verschärft. Manifestiert haben sie sich in Form einer „Null Covid“-Politik, die spätestens seit Jahresbeginn 2022 aus dem Ruder gelaufen ist: Ganze Städte wurden über Nacht abgeriegelt, die Bewohner über Wochen in ihre Wohnun-

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16 Kommentare gen gesperrt, das gesamte Land strikt vom Rest der Welt isoliert. In der Millionenmetropole Schanghai etwa implementierte der dortige Bürgermeister und Technokrat Li Qiang im vergangenen Frühjahr den wohl weltweit größten Covid-Lockdown, bei dem die meisten der über 25 Millionen Einwohner zwei Monate in ihren Wohnungen und zu Hunderttausenden in unwürdigen Quarantänelagern eingesperrt wurden. Das sorgte nicht nur für unfassbares Leid, da zwischenzeitlich die Nahrungsmittelversorgung in Chinas wohlhabendster Stadt zusammenbrach. Vor allem war der Lockdown auch ein riesiger ökonomischer Schlag gegen die Finanzmetropole, von dem sie sich womöglich nie mehr ganz erholen wird. Damals hätte jeder Experte vermutet, dass Li Qiangs Karriere aufgrund dieses traumatischen Desasters beendet sein würde. Doch das System Xi Jingpings belohnte ihn für seine dogmatische Art sogar noch: Auf dem 20. Parteitag der KP Chinas im vergangenen Oktober wurde er nicht nur in den Ständigen Ausschuss des Politbüros der Partei – und damit in das oberste Führungsgremium des Landes – berufen, sondern gar zum zweitmächtigsten Mann, zum künftigen Premierminister des Riesenreiches, befördert. Seine Leistung bestand schlicht darin, absolut loyal Pekings Befehle ausgeführt zu haben. Darauf kommt es unter Xi an: absolute Loyalität statt Pragmatismus oder Fachkompetenz. Für Außenstehende sind die Gängelungen durch die Corona-Maßnahmen in China nur schwer vorstellbar: In sämtlichen Städten mussten die Bewohner alle 72 Stunden zum PCRTest anstehen, um überhaupt in einen Supermarkt eingelassen zu werden. Selbst der Gang ins Büro wird per „Gesundheitscode“ am Smartphone digital registriert. Und auch in den eigenen vier Wänden ist der Alltag von einer tiefsitzenden Ungewissheit geprägt: Am nächsten Morgen können

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bereits die Seuchenschutzmitarbeiter in ihren Ganzkörperanzügen vor der Wohnungsanlage stehen und die Türen verriegeln. Für einen mehrtägigen Lockdown reicht schließlich bereits ein Corona-Fall in der gesamten Nachbarschaft aus. Und immer wieder haben die Lockdowns auch Tote gefordert. Im Wochentakt zirkulierten Nachrichten auf den sozialen Medien über Notfallpatienten, die aufgrund der rigiden Ausgangssperren nicht rechtzeitig ins Krankenhaus gelassen wurden. Im September 2022 sind zudem 27 Chinesen verunglückt, als sie von einem Bus mitten in der Nacht, während der die Schnellstraßen eigentlich für den Busverkehr gesperrt sind, mit überhöhter Geschwindigkeit in ein Quarantänelager gefahren wurden. Die Tragödie, die das Fass zum Überlaufen gebracht hat, war der Wohnungsbrand in der nordwestchinesischen Stadt Ürümqi, bei dem mindestens zehn Menschen ums Leben kamen. Vieles deutet daraufhin, dass auch sie Opfer der exzessiven Lockdowns wurden: Auf sozialen Medien berichteten Anwohner, dass ihre Notausgänge verriegelt waren und sich die Rettungskräfte quälend lange durch Metallzäune und Straßensperren kämpfen mussten. Über 100 Tage befand sich die Stadt da bereits im Corona-Lockdown. Aus einem Trauermarsch wird politischer Protest Wenige Stunden nach dem Unglück durchbrachen die Menschen erstmals die Fesseln der repressiven „Null Covid“-Politik. Zunächst zogen die Bewohner Ürümqis in einem Trauermarsch durch die Straßen, später folgten die Studierenden an den Universitäten. Auch sie waren immer wieder unter dem Vorwand des Corona-Schutzes für Monate auf ihrem Campus eingesperrt worden – vollständig abgeschnitten vom öffentlichen Leben.

In Shanghai wurde aus einem Trauermarsch dann plötzlich politischer Widerstand. Weit nach Mitternacht, als die jungen Menschen noch immer auf ihrer Versammlung in der ehemaligen französischen Konzession ausharrten, ruft ein junger Mann plötzlich: „Nieder mit Xi Jinping, nieder mit der Partei!“ Für ein Land, in dem die Leute den Namen des Generalsekretärs der KP China sonst nicht einmal im Flüsterton auszusprechen wagen, ist dies geradezu unerhört. Damit forderten die Protestierenden die Staatsführung das erste Mal seit Jahren direkt heraus. Diese antwortete – wenig überraschend – mit Einschüchterung und Verhaftungen. „Wir müssen hart gegen Infiltration und Sabotage feindlicher Kräfte durchgreifen“, hieß es in einer ersten Stellungnahme der Partei. Sie liest sich wie eine Warnung, die für viele zur traurigen Wirklichkeit wird: In Shanghais U-Bahnen und Straßenzügen hielten Polizisten gezielt nach jungen Menschen Ausschau, filzten ihre Smartphones, löschten kritische Aufnahmen und ausländische Apps. Zynischerweise nutzt der Staat ausgerechnet jene digitalen Überwachungsmethoden, die er während der Pandemie implementiert hat – nur um diesmal keine Corona-Infizierten auszuforschen, sondern unliebsame Kritikerinnen und Kritiker. Nicht wenige jener Chinesen, die an den Protesten teilgenommen hatten, erhielten in den nächsten Tagen Anrufe von der Polizei; manche wurden wenig später inhaftiert. Klar ist: Mit den Einschüchterungen sollen die politischen Forderungen zum Verstummen gebracht werden. Doch die Repressionen bilden nur einen Teil der staatlichen Maßnahmen. Tatsächlich haben die Proteste sehr wohl dazu geführt, dass die Regierung ihre „Null Covid“-Politik gelockert hat. Nur wenige Tage nach den Unruhen sprach Chinas Vize-Premierministerin Sun Chunlan, von vielen als „Lockdown-Lady“ verschrien, plötzlich von

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einer „neuen Phase“ der Pandemie: „Da die Omikron-Variante weniger pathogen geworden ist, mehr Menschen geimpft werden und wir mehr Erfahrungen in der Covid-Prävention gesammelt haben, befindet sich unser Kampf gegen die Pandemie in einem neuen Stadium und bringt neue Aufgaben mit sich“, sagte die 72jährige. Pandemische Kurskorrektur Und in der Tat begannen einige Städte nur Stunden später mit den ersten Öffnungen: Im südchinesischen Guangzhou etwa wurden die Schulen wieder aufgeschlossen, die stadtweiten Massentests suspendiert und die meisten Lockdowns aufgehoben. Auch die Provinzhauptstädte Zhengzhou und Chongqing zogen mit ähnlichen Lockerungen nach. Und selbst in Peking, dem politischen Machtzentrum des Landes, dürfen sich seit Freitag Infizierte erstmals in den eigenen vier Wänden isolieren und werden viele PCR-Teststationen geschlossen, während die Geschäfte wieder öffnen. Praktisch drei Jahre, nachdem der erste Coronapatient in Wuhan identifiziert wurde, hat Chinas Staatsführung nun also zur pandemischen Kurskorrektur angesetzt. Ob die „Null Covid“-Politik nun vollkommen verabschiedet oder nur „flexibler umgesetzt“ wird, wie es im offiziellen Narrativ heißt, wird sich zeigen müssen. Doch es scheint, dass die Volksrepublik ihre Bevölkerung mental auf das „Leben mit dem Virus“ vorbereiten möchte. Der Propagandaapparat stellt dafür bereits die Weichen. „Chinesische Wissenschaftler haben bewiesen, dass die Pathogenität von Omikron im Vergleich zu früheren Varianten deutlich abgenommen hat!“, lautete etwa eine Schlagzeile der Parteizeitung „Global Times“ von Anfang Dezember. Was keine Neuigkeit ist, muss in China als „Eilmeldung“ präsentiert werden, damit niemand der 1,4 Milliarden Chi-

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18 Kommentare nesinnen und Chinesen auf die Idee kommt, dass Xi Jinpings Prestigeprojekt „Null Covid“ möglicherweise gescheitert sei. Ein Erfolg bleibt den Chinesen unbenommen: Im Vergleich zu den meisten anderen Ländern hat man im Reich der Mitte die tödliche Welle der DeltaVariante nahezu ohne Virustote überstanden. Die nun eingeleitete Öffnung erfolgt dabei weniger aus innerer Überzeugung denn auf äußeren Druck hin: Die jüngste Protestbewegung hat Peking vor Augen geführt, dass die Geduld der Menschen nach über zweieinhalb Jahren „Null Covid“ am Ende ist. Zwei Millionen Virustote befürchtet Damit aber steht die Bevölkerung in den nächsten Wochen und Monaten vor immensen Herausforderungen. Da die Lokalregierungen seit zwei Jahren ihre Gelder vor allem für die täglichen Massentests oder den Bau von Quarantänezentren ausgegeben haben, reicht die Anzahl an Notfallbetten in den Krankenhäusern weiterhin nicht für den Ernstfall. Der nur langsame Ausbau des Gesundheitssystems dürfte sich nun rächen: Es kursieren bereits mehrere Prognosen darüber, wie viele Menschenleben ein unkontrollierter Virusausbruch im Reich der Mitte fordern könnte. Allesamt sind ernüchternd: Das in London ansässige Unternehmen „Airfinity“ etwa geht von 1,3 bis 2,1 Millionen Toten aus. Gemindert werden könnte der gesundheitspolitische Schaden nur durch eine höhere Impfrate. Doch diese ist ausgerechnet bei den älteren Generationen viel zu niedrig: Nach wie vor haben lediglich 40 Prozent der Über-80jährigen bislang eine Booster-Impfung erhalten. Die niedrige Impfrate hat vor allem mit der verbreiteten Wissenschaftsskepsis der Senioren zu tun, die lieber der traditionellen chinesischen Medizin vertrauen. Zudem hat der Staat im Vergleich zu anderen Generationen weniger He-

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bel, um sozialen Druck auszuüben. Die Impfkampagne lief schließlich vor allem über Parteiinstitutionen, Arbeitgeber und Schulen. Vor einem Impfzwang hat Peking bislang zumindest zurückgeschreckt. Doch die Regierung hat bereits angekündigt, dass sie die Impfrate bis Ende Januar auf über 90 Prozent heben möchte. Ein wenig Abhilfe schaffen könnten die mRNAImpfstoffe von Biontech und Moderna, die in ihrer Wirksamkeit den chinesischen Totimpfstoffen überlegen sind. Aber der chinesische Staatspräsident Xi Jinping ist auf absehbare Zeit nicht bereit, westliche Impfstoffe zu akzeptieren. Bis heute wurden in China keine ausländischen Vakzine zugelassen. Doch auch wenn die Öffnung des Landes schwierig wird, scheint sie den meisten Chinesen unausweichlich. Die ständigen Lockdowns haben dazu geführt, dass viele Lokalregierungen in China nahezu bankrott sind, internationale Unternehmen in andere Länder abwandern wollen und Millionen Arbeitsmigranten vor dem existenziellen Aus stehen. Für viele Chinesen ist daher die nun eingeleitete schrittweise Rückkehr zur Normalität ein befreiendes Gefühl. Und ein Gefühl zumal, das einen großen Teil des angestauten Frusts dämpfen wird. Doch viele junge Menschen, die in Shanghai und Peking auf die Straße gezogen sind, werden sich mit Sicherheit damit nicht zufriedengeben: Ihr Protest ging schließlich tiefer. Zwar scheint es, als ob ihre Stimmen vorerst verstummt seien, doch irgendwann werden sie sich erneut ihren Weg in die Öffentlichkeit bahnen.  Zumindest im Ausland wird der Geist der Proteste von Shanghai und Peking weitergetragen. In Hongdae, dem Studentenviertel der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, kamen Chinesinnen und Chinesen zusammen, um ihre Solidarität mit den Protesten in ihrer Heimat zu bekunden. Auch sie hielten unbeschriebene, weiße Din A4-Blätter in die Luft – genauso wie viele andere in den USA und Europa.



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Anita Starosta

Erdog˘ans Krieg: Das Ende von Rojava? Es war nur eine Frage der Zeit, bis das türkische Militär erneut Angriffe auf das Gebiet der autonomen kurdischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien starten würde: Als Mitte November die ersten Bomben in den Städten Kobanê, Dirbesiye, Zirgan und in der Region Dêrik einschlugen und auch Ziele an der Grenze zum Nordirak trafen, zeigte sich schnell, worum es dem Nato-Mitglied Türkei bei dieser jüngsten Offensive ging – um die systematische Zerstörung der Infrastruktur und damit die komplette Zerschlagung der kurdischen Selbstverwaltung in der Region. Die erste Bilanz nach den flächendeckenden Bombardierungen ist verheerend: Über 500 Ziele sollen laut türkischen Medien getroffen worden sein. Dabei wurden über 60 Menschen getötet, davon mindestens 16 Zivilist*innen. 33 Zivilist*innen wurden laut dem Rojava Information Center verletzt. Noch sind die Folgen der Angriffe für Millionen Menschen nicht in ihrem ganzen Ausmaß abzusehen. Sicher ist jedoch, dass es nach der Zerstörung von Kraftwerken und Ölfeldern in tausenden Haushalten und den Flüchtlingslagern an Elektrizität, Gas und Diesel mangeln wird – angesichts des bevorstehenden Winters eine echte Katastrophe. Zentrale Getreidespeicher, Krankenhäuser und Schulen, auch Straßen sind zerstört. Und die Angriffe sind noch nicht vorbei. Die Bevölkerung lebt in Unsicherheit und Angst vor erneuten Bombardierungen. Besonders die Menschen in Kobanê, Manbij und Shebha fürchten weitere Angriffe und die von Erdog˘an angedrohte Bodenoffensive. Seit dem Bombenanschlag auf der zentralen Einkaufsstraße Istiklal in

Istanbul mit sechs Toten und 80 Verletzten am 13. November scheint der Wahlkampf der AKP begonnen zu haben – im Juni 2023 finden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Trotz zahlreicher Ungereimtheiten – unter anderem hatte ein Regionalpolitiker der rechtsextremen MHP Kontakt zur vermeintlichen Attentäterin – hält die türkische Regierung an dem Vorwurf fest, der Anschlag habe im Auftrag der PKK bzw. von deren syrischer Schwesterpartei PYD stattgefunden, die dies allerdings dementieren. Schon am Tag des Anschlags verkündete der türkische Innenminister Süleyman Soylu: „Der Befehl kam aus Kobanê.“ Stimmen aus Nordostsyrien interpretierten dies schon damals als Kriegsankündigung. Es ist eine inzwischen hinlänglich bekannte Methode der AKP-Regierung, Terroranschläge für die Mobilisierung nationaler Einheit zu instrumentalisieren. Besonders wenn Referenden oder Wahlen anstehen, ist die Sicherheitspolitik ein Vehikel, um die Bevölkerung an die Regierung zu binden. Dabei geht es besonders oft gegen die Kurd*innen im eigenen Land und an den Grenzen zu Syrien und dem Irak. Anlass, um abzulenken, gibt es nicht nur angesichts der hohen Inflation und der schlechten wirtschaftlichen Aussichten, die die Umfragewerte der AKP in den Keller sacken ließen. Kritik gab es in den letzten Wochen vermehrt auch am Einsatz von Giftgas durch das türkische Militär gegen Guerillaeinheiten der PKK im Nordirak. Dessen ungeachtet setzt Erdog˘an Schweden weiter unter Druck, dem Nato-Beitritt des Landes nur zustimmen zu wollen, wenn die schwedische

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20 Kommentare Regierung sich von der autonomen Selbstverwaltung der Kurden distanziert und deren Unterstützung einstellt sowie kurdische Aktivist*innen ausliefert. Die Luftangriffe unterstreichen die türkische Position deutlich. Das Verteidigungsministerium in Ankara beruft sich zu deren Rechtfertigung auf das Recht zur Selbstverteidigung in der Charta der Vereinten Nationen – nicht mehr als eine rhetorische Worthülse. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hatte bereits bei den größeren türkischen Militäroperationen in Afrin 2018 und Serêkaniyê 2019 festgestellt, dass sie gegen das Völkerrecht verstoßen. Zu keinem Zeitpunkt hatte eine Bedrohung bestanden, die ein militärisches Eingreifen gerechtfertigt hätte. Ähnlich sieht die Lage jetzt aus.  Dennoch halten sich die Nato-Staaten mit einer Kritik an den Angriffen auffallend zurück. Die Bundesregierung hat in ihrem einzigen Statement zwar darauf hingewiesen, dass das Völkerrecht gewahrt werden müsse und zivile Ziele nicht Teil der Angriffe sein dürften; im selben Statement hatte sie jedoch das Terrorismusnarrativ der Türkei übernommen. Auch Außenministerin Annalena Baerbock äußerte sich auf dem Nato-Außenministertreffen Ende November in Bukarest besorgt gegenüber ihrem türkischen Amtskollegen und warnte davor, die Militäraktionen auszuweiten. Doch Konsequenzen, gar ein Eingreifen der Nato-Partner muss die türkische Regierung nicht befürchten, zu offensichtlich wird ihr freie Hand gelassen – wohl auch vor dem Hintergrund der türkischen Vermittlerrolle im Ukrainekrieg und der Tatsache, dass die Türkei eine zentrale Rolle für die Verhinderung von Fluchtbewegungen nach Europa spielt. Dabei wären direkte Konsequenzen für die türkische Regierung und Winterhilfen für die kurdischen Gebiete aktuell mehr als angebracht. Schließlich forciert Erdog˘an seit Monaten zudem eine erneute militärische

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Bodenoffensive in der Region und kündigte immer wieder an, einen 30 Kilometer tiefen Streifen jenseits der syrischen Grenze komplett einnehmen zu wollen, um eine sogenannte Sicherheitszone zu errichten. Zuletzt fokussierte er sich in seinen Drohungen auf die Region um Kobanê und Manbij – also die westlichen Gebiete der Selbstverwaltung. Ob es tatsächlich zu einer solchen Bodenoffensive kommt, ist allerdings noch ungewiss. Russland und die USA kontrollieren den Luftraum der Region und müssen daher auch den jüngsten Luftangriffen zugestimmt haben. Vermutlich hat auch sie die Vermittlerrolle der Türkei im Ukrainekrieg zu ihrer Entscheidung bewogen. Damit liegt auch die Zustimmung zu einer Bodenoffensive in ihrer Hand – die Verhandlungen zwischen den Akteuren laufen, mit noch ungewissem Ausgang. Einmal mehr zeigt sich: Hier geht es nicht um Menschenrechte, Demokratie oder gar eine „feministische Außenpolitik“, sondern um Geopolitik und die Machtverteilung in einer neuen Weltordnung. Zerstörte Infrastruktur, aber keine Winterhilfe Und auch ohne Bodenoffensive sind die Folgen der jüngsten Luftangriffe und Bombardierungen verheerend – und sie treffen vor allem die Bevölkerung: In der gesamten Grenzregion zur Türkei ist durch die Angriffe lebenswichtige zivile Infrastruktur zerstört worden. Schon bei den ersten Luftangriffen am 19. November wurden ein Krankenhaus bei Kobanê und das Elektrizitätswerk in der Nähe der Stadt Dêrik getroffen. Zivilist*innen, die zur Hilfe eilten, wurden bei einem zweiten Angriff getötet – insgesamt starben in dieser Nacht elf Menschen. Seither ist die Bevölkerung in Dêrik und den umliegenden Dörfern ohne Strom. Kurz darauf wurden das zentrale Getreidesilo bei Dirbêsiyê vernichtet,

in dem 1000 Tonnen Getreide zur Grundversorgung der Menschen in der Region lagerten, sowie das Gasverteilungszentrum Siwêdiyê zerstört, über das die gesamte Gasversorgung in Nordostsyrien koordiniert und der Verwaltungsbereich Jazira mit Strom versorgt wird. Seither ist die Region, in der knapp eine Million Menschen leben, großenteils ohne Strom. Es wird Monate, wenn nicht gar Jahre dauern, das alte Werk zu reparieren, um die Grundversorgung der Bevölkerung mit Strom und Gas wiederherzustellen. Letzteres nutzen die Menschen nicht nur zum Kochen, sondern im Winter auch zum Heizen. Wer kann, hat sich angesichts dessen einen Generator besorgt; doch auch die Dieselvorräte für private Generatoren könnten schon bald aufgebraucht sein. Denn auch die Ölförderung und -aufbereitung in der Region – und damit eine zentrale Einnahmequelle der Selbstverwaltung – hat durch die Angriffe schweren Schaden genommen. Immer wieder schlugen Raketen auf den Ölfeldern bei Tirbespiyê ein, wo auch raffiniert und der für viele überlebenswichtige Diesel hergestellt wird. Die Ölwirtschaft zu stoppen, bedeutet nichts weniger, als den wirtschaftlichen Bankrott der kurdischen Selbstverwaltung zu forcieren, die sich ohnehin in einer schwierigen ökonomischen Lage befindet. Zu den Auswirkungen der in vielen Teilen der Region zerstörten lebenswichtigen Infrastruktur kommt die Angst vor weiteren (Drohnen-)Angriffen: Die Bevölkerung traut sich nicht mehr auf die Straße; auch der Schulunterricht wurde ausgesetzt. Nach den Angriffen auf Krankenhäuser befürchten die Menschen zudem, dass weitere medizinische Einrichtungen getroffen werden könnten. Schon in den Kriegen der vergangenen Jahre hat die Türkei Krankenhäuser bombardiert und keinerlei Rücksicht auf Nothelfer*innen genommen. Die Organisation Kurdischer Roter Halbmond, die die medizinische Versorgung in der Region leistet,

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warnt bereits vor Fluchtbewegungen und einer Zuspitzung der ohnehin schlechten humanitären Lage in den vielen Flüchtlingslagern der Region. Auch ihnen fehlen nach den Angriffen Strom und Gas für die grundlegende Versorgung. Zudem gibt es hier seit Wochen einen Cholera-Ausbruch. Sollten sich die hygienischen Bedingungen noch weiter verschlechtern, werden sich die Infektionsherde weiter ausbreiten. Der letzte Starkregen hat bereits Flüchtlingszelte weggeschwemmt, bald kommt der erste Schnee. Wie sollen die Geflüchteten diese Zeit ohne Gas und Strom überstehen und wie die Bevölkerung ihren Alltag in den Städten und Dörfern organisieren? Obgleich es Monate dauern wird, die zerstörten Werke, Getreidesilos und Ölfelder wieder instand zu setzen, hat die internationale Gemeinschaft eine große Winterhilfe, wie sie für die Ukraine selbstverständlich erscheint, oder Unterstützung beim Wiederaufbau bisher nicht angekündigt. Stattdessen ist davon auszugehen, dass die Selbstverwaltung und die Bevölkerung einmal mehr auf sich allein gestellt sein werden. Erdog˘an wird diesen Krieg weiterführen – sei es mit der angedrohten Bodenoffensive, „nur“ weiteren Drohnenangriffen oder der Regulierung des Wasserzuflusses in die Region. Sein Ziel scheint es zu sein, die Selbstverwaltung dieses Mal komplett zu zerschlagen und die Region endgültig unbewohnbar zu machen. Die Angriffe stärken den IS Hinzu kommt: Die türkischen Angriffe stärken auch den sogenannten Islamischen Staat (IS) in der Region; die von ihm ausgehende Gefahr ist nach den Angriffen größer denn je. Denn auch in unmittelbarer Nähe des berüchtigten al-Hol-Flüchtlingslagers im Nordosten Syriens und im Umfeld weiterer Gefängnisse, in denen IS-Kämpfer inhaftiert sind, schlugen Bomben ein. Dabei

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22 Kommentare wurden gezielt die Sicherheitskräfte getroffen, womit sich die ohnehin schon prekäre Lage dort weiter destabilisierte. Seither zirkulieren Gerüchte über IS-Mobilisierungen und mögliche Angriffe des IS auf die Gefängnisse. Dabei war das al-Hol-Lager mit seinen 55  000 Bewohner*innen schon vor den Angriffen eine tickende Zeitbombe; ein Großteil der Menschen im Camp gehört dem IS an, der auch die Regeln im Camp aufstellt. Besonders radikal sind die rund 2000 ausländischen IS-Frauen, die mit ihren Kindern in einem gesonderten Bereich leben. Allein in diesem Jahr wurden laut der autonomen kurdischen Selbstverwaltung über 40 Personen im Camp ermordet. Aufgrund der angespannten Sicherheitslage führten die Sicherheitskräfte der kurdischen Selbstverwaltung bereits im Frühjahr 2021 eine über mehrere Tage andauernde Sicherheitsoperation mit etwa tausend Soldat*innen und Polizist*innen in al-Hol durch; die internationale Anti-IS-Koalition schützte den Luftraum. Und auch die humanitäre Lage in dem Lager ist extrem prekär; seit dem Beginn der Angriffe haben nun vor allem die internationalen Hilfsorganisationen ihre Arbeit dort weitgehend eingestellt. Die Angst, dass der IS wieder erstarkt, war schon vor den jüngsten Angriffen der Türkei groß. Ende Januar 2022 hat der IS mit 300 Kämpfern das Ghweran-Gefängnis der syrischen Stadt Hasakeh angegriffen und tagelang versucht, die 5000 Insassen – ebenfalls IS-Anhänger – zu befreien. Nur mit Unterstützung der US-Truppen in der Region ist es letztendlich gelungen, den Angriff zurückzuschlagen. Jüngst bekannte sich der IS zudem zu einem Anschlag im nordsyrischen Raqqa. Doch der Chef der von den USA unterstützten Syrian Democratic Forces (SDF), Mazlum Abdi, hat mittlerweile verkündet, dass die SDF den Kampf gegen den IS im Rahmen der internationalen Koalition aussetzen müsse. Zu

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groß sei die Bedrohung durch das türkische Militär, zudem würden alle Sicherheitskräfte in der Nähe der türkischen Grenze benötigt. Dabei haben diese schon jetzt nicht genügend Kapazitäten, um die Sicherheit im al-HolLager zu gewährleisten und die Flucht von IS-Familien zu verhindern. Todesstoß für Rojava? Damit ist die Lage in Rojava auch aus Sicht der dort tätigen Partnerorganisationen von medico international so gefährlich wie noch nie. Die gesamte Existenz Rojavas scheint aktuell auf dem Spiel zu stehen. Bedroht sind eine Gesellschaft und ein demokratisches Modell, das die dort lebenden Menschen in den letzten zehn Jahren aufgebaut und geprägt haben. Sollte es keine Unterstützung beim Wiederaufbau der Infrastruktur geben oder Erdog˘an seine Pläne für eine Bodenoffensive in die Tat umsetzen, könnten Millionen Menschen zur Flucht gezwungen werden und die Region verlassen. Denn die Menschen in Rojava fürchten die türkische Herrschaft bzw. die Kontrolle islamistischer Söldner, wie sie in der Region Afrin bereits Realität ist. Ebenso möglich erscheint zurzeit allerdings auch, dass die autonome Verwaltung im Zuge einer Einigung der beteiligten Großmächte Russland und USA wieder unter die Herrschaft von Baschar al-Assads Syrien gezwungen wird. Auch das würde das Ende jeglicher gewonnener Rechte und Freiheiten in Rojava bedeuten. Dass es keine internationale Unterstützung für das bedrohte Rojava gibt – daran sind die Menschen dort inzwischen gewöhnt. Und dennoch werden die Schutzmächte Russland und USA für die Zukunft der kurdischen Selbstverwaltung entscheidend sein. Stimmen sie einer türkischen Bodenoffensive zu, versetzen sie den Kurd*innen und allen anderen im Gebiet der Selbstverwaltung lebenden Minderheiten den Todesstoß.



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Marianne Zepp

Israel: Auf dem Weg in die illiberale Demokratie Als nach dem Holocaust eine Heimstatt für das jüdische Volk geschaffen wurde, begründete man diese auf einem historischen, wenn auch fragilen Kompromiss: Während die Jüdinnen und Juden einen modernen Staat mit einer republikanischen Verfassung bekamen, erhielten die als 1948er bezeichneten Palästinenser*innen – und andere Minderheiten wie Drusen und Beduinen –, die weiterhin auf israelischem Staatsgebiet lebten, die vollen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. Dieser Kompromiss, auf dem Staat und Demokratie in Israel seither basierten, scheint nun, nach dem Wahlsieg Benjamin Netanjahus Anfang November und der Beteiligung der nationalen Rechten an seiner Regierung, endgültig an sein Ende gekommen zu sein. Die Ergebnisse der jüngsten Wahl1 bilden allerdings nur den bisherigen Höhepunkt einer langjährigen Entwicklung: Die zunehmende Religiosität im öffentlichen Leben Israels, die deutlichere Betonung der ethnischen Komponente des Zionismus und die Delegitimierung der arabischen Sprache und Kultur – am deutlichsten festgeschrieben im Nationalstaatsgesetz von 2018, das den jüdischen Charakter des israelischen Staates festschreibt2 – 1 Vgl. Markus Bickel, Netanjahus Comeback oder: Der Durchmarsch der Rechten, in: „Blätter“, 12/2022, S. 13-16. 2 Das sogenannte Nationalstaatsgesetz hebt den jüdischen Charakter des Staates in den Rang eines Verfassungsrechts. Das vom Likud in die Knesset eingebrachte Gesetz ist heftig umstritten. Besonders die arabisch-palästinensische Bevölkerung sieht darin das Prinzip des „Staates für alle Bürger*innen“ infrage gestellt, während die Verteidiger*innen des Gesetzes in ihm eine Stärkung des Zionismus erkennen,

haben die gesellschaftlichen und politischen Spannungen in den vergangenen Jahren deutlich ansteigen lassen. In diesem Prozess drohen die Vorstellungen des säkularen Arbeiterzionismus der ersten Jahrzehnte des israelischen Staates und das damit verbundene universalistische und liberale Rechtsverständnis unterzugehen. Seit dem jüngsten Wahlsieg der Rechten befindet sich Israel endgültig auf dem Weg in eine „illiberale Demokratie“ nach dem Vorbild Ungarns und anderer Staaten, die nationale Zugehörigkeit nach ethnischen Grundsätzen definieren. Für den arabisch-palästinensischen Teil der Bevölkerung, der rund 20 Prozent der Israelis stellt, bedeutet der Wahlausgang einen herben Rückschlag. Bereits vor der Wahl war die „Joint List“, ein Zusammenschluss der vier in der Knesset vertretenen arabischen Parteien, auseinandergefallen. Unter Führung von Mansour Abbas hatte sich die konservative, nach den Regeln des Islam geleitete Ra’am-Partei für die Beteiligung an der breiten Anti-Netanjahu-Koalition unter Naftali Bennett und Jair Lapid entschieden und erklärt, den jüdischen Charakter des Landes nicht infrage zu stellen. Damit gab Abbas den Zusammenhalt der labilen Vereinigung der arabischen Parteien auf. Denn sein Kurs der Integration in die israelische Mainstreampolitik bedeutete die Aufgabe der Palestinianness – das Bewusstsein über die Zusammenda die kollektiven Rechte der jüdischen Mehrheit festgeschrieben werden.

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24 Kommentare gehörigkeit der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland und im Gazastreifen und die Berufung auf die Beschlüsse des Oslo-Abkommens. Balad, eine säkulare arabisch-nationalistische Partei, verließ daraufhin das Bündnis. So traten die Ra’am-Partei und Balad sowie eine gemeinsame Liste aus der kommunistischen Ta’al und der jüdisch-arabischen sozialistischen Partei Hadash getrennt zu den jüngsten Wahlen an.3 Die Joint List hatte sich laut ihrem Grundsatzprogramm als Vertreterin der zivilen und politischen Rechte der arabisch-palästinensischen Bevölkerung Israels verstanden. Trotz großer weltanschaulicher Differenzen innerhalb des Bündnisses sollte diese Strategie die arabische Stimme auf der politischen Bühne verstärken. In der arabischen Öffentlichkeit hatte sie damit einige Hoffnungen geweckt. Sie war aber auch eine Reaktion auf den Beschluss der letzten Netanjahu-Regierung, die Sperrklausel für die Knesset von zwei auf 3,25 Prozent zu erhöhen. Tatsächlich war der Einfluss der arabischen Parteien auf die israelische Politik noch nie so groß wie mit der Joint List. Als drittgrößter Wählerblock in der Knesset verfügten ihre Abgeordneten zum ersten Mal über reale Einflussmöglichkeiten, um die soziale Lage der arabischen Minderheiten zu verbessern. Doch bereits während der kurzen Amtszeit der vor den jüngsten Wahlen zerbrochenen Gantz-Lapid-Regierung offenbarten sich die Grenzen von Abbas‘ Kurs der Anpassung und Integration. Als die Regierung ein Gesetz wieder auflegte, das Zusammenführungen von palästinensischen Familien innerhalb Israels verbietet, wuchsen die Spannungen im Parla3 Dabei erreichten die arabischen Parteien insgesamt nur zehn Sitze. Fünf davon entfielen auf die Ra’am-Partei und fünf auf die Liste von Hadash/Ta’al. Balad verfehlte trotz hoher Wahlbeteiligung der arabischen Bevölkerung von 53 Prozent den Einzug ins Parlament.

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ment. Gleichzeitig versuchten die radikalen jüdischen Gruppen der Tempel-Mount-Bewegung wiederholt, sich Zugang zum Tempelberg in Jerusalem – dem höchsten Heiligtum des Judentums und dem dritthöchsten des Islams – zu verschaffen, was gegen den vereinbarten Status quo verstößt. Dieser sieht vor, dass israelische Sicherheitskräfte den Zugang zum Tempelberg kontrollieren und die von Jordanien finanzierte und kontrollierte Jerusalemer Waqf-Behörde das Gelände und die heiligen Stätten, mit Ausnahme der Klagemauer, verwaltet. Juden ist es nach der Vereinbarung nicht erlaubt, auf dem Tempelberg zu beten. Die Aktivist*innen der Tempel-Mount-Bewegung propagieren den Bau eines Dritten Tempels auf dem Gelände, oft mit gewalttätigen Aktionen und gegen das ultraorthodoxe Establishment. Als dann auch der zivilrechtliche Status der Siedlungen im Westjordanland an innerisraelisches Recht angepasst und damit die Praxis der Annexion faktisch legalisiert wurde, war Abbas‘ Kurs endgültig gescheitert. Steigender Druck auf die arabische Zivilgesellschaft Zwar hatte die Liste von Hadash/Ta’al, anders als Ra‘am, die Vision einer Mitte-links-Allianz, basierend auf einer jüdisch-arabischen Zusammenarbeit auf Augenhöhe, beibehalten. Doch spätestens seit der verheerenden Niederlage der bislang wichtigsten linken Partei Meretz, die nach der Wahl im November nicht mehr in der Knesset vertreten ist, scheint auch diese Vision an ihr Ende gekommen zu sein. Fest steht: Nach der Wahlniederlage und dem Zerfall der Joint List ist der ohnehin geringe Einfluss der arabischen Parteien auf die Politik des Landes noch einmal deutlich geschwunden. Hinzu kommt: Bereits seit einigen Jahren wächst der Einfluss der nationalen Rechten innerhalb der israeli-

schen Gesellschaft und nehmen die Spannungen zwischen diesen und den arabischen Israelis zu. Vor allem in sogenannten mixed cities wie Haifa, Lod, Akkra und Ramle, in denen ein großer Anteil arabisch-palästinensischer Bürger*innen lebt, zetteln radikale jüdische Siedler*innen immer wieder – und oft erfolgreich – juristische Streitigkeiten gegen die palästinensische Bevölkerung an, mit dem Ziel, sich deren Häuser anzueignen. Auch innerhalb Israels agieren radikalisierte Siedlergruppen zunehmend gewalttätig. Und schließlich könnten auch die Zerstörungen sogenannter nicht anerkannter Beduinensiedlungen in der Negev-Wüste im Süden Israels durch die Israel Defense Forces unter der rechten Regierung weiter zunehmen. Durch diese Radikalisierung geraten die Aktivitäten von NGOs in den mixed cities, die sich für die Rechte der arabischen Minderheit einsetzen, mehr und mehr in den Fokus. Doch ihr Einfluss ist begrenzt, denn sie arbeiten zumeist dezentral und auf kommunaler Ebene. Zwar gibt es mit dem High Follow-up Committee for Arab Citizens eine Dachorganisation, die lokale und kommunale politische Repräsentant*innen, Vertreter*innen arabischer NGOs und Parteien in Israel vereinigt. Doch ihre Funktionsfähigkeit ist durch das Einstimmigkeitsprinzip erheblich eingeschränkt. Das National Committee of the Heads of Arab Localities, ein Zusammenschluss lokaler arabischer Vertreter*innen, arbeitet wiederum schwerpunktmäßig im sozialen Bereich, im Erziehungswesen und zu Fragen der Wasser- und Energieversorgung. Eines seiner wichtigsten Handlungsfelder ist aber der Kampf gegen die Zerstörung von Häusern der arabischen Bevölkerung. Das betrifft vor allem die beduinischen, sogenannten nicht anerkannten Dörfer im südlichen Negev. Daneben hat in den letzten Jahren das Parents Circle Family Forum verstärkt Zulauf erhalten, ein Zusammenschluss

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von 600 arabischen und jüdischen Familien, die Angehörige durch Krieg und Gewalt verloren haben. Besonderes Aufsehen erregt deren Joint Memorial Day Ceremony, eine öffentliche Demonstration, die das Forum seit einigen Jahren als gemeinsame Gegenveranstaltung zum offiziellen (jüdischen) Staatstrauertag Yom HaZikaron veranstaltet und bei dem jedes Jahr Anfang Mai der „Gefallenen der Feldzüge Israels und der Opfer der Akte des Hasses“ gedacht wird. All diese Ansätze, ein Bewusstsein für Gemeinsamkeit und gegenseitige Anerkennung zu schaffen, geraten immer mehr unter Druck. Dabei sieht sich die Mehrheit der arabisch-israelischen Bevölkerung laut Umfragen als Staatsbürger*innen. Sie ist bereit, die staatlichen Institutionen anzukennen und will offiziell repräsentiert werden. Auf dem Weg in den Bürgerkrieg? Unter Netanjahus neuer, rechter Regierung wird sich daran jedoch nichts ändern, im Gegenteil. Mit ihrer stabilen Mehrheit hat sie nicht nur Aussicht auf eine längere Regierungszeit als die Vorgängerregierung. Unter dem neuen Minister für nationale Sicherheit, dem rechtsextremen Vorsitzenden der Partei Otzma Yehudit, Itamar Ben Gvir, dürfte auch die Delegitimierung der arabischen Bevölkerung weiter zunehmen. Bereits in der Vergangenheit hatten sich die Vertreter der drei rechtsnationalen Parteien – Bezahel Smotrich, Ben Gvir und Avi Maoz – durch anti-arabischen Rassismus profiliert. Neuere Statistiken belegen zudem, dass sich die Siedlungsbewegung, die bisher überwiegend aus Likud-Wähler*innen bestand, zunehmend der extremistischen und nationalistischen Rechten zuwendet. Deren Vertreter*innen sehen in den Palästinenser*innen bloß Terrorist*innen. Der abgewählten Gantz-Lapid-Koalition war fen sie vor, ihre Sicherheit nicht ge-

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26 Kommentare währleistet zu haben. Von der neuen Regierung erwarten sie entsprechend eine Ausweitung der staatlichen Souveränität in die besetzten Gebiete hinein, wie sie in Jerusalem durch die Vertreibungen im Stadtviertel Sheikh Jarrah und um den Tempelberg bereits stattfindet. Schon die Vorgängerregierung hatte in Ostjerusalem palästinensische Häuser beschlagnahmt. Basis dafür bot ein Regierungserlass über die Rückführung von Häusern an die jüdischen Besitzer*innen von vor 1948. Widerstand im Westjordanland Im Westjordanland leidet die Palästinensische Autonomiebehörde unter einer permanenten institutionellen wie legitimatorischen Krise. Hervorgerufen wird diese durch Mahmud Abbas‘ autoritäre Führung und den Dauerkonflikt mit der radikalen Hamas. Besonders unter jungen Palästinenser*innen wächst angesichts der Machtlosigkeit der Autonomiebehörde im Westjordanland, der Drangsalierungen durch die Besatzer und der desolaten sozialen Zustände die Frustration. Zugleich haben die Übergriffe extremistischer jüdischer Siedlergruppen aus dem Westjordanland bei den Aufständen der letzten beiden Jahre in den israelischen Städten Akko, Lod, Jaffa und Haifa den Konflikt von der Peripherie in das Kernland Israels verlagert. Dabei hatte das, was 2021 als Maiunruhen beschrieben wurde, bereits den Charakter eines Bürgerkriegs. Die Unruhen begannen mit gewaltsamen Zusammenstößen zwischen islamischen Extremist*innen und jüdischen Nationalist*innen in Jerusalem und setzten sich in den mixed cities und in den innerisraelischen Gebieten mit überwiegend arabischer Bevölkerung fort. Sowohl auf jüdischer wie auf arabischer Seite setzten Mobs Gebäude in Brand, darunter auch Synagogen, Restaurants und Touristenzentren. Es gab etliche Tote und Verletzte.

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Indem die israelische Rechte die Grüne Linie aus dem Waffenstillstandsabkommen von 1949 – die Demarkationslinie zwischen Israel und dem Westjordanland, dem Gazastreifen, den Golanhöhen und der Sinai-Halbinsel – faktisch nicht anerkennt, hat sie eine neue Stufe der Eskalation geschaffen. Dagegen formiert sich auf palästinensischer Seite zunehmend Protest. Vor allem in der jungen palästinensischen Mittelschicht in Israel bildete sich in den letzten Jahren eine neue, ethnische Identität heraus. Sie führte zu einer verstärkten Identifikation mit den Bewohner*innen der besetzten Gebieten jenseits der Grünen Linie. In einigen mixed cities wie Haifa entstehen seither neue Bewegungen, die auch kulturell und erinnerungspolitisch – Stichwort: Anerkennung der Nakba, der Flucht und Vertreibung arabischer Palästinenser*innen ab 1947, als Unrecht – ein neues palästinensisches Bewusstsein schaffen wollen. An diesen Prozessen sind auffallend viele junge Frauen beteiligt. Und auch im Westjordanland formieren sich auf lokaler Ebene gewaltbereite Gruppen, die unter Berufung auf antikoloniale Kämpfe zum Widerstand aufrufen. Die bekannteste unter ihnen ist die Lion’s-Den-Gruppe in Jenin. Angesichts dessen wächst die Angst vor einer neuen Terrorwelle. Und tatsächlich können die Bombenattentate in Jerusalem im November 2022 als erste Anzeichen dafür gelten. Sollte die neue israelische Regierung ihre Kampagne zur Delegitimierung der Palästinensischen Autonomiebehörde in den kommenden Monaten in offizielle Politik umsetzen, würde das die Lage zusätzlich verschärfen: Denn damit würde sie endgültig jene Instanz entmachten, die durch ihre Zusammenarbeit mit den israelischen Sicherheitskräften immerhin für eine gewisse Stabilisierung sorgt. Jene Kräfte, die sich für ein friedliches Zusammenleben aller Israelis einsetzen, müssen sich auf schwere Zeiten einstellen.



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Annette Dittert

Johnson, Truss, Sunak: Tory-Elend ohne Ende Für einen kurzen Moment schien es so, als ob die Vernunft und der Pragmatismus, für die die Welt Großbritannien immer so bewundert hatte, nach London zurückgekehrt seien. Als Rishi Sunak, der dritte Premierminister in diesem chaotischen Jahr, am 25. Oktober in seiner Antrittsrede vor der Downing Street versicherte, mit ihm werde nun ernsthafte Arbeit und moralische Integrität wieder ganz oben auf der politischen Agenda stehen, ging ein Seufzer der Erleichterung durch das gebeutelte Land. Doch es blieb ein kurzer Moment. Nur knapp zwei Monate später wird zunehmend deutlich, dass auch Sunak nicht in der Lage sein wird, den gordischen Brexit-Knoten zu durchschlagen. Und dass seine Partei immer noch verblendet genug sein könnte, um den Mann zurückzubringen, der die Tories in den Rechtspopulismus getrieben, und damit jede pragmatische Lösung der durch den Brexit entstandenen Probleme unmöglich gemacht hatte, Boris Johnson. Gewiss, nach dem spektakulären Scheitern von Liz Truss ist der Brexit in seiner „theokratischen“ Form erst einmal erledigt. Das unbedingte Vertrauen in die Märkte und die Idee der neoliberalen Tory-Ultras, dass man durch nicht gegenfinanzierte Steuersenkungen für Besserverdienende gleichsam magisch die Wirtschaft ankurbeln könne, ist vorerst auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet und damit auch die Vorstellung von einem Brexit, der, wenn man nur fest genug an ihn glaubt, ganz von selbst blühende Landschaften herzaubern könne.

Die Phase der überhitzten leeren Drohungen Richtung Brüssel ist damit erst einmal vorbei. Die uneinlösbaren Versprechen des Brexit aber stehen weiter im Raum. Hinzu kommt, dass Großbritannien nach Truss in einer noch tieferen Wirtschaftskrise steckt als zuvor.1 Sunaks politisches Überleben hängt jetzt davon ab, ob er das Land aus der von seiner Partei selbstverschuldeten Krise führen kann. Womit er vor einem unlösbaren Problem steht: Als ehemaliger Banker und Ex-Finanzminister weiß er, dass jede Art von Wirtschaftswachstum ohne eine funktionierende Beziehung zur EU kurz- und mittelfristig so gut wie unmöglich ist. Versucht er hier pragmatisch zu agieren, gefährdet genau das aber sein Überleben an der Spitze der Partei. Denn da sind nach wie vor die Brexit-Ultras tonangebend, für die jede Art von Dialog mit Brüssel eine Todsünde bleibt, womit dem neuen Premier selbst kleinste Schritte, die Schäden des Brexit zu beheben, auf absehbare Zeit verstellt sein dürften. Das jüngste Beispiel hierfür: Als ein bis heute anonymes Regierungsmitglied gegenüber der „Sunday Times“ Ende November laut darüber nachdachte, wie man die durch den Johnson-Deal entstandenen Zollbarrieren zur EU durchlässiger machen könne, und in diesem Zusammenhang das Schweizer Modell erwähnte, rauschte bereits am nächsten Tag ein Sturm 2 der 1 Vgl. Faye Brown, UK economy made worse by „own goals“ like Brexit and Truss mini-budget, IFS economist says, www.news.sky.com, 18.11.2022. 2 Vgl. Jack Walters, Brexit betrayal as „sellout“. Sunak considers Swiss relationship with EU, www.express.co.uk, 20.11.2022.

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28 Kommentare Empörung durch die torynahen Medien. Sunak wurde als Verräter gebrandmarkt wie in guten alten Zeiten und das, obwohl mit ihm seit 2016 der erste echte Brexiteer als Premierminister in der Downing Street sitzt. Der Brexit-Graben innerhalb der Partei verläuft eben längst nicht mehr einfach zwischen Leavern und Remainern, sondern zwischen Pragmatikern und Verfechtern der reinen Lehre, für die jede ökonomische Realität weiterhin dem kompromisslosen Kampf gegen Brüssel unterzuordnen ist. Dabei interessiert es die „Ultras“ nur am Rande, dass die Schäden, die der Brexit angerichtet hat, jetzt, zwei Jahre nachdem er auch offiziell vollzogen wurde, immer deutlicher werden. Im Zweifelsfall macht sie es nur gereizter, denn die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Aus der Steuerschätzung des unabhängigen „Office for Budget Responsibility“, die auch Sunaks eigenem Mitte November vorgelegten Budget zugrunde liegt, geht hervor, dass der Brexit Grossbritannien dauerhaft rund vier Prozent des Bruttosozialprodukts kosten wird.3 Einem OECD-Bericht zufolge rückt Großbritanniens Wirtschaft in den nächsten zwei Jahren damit auf den letzten Platz der G20 Länder, Russland ausgenommen.4 Rishi Sunak als ein blasser Premier Sunak reagierte auf die Angriffe der Ultras nach dem „Sunday Times“-Leak blass und defensiv und zeigte dadurch, wie schwach sein Standing in der Partei wirklich ist. Statt die Probleme der britischen Wirtschaft offen anzusprechen, flüchtete er sich zurück in die alte ideologisch motivierte Bekenntniskultur: „Ich glaube an den Brexit“, beteuerte er am Tag danach auf einer Tagung des CBI, des britischen Unternehmerver3 Vgl. Office for Budget Resposibility, Brexit analysis, www.obr.uk, 26.5.2022. 4 Vgl. OECD-Wirtschaftsausblick, www.oecdilibrary.org, 22.11.2022.

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bands, und fügte wörtlich hinzu: „Unter meiner Führung wird das Königreich keinerlei Beziehung zur EU aufnehmen, die darin bestünde, dass wir uns der Brüsseler Gesetzgebung annähern könnten.“5 Die dringenden Fragen der anwesenden Unternehmer, wie die Handels- und Zollbarrieren zur EU denn dann von seiner Regierung abgemildert würden, ließ er damit unbeantwortet. Sein Finanzminister, Jeremy Hunt, reagierte noch vorsichtiger bzw. inszenierte eine Wiederaufführung der alten Johnson-Taktik, unbequeme Fakten einfach zu leugnen. In einem Interview erklärte er lächelnd, er akzeptiere die Zahlen des OBR schlicht nicht. Er „glaube“ stattdessen daran, dass der Brexit sich langfristig schon auszahlen werde. Eine Antwort auf die Frage, wie er dann aber der britischen Wirtschaft mit ihren akuten Problemen im Hier und Jetzt helfen wolle, blieb er so ebenfalls schuldig. Stattdessen versuchte er das Interview mit der erstaunlichen Aussage zu beenden, „das Land hat nun einmal als Ganzes mit dem Brexit klar für andere Handelsbeziehungen mit der EU gestimmt.“ Und damit müsse man jetzt eben leben.6 An dieser Aussage sind gleich zwei Dinge falsch. Das Land hat erstens nicht als Ganzes klar für den Brexit gestimmt und zweitens schon gar nicht für andere Handelsbeziehungen mit der EU. Im Gegenteil: Vor dem Referendum 2016 wurde vom „Leave“-Lager unisono immer wieder beteuert, dass sich an der Mitgliedschaft des Landes zum EU-Binnenmarkt und zur Zollunion nichts ändern werde. Die Idee eines harten Brexit kam erst Monate nach dem Referendum auf Druck der Ultras mit Theresa Mays „Lancaster-House Rede“ auf. Ich erwähne das hier so detailliert, weil es ein Beispiel für das permanente 5 Prime Minister’s Office, 10 Downing Street und The RT Hon Rishi Sunak MP, PM speech to the CBI conference, www.gov.uk, 21.11.2022. 6 Vgl. Sky News, Beth Rigby Interviews... Chancellor Jeremy Hunt, www.youtube.com, 24.11.2022.

Gaslighting rund um den Brexit ist, das auch unter Sunak und seinem Finanzminister ungehindert weiterläuft. Rishi Sunak mag auf den ersten Blick seriöser, sympathischer und aufgeräumter daherkommen als ein Boris Johnson oder eine Liz Truss. Die Methoden und Probleme, die durch das Abdriften der Tories in den Rechtspopulismus unter Johnson entstanden sind, aber bestehen weiter, und Sunak hat weder die Kraft noch die innere Entschlossenheit, sich dem zum Wohle des Landes entgegenzustemmen. Aufgebauschte Flüchtlingsprobleme Besonders deutlich wird das am Fall der neuen Innenministerin, Suella Braverman. Bereits als Generalstaatsanwältin hatte sie sich nicht nur als erstaunlich inkompetent erwiesen, sondern ganz nebenbei auch all die Prinzipien des britischen Rechtsstaats bewusst ignoriert, die nicht in ihr Weltbild passten.7 Eine typische Personalie aus der Johnson-Zeit, der die Partei 2019 von den „Centrists“, den gemäßigten Konservativen, „gereinigt“, und deren Sitze mit Kandidaten besetzt hatte, die bis dahin dem extremeren rechten Parteienspektrum wie Ukip oder der Brexit-Partei angehörten, wodurch die Partei als Ganzes weit nach rechts gerückt und zunehmend rechtspopulistisch wurde.8 Sunak nun machte Braverman, die zu diesem neuen Kern der Tories gehört, zur Innenministerin, auch um diesen Flügel einzubinden – was bei Braverman und ihren Unterstützern aber das Gegenteil bewirkte. Stattdessen fühlten sie sich ganz offensichtlich ermutigt, nun auch ganz offen rechtsextremes Terrain zu betreten. So erklärte 7 Vgl. Nick Cohen, The attorney general’s office was worthy of respect. Suella the stooge disgraces it, www.theguardian.com, 14.5.2022. 8 Vgl. Tim Bale, Die Chaosmacher. Zerstrittene Tories in Großbritannien, www.spiegel.de, 5.11.2022.

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Braverman Ende Oktober die Flüchtlinge, die in kleinen Booten an der englischen Südküste ankommen, zu „Invasoren“, ein Begriff, der bis dato nur von der rechtsextremen Szene auf der Insel benutzt wurde, und machte ihn so hoffähig. Die BBC berichtete kurz darauf, die Innenministerin werde nun selbst vor Ort überprüfen, „wie sich das Vereinigte Königreich an der Front gegen Migranten verteidigen könne“.9 Braverman bediente diese Sprache anschließend mit den dazu passenden Bildern, als sie ein Flüchtlingszentrum mit einem militärischen Helikopter anflog. Ein ganz bewusst inszenierter Auftritt, denn sie kam an dem Tag aus dem nur 20 Meilen entfernten Dover; mit einem Auto wäre sie schneller und einfacher vor Ort gewesen. Das eigentliche Problem für Sunak hierbei ist, dass die Flüchtlingsproblematik von Braverman künstlich aufgebauscht wird, während sie gleichzeitig zunehmend hilflos und inkompetent bei der Bearbeitung der Anträge agiert und damit für unhaltbare Zustände in den Flüchtlingszentren sorgt, was zusätzliche Unruhe in der Bevölkerung auslöst.10 Wie beim Brexit selbst werden hier Probleme erst geschaffen, für die man dann keine Lösungen hat. Sunak sieht all dem tatenlos zu und übernimmt sogar Teile dieser Rhetorik, weil er weiß, dass er ohne Bravermans Unterstützung in der Partei auf gefährlichem Eis wandelt. Und hier beißt sich die Katze dann wieder in den Schwanz: Denn sein Versprechen, mit ihm komme jetzt eine neue, professionell agierende Regierung, kann Sunak auf diese Weise nicht einlösen. Und so haben 9 A BBC reporter talking about the UK „defending itself on the frontline against migrants“, www.twitter.com, 3.11.2022. 10 Dabei war die Zahl der an der Südküste Englands ankommenden Flüchtlinge im Vergleich zu anderen europäischen Ländern auch 2022 mit rund 33  000 Menschen bis September immer noch sehr gering. Vgl. Home Office Statistics, Irregular migration to the UK, year ending September 2022. Statistics on irregular migration to the UK, including small boats, www.gov.uk, 24.11.2022.

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30 Kommentare sich die katastrophalen Umfragewerte für die Tories – nur knapp zwei Jahre vor der nächsten Wahl – auch kaum entscheidend verbessert.11 Damit dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die zahlreichen Rebellen in seiner Partei wieder unruhig werden. Denn auch Sunaks eigentlicher Rettungsring, die Tatsache, dass mit einem erneuten „Königsmord“ die von den Tories so gefürchteten Neuwahlen nun wirklich unausweichlich würden, könnte ihm leicht abhandenkommen. Womit wir bei Boris Johnson wären, der ja immerhin zu Beginn dieser Legislaturperiode mit großer Mehrheit gewählt wurde. Nicht nur die in der ToryPartei gut vernetzte „Daily Mail“ spekuliert derzeit ganz offen darüber, dass seine Rückkehr zumindest wahrscheinlich bleibt.12 Mit ihm an der Spitze könnte die Partei noch am ehesten Neuwahlen entgehen, indem sie die vergangenen Monate dann als kurzes Intermezzo abschütteln und behaupten könnte, einfach da weiterzumachen, wo sie 2019 mit Johnson gestartet ist. Man braucht natürlich eine gehörige Portion Wunschdenken und eine gute Dosis Amnesie, um diesen Gedanken ernsthaft zu verfolgen, aber zu beidem ist die Tory-Partei durchaus in der Lage, sollte sich ein Wahlsieg unter Sunak als zunehmend illusorisch herausstellen, und zwar spätestens dann, wenn die Partei im Mai 2023 bei den Regionalwahlen eine erdrutschartige Niederlage erleiden sollte. Johnson wurde zwar innerhalb von nur zwei Jahren von seiner Partei und dem Land als der chronische Lügner entlarvt, der er immer war, seine größte Lüge, der Brexit als angeblicher nationaler Befreiungsschlag, aber wurde nie 11 Vgl. Poll of Polls, United Kingdom. National parliament voting intention, www.politico.eu, 30.11.2022. 12 Vgl. Dan Hodges, If Rishi Sunak is going to save the Tories, he must start acting like a leader – not a project manager, www.dailymail.co.uk, 26.11.2022; John Rentoul, Has the Conservative Party decided it wants to lose the next election?, www.independent.co.uk, 26.11.2022.

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wirklich enttarnt, und die Parteibasis glaubt daher unbeirrbar weiter an ihn. Absurderweise leistet die Opposition den Tories in dieser Frage unerwartet Schützenhilfe. Labourchef Keir Starmer hat sich nämlich jetzt für die Taktik entschieden, die Regierung beim Brexit gewissermaßen von rechts zu überholen. Starmer wird neuerdings nicht müde zu betonen, dass eine Rückkehr in die EU mit ihm klar ausgeschlossen sei. Stattdessen zieht er mit der Parole „We will make Brexit work“ durch die Lande und wettert gegen Truss und Sunak, die die Chancen des Brexit bis heute nicht wirklich genutzt hätten. Das alles mag eine clevere Taktik sein, um die vom Brexit begeisterten Labour-Wähler zurückzuholen, die 2019 in Massen zu den Tories abgewandert waren und die bei der nächsten Wahl entscheidend sein dürften. Aber eine echte Strategie, um das Land aus der gegenwärtigen Krise zu steuern, ist das nicht. Im Gegenteil: Indem auch Starmer die inhärenten Widersprüche des Brexit nicht offen benennt, verlängert er so nur den Zeitraum, in dem das Land noch tiefer in die Krise rutscht. Zusätzlich erhöht er dadurch den Druck auf Rishi Sunak, sich zum „reinen Glauben“ zu bekennen. Dessen Spielraum, die Brexit-Probleme stattdessen anzugehen und offen zu benennen, wird durch Starmers Taktik nur noch stärker eingeschränkt. So dürfte Sunak, wenn seine Partei ihn nicht doch noch vorher erledigt, die Zeit bis zu den nächsten Wahlen als müde Fußnote der Geschichte verbringen. Ein Technokrat, der sich zum reinen Brexit-Glauben bekennt, obwohl er die Faktenlage genau kennt. Einer, der versucht, pragmatisch Probleme zu lösen, während die politische Landschaft rundherum ihn zwingt, an der Realität vorbeizuregieren. Ein Premierminister, der sein Land nicht aus der Krise führen kann, sondern hilflos zuschauen muss, wie es sich weiter schlafwandelnd im Kreis dreht.



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Troels Heeger

Dänemark: Eine Sozialdemokratie für das 21. Jahrhundert? In Europa wird die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen oft als rechte Sozialdemokratin bezeichnet. Statt den Rechtspopulismus zu bekämpfen, übernehme sie dessen fremdenfeindliche Prämissen und verrate damit das sozialdemokratische Erbe. Dabei wagt sie derzeit ein bemerkenswertes Experiment: die Wiederentdeckung der breiten Mitte in der dänischen Politik. Die Parlamentswahlen vom 1. November 2022 endeten für Frederiksen mit einem Triumph. Dank der 27,5 Prozent für ihre Sozialdemokraten kann sie es sich aussuchen, ob sie künftig mit rechten oder linken Parteien kooperieren will. Angetreten mit dem Wahlkampfslogan „Sicher durch unsichere Zeiten“ wurde die amtierende Ministerpräsidentin gleich in zweifacher Hinsicht belohnt, nämlich sowohl für ihren Umgang mit der Coronakrise als auch für ihre Rolle bei der Sicherung des Sozialstaats in einer von globalen Krisen geprägten Realität. Schon vor der Wahl hatte Frederiksen angekündigt, dass sie eine Regierung der Mitte anstrebt. Ende November brach sie dann die Verhandlungen mit der Klimapartei Alternativet und der linken Enhedslisten ab. Stattdessen wandte sie sich an die geschwächte Mitte-rechts-Partei Venstre und verhandelt nun mit ihr über eine Minderheitsregierung, die sich auf die Mandate der pragmatischen Parteien der Mitte stützen muss. Sollte Mette Frederiksen am Ende tatsächlich eine gemeinsame Regierung mit Mitte-rechts-Kräften bilden, wäre dies eine historische Zäsur. In den vergangenen bald fünf Jahrzehnten herrschte in Dänemark die so-

genannte Blockpolitik: Abwechselnd regierten der rote Block unter Führung der Sozialdemokraten und der blaue Block unter Führung von Liberalen oder Konservativen. Jetzt aber strebt Mette Frederiksen eine „breite Regierung“ an. Um zu verstehen, warum das ein Meilenstein sein könnte, muss man einen Blick auf die dramatischen Entwicklungen in der jüngeren dänischen Politik werfen. Bei den Wahlen 2001 schickte der liberale Ministerpräsident und spätere Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen die dänische Linke für fast ein Jahrzehnt in die Opposition, als er mit den Stimmen der einwanderungsfeindlichen, rechten Dänischen Volkspartei eine bürgerliche Regierung bildete. Zuvor hatte Fogh seine ultraliberalen Visionen von einem schlankeren Wohlfahrtsstaat aufgegeben und stattdessen eine knallharte Wertepolitik zum bürgerlichen Schlachtfeld des neuen Jahrtausends erklärt. Diese Strategie war erfolgreich: Sie lockte traditionell sozialdemokratische Wähler mit konservativen Sympathien zum bürgerlichen Lager. Mit der Dänischen Volkspartei im Rücken führte Fogh einen effektiven Kulturkampf, der sich sowohl gegen elitäre Experten als auch gegen den langjährigen Unwillen der Linken richtete, die integrationspolitischen Folgen der extrem liberalen Einwanderungsgesetze Dänemarks zu korrigieren, die seit 1983 weitgehend unverändert geblieben waren. Foghs Sieg löste bei der dänischen Linken und nicht zuletzt bei der natürlichen Machtpartei, der Sozialdemokratie, einen Schock aus. Unter der kurzlebigen

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32 Kommentare Mitte-links-Regierung von Helle Thorning-Schmidt (2011 bis 2015) trat dann eine junge Sozialdemokratin als Arbeitsministerin ins Zentrum der dänischen Politik: Mette Frederiksen. Der Aufstieg der Mette Frederiksen Geboren in der Arbeiterstadt Aalborg, gehörte sie zunächst dem linken Flügel der Partei an. Sie studierte Afrikawissenschaften an der Universität Roskilde und machte mit einem Vorschlag zur Kriminalisierung der Prostitution auf sich aufmerksam. Doch als Arbeits- und später als Justizministerin machte sie sich schnell einen Namen als harte und effektive Politikerin. Als dann Thornings Regierung wegen ihrer rechtsgerichteten Wirtschaftspolitik 2015 abgewählt und der Liberale Lars Løkke Rasmussen Ministerpräsident wurde, übernahm Frederiksen die Führung der Sozialdemokraten mit einer vorrangigen Aufgabe: die entfremdeten Stammwähler aus der Arbeiter- und Mittelschicht zurückzugewinnen, die jahrelang bei der Dänischen Volkspartei Zuflucht gesucht hatten. Als Mette Frederiksen 2019 mit einer Kombination aus harter Einwanderungspolitik und Sozialreformen an die Macht kam, war dies der Höhepunkt jahrelanger strategischer Arbeit: Sie schuf eine rote Mehrheit, indem sie Wähler der Dänischen Volkspartei zurückgewann. In Zahlen ausgedrückt, sieht das so aus: Bei den Wahlen 2015 wurden die Rechtspopulisten mit 21,2 Prozent der Stimmen die größte Partei rechts der Mitte und hätte in die Regierung kommen können. Vier Jahre später, bei Mette Frederiksens erstem Sieg, erhielten sie nur noch 8,7 Prozent, und jetzt musste sie sich mit schwachen 2,7 Prozent begnügen. Damit haben sie den Sprung über die Sperrhürde nur knapp geschafft und stecken jetzt – dank Frederiksens Politik – in einer tiefen Krise.

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Angesichts dieser unbestreitbaren Erfolge sahen der ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und der britische Intellektuelle und Labour-Abgeordnete David Goodhart bereits 2019 in Mette Frederiksen eine Inspiration für SPD und Labour. Dennoch ist ihr strategisches Kalkül in der internationalen Forschung und in den Medien umstritten. Politikwissenschaftler wie Tarek Abou-Chadi und Cas Mudde haben die europäischen Sozialdemokraten mehrfach davor gewarnt, den Rechtsruck der dänischen Sozialdemokratie in Sachen Einwanderung und Werte zu kopieren, um so Wähler von rechtspopulistischen Parteien zurückzugewinnen.1 Hingegen argumentieren die dänischen Politikwissenschaftler Frederik Hjorth und Martin Vinæs Larsen auf Grundlage einer Analyse der Wählerwanderung bei den Wahlen 2019, dass die Anpassung an die rechte Einwanderungspolitik die Linke stärken kann: „Da die davon abgestoßenen Wähler zu anderen linken Parteien überlaufen, während die angezogenen Wähler von rechten Parteien kommen, erhöht sich die Gesamtunterstützung für Parteien, die eine linke MainstreamRegierung unterstützen“, so Hjort und Larsen.2 Zudem übersehen internationale Beobachter bei ihrer Kritik am Rechtsruck der Sozialdemokraten, dass Frederiksen in der dänischen Wahrnehmung 2019 eine „Klimawahl“ gewonnen hat, wie etwa der Wahlforscher Kasper Møller Hansen argumentiert. Ein Jahr später verabschiedete die damalige Mitte-links-Regierung denn auch ein Klimagesetz, das Dänemark dazu verpflichtet, seine CO2-Emissionen bis 2030 um 70 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 zu senken. 1 Cas Mudde, Why copying the populist right isn’t going to save the left, www.theguardian. com, 14.5.2019; Tarik Abou-Chadi, Reto Mitteregger und Cas Mudde, Left behind by the working class?, www.library.fes.de, 2021. 2 Frederik Hjorth und Martin Vinæs Larsen, When Does Accommodation Work?, www. cambridge.org, 17.12.2020

Ein derart progressives Klimagesetz mit linker Mehrheit wurde aber nur deswegen möglich, weil es Frederiksen gelungen war, Wähler der Dänischen Volkspartei mit einer großzügigen Rentenreform, aber eben auch mit einer strikten Einwanderungspolitik zurück in die Mitte zu locken, während linkere Wähler für progressive Parteien wie SF, Enhedslisten, Radikale Venstre und Alternativet votierten. Im jüngsten Wahlkampf nahmen die Themen Einwanderung, Integration und Islam dann fast keinen Raum mehr ein, obwohl sie die dänische Politik zuvor jahrzehntelang dominiert hatten. Stattdessen standen klassische sozialdemokratische Themen wie Löhne und das Gesundheitssystem ganz oben auf der Agenda. Vielleicht lässt sich diese Entwicklung durch einen breiten Konsens erklären: Die dänischen Wähler sind sich weitgehend einig, dass eine strikte Einwanderungspolitik eine Voraussetzung für das Überleben des Wohlfahrtsstaates im Zeitalter der Massenmigration ist. Seit 2001 und insbesondere seit der Flüchtlingskrise von 2015 haben die aufeinanderfolgenden Regierungen daher das Asylsystem in einem Maße verschärft, dass inwischen jede weitere Verschärfung die Gefahr birgt, dass Dänemark gegen seine Verpflichtungen aus internationalen Übereinkommen verstößt. Unterdessen haben sich die einwanderungsfeindlichsten Wähler neuen Parteien, wie den Dänischen Demokraten oder den Neuen Bürgerlichen, zugewandt. Daher ist die extreme Rechte gespalten, was die Chancen der gesamten Rechten auf eine dauerhafte Mehrheit geschmälert hat. Die Zersplitterung des Rechtsaußenmilieus in immer radikalere Parteien führte schon vor der Wahl 2022 zu neuen Brüchen im bürgerlichen Lager. Bereits 2019 hatte der Liberale Lars Løkke Rasmussen dort massive Schockwellen ausgelöst, als er mitten im Wahlkampf das Buch „Der Moment der Befreiung“ veröffentlichte. Darin kritisiert er die

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Vorstellung einer bürgerlichen Mehrheit unter Einbeziehung rechtsextremer Parteien und erklärt stattdessen, dass Dänemark eine breite Regierung brauche. Kurz nach der Wahl trat Løkke aus der liberalen Venstre aus und gründete im Sommer 2022 die Moderate Partei, die bei den jüngsten Wahlen 9,3 Prozent erhielt. Mit der von ihm erklärten Unabhängigkeit von den traditionellen Blöcken ist Løkkes Partei zu einem weiteren Hindernis für den Traum des bürgerlichen Lagers von einer rechten Mehrheit geworden. Für den konservativen Historiker Christian Egander Skov, der mit seinem 2022 erschienenen Buch „Borgerlig Krise“ eine der besten Analysen der umfassenden ideologischen Krise im bürgerlichen Dänemark vorgelegt hat, ist Lars Løkke Rasmussen ein Tollpatsch der dänischen Rechten: „Was wollen die Moderaten wirklich moderieren? Die Neuen Bürgerlichen wollen sie an eine technokratische Konsenspolitik binden. Daran hat sich nichts geändert, seit Lars Løkke als Vorsitzender der Liberalen Partei im Jahr 2019 in einem Moment der Befreiung die Blockpolitik anprangerte“, so Egander Skov in der Tageszeitung „Berlingske“: „Die Trennung ist total. Wenn der Populismus eine Revolte gegen Merkmale der bürgerlichen Ideologie war, wie ich in meinem Buch ‚Borgerlig krise‘ dargelegt habe, dann waren die Moderaten eine Revolte gegen die Revolte.“ Wahlkampf mit Nerzen und Corona Während das bürgerliche Dänemark bis 2019 traditionell mit harter Einwanderungspolitik punkten konnte, glaubt heute eine Mehrheit der dänischen Wählerinnen und Wähler, dass Mette Frederiksen die beste Garantin für einen soliden Wohlfahrtsstaat und eine strikte Einwanderungspolitik ist. Im Wahlkampf 2022 setzten die bürgerlichen Parteien daher alles daran,

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34 Kommentare Frederiksen mit dem sogenannten Nerzskandal in Bedrängnis zu bringen. Im November 2020 hatte Frederiksens Regierung nach Warnungen der staatlichen Gesundheitsbehörden die Keulung aller Nerze im Land angeordnet, um so Mutationen des Coronavirus zu verhindern. Einige Tage später stellte sich heraus, dass die Anordnung keine rechtliche Grundlage hatte. Dennoch wurden die Keulungen mit Hilfe der Polizei illegal fortgesetzt, bis die Regierung einige Wochen später mit einem neuen Gesetz eine rechtliche Grundlage für die Massentötung schuf. Allerdings blieb unklar, ob Frederiksen wusste, dass die Keulung illegal war, als sie die Anordnung dazu gab. Ebenso rätselhaft ist, warum der umfangreiche Beamtenapparat die Regierung bei einer Entscheidung von solch weitreichenden Ausmaßen nicht vor der fehlenden rechtlichen Befugnis gewarnt hat. Im April 2021 setzte das Parlament die sogenannte Nerz-Kommission ein, um den rechtlich komplexen Vorgängen auf den Grund zu gehen. In ihrem Abschlussbericht wurde Frederiksen zwar wegen „grob irreführender“ Aussagen heftig kritisiert, aber die Kommission fand keine schlüssigen Beweise dafür, dass die Ministerpräsidentin die rechtswidrige Anordnung absichtlich erteilt hatte. Dennoch setzten die bürgerlichen Parteien im Vorfeld der jüngsten Wahlen alles daran, Frederiksen als zynische und machtgierige Technokratin darzustellen, die von der fehlenden Rechtsgrundlage wusste. „Ich traue Mette Frederiksen nicht“, so der Vorsitzende der Venstre, Jakob Ellemann-Jensen. Am Ende konnten jedoch weder Pandemie, tote Nerze noch die hohe Inflation das Vertrauen der dänischen Wähler in Mette Frederiksen entscheidend erschüttern. Und seiner öffentlichen Misstrauenserklärung zum Trotz verhandelt Ellemann-Jensen nun mit den Sozialdemokraten über eine breite Regierung.

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Vieles deutet also darauf hin, dass Dänemark auf ein neues Zentrum zusteuert. Mit der Venstre und ihrer bäuerlichen Basis als Regierungspartner könnte Frederiksen umfassende Vereinbarungen über die Reformen der dänischen Landwirtschaft treffen, die notwendig sind, um die Ziele des Klimagesetzes zu verwirklichen. Andererseits müssten sich die Sozialdemokraten in einer solchen Konstellation auf wirtschaftspolitische Auseinandersetzungen einstellen. Denn während sie auf öffentliche Lohnerhöhungen setzen, will die Venstre eine klassische Angebotspolitik betreiben. Zudem hat im Nachbarland der Aufstieg der AfD gezeigt, dass große Koalitionen der Mitte ein riskantes politisches Experiment sind: Unzufriedenen Wählern bleibt dann keine andere Wahl außer den Rändern. Eine marginalisierte Linke wird Mette Frederiksen als neoliberalen Wolf im Schafspelz angreifen, während eine marginalisierte extreme Rechte auf jedes Anzeichen von Schwäche in der Einwanderungspolitik eindreschen wird. Überdies könnte es für eine traditionelle Machtpartei wie die Venstre schwierig sein, sich in die Rolle des Juniorpartners einzuleben. Seit 1978 hatte Dänemark keine Regierung aus Sozialdemokraten und Venstre mehr. Damals dauerte das Experiment nur 14 Monate, bevor das gegenseitige Misstrauen der Regierung ein frühzeitiges Ende bereitete. 45 Jahre später sind nun mit dem Ende der Blockpolitik auch die Weichen für eine historische Neuerfindung der breiten Mitte in der dänischen Politik gestellt. Gelingt es Mette Frederiksen tatsächlich, eine Parlamentsmehrheit für eine Regierung mit der Venstre herzustellen und gleichzeitig die extremen Flügel in Schach zu halten, hat sie gute Chancen, als die Frau in die dänische Geschichte einzugehen, die die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert neu erfunden hat – allen Widrigkeiten zum Trotz.



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Ulrike Baureithel

Unter der Flagge der Selbstbestimmung: Das Geschäft mit dem Kinderwunsch Vergangenen Sommer war im GundaWerner-Institut der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin eine bemerkenswerte Ausstellung mit dem Titel „Baby machen“ zu sehen.1 Aus der Perspektive von Eizellspenderinnen erzählt die Schweizer Sozialanthropologin Laura Perler, die lange in spanischen Reproduktionskliniken geforscht hat, vom Geschäft mit dem Kindermachen. „Ich brauchte Geld für eine Therapie, und es war eine leichte Art, an Geld zu kommen“, begründete Elia Muñoz auf der Vernissage im Juni 2022 ihre Entscheidung, Eizellspenderin zu werden. Die Ausstellung führte vor, was es für die betroffenen Frauen bedeutet, ihre Eizellen zu „spenden“: von den indiskreten Fragen zum Intimleben über die belastenden Hormonstimulationen bis hin zur Prozedur in der Klinik. Dort müssen sich die Eizellgeberinnen in Hinterzimmern aufhalten, damit sie nicht auf die Empfängerinnen treffen, die in den freundlichen Vorderräumen behandelt werden. Denn die Eizellspende erfolgt in Spanien, dem größten europäischen Anbieterland dieser Dienstleistung, anonym. „Ich kam mir wie eine Eizelle mit Beinen drunter vor“, berichtete Muñoz von ihrer Erfahrung. Von dieser tunlichst verborgenen Seite der Reproduktionsmedizin ist hierzulande nur selten die Rede. Vielmehr dominiert die Geschichte von kinderlosen Paaren mit ihrem herzzerreißenden Kinderwunsch und ihren Anstrengungen, irgendwie, und 1 „Baby machen. Eizellspende und Reproduktionspolitiken“. Eine Ausstellung von Laura Perler und Mirko Winkel. Derzeit noch zu sehen im Kornhausforum Bern, bis 14. Januar 2023.

sei es auf illegalem Wege, doch noch zu einem Baby zu kommen, das ihnen – je nach Sicht – von einer weltfernen Politik oder verbiesterten Ideolog*innen vorenthalten wird und sie ins Ausland treibt. Nicht selten werden diese Erzählungen begleitet von dem mehr oder weniger subtilen Hinweis auf die demographische Situation in Deutschland oder von den Klagen deutscher Fortpflanzungsmediziner*innen, die sich auf diesem Markt benachteiligt fühlen. Betont wird dabei immer, dass die Frauen in Spanien, in Tschechien oder der Ukraine freiwillig Eizellen liefern und damit ein gutes Werk tun. Die Ampelkoalition will nun Abhilfe schaffen. Insbesondere die FPD verwendet viel Energie darauf, den Kinderwunschmarkt in Deutschland auszubauen. Unter dem Begriff „Reproduktive Selbstbestimmung“ formuliert die Regierung zum einen ihre Absicht, das Selbstbestimmungsrecht der Frauen zu stärken und die Versorgungssicherheit beim Schwangerschaftsabbruch zu gewährleisten, was inzwischen immerhin zur Streichung des §  219a geführt hat, der Aufklärung zum Schwangerschaftsabbruch quasi unter Strafe stellte.2 Andererseits wird Kinderlosen im selben Kapitel des Koalitionsvertrags Unterstützung versprochen und „diskriminierungsfreie“ künstliche Befruchtung, unabhängig von Familienstand und sexueller Identität, in Aussicht gestellt.3 2 „Mehr Fortschritt wagen“, Koalitionsvertrag 2021-2025 vom 7.12.2021. 3 Vgl. zu weiteren familienpolitischen Vorhaben der Koalition den Beitrag von Matthias Meisner in dieser Ausgabe.

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36 Kommentare Da in Deutschland noch immer kein Fortpflanzungsmedizingesetz existiert, sind reproduktive Verfahren strafrechtlich geregelt. Das Embryonenschutzgesetz von 1990 verbietet sowohl die Eizellspende als auch die Leihmutterschaft mit Hinweis auf die „gespaltene Mutterschaft“. Die In-vitro-Fertilisation (IVF),4 also die Befruchtung der Eizelle außerhalb des Körpers der Frau mit Spermien des Ehemannes oder Spendersamen, ist nach der Musterrichtlinie der Bundesärztekammer verheirateten Paaren vorbehalten. Biologistisches Abstammungsrecht Das Abstammungsrecht verfügt, dass Mutter des Kindes ist, wer das Kind ausgetragen hat. Die biologistischen und homophoben Implikationen dieser Rechtsverhältnisse sind so augenfällig, dass sie dringend nach Veränderung rufen. Die FDP mit ihrer Abgeordneten Katrin Helling-Plahr nimmt dies jedoch zum Anlass, nun endlich auch das ungeliebte Embryonenschutzgesetz abzuwickeln und den Markt für mannigfaltige Fortpflanzungsdienstleistungen zu öffnen. Unter dem Label „Selbstbestimmung“ verbindet die Koalition dies – nicht ungeschickt –  mit alten Forderungen der Frauen- und neuen der queeren Bewegung. Gleichzeitig handelt es sich dabei um eine Strategie der Forschungsliberalisierung, denn standortbesorgte Wissenschaftler*innen haben, fast 20 Jahre nach Verabschiedung des Stammzellgesetzes, ihre Begehrlichkeit nach „frühen Embryonen“ angemeldet. Wie 4 Bei der IVF werden Eizelle und Spermien in einer Petrischale zusammengebracht; bei der sogenannten ICSI (Intracytoplasmatische Spermieninjektion) wird ein Spermium direkt in die Eizelle eingeführt. Nach wenigen Tagen werden eine oder mehrere befruchtete Eizellen in die Gebärmutter der Frau übertragen. Die Schwangerschaftsquote liegt bei um die 30 Prozent, die „Baby-take-home“-Quote bei knapp über 20 Prozent, stark abhängig vom Alter der Paare. Vgl. Deutsche IVF-Register, DIR-Jahrbuch 2021, www.deutsches-ivf-register.de.

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schon bei der 2019 vorgelegten Stellungnahme zur Fortpflanzungsmedizin5 firmiert auch hier die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina als Pressuregroup. Zusammen mit der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften veröffentlichte sie 2021 eine Empfehlung zur Neubewertung des Embryonenschutzes und plädiert dafür, hierzulande lagernde, nicht mehr benötigte „überzählige“ Eizellen für „hochrangige Forschungszwecke“ einzusetzen.6 Bisher dürfen Forschende in Deutschland lediglich Stammzellen nutzen, die aus bis zu einem bestimmten Stichtag produzierten Linien stammen. Diese, so die Rechtfertigung der nun vorpreschenden Wissenschaftler*innen, seien jedoch oft verunreinigt und untauglich. Interessanterweise bringt die Stellungnahme als „hochrangig“ nicht nur die Grundlagenforschung zu Volkskrankheiten wie Alzheimer oder Demenz in Anschlag wie noch vor Jahren die Stammzellforschenden, sondern sie rückt die Bedeutung von Embryonen für die reproduktive Forschung und die Optimierung reproduktiver Verfahren wie IVF und ICSI in den Vordergrund. Man verspreche sich von der Forschung an Embryonen einen „entscheidenden Beitrag“, um die Gesundheitsrisiken von Mutter und Kind zu verringern und die Absterbequote von Embryonen nach einer IVF-Behandlung zu senken. Das Argument dürfte auf Frauen zielen, deren Embryonen kryokonserviert in Eizellbanken lagern, und die – für den Fall, dass sie die „überzähligen“ Embryonen nicht mehr selbst verwenden wollen –, ihr Einverständnis für die wissenschaftliche Nutzung geben müssten. Appelliert wird an 5 Elmar König, Fortpflanzungsmedizin in Deutschland – für eine zeitgemäße Gesetzgebung, www.leopoldina.org, Juni 2019. 6 Ders., Neubewertung des Schutzes von Invitro-Embryonen in Deutschland, www.leopoldina.org, 2021. Die Stellungnahme ist übrigens dem verstorbenen Reproduktionsmediziner Henning M. Beier gewidmet.

deren Hilfsbereitschaft gegenüber anderen kinderlosen Paaren, womit sich der Kreis zwischen Forschungs- und Fortpflanzungsmarkt wieder schließt. Im Hinblick auf die Schutzbedürftigkeit der Embryonen und ihren rechtlichen Status verweisen die Expert*innen der Leopoldina und der Deutschen Akademie der Wissenschaften auf den „ethischen Pluralismus von Auffassungen“. In einer demokratischen Gesellschaft müssten in Fällen von ethischem Dissens Kompromisse gesucht werden. Im Fall der Nutzung früher Embryonen finde dies seinen Ausdruck in einem „abgestuften Embryonenschutz“. Die Mär von der altruistischen Spende Im Mittelpunkt der Eizellspende – sei es an kinderlose Paare oder an die Forschung – steht das Konstrukt der Spende. Doch was bei aus einer IVF-Behandlung hervorgegangenen, „überzähligen“ befruchteten Eizellen, die sonst verworfen werden, sinnvoll erscheinen könnte, wird mit der Eizellfremdspende und erst recht mit der Leihmutterschaft prekär: Auch diese wird im Koalitionsvertrag der Ampel altruistisch als „Spende“ bezeichnet. Denn nichts fürchten die treibenden Kräfte in Politik und Wissenschaft mehr als den Eindruck, es sei bei diesem Thema Geld im Spiel. Doch einmal davon abgesehen, dass sich die Reproduktionsmediziner*innen ihre Dienstleistung von den nachfragenden Paaren sehr gut bezahlen lassen und die Renditen der internationalen Reproduktionskliniken enorm sind, erhalten auch die Eizellgeberinnen eine als „Aufwandsentschädigung“ oder „Anreiz“ bezeichnete Bezahlung, die zwischen 700 und 1000 Euro liegt und in Ländern wie Tschechien, Spanien und bis zum Kriegsbeginn vor allem in der Ukraine für viele Frauen Überlebensmittel sein kann. In Großbritanni-

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en wurde die Aufwandsentschädigung 2012 von 250 auf 750 Pfund erhöht, um dem „Mangel“ an Eizellen entgegenzuwirken.7 Kürzlich berichtete das ARD-Studio London, dass immer mehr Britinnen ihre Eizellen spenden, natürlich nur aus dem Wunsch heraus „zu helfen“.8 Auf den Gedanken, dass in dem unter den Brexit-Folgen leidenden Land Frauen selbst auf diese 750 Pfund – damals noch 900 Euro – angewiesen sein könnten, kam die Autorin nicht. Schon aus diesem Grund verschleiert der Begriff „Spende“ die nackten Tatsachen. Doch die Vorstellung der selbstlosen Gabe, die dabei mitschwingt, ist auch aus anderen Gründen problematisch. Die in Dortmund lehrende Soziologin Mona Motakef macht darauf aufmerksam, dass in der Logik der Gabe immer ein Beziehungsaspekt mitschwingt, ein Geben, Nehmen und Erwidern, was bei der Eizellspende und Leihmutterschaft gerade nicht der Fall ist. Außerdem seien Gabe und Ware gar nicht trennscharf zu unterscheiden, sondern es handele sich um ein „Kontinuum“, wobei der Gabentausch in westlichen Gesellschaften mit einer romantischen moralischen Aufladung einhergehe.9 Im Fall der Eizellspende wird dabei das Machtgefälle zwischen nachfragenden und „spendenden“ Frauen ebenso ausgeblendet wie die gesundheitlichen Risiken, die mit dieser „Gabe“ verbunden sind, gar nicht zu sprechen von den Bindungen zu einem potenziellen Kind. Dennoch sind auch die Eizellgeberinnen – wie Stefanie Graefe und ihr Team derzeit in Spanien erforschen –, bemüht, im Nachhinein altruistische Motive zu betonen, um die „Warendimension“ des Eizellgeschäfts zu leugnen oder herunterzu7 Stellungnahme von Susanne Schultz bei der öffentlichen Anhörung im Gesundheitsausschuss des Dt. Bundestags am 20.1.2021, Ausschussdrucksache 19(14)268(2). 8 Valerie Krall, ARD-Studio London, 8.4.2022. 9 Mona Motakef, Gabe oder Ware? Vortrag auf der Veranstaltungsreihe „Zwischen Ausbeutung und reproduktiver Freiheit“, 13.10.2022.

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38 Kommentare spielen. Als sicher gilt, dass ohne finanzielle Anreize kaum Eizellspenderinnen zur Verfügung stünden: „Die Anrufung von Frauen, ‚uneigennützig‘ zur Wunscherfüllung Dritter beizutragen“, heißt es in einer Stellungnahme der Feministischen Initiative gegen reproduktive Ausbeutung (fem*ini), „und den eigenen Körper bzw. Körperstoffe aus Nächstenliebe und Mitgefühl bereitzustellen oder abzugeben, steht in einer langen patriarchalen Tradition.“10 Und auch dem Reproduktionstourismus wird mit den Plänen der Ampel kein Einhalt geboten. Eine Legalisierung der Eizellspende könnte diesen, gibt Theologe und Ethikratmitglied Andreas Lob-Hüdepohl zu bedenken, vielmehr in die umgekehrte Richtung lenken, indem Spenderinnen aus finanziellen Gründen nach Deutschland reisen.11

In der Ärzteschaft findet die FDP allerdings Unterstützung. Die Bundesärztekammer zeigt sich gegenüber der Legalisierung der Eizellspende grundsätzlich aufgeschlossen, vorausgesetzt, dass Reproduktionsmediziner*innen in einem rechtssicheren Raum arbeiten können. Auch in der Medizinethikerin Claudia Wiesemann, die maßgeblich an der Stellungnahme der Leopoldina mitgearbeitet hat, haben die Liberalen eine entschiedene Mitstreiterin. Weder die gesundheitlichen Risiken für die Spenderinnen noch deren ökonomische Situation hält sie für eine ausreichende Begründung, die Eizellspende mit einem weiteren Verbot zu belegen. Auf der Politik lastet indessen auch eine Art Normalisierungsdruck, weil zumindest die Eizellspende in fast allen Ländern Europas entweder erlaubt ist oder zumindest geduldet wird. In der Schweiz hat

im September 2022 zunächst der Ständerat – vergleichbar mit dem deutschen Bundesrat – mit 22 gegen 20 Stimmen knapp einem solchen Vorstoß zugestimmt, allerdings bleibt das Verfahren auf kinderlose Ehepaare beschränkt.12 Auch dort sind die Liberalen die Treiber. In Deutschland scheinen es bislang SPD und Grüne mit der völligen Freigabe nicht ganz so eilig zu haben. Der Ball liegt derzeit bei Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), der für die Berufung einer geplanten Expertenkommission zuständig ist. Ende November hatte die Kommission die Arbeit noch nicht aufgenommen, und man darf gespannt sein, wie plural sie besetzt sein wird. Neben Eizellspende und Leihmutterschaft soll sie auch die Möglichkeit des Elective Single Embryo Transfer beurteilen – also die gezielte Auswahl eines einzigen Embryos mit den besten Entwicklungsmöglichkeiten. Bislang werden Frauen oft noch zwei Embryonen eingesetzt, was nicht selten zu Zwillingsschwangerschaften führt, derweil in Dänemark seit Jahren nur eine befruchtete Eizelle transferiert wird. Eine Auswahl darf bislang nur im Rahmen des Präimplantationsgesetzes und unter strengen Vorgaben getroffen werden, wie das Bundesverwaltungsgericht im Dezember 2020 erneut bekräftigt hat – die Realität in den zahlreichen Fertilitätskliniken mit hoffnungsvollen Kinderwunschpaaren dürfte allerdings schon jetzt eine andere sein.13 In dieser so wichtigen, emotional aufgeladenen, oftmals mit irrationalen Hoffnungen verbundenen und an ethischen Grundsätzen sägenden Debatte wäre eines dringend zu wünschen: Die geplante Kommission, ganz unabhängig von ihrer Zusammensetzung, möge nicht nur hinter verschlossenen Türen arbeiten, sondern sich auch wirklich für eine breite gesellschaftliche Debatte einsetzen.

10 Vgl. Für reproduktive Gerechtigkeit, www.genethisches-netzwerk.de. 11 Vgl. König, Fortpflanzungsmedizin in Deutschland..., a.a.O.

12 Vgl. Schweizer Rundfunk, 13.9.2022. 13 Vgl. „Bundesverwaltungsgericht stärkt Embryonenschutz“, in: „Ärzteblatt“, 2.12.2020.

Europäischer Normalisierungsdruck

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Matthias Meisner

Streit ums Sorgerecht: Das umkämpfte Wechselmodell Es ist eine schöne Perspektive – in einer heilen Welt. Wenn Eltern sich trennen und nach einer Lösung für die Erziehung der gemeinsamen Kinder suchen, kommt immer öfter das paritätische Wechselmodell ins Spiel, auch Doppelresidenzmodell genannt: Beide Eltern teilen sich die Kinderbetreuung möglichst gerecht auf; die Kinder verbringen jeweils gleich viel Zeit mit beiden Eltern. Das ist modern und passt in jenen Fällen, in denen sich die Eltern einvernehmlich einigen – und das Agreement auch über längere Zeit funktioniert. Vor allem muss dabei das Kindeswohl im Mittelpunkt stehen, denn die Kinder sollten gut damit leben können und wollen; schließlich bedeutet es für sie in den meisten Fällen, wöchentlich die Wohnung zu wechseln. In Großstädten, wo Eltern nahe beieinander leben, gelingt dies besser als auf dem flachen Land mit weiten Wegen – oder wenn die Eltern ganz weit auseinander wohnen. Sobald es aber im Zuge einer Trennung zu einem erbitterten Sorgerechtsstreit unter Beteiligung von Jugendämtern, Sachverständigen und Familiengerichten kommt, haben alle Involvierten meist schon verloren, allen voran die Kinder. Das gilt insbesondere, wenn der Vorwurf von Partnerschaftsgewalt im Raum steht. Dann sollte das Doppelresidenzmodell eigentlich von vornherein tabu sein – doch obwohl viele Expert*innen genau das fordern, um den Schutz von Frauen und Kindern sicherzustellen, ist seit Jahren eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten: Noch in den 1970er und 80er Jahren wurde in der Bundesrepublik

Frauen im Trennungsfall nahezu immer das Sorgerecht zugesprochen. Doch seit den 1990er Jahren weht durch die Jugendämter und Familiengerichte ein anderer Wind. Organisierte Väterrechtler haben erfolgreich Lobbyarbeit betrieben und dafür gesorgt, dass ihr Petitum, „wenn ein Kind keinen Kontakt zu beiden Elternteilen hat, wird es schweren Schaden nehmen“1, als Leitgedanke immer stärker auch den Schutz vor Gewalt überdeckt – zulasten betroffener Frauen und Kinder. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit Auch die Ampelregierung hat sich im Koalitionsvertrag vorgenommen, die „partnerschaftliche Betreuung der Kinder nach der Trennung“ zu fördern, und will „insbesondere das Wechselmodell in den Mittelpunkt stellen.“2 Zwar fordert auch sie, dass festgestellte häusliche Gewalt „in einem Umgangsverfahren zwingend zu berücksichtigen“ sei und die Istanbul-Konvention – das 2011 ausgearbeitete Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt – „vorbehaltlos und wirksam“ umgesetzt werden soll. Doch in beiden Fällen klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit ausein1 So die Sozialarbeiterin und Aktivistin Carola Wilcke. Zit. nach Marie von Kuck, „Ihre Angst spielt hier keine Rolle“. Wie Familiengerichte den Schutz von Frauen aushebeln, www.hoerspielfeature.de, 15.3.2022. 2 Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, Berlin 2021, S. 102.

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40 Kommentare ander: Erst im vergangenen Oktober stellte ein Expertenausschuss fest, dass die Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland erhebliche Defizite aufweist.3 Auch um die gerichtsfeste Feststellung von Partnerschaftsgewalt, insbesondere in Sorgerechtsstreitigkeiten, steht es schlecht. So häufen sich haarsträubende Fälle und richterliche Entscheidungen. Haarsträubende Entscheidungen Beispielhaft ist der Fall einer mit dem Tode bedrohten Frau in Sachsen-Anhalt, der „elterliche Entfremdung“ vorgeworfen wurde, nachdem sie in einem Frauenhaus Schutz gesucht hatte. Sie sollte deshalb ein Ordnungsgeld von 500 Euro zahlen. Der Beschluss wurde erst nach dem Einlegen weiterer Rechtsmittel vom Oberlandesgericht aufgehoben. Oder, zweites Beispiel, der Fall einer jungen Mutter aus Augsburg, die sich mit ihrem fünf Wochen alten Säugling in einer Eltern-Kind-Einrichtung in Görlitz befand: Ihr wurde unter Berufung auf das Augsburger Familiengericht unter Einsatz von Polizeigewalt ihr Kind entrissen, das sie gerade stillte – um es über eine Pflegefamilie zum Kindsvater zu bringen, von dem sie seit Beginn der Schwangerschaft getrennt war. Dieser hatte sie als psychisch instabil bezeichnet und von Wutausbrüchen berichtet. Sie erhebt den Vorwurf häuslicher Gewalt.4 Wer sagt die Wahrheit? Das ist nie leicht zu entscheiden. Und doch lässt sich eine Tendenz ablesen: Im Streit zwischen zwei Elternteilen um die Sorge ihrer minderjährigen Kinder kommt es im3 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Bericht des Expertenausschusses (GREVIO) zur Umsetzung des Übereinkommens des Europarates vom 11. Mai 2011 (Istanbul-Konvention) in Deutschland, www.bmfsfj. de, 7.10.2022. 4 Vgl. Matthias Meisner, Gewaltsame Inobhutnahme, www.taz.de, 31.10.2022.

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mer wieder zu fatalen Entscheidungen. Fakt ist: Gewichtige Stimmen betonen, dass es bei der Aus- und Fortbildung von Jugendamtsmitarbeiterinnen und Richtern gravierende Mängel gibt. Zu ihnen gehört der Hamburger Soziologe Wolfgang Hammer, der im April vergangenen Jahres die Studie „Familienrecht in Deutschland“5 vorlegte. Basierend auf 1000 Fällen berichtet er darin, ideologische Vorstellungen von Behörden und Justiz würden dazu führen, dass man Kinder zu Unrecht von ihren Müttern trenne. Ein halbes Jahr später bilanzierte Hammer, der Wert seiner Studie bestehe vor allem darin, dass sie die Beweislage für ein verbreitetes Problem untermauere: Durch die Priorisierung des Wechselmodells werde selbst belegtes gewaltförmiges Verhalten der Väter ausgeklammert und die Kinder würden „mit staatlicher Gewalt den Vätern zwangszugeführt“. Und: „Es geht nicht mehr nur um Einzelfälle, sondern um Systemversagen“. Dieses sieht auch der Merseburger Professor Heinz-Jürgen Voß gegeben, der aktuell im Auftrag des sächsischen Justizministeriums in einer Dunkelfeldstudie die Viktimisierung von Frauen durch häusliche Gewalt, Stalking und sexualisierte Gewalt erforscht; die Ergebnisse sollen im Januar vorgestellt werden. Auch er glaubt, dass Forderungen nach beiderseitigem Umgang mit gemeinsamen Kindern in und nach Gewaltbeziehungen zuweilen mit einer neuen Gefährdung des Kindeswohls einhergehen. Betroffene Kinder könnten dadurch Gewalt in der Familie und ihren oft traumatischen Folgen erneut ausgesetzt werden, und auch Frauen würden so zu einem stetigen Kontakt mit ihrem gewalttätigen Ex-Partner gezwungen. Auf diese Weise könne es zu neuer Gewalt kommen, die aber oft recht gut verborgen werde. Voß sieht darin im Gespräch mit dem Autor ein großes Problem, das „politisch rasch 5 Wolfgang Hammer, Familienrecht in Deutschland – Eine Bestandsaufnahme, www.familienrecht-in-deutschland.de/studie, April 2022.

angegangen werden sollte. Vor allem sollten aber zuständige Gerichte mutiger sein, das Sorgerecht nicht zu teilen, sondern es dem von Gewalt betroffenen Elternteil zusprechen.“ So weit geht Nina Weimann-Sandig explizit nicht. In ihrem Buch „Weil Kinder beide Eltern brauchen“ wirbt die Professorin an der Evangelischen Hochschule Dresden vielmehr leidenschaftlich für das Wechselmodell. Aber auch sie betont deutlich Einschränkungen: „Sind Eltern hochstrittig oder nicht in der Lage, eine strukturierte Kommunikation über das Alltagserleben ihrer Kinder zu führen, bietet sich das Wechselmodell nicht an.“ Und nach einer Trennung nach häuslicher Gewalt sei ohnehin „eine ganz andere Form der Beratung und Betreuung“ notwendig.6 »Der hat doch nur seine Frau geschlagen.« Aber ist wenigstens dies Konsens bei Ämtern und Justiz? Das ist leider nicht der Fall, wie die Vorsitzende des Landesfrauenrats Sachsen-Anhalt, Eva von Angern, mit dem Zitat eines Mitarbeiters eines dortigen Jugendamts ausführt: „Na wieso, der hat doch nur die Frau geschlagen?! Deswegen ist er doch kein schlechter Vater.“ Von Angern, die auch Vorsitzende der Linksfraktion im Magdeburger Landtag ist, sieht die mangelhafte Zusammenarbeit von Justiz, Behörden und Institutionen als „deutschlandweites Problem“ an: „Weder die Istanbul-Konvention noch die Kinderrechtskonvention sind nach unserer Erfahrung Standardwerke in unseren Gerichten.“ Auch Weimann-Sandig fordert, dass ein Verdacht auf häusliche Gewalt in der Familie zwingend bei Umgangsregelungen berücksichtigt werden müsse: „Unmittelbare Gewalt gegen die Mut6 Nina Weimann-Sandig, Weil Kinder beide Eltern brauchen, München 2022, S. 92.

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ter ist immer auch mittelbare Gewalt gegenüber dem Kind.“7 Solche Dinge zu sagen, löst allerdings nicht selten vehemente Gegenreaktionen von Väterrechtlern aus, die mit Kampagnen wie „Genug Tränen“ und dem Hashtag #KinderBrauchenBeideEltern die Debatte befeuern. Es ist eine sehr aktive Interessengruppe, wie Marie von Kuck in ihrem Deutschlandfunk-Feature „Ihre Angst spielt hier keine Rolle – wie Familiengerichte den Gewaltschutz von Frauen aushebeln“ vom vergangenen März beschrieben hat.8 Das von Väterrechtlern genutzte Schlagwort heißt „Eltern-Kind-Entfremdung“. Die Behauptung, Kinder bräuchten für eine gesunde Entwicklung ihre leibliche Mutter und ihren leiblichen Vater, sei „ein wesentliches Narrativ“ der Männer- und Väterrechtsbewegung, analysiert die Heinrich-Böll-Stiftung. Der Vorwurf einer vermeintlichen Eltern-Kind-Entfremdung werde „von Väterrechtlern, Anwält*innen und Richter*innen in Prozessen oft benutzt, um nach der Trennung eine Mutter als entfremdenden Elternteil anzuklagen“.9 Ein Vater hingegen komme aus einem solchen Grund in den seltensten Fällen vor Gericht – obwohl es zahllose Fälle gibt, in denen alleinerziehende Mütter sich im Streit um Mitbetreuungspflichten und Unterhaltszahlungen verkämpfen müssen. Sie gehören zu den am stärksten von Armut Betroffenen. „Inwieweit bei diesen Klagen Frauenhass oder der Versuch, Missbrauchsgeschehen zu vertuschen, eine Rolle spielen, muss im Einzelfall untersucht werden“, fordern die Autor*innen. 7 Dies., Trennungsfamilien helfen: Weil Kinder beide Eltern brauchen, www.stadtlandmama. de, 1.11.2022. 8 Marie von Kuck, a.a.O. 9 Dorothee Beck, Thomas Gesterkamp, Andreas Kemper, Barbara Stiegler und Henning von Bargen, Antifeminismus auf dem Weg durch die Institutionen. Strategien und maskulistische Netzwerke, www.boell.de, 4.10.2021. Vgl. auch: Thomas Gesterkamp, Männerrechte oder rechte Männer? Wie Maskulinisten um Einfluss kämpfen, in: „Blätter“, 10/2021, S. 98-104.

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42 Kommentare Die Berliner Rechtsanwältin Asha Hedayati macht im Gerichtssaal ähnliche Beobachtungen. Obwohl viele ihrer Mandantinnen nur ihre Kinder vor weiterer Gewalt schützen wollten, würde ihnen oft „Entfremdung“ des Kindes vorgeworfen, „wenn sie sich nicht auf den Umgang mit dem gewalttätigen Ex einlassen wollten“.10 Doch dass es geschlechtsspezifische Gewalt gibt, von der im Übermaß Frauen betroffen sind, wird von führenden Männerrechtlern, zumeist mit Verweis auf den eigenen spezifischen Fall, abgestritten – entgegen den Statistiken des Bundeskriminalamts und auch des Bundesfamilienministeriums, das festhält: „Es ist bekannt, dass Frauen ungleich schwerer und häufiger von häuslicher Gewalt betroffen sind als Männer.“ Heile-Familie-Ideal vs. Gewaltschutz? Vor allem das von der Grünen-Politikerin Lisa Paus geführte Ministerium wird in den Kreisen der Väterrechtler äußerst argwöhnisch beobachtet. Auch die Ende November 2022 vom Bundeskriminalamt vorgestellte neue Statistik zu Partnerschaftsgewalt bestätigt die Tendenz auf dramatische Weise: 143 604 Fälle – darunter Bedrohung, Stalking, Nötigung, Körperverletzung und Vergewaltigung – wurden gezählt; vier von fünf Opfern waren Frauen. Das Dunkelfeld ist laut BKA-Präsident Holger Münch noch erheblich größer. Vollendeten Mord und Totschlag gab es insgesamt 121mal, darunter 109 Femizide.11 Und dennoch finden auch in der FDP die Argumente der geschlechtsspezifische Gewalt leugnenden Männer-Lobby zumindest teilweise Widerhall. Seit‘ an Seit‘ mit dieser setzt sich die Partei 10 Vgl. Tweet vom 29.10.2022. Vgl. auch Moritz Aisslinger, Der Täter: Ihr Partner, www.zeit.de, 21.2.2021. 11 Bundeskriminalamt, Partnerschaftsgewalt – Kriminalstatistische Auswertung – Berichtsjahr 2021, www.bka.de, 24.11.2022.

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für das paritätische Wechselmodell als Leitbild ein. Und 2021 kämpfte sie – mit Erfolg – dagegen, dass der Begriff „Femizid“, der die Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts bezeichnet, in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde. Stattdessen verweisen FDP-Politiker*innen wie Karolin Preisler, die sich aus eigener erfolgreicher Erfahrung für das Wechselmodell stark macht, darauf, dass es auch nicht wenige männliche Opfer häuslicher Gewalt gebe. Preisler kritisiert zudem eine zu starke Polarisierung der Debatte. Die FDP würde „deutlich weniger geschlechtsspezifisch“ unterscheiden und stattdessen Geschlechtergerechtigkeit ganz neu denken. Allerdings betont auch sie: „Das Wechselmodell kann nur funktionieren, wenn es keine gravierende Gewalt gegeben hat.“ Und gibt vorsichtig zu, dass dieser Vorbehalt vereinzelt auch von Parteifreunden an der Basis nicht genug herausgestellt werde. Dass mit Marco Buschmann nun ausgerechnet das FDP-geführte Justizministerium die Federführung für die von der Ampelregierung geplante Kindschaftsrechtsreform innehat, wird daher wohl noch für Streit innerhalb der Koalition sorgen. Noch steht nicht fest, wann genau die angekündigte Reform umgesetzt wird. Doch absehbar ist schon jetzt, dass Justizminister Buschmann den kritischer gesinnten Ministerinnen Lisa Paus (Grüne, Familie) und Nancy Faeser (SPD, Inneres) die eine oder andere Bitte nach nachhaltig verankertem Frauen- und Kinderschutz abschlagen wird. Doch nur mit solchen Schutzmaßnahmen ließe sich wenigstens in Ansätzen sicherstellen, dass später in den Familiengerichten die gesamte Familienkonstellation tatsächlich berücksichtigt wird. Sollte dies misslingen, wäre das für die Frauen und Kinder, die hierzulande unter männlicher Gewalt leiden, fatal – so verlockend die Idee einer heilen Familie nach einer Trennung auch ist.

DEBATTE

Frauen in den Fokus: Der ungehobene Fachkräfteschatz Ob in der Pflege, im Handwerk oder an den Schulen: In vielen Bereichen fehlen hierzulande Fachkräfte. Der Bedarf an Arbeitskräften wächst von Jahr zu Jahr – und doch versagt die Politik massiv darin, eine potenzielle Zielgruppe von Arbeitenden wirklich in den Blick zu nehmen, nämlich Frauen, kritisiert die Journalistin Maike Rademaker. Vor einigen Wochen ist Bundesfamilienministerin Lisa Paus mit einer bemerkenswerten Zahl an die Öffentlichkeit getreten: Würden alle Frauen mit Kindern unter sechs Jahren so viele Stunden im Job arbeiten, wie sie Umfragen zufolge gerne möchten, gäbe es in dieser Republik 840 000 Arbeitskräfte mehr. 840 000 Arbeitskräfte! Und die Zahl ist ja nur ein Teil der Wahrheit: Nicht darin enthalten sind jene Frauen, deren Kinder älter als sechs Jahre sind und die gerne mehr oder überhaupt wieder arbeiten wollen. Nicht enthalten sind auch jene, die nach Jahrzehnten der Teilzeitbeschäftigung und Kindererziehung gerne zurückmöchten in die Vollzeit, aber auf einen Arbeitsmarkt stoßen, der noch immer die Gleichen bevorzugt: männlich, jung, berufserfahren. Man kann also getrost sagen: Die stille Reserve an Frauen, an weiblichen Fach- und Arbeitskräften in Deutschland, dürfte weit über einer Million liegen. Angesichts des sich dramatisch entwickelnden Arbeitskräftemangels in Deutschland der bereits jetzt Betriebe lahmlegt und die Produktion bremst, ist das ein echter Lichtblick. Sie sind da. Sie wollen arbeiten. Sie sind qualifiziert – oft sogar besser

als die Männer.1 Sie sprechen meist deutsch. Sie leben quer verteilt in der Republik, also nicht nur in Großstädten und Industriezentren, sondern überall. Sie sind, kurz gesagt, ein Schatz für die Wirtschaft. Vor diesem Hintergrund könnte man erwarten, dass sich die Politik darum reißt, wie man diesen Schatz hebt, vor allem angesichts einer Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP. Immerhin steht an der Spitze ein Sozialdemokrat (wenn auch ein Mann), dessen Frau voll berufstätig ist, der das auch gerne betont und der das Problem akut und spürbar vor der Nase hat – die Warnungen aus den Unternehmen über die Folgen des Fachkräftemangels sind zahllos. Tatsächlich betont die Regierung in ihrer gerade vorgestellten Fachkräftestrategie als eine von drei Prioritäten, dass die Erwerbsbeteiligung von Frauen nun doch wirklich erhöht werden sollte. Dafür soll an den seit Jahren bekannten Stellschrauben gedreht werden, die mit dafür verantwortlich sind, dass zwar sehr viele Frauen erwerbstätig sind, aber jede zweite davon in Teilzeit – insgesamt 1 Frauen immer noch selten in Top-Jobs, www. zeit.de, 23.2.2022.

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44 Maike Rademaker neun Millionen Menschen.2 Also will die Ampel endlich dringend die steuerlichen Anreize für Teilzeit ändern – sprich das Ehegattensplitting – und sich auch mal die Minijobs anschauen (in denen 3,7 Millionen Frauen arbeiten). Zudem steht im Koalitionsvertrag ja auch noch der Gutschein für haushaltsnahe Dienstleistungen. Und nicht zu vergessen: Kita-Ausbau wäre auch sehr wichtig, betont die Ampel in ihrem Papier.3 Das Problem ist also erkannt. Nur: Es tut sich wenig, gar nichts oder sogar das Gegenteil des als wichtig Erkannten. » Es tut sich wenig, gar nichts oder sogar das Gegenteil des als wichtig Erkannten.« Man nehme das Ehegattensplitting: Die in Europa fast einzigartige – nur Luxemburg und Polen leisten sich ähnliche Modelle – systematische Benachteiligung des schlechter verdienenden Ehepartners, in den allermeisten Fällen Frauen, wird seit Jahrzehnten kritisiert, unter anderem von der EU und von der OECD. Schweden hat sie schon 1970 abgeschafft, eben mit dem Blick auf Gleichberechtigung, und führte die Individualbesteuerung ein. Und Deutschland? Lässt sich das Ehegattensplitting jedes Jahr 22 Mrd. Euro kosten4 und bleibt dabei. Man will das Verfahren zwar demnächst – wann auch immer das sein soll – ein wenig reformieren, aber weiterhin daran festhalten. Stattdessen auf die Individualbesteuerung umstellen, nur weil Fachkräfte fehlen? Nicht mit den Ehemännern dieses Landes, die mit dem Split2 Gründe für Teilzeitarbeit 2020, www.demografie-portal.de. 3 Vgl. Fachkräftestrategie der Bundesregierung. Neue Wege zur Fachkräftesicherung, www.bundesregierung.de, 12.10.2022. 4 Stefan Müller-Frank, Steuerprivileg und Teilzeitfalle, www.deutschlandfunkkultur.de, 21.9.2021.

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ting in der Regel die finanzielle Macht im Haus in der Hand haben. „Mehr Fairness“ bei diesem Steuerverfahren, wie es im Koalitionsvertrag heißt, ist noch längst nicht „ganz fair“. Aber die Regierung tut nicht nur nichts, um wie hier den fatalen Anreiz zu Teilzeit und Minijobs zu entfernen, sondern sie erhöht ihn auch noch: Statt die arbeitsmarktpolitische Seuche Minijobs – auch so ein europaweites Unikat – endlich abzuschaffen, weil damit hunderttausende Vollzeitstellen auf Kosten der Sozialversicherung zerstückelt wurden,5 im Handel, in der Gastronomie, im Privathaushalt, wurden sie zum Oktober 2022 noch ausgebaut. Obwohl bekannt ist, dass vor allem Frauen besonders häufig in Minijobs arbeiten – über zwei Millionen haben ausschließlich einen solchen. Obwohl bekannt ist, dass Minijobs keine Brücke in den besseren Arbeitsmarkt sind. Obwohl bekannt ist, dass Minijobs dequalifizieren, obwohl allein der Name „Minijob“ – als sei jede Woche ein paar Stunden an der Kasse oder Putzen keine Arbeit – der Entwürdigung von Hartz IV in nichts nachsteht. Brav wurde mit der Mindestlohnerhöhung auch die Minijobgrenze auf 520 Euro erhöht. Und nicht nur das – im Übergangsbereich zum Midijob zahlen Arbeitgeber jetzt mehr Sozialversicherungsbeiträge. Und das Resultat? Minijobs sind noch attraktiver,6 allein im vierten Quartal 2022 ist die Zahl der registrierten Minijobs deutlich gestiegen. Aber viele Frauen (und Männer) wollen doch Teilzeit arbeiten, heißt das immer wiederkehrende Gegenargument. Was machen die, wenn es keine Minijobs mehr gäbe? Dafür gibt es ein Teilzeitgesetz, mit dem man die volle Bandbreite von fast Vollzeit bis nur 5 Die Beschäftigungs-Bombe: Minijobs vernichten 500 000 feste Stellen, www.focus.de, 22.10.2021. 6 Minijob-Reform könnte Zehntausende Frauen in die Teilzeitfalle drängen, www.spiegel.de, 21.4.2022.

Frauen in den Fokus: Der ungehobene Fachkräfteschatz wenige Stunden Arbeit aushandeln kann. Andere Länder schaffen das auch – ohne diese Beschäftigten am Ende mit mageren Renten abzuspeisen und die Hürde für einen Übergang in den sozialversicherungspflichtigen Arbeitsmarkt zu hoch zu setzen.

» Warum ist es Pflicht, beim Bau eines Hauses genügend Parkplätze einzuplanen, nicht aber beim Bau einer Fabrik oder eines Krankenhauses einen Betriebskindergarten?« Eine der wichtigsten Stellschrauben, um Frauen die Wahl zu lassen, ob und wie viel sie arbeiten wollen, sind immer noch Kitaplätze. 2023 werden davon bundesweit 384 000 fehlen, rechnete die Bertelsmann Stiftung gerade vor. Nur zur Erinnerung: Den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für einjährige Kinder gibt es seit 2013, für ältere Kinder seit 1996. Ja, es werden Milliarden in den Ausbau der Betreuungsplätze gepumpt. Aber es reicht bei weitem nicht. Warum ist es eigentlich Pflicht, beim Bau eines Hauses genügend Parkplätze für Autos einzuplanen, nicht aber beim Bau einer Fabrik, eines Dienstleistungsunternehmens, eines Krankenhauses einen Betriebskindergarten? Immerhin gibt es seit 2012 das Förderprogramm „Betriebliche Kinderbetreuung“. Für die vergangenen zwei Jahre wurden dafür neun Mio. Euro bereitgestellt; Arbeitgeber können damit Ferienbetreuung anbieten oder auch die Neugründung einer Betriebskita kofinanzieren. Abgerufen wurden davon aber nur 2,2 Mio. Euro. Nun wird das Programm eingestellt – anstatt wirksam darum zu werben und damit die massive Lücke an Betreuungsplätzen wenigstens in Ansätzen zu füllen. Stattdessen werden für das Dienstwagenprivileg – Autos, die vor allem von Männern gefahren werden – Jahr für Jahr über drei Mrd. Euro auf-

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gewandt.7 Das sagt viel über die Prioritäten bei Politik und Wirtschaft. Würde die Politik ernsthaft den vorhandenen Schatz an Arbeitskräften heben, würde sie also endlich vor allem Müttern den Weg in Arbeit und finanzielle Unabhängigkeit ebnen, sie würde nicht nur den Fachkräftemangel mindern, sie hätte auch gleich noch ein anderes Problem zumindest ansatzweise gelöst: Die Teilzeitfalle ist für Frauen der direkte Weg in die Altersarmut. Denn sie arbeiten weniger, verdienen weniger dank des nicht behobenen Gender Pay Gaps, arbeiten häufiger in Branchen mit geringerer Tarifbindung und schlechteren Löhnen und verfügen auch deshalb seltener über eine zusätzliche Betriebsrente. Das finanzielle Desaster im Alter ist damit vorprogrammiert. In der Verantwortung, das Potenzial der Frauen zu heben, steht allerdings nicht nur die Politik. Auch Unternehmen und Gewerkschaften lassen es an Anstrengungen deutlich mangeln. Für wen das Maximum an Werbung um Frauen darin besteht, in der Stellenanzeige ein Sternchen oder ein „m/w/d“ zu setzen, der muss sich nicht wundern, wenn sich Frauen für diese Stellen nicht interessieren. Pünktlicher Dienstschluss, regelmäßige und planbare Schichtzuteilung, Homeoffice-Regelungen, ÖPNV-Erreichbarkeit und Betriebskitas können viel mehr bewirken als ein Startbonus und der besagte Dienstwagen, der Bewerbenden mittlerweile gerne angeboten wird. Ganz ähnliches gilt für die Gewerkschaften: Wer sich etwa durch die Forderungskataloge bei Tarifrunden scrollt, findet neben mehr Geld zwar allerlei Extrabelange für spezielle Gruppen – wie eine geförderte Altersteilzeit, Fahrtkostenzuschüsse für Azubis oder die Übernahme der Semesterkosten für dual Studierende. Aber Zuschüsse für Kinderbetreuung? Zuschuss für die 7 Papa im Dienstwagen, www.faz.net, 16.9.2019.

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46 Maike Rademaker externe Pflege von Verwandten? Das sind echte Raritäten. Anstatt die notwendige Sorgearbeit endlich mit in den Blick zu nehmen und Möglichkeiten zu schaffen, Arbeit und Familie gut miteinander verbinden zu können, wird es gesellschaftlich noch immer geduldet, dass die Beschäftigten im Jahr 2020 trotz Corona insgesamt 1,7 Mrd. Überstunden im Jahr leisteten, davon die Hälfte unbezahlt. Vielleicht hilft die nun geltende Verpflichtung zur korrekten Arbeitszeiterfassung weiter, wenn die Arbeitgeber es alleine nicht schaffen (wollen), Überstunden zu verhindern. » Es geht darum, Müttern überhaupt eine Wahl zu lassen, ob, wie viel und wo sie arbeiten möchten.« Heißt all das also, besser auf radikale Frauenförderung zu setzen anstatt auf Fachkräfteeinwanderung? Nein! Denn ohne Einwanderung geht es nicht. Rund 400 000 Menschen müssten netto pro Jahr nach Deutschland einwandern, damit es den Betrieben nicht an allen Ecken und Enden an Mitarbeitenden fehlt.8 Auch die beste Frauenförderstrategie ersetzt diese Einwanderung nicht. Und alle diesbezüglichen Schritte sollen und können Frauen nicht zwingen, überhaupt oder Vollzeit zu arbeiten. Es geht vielmehr darum, Müttern endlich überhaupt eine Wahl zu lassen, ob, wie viel und wo sie arbeiten möchten und wie viel Zeit sie mit der Familie verbringen wollen – und Männern klarzumachen, dass die Zeit, in der sie die „Erwerbsesel“ waren, wie es unlängst in der „Zeit“ so schön hieß, vorbei ist.9 Und diese Wahl sollten nicht nur Frauen haben, die bereits in Deutschland leben: Wer die Rahmenbedingungen für erwerbstätige Frauen nicht 8 Vgl. auch den Beitrag von Stefan Schulz in dieser Ausgabe. 9 Vgl. Eiliger Vater!, www.zeit.de, 30.11.2022.

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verbessert, rechnet offenbar auch nicht damit, dass sich von der jüngst verkündeten Fachkräftestrategie auch Frauen angesprochen fühlen – und zwar statt Männer, und nicht nur als deren Partnerinnen. Auf die Idee, dass konkurrierende europäische Länder vielleicht auch deshalb viel beliebter bei Einwandernden sein könnten, weil sie Frauen und Familien bessere Rahmenbedingungen bieten, kommt man in Deutschland bislang offenbar gar nicht. Wie wenig das mitgedacht wird, zeigt der aktuelle Umgang mit den vor dem russischen Angriffskrieg geflüchteten Ukrainerinnen: Sie sind häufig überdurchschnittlich qualifizierte Frauen, deren Willen, hier zu arbeiten, weniger an der Sprache scheitert als an der nicht vorhandenen Kinderbetreuung – und den nach wie vor absurd hohen Hürden für die Anerkennung von Berufsabschlüssen. Und so wird die Fachkräfteeinwanderung noch immer als Option für Männer gesehen. Bürokratie abbauen ist die zentrale Forderung aus der Wirtschaft, nicht: auf Frauen, auf Familien vorbereitet sein. In anderen Ländern könnten Frauen gleich mitkommen und sofort arbeiten, klagte jüngst der Vorsitzende des Städte- und Gemeindebundes Gerd Landsberg. Mitkommen. Deutlicher geht es kaum. Fehlte nur noch: Mitverdienen. Im Strategiepapier der Bundesregierung wird immerhin bedauernd erkannt, dass nur die Hälfte dieser einwandernden Lebenspartnerinnen und Lebenspartner erwerbstätig ist. Der Blick in die dazu angegebene Fußnote zu einer Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung lohnt sich: Die Nachgezogenen seien „sehr gut ausgebildet und mehrheitlich weiblich: Über 30 Prozent haben mindestens einen Bachelorabschluss, über 70 Prozent sind Frauen“. Und sie seien „massiv un- und unterbeschäftigt“. Tja, warum wohl nur?!

KURZGEFASST

Thomas Assheuer: Rechte Systemsprenger: Die Politik mit dem Mythos, S. 49-60 Keine Frage, die Weltlage erzeugt eine verstärkte Nachfrage nach beruhigenden Narrativen. Doch linke Erzählungen werden dabei gegenüber rechten den Kürzeren ziehen, so der langjährige „Zeit“-Redakteur Thomas Assheuer. Denn auf die rechte Mythisierung von Nation und Volk kann die Linke nicht mit eigenen Mythen antworten. Ihr bleibt einzig die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen.

Herfried Münkler: Von Putin bis Erdog˘an: Wie pazifiziert man die Revisionisten? Die Rückkehr der Geopolitik nach Europa, S. 61-74 Immer wieder wird in Deutschland die Forderung nach einem Verhandlungsfrieden für die Ukraine laut. Das aber ist komplizierter, als viele wahrhaben wollen, so der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Denn beim heutigen Russland handelt es sich um eine revisionistische Macht, die den Zerfall ihres einstigen Imperiums revidieren möchte. Nicht zuletzt der Blick auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zeigt, wie schwer es ist, eine Nachkriegsordnung zu schaffen, die keinen neuen Revisionismus hervorbringt.

Max Goldenbaum: Das privatisierte Weltall: Die Utopie der Rechtslibertären, S. 75-82 China und die USA wollen nach 50 Jahren erstmals wieder Menschen auf den Mond fliegen. Aber längst sind auch private Unternehmen in das Wettrennen um die galaktischen Ressourcen eingestiegen. Der Politikwissenschaftler Max Goldenbaum zeigt: Hinter deren Investitionen in die Raumfahrt steht auch die rechtslibertäre Vision eines Weltalls ohne staatliche Regulierung. Es ist deshalb höchste Zeit für eine Politisierung des Kosmos.

Bruno Latour und Nikolaj Schultz: Für die Bewohnbarkeit des Planeten: Wie die ökologische Klasse entsteht, S. 83-92 Seit Jahren prägt die Klimabewegung die politische Debatte. Doch sie ist längst nicht mächtig genug, um den notwendigen Wandel durchzusetzen, so die Philosophen Bruno Latour und Nikolaj Schultz. Um zu einem machtvollen politischen Subjekt zu werden, muss sie sich als ökologische Klasse konstituieren. Eine solche würde sich nicht länger über ihre Stellung in der Produktion bestimmen, sondern müsste den Erhalt der natürlichen Lebensbedingungen in den Mittelpunkt ihres Handelns rücken.

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Stefan Schulz: Die Boomer und der Altenboom. Wie wir aus der Demographiefalle herauskommen, S. 93-103 Mit Beginn des Jahres 2023 geht im ältesten Land Europas der erste Babyboomer-Jahrgang in Rente. Das hat Folgen für die Bundesrepublik, argumentiert der Soziologe Stefan Schulz: Denn während die künftigen Rentnerinnen und Rentner versorgt und gepflegt werden wollen, schrumpft zugleich die erwerbstätige Bevölkerung, die dies leisten kann. Auf diese schwelende Krise bleibt die Politik bislang die nötigen Antworten schuldig – dabei gibt es Wege aus der sich anbahnenden Demographiefalle.

Elisa Simantke und Harald Schumann: Kontinent ohne Öffentlichkeit. Europas Krisen und das Versagen der Medien, S. 107-116 Für den gemeinsamen Markt braucht es eine europäische Politik, die sich nicht ausschließlich von nationalen Interessen leiten lässt. Doch dafür werden sich auch die Medien europäisieren müssen, schreiben die Journalistin Elisa Simantke und der Journalist Harald Schumann. Sie fordern europapolitisch kompetente und vernetzte Redaktionen, die ihr heimisches Publikum über die Komplexität der EU aufklären können.

Manfred Clemenz: Wem gehören die Benin-Bronzen, und wohin? Der Streit um die Restitution afrikanischer Kunstschätze, S. 117-122 Das Prinzip ist eindeutig: Die Restitution von kolonial erworbenen Kunstund Kulturschätzen liegt in der Verantwortung der Täter – und sie muss ohne Wenn und Aber erfolgen. Sobald man sich jedoch genauer mit der Historie der Werke beschäftigt, etwa der Benin-Bronzen, wird der Sachverhalt komplizierter, zeigt der Kunsthistoriker Manfred Clemenz. Wem genau die geraubten Kunstwerke übergeben werden sollen, ist nicht immer leicht zu klären.

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ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

Rechte Systemsprenger: Die Politik mit dem Mythos Von Thomas Assheuer

D

er russische Überfall auf die Ukraine, darüber besteht Einigkeit, ist eine Schocklüftung im Raum westlicher Illusionen. Der Traum von einer friedlichen Weltgesellschaft ist ausgeträumt, und anstatt kooperativ zusammenzuwachsen, zerfällt sie in feindliche Großräume, in Blöcke und Einflusszonen. Künftig, so heißt es, stehen sich zwei Systeme unversöhnlich gegenüber. Auf der einen Seite der neue Ostblock aus Russland und China mit Führerkult, Ultranationalismus, Hightech-Überwachung, Willkür, Massenmanipulation, Gehirnwäsche, Straflagern und einem autoritär erstickten Dasein. Auf der anderen, der westlichen Seite bleibe trotz innerer Anfechtungen alles beim Alten. Nach Putins Krieg wissen Liberale wieder, warum sie auf der Welt sind. Sie verteidigen den letzten Hort der Freiheit. Sie verteidigen den aufgeklärten Westen. Waschechte Demokratien gegen lupenreine Despotien: Die Beschreibung klingt griffig, aber sie greift nicht. Es fehlt der Hinweis, dass auch in westlichen Staaten Systemsprenger am Werk sind und entlang einer identischen ideologischen Linie die Axt an den Liberalismus legen. David Brooks hat recht, wenn er bemerkt, die „verbitterten Hassreden illiberaler Herrscher wie Putin, Modi und Jair Bolsonaro“ klängen genau so „wie die populistische Rhetorik, die die Trumpsche Rechte, die französische, die italienische und die ungarische Rechte benutzt“.1 Komplizierter gesagt: Der Systemkonflikt zwischen Demokratie und Autokratie beschränkt sich nicht auf geopolitisch getrennte Großräume, sondern wiederholt sich als asymmetrische Spiegelung im Binnenraum westlicher Gesellschaften. Anders als die populäre Behauptung von der neuen Weltspaltung Glauben machen will, wird „der Westen“ nicht nur von außen bedroht, sondern auch durch sich selbst. In Italien regiert die Postfaschistin Giorgia Meloni, deren Partei sich mit einem Wappen schmückt, das unter anderem den Sarg Mussolinis symbolisiert. In Frankreich schleicht die schwarze Katze eines „geläuterten“ Faschismus durchs Gelände, sie ist, auch dank Putins Zufütterung, dick und fett geworden; fast 42 Prozent der Wähler schenkten Marine Le Pen bei der letzten Präsidentschaftswahl ihre Stimme. In Ungarn gewann mit Viktor Orbán

1 David Brooks, Abschied vom Globalen Dorf, in: „Blätter“, 5/2022, S. 85.

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50 Thomas Assheuer ein Mann die Wahl, der mitten in Europa ein zweiter Putin werden möchte. Im österreichischen Nachbarland führten FPÖ-Mitglieder über Jahre mit dem Kreml ihr Tänzchen auf, und die Alternative für Deutschland unterhält herzliche Beziehungen zur rechtsradikalen russischen Intelligenz.2 Derweil erweckt in den Vereinigten Staaten der Journalist Tucker Carlson (Fox News) stellvertretend für eine Vielzahl „patriotischer“ Rechter den Eindruck, seine Liebe zur russischen Diktatur sei größer als die zur eigenen Demokratie. Auch der Klerikalfaschist Franco kommt wieder zu Ehren, der Republikaner Anthony Sabatini verbreitet dessen Parole „Ich verantworte mich nur vor Gott und der Geschichte“. Das alles wäre bloß bizarr, besäßen die politischen Kämpfe in den USA nicht eine weltgeschichtliche Dimension. Für den Fall, dass der Putschist Donald Trump (oder einer seiner ideologischen Doppelgänger) die nächste Wahl gewinnt, könnte die Rechte im Herzland des Westens ihr autoritäres Projekt vollenden. Als Präsident, sagt Fiona Hill, die frühere Russland-Direktorin des National Security Council, habe Trump „im Verlauf seiner Amtszeit Putin sowohl in seinen politischen Methoden als auch in seinen Vorlieben stärker geähnelt als seinen amerikanischen politischen Vorgängern der jüngeren Zeit“.3

Blockübergreifende Bündnisse der Neuen Rechten Um es auf eine Formel zu bringen: Während die Welt in feindselige Lager zerfällt, schmiedet die internationale Rechte blockübergreifende Bündnisse und arbeitet an einer historisch neuen Konvergenz der Systeme. Ihre Vordenker organisieren Austauschdiskurse und machen mobil für einen globalen Kulturkampf gegen den Liberalismus. Aufschlussreich ist dabei, dass dessen Inhaltsstoffe aus jenem Mythen- und Gedankendepot stammen, mit dem bereits die Abwehrschlacht gegen Aufklärung und Französische Revolution gespeist wurde.4 Doch während sich der Antiliberalismus des 19. Jahrhunderts weitgehend innerhalb der europäischen Nationalstaaten entfaltete, so operiert er heute auf Weltebene. Im orchestrierten Gleichklang und über Ländergrenzen hinweg besingen russische, amerikanische und europäische Rechte die Herrlichkeit von Reich und Vaterland und machen, so Timothy Snyder, Reklame für eine reaktionäre „Politik der Ewigkeit“.5 Mit wachsendem Erfolg bringen sie die „Wahrheit“ der Mythen gegen „die totalitären Tendenzen im Liberalismus“6 in Stellung, gegen die Ideen von Fortschritt und Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Es ist nicht ohne Ironie, dass Intellektuelle, die vom Rückzug in nationale Räume träumen, weltweit dieselben Gewährsleute in den Zeugenstand 2 Vgl. Michel Reimon und Eva Zelechowski, Putins rechte Freunde, Wien 2017. 3 „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), 22.4.2022. 4 Einen guten Überblick über die Gleichursprünglichkeit von Moderne und Antimoderne gibt KarlHeinz Ott, Verfluchte Neuzeit, München 2022. 5 Vgl. Timothy Snyder, Der Weg in die Unfreiheit, München 2018. 6 Ryszard Legutko, Der Dämon der Demokratie, Wien 2017.

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Rechte Systemsprenger: Die Politik mit dem Mythos 51 rufen, vorneweg Edmund Burke, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Oswald Spengler, Julius Evola, Alain de Benoist sowie den deutschen Exportschlager Carl Schmitt. Auch der gesichert konservative Philosoph Leo Strauss, der 1938 vor Hitler in die USA flüchten musste, ist ein gern zitierter Kronzeuge der antiliberalen Allianz und gehört sogar an chinesischen Universitäten zur Pflichtlektüre.7 Vor allem das Claremont Institute nordöstlich von Los Angeles steht ganz im Zeichen von Strauss’ Liberalismuskritik, und man sagt nichts Falsches, wenn man die „Claremonsters“ als intellektuelle Eskorte der trumpistischen Revolution bezeichnet. Am Institut lehrt zum Beispiel der Jurist John Eastman, der Trump im Vorfeld des Kapitol-Sturms beratend zur Seite stand, und Senior Fellow ist jener Glenn Ellmers, der dem Ex-Präsidenten Versagen vorwirft. Trump habe die Disziplin gefehlt, um das „postamerikanische Amerika“ endgültig umzustürzen und eine Konter revolution anzuzetteln. Zerstörung, nicht Bewahrung müsse das konservative Prinzip sein. Alles, auch die „großen Kirchen, die Universitäten, die Populärkultur und die Unternehmenswelt sind durch und durch verdorben […]. Was wir brauchen, ist ein Staatsmann, der sowohl die Krankheit, an der die Nation leidet, als auch die revolutionäre Medizin, die zur Heilung erforderlich ist, versteht.“8

Die Linke wiederholt ihre alten Fehler Weit vor den Wahlen in Italien hat sich der englische Politikwissenschaftler und Autor Paul Mason alarmiert darüber gezeigt, dass die Öffentlichkeit die Faszinations- und Verführungskraft rechter Bewegungen unterschätzt. Auch die Linken, schreibt er in seinem Buch „Faschismus“, seien nicht gut gerüstet und wiederholten ihre alten Fehler im Kampf gegen die Weimarer Reaktion.9 Fixiert auf die rechte Ideengeschichte, seien sie blind für die kulturrevolutionären Strategien, mit denen die globalisierte Anti-Moderne auf vorpolitische Gefühlslagen zielt, auf Deklassierungsängste und Weltbewältigungsstress. Mit ihren Mythen, so Mason, bewirtschaften rechte Politiker eben nicht nur die Wut der Unterprivilegierten, sondern auch den Zorn der Unglücklichen; sie dringen in psychische Resonanzräume ein, die linken und liberalen Politikern verschlossen bleiben. Linke, so ließe sich mit Mason sagen, fordern das Vernünftige und Richtige; sie fordern höhere Mindestlöhne, höhere Renten, bessere Schulen, mehr Kitaplätze und mehr Gerechtigkeit sowieso. Die Rechte verspricht – solange sie in der Opposition ist – zwar ebenfalls mehr Gerechtigkeit, doch darüber hinaus verspricht sie noch viel mehr. Sie verspricht nicht bloß praktische Erleichterung, sondern existenzielle Erfüllung. Nicht einen verbesserten Alltag, sondern ein neues Leben. 7 Vgl. Mark Lilla, Reading Strauss in Beijing. China’s strange taste in Western philosophers, www.newrepublic.com, 16.12.2010. 8 Glenn Ellmers, „Conservatism” is no Longer Enough, www.americanmind.org, 24.3.2021. 9 Vgl. Paul Mason, Faschismus, Berlin 2022; vgl. ders., Das radikale Böse. Die unheimliche Wiederkehr des Faschismus, in: „Blätter“, 6/2022, S. 41-50.

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52 Thomas Assheuer Nichts an diesem Programm ist überraschend. Rechte Theoretiker wie Carl Schmitt haben den Liberalismus schon immer wegen seiner „blutleeren“ Nüchternheit angegriffen und die imaginative Armut seiner Verfahren beklagt. Weder im demokratischen Prozess noch in Fetischbegriffen wie Menschheit und Vernunft, schrieb er 1926, liege „der stärkere Mythus“; er liege vielmehr „im Nationalen“, im „Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft“, in Tradition, Sprache, gemeinsamer Kultur. Nicht leblose Verträge, sondern lebendige Affekte, nicht blasse demokratische Prozeduren, sondern plastische Mythen bildeten „das Prinzip der politischen Wirklichkeit“. Gegen den kollektiven Enthusiasmus, den Mythen erzeugen, habe der „relative Rationalismus des parlamentarischen Denkens seine Evidenz verloren“. Schmitts Paradebeispiel ist der italienische Faschismus. Weil Benito Mussolini erkannt habe, dass die Gesellschaft nicht von demokratischer Übereinkunft, sondern von mythischem Begehren getragen werde, sei es ihm gelungen, „unter bewusster Berufung auf den Mythos Menschheitsdemokratie und Parlamentarismus verächtlich beiseite“ zu schieben. Und das, nachdem der „nationale Enthusiasmus auf italienischem Boden bisher [...] ganz von der Ideologie des angelsächsischen Liberalismus beherrscht zu sein schien“.10 Überflüssig zu sagen, dass die Überzeugung, nur konkrete Mythen (und nicht abstrakte Verfahren) konstituierten „das Prinzip der politischen Wirklichkeit“, auch heute noch zum Glaubensbestand der kulturrevolutionären Rechten gehört. Niemand ist so besessen von schlagkräftigen Bildern und mythischen Formeln wie sie – „Gott, Familie, Vaterland“, so der Slogan der italienischen Postfaschisten –, und wenn die Sache nicht so ernst wäre, müsste man lapidar feststellen, dass die rechte Ideologieproduktion bloß die modulare Plattformstrategie der Autoindustrie kopiert. Das tragende Element ist überall identisch, es ist der Kampf gegen alles, was dem Autokraten störend im Wege steht, also unabhängige Gerichte, Medien, Künste, Wissenschaften und so weiter. Was dagegen je nach Land, Region und Gelegenheitsstruktur variiert, das ist die mythologische Lackierung des Produkts, die in Frankreich naturgemäß anders aussieht als in Polen.

Kulturkampf mit rechten Mythen gegen die »liberale Kultur« Gewiss, auch in den Tempojahren der Globalisierung waren nationale Mythen nie vollständig verschwunden, einige erlebten sogar ein Revival. Der uniformierende Zwang, den das internationale Rechts- und Handelssystem ausübte, nötigte die Staaten dazu, durch Nation-Branding ein Alleinstellungsmerkmal zu erzeugen, ein kulturell zwar signifikantes, im Grunde aber beliebiges und politisch folgenloses Unterscheidungsmerkmal in der Arena der Weltgesellschaft. Heute, nach dem angeblichen Scheitern der Globalisierung, ist für rechte Vordenker die Ära der nationalfolkloristischen Selbsttätowierung vorbei. Die Kultur ist für sie kein Identitätsmarker mehr, keine Rest10 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1985, S. 88 f.

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Rechte Systemsprenger: Die Politik mit dem Mythos 53 und Randerscheinung in der Moderne, sondern ein Selbstbehauptungsmittel gegen die Moderne. Der Sieg über den Liberalismus, davon sind sie überzeugt, kann nur mit den Mitteln des Kulturkampfs errungen werden, mit der mythischen Reserve der Nation. Der Gegner heißt nicht Kapitalismus. Der Gegner heißt „liberale Kultur“. Erst vor diesem Hintergrund wird der zähe Eifer verständlich, mit dem rechte Programmplaner nach sagenhaften Vergangenheiten und völkischen Narrativen graben. Vor allem Ursprungsmythen erfreuen sich großer Beliebtheit, zum Beispiel heldenhafte Geschichten aus dunkler Vorzeit, zarte reichsrussische Regungen im Quellgebiet der Kiewer Rus, siegreiche Schlachten auf Amselfeldern, der Kosovo als mythische Wiege Serbiens oder das Sacrum Imperium des Abendlands im Ganzen. Hinzu kommen triviale synthetische Neuschöpfungen. Auch sie verschmelzen die Erinnerung an eine glorreiche Vergangenheit mit der Kritik an der elenden Gegenwart zum kontrastiven Versprechen einer wieder goldenen Zukunft. Neo-Mythen verheißen die Rückkehr in eine Zeit, in der die Nation groß, der Kapitalismus unschuldig, das Klima mild, die Männer weiß, die Verhältnisse patriarchal und der nationale Raum geschlossen war.

Die Zukunft als Wiederholung der Vergangenheit Berühmt und berüchtigt ist das „Take back control“ der Brexiteers und ihr Mythos vom „Global Britain“: „Unsere gemeinsame Zukunft ist golden“ (Boris Johnson). In Frankreich stellt Marine Le Pen die Wiederkehr der Trente Glorieuses in Aussicht, jene zum Mythos gewordene Nachkriegsepoche, als das französische „Leben“ (ihr Lieblingswort) weder von Zuwanderern noch von deutschen Autos, noch von der mondialisation belästigt wurde. In den USA wiederum bilden nicht die 1950er, sondern die 1930er Jahre die Referenzepoche der Rechten. Damals tauchte zum ersten Mal der Schlachtruf „America First“ auf, übrigens als Kampfformel gegen Franklin D. Roosevelts New Deal. Damals wie heute ist es angeblich „das Volk“, das diese Politik einfordert, denn im rechten Weltbild ist das Volk revolutionär aus restaurativem Interesse. Der Sturm aufs Kapitol, weiß Putins Wunschkandidat Donald Trump, „stellte die größte Bewegung in der Geschichte unseres Landes dar, um Amerika wieder großartig zu machen“.11 Wie der von Hedgefonds mitfinanzierte Brexit gezeigt hat, sind solche Neomythen kinderleicht zu fabrizieren und finden bei falschen Propheten rasend schnell Absatz, und zwar weltweit. Längst ist die rhetorische Figur, wonach die Zukunft in der erlösenden Wiederkehr einer glücklichen Vergangenheit besteht, keine Spezialität der europäischen Rechten mehr, sondern existiert in allen möglichen Ausführungen, sogar in einer chinesischen. In seinem Buch „Alles unter dem Himmel“ preist der Pekinger Philosoph Zhao Tingyang eine uralte chinesische 11 Torsten Teichmann, „Höhepunkt eines versuchten Staatsstreichs“, www.tagesschau.de, 10.6.2022.

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54 Thomas Assheuer Herrschaftsordnung an, die zum Mythos verklärte „Tianxia“. Aufgrund ihrer föderalen Struktur sei sie bestens dazu geeignet, das amerikanische Modell der Globalisierung abzulösen und einer vom kapitalistischen Konkurrenzliberalismus zerfressenen Welt den Frieden zu bringen – die Zukunft liegt in der „Wieder-Holung“ der Vergangenheit.12 Verblüffend ähnlich argumentiert Alexander Dugin. Zwar ist dem rechtsradikalen Moskauer Philosophen jede unipolare Weltordnung zuwider, selbst eine chinesische, doch auch das Idol aller westöstlichen Querfronten ist davon überzeugt, nur die Wiederbelebung des Alten könne Russland davor bewahren, von westlicher Dekadenz überrollt zu werden. „Nihilistisch“ nennt Dugin den Westen deshalb, weil er das Lebendige auslösche: Zuerst neutralisiere er die Geschlechterpolarität, dann schaffe er den Menschen selbst ab und ersetze ihn durch Maschinen. Dugins Alternative ist ein retrofuturistisches Regime, das Kommunismus, Faschismus und Liberalismus zugunsten einer – im Sinne des Wortes – postmodernen Gesellschaft überwindet. In seiner Schrift „Die Vierte Politische Theorie“ fordert er, kein Witz, die Umkehrung der Zeit, genauer: die Ersetzung der linear-progressiven Zeit der Moderne durch eine zyklische, original russische Traditionszeit.13 Notwendig sei die Zeitrevolution deshalb, weil das moderne Fortschrittsversprechen sich an der Präsenz des Lebens versündige, an der Fülle des gelebten Augenblicks. Im Gegensatz zur chronisch enttäuschenden Westzeit sei die russische Zeit eine räumlich erfüllte Zeit, denn in ihr herrsche, wie im Mittelalter, temporale Gleichzeitigkeit. Die Ebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durchdringen sich wechselseitig und erscheinen als integraler Teil des Ewigen. Alles ist an seinem Platz, alles hat seine Ordnung und seinen kosmischen Sinn. „Die Moderne“, schreibt Dugin, „hat die Ewigkeit ermordet“ – und Russland mache sie wieder lebendig. „Wer darüber lacht, ist Gefangener der Moderne und ihrer Hypnose.“14

»Goldgrund Eurasien« Es sagt viel über Dugins theorieadaptives Geschick, dass seine „Vierte Politische Theorie“ ihren kulturrevolutionären Honig aus dem postmodernen Konstruktivismus saugt. Wenn alles konstruiert ist, wenn die westliche Fortschrittszeit nur eine Erfindung ist, dann lassen sich die Verhältnisse politisch wieder ändern – das Zeitempfinden der Bürger „ist etwas, das durch die Politik institutionalisiert wird“.15 Natürlich weiß Dugin, dass es kein Zurück gibt in eine „authentische“ Vergangenheit, weshalb es für seine Chronopolitik auch keine Rolle spielt, ob die aufgerufenen Mythen nun „echt“ oder synthetisch sind – Hauptsache, sie geben ein Weltdeutungsschema vor, das Seele und System nicht – wie im Liberalismus – trennt, sondern zur organischen 12 Vgl. Micha Brumlik, Der Kampf der Weltanschauungen. China gegen den Westen: Von Kant über „Habeimasi“ zu „Tianxia“, in: „Blätter“, 10/2020, S. 81-90. 13 Vgl. Alexander Dugin, Die Vierte Politische Theorie, London 2013, S. 70 ff. 14 Ebd., S. 73. 15 Ebd.; vgl. zur Chronopolitik Putins: Nils Markwardt, Angriff auf die Zeit, www.zeit.de, 20.3.2022.

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Rechte Systemsprenger: Die Politik mit dem Mythos 55 Einheit des wahren, wieder „lebendigen“ Lebens verschaltet. Das ist kein harmloser Gedanke. Was als skurrile Nachgeburt des Konstruktivismus erscheint, entpuppt sich als ein Wiederverzauberungskonzept, das nur nach einem verlangt: nach dem Großinquisitor. Man kann endlos darüber streiten, wie viel Einfluss Alexander Dugin auf den Kreml ausübt. Unzweifelhaft jedoch hinterlässt der Mythologe auch dort seine Spuren, wo er gar nicht groß zitiert wird, zum Beispiel bei Dimitrios Kisoudis. Der studierte Anthropologe arbeitet als Stratege im metapolitischen Dunstkreis der AfD und ist ein begeisterter Anhänger der eurasischen Idee einschließlich ihres irdischen Statthalters Wladimir Putin. Zum Glück, schreibt er in seinem Buch „Goldgrund Eurasien“, habe der russische Präsident nach kurzem Zögern dem europäischen Sirenengesang widerstanden und Russland auf den Weg der Wahrheit geführt, den Weg zurück in den Mythos. „Putin ist der Präsident, der als Europäer antrat und zum Eurasier wurde.“16 Andernfalls wäre es Russland so ergangen wie Deutschland – es wäre zum ökonomistischen Vasallenstaat der USA degeneriert, zum Land ohne Zentrum und ohne Wahrheit. Das „nihilistische Geldwesen der EZB“, schreibt er, lasse sich „am ehesten durch das Action Painting des Jackson Pollock veranschaulichen, durch das von keiner kompositorischen Idee geleitete Verschütten von Farbe“.17 Im Sog der universalen Auflösung sei „Deutschland bunt wie nie. Aber bunt sind auch die Zufallsgemälde des Schimpansen Congo“.18

Alles »Heilige« im Exil im Osten Im Kern läuft Kisoudis Lamento auf den Befund hinaus, der Diversity-Liberalismus sei dem eigenen Säkularisierungsfuror zum Opfer gefallen und habe alles „Heilige“ gen Osten ins Exil getrieben. Heute ist es Russlands „autoritärer Liberalismus“, der dem Geflüchteten Asyl gewähre und ihm seinen angestammten Platz zurückerstatte, den Platz an der Seite der Macht. Putins Pakt mit der Orthodoxie bringe zusammen, was der Westen getrennt habe: das Heilige und das Profane, den Mythos und die Macht. Für Kisoudis ist Moskau das Dritte Rom; hier, in der „Präsidialdemokratie mit cäsaristischen Anklängen“, überwintert das Heilige unter der „Krakelee“ der Moderne. Russland, schreibt er mit Tränen in den Augen, sei „das eschatologische Ziel im Übergang der Imperien“. Dann zitiert er den Mönch Filofej: „Zwei Rome sind gefallen, aber das dritte steht, und ein viertes wird es nicht geben.“19 Fairerweise muss man hinzufügen, dass Kisoudis seine Stiefelleckerprosa vor Putins Barbarei in der Ukraine zu Papier gebracht hat, und vielleicht glaubt er inzwischen selbst nicht mehr, das russische Modell sei eine Alternative für Deutschland. Unerschütterlich aber scheint sein Glaube zu sein, 16 Dimitrios Kisoudis, Goldgrund Eurasien, Waltrop und Leipzig 2015, S. 47. 17 Ebd., S. 113. 18 Ebd., S. 114. 19 Ebd., S. 32.

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56 Thomas Assheuer Deutschland gehöre – rein metaphysisch gesehen – zum eurasischen Block und müsse an der Seite Russlands den liberalistischen Weltfeind bekämpfen. Kisoudis spielt hier auf die Verschwörungserzählung vom Great Reset an, wonach namenlose Davoser Eliten zusammen mit dem Silicon Valley ein „universalistisches“ Imperium errichten wollen, das alles Leben unter die Knute eines gleichmacherischen Liberalismus zwingt. Verrückt? Nein, was bei Kisoudis wie eine rechtsradikale Spinnerei klingt, ist längst in bürgerliche Kreise eingesickert und dort salonfähig geworden. In den USA zum Beispiel malt die Edmund-Burke-Foundation ebenfalls den Teufel der „universalistischen Ideologie“ an die Wand und wagt in einem Manifest den Schulterschluss zwischen Radikallibertären, Konservativen und Rechten. Unterschrieben haben nämlich nicht nur der PlatonKenner und PiS-Politiker Ryszard Legutko und der katholisierende OrbánFan Rod Dreher, sondern auch der (zwischenzeitlich von Österreichs ExKanzler Sebastian Kurz unterstützte) Investor Peter Thiel, der auf die Spaltung des Landes zu wetten scheint und horrende Summen in Trumps Wahlkampf pumpt.20 Auf den ersten Blick steht Thiels Ultraliberalismus im schroffen Gegensatz zur autoritären Staatsvorstellung jener Mitunterzeichner, die die Universitäten wieder nach nationalen Interessen ausrichten und missliebige linke Elemente durch Mittelentzug mundtot machen möchten. Doch auch Thiel, so scheint es, verspürt Sehnsucht nach dem starken Mann; jedenfalls sucht der Tech-Milliardär die Nähe rechter Influencer und glaubt nicht mehr daran, dass Freiheit und Demokratie zu vereinbaren sind.21 Seinen deutschen Fans gefällt das. Im vergangenen Jahr erhielt Peter Thiel den Frank-Schirrmacher-Preis.

Globale Anarchie: Das Game of Thrones aus Kapitalismus und Nationalismus Wer den Rückzug in die nationale Wagenburg predigt und jeden Gedanken an eine in Überlebensfragen kollaborative Weltgesellschaft zum linken Hirngespinst erklärt, der bekommt ein Problem: Er muss besorgten Bürgern verständlich machen, warum die globale Anarchie, das Game of Thrones aus Kapitalismus und Nationalismus, das alternativlos letzte Wort der Weltgeschichte sein soll. Interessant ist, dass auch bei diesem Thema russische, amerikanische und europäische Rechte an einem Strang ziehen und eine gleichlautende, nämlich mythologische Begründung unterbreiten. Anders als man vermuten müsste, begnügen sich beispielsweise die MAGA-Republikaner (Make America Great Again) nicht mit der Doktrin der realistischen Schule, wonach jede zwischenstaatliche Kooperation am Fels des nationalen Interesses zerschellen muss.22 Stattdessen behaupten sie, die natürliche Expressivität des 20 Edmund Burke Foundation, National Conservatism: A Statement of Principles, www.theamericanconservative.com, 15.6.2022. 21 Vgl. Peter Thiel, The Education of a Libertarian, www.cato-unbound.org, 13.4.2009. 22 Vgl. Herbert R. McMaster und Gary D. Cohn, America First Doesn’t Mean America Alone, www.wsj. com, 30.5.2017.

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Rechte Systemsprenger: Die Politik mit dem Mythos 57 Politischen, vulgo der gottgegebene Egoismus der Nation, dürfe nicht an der Entfaltung gehindert werden. Auf der freien Wildbahn der Weltgesellschaft, so hieße das, ist der Starke am mächtigsten allein, und er muss es auch sein, weil er sich nur auf diese Weise die Verliererstaaten vom Hals halten kann – jene free rider, die wie die innergesellschaftlichen „Versager“ und „Schwächlinge“ den Siegern das Leben schwer machen. „Es ist Zeit, dass wir ein bisschen grob werden, Leute. Wir werden von praktisch jeder Nation der Welt ausgenutzt. Das wird nicht mehr passieren.“23 Wer in diesen Trump-Sätzen das Echo sozialdarwinistischer Mythen aus dem Hochkapitalismus des 19. Jahrhunderts hört, liegt richtig. Wie der irische Publizist Fintan O’Toole in einem brillanten Essay gezeigt hat, erklärt sich auch Trumps tödliches Zögern bei der Pandemiebekämpfung aus einer intuitiven Nähe zum Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts. In seinem mindset sind gesellschaftliche Krisen das funktionale Äquivalent zur natürlichen Auslese; sie lichten den nivellierenden Nebel der Gleichheit und trennen die Spreu vom Weizen. Oben ist wieder oben und unten wieder unten.24 Das mythische Recht des Stärkeren, Kampf statt Kooperation, Kulturrelativismus statt Universalismus: Angesichts dieses breiten Angebots werden die Rechten in Russland und Europa ihr Glück kaum fassen können. Wenn die konservative Elite der USA willens ist, den Universalismus einzuäschern und jeden normativen Selbstanspruch preiszugeben, dann ist der Westen am Ende.

Triumphator Alexander Dugin Kaum einer dürfte darüber mehr triumphieren als der erwähnte Alexander Dugin, der schon seit längerem verkündet, die westliche Zivilisation sei „der Geschichte überdrüssig geworden“ und fände „keine Inspiration mehr in den hohen Horizonten ihrer Freiheit“.25 Wie seine Mitstreiter hält er die Zeit für gekommen, die regulatorischen Ketten des internationalen Rechts abzustreifen und der Parole „Make Russia great again“ zu folgen. Dafür liefert Dugin eine globaldarwinistische Begründung, die ebenso gut aus der Feder von Trumpisten stammen könnte: Jeder Versuch, die „Elementargewalt“ eines souveränen Imperiums zu fesseln, hemmt dessen „existenzielle Energien“ und stellt „den Lauf der lebendigen, unvorhersagbaren Geschichte“26 still. Dugin verachtet alles supranationale Recht und will es durch die natürliche „Kommunikation der Mächte“ ersetzen. Man darf sich nicht täuschen lassen. Das Wort „Kommunikation“ ist nur die semantische Ausgehuniform für eine Ontologie des Krieges, denn auch das Massenabschlachten zählt für Dugin zur normalen zwischenstaatlichen Kommunikation. Wie Tod und Opfer ist 23 Donald Trump, Rede beim National Prayer Breakfast, 2.2.2017. 24 Richard Hofstadter hat gezeigt, dass diese Muster seit dem Gilded Age des späten 19. Jahrhunderts einen festen Platz im amerikanischen Denken haben. Vgl. Richard Hofstadter, Social Darwinism in American Thought, Boston 1992; vgl. Fintan O’Toole, Vector in Chief, www.nybooks.com, 14.5.2020. 25 Alexander Dugin, Konflikte der Zukunft, Selent 2015, S. 166. 26 Ebd., S. 157.

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58 Thomas Assheuer der Krieg ein natürlicher Bestandteil des geschichtlichen Lebens. „Praktisch alle bekannten Staaten wurden mit dem Schwert geschaffen“ – nur Frauen betrachteten dies „rein negativ“.27 Die mythische Behauptung, Tod und Opfer gehörten zur existenziellen Normalität der Geschichte, klingt klirrend abstrakt und lässt sich doch, wie die AfD bewies, in konkrete Politik verwandeln. Hatte die Partei in der Coronapandemie anfangs noch darüber geklagt, das gefährliche Virus werde von der Regierung sträflich unterschätzt, so vollzog sie über Nacht eine radikale Kehrtwende – plötzlich schien das Virus eine ganz normale Grippe zu sein, eine pandemische Bagatelle im gewöhnlichen Infektionsgeschehen einer Gesellschaft. Aufschlussreich war dabei der Versuch, die Elementardifferenz zwischen einem natürlichen und einem vermeidbaren Tod zu verwischen. Jeder Tod, so klang es aus Teilen der AfD, sei Teil des großen schicksalhaften Lebens, denn sterben müssten wir alle.28 Kein Staat, das folgt daraus, darf sich anmaßen, durch übertriebene Schutzmaßnahmen und erst recht nicht um den Preis seiner wirtschaftlichen Selbstgefährdung in das tragische Walten des Schicksals einzugreifen. Kurzum, ohne diese mythische Prämisse bleibt unverständlich, warum Alexander Gauland die dramatische Zeile Friedrich Schillers zitierte „Das Leben ist der Güter höchstes nicht“ (übrigens ohne zu erwähnen, dass dieser Satz bei Schiller bloß die private Entscheidung einer Figur erläutert): Anstatt durch „Ermächtigungsgesetze“ einen „Ausnahmezustand“ herbeizuführen und die Normalität von Tod und Sterben zu bekämpfen, solle sich die Regierung Schillers Maxime zu eigen machen. Mit diesem Zynismus war die AfD international anschlussfähig. Auch auf Plakaten von Trumps Fanbase war die Forderung zu lesen, der Staat solle die Freiheit schützen und nicht den Tod abschaffen.

Die besondere Anziehungskraft rechter Mythen Bleibt die Frage, worin die Anziehungskraft rechter Mythen besteht. Welche Ängste werden hofiert, welche Hoffnungen ausgebeutet? „Statistisch gesehen“, schrieb Roland Barthes Mitte der 1950er Jahre, „ist der Mythos rechts. Dort ist er essentiell, gut genährt, glänzend, mitteilsam, geschwätzig, er erfindet sich unablässig“. Der linke Mythos will Veränderung, der rechte will Unverantwortlichkeit – er entpolitisiert die Gesellschaft, verwandelt ihre Verhältnisse zurück in Natur und behauptet deren Ewigkeit. Für rechte Mythen, so Barthes, gibt es nichts Neues unter der Sonne; sie erklären die Dinge für unschuldig und leugnen die Komplexität menschlicher Verhältnisse. Im Vergleich dazu bleibe der linke Mythos trocken und ungeschickt. Niemals erreicht er „das ungeheure Feld der menschlichen Beziehungen […]. Eine entscheidende Kraft, die der Fabulierung, fehlt ihm. Was er auch macht, es bleibt in ihm etwas Steifes und Wörtliches“.29 27 Ebd., S. 161. 28 Thomas Assheuer, „Das Leben ist der Güter höchstes nicht“, in: „Die Zeit“, 2/2021. 29 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 1964, S.138 f und S. 137.

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Rechte Systemsprenger: Die Politik mit dem Mythos 59 Barthes hat recht, die Macht der mythischen Fabulierung gehört den Rechten. Wer mythisiert, erzielt in einer bilderlos ernüchterten Gesellschaft plakative Effekte und besetzt die Gegenposition zur monotheistischen Religion. Dabei erinnern sich rechte Intellektuelle zunächst an die klassische Aufgabe von Mythen, an ihren „Kampf“ gegen den – so der Philosoph Hans Blumenberg – „Absolutismus der Wirklichkeit“. In diesem Fall dienen Mythen der Austreibung von Weltangst; sie bieten Globaldeutungen in unklaren Lagen und überführen eine „numinose Unbestimmtheit […] in nominale Bestimmtheit“.30

Der Boom der Verschwörungserzählungen Das gilt auch für Verschwörungserzählungen. Auch sie versuchen, eine unverständliche Gegenwart fasslich zu machen; sie erfinden einen ungreifbaren Feind, der angeblich alles Leben in den Bann schlägt und überall seine Finger im Spiel hat. Solche Neo-Mythen stellen handliche Deutungsschablonen bereit, die die Realität vorsortieren und einen mentalen Kontrollgewinn versprechen. Zugleich machen sie Propaganda für das „Zurück in die Zukunft“, für die Rückkehr in eine Vergangenheit, die es nie gab. Vielleicht kann man es so sagen: Reformistische Linke versprechen dem Bürger, das Leben gerechter zu machen; kulturrevolutionäre Rechte versprechen ein Leben, das in mythischer Alternativlosigkeit so unbeschwert lebendig ist wie früher, störungsfrei homogen und ohne das Korsett politischer Korrektheit. Lustvoll emittieren rechte Mobilisierungsexperten den Hass auf linke Volksfeinde, auf Ausländer, „das Kapital“ und den Juden George Soros. Skrupellos füttern sie die „befreiende“ Wut auf alles Normative und provozieren im Reich der niederen Dämonen einen obszönen Genuss bei der Übertretung von Moral und Verantwortung. Doch am Ende der Scheinrebellion wartet der Führer und verlangt Unterwerfung unter seine „durch Fakten unberührbar gewordene Gemeinschaft“.31 So wird es kein Zufall sein, dass der gefährlichste Mann der USA lange Zeit eine TV-Sendung moderierte, die die ups and downs des kapitalistischen Wettbewerbs als fröhlich-fatalistisches Spektakel inszenierte. In der Reality-Show „The Apprentice“ gab Donald Trump jedem Kandidaten eine Chance, und wer sie nicht nutzte, für den hieß es: „You are fired“. Einmal mehr bestätigt sich hier Hans Blumenbergs Einsicht, dass mythische Erzählungen den Einzelnen zu einer Entscheidung zwingen. Er soll „seinen Adler erkennen und in das EntwederOder von Gefressenwerden oder Fressen eintreten“.32 Keine Frage, die Weltlage erzeugt eine stark erhöhte Nachfrage nach narrativer Beruhigung. Das Stakkato aus Krisennachrichten und Katastrophenbildern überfordert den seelischen Immunschutz und belastet die kognitiven 30 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979, S. 32. 31 Dominik Finkelde, Phantaschismus, Berlin 2016, S. 49. – Den Hinweis auf die rechte Pseudo-Erlösung verdanke ich Thomas M. Schmidt. 32 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, a.a.O., S. 683.

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60 Thomas Assheuer Verarbeitungskapazitäten. Der Zerfall der Weltordnung, neue Kriege, endlose Machtkämpfe, Terror, Inflation, empörende Ungleichheit, Pandemien, Artensterben, Dürrekatastrophen, Monsterhurrikane, Erdfieber – die impertinente Krisendichte erzeugt das Bild einer unerzählbaren Gegenwart, in der es für den Einzelnen immer schwieriger wird, einen angstfreien Ort zu finden.

Die Konjunktur der rechten Internationale Angesichts dieser Lage wittert die rechte Internationale ihre historische Chance. Sie präsentiert ein Sanierungsprogramm, das sich systemübergreifend als Soforthilfe versteht, als wirksames Überlebensrezept inmitten einer „gescheiterten“ Globalisierung. Im Kern kombiniert es einen als schicksalhaft akzeptierten Kapitalismus mit einem Präsidialregime und einem staatlich manipulierten Weltbild. Dass darin Mythen und Feinderklärungen eine entscheidende Rolle spielen, liegt auf der Hand. Beim Kampf um die künftige Macht dienen sie zunächst als Lock- und Botenstoff für sozial Gekränkte und Verunsicherte; sie absorbieren allfällige Ressentiments und leiten sie auf die Mühlen der Rechten, während die ökonomischen Machtverhältnisse selbst unbehelligt bleiben.33 Doch sobald Rechte Wahlen gewinnen, wird sich die Funktion der Mythen ändern; dann füllen sie das Loch der verweigerten Demokratie und liefern den Legitimitätsbedarf für illegitime Politik. Armut und Entzivilisierung werden mythisch kompensiert, denn im rechten Erzählkosmos gehören Not und Opfer zur Tragik des Daseins. Wer Gerechtigkeit erwartet, der ist ein Träumer und verlangt zu viel vom Leben. Mit diesem trostlosen Trost ist der rechte Mythos ganz bei sich. Er erpresst die Einwilligung in den Weltlauf, die Totalakzeptanz von Macht und Markt. Im Mythos sind Wahrheit und Leben identisch. Nein, Rechte sind keine Aliens, sie fallen nicht vom Himmel, und es wird kein Zufall sein, dass sie erst nach dem Beinahe-Crash des Finanzkapitalismus richtig Wind unter die Flügel bekamen. Kurzfristig hilft gegen die penetrante Mythisierung gewiss die Arbeit an den Tatsachen, denn Tatsachen sind Mythenkiller. Allerdings, selbst auf die Erderwärmung könnten rechte Weltbildmodellierer eine Antwort geben, und auch sie wäre an Menschenfeindlichkeit kaum zu überbieten. Man muss nur ein paar Sätze aus dem Werk von Ernst Jünger oder Martin Heidegger zusammenrühren, und schon erscheint die ökologische Katastrophe als höheres Geschick, als Veränderung der Seinsordnung. Der Text der Zivilisation vergeht, während die Melodie der Erde immer gleich bleibt. Der Mensch war wichtig, aber so wichtig nun auch wieder nicht.34 Die Rechte trägt auch das mit Fassung, sprich: mit dem ihr eigenen Zynismus.

33 Vgl. Joseph Vogl, Kapital und Ressentiment, München 2021. 34 Vgl. Ernst Jünger, Siebzig verweht, in: ders., Sämtliche Werke, Band 4, Stuttgart 1982, S. 180.

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Von Putin bis Erdog˘an: Wie pazifiziert man die Revisionisten? Die Rückkehr der Geopolitik nach Europa Von Herfried Münkler

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er bei dem Krieg im Osten der Ukraine nur auf die Ukraine schaut, der sieht zu wenig. Denn eigentlich gehört zu dem Gebiet, in dem der Krieg inzwischen endemisch geworden ist, in jedem Fall der Kaukasus hinzu. Dieser Raum von Tschetschenien über Georgien bis nach Armenien und Aserbaidschan ist hochgradig fragil. Und wenn wir noch genauer hinschauen, gilt das auch für die der Ukraine gegenüberliegende Küste des Schwarzen Meeres, die Türkei, die seit geraumer Zeit das betreibt, was man eine neoosmanische Politik nennt. Man könnte das auch als eine neoimperiale Politik bezeichnen, bei der in ähnlicher Weise imperiale Phantomschmerzen auftreten, wie das bei Putin der Fall ist – also die Erinnerung an einstige Macht und Größe, an den Glanz früherer Zeiten, den man sich wieder verschaffen will. Erdog˘ans Agieren an der Südgrenze der Türkei nach Syrien hinein ist dafür ein Beispiel. Aber auch seine ständigen Rempeleien im Ägäischen Meer gegen die Griechen erinnern daran, dass es nicht von ungefähr kommt, wenn sich Erdog˘an und Putin in mancher Hinsicht gut verstehen, nämlich im Hinblick auf die Frage: Wie können wir den Status quo verändern und wieder näher an die Verhältnisse herankommen, von denen wir glauben, dass sie eigentlich für uns geeignete Verhältnisse waren und sind – das alte russische Reich aus Zarenzeiten und das einstige Osmanische Reich an der Schnittstelle dreier Kontinente? Aber auch Teile des Balkans gehören zu diesem Raum zwischen Krieg und Frieden. Hier finden wir die dritte latent revisionistische Macht, und das ist Serbien als der Verlierer des jugoslawischen Zerfalls. Sowohl was das Kosovo als auch was Bosnien anbetrifft, ist Serbien bestrebt, die bestehenden Grenzen zu ändern, etwa durch den Anschluss der Republika Srpska in BosnienHerzegowina an Serbien. Wenn die Dinge schlecht laufen, kann man nicht ausschließen, dass diese vier gegenwärtig noch voneinander getrennten Konflikträume zu einem einzigen großen Krisenherd zusammenwachsen, bei dem der eine beobachtet, was der andere macht, und anschließend versucht, in dessen Windschatten *

Es handelt sich um die verschriftlichte Fassung eines Vortrags, der in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gehalten wurde.

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62 Herfried Münkler seine eigenen Interessen durchzusetzen. Deswegen war meine Befürchtung auch die ganze Zeit nicht so sehr, dass Xi Jinping das Momentum des Ukrainekriegs zur gewaltsamen Annexion Taiwans nutzen würde, sondern eher, dass die Türkei eine sehr selbständige Politik als Mittelmacht betreiben würde – eine Türkei, die sich nur noch am Rande als die Nordostflanke der Nato begreift und in gewisser Hinsicht die Nato-Mitgliedschaft als den atomaren Schutzschirm gegenüber Russland in Anspruch nimmt, aber darunter eine Politik der eigenen Interessen betreibt. Und dass Serbien gezielt die notdürftig beruhigten Konflikte auf dem Balkan neu anfacht, um seinen Vorstellungen von einem wieder größeren serbischen Staat näherzukommen.

Krisenzentrum Schwarzes Meer Fassen wir zusammen: In der Mitte dieses gewaltigen Krisenraumes liegt das Schwarze Meer, nördlich davon die Ukraine, östlich davon der Kaukasus, in dem es in den letzten Monaten immer wieder zu Kämpfen gekommen ist. Die Probleme zwischen Aserbaidschan und Armenien sind ungelöst. Südlich des Schwarzen Meers haben wir die Türkei, die seit vielen Jahrzehnten einen Krieg gegen die Kurden führt, dessen Wurzeln bis zum Friedensvertrag von Sèvres zurückreichen. In diesem Pariser Vorort wurde 1919 der Frieden mit der Türkei beziehungsweise dem Osmanischen Reich geschlossen, der einen eigenständigen Kurdenstaat vorsah. Doch Mustafa Kemal, der starke Mann in der damaligen Türkei, weigerte sich, dies zu akzeptieren, und verhinderte mit militärischen Mitteln, dass ein Kurdenstaat entstand. Die Franzosen verfügten damals über Truppen in Nordsyrien, die sie hätten einsetzen können, um die Bestimmungen der Pariser Friedensordnung durchzusetzen. Nach ihren ungeheuren Verlusten während des Ersten Weltkriegs, die, relativ betrachtet, größer als die deutschen waren, taten sie dies jedoch nicht. Im Friedensvertrag von Lausanne von 1923 war daher von einem Kurdenstaat keine Rede mehr. Weil die Kurden damit nicht einverstanden sind, flammt der Krieg in der Türkei regelmäßig wieder auf, um dann auch wieder in sich zusammenzusacken. Wir haben es also mit einer neoosmanischen Politik von Erdog˘an oder der AKP zu tun, einer Politik, die von der Erinnerung an das Osmanische Reich getragen ist. Darin ist Erdog˘an der kleine Bruder Putins, der ja auch von der Erinnerung umgetrieben wird, dass Russland einst eine Macht am Schwarzen Meer war, und der förmlich in Erregung gerät, wenn er an Katharina die Große zurückdenkt, die diesen Raum für Russland hat erobern lassen. Kurzum: Im Norden wie im Süden des Schwarzen Meeres spielen historische Erinnerungen eine zentrale Rolle, die ich als „imperiale Phantomschmerzen“ bezeichnen möchte. Wenn wir den Ukrainekonflikt wirklich begreifen wollen, müssen wir also diesen größeren Raum betrachten. Geopolitik, deren Fragen und Antworten wir jetzt wieder in zunehmendem Maße zu bedenken genötigt sind, sucht geographische Räume unter dem Gesichtspunkt ab, wo sich Konflikte mehren oder überlappen und deswegen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von

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Wie pazifiziert man die Revisionisten? 63 Kriegen besteht. Bei dieser Suche sticht der Raum um das Schwarze Meer hervor, und zwar als ein Balken, der tief nach Europa hineinragt und tendenziell bis Bosnien und Herzegowina oder vielleicht auch noch weiter reicht. Dieser Balken mit einer Länge von etwa tausend Kilometern wird die Europäer auf Jahrzehnte hinaus beschäftigen. Und er wird sie, wenn sie ihn pazifizieren wollen bzw. müssen, viel Geld und Mühe kosten. Betrachtet man diesen Raum historisch und nicht nur geographisch, wie ich das eben getan habe, dann kann man ihn als eine Hinterlassenschaft des Ersten Weltkriegs begreifen. Denn er umfasst Räume, die bis dahin von multinationalen, multikonfessionellen und multilingualen Großreichen, also dem Reich der russischen Zaren, dem Reich der osmanischen Sultane und der Donaumonarchie, dem Reich der Habsburger, nicht besonders gut, aber doch tendenziell nach innen pazifiziert beherrscht worden sind und bei denen es nach 1918 nicht gelungen ist, stabile Nationalstaaten zu schaffen: Sie umfassen entweder mehrere Nationen, oder ein Teil der sich den Titularnationen Zurechnenden lebte außerhalb des Nationalstaats.

Imperien versus Nationalstaaten Eine Alternative zu Nationalstaaten war die Wiederherstellung imperialer Gebilde. 1922 – genau genommen am 30. Dezember 1922 – wurde Sowjetrussland, wie es bis dahin hieß, in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken umbenannt. In gewisser Hinsicht war das ein Versuch, das Multinationale, aber auch das Multilinguale in einem Raum zusammenzufassen und als politische Konfliktfelder zu neutralisieren. Der Zerfall der Sowjetunion brachte dann einen Raum hervor, in dem alle Probleme der schwierigen Nationalstaatsbildung wieder da waren. Das gilt in mancher Hinsicht auch für den Raum der Donaumonarchie, wo man sagen kann: Das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, wie es ursprünglich hieß und dann Jugoslawien genannt wurde, war ebenfalls ein Versuch, nationale, ethnische, konfessionelle und sprachliche Unterschiede durch die Bildung einer übergreifenden politischen Größe zu neutralisieren. Der Zerfall beider Gebilde nach 1990/91 hat eine Fülle von Problemen aufgeworfen, die nach wie vor virulent sind und die genannten revisionistischen Mächte hervorgebracht haben: Russland und Serbien. Interessant ist, dass in diesem Fall nicht der Zweite Weltkrieg, den wir normalerweise bei der Suche nach den historischen Wurzeln von Konflikten auf dem Schirm haben, sondern der Erste Weltkrieg und die Ordnungsideen der Pariser Friedensordnung die Gegenwart bestimmen – und es in hundert Jahren nicht gelungen ist, diese Probleme aufzulösen. Das hat Gründe: Die Siedlungsweise dort ist nicht so beschaffen, dass sich Nation und Staat so ohne weiteres zur Deckung bringen lassen. Beispiel Ungarn: Nach dem Frieden von Trianon, also dem Vertrag der Pariser Friedensordnung mit Ungarn, leben bis heute 40 Prozent derer, die sich Ungarn nennen, außerhalb des Gebiets des ungarischen Staates. Deswegen führ-

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64 Herfried Münkler ten die Ungarn 1920 auch einen Krieg gegen Rumänien, den sie allerdings klar verloren. Der Schal, den Viktor Orbán bei einem Fußball-Länderspiel im November 2022 demonstrativ trug, war eine Erinnerung an das einstige „Groß-Ungarn“. Aber auch die Polen führten in der Zwischenkriegszeit, also von 1919 bis 1939, mindestens vier Kriege gegen die Sowjetunion, in denen es wesentlich um die Frage ging, zu wem die Westukraine gehört: zu Polen oder zu Sowjetrussland? Zu Beginn der 1920er Jahre siegten die Polen und die Westukraine wurde daraufhin zu einem Teil des polnischen Staatsgebiets. Im Hitler-Stalin-Pakt kam sie zur Sowjetunion, was nach dem Zweiten Weltkrieg dann mit der „Westverschiebung“ Polens nicht rückgängig gemacht, sondern festgeschrieben wurde.

Türken gegen Griechen: Die Jahrhundertwende 1922/23 Die eigentliche Katastrophe dieses Raums war jedoch in den Jahren 1922/23, also vor exakt hundert Jahren, der Krieg zwischen Griechen und Türken, in dem es um die Frage ging, wem die kleinasiatische Ägäisküste gehöre und dazu auch Teile der südlichen Schwarzmeerküste. Die Griechen hatten damals die Vorstellung, so etwas wie ein großes Griechenland errichten zu können, so wie die Polen dachten, ein großes Polen, orientiert am polnischlitauischen Reich des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, aufbauen zu können. Die Griechen verfolgten die Idee, jenen Raum, den Byzanz einmal beherrscht hatte, zumindest Teile davon, als Großgriechenland zu vereinen. Das ging aber schief, woraufhin es zu den gewaltigen Vertreibungen kam: von 300 000 „Thrakern“, die in die Türkei vertrieben wurden, wie von 1,5 Millionen Griechen, die aus der Türkei nach Griechenland umgesiedelt wurden. Diese Konflikte sind nach wie vor da – und bloß stillgestellt dadurch, dass heute beide Staaten Mitglied der Nato sind. Und trotzdem haben uns die Konflikte um die Gasfelder in der Ägäis in den letzten Monaten massiv beschäftigt. Kurzum: Im Raum um das Schwarze Meer hat der Erste Weltkrieg eine Fülle von Problemen hinterlassen, die jetzt wieder auftauchen. Zweifellos ist das ein Raum, der die Europäer in der Zukunft noch sehr viel Geld kosten wird. Und zwar nicht nur infolge des Wiederaufbaus der Ukraine, sondern auch dann, wenn sie ihrer Strategie folgen, Räume durch Wohlstandstransfer zu befrieden. Das aber führt zum zweiten Punkt, den es in diesem Kontext zu behandeln gilt: das Comeback revisionistischer Mächte. Revisionistische Mächte sind dadurch definiert, dass sie nicht einverstanden sind mit der bestehenden Ordnung, vor allem mit den gegenwärtigen Grenzziehungen, die sie revidieren wollen. Man kann also sagen: Die Kunst bei der Schaffung von Friedensordnungen besteht darin, einen Frieden herzustellen, der keine revisionistische Macht aufweist. Das aber gelang eigentlich nur 1648 in Münster und Osnabrück, nach Ende des Dreißigjährigen Krieges, und vielleicht noch einmal 1815 beim Wiener Kongress. Das ist der ewige Ruhm der österreichischen Diplomatenschule: Trauttmannsdorff

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Wie pazifiziert man die Revisionisten? 65 und Metternich. Graf Trauttmannsdorff, der in vierjährigen Verhandlungen den Westfälischen Frieden schuf, hatte begriffen, dass – indem er alle Probleme nacheinander verhandeln ließ – am Schluss kein Akteur da war, der die Vorstellung hatte: Bei nächster Gelegenheit muss diese Ordnung wieder umgeworfen werden. Und Ähnliches gilt auch für Metternich und den Wiener Kongress. Aber danach gab es, sieht man vom „innerdeutschen“ Krieg und Frieden von 1866 einmal ab, keine revisionistenfreien Friedensverträge mehr. Im Frankfurter Frieden von 1871 war klar, dass Frankreich eine revisionistische Macht ist. In der Pariser Friedensordnung von 1919 war klar: Nicht nur Deutschland ist eine revisionistische Macht, sondern auch Sowjetrussland, weil dem Zarenreich erhebliche Teile seines früheren Gebiets weggenommen wurden, vor allem durch die Schaffung der „kleinen Entente“, die vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer reichte und einen Cordon sanitaire zwischen Deutschland und Russland bildete. Aber auch Italien war nach 1919 eine revisionistische Macht, wiewohl es auf der Siegerbank saß. Man sprach dort vom beschädigten Sieg, und eben das verhalf Mussolini an die Macht. Vielleicht beließ man es deswegen im Jahr 1945 bei den Vereinbarungen von Jalta und Potsdam, und zwar mit dem Argument: Wir machen erst gar keinen Friedensvertrag, weil ein solcher so viele Unzufriedene hervorbringt. Und das Ganze wurde 1990 dann auch nicht wieder aufgeschnürt, wiewohl es die Forderung nach einem abschließenden Friedensvertrag durchaus gab. Aber die Befürchtung, dass dies zwangsläufig dazu führen würde, dass erneut revisionistische Mächte entstehen, war schlicht zu groß. Allerdings ist nun, auch ohne dass es einen Friedensvertrag gegeben hätte, eine revisionistische Macht entstanden, nämlich mit dem Zerfall der Sowjetunion. Eigentlich war bereits am 31. Dezember 1991 klar, dass Russland ein revisionistischer Akteur werden würde. Nur weil das Land zu Beginn viel zu sehr mit sich beschäftigt war, begriff es dies selbst noch nicht. Dazu bedurfte es erst der berüchtigten Rede Putins im Jahr 2005, in der er sagte, der Zerfall der UdSSR sei „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Von diesem Zeitpunkt an war die Sache klar, da hatte Putin die Karten auf den Tisch gelegt: Russland ist auf Revisionen aus. Und die Türkei? Sie ist inzwischen – jedenfalls mit der AKP und ihrem neo-osmanischen Kurs – seit 15 Jahren ebenfalls ein revisionistischer Akteur. Und wenn man genau hinschaut, gilt das auch für Serbien. Es fühlt sich als der Verlierer der jugoslawischen Zerfallskriege und möchte einiges an den Ergebnissen dieser Kriege ändern. Damit stellt sich also die Frage: Wie pazifiziert man revisionistische Mächte?

Erste Lösungsstrategie: Pazifizierung durch Wohlstandstransfer Die erste Lösungsstrategie, sicher nicht historisch, sondern systematisch betrachtet, lautet Wohlstandstransfer. Man bindet die revisionistischen Mächte in eine Wirtschaft ein, die prosperiert, in der es den Leuten gut geht,

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66 Herfried Münkler sodass die Ressentiments, die Erinnerungen an die einstige „große Vergangenheit“, mehr und mehr an Bedeutung verlieren, bis man den gegenwärtigen Wohlstand höher schätzt als die historisierenden Narrative, wie sie etwa von Putin zuletzt fortdauernd ins Spiel gebracht worden sind. Dass speziell die Deutschen das Projekt der Pazifizierung durch Wohlstandstransfer gut finden, ist historisch durchaus nachvollziehbar. Denn in gewisser Hinsicht fuhr vor allem die alte Bundesrepublik, die Bonner Republik, genau auf dieser Schiene. Nicht sogleich, zugegeben, denn bis Ende der 1960er Jahre spielten die Vertriebenenverbände mit ihren Rückkehrforderungen eine größere Rolle. Aber das veränderte sich zunehmend. Die Brandt-Wahl von 1972 war ein Zeichen dafür, dass der Revisionismus sich in Folklore verwandelt hatte, dass die verschiedenen Landsmannschaften in ihren Trachten sich zwar noch trafen und Dicke-Backen-Musik hörten, die Vertriebenentreffen aber kein wirklicher politischer Appell zur Änderung der Grenzen mehr waren. Und so richtete sich die alte Bundesrepublik dann auch mit der Anerkennung der deutschen Grenze zu Polen in diesen Verhältnissen ein und ließ den Revisionsimpuls hinter sich.

Putin und die europäische Rechte Vielleicht liebt die politische Rechte in Europa Putin ja auch deswegen, weil sie so ähnliche Narrative ins Spiel bringen will wie er. Dürfte man in Europa ähnliche Narrative lancieren, wie Putin dies tut, würde das in Deutschland oder auch sonst in Europa zu einer Explosion von Revisionismen führen. Dann würde alles wieder zur Debatte stehen. Dann würden wir noch einmal über „Strasbourg bleibt Straßburg“ reden und natürlich auch über Ostund Westpreußen, Hinterpommern, die verschiedenen Schlesiens und vieles mehr. Man kann also sagen: Die europäische Ordnung von der Montanunion bis heute ist, und zwar nicht nur, was die Deutschen anbetrifft, ein Projekt der Pazifizierung von Räumen durch Wohlstand oder Wohlstandstransfer. Das gilt auch für die Osterweiterung, die ja für die damalige Europäische Gemeinschaft (EG) auch deshalb keine leichte Entscheidung war, weil man sich damit eine Reihe von Nettoempfängerstaaten und potenziellen VetoSpielern in die Union holte. Trotzdem galt: Es war zu verhindern, dass die Zwischenkriegszeit von 1919 bis 1939 in Ostmitteleuropa wiederkehrt. Und dieses Projekt war durchaus erfolgreich. Die komplementäre Funktion zu Wohlstandstransfers ist wirtschaftliche Verflechtung. Also war es naheliegend zu sagen: Wir versuchen, Russland als den großen potentiell revisionistischen Akteur zu pazifizieren, indem wir dessen Energieträger und Rohstoffe kaufen, weil die für uns viel billiger, ja sogar ökologisch verträglicher sind als die Alternativen, weil sie über Pipelines transportiert werden. Und wir verkaufen im Gegenzug dafür den Russen fortgeschrittene Technologie. Auf diese Weise schaffen wir einen Wohlstandstransfer nach Russland, auf den die Herrn im Kreml angewiesen sind, weil die aus Europa kommen-

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Wie pazifiziert man die Revisionisten? 67 den Gelder dazu dienen, die Pensionäre, die Staatsbediensteten und weitere bezahlen zu können. Zugleich hoffen wir darauf, dass es ebenso gut funktioniert, wie es in Europa und vorher bei den Deutschen funktioniert hat. Das war – so kann man es vereinfacht sagen – der Steinmeier-Plan, der von Angela Merkel umgesetzt worden ist. Das Problem dabei ist: Man benötigt auf der Gegenseite an der politischen Spitze einen homo oeconomicus, der kalkülrational an die Dinge herangeht, der sich fragt, was er verliert, wenn er ein solches Projekt aufgibt oder ruiniert, und was er gewinnt, wenn er es weiterführt. Einen, der nicht den Ressentiments aus historischer Erinnerung folgt, der sich also nicht von imperialen Phantomschmerzen leiten lässt. Das war – und ist – das eine Problem dieser Form der Einbindung eines Revisionisten. Das andere Problem waren die nicht zustande gekommenen Trickle down-Effekte, also das fehlende Durchsickern der Wohlstandstransfers bis zur einfachen Bevölkerung. Dass viele der transferierten Gelder direkt bei den Oligarchen ankamen, hat uns im Westen freilich nicht so furchtbar geärgert, weil viele dieser Oligarchen hier unter anderem ihre Yachten haben bauen lassen. Dadurch wurden hier Arbeitsplätze geschaffen, während die Wohlstandseffekte bei großen Teilen der russischen Bevölkerung nicht ankamen. Das aber hatte strategische Folgen: Putin konnte westliche Sanktionen politisch in Kauf nehmen, da diese das Leben der Menschen in Russland gar nicht sogleich und auch nicht grundlegend verändert hatten.

Zweite Lösungsstrategie: Pazifizierung durch Appeasement Die zweite Option, einen revisionistischen Akteur einzubinden, ist das Appeasement. Dabei kommt man dem Revisionisten entgegen und fragt ihn, was er denn geändert haben wolle. Und gibt nach, um ein Nachgeben des Revisionisten zu erreichen. Nun hat Appeasement wegen des Münchner Abkommens keinen guten Ruf. Aber auch nach 1938 kam Appeasement nicht außer Gebrauch. Das Camp-David-Abkommen, der Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten von 1978, beruht auf einem solchen Appeasement: Wir Israelis geben euch Ägyptern den Sinai zurück und ihr unterschreibt dafür den Friedensvertrag. Land gegen Frieden, lautete die Devise, die auch einen Frieden zwischen Israel und den Palästinensern begründen sollte, was aber letztlich nicht geklappt hat. Appeasement war auch im Minsker Abkommen enthalten: Wir, die für die EU beteiligten Frankreich und Deutschland, anerkennen die Annexion der Krim völkerrechtlich nicht, aber thematisieren das Problem auch nicht – und zwar dafür, dass Russland in den Separatistengebieten des Donbass für Ruhe sorgt, sodass sie zu einer frozen conflict zone werden. Aber das hat Putin nicht genügt. Im Gegenteil: Es hat ihn, wie der 24. Februar 2022 bewiesen hat, nur noch hungriger gemacht, anstatt ihn zu beruhigen – wie in München 1938. Das genau ist immer das Risiko einer Appeasementpolitik. Man kann die Seite aber auch umblättern und stellt fest: Was Chamberlain 1938 in Mün-

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68 Herfried Münkler chen gegen Hitler gewann, war vor allen Dingen Zeit. Und in dieser Zeit kurbelte er die Produktion von Spitfires in England an. Ohne die ab dann gebauten Jagdflugzeuge hätten die Briten die Luftschlacht über England 1940 nicht gewonnen. In gewisser Hinsicht hat auch die Ukraine durch das Minsker Abkommen Zeit gewonnen und diese genutzt. Das seither weit professionellere Agieren der ukrainischen Armee, von der Art der Führung, dem taktischen Gebrauch elektronischer Waffensysteme bis zur flexiblen Reaktionsweise, ist das Ergebnis ihres Trainings durch amerikanische Sicherheitsfirmen von 2014 bis 2022. Denn zunächst einmal ging es nach Kriegsbeginn gar nicht um die Frage der schweren Waffen, die geliefert wurden oder auch nicht, sondern um den Gebrauch von elektronisch gesteuerten, relativ kleinen Waffensystemen zur Bekämpfung von Panzern und gepanzerten Fahrzeugen. Auf dieser Grundlage – durch Zeitgewinn infolge von Appeasement – haben die Ukrainer die Schlacht um Kiew in der ersten Phase des Krieges gewonnen.

Dritte Lösungsstrategie: Pazifizierung durch Abschreckung Die dritte Form, mit einem revisionistischen Akteur umzugehen, ist deterrence, also Abschreckung durch Aufbau eigener militärischer Fähigkeiten. Damit dem Revisionisten klar ist: Wenn du versuchst, deine Ziele in Form von Krieg zu erreichen, wirst du mehr verlieren, als du im günstigsten Fall gewinnen kannst. Dahinter steht die Logik: Lass lieber die Finger davon, es wird dir nichts bringen. Das aber ist ausgesprochen kostspielig auch für diejenigen, die eine solche Politik der Abschreckung betreiben. Denn während sie vom Prinzip des Wohlstandstransfers selber profitieren, etwa durch die ökonomische Verflechtung der russischen und der europäischen Wirtschaftskreisläufe, ist der Aufbau entsprechender Fähigkeiten zum Zwecke der Abschreckung richtig teuer. Und schon taucht die Frage auf, was man eigentlich davon hat. Der Revisionist agiert ja zunächst noch gar nicht revisionistisch, sondern verhält sich ruhig. Aufrüstung würde dagegen die Möglichkeit nehmen, die so entstandene Friedensdividende zu konsumieren. Folglich gibt es gerade in Demokratien keine große Neigung, in Abschreckung zu investieren. Man denke nur an die seit Jahren geführte Debatte darüber, ob tatsächlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ins Militär zu investieren seien. Diese zwei Prozent bedeuten eine erhebliche Einschränkung der Möglichkeiten eines Landes. Oder anders gesagt: Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass der Sozialetat weit höher ist als der Militäretat, während es noch zu meiner Studentenzeit exakt umgekehrt war. Daraus folgt: Solange der Revisionist sich noch nicht wirklich revisionistisch gezeigt hat und entsprechend agiert, ist es in Demokratien ausgesprochen schwierig, auf Abschreckung zu setzen. Scholz‘ Zeitenwende-Rede ist insofern eine Reaktion auf das, was am 24. Februar 2022 unübersehbar geworden war: Der Versuch, Putin mit wirtschaftlicher Macht einzubinden, ist gescheitert. Das Appeasement hat nicht

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Wie pazifiziert man die Revisionisten? 69 funktioniert. Also muss radikal umgestellt, müssen 100 Milliarden und mehr für die Bundeswehr aufgewandt werden. Das aber wird uns für lange Zeit weiter beschäftigen, denn es hat gravierende Folgen für Deutschland und Europa insgesamt: Sie werden den Höhepunkt ihres Wohlstandes auf Jahrzehnte überschritten haben, nicht nur wegen der Entkoppelung des russischen und des europäischen Wirtschaftskreislaufes, sondern auch wegen des Erfordernisses, dass die beiden kostengünstigen Lösungen der Revisionisteneinbindung, wirtschaftliche Verflechtung und Appeasement, nicht mehr greifen, und wir auf die sehr viel teureren militärischen Lösungen zurückgreifen müssen – entweder auf Abschreckung oder gar, wie gegenwärtig, auf einen heißen Krieg. Das größte Problem, das sich für 2023 stellt, ist, wie man zwei Akteure dazu bringt, miteinander zu verhandeln, während beide Ziele haben, die sie mit militärischen Mitteln verfolgen und für die sie bereits erhebliche Opfer gebracht haben. Mit etwas mehr Platz ließe sich das anhand von Clausewitz‘ Klassiker „Vom Kriege“ diskutieren, und zwar entlang der von ihm getroffenen Unterscheidung zwischen dem Zweck des Krieges und den Zielen des Krieges. Der Zweck bedeutet, was wir „mit dem Krieg“ erreichen wollen. Die Ziele beschreiben, was wir „in dem Krieg“ erreichen wollen. Daran kann man sehen, dass der Angreifer, also Russland, zunächst einmal weitreichende Ziele hatte, während er einen zentralen Zweck verfolgte, nämlich die Ausschaltung der Ukraine als eigenständiger politischer Akteur. Um diesen Angreifer an den Verhandlungstisch zu bringen, muss man ihm klar machen, dass er seine Ziele nicht erreichen kann, oder dass die Erreichung dieser Ziele für ihn so teuer und so desaströs sein wird, dass er als politischer Akteur darüber möglicherweise zusammenbricht. Das aber läuft auf die Stärkung der ukrainischen Durchhaltefähigkeit hinaus, sei es durch die Lieferung von Waffen oder sei es, was letzten Endes genauso wichtig ist, durch die Garantie der Zahlungsfähigkeit des ukrainischen Staates.

Wie gelingt ein Verhandlungsfrieden? Inzwischen hat die russische Armee einige schwere Niederlagen erlitten, insbesondere die Rückeroberung von Cherson ist hier zu nennen, sodass man davon ausgehen kann, dass die Russen tatsächlich irgendwann bereit sein werden, zu verhandeln – auf welcher Grundlage auch immer. Aber wie kann man die Ukraine dazu bringen, ihrerseits zu verhandeln, solange ein Teil des Landes ihr abgenommen ist, sie aber inzwischen recht erfolgreich operiert und im Rahmen der Gegenoffensive Gelände zurückgewinnt? Die Frage lautet also: Wieviel Gelände muss – aus unserer Sicht als Beobachter des Geschehens, aber auch als Unterstützer der Ukraine – zurückgewonnen sein, damit die politisch Verantwortlichen der Ukraine Verhandlungen aufnehmen können? Die Deutschen und die Franzosen setzen offenbar auf die Wiederherstellung des Status quo vom 23. Februar 2022. Sie schließen also nicht die Krim

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70 Herfried Münkler und auch nicht die kleinen Gebiete Donezk und Luhansk in die Wiederherstellung des Status quo ein. Die englische Position ist ein bisschen anders: Sie zielt auf die Wiederherstellung der Ukraine in den Grenzen, in denen sie 1991 entstanden ist. Das hat zu tun mit dem Budapester Memorandum von 1994: In diesem wurde der Ukraine – für die Abgabe der Atomwaffen, die ihr aus der Konkursmasse der Sowjetunion zugefallen waren, an Russland – die Unversehrtheit ihrer Grenzen garantiert. Unterschrieben wurde es von den Amerikanern und Briten wie von den Russen und Ukrainern. Weil aber die Briten nicht ernstlich etwas unternahmen, als 2014 mit der Krimannexion das Memorandum massiv verletzt wurde, nehmen sie wenigstens heute eine etwas andere, rigorosere Position als Franzosen und Deutsche ein. Die Amerikaner wiederum scheinen eine ganz andere Vorstellung zu haben, nämlich die eines lange zu führenden Krieges gegen Russland mit dem Ziel, die Tiefe der russischen Logistik und vor allen Dingen die Breite ihres Offizierskorps aufzuzehren und auf diese Weise sicherzustellen, dass die Russen in den nächsten 15 bis 20 Jahren nicht mehr in der Lage sind, einen Krieg dieses Ausmaßes zu führen. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hat sich klar in diese Richtung geäußert, und auch einige Äußerungen von Außenminister Antony Blinken legen diese Einschätzung nahe. Heißt das also, dass es auf absehbare Zeit gar keine Verhandlungen geben wird? Das ist noch nicht ausgemacht. Aber vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn Russland weiß, dass dies die amerikanischen Ziele sind, weil das sein Einschwenken auf die Zielsetzungen der Deutschen und Franzosen wahrscheinlicher macht. Denn wenn die Herrn im Kreml noch irgendeine Kalkülrationalität besitzen, ist ihnen klar, dass ein unendlicher Krieg auf eine für sie katastrophale Entwicklung hinausläuft. Sie müssen diesen Krieg bald beenden, weil sie sonst die Tiefe ihrer Logistik und die Tiefe ihrer militärischen Personalbestände verlieren werden. Noch ist schwer zu sagen, wie das Ringen letztlich enden wird. Aber eins ist klar: Kiew wird sich auf Friedensverhandlungen oder auf Verhandlungen über einen stabilen Waffenstillstand nur dann einlassen, wenn die Europäer der Ukraine umfassende Sicherheitsgarantien geben. Das müssen die Freunde des Friedens wissen, die lautstark „Verhandlungen jetzt!“ fordern. Denn Sicherheitsgarantien zu geben heißt: Beim nächsten Angriff der Russen – oder auch der Ukrainer – sind die Europäer dann selbst Kriegspartei.

Konsequenzen für die Weltordnung Zum Abschluss sei noch kurz die Frage beleuchtet, welche globalen Konsequenzen sich aus dem Beobachteten ableiten lassen. Oft wird gesagt, das alles sei zunächst nur ein europäisches Problem und es gebe doch auch noch viele andere Probleme auf der Welt, wie Klimawandel und Artensterben, die in globaler Hinsicht wichtiger seien. Das aber verkennt die Dimension der Ereignisse. Denn das Konzept, einen Frieden zu schaffen mit immer weniger

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Wie pazifiziert man die Revisionisten? 71 Waffen, also auf der Grundlage von wirtschaftlicher Verflechtung als Pazifizierungsinstrument, ist nicht nur gegenüber Russland gescheitert, sondern zugleich ist auch der Traum ausgeträumt, eine weitgehend pazifizierte Weltordnung durchzusetzen, in der Krieg durch Schiedsgerichte abgelöst wird. Und das gilt auch für die Androhung von wirtschaftlichen Sanktionen, die ja substitutiv für Kriegführung stehen. Dieses Konzept ist global gescheitert. Es ist vielleicht nicht erst am 23. oder 24. Februar 2022 gescheitert, sondern vermutlich schon mit dem Rückzug aus Afghanistan und der damit einhergehenden Aufgabe eines Konzepts der Transformation, das dem Westen auf Dauer zu teuer geworden ist. In der islamischen Welt scheiterte die Strategie der pazifizierenden Transformation durch Wohlstandstransfer an der Versiegelung der Mentalität eines großen Teils der Bevölkerung durch die Religion. Das war und ist die politische Funktion des Islams, andere Werte zu setzen als die Mehrung des Wohlstandes. Die Religion hat verzögert, dass das globale und universelle Konzept des Westens wirksam geworden ist. Am Ende wurde es schlicht zu teuer und zu anstrengend; und die Hüter, sprich: vor allen Dingen die USA, waren überfordert. Wenn wir genauer hinschauen, so war bereits Donald Trumps Formel America first die Verabschiedung der USA aus der Rolle des Hüters dieser globalen Ordnung.

Ein Blick in die Zukunft: Fünf große Mächte dominieren die Welt Nun war ursprünglich ja auch nie daran gedacht, dass die USA diese Rolle übernehmen sollten, sondern die UNO. Aber die UNO ist eben nur so stark, wie ihre Mitgliedsländer bereit sind, dem Generalsekretär Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen. Und diese Bereitschaft war von Beginn an sehr eingeschränkt. Der UN-Generalsekretär hat bis heute keine Standby Forces zur Verfügung, die er – wie in der UN-Charta eigentlich vorgesehen – im Falle einer Krise selbstständig einsetzen kann, sondern er muss die USA oder die EU darum bitten. Oder er muss feststellen, dass finanzschwache Länder, die überdimensionierte Armeen ohne echte Kampfkraft, besitzen, ihm gerne Truppen zur Verfügung stellen, die dann mit blau gestrichenen Helmen das Problem eher vergrößern, als es zu lösen. Weil es aber heute keinen Hüter der Weltordnung gibt, wird es auch nicht möglich sein, eine normativ ausgerichtete Weltordnung durchzusetzen, da diese auf einen solchen Hüter angewiesen ist. Die Alternative dazu ist die Rückkehr zu quasiphysikalischen Modellen, also zu Gleichgewicht, Übergewicht und derlei mehr. Darum an dieser Stelle nun eine abschließende Prognose: Die neue Weltordnung dürfte von fünf Akteuren bestimmt werden. In der Geschichte der internationalen Systeme ist „Fünf“ die Zahl, die immer dann auftaucht, wenn es nicht um unipolare oder bipolare, sondern um multipolare Ordnungen geht. Die Italiener praktizierten das erstmals während des 15. Jahrhunderts im Frieden von Lodi, und fünf waren es auch in der Westfälischen Ord-

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72 Herfried Münkler nung nach dem Friedensschluss von Münster und Osnabrück: der Kaiser in Wien, Spanien, Frankreich und England, dazu Schweden als Militärmacht. Doch mit der Schlacht von Poltawa 1709, als Peter der Große den Schwedenkönig Karl XII. schlug, womit Russland zu einer Großmacht aufstieg, war die Geschichte Schwedens als europäische Großmacht vorbei. An seine Stelle trat Preußen, das so ähnlich strukturiert war wie Schweden: ökonomisch nicht besonders stark, dafür aber militärisch, mit einem ausgezeichneten Offizierskorps. Auch Spanien schied aus, weil es sich mit anderen Fragen und Regionen, insbesondere in Lateinamerika, beschäftigte und in der europäischen Politik nicht mehr mitspielen wollte. Es wurde durch Russland ersetzt. So waren es wieder fünf wichtige, große Player. Und so waren es eigentlich immer fünf, genau wie heute im UN-Sicherheitsrat bei den ständigen Mitgliedern. Und diese sind sehr bedacht darauf, dass es nicht mehr werden, weil das ihre Vetoposition schwächen würde.

Wer werden die großen Fünf sein? Wer aber werden die großen Fünf der derzeit sich herausbildenden neuen Weltordnung sein? Mit ziemlicher Sicherheit die USA und China auf derselben Ebene. Das heißt, wir sollten die Vorstellung schleunigst verabschieden, das amerikanische Zeitalter gehe zu Ende und ein chinesisches Zeitalter beginne. Es wird keine Staffelholzübergabe stattfinden, so wie einst von London nach Washington oder New York. Die USA und China werden sich die Position der ersten Macht teilen. Daneben, als Juniorpartner der Chinesen, vermutlich Russland. Nicht aufgrund seiner wirtschaftlichen Fähigkeiten, sondern aufgrund des Umstandes, dass Russland über mehr als 50 Prozent der weltweiten Atomwaffen verfügt. Und dazu auch über die erforderlichen Trägersysteme. Zudem aufgrund seiner geopolitischen Lage, der nordasiatischen Landbrücke. Auch die Europäer könnten dazugehören, als Juniorpartner der USA, angewiesen auf den amerikanischen Nuklearschirm oder auch selbstständig, wenn sie über eine eigene nukleare Komponente verfügen. Derlei ist im Augenblick aber nicht erkennbar. Es wird aber in der Tat eine spannende Frage sein: Werden die Europäer eine eigene nukleare Komponente aufbauen, um nicht mehr so „blank“ dazustehen, wenn andere, so wie jetzt Putin, die nukleare Eskalationsdominanz ins Spiel bringen? Oder werden sie es lassen? Gerade mit Blick auf eine weiterhin mögliche Präsidentschaft Donald Trumps oder eines Ron DeSantis und eine mögliche Abkopplung der USA von Europa ist diese Frage von anhaltender Brisanz. Und vor allem stellt sich die Frage, ob es den Europäern gelingt, von einem bloßen Regelbewirtschafter zu einem politisch handlungsfähigen geostrategischen Akteur zu werden? Man könnte sagen, die von-der-Leyen-Kommission geht die ersten Schritte in diese Richtung. Aber das ist ausgesprochen mühselig. Und vermutlich funktioniert es sowieso nur, wenn es innerhalb der EU, die ja ein Kreis aus Kreisen oder eine Ellipse aus Ellipsen ist, noch

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Wie pazifiziert man die Revisionisten? 73 einmal einen eigenen Kreis der außenpolitisch handlungsfähigen Akteure geben wird. Berlin, Paris, Madrid, Warschau, vielleicht auch Rom. Und noch ein paar andere. Das wäre dann ein handlungsfähiger Akteur, der nicht mehr durch einen Veto-Spieler oder die Einstimmigkeitsregel blockiert wäre. Der Anreiz für die Europäer, sich darauf einzulassen, besteht im Umbau der Weltordnung, nämlich in der Frage: Spielt Europa dabei eine Rolle oder nicht? Wenn die Europäer diesen Übergang nicht schaffen, spielt Europa keine Rolle, ist es bloßes Objekt – und nicht Subjekt – der Entwicklung. Dann tritt eben eine andere Macht für Europa in das System der Fünf ein. Der Fünfte der großen Fünf ist Indien. Indien wird die Rolle des „Züngleins an der Waage“ spielen, was es bereits im Augenblick tut. Auf der einen Seite verkauft es sich als die größte, jedenfalls zahlenmäßig größte Demokratie der Welt. Aber auf der anderen Seite steckt dahinter das hässliche Gesicht des Hindu-Nationalismus. Und gleichzeitig unterstützt Indien nicht die Sanktionen gegen Putin, sondern gibt sich als nach allen Seiten offen. Diese fünf Großen sind wiederum in sich strukturiert: auf der einen Seite die liberalen Rechtsstaaten, Europa und die Vereinigten Staaten, und auf der anderen autoritäre Regime, autoritär-autokratisch in Russland, autoritärtechnokratisch in China. Auch in den Zweierbeziehungen knirscht es also gelegentlich, wird es keine reine Freundschaft werden – weder zwischen den USA und der EU noch zwischen China und Russland. Innerhalb dieses neuen globalen Systems werden die Menschheitsaufgaben – Klimawandel, Artensterben, Hunger im Globalen Süden, Migration – zurücktreten und zur Verhandlungsmasse dieser fünf werden. So wie die Chinesen es schon lange halten, beispielsweise auf der Klimakonferenz im ägyptischen Scharm el-Scheich im November 2022: Ja, wir erhöhen unsere Bereitschaft, in Fragen der Klimapolitik mitzugehen, aber nur unter der Bedingung, dass ihr eure Sanktionen aufhebt und uns weiter als Entwicklungsland kategorisiert. Wenn euch das so viel wert ist, dann müsst ihr dafür aber auch etwas geben, so sehen die Verhandlungsspiele aus. Das heißt nicht, dass Umweltschutz oder Klimawandel damit zwingend schlechter dastehen. Es heißt nur, dass sich die Akteure verschieben und die bislang dominierenden NGOs ins zweite Glied zurücktreten.

Auf die zweite Reihe kommt es an Und bei all dem wird es zunehmend auf die „zweite Reihe“ ankommen – ein Thema, das der indisch-amerikanischer Politikwissenschaftler Parag Khanna bearbeitet hat. Die Frage der zweiten Reihe umfasst alle diejenigen, die nicht zu den fünf Großen gehören: Lateinamerika, Afrika, Teile Asiens. Mit wem geht die zweite Reihe? Das ist in Zukunft eine ganz entscheidende Frage. Zum G7-Treffen in Elmau im Juni 2022 lud der Bundeskanzler ganz bewusst die Staats- und Regierungschefs Indiens, Indonesiens, Südafrikas und Argentiniens ein, offensichtlich um sie an den Westen heranzuziehen. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hielt dann bei der UNO in

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74 Herfried Münkler New York dagegen und sagte, es sei ganz selbstverständlich, dass die Russen Schutzgarantien für alle möglichen Länder übernehmen. Doch beim G20-Gipfel im November 2022 spielte nicht zuletzt die Position des Gastgebers Indonesien eine enorm wichtige Rolle bei der Verurteilung Russlands in der abschließenden Resolution. Die zweite Reihe mit ihren unklaren, wenig festgelegten Präferenzen ist das unruhige Element innerhalb dieses Systems der Fünf – mit ihren Zwei-zu-Zwei-Konstellationen und Indien als Zünglein an der Waage. Mit wem geht zukünftig Brasilien? Mit wem gehen die Afrikaner? Mit wem gehen die zentralasiatischen Republiken? Und natürlich wird dabei auch die Frage der Einflussgebiete wieder zurückkehren. Oder genauer gesagt: Sie ist ja längst zurückgekehrt, etwa in der Seidenstraßen-Strategie, mit der China sich große Einflussgebiete verschafft hat. Russland kann das nicht, weil es nicht über genug Geld verfügt. Es muss immer gleich zu militärischen Mitteln greifen. Insofern ist der Ukrainekrieg auch eine Sicherung von Einflussgebieten. Und das ist etwas, was dann irgendwann die anderen auch tun werden. All das ist nicht sonderlich erfreulich. Aber es ist unerlässlich, dass man sich bereits jetzt auf das einstellt, womit in Zukunft zu rechnen ist. Wer das nicht tut, wird in jedem Fall zum Verlierer der sich jetzt vollziehenden Veränderungen werden.

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Das privatisierte Weltall: Die Utopie der Rechtslibertären Von Max Goldenbaum

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ugene Cernan schreibt die Initialen seiner Tochter in den Mondstaub, steigt die Treppen der Weltraumfähre hinauf und die Apollo 17 hebt ab. Für mindestens ein halbes Jahrhundert wird Cernan der letzte Mensch gewesen sein, der den Mond betreten hat. Der Wettlauf zum Mond findet damit am 14. Dezember 1972 sein endgültiges Ende – und läutet gleichzeitig auch das Ende des Space Race zwischen den USA und der Sowjetunion ein. 50 Jahre später befinden wir uns mitten in einem neuen Wettlauf ins Weltall: China plant bis spätestens zum Ende des Jahrzehnts erstmals mit eigenen Raumfahrer*innen („Taikonauten“) auf dem Mond zu landen. Und mit dem Artemis Programm unter US-amerikanischer Federführung sollen nach mehr als einem halben Jahrhundert auch wieder Menschen den Erdtrabanten betreten. Das Auffinden wertvoller Metalle und Ressourcen auf Asteroiden hat eine wahre Goldgräberstimmung im Weltraum ausgelöst, und nicht zuletzt beflügelt die Hoffnung auf bewohnbare Planeten die kolonialen Träume von Technoutopist*innen. Bevor Cernan den Mond verließ, blickte er hoffnungsvoll in die Zukunft und sagte: „Wir gehen nun wieder und, so Gott will, werden wir zurückkehren mit Frieden und Hoffnung für die gesamte Menschheit.“ Angesichts des neuen Wettlaufs ist die baldige Rückkehr zum Mond wohl ausgemacht. Noch nicht entschieden ist dagegen, ob sie tatsächlich, wie versprochen, Frieden und Hoffnung bringen wird. Um zu verstehen, was den neuen Wettlauf überhaupt ausgelöst hat und welch massive Triebkräfte die Expansion ins All vorantreiben, lohnt es sich, auf den Beginn der Monderoberung zurückzuschauen. Das Jahr 1955 markiert den Beginn des Wettrennens. Damals verkünden die rivalisierenden Großmächte USA und Sowjetunion, schon bald künstliche Satelliten in die Erdumlaufbahn zu schicken. Nur zwei Jahre später sendet Sputnik 1 die ersten Funksignale zurück zur Erde und damit ein Zeichen in den Westen. Der „Sputnik-Schock“ trifft den Westen ins Mark, war man doch des Glaubens, die Sowjetunion sei technologisch hoffnungslos rückständig. Als Reaktion darauf steigern die USA ihre Anstrengungen massiv und gründen die NASA. Es entspinnt sich ein immer schnellerer Wettlauf der Kontrahenten, in dem nicht weniger als die Überlegenheit der eigenen Gesellschaftsordnung demonstriert werden soll.

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76 Max Goldenbaum Doch die Raketen, die den Kosmonauten Juri Gagarin als ersten Menschen ins All und den Astronauten Neil Armstrong als ersten Menschen auf den Mond bringen, offenbaren auch das militärische Potenzial. Denn die Trägerraketen können nicht nur Menschen ins All befördern, sondern auch nukleare Sprengköpfe an weit entfernte Orte auf der Erde. Zudem liefern Satelliten nicht nur Daten über das Wetter, sondern auch über feindliche Armeen. So ist die Raumfahrt seit jeher untrennbar mit der militärischen Logik verknüpft. Niemand verkörpert das mehr als Wernher von Braun, der als Konstrukteur die V2-Rakete für das NS-Regime entwickelte, die Tausenden in London und Südengland den Tod brachte und später im Kalten Krieg auf US-amerikanischer Seite den ersten bemannten Mondflug möglich machte.

Im Kalten Krieg: Konkurrenz und Kooperation Jenseits der militärischen Bedrohung kommt es aber auch zur Kooperation zwischen den Blöcken. Symbolisch steht dafür das Apollo-Sojus-Projekt von 1975, bei dem ein US-amerikanisches und ein sowjetisches Raumschiff in der Umlaufbahn aneinandergekoppelt wurden. Ein kleiner Schritt genügte fortan, um ins andere Raumschiff zu gelangen – zugleich war dies ein großer Schritt in Richtung der Internationalen Raumstation ISS. Bis heute gilt die ISS als Vorzeigeprojekt friedlicher internationaler Zusammenarbeit. In den Laboren der Raumstation erforschen Wissenschaftler*innen die Wirkung der kosmischen Strahlung, aber auch Leben und Materie in der Schwerelosigkeit. Aufgrund der abnehmenden Knochendichte im All ist die Raumstation zum Beispiel ein idealer Ort zur Erforschung von Osteoporose. Satelliten entdeckten 1985 aber auch das Ozonloch und lieferten wichtige Daten über den Klimawandel. Landwirtschaft und Katastrophenschutz verlassen sich schon lange auf die Beobachtungen von Wettersatelliten. Navigationssysteme wie GPS regeln den Verkehr und weisen den Weg für die Lieferketten der Weltwirtschaft. Riesige Photovoltaikanlagen im Erdorbit sollen die künftige Energieversorgung sicherstellen. Und auch die digitale Infrastruktur für das Internet hängt maßgeblich davon ab. All das zeigt, wie umfassend unser alltägliches Leben auf der Erde inzwischen von menschlichen Errungenschaften im Erdorbit und Weltall bestimmt wird. Da verwundert es nicht, dass Satelliten mittlerweile ein dichtes Netz mit ihren Bahnen um die Erde ziehen. Das unendliche All ist rund um den Planeten Erde mit immer günstiger zu produzierenden und einer damit steigenden Zahl an Mikrosatelliten bevölkert. Tote und zusammengestoßene Satelliten bilden gefährlichen Weltraumschrott, der schon jetzt alle Aktivitäten im Orbit erschwert. Doch die gewaltige technologische Aktivität im All birgt noch ein weiteres Sicherheitsrisiko: Unsere Abhängigkeit von ihr macht sie angreifbar und damit zur kritischen Infrastruktur. Ein Ausfall kann militärische Informationsflüsse kappen, wirtschaftliche Lieferketten zum Erliegen bringen und unser alltägliches Leben entschieden beeinflussen. Antisatellitenwaffen

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Das privatisierte Weltall: Die Utopie der Rechtslibertären 77 können den Funkverkehr von Satelliten stören, diese mit Lasern blenden oder sogar ausschalten. 2007 zerstörte China gezielt einen eigenen 750 kg schweren Satelliten und produzierte damit weiteren Weltraumschrott, weshalb die ISS mehrmals im Jahr Ausweichmanöver durchführen muss. Dieses Beispiel steht für die enorme Dimension des neuen Wettlaufs ins All. 72 Länder betreiben heute ein eigenes Raumfahrtprogramm, unter anderem China, Indien, Brasilien und ein Zusammenschluss europäischer Länder. Der alte Wettlauf stand dagegen noch ganz im Kontext der bipolaren Weltordnung, er spielte sich allein zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion ab. Mit dem Ende des Kalten Krieges errangen die USA für einen zeitgeschichtlich winzigen Moment die Position als unangefochtener Hegemon. Doch mit China steht heute ein neuer Herausforderer bereit, und auch andere Staaten und Bündnisse ringen um Einflusssphären jenseits der Erde. Die multipolare Weltordnung erschafft neue Unsicherheiten und führt zu einem neuen Wettstreit – auch im All. China, dessen Beteiligung an der ISS am Veto der USA gescheitert war, hat bereits eigene Weltraumstationen ins All geschickt. Und seit 2019 mischt auch Indien im großen Spiel um den Einfluss im All mit, durch erste Tests eigener Antisatellitenraketen. Im selben Jahr gründeten die USA und Frankreich eine gemeinsame Weltraumstreitkraft. Und im Sommer 2021 stellte sogar die Bundeswehr ein Weltraumkommando auf, das eigene Satelliten schützen soll.

Die Ökonomisierung des Weltraums Doch neben der neuen staatlichen Konkurrenz um Einfluss lässt sich eine zweite, wahrscheinlich noch entscheidendere Entwicklung beobachten. Neben Staaten als dominanten Akteuren im „OldSpace“ treten Privatunternehmen und Privatpersonen als neue einflussreiche Akteure auf die galaktische Bühne des „NewSpace“. Elon Musks Firma SpaceX baut Trägerraketen, die Material und Menschen zur ISS bringen, und im vergangenen Sommer lieferten sich Jeff Bezos und Richard Branson ein spektakuläres Wettrennen darum, wer als erstes Privatunternehmen ins Weltall fliegt. Letzteres lässt sich auch als große Kampagne für die kommerzielle Raumfahrt deuten, die von den Firmen Virgin Galactic und Blue Origin der beiden Multimilliardäre angeboten wird. Über politisch-militärische Interessen hinaus spielen damit auch Profitinteressen eine bedeutende Rolle bei der Expansion in den Weltraum. Allerdings handelt es sich dabei gar nicht um ein so neues Phänomen. Auch in früheren Missionen arbeitete die staatliche Behörde NASA mit privaten Unternehmen wie Boeing oder dem Rüstungskonzern Lockheed Martin zusammen. Ein entscheidendes Novum gibt es aber doch: Heutzutage kooperieren viele Unternehmen nicht mehr vor allem mit den staatlichen Raumfahrtbehörden, sondern sie expandieren als eigenständige Akteure ins All. Ideen für eine ökonomische Erschließung des Weltalls existieren bereits seit vielen Jahrzehnten. Schon 1967 formulierte Barron Hilton, Erbe der gleichnamigen Hotelkette, seine damals noch utopisch erscheinenden Pläne:

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78 Max Goldenbaum „Wenn die Weltraumforschung die Errichtung von Hotels im Weltraum physikalisch möglich macht, wird sich die Hotelbranche dieser Herausforderung stellen.“1 Gut 50 Jahre später könnte aus der Utopie Wirklichkeit werden, haben technologische Innovationen und die enorm gesunkenen Kosten der Raumfahrt einen regelrechten Höhenrausch in den Zentralen großer Konzerne entfacht. Insbesondere drei Branchen locken dabei mit astronomischen Profitraten.

Boombranchen im All: Tourismus, Telekommunikation und Bergbau Erstens der Weltraumtourismus: Bereits jetzt lassen sich kommerziell Flüge in den Weltraum buchen. Für eine knappe halbe Mio. US-Dollar bietet Virgin Galactic einen Ausflug ins All mit mehreren Minuten in der Schwerelosigkeit, und an der ersten privaten Astronautenmission zur ISS konnten im April 2022 drei Weltraumtouristen für jeweils 55 Mio. Dollar teilnehmen. Mit Plänen für das „orbital reef“ kündigte Jeff Bezos‘ Raumfahrtunternehmen Blue Origin dann auch das erste kommerziell betriebene Weltallhotel für das Ende des Jahrzehnts an. Die zweite profitable Branche im All sind Telekommunikationssysteme mit Satelliten. Allein in den vergangenen zehn Jahren hat sich deren Anzahl mit aktuell über 5000 Satelliten nahezu verfünffacht. Mit dem Projekt „Kuiper“ in Form von mehreren Tausend Satelliten will Amazon in der Zukunft ein globales Breitband-Internet bereitstellen. Marktkonkurrent SpaceX von Elon Musk plant derweil 30 000 weitere Satelliten. Dabei bietet seine Firma Starlink schon jetzt Internet auch an entlegenen Orten und verfügt damit quasi über ein globales Monopol: „Eine Person besitzt die Hälfte der aktiven Satelliten auf der Welt. [...] De facto macht er die Regeln. Der Rest der Welt, einschließlich Europa, reagiert einfach nicht schnell genug“, warnt der Generaldirektor der ESA, Josef Aschbacher. 2 Der dritte lukrative Wirtschaftszweig im All ist der Weltraumbergbau. Ähnlich wie im späten 19. Jahrhundert in Alaska breitet sich heute mit Blick auf das All eine wahre Goldgräberstimmung aus. Doch anstelle von Gold in Klondike und Yukon berauschen dieses Mal Platin, Kobalt und Nickel auf Asteroiden. Einer Schätzung zufolge befinden sich allein auf dem vergleichsweise kleinen, erdnahen Asteroiden „1986 DA“ Metalle im Wert von 11,65 Billionen Dollar.3 Das entspricht fast der dreifachen jährlichen Wirtschaftsleistung Deutschlands. Nicht nur bei der Suche nach wertvollen Rohstoffen auf Asteroiden und dem Mond ergeben sich ganz neue Herausforderungen. Die eigentliche Schwierigkeit besteht nämlich darin, diese dann auch auf die Erde zu transportieren, wofür enorm kostspielige technologische Innovationen erforder1 Peter Dickens, The Cosmos as Capitalism’s Outside, in: „The Sociological Review“, 1/2009, S. 66-82. 2 Peggy Hollinger und Clive Cookson, Elon Musk being allowed to ‚make the rules‘ in space, ESA chief warns, www.ft.com, 5.12.2021. 3 Juan A. Sanchez et al, Physical Characterization of Metal-rich Near-Earth Asteroids 6178 (1986 DA) and 2016 ED85, in: „The Planetary Science Journal“, 10/2021, S. 13.

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Das privatisierte Weltall: Die Utopie der Rechtslibertären 79 lich sind. Daher werden in der Weltraumökonomie dringend potente Kapitalgeber, ob private Investoren oder der Staat, gebraucht. Bis jetzt haben allein Elon Musks Firmen SpaceX und Tesla sieben Milliarden US-Dollar durch Verträge mit dem amerikanischen Staat erhalten, von den weiteren Milliarden durch Steuererleichterungen und andere Subventionen ganz zu schweigen.

Riesige Heilserwartungen und eine radikal-libertäre Weltsicht Dabei gilt so wie auf der Erde auch für das All: Jede große Investition im Jetzt bedarf einer großen Erzählung für die Zukunft. An großen Narrativen über den Sinn und die Zukunft der Raumfahrt sparen die führenden Weltraumunternehmen jedenfalls nicht. So verkündete Naveen Jain, der Mitgründer von Moon Express, einem Unternehmen, das Bergbau auf dem Mond realisieren möchte, dass der Mond Ressourcen vorhalte, die der Erde und der gesamten Menschheit nutzen könnten. Des Weiteren werden von Weltraumunternehmer*innen der wissenschaftliche Fortschritt und der natürliche Entdeckergeist des Menschen ins Feld geführt, gerne verziert mit der Erzählung über „unendliche Weiten“ und unendliche Freiheit im Weltraum als „last frontier“, mit der sie in kühler Berechnung an den Mythos der Besiedlung Amerikas anknüpfen. Ganz bewusst stieg denn auch Jeff Bezos nach seiner Reise ins Weltall mit Cowboyhut und -stiefeln aus der Landekapsel. Als Ort der Freiheit zwischen Zivilisation und Natur hatte die „frontier“ schon immer eine immense Strahlkraft auf die amerikanische Identität. Weit weg vom britischen Mutterland konnten sich die Kolonialist*innen damals den Zöllen und Steuern entziehen. Und wo früher das Vereinigte Königreich die Freiheit einschränkte, ist es heute der kleptokratische, regulative Steuerstaat – so zumindest das anschlussfähige Narrativ der Rechtslibertären, die jetzt ganz maßgeblich Eroberung des Weltalls betreiben. Deren Weltsicht – basierend auf uneingeschränktem Privateigentum, Marktradikalismus und entgrenzter Freiheit – ist eng mit der Entstehung der radikal-libertären Ideologie im kalifornischen Silicon Valley verknüpft. Diese speist sich aus anarchistischer Hippie-Weltanschauung, gepaart mit ökonomischem Liberalismus und einem Technikoptimismus, der alle gesellschaftlichen Probleme lösen können soll. Unter Weltraumunternehmer*innen ist dieser Rechtslibertarismus als Weltsicht weit verbreitet, ja sogar vorherrschend. Die Ablehnung des Staates und seiner Gesetze zeigt sich nicht zuletzt bei Elon Musk, wie sein milliardenschwerer Kauf von Twitter gezeigt hat. In einer Betaversion seines Satellitennetzwerks Starlink ließ Musk die Nutzer*innen eine Klausel unterschrieben, die besagt, dass der Mars ein freier Planet sei und keine irdische Regierung auf ihm über Souveränität und Autorität verfüge – sprich: er jeder privaten Eroberung offensteht.4 Was für eine radikal-liberale Utopie! Einem Fernbleiben des Staates aus dem All sieht 4 Morgane Llanque, Kolonien im Weltall. Das Kolumbus-Syndrom, www.enorm-magazin.de, 24.2.2021.

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80 Max Goldenbaum auch Peter Beck hoffnungsvoll entgegen. Der Chef des Raumfahrtunternehmens Rocket Lab sieht gerade in der Kommerzialisierung des Weltalls dessen Demokratisierung.5

»Demokratisierung durch Kommerzialisierung« Doch wie könnte ein derart „demokratisiertes“ Weltall am Ende aussehen? Einen Vorgeschmack darauf geben rechtslibertäre Projekte auf der Erde, die ohne Regierung und öffentlichen Güter existieren sollen. Nach Vorstellung der rechtslibertären Visionäre soll das gesellschaftliche Leben – einschließlich Polizei, Gesundheitswesen und Justiz – ausschließlich privatwirtschaftlich organisiert werden. Derartige freie Privatstädte funktionieren angeblich besser, billiger und freier als die heute existierenden Gemeinwesen. Im Wettbewerb um Bewohner*innen organisieren sie sich letztlich wie Unternehmen. Aus Bürger*innen werden Kund*innen; demokratische Prinzipien wie Gewaltenteilung und Pluralismus weichen einer autoritären Unternehmensführung. Mitbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe durch ein allgemeines Wahlrecht und den Sozialstaat haben darin keinen Platz, denn das bremse nur den Fortschritt. Nach der libertären Logik verwirklicht sich die Demokratie allein durch Konsumentenentscheidungen und freie Wahl auf dem Markt. Ist ein Kunde unzufrieden mit der Stadt, wechselt er eben zu einer besseren. Mit der Stadt Próspera in Honduras setzen Unternehmenskonsortien dieses Konzept bereits heute in die Praxis um. 2013 als Sonderwirtschaftszone parlamentarisch beschlossen, lockt die Stadt seither als Steuerparadies und mit dem Versprechen maximaler unternehmerischer Freiheit ganz gezielt Investor*innen an. Die Bevölkerung hat dagegen kein Mitspracherecht bei dem Projekt, für das sogar die Verfassung geändert wurde. In der Folge regt sich Widerstand der lokalen Bevölkerung, die in Sorge um ihr Land und ihre Rechte protestiert. Genau das macht auch die Expansion ins All so interessant – als einem (noch) unbewohnten Ort, an dem mit Widerstand nicht zu rechnen ist. Genau das sind die Sehnsuchtsorte der libertären Vordenker*innen. Als „Seestätte“ bezeichnen sie daher umfunktionierte Plattformen, Schiffe oder gänzlich neu entworfene, künstliche Inseln, die dauerhaften Lebensraum auf dem Meer bieten – weit entfernt von jeglichen staatlichen Befugnissen. Letztlich träumen rechtslibertäre Unternehmer*innen von einer anarchokapitalistisch organisierten Gesellschaft. Ihre Ikone ist die Literatin Ayn Rand (1905-1982) mit ihrer Philosophie des reinen Kapitalismus – eines absolut freien Marktes ohne jeden staatlichen Einfluss. Um diese Träume zu verbreiten und zu konkretisieren, gründeten Patri Friedman, Enkel des neoliberalen Vordenkers Milton Friedman, und der Investor und Paypal-Mitgründer Peter Thiel, ein enger Vertrauter und För5 Victor Lund Shammas und Thomas B. Holen, One giant leap for capitalistkind: private enterprise in outer space, in: „Palgrave Commun“, 10/2019, S. 1-9, www.researchgate.net.

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Das privatisierte Weltall: Die Utopie der Rechtslibertären 81 derer Donald Trumps, 2008 das Seastading Institute. Auf der Website dieser „Denkfabrik“ ist zu lesen, es gebe „heutzutage keinen Freiraum mehr, um mit neuen Gesellschaftsformen zu experimentieren“. Mit den schwimmenden Städten könne und wolle man die „Armen reich machen, die Kranken heilen und die Hungrigen ernähren“.6 Doch die hehren Absichten dürfen bezweifelt werden. Tatsächlich geht es darum, einen Raum uneingeschränkter Kapitalakkumulation ohne regulierenden Staat für die Tech-Elite zu schaffen – und das jetzt auch mit Blick auf den Weltraum.

Der libertäre Traum einiger weniger als Albtraum für den großen Rest Der libertäre Traum einiger könnte sich als ein undemokratischer Albtraum für viele entpuppen. Daher ist es wichtiger denn je, in demokratischen Prozessen Regeln zu finden, die der Ökonomisierung des Weltalls zu privaten Zwecken einen Riegel vorschieben. Dafür muss erstens das Satellitensystem dringend stärker reguliert werden. Der sogenannte Kessler-Effekt beschreibt, wie nur eine kleine Kollision im Orbit eine Kaskade weiterer Kollisionen nach sich ziehen wird und wild umherfliegender Weltraumschrott die Nutzung des Weltraums unmöglich machen kann. Um diese Gefahr einzudämmen, benötigen wir eine international anerkannte Satellitenverkehrsordnung.7 Dabei muss nicht nur die Flugbahn, sondern auch das Lebensende eines Satelliten vorab klar bestimmt werden. Zudem darf eine derart kritische Infrastruktur nicht in der Hand von Privatunternehmen liegen, was gefährliche Abhängigkeiten zur Folge hat. Jüngstes Beispiel dafür war das von Elon Musks Firma Starlink für das ukrainische Militär bereitgestellte Internet, das ausgerechnet während der ukrainischen Offensive in einigen Frontbereichen ausfiel. Die Folge waren umgehend Spekulationen über einen Deal zwischen Musk und Moskau. Auch wenn der Ausfall ein Zufall war, bleibt der Aufbau eines unabhängigen europäischen Breitband-Satellitennetzes dringend erforderlich. In Anbetracht der Klimakrise müssen wir zweitens als Gesellschaft über Sinn und Unsinn von Weltraumtourismus diskutieren. Schon jetzt emittieren Superreiche mit ihren Privatjets, Mega-Yachten und Villen riesige Mengen an schädlichen Gasen in die Atmosphäre. Das reichste Prozent der Menschen stößt dabei mehr CO2 aus als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung – und der Weltraumflug eines Milliardärs belastet das Klima mehr als manche Menschen in ihrem gesamten Leben. Drittens gilt es ganz grundsätzlich zu klären, wer einen rechtlich legitimen Anspruch auf die Ressourcen und die Nutzung des Weltraums erheben kann. Wer darf auf dem Mond oder auf einem Asteroiden nach wertvollen Rohstoffen schürfen? Ist es tatsächlich nach dem ungeschriebenen Gesetz des „Wilden Westens“ die erste Person, die auf dem Himmelskörper ein 6 Siehe www.seasteading.org. 7 Siehe dazu auch: Torben David, Die Kolonialisierung des Weltalls, in: „Blätter“, 11/2017, S. 113-120.

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82 Max Goldenbaum Gebiet entdeckt, absteckt und dort ihre eigenen Regeln setzt – oder gibt es nicht vielmehr ein gemeinsames Erbe der Menschheit?

Das Weltall gehört niemandem oder uns allen Mit dem Weltraumvertrag von 1967 wurde erstmals ein Abkommen beschlossen, das in Artikel II die „nationale Aneignung“ von Himmelskörpern verbietet. Bis heute haben über hundert Länder diesen Vertrag ratifiziert. Doch in besagtem Artikel klafft eine gewaltige Gesetzeslücke: Die vage Formulierung schließt nämlich nur die nationale Aneignung, nicht aber die privatwirtschaftliche Nutzung aus. Mit dem Mondvertrag von 1979 sollte daher diese Lücke geschlossen werden. Doch obwohl darin der Besitz von Himmelskörpern durch Privatpersonen oder Organisationen verboten wird, lassen sich damit kapitalistisch organisierte Landnahmen und kommerzieller Bergbau nicht verhindern. Denn bisher haben nicht einmal 20 Staaten diesen Vertrag ratifiziert. Wichtige Nationen wie die USA, China oder Deutschland gehören nicht dazu. Der Mondvertrag gilt daher als gescheitert. Bis heute gibt es also kein stichhaltiges rechtliches Rahmenwerk über Eigentum und Nutzung von Himmelskörpern. Doch die Zeit drängt, denn mit technologischen Neuerungen rücken profitable Bergbau- und Kolonisierungsprojekte immer näher. Und wie wir aus der Geschichte wissen, erfolgten fast alle großen Entdeckungen – ob zu Wasser, zu Lande oder in der Luft – stets nach dem gleichen Muster: Zuerst kommt der Wettbewerb, dann der Machtkampf, und am Ende bestimmt der Sieger die Regeln. Es ist daher dringend an der Zeit, das fatale Muster zu durchbrechen, denn das Weltall gehört entweder niemandem – oder uns allen.

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Für die Bewohnbarkeit des Planeten: Wie die ökologische Klasse entsteht Von Bruno Latour und Nikolaj Schultz Am 9. Oktober 2022 starb im Alter von 75 Jahren Bruno Latour, der bedeutende Wissenschaftssoziologe und Vordenker einer Theorie der Nachhaltigkeit. In seinem letzten Buch „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein Memorandum“, das soeben im Suhrkamp Verlag erschienen ist, beschäftigt er sich gemeinsam mit seinem Kollegen Nikolaj Schultz mit der Frage nach dem handelnden Subjekt in der ökologischen Transformation. Dieser Beitrag ist ein bearbeiteter Auszug aus dem Buch. Die Übersetzung aus dem Französischen stammt von Bernd Schwibs. – D. Red.

Ö

kologische Anliegen – das Klima, die Energie, die Biodiversität – sind heute allgegenwärtig. Dennoch hat die Vielzahl an Konflikten nicht, jedenfalls noch nicht, zu einer allgemeinen Mobilisierung geführt, wie es in früheren Zeiten durch die vom Liberalismus und vom Sozialismus in Gang gebrachten Veränderungen der Fall war. In diesem Sinne ist die Ökologie heute überall und nirgends. Angesichts des enormen Ausmaßes der laufenden Katastrophe und der allgemeinen Unzufriedenheit über das politische Angebot der traditionellen Parteien, die sich unter anderem in mannigfacher Wahlenthaltung niederschlägt, muss die Ökologie unbedingt in ihrem Zusammenhalt und ihrer Autonomie gestärkt werden. Das haben sich zwar bereits viele ökologische Bewegungen und sogar Parteien auf ihre Fahnen geschrieben. Doch noch sind sie weit davon entfernt, auf ihre Weise und mit ihren eigenen Begriffen die Fronten um sie herum zu bestimmen und so die Gesamtheit ihrer Verbündeten und Gegner in der politischen Landschaft auszumachen. Noch Jahrzehnte nach ihren Anfängen sind sie in den alten Gräben gefangen. Das schränkt die Suche nach Allianzen ein und beeinträchtigt ihren Handlungsspielraum. Will die politische Ökologie existieren, darf sie sich nicht durch andere definieren lassen. Sie muss aus sich heraus und für sich die neuen Quellen von Ungerechtigkeit aufdecken sowie die neuen Fronten ausmachen, an denen sie zu kämpfen hat. Weil sie getragen war von der Sorge um eine Natur, die von der Wissenschaft erkannt wurde und der sozialen Welt äußerlich war, hat sich die politische Ökologie zu lange auf eine pädagogische Version ihres Handelns verlassen: Da man weithin um die Katastrophensituation wusste, würde die Tat zwangsläufig folgen. Doch mittlerweile ist offenbar

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84 Bruno Latour und Nikolaj Schultz geworden, dass der Aufruf „Zum Schutz der Natur“ weder die sozialen Konflikte beendet hat noch die Aufmerksamkeit von ihnen ablenkt. Im Gegenteil: Er befeuert diese noch. Von den Gelbwesten in Frankreich über die Proteste der indischen Bauern bis hin zu den indigenen Bewegungen in Nordamerika, die sich gegen das Fracking wehren, oder die Debatten um die Frage, welche Auswirkungen Elektroautos haben – der Befund ist eindeutig: Die Konflikte nehmen zu. Von der Natur zu sprechen heißt also nicht, einen Friedensvertrag zu unterschreiben. Es heißt vielmehr anzuerkennen, dass eine Vielzahl von Auseinandersetzungen zu allen möglichen Themen des alltäglichen Daseins, auf allen Stufen und auf allen Kontinenten, besteht. Die Natur eint nicht, sie trennt. Aktuell ist es wohl gerade die enorme Vielfältigkeit der ökologischen Konflikte, die den Versuch einer stimmigen Definition dieser Kämpfe verhindert. Nun ist diese Diversität jedoch kein Manko, sondern ein Trumpf. Und zwar deshalb, weil die Ökologie umfassend die Lebensbedingungen untersucht, die durch das obsessive Beharren auf der Produktion zerstört wurden. Will die ökologische Bewegung jedoch an Konsistenz und Autonomie gewinnen und soll sich dies in einem geschichtsträchtigen Elan gleich dem in der Vergangenheit niederschlagen, dann muss sie ihr Projekt erkennen, es fassen, begreifen und wirksam darstellen und diese Konflikte zu einer für alle verständlichen Aktionseinheit zusammenschweißen.

Überall Konflikte und Gleichgültigkeit Wenn es stimmt, dass die Ökologie sowohl überall als auch nirgends ist, dann trifft auch und nicht minder zu, dass es einerseits hinsichtlich aller möglichen Themen zu Konflikten kommen kann, während andererseits eine Art Gleichgültigkeit, ein Hang zur Aussöhnung, ein Abwarten und ein trügerischer Friede herrschen. Jede Veröffentlichung des Weltklimarats löst exaltierte Reaktionen aus, doch wie in der Oper versetzen die Kriegsgesänge „Marschieren wir, marschieren wir, bevor es zu spät ist!“ die Chöre auch nur um wenige Meter. „Alles muss sich radikal ändern“ – und nichts verändert sich. Wenn es also dringend geboten ist, anzuerkennen, dass ein allgemeiner Kriegszustand herrscht, so muss doch auch eingestanden werden, dass eindeutige Frontlinien zwischen Freunden und Feinden gegenwärtig nur schwer zu ziehen sind. Bei einer ganzen Menge von Themen sind wir selbst gespalten, sind wir zugleich Opfer und Komplizen. Unter welchen Bedingungen könnte die Ökologie aber die Politik um sich herum organisieren, statt nur eine Bewegung unter anderen zu sein? Darf sie tatsächlich hoffen, den politischen Horizont so zu definieren, wie es einst der Liberalismus, dann die Sozialismen sowie der Neoliberalismus taten, und wie es seit kurzem die illiberalen oder neofaschistischen Parteien tun, deren Aufstieg sich ungebremst fortsetzt? Kann sie von der Sozialgeschichte lernen, wie neue politische Bewegungen entstehen und wie diese den Kampf der Ideen gewinnen, noch bevor sie ihre Fortschritte in Parteistrukturen und Wahlergebnisse übersetzen können?

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Wie die ökologische Klasse entsteht 85 Während sich die Klassenkonflikte im vorigen Jahrhundert, wenn auch nur grob, nachzeichnen lassen, die es zum Beispiel ermöglichten, Parteien mit erkennbaren Ideologien zu wählen, ist das heute, solange der ökologische Kriegszustand nicht geklärt ist, ungeheuer schwer. Und wie kann man überhaupt von Klassenkonflikten sprechen, wenn noch nicht einmal die ökologische Klasse an sich klar definiert ist?

Was heißt heute Klasse? Es ist stets ein wenig beängstigend, den Begriff der „Klasse“ wieder zu verwenden. Deshalb muss man der Versuchung widerstehen, den Ausdruck „Klassenkampf“ unverändert aufzugreifen, auch wenn man zugeben muss, dass er im vorigen Jahrhundert insofern sehr große Dienste leistete, als er die Mobilisierungsbemühungen erleichterte und einte. Der Vorteil dieses Begriffs lag darin, dass er die Grenzen der Struktur der sozialen und der materiellen Welt festzulegen erlaubte, indem er politische Dynamiken in der Begrifflichkeit sozialer Konflikte, der Herausbildung von Erfahrungen und kollektiver Horizonte vorantrieb. Seine Rolle innerhalb der sich vollziehenden Geschichte war klar deskriptiv und performativ. Er beanspruchte, die soziale Realität zu beschreiben und damit den Menschen zu ermöglichen, sich in der Landschaft, die sie bewohnten, zu positionieren. Gleichzeitig war er nie zu trennen von einem Projekt der gesellschaftlichen Transformation. Von „Klasse“ zu sprechen heißt also immer, Schlachtordnung einzunehmen. Und davon zu sprechen, eine „ökologische Klasse“ entstehen zu lassen, bedeutet also unvermeidlich, zugleich eine neue Beschreibung und neue Handlungsperspektiven anzubieten. Will sie an Autonomie gewinnen, muss die Ökologie also bereit sein, dem Klassenbegriff eine neue Bedeutung zu verleihen. Richtet man sich an der Marxschen Tradition der „Klassenkämpfe“ aus, sind diese zutiefst an den Begriff und das Ideal der Produktion gebunden. Auch wenn es immer verführerisch ist, eine neue Situation in einen anerkannten Rahmen einzufügen, gebietet es die Vorsicht, nicht übereilt geltend zu machen, dass die ökologische Klasse einfach nur die „antikapitalistischen Kämpfe“ fortführt. Zahlreiche analytische Köpfe haben zwar den Klassenbegriff entsprechend den Formveränderungen des Gesellschaftsgefüges im 20. Jahrhundert überarbeitet, aber Marx bleibt doch für jeden, der sich auf dieses Gelände wagt, eine leitende Figur. Die „Klassentheorie“ bot den Menschen für eine ganz bestimmte historische Periode einen Kompass, an dem sie klar ablesen konnten, was ihre Subsistenz ermöglichte, wo ihr Ort in der sozialen Landschaft war und gegen wen sie kämpften. In der modernen Bedeutung der Begriffe wurden „Klasse“, „Klasseninteresse“ und „Klassenkampf“, nicht zu vergessen das höchst umstrittene „Klassenbewusstsein“, verwendet, um zu beschreiben, wie unterschiedliche Personen ihre Subsistenzbedingungen mit anderen teilten oder aber nicht; wie soziale Gruppen innerhalb einer geschichteten materiellen und sozialen Landschaft unterschiedliche Positionen innehatten; wie schließlich die anta-

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86 Bruno Latour und Nikolaj Schultz gonistischen Beziehungen zwischen den Interessen dieser Gruppen diese unausweichlich in konflikthafte soziale und politische Auseinandersetzungen trieben. Wie der Liberalismus verlieh der Marxismus der Geschichte einen Sinn. Will die ökologische Klasse existieren, muss sie es mindestens genauso gut machen und insbesondere ebenfalls den Sinn der Geschichte definieren – allerdings den ihrer Geschichte! Der Beitrag der marxistischen Definition von Klasse liegt im Verständnis der materiellen Bedingungen; die sozialen Bedingungen sind nur deren Ausdruck. Brauchbar war der Marxsche Kompass, weil er auf einer verhältnismäßig klaren Beschreibung der zum kontinuierlichen Fortbestand der Gesellschaft notwendigen Prozesse beruhte. Ausgangspunkt ist die Beschreibung der Mechanismen, durch die Gesellschaften sich reproduzieren; danach wird klassifiziert, wie die Akteure in diesem Reproduktionsprozess auf antagonistische Weise verortet sind. In diesem Sinne kann die auf Klassen bezogene Analyse als eine materialistische bezeichnet werden. Will die ökologische Klasse diese Tradition als Erbschaft übernehmen, muss sie also diese marxistische Lektion akzeptieren und sich ebenfalls im Verhältnis zu den materiellen Bedingungen ihrer Existenz definieren. Der neue Klassenkampf muss auf einem nicht minder materialistischen Ansatz wie der alte beruhen. In diesem wesentlichen Punkt herrscht durchaus Kontinuität. Nur handelt es sich heute nicht mehr um dieselbe Materialität! Daraus erwächst die relative Diskontinuität zwischen den sozialistischen Traditionen und dem, was heute zum Entstehen gebracht werden muss.

Über Produktion und Reproduktion hinausdenken Für Marx war das Überleben und die Reproduktion der Menschheit erstes Prinzip aller Gesellschaften und ihrer Geschichte. Dementsprechend bestand der erste Schritt jeder Analyse menschlicher Gesellschaften und der sozialen Geschichte notwendig in der Klärung sowohl der materiellen Voraussetzungen – was die Menschen aßen, das Wasser, das sie tranken, die Kleidung, die sie trugen, die Behausungen, in denen sie lebten, usw. –, die es den Gesellschaften und menschlichen Kollektiven ermöglichten zu überleben, als auch der Prozesse, denen sie ihre Entstehung verdanken. Die Produktion dieser materiellen Reproduktionsbedingungen galt Marx als Fundament der sozialen Geschichte. Allerdings ging es vorrangig um die Reproduktion der Menschenwesen. Wir befinden uns heute in einer ganz anderen historischen Konstellation. Unser Horizont wird nicht mehr ausschließlich durch die Produktion bestimmt. Und vor allem: Wir sind nicht mehr mit derselben Materie konfrontiert. Was aber geschieht, wenn die Definition der materiellen Existenz selbst sich verändert? Da er ein Denken nahezu ausschließlich in Begriffen von „Produktion“ und „Reproduktion“ voraussetzt, ist der sozialistische Kompass außerstande zu erklären, wie sich heute die Form der Klassenlandschaft verwandelt. Wie bei der Entstehung der mechanischen Zivilisation zwingt uns

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Wie die ökologische Klasse entsteht 87 das Neue Klimaregime, die Prozesse neu zu beschreiben, kraft deren sich die Gesellschaften reproduzieren und weiterbestehen. Einmal mehr: „Alles Ständische und Stehende verdampft.“ Wie im 19. Jahrhundert wohnen auch wir heute einer gewaltigen Transformation der materiellen Basis der Gesellschaften bei. Das zwingt uns dazu, uns nicht mehr allein bei den alten Beschreibungen aufzuhalten, um die Fragen zu beantworten, wie die Kollektive weiterleben, wie ihre Subsistenzmittel sich langfristig erhalten können und wie ihre Geschichte geschrieben werden soll. Die Analyse in Begriffen der ökologischen Klasse bleibt materialistisch, aber sie muss sich anderen Phänomenen als der alleinigen Produktion und der alleinigen Reproduktion ausschließlich der Menschen zuwenden. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich diese Produktionssysteme derart stark beschleunigt, dass dadurch das Erd- und das Klimasystem destabilisiert wurden. Das ist in Begriffen wie „Anthropozän“ oder „Große Beschleunigung“ recht treffend zusammengefasst. Momentan werden wir Zeugen davon, wie die klimatischen Veränderungen auf dramatische Weise die Kräfte intensivieren und verwandeln, die die Kontinuität und das Überleben der Gesellschaften sicherstellen. Das Produktionssystem ist zu einem Synonym für „Zerstörungssystem“ geworden.

Was es heute bedeutet, Materialist zu sein Was aber könnte eine marxistische Analyse bedeuten, die sich auch auf die Reproduktion des Nichtmenschlichen konzentrierte? Heute Materialist zu sein heißt, zusätzlich zur Reproduktion der für die Menschen günstigen materiellen Bedingungen auch die Voraussetzungen zur Bewohnbarkeit der Erde zu berücksichtigen. Diese zwingen dazu, nicht allein das in Erwägung zu ziehen, was die politische Ökonomie der traditionellen Parteien unter dem Namen „Ressource“ zu vereinfachen suchte, sondern eine neue materielle Realität des Planeten. Die Ökonomie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Einsatz von Ressourcen zum Zwecke der Produktion. Aber existiert eine Ökonomie, die in der Lage ist, sich zurückzuwenden in Richtung des Erhalts der Bewohnbarkeitsbedingungen der terrestrischen Welt? Mit anderen Worten, die imstande ist, jener ausschließlichen Aufmerksamkeit für die Produktion den Rücken zu kehren und sie neu auszurichten an der Suche nach den Bewohnbarkeitsbedingungen? Vor dieser Herausforderung steht die neue ökologische Klasse. In diesem Punkt besteht verständlicherweise eine erhebliche Diskrepanz zum traditionellen „Klassenkampf“. Dieser Dissens hinsichtlich der materialistischen Klassenanalyse macht letztlich verstehbar, inwieweit die Analyse in Begriffen der ökologischen Klasse die traditionellen Kämpfe der Linken fortführt und erneuert – freilich auf ihre Weise. Es geht in der Tat darum, sich von der ausschließlichen Konzentration auf die Produktion abzuwenden, um so den Widerstand der Gesellschaft (um ein Motiv von Karl Polanyi aufzugreifen) gegen die Ökonomisierung auszuweiten.

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88 Bruno Latour und Nikolaj Schultz Bestimmte Kämpfe im 20. Jahrhundert waren natürlich von der marxistischen Tradition inspiriert, doch viele andere wurden schlicht im Namen der Absage an eine Expansion der Produktion geführt und gegen ihren ständig zur Schau getragenen unerträglichen Anspruch, sich vom Rest des gesellschaftlichen Lebens abzukoppeln. Wie es der Ökonom Lucas Chancel formuliert: „Die Abschaffung der Sklaverei, die Sozialversicherung, das allgemeine Wahlrecht, die kostenlose Schulbildung, das sind im eigentlichen Sinn keine Fragen der Organisation der materiellen Produktion.“ Das waren die vitalen Äußerungen der Unmöglichkeit für eine menschliche Gesellschaft, sich durch die Ökonomisierung allein definieren zu lassen. Folglich ermöglicht die Kritik bestimmter Grenzen des marxistisch inspirierten Materialismus auch, die vielfältigen Traditionen des Kampfes gegen die Ökonomisierung zu erneuern. Bis auf diese freilich entscheidende Nuance kann die ökologische Klasse mithin durchaus den Anspruch erheben, an die Geschichte der emanzipatorischen Linken, sie erweiternd, anzuknüpfen. Ein Zeichen, dass diese Wiederaufnahme bereits stattgefunden hat: Die Zahl getöteter Umweltaktivisten ist heute höher als die der Gewerkschafter. Fasst man die gegenwärtige Situation zusammen, kann man sagen, dass mittlerweile die ganze Welt verstanden hat, dass entschiedenes Handeln nötig wäre, um der Katastrophe Einhalt zu gebieten, es dafür aber an Mittlern, an Motivation, an Führung zum Handeln fehlt. Bis zum Überdruss ist von „Revolution“, von „radikaler Transformation“, von „Kollaps“ die Rede, aber es ist nur zu sichtbar, dass nichts diese Ängste in ein mobilisierendes Aktionsprogramm, das den Herausforderungen entspräche, umsetzt. Insofern ähnelt dieser Aufruf zum Handeln beileibe nicht dem, den unsere Vorgänger aus Kriegszeiten oder den Zeiten des Wiederaufbaus, der Entwicklung und der Globalisierung kannten. Die Energien knüpften damals wirksam an die Ideale an; Einsicht in die jeweilige Lage genügte zur Mobilisierung. Heute scheint die Gewissheit der Katastrophe das Handeln eher zu lähmen. Jedenfalls werden die Vorstellungen von der Welt, die aufzubietenden Energien und die zu verteidigenden Werte nicht instinktiv miteinander in Einklang gebracht. Alle Instinkte sind vielmehr auf die identische „Wiederaufnahme“ der überkommenen Auffassung von Produktion gerichtet. Aufgabe der ökologischen Klasse ist es dagegen, die Quelle dieser Lähmung zu diagnostizieren und die Ängste, das kollektive Handeln, die Ideale und den Sinn der Geschichte neu miteinander in Einklang zu bringen. Man begreift, woher die Lähmung stammt, wenn man bemerkt, dass die Richtung des Handelns selbst sich umgekehrt hat. Vereinfachend lässt sich sagen, dass in den letzten zwei Jahrhunderten die Energien dann leicht zu mobilisieren waren, wenn es darum ging, die Produktion zu erhöhen und die dabei gewonnenen Reichtümer etwas weniger ungerecht zu verteilen. Zweifellos kam es zu zahllosen Konflikten zwischen den diversen Formen des Liberalismus und den vielfältigen sozialistischen Traditionen. Aber ihnen lag eine vollständige Übereinstimmung hinsichtlich einer Erhöhung der Produktion zugrunde. Uneinigkeit herrschte eher über die gerechte Verteilung der Erträge. Die Entwicklung war unbestreitbar historisch vorgegeben. Man

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Wie die ökologische Klasse entsteht 89 konnte stets auf die Energien bauen, die mit der Losung entfacht wurden: „Vorwärts!“ Aus der Sicht des alten Modells klingt die Losung heute dagegen eher wie: „Alles zurück!“ Auf einmal erscheinen die Erhöhung der Produktion, der Begriff der Entwicklung selbst, der des Fortschritts als Wahnwitz, der abgestellt werden müsste. Die Verbindung von Produktion und Zerstörung der Bewohnbarkeitsbedingungen des Planeten zieht eine Krise der Fähigkeiten zur Mobilisierung nach sich. Wen wundert es da, dass die Warnungen der Expertinnen und Experten vor den enormen Bedrohungen so wenige praktische Folgen zeitigen. Die mentale, moralische, organisatorische, verwaltungsmäßige, rechtliche Ausstattung, so lange mit Entwicklung assoziiert, büßt ihre Nützlichkeit ein, weil sie die Aufmerksamkeit auf das lenken sollte, was sich in eine Sackgasse verwandelt hat. Die Verfahrensweise hat sich sichtbar geändert, aber noch ist die neue Ausstattung nicht erarbeitet, die es ermöglichte, in Aktion zu treten. Was bleibt, sind Angst, Schuldgefühle und Ohnmacht. Es ist die Aufgabe der ökologischen Klasse, diese Ausstattung zu liefern. Die entscheidende Wende besteht darin, der Aufrechterhaltung der Bewohnbarkeitsbedingungen des Planeten Priorität einzuräumen und nicht der Entwicklung der Produktion. In diesem Sinne geht es nicht nur um eine Beschränkung des „Produktivismus“, sondern darum, wie es der Anthropologe Dusˇan Kazik fordert, sich völlig vom Horizont der Produktion als Prinzip der Analyse der Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen den Menschen und dem, von dem abzuhängen sie lernen, abzuwenden. Tatsächlich hatte die ausschließliche Konzentration auf die Produktion die unheilvolle Konsequenz, dass alles zu ihrer Entwicklung Erforderliche auf die bloße Rolle von Ressourcen reduziert wurde. Doch der in Jahrmillionen von Lebewesen erzeugte Planet umgibt, umhüllt, gestattet, ermächtigt, gewährleistet mehr als nur Ressourcen für menschliches Handeln.

Die große Wende: Wie die Produktion aus dem Zentrum an den Rand rückt Wie es die Langzeitgeschichte der Erde belegt, waren es die Lebewesen, die den kontinuierlichen Fortbestand der von ihnen in Milliarden von Jahren geschaffenen terrestrischen Existenz ermöglicht haben – einschließlich Klima, Atmosphäre, Boden und Ozeane. Das Produktionssystem ist nur ein Teil und nicht einmal der wichtigste dieser Gesamtheit. Es ist aus dem Zentrum an den Rand gerückt; dagegen nimmt die Peripherie den ganzen Platz ein. Tatsächlich ist das Produktionssystem eingebettet, eingehüllt in eine ganz andere Organisation, die die Aufmerksamkeit auf Praktiken richten lässt, die die für die Wahrung der Lebensbedingungen notwendige Erzeugung begünstigen – oder aber vernichten. Produzieren heißt zusammenstellen und kombinieren, nicht erzeugen, will heißen: mit Sorgfalt den Fortbestand der Wesen entstehen lassen, von denen die Bewohnbarkeit der Welt abhängt. Um diese Umkehrung zu fassen, wäre es sinnvoller, von Einwicklung zu sprechen, statt die sonderbare Metapher der Entwicklung im Mund

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90 Bruno Latour und Nikolaj Schultz zu führen: Alle auf die Produktion bezogenen Fragen sind umgeben von, eingepackt in Erzeugungspraktiken, von denen sie abhängen. Doch wir sind es gewohnt, Wachstum als einziges Mittel zu begreifen, um uns aus der Affäre zu ziehen, wobei wir vergessen, welche Zerstörungen es anrichtet. Dabei hing Prosperität immer schon von den Erzeugungspraktiken ab. Es geht somit nicht um „weniger Wachstum“, sondern darum, endlich wirklich zu prosperieren. Und doch hat noch kein einziger bedingter Reflex, noch kein Instinkt, noch kein Affekt diese Umkehr derart umgesetzt, dass sie zum neuen Sensus communis, zum neuen Gemeinsinn geworden wäre. Da aber die Geschichte der Klassenkonflikte in den letzten beiden Jahrhunderten ausschließlich auf die Produktion und die Verteilung ihrer Erträge fokussiert war, blieb sie willentlich und systematisch blind für die Grenzen der materiellen Bedingungen des Planeten. Aus diesem Grund kann sich die ökologische Klasse nicht mehr allein anhand der Analyse der Produktionsweise definieren. Der Punkt, an dem sich die neue ökologische Klasse von allen anderen scheidet, besteht darin, dass sie die Stellung der Produktionsverhältnisse vermindern will, während die anderen sie verstärken wollen. Der reizvolle Euphemismus des „Übergangs“ bezeichnet auf die denkbar schlechteste Weise, was im Grunde eine gewaltsame Umkehr ist. Diese Spannung bildet die Grundlage für den neuen Klassenkampf. Von zentraler Bedeutung sind nicht mehr wie einst allein die Klassenkonflikte innerhalb des Produktionssystems, sondern die notwendig konflikthafte Beziehung zwischen dem Erhalt der Bewohnbarkeitsbedingungen und dem Produktionssystem. Diese sekundäre Spannung macht den neuartigen Charakter der gegenwärtigen Lage aus. Die althergebrachten Klassen, die von Marx und die der Liberalen – die von einer ökonomisch geprägten Deutung der Geschichte abhängigen Klassen –, ordnen die Fragen der Bewohnbarkeit den Produktionsverhältnissen unter. Die im Entstehen begriffene ökologische Klasse verfährt umgekehrt. Im grellen Licht der modernen Ordnung offenbart sie die wirklichen Trennlinien: Unter dem Klassenkampf ein anderer Klassenkampf. Die ökologische Klasse, die um ihre mit der Produktion brechende Definition kämpft, ergänzt also die Produktionsverhältnisse durch die Erzeugungspraktiken, die schon immer das Äußere des menschlichen Handelns definierten, insofern sie schon immer die Produktionsverhältnisse umgaben und umschlossen und sie erst ermöglichten. Dem Philosophen Pierre Charbonnier zufolge ist die ökologische Klasse dadurch bestimmt, dass sie die Welt, in der man lebt, und die Welt, von der man lebt, in ein und demselben Raum miteinander verbindet. Sie ergänzt mithin die Produktion durch den Rückgriff auf die Bewohnbarkeitsbedingungen, in denen der Produktionswille immer schon eingebettet war. Zwar war die Definition der sozialen Klassen in Wirklichkeit immer schon abhängig von der Schlüsselfrage der Reproduktion (sogar bei Marx), doch hat das Gewicht der Ökonomisierung die marxistischen wie die liberalen Traditionen dazu gedrängt, deren Bedeutung zu leugnen oder zu minimieren. Klassenkampf ist seit je ein Knäuel geosozialer Konflikte gewesen – und wird es

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Wie die ökologische Klasse entsteht 91 heute wieder explizit –, für die die Formatierung durch die Ökonomisierung nicht mehr angemessen ist, da sie den terrestrischen Wesen, einschließlich der Menschen, keinen Platz einräumen kann. Die ökologische Klasse ist also diejenige, die sich der Frage der Bewohnbarkeit annimmt. Aus diesem Grund greift ihre Vision der Geschichte und sogar der Geogeschichte auch weiter aus, ist umfassender und komplexer. Was zunächst als Rückschritt, als Rückwärtsbewegung, fast wie eine „reaktionäre“ Position erschien, erweist sich jetzt als eine enorme Erweiterung der Sensibilität für die lebensnotwendigen Bedingungen. Daraus erwächst ihr Konflikt mit den alten Klassen, die nicht in der Lage waren, die realen Voraussetzungen ihres Projekts zu erfassen. Weder Liberalismus noch Sozialismus haben ernsthaft die Bedingungen der Bewohnbarkeit auch für sie selbst in Betracht gezogen – einmal ganz zu schweigen von den Neofaschisten. In diesem Sinne darf sich die ökologische Klasse – weil sie weiter blickt, weil sie mehr Werte berücksichtigt, weil sie bereit ist, an mehr Fronten für sie zu kämpfen – als rationaler als die anderen Klassen betrachten, in jener Bedeutung, die Norbert Elias diesem Adjektiv verliehen hat. Ihr Ehrgeiz ist also, den Prozess der Zivilisation wieder aufzunehmen, den die anderen Klassen aufgegeben oder verraten haben. Auf alle Fälle geht es darum, wie die Zivilisation aktiv fortgesetzt werden kann.

Die Erweiterung des Horizonts Bereit zu sein, für jedes Subjekt, für jedes Territorium, die Welt, in der man lebt, zu unterstützen, indem man sie ausdrücklich mit der Welt verbindet, von der man lebt, erweitert den Horizont des Handelns. Diese Erweiterung des Horizonts ermächtigt die ökologische Klasse, sich als legitimer zu erachten, den Sinn der Geschichte zu definieren. Die durch den alleinigen Horizont der Produktion und der Nationalstaaten beschränkten anderen Klassen bleiben dabei: Sie leugnen weiterhin die Wichtigkeit der Erzeugungspraktiken. Um die bei Elias angedeutete Parallele fortzuführen: Ähnlich wie die aufsteigende bürgerliche Klasse der Aristokratie deren allzu enge Wertvorstellungen ankreidete, spricht heute die neue ökologische Klasse den alten führenden Klassen die Legitimität ab, da sie durch die Krise gelähmt und außerstande sind, für das Abenteuer der modernen Politik einen glaubwürdigen Ausweg zu finden. Daraus schöpft diese neue Klasse ihre Energie, ihre potenzielle Fähigkeit zum Zusammenschluss und, kurzum: ihren Stolz. Indem sie die Definition dessen akzeptiert, was rational ist, um den Lauf der Geschichte zu verändern, macht die ökologische Klasse den gegenwärtig führenden Klassen die Rolle der, wie der Soziologe Bruno Karsenti sie nennt, classe-pivot, der Schlüsselklasse, die Rolle derjenigen also streitig, um die herum sich die politischen Positionen organisieren. Die Ökologie wächst aus ihren Kinderschuhen heraus. Sie ist keine Nebenbewegung mehr, vor allem hört sie auf, sich auf die alten sozialen Klassen zu beziehen, die in den alleinigen Produktionsverhältnissen gefangen sind. Mit ihrer Kritik an den bislang „führenden“ Klassen befindet sie sich insofern im Recht, als diese weder

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92 Bruno Latour und Nikolaj Schultz die Grenzen der Produktion durch eine Beschränkung der Ökonomisierung erkennen noch das Umschwenken auf Praktiken der Erzeugung vorbereiten, noch einen Ausweg finden konnten, der nicht einfach national fundiert war. Definitionsgemäß verändert die ökologische Klasse die Aufteilung zwischen Innen- und Außenpolitik: Die äußere Erde wird Teil der Innenpolitik. In klassischen Begriffen formuliert, kann man sagen, dass die liberale Tradition, die weithin auch von den sozialistischen Traditionen geteilt wurde, ihr eigenes Projekt der Entwicklung und des Fortschritts verraten hat. Angesichts des Ausmaßes der Katastrophe, die diese führenden Klassen nicht vorherzusehen wussten, haben sie jeden Anspruch verloren, im Namen gleich welcher Rationalität zu handeln. Deshalb fehlt ihnen nunmehr auch jede Legitimität, den Sinn der Geschichte zu definieren und den Respekt der anderen Klassen einzufordern, die sie bislang angeblich hinter sich sammelten. Das erklärt den Hohn, den sie bei den anderen Klassen auslösen.

Ein Kampf an zwei Fronten Den Horizont des Handelns über die Produktion hinaus und jenseits des von den Nationalstaaten definierten Rahmens zu erweitern: Das wird von jetzt an die Aufgabe der sich formierenden ökologischen Klasse sein. Durch dieses Projekt kann sie ihrerseits hoffen, die anderen Klassen hinter sich zu bringen. Diese Neuausrichtung muss schnellstens geklärt werden, denn als Reaktion auf den Verrat der führenden Klassen sind zahlreiche Bewegungen freigesetzt worden, die eine Bindung an Identität fordern und Schutz innerhalb von mehr oder weniger engen Grenzen suchen, dem überkommenen Schlagwort des nationalistischen Schriftstellers und Politikers Maurice Barrès folgend: „la terre et les morts“, die Erde und die Toten. Das derart eng definierte Territorium liegt allerdings fernab der Richtung, die es einzuschlagen gilt; denn der Boden der Reaktionäre ist noch abstrakter und steriler als jener der Globalisierer. Er ist allein durch die Identität, die Toten bestimmt, und nicht durch die zahllosen Lebenden, die ihm Konsistenz verleihen. Die ökologische Klasse muss daher an mindestens zwei Fronten kämpfen: gegen die illusorische Globalisierung und gegen die Rückkehr in ein von Grenzen umgebenes Inneres. Diese beiden Bewegungen sperren sich gegen die Fragen der Bewohnbarkeit. In beiden Fällen ist die ökologische Klasse genötigt, die Natur der Territorien neu zu definieren, die Beschaffenheit dessen, wovon die Produktion umgeben ist, was sie ermöglicht, beschränkt und kontrolliert. Indem sie innen und außen neu aufteilt, darf sie hoffen, Teile der alten Klassen überzeugen zu können, sich mit ihr zu verbünden, um andere Formen der Förderung ihrer Interessen zu entdecken. Die ökologische Klasse, im Kampf mit den alten Schlüsselklassen begriffen, erkennt sich mithin das Recht zu, „Boden“, „Territorium“, „Land“, „Nation“, „Volk“, „Bindung“, „Tradition“, „Beschränkung“, „Grenze“ in ihrer eigenen Begrifflichkeit zu definieren – und auf diese Weise selbst zu entscheiden, was „fortschrittlich“ ist und was nicht.

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Die Boomer und der Altenboom Wie wir aus der Demographiefalle herauskommen Von Stefan Schulz

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ir, die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, sind wahnsinnig alt geworden. Seit Gründung der Bundesrepublik 1949 hat sich der Altersdurchschnitt von etwa 35 Jahren auf 44,6 Jahre Ende 2020 erhöht.1 Und mit dem Alter kommen die Gebrechen, im Körper, aber auch in den Köpfen. Wir sträuben uns natürlich dagegen, lassen Fitnesswellen über uns hinwegrollen und lesen Bücher über den Darm, die Haut, unser Familienleben im Speziellen und das Glück im Allgemeinen. Wir haben unser individuelles Alter also ständig im Blick. Nur unser gesellschaftliches Alter, die Demographie, spielt in unseren Debatten in der Regel keine Rolle. Manchmal aber schlägt sich die Realität doch zu uns durch, wie wir sie eigentlich gar nicht kennenlernen wollten. Kurz vor der Bundestagswahl 2021 sprach der Vorstandschef der Bundesanstalt für Arbeit, Detlef Scheele, sie unerbittlich aus: „Ich mache mir gar nicht so viele Sorgen um die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Viele Firmen sind am Weltmarkt unterwegs, und sie haben gute Konzepte“, sagte er im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“, nur um anschließend fortzufahren: „Aber es wird durch die demographische Entwicklung in Deutschland zu wenig Arbeitskräfte geben. 2020 nahm die Zahl der Bürger im typischen Berufsalter, also der potenziellen Arbeitskräfte, um mehr als 50 000 ab. Dieses Jahr sind es fast 150 000. In den nächsten Jahren wird es viel dramatischer. Die Demographie ist kritischer als die Transformation. Ich verstehe nicht, warum darüber niemand redet.“ 2 Seither hat sich die Lage nicht verbessert, im Gegenteil: Mit 2023 beginnt das erste „Babyboomerjahr“ der Rentenversicherung. Der 1958er Geburtsjahrgang springt dann über die Altersgrenze von 65 Jahren und damit ins Rentenalter. Das Jahr 1958 verzeichnete 1,15 Millionen Geburten – das waren mehr als jemals zuvor, aber weniger als die darauffolgenden zwölf Geburtsjahrgänge, bis der Jahrgang 1971 nach dem Höhenflug wieder bei 1,14 Millionen Geburten landete. Damals bildeten die Kinder bis zehn Jahre die größte Altersgruppe in Deutschland. Alle Geburtsjahrgänge vor 1958 und alle nach * Der Beitrag basiert auf „Die Altenrepublik“, dem jüngsten Buch des Autors, das im Verlag Hoffmann und Campe erschienen ist. 1 Statistisches Bundesamt, Fakten – Durchschnittsalter der Bevölkerung in Deutschland (1871-2019), www.bib.bund.de, 9.9.2021 sowie Durchschnittsalter der Bevölkerung in Deutschland von 2011 bis 2020, www.de.statista.com, 15.11.2022. 2 „Wir brauchen 400 000 Zuwanderer pro Jahr“, www.sueddeutsche.de, 24.8.2021.

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94 Stefan Schulz 1971 sind kleiner als alle Geburtsjahrgänge zwischen diesen beiden Jahren. Sie bilden den „Babyboomerbauch“ in der Bevölkerungsstatistik – und sie wollen in Zukunft gepflegt und versorgt werden von einer immer kleiner werdenden noch arbeitenden Gesellschaft. Bis 2035 wird Deutschland rund 7 Millionen Arbeitskräfte verlieren.3 Detlef Scheele brachte es daher bereits 2021 konkret auf den Punkt: „Wir brauchen 400 000 Zuwanderer pro Jahr. Also deutlich mehr als in den vergangenen Jahren.“ Und zur ignoranten Stimmungslage in Deutschland sagte er: „Man kann sich hinstellen und sagen: Wir möchten keine Ausländer. Aber das funktioniert nicht.“4

Demographie als Drohung Gewiss, viele Dinge funktionieren dieser Tage nicht, und es geht dennoch weiter. Aber was ist, wenn unsere Improvisationskünste aufgebraucht sind? Wenn die Zeit abgelaufen ist? Wenn sich von heute auf morgen tatsächlich etwas Grundlegendes ändert? Weil die jüngere Hälfte der Gesellschaft, alle unter 45, die Corona-Sterblichkeit weit weniger betraf, wurde das Alter unserer Bevölkerung, die Demographie selbst, – kurzzeitig – zum Protagonisten unserer Schicksale. Vom Klimawandel – einer langfristigen Entwicklung – kennen wir ein ganz ähnliches biologisches „Beuteschema“, das vor allem die Älteren betrifft. So verzeichnete ein von der Europäischen Union gefördertes Forscherteam für den Monat August 2003 eine Übersterblichkeit von 45 000 Todesfällen in Europa, die allein auf Hitze zurückzuführen ist.5 „Das Ganze hat das deutsche Gesundheitswesen bislang noch nicht genug erreicht“, sagte der deutsche Hausarzt Ralph Krolewski 16 Jahre später in den deutschen Abendnachrichten. Er sprach darüber, Patienten schon wegen „Hitzeerschöpfungen“ krankzuschreiben.6 Der 123. Deutsche Ärztetag setzte „Klimawandel und Gesundheit“ als zentrales Thema erstmals für 2020 auf die Agenda – eigentlich viel zu spät. Doch der Ärztetag fiel erstmals seit Gründung der Bundesrepublik aus – wegen Corona. Abseits des Klimathemas fehlt uns allerdings noch die passende Gesprächsgrundlage, um die Zukunft in Worte zu fassen. Dabei drängt uns der demographische Wandel, nun tatsächlich zu handeln, worauf nicht nur Detlef Scheele, sondern auch die Mitarbeiter*innen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), die freien Wirtschaftsinstitute, die Beiräte der Bundesministerien und etliche Forschende an den Universitäten regelmäßig hinweisen. Und sie haben recht. Der demographische Wandel bedroht uns. Nicht nur damit, dass er unseren Wohlstand mindern kann, sondern auch, weil er sich in unsere Körper und Köpfe frisst. Japan, das älteste Land der Welt, und Südkorea, das einen größeren „Babyboomerbauch“ verzeichnet als Deutschland, 3 Johannes Pennekamp, Im deutschen Interesse, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), 30.11.2022. 4 „Wir brauchen 400 000 Zuwanderer pro Jahr“, www.sueddeutsche.de, 24.8.2021. 5 Jean-Marie Robine, Siu Lan Cheung, Sophie Le Roy u.a., Report on excess mortality in Europe during summer 2003, 28.2.2007. 6 „Heute Journal“, ZDF, 30.11.2019.

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Die Boomer und der Altenboom 95 zeigen es uns schon. Alte Menschen leben überwiegend arm und einsam. Junge Menschen leiden unter Perspektivlosigkeit und Resignation. Dabei haben diese beiden Länder es geschafft, reich zu werden, bevor sie alt wurden. In anderen Ländern, wie Vietnam, sieht man heute, was mit ärmeren Gesellschaften passiert, wenn sie alt werden: Die soziale Entwicklung eines Landes kann ihre Richtung umkehren. In Vietnam liegt das Durchschnittsalter bei 26 Jahren. Bis 2040 wird sich die Zahl der Menschen über 60 Jahre aber von 12 Prozent auf 21 Prozent beinah verdoppeln.7 Der Ausweg, vorhandenen Wohlstand anders zu verteilen, entfällt. Es ist zu wenig da. Was mit uns hierzulande geschehen wird, wird sich noch entscheiden. Wir müssen es entscheiden. Allerdings schon sehr bald.

2023 oder Zeitenwende auf leisen Sohlen In Deutschland ist es der 20. Bundestag, der dieses fundamentale Problem regeln muss, das 2023 beginnt. Bereits Jens Spahn sprach davon, dass in den 2030er Jahren doppelt so viele Menschen ins Rentenalter vor- wie von unten in den Arbeitsmarkt nachrücken werden. Das ist nur leicht übertrieben. Der größte Geburtsjahrgang, 1964, zählt derzeit 1,4 Millionen Menschen. Wenn diese 2029 die Altersgrenze von 65 Jahren erreichen, stehen ihnen 743 000 18jährige des Geburtsjahrgangs 2011 gegenüber. Dieses Zahlenszenario beschreibt beispielhaft den vom Statistischen Bundesamt berechneten Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland. Die Bevölkerungsvorausberechnung für das Jahr 2029 beinhaltet bereits Zahlen zur Migration, die unterschiedlich stark gewichtet werden können. Das bedeutet für das Jahr 2029, dass offiziell 1,32 Millionen Neurentner und zwischen 0,74 Millionen und 0,78 Millionen neue Volljährige erwartet werden. Sollte es Deutschland tatsächlich schaffen, jährlich netto 400 000 Einwanderer anzulocken, wären es knapp 0,8 Millionen 18jährige. Beim Blick auf das Erwerbspersonenpotenzial verzeichnen wir also allein für das Jahr 2029 selbst bei optimaler Zuwanderungserwartung – an die mit dem Thema Betraute jedoch nicht glauben – ein Defizit von 600 000 Menschen. Das ist das Zauberwort, das niemand kennt, um das aber das Schicksal Deutschlands kreist: Erwerbspersonenpotenzial. Das hier umrissene Jahr 2029 zeigt uns die Spitze einer historischen Phase, die 2023 beginnt und bis 2045 gesellschaftlichen und politischen Stress bedeutet. Renten werden in Deutschland derzeit durchschnittlich 21 Jahre lang gezahlt. Spätestens 2045 erreichen die Menschen des „Babyboomerbauchs“ ihre statistische Lebenserwartung, ab dann entspannt sich die Situation auf entsprechendem Niveau. Als ich 2012 mit Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung sprach,8 skizzierte er unter anderem ein Szenario, in dem sich bei Fortschreibung des aktuellen Niveaus der Geburten- und Migrationszahlen 7 Vietnam is getting old before it gets rich, www.economist.com, 8.11.2018. 8 Stefan Schulz, Immer mehr Zuwanderer bleiben: Deutschlands Bevölkerung wächst, www.faz.net, 25.7.2012.

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96 Stefan Schulz das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland bis 2050 halbieren könnte. Die erste Teilstrecke sind wir inzwischen gegangen. Nimmt man die Migration aus der Beobachtung, sinkt das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland bereits im zweistelligen Prozentbereich. Immer weniger Menschen arbeiten, immer weniger Menschen stehen bereit zu arbeiten. Mit politischen Mitteln eine Gegenbewegung auszulösen wird zunehmend schwerer. Laut aktuellen Zahlen des IAB vom Jahresende 2021 arbeiten bereits 90 Prozent der Frauen. Auch bei der Migration ruhen die politischen Möglichkeiten auf deutlichen Prämissen: „In Anlehnung an das Vorgehen des Statistischen Bundesamts basieren alle hier verwendeten Wanderungsvarianten auf konstanten jährlichen Fortzügen von 600 000 Personen.“9 Spricht Detlef Scheele von „400 000 Zuwanderern pro Jahr“, meint er also eigentlich eine Million. Die Wegzüge aus Deutschland hatte er schon eingepreist. Migration wirkt zwar wie ein Jungbrunnen: Zwischen 2010 und 2019 waren mit 55,5 Prozent mehr als die Hälfte der Eingewanderten nach Deutschland jünger als 30 Jahre, bei den bereits hier lebenden ausländischen Zugezogenen sind nur 38 Prozent so jung, in der Gesamtbevölkerung lediglich 30 Prozent. Die Migration ist aber insgesamt zu schwach, um die allgemeinen Trends zu verändern. Sie werden nur abgeschwächt.

Wie die Flüchtlinge Deutschland verjüngen Allein das Jahr 2015 markiert einen statistisch sichtbaren Unterschied. Die „Flüchtlingswelle“ jenes Jahres hat Deutschland jünger gemacht – um einen Monat. Seit der Wiedervereinigung ist 2015 das einzige Jahr, in dem das Durchschnittsalter der Bevölkerung in Deutschland sank. Wobei man beachten muss: Der Effekt betrifft nicht die deutsche Bevölkerung, die wurde auch 2015 älter, sondern nur die Bevölkerung in Deutschland, also inklusive der Zugewanderten.10 1990 lag das Durchschnittsalter hierzulande bei 38,3 Jahren, 2019 schon bei 44,5 Jahren.11 Wir sind heute im Schnitt mehr als doppelt so alt wie die Weltbevölkerung. Immer wenn ein Jahr mit seinen 365 Tagen vergeht, werden wir im Schnitt 70 Tage älter.12 Kurz: Die demographischen Prognosen der letzten Jahrzehnte haben sich bislang bewahrheitet. Zur Wahrheit gehört natürlich auch, dass die Geburten der neuen Volljährigen im Jahr 2050 heute noch ein Jahrzehnt in der Zukunft liegen. Prognosen zur Spätphase der Altenrepublik und die Zeit danach bleiben daher Spekulation. Anders als bei den Prognosen zu den Jahren 2023 und folgende bis hinein in die 2040er, bei denen geht es ausschließlich um Mathematik, denn die Variablen der Gleichungen sind längst da. Mathematik allein wäre ja 9 Johannes Fuchs, Doris Söhnlein und Brigitte Weber, IAB-Kurzbericht, 25/2021, www.doku.iab.de, 23.11.2021. 10 Statistisches Bundesamt, Altersdurchschnitt der Bevölkerung sank 2015 auf 44 Jahre und 3 Monate, Pressemitteilung Nr. 197, www.destatis.de, 13.6.2017. 11 Statistisches Bundesamt, Fakten, a.a.O. 12 Florian Diekmann, Bevölkerungsentwicklung: Wo Deutschland am schnellsten altert, www.spiegel.de, 4.3.2019.

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Die Boomer und der Altenboom 97 nicht das große Problem, aber hier liegen nun gleich mehrere ungelöste Aufgabenstellungen vor uns. Übrigens auch, weil wir noch keine gute Sprache dafür haben, politisch aufgeklärt über Alter und Tod zu sprechen, dabei die Mathematik kühl gewähren zu lassen und dennoch zu politischer Handlung zu motivieren statt zu resignieren. Wir kennen das von anderen Themen und Diskussionen. Das Jahr 2045 ist bereits Debattenthema, weil es als Ziel für die Klimaneutralität Deutschlands genannt wird. Beide Wandel, des Klimas und der Demographie, haben nun gemein, dass sie uns zu Pionieren machen. Wir benötigen für beide Herausforderungen neue Politik. Auf der anderen Seite stehen beide Katastrophen in einem interessanten Verhältnis zueinander.

Verkoppelte Krisen: Klima und Demographie Der Klimawandel verlangt insbesondere Reduktionen. Wir wollen klimaschädliche Gase einsparen, Konsum drosseln und auf einiges verzichten. Sollte sich das nicht von selbst ergeben? In der Tat, hier liegt eine große Chance, aber auch eine Gefahr. 2020 ging laut Umweltbundesamt bereits in die Statistik ein als ein Jahr, in dem Deutschland seine Klimaziele erreichte. Wir wissen allerdings, dass das kaum mit strukturellen Änderungen zu tun hatte, sondern mit Corona. Wir blieben einfach alle zu Hause. Der demographische Wandel ist so gewaltig, dass es zu ähnlichen Effekten kommen kann. Jedes Jahr eine halbe Million Menschen weniger, die täglich zur Arbeit fahren. Mit zunehmendem Alter werden sie zudem stetig weniger essen und reisen. Das könnte dazu führen, dass ausgerechnet die reichen Staaten trotz technischer Kompetenz den ökonomischen Strukturwandel zur Klimaneutralität schleifen lassen, anstatt ihn offensiv anzugehen. Dann würden sich jedoch die Fehler des 20. Jahrhunderts einfach wiederholen. Anders als der Klimawandel ist die Altenrepublik allerdings kein globales Phänomen. Sie betrifft primär die wohlhabenderen Regionen der Welt. Auf die Länder in Afrika ist heute weniger als vier Prozent des menschengemachten Klimawandels zurückzuführen.13 Allerdings läuft der demographische Wandel dort umgekehrt zu unserem ab und wird die Bevölkerung des Kontinents wachsen lassen, von heute 1,3 Milliarden auf 4,5 Milliarden Menschen bis Ende des Jahrhunderts.14 Die erwarteten Versorgungsengpässe werden wohl „pragmatisch“ gelöst werden, also mit altbewährten Technologien, zumal der afrikanische Kontinent über ausreichend fossile Energiequellen verfügt. Es sei denn, wir schaffen den Wechsel zum klimaneutralen Wirtschaften und entwickeln daraus ein Modell für die Welt, ohne dass der Export der Technologien in ein neues Jahrhundert der Ausbeutung führt. Letztlich kann uns Afrika am 13 Benno Büeler, Klima: Unaufhaltsame Zunahme des CO2-Ausstosses in Afrika, wwwinfosperber.ch, 20.1.2020. 14 Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Fakten – Bevölkerungszahl und ihr Wachstum, Afrika (1950-2020), www.bib.bund.de, 9.9.2021.

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98 Stefan Schulz besten damit vergüten, das Klima nicht vollends zu zerstören. Denn Deutschland zählt neben Japan und den Philippinen zu den drei Ländern, die schon 2018 am stärksten von Extremwettern betroffen waren. Die Auswertung des Klima-Risiko-Index von Germanwatch wirkt nur auf den ersten Blick merkwürdig, hört man doch sonst von armen, küstennahen Regionen, die zuerst von der Klimakrise erwischt werden.15 Aber Deutschland ist ein entwickeltes Land, in dem durch Sturzfluten, Hagel und Hitze besonders viel zerstört werden kann. „Mit einem Gesamtschaden von 46 Mrd. Euro, so rechnet es die Munich Re heute vor, war die Flut im Westen Deutschlands 2021 die zweitteuerste Naturkatastrophe der Welt“, hieß es beispielsweise in den ARD-Tagesthemen.16

Schrumpfen als Pionierleistung Wir werden also lernen müssen, zu schrumpfen. Das allein wird schon eine Pionierleistung erfordern. In Deutschland ist noch immer das Wirtschaftswachstum das Maß aller Dinge beim Messen des Erfolgs von Politik. Wir hinterfragen bislang weder das Prinzip noch die Maßstäbe. Deutschland ist hier altmodisch und orthodox. Das Schrumpfen wird uns aber aufgezwungen werden. Es gilt, einen konstruktiven und produktiven Umgang mit der Situation zu finden. Die eigentliche Herausforderung ist, während des Schrumpfens innovativ zu bleiben. Wir werden weniger Menschen, die folgerichtig weniger produzieren und konsumieren. Trotzdem brauchen wir neue Dinge und Dienstleistungen. Der Bedarf an Neuem ergibt sich nicht nur aus dem Klimawandel, sondern auch aus der Demographie selbst. Deutschland ist hier noch nicht besonders gut aufgestellt. Derzeit kommen die Uhren mit EKG und Sturzerkennung, bezahlbare Autopiloten zur Beförderung, Telemedizin, Haushaltsrobotik und vieles Weitere, was ältere Menschen benötigen, aus dem Ausland. Lediglich bei Lieferdiensten für Nahrungsmittel hat Deutschland eine heimische, aber wenig innovative Ausbeuterökonomie hervorgebracht. „Warum kann die Gesellschaft nicht das Schrumpfen lieben lernen?“, fragte der Demographieforscher Reiner Klingholz vor einiger Zeit beim Hamburger „Zukunftscamp“.17 Warum lässt sich die Entwicklung nicht gestalten? Ein sanfter demographischer Sinkflug bei den Geburten mit moderater, politisch kontrollierter Zuwanderung könne schließlich gelingen, sagte er und blickte diesbezüglich auf Dänemark. Tatsächlich drohen unserem skandinavischen Nachbarn keine demographischen Turbulenzen. Das Land fällt nur international immer wieder damit auf, dass dort angeblich, aber ziemlich häufig ermittelt, die glücklichsten Menschen leben. Doch tatsächlich wissen wir nicht genau, ob das Schrumpfen einer Bevölkerung und das Wachstum einer Volkswirtschaft gleichzeitig 15 David Eckstein, Vera Künzel, Laura Schäfer u.a.,Globaler Klima-Risiko-Index 2020, www.germanwatch.org, 4.12.2019. 16 Caren Miosga, Tagesthemen vom 10.1.2022, www.tagesschau.de. 17 Stefan Schulz, Hamburger „Zukunftscamp“: Es reicht nicht mehr für alle, www.faz.net, 13.10.2014.

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Die Boomer und der Altenboom 99 passieren können. Um diese große Wissenslücke kreist auch eine Studie des renommierten Wirtschaftswissenschaftlers Charles I. Jones von der Stanford University mit dem Titel „Das Ende des Wirtschaftswachstums? Ungewollte Konsequenzen von schrumpfenden Bevölkerungen“.18 Sichtbar sei ihr zufolge bereits, dass Löhne steigen, wenn das Gerangel um Nachwuchs zunimmt. Wenn die Geldmenge nicht reduziert wird, bliebe dann für die Einzelnen mehr. Mit welchen Tendenzen in der Verteilung zu rechnen ist, sei aber unklar. Wenn das Gefüge aus Forschung und Entwicklung, Produktion und Dienstleistungen durch Nachwuchsmangel unter Druck gerät, erlahme allerdings der Technologiewandel. Hier könne der Ideenhaushalt einer Gesellschaft gefährlich mitschrumpfen, schreibt Jones. Bevölkerungswachstum generiert in entwickelten Ländern automatisch Wirtschaftswachstum. Diese einfache ökonomische Logik lasse sich bei umgekehrter demographischer Grundlage jedoch nicht einfach auf links krempeln.

Erforderlich ist ein neues Wirtschaftsmodell Kurzum: Wir brauchen hier ein neues Wirtschaftsmodell. Jones, der sich dagegen verwahrt, Voraussagen abzugeben, notiert, dass sowohl die Automatisierung als auch der medizinische Fortschritt sehr überraschende Effekte hervorrufen können. Beide Felder rücken in schrumpfenden Gesellschaften verstärkt in den Blick. Jones wichtigste Aussage aber ist, nicht zu unterschätzen, wie groß der prinzipielle Unterschied zwischen wachsenden und schrumpfenden Bevölkerungen ist. Schon ein gering klingender Unterschied im Nachkommabereich der Geburten je Frau von 1,8 oder 2,2 Kindern bedeutet jeweils exponentielle Entwicklungen in die entgegengesetzte Richtung. In Dänemark fällt der demographische Sinkflug sanft aus. Seit mehr als 30 Jahren pendelt die Zahl der Kinder je Frau zwischen 1,7 und 1,9. Damit rangiert die Bevölkerungsentwicklung in Dänemark knapp unter dem Stagnationswert von 2,1 Kindern je Frau, zuzüglich Migration, die in Kopenhagen politisch eher restriktiv geregelt wird. In der Bundesrepublik dagegen ist der Sinkflug ausgeprägter. Die Richtungsumkehr fiel in das Ende des Babybooms. 1969 lag die Zahl der Geburten je Frau bei 2,21. Zwei Jahre später, 1971, lag die Zahl noch bei 1,92 Kindern, seitdem liegen die Werte ohne Unterbrechung weit darunter, mit einem Tiefststand 1994. Damals lag die Kinderzahl je Frau bei 1,24. Ein Ausreißer nach oben war 2016 zu vermelden. Aber auch in jenem Jahr sprang die Zahl lediglich auf 1,6. Damit liegen wir weit unter dem Wert, den Adair Turner als „nicht nur überschaubar, sondern auch förderlich für das menschliche Wohl“ beschreibt. Wie viele Experten sieht Turner, ehemaliger Chef der Finanzaufsichtsbehörde FSA in Großbritannien, der heute einen Thinktank führt, der Wirtschaftswachstum und Klimawandel in Einklang bringen möchte, den demographischen Sweetspot bei 1,8 Kindern je Frau. Die Rentensysteme bräuchten dann lediglich einen 18 Charles Jones, The End of Economic Growth? Unintended Consequences of a Declining Population, Cambridge 2020.

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100 Stefan Schulz kleinen Sprung zu einem höheren Renteneintrittsalter. Das zielgerichtete Schrumpfen würde die Politik veranlassen, sich mehr um das Thema Arbeit im Alter zu kümmern. Ein nur moderat schrumpfendes Erwerbspersonenpotenzial würde den Wert menschlicher Arbeit steigern und Automatisierung forcieren, aber nicht zu Turbulenzen führen.19 Dieses Szenario klingt schon etwas zu schön, um wahr sein zu können. Dänemark wird es so versuchen bzw. hat diesen Weg schon eingeschlagen. In Deutschland scheitern wir aber bereits am Versuchsaufbau. Unsere Geburtenzahlen sind schlicht zu niedrig. Für Deutschland gilt daher eher das Szenario, das Darrell Bricker und Jay Ibbitson in ihrem spektakulären Buch „Empty Planet“ so zusammenfassen: „Schrumpfende Gesellschaften reduzieren den Druck auf die natürlichen Ressourcen. Aber darüber werden wir nicht jubeln. Schrumpfende Gesellschaften sind schwer zu managen. Städte müssen neu geplant und Renten gekürzt werden.“20 In Teilen Deutschlands ist das heute schon zu erleben: einsame Siedlungen, abgekoppelt von Versorgung und Infrastruktur. In Japan stellt man inzwischen künstliche Wölfe auf die Straßen, damit sie Bären abschrecken. Es ist der letzte Dienst der Gesellschaft an zurückgebliebene Alten, bevor sich die Natur nach ihrem Tod die leeren Vororte zurückerobern wird.

Weniger Geburten, späterer Tod Die Zahlen stellen uns aber noch vor weitere Fragen: Warum beginnt die Altenrepublik in Deutschland erst 2023, wenn doch schon seit 50 Jahren zu wenige Kinder geboren werden und sich dieses Problem verschärft, da alle 20 Jahre mehr Kinder fehlen, weil schon deren Eltern gar nicht erst geboren wurden? Warum ereilt uns das Schicksal der Überalterung, des Überhangs an zu versorgenden Rentnern und des Mangels an Nachwuchs und Erwerbspersonen erst jetzt? Warum ist Deutschland bislang nicht geschrumpft, sondern eher noch leicht gewachsen? Die Antworten laufen darauf hinaus, dass es neben den Geburten eine zweite wichtige Variable gibt, die über die Größe der Bevölkerung bestimmt: die Lebenserwartung. Die Lebenserwartung wuchs moderat bis in die 1970er Jahre, übersprang beim Geburtsjahrgang 1973 die Marke von 71 Jahren und liegt heute weitere zehn Jahre höher bei fast 81 Jahren.21 Deutschland bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme: Bevor Bevölkerungen in entwickelten Ländern schrumpfen, werden sie alt. Als Konrad Adenauer 1963 das Bundeskanzleramt verließ, waren 12 Prozent der Menschen in Deutschland 65 Jahre oder älter. Bei Helmut Schmidts Abgang 1982 waren es 15 Prozent. Als Helmut Kohl 1998 abgewählt wurde, waren es 16 Prozent. Der Anteil der Älteren wuchs in diesen 35 Jahren bis zur Jahrtausendwende also lediglich um vier Prozent. Mit dieser Geschwindigkeit konnte 19 Adair Turner, Two Cheers for Population Decline, www.project-syndicate.org, 29.1.2019. 20 Darrell Jay Bricker, John Ibbitson, Empty planet. The shock of global population decline, New York 2019. 21 Life expectancy at birth, total (years) – Germany, www.data.worldbank.org, 13.9.2021.

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Die Boomer und der Altenboom 101 die Politik Schritt halten, sie musste aber bereits darüber diskutieren. Der Einführung der Sozialen Pflegeversicherung 1995 ging eine Diskussion über die Lebenserwartung voraus. Bereits 1986 verkündete der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm auf Wahlplakaten: „Denn eins ist sicher: Die Rente.“ 1988 veröffentlichte der ehemalige Bundesfamilienminister Bruno Heck (CDU) den Sammelband „Sterben wir aus? Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland“.22 Damals sah man die schwindenden Geburtenzahlen der vergangenen 20 Jahre und erschrak in Bonn fast zu Tode. Der zusätzliche Sprung bei der Lebenserwartung konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorausgesehen werden. Heute aber kennen wir dessen Effekte: In den weiteren 23 Jahren vom letzten Amtsjahr Helmut Kohls bis zu Angela Merkels Ende im Kanzleramt sprang der Anteil der Älteren in der Bevölkerung Deutschlands um weitere sechs Prozent auf 22 Prozent. Unser kollektiver Alterungsprozess nahm rasant an Fahrt auf. Heute sind wir, nach Japan, das älteste Land der Welt. 2030 wird „der Anteil der Generation 65 plus bei 26 Prozent liegen“, schreibt das Statistische Bundesamt.23 Weitere vier Prozent also, nur diesmal brauchen wir dafür nicht 35 Jahre, sondern weniger als zehn.

Der Blick in die doppelte Zäsur Wir können somit zwei statistische Zäsuren festhalten: Zum einen sind die Geburtenzahlen seit mehr als einer Generation rückläufig: Zwei zur Reproduktion fähige Menschen bekommen im Durchschnitt weniger als zwei Kinder. Und: Die Lebenserwartung ist ausgereizt. 2014 hörte der Aufwärtstrend in der Lebenserwartung nämlich schlagartig auf. Tatsächlich geschah es so plötzlich, dass 2014 noch immer den Spitzenwert aufweist: 81 Jahre. Seitdem liegt die Lebenserwartung knapp darunter und stagniert. Global betrachtet, hat sich im 20. Jahrhundert die Lebenserwartung verdoppelt24 und die Weltbevölkerung beinah vervierfacht. Im 21. Jahrhundert drehen sich nun die Vorzeichen der Entwicklung seit einigen Jahren um. Das gilt sowohl global, beim Blick auf die gesamte Weltbevölkerung, als auch historisch, beim Blick auf 300 000 Jahre Menschheitsgeschichte. In dieser wurden bis heute rund 100 Milliarden Menschen geboren. Dass mehr als eine Milliarde Menschen gleichzeitig auf der Erde leben, ist ein gerade einmal 200 Jahre altes Phänomen. Zwei Milliarden gleichzeitig lebende Menschen ist ein nicht einmal 100 Jahre altes Phänomen. Eine Weltbevölkerung von acht Milliarden Menschen bedeutet, acht Prozent aller jemals geborenen Menschen leben jetzt gerade, gleichzeitig. Es ist eine historische Ausnahmesituation. Und die Entwicklung der vergangenen 400 Jahre, die zu ihr führte, ändert jetzt ihre Richtung. Die Weltbevölkerung explodiert nicht mehr. Die 22 Bruno Heck (Hg.), Sterben wir aus? Die Bevölkerungsstatistik in der Bundesrepublik Deutschland, Veröffentlichung der Konrad-Adenauer-Stiftung, Freiburg 1988. 23 Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung – 407/18, www.destatis.de, 18.10.2018. 24 Bricker und Ibbitson, Empty planet, a.a.O.

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102 Stefan Schulz Vereinten Nationen korrigieren ihre Bevölkerungszahlen stetig nach unten. Zuletzt wurde die Zehn-Milliarden-Marke bei der Prognose für das Jahr 2050 wieder zurückgenommen. Der „Economist“ schrieb, die Experten der Vereinten Nationen hätten innerhalb von nur zwei Jahren einmal die Bevölkerungsgröße Amerikas „wegrevidiert“.25 Christopher J. L. Murray, Direktor des Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) der University of Washington, zeigte sich schon 2018 verwundert: „Wir haben den Wendepunkt erreicht, ab dem die Hälfte der Länder auf der Welt Fertilitätsraten unter dem Selbsterhaltungsniveau haben. Die Bevölkerungen dieser Länder werden schrumpfen.“ Und er fügte an: „Es ist eine bemerkenswerte Entwicklung. Sie überrascht auch Leute wie mich. Wir erleben den Übergang, die Gesellschaften werden sich mit dem Schrumpfen ihrer Bevölkerung befassen müssen.“26

Die demographiepolitische Naivität der Bundesregierung Dass wir auf die Pionierleistung, die uns in Deutschland nun abverlangt wird, nicht vorbereitet sind, zeigte ausgerechnet Olaf Scholz in der letzten Bundestagssitzung vor der Bundestagswahl 2021, die natürlich maßgeblich vom Wahlkampf bestimmt war:„Kein Anstieg des Renteneintrittsalters und ein stabiles Rentenniveau: Das muss unsere Gesellschaft den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes garantieren“, so der kommende Bundeskanzler. Und weiter hieß es: „Das geht auch. Ich will Ihnen gerne sagen, dass ich sehr aufgeregt und empört bin, wenn all die Expertinnen und Experten, die uns in den 1990er Jahren so viele Dinge gesagt haben, sich jetzt wieder melden. Sie haben uns damals gesagt, wir würden jetzt, zu dieser Zeit, viel höhere Beiträge zahlen, als wir jetzt zahlen, und sie haben uns damals gesagt, es würde jetzt viel weniger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben. Tatsächlich zahlen wir geringere Beiträge zur Rentenversicherung als zur Zeit von Helmut Kohl, und tatsächlich ist es so, dass Millionen zusätzlicher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Arbeitskraft einbringen, Geld verdienen und auch die Rentenfinanzen stabilisieren. [...] Wir müssen dafür sorgen, dass wir ein hohes Beschäftigungsniveau in Deutschland haben. Und wenn es uns gelänge, auch nur besser zu werden – in der Art und Weise, wie das in Schweden der Fall ist, was Frauenerwerbstätigkeit betrifft –, dann hätten wir schon stabilere Renten. Und wenn es uns gelingen würde, dass eine 55jährige und ein 58jähriger, die ihren Arbeitsplatz verlieren, sicher annehmen können, dass sie erneut eine gute Beschäftigung finden werden, dann hätten wir stabile Renten. Das ist die Aufgabe, die wir anpacken müssen.“27 Diese Aussagen sind – Wahlkampf hin oder her – demographiepolitisch naiv. Zu Helmut Kohls Zeiten waren die Zeitspannen zwischen Renteneintritt und Tod kürzer, die Sozialversicherung genügte sich selbst; ohne Stütze aus dem Bundeshaushalt in dreistelliger Milliardenhöhe. Die Wiedervereini25 The UN revises down its population forecasts, www.economist.com, 22.6.2019. 26 James Gallagher, ‚Remarkable‘ decline in fertility rates, www.bbc.com, 13.11.2018. 27 Olaf Scholz, Plenarprotokoll 19/239, www.bundestag.de, 7.9.2021.

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Die Boomer und der Altenboom 103 gung wirkte wie ein Jungbrunnen auf die westdeutschen Unternehmen; auf Kosten der ostdeutschen Demographie. Es ist wahr, dass Deutschland noch Potenzial hat, Mütter zurück in den Arbeitsmarkt zu holen, und ältere Bürger über späte Berufswechsel noch einmal integriert werden könnten. Scholz verschwieg allerdings den immensen Beitrag, den ausländische Arbeitskräfte in den deutschen Sozialsystemen leisten. Im Juli 2018 vermeldete die Bundesagentur für Arbeit ein beispielhaftes Wachstum von 700 000 Beschäftigten in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr. Die Mehrheit von ihnen, 370 000, waren allerdings keine Deutschen. „Ohne Polen und Rumänen hätten wir ein Problem“, titelte damals die FAZ. „Jede zweite neue Stelle in Deutschland wird von Ausländern besetzt – und zwar in erster Linie von Osteuropäern. Ohne sie würden kaum noch Häuser gebaut oder Pakete ausgeliefert.“28

Kernaufgabe Migration Die Migration wollte Olaf Scholz im Wahlkampf auch gegen die seinerzeit größte Oppositionsfraktion im Bundestag, die „Alternative für Deutschland“, offenbar übersehen. Seit Jahren kursieren in der rechten Szene in Deutschland Befürchtungen vor „Umvolkung“, die beispielsweise auf eine Studie der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000 mit dem Titel „Replacement Migration“ verweisen. In diesem Papier werden Bevölkerungsprojektionen mit und ohne Migration diskutiert. In einem Szenario, das „darauf abzielt, die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre) konstant zu halten“, wird errechnet, dass Deutschland 24 Millionen Einwanderer bis 2050 benötigt – also knapp eine halbe Million zugezogene Beschäftigte pro Jahr.29 Heute sehen wir bereits, dass diese Zahlen der Realität entsprechen. Das Papier der Vereinten Nationen nennt die Alternative: Das Renteneintrittsalter müsse auf „jenseits der 75 Jahre angehoben werden“. Aber Olaf Scholz wollte die grundlegende demographische Mechanik nicht thematisieren, die die kommenden Jahrzehnte prägen wird und vor der Detlef Scheele bereits 2021 öffentlich gewarnt hatte: Jetzt gehen die Babyboomer in Rente. Sie müssen entsprechend dem demographischen Defizit doppelt verrechnet werden. Nämlich zum einen als neue Rentenempfänger, die, zum anderen, zu großen Teilen ersatzlos als Einzahler in die Sozialkassen ausfallen. Kurz gesagt: Wir irrlichtern in die Altenrepublik. Natürlich weiß Olaf Scholz all das. Als Finanzminister war er der wichtigste Autor der Haushaltsgesetze und kennt alle Zahlen. Als ehemaliger Arbeitsminister kennt er die Bundesagentur für Arbeit und das IAB, wo sie errechnet werden. Eher ist erschreckend, dass diese Rhetorik in einem Bundestagswahlkampf und sogar im Bundestag funktioniert – weil die Bevölkerung ihre Demographie nicht kennt. Dabei ist die Altenrepublik heute längst unsere Realität. 28 Patrick Bernau, Offene Stellen: Ohne Polen und Rumänen hätten wir ein Problem, www.faz.net, 7.10.2018., 29 Vereinte Nationen, Replacement migration. Is it a solution to declining and ageing populations? New York 2000.

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»Mit Optimismus und Eindringlichkeit fassen die Fachleute die schwierigen Umwälzungen zusammen, die noch im ersten Jahrzehnt des Wandels angegangen werden müssen: Jetzt. Wenn Sie dieses Buch zuschlagen.« Der Standard Klappenbroschur, 256 Seiten, 25 Euro ISBN 978-3-96238-387-9

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AUFGESPIESST

Es gibt einen Typus in der Politik, ohne den der mediale Betrieb heute kaum überlebensfähig wäre: Das ist der und die freie Radikale. Sie versorgen tagtäglich die Vierte Gewalt mit dem eigentlich Relevanten, sprich: mit den schönsten Attacken auf den politischen Gegner, gerne und am liebsten auch in den eigenen Reihen, denn das schmerzt am meisten – und erfreut von daher auch den Boulevard und sein erregtes Publikum.

Kubicki mit dem Hackebeilchen Das Anforderungsprofil an den freien Radikalen ist klar: Er agiert bar jeder politischen Verantwortung, weil er sich jeglicher Regierungsbeteiligung entzieht. Deshalb hat dieser Typus alle Zeit der Welt, als politischer Heckenschütze aus dem Hinterhalt zu agieren. Und weil er durchaus rhetorisch beschlagen und zumeist narzisstisch veranlagt ist, wartet er bereits jeden Morgen, welches Medienorgan ihn wohl heute wieder behelligt, damit er seine politische Meinung absondern kann. Oder besser noch: Er schafft sich seine politische Bühne gleich selbst. Zwei Personen haben es in dieser Disziplin zu fast unüberbietbarer Meisterschaft gebracht, nämlich Sahra Wagenknecht und Wolfgang Kubicki. Ja, die leidgeprüfte Linkspartei kann ein Lied davon singen. Seit Jahren ist sie mit einem Parteimitglied geschlagen, übrigens mit dem populärsten Parteimitglied überhaupt, das keinen Pfifferling auf Parteitagsbeschlüsse, -programme oder sonstiges Offiziöses gibt. Das nämlich war von Anfang an die Geschäftsgrundlage der Sahra Wagenknecht: Umso schärfer ich gegen die armseligen Reformer in meiner Partei schieße, umso sicherer komme ich selbst in die Medien. Insofern ist der sich jetzt abspielende

Trennungsprozess nur das Ende eines Liedes, von dem immer am meisten Sahra Wagenknecht profitierte: Stets verstand sie es, sich als die letzte Aufrechte – last woman standing – unter den vielen regierungswilligen „Umfallern“ zu profilieren. Die Belohnung in Form unzähliger Einladungen bei Illner, Will und Co. folgte auf dem Fuß. Und da sie inzwischen ihre „Besseren Zeiten – Wagenknechts Wochenschau“ gleich selbst produziert, ist sie dank millionenfacher Klicks auf die – Welzer und Precht sei‘s gedankt – „gleichgeschalteten“ Mainstream-Medien schon gar nicht mehr angewiesen. Über eines aber sollte sich die alsbald teils erleichtert, teils erschüttert zurückgelassene Linkspartei keine Illusionen machen: In Kürze wird sie für die einst heilige Sahra genauso zu den bösen Verrätern an der guten linken Sache gehören wie die unsäglich genderifizierten „Lifestyle-Linken“ oder die vermaledeiten linksliberalen Grünen als die „gefährlichste Partei“ im Land, so Wagenknecht genau wie die AfD. Nein, politisches Pardon hat eine Sahra Wagenknecht noch nie gegeben. Gefangene Parteien werden nicht gemacht – und schon gar nicht Ex-Parteien. Da sei Oskar Lafontaine davor! Von ganz anderem medialen Schlage ist dagegen Wagenknechts Bruder im Geiste, Wolfgang Kubicki. Nur eines haben die beiden, neben ihren ausgeprägten populistischen Fähigkeiten, gemein: Auch Kubicki hat nie ein Regierungsamt übernommen. Lieber sonnt er sich in dem höchst repräsentativen Stuhl eines stellvertretenden Bundestagspräsidenten. Mit nicht minder großem Sendungsbewusstsein ausgestattet, was in seinem Falle vor allem „Auf-Sendung-sein“ bedeutet, ist er doch – im Gegensatz zu Wagenknecht – als der Inbegriff des alten weißen Mannes voll und ganz auf die alten Medien angewiesen. Diese aber bespielt er in einer Virtuosität, wie man sie ansonsten nirgends erlebt.

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106 Aufgespießt

Kein anderer hat es in der „Disziplin Attacke“ zu solcher Meisterschaft gebracht wie Kubicki. Jeden Morgen steht dieser politisch völlig unausgelastete Mann energiegeladen auf und fragt sich, auf wen er heute schießen kann – und zwar immer am liebsten gegen die Ampel-Männer und -Frauen. Opposition ist Mist? Keineswegs, man muss nur wissen, wie man es anstellt. Denn „Opposition aus der Regierung gegen die Regierung“ ist in diesen Tagen das Non plus ultra. Nichts finden die Medien interessanter als eine Stimme, die aus der Koalition gegen diese schießt. Das allerdings haben inzwischen längst auch Anfänger in diesem Metier wie Agnes Strack-Zimmermann und Toni Hofreiter verinnerlicht und darüber so manchen medialen Bock geschossen. Im Falle von Strack-Zimmermann kam sogar ein ganzes Buch dabei heraus. „Streitbar“ dessen Titel, wie putzig! Nein, ein Kubicki hat derlei Werbung in eigener Sache nicht mehr nötig. Allgemeine Ampel-Kritik war gestern, der Mann aus dem hohen Norden ist längst einen Schritt weiter. Das neueste Spiel aus dem Hause Kubicki lautet „Heiteres Ministerschießen“. Sprich: Wer ist der oder die erste aus der Koalition, der abtreten muss? Und bevor ihm vielleicht doch noch die echte Opposition zuvorkommt, hat ein Kubicki natürlich längst einen eigenen Vorschlag. Nachdem er sich lange an seinem alten Spezi Robert Habeck abgearbeitet hat („Wir müssen hier bei jedem Gesetz aufpassen wie ein

Schießhund, dass da nicht irgendwas reingemogelt wird“), nimmt er jetzt den braven Coronaminister ins Visier. „Ich gehe, ehrlich gesagt, nicht davon aus, dass Karl Lauterbach als Gesundheitsminister die ganze Legislaturperiode im Amt bleibt“, so Kubicki vor der geballten südwestdeutschen Medienfront aus „Stuttgarter Zeitung“ und „Stuttgarter Nachrichten“. „Die SPD ist doch selbst komplett genervt von Lauterbach. Wenn Sie sich bei Mitarbeitern seines Hauses umhören, ist die Frustration nicht mehr zu toppen. Die Leute fragen, welchen Twitterkanal sie denn nutzen müssten, um zu wissen, was der Minister will.“ Armer Karl Lauterbach! Eben noch Corona am Hals hängt jetzt das gefürchtete Kubickische Fallbeil über ihm. Das einzige Glück des Gesundheitsministers: Der FDP-Mann ist nicht wählerisch – und brutal gerecht in seiner Abrechnung mit allen aus seiner Sicht Lauen und Mittelmäßigen. Man kann also gewiss sein, dass Kubicki, sobald er sich lange genug mit Lauterbach beschäftigt hat, ganz schnell sein nächstes Opfer ausfindig machen wird. Leider macht es ihm diese Regierung ja auch nicht allzu schwer. Wohlan denn, verehrte Frau Verteidigungsministerin, ziehen Sie sich besser schon heute warm an! Und dann warten Sie nur ein Weilchen. Denn bald kommt Kubicki auch zu Dir. Mit dem kleinen Hackebeilchen – macht er Hackefleisch aus Dir! Jan Kursko

Dokumente auf www.blaetter.de

Weitere Informationen finden Sie in dieser Ausgabe auf Seite 127. Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2023

Kontinent ohne Öffentlichkeit Europas Krisen und das Versagen der Medien Von Elisa Simantke und Harald Schumann

E

s geschah 2012 in Ballyhea, einem kleinen irischen Dorf auf dem Weg von Limerick nach Cork. Dort lehrte uns eine alte Dame eine wichtige Lektion über eines der Kernprobleme im vereinten Europa. Jeden Sonntagmorgen zogen die rund 100 erwachsenen Dorfbewohnerinnen und -bewohner mit Traktoren und Lautsprechern ihre Hauptstraße entlang, um gegen die Rettung der bankrotten irischen Banken zu protestieren. 64 Mrd. Euro Schulden hatte die irische Staatskasse bei den anderen Staaten der Eurozone und dem Internationalen Währungsfonds dafür aufgenommen. Und stellvertretend für Hunderttausende aufgebrachter Iren demonstrierte das gesamte Dorf mit großer Beharrlichkeit gegen diesen Freikauf der Gläubigerinnen und Pleitebanker auf ihre Kosten. Erstaunlicherweise waren die Texte mehrerer Transparente auf Deutsch verfasst und richteten sich kritisch an deutsche Adressatinnen und Adressaten. Darum fragten wir bei der freundlichen älteren Dame nach, die uns zunickte. Sollten die Iren den Deutschen nicht dankbar sein, dass diese Irland mit Notkrediten vor der Staatspleite gerettet haben? Daraufhin schaute sie uns an, als seien wir nicht ganz bei Trost. „Sie haben uns gerettet? Nein!“, sagte sie und schüttelte energisch den Kopf. „Irland hat Europa gerettet. Bringen Sie das in Ihre Köpfe! Irland hat sich für die Schulden der Banken verbürgt. Das hat eure Banken gerettet und die Pleitewelle gestoppt. Irland hat Europa gerettet, und jetzt sollten wir dafür belohnt werden“, forderte sie unter lautem Applaus der Umstehenden. Sie hatte Recht. Tatsächlich dienten die vermeintlichen Hilfskredite lediglich dazu, die privaten ausländischen (überwiegend deutschen) Gläubiger der ebenso privaten Geldhäuser auszuzahlen. Nur deshalb konnten die deutschen Banken nach Ausbruch der Krise im Jahr 2009 jene gut 100 Mrd. Euro wieder einkassieren, mit denen sie zuvor die irische Immobilienblase aufgepumpt hatten. Die damals frisch gewählte irische Regierung hatte eigentlich diese Kreditgeber an den Verlusten beteiligen wollen. Doch das verhinderten die Direktoren der Europäischen Zentralbank (EZB). EZB-Präsident Claude Trichet drohte dem kleinen Irland im Namen der Finanzstabilität kurzerhand

* Der Beitrag stammt aus dem Sammelband „Welche Öffentlichkeit brauchen wir? Zur Zukunft des Journalismus und demokratischer Medien“, der soeben aus Anlass des 50jährigen Jubiläums der Otto Brenner Stiftung bei Springer VS erscheinen ist.

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108 Elisa Simantke und Harald Schumann mit dem Rauswurf aus der Eurozone. Der Regierung in Dublin blieb keine Wahl. Die Iren hatten also allen Grund, gegen die aufgezwungene Verschuldung zu protestieren. Und mit ihnen genauso die Portugiesen, Spanier und Griechen, denen es ganz ähnlich ging.1 Aber davon haben die allermeisten deutschen und anderen EU-Bürgerinnen und -Bürger außerhalb der Krisenstaaten nie etwas erfahren, und das bis heute. Denn in den Ländern der Kreditgeber mochte kaum eine Journalistin, kaum ein Journalist darüber berichten. Stattdessen war die Berichterstattung geprägt vom Narrativ der vermeintlichen europäischen „Solidarität“. Damit vertuschte die Regierung Merkel in Deutschland, dass es sich – nach der Weltfinanzkrise 2008 – schon um die zweite Bankenrettung binnen drei Jahren handelte. Bald darauf deklarierten auch die Regierenden in Frankreich und den anderen Eurostaaten die mehreren hundert Mrd. Euro an Notkrediten als großzügige Hilfe. Dabei ging es doch in Wahrheit darum – unter Verstoß gegen den Vertrag von Maastricht, der die gegenseitige Haftung der Mitgliedsländer für deren jeweilige nationale Staatsschulden ausschließt –, die überschuldeten Krisenstaaten zahlungsfähig zu halten, um die eigenen Banken vor Verlusten und das Finanzsystem vor dem Zusammenbruch zu schützen. Aber diese Information blieben die meisten Zeitungen und Sender dieser Länder ihrem Publikum schuldig.

Nationale Perspektive statt europäischer Blick Diesem Muster folgen Europas Medien seit Jahrzehnten: Immer wieder berichten sie über europäische Themen allein aus der jeweiligen nationalen Perspektive ihrer Sitzländer. Und das ist beinahe zwangsläufig irreführend. Die zunehmenden Anforderungen an die grenzüberschreitende Berichterstattung treffen zudem auf eine Branche, der mit dem Verlust von Werbeeinnahmen an das Duopol von Google und Facebook zusehends die wirtschaftliche Basis abhandenkommt. Die extreme Arbeitsverdichtung in den „Newsrooms“ zwingt viele Journalistinnen und Journalisten zu einer Art Fließbandarbeit, die kaum noch Recherche zulässt, erst recht nicht für europäische Themen, die wegen der Komplexität der EU-Politik viel Zeit erfordern. Ganz gleich ob es um die EU-Gesetzgebung geht, um innereuropäische Konflikte oder auch nur um wichtige Entscheidungen in den jeweils anderen europäischen Ländern: Die große Mehrheit der damit befassten Journalistinnen und Journalisten folgt in der Berichterstattung den Klischees und nationalen (Vor-)Urteilen ihrer Heimatländer. Der Blick über den nationalen Tellerrand endet spätestens dann, wenn es vermeintliche oder tatsächliche nationale Interessen zu verteidigen gibt.2 Das ist im Prinzip ein alter Hut. Seit je spiegeln Europas Medien die Machtstruktur im integrierten Europa – und 1 Vgl. Harald Schuhmann, Staatsgeheimnis Bankenrettung, in: „Tagesspiegel”, 24.2.2013; ders., Die Troika: Macht ohne Kontrolle, in: „Tagesspiegel”, 24.02.2015. 2 Vgl. Susanne Fengler und Marcus Kreutler, Stumme Migranten, laute Politik, gespaltene Medien: Die Berichterstattung über Flucht und Migration in 17 Ländern, www.otto-brenner-stiftung.de, Frankfurt a. M. 2019.

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Europa: Kontinent ohne Öffentlichkeit 109 in der EU haben vorrangig die nationalen Apparate das Sagen. Deren politische Repräsentantinnen und Repräsentanten stellen ihr Interesse am nächsten – nationalen – Wahlsieg und ihren persönlichen Machterhalt stets über das europäische Gemeinwohl. Und genauso berichten dann zumeist auch die Medien des jeweiligen Landes.

Die Eurokrise als Exempel: Ein Europa ohne „Vierte Gewalt“ Das war schon immer irreführend, aber die Folgen waren begrenzt. Schließlich fielen die meisten politischen Entscheidungen in der Vergangenheit tatächlich auf nationaler Ebene. Doch die drei Jahrzehnte des gemeinschaftlich geregelten Binnenmarktes und erst recht die 20 Jahre der gemeinsamen Währung haben die Mechanismen der Politik in der Europäischen Union radikal verändert. Die wirtschaftliche Integration durchdringt das gesellschaftliche Leben immer tiefer und unterwirft das politische Geschehen immer stärker den europäischen Zwängen. Die Völker der EU sind auf Gedeih und Verderb miteinander verflochten. Ganz gleich, ob es den Bürgerinnen und Bürgern und ihren Regierungen gefällt oder nicht: Entweder gestalten sie ihre Zukunft gemeinsam, oder sie müssen ihre Länder aus dieser Verschmelzung lösen. Für Letzteres zahlen sie mit wirtschaftlichem Niedergang und politischer Marginalisierung – die Folgen des Brexit demonstrieren das nur allzu schmerzhaft. Je weiter sich diese europäische Interdependenz entwickelt, umso gefährlicher wird es daher, wenn die Regierungen und in ihrem Gefolge die Medien im nationalen Kontext gefangen bleiben. Das war während der Eurokrise beispielsweise in Deutschland zu verfolgen. Objektiv ging es bei der Bewältigung der Überschuldung in den fünf Krisenstaaten um einen Verteilungskonflikt zwischen den Steuerzahlern der Eurozone auf der einen Seite und der Finanzindustrie (Banken, Versicherungen, Pensionsfonds) auf der anderen Seite. Letztere hatten auf der Suche nach höherer Rendite den ungesunden Boom erst finanziert, mussten dann aber für ihre Fehlinvestitionen nicht haften, weil sie ‚systemrelevant‘ waren. Also wurde die Haftung auf die jeweilige Bevölkerung und über staatliche Kredite indirekt auf alle Euroländer umgelegt. Diesen Zusammenhang haben jedoch alle deutschen Qualitätsmedien weitgehend ignoriert. Stattdessen beteiligten sie sich an der vom damaligen deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble und seinen europäischen Partnern betriebenen Schuldzuweisung an die Regierenden der Krisenstaaten, und das häufig in aggressivem Ton und ohne nähere Prüfung. Ausführlich berichteten die Medien über das Versagen der Griechen, Portugiesen und Spanier bei der Kontrolle ihrer Staatsausgaben. So konnte die damalige Kanzlerin Angela Merkel gänzlich unwidersprochen behaupten: „Die Verschuldung war in einigen Ländern so hoch, dass die Investoren ihnen nicht mehr vertrauten und deswegen keine Anleihen dieser Länder mehr kauften. Die Zinsen schossen in die Höhe, die Länder konnten sich nur noch zu ruinösen Zinssätzen refinanzieren. In einer solchen Lage müssen die

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110 Elisa Simantke und Harald Schumann Defizite abgebaut werden, damit die Anleger wieder Vertrauen fassen.“3 Die Tatsache, dass die Zinsen infolge der Sparprogramme erst recht anstiegen, weil diese die Rezession noch viel schlimmer machten, blieb praktisch unerwähnt.

Bestechung durch deutsche Großkonzerne Des Weiteren unterschlugen fast alle Medien, dass es vor allem die deutschen Großkonzerne Thyssen, Rheinmetall, Siemens und Hochtief waren, deren Emissäre griechische Beamte bestochen hatten, oder die im Kartell operierten, damit Griechenland Rüstungsgüter und Infrastruktur kaufte, die sich das Land nicht leisten konnte. Auch dass die spanischen und irischen Immobilienblasen, die ja erst in die Überschuldung geführt hatten, überwiegend von deutschen Investoren finanziert worden waren, war den meisten Kolleginnen und Kollegen nicht mal eine Erwähnung wert. Selbst der Umstand, dass es die Deutsche Bank war, die als „lead manager“ griechische Staatsanleihen auch dann noch an ihre Kundinnen und Kunden vertickte, als die Überschuldung längst offenkundig war (bis kurz vor Ausbruch der Krise im September 2009), wurde meistens unterschlagen. Als dann die Griechen 2015 auch noch eine (linke) Regierung wählten, deren Premier und Finanzminister diese Wahrheiten offen aussprachen, kannten die Redaktionen in Deutschland kein Halten mehr. Von der „Tagesschau“ bis zur „Süddeutschen Zeitung“ beteiligten sich alle deutschen Qualitätsmedien an einer einzigartigen Rufmordkampagne gegen den griechischen Premierminister Alexis Tsipras, seinen Finanzminister Yanis Varoufakis und deren Regierung. Über Monate hinweg brachen sie dabei einen der wichtigsten ethischen Standards des Journalismus: Audiatur et altera pars – man höre auch die andere Seite. Auf der Basis von anonymen Quellen berichteten sie über die angeblichen Verfehlungen der Griechen bei den geschlossenen Sitzungen der Eurofinanzminister und des Europäischen Rates. Oder sie gaben unhinterfragt Aussagen über den angeblichen „Vertragsbruch“ der Griechen wieder oder über ihre Weigerung, ein alternatives Sanierungsprogramm vorzulegen. Nichts davon stimmte, aber den Autorinnen und Autoren waren die Vorwürfe nicht mal einen Anruf bei der griechischen Vertretung in Brüssel oder Berlin wert. Das Recht zur Stellungnahme galt für Griechenlands Regierungspolitiker plötzlich nicht mehr.4 All dies gipfelte schließlich in einem Titel des „Spiegel“ über „Unsere Griechen – Annäherung an ein seltsames Volk“, der mit einer kulturrassistischen Karikatur daherkam. Dort tanzte ein dickbäuchiger Grieche mit Schnauzbart und Schnapsglas in der Hand am Rande des Abgrunds und drohte dabei 3 Bundeskanzlerin Merkel im Interview: „Wir werden im Laufe der Jahre nicht an weiteren Vertragsänderungen vorbeikommen“, in: „Süddeutsche Zeitung“, 2.7.2013. 4 Vgl. Kim Otto und Andreas Köhler, Die Berichterstattung deutscher Medien in der griechischen Staatsschuldenkrise, www.boeckler.de, 2016; Kim Otto, Andreas Köhler und Kristin Baars, „Die Griechen provozieren!“. Die öffentlich-rechtliche Berichterstattung über die griechische Staatsschuldenkrise, www.otto-brenner-stiftung.de, 2016; Harald Schumann, Die Troika, a.a.O.

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Europa: Kontinent ohne Öffentlichkeit 111 den armen deutschen Michel und seine Euros mit ins Verderben zu ziehen. Mit der veränderten Titelzeile „Unsere Juden – warum sie immer wieder aufmucken“ überspitzten die Kolleginnen und Kollegen des Satiremagazins „Titanic“ schon wenige Stunden später auf drastische, aber passende Art die Pauschalisierungen deutscher Medien und ihre Arroganz gegenüber der gesamten griechischen Bevölkerung. Ressentiments waren an die Stelle von Aufklärung getreten und wirkten wie Brandbeschleuniger einer Krise, die bis in die Gegenwart der 2020er Jahre ausstrahlt.

Regel, nicht Ausnahme: Fehlerhafte Berichte über europäische Themen Im Fall der Staatsschuldenkrise in der Eurozone war das Medienversagen besonders heftig. Aber das war keineswegs ein einmaliger Unfall. Falsche und fehlende Berichte über europäische Themen und andere EU-Länder sind eher die Regel als die Ausnahme. So ging beispielsweise die Berichterstattung über das Referendum zur Verfassungsreform und die Verkleinerung des aufgeblähten Parlaments in Italien im Dezember 2016 in fast allen deutschen Medien gründlich schief. Sie priesen, wie etwa die „Tagesschau“, das Vorhaben als „Mutter aller Reformen“ zur Sanierung Italiens. Aber sie unterschlugen, dass der damalige Premier Matteo Renzi mit dem Gesetzesvorschlag der jeweils führenden Partei 15 Prozent mehr Stimmen im Parlament verschaffen wollte, als es dem Wahlergebnis entsprochen hätte – zu diesem Zeitpunkt war dies Renzis eigene Partei. Das empfanden viele in Italien als Anschlag auf die Demokratie und stimmten mehrheitlich dagegen.5 Doch dieses Motiv blieb hierzulande praktisch unerwähnt. Für das deutsche Medienpublikum schien es daher, als hätten die chaotischen Italienerinnen und Italiener mal wieder eine Chance vertan, ihren Staat ordentlich zu organisieren. Auch über die hartnäckige Neigung unserer polnischen Nachbarinnen und Nachbarn, die nationalistische PiS-Partei an der Macht zu halten, erfährt das deutsche Medienpublikum meist nur die halbe Wahrheit. Gewiss, die Politik der Regierungspartei PiS ist frauenfeindlich und höhlt den Rechtsstaat aus, das ist allenthalben zu lesen oder zu hören. Aber nur sehr selten erfahren Zuschauerinnen und Leser, dass die liberale Vorgängerregierung unter Führung des heutigen Oppositionsführers Donald Tusk über viele Jahre mit ihrer marktradikalen Politik große Teile der Bevölkerung von den enormen wirtschaftlichen Gewinnen des Landes ausgeschlossen hatte. Gegen die massenhafte Prekarisierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer setzte die nationalistische Partei die Einführung eines Kindergelds und sozialstaatliche Reformen, die vielen Polen erhebliche materielle Verbesserungen brachten. Darum haben sie gute Gründe, der Opposition zu misstrauen – und nehmen die antieuropäischen Ausfälle von Parteichef Jarosław Kaczynski ´ und seiner Truppe in Kauf. 5 Vgl. Maria Maggiore, The Italian dilemma, www.investigate-europe.eu, 24.10.2016.

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112 Elisa Simantke und Harald Schumann Die verzerrte Darstellung der Vorgänge in anderen EU-Staaten ist keineswegs eine deutsche Spezialität. In Frankreich ergingen sich Journalistinnen und Journalisten aller Couleur jahrelang darin, das „deutsche Wunder“ am Arbeitsmarkt zu preisen, und forderten darum, nach dem vermeintlichen Vorbild von der anderen Rheinseite auch in Frankreich den Kündigungsschutz der Beschäftigten abzuschaffen. Dass die deutschen Hartz-Reformen nichts am regulären Kündigungsschutz geändert haben, ging dabei völlig unter. Selbst der damalige Chefökonom des französischen Arbeitgeberverbandes wusste das nicht, wie er auf Nachfrage zugab. Erst recht „vergaßen“ die französischen Kolleginnen und Kollegen zu recherchieren, dass nicht die Hartz-Reformen in Deutschland die Arbeitslosigkeit niedrig halten, sondern die Kombination aus Kurzarbeit und tariflich vereinbarten flexiblen Arbeitszeiten. Diese erlauben es deutschen Unternehmen, ihre Arbeitskräfte auch in Krisenzeiten weiter zu beschäftigen. Die unkritische Wiedergabe nationaler Klischees und interessengeleiteter Narrative geht vielfach einher mit einem erschütternden Desinteresse an der EU-Gesetzgebung und großer Unkenntnis über die Arbeit der europäischen Institutionen. In der Folge ergreifen die EU-Staaten einen ganzen Strauß von politischen Maßnahmen, ohne dass diese journalistisch geprüft würden – die ‚Vierte Gewalt‘ kommt ihrer Pflicht zur Kritik und Kontrolle der Mächtigen auf europäischer Ebene nicht nach. Ein Beispiel dafür war über lange Jahre die Politik zur „Stärkung der EU-Außengrenzen“. Dabei handelte es sich in erster Linie um eine milliardenschwere Subventionsorgie für die Rüstungsund Elektronikindustrie, mit der diese sich die Entwicklung ihrer neuesten Überwachungs- und Kontrolltechnologien auf Kosten der EU-Steuerzahlerinnen und -zahler finanzieren ließ, ohne dass irgendein messbarer Nutzen für den Grenzschutz daraus entstand. Das geht einher mit gravierenden Interessenkonflikten in den zuständigen Expertengremien, deren Mitglieder vielfach mit den Subventionsempfängern verbunden sind.6

Mangelnde Kenntnis, mangelndes Interesse Die mangelnde Kenntnis von, und das mangelnde Interesse an, den politischen Prozessen auf EU-Ebene führen EU-weit dazu, dass Aussagen von Politikerinnen, Funktionären und Regierungen zu EU-Themen völlig ungeprüft Eingang in die Berichterstattung finden. Ein typischer Fall ist der Umgang der schwedischen Medien mit dem Vorschlag der EU-Kommission zur verpflichtenden Einführung von Mindestlöhnen. Die schwedischen Tarifpartner und mit ihnen die Regierung lehnen das aus Prinzip ab, weil sie eine Einmischung der EU in die nationale Lohnfindung fürchten. Dementsprechend zitiert dann „Dagens Nyheter“, immerhin die führende Zeitung des Landes, die Arbeitsministerin und einen Vertreter des Unternehmerverbandes mit der Behauptung, dass die Richtlinie auch Länder mit umfassenden Tarifver6 Vgl. Ingo Dachwitz, Tagesspiegel-Recherche: „Europa plant den Überwachungsstaat“, www.netzpolitik.org, 12.12.2016.

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Europa: Kontinent ohne Öffentlichkeit 113 tragssystemen wie Schweden erfasse. Tatsächlich aber heißt es in dem inzwischen verabschiedeten Gesetzentwurf ausdrücklich: „Diese Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, in denen der Mindestlohnschutz ausschließlich tarifvertraglich geregelt ist, weder zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns noch zur flächendeckenden Einführung von Tarifverträgen.“7 Die befassten Reporterinnen und Redakteure sahen es offenbar nicht als notwendig an, den Text überhaupt zu lesen, und verbreiteten diese Falschmeldung, was die öffentliche Ablehnung der EU-Initiative verstärkte.

Keine öffentliche Kontrolle der nationalen Regierungen Noch schwerer wiegt, dass die Medien EU-weit kritiklos die vordemokratische Praxis der nationalen Regierungen tolerieren, ihre Verhandlungen über die Gesetzgebungsverfahren im Rat der EU und seinen mehr als 150 Ausschüssen geheim zu halten. Derart der öffentlichen Kontrolle entzogen, können die Regierungen dort mehr oder weniger machen, was sie wollen. Beispielhaft steht dafür das Schicksal eines Gesetzes, welches transnationale Unternehmen zwingen sollte, öffentlich über ihre Steuerzahlungen, Umsätze und Beschäftigtenzahl, differenziert nach einzelnen Staaten, zu berichten. Mit diesem Gesetz plant die EU-Kommission seit 2015, die Steuervermeidung der großen Konzerne sichtbar zu machen und sie damit unter Druck zu setzen, die Steuern dort zu zahlen, wo sie die Gewinne erwirtschaften – und nicht in Steuerfluchtländern wie Irland, Luxemburg oder den Niederlanden beziehungsweise deren angeschlossenen Operettenstaaten in der Karibik. Diese Steuervermeidung kostet die Staatskassen der EU-Länder nach Schätzung der Kommission bis zu 70 Milliarden Euro im Jahr. Dies entspricht fast der Hälfte des jährlichen EU-Budgets. Der Vorschlag hing jahrelang im Rat fest, weil eine Sperrminderheit von 13 Staaten die Verabschiedung verhinderte – gegen den Willen der großen Mehrheit des EU-Parlaments. An der Spitze dieser Allianz stand die deutsche Bundesregierung. Das immerhin berichteten deutsche Medien korrekt. Aber welche weiteren Regierungen mit den Deutschen gemeinsame Sache machten, dieser Frage ging niemand nach. Erst als der grüne EU-Parlamentarier und jetzige Wirtschaftsstaatssekretär Sven Giegold gemeinsam mit Investigate Europe (einem europäischen Rechercheteam – dem auch Autorin und Autor dieses Beitrages angehören – publik machte, dass auch die Sozialdemokraten aus Portugal und Schweden, entgegen ihrer programmatischen Versprechungen, das Spiel der Konzernlobby mitspielten, kam Bewegung in die Sache.8 Unter dem Druck seiner eigenen Parteifreunde im Parlament, die sich auf die Presseberichte bezogen, musste Portugals Wirtschaftsminister seine Position ändern. Später folgte das österreichische Parlament dem portugiesischen Vorbild, und im Mai 2021, sechs Jahre nach Einbringung des Gesetzentwurfes, 7 Europäische Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rats über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union, www.eur-lex.europa.eu, 28.10.2020. 8 Vgl. Sigrid Melchior u.a., Im Schatten der Konzerne, www.investigate-europe.eu, 16.9.2020.

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114 Elisa Simantke und Harald Schumann verhalfen Rat und EU-Parlament ihm schließlich zu Gesetzeskraft. Nicht jedes Mal findet die Sache ein vergleichbar gutes Ende. So scheitern viele wichtige Gesetze im Rat an einer von geschickten Lobbygruppen organisierten Sperrminorität, ohne dass die EU-Bürgerinnen und Bürger davon auch nur ein Wort erfahren. Natürlich liegt die Hauptschuld dafür bei den nationalen Regierungen beziehungsweise den Parlamentarierinnen und Parlamentariern, die ihren Ministern und Beamtinnen in Brüssel unkontrolliert freie Hand lassen. Aber eine wache und kritische journalistische Begleitung der EU-Politik, und insbesondere der Hinterzimmer-Gesetzgebung in den Ratsgremien, würde diese Praxis erheblich erschweren und den nötigen Reformdruck für mehr Transparenz erzeugen. Solange das nicht geschieht, werden die Europäerinnen und Europäer ständig falsch oder gar nicht über die europäischen Zusammenhänge informiert. Das aber macht es Populistinnen und Antieuropäern leicht, die EU-Bürgerinnen und Bürger gegeneinander und zunehmend auch gegen die EU und deren Institutionen aufzubringen. Mit anderen Worten: Die Medien und ihre nationale Borniertheit sind selbst Teil des Problems, das gemeinhin verharmlosend das „demokratische Defizit“ der EU genannt wird. Dies schadet letztlich auch der journalistischen Profession, völlig unabhängig vom individuellen Standpunkt. Je schwächer und undemokratischer die EU regiert wird, desto stärker werden die politischen Kräfte aus den autoritären und autokratischen Lagern, denen die Pressefreiheit ohnehin ein Ärgernis ist.

Was wären Wege aus der Misere? Um der Misere zu entkommen, ist es notwendig, bei der Berichterstattung über Vorgänge in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft die Frage nach dem europäischen Kontext zum verpflichtenden Standard zu machen. Ein erster wichtiger Schritt wäre, dass kein Journalistenschüler und keine Volontärin ihre Ausbildung beenden sollte, ohne wenigstens die Funktionsweise der EU-Institutionen und der zugehörigen Gesetzgebungsvorgänge gelernt zu haben. Bisher können selbst viele auf Politik spezialisierte Journalistinnen und -journalisten nicht einmal den Unterschied zwischen dem Europäischen Rat, dem Europarat und dem Rat der EU erklären. Noch wichtiger ist, dass die Medienarbeiterinnen sich systematisch mit den Kollegen anderer Länder in Europa vernetzen. Das bisherige System mit Korrespondentinnen oder schnellen Reportereinsätzen wird den Anforderungen einfach nicht mehr gerecht. Die (häufig wechselnden) Korrespondenten haben zumeist weniger Zugang zu den Machtstrukturen ihrer Gastländer als die lokalen Journalistinnen, die sich diesen schon im ersten Berufsjahr erarbeiten können. Um Missverständnisse und Falschberichterstattung zu verhindern sollten darum gerade die für ein bestimmtes Land zuständigen „Tischredakteure“ in den heimischen Newsrooms Kolleginnen und Kollegen in den jeweils anderen Ländern kennen, die sie jederzeit um eine kurze Einschätzung strit-

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Europa: Kontinent ohne Öffentlichkeit 115 tiger Vorgänge bitten können und die ihnen kompetente Gesprächspartner vermitteln. Auf diesem Weg können alle Redaktionen (informelle) europäische Teams aufbauen, die sich gegenseitig die Bälle zuspielen und vor Fehlern bewahren. Das gilt natürlich erst recht für die Brüsseler Presseszene. Bis heute ist es so, dass sich die dortigen Korrespondenten in erster Linie von den Sprecherinnen der Institutionen sowie den Strippenziehern der jeweiligen nationalen „Ständigen Vertretungen“ – so heißen die EU-Botschaften – briefen lassen, wie. Würden sie dagegen multinationale journalistische Teams bilden, die sich systematisch gegenseitig unterrichten, würden sie beinahe automatisch erkennen, wo die vermeintlich nationalen Interessen dem europäischen Gemeinwohl entgegenstehen.

Für eine öffentlich-rechtliche Grundfinanzierung von EU-Journalismus Darüber hinaus bedarf es aber ganz grundsätzlich weit mehr genuin europäischer Berichterstattung. Diese ist allein mit den bestehenden Medienstrukturen nicht zu haben. „Europa, das interessiert die Leser nicht“, diese traditionelle Einstellung ist immer noch weit verbreitet, vor allem bei älteren Chefredakteuren und Ressortleiterinnen. Darum sollten die Pro-Europäer aller Parteien ernsthaft die Entwicklung eines öffentlich-rechtlich finanzierten europäischen Journalismus erwägen. Die EU-Kommission hat den großen Bedarf im Prinzip auch schon erkannt. Immerhin hat sie bereits ein Pilotprogramm zur Förderung von investigativem Journalismus in Höhe von vier Millionen Euro jährlich aufgelegt. Seit 2022 fördert die Behörde auch den Aufbau eines „europäischen Newsrooms“, der 16 Nachrichtenagenturen zusammenbringen soll. Er werde eine „Drehscheibe für Nachrichtenkorrespondenten sein, die gemeinsam an EU-Themen arbeiten.“9 Doch beide Vorhaben zeigen, dass die EU-Kommission vom Wesenskern des unabhängigen Journalismus wenig verstanden hat. Denn die Vergabe dieser Gelder erfolgt nach dem Gusto anonymer Beamter und den Weisungen der zuständigen Kommissarin. Das aber macht die betroffenen Medienarbeiterinnen und -arbeiter abhängig vom Wohlwollen der Geldgeber, eine Konstruktion, die zwangsläufig Beißhemmung erzeugt. Damit entsprechende Programme tatsächlich die kritische Aufklärung der EU-Bürgerinnen und Bürger über europäische Belange voranbringen, muss die Finanzierung zwingend unabhängig von der Exekutive und der Politik erfolgen. Wie sonst sollten die Journalistinnen und Journalisten kritisch über die EU-Institutionen berichten? Entscheidend wäre darum eine Initiative des Europäischen Parlaments zur Einrichtung einer öffentlich-rechtlich strukturierten Grundfinanzierung für EU-Journalismus. Damit ist allerdings nicht die Finanzierung eines einheitlichen EU-Fernsehens aus Brüssel nach dem Modell von Euronews gemeint. 9 Europäische Kommission, EU-Kommission unterstützt Aufbau eines Europäischen Newsrooms, germany.representation.ec.europa.eu, 29.11.2021.

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116 Elisa Simantke und Harald Schumann Und es würde auch nicht bedeuten, ein Magazin wie „Politico“ – bisher eine auf Englisch erscheinende Fachzeitung, die sich an Aktive im politischen Betrieb Brüssels richtet – künftig einfach in allen EU-Sprachen herauszugeben. Denn alle Erfahrung lehrt, dass EU-Medien nicht funktionieren. Dafür sind die journalistischen Kulturen und die zugehörigen Gewohnheiten von Leserinnen und Zuschauern zu verschieden. Ein Spitzenartikel aus Frankreich kann in einfacher deutscher Übersetzung unlesbar sein und umgekehrt. Das Ziel einer öffentlich-rechtlich finanzierten Europaberichterstattung müsste vielmehr sein, unabhängige Journalistinnen und Journalisten auszubilden und zu finanzieren, die dann in ihren jeweiligen Ländern europäisch berichten und so die rückständigen Medien für Europa öffnen. Das mag erst einmal utopisch klingen. Denn vielfach fehlt noch die politische Einsicht: Zwar wissen die Regierenden in der EU, dass es für alle großen Probleme unserer Zeit längst keine nationalen Lösungen mehr gibt – vom Klimaschutz bis zur Verteilungsgerechtigkeit. Aber die allermeisten Politikerinnen und Politiker – und mit ihnen die staatlichen Apparate – weigern sich bisher, diese europäische Realität tatsächlich ernst zu nehmen. Darum betreiben praktisch alle Regierungen die EU-Politik als Verlängerung ihrer nationalen Machterhaltung und bereiten damit genau dem Neo-Nationalismus den Weg, den sie doch fürchten und bekämpfen. Diese rückständige und gefährliche Realitätsverweigerung sollten Journalistinnen und Journalisten nicht länger mitmachen – und sei es auch nur, um ihre Glaubwürdigkeit und die Pressefreiheit zu verteidigen.

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Wem gehören die Benin-Bronzen, und wohin? Der Streit um die Restitution afrikanischer Kunstschätze Von Manfred Clemenz

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frika fordert seine Kunstschätze zurück!“, lautet der Titel eines herausragenden „Arte“-Themenabends, der schon mehrfach – und zwar wie üblich in französischer und deutscher Sprache – wiederholt wurde. Das Thema ist seit Jahrzehnten aktuell, wie etwa das berühmte Buch von Michel Leiris „Phantôme Afrique“ nahelegt.1 Darin schildert der Abenteurer, Schriftsteller und Ex-Surrealist Leiris Fakten und Strukturen des Kolonialismus im 20. Jahrhundert, nicht zuletzt die des Kunstraubs. Zu Recht ist der zweite Teil des Themenabends deshalb der legendären Reise Leiris’ im Rahmen einer staatlich finanzierten Forschungsexpedition gewidmet, die – unter der Leitung von Marcel Griaule – 1931 quer durch Afrika, von Dakar nach Djibuti führte. In diesem Kontext sind drei Fragen von Relevanz und politischer Brisanz: Erstens, wie verhält es sich ganz grundsätzlich mit der Restitution der geraubten Kunstschätze, also die Frage nach dem rechtmäßigen Eigentümer der Kunst? Zweitens, wie verhält es sich mit der Gewalt am Ursprung der Kunst, also in den afrikanischen Staaten? Und drittens die letzte, aber vermutlich schwierigste Frage: Wohin genau sollen die Artefakte, im aktuellen, besonders prominenten Fall die Benin-Bronzen, restituiert werden, und wie sind die Museen in Nigeria überhaupt darauf vorbereitet? Die erste Frage nach dem Recht auf Restitution – also nach Rückübertragung der Kunstwerke – ist am einfachsten zu beantworten. Denn die von Marx beschriebene „ursprüngliche Akkumulation“ des Kapitals – durch Raub – lässt sich auf die gewaltsame Trennung der autochtonen Eigentümer von ihren Kunstschätzen übertragen. Diese geraubten Kunstgegenstände wurden anschließend zu Waren, zu Objekten, mit denen die großen Museen und Privatbesitzer mit frischem Kunstkapital versorgt wurden. Das Gewaltförmige bestand in der Regel darin, dass der Widerstand der autochtonen Bevölkerung durch Strafexpedition gebrochen wurde, woraufhin diese ihre Kunstschätze mehr oder weniger wehrlos unter praktisch allen Bedingungen abgab. Aufgrund dessen sprach man schließlich davon, dass die Objekte 1 Michel Leiris, Tagebuch einer Expedition von Dakar nach Djibuti 1931-1933, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1985.

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118 Manfred Clemenz „rechtmäßig erworben“ worden seien. Götz Aly hat in seinem aktuellen Buch genauestens den „Erwerb“ des sogenannten „Luf-Bootes“ (benannt nach der Insel Luf in dem unter deutscher Kolonialverwaltung stehenden BismarckArchipel) beschrieben.2 Durchaus parallel dazu wird in den Fotos der Griaule-Expedition gezeigt, wie Griaule von einem Dorfältesten eine gewaltige Tiermaske, einen „kono“, unter Polizeidrohung und gegen Bezahlung von einigen Francs „erwirbt“. Nachdem zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Markt für autochtone Kunstobjekte fast leergefegt war, wurden sie zu exorbitanten Preisen gehandelt. Alle großen Museen rissen sich etwa um die heute wieder im Mittelpunkt der Debatte stehenden Benin-Bronzen. So klagte der Ethnologe Felix von Luschan schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass die Bronzen selbst für große Museen wie das Berliner Museum für Völkerkunde, dessen Chefkurator und Expeditionsleiter er war, fast unerschwinglich waren. Bereits zu diesem Zeitpunkt war an die Stelle der ursprünglichen Akkumulation die weltweite Zirkulation „der Waren“, also der Kunstwerke, getreten. In dieser Situation erhielten Expeditionen wie die französische unter Griaule eine neue Bedeutung. Da sich die Bedingungen der ursprünglichen kolonialen Akkumulation politisch nicht mehr durchsetzen ließen, traten an ihre Stelle Expeditionen unter wissenschaftlichem Vorzeichen, mit denen eine angeblich authentische „andere Welt“, die der sogenannten primitiven Völker, mit neuen Methoden erforscht werden sollte. Zugleich erfüllten sie den praktischen Zweck, dass der mittlerweile leergefegte Markt einen Zustrom an neuen Waren erhielt. Auf diese Weise wurde mit den mehr als 4000 Objekten der Griaule-Expedition der Grundstock für das Pariser Musée de l’Homme gelegt, Objekte, die später wiederum den Grundstock des Musée du Quai Branly bildeten, bis heute der ganze Stolz der französischen Ethnologie und des französischen Staates.

Wer ist Täter, wer ist Opfer? Aus der Tatsache der räuberischen Erbeutung der Kunstwerke ergibt sich eine zweite Problematik, nämlich die der Geschichte und Herkunft der zu restituierenden Objekte – und damit auch die Frage nach Täter und Opfer. Diese höchst heikle Frage wird in der öffentlichen Diskussion weitgehend ausgeklammert. Um hier vorab einen entscheidenden Punkt klarzustellen: Die Restitution sollte ohne Wenn und Aber stattfinden. Die damit verbundenen Probleme lassen sich jedoch gesinnungsethisch, mit der Überzeugung, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen, nicht lösen. Auch der prinzipiell richtige Hinweis, dass die Verteilung letztlich ein innernigerianisches 2 Vgl. Götz Aly, Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten, Frankfurt a. M. 2021. Anders als gelegentlich unterstellt, hat Aly die deutschen Ethnologen, die in der Südsee arbeiteten, nicht der direkten Beteiligung am Kunstraub bezichtigt. Wohl aber waren sie Bestandteil der kolonialen Ausplünderung der Südsee. Alys Recherchen werden durch die exzellente Arbeit von H. Glenn Penny, Im Schatten Humboldts, München 2019, bestätigt. Besonders lesenswert sind Pennys Überlegungen zur Funktion ethnologischer Museen.

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Wem gehören die Benin-Bronzen, und wohin? 119 Problem sei, löst das Dilemma nicht. Dazu gehört insbesondere die richtige Beurteilung der Fakten. Fest steht: An den aus Benin (heute Nigeria) und Dahomey (heute der Staat Benin) stammenden Kunstwerken klebt Blut – und zwar nicht nur das der Sklaven, sondern auch das der einstigen Untertanen despotischer afrikanischer Herrscher und die Schande des nicht nur von den Kolonialherren betriebenen Sklavenhandels. Aber: „Das postkoloniale Denken [erweist] sich leider viel zu oft als auftrumpfender, erkenntnisblinder Moralismus, für den nur und ausschließlich Weiße als Täter gelten“, stellt der kolonialistischer Sympathien gewiss unverdächtige Ijoma Mangold in der „Zeit“ fest.3 Auch wenn es unbequem ist, zeigen gerade die Fakten zu Benin und Dahomey, dass im Kontext der kolonialen Diskussion das Problem der Täterschaft nicht einseitig behandelt werden kann.4 Die vom 16. bis 19. Jahrhundert herrschenden Dynastien der Könige von Benin und Dahomey gehörten zu den brutalsten des mittelalterlichen Afrikas. Rituelle Menschenopfer waren in beiden Königreichen üblich. Beide lagen an der sogenannten Sklavenküste, von wo aus – nach historischen Schätzungen – 13 Millionen Sklaven nach Nord- und Südamerika verkauft wurden. Macht und Reichtum der Dynastien beruhten auf Sklavenhandel und Unterdrückung der eigenen Bevölkerung. Von Bedeutung ist auch, dass die Sklaverei offiziell von der britischen Kolonialverwaltung schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts abgeschafft wurde, obwohl sie in Form einer inoffiziellen kolonialen Leibeigenschaft fortgesetzt wurde.5

Diversität statt Heiligkeit, Gerechtigkeit vor Gesinnung Da die afrikanischen Nachkommen für die Taten ihrer Vorfahren nicht ohne weiteres haftbar gemacht werden können, wäre es gleichwohl banausenhaft, bei Kunstwerken Genesis und Geltung schlicht gleichzusetzen, also aufgrund der Beteiligung von Afrikanern an der Sklaverei deren Anspruch auf die Kunstwerke auszuschließen. Allerdings ist eines bemerkenswert: Während in der aktuellen postkolonialen Diskussion in den westlichen Staaten die Genesis der Kunst eine Überbetonung erfährt – Statuen von ehemaligen Sklavenhändlern werden gestürzt, Bilder mit Bezug zur Geschichte der Sklaverei entfernt –, wird bei den aus den afrikanischen Ländern stammenden Artefakten die problematische Genesis dieser Objekte zumeist ausgeklammert. Ja mehr noch: Vielfach wird sogar von „heiligen Objekten“ gesprochen. Gerade die Benin-Bronzen jedoch waren Hofkunst, so wie es auch im Westen Hofkunst gab. Sie repräsentieren und glorifizieren die jeweilige Dynastie, ihren Hofstaat und ihre Diener. „Heilig“ sind sie also in erster Linie aus der jeweiligen dynastischen Perspektive. Gewiss ist es jedem selbst überlassen, diese Perspektive einzunehmen. Aus säkularer Perspektive jedoch ist die Vorstellung „heiliger“ Artefakte ausgesprochen problematisch. 3 Vgl. „Die Zeit“, 8.9.2022. 4 Vgl. dazu auch Patrick Bahners, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 25.5.2022. 5 Beispiele dafür finden sich in Leiris’ Tagebüchern bzw. in den Filmausschnitten des Themenabends.

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120 Manfred Clemenz Mit dem Ende eines monolithischen, normativ verbindlichen transzendentalen Systems in den westlichen Gesellschaften – Adorno spricht vom „Sturz der Metaphysik“ – tritt neben die zunehmende soziale Differenzierung auch die religiöse Diversität. In einer modernen Gesellschaft wird der Glaube zunehmend zur individuellen, subjektiven Entscheidung. Die Gesellschaft ist zersplittert in Katholiken, Protestanten, Atheisten und Agnostiker, Anhänger eines säkularen Glaubens an humanitäre Werte und nicht zuletzt die große Masse der religiös Gleichgültigen. Diese Aufsplitterung erfordert wiederum Respekt für die verschiedenen Glaubensrichtungen. Dies bedeutet auch Akzeptanz dafür, dass jenseits der Gruppe gläubiger Katholiken eine derartige Verehrung als Zumutung, gar als Aberglaube abgelehnt wird. Diese Säkularisierung verdient ebenso Respekt wie etwa die Verehrung von Heiligen und Marienbildern. Auch Nigeria konnte sich diesem Prozess sozialer und religiöser Diversifizierung nicht entziehen. Heute bilden das Christentum (Katholizismus und Protestantismus) und der Islam mit einem Anteil von jeweils etwa der Hälfte die dominanten Glaubensrichtungen in Nigeria. Genuin indigene Glaubensrichtungen haben – je nach Quelle – einen höchst unterschiedlichen Anteil von sieben bis zu weniger als einem Prozent. Wenn wir hier also von „Heiligkeit“ oder „heiligen“ Objekten sprechen, müssen wir uns stets vergewissern, von welcher dieser Gruppen wir sprechen, sonst verfallen wir erneut westlicher Blindheit, nur unter umgekehrtem Vorzeichen. Um auch hier Missverständnissen vorzubeugen: Das Problem des Heiligen darf nicht mit der Frage der spirituellen Bedeutung verwechselt werden. Mit Kant könnte man von spiritueller Erhabenheit der betreffenden Kunstwerke sprechen. Bauwerke, etwa die Mezquita von Córdoba oder die Kathedrale vom Reims, vermitteln eine spezifische spirituelle Aura. Ob man diese Aura als „heilig“ oder als „spirituell“ sieht, sollte jedoch den Einzelnen überlassen werden. Entscheidend für unsere Debatte ist etwas anderes: Die Frage der Restitution und der Verteilung der Kunstschätze, in Frankreich wie in Deutschland, ist nicht in erster Linie eine Frage der Gesinnungsethik, sondern eine Frage der Gerechtigkeit, so schwierig dies unter praktischen Bedingungen auch sein mag. Gerechtigkeit bedeutet, dass wir uns mit den historischen Fakten der Sklaverei und der konkreten Herkunft der Objekte auseinandersetzen müssen, auch wenn diese unbequem sind. Gerechtigkeit und Wahrheit bedingen sich gegenseitig: Wir müssen uns also auch mit der Frage beschäftigen, ob unsere fast grenzenlose Bewunderung der Benin-Bronzen nicht auch ein Affront gegen diejenigen ist, die einst Opfer eines innerafrikanischen Sklavenhandels wurden.6 Nachdem die Frage der Restitution im Falle der geraubten Benin-Bronzen heute grundsätzlich geklärt ist – Deutschland wird die Kunstwerke wie Frankreich und die Vereinigten Staaten rückübertragen, Großbritannien dagegen (vorerst) nicht7 –, lautet gerade vor dem schwierigen religiösen, 6 Mittlerweile hat sich in den USA eine Gruppe aus Nachfahren afroamerikanischer Sklaven gebildet, die dies auf ihre Agenda gesetzt hat („Restitution Study Group“). Sie gehen sogar so weit, in der Restitution eine Belohnung der Nachfahren einstiger Profiteure des Sklavenhandels zu sehen. 7 Das British Museum in London weigert sich, seine mehreren hundert Benin-Bronzen zurückzugeben, und zwar aufgrund eines Gesetzes, das die Restitution angeblich verhindert.

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Wem gehören die Benin-Bronzen, und wohin? 121 und auch politischen Hintergrund die letzte, aber vermutlich schwierigste Frage: Wem genau sollen die Artefakte übereignet werden, und wie sind die Museen in Nigeria und in Afrika insgesamt darauf vorbereitet?

Königliches oder staatliches Museum? Die Antwort auf die Frage ist schwieriger, als sie zunächst erscheint. In der erwähnten „Arte“-Sendung bleibt sie leider ausgesprochen vage. Die Aufteilung werde die verschiedenen Volksgruppen und Museen berücksichtigen, heißt es dort. Damit bleibt die wesentliche Frage unbeantwortet: Genauer betrachtet geht es nämlich darum, dass verschiedene Institutionen divergierende Ansprüche erheben, einschließlich der noch immer existierenden Edo-Dynastie. Der derzeit – ohne Staatsamt – regierende Edo-König Ewuare II hat dies in aller Klarheit und Schärfe betont. Hinzu kommt, dass selbst nigerianische Politiker darauf hinweisen, dass es bisher an geeigneten Museen mangelt und die bereits konzipierten sich erst in der Planungsphase befinden. Dies ist der Ausgangspunkt komplexer politischer und kultureller Verwicklungen. Bei dem Konflikt um die Verteilung der zu restituierenden Kunstschätze geht es um Prestige, dynastische Ansprüche und natürlich auch um viel Geld. Dem zugrunde liegt ein Konflikt zwischen dem Königshaus, repräsentiert durch den König („Oba“) Ewuare II – ein Nachfahre der ehemaligen Benin-Könige –, und dem Gouverneur des nigerianischen Bundesstaates Edo, Godwin Obasaki. Zugleich geht es um zwei unterschiedliche Vorstellungen des noch zu errichtenden Museums – das eine als königliches, das andere als staatliches konzipiert. Konsens besteht zunächst lediglich darin, dass ein neues Museum errichtet werden soll. Denn das in Benin City bereits bestehende Nationalmuseum ist nach den Vorstellungen beider Konfliktparteien nicht ausreichend. Das Problem: Trotz enormer Öl- und Erdgasvorkommen ist Nigeria eines der ärmsten und zugleich korruptesten Länder der Welt.8 Insgesamt lässt der Zustand der etwa 50 bestehenden nigerianischen Museen sehr zu wünschen übrig. „Nigerias staatliche Museen sind schlecht finanziert, ihre Angestellten oft schlecht ausgebildet und die Gebäude ungenügend gesichert. In der Vergangenheit verschwanden immer wieder wertvolle Objekte“, schreibt etwa die NZZ.9 Die unterschiedlichen Vorstellungen über das künftige Museum beziehen sich auch auf dessen Ausrichtung. Beide Seiten versprechen sich eine kulturelle und ökonomische „Renaissance“ von Benin City, wobei sie auf einen exponentiell steigenden Tourismus setzen. „Oba“ Ewuare II hat ein „Royal Museum“ mit ihm selbst als Chefkurator im Sinn, bei dem die historischen Benin-Kunstwerke im Mittelpunkt stehen. Nur das königliche Museum sei im Volk verankert, alles andere seien „künstliche“ Veranstaltungen.10 Die staat8 Nach dem internationalen Korruptionsindex belegt Nigeria den 154. Platz von insgesamt 180 Ländern, www.statista.com, 2021. 9 „Neue Zürcher Zeitung“, 8.6.2021. 10 BBC, 22.7.2021, ebenso: www.returningheritage.com, 23.7.2021.

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122 Manfred Clemenz liche Gegenseite plant ein großzügiges Universalmuseum, in welchem neben der historischen Benin-Kunst auch zeitgenössische Kunst ihren Platz haben soll. Für den Bau des Museums, das 150 Mio. US-Dollar kosten soll, ist der nigerianisch-britische Stararchitekt Sir David Adjaye vorgesehen. Die zentralen Player dieses Projekts sind zum einen der Edo-Gouverneur Obasaki, zum anderen eine private Sponsorengruppe (bzw. eine Gruppe, die noch nach Sponsoren sucht), die sich Legacy Restoration Trust (LRT) nennt. Ihr geplantes Museumsprojekt firmiert unter dem Namen Edo Museum of West Afrikan Art (EMOWAA). Die Pointe dieser Kontroverse: Einerseits spricht König Ewuare II dem LRT und dem EMOWAA jegliche Legitimation ab. Der Trust sei eine „artifical group“, die über keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung verfüge. Wer mit ihm zusammenarbeite, tue dies auf eigene Gefahr.11 Andererseits – so die Ironie der Geschichte – ist ausgerechnet der Sohn des Königs mittlerweile zur Gegenseite übergelaufen.12 Damit beginnen Probleme, die auch die deutsche Seite bei den Restitutionsverhandlungen betreffen. Diese verhandelte bisher (innerhalb der sogenannten „Benin Dialogue Group“) nach offiziellen Verlautbarungen mit dem LRT, wobei sie dem dabei offenkundigen Interessengegensatz zwischen Ewuare II und seinem Sohn aus dem Weg zu gehen suchte. Die deutsche Seite sprach davon, dass das nigerianische Königshaus an den Verhandlungen beteiligt sei, was aber in der Tat eine (Selbst-)Täuschung war, da es sich lediglich um den Kronprinzen handelt, der offensichtlich andere Interessen vertritt als sein Vater. Anders als in der britischen Öffentlichkeit wird dieser Konflikt in unseren Medien nicht wirklich offen kommuniziert und diskutiert. Dabei wäre es zweifellos die pragmatischste Lösung des Problems, die Artefakte an die Zentralregierung zu restituieren. Diese würde die Kunstwerke dann an verschiedene Museen verteilen – darunter das königliche Museum und das EMOWAA. Dieser Vorschlag wurde auch bereits vom Generaldirektor der staatlichen nigerianischen „National Commission for Museums and Monuments“ (NCMM), Abba Isa Tijani, als „Kompromiss“ formuliert. Die Bundesregierung, das zuständige Staatsministerium für Kultur und Medien und auch die deutschen Museen haben sich dieser diplomatischen Lösung offenbar angeschlossen und ein entsprechendes Agreement mit der nigerianischen Seite hergestellt.13 Zu klären wäre dann abschließend nur noch die Frage, welche Art Museum Priorität erhalten soll: eines, in dem vorwiegend ikonische („heilige“?) Objekte ausgestellt werden, oder eines, das den kulturellen und sozialen Kontext dieser Objekte zeigt. Das aber ist letztlich eine innernigerianische Angelegenheit – und wahrlich nicht mehr unsere Aufgabe. 11 Vgl. Bénédicte Savoy, Afrikas Kampf um seine Kunstschätze. Geschichte einer postkolonialen Niederlage, München 2021. 12 Er ist Mitglied des LRT und Kuratoriumsmitglied des EMOWAA. 13 Der entscheidende Passus der Vereinbarung lautet: „Wohin die Objekte physisch übergehen, würde damit zusammenhängend zwischen den heutigen Eigentümern und der Bundesrepublik Nigeria vereinbart werden, die den NCMM als Ansprechpartner für diese Fragen benannt hat.“ Ich danke Andreas Görgen aus dem Staatsministerium für Kultur und Medien für die Unterstützung meiner Recherche für den Beitrag.

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BUCH DES MONATS

Die glühende Lava der Politik Von Achim Engelberg Viele Menschen sind in einem Menschen. Rafael Chirbes war schwul, kam von unten, war links. Er sah kein „Heilmittel gegen die Klassenherkunft“ und kämpfte um Bildung. Durch den frühen Tod des Vaters war er ein in einem Internat aufgewachsenes Arbeiterkind, das in Proust „die Grammatik des zeitgenössischen Erzählens“ erkannte. In Schwulenbars erlebte er Exzesse und Abstürze, die ihn – ganz bildungsbürgerlich – an den Garten der Lüste von Hieronymus Bosch erinnerten. Seine schlechten Karten spielte er herausragend. Der 2015 gestorbene Autor erreichte für seine Lebensweise – er trank, rauchte Kette, nahm Drogen – ein hohes Alter von 66 Jahren. In seinen nun Rafael Chirbes: Von Zeit zu Zeit. Aus auf Deutsch veröffentlichten Tagebüchern dem Spanischen von Dagmar Ploetz und Carsten Regling. Verlag Antje geht er mit seiner Selbstzerstörung hart ins Kunstmann, München 2022, 472 S., Gericht, konnte sie aber zeitlebens nicht stop34 Euro. pen. Dennoch schuf der Zerrissene ein beeindruckendes Werk und erhielt mit seinen letzten Romanen auch in Spanien die ersehnte Anerkennung. Er wäre ein guter Nobelpreisträger geworden. Mit Deutschland verbanden Chirbes, wie die Tagebücher zeigen, viele Fäden. Früh erschien hier sein Werk, der Erstling „Mimoun“ bereits 1990. Das große Publikum erreichte er, als Marcel Reich-Ranicki 1998 seinen Roman „Der lange Marsch“ lobte und zum Bestseller machte. Allerdings gab es dieses Buch in dieser Form zunächst nur hierzulande. Im Vorwort zu den Tagebüchern berichtet Chirbes langjähriger deutscher Lektor Heinrich von Berenberg, wie er zusammen mit dem dankbaren Autor alles nochmal überarbeitet hatte: „Das Buch erschien dann in einer im Vergleich zum spanischen Original stark lektorierten Fassung.“ Chirbes Tagebücher erweisen sich als großer Bildungs- und Entwicklungsroman. Deutschsprachige Autoren wie Hermann Broch spielen dabei Hauptrollen. In Walter Benjamins Schriften liest Chirbes immer wieder, in dessen Texten über Baudelaire erkennt er „eine verschwundene Epoche und

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124 Buch des Monats

zugleich unser Leben, das deren Kurs folgt“. So misst er sich mit den als vorbildlich Erkannten, notiert aber auch Verfehlungen von Berühmtheiten wie diesem Modernisten: „Dalí hat damit auf die Anfrage einiger Exilspanier geantwortet, die einen Artikel von ihm haben wollten. ‚Mit den Besiegten will ich nichts zu tun haben‘, schrieb das Arschloch.“ Immer wieder liest er Epochengemälde von Balzac bis Philipp Roth. In dessen Trilogie „Amerikanisches Idyll“, „Mein Mann, der Kommunist“ und „Der menschliche Makel“ wettert der Autor, so Chirbes, „gegen die scheinheilige Frömmelei seiner Landsleute. Ihm ist ein Fries im Stil von Dos Passos gelungen, absolut unverzichtbar, um die amerikanische Gesellschaft zu verstehen, auch wenn er sich, warum sollte ich das verschweigen, gelegentlich ein bisschen wiederholt“. Ähnliches könnte man über Chirbes Spanien-Trilogie schreiben, die nun in einer schönen Neuedition vorliegt. Die bei Roth kritisierten Wiederholungen allerdings gibt es hier nicht. Nach „Der lange Marsch“, der von der bürgerkriegszerstörten Gesellschaft erzählt, folgt „Der Fall von Madrid“, angesiedelt um den 20. November 1975, den Todestag von Diktator Franco, und die Trilogie endet mit „Alte Freunde“ in der großen Ernüchterung. Beißend schildert Chirbes dort die Krise der Linken; die Arbeiterbewegung ist längst kein handelndes Subjekt mehr. Im Tagebuch notiert er: „Die Sprache dieser Linken, dieser falschen Arbeiterbewegung von Bürgerkindern auf der Sinnsuche ist nur Fassade. Das Thema steht erneut im Zentrum in dem Abschlussfeuerwerk, das ‚Alte Freunde‘ darstellt, ein Roman, der von nichts anderem handelt als dem Gegensatz zwischen verschiedenen instrumentellen Sprachen. […] Die Sprachen der Lüge zerstörten sich gegenseitig.“ Chirbes hatte Geschichte studiert, las immer wieder große Historiker und wusste, was der Roman der Geschichtsschreibung voraus hat: „Auch die historischen Epochen werden von ihrer Atmosphäre bestimmt. Innerhalb dieser Atmosphäre fügt sich schließlich alles zueinander, erscheint angemessen. Außerhalb davon aber scheint jede Aktion, jede Idee ins Leere zu laufen.“

Viele Städte sind in einer Stadt

Mit anderen gründete Chirbes die bis heute beliebte Gourmet-Zeitschrift „Sobremesa“ („Nachtisch“), die ihm nicht nur den Lebensunterhalt sicherte, sondern auch als fliegender Teppich für sein Wissen um die Umwandlung der Welt diente. Seine dortigen Artikel gab er später nicht gesammelt heraus, sondern bearbeitete sie wie die Tagebücher. Sie bekamen so eine eigene Melodie auf einem einheitlichen Rhythmus. Seine Städtebilder von Peking bis Halifax, von Oslo bis Florenz, von Marrakesch bis Alexandria erlauben ihm den Vergleich und die Eigenart: „Es geht eher darum, den historischen Sinn einer Stadt, jeder Stadt, zu erfassen – warum und wie sie existiert.“ Am 1. April 1985 notiert er im Tagebuch über die neue Verwandlung der Welt, diese „ist zu sehr gewachsen, und die Geschichten spielen sich nicht mehr, wie zu Odysseus’ Zeiten, zwischen Nachbarn ab“.

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Buch des Monats 125

In seinen späten Romanen zeigt Chirbes ein Spanien der Vielen – historisch wie aktuell. In „Krematorium“ heißt es etwa: „Wenn Gräben ausgeschachtet wurden, kamen Stücke der Festungsmauer ans Licht, archaische Hafenanlagen, Ölmühlen, Keramiköfen, Kalk, die Reste arabischer Bäder, Moscheen oder westgotischer Kirchen, zivile Römerbauten.“ Nach den Archäologen kommen Bauarbeiter, gießen Beton auf ausgeweidete Fundorte und errichten Neubauten, in denen bald Menschen aus allen Teilen Europas, zuweilen sogar der ganzen Welt, wohnen. Das Meer ist bei Rafael Chirbes wie in den großen Seeromanen auch ein „theologischer Raum“. So liest man es in seinen Einträgen zu „Moby Dick“ oder „Der Seewolf“; die Stimmen dieser Autoren klingen auch in ihm. Immer wieder liest er seinen Lieblingshistoriker: „Wieder einmal habe ich Braudels Buch über das Mittelmeer gelesen, erneut die verwüsteten Strände aufgesucht, die sumpfigen Niederungen, die Städte, die sich auf alten Ruinen vor einem Horizont mit Schiffen erheben.“ Mit der Erfahrung des Mittelmeers, das sein Bild wechselt von der tödlichsten Grenze der Welt heute zum Meer der Zivilisationen gestern und vielleicht auch wieder morgen, sowie mit Kindheitserinnerungen und Geschichtswissen durchdringt der „sesshafte Reisende“ die Welt: „So habe ich auf den Zuckerplantagen Kolumbiens Bruchstücke einer mediterranen Kindheit entdeckt, in der uns ‚Rohrhonig‘ als bescheidenes Naschwerk diente – eine Resterinnerung an Zeiten, als Zuckerrohr, noch bevor es nach Amerika kam, schon in Gandía angebaut wurde.“ Osmose, nicht Identität bestimmt für Chirbes die Kulturen – nicht nur am Mittelmeer. Sein Werk erzählt, wie die glühende Lava der Politik zur Geschichte gerinnt, die unseren Blick auf die Welt prägt. Jedenfalls bis der Vulkan der Revolutionen und Konterrevolutionen ausbricht und erneut den Fluss der glühenden Lava zum Strom anschwellen lässt. So beobachtet er in Spanien, wie sich nach dem knirschenden Aufbruch aus den Ruinen der Diktatur, als vieles plötzlich möglich war, die Schranken zwischen den Klassen und Schichten wieder schlossen. In „Krematorium“ heißt es: „Völlige Durchlässigkeit bedeutet Unsicherheit, und eine verunsicherte Gesellschaft ist zum Untergang verurteilt.“ Aber Vorsicht: So reden die auf der reichen Seite Angekommenen. Die Dialektik des Erinnerns und Vergessen spielt bei Chirbes eine entscheidende Rolle. Was wird vergessen? Was individuell erinnert? Und an was wird in der Gesellschaft offiziell gedacht? In seinen Tagebüchern denkt er darüber mithilfe seiner Lektüren nach: In der „Orestie“ von Aischylos, der einzigen überlieferten Tragödien-Trilogie der Antike, wird dem Ursprungsverbrechen offiziell nicht gedacht. Gerade Jüngere wie Apoll fordern Vergessen, während die Älteren wie die Eumeniden erinnern und infolgedessen Strafe wollen. Chirbes kommentiert: „Nach dem Modell dieses Prozesses werden regelmäßig die chilenischen, argentinischen oder spanischen Schlussstrichgesetze gestaltet. Geschichte als Vergessen, eine Ungerechtigkeit, ohne die man nicht leben kann.“ In diesem Sinne deckt Chirbes in seinen Büchern immer wieder verdrängte Gründungsverbrechen auf, denn Literatur ist für ihn die „Putzfrau, die das Haus aufräumt“.

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DOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem: • »Das Recht an den EU-Außengrenzen einhalten, nicht verbiegen!« Gemeinsames Statement von 35 Organisationen, 6.12.2022 • »Deutschland muss sich aktiv für eine Welt ohne Atomwaffen einsetzen!« Offener Brief von der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), 6.12.2022 • »Im EU-Ratsbeschluss zum Lieferkettengesetz klaffen große Lücken« Pressemitteilung der »Initiative Lieferkettengesetz«, 1.12.2022 • »3,6 Milliarden Menschen haben keinen ausreichenden Zugang zu Wasser – Tendenz steigend« Bericht der Weltwetterorganisation, 29.11.2022 (engl. Original) • »Die Politik hat die Pädiatrie jahrelang finanziell aushungert« Pressemitteilung des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), 28.11.2022 • »Nach zwölf Jahren ist es für die US-Regierung an der Zeit, die Verfolgung von Julian Assange einzustellen« Offener Brief von »New York Times«, »Guardian«, »Le Monde«, »Spiegel« und »El País«, 28.11.2022 • »In Deutschland leben immer mehr Menschen in Armut« Report des Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI), 24.11.2022 • »96 Prozent aller Stadtbewohner*innen Europas sind Feinstaub über den WHO-Richtwerten ausgesetzt« Bericht der Europäische Umweltagentur, 24.11.2022 (engl. Original) • »Die Gewalt der iranischen Regierung gegen Demonstrierende muss unabhängig untersucht werden« Resolution der UN-Menschenrechtskommission, 24.11.2022 (engl. Original) • »Im Durchschnitt werden jede Stunde mehr als fünf Frauen oder Mädchen von jemandem aus ihrer eigenen Familie getötet« Studie von UN Women und dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung, 23.11.2022 (engl. Original) • »Hartz IV bleibt Hartz IV« Pressemitteilung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, 22.11.2022 • »Deutschlands Jugend leidet unter der Last von vielfältigen Krisen« Ergebnisse der Trendstudie »Jugend in Deutschland«, 21.11.2022 • »Wir müssen der Ukraine helfen, diesen Kriegswinter zu überstehen!« Aufruf von über 70 Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kultur, 16.11.2022

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Zurückgeblättert... »Das krumme Denken verfügt über mächtige internationale Organisationen, die dazu dienen, es in krummes Handeln umzusetzen« – so heißt es nicht in einem aktuellen Kommentar zur Fußball-WM in Katar, sondern in einer Kritik der globalen Atomrüstung, geschrieben vor 64 Jahren von dem am 25. November im Alter von 93 Jahren gestorbenen großen Dichter und Essayisten Hans-Magnus Enzensberger (Europa gegen die Bombe, in: »Blätter«, 1/1959, S. 119-121). Den Text finden Sie wie gewohnt auf www.blaetter.de

Die Blätter für deutsche und internationale Politik erscheinen als Monatszeitschrift. Verlag:

Blätter Verlagsgesellschaft mbH, Berlin, Torstraße 178, 10115 Berlin; Postfach 40147, 10061 Berlin Amtsgericht Berlin Charlottenburg HRB 105991 B Finanzamt für Körperschaften II, Berlin St.-Nr. 30/231/31389

Gesellschafter:

Daniel Leisegang, Albrecht von Lucke, Annett Mängel

Geschäftsführerin:

Annett Mängel, Telefon 030/30 88 - 36 43, Fax 030/30 88 - 36 45

Bankverbindung:

Postbank Köln (BLZ 370 100 50), Kto. 147 993-502 IBAN: DE54 3701 0050 0147 9935 02, BIC: PBNKDEFF

Vertrieb:

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An der Ausgabe wirkten Joel Souza Cabrera und Moritz Fromm mit. Die gemeinnützige Blätter-Gesellschaft – Gesellschaft zur Förderung politisch-wissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Initiativen e.V. gibt in Verbindung mit dem Herausgeberkreis der Zeitschrift die »Blätter für deutsche und internationale Politik« heraus. Ihr stehen Dr. Corinna Hauswedell, Dr. Wolfgang Zellner und Inken Behrmann vor. Die »Blätter« erscheinen zugleich als Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft. Beiträge – ab 12,50 Euro monatlich – und Spenden sind steuerabzugsfähig. Sitz: Bonn, Beringstr. 14, 53 115 Bonn; Büro Berlin: Postfach 40147, 10061 Berlin. Bankverbindung: Santander Bank IBAN: DE26 5003 3300 1028 1717 00, BIC: SCFBDE33XXX. Preise: Einzelheft 11 Euro, im Abonnement jährlich 93,60 Euro (ermäßigt 74,40 Euro). Alle Preise inklusive Versandkosten. Auslandszuschläge auf Anfrage. Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, sofern es nicht sechs Wochen vor Ablauf des Bezugszeitraums beim Verlag schriftlich gekündigt wurde. Das Register des laufenden Jahrgangs erscheint zeitgleich mit der Dezemberausgabe auf www.blaetter.de. Heft 2/2023 wird am 2.2.2023 ausgeliefert. © Blätter für deutsche und internationale Politik. ISSN 0006-4416. G 1800 E

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Autorinnen und Autoren 1/2023 Thomas Assheuer, geb. 1955 in Neheim-Hüsten, Germanist, freier Autor und davor Redakteur im Feuilleton der Wochenzeitung „Die Zeit“. Ulrike Baureithel, geb. 1957 in Freiburg, Literaturwissenschaftlerin, freie Journalistin, Mitbegründerin der Wochenzeitung „Der Freitag“. Manfred Clemenz, geb. 1938 in Stuttgart, Dr. phil., Professor em. für Soziologie und Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt a. M.

KRISEN OHNE ENDE. RETTET SICH, WER KANN? GLOBALE SOLIDARITÄT IST FÜR UNS WEG UND ZIEL ZUGLEICH.

Annette Dittert, geb. 1962 in Köln, Auslandskorrespondentin und Filmemacherin, Leiterin des ARD-Studios in London.

Herfried Münkler, geb. 1951 in Friedberg/Taunus, Dr. phil., Professor em. für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Maike Rademaker, geb. 1963 in Lank, Volkswirtin, freie Journalistin. Nikolaj Schultz, geb. 1990 in Aarhus, Soziologe und PhD Fellow an der Universität Kopenhagen. Stefan Schulz, geb. 1983 in Jena, Soziologe, Journalist, Publizist und Podcaster.

Achim Engelberg, geb. 1965 in Berlin, Dr. phil., Historiker, Journalist und Buchautor.

Harald Schumann, geb. 1957 in Kassel, Buchautor und Redakteur beim „Tagesspiegel“.

Max Goldenbaum, geb. 1993 in Berlin, Politikwissenschaftler, Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin.

Elisa Simantke, geb. 1986 in Köln, Journalistin beim „Tagesspiegel“, Editorial Director des europäischen Rechercheverbunds „Investigate Europe“.

Susanne Götze, geb. 1980 in Berlin, Dr. phil., Historikerin, Buchautorin sowie Redakteurin im Hauptstadtbüro des „Spiegel“. Troels Heeger, geb. 1977 in Kopenhagen, Literaturwissenschaftler, Journalist bei „Berlingske Opinion“. Fabian Kretschmer, geb. 1986 in Berlin, Kommunikationswissenschaftler, China-Korrespondent der „taz“ mit Sitz in Peking. Jan Kursko, geb. 1967 in Hildesheim, freier Journalist in Berlin. Bruno Latour, geb. 1947 in Beaune/ Frankreich, gest. 2022 in Paris, Soziologe und Philosoph, war Professor an der Sciences Po in Paris.

VERBINDEN SIE SICH. WWW.MEDICO.DE/VERBINDEN

Matthias Meisner, geboren 1961 in Frankfurt a. M., freier Journalist und Buchautor.

Albrecht von Lucke, geb. 1967, in Ingelheim am Rhein, Jurist und Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur.

Anita Starosta, geb. 1985 in Düsseldorf, Historikerin, Referentin für Syrien, Türkei und Irak bei medico international. Marianne Zepp, geb. 1952 in Rockenhausen, Dr. phil., Historikerin, bis 2016 Programmkoordinatorin für deutschisraelischen Dialog im Israelbüro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv.

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