Die Blätter für deutsche und internationale Politik [7 / 2023, 7 ed.]

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Die Blätter für deutsche und internationale Politik [7 / 2023, 7 ed.]

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Blätter

7’23

Einzelheft 11 € Im Abo 7,80/6,20 €

Blätter für deutsche und internationale Politik

Kein Frieden ohne Gerechtigkeit Oleksandra Matwijtschuk Provoziertes Russland? Reinhard Wolf

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Hitze-Hotspot Deutschland Uwe Ritzer Iran: Repression und Hoffnung Golineh Atai

Erdog˘ an: Triumph der Schwäche Jürgen Gottschlich »Festung Europa«: Was die Mauern mit uns machen Volker M. Heins und Frank Wolff Das Dilemma der Grünen Stefan Grönebaum USA: Die rechte Bücherverbannung Annika Brockschmidt

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Autorinnen und Autoren 7/2023

1 Bus. 1 Netzwerk. 1–2 x Berlin–Lviv–Berlin im Monat

Golineh Atai, geb. 1974 in Teheran/ Iran, Auslandskorrespondentin und Publizistin, Leiterin des ZDF-Studios in Kairo/ Ägypten. Ulrike Baureithel, geb. 1957 in Freiburg, Literaturwissenschaftlerin, freie Journalistin, Mitbegründerin der Wochenzeitung „Der Freitag“.

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Daniel Bax, geb. 1970 in Blumenau/ Brasilien, Journalist und Autor, Pressesprecher des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Anja Bensinger-Stolze, geb. 1963 in Otterndorf, Lehrerin, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Annika Brockschmidt, geb. 1992 in Berlin, Historikerin, freie Journalistin, Autorin und Podcast-Produzentin. Olga Bubich, geb. 1980 in Minsk/Belarus, Journalistin, Fotografin, Dozentin und Kuratorin, lebt seit 2021 im Exil in Berlin. Hannah El-Hitami, geb. 1991 in Nürnberg, Politikwissenschaftlerin und Arabistin, freie Journalistin in Berlin mit Schwerpunkt arabische Welt, Migration und Völkerstrafrecht. Achim Engelberg, geb. 1965 in Berlin, Dr. phil., Historiker, Journalist und Buchautor.

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Jürgen Gottschlich,geb. 1954 in Herne, Journalist, lebt in Istanbul. Stefan Grönebaum, geb. 1962 in Düsseldorf, Historiker, Referatsleiter im Wirtschaftsministerium von NordrheinWestfalen. Volker M. Heins, geb. 1957 in Braunschweig, Dr. phil., Permanent Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, Apl. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg Essen.

Albrecht von Lucke, geb. 1967 in Ingelheim am Rhein, Jurist und Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Oleksandra Matwijtschuk, geb. 1983 in Bojarka/Ukraine, Juristin und Menschenrechtlerin, Vorsitzende des 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Center for Civil Liberties. Robert Misik, geb. 1966 in Wien, Publizist und Autor, schreibt u.a. für „Die Zeit“, „Falter“ und „Der Freitag“. Uwe Ritzer, geb. 1965 in Franken, Journalist und Publizist, Wirtschaftskorrespondent und Investigativ-Reporter der „Süddeutschen Zeitung“. Fabian Scheidler, geb. 1968 in Bochum, Autor und Dramaturg, Mitbegründer des Fernsehmagazins „Kontext TV“. Simone Schlindwein, geb. 1980 in Baden-Baden, Historikerin und Politikwissenschaftlerin, Afrika-Korrespondentin der „tageszeitung“ in der Region der Großen Seen, lebt in Uganda. Leena Simon, geb. 1984, Philosophin und Netzpolitologin sowie IT-Beraterin für den Verein Digitalcourage. Rena Tangens, Künstlerin, Datenschutzaktivistin und Netzpionierin, Gründerin des Vereins Digitalcourage, seit 2000 in der Jury der BigBrotherAwards. Frank Wolff, geb. 1977, Dr. phil. habil., Historiker, wiss. Mitarbeiter am Historischen Seminar und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Uni Osnabrück. Reinhard Wolf, geb. 1960 in München, Dr. phil., Professor für Internationale Beziehungen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Kathrin Zeiske, geb. in Bonn, Politikwissenschaftlerin, berichtet als freie Journalistin aus Mexiko.

Blätter für deutsche und internationale Politik

Monatszeitschrift 68. Jahrgang Heft 7/2023 Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Peter Bofinger . Ulrich Brand Micha Brumlik . Dan Diner Jürgen Habermas . Detlef Hensche Rudolf Hickel . Claus Leggewie Ingeborg Maus . Klaus Naumann Jens Reich . Rainer Rilling Irene Runge . Saskia Sassen Karen Schönwälder . Friedrich Schorlemmer Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin

INHALT 7’23

KOMMENTARE

5 Die Wutbürger-Republik oder: Alle spielen für die AfD Albrecht von Lucke 9 Österreichs Sozialdemokraten: Der Triumph des Underdogs Robert Misik 13 Mit dem Doppelpass gegen Erdogan? ˘ Daniel Bax 17 Pflege: Desaster ohne Ende? Ulrike Baureithel 21 Vernachlässigte Grundschulen: Katastrophe mit Ansage Anja Bensinger-Stolze

REDAKTION Anne Britt Arps Albrecht von Lucke Annett Mängel Steffen Vogel ONLINE-REDAKTION Tessa Penzel BESTELLSERVICE Tel: 030 / 3088 - 3644 E-Mail: [email protected] WEBSITE www.blaetter.de

Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2023

25 Gegen den Digitalzwang: Das Recht auf analoges Leben Leena Simon, Rena Tangens 29 Al-Sisis Ägypten: Gegründet auf einem Massaker Hannah El-Hitami 33 Queer in Uganda: Backlash für die Menschenrechte Simone Schlindwein DEBATTE

37 Ukraine: Warum Verhandlun gen unabdingbar sind Fabian Scheidler

ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

43 Hitze-Hotspot Deutschland Warum das Wasser immer knapper wird und was wir dagegen tun müssen Uwe Ritzer 55 Das Dilemma der Grünen und die blockierte Republik Stefan Grönebaum 62 »Festung Europa« oder: Was die Mauern mit uns machen Volker M. Heins und Frank Wolff 71 Kein Frieden ohne Gerechtigkeit Plädoyer für ein zukunftsfähiges Europa Oleksandra Matwijtschuk 79 Bedroht, getäuscht und provoziert? Russlands Krieg und der Westen Reinhard Wolf 93 Ein Triumph der Schwäche: Erdo˘gans letzter Sieg Jürgen Gottschlich 99 Zwischen Repression und Hoffnung: Die iranische Revolte Golineh Atai 113 Hass, Hetze, Gewalt: Mexiko als Vorposten der Abschottung Kathrin Zeiske 119 Verbannte Bücher: Der Kulturkampf der US-Rechten Annika Brockschmidt

KOLUMNE

90 Die Verschwundenen von Belarus Olga Bubich BUCH DES MONATS

125 Geronnene Lava Reinhart Koselleck EXTRAS

41 112 128

Kurzgefasst Dokumente Zurückgeblättert, Impressum, Autoren und Autorinnen

Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2023

Wolfgang Abendroth

Nancy Fraser

Paul Kennedy

Jan M. Piskorski

Elmar Altvater

Norbert Frei

Navid Kermani

Samantha Power

Samir Amin

Thomas L. Friedman

Ian Kershaw

Heribert Prantl

Katajun Amirpur

Erich Fromm

Parag Khanna

Ulrich K. Preuß

Günther Anders

Georg Fülberth

Michael T. Klare

Karin Priester

Franziska Augstein

James K. Galbraith

Naomi Klein

Avi Primor

Uri Avnery

Heinz Galinski

Alexander Kluge

Tariq Ramadan

Susanne Baer

Johan Galtung

Jürgen Kocka

Uta Ranke-Heinemann

Patrick Bahners

Timothy Garton Ash

Eugen Kogon

Jan Philipp Reemtsma

Egon Bahr

Bettina Gaus

Otto Köhler

Jens G. Reich

Etienne Balibar

Günter Gaus

Walter Kreck

Helmut Ridder

Ekkehart Krippendorff

Rainer Rilling

Paul Krugman

Romani Rose

Adam Krzeminski

Rossana Rossandra

Erich Kuby

Werner Rügemer

Jürgen Kuczynski

Irene Runge

Charles A. Kupchan

Bertrand Russell

Ingrid Kurz-Scherf

Yoshikazu Sakamoto

In den »Blättern« schrieben bisher Wolf Graf Baudissin

Heiner Geißler

Oskar Lafontaine

Saskia Sassen

Fritz Bauer

Susan George

Claus Leggewie

Albert Scharenberg

Yehuda Bauer

Jayati Ghosh

Gideon Levy

Fritz W. Scharpf

Ulrich Beck

Sven Giegold

Hans Leyendecker

Hermann Scheer

Seyla Benhabib

Peter Glotz

Jutta Limbach

Robert Scholl

Homi K. Bhabha

Daniel J. Goldhagen

Birgit Mahnkopf

Karen Schönwälder

Norman Birnbaum

Helmut Gollwitzer

Peter Marcuse

Friedrich Schorlemmer

Ernst Bloch

André Gorz

Mohssen Massarrat

Harald Schumann

Norberto Bobbio

Glenn Greenwald

Ingeborg Maus

Gesine Schwan

E.-W. Böckenförde

Propst Heinrich Grüber

Bill McKibben

Dieter Senghaas

Thilo Bode

Jürgen Habermas

Ulrike Meinhof

Richard Sennett

Bärbel Bohley

Sebastian Haffner

Manfred Messerschmidt

Vandana Shiva

Heinrich Böll

Stuart Hall

Bascha Mika

Alfred Sohn-Rethel

Pierre Bourdieu

H. Hamm-Brücher

Pankaj Mishra

Kurt Sontheimer

Ulrich Brand

Heinrich Hannover

Robert Misik

Wole Soyinka

Karl D. Bredthauer

David Harvey

Hans Mommsen

Nicolas Stern

Micha Brumlik

Amira Hass

Wolfgang J. Mommsen

Joseph Stiglitz

Nicholas Carr

Christoph Hein

Albrecht Müller

Gerhard Stuby

Noam Chomsky

Friedhelm Hengsbach

Herfried Münkler

Emmanuel Todd

Daniela Dahn

Detlef Hensche

Adolf Muschg

Alain Touraine

Ralf Dahrendorf

Hartmut von Hentig

Gunnar Myrdal

Jürgen Trittin

György Dalos

Ulrich Herbert

Wolf-Dieter Narr

Hans-Jürgen Urban

Mike Davis

Seymour M. Hersh

Klaus Naumann

Gore Vidal

Alex Demirovic

Hermann Hesse

Antonio Negri

Immanuel Wallerstein

Dan Diner

Rudolf Hickel

Oskar Negt

Franz Walter

Walter Dirks

Eric Hobsbawm

Kurt Nelhiebel

Hans-Ulrich Wehler

Rudi Dutschke

Axel Honneth

Oswald v. Nell-Breuning

Ernst U. von Weizsäcker

Daniel Ellsberg

Jörg Huffschmid

Rupert Neudeck

Harald Welzer

Wolfgang Engler

Walter Jens

Martin Niemöller

Charlotte Wiedemann

Hans-M. Enzensberger

Hans Joas

Bahman Nirumand

Rosemarie Will

Erhard Eppler

Tony Judt

Claus Offe

Naomi Wolf

Gøsta Esping-Andersen

Lamya Kaddor

Reinhard Opitz

Jean Ziegler

Iring Fetscher

Robert Kagan

Valentino Parlato

Moshe Zimmermann

Joschka Fischer

Petra Kelly

Volker Perthes

Moshe Zuckermann

Heiner Flassbeck

Robert M. W. Kempner

William Pfaff

Ernst Fraenkel

George F. Kennan

Thomas Piketty

Blätter für deutsche und internationale Politik X/2023

...und viele andere.

KOMMENTARE

Albrecht von Lucke

Die Wutbürger-Republik oder: Alle spielen für die AfD SPD 18, AFD 18: Als Anfang Juni die Prozentzahlen des jüngsten ARDDeutschlandtrends publik wurden, war der Aufschrei gewaltig. Und tatsächlich muss es aufhorchen lassen, wenn die Kanzlerpartei, die soeben ihren 160. Geburtstag gefeiert hat, gleichauf liegt mit einer rechten Truppe, die vor gerade einmal zehn Jahren gegründet und seither immer radikaler, ja sogar in Teilen extremistisch geworden ist. Im politischen Berlin ist seither ein bemerkenswertes Schauspiel zu beobachten: Regierung und Opposition schieben sich im Wechselspiel den Schwarzen Peter zu – und tun damit faktisch alles, um der AfD zu neuen Höchstwerten zu verhelfen. Was die Regierung betrifft, liegt ihre Verantwortung auf der Hand. Populisten und Antidemokraten wachsen nur unter zwei Voraussetzungen: erstens einer realen Krisenlage und zweitens einer demokratischen Regierung, die zur Lösung der Probleme offensichtlich nicht in der Lage ist. Beide Voraussetzungen sind derzeit im Übermaß erfüllt. Wir erleben Krisen in einer Häufung, wie sie die Bundesrepublik bisher noch nicht kannte: einen Krieg in der Ukraine, die sich verschärfende Klimakrise, daneben massive Inflation und schließlich von steigenden Migrationszahlen überforderte Kommunen, ein klassischer Wachstumstreiber aller Rechtspopulisten, der auch durch die avisierte Verschärfung des Asylrechts auf europäischer Ebene keineswegs beseitigt werden wird. Diese Polykrise trifft auf eine Regierung, die nicht geschlossen, sondern hoch zerstritten auftritt und angesichts

eines lange abgetauchten Bundeskanzlers über keine klare Führung verfügt, obwohl gerade das von tendenziell autoritären Charakteren, die den wesentlichen Teil der AfD-Wählerschaft ausmachen, erwartet wird. Insofern ist die Krise der Regierung ein echtes Wachstumsprogramm für ihre Gegner. Das allerdings erklärt noch nicht, warum nicht primär CDU und CSU als die klassische Opposition von der Schwäche der Ampel profitieren. Zur Erinnerung: Die „Alternative für Deutschland“ wurde 2013 gegründet als eine Anti-Partei gegen die scheinbar endlose Merkel-Ära. Es war vor allem die faktische Alternativlosigkeit der Merkel-Union auf konservativer Seite, die damals für den Aufstieg der AfD sorgte. Der Scheitelpunkt schien vor exakt fünf Jahren erreicht, als die AfD angesichts blockierter Konservativer – auf dem Höhepunkt des Streits zwischen Seehofer/Söder-CSU und Merkel-CDU in der Fluchtfrage – schon einmal 18 Prozent erreichen konnte. Insofern gibt es einen entscheidenden Unterschied zur Lage von 2018: Damals gab es keine konservative Alternative in der Opposition, war die AfD tatsächlich alternativlos als rechts-konservativer Protest gegen die Regierung. Daher wäre es nun die originäre Aufgabe der Union, auch nach ihrem Selbstverständnis, einen Teil der AfD-Sympathisanten wieder in das klassische, bürgerlich-konservativ Lager zu integrieren, wie es der Union in der gesamten Geschichte der alten Bundesrepublik geglückt war. Doch davon kann aktuell keine Rede sein. Das alte Prinzip der kommunizie-

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6 Kommentare renden Röhren – verliert die SPD, dann gewinnt die Union – ist offensichtlich außer Kraft gesetzt. Die Repräsentationslücke auf der rechten Seite des Parteienspektrums, die sich in der Merkel-Ära aufgetan hat, wird derzeit eher größer als kleiner. Denn während die AfD wächst, stagniert die Merz-Union. Die knapp 30 Prozent, die sie in Umfragen erzielt, sind angesichts der desaströsen Lage der Regierung ein ausgesprochen schwaches Ergebnis. Die Union scheint weiter denn je davon entfernt, die Wählerschaft der AfD „zu halbieren“, wie es Friedrich Merz vor wenigen Jahren versprochen hatte. Und seine denkbar schwachen persönlichen Umfragewerte sind dabei auch nicht hilfreich. Bisher hat speziell der CDU-Chef kein Rezept gegen die AfD gefunden. Umso mehr nimmt die Unruhe in der Union zu, was wiederum zu erheblichen Fehlern führt, die sich als regelrechte Wachstumsspritzen für die AfD erweisen. Insbesondere Merz‘ Satz „Mit jeder gegenderten Nachrichtensendung gehen ein paar hundert Stimmen mehr zur AfD“ lässt die Rechtspopulisten jubilieren und zugleich alle anderen massiv am strategischen Vermögen des CDU-Chefs zweifeln. Eine bessere Wahlempfehlung für die AfD – im Sinne einer selffulfillig prophecy – kann es kaum geben, bezeichnet Merz damit doch implizit die AfD als den originären Gegenpart der doch auch von seinen eigenen Strategen so stark angeprangerten angeblichen „Wokeness“Dominanz im Lande.1 Nicht weniger fatal: Wenn Merz von einem dem normalen Leben der Menschen abgehobenen „Justemilieu“ der Berliner Regierungsparteien spricht, ist das eine Steilvorlage für die AfD, die mit Genuss darauf hinweist, dass die Union ja ihrerseits in zahllosen Bundesländern gemeinsam mit den Grünen regiert – und dies nach der letzten 1 Albrecht von Lucke, Ukrainekrieg und Klimakrise: Die geschürte Polarisierung, in: „Blätter“, 1/2023, S. 7-10, hier: S. 9 f.

Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2023

Bundestagswahl ja auch landesweit tun wollte. Insofern steckt in der Fundamentalkritik des politischen Gegners stets auch die Kritik der eigenen Politik. Zugleich bestärkt es das Kernargument der Rechtspopulisten, wonach wir es mit einer Krise des gesamten Partei-Establishments zu tun hätten. Und für diese stehen letztlich alle etablierten Parteien, die Ampel-Grünen sowieso, aber auch die im Osten an Regierungen beteiligte Linkspartei. Die einzigen, die grundsätzlich dagegen sein können, sind die AfD und – möglicherweise in naher Zukunft – eine ebenfalls populistisch agierende Wagenknecht-Partei. Anders als die Regierungsparteien profitieren sie davon, dass sie für kein Versagen haftbar gemacht werden können. Getreu der Devise: Nur wer nichts macht, macht keine Fehler. Jargon der Demokratie-Verachtung Parallel zur Ratlosigkeit der anderen Parteien artikuliert sich daher ein neues Selbstbewusstsein der Rechtspopulisten. Denn sie, wie auch ihre Anhänger, haben längst begriffen: AfD wirkt, so oder so. Die Partei muss gar nicht regieren, denn sie bestimmt auch so den angstgetriebenen Kurs der anderen. Zudem muss man der Partei konzedieren, dass sie aus ihrer Krise der letzten Jahre gelernt hat. Seit dem Abgang von Jörg Meuthen gibt sie sich, zumindest in der Öffentlichkeit, nicht mehr zerstritten. Und obwohl sie heute radikaler ist als je zuvor, tritt Björn Höcke als der heimliche Parteiführer kaum in Erscheinung, sondern lässt die beiden schwachen Parteivorsitzenden Tino Chrupalla und Alice Weidel agieren. Selbst die enorm hohen Umfragewerte werden bewusst nicht triumphalistisch kommentiert, um auf diese Weise zu verhindern, dass extreme Meinungen besonders augenfällig werden und sich dadurch die Öffentlichkeit gegen die Partei richten könnte. Die Strategie ist

klar: Man hält sich selbst zurück und lässt stattdessen lieber andere für die AfD agieren. Und diese tun ihr leider allzu gerne den Gefallen. Denn längst hat sich auch in den angeblich bürgerlichen Parteien ein Jargon der Regierungs-, ja sogar der Demokratie-Verachtung etabliert, der das eigentliche Kernargument jedes Populisten bekräftigt, wonach nur er „Volkes Meinung“ gegen „die da oben“ vertritt, es sich also letztlich um eine Form autoritärer Herrschaft oder gar Diktatur der politischen Klasse handelt. Wenn etwa Thüringens CDU-Chef Mario Voigt das geplante Heizungsgesetz als „Energie-Stasi“ anprangert, relativiert er nicht „nur“ die DDR-Diktatur, sondern er bedient exakt die Narrative der AfD – und macht damit die Partei wählbar und gesellschaftsfähig. Die Relativierung der Diktatur Noch fataler – und zugleich absurder – ist es, wenn der stellvertretende bayerische Ministerpräsident Hubert Aiwanger auf einer Versammlung vor nicht zuletzt AfD-Sympathisanten und Querdenkern davon schwadroniert, dass der Punkt erreicht sei, „an dem sich die schweigende große Mehrheit die Demokratie wieder zurückholen muss“, und anschließend im besten Gossenslang in Richtung Berlin pöbelt: „Ihr habt‘s wohl den Arsch offen da oben!“ Das ist originärer AfD-Ton aus dem Munde eines Regierenden, der damit verschwörungsideologisch raunt, es gebe keine Demokratie mehr in Deutschland. Offensichtlich will Aiwanger damit die bereits angekündigte bundesweite Ausdehnung seiner „Freien Wähler“ für die Bundestagswahl 2025 pushen – faktisch aber spielt er damit dem rechtspopulistischen Original direkt in die Hände. Inzwischen liegt die AfD in Bayern denn auch bei zwölf Prozent, dem zweithöchsten Wert in den westdeutschen Ländern, Tendenz weiter steigend.

Kommentare

7

Gefüttert wird diese permanente Verschiebung der Grenzen des Denk- und Sagbaren durch eine immer aggressivere Wutbürgerstimmung in einem Teil der Medien, insbesondere des Boulevards, wo ehemalige Protagonisten des öffentlichen Rundfunks wie Peter Hahne und Wolfgang Herles ungehemmt ihren Ressentiments gegen die etablierten Parteien freien Lauf lassen. Auf diese Weise erleben wir eine regelrechte Verschmelzung der Wutbürger in Gesellschaft, Parteien und Medien, die bis in die vermeintlich seriöse Parteiendemoskopie ausstrahlt: „Wenn eine kleine elitäre Minderheit der oberen Bildungs- und Einkommensschichten der Gesellschaft der großen Mehrheit der Andersdenkenden ihre Werte durch Belehrungen oder Verbote aufzwingt, kann das wohl als eine Art Diktatur gewertet werden“, so der (wenigstens umstrittene) Forsa-Chef Manfred Güllner im Interview mit der „Welt“.2 Wenn in derartig leichtfertiger Weise der Diktatur-Begriff nivelliert wird, bleibt am Ende eigentlich nur noch die Möglichkeit, sich für die AfD als die einzige – jedenfalls entschiedenste – Gegnerin des vermeintlichen Meinungsdiktats des Partei-Establishments zu entscheiden. Folgerichtig verfügt die AfD inzwischen auch über erste Ansätze einer intellektuellen Anhängerschaft, etwa den ostdeutschen Schriftsteller Uwe Tellkamp („Der Turm“). In einem Interview mit dem ehemaligen „Bild“-Journalisten Ralf Schuler – der selbst so einschlägige Titel veröffentlicht wie „Lasst uns Populisten sein. Zehn Thesen für eine neue Streitkultur“ oder „Generation Gleichschritt“ – spricht er faktisch eine Wahlempfehlung für die AfD aus: „Wenn sie nicht damit einverstanden sind, was derzeit an Hauptpolitik gemacht wird, dann bleibt ihnen als Wähler fast nur noch diese Alternative übrig. 2 Frederik Schindler, „Elitäre Minderheit zwingt Mehrheit ihre Werte auf“, in: „Die Welt“, 12.6.2023.

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8 Kommentare Wenn sie nicht wollen, dass gegendert wird, wenn sie nicht wollen, dass Migration weiter so läuft, wie bisher oder noch schlimmer, dann haben sie fast keine andere Option mehr.“3 Was hilft gegen die AfD? Letztlich fällt schon mit der Übernahme der AfD-Rhetorik eine wichtige Brandmauer gegen rechts. Dass bei diesem Überbietungswettbewerb der bürgerlichen Konkurrenz nur die AfD gewinnen kann, ist offensichtlich. Sie spielt mit den anderen Parteien Katz und Maus, oder genauer: Hase und Igel. Kloppen CDU, CSU und Co. auf die Grünen ein, ist die AfD immer schon einen Schritt weiter. Jüngstes Beispiel: Während sich CDU/CSU und Freie Wähler noch am Heizungsgesetz abarbeiten, fordert die AfD bereits den Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen. Hier, am Beispiel des Klimawandels, zeigt sich jedoch auch die weiche Flanke der AfD: Faktisch entzieht sie sich jeglicher Anforderung der Gegenwart, indem sie sie radikal verdrängt. Zweites Beispiel Migration: Die AfD gibt keinerlei Antwort auf die Frage, wie wir die Krise des Arbeitsmarktes lösen wollen. Woher sollen die 400 000 Menschen kommen, die wir jährlich brauchen, um die demographische Lücke zu schließen, die mit dem Abgang der Baby-Boomer entsteht?4 Kurzum: Die AfD beantwortet alle großen Fragen schlicht mit der Flucht aus bzw. vor der Realität. Damit bedient sie eine immense Sehnsucht nach dem Zurück in die vermeintlich „gute alte Zeit“, als die Welt noch sicher und überschaubar war und man von den Zumutungen der Globalisierung verschont blieb. Insofern kann die einzig sinnvolle Auseinandersetzung nur daran bestehen, sie an den konkreten Herausforderun3 Uwe Tellkamp bei „Schuler! Fragen, was ist“, 10.6.2023, www.youtube.com. 4 Stefan Schulz, Die Boomer und der Altenboom, in: „Blätter“, 1/2023, S. 93-103.

Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2023

gen zu messen und die inhaltliche Leere ihrer Antworten zu entlarven. Zugleich kommt es darauf an, deutlich zu machen, wohin die Reise mit Höcke gehen soll. Der erfolgreichen Strategie vieler europäischer Rechtspopulisten folgend, etwa jüngst der Schwedendemokraten, will Höcke von der lokalen Basis aus das Land erobern. Deshalb hat die AfD die Landratswahl im Kreis Sonneberg zur Chefsache erklärt, um mit einem Sieg ein – O-Ton Höcke – „Beben“ auszulösen, das weit über den Landkreis hinausreicht. Das eigentliche Ziel sind die Thüringer Landtagswahlen im Herbst 2024, bei denen die AfD unbedingt stärkste Partei werden will, um damit das zweite Beben auszulösen, getreu der Devise: First we take Sonneberg, second Erfurt – and then we take Berlin. Alles in der Erwartung, dass irgendwann die anderen Parteien so sehr geschwächt sind, dass dann die Forderung unüberhörbar wird, es jetzt doch endlich einmal mit den Rechtspopulisten zu versuchen – wie längst in weiten Teilen Europas, nicht nur in Schweden, sondern auch in Österreich oder zuerst in Italien, mit Berlusconis „Forza Italia“ als Avantgarde, und vielleicht schon bald auch in Spanien. Eigentlich hat Höcke selbst längst klar gemacht, wohin das letztlich alles führen soll. Auf einer Wahlkampfveranstaltung der Partei am 29. Mai 2021 in Merseburg machte er am Ende seiner Rede vor rund 250 Zuhörern sehr deutlich, was er unter AfD versteht, nämlich „Alles für Deutschland“ – die heute verbotene Losung der SA (weshalb auch eine Anzeige gegen ihn anhängig ist). Mehr an Bekenntnis zu den rechtsextremen Traditionen, inklusive gezieltem Gruß an die Gesinnungsgenossen, geht kaum. Und so sehr momentan viele andere das Ihrige dazu beitragen, den Begriff der Diktatur zu verharmlosen: Im Fall des Geschichtslehrers Höcke sollte man unbedingt davon ausgehen, dass er ganz genau weiß, was er damit sagt – und was er damit letztlich will.



Kommentare

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Robert Misik

Österreichs Sozialdemokraten: Der Triumph des Underdogs Es ist der 4. Juni 2023, 15 Uhr, und nach wilden Wochen kommt „der Andi“, wie ihn das ganze Land längst nennt, langsam zur Ruhe. Es ist jetzt 24 Stunden nach Andreas Bablers größtem Triumph – von dem in diesem Augenblick allerdings noch niemand etwas ahnt. Und es ist 24 Stunden, bevor das bisherige Leben des Kleinstadt-Bürgermeisters endgültig zu Ende geht. „Mich hat gestern niemand trösten müssen“, lacht er aufgeräumt, als ich ihn am Mobiltelefon erreiche. „Wir haben eine unglaubliche Kampagne zustande gebracht, wir haben in der Stichwahl so viele Delegierte auf unsere Seite gezogen, die Parteitagsrede hat gut funktioniert, mehr hätte man nicht drehen können“, sagt der Mann, der erst vor drei Monaten als UnderdogKandidat und Verkörperung einer idealistischen Basisbewegung in den Wettbewerb um den SPÖ-Vorsitz eingestiegen war, mit seiner GrassrootsKampagne für eine Eintrittswelle von Tausenden neuen Parteimitgliedern gesorgt und eben erst in der Stichwahl mit 47 zu 53 Prozent knapp gegen seinen Konkurrenten, den Favoriten Hans Peter Doskozil, verloren hatte. Doch nur dem Anschein nach: Denn beim Parteikonvent am Tag davor war noch viel Außerordentlicheres geschehen, als sowieso schon an Außerordentlichem sichtbar geworden war. Babler hatte mit seiner leidenschaftlichen Rede vor den Delegierten nicht nur den Saal gerockt und am Ende auch wichtige Teile der Spitzenfunktionäre auf seine Seite gezogen – er hatte sogar gewonnen. Nur hatte sich die Wahlkommission in einem irren Ad-

ditionsdesaster einfach verzählt: Die Vorsitzende der Wahlkommission, Michaela Grubesa, hatte mit einem Mitarbeiter der Geschäftsstelle die Ergebnisse der einzelnen Wahlurnen einfach falsch in eine Exceltabelle eingegeben. Und die 18 anderen Mitglieder der Kommission hatten zwar die ihnen zugewiesenen Urnen richtig ausgezählt, sich dann aber nicht mehr um die Kontrolle der Addition geschert. Und da auch keine zweite Zählung zur Sicherheit erfolgte, wurde am Parteitag der falsche Kandidat zum Sieger ausgerufen. Was für eine Blamage für die SPÖ – und was hätte dieser Wahltag doch für ein Aufbruchssignal sein können, wenn er nicht ausgerechnet so geendet hätte. Doskozil konnte sich zwei Tage als Parteichef fühlen und musste dann mit der Enttäuschung zurande kommen, dass alles nur ein Irrtum war. Babler aber wurde um den emotionalen Moment des Sieges gebracht – um die Bilder, um das Momentum und um den Rückenwind, den all das bedeutet hätte. Es wäre eine Art Märchenstunde gewesen: der Outsider, der den Apparat aufrollt, der David, der den Goliath besiegt. Stattdessen wurde es ein Fiasko! Nun muss Babler eine Partei im Schockzustand übernehmen, die es erst einmal mental aufzubauen gilt. „Das Comeback der Sozialdemokratie beginnt jetzt“, sagte Babler denn auch trotzig bei der Pressekonferenz am Tag darauf, in einer Art nachträglicher Siegesrede. Andererseits ist dieses Ende, bei dem der Gewinner beinahe auf bizarre Weise um seinen Sieg betrogen wor-

Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2023

10 Kommentare den war, symptomatisch für die Monate und Jahre der Selbstbeschäftigung und Selbstbeschädigung der SPÖ. Die bisherige Parteivorsitzende, Pamela Rendi-Wagner, war von ihrem innerparteilichen Gegenspieler, Hans Peter Doskozil, stetig gemobbt worden. Deshalb hatte sie nach einer Reihe von Niederlagen bei Landtagswahlen auf ein Duell und eine Entscheidung gedrängt. Doskozil wiederum setzte daraufhin durch, dass die Partei die Vorsitzfrage erstmals in einer Mitgliederbefragung klärt. Eine anschließende Stichwahl durch die Mitglieder – falls niemand eine klare Mehrheit bekäme – wurde damals nicht als notwendig angesehen; schließlich gingen die Hauptrivalen ja davon aus, die Sache unter zweien auszumachen. Bis erste andere Funktionäre den Hut in den Ring warfen und schließlich auch Andreas Babler. So stolperte man in ein Prozedere, ohne dass die Parteigranden dafür einen Plan hatten. Nichtsdestotrotz entspann sich in den Wochen des Wettbewerbs eine letztlich sehr grundsätzliche Debatte, eine Debatte nämlich um die zentralen Schlüsselfragen der zeitgenössischen Linken. Im Angesicht des Rechtspopulismus Die Führungsdebatte erfolgte vor dem Hintergrund des rasanten Aufstiegs des rechten Populismus, ja Extremismus – auch und besonders in Österreich. Das Land befindet sich in einer schweren politischen Krise, die Staatsanwaltschaften ermitteln gegen die Hälfte der rechtskonservativen Kamarilla, den Boulevard und sonstige „Stützen der Gesellschaft“, während die zunehmend rechtsextreme FPÖ in Umfragen klar an der Spitze liegt. Die Konservativen sind dennoch bereit, selbst mit den radikalsten Scharfmachern der extremen Rechten zu koalieren. Österreich ist auf einer schiefen Ebene und bei den nächsten Natio-

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nalratswahlen droht das Gespenst der „Orbanisierung“. Die Sozialdemokratie hätte damit die historische Aufgabe, wieder einmal Bollwerk für Modernität, Liberalität und Demokratie zu sein. Doch bundesweit dümpelte die Partei zuletzt vor sich hin. Von der Krise der Regierung profitieren primär die rechten Extremisten. Der innerparteiliche Führungswettbewerb der SPÖ war daher auch ein Kampf um den zeitgemäßen Kurs, die Ausrichtung und die Identität der Sozialdemokratie, und es kamen die schmerzhaften Konflikte zur Sprache, mit denen viele Mitte-links-Parteien heute kämpfen. Die bisherige Parteichefin RendiWagner stand für eine moderate progressive Linie, linksliberal und modernistisch, verkörperte aber auch so etwas wie eine gemäßigte Mittelschichtssozialdemokratie, der jeder Anflug von Radikalität abgeht. Bei den unteren Mittelschichten und den arbeitenden Klassen verliert die SPÖ denn auch schon seit Jahren an Glaubwürdigkeit. Diese Linie wurde nun klar abgewählt. Die Linie von Andreas Babler ist dagegen: akzentuiert links in ökonomischen und in sozialpolitischen Fragen, in gesellschaftspolitischen und kulturellen Fragen links-progressiv. Von seiner ganzen Ausstrahlung her ist der ehemalige Fabrikarbeiter ein geerdeter Typ, umgänglich und schulterklopfend, der an der Basis als „einer von uns“ angesehen wird. Ein wenig wie ein Bernie Sanders, der gerade vom Fließband kommt – allerdings in einer jüngeren Version. Babler, gerade eben fünfzig geworden, ist allgemein als „der gute Mensch von Traiskirchen“, einer Kleinstadt am Rande Wiens, bekannt. Er ist ein freundlicher, stets zu Scherzen aufgelegter Bursche, der an den Wochenenden gern in Fußballstadien in der Fankurve sitzt und von dem die Leute sagen: „Der ist ein klasser Bursch.“ Und wenn in der legendären Disco U4 mal wieder eine Falco-Nacht

auf dem Programm steht, ist „der Andi“ bis zwei Uhr nachts dabei und singt mit, wenn es heißt: „Ganz Wien ist so herrlich hin, hin, hin.“ Pamela Rendi-Wagners Scheitern Hinzu kommt Bablers praktische, erfolgreiche Erfahrung als Bürgermeister. Seine ganze Vita ist da ein Trumpf: Er kommt aus einer Arbeiterfamilie; aufgewachsen ist er in den sozialen Lebenswelten, die vom berühmten „Semperit“-Autoreifenwerk strukturiert waren. Babler selbst hat Maschinenschlosser gelernt, einige Jahre in Fabriken am Fließband gearbeitet und dann im zweiten Bildungsweg einen akademischen Abschluss in einem PR- und Kommunikationslehrgang nachgeholt. Er hat den Zuspruch der Parteibasis, die sich nicht mehr gehört fühlt; er ist ein Linker, der sich in Menschenrechtsfragen gegen den rechten Mainstream stellt. Auf der Linksrechts-Achse ist er links, auf der nicht minder wichtigen Oben-unten-Achse verkörpert er „unten“ gegen „das Establishment“. Immer wieder beschwört er den sozialdemokratischen Idealismus, bezeichnet die Partei auch als „Protestbewegung“, die sich mit den herrschenden Umständen nicht zufriedengibt und die daher auch Unzufriedene und Wütende gewinnen will – und auch kann. Dass er ein begnadeter Wahlkämpfer ist, hatte er schon in der Vergangenheit immer wieder vorgeführt. Vor sieben Jahren holte Babler in seiner 19 000-Seelen-Kommune sagenhafte 73 Prozent der Stimmen; 2021 verlor er nur unwesentlich und erreichte knapp 72  Prozent. Nun sind 9000 neue Mitglieder praktisch über Nacht wegen Babler der Partei beigetreten, was mitentscheidend für seinen Erfolg war. Dass es überhaupt so weit kommen konnte, dass ein Hoffnungsträger aus der zweiten Reihe der neue Parteivorsitzende wurde, hat viel mit der

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SPÖ-Vorgeschichte zu tun. Seine Vorgängerin Rendi-Wagner wurde 2019 im Spitzenamt installiert, als Verkörperung einer frisch-modernistischen Sozialdemokratie (tatsächlich war sie erst 2017 der Partei beigetreten). Sie konnte aber ihre Autorität nie behaupten, einerseits durch eigene Fehler, andererseits durch Macho-Rivalen, die ihr die Unterstützung versagten. Von Beginn an hatte Rendi-Wagner vor allem einen innerparteilichen Rivalen, der ihr in schöner Regelmäßigkeit öffentlich ans Bein trat, den Expolizisten, früheren Verteidigungsminister und heutigen Landeshauptmann des Burgenlandes, Hans Peter Doskozil. Er favorisiert einen wirtschaftsund sozialpolitischen Linkspopulismus und einen scharfen Rechtskurs in der Migrationspolitik. Doskozil plädierte stets für eine Sozialdemokratie, die mit den berühmten kleinen konkreten Maßnahmen eine Schutzmacht der arbeitenden Klassen darstellt und ansonsten in gesellschaftspolitischen Fragen den traditionalistisch-konservativen Werten der weißen Vorstadtund ländlichen Arbeiterklasse nahe ist. Grob gesagt, steht er für er eine Kombination aus links-etatistischer Ökonomie und beispielsweise einer rigideren Antimigrationspolitik. Also, wenn man so will, eine Links-rechts-Kombination, ähnlich dem Beispiel der dänischen Sozialdemokratie. Die Chance für einen Neuanfang Wer aber steht nun in erster Linie hinter dem neuen Parteivorsitzenden? Und was sind jetzt seine Ziele? Die Unterstützer:innen Bablers sind kritische Parteimitglieder, die der Maxime „Wir holen uns die Partei Victor Adlers zurück“ folgen – Adler war der Begründer der SPÖ –, aber auch Aktivist:innen und Funktionär:innen. Dazu kommt natürlich ein Gutteil der 10 000 dank Babler neu eingetretenen Parteimitglieder.

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12 Kommentare Der Traiskirchner Bürgermeister ist aber nicht nur der Mann der Jungen und Linken, auch regelrechte Parteilegenden hatten zu seiner Wahl aufgerufen, etwa der populäre Exfinanzminister Ferdinand Lacina, der sowohl in den Regierungen unter Bruno Kreisky als auch Franz Vranitzky amtierte, oder auch der SPÖ-Spitzendiplomat Wolfgang Petrisch, seinerzeit Hoher UN-Repräsentant in Bosnien und Herzegowina und dann einer der Chefverhandler in Rambouillet im Vorfeld der Kosovo-Intervention. Am Ende war es eine veritable Woge der Begeisterung, die Babler ins Ziel trug: Wo er hinkam, gab es volle Säle. In Wien musste er eine Rede sogar zweimal halten, einmal für die Teilnehmer:innen im Versammlungssaal, ein zweites Mal für die Hunderten anderen, die nicht mehr in den Saal gepasst hatten. Politik wieder von unten denken „Wir müssen Politik wieder von unten denken“, ist eine von Bablers häufig wiederholten Leitlinien. „Wir werden nicht gewählt, nur weil wir weniger schlimm als die anderen sind“, postuliert er und: „Wir dürfen uns als Sozialdemokratie nicht unsere DNA nehmen lassen, wir sind immer auch Protestbewegung gewesen. Wir kommen aus einer Bewegung, die um Rechte gekämpft hat.“ So will Babler der Partei neues Selbstbewusstsein einimpfen, und trotz der grotesken Turbulenzen um seinen Antritt ist die Ausgangslage dafür gar nicht so schlecht. Mit seiner packenden Parteitagsrede, bei der er den Vorwurf, er sei ein Utopist und naiver Idealist, einfach umdrehte, hat er Pflöcke eingeschlagen: „Träumer, das ist nur ein anderes Wort für Sozialdemokrat. Wir sind die, die aus Träumen Wirklichkeit machen. Auch die Gemeindebauten waren Luftschlösser, bis wir sie gebaut haben. Auch der Achtstundentag war eine Utopie, bis wir ihn erkämpft hatten.“ Die packendsten

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Sequenzen werden mittlerweile hunderttausendfach in den Sozialen Netzwerken geteilt, und nach den Schocktagen rund um das Auszähldebakel geht nun so etwas wie Aufbruchsstimmung durch das Land. Eine neue Beitrittswelle zur SPÖ hat eingesetzt. Jetzt muss der neue Vorsitzende die verschiedenen Gruppen der Partei einen und dennoch nicht zu viele Konzessionen an den Apparat machen, denn er braucht junge, frische Gesichter einer Sozialdemokratie um sich, die Zukunft versprechen. Bablers große Stärke ist es gerade, dass er in der Sprache der „ganz normalen Leute“ spricht und daher glaubwürdig als die Stimme derer auftreten kann, die keine Stimme haben. Schon in den vergangenen Wochen hat sich gezeigt, dass er nicht nur Nichtwähler:innen, sondern auch die Verdrossenen und Protestwähler:innen gewinnen kann, die bisher das Gefühl hatten, dass sich niemand mehr für sie interessiert und dass auch die Sozialdemokratie sie vergessen habe. Gerade bei ihnen ist Bablers schulterklopfende Art und Leutseligkeit ein großer Vorteil. Und die liberalen, modernistischen Mittelschichten kann er ob seiner progressiv-linken Wertehaltungen sowieso leicht gewinnen. Über den Sommer hat Babler schon eine große Basistour angekündigt, die ihn in alle Bezirke der Republik führen soll. Es ist durchaus denkbar, dass er, wenn er die Partei nur halbwegs stabilisiert, in Umfragen in einigen Wochen die 30-Prozent-Marke vor Augen hat. Sein eigentlicher Gegenspieler ist ab jetzt der Anführer der ultrarechten FPÖ, Herbert Kickl, der Held der Wütenden, Zornigen und Extremisten. Der aber hat nun mit Babler, der seinerseits gekonnt die Register eines linken Populisten ziehen kann, erstmals einen Gegner, der der radikalen Rechten auf ihrem eigenen Spielfeld Wähler abknöpfen kann. Es könnte also endlich wieder etwas Hoffnung aufkeimen – für die enttäuschungsgeplagte österreichische Linke.



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Daniel Bax

Mit dem Doppelpass gegen Erdog˘an? Er hat es wieder geschafft: Bei den jüngsten Wahlen in der Türkei im Mai dieses Jahres hat sich der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdog˘an erneut durchgesetzt – trotz Wirtschaftskrise, Inflation und des desaströsen Umgangs seiner Regierung mit den Folgen der verheerenden Erdbeben im Südosten der Türkei. Zwar herrschte vor der zur „Schicksalswahl“ stilisierten Abstimmung durchaus Wechselstimmung. In der jungen Generation und unter den Anhängern der Oppositionsparteien machten sich viele Hoffnungen, ihrem Kandidaten Kemal Kılıçdarog˘lu könnte mit seinem Sechs-ParteienBündnis ein Machtwechsel gelingen. Doch am Ende stimmten in der Stichwahl Ende Mai die türkischen Wählerinnen und Wähler mit 52,2 Prozent wieder mehrheitlich für Erdog˘an und sein Bündnis mit der ultranationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung, MHP – in Deutschland erhielt er sogar über zwei Drittel aller Stimmen (67,2 Prozent), im Konsulat in Essen annähernd 80 Prozent. Nach seinem Sieg kam es in mehreren deutschen Städten zu Jubelfeiern und Autokorsos, bei denen die Anhänger Erdog˘ans dessen Sieg überschwänglich feierten wie nach einem Fußballturnier. Damit wurde Deutschland seinem Ruf als „Erdog˘an-Hochburg“ einmal mehr gerecht. Wie schon bei den vergangenen Wahlen 2015 und 2018 sowie dem Verfassungsreferendum 2017 konnte Erdog˘an auf den Rückhalt seiner hiesigen Anhänger bauen. Und wie bei früheren Wahlen sorgte das bei deutschen Politikern für Kritik. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir von den Grünen, der bekannteste türkeistämmige Politiker hierzulan-

de, sah darin eine „Absage an unsere pluralistische Demokratie“ und befand drohend: „Darüber wird zu reden sein.“ Und Thorsten Frei, Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion, nannte die Jubelfeiern „bedrückend“ und schlug einen Bogen zu den Einbürgerungen, die die Ampelkoalition erleichtern will: Diese Pläne erhöhten „das Risiko, dass mehr Menschen eingebürgert werden, die nicht ausreichend integriert sind“, sagte er.1 Nur die AfD blieb bei dem Thema diesmal seltsam still. Was viele Beobachter dabei jedoch übersehen: Jene „Deutschtürken“, die in der Türkei wählen können, sind nicht repräsentativ für die türkeistämmige Minderheit in Deutschland insgesamt. Das lässt sich schon an den Zahlen ablesen. In Deutschland leben mehr als 2,8 Millionen Menschen, die in der Türkei geboren wurden oder familiäre Bezüge zu diesem Land haben. Mehr als die Hälfte von ihnen, rund 1,5 Millionen, sind eingebürgert. Die Mehrheit dieser eingebürgerten „Deutschtürken“ besitzt nur einen deutschen Pass und kann in der Türkei daher nicht wählen. Lediglich eine Minderheit besitzt sowohl einen türkischen als auch einen deutschen Pass – das Statistische Bundesamt schätzt ihre Zahl auf 290 000 Menschen, darunter Minderjährige. Die Mehrheit jener 1,5 Millionen „Deutschtürken“, die in der Türkei wählen dürfen, besitzt nur den türkischen Pass. Von ihnen hat etwa die Hälfte in hiesigen Konsulaten ihre Stimme abgegeben; die Wahlbeteiligung zur türkischen Präsident1 Union kritisiert Jubelfeiern für Erdog ˘ an, www. zdf.de, 30.5.2023.

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14 Kommentare schaftswahl lag in Deutschland bei rund 49 Prozent.2 Entsprechend muss man die Wahlergebnisse einordnen. Insgesamt haben eine halbe Million türkische Wählerinnen und Wähler in Deutschland für Erdog˘an gestimmt – und damit nur knapp ein Sechstel der rund drei Millionen Menschen hierzulande, die einen türkischen Migrationshintergrund besitzen. Mit anderen Worten: Über 80 Prozent der hier lebenden Menschen mit türkischer Einwanderungsgeschichte haben nicht für Erdog˘an gestimmt. Von „17 Prozent“ Erdog˘an-Wählern spricht auch die Türkische Gemeinde in Deutschland, der größte deutsch-türkische Dachverband, wenn sie ihren Anteil unter den „Deutschtürken“ insgesamt beziffert. Ihr Vorsitzender Gökay Sofuog˘lu warnt davor, ihretwegen wieder eine Integrationsdebatte vom Zaun zu brechen: Gerade dieses ständige Bashing würde Erdog˘an nur die Wähler in die Arme treiben. Tatsächlich sind die Jubelfeiern auf deutschen Straßen vor allem ein Ausdruck von Trotz. Erdog˘ans Wähler wissen genau, was Politik und Medien in Deutschland von ihrem Idol halten – ziemlich wenig. Dagegen halten sie ihm demonstrativ die Treue. Diskriminierung und erlebte Ausgrenzung sind ein Grund, warum sie Erdog˘an unterstützen. Die türkenfeindlichen Kampagnen und Anschläge der 1980er und 1990er Jahre haben in der Community hierzulande bis heute ihre Spuren hinterlassen und den Rückzug auf einen türkischen Nationalismus und einen fundamentalistischen Islam begünstigt. Erdog˘an hat immer wieder die Ausgrenzung von Türken in Deutschland angeprangert und sich als eine Art Schutzherr angeboten. Das aber erklärt längst nicht alles. 2 Dabei muss man aber berücksichtigen, dass nur in türkischen Konsulaten gewählt werden konnte, die es nicht in jeder deutschen Stadt gibt. Mache Wähler mussten Urlaub nehmen und in eine andere Stadt reisen, und im Konsulat ihre Stimme abzugeben.

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Wichtiger ist, dass der Aufsteiger Erdog˘an, der sich anfangs gegen starke Widerstände und das türkische Establishment durchsetzen musste, ein neues türkisches Selbstbewusstsein verkörpert. Sein Appeal rührt daher, dass er für eine Türkei steht, die sich von niemandem etwas sagen lässt – schon gar nicht vom Westen, dem Erdog˘an gerne Doppelmoral und Rassismus unterstellt. Hat die Türkei nicht fast vier Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen – mehr als die gesamte Europäische Union, die deshalb zu einem „Deal“ mit ihm bereit war? Der Westen belehrt die Türkei über Menschenrechte, aber wenn es seinen geopolitischen Interessen dient, drückt er bei anderen Ländern gern mal ein Auge zu. Ist diese Doppelmoral nicht offensichtlich? Neues türkisches Selbstbewusstsein „Erdog˘an schafft es, ein Vakuum zu füllen“, sagt die CDU-Politikerin Serap Güler. Viele hätten durch ihn das Gefühl, die Türkei „sei wieder wer“.3 Das Wirtschaftswachstum der vergangenen Dekaden wird seiner Politik zugeschrieben. Dass es zuletzt nicht mehr so gut lief, wird ihm weniger angekreidet – schon gar nicht von seinen Wählerinnen und Wählern in Deutschland, die selbst nicht unter der Krise zu leiden haben. „Erdog˘an suggeriert den Türken im Ausland, Teil einer großen Nation zu sein“, sagt auch der Psychologe Haci-Halil Uslucan, wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen. „Von der Misere des türkischen Alltags bekommt man in Deutschland dagegen nicht so viel mit.“4 Mit ihrer Verklärung der Verhältnisse in der Türkei sind Erdog˘an-Fans beileibe nicht alleine. Die türkeistäm3 „Erdog ˘ an schafft es, ein Vakuum zu füllen“, www.zdf.de, 28.5.2023. 4 Warum ist Erdog ˘ an in Deutschland erfolgreicher als in der Türkei?, www.n-tv.de, 28.5.2023.

migen Migranten, die in der Diaspora leben, sind häufig konservativer eingestellt als jene, die in der alten Heimat leben. Sie nehmen ihr Land nur noch aus der Ferne wahr, im Sommerurlaub oder aus den Medien, insbesondere aus dem Fernsehen. Das Bild der Türkei, das ihnen dort präsentiert wird, ist verzerrt und geschönt, und sie können es nicht mit eigenen Erlebnissen und Erfahrungen abgleichen. Hinzu kommt: Die Menschen, die einst als „Gastarbeiter“ aus der Türkei nach Europa kamen, stammten meist aus den ländlichen, ärmeren und konservativ-religiösen Regionen Anatoliens – dem heutigen Kernland von Erdog˘ans religiös-konservativer „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“, AKP. Zwar haben viele von ihnen einen gesellschaftlichen Aufstieg geschafft, und in den letzten Jahren sind viele türkische Akademiker und Künstler aus der kriselnden Türkei nach Deutschland gezogen, vor allem nach Berlin. Aber die Sozialstruktur der türkischen Bevölkerung in Deutschland ist bis heute durch die Arbeitsmigration der 1960er- und 1970er Jahre geprägt. Dadurch haben sich transnationale Milieus gebildet, die für Erdog˘ans religiöse und nationalistische Rhetorik besonders empfänglich sind. Deshalb ist die AKP in allen ehemaligen „Gastarbeiter“-Anwerbeländern überdurchschnittlich erfolgreich, also in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Belgien. In anderen Ländern, in denen die türkische Bevölkerung eher aus Akademikern und gebildeteren Auswanderern besteht, schnitt sie viel schlechter ab: In Großbritannien, Kanada und den USA etwa lag der Kandidat der Opposition, Kiliçdarog˘lu, bei den Auslandstürken klar vorne. Einflussnahme in der Diaspora Erdog˘an selbst war es, der es türkischen Staatbürgern 2012 überhaupt erst ermöglicht hat, sich im Ausland

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an Wahlen in der Türkei zu beteiligen: Zuvor mussten sie dafür eigens in die Türkei reisen. Seitdem führen er und seine Partei ihre Wahlkämpfe auch im Ausland. Über das „Ministerium für Auslandstürken“ sowie die Religionsbehörde Diyanet, der die 900 Ditib-Moscheen in Deutschland unterstehen, nimmt seine Regierung aktiv Einfluss auf die Diaspora. Durch diese Infrastruktur aus Moscheengemeinden und der AKP nahestehenden politischen Vereinen hat die Partei einen klaren Startvorteil gegenüber anderen türkischen Parteien. Gerade für die jüngere Generation ist die Türkei nur eine ferne Fantasie und Vorstellung, ein Identifikationsobjekt und eine Projektionsfläche für Sehnsüchte und vage Zugehörigkeitsgefühle. Sie kennt aber keinen anderen Regierungschef als Erdog˘an mehr. Denn dieser gibt in der Türkei seit 20 Jahren den Ton an – zuerst als Ministerpräsident, seit 2014 als Präsident. Seitdem hat Erdog˘an seine Macht immer weiter ausgebaut und nach und nach erst seine Partei, dann die Justiz, die Armee und die Medien immer mehr unter seine Kontrolle gebracht. Kritiker und Oppositionelle ließ er ins Gefängnis werfen. Doch bis heute zehrt Erdog˘an von seinem Ruf, der Vater des türkischen Wirtschaftswunders zu sein. Mehrspurige Autobahnen, Brücken, Krankenhäuser und Flughäfen sind sichtbare Zeichen des Aufschwungs der vergangenen Jahre. Seinen Wählern versprach er im Wahlkampf unbeirrt, die Türkei werde mit ihm bald zu den zehn größten Wirtschaftsnationen gehören. Zum 100. Jubiläum der türkischen Staatsgründung im November 2023 will er sich als Anführer eines Landes präsentieren, das auf der politischen Weltbühne wieder ein Player ist. Außenpolitisch setzt er sich in Szene, indem er zwischen der Ukraine und Russland ein Getreideabkommen verhandelte. Zugleich ließ er die Muskeln spielen, indem er einen NatoBeitritt Schwedens und Finnlands an

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16 Kommentare Bedingungen knüpfte. Seine religiösen Wähler rechnen ihm außerdem hoch an, dass unter ihm das Kopftuch entkriminalisiert wurde und der Islam in der Türkei einen größeren Stellenwert erhielt. Der Opposition trauen sie zu, diese Entwicklungen wieder zurückzudrehen. All das hat am Ende den Ausschlag gegeben. Deutschtürken im globalen Trend Autoritäre Populisten, die einen aggressiven Nationalismus propagieren und identitäre Parolen verbreiten, sind weltweit erfolgreich. Die AfD liegt, im Mai 2023, in Meinungsumfragen bundesweit bei 18 Prozent, in manchen ostdeutschen Bundesländern ist sie die stärkste Kraft. Das Wahlverhalten der „Deutschtürken“, die in der Türkei wählen dürfen, liegt damit in einem globalen Trend. Aber warum fragt niemand danach, wie viele „Deutschpolen“ in Polen die nationalkonservative PiS wählen, die kaum weniger illiberal ist als Erdog˘ans AKP? Warum interessiert es Medien und Politik in Deutschland nicht, wie viele Italiener hierzulande ihr Kreuz bei den rechten Parteien Italiens machen? Warum gibt es keine Zahlen dazu, wie viel „Spätaussiedler“ in Deutschland mit Putin sympathisieren, und wie viele hier lebende US-Amerikaner mit Trump? Oder zu hier ansässigen Franzosen, die für Le Pen schwärmen, und Österreichern, die für die FPÖ stimmen? Die Frage, wie sich diese Menschen für die liberale Demokratie gewinnen lassen, sollte sich nicht nur bei Erdog˘an-Fans stellen, sondern bei allen hier lebenden Menschen. Dass von allen Einwanderergruppen lediglich das Wahlverhalten der „Deutschtürken“ problematisiert wird, ist Teil des Problems. Auch die Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft wird seit 25 Jahren ausschließlich mit Blick auf die Deutschtürken geführt. Dabei ist der Doppelpass hier längst Normalität.

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Denn allen EU-Bürgern, aber auch Menschen, deren Herkunftsstaaten es ihren Bürgern nicht erlauben, die Staatsbürgerschaft abzulegen, gewährt Deutschland bereits die doppelte Staatsbürgerschaft.5 Schon jetzt behalten mehr als 60 Prozent der Menschen bei ihrer Einbürgerung neben der deutschen Staatsbürgerschaft auch ihren bisherigen Pass.6 Gerade die Tatsache, dass die deutsche Politik vor allem „Deutschtürken“ sehr lange dazu zwang, sich für eine Staatsbürgerschaft zu entscheiden, hat dazu geführt, dass viele progressive und liberale „Deutschtürken“ in der Türkei gar nicht wählen können. Denn es waren meist die liberaleren und progressiven Kreise und Angehörige von Minderheiten, die sich als erste einbürgern ließen, darunter auch viele Kurden und Aleviten. Hätten diese Menschen nicht ihren türkischen Pass abgeben müssen, weil die deutsche Politik das so wollte, wären sie heute in der Türkei wahlberechtigt. Die Wahlergebnisse in der türkischen „Diaspora“ in Deutschland sähen dann vermutlich etwas anders aus. Das Wahlergebnis in der Türkei ist also eher ein Argument für die doppelte Staatsbürgerschaft als dagegen – jedenfalls wenn man nicht will, dass nur konservative und nationalistische Auswanderer dort wählen dürfen. In den vergangenen Jahren ist das grundsätzliche Verbot der Mehrstaatlichkeit für „Drittstaatler“ in der Bundesrepublik immer weiter gelockert worden. Aber erst die aktuelle Ampelkoalition möchte es endgültig abschaffen. Die größte Gruppe, die davon profitieren würde, wären die „Deutschtürken“. Es würde ihre Identifikation mit Deutschland und die Teilhabe hierzulande stärken – und möglicherweise auch ihre Begeisterung für die liberale Demokratie. 5 Alle Ausnahmen, in denen man seine bisherige Staatsangehörigkeit behalten kann, finden sich auf www.integrationsbeauftragte.de. 6 Scholz will leichtere Einbürgerungen, www. tagesschau.de, 28.11.2022.



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Ulrike Baureithel

Pflege: Desaster ohne Ende? Die Berichte der Pflegestudierenden der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) Berlin sind beklemmend.1 In ihrem dual organisierten Studium, so erzählen sie auf einer Veranstaltung, arbeiten sie auch in pflegerischen Einrichtungen – mit all dem Stress, der auf den Stationen herrscht. Oft genug werden sie als Vollzeitkräfte eingesetzt. Dazu kommt das Lernen für Prüfungen. Um sich zu finanzieren, jobben viele außerdem in Kneipen oder an der Supermarktkasse. Doch während die Pflegeschüler:innen, mit denen sie Seite an Seite arbeiten, schon im ersten Jahr mit bis zu 1200 Euro monatlich vergütet werden, gehen die angehenden akademischen Pflegenden leer aus, jedenfalls in Berlin. In Bayern oder Baden-Württemberg wird das anders gehandhabt. Vor der jüngsten Wahl in Berlin versuchte die ASH deshalb Vertreter:innen des Berliner Abgeordnetenhauses auf die Not der Studierenden aufmerksam zu machen. Doch dann versandete das Thema in der neuen, schwarz-roten Koalition. Nun wird das Regierungsbündnis unter Kai Wegener (CDU) hoffentlich auf Trab gebracht. Im Mai hat das Bundeskabinett einen Gesetzesentwurf verabschiedet, der die hochschulische Pflegeausbildung stärken soll, um „mehr junge Menschen wieder für den Pflegeberuf zu begeistern“, so Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Er unterstütze „die Weiterentwicklung und Aufwertung der Pflegeberufe“. Denn bislang, so Familienministerin und Kabinettskollegin Lisa Paus (Grüne) in einer gemeinsamen Pressemitteilung, bleibe jeder 1 Veranstaltung an der ASH am 18.1.2023.

zweite Studienplatz in der Pflege unbesetzt.2 Dem will das Pflegestudiumstärkungsgesetz, in dem für die gesamte Dauer des Studiums auch eine „angemessene Vergütung“ vorgesehen ist, entgegenwirken. Prinzipiell sei das eine gute Sache, lobt Johannes Gräske, Professor für Pflegewissenschaft an der ASH. „Wir sind froh, dass endlich etwas passiert.“3 Gleichzeitig bedauert er, dass der Begriff „angemessene Vergütung“ schwammig bleibt, es wäre besser gewesen, wenn die Studierenden in dieser Hinsicht mit den Pflegeauszubildenden gleichgestellt würden. Andererseits, sagt er, „werden die Studierenden im Entwurf als ‚Auszubildende‘ bezeichnet, was ihrem Status als Studierende widerspricht“. Es könnte zu Problemen mit den Einrichtungen kommen und die Autonomie der angehenden Pflegewissenschaftler:innen beeinträchtigen, etwa wenn sie ein Auslandssemester absolvieren wollen. Er spricht von einer „verbalen Degradierung“. Dennoch: Die Pflegestudierenden können sich über eine längst fällige Verbesserung ihrer Ausbildungsbedingungen freuen. Deutschland ist in Europa Schlusslicht in Sachen akademischer Pflegeausbildung. In vielen anderen Ländern ist die gesamte Ausbildung, dem anspruchsvollen Berufsprofil gemäß, längst akademisiert. Weniger Anlass zur Freude haben gegenwärtig die Betreiber vieler Altenheime. Der Pflegemarkt werde, so vielfache Meldungen, derzeit von einer Pleitewelle überrollt. Wer momentan 2 Gemeinsame Pressemitteilung vom BMG und BMFSFJ, 24.5.2023. 3 Telefoninterview mit Johannes Gräske am 8.6.2023.

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18 Kommentare einen Pflegeplatz für seinen Angehörigen sucht, wird überrascht sein, dass Wartelisten der Vergangenheit angehören und Plätze nur noch ad hoc besetzt werden – also wenn gerade jemand gestorben ist. Heimsterben nach Marktgesetzen Immer mehr Einrichtungen müssen Insolvenz anmelden, und das trifft sowohl privat betriebene Einrichtungen als auch kommunale und gemeinnützige Träger, große wie kleine Häuser. In die Schlagzeilen gerieten Unternehmensgruppen wie Convivo, Curata oder Dorena, aber auch Wohlfahrtsverbände sind zu Schließungen der von ihnen betriebenen Heime gezwungen.4 Der Branchenmonitor „pflegemarkt“ registrierte im vergangenen Jahr 142 Heimschließungen sowie 431 aufgegebene ambulante Pflege- und 24 Tagesdienste; insgesamt gingen 6477 vollstationäre Pflegeplätze verloren. Müssen Häuser schließen, sind die meist betagten Bewohner:innen gezwungen, umzuziehen und sich einer neuen Umgebung anzupassen. In manchen Fällen werden die Einrichtungen auch von neuen Betreibern aufgekauft. Doch das lukrative Geschäftsmodell, das mit seiner hohen Rendite einmal globale Investoren anzog,5 scheint nicht mehr so ohne weiteres zu funktionieren. Das ist paradox, denn die Nachfrage nach Heimplätzen steigt unablässig. Die Gründe dafür sind vielfältig und nicht nur mit dem offensichtlichen Pflegekräftemangel zu erklären. Tatsächlich müssen Heime die Zahl ihrer Betten einschränken, weil sie keine Mitarbeitenden finden, die die Betreuung übernehmen. Wenn ab Juli die neuen, lange ausgehandelten Personalschlüssel in der Pflege gelten, wird sich die 4 Vgl. „Der Spiegel“, 7.5.2023. 5 Vgl. Karl Bronke und Jörg Henschen, Das Geschäft mit dem Gebrechen. Wie Investoren den Pflegesektor auspressen, in: „Blätter“, 11/2022, S. 113-120.

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Situation wohl noch einmal verschärfen. Seit September 2022 sind die Betreiber zudem gezwungen, ihren Beschäftigten Tariflöhne zu bezahlen, wenn sie mit der Krankenkasse abrechnen wollen. Doch viele Pflegekräfte lassen sich bei Leiharbeitsfirmen anstellen, weil die Bezahlung dort besser ist und sie ihre Schichten selbst wählen können. Über 60 Euro Stundenlohn fordern solche Unternehmen, das überfordert viele Heimbetreiber. Unter finanziellen Druck sind sie aber auch durch die steigenden Energie- und Lebensmittelkosten geraten: Mit 3,80 Euro pro Tag sollen Pflegebedürftige aktuell verpflegt werden; das forderte nicht einmal ein Thilo Sarrazin, der einst vorrechnete, wie luxuriös es sich von Hartz IV angeblich leben lässt. Dazu kommen steigende Zinsen, Investitionskosten und vieles mehr. Manches können die Heimträger auf die Bewohner:innen abwälzen. Bis zu 2500 Euro Eigenanteil müssen diese inzwischen durchschnittlich für einen Heimplatz aufbringen. Zwar werden sie seit Januar 2022 von der Pflegekasse unterstützt, die im ersten Jahr des Aufenthalts fünf Prozent, nach einem Jahr 25, im dritten 55 und ab dem vierten Jahr 70 Prozent der reinen Pflegekosten bezuschusst – Kosten für die Unterkunft, Investitionen und Verpflegung sind davon unberührt. Doch selbst das können immer weniger Betroffene aufbringen. Können die Angehörigen sie nicht unterstützen, springen die Sozialämter ein. Und galt der Staat einmal als eine sichere Bank, sind insbesondere die klammen Kommunen, die die Kosten letztlich tragen müssen, inzwischen unsichere Kantonisten geworden, die häufig nur mit großer Verzögerung zahlen und den Geschäftsführenden der Einrichtungen viel administrativen Aufwand abverlangen – ein weiterer Umstand, der den Heimen zu schaffen macht. Und weil es im Unterschied zur medizinischen Versorgung in der Pflege keinen öffentlichen Sicherungsauftrag gibt

– ein staatliches Versagen ohnegleichen –, sterben die Häuser eben nach Marktgesetzen. PUEG: Lauterbachs umstrittenes Pflegegesetz Eigentlich sollte das im Mai vom Bundestag verabschiedete Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG) hier Abhilfe schaffen. Für Bewohner:innen in Pflegeheimen sollten die Leistungszuschläge um fünf bis zehn Prozent angehoben werden, und auch das Pflegegeld, das Pflegebedürftige, die zuhause von Angehörigen, Freunden oder Ehrenamtlichen gepflegt werden, monatlich von der gesetzlichen oder privaten Pflegeversicherung erhalten, sollte in gleicher Weise steigen. Beide Leistungen sind seit 2017 nicht mehr erhöht worden. Die finanzielle Absicherung der Reform hatte Lauterbach schon im Vorfeld auf den Weg gebracht und sich damit den Unmut der Krankenkassen zugezogen. Denn der Gesundheitsminister kann Beitragserhöhungen nun künftig auf dem einfachen Verordnungsweg, sprich: unter Umgehung des Parlaments, durchsetzen. Der Beitrag zur Pflegeversicherung steigt ab 1. Juli um 0,35 auf 3,4 Prozent und für Kinderlose sogar auf vier Prozent. Für Beitragszahlende mit Kindern ist je nach Kinderzahl eine stufenweise Entlastung vorgesehen. Das soll Mehreinnahmen von ca. 6,6 Mrd. Euro im Jahr bringen. Politisch ist diese Maßnahme zumindest fragwürdig, denn gleichzeitig war Lauterbach bis heute nicht imstande, die fünf Mrd. Euro Ausgaben, die der Pflegekasse durch die Coronapandemie entstanden sind, bei Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) einzutreiben. Dabei sei dies, so monierten die Grünen in einer Vorabbewertung des PUEG, ebenso wie die mit 3,7 Mrd. Euro zu Buche schlagenden Rentenbeiträge der pflegenden Angehörigen „als gesamtgesellschaftliche

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Aufgabe“ zu betrachten. Beide Posten aus Steuermitteln zu erstatten, so der Koalitionspartner, „hätte die Finanzlage der Pflegeversicherung ins Lot bringen“ können.6 Mit dem PUEG hat sich der Minister nicht nur bei den Kassen unbeliebt gemacht. Die Kritik der Verbände bei der Anhörung im Gesundheitsausschuss war so einhellig und laut, dass man durchaus von einem Schulterschluss sprechen kann. Die Missachtung des Bundestags bei dieser so wichtigen Reform brachte ausgerechnet der Präsident des Arbeitgeberverbands Pflege, Thomas Greiner, zum Ausdruck: „Im Koalitionsausschuss können die Parteispitzen 30 Stunden lang mit mäßigem Erfolg über Heizungen diskutieren, für unsere fünf Millionen Pflegebedürftigen haben sie nicht einmal eine Minute.“7 Stein des Anstoßes vieler Beteiligter war nicht nur die als viel zu gering erachtete Anhebung der Leistungszuschüsse, die mit den im Reformentwurf noch vorgesehenen fünf Prozent nicht einmal den Kaufkraftverlust durch die Inflation ausgleichen würde, so der Sozialverband Deutschland. Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband vermisste zudem „einen langfristigen Plan“ und befürchtet weiter steigende Eigenanteile der Pflegebedürftigen.8 Behindertenvertreter, darunter die ehemalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) als Vorsitzende der Lebenshilfe, waren überdies enttäuscht, dass Menschen mit Behinderung noch immer nicht gleichgestellt werden, obwohl sie als meist Kinderlose die erhöhten Beiträge in die Pflegekasse zahlen. Im Hinblick auf die Einzelmaßnahmen kritisierten viele Sachverständige aber vor allem, dass die ursprünglich vorgesehene Zusammenführung von Kurzzeit- und Verhinderungspfle6 Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestages, 4.5.2023. 7 Ebd. 8 Vgl. Kobinet, www.kobinet-nachrichten.org, 10.3.2023.

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20 Kommentare ge wieder aus dem Entwurf gestrichen worden war. Diese hatte zum Ziel, dass die Betroffenen unbürokratischer auf das Gesamtbudget von 3386 Euro pro zu pflegender Person hätten zugreifen können. Viele Betroffene nehmen diese Möglichkeit aufgrund der komplizierten Regelungen nämlich gar nicht wahr, wodurch die Pflegekasse 14 Mrd. Euro jährlich einspart, wie die Interessenvertretung pflegender Angehöriger errechnet hat. Die entschiedenen Proteste der Verbände führten zwei Tage vor der zweiten und dritten Lesung des PUEG im Bundestag schließlich dazu, dass der Minister einlenkte und den Passus wieder in den Gesetzestext aufnahm. Allerdings gilt die Neuregelung ab 2024 zunächst nur für Kinder und junge Erwachsene mit Pflegegrad 4 und 5. Für die Behindertenvertreter ist das zwar ein Erfolg. Alle übrigen Pflegebedürftigen kommen aber erst ab 2025 in den Genuss dieser Erleichterung. Dafür wurde die ab 1. Januar fällige Leistungserhöhung im Gegenzug von fünf auf 4,5 Prozent gekürzt.

Unisono zeigten sich die Interessenvertretungen, aber auch der Spitzenverband der Krankenversicherung und Arbeitgeberverbände frustriert darüber, dass das Gesetz nur isolierte Einzelmaßnahmen aufgreift und keine langfristigen Perspektiven zur Verbesserung der Pflegesituation erkennen lässt oder Vorschläge macht, wie die Finanzsituation der Pflegeversicherung dauerhaft stabilisiert werden kann. Es handle sich um eine „kurzfristige und notdürftige Rettung des Systems“, so Pflegerat-Chefin Christine Vogler, und sei ein Resultat des „Pokerns und Feilschens“.9 Selbst die im Koalitionsvertrag festgelegten Ziele werden verfehlt, wie die Übernahme

der versicherungsfremden Leistungen durch den Bund oder die Entwicklung der Pflegekasse zu einer Vollversicherung, die Lauterbach nun wieder einmal einer einzuberufenden Kommission überträgt. Die Situation auf dem Pflegearbeitsmarkt wird sich weiter verschärfen. Bis 2030 werden eine halbe Million Beschäftigte fehlen, weil auch hier viele Fachkräfte in Rente gehen oder aus dem Beruf aussteigen. Anfang Mai meldete der DAK-Gesundheitsreport, dass der Krankenstand unter Pflegekräften mit bis zu sieben Prozent überdurchschnittlich hoch ist: Ein Viertel der Beschäftigten leidet unter Schmerzen, ein Drittel an Schlafstörungen, mehr als die Hälfte ist völlig erschöpft. Die große Mehrheit geht aufgrund des Personalmangels krank zur Arbeit, was das Gesundheitsrisiko weiter erhöht.10 An dieser Situation wird auch die jüngste Tour von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) durch Brasilien im Juni wenig ändern. Unter dem Motto: „Faire Migration in wechselseitigem Interesse“ hatte diese zum Ziel, dort Arbeitskräfte für den deutschen Pflegemarkt anzuheuern. Viele Expert:innen in Deutschland sehen das allerdings kritisch. Denn selbst wenn es in Brasilien viele arbeitslose Pflegekräfte geben sollte, wie Baerbock behauptet, heißt das nicht, dass das Land sie nicht selbst bräuchte. Und gemessen an den 656 Pflegekräften, die 2022 aus aller Welt angeworben werden konnten, dürfte diese Werbetour ähnlich erfolglos verlaufen sein wie die vorangegangenen. Immerhin: Im Pflegestudiumstärkungsgesetz ist vorgesehen, dass ausländische Pflegeabschlüsse erleichtert anerkannt werden. Das ist zwar dringend nötig. Angesichts der Gesamtsituation in der Pflege bleiben die aktuellen Reformen jedoch weit hinter dem zurück, was erforderlich wäre.

9 Christine Vogler in Bibliomed, 25.5.2023.

10 Vgl. DAK Gesundheitsreport 2023, April 2023.

Nur eine notdürftige Rettung

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Anja Bensinger-Stolze

Vernachlässigte Grundschulen: Katastrophe mit Ansage Jedes vierte Kind in Deutschland kann am Ende der Grundschulzeit nicht richtig lesen – Tendenz steigend. Und: Die sozialen Unterschiede bei der Lesekompetenz sind seit 20 Jahren unverändert. Das sind die zentralen und skandalösen Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU 2021).1 Bereits bei der IGLU-Erhebung vor fünf Jahren war der Anteil der Kinder, die nicht ausreichend lesen können, mit 19 Prozent viel zu hoch. Die aktuellen Zahlen lassen jedoch alle Alarmglocken schrillen: Lesekompetenz ist die wichtigste Grundlage für eine erfolgreiche Schullaufbahn der Kinder sowie für deren spätere Berufs-, Lebens- und Teilhabechancen. Deutschland steuert auf ein gigantisches gesellschaftliches Problem zu, wenn ein Viertel der jungen Menschen nicht mehr Fuß fassen kann. Die Schulleistungsstudie IGLU untersucht die Lesekompetenz von Schüler:innen der vierten Jahrgangsstufe. Im Fokus stehen dabei nicht die individuellen Leistungen der einzelnen Schüler:innen, sondern die Frage, wie leistungsfähig die jeweiligen Bildungssysteme im internationalen Vergleich sind. Die nun vorliegenden Ergebnisse beruhen auf der IGLU-Studie 2021, Deutschland nahm zum fünften Mal daran teil. Somit können Veränderungen der Leseleistung von Schüler:innen über einen Zeitraum von 1 Vgl. Nele McElvany, Ramona Lorenz, Andreas Fey, Frank Goldhammer, Anita Schilcher, Tobias C. Stubbe (Hg.), IGLU 2021 – Lesekompetenz von Grundschulkindern im internationalen Vergleich und im Trend über 20 Jahre, Münster und New York, 2023.

20 Jahren beschrieben werden. Dabei zeigt sich, dass sich hierzulande der Anteil der leseschwachen Kinder signifikant vergrößert und der Anteil der leistungsstarken abgenommen hat. Weitere zentrale Befunde der Untersuchung sind, dass die dabei wirkmächtigen sozialen und migrationsbedingten Disparitäten in Deutschland seit 2001 nicht reduziert werden konnten. In 20 Jahren hat sich im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in Deutschland praktisch nichts verändert. So sind die Leseleistungsvorsprünge von Schüler:innen aus sozial privilegierten Familien gegenüber jenen aus weniger privilegierten Familien sehr stark ausgeprägt. Erschreckend ist überdies der (erneute) Befund, dass Kinder von anund ungelernten Arbeiter:innen deutlich höhere Leistungen erbringen müssen, um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten. Ebenso sind die Leseleistungsvorsprünge derjenigen Schüler:innen, die zu Hause in der Regel Deutsch sprechen, stark ausgeprägt – und zwar stärker als in den OECD-Staaten mit Blick auf die jeweilige Landessprache. Die hiesigen Leseleistungsunterschiede zwischen den Schüler:innen mit und ohne Migrationshintergrund lassen sich eindeutig mit der Sprache und dem sozialen Status der Familie erklären. Auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede sind – nachdem sie sich in den letzten Jahren zugunsten der Jungen leicht verbessert hatten –, wieder auf das Niveau von 2001 gefallen. Die verheerenden IGLU-Ergebnisse werden durch weitere Studien bestä-

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22 Kommentare tigt. Auch im IQB-Bildungstrend 2021 vom vergangenen Oktober 2 wurde deutlich, dass fast 20 Prozent der Kinder am Ende der vierten Jahrgangsstufe den Mindeststandard im Lesen nicht erreichen. Die IQB-Studie wurde bereits dreimal (2011, 2016 und 2021) durchgeführt, sodass ein Vergleich über zehn Jahre gezogen werden kann. Dabei zeigen sich in allen Testbereichen signifikant negative Trends. Ob beim Lesen oder Zuhören, bei Orthografie oder Mathematik: Der Anteil von Kindern, die den Mindeststandard verfehlen, hat sich erhöht. Ebenso besorgniserregend ist die im März 2023 erschienene bildungsstatistische Analyse von Klaus Klemm „Jugendliche ohne Hauptschulabschluss“.3 In den vergangenen zehn Jahren hat sich deren Quote kaum verändert: von 6,1 Prozent 2011 auf 6,2 Prozent im Jahr 2021. Sprich: Jedes Jahr verlassen über 47 000 Jugendliche ohne Abschluss die Schule. Diese Quote halbieren zu wollen, war das schon 2008 auf dem Bildungsgipfel der damaligen Kanzlerin Angela Merkel erklärte Ziel von Bund und Ländern. Doch auch von diesem entfernt sich das deutsche Schulwesen weiterhin. Klemms Analyse zeigt zudem, dass ein Großteil der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss aus Förderschulen kommt. Diese Schulen sehen häufig gar keinen Schulabschluss vor, und es gibt noch immer viel zu viele von ihnen.4 Deshalb ist es besonders wichtig, dass wir das Bildungssystem inklusiver 2 Vgl. Petra Stanat, Stefan Schipolowski, Rebecca Schneider, Karoline A. Sachse, Sebastian Weirich, Sebastian und Sofie Henschel (Hg.), IQB-Bildungstrend 2021 – Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich, Münster und New York 2022. 3 Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung (Hg.), Jugendliche ohne Hauptschulabschluss – Demographische Verknappung und qualifikatorische Vergeudung, www.bertelsmann-stiftung.de, 6.3.2023. 4 Vgl. Anna-Sofie Turulski, Anzahl der Förderschulen in Deutschland in den Schuljahren von 2010/2011 bis 2021/2022, www.destatis.de, 5.5.2023.

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gestalten, um nicht weiterhin so viele Bildungsverlierer:innen aus den Schulen zu entlassen. Alle drei hier zitierten Studien und Analysen umfassen mindestens zehn Jahre – das spricht gegen das derzeit häufig von den politischen Verantwortlichen ins Feld geführte Argument, die aktuellen Missstände seien auf die Coronakrise zurückzuführen. Die Pandemie hat die Lage zwar verschärft, aber die Ursachen für die Misere an den Grundschulen liegen tiefer. Dramatisch unterfinanziert, zu wenig Personal Das gesamte Bildungssystem in der Bundesrepublik ist seit Jahrzehnten dramatisch unterfinanziert. In allen Bildungsbereichen, insbesondere in Kindertagesstätten und Schulen, herrscht ein riesiger Personalmangel. Darüber hinaus hat die Politik gerade die Grundschulen in den vergangenen Jahren vernachlässigt. Sie wog sich dabei in trügerischer Sicherheit. Denn die Grundschulkinder erzielten bis in die 2010er Jahre hinein durchaus gute Ergebnisse, während der PISASchock 2001 eher die Missstände in der Sekundarstufe I in den Fokus rückte: Die 15jährigen hatten bei der internationalen Schulstudie deutlich schlechter abgeschnitten als erwartet. Grundschullehrkräfte wurden indessen weiterhin schlechter bezahlt als Lehrer:innen an anderen Schularten. Und auch an der Ausstattung und Sanierung der Schulen wurde gespart. Ein Numerus clausus für das Grundschullehramt an vielen Hochschulen verknappte zusätzlich das Angebot an Anwärter:innen für den Beruf. Die Folge: Immer weniger junge Menschen wollten an dieser Schulart unterrichten, seit Jahren können weit über tausend Leitungsstellen an Grundschulen nicht besetzt werden. An keiner anderen Schulart ist der Lehrkräftemangel so dramatisch wie an den Grundschulen.

Doch für einen qualitativ hochwertigen Leseunterricht, der nicht nur die basalen Leseleistungen unterstützt, sondern auch Lesestrategien beinhaltet, bedarf es einer guten Unterrichtsund Schulentwicklung und dafür deutlich mehr Zeit für die Kinder und gut ausgebildete Pädagog:innen. Hinzu kommt, dass die Bundesrepublik im EU-Durchschnitt besonders wenig Mittel in die Leseförderung der Kinder investiert – und das, obwohl angesichts der steigenden Nutzung digitaler Geräte hierauf ein besonderer Fokus liegen sollte. So ist es kein Wunder, dass die Lesemotivation der Kinder sinkt – und damit auch die Leseleistungen immer schlechter werden. Insbesondere hat es die Politik versäumt, Kinder aus armen und benachteiligten Haushalten besser zu unterstützen. In der Summe sind diese Vernachlässigungen unverantwortlich. Denn an den Kindertagesstätten und den Grundschulen wird der Grundstein für eine umfassende ganzheitliche Entwicklung der Kinder gelegt. In den Kitas, in denen Plätze im sechsstelligen Bereich fehlen, führen der Fachkräftemangel und der hohe Fachkräfte-Kind-Schlüssel zu größeren Gruppen, in denen es schlichtweg weniger gut gelingen kann, den Wortschatz der Kinder spielerisch im Alltag zu fördern.5 Jahrelang verharrten hierzulande die öffentlichen Ausgaben für Bildung bei 4,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Zum Vergleich: Norwegen investiert 6,3 Prozent seines BIPs pro Jahr, die OECD-Staaten im Schnitt 5,2 Prozent. Zwar stieg 2020 – also im Jahr eins der Coronakrise – der Anteil der öffentlichen Bildungsausgaben am BIP auf 4,9 Prozent an, aber nur, um 2021 wieder auf 4,7 Prozent zu sinken.6 Dieser anhaltende Sparkurs macht sich insbesondere in den Kitas und Grund5 Vgl. den Text von Franziska Meyer-Lantzberg, Stefan Kerber-Clasen und Yalcin Kutlu in der kommenden August-Ausgabe. 6 Vgl. Bildungsfinanzbericht 2022, www.destatis.de, Dezember 2022.

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schulen bemerkbar. Doch was im Grundschulalter nicht erreicht wird, ist später kaum aufzuholen – und zieht enorme gesellschaftliche Kosten nach sich. Vor allem aber lautet der Skandal: Kinder und Jugendliche werden nicht in dem Maße gefördert und gebildet, wie es notwendig wäre, um endlich den engen Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft zu entkoppeln. Blick auf soziale Ungleichheit tut not Der dramatische Lehr- und Fachkräftemangel sowie die chronische Unterfinanzierung sind die Kardinalprobleme an den Schulen. Es muss also deutlich mehr Geld in die Grundschulen und in gezielte Leseförderprogramme fließen; zusätzlich müssen die Ganztagsangebote ausgebaut werden. Sonst können die Grundschulen ihrem Anspruch, eine Schule für alle Kinder zu sein und Bildungsungerechtigkeiten abzubauen, immer weniger gerecht werden. Hierfür braucht das Land dringend mehr gut aus- und fortgebildete Lehrkräfte, die auf das Lehren unter schwierigen sozialen Bedingungen und in zunehmend heterogenen Gruppen gut vorbereitet sind. So müssen Konzepte der Leseförderung einen festen Platz in der Ausbildung der Lehrkräfte bekommen, was bislang viel zu wenig der Fall ist. Auch müssen die Leseförderprogramme besonders auf benachteiligte Schüler:innen zugeschnitten sein. Zudem sind gut ausgestattete Schulbibliotheken und auch eine bessere Beratung der Eltern bereits ab der Kitazeit notwendig. Um mehr Lehrkräfte zu gewinnen, hat die GEW ein 15-Punkte-Programm gegen den Lehrkräftemangel7 vorgelegt. Sie mahnt unter anderem die Bundesländer, in denen Grundschullehr7 15 Punkte gegen Lehrkräftemangel, www. gew.de, 1.12.2022.

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24 Kommentare kräfte immer noch schlechter bezahlt werden als andere Lehrkräfte, endlich ihre Blockadehaltung aufzugeben. Viele Lehrkräfte arbeiten bereits jetzt am Limit – und oft weit darüber hinaus, wie zahlreiche Arbeitszeitstudien der jüngsten Zeit belegen. Ein System, das so auf Verschleiß fährt, muss aber früher oder später kollabieren. Doch die Vorschläge der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz und viele derzeitige Maßnahmen gegen den Personalmangel in den Bundesländern drohen die Lehrkräfte noch mehr zu belasten und bürden ihnen die Folgen des Politikversagens auf. So lassen sich kaum noch junge Menschen für diesen eigentlich wunderbaren Beruf begeistern. Mehr Bildungsinvestionen Die Grundschulen brauchen Unterstützung, um die Folgen der zunehmenden sozialen Ungleichheit bei den Schüler:innen endlich wirksam abzubauen. Diese muss von Schulsozialarbeit und schulpsychologischem Dienst flankiert werden. Die IGLU-Ergebnisse zeigen ein weiteres Mal, wie wichtig es ist, dass das „Startchancenprogramm“ für benachteiligte Schulen der Bundesregierung endlich in Gang kommt: Dieses Programm sieht eine finanzielle Förderung von bundesweit 4000 Schulen in besonders schwierigem Umfeld vor, bestehend aus einem sogenannten Chancenbudget zur freien Verfügung sowie Geld für Investitionen in eine zeitgemäße Lernumgebung. Außerdem ist geplant, dass der Bund an weiteren bis zu 4000 Schulen zusätzliche Sozialarbeiter:innen mitfinanziert. Es ist völlig unverständlich und fatal, dass das Programm immer noch nicht verabschiedet ist. Obwohl es bereits auf das Schuljahr 2024/25 verschoben wurde, stehen die Mittel immer noch unter Haushaltsvorbehalt. Dieser muss unbedingt ausgeräumt werden.

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Außerdem muss die für das Startchancenprogramm geplante Summe von einer Milliarde Euro deutlich aufgestockt und endlich nach Sozialindex und nicht länger nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel, nach dem die Bundesländer Zuwendungen je nach Steueraufkommen und Bevölkerungszahl erhalten, verteilt werden.8 Die finanziellen Mittel dürfen nicht länger mit der Gießkanne ausgeschüttet werden, sondern müssen dort ankommen, wo sie wirklich gebraucht werden – insbesondere in Gegenden mit niedrigem Einkommen. Bund und Länder sollten sich endlich zusammenraufen: Die Zukunftschancen der Kinder dürfen nicht im Parteiengezänk zerrieben werden. Nur so kann die Bundesregierung das „Jahrzehnt der Bildungschancen“, das sie ausgerufen hat, einlösen. Um die notwendigen Investitionen in Kita und Schule zu bewältigen, haben zahlreiche Verbände, die GEW und Einzelpersonen ein Sondervermögen Bildung in Höhe von mindestens 100 Mrd. Euro vorgeschlagen. Sie fordern zudem, jährlich mindestens zehn Prozent des BIP in Bildung und Forschung zu stecken.9  Weitere wichtige Reformvorhaben wie der Ausbau des Ganztagsbetriebs oder der Inklusion dürfen dabei nicht ins Stocken geraten. Wenn das Schulwesen leistungsstärker und gerechter werden soll, müssen wir allen Kindern und jungen Menschen die bestmögliche Bildung in einem inklusiven Schulsystem bieten. Dabei gilt: Wer sich um den Output sorgt, darf weder über den Input noch über die selektive Struktur und Philosophie des Schulwesens schweigen. 8 Die GEW hat dazu Alternativen aufgezeigt: Detlef Fickermann, Jörg-Peter Schräpler, Horst Weishaupt unter Mitarbeit von Hans-Peter Füsse, Alternativen zum Königsteiner Schlüssel. Verteilung von Bundesmitteln im Rahmen von Bund-Länder-Vereinbarungen im Bildungsbereich, www.gew.de, August 2022. 9 Vgl. den Appell „Bildungswende JETZT!”, www.gew.de.



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Leena Simon und Rena Tangens

Gegen den Digitalzwang: Das Recht auf analoges Leben In vielen Saunen gilt das Prinzip digital detox – digitale Entgiftung. Elektronische Geräte wie Smartphones, Tablets oder Computer sind dort nicht erlaubt, die Menschen sollen sich von deren übermäßiger Nutzung erholen. Zum Glück, denn in der Sauna hat ein Smartphone mit seinen Maxi-Megapixel-Kameras nun wirklich nichts zu suchen. Was in den meisten Saunen normal ist, wird in der Außenwelt jedoch immer schwieriger: Dort ist man nicht nur von immer mehr Smartphones umgeben, sondern wird auch zunehmend unter Druck gesetzt, es ihren Nutzer:innen gleichzutun. Denn viele Vorzüge des Lebens setzen heute die Nutzung digitaler Dienste voraus: Die Banking-App kann nur installieren, wer sich den Geschäftsbedingungen von Google oder Apple unterwirft; die meisten modernen Babyphones oder Pulsuhren sind ohne App quasi unbrauchbar; das Balkonkraftwerk wird über eine App gesteuert; Elektroroller funktionieren nur mit der App aus den angeblich so „marktüblichen“ App-Stores; auch die Bahn setzt mehr und mehr auf Onlinetickets und in vielen Uni-Mensen gibt es die umweltfreundliche Mehrwegverpackung nur noch per App. Wann aber wird bei der Ausbreitung digitaler Dienste die Grenze zur strukturellen Benachteiligung überschritten, wann werden sie zum Zwang? Wenn der Postdienstleister DHL ein Paket ungefragt in eine Packstation legt, die nur noch per Smartphone zu öffnen ist? Wenn das Deutschlandticket nur noch mit Smartphone genutzt werden kann? Wenn der Kauf von Bahn-

tickets an Bord nur noch per App möglich ist? Oder wenn der Gesetzgeber festlegt, dass man Restaurants oder gar Behörden nur noch betreten darf, wenn man eine bestimmte App installiert hat, wie mit der Luca-App vielerorts geschehen? All dies ist bereits Realität. Was ist Digitalzwang? Der Verein Digitalcourage, bei dem beide Autorinnen Mitglied sind, hat diese Entwicklung anhand zahlreicher Beispiele mit dem Begriff „Digitalzwang“ so umschrieben: „Digitalzwang liegt vor, wenn es sich nicht um einen Extraservice handelt und ein Verzicht auf diese Leistung die Teilhabe am öffentlichen Leben einschränkt, also eine Diskriminierung entsteht, insbesondere bei staatlichen Leistungen; wenn es keine analoge Alternative gibt, obwohl das technisch möglich wäre; wenn die analoge Alternative durch etwa höhere Kosten oder größeren Aufwand so unattraktiv gemacht wird, dass sie faktisch nicht infrage kommt.“1 Digitalzwang tritt zudem in verschiedenen Varianten auf. Unterschieden wird zwischen erstens einem Digitalisierungszwang, wenn man einen Computer oder ein Smartphone sowie eine Internetanbindung besitzen muss, um an einem Prozess teilzunehmen, und es keine Alternativen mehr gibt; zweitens einem App- oder Smartphonezwang, wenn eine bestimmte App und damit auch ein Smartphone so1 Vgl. Leena Simon, Digitalzwang, www.digitalcourage.de, 24.4.2023.

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26 Kommentare wie Zugang zum App-Store vorausgesetzt werden; drittens einem Kontooder Accountzwang, wenn ein Dienst nur nach Anlegen eines Kontos genutzt werden kann, obwohl es auch anders ginge – etwa wenn man sich um einen Job nur bewerben kann, indem man bei einem Bewerbungsportal ein Konto anlegt; und schließlich viertens dem Datenabgabezwang, sprich: Man kann einen Dienst erst in Anspruch nehmen, wenn man einwilligt, dass im Gegenzug Daten gesammelt werden, sei es durch Cookie-Banner, Apps mit Google-Diensten oder Werbetracking. Natürlich ist nicht jeder Dienst, den es nur online gibt, Digitalzwang. Solange es sich um Zusatzdienste handelt, ist prinzipiell nichts dagegen einzuwenden. Das Einchecken am Platz zur schaffnerlosen Fahrkartenkontrolle ist in der Bahn beispielsweise nur per App möglich und dennoch kein Digitalzwang. Die Bahn lässt allerdings mittlerweile schleichend diverse analoge Dienste unter den Tisch fallen, die Fahrgäste brauchen, um ohne zusätzlichen Stress reisen zu können: etwa Informationen über Verspätungen und Anschlusszüge, den Wagenstandsanzeiger, den Fahrkartenkauf an Bord von Fernzügen, Reservierungen oder das Austeilen von Erstattungsformularen. Wenn die Bahn nun auch noch den Ticketkauf gegen Bargeld am Fahrkartenautomaten abschaffen würde, gäbe es keine Möglichkeit mehr, unüberwacht Bahn zu fahren. Die Grenzen sind nicht nur innerhalb eines Dienstes fließend, sondern auch gesamtgesellschaftlich: Wenn ein Laden auf reinen Onlineverkauf setzt, ist das noch kein Problem, und wer würde schon von Amazon erwarten, dass es einen Papierkatalog oder Filialen anbieten muss? Aber wenn es bestimmte Produkte nur noch online zu kaufen gibt, wenn beispielsweise Theaterkassen schließen und Konzertkarten nur noch online erworben werden können, schließt das Menschen

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ohne Smartphone, Computer und Internet aus. Wir können nicht warten, bis es nur noch einen einzigen verbliebenen Anbieter für ein analoges Angebot gibt und diesem dann auferlegen, es fortführen zu müssen, weil andernfalls Digitalzwang entstünde. Da müssen wir schon früher ansetzen. Ob ein Dienst Digitalzwang hervorruft, hängt nicht davon ab, welche Angebote die Konkurrenz macht. Es sind vor allem die Grundversorger, die in der Verantwortung stehen, ihre Dienste allen Menschen gleichermaßen zugänglich zu machen. Doch selbst staatliche Leistungen und Angebote der Grundversorgung werden zunehmend an das Smartphone gekoppelt. Eingeschränkte Grundversorgung Die Deutsche Post DHL etwa rüstet derzeit ihre Packstationen so um, dass sie nur noch mit Smartphone und extra installierter Post- und DHLApp funktionieren. Damit schließt sie Menschen aus, die die mit Trackern verseuchte App nicht auf ihrem Gerät installieren wollen oder schlicht kein Smartphone haben. Auch diese erhalten neuerdings Zustellbenachrichtigungen für Packstationen und stehen dann ratlos vor einer gelben Wand ohne Display. Hier wird Zug um Zug eine Leistung der Grundversorgung – nämlich Pakete empfangen zu können – mit Digitalzwang und damit auch Überwachung belegt. Anstatt weiterhin auch einen guten analogen Service für all jene anzubieten, die sich gegen das Smartphone entscheiden, geht die Post sogar noch weiter: Sie möchte das Postgesetz anpassen und damit verschlechterten Service sowie ihren Digitalzwang legalisieren lassen. So will sie künftig Postfilialen durch aufgemotzte Packstationen ersetzen, die weder barrierefrei sind noch persönliche Beratung und Hilfestellung vor Ort anbieten und an denen man nicht einmal

mehr eine Briefmarke mit Bargeld bezahlen kann. Für dieses Gesamtpaket „Digitalzwang Plus“ verlieh der Verein Digitalcourage der Deutschen Post DHL in diesem Jahr einen „BigBrotherAward“.2 Zusammen mit den vielen kleinen Annehmlichkeiten, auf die man „freiwillig“ verzichtet, wenn man sich heute für ein Leben ohne Smartphone entscheidet, stellt das eine beträchtliche Einschränkung dar. Doch so gerne die meisten von uns auf den kleinen Glasscheiben herumwischen: Ob wir uns ein solches Gerät zulegen und mit uns führen, sollte auch in Zukunft eine freie Entscheidung bleiben. Im Dienst des Überwachungskapitalismus Tatsächlich gibt es noch immer viele Menschen, die ohne Smartphone und Internetzugang leben: Im Alter zwischen 16 und 74 Jahren sind das hierzulande sechs und europaweit sieben Prozent.3 Darunter vor allem alte und arme Menschen. Die einen sind von den komplizierten Geräten, die ständig ihre Regeln ändern, überfordert, die anderen können sich die teuren Smartphones und die monatlichen Kosten schlichtweg nicht leisten. Denn die meisten Apps verlangen permanenten Internetzugang. Da bleibt es nicht bei den Anschaffungskosten, sondern es fallen laufend Kosten für mobile Daten an. Beide Probleme werden sich in Zukunft kaum lösen lassen. Denn auch die Generation der sogenannten digital natives wird dereinst feststellen, dass das Gehirn im Alter unflexibler wird und schon von Kleinigkeiten wie der Änderung eines App-Icons aus der Bahn geworfen werden kann. Der 2 Vgl. Rena Tangens, BigBrotherAward-Laudatio für die Deutsche Post, www.bigbrotherawards.de/2023. 3 Vgl. Statistisches Bundesamt, 7 % der Bevölkerung waren noch nie online, www.destatis.de, 30.3.2023.

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Glaube, das Problem löse sich mit der Zeit von selbst – wenn die „digitalen Analphabeten“ eines Tages ausgestorben sind –, ist schlicht naiv, unsolidarisch und zynisch. „Ich bin alt, aber kein Idiot“ – unter diesem Motto startete der Rentner Carlos San Juan de Laorden im vergangenen Jahr eine Petition, die sich gegen die in Spanien noch weiter als hierzulande verbreitete Tendenz richtete, Bankfilialen und Geschäfte zu schließen und menschlichen Service durch Bandansagen und Apps zu ersetzen. Mit überraschendem Erfolg: Über 600 000 Unterschriften kamen zusammen. Daraufhin sagte die Bank zu, die Öffnungszeiten zu verlängern und ihr barrierefreies Angebot auszubauen.4 Neben Alter und Armut gibt es viele weitere Gründe, weshalb Menschen lieber ohne Smartphone leben wollen, und die meisten sind höchst individuell: Pia wurde über ihr manipuliertes Smartphone von ihrem Ex-Freund gestalkt und hat erst Mal die Nase voll davon. Özgür legt Wert darauf, nur Technik zu benutzen, bei der er versteht, was sie tut. Jutta hat die Tracker in verschiedenen Apps analysiert und möchte diese nicht installieren – gerade weil sie weiß, was sie tun. Mark hat seit kurzem ein Kind und möchte während der ersten drei Jahre in dessen Anwesenheit kein Smartphone nutzen. Samira möchte in den Urlaub kein Smartphone mitnehmen. Laszlo besaß jahrelang ein Smartphone und genießt es heute, Menschen und Umgebung ganz anders wahrzunehmen, Langeweile im Wartezimmer auszuhalten und einen Ausflug bewusst zu erleben, statt ihn vor lauter Selfies und Videoaufnahmen zu verpassen. Ricarda kennt sich mit Datenschutz, targeted advertising – gezielter Werbung – und Demokratie aus und geht deshalb zumindest den 4 Vgl. Ursula Scheer, Der alte Mann und die Bank, www.faz.net, 10.2.2022; Gustav Fauskanger Pedersen, Alt, aber nicht dumm: Rentner kämpft gegen Überdigitalisierung, www. iglobenews.org, 4.4.2022.

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28 Kommentare fünf größten Tech-Konzernen Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft (kurz: GAFAM) aus dem Weg. Sie hat zwar ein Smartphone, doch darauf verwendet sie ausschließlich Apps, die sich nutzen lassen, ohne dass die GAFAM davon etwas mitbekommen. Carlos hat Parkinson und kann ein Smartphone mit seinen zittrigen Fingern nicht gut bedienen. Und Oma Tilde hat den Zweiten Weltkrieg überlebt und weiß, welch fatale Folgen mediale Manipulation haben kann. Gerade weil die Gründe, die gegen ein Smartphone sprechen, so individuell sind, dürfen wir das Anliegen, ohne Smartphone leben zu wollen, nicht einfach ignorieren. Insbesondere deshalb nicht, weil der Überwachungsdruck, der von diesen Geräten ausgeht, immens ist. Dennoch wird die Forderung nach analogen Alternativen gerne als Technikfeindlichkeit abgetan. Wer auf digitale Vorzüge verzichten wolle, müsse sich eben mit den damit verbundenen Nachteilen abfinden. Doch der Vorwurf verkennt, dass viele auf digitale Technik verzichten, weil dabei oft nicht das Wohl der Menschen im Mittelpunkt steht, sondern diese vor allem dem Überwachungskapitalismus dient.5

Wie sehr durch die – unkritische – Nutzung digitaler Dienste Prozesse angestoßen werden, die Demokratie, Freiheit und Wissenschaft aushöhlen und in akute Gefahr bringen, ist vielen Menschen gar nicht bewusst. Eine Gesellschaft, die auch noch die wenigen Widerständigen unter Druck setzt, sich zu fügen, untergräbt schlicht ihr demokratisches System. Digitale Dienste nicht zu nutzen, ist daher mitunter eine höchst politische Entscheidung.

Der Publizist Heribert Prantl fordert folgerichtig ein neues Grundrecht: das Recht auf ein analoges Leben.6 Viele kleine Einschnitte sind für sich genommen vielleicht nicht weiter erwähnenswert, aber in ihrer schieren Masse sind sie eben doch nicht mehr zumutbar. Mindestens bei allen Diensten der Grundversorgung muss es weiterhin immer auch eine analoge Alternative geben. Das gebieten uns Werte wie Fairness, Inklusion und Freiheit. Auch wenn wir selber gerne auf das Smartphone und digitale Angebote zurückgreifen, sollten wir für die analogen Alternativen streiten. Auch wenn wir die Vorzüge der Technik lieben, sollten wir uns gegen Digitalzwang einsetzen. Das ist ein Akt der Solidarität. In der Sauna ist „digital detox“ eher eine Lifestyle-Frage. Doch es geht um weitaus mehr: Es geht um Wahlfreiheit. Es geht darum, den Alltag bewältigen und am öffentlichen Leben teilhaben zu können, auch wenn wir uns dafür entscheiden, uns nicht von einem Taschenspion auf Schritt und Tritt überwachen zu lassen. Und schließlich kann Technik auch anders gestaltet werden: datenschutzkonform, barrierefrei und menschenfreundlich. Es liegt an uns, das zu fordern und entsprechende Entwicklungen, Produkte und Dienste zu honorieren. Wir müssen deshalb eine Nachfrage für eine Technik erzeugen, die uns mündig sein lässt. Dazu aber brauchen wir die Wahl. Wenn der Preis für eine solche Entscheidung zu hoch wird und wir genötigt werden, Produkte zu nutzen, die wir eigentlich ablehnen, verlieren wir unseren freien Willen. Gerade weil wir Technik lieben, wollen wir sie mitgestalten. Wir wollen uns nicht zermürben lassen von den vielen kleinen und großen Benachteiligungen. Und wir wollen uns nicht der ständigen Überwachung beugen, die (ganz) nebenbei erfolgt.

5 Vgl. dazu auch Shoshana Zuboff, Der dressierte Mensch. Die Tyrannei des Überwachungskapitalismus, in: „Blätter“, 11/2018, S. 101-111.

6 Vgl. Heribert Prantl, Wer kein Handy hat, wird ausgeschlossen, www.sueddeutsche.de, 5.5.2023.

Das Recht auf ein analoges Leben

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Hannah El-Hitami

Al-Sisis Ägypten: Gegründet auf einem Massaker Vor zehn Jahren, im August 2013, fand am Rabaa al-Adawiya Platz in Kairo ein Polizeieinsatz statt, den die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch als eine der brutalsten Massenhinrichtungen von Demonstrant:innen in der jüngeren Weltgeschichte bezeichnet hat.1 Der Einsatz zielte darauf ab, das Protestcamp von Anhänger:innen der Muslimbruderschaft aufzulösen, die dort die Wiedereinsetzung des Ex-Präsidenten Mohammed Mursi forderten. Der Kandidat aus den Kreisen der Muslimbruderschaft war für ein Jahr der erste demokratisch gewählte Präsident Ägyptens gewesen, bis ihn das Militär unter Führung des heutigen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi im Juli 2013 aus dem Amt putschte. Weil seine Anhänger:innen das nicht akzeptieren wollten, belagerten sie wochenlang den Platz nahe der Rabaa al-Adawiya Moschee in Kairo. 85 000 Männer, Frauen und Kinder waren am 14. August vor Ort, als die Sicherheitskräfte eingriffen und etwa 1000 Menschen töteten, viele durch Kopfschüsse. Tausende weitere wurden verletzt. Das Sisi-Regime will seine Machtübernahme indes anders erinnert wissen: als Rettung des Landes vor der Muslimbruderschaft. So wird sie auch in der Serie „Die Wahl“ der regimenahen Medienfirma Synergy dargestellt, die in den letzten drei Jahren während des Fastenmonats Ramadan lief. (In dieser Zeit erscheinen die hochkarätigsten Produktionen, weil dann besonders viel ferngesehen wird.) In Staf1 Ägypten: Tötungen in Rabaa und andere Tötungen wohl Verbrechen gegen die Menschlichkeit, www.hrw.org, 12.8.2014.

fel zwei folgt die Kamera einer Gruppe von Polizisten, die den Rabaa-Platz räumen sollen. Aufnahmen mit dem Hinweis „Reale Filmaufnahmen“ sind zwischen die gedrehten Szenen gemischt und erzeugen einen Dokumentarfilmeffekt. Während die Sicherheitskräfte sich vorsichtig dem Platz nähern, kündigen sie ihre Absicht an, keine scharfe Munition zu verwenden und friedlichen Demonstrant:innen ein sicheres Verlassen des Platzes zu ermöglichen. Die Anhänger:innen der Muslimbruderschaft werden hingegen als skrupellos und brutal dargestellt. Sie drücken naiven Mitmenschen Waffen in die Hand und fordern sie dazu auf, sich für den Märtyrertod bereit zu machen. Ihre Scharfschützen töten gezielt Polizeibeamte. Eine Aufnahme zeigt einen vermummten Demonstranten, der einen seiner Mitstreiter erschießt, um seinen Tod anschließend der Polizei in die Schuhe zu schieben. So kann man die 1000 Toten im Protestcamp auch erklären. Ein ehrenhafter und hochprofessioneller Sicherheitsapparat gegen die verrohten Islamisten: ein Bild, dessen sich Diktatoren in Westasien und Nordafrika seit vielen Jahren bedienen. Ihre Armeen und Einheitsparteien gehen aus dieser Erzählung als einzige Alternative zum Dschihadismus hervor. „Das Regime braucht Feinde und Verschwörungen, um seinen Machterhalt zu rechtfertigen“, schreibt Maged Mandour. Der ägyptische Politikwissenschaftler argumentiert, dass die Räumung von Rabaa der Gründungsmythos des Sisi-Regimes sei. „Die Stra-

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30 Kommentare tegie war nicht nur, gesellschaftliche Unterstützung für staatliche Repression zu schaffen, sondern einen Akt des gemeinschaftlichen Tötens zu erzeugen“, so Mandour.2 Die Gewalt, auf der das heutige Regime fußt, wird als Wille des Volks dargestellt und dadurch scheinbar legitimiert. „Niemand kann sich einem Volk widersetzen, das sich zweimal erhoben hat, 2011 und 2013, um zwei Regierungen zu stürzen“, sagte Präsident Al-Sisi kürzlich in einem Interview mit der „Welt“3 und stellte damit den Putsch auf die gleiche Ebene wie die Massenproteste von 2011, als Millionen von Menschen sich auf dem Tahrir-Platz gegen den damals amtierenden autokratischen Präsidenten Husni Mubarak erhoben.

Doch das Erinnerungstheater wirkt heute, zehn Jahre nach der Machtübernahme al-Sisis, nur noch bedingt. Die Wirtschaft steckt seit Jahren tief in der Krise, Oppositionelle sitzen zu Tausenden im Gefängnis und das Regime ringt um Legitimation – mit Luxusprojekten und immer neuen Feindbildern. Jede:r dritte Ägypter:in lebt mittlerweile unterhalb der Armutsgrenze. Zwischen September 2022 und Februar 2023 stieg die Inflation von 15 auf 40 Prozent. Der Tourismus, eine der Haupteinnahmequellen, ist seit 2011 nicht mehr richtig auf die Beine gekommen. Die Coronapandemie tat ihr Übriges, zudem kamen die meisten Tourist:innen in der Vergangenheit aus der Ukraine und Russland. Auch der Großteil der Weizenimporte kam von dort, und so bedroht der russische Angriffskrieg nicht nur Ägyptens Tourismusindus-

trie, sondern auch die Lebensmittelsicherheit im Land. Die ägyptische Währung stürzt immer weiter ab. Nur Argentinien hat aktuell höhere Schulden beim Internationalen Währungsfonds (IWF). Doch während Grundnahrungsmittel in den Regalen fehlen, setzt die Regierung auf Prestigeprojekte. 50 Kilometer östlich von Kairo entsteht seit 2015 eine neue administrative Hauptstadt. Luxuswohnungen, Shoppingmalls, der höchste Wolkenkratzer Afrikas und ein pompöses Regierungsviertel sollen diese künstliche Stadt in der Wüste prägen. Erst kürzlich wurde publik, dass die neuen Regierungsgebäude nicht dem Staat, sondern dem Militär gehören und für 212 Mio. US-Dollar im Jahr gemietet werden müssen. Zudem hat die Regierung Milliarden ausgegeben, um Nilwasser in die neue Hauptstadt umzuleiten. Parallel dazu wird in den ländlichen Gegenden Ägyptens das Wasser für die Landwirtschaft knapp. Das liegt allerdings nicht nur an der neuen Hauptstadt: Um Wasser an Projekte zu leiten, die Firmen in Militärbesitz oder aus den Golfstaaten gehören, wurde der Reisanbau lokaler Farmer gesetzlich eingeschränkt.4 Das Militär ist wohl der Hauptprofiteur von Ägyptens verschwenderischer Baupolitik. Firmen in Militärbesitz zahlen keine Steuern und erhalten konkurrenzlos Zuschläge für öffentliche Bauprojekte.5 Und die Armee hat ihre Kontrolle in den letzten zehn Jahren auf weitere Wirtschaftsbereiche ausgedehnt, von der Medienbranche über Telekommunikation bis hin zu Fischzucht und Tankstellen. Wer sich ihr entgegenstellt, riskiert Haft: So erging es Safwan Thabet, dem Gründer und CEO der größten Milch- und Saftfirma in Ägypten. Weil er sich weigerte,

2 Maged Mandour, Egypt: How Sisi regime turned Rabaa massacre into its foundation myth, www.middleeasteye.net, 21.4.2021. 3 Daniel-Dylan Böhmer und Dagmar Rosenfeld, „Wie ich hier sitzen kann und die Leute im Elend leben lassen?“, www.welt.de, 28.4.2021.

4 Vgl. Saker El Nour, GERD,* The Tree which Hides the Forest: On Water Inequalities in Egypt, https://africanarguments.org, 14.1.2021. 5 Vgl. Mahmoud Elsobky, The Military Economic Republic of Egypt, www.daraj.media/en, 29.9.2021.

Luxusprojekte und neue Feindbilder

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Anteile seiner Firma an das Militär abzutreten, wurden er und sein Sohn unter konstruierten Terrorvorwürfen für zwei Jahre inhaftiert. Anstatt die wirtschaftlichen Probleme des Landes ernsthaft anzugehen, versucht al-Sisi den Nationalstolz der Ägypter:innen mit der Erzählung von Modernität und Fortschritt anzufachen. Das Streben nach diesen Idealen führt unter anderem dazu, dass Grünflächen unter Beton verschwinden und historische Nachbarschaften Hochhäusern weichen. Die Bewohner:innen informeller Siedlungen werden in überwachte Neubauten außerhalb der Stadt verfrachtet. Ägypter:innen müssen tatenlos zusehen, wie öffentlicher Raum zunehmend reguliert und privatisiert wird. Um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen: Die sogenannte „Totenstadt“ soll bald von einer Autobahn durchschnitten werden. Der riesige Friedhof am Rande von Kairo ist UNESCO-Weltkulturerbe, einige der Grabbauten sind mehr als tausend Jahre alt. Zudem leben seit dem frühen 20. Jahrhundert zahlreiche Menschen zwischen den Gräbern. Nun werden diese zum Teil an andere Orte verlegt, um Kairo an die neue Hauptstadt anzubinden. Je mehr der öffentliche Raum formalisiert und kontrolliert wird, desto weniger Raum bleibt für ungeplante – unerwünschte – gesellschaftliche Interaktion. Das wohl beeindruckendste Denkmal dieses Kontrollwahns ist der Tahrir-Platz, das ehemalige Zentrum der Revolution. Er wird heute von einer massiven Flagge besetzt und von Sicherheitsleuten bewacht, damit sich keiner dort zu lange aufhält. Denn auch wenn die Euphorie der Revolution heute weitestgehend Resignation gewichen ist, so schwebt das Potenzial eines plötzlichen, massenhaften Aufbegehrens doch bedrohlich über einer Regierung, die sich als legitime Hüterin des revolutionären Erbes stilisiert. „Wir sind alle Khaled Said“: Mit diesem Slogan, der an den von der Polizei zu Tode geprügelten jungen Mann

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erinnerte, startete am 25. Januar 2011 die ägyptische Revolution. Eine ihrer zentralen Forderungen war das Ende der Polizeigewalt im Land. Heute gibt es in Ägypten mehr als 60 000 politische Gefangene und Folter ist allgegenwärtig in den Haftanstalten des Landes. Gleichzeitig gehört Ägypten zu den aktivsten Vollstreckern der Todesstrafe. Viele Ägypter:innen empfinden die aktuelle Situation bedrohlicher als zu Mubaraks Zeiten. Damals waren die roten Linien bekannt, innerhalb derer man Kritik üben konnte. Heute verschwinden Menschen aus völlig willkürlichen Gründen für Jahre hinter Gittern: weil sie ein T-Shirt mit Antifolter-Slogan trugen oder humanitäre Hilfe für Straßenkinder leisteten.6 Über 60 000 politische Gefangene Die Feindseligkeit des Staates richtet sich aber auch immer wieder gegen Menschen, die traditionellen Geschlechterrollen nicht entsprechen. Denn wer in einer mehrheitlich gläubigen Gesellschaft eine einflussreiche religiöse Oppositionsgruppe ausschalten möchte, der muss bisweilen päpstlicher sein als der Papst – oder im Falle Ägyptens muslimischer als die Muslimbruderschaft. So wurden 2015 bei einer Razzia in einem Badehaus 26 Männer festgenommen und wegen homosexueller Handlungen angeklagt. Zwei Jahre später nahmen die ägyptischen Behörden sieben junge Menschen fest, die auf einem Konzert in Kairo eine Regenbogenfahne gehisst hatten. Eine von ihnen überlebte die Folgen der Demütigung und Folter in der Haft nicht: Die Aktivistin Sara Hegazy nahm sich drei Jahre später im kanadischen Exil das Leben. Und 2020 wurden mehrere Frauen festgenommen, die Tanzvideos von sich auf Tiktok gepostet hatten. Sie sollen dabei 6 Vgl. die Fälle von Mahmoud Mohammed Ahmed und Aya Hijazi.

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32 Kommentare gegen die „Werte der ägyptischen Familie“ verstoßen haben. Welche Werte das sein sollen und wer sie definiert, ist unklar. Doch in den letzten zehn Jahren wurden sie immer wieder als Argument verwendet, um abweichendes Verhalten zu einer Straftat zu erklären. Milliardendeals mit dem Sisi-Regime Angesichts dessen kann es nicht verwundern, dass Ägypter:innen heute die drittgrößte Gruppe unter jenen sind, die über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa kommen. Doch anstatt vom Sisi-Regime die Einhaltung der Menschenrechte einzufordern und damit letztlich auch Fluchtursachen zu bekämpfen, wollen die EU-Staaten in Präsident al-Sisi „einen stabilen, verlässlichen Partner in der Region“ sehen und pflegen mal wieder sorgsam ihre Beziehungen zu einem diktatorischen Regime.7 Oft steckt dahinter neben finanziellen Interessen der politische Plan, einen Verbündeten im Kampf gegen Migration zu haben. Hinzu kommt: Trotz der korrupten Wirtschaft und der umfassenden Unterdrückung der Zivilgesellschaft bereichert sich die deutsche Industrie in Ägypten seit Jahren ohne Rücksicht auf Verluste. Die ehemalige Bundesregierung genehmigte bis 2021 Jahr für Jahr Waffenlieferungen an den Nil, zuletzt war Ägypten das mit Abstand größte Abnehmerland deutscher Rüstungsgüter. Zudem schließen Konzerne wie Siemens Milliardendeals mit dem verschuldeten Land ab, 2022 etwa für den Bau des „modernsten Hochgeschwindigkeitsbahnnetzes der Welt“. Die deutsche Regierung begrüßt diese Deals und unterstützt sie mit Krediten. Wenn sich die internationale Gemeinschaft also frage, wie sie Ägypten helfen könne, hat Alaa Abdel Fattah, einer der prominentesten Aktivis7 Anna Osius, Wohlstand oder Moral?, www.tagesschau.de, 23.6.2022.

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ten und langjähriger politischer Gefangener des Landes, eine klare Antwort: „Repariert eure eigenen Demokratien.“ Über Länder ohne Meinungsfreiheit sagt man gerne, dass sie großen Gefängnissen gleichen. Selbst wer gerade nicht eingesperrt sei, lebe in Unfreiheit, so die Metapher. Alaa Abdel Fattah ist anderer Meinung: „Es gibt kein Gefängnis außer dem kleinen Gefängnis“, schreibt er 2014 in einem Essay. „In meiner Zelle habe ich keinerlei Kontrolle über irgendetwas. Euch dagegen steht es frei, auf die Straße zu gehen und das Regime herauszufordern.“ Tatsächlich gibt es in Ägypten hin und wieder leisen Widerstand. Im März gewann völlig unerwartet ein unabhängiger Kandidat die Wahlen zum Vorsitz des Journalist:innenverbandes und setzte sich damit gegen elf regimenahe Konkurrenten durch.8 Der Verband hat großen Einfluss auf die Medienlandschaft und Arbeitsbedingungen von Journalist:innen in Ägypten. Vor 2013 war sein Gebäude als Ort kontroverser Debatten und Ausgangspunkt politischen Protests bekannt. Die Wahl des linken Journalisten Khaled El-Balshy wurde in oppositionellen Kreisen mit ungläubiger Euphorie aufgenommen. Ob El-Balshy und der nun mehrheitlich unabhängige Verbandsvorstand es schaffen, die Pressefreiheit in Ägypten wiederzubeleben, bleibt abzuwarten. Aktuell steht das Land auf Platz 166 von 180 der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit. Doch der Sieg des unabhängigen Kandidaten zeigt, dass Geschichte nicht nur vom Regime, seinen Wirtschaftseliten und Medienbetrieben geschrieben wird. Solange es noch Nischen gibt, in denen die Zivilgesellschaft Fuß fassen kann, geht das Ringen um die Deutung der Vergangenheit und die Gestaltung der Zukunft weiter. 8 Vgl. Hossam El-Hamalawy, Egypt’s Press Syndicate Elections: Significance, Limitations, and Prospects, www.arab-reform.net, 27.3.2023.



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Simone Schlindwein

Queer in Uganda: Backlash für die Menschenrechte Ende Mai ist in Uganda das sogenannte Anti-Homosexuellen-Gesetz in Kraft getreten – es ist eines der schärfsten Gesetze gegen die LGBTQI-Gemeinde weltweit. „Eine Person, die die Straftat der schweren Homosexualität begeht, muss im Fall einer Verurteilung den Tod erleiden“, steht darin. Gemeint ist der gleichgeschlechtliche Akt mit Minderjährigen, Behinderten oder älteren Personen über 75 Jahre. Zwar wird die Todesstrafe in Uganda schon lange nicht mehr umgesetzt. Dennoch verschärft das Gesetz die Situation für die LGBTQI-Gemeinde massiv. Es richtet sich jedoch nicht nur gegen Homosexuelle, sondern gegen alle Menschenund Freiheitsrechte des Landes. „Wir machen dieses Gesetz für uns selbst. Wir machen dieses Gesetz für unsere Kinder. Dieses Land wird dafür sorgen, dass Homosexuelle in Uganda keinen Platz haben“, wettert der ugandische Abgeordnete und Staatsminister für Arbeit und Transport, Musa Ecweru, im voll besetzten Parlamentssaal. Seine rund 390 Amtskollegen jubeln. Da steht eine weitere Volksvertreterin auf und zitiert Leviticus-Verse aus dem Alten Testament. „Darin heißt es, dass diejenigen, die diesen Akt begehen, getötet werden müssen, richtig?“, fragt sie in die Runde und wendet sich dann an Ugandas Parlamentsvorsitzende Anita Among: „Sehr geehrte Parlamentsvorsteherin, in meinem Wahlkreis werden sie ohnehin gesteinigt, wenn sie einen solch unmoralischen Akt begehen.“ Fast einstimmig stimmten Ugandas Parlamentarier am späten Abend des 21. März für das sogenannte Anti-Ho-

mosexuellen-Gesetz. Nur zwei von 389 Abgeordneten waren dagegen – eine Seltenheit in einem Land, in welchem die Opposition sich fast nie der Partei an der Macht anschließt. Doch so viel Einigkeit sei nötig, „um die Kapazitäten zu stärken, über die das Land verfügt, um inneren und äußeren Bedrohungen gegen die traditionelle, heterosexuelle Familie zu begegnen“, heißt es in der Begründung der Gesetzesinitiative. Durch die Unterschrift des 74jährigen Präsidenten Yoweri Museveni, der seit 37 Jahren an der Macht ist, trat es Ende Mai in Kraft. Auch Mitwisser machen sich strafbar Als „blanken Horror“ bezeichnet Martin Musiimwe den Gesetzestext. Der junge Mann ist Anwalt und berät in seiner Organisation Let‘s Walk Uganda1, die sich für die Rechte der LGBTQI in Uganda einsetzt, Betroffene, wenn sie juristische Probleme haben. Und das geschieht dieser Tage immer öfter. „Seit das Gesetz verabschiedet wurde, haben die Übergriffe auf unsere Leute extrem zugenommen“, bestätigt er. Erst vor wenigen Tagen, so erzählt er, sei eine Transgender-Frau in Kampala auf offener Straße fast von einem Mob gelyncht worden. „Es hat bereits jetzt dramatische Folgen“, erklärt Musiimwe und erwähnt, dass auch er selbst Todesdrohungen erhalten habe. „Wir sind nirgendwo mehr sicher.“2 1 https://lwuganda.org. 2 Vgl. dazu und zu den gesundheitlichen Folgen des Gesetzes: Simone Schlindwein, Ende des Regenbogens, www.taz.de, 29.5.2023.

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34 Kommentare Das Gesetz wird nicht nur für LGBTQIPersonen weitreichende Folgen haben, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes. Laut dem 16seitigen Gesetzestext ist es nun untersagt, Homosexualität zu „fördern“ oder zu „normalisieren“. Dazu gehört auch, Homosexuelle zu „unterstützen“. Das Problem sei, so Musiimwe, dass sich das ganze soziale und private Umfeld quasi mit strafbar macht: „die Eltern; der Pfarrer, bei dem du deine Beichte ablegst; der Anwalt, der dich verteidigt; der Arzt, der dich behandelt“. All diejenigen, die davon wissen, dass jemand gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr hat, seien nun verpflichtet, „dich anzuzeigen, sonst machen sie sich selbst strafbar“. Laut Mussimwe widersprechen viele Paragrafen des Gesetzes jedoch der ugandischen Verfassung. „Kein unabhängiges Verfassungsgericht wird das durchgehen lassen“, hofft er. Elf ugandische Aktivisten, darunter Professoren der staatlichen Universität und Vertreter aus der LGBTQI-Szene haben direkt nach der Unterschrift des Präsidenten Ende Mai Klage vor dem Verfassungsgericht eingereicht. Instrument der Erpressung Das nun verabschiedete Gesetz hat in Uganda eine lange Vorgeschichte. Seit 15 Jahren schon debattiert das Land über das Thema, in dieser Zeit hat sich die Gesellschaft immer weiter radikalisiert. Bereits die britischen Kolonialherren hatten 1950 jeglichen gleichgeschlechtlichen Sex verboten. Doch Ugandas Gesetzgebern ging das nicht weit genug. Im Jahr 2007 kam es zum Eklat: Damals verteilte das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF an Ugandas Schulen Bücher zur Sexualaufklärung. Sie sollten die Zahl der Schwangerschaften bei minderjährigen Mädchen reduzieren. Darin enthalten war auch ein Kapitel zum Thema gleichgeschlechtlicher Sex. Seitdem kritisiert Ugandas Bildungsministerin

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und Gattin des Präsidenten, Janet Museveni, immer wieder, dass Kinder in den Schulen angeblich zur Homosexualität verführt würden. Auf ihre Initiative hin war deswegen 2009 ein Gesetzesvorschlag ins Parlament eingebracht worden, der den Straftatbestand verschärfen und zusätzlich jegliche „Förderung“ und „Unterstützung“ von Homosexualität verbieten sollte. Das Parlament verabschiedete dieses Gesetz 2013, doch ein Jahr später wurde es vom Verfassungsgericht wegen technischer Fehler wieder gekippt. Die Debatte indes blieb der ugandischen Politik erhalten. Eine der größten Verfechterinnen des harschen Gesetzes, besagte Janet Museveni, ist ebenso wie ihr Mann ein aktives Mitglied im International Prayers Breakfast, ein jährlich stattfindendes weltweites Treffen radikaler evangelikaler Kreise aus den USA und anderen Ländern, das bislang von der Fellowship Foundation veranstaltet wurde. Alle amtierenden US-Präsidenten nehmen an diesem mehrtägigen Event teil; Präsident Museveni und seine Ehefrau Janet gelten als die wichtigsten Vertreter Afrikas. Die dort zusammenkommende christlich-konservative politische Elite ist der Überzeugung, dass Gott auf der Welt gewisse politische Führer auserkoren hat, die die Menschheit in eine bessere Zukunft führen sollen. Dazu gehört auch die Vorstellung, dass Gott in Uganda die derzeitige Präsidentenfamilie ausgewählt habe, die Ugander vor allen Sünden zu bewahren – auch vor Homosexualität. „Ich bin überzeugt“, hatte Janet Museveni kurz nach der Verabschiedung des Gesetzes betont, „dass wir mit Gottes Unterstützung triumphieren und diesen Kampf um die Menschheit gewinnen werden.“ Menschenrechtsaktivisten und -anwälte betrachten das Gesetz hingegen mit großer Sorge. Viele vermuten, es diene der Präsidentenfamilie – in der sich abzeichnet, dass der älteste Sohn die Nachfolge seines Vaters an-

strebt – als Instrument, um sämtliche politische Rivalen für das Präsidentenamt schon im Vorfeld auszuschalten. „Abgesehen davon, dass jeder aus der LGBTQI-Gemeinde jederzeit im Gefängnis landen kann, dient dieses Gesetz als Instrument der Erpressung und Schikane gegen alle und jeden“, warnt Ugandas berühmtester Menschenrechtsanwalt, Nickolas Opiyo. Er hat dies bereits am eigenen Leib erfahren. Denn er ist 2014 beim letzten Gesetzesentwurf vor das Verfassungsgericht gezogen. Aufgrund seiner Klage wurde das Gesetzt schließlich gekippt. Seitdem wird er selbst als homosexuell diffamiert. Aus Sicherheitsgründen lebt er heute in den USA – und verfolgt von dort aus die aktuelle Debatte mit Besorgnis. „Ich kenne jetzt schon sehr viele Leute in der Politik, die von ihren Rivalen erpresst werden“, so Opiyo, „indem sie mit dem Finger auf sie zeigen und damit drohen, sie öffentlich als homosexuell zu diffamieren“, berichtet er. „Dieses Gesetz ist das beste Instrument, systematische Erpressung in einem zutiefst korrupten Land zu intensivieren und eine ganze Gesellschaft zum Schweigen zu bringen.“ Einflussnahme aus dem Ausland? Dementsprechend hagelt es nun heftige Kritik. Kaum hatte Parlamentssprecherin Anita Among Ende Mai bekannt gegeben, dass Präsident Museveni das Gesetz unterzeichnet habe, drohten zahlreiche westliche Staaten und internationale Organisationen dem ugandischen Regime mit Konsequenzen. Als „tragische Verletzung der universellen Menschenrechte“ bezeichnet der US-Präsident das Gesetz und fordert Ugandas Regierung auf, es unverzüglich wieder abzuschaffen. Die scharfen Worte aus Washington gingen allerdings weit über das Gesetz hinaus. Es sei, so Biden, lediglich die „jüngste Entwicklung“ in einem „alarmierenden Trend zu Menschen-

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rechtsverletzungen und Korruption in Uganda“. Die „Gefahren, die dieser demokratische Rückfall mit sich bringt“, so das Weiße Haus, seien „eine Bedrohung für alle Einwohner Ugandas, einschließlich des US-Regierungspersonals, von Mitarbeitern unserer Implementierungspartner, Touristen, Mitgliedern der Geschäftswelt und anderen“. Um Bidens Worten Taten folgen zu lassen, annullierte das US-Außenministerium kurzerhand Amongs US-Visum. Auch sämtliche US-Hilfsprogramme im Gesundheits- und Bildungsbereich im Umfang von rund einer Mrd. Dollar stünden nun auf dem Spiel, so die Drohung aus Washington. Analysten und Akademiker, die sich mit den Hintergründen des Gesetzes beschäftigen, fürchten die Einflussnahme aus dem Ausland – aus den USA, aber auch aus Russland. Die Europäische Union (EU) hat mit ihren Partnerländern in Afrika, der Karibik und im Pazifik (AKP) in den vergangenen Jahren über ein neues Partnerschaftsabkommen verhandelt, das sogenannte Post-Cotonou-Abkommen. Es regelt die wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Beziehungen zwischen der EU und den AKP-Ländern. Die EU sichert darin Entwicklungshilfe zu, wenn die Afrikaner mehr Demokratie und Menschenrechte zulassen. Die Rechte von Homosexuellen werden in diesem Vertrag als Bestandteil der Menschenrechte explizit erwähnt. „Unsere Gesellschaft ist nicht bereit für Homosexualität“, wetterte dagegen Thomas Tayebwa, Ugandas Vizeparlamentsvorsitzender bei den Verhandlungen mit der EU in Mosambiks Hauptstadt Maputo im Oktober 2022. Dafür erntete er Applaus von anderen afrikanischen Delegierten. Zur selben Zeit fand in den USA eine Konferenz zur „Afrikanischen Familienpolitik“ statt, die von der amerikanischen Organisation Family Watch International (FWI) organisiert wurde und zu der Vertreter aus ganz Afrika geladen waren. Homosexualität zerstöre die tra-

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36 Kommentare ditionellen Familienwerte, so die Botschaft der Konferenz. Internationale Menschenrechtler bezeichnen FWI als „extremistische Gruppe“, die weltweit Homophobie verbreitet. Die Vorsitzende, Sharon Slater, ist in Afrika bekannt; sie finanziert auf dem Kontinent zahlreiche Waisenhäuser, auch in Uganda. Zudem ist sie mit Ugandas Präsidentengattin Janet eng befreundet und unterhält Kontakte nach Moskau. Zeitgleich zur FWI-Konferenz in den USA fanden sich am Amtssitz des ugandischen Präsidenten hochrangige Vertreter evangelikaler Zirkel aus Uganda und den Vereinigten Staaten zum National Prayers Breakfast ein. Das jährliche Zusammenkommen findet nach dem Vorbild des besagten Prayers Breakfast in Washington statt. Beim Gebetsfrühstück im ugandischen Präsidentenpalast wurde die Elite des Landes nun auf die aktuell wichtigen Themen eingeschworen. Janet Museveni spielte dabei als Vorsitzende der elitären Gebetsrunde eine wichtige Rolle. Sie betonte erneut die Bedeutung des Anti-Homosexuellen-Gesetzes. Parlamentssprecherin Among versprach nach den Gebeten, sie werde das Gesetz schnell durchs Parlament bekommen. Nicht einmal sechs Wochen, nachdem der erste Entwurf Mitte Februar ins Parlament eingebracht worden war, lag es diesem zur finalen Abstimmung vor – ein Verfahren, das sonst Jahre dauert. Für Landeskenner war das ein Weckruf. „Es ging alles sehr, sehr schnell“, so Kristof Titeca, Professor für Entwicklungspolitik an der Universität in Antwerpen und Uganda-Spezialist. Er hat zahlreiche Abgeordnete in Uganda interviewt und kommt zu dem Schluss: „Es gab Geldflüsse von außen und diese haben dazu geführt, dass die Ugander wieder anfingen, sich zu organisieren.“ Wie so viele internationale Experten, Diplomaten und Analysten hat auch Titeca Hinweise recherchiert, die darauf schließen lassen, dass Ugandas Abgeordnete womöglich Geld

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erhalten haben, um das Gesetz durchs Parlament zu peitschen. Gleichzeitig nutzt Präsident Museveni die Thematik gekonnt aus, um gegen den Westen zu wettern: „Es ist gut, dass Sie den Druck der Imperialisten zurückgewiesen haben“, lobte er seine Abgeordneten und berichtet: „Wann immer die Diplomaten aus dem Westen zu mir kommen, sage ich: Bitte halten sie einfach den Mund!“ Russlandfreundliches Regime Musevenis Regime, einst ein enger Partner der USA im Kampf gegen den Terror in Afrika, zeigt sich seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine extrem russlandfreundlich. Seitdem wurden zahlreiche Abkommen mit Moskau geschlossen: wirtschaftliche, aber auch militärische. Nur wenige Tage, nachdem das Gesetz verabschiedet worden war, erhielt Ugandas Armee neue Kampfhubschrauber aus Moskau. Alles nur Zufall? „Die Debatte über die LGBTQI-Thematik hilft, die Kluft zwischen dem Westen und den Afrikanern weiter zu vergrößern“, so Titeca: Dies sei genau Russlands Ziel auf dem Kontinent. Der Professor nennt Beispiele, wie Moskau die Debatte befeuert: „Die russische Botschaft in Nairobi hat an jenem Tag, als in Uganda das Gesetz verabschiedet wurde, getwittert, dass sie die Familie gegen die unmoralischen westlichen Werte wie LGBTQI schützen werde.“ Kurz darauf lag im Parlament des Nachbarlandes Kenia ein ähnlicher Gesetzesentwurf vor, fast eine Kopie des ugandischen Gesetzestextes. „Wenn man mit Aktivisten, Politikern oder Diplomaten spricht, dann wiederholen sie alle das gleiche Gerücht, nämlich dass Russland hinter den Kulissen die Fäden gesponnen hat“, resümiert Titeca. Sollte das zutreffen, verhieße das für die LGBTQI-Gemeinde, aber auch für die Zukunft der Demokratie in der Region, nichts Gutes.

DEBATTE

Ukraine: Warum Verhandlungen unabdingbar sind In der Debatte um den Ukrainekrieg wird oft argumentiert, für eine Verhandlungslösung sei es noch zu früh – und mit Wladimir Putin sei eine solche vielleicht ohnehin unmöglich. Dem widerspricht der Publizist Fabian Scheidler: Angesichts der Bedrohungen durch Klimakrise und Atomkrieg sei ein Dialog mehr geboten denn je. Die Pentagon-Leaks aus dem Frühjahr dieses Jahres haben gezeigt, dass aus Sicht des US-Militärs die Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine in eine Pattsituation geraten ist. Keine der beiden Seiten kann, so die Einschätzung, in absehbarer Zeit siegen. Das hatten bereits zuvor führende Militärs wie etwa General Mark A. Milley, Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff, öffentlich gesagt.1 Damit aber werden Verhandlungen, so schwierig sie auch sein mögen, zur einzig rationalen Handlungsoption. Denn eine Fortsetzung des Krieges unter diesen Bedingungen würde in ein schier endloses Blutvergießen münden, in ein neues Verdun, ohne dass damit das angestrebte Ziel, eine vollständige Wiederherstellung der ukrainischen Souveränität, erreicht werden würde. Zugleich würde eine nukleare Eskalation immer wahrscheinlicher. Jede ethisch fundierte Position in einem solchen Konflikt muss zwischen den Risiken und Opfern, die für ein Ziel gebracht werden sollen, und dem, was realistisch erreicht werden kann, abwägen. Die russische Führung hat 1 Vgl. Peter Baker, Top U.S. General Urges Diplomacy in Ukraine While Biden Advisers Resist, www.nytimes.com, 10.11.2022.

mit dem Eimmarsch in die Ukraine ein schweres Verbrechen begangen, gegen die Menschen und gegen das Völkerrecht. Doch wenn die vollständige militärische Rückeroberung der besetzten Gebiete durch die Ukraine nicht realistisch ist und der Kampf darum nur enorme, letztlich sinnlose Opfer kosten wird, dann steht eine Frage im Raum: Wie viele Menschen sollen noch sterben, um den künftigen Grenzverlauf um wie viele Kilometer zu verschieben? Doch bereits diese Frage gilt bei vielen, die sich lautstark als Freunde der Ukraine in Szene setzen, als zynisch und unsolidarisch mit den Angegriffenen. Aber ist es nicht im Gegenteil zynisch, genau diese Frage nicht zu stellen? Während Generäle, Politiker und Journalisten über Kriegsziele und Prinzipien diskutieren, sterben in der Ukraine täglich Menschen, die nie darüber abstimmen konnten, ob sie für diese Ziele ihr Leben lassen wollen, weder auf russischer noch auf ukrainischer Seite. Das führt zu der wichtigen, von Max Weber stammenden Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Gesinnungsethik begnügt sich damit, abstrakte Prinzipien

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38 Fabian Scheidler zu verteidigen, egal was die Folgen sind. Verantwortungsethik denkt vom gewünschten Ergebnis her. In unserem Fall hieße das beispielsweise: Welche Schritte muss man in der realen, oft unschönen Welt unternehmen, um möglichst viele Menschenleben zu retten, der Ukraine eine Zukunft zu ermöglichen und einen Atomkrieg zu verhindern? Die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr etwa gründete in vieler Hinsicht in einer Verantwortungsethik. Ihre Logik lautete: Auch wenn wir die Herrscher im Kreml missbilligen, ja selbst wenn wir meinten, sie seien die Inkarnation des Bösen, so müssen wir doch mit ihnen sprechen und sogar verhandeln. Zum einen, um konkrete Erleichterungen für die Menschen zu erreichen, zum anderen, um zu verhindern, dass wir alle in einem Atomkrieg sterben. » Die Welt steht vor einer ganzen Reihe von gefährlichen Kipppunkten, geopolitisch wie ökologisch.« Um das zu erreichen, sind großspurige moralische Lektionen und eine Anrufung der „westlichen Werte“ oft wenig zielführend. Sie führen zwar dazu, dass man sich selbst moralisch erhoben und auf der richtigen Seite fühlt, tragen aber nichts zu einer Entschärfung der Lage bei. Im Gegenteil: Wie bereits im Fall des Kriegs gegen den Terror nach Nine Eleven verbaut die Selbstbeweihräucherung den Blick auf die Realität und kann damit in eine Spirale der Zerstörung führen. Die Frage nach Gesinnungs- oder Verantwortungsethik geht aber weit über die Kriegsfolgen im engeren Sinne hinaus und bezieht sich auf die gesamte globale Situation. Die Welt steht heute vor einer ganzen Reihe von gefährlichen Kipppunkten, geopolitisch wie ökologisch. Zum einen erhöht eine dauerhafte neue

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Blockkonfrontation die Gefahr eines Atomkriegs erheblich. Selbst ein „begrenzter“ nuklearer Schlagabtausch würde global in einen nuklearen Winter führen und einen großen Teil der Menschheit auslöschen. Allein aus diesem Grund ist eine verantwortungsethische Diplomatie die einzig rationale Handlungsoption. Zum anderen zerstört der neue kalte und heiße Krieg gleich in mehrfacher Hinsicht die Chance, einen Klima- und Biosphärenkollaps noch zu verhindern. Überschreiten wir einige der unmittelbar bevorstehenden Kipppunkte im Klimasystem, dann droht die Erde in einen vollkommen neuen Zustand überzugehen: das Hothouse Earth. Ganze Erdregionen, darunter Teile Südasiens, des Mittleren Ostens und Afrikas, würden unbewohnbar. Um das zu verhindern, muss der größte Teil der noch in der Erdkruste befindlichen fossilen Energien im Boden verbleiben. Und dazu ist wiederum eine intensivierte internationale Kooperation – auch mit China und Russland – unerlässlich. So abwegig das im Augenblick auch erscheint: Der Westen muss Russland Angebote machen, wie es von einem Exporteur fossiler Brennstoffe zu einem Produzenten erneuerbarer Energien werden kann – denn dafür hat das größte Land der Erde enorme Potenziale. Bleibt Russland aus westlicher Sicht ein Paria, mit dem man nicht redet, ist eine solche Perspektive undenkbar. Die neue Blockkonfrontation droht darüber hinaus die dringend für den sozial-ökologischen Umbau benötigten Ressourcen in den destruktivsten und klimaschädlichsten aller Sektoren zu kanalisieren: ins Militär. Damit zeichnet sich eine fatale Wiederholung der Dynamik nach dem 11. September 2001 ab. Das „Cost of War“-Projekt der renommierten Brown University beziffert die Kosten des Afghanistankrieges allein für den US-Haushalt auf 2100 Mrd. US-Dollar – das entspricht unvorstellbaren 300 Mio. pro Tag, und

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das über 20 Jahre lang. Die Kriege in Irak und Syrien schlugen insgesamt mit 2900 Mrd. Dollar zu Buche.2 Zum Vergleich: Das Budget, das die Entwicklungsländer seit Jahren für die Bekämpfung der ärgsten Folgen des Klimawandels fordern, beträgt 100 Mrd. Dollar – gemessen daran eine geradezu winzige Summe, die aber von den reichen Industrienationen bis heute nicht vollständig zur Verfügung gestellt wurde. Nach den Berechnungen des USÖkonomen Robert Pollin würde ein wirkungsvoller Global Green New Deal, der ein verheerendes Klimachaos noch verhindern könnte, etwa 4,5 Bill. Dollar jährlich kosten –  etwa fünf Prozent der globalen Wirtschaftsleistung.3 Das wäre durchaus finanzierbar, allerdings nur, wenn zugleich weltweit die Militärausgaben gedrosselt werden würden. Die neue Aufrüstung auf beiden Seiten infolge des Ukrainekriegs droht daher ein weiteres Mal den Weg zu einem ernsthaften ökologischen Umbau zu blockieren. Und damit dürfte womöglich die letzte Chance zur Erhaltung des Erdsystems, wie wir es kannten, beerdigt werden. An diesem Punkt wird auch deutlich, warum Friedens- und Klimabewegung untrennbar zusammengehören. Die enormen Anstrengungen der Klimabewegung werden vergeblich sein, wenn sie nicht mit einer realistischen friedenspolitischen Perspektive verbunden werden. Und umgekehrt wird es keinen Frieden geben, wenn wir mit 14 000 Atomsprengköpfen und einer Milliarde Kleinwaffen, die es auf der Erde gibt, ins Klimachaos schlittern. Auf den derzeit zutiefst gespaltenen Bewegungen liegt also eine große Verantwortung, trotz aller Differenzen aufeinander zuzugehen, Brücken zu bauen und gemeinsam zu handeln.

Zweitens wird, insbesondere von der US-Regierung, immer wieder darauf hingewiesen, dass es uns nicht anstehe, Kompromisse vorzuschlagen; das sei ausschließlich Sache der Ukrainer. Natürlich ist es an der Ukraine und vor allem an ihren Bürgern – die allerdings seit Jahren zu all dem gar nicht mehr gefragt worden sind –, Entscheidungen über Krieg, Frieden und Verhandlungen zu treffen. Aber es ist vollkommen realitätsfremd, so zu tun, als ob dieser Krieg in einem geopolitischen Vakuum stattfände. Die Positionen von Frankreich, Deutschland, Großbritannien und vor allem der USA haben de facto erheblichen Einfluss auf die Entscheidungen der ukrainischen Regierung, ebenso wie auch die Positionen Chinas und anderer Länder des Globalen Südens Einfluss auf Moskau haben. Kiew ist finanziell und militärisch vollkommen abhängig von Washington, ohne die Hilfen des Westens würde der Staat in kürzester Zeit zusammenbrechen. In dieser Situation so zu tun, als sei die ukrainische Regierung vollkom-

2 Vgl. Costs of War, https://watson.brown.edu. 3 Vgl. Noam Chomsky und Robert Pollin, Die Klimakrise und der Green New Deal, Münster 2021.

4 Vgl. Fabian Scheidler, Naftali Bennett wollte den Frieden zwischen Ukraine und Russland: Wer hat blockiert?, www.berliner-zeitung.de, 6.2.2023.

Der so dringend erforderliche Gedanke an Abwägungsprozesse und Verhandlungsinitiativen wird oft mit zwei Argumenten beiseite gewischt: Zum einen, so heißt es, könne man mit einem Monster wie Putin nicht verhandeln. Doch die Geschichte der Verhandlungen im März 2022, die zu erheblichen Annäherungen der beiden Seiten geführt hatte, beweist das Gegenteil.4

» Der Ukrainekrieg wird zu einem erheblichen Teil aus geopolitischen Motiven geführt und betrifft die Überlebenschancen aller Menschen.«

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40 Fabian Scheidler men autark und souverän, ist absurd. Es ist auch interessant, dass das Argument gegen Einmischung ausgerechnet von den USA kommt, die sich seit langem permanent in die Angelegenheiten der Ukraine eingemischt haben, und zwar massiv. Anfang Februar 2014, als der Maidanaufstand, der später zum Sturz der Regierung Janukowitsch führte, in vollem Gange war, tauchte das Leak eines Telefongesprächs zwischen Victoria Nuland, damals US-Chefdiplomatin für die EU, und Geoffrey Pyatt, dem US-Botschafter in Kiew, auf. Das Telefonat wurde berühmt durch Nulands Ausspruch „Fuck the EU“. Weniger bekannt, aber noch wichtiger ist die Art und Weise, wie Nuland und Pyatt darüber berieten, wie die künftige Regierung der Ukraine aussehen soll. Hier ein Auszug: „Nuland: Ich denke, Klitsch sollte nicht in die Regierung gehen. Ich denke, es ist nicht nötig, es ist keine gute Idee. Pyatt: Ja, ich meine, man sollte ihn lieber draußen lassen und seine politischen Hausaufgaben machen lassen. Ich denke, was den voranschreitenden Prozess angeht, wollen wir die moderaten Demokraten zusammenhalten. Das Problem werden Tjagnibok und seine Leute sein. [Oleg Tjagnibok war Vorsitzender der rechtsextremen, antisemitischen Swoboda-Partei, d. Verf.] […] Nuland: Ich denke, Jats ist der Mann, der die wirtschaftliche Erfahrung hat, die Regierungserfahrung.

Er ist der Mann. Was er braucht, sind Klitsch und Tjagnibok draußen. Er sollte mit ihnen vier Mal die Woche sprechen.“5 „Jats“ (gemeint ist Arsenij Jatsenuk) und „Klitsch“ (Vitali Klitschko): Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Nuland und Pyatt die zu diesem Zeitpunkt wichtigsten Oppositionspolitiker im Wesentlichen als Marionetten betrachteten, die man am grünen Tisch in Washington herumschieben kann. Tatsächlich wurde Nulands Wunsch, dass „Jats“ Ministerpräsident der Ukraine werden sollte, am 27. Februar 2014 Wirklichkeit. Sieht so der Umgang mit einem souveränen Land aus, das gänzlich unabhängige Entscheidungen trifft? Nein, der Ukrainekrieg ist ein globaler Konflikt, er wird zu einem erheblichen Teil aus geopolitischen Motiven geführt und er betrifft die Überlebenschancen aller Menschen. Der Westen muss daher endlich seinen Einfluss nutzen, um etwas zu seiner Beendigung beizutragen, statt Verhandlungsoptionen mit fadenscheinigen Argumenten beiseite zu wischen – auch wenn das nach den bisherigen Verwüstungen und der Zerstörung des Kachowka-Staudamms schwieriger denn je ist. Brasilien, China und Südafrika haben neue Friedensinitiativen auf den Weg gebracht. Die westlichen Länder sollten sich ihnen anschließen. 5 Ukraine crisis: Transcript of leaked NulandPyatt call, www.bbc.com, 7.2.2014.

Die Dokumente zum Zeitgeschehen – auf www.blaetter.de

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KURZGEFASST

Uwe Ritzer: Hitze-Hotspot Deutschland. Warum das Wasser immer knapper wird und was wir dagegen tun müssen, S. 43-54 Deutschland ist scheinbar ein wasserreiches Land. Doch nach mehreren Dürresommern zeigt sich hierzulande eine Wasserknappheit mit unübersehbaren Folgen, so der Journalist Uwe Ritzer. Um den Wassernotstand abzuwenden, bedarf es eines grundlegenden politischen Umsteuerns.

Stefan Grönebaum: Das Dilemma der Grünen und die blockierte Republik, S. 55-61 Die Grünen befinden sich in der Krise – und mit ihnen die Klimapolitik. Das ist nicht allein Ausdruck von aktuellen Konflikten in der Regierung, so der Historiker Stefan Grönebaum. Vielmehr rächt sich nun, dass über Jahrzehnte notwendige Reformen verschleppt wurden und nun umso rascheres Handeln geboten ist. Sonst droht eine über Jahre blockierte Republik.

Volker M. Heins und Frank Wolff: »Festung Europa« oder: Was die Mauern mit uns machen, S. 62-70 Die EU bekennt sich stolz zu Demokratie und Menschenrechten. Aber an ihren Grenzen zieht sie immer stärker befestigte Zäune hoch, an denen Flüchtenden mit Gewalt der Zugang verwehrt wird. Das aber, so der Kulturwissenschaftler Volker M. Heins und der Historiker Frank Wolff, schadet auch den so abgeriegelten europäischen Gesellschaften.

Oleksandra Matwijtschuk: Kein Frieden ohne Gerechtigkeit. Plädoyer für ein zukunftsfähiges Europa, S. 71-78 Im Westen werden Stimmen laut, die Kiew zu Gebietsverzichten auffordern. Doch Friede wäre das nicht, warnt die Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk. Denn dies würde die Menschen in den russisch besetzten Gebieten weiterhin Folter und Massenmord ausliefern. Will Europa die Menschenrechte schützten, darf es in seiner Solidarität nicht nachlassen.

Reinhard Wolf: Bedroht, getäuscht und provoziert? Russlands Krieg und der Westen, S. 79-89 Oft wird behauptet, mit mehr Verständnis für Moskaus Position hätte der Ukrainekrieg verhindert werden können. Dem widerspricht der Politik-

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42 Kurzgefasst wissenschaftler Reinhard Wolf. Russlands Vorstellungen von einer europäischen Ordnung waren mit denen des Westens unvereinbar – und sind es noch. Das erschwert die Suche nach Kompromissen erheblich.

Jürgen Gottschlich: Ein Triumph der Schwäche: Erdog˘ans letzter Sieg, S. 93-98 Nach dem Wahlsieg Recep Tayyip Erdog˘ans herrscht im demokratischen Lager der Türkei und im Westen Ernüchterung. Doch gerade in seinem Triumph offenbart sich die Schwäche des alten und neuen Präsidenten, so der Journalist Jürgen Gottschlich. Erdog˘an hat zentrale Wählergruppen verloren. Ein Ende seiner Ära ist absehbar.

Golineh Atai: Zwischen Repression und Hoffnung: Die iranische Revolte, S. 99-111 Seit neun Monaten begehren Iranerinnen und Iraner gegen das Regime auf. Trotz oder gerade wegen der massiven – teils tödlichen – Repressionen gehen die Proteste weiter. Die Journalistin Golineh Atai analysiert die verschiedenen Strömungen der Bewegung inner- und außerhalb Irans. Der Westen sollte die Bewegung weiter unterstützen und die Opfer aus ihrer Namenlosigkeit herausholen, damit die Revolte nicht vergeblich ist.

Kathrin Zeiske: Hass, Hetze, Gewalt: Mexiko als Vorposten der Abschottung, S 113-118 Schon lange sind Flüchtende aus Lateinamerika an der Grenze zwischen Mexiko und den USA unmenschlichen Zuständen und Gewalt durch Polizei und Drogenkartelle ausgeliefert. In jüngster Zeit aber hat sich ihre Situation noch einmal verschärft. Grund dafür ist nicht zuletzt die auch von Joe Biden fortgeführte Abschottungspolitik der USA, so die Journalistin Kathrin Zeiske. Mittels Digitalisierung und Militarisierung wird die US-Grenze dabei immer weiter nach Süden verlagert – mit teils fatalen Folgen.

Annika Brockschmidt: Verbannte Bücher: Der Kulturkampf der US-Rechten, S. 119-124 In den USA entfernen Akteure der politischen Rechten vermehrt Bücher aus Schulen, die nicht ihrem Geschichts- oder Weltbild entsprechen. Dieser Kulturkampf hat einen langen Vorlauf, zeigt die Historikerin Annika Brockschmidt. Schon in den 1970er Jahren begann die Religiöse Rechte, das öffentliche, säkulare Bildungssystem in den USA zu attackieren.

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ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

Hitze-Hotspot Deutschland Warum das Wasser immer knapper wird und was wir dagegen tun müssen Von Uwe Ritzer

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iegt Jordanien neuerdings am Main? Bayerns Umweltminister Thorsten Glauber warf jedenfalls unlängst den Vergleich in den Raum und warnte davor, dass es klimatisch so weit kommen könnte. Und tatsächlich lassen die letzten Jahre Schlimmes befürchten. Schon im und nach dem Hitzesommer 2018 mussten im Würzburger Stadtgebiet 5000 vertrocknete Bäume gefällt werden. Ende August 2022 weckt die Landschaft nordwestlich der Bischofsstadt beim Besucher tatsächlich Assoziationen in Richtung Wüste. An einer Kuppe ragt ein verkrüppelter Baumstamm nach oben, unter den Schuhen vertrocknetes Gras, dazu ein träger, aber unangenehm heißer Wind, der verdorrte Blätter durch die Gegend schiebt. Vieh grast auf dieser Weide schon lange nicht mehr; was sollten die Kühe auch fressen? Hier wächst nichts mehr. Schwer drückt die Hitze auf diesen von der Sonne braun gebrannten Landstrich nordwestlich von Würzburg. Und die Stadt selbst kommt einem vor wie ein Backofen: Die heiße Luft steht, und jede noch so kleine körperliche Anstrengung lässt den Schweiß fließen. Gemeinhin verbindet man mit Unterfranken sattgrüne Hänge, prächtige Weinberge, fruchtbares Land. Im Sommer 2022 aber leidet das nordwestliche Bayern unter Sonnenbrand und Hitzschlag. So wenig wie in jenem August habe es in ganz Nordbayern seit 62 Jahren nicht geregnet, rechnen Meteorologen vor. Vier Millimeter pro Quadratmeter, das seien 16 Prozent des durchschnittlichen Niederschlages dort in den Jahren 1971 bis 2000. Und selbst wenn man den vorausgegangenen Winter hinzurechnet, erreicht die Regenmenge in den ersten acht Monaten des Jahres 2022 nur drei Viertel des langjährigen Mittelwertes. Unvorstellbar war das noch vor wenigen Jahren, doch nach 2018, 2019 und 2020 war 2022 schon das vierte Dürrejahr binnen kürzester Zeit in Deutschland. Gleichzeitig wird das Wasserproblem immer sichtbarer. Der Grundwasserspiegel sinkt, fast die Hälfte der amtlichen Messpegel hierzulande weisen sehr niedrige Wasserstände aus. Die Versorgung mit Wasser schwächelte, für Gärten, Autos und Planschbecken war nicht mehr genug da. Frachter schip* Der Beitrag basiert auf „Zwischen Dürre und Flut. Deutschland vor dem Wassernotstand: Was jetzt passieren muss“, dem jüngsten Buch von Uwe Ritzer, das soeben bei Penguin erschienen ist.

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44 Uwe Ritzer perten halb leer den Rhein rauf und runter, weil Deutschlands längster Fluss einen so niedrigen Wasserstand hatte, dass die Schiffe, voll beladen und bei entsprechend größerem Tiefgang, auf Grund gelaufen wären. In manchen Gemeinden mussten gar Tankwagen anrücken, um die Einwohner mit frischem Trinkwasser zu versorgen, denn aus den Hähnen kam nichts mehr. Weil Brunnen ausgetrocknet waren, Flüsse, Bäche und Seen nur noch bedenklich wenig Wasser führten und die öffentlichen Versorger an ihre Grenzen kamen. In einer ganzen Reihe von Gemeinden haben die Verwaltungen verboten, private Schwimmbecken mit Leitungswasser zu befüllen, Spiel-, Sport- und Fußballplätze, überhaupt Rasenflächen zu gießen. Dementsprechend sehen sie aus. Manche Bäche sind zu Rinnsalen mutiert, der Wasserspiegel vieler Teiche ist geschrumpft. Selbst der Main würde gefährlich austrocknen, würden nicht pro Sekunde elf Kubikmeter Wasser über ein Stausystem, bestehend aus dem MainDonau-Kanal und dem Fränkischen Seenland südlich von Nürnberg, in den Fluss gepumpt. Was den Artenschützern Sorge bereitet: Die Wassertemperatur des Mains ist mit bis zu 25 Grad zu hoch für viele der in dem Fluss lebenden Tiere und Pflanzen. Die Gewässerökologie leidet. 25 Grad Wassertemperatur – das schaffte hier früher kein Freibad ohne Beheizung. Auch der Anbau des Frankenweins wird immer schwieriger. In Steillagen vertrocknen Trauben oder bekommen Sonnenbrand, sofern die Weinberge Richtung Süden ausgerichtet sind, funktioniert es ohne Bewässerung nicht mehr. Immer mehr Extremsteillagen in Mainfranken werden von den Winzern aufgegeben; zu aufwendig wäre Bewässerung. Ist der Zustand, den Heiko Paeth schon seit Jahren vorhergesagt hat, nun eingetreten? Er ist Klimaforscher an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, präziser formuliert: Leiter der Professur für Geografie mit Schwerpunkt Klimatologie am Lehrstuhl für Geomorphologie. Ein renommierter Experte weit über die Region hinaus. Schon 2016 hatte er Unterfranken zu „einem Hotspot des Klimawandels“ erklärt. Und im Mai 2019 hat er in einem Interview mit der in Würzburg erscheinenden „Main-Post“ präzise vorhergesagt, was dauerhaft geschehen wird. „Wir bekommen in etwa das Klima von Bordeaux, mit vier bis fünf Grad Erwärmung im Maintal, im Winter wie im Sommer. Wir hätten 20 bis 30 Prozent weniger Niederschlag im Sommer und etwa zehn Prozent mehr Niederschlag im Winter.“ Immer vorausgesetzt, es ändere sich klimapolitisch nichts Grundlegendes. Und das hat es nicht in den vergangenen Jahren. Die Klimapolitik, die angekündigten diversen Wenden von Energie und Verkehr beispielsweise, sie kommt in Deutschland nicht wirklich voran. „Unser Planet hat sich seit Beginn der flächendeckenden Messungen im Jahr 1881 um 0,9 Grad erwärmt, Unterfranken im gleichen Zeitraum um zwei Grad“, rechnet Paeth vor. „Das ist mehr als doppelt so viel als im globalen Durchschnitt. Nur an den Polkappen liegt die Erwärmungsrate jenseits von drei Grad.“ Der Ausblick des Professors, bezogen auf die Region um Würzburg, fällt nicht nur im Main-Post-Interview wenig zuversichtlich aus. „Bis Ende des Jahrhunderts, also dem Zeitraum 2070 bis 2099, wird sich die Zahl

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Hitze-Hotspot Deutschland 45 der Hitzetage an manchen Orten im Vergleich zum Zeitraum 1970 bis 1999 verfünffachen.“ Und Paeth prophezeit: „Wir werden auch mit Dürren kämpfen müssen und haben gleichzeitig einen hohen Wasserbedarf.“ Er sei sich, so der Professor, „nicht mehr sicher, ob das rein physikalische Ausmaß des Klimawandels bei uns glimpflicher ablaufen wird als in der Sahelzone oder in Ostafrika“.

Vom Wasser als Abfall zum Wasser als Luxus Dass Deutschland ein Wasserproblem hat und auf eine Krise zusteuert, ist unter Fachleuten und Politikern, die sich mit dem Thema beschäftigen, längst Gewissheit. Die Klimakrise hat demnach immer mehr Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von und die Versorgung mit Wasser.1 „Es fehlt uns das Wasser in der Fläche und der Tiefe“, sagte der bayerische Umweltminister Thorsten Glauber am 28. Oktober 2020 in einer Regierungserklärung im Landtag – und er meinte damit nicht nur den Freistaat. „Der hitzegestresste Boden wird zu Knäckebrot, irgendwann zu Sand, er hat kein Wasser mehr und nimmt auch keines mehr auf“, schilderte der Politiker der Freien Wähler und forderte: „Wir müssen weg vom entwässerten Boden, auf den die Sonne knallt. Die Vision ist der speicherfähige Boden mit Schatten spendenden Uferstreifen.“ In den vergangenen zehn Jahren, so Glauber, sei die Grundwasserneubildung um fast ein Fünftel zurückgegangen. „Wir sind auf dem besten Weg in einen Grundwassernotstand“, warnte Glauber. Wohlgemerkt: Da spricht kein Klimaaktivist, der sich gerade auf eine Straße geklebt hat, sondern der Umweltminister einer durch und durch bürgerlich-konservativen Regierung eines Bundeslandes, in dessen Süden es zumindest, verglichen mit anderen Teilen der Bundesrepublik, noch ordentlich Wasservorräte gibt. Das Deutsche GeoForschungsZentrum in Potsdam meldete bereits für den Dürresommer 2019 ein Wassermassendefizit von 43,7 Mrd. Tonnen in Deutschland. Die Niederschläge reichen nicht mehr aus, um die Speicher wieder zu füllen. Oder sagen wir es so: Die Menge ist, übers Jahr gesehen, vielleicht gar nicht das Problem, sondern dass Wasser zur falschen Zeit in zu großen Mengen auf einmal auf den Boden fällt, sodass es gar nicht erst versickern und sich als Grundwasser absetzen kann, sondern rasend schnell abfließt. 1 Um das zu erkennen, reicht ein Blick auf den Dürremonitor Deutschland, den das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Potsdam ins Netz gestellt hat und täglich aktualisiert. Er ist eine wissenschaftlich fundierte und allgemein zugängliche Informationsquelle, um herauszufinden, wie es mit der Bodenfeuchte vor Ort, in den jeweiligen Bundesländern und deutschlandweit gerade steht. Landkarten zeigen an, wie es um die Bodenfeuchte bestellt ist, im Gesamtboden und im Oberboden. Eine Karte visualisiert das aktuell pflanzenverfügbare Wasser im Erdreich. Ferner lässt sich die Entwicklung der zurückliegenden 14 Tage und des vergangenen Jahres jeweils nachvollziehen. Basis der Karten sind tägliche Daten des Deutschen Wetterdienstes sowie solche der Europäischen Umweltagentur (EEA), der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR), des Bundesamtes für Kartographie und Geodäsie (BKG), des European Water Archives (EWA), der Bundesanstalt für Gewässerkunde (BfG), der NASA (National Aeronautics and Space Administration) und des Global Runoff Data Centres (GRDC), die allesamt in den Dürremonitor einfließen.

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46 Uwe Ritzer Noch verschärft wird die Situation durch ein Problem, das dieses Land seit vielen Jahren nicht in den Griff bekommt, obwohl es weithin bekannt ist und man auch weiß, wo sein Ursprung liegt: Die Rede ist von den Belastungen der Flüsse, Seen und Grundwasserschichten durch schädliche Einträge wie Nitrat, Phosphat oder andere Substanzen. Gebündelt verknappen Klimawandel und Schadstoffproblem nicht nur das Wasserdargebot (also die Menge an Grund- und Oberflächenwasser, die potenziell genutzt werden kann), sondern sie machen auch die Gewinnung und Aufbereitung von Trinkwasser immer aufwendiger – und damit teurer. Diese Herausforderungen verschärfen sich gerade schneller als von vielen erwartet. Und wir als Staat und Gesellschaft sind darauf nur sehr unzureichend, in Teilen überhaupt nicht vorbereitet. Auch wenn Deutschland insgesamt weiter ein wasserreiches Land sei, heiße das nicht, „wir könnten uns auf Dauer darauf verlassen, dass wir immer und überall genug Wasser zur Verfügung hätten“, sagte Professorin Irina Engelhardt, Fachgebietsleiterin Hydrogeologie am Institut für Angewandte Geowissenschaften und zugleich Koordinatorin des Wasserressourcenmanagement-Projektes SpreeWasser:N, in einem Interview mit der „WirtschaftsWoche“. Bei anderer Gelegenheit formulierte sie es drastischer: „Deutschland war immer in einer Luxusposition. Wir hatten einfach immer genug. Wasser war ja quasi Abfall in Deutschland“, sagte Engelhardt. „Und wenn man von etwas genug hat, dann kümmert man sich auch nicht so darum.“ Gewiss, niemand in Deutschland muss Angst haben, dass er verdurstet, dass er sich nicht mehr oder nur noch sporadisch waschen kann oder dass Sanitäranlagen abgestellt werden. Deutschland ist ein Land mit verhältnismäßig viel Wasser, nach wie vor. Aber dieses Wasser wird weniger. Und das Ausmaß der Verknappung nimmt schneller zu, als selbst kritische Experten es vor wenigen Jahren noch geglaubt haben. Darauf muss reagiert werden, und zwar schnell und konsequent.2

Es ist spät, aber noch nicht zu spät Zwischen Oktober 2018 und Oktober 2020 trafen sich Fachleute aus der Wasserwirtschaft sowie zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger immer wieder zu einem sogenannten Nationalen Wasserdialog. Angestoßen hatte ihn die Bundesregierung, die Umsetzung lag beim Bundesumweltministerium und dem Umweltbundesamt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten Handlungsfelder und definierten daraus Handlungsbedarf, formulierten strategische Ziele und empfahlen Lösungen. Das Ergebnis ist eine „Nationale Wasserstrategie“, welche die Grundlage für das Wassermanagement in Deutschland werden soll. Meere sollen besser geschützt und das Bewusstsein für die Ressource Wasser geschärft werden. Wasser-, Energie2 Vgl. auch: Nick Reimer und Toralf Staud, Abgesoffen und ausgedörrt. Wie Wasser in Deutschland zum umkämpften Gut wird, in: „Blätter“, 7/2021, S. 69-76; Nick Reimer, Vertieft, vertrocknet, vergiftet: Das Elend unserer Flüsse, in: „Blätter“, 11/2022, S. 25-28; Anika Joeres, „Wir können nur noch beten“: Frankreich nach der Winterdürre, in: „Blätter“, 4/2023, S. 9-12.

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Hitze-Hotspot Deutschland 47 und Stoffkreisläufe sollen besser miteinander verbunden, klimaangepasst weiterentwickelt oder Gewässer nachhaltig bewirtschaftet werden. Das sind nur einige der wesentlichen Punkte im Strategiepapier. Gewiss, manches klingt floskelhaft und ohnehin auf der Hand liegend, ist deswegen aber nicht falsch. Die Nationale Wasserstrategie weist in die richtige Richtung. Und dennoch fehlen, zumindest im letzten Entwurf des Strategiepapiers, das diesem Text zugrunde lag, zentrale Punkte.

1. Die öffentliche Versorgung muss klaren Vorrang erhalten vor privatwirtschaftlichen Interessen Der Vorrang der öffentlichen Trinkwasserversorgung vor allen anderen Nutzungen ist nicht klar und unmissverständlich festgeschrieben. Genau das muss aber sein. Es genügt nicht, den Grundsatz als allgemein und unverbindlichen Glaubenssatz unterschwellig zugrunde zu legen. Das war er nämlich bisher auch schon – und trotzdem bedienten sich Energieversorger und Industrie, Mineralwasserhersteller und Landwirtschaft reichlich ungeniert und mit dem Segen allzu sorgloser Behörden am Allgemeingut Wasser. Die Vorrangstellung der öffentlichen Trinkwasserversorgung muss daher bundesweit festgeschrieben werden. So, dass lokale Genehmigungsbehörden, aber auch Gerichte sich bei ihren Entscheidungen darauf stützen können. Wenn man so will, etwas Klares, Praktisches für den täglichen Gebrauch.

2. Die Wasserversorgung darf nicht privatisiert und dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen werden Die Nationale Wasserstrategie beschäftigt sich mit der Zukunft. Das ist ihre Stärke und Schwäche zugleich. Ihre Ziele sind auf 30 Jahre ausgelegt, und es ist richtig zu definieren, wohin man langfristig will. Die Verteilungskämpfe haben jedoch bereits begonnen. Folgerichtig braucht es auch kurzfristige Zielvorgaben und ein Instrumentarium, um sofort entscheiden und strategisch handeln zu können. Und nicht erst 2050. Es ist an der Zeit, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Der Strommarkt wurde liberalisiert, also dem freien Spiel der marktwirtschaftlichen Kräfte unterworfen. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre und speziell die energiepolitischen Verwerfungen seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine führen jedoch die Schwächen des Systems vor Augen. Wenn es darum geht, Probleme im Sinne der Allgemeinheit zu lösen, ist von den Profiteuren der Liberalisierung nichts mehr zu sehen und zu hören. Dann muss der Staat plötzlich eingreifen, mit Milliarden an Steuergeldern. Daraus leitet sich die banale, aber entscheidende Erkenntnis ab, dass Privatunternehmen nicht alles automatisch besser können als öffentliche Versorger. Im Gegenteil: Es gibt kein einziges Beispiel dafür, wo ein Privatinvestor im Bereich der Daseinsvorsorge Verantwortung übernommen hat, wenn ein

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48 Uwe Ritzer System nicht mehr funktionierte. Die Energieriesen haben jahrzehntelang mit Gas aus Russland oder Atomstrom Milliardengewinne eingefahren. Den Umbau der Systeme, die Kosten für deren Versagen, finanziert jedoch der Staat, die Allgemeinheit. Bestes Beispiel ist das Milliardendrama um Uniper, jene börsennotierte Gesellschaft, die 2016 als Abspaltung des ebenfalls börsennotierten Energieriesen E.ON entstanden ist. Als Uniper im Zuge des Ukrainekriegs und des damit verbundenen Lieferstopps von russischem Gas in die Bredouille geriet, musste der Bund das als systemrelevant eingestufte Unternehmen mit Milliardenhilfen aus dem Steuersäckel stützen. Im Dezember 2022 wurde Uniper verstaatlicht. Die Trinkwasserversorgung ist ebenfalls elementarer Bestandteil öffentlicher Daseinsvorsorge, mindestens so sehr wie die Strom- und Energieversorgung. Man darf sie nicht dem freien Spiel privater Kräfte überlassen, nicht Investoren und profitmaximierenden Unternehmen. Wasser ist ein derart elementares Gut menschlichen Daseins, dass es nicht marktliberalen Mechanismen unterworfen werden darf. Nicht Wettbewerb, sondern funktionale Sicherheit müssen im Vordergrund stehen. Wir brauchen ein öffentliches, staatliches bzw. kommunal betriebenes Versorgungssystem für Trinkwasser, das auch im Krisenfall stabil und resilient ist. Vor allem die Städte und Gemeinden stehen hier in der Verantwortung. Sie müssen ihre eigene Wasserversorgung sicherstellen – bei Bedarf auch mit Nachbargemeinden zusammen; es gilt das Solidarprinzip.

3. Das Land braucht eine umfassende Wasserschutzagenda Ressourcenschutz fängt nicht erst an, wenn es im konkreten Einzelfall darum geht, einen übermäßigen Wasserausbeuter in die Schranken zu weisen. Er beginnt viel früher. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel, eine andere Herangehensweise mit dem Ziel, Wasser im Boden zu halten. Dafür zu sorgen, dass es nicht so schnell abfließt. Mit konsequentem Gewässerschutz, Investitionen in Leitungssysteme und Wasseraufbereitungsanlagen, aber auch, indem die Flächenversiegelung begrenzt, mehr Wasserschutzgebiete ausgewiesen und insgesamt das Bewusstsein für sorgfältigeren Umgang mit der Ressource Wasser geschärft wird. Das Thema kommt einer Allensbach-Umfrage von 2022 zufolge immer mehr in der Bevölkerung an; drei von vier Deutschen gaben an, bewusster und sparsamer mit Wasser umzugehen als früher. Wassersparen hilft, aber das allein reicht nicht. Sümpfe, Moore und andere Feuchtgebiete müssen geschützt werden, die Versiegelung der Landschaft durch Wohnund Gewerbegebiete, Straßen und andere Baumaßnahmen muss insgesamt reduziert werden. Wir brauchen im Einzelfall mehr Dachbegrünungen, aber auch Bauverbote in Gebieten mit Überschwemmungspotenzialen. Die Versickerung von Wasser an Ort und Stelle muss erleichtert werden. Auch der Grundwasserschutz muss verbessert werden. Experten der Vereinten Nationen sind überzeugt, dass aktuelle und künftige Wasserkrisen nur mit Hilfe des Grundwassers zu bewältigen sind. „Eine bessere Nutzung

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Hitze-Hotspot Deutschland 49 des Grundwassersystems könne zur Klimaanpassung beitragen“, heißt es im UNESCO-Weltwasserbericht 2022. So sei es etwa möglich, saisonale Überschüsse von Oberflächengewässern in Grundwasserleitern zu speichern. So könnten nämlich Verdunstungsverluste verringert werden, „wie sie etwa bei Stauseen auftreten“. Eine sinnvolle, umfassende Wasserschutzagenda beginnt schon bei der Erfassung aktueller Daten. Ferner muss eine Wasserschutzagenda schärfere Regelungen zum Schutz vor Verunreinigungen etwa durch Nitrat und Pflanzenschutzmittel beinhalten. Das Herumlavieren, mit dem sich Deutschland in der beschriebenen Weise seit Jahren um die konsequente Einhaltung schärferer EU-Vorgaben drückt, muss ein Ende haben.

4. Privilegien für Großverbraucher abschaffen Bayern, Hessen und Thüringen verzichten bislang auf ihn und in den anderen 13 Bundesländern ist er marginal bemessen. Die Rede ist vom Wassercent, im Behördendeutsch: dem Wasserentnahmeentgelt. Richtigerweise muss es endlich jeder bezahlen, der sich am Allgemeingut bedient, um es für seine privatwirtschaftlichen Zwecke zu verwenden. Mineralwasserhersteller, Landwirte, Energieversorger, Industriebetriebe – bisher profitieren alle großen Schlucker von einer fatalen Nulltarif- oder Kostet-fast-nichts-Mentalität hierzulande. Geht es um die Bedürfnisse von Unternehmen, waren die Behörden, die Landesregierungen und die Kommunalpolitiker vor Ort stets sehr großzügig bei Entnahmemengen oder langfristigen Laufzeiten von Entnahmerechten. Das muss gestoppt werden. Behörden müssen die Mengen und die Laufzeiten begrenzen und unter den Vorbehalt stellen, dass sie in Dürrezeiten bei Bedarf auch unterbrochen oder stärker kontingentiert werden können. Und vor allem: Das jahrhunderte-, bisweilen sogar jahrtausendealte und besonders reine Tiefengrundwasser muss weitaus strenger geschützt werden. Übrigens nicht nur vor den Entnahmen gewerblicher, sondern auch öffentlicher Nutzer. Ein probates Mittel ressourcenschonender Wasserbewirtschaftung wäre es, private und gewerbliche Nutzer gleichzustellen. Ihnen dieselben Gebühren abzuverlangen, wenn sie aus dem öffentlichen Netz schöpfen, und keine Rabatte für Großabnehmer mehr zu gewähren. Überdies müssen all jene spürbarer als bisher zur Kasse gebeten werden, die eigene Brunnen oder Wasserfassungen nutzen. Der Wassercent darf daher im Sinne der Allgemeinheit gerne ein Wassereuro werden. Gewiss, die Wirtschaft im weitesten Sinne braucht Wasser und sie soll es auch in Zukunft bekommen. Dass Firmen für Wasser aber kaum oder fast nichts bezahlen, setzt jedoch keinerlei Anreize, um sich über Einsparungen, interne Wasserkreisläufe, Wasserrecycling oder Brauchwassersysteme Gedanken zu machen. Wir brauchen eine Gebührenpolitik, die genau solche Anreize schafft. Hier sind vor allem die Landespolitiker gefordert, bei denen das Thema bislang nicht angekommen ist. Geradezu unerträglich ist es, wenn, wie im Fall Tesla in Brandenburg, ein Unternehmen in einer trocke-

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50 Uwe Ritzer nen Region angesiedelt wird und zig Mrd. Liter Wasser zugeteilt bekommt, während ringsum Gemeinden keine Wohngebiete und Schulen mehr planen können, weil das notwendige Wasser fehlt. Es kann auch nicht sein, dass einhergehend damit der Trinkwasserbedarf von Privatpersonen im Bedarfsfall eingeschränkt und Mehrbedarf finanziell sanktioniert wird, während die Versorgung der Großfabrik nebenan Priorität genießt.3

5. Wassertröpfchen für die Landwirtschaft Die Landwirtschaft ist ein weites Feld, wenn es um das Wassermanagement geht. Rein rechnerisch verbrauchen Landwirtinnen und Landwirte anteilig nur einen niedrigen einstelligen Prozentanteil des Frischwassers in Deutschland. Doch diese Statistik verzerrt die Realität, denn niemand weiß, wie viel Landwirte aus eigenen Quellen und Brunnen schöpfen, sofern es ihre eigenen sind. Was nichts daran ändert, dass sie auch so an einem Allgemeingut partizipieren. Klar ist, dass die Landwirtschaft infolge des Klimawandels mit immer mehr Dürren kämpfen muss, im Umkehrschluss also mehr Wasser für die Versorgung ihrer Felder benötigen wird. Experten gehen davon aus, dass künftig viermal so viele Anbauflächen bewässert werden müssen. Die Zeit der Entwässerungsgräben ist definitiv vorbei. Es braucht Konzepte, um das Wasser zu halten. Ziel muss es sein, mit deutlich weniger Wasser auszukommen. Wir müssen, wenn man so will, stattdessen aus jedem Tropfen das Maximum herausholen. Auch wenn die Investitionen in solche Systeme enorm sind: Es bedarf komplett neuer Bewässerungsstrukturen. In Israel und Kalifornien gibt es längst, was auch Deutschland flächendeckend braucht: Unterirdisch auf Wurzelhöhe werden Leitungen verlegt, welche die Pflanzen punktgenau mit Wasser versorgen. Anstatt Felder – wie in Deutschland meistens der Fall – großflächig nach dem Gießkannenprinzip (im wahrsten Sinne des Begriffes) mit Wasser zu besprühen, wobei (je nach Witterung) ein Großteil davon verdunstet oder unnötig versickert. Israelische Firmen sind nicht von ungefähr Weltmarktführer in Sachen moderner Bewässerungstechnik; in dem Land regnet es in vielen Jahren von Frühjahr bis Herbst keinen Tropfen. Zum Teil wird Brauchwasser, etwa Abwasser aus Duschen, aufgefangen, aufbereitet und über ein eigens geschaffenes Pipelinesystem sogar aus Tälern in höhere Lagen gepumpt, wo es für die Bewässerung verwendet wird. Bei den modernen Systemen zeigen Sensoren an, wie viel Wasser genau bei welcher Pflanze ankommt. Der Prozess ist durchdigitalisiert und teilweise per App steuerbar. 3 2022 kündigten bei einer Umfrage der investigativen Rechercheplattform Correctiv nur fünf Bundesländer an, die Wassergebühren für die Industrie zumindest überarbeiten zu wollen, nämlich Sachsen, Hamburg, Bremen, Saarland und Mecklenburg-Vorpommern. Bayern, Hessen und Brandenburg formulierten vage, sie würden eine Überarbeitung der jetzigen Wasserpreise für die Industrie zumindest in Erwägung ziehen. Die anderen sechs Bundesländer (Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Thüringen und Rheinland-Pfalz) teilten Correctiv mit, dass sie nicht vorhaben, die angesetzten Wasserpreise für industrielle Nutzer anzupassen. Auch Überlegungen zu verpflichtenden Vorgaben oder konkreten Einsparzielen gibt es dort nicht. Berlin und Niedersachsen ließen die Correctiv-Anfrage gleich ganz unbeantwortet.

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Hitze-Hotspot Deutschland 51 Ein weiteres probates Mittel könnte sein, bevorzugt wassersparende Kulturen anzubauen. Wobei sich in diesem Zusammenhang nicht nur die Bauern, sondern vor allem Handel und hauptsächlich wir Verbraucher bewegen müssten: indem wir beispielsweise auch weniger perfekt in der Form ausgebildeten Karotten oder kleineren Krautköpfen eine Chance geben. Bislang nämlich setzt der Lebensmitteleinzelhandel den Gemüsebauern zu detaillierte Vorgaben bezüglich Größe, Gewicht und Aussehen von Obst und Gemüse. Das führt uns zur Verantwortung all derer, die jeden Tag beim Einkaufen entscheiden, wofür sie ihr Geld ausgeben, was sie essen. Um zu sensibilisieren und aufzuklären, könnte es sich als hilfreich erweisen, ähnlich den Kalorienangaben auf Süßigkeiten anzugeben, wie groß der Wasserfußabdruck des jeweiligen Gemüses ist. Wie viel Wasser also aufgewendet werden musste, um die Frucht großzuziehen. Braucht es wirklich Avocados, wenn doch für eine dieser Früchte etwa 400 Liter Wasser benötigt werden, ehe sie reif ist? Noch dazu in ohnehin trockenen Anbauregionen wie Chile? Und last but not least: Der Schadstoffeintrag der Landwirtschaft muss drastisch reduziert werden. Wir dürfen unsere Quellen und das Grundwasser nicht länger verschmutzen, die Nitrateinträge der Landwirtschaft in den Boden müssen drastisch sinken. Gleichzeitig muss der Gewässerschutz forciert werden.

6. Die Kraft des Wassers nutzen Die Zahlen sind beeindruckend und für Otto-Normalenergieverbraucher auch überraschend. Weltweit werden 15 Prozent des Stroms aus Wasserkraft gewonnen. Damit ist sie, und nicht etwa Sonne oder Wind, die bedeutendste erneuerbare Energiequelle. In Norwegen werden fast 100, in Brasilien etwa 90 Prozent und in unserem Nachbarland Österreich noch mehr als die Hälfte des Stroms durch die Kraft von fließendem oder fallendem Wasser erzeugt, das von Turbinen oder Laufrädern in elektrische Energie umgewandelt wird. Und in Deutschland? Sind es gerade einmal 3,5 Prozent, wobei 4000 der etwa 7000 bundesweit Energie produzierenden Wasserkraftwerke in Bayern installiert sind (wo etwa 15 Prozent der gesamten Stromerzeugung auf Wasserkraft zurückgehen) und etwa 1300 in Baden-Württemberg, entlang großer Flüsse oder in abfluss- und gefällereichen Regionen. Das Potenzial der Wasserkraft ist hierzulande noch nicht ausgeschöpft, sagen Experten. In einem – allerdings mehrere Jahre alten – Gutachten schätzte das Bundesumweltministerium vorsichtig, man läge bei 80 Prozent der auf diese Weise möglichen Energiegewinnung. Doch in Wirklichkeit dürfte der ungenutzte Anteil noch größer sein, da der technische Fortschritt bewirkt, dass die Effizienz und die Wirkungsgrade sowohl von Kleinwasser-, als auch von Speicher- und Laufwasserkraftwerken immer besser werden. Obwohl eine erneuerbare Energie par excellence, sehen Naturschützer Wasserkraft skeptisch. Sie fürchten um das Leben von Fischen, beklagen

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52 Uwe Ritzer künstliche Eingriffe in natürliche Wasserläufe und warnen vor mikroorganismischen Fehlentwicklungen in der Gewässerökologie. Auf all dies jedoch scheint die Wasserkraftbranche inzwischen probate (technische) Antworten gefunden zu haben. Wasserkraft zu nutzen ist für sich genommen keine Maßnahme, um Ressourcen zu schützen – insofern fällt das Thema an dieser Stelle scheinbar aus dem Rahmen. Aber: Diese Form der Energiegewinnung hilft dabei, die Folgen des Klimawandels abzufedern, der wiederum Ursache für die zunehmende Wasserknappheit ist. So hängt eben vieles miteinander zusammen.

7. Meerwasser entsalzen Die Entsalzung von Meerwasser muss vorangetrieben werden. Dabei wird Salzwasser – vereinfacht erklärt – erhitzt, um Kondenswasser zu gewinnen. Diese Methode eignet sich naturgemäß vor allem für Meeresanrainer und deren unmittelbares Hinterland. In den vergangenen 50 Jahren hat die Meerwasserentsalzung vor allem in trockenen Regionen von Küstenanrainern an Bedeutung gewonnen. Experten schätzen, dass weltweit knapp 10 000 entsprechende Anlagen betrieben werden. In Deutschland ist die Meerwasserentsalzung vergleichsweise unterentwickelt. Auf Helgoland und nahe Osnabrück gibt es Unterlagen aus dem Deutschen Bundestag zufolge zwei nennenswerte Anlagen. Deutsche Unternehmen verfügen diesbezüglich über international gefragtes Know-how. Umso unverständlicher, dass es hierzulande bislang so wenig genutzt wird. Denn in Ländern wie den Niederlanden, wo die niedrig liegenden Küstengebiete durch steigende Meeresspiegel bedroht sind, könnten entsprechende Anlagen über die Trinkwasserversorgung hinaus von Nutzen sein.

8. Bessere Leitungen und Netze Einem Bericht des europäischen Branchenverbands der Wasserversorger und Abwasserentsorger (EurEau) zufolge versickert in Europa knapp ein Viertel des Trinkwassers in maroden, undichten Leitungen. In Deutschland sollen es etwa zehn Prozent sein – zumindest schätzen das Experten wie der Erlanger Professor Johannes Barth von der dortigen Friedrich-Alexander-Universität. Der Geologe ist Präsident der deutschen Sektion der International Association of Hydrogeologists (IAH). Mehr denn je müssen die Wasserversorgung und das Abwassersystem in Zukunft ein großes Thema in den Rathäusern sein. Bestehende Versorgungsnetze müssen optimiert werden, sie brauchen fortlaufend immer neue Updates. Jede Kommune trägt vor allem anderen Verantwortung für die Wasserversorgung und die Abwasserentsorgung. Auch dieses Thema muss schnell und umfassend angegangen werden, „denn der Bau neuer Systeme, etwa von Fernwasserleitungen, geht nicht von heute auf morgen, das braucht

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Hitze-Hotspot Deutschland 53 Zeit“, sagt BDEW-Hauptgeschäftsführer Martin Weyand, dessen Organisation viele öffentliche Versorger angehören. „Also kann und darf man auch nicht warten, bis die Situation sich so verschärft, dass man unter Zeitdruck gerät. Man muss jetzt damit anfangen, vorausschauend zu planen und zu handeln, zumal nicht unerhebliche Summen investiert werden müssen.“ Es werde in bestimmten Regionen die Notwendigkeit zu einem stärkeren Fernwasseranschluss geben, vor allem dann, wenn Verbrauchsspitzen abgefedert werden müssen. Ein weiteres probates Mittel sind Brauchwassernetze. Für einzelne Hausbesitzer und Häuslebauer sind solche Systeme eines zweiten Wasserkreislaufs finanziell nur schwer zu stemmen. Bei Großbauten sieht es etwas anders aus – warum in Gebäudekomplexen nicht über separate Wasserkreisläufe nachdenken?

9. Wasser sparen, aber bitte sinnvoll Vom bewussten Einkaufen war bereits die Rede. Auch auf Rasensprenger zu verzichten, bringt etwas. Einer allein versprüht nach Angaben des Brandenburger Wasserverbands WSE durchschnittlich etwa 800 Liter pro Stunde, was mehr als fünf Badewannenfüllungen entspricht. Auch bei Toilettenspülungen gibt es da noch die ein oder andere technische Möglichkeit. Wasser sparen allein ist aber auch kein Selbstzweck. Um etwa die Hygiene sicherzustellen, braucht man eben auch gewisse Grundmengen an Wasser zum Spülen, damit sich in den Abwasserkanälen und Leitungen keine schädlichen Säureablagerungen und Gase bilden. Abgesehen davon ist Abwasser an sich wichtig, denn wenn es die Kläranlagen durchlaufen hat, fließt es ja wieder in den Wasserkreislauf. Es gibt Flüsse in Deutschland, die hätten ohne Abwasser in heißen Sommern fast keine Wasserführung mehr, da sind bis zu 80 Prozent der Wasserführung Klärwasser.

10. Wir brauchen ein integriertes Wassermanagement Bei der Wasserversorgung, diesen Eindruck kann man gewinnen, wurschtelt man bisher vielerorts vor sich hin. Kommunen, Bundesländer, der Bund, einzelne Wasserversorger, Zweckverbände und Fernwasseranbieter. Nicht immer weiß der eine, was der andere gerade tut oder plant. „Wir brauchen ein umfassendes, bundesweites System des Wassermanagements“, fordert Martin Weyand vom Versorgerverband BDEW völlig zu Recht. „Dazu gehören Wasserbewirtschaftung ebenso wie bauliche Maßnahmen. Da muss es auch darum gehen, Überschwemmungsgebiete festzulegen und Naturkatastrophen möglichst zu verhindern. Vor allem in engen Tälern ist nichts, was den Regen auffängt, da ist man gefährdet, wie die Flutkatastrophe 2021 gezeigt hat. Wir müssen integrativ denken und handeln. Und wir brauchen in den einzelnen Regionen jemanden, der sich kümmert. Jemanden, der die Expertise hat, alle Beteiligten zusammenzuführen. Deshalb schlagen wir die

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54 Uwe Ritzer Einrichtung von ‚Regenwasseragenturen‘ vor. Wenn es nicht gelingt, integratives Wassermanagement zu betreiben, sind auch mit Blick auf Überflutungen die nächsten Katastrophen vorprogrammiert.“ Gerade das Negativbeispiel Tesla in Brandenburg zeigt, wie dringend notwendig es ist, dass übergeordnete Behörden und die politischen Ebenen, an die sie gekoppelt sind, steuernd eingreifen. Sie müssen eine Strategie und ein Konzept entwerfen, wie die Wasserversorgung – beispielsweise in einem Bundesland, aber auch unter Bezug auf die Auswirkungen auf andere – dauerhaft gesichert werden kann und soll.4 Von der Ausweitung von Wasserschutzgebieten bis zur Ausbeutung regionaler Ressourcen braucht es einen übergeordneten Plan. Einen, der alle Interessen im Blick hat, sie bei Bedarf ausgleicht und auch korrigierend eingreift. Das große Ganze, darum muss es beim Wassermanagement gehen. Die große Aufgabe in Zukunft wird es sein, die Wasserversorgung aktiv zu managen. Wenn es eine klimabedingte Verknappung des Wasserangebots gibt, und die gibt es, dann müssen wir auch künftig systemisch denken und handeln. Und zwar nicht mehr ausschließlich von der Nachfrage her, nach dem Motto: Wie viel wird benötigt? Statt einfach nur zu liefern und den Bedarf zu decken, muss die Wasserversorgung als großes System gesehen werden. Man muss beispielsweise mit den großen Schluckern darüber reden, wie sie auf Trinkwasser in Zukunft verzichten können und welche technischen Lösungen es gibt, zum Beispiel bei Brauchwassersystemen. Das Problem verstärkter Wasserknappheit kann letztlich nur aus zwei Ansätzen gelöst werden: mit mehr Vernunft im sparsamen Umgang mit der Ressource und mit Technik. Vor allem aber muss das Bewusstsein für den Wert der Ressource und ihre zunehmende Knappheit gesteigert werden. Wasser muss endlich als das wahrgenommen werden, was es ist: ein lebens-, ja sogar überlebenswichtiges Gut. Zu jeder Jahreszeit ausreichend Wasser in hervorragender Qualität zu haben, ist keine Selbstverständlichkeit mehr, an die wir uns gewöhnt haben. Die Dinge ändern sich rasant. Wasser rückt als wichtigstes Ressourcenproblem auch im reichen, hochentwickelten und klimatisch gemessen an sehr vielen Regionen der Welt bevorzugten Deutschland in den Mittelpunkt. Noch ist es möglich, die Trinkwasserversorgung auch im vom Klimawandel gebeutelten Deutschland langfristig sicherzustellen. Dafür allerdings muss sie in weiten Teilen neu organisiert werden. Es braucht ein integriertes, vielfältiges Wassermanagement, wie es Deutschland bislang so nicht hat. Die sichere Versorgung mit sauberem Trinkwasser ist eine immense Zukunftsaufgabe. Aber es gibt Lösungen. Denn wir haben das technische Wissen und die kognitive Kraft, um diese Aufgabe endlich entschlossen anzugehen.

4 Die genehmigten und in Aussicht gestellten Wasserentnahmen in Brandenburg für die Tesla-Fabrik gefährden nach Ansicht der Berliner Wasserbetriebe potentiell auch die Trinkwasserversorgung der Großstadt, vgl. Sebastian Grüner, Berlin besorgt um Wasser wegen Tesla-Fabrik, www.golem.de, 2.6.2023.

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Das Dilemma der Grünen und die blockierte Republik Von Stefan Grönebaum

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s sind bemerkenswerte Umfrageergebnisse, kurz vor der Halbzeit der Koalition: Die AfD hat die Grünen bereits überholt, die nach dem negativen „Doppelwumms“ von Heizungsgesetz und Graichenaffäre massiv an Kompetenz und Vertrauen verloren haben, und jetzt scheint sie auch die SPD hinter sich zu lassen, die sich derweil entschlossen von ernsthaften Klimaschutzmaßnahmen absetzt; und der FDP – siehe das Gerangel um Heizungs- und Wärmeplanungsgesetz – passt ohnehin die ganze Richtung nicht. Das Desaster der Ampel wie der Höhenflug der AfD stehen vor allem für eines: ein großes „Back to the future”. Derzeit wünschen sich die meisten Deutschen den guten alten Verbrenner zurück, es gibt Mehrheiten für Atomkraft und den Weiterbetrieb von fossilen Kraftwerken, fossile Heizungen werden verbissen verteidigt und die Wutwellen, die „Bild“ und andere Medien ins Volk schicken, lassen Union und AfD nah an die 50 Prozent heranrücken. Wie aber konnte es so weit kommen – nach jenem Klimaschutz-Wahlkampf im Frühjahr 2021, als sogar Olaf Scholz sich auf Plakaten zum Klimakanzler ausrufen ließ, und der folgenden Ahrtalflut im Sommer vor zwei Jahren, als das ganze Land über die sichtbar gewordene Klimakatastrophe sprach?

Frankreich als Exempel Will man die komplizierte Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und politischem System in energetischen Krisen- und Transformationsprozessen verstehen, ist es gut, sich in anderen Gesellschaften umzusehen und die eigene Lage geografisch wie historisch zu vergleichen. In unserem Nachbarland Frankreich hat ein zentralistischer Staat das Energieproblem auf seine Weise „gelöst“: Die staatliche Elektrizitätsgesellschaft Électricité de France SA (EDF) baute viele Kernkraftwerke, den Franzosen wurde jahrzehntelang eingeimpft, Atomkraft sei modern, effizient, günstig und risikoarm. Noch heute hält der Präsident an dem überholten Konzept unbeirrbar fest – unbeeindruckt davon, dass die französischen Meiler zuletzt mangels Kühlwasser mehrheitlich stillstanden und die aktuelle Dürre auch für diesen Sommer nichts Gutes verheißt. Hier rächt sich, dass in Frankreich nie eine gesellschaftliche Debatte über Energieversorgung

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56 Stefan Grönebaum geführt wurde. Der Staat hat geliefert, die Menschen haben das akzeptiert. Erst als zuletzt die Energiepreise stiegen und der Präsident den vorsichtigen Versuch machte, die CO2-Emissionen zu bepreisen, protestierte die populistische „Gelbwesten-Bewegung“ so rabiat und nachhaltig, dass Emmanuel Macron zurückwich und nun – against all odds – wieder auf Atom setzt. So ist Frankreich das Beispiel für eine Gesellschaft und einen Staat in einer zentralistischen Politikfalle, aus der sie sich nicht werden befreien können, ehe nicht der Druck von unten durch weitere Naturkatastrophen – Dürren, Fluten, verheerende Brände, Energieknappheit etc. – massiv ansteigt und die bisher schwachen Grünen und die Umweltbewegung stärkt. Wahrscheinlicher aber ist, dass nach der nächsten Wahl ein autoritärer Backlash kommt, unter einem konservativen Präsidenten oder sogar einer rechtsradikalen Präsidentin, die dann Atomkraft mit neuen Technologien (wie etwa CCS) flankieren und das alles von mehr Polizei und schärferen Gesetzen absichern lassen werden – unter dem Beifall des wirtschaftlichen und medialen Mainstreams.

Von Kohl bis Merkel: Gesellschaft unter Reformdruck, aber ohne Reformen In Deutschland hingegen scheiterte der Versuch, die Kernenergie zentralistisch einzupflanzen in den 1980er Jahren am Grass-roots-Widerstand von Whyl bis Kalkar. Dann regierten abwechselnd SPD- und unionsgeführte Regierungen, kümmerten sich ums (Export-)Modell Deutschland und beließen es beim etablierten Energiemix: viel Kohle, mehr Gas und etwas mehr Erneuerbare. In der Ära Merkel waren Energiewende, Klima- und Umweltschutz die Lebenslügen der Republik: Alle waren verbal dafür, praktisch geschah wenig und oft auch das Gegenteil. Während die Bundesregierung unter massivem Druck von Auto- und Chemieindustrie nach 2014 billige russische Gasexporte forcierte, wurde zwar die teure Steinkohle durch billigere Importkohle ersetzt, die Kernkraft nach der Katastrophe von Fukushima 2011 langsam heruntergefahren – für die Betreiber natürlich lukrativ abgefedert –, doch die Wende zu Erneuerbaren wurde systematisch hintertrieben: Auf dem Land verhinderten Bündnisse von Umwelt- und Naturschützern und konservativen Politikern mit dem gemeinsamen Nenner „not in my backyard“ den Ausbau der nötigen Netze. Immer schärfere Gesetze und längere Genehmigungsverfahren brachten den Ausbau von Solar- und Windenergie bis 2020 auf null. Und den Deutschen reichte es, wenn „Mutti“ sich um Politik kümmerte. Das Modell schien ja auch zu funktionieren: Die USA verteidigten uns, die Europäer kauften unsere Maschinen zu Hartwährung, der boomende Riese China unsere Autos, die Russen lieferten derweil billiges Gas und die Osteuropäer die gut ausgebildeten, widerspruchslosen Arbeitskräfte. Politik und Medien vermeldeten einen langen Boom und verkündeten, wir seien Weltmeister – im Umweltschutz, der Energiewende, neuen Technologien, im Auto- und Maschinenbau und in der Chemie sowieso usw. Kein Wunder, dass in Umfragen immer wieder Mehrheiten ihre Zufriedenheit mit unserem Staat und ihrer Lage ausdrückten.

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Das Dilemma der Grünen und die blockierte Republik 57 Das änderte sich erst, als sich an der über Jahrzehnte vernachlässigten Infrastruktur – die viel gelobte „schwäbische Hausfrau“ sparte an allem: Bildung, Digitalisierung, Daseinsvorsorge – unübersehbar Zeichen des Verschleißes zeigten und Angela Merkel das überalternde, saturierte Land mit der plötzlichen Öffnung für eine Million „kulturfremder“ Flüchtlinge überforderte. Plötzlich zeigte die deutsche Gesellschaft, die sich gern als weltoffen sah, erzkonservative Züge, die zuvor nur in abgehängten ländlichen Räumen auffällig geworden waren. Nicht zufällig spielen dort alternative Narrative eine geringe und rechte eine immer größere Rolle. Am Ende standen 16 verlorene Merkel-Jahre: Die beiden großen Parteien hatten die zwölf Jahre der „GroKo“ nicht genutzt, von Schwarz-Gelb ganz zu schweigen, um dringend nötige Strukturreformen – von der Armutssicherung bis zur Rente – anzugehen, sondern das Modell Deutschland fortgeschrieben, als seine Eckpfeiler längst gefährdet waren. Denn spätestens seit Trump wollen die USA uns nicht mehr gratis verteidigen und die übrigen Europäer lehnen sich zunehmend gegen die deutsche Dominanz in Wirtschaftsfragen auf. Dazu trug die Arroganz von Merkel/Scholz gegenüber Macrons europapolitischen Reformvorschlägen ebenso bei wie die gegenüber den Warnungen der Osteuropäer, als die Regierung die Abhängigkeit vom billigen russischem Gas nach 2014 verdoppelte und Nordstream 2 weitertrieb – als angeblich „privates Projekt“. Sigmar Gabriel verhökerte schließlich sogar noch die Gasinfrastruktur an Gazprom und dankte 2018 bei Putin für eine Privataudienz, wo der doch in Syrien so viel zu tun hatte.

Industriehörige Politik Kurzum: Nach innen war die deutsche Politik der letzten Jahrzehnte industriehörig, nach außen buckelte nicht nur die SPD vor Autokraten wie Putin und Xi Jing Ping. Entgegen allen Sonntagsreden waren Bildung, Digitalisierung, Agrar-, Energie- und Verkehrswende, Globaler Süden, grüne Technologien, Klimaschutz lediglich Randthemen. Aus konkreter Anschauung beschrieben: Als ich 2010 Sprecher im rotgrün geführten Wirtschafts- und Verkehrsministerium in NRW wurde, gab es schlicht keine Pläne für eine Verkehrswende; für den Bau von Rad- und Fußwegen floss kaum Geld; 100 Mio. Euro für E-Mobilität wurden mühsam ausgegeben: So reichte der Abteilungsleiter Industrie eine sechsstellige Rechnung für eine vielteilige Video-Reihe zu E-Mobilität ein, die er in Youtube versteckte. Die Verkehrsabteilungen veranstalteten einen Kongress, auf dem Peter Sloterdijk für eine fünfstellige Summe bedeutsam über Mobilität räsonierte. Derweil reduzierte der Verkehrsminister trotz Warnungen die Erhaltungsmittel für die Landesstraßen. Als ich auf den Verschleiß der 54 Brücken der Sauerlandlinie hinwies, hieß es, das sei nicht unser Bier, das seien Bundesstraßen. Ich konterte, wenn wegen gesperrter Brücken die Metallbetriebe des Siegerlands ihre Produkte durch Drolshagen und Wegeringhausen karren müssten, würde niemand fragen, ob Landes- oder Bun-

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58 Stefan Grönebaum desstraßen gesperrt seien. Aber auch die Presse interessierte sich nicht für Tausende reparaturbedürftiger Brücken und Straßen, Kabel und Kanäle usw. Summa summarum gab es in der Republik null Interesse an langfristigen Fragen. Es dominierte dröhnender Pragmatismus, der die kurzfristigen Interessen der (Export-)Industrie bediente. Auch sozialpolitisch wurde abgewehrt, was alle Experten nach der gezielten Schaffung des größten Niedriglohnsektors in Europa und von Hartz IV, Mini- und Midijobs wussten: dass die Deutschen als Volk relativ armer Mieter mit geringen Löhnen massiver Altersarmut entgegengingen. Das wurde als linke Panikmache geächtet, es wurde auf die Riesterrente verwiesen oder das Hohelied der kapitalgedeckten Rente gesungen, der soziale Wohnungsbau gegen alle Warnungen fast auf null gefahren usw. Die Ära Merkel wurde so zur Blütezeit aufklaffender Scheren, gepflegter Doppelstandards und und fehlender Debatten (wie die über eine noch immer ausstehende Kindergrundsicherung). Aber was machte das schon, solange die wahlentscheidende Mehrheit derweil gut lebte – auf Kosten von Niedriglöhnern, dem migrantischen Subproletariat in Service- und Plattformbetrieben, von osteuropäischen Arbeitskräften vom Bau bis zur Pflege wie von hemmungslos vernutzter Natur für künftige Generationen. Doch angesichts der politisch und medial gepflegten Vernebelung war es einfach, dabei ein gutes Gewissen zu haben. Dafür hatte man in den 1980ern sein Greenpeace-Förderabo, sparte in den 1990ern ein paar Tonnen CO2 bei der lokalen Agenda-Gruppe – während viele Braunkohleschlote weiterqualmten –, und in den Nullerjahren freute man sich an gesellschaftlichen Reformen. Wenn es aber tatsächlich einmal ernst wurde, gab es dafür nicht nur in Hessen die erforderlichen Mehrheiten, um „gegen Ausländer zu unterschreiben“. Export- und Familienunternehmen wurden steuerlich begünstigt, die arbeitende Mittelklasse derweil mit immer mehr Abgaben und Steuern belegt. Und als dann in den 2010ern das Bildungsbürgertum die „grüne Frage“ entdeckte, ging für den alten Mittelstand und die Arbeiterschaft die Rechnung immer weniger auf: Die einen wählten zunehmend grün, die anderen die Groko-Parteien, viele auch gar nicht mehr – und immer mehr AfD. Allerorten galt, was Merkel freimütig einräumte: Nicht nur das Internet war „Neuland“, Bildung, vor allem aber Aus- und Weiterbildung wurden vernachlässigt, die Energiewende verschleppt, die Verkehrswende nicht minder, die irrwitzigen Summen der Steuerflucht und -vermeidung, ungeheuerliche Betrugsmanöver der Autoindustrie wurden von der Politik gedeckt – für eine Mio. gefakter Motoren in den USA musste VW 20mal mehr zahlen als für die zehnfache Anzahl zuhause – so wuchs die soziale Ungleichheit, die Unzufriedenheit bei den sogenannten kleinen Leuten und die Kluft zu „denen da oben“. Am stärksten bekommen all das heute die Grünen zu spüren. Ursprünglich entstanden aus einer sozialen Bewegung, haben sie sich während ihres Aufstiegs immer mehr parlamentarisiert und von ihrer sozialen Basis entfernt. Im Zuge dieses Prozesses dominierten bei den Grünen immer mehr meist städtische, akademische Bildungsbürger:innen, die – gut ausgebildet und

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Das Dilemma der Grünen und die blockierte Republik 59 meist besser bezahlt als die sogenannten kleinen Leute – ökologische Probleme weit vor sozialen berücksichtigten. Die sozialer eingestellten Fundis blieben dagegen in der Bedeutung zurück, am Ende versperrte die anhaltende Präsenz alter Genossen wie Jürgen Trittin oder Christian Ströbele den Blick auf die gesellschaftliche Realität: dass sich die Grünen bis 2020/21 zu einer ganz normalen linksbürgerlichen Partei mit parlamentarischem Habitus entwickelt hatten.

Die Grünen als die – verhinderte – Reformpartei Auch die Grünen teilten die Auffassung vieler, dass Deutschland „im Ganzen“ eigentlich gut aufgestellt und nur in der Energie- und Klimapolitik noch viel zu tun sei. Die weiter aufklaffende soziale Schere, die Vernachlässigung der Infrastruktur, der Bildung, der Mangel an Zukunftstechnologien – so sie nicht rein grün waren – all das beschwerte die meist jüngeren sozialen Aufsteiger:innen in ihrer städtisch-grünen Blase wenig. Parallel zu deren Aufstieg vollzog sich jener der Realos an der Grünenspitze: Ob Robert Habeck oder Annalena Baerbock oder in der Landesliga Tarek Al Wazir und Winfried Kretschmann – sie alle waren eher pragmatisch als links, glaubten an das langsame Hineinwachsen in die Regierungen und teilten die energiepolitische Überzeugung, dass man in dieser fossilen Gesellschaft Gas und Hybride als Übergangstechnologien brauche. Ausgearbeitete Reformkonzepte für alle Sektoren unserer Gesellschaft waren dagegen auch bei den Grünen Mangelware. Die scheinbar ewige GroKo ersparte es ihnen ja auch, auf Bundesebene durchgerechnete Alternativen vorzulegen, die die Problemgruppen differenziert berücksichtigten. Bereits nach dem Dürresommer 2018 ließ der Hype um die Europawahl 2019 viele Grüne glauben, sie würden mit ihren populären Spitzenkandidaten – angesichts der schwächelnden GroKo – quasi von selbst an die Spitze kommen. Faktisch waren sie jedoch überhaupt nicht vorbereitet auf die Ereignisse, geschweige denn auf eine „Machtübernahme“. Das zeigte schon der Wahlkampf 2021: Erst stritten sich die Grünen um die Poleposition. Als diese dann im Frühjahr durch Baerbock für Baerbock entschieden war, erwies diese sich als praktisch und konzeptionell derart unvorbereitet, dass die Kanzlerkandidatur schon kurz danach „gelaufen“ war. Als im Juli die Ahrtalflut kam, setzten die Grünen nicht nach, präsentierten keine Klimasofortprogramme – die es nicht gab –, sondern hielten still, weil sie wohl zu Recht dachten, dass die wenig reformbereiten Wählerinnen und Wähler gerade nach dieser Katastrophe nicht überfordert werden dürften. Die Lücke zwischen gelähmten Grünen und einem denkbar schwachen Unionskandidaten nutzte Olaf Scholz nach dem Motto „Wenn zwei schwach sind, siegt am Ende der am wenigsten Schwache“. Und die erschöpften Grünen, die erst ganz am Ende des Wahlkampfs voller Angst plötzlich wieder die Klimakarte zogen, behielten nur knapp die Nase vorn vor einer FDP, die alte Besitzstandswahrer sowie junge Gegner von Regulierungen wie Tempolimit hinter sich versammelte.

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60 Stefan Grönebaum Schon damals galt, was Springer-Chef Döpfner der „Bild“ ins Stammbuch schrieb: Wenn schon die Ampel drohte, sollte wenigstens die FDP gestärkt werden, um rot-grüne Inhalte zu verhindern, damit diese später mit „Jamaika“ endgültig erledigt werden könnten. Genau diese Agenda läuft jetzt en gros, mit freundlicher Assistenz der SPD, die ihre Klimakanzler-Plakate schnell wieder eingerollt hatte. Von Beginn an zeigten sich die inhaltlich verkehrten Rollen der angeblichen Reformkoalition: Die vieles blockierende FDP galt als Gewinner des Koalitionsvertrags, die reformwilligen Grünen als Verlierer. Und die strukturkonservative SPD stellte sich alsbald auf die Seite der FDP. Für einen breit gefächerten Reformdiskurs eine denkbar ungünstige Voraussetzung. Zudem ergaben sich die Grünen willig dem progressiven Gesäusel der FDP – anstatt die Bürger oder wenigstens ihre Klientel der Umwelt- und Klimaschützer auf unvermeidliche Verteilungskonflikte einzustimmen, die bei ernsthafter Klimapolitik unweigerlich anstehen. Als sie öffentlich bei den „Verbrennern“ und deren fossiler Lobby auf Granit bissen, ließen sich die Grünen darauf ein, die Klimasektorziele aufzuweichen und die FDP damit aus ihrer Verantwortung für die CO2-Emissionen zu entlassen. Ohne Not opferten sie damit ihr Alleinstellungsmerkmal und erlaubten es so der Union, heuchlerisch als die Partei wahren Klimaschutzes aufzutreten. Hier zeigt sich: Letztlich fehlt es den Grünen an Konzepten, wie man auf eine derart brutale Verhinderungskampagne der fossilen Lobbys und reaktionären Kräfte antwortet. Sie suchten zu sehr die Nähe der Wirtschaft, um – was nötig gewesen wäre – zwischen Freunden und Gegnern eines Green Deal zu differenzieren. Denn spätestens seit den erhöhten Energiepreisen ist die Begeisterung vieler angeblich so progressiver Manager für grüne Klimapolitik verflogen. Nun wäre es eigentlich aufzuzeigen gewesen, dass nur grüne Technologien der Wirtschaft ihre langfristige Wettbewerbsfähigkeit sichern können. Stattdessen musste der grüne Wirtschaftsminister mit Beginn des russischen Angriffskrieges die jahrzehntelangen Versäumnisse seiner Vorgänger ausbügeln, um die deutsche Energieversorgung zu sichern, dafür antichambrierte er im Wechsel zwischen Ölscheichs und Gaslieferanten. Dabei hätte er die argumentative Kraft und Zeit auch dafür aufwenden müssen, die anstehende große Energiewende zu erklären. Stattdessen kamen noch handwerkliche Fehler dazu, die auch damit zu tun haben, dass die soziale Flankierung grüner Klimapolitik nie das Herzensprojekt der ökologischen Agenda-Strategen war. Auch deshalb haben die Grünen bis heute keine Antwort auf ihre Schwäche in ländlichen Räumen – da sie nicht den Mut aufbringen, dem Finanzminister die erforderlichen Milliarden für Programme abzufordern, die die Kluft zwischen Land und Stadt verringern könnten. Last but not least rächt es sich für die Grünen, dass die erneuerbaren Energien lange eine Nischentechnologie geblieben sind, die nur durch Subventionen gepusht wurden und um die sich ein kleines Expertennetzwerk gebildet hat, das lange unter Luftabschluss gedieh. Wer sich genau anschaut, wie ein Patrick Graichen als Referent von Rainer Baake – und der wiederum als Diener Jürgen Trittins – groß geworden ist, der erkennt, wie schmal auch

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Das Dilemma der Grünen und die blockierte Republik 61 bei den Grünen der Grat zwischen produktivem Netzwerken und familiärfreundschaftlichem Lobbyfilz inzwischen ist.

Es gilt, die unvermeidlichen Verteilungskämpfe auch auszutragen Dies führt zum letzten und gravierendsten Problem. Dass die Grünen irgendwann mit ihren Plänen für den beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren mit den Natur- und Umweltschützern aneinandergeraten mussten, war eigentlich klar. Doch die Grünen haben durch ihre real-pragmatische Brille nicht gesehen, dass sie neben bürgerlichen Wechselwählern auch ihre ureigene Klientel bedienen müssen. Heute, da die Wechselwähler massenhaft von der Fahne gehen, sind viele Umweltschützer – zu Recht – enttäuscht. Das ist das Dilemma der Grünen: Sie sind inzwischen bis zur Handlungsunfähigkeit eingeklemmt – zwischen den „Partnern“ SPD und FDP, die mit echter Klimapolitik nie viel am Hut hatten, einer Opposition aus Union, AfD und „Bild“, die immer neue Wutwellen gegen die Grünen rollen lässt, und ihrer Kernklientel, die sich von den Grünen verraten und verkauft fühlt. Dabei haben sie selbst kein Konzept, wie dieser Zwickmühle zu entkommen wäre, und können im laufenden Geschäftsgang nur verlieren. Deshalb sehen heute viele Experten die Grünen als politisch verbrannt an. Damit aber, so die fatale Folge, fallen auch die Aktien für eine echte Energiewende. Deutschland und sein politisches System scheinen in einer Politikfalle zu stecken: nicht, weil man wie in Frankreich zu sehr auf den Staat setzt, sondern weil man den Staat erst hat ausbluten lassen und ihm nun nicht mehr zutraut, Auswege aus der historischen Krise zu finden. Die Grünen sind damit in ihrer derzeitigen desolaten Lage nur der Ausdruck einer Gesellschaft, die sich in ihren ökonomischen und politischen Strukturen heillos verhakt hat. Der Missmut bei den sogenannten kleinen Leuten, die nun für die Folgeschäden und -kosten der jahrzehntelangen Versäumnisse aufkommen sollen, ist vorprogrammiert – und damit wohl auch das Scheitern der politischen Eliten wie der weitere Aufstieg der Populisten. Sollte die Ampelregierung daher doch noch einen zweiten Anlauf nehmen (wollen), braucht es dafür endlich glaubhafte Reformer, die radikale, aber realistische, das heißt umsetzbare, und wenigstens halbwegs gerechte und nachhaltige Reformkonzepte entschlossen vertreten. Die Unionsposition, man könne mit Belastungen noch ein paar Jahre warten, ist hingegen schlichter Unfug – ökologisch wie ökonomisch. Die deutsche Wirtschaft hat schon einmal enorm an Wettbewerbsfähigkeit verloren, weil sie ihre Vorreiterposition bei der Energiewende – dank ErneuerbareEnergien-Gesetz (EEG) – in den Merkel-Scholz-Jahren gegen billiges Gas aus Russland verschleuderte. Zehntausende modernster Jobs wanderten deshalb nach Asien und die USA ab. Seither hat sich die ökologische Situation um ein Vielfaches verschärft. Unsere Lage gebietet daher rasches Handeln. Ansonsten ist die – wohl leider realistischere – Alternative eine auf Jahre gesellschaftlich und politisch blockierte Republik.

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»Festung Europa« oder: Was die Mauern mit uns machen Von Volker M. Heins und Frank Wolff

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rneut ist in Europa und speziell in Deutschland eine Debatte um die Kontrolle von Migration durch den Ausbau befestigter Grenzen entbrannt. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner drängt auf den „physischen Schutz der Außengrenze“ per Zaun. Bundesinnenministerin Nancy Faeser will gar ein „Momentum“ erkannt haben, um mögliche Asylansprüche nur noch an den Außengrenzen einer immer stärker abgeschotteten Europäischen Union zu prüfen. Was dabei in aller Regel übersehen wird: Schleichend und unauffällig beschädigen die neuen Mauern um Europa die demokratische Gesellschaft. Sie schaffen eine Situation, in der die liberale Demokratie ihre eigenen Regeln bricht. Und sie gewöhnen die Bevölkerung an Bilder notleidender, verletzter oder toter Migranten an Europas Grenzen – Grenzen, die angeblich dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger dieses Kontinents dienen. Einige dieser Bilder sind längst ikonisch geworden und haben sich in unserem Gedächtnis festgesetzt: Das Bild des dreijährigen Alan Kurdi, leblos am Strand an der türkischen Mittelmeerküste. Das Bild zweier Golfer, deren Partie von einem Dutzend Flüchtlinge gestört wird, die jenen haushohen Zaun überwinden wollen, der nicht nur den Golfplatz rahmt, sondern der auch die spanische Exklave Melilla von Marokko trennt. Oder vielleicht auch jenes Bild von der polnisch-belarussischen Grenze, auf dem linksseitig des frisch errichteten Grenzzauns Dutzende Flüchtlinge zu sehen sind, die in der Kälte eng beieinander im Feuerrauch hocken, während rechts vom Nato-Zaun Grenzschützer in einem schweren Humvee-Geländewagen auf dem freigeräumten Kontrollweg patrouillieren. Solche Schlüsselbilder erzählen wortlos ihre Geschichte. Eine Geschichte über extreme globale Ungleichheit, über Not und Verzweiflung und über das Antlitz der europäischen Abschottung. Diese Geschichte wiederholt sich vor dem Hintergrund wechselnder Landschaften, in Wäldern, auf freien Grünflächen, an Stränden oder auf dem offenen Meer. Auch als im Herbst 2021 Gruppen von Flüchtlingen aus Afghanistan, Syrien, dem Jemen, Ägypten, dem Irak und dem Iran versuchten, über die Grenze von Belarus nach Polen in den Schengen-Raum zu gelangen, schlug ihnen massive Gewalt entgegen. Polnische Grenzbeamte trieben die Flücht-

* Der Beitrag basiert auf „Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft“, dem jüngsten Buch der Autoren, das soeben im Suhrkamp Verlag erschienen ist.

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»Festung Europa« oder: Was die Mauern mit uns machen 63 linge – darunter auch Schwangere und Kinder – zurück über die Grenze nach Belarus. Hunde wurden auf sie gehetzt, Schlagstöcke flogen. Auf Twitter warfen die Verantwortlichen mit militärischen Begriffen um sich: „Angriff“, „Verteidigung“, „Vorstoß“, „Kampf“. Das Militär rückte an, Helfer wurden inhaftiert, Medienvertreter abgewehrt. Neue Gesetze wurden erlassen, Zäune errichtet. Gelder flossen. Unterdessen starben Menschen an Unterkühlung oder an Krankheiten. 28 Tote wurden im Zeitraum zwischen August 2021 und November 2022 an der Grenze zwischen Polen und Belarus bestätigt.1 Die Europäische Union hielt sich mit rechtsstaatlichen Bedenken zurück und stellte Millionen an Hilfsgeldern bereit, sogar die Nato versprach ihren Beistand. Europa erklärte Menschen explizit zu Waffen in einem „hybriden Krieg“. Im öffentlichen Diskurs kollidierte eine militarisierte politische Sprache des Selbstschutzes mit den Bildern von Tod, Elend und roher Gewalt gegen unbewaffnete Zivilisten. Viele Menschen in Polen und im weiteren Europa reagierten mit Entsetzen und dem Ruf nach Wahrung der Menschenwürde, des internationalen Rechts und der europäischen Werte. Doch welche Seite steht für Europa? Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, postete auf Twitter ein Foto von sich mit uniformierten polnischen Grenzschützern vor dem fünfeinhalb Meter hohen Stahlzaun an der Grenze zwischen Belarus und Polen mit dem Kommentar: „Unsere europäischen Werte zeigen sich auch daran, wie wir an unseren Grenzen agieren.“2 Die Mehrdeutigkeit ihrer Worte vor dem Hintergrund eines Fotos, auf dem kein einziger Flüchtling zu sehen war, schien ihr dabei nicht bewusst zu sein. Andere Politiker ließen dagegen an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Sie zeigten sich offensiv gleichgültig gegenüber dem Elend der Geflüchteten und forderten andere dazu auf, ebenfalls gleichgültig zu sein. Wir dürften der Wirkung von Bildern notleidender Menschen an den Grenzen Europas „nicht nachgeben“, sagte der damalige sozialdemokratische deutsche Außenminister Heiko Maas im „Tagesthemen“-Interview im November 2021. Wir müssten sie „aushalten“, forderte der konservative sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer im selben Monat.3 Diese Aussagen bezogen sich auf das Leiden an der europäischen Außengrenze, richteten sich aber allein nach innen, an die Bevölkerung in Deutschland. Zudem waren die Formulierungen ungenau. Gemeint war nicht, dass wir irgendwelche Bilder leidender Menschen aushalten sollten, sondern Bilder von Menschen, zu deren Leid wir selbst durch die Abschottung Europas beigetragen haben. So wie Maas und Kretschmer rechtfertigten viele Politiker in Europa die Gewalt polnischer Grenzschützer gegen Migranten und forderten den 1 Vgl. Ben Cowles, Refugees trapped at Poland-Belarus border are freezing, starving and sick, some are being sexually abused by border guards, activists say, www.thecivilfleet.com, 5.12.2022. 2 Katrin Göring-Eckardt, www.twitter.com/GoeringEckardt, 2.11.2022. 3 Heiko Maas im Interview der ARD-Tagesthemen, www.ardmediathek.de, 15.11.2021; Michael Kretschmer, Kretschmer gegen Aufnahme von Migranten aus Belarus, www.zeit.de, 14.11.2021; Die Frage nach der Wirkung von „unpopulären Bildern“ auf die Bevölkerung dominierte auch bereits interne Diskussionen in deutschen Regierungskreisen während der Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015. Vgl. Robin Alexander, Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Innern der Macht, München 2017, S. 25.

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64 Volker M. Heins und Frank Wolff Bau einer Mauer an der Ostgrenze Polens, die inzwischen tatsächlich fertiggestellt wurde. Die Appelle an Härte und Unnachgiebigkeit sollten Machthaber jenseits der Grenze ebenso beeindrucken wie künftige Flüchtlinge. In erster Linie wird mit ihnen aber die eigene Gesellschaft hinter den zu errichtenden Mauern adressiert. Innerhalb weniger Tage und angesichts einiger Tausend Migranten wurde die ominöse rhetorische Figur der begrenzten „Aufnahmebereitschaft“ beschworen, begleitet von dem Ruf nach weiteren Maßnahmen zur Abschottung Europas gegenüber den anderen, die keine Europäer sind. Solche beispielhaften Nahaufnahmen illustrieren, wie die gewaltsame Abwehr unerwünschter Migranten auf die Gesellschaft einwirkt, die ebenfalls auf Abwehr umschwenken soll. Dass die Gewalt an den Grenzen den Abgewehrten tausendfach Leid zufügt, berichten viele kritische Beobachter und Journalisten. Die erwähnte Episode zeigt darüber hinaus aber, dass wir auch darauf schauen müssen, was auf unserer Seite der Grenze passiert. Stellvertretend für viele andere Politiker und Kommentatoren forderten Maas und Kretschmer nichts weniger als eine Gesellschaft, für die Tod und Elend an den Grenzen kein Grund zur Aufregung sein sollen.

Die Utopie Europas – als einer unberührten Insel Oft wird so getan, als schützten Mauern eine Gesellschaft, die unberührt bliebe von den Grenzen, die sie umgeben. Das war die Vorstellung von Thomas Morus, dem Autor des Romans „Utopia“. Die erste Amtshandlung des Gründers seines fiktiven Reichs besteht darin, zwischen Utopia und dem Rest der Welt einen tiefen Graben ausheben zu lassen, der vom Meer geflutet wird, sodass das Land zur Insel wird und für „Ausländer“ nur noch schwer zugänglich ist.4 Aber dieses Bild ist irreführend. In Wirklichkeit verkümmert die Gesellschaft, jedenfalls die demokratische Gesellschaft, wenn sie sich radikal nach außen abgrenzt. Mauern machen etwas mit denen, die sich hinter ihnen verschanzen und ängstlich auf die Welt jenseits der Grenzen blicken. Wer hinter Mauern lebt, lebt zunehmend von ihnen bestimmt. Eine Gesellschaft verändert sich, wenn sie durch gewalttätige, willkürliche und rassistische Grenzregimes von der Außenwelt getrennt und zugleich mit ihr verbunden ist. „Wir“, die Einheimischen, bleiben nicht unberührt von der Gewalt, die in unserem Namen „anderen“ an der europäischen Außengrenze zugefügt wird. Die westlichen Gesellschaften wandeln sich und nehmen selbst Schaden durch die gewaltsame Abwehr von Migranten. Die Gewalt gegen Menschen jenseits der Grenze wirkt auch auf die Menschen diesseits der Grenze. Diesseits der Grenze müssen Menschen ausgebildet und Apparate aufgebaut werden, die zur Ausübung von Gewalt an der Grenze bereit und fähig sind. Die rasant wachsenden Budgets für diese Apparate bedürfen – ob direkt beschlossen oder als Teil größerer Haushaltsposten – der parlamentarischen Zustimmung. In der Hoffnung, ihre Effizienz zu erhöhen, werden Grenz4 Vgl. Thomas Morus, Utopia, deutsche Übersetzung von Gerhard Ritter, Stuttgart 2012, S. 123 ff.

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»Festung Europa« oder: Was die Mauern mit uns machen 65 schutzakteure einer allzu strikten, unabhängigen Kontrolle entzogen. Dafür bedarf es diesseits der Grenze einer Öffentlichkeit, die entweder nichts über die Grenzgewalt und ihre Folgen für unschuldige Zivilisten erfährt oder die wegschaut, die Gewalt akzeptiert oder sie sogar aktiv begrüßt und unterstützt. Dies wiederum erfordert es, die kollektiven Affekte zu formen und der Bevölkerung einzureden, dass sie allen Grund hat, sich vor Migranten zu fürchten. All dies hat Folgen für den Rechtsstaat, die Medienberichterstattung und politische Mobilisierungen – Folgen, die in ihrer Summe eine Gefahr für die offene Gesellschaft darstellen. Damit soll nicht gesagt werden, dass diese Gefährdung immer intendiert ist. Die Vordenker und Planer der neuen Mauern gegen unerwünschte Migration mögen vielmehr darauf setzen, dass die Gewalt an den Grenzen verbleibt und nicht in die zu schützende Gesellschaft diffundiert. Die Vorstellung wird gestützt durch das altbekannte literarisch-philosophische Motiv der „schmutzigen Hände“, also der Vorstellung, dass man gelegentlich illegale oder unmoralische Maßnahmen ergreifen müsse, um höhere moralische Ziele wie den Schutz der freien Gesellschaft zu gewährleisten. Dieses Motiv übersieht jedoch die mögliche „moralische Korrumpierung“5 des Kerns der Gesellschaft durch die Gewalt an ihren Rändern oder, in einer anderen Theoriesprache, die „Spillover-Effekte“, durch die Handlungen oder Ideen von einem gesellschaftlichen Bereich auf andere Bereiche übergreifen.6 In der politischen Theorie wird häufig argumentiert, dass stabile liberale Demokratien auf eine umfassende Migrationskontrolle und „geschlossene Grenzen“ angewiesen seien.7 Tatsächlich aber ist das Gegenteil der Fall, die liberale Demokratie wird durch die restriktiven Grenzregimes der Gegenwart beschädigt. Letztlich ist die Demokratie, wie als Erster der französische Philosoph und Literaturnobelpreisträger Henri Bergson bereits vor dem Zweiten Weltkrieg schrieb, die einzige politische Ordnung, die darauf angelegt ist, die Bedingungen einer nach innen und außen geschlossenen, abgeschotteten Gesellschaft zu überwinden.8 Sie verträgt sich daher nicht mit geschlossenen Grenzen. Hinzu kommt, dass die Grenzen nicht für alle gleichermaßen geschlossen und die Mauern nicht für alle gleich hoch und undurchlässig sind. Flüchtlinge aus der Ukraine wurden in Deutschland, Polen oder Litauen seit dem Frühjahr 2022 ausdrücklich und offiziell willkommen geheißen. Selbstverständlich zu Recht. Irritierend war allerdings, dass die Aufnahmebereitschaft bei jenen Flüchtlingen aus der Ukraine an ihre Grenzen stieß, die aus Afrika oder Asien stammten, aber in der Ukraine arbeiteten oder studierten.9 Und ebenso 5 Suzanne Dovi, Guilt and the Problem of Dirty Hands, in: „Constellations“, 1/2005, S.128-146, Dovis Kritik richtet sich gegen Michael Walzer, Political Action. The Problem of Dirty Hands, in „Philosophy and Public Affairs“, 2/1973, S. 160-180. 6 Jon Elster, Alexis de Tocqueville, the First Social Scientist, Cambridge 2009, Kap. 1. 7 Vgl. Gleichnamiges Kapitel in David Miller, Fremde in unserer Mitte. Politische Philosophie der Einwanderung, Berlin 2017, Kap. 4. 8 Vgl. Henri Bergson, Die beiden Quellen der Moral und der Religion, deutsche Übersetzung von Eugen Lerch, Jena 1933, S. 281. 9 Vgl. Sarah Thust, Augenzeugen berichten über Diskriminierung von Schwarzen an der ukrainischen Grenze, www.correctiv.org, 11.3.2022; Luise Sammann, Unmut über ungleiche Behandlung von Kriegsflüchtlingen, www.deutschlandfunk.de, 6.5.2022.

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66 Volker M. Heins und Frank Wolff irritierend waren viele implizit vergleichende Kommentare aus Politik und Medien. Den Ukrainern, bemerkte eine hochrangige deutsche Amtsperson, „muss nicht erklärt werden, wie eine Waschmaschine funktioniert, oder dass auf dem Zimmerboden nicht gekocht werden darf“.10 Anders als den Barbaren, die 2015 ins Land drängten, so der leicht zu entziffernde Subtext. Generell lässt sich festhalten, dass die Fluchtgründe weißer Flüchtlinge aus der Ukraine wesentlich weniger hinterfragt wurden als zum Beispiel die syrischer Flüchtlinge vor und nach 2015, obwohl oft sogar die Truppen desselben Landes, nämlich Russlands, die Herkunftsstädte der Geflohenen in Schutt und Asche bombten.11 Auf diese Unterschiede angesprochen, die die Betroffenen vom Grenzübertritt bis zu Registrierung und Aufnahme zu spüren bekommen, entgegnete der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis schlicht, die Ukrainer seien eben „die echten Flüchtlinge“.12 Solche Stimmen ignorieren, dass einige europäische Gesellschaften auch dann sehr wohl in der Lage sind, mit hohen Zahlen von Migranten konstruktiv umzugehen, wenn sich die Zuwanderung ungeplant vollzieht. Außerdem erinnern sie uns daran, dass wir über Rassismus sprechen müssen. Die Grenzregimes der Gegenwart sind ohne den Begriff des Rassismus nicht zu verstehen. Aber der Rassismus an den Grenzen verharrt nicht dort, sondern speist sich aus einer entsprechenden Gesellschaft und wandert von den befestigten Grenzen gestärkt in die Gesellschaft zurück. Die Gewalt an der Grenze greift nach innen aus und korrumpiert die Gesellschaft, indem sie zum einen die Institutionen des Rechtsstaats und der Demokratie beschädigt und zum anderen eine Verrohung der zivilen Alltagsmoral fördert durch die kollektive Gewöhnung an Grausamkeit und Rechtsbrüche.13 Die gewaltsame Migrationsabwehr ist nicht zu haben ohne eine Enthemmung der Machtausübung an den Grenzen. Das „tödliche Gift hemmungsloser Macht“ beschädigt aber nicht nur seine Opfer, sondern auch die Täter und ihre Gesellschaft, wie bereits Frederick Douglass, der große Vorkämpfer für die Abschaffung der Sklaverei in den USA, schrieb.14 In Europa entfalten sich die Konflikte um Migration und Grenzregimes vor dem Hintergrund des europäischen Einigungsprozesses. Dieser Prozess führt einst verfeindete Staaten zusammen, setzt aber gleichzeitig mächtige Zentrifugalkräfte frei, die den Trend zur Abschottung Europas durch Ansätze einer nationalistischen Abschottung der Mitgliedsstaaten noch überbieten. Die offene Frage lautet also, wie die werdende europäische Gesellschaft aussehen wird. Wie offen wird diese Gesellschaft sein? Wie mächtig werden die neuen Mauern um Europa herum in unseren Köpfen werden? Und welche 10 Die bayerische Landtagsabgeordnete und Integrationsbeauftragte der Staatsregierung Gudrun Brendel-Fischer, zit. nach: Katja Auer, Die integrative Wirkung der CSU, www.sueddeutsche.de, 23./24.04.2022. 11 Mit der Schreibweise „schwarz/weiß“ folgen wir dem „Glossar für diskriminierungssensible Sprache“ von Amnesty International, www.amnesty.de. 12 Zit. nach Verena Schälter, Mit ‚echten‘ gegen ‚unechte‘ Flüchtlinge, www.tagesschau.de, 1.4.2022. 13 Diese doppelte Bedeutung des älteren Begriffs der Korruption (corruzione) geht zurück auf Niccolò Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, deutsche Übersetzung von Rudolf Zorn, Stuttgart 32007, S. 65-70. 14 Vgl. Frederick Douglass, A Narrative of the Life of Frederick Douglass, an American Slave. Written by Himself, Boston 1845, S. 32.

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»Festung Europa« oder: Was die Mauern mit uns machen 67 Bedeutung werden die „Würde des Menschen“ und die Menschenrechte haben, die dem europäischen Projekt zugrunde liegen?15

Die neue Militanz Europas Das Streben nach Verwirklichung dieses europäischen Versprechens krönte das Nobelkomitee, als es der Europäischen Union im Jahr 2012 den Friedensnobelpreis verlieh und dies mit dem Einsatz der EU für Demokratie und Menschenrechte begründete. Insbesondere nach dem Fall der Berliner Mauer und der Osterweiterung sei die EU zu einer Verheißung geworden, sodass bereits die Beitrittsperspektive Demokratie und Menschenrechte sogar in der Türkei vorangebracht habe.16 Wo aber stehen wir heute, kaum mehr als zehn Jahre nach dieser Ode an die europäische Menschlichkeit? Immer mehr Europäer wählen Parteien, die militant für geschlossene Grenzen sowie für eine geschlossene Gesellschaft eintreten. Die Europäische Kommission hat den Schutz „unserer europäischen Lebensweise“ nicht nur ideell, sondern auch administrativ mit dem Motiv der „starken Grenzen und einem Neustart in Sachen Migration“ verbunden.17 Wissenschaftler vergleichen unterdessen die oft vergeblichen Versuche der Abschottung Europas (und anderer Teile der Welt) in den letzten Jahren mit einem regelrechten „Krieg gegen Migranten“.18 Wenn dieser Vergleich auch nur annähernd stimmt, bleibt der Dauerkrieg an den Grenzen nicht ohne Folgen für die europäische Lebensweise, um deren Schutz es angeblich geht. Denn: „Keine Nation kann ihre Freiheit inmitten eines andauernden Kriegs bewahren.“19 Gegen den herrschenden Trend ist daher ein Perspektivenwechsel dringend erforderlich. Während der Wandel von Gesellschaften durch Migration ein oft behandeltes Thema ist,20 haben sich nur wenige mit dem Thema beschäftigt, wie sich Gesellschaften verändern, wenn sie Migration mit immer massiveren Mitteln abwehrt. Das oft bemühte Bild von der „Festung Europa“ ist ohne Zweifel problematisch – auch weil gar nicht davon auszugehen ist, dass die Abwehr unerwünschter Migration, besonders aus dem Globalen Süden, immer und dauerhaft gelingt. Europa ist also weder eine Burg noch eine Festung, wohl aber eine Union von Staaten, in der das „Festungsdenken“ mächtig ist.21 Die Festungsmetapher beschreibt keine Realität, aber doch eine kollektive Fantasie, 15 Vgl. etwa die Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. 16 Vgl. Norwegian Nobel Committee, The Nobel Peace Prize for 2012, www.nobelprize.org, 12.10.2012. 17 Étienne Bassot, The Six Policy Priorities of the von der Leyen Commission. State of Play in Autumn 2021, www.europarl.europa.eu, 9.9.2021, S. 5. 18 Vgl. Glenda Garelli und Martina Tazzioli, The Biopolitical Warfare on Migrants EU Naval Force and NATO Operations of Migration Government in the Mediterranean, in: „Critical Military Studies”, 2/2018, S. 181-200. 19 James Madison, Political Observations, 20.4.1795, www.archives.gov. 20 Für die Sozialwissenschaften sind hier besonders die Arbeiten von Stephen Castles zu nennen, etwa Stephen Castles, Understanding Global Migration. A Social Transformation Perspective, in „Journal of Ethnic and Migration Studies“, 10/2010, S. 1565-1586. 21 Klaus F. Zimmermann und Ulf Rinne, Zutritt zur Festung Europa? Neue Anforderungen an eine moderne Asyl- und Flüchtlingspolitik, in „Wirtschaftsdienst, 2/2015, S. 114-120.

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68 Volker M. Heins und Frank Wolff die Realitäten schafft. Bei dieser Fantasie dreht sich alles darum, physische und mentale Dämme zu bauen, um die imaginierten Fluten zu stoppen, die von außen und aus dem Untergrund den nationalen Staat zu ertränken drohen. In Europa gibt es sogar eine Rhetorik, die für die „Festung Europa“ plädiert, um migrationswillige Menschen vor den Folgen ihres Aufbruchs nach Europa zu schützen. Um Migranten vor den „immensen Verstößen gegen ihre Menschenrechte zu bewahren“, so brachte die AfD-Fraktion diese perfide Logik in einem Entschließungsantrag im Deutschen Bundestag auf den Punkt, müsse man die relevanten Migrationsrouten nach Europa „wirkungsvoll schließen“ und alle Betroffenen „ausnahmslos abschieben“.22 Flüchtlinge werden dieser Logik zufolge am besten dadurch geschützt, dass man sie an der Flucht hindert. In Wirklichkeit existiert jedoch die „Festung Europa“ nicht an den Grenzen und auch nicht in den Regeln, die die Überschreitung dieser Grenzen regulieren. Sie ist ein Schlagwort, das entweder so vage oder so leicht zu widerlegen ist, dass es über die schrille Vokabel hinaus kaum Kritik an den realen Effekten des europäischen Grenzausbaus erlaubt. Vielmehr gewinnt sie durch ihre stete Aufrufung ein Eigenleben. So kann die kritische Gleichsetzung der EU mit einer Festung gerade den gegenteiligen Effekt haben, dass das ungenaue Sprachbild unabsichtlich zur Normalisierung eben jener Wagenburgmentalität beiträgt, die es anklagen will. Ein derart regressiver gesellschaftlicher Wandel vollzieht sich nicht erst mit dem Erfolg des Abschottungsprojekts. Er geschieht bereits dann, wenn die kollektive Absicht, Migranten notfalls mit Gewalt abzuwehren, zu einem Projekt wird, dem sich große Teile der Bevölkerung und der Eliten verschreiben. Ganz gefährlich wird es, wenn dieses Abwehrprojekt idealistisch aufgeladen und mit dem Projekt Europa verschmolzen wird. Der Perspektivenwechsel vom Wandel durch Migration zum Wandel durch die Abwehr von Migration erfordert eine erhöhte Aufmerksamkeit für die oft schleichenden gesellschaftlichen Veränderungen in den Zielregionen der globalen Migration, besonders in Europa. In ihrer grundsätzlichen Kritik an „Mauern“23 identifiziert die amerikanische Philosophin Wendy Brown eher im Vorbeigehen ein Paradox: Je militanter die staatliche Grenze zwischen einer vermeintlich guten, geordneten Innenwelt und einer bösen, chaotischen Außenwelt verteidigt und befestigt wird, desto mehr verschwimmt sie, und das Chaos schleicht sich auch ins Innere der Gesellschaft hinein. Diesen Gedanken führt Brown jedoch nicht weiter aus. Mauern sind für sie in erster Linie Projektionsflächen für Wünsche und Fantasien totaler Sicherheit in einer neoliberalen Welt schwindender Staatssouveränität, in der das Leben der meisten immer prekärer wird. Dieser Gedanke hat jedoch noch eine radikalere Implikation: Die physischen, rechtlichen und symbolischen Mauern, die zur Abwehr von Migration hochgezo22 Deutscher Bundestag, Die Weißrussland-Route wirkungsvoll schließen. Antrag des Abgeordneten Norbert Kleinwächter und der Fraktion der AfD, DS 20/87, 17.11.2021, S. 6. 23 Vgl. Wendy Brown, Mauern. Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität, Übersetzung von Frank Lachmann, Berlin 2018, Kapitel 3 und 4.

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»Festung Europa« oder: Was die Mauern mit uns machen 69 gen werden, sind nicht nur politische Projektionsflächen. Vielmehr haben die Mauern ganz konkrete soziale und normative Auswirkungen, indem sie destruktiv in die Gesellschaft zurückwirken, deren Schutz sie angeblich dienen sollen. Die hochgerüsteten Grenzen der Gegenwart sind keineswegs nur „Sortiermaschinen“ (Steffen Mau), die allein den anderen, den Aussortierten, schaden.24 Sie sind auch Disziplinierungsmaschinen, die die ausschließende Gesellschaft selbst zur Akzeptanz von Gewalt und Ausschluss erziehen.

Die Geschichte Europas – Versprechen und Verbrechen Insofern ist die Geschichte des politischen Europas ein janusköpfiger Prozess, der ein Versprechen auf Frieden formuliert und zugleich ein Verbrechen beinhaltet. Die verschärfte Migrationsabwehr bricht nicht nur täglich das europäische Versprechen einer menschenrechtskonformen Gesellschaft, sondern dieses ist auch in seinem Gehalt korrumpiert worden, sodass es unklar bleibt, was genau „Europa“ uns und anderen eigentlich verspricht. Die eskalierende Abschottungspraxis führt zu schleichenden gesellschaftlichen Verformungen. Es sind vor allem fünf Felder, auf denen sich die korrumpierenden Folgen der gewaltsamen Migrationsabwehr für die offene Gesellschaft beobachten lassen: Erstens sind die enormen symbolischen Anstrengungen zu nennen, die unternommen werden, um in der Bevölkerung das Gefühl einer Bedrohung durch Migration zu formen. Zweitens im Aufbau weitgehend unkontrollierter und nur begrenzt berichtspflichtiger polizeilicher oder militärischer Grenzinfrastrukturen sowohl an den geografischen Grenzen als auch im Landesinneren. Dies ist drittens eng verbunden mit der Suspendierung von Grund- und Menschenrechten in Grenzregionen und der schleichenden Normalisierung autoritärer Ordnungsstrukturen. Viertens greift die Grenze dadurch nach innen aus, dass sie Maßnahmen zur Einschüchterung auch der Einheimischen nach sich zieht. Dies beginnt bei denen, die wegen „Beihilfe“ zu irregulärer Migration angeklagt werden, und geht immer weiter. Zu diesem Komplex gehören nicht zuletzt die Stigmatisierung und Diskriminierung von Einwohnern, die aufgrund von Aussehen oder Familienbiografie mit jenen identifiziert werden, die an den Grenzen abgewehrt werden sollen. Fünftens schließlich fördern der reale, erhoffte oder halluzinierte Ausbau von unübersteigbaren Mauern ein sozialpsychologisches Syndrom, das wir im Anschluss an eine literarische Vorlage als „Faschismus des Herzens“ bezeichnen. Darunter ist der Hang zu paranoiden, hochgradig destruktiven Abgrenzungen zu verstehen – und zwar nicht nur gegen imaginierte Feinde, sondern auch gegen die Zumutungen der Wirklichkeit selbst, was – wie wir im Erstarken des Rechtspopulismus erleben, fatale Folgen im politischen Raum haben kann. Worauf es daher heute ankommt, ist, die Institutionen der Grenze so zu reformieren, dass sie sich den Menschenrechten und dem menschlichen 24 Vgl. Steffen Mau, Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert, München 2021.

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70 Volker M. Heins und Frank Wolff Wanderungsverhalten anpassen, anstatt umgekehrt menschenrechtswidrig das Wanderungsverhalten durch immer restriktivere Regeln zu kontrollieren. Dafür spricht auch, dass die Kontrolle ohnehin nur schlecht funktioniert. Die vielbeschworenen „sicheren Außengrenzen“ sind eine gefährliche politische Fantasie. Angeblich „sichere“ Grenzen werden mit einem Maß an Zwang und Gewalt erkauft, das letztlich die Freiheit aller gefährdet. Die Gewalt an den Grenzen bedroht nicht nur Migranten, sondern auch die Bürger derjenigen Staaten, die sich hinter Mauern in falscher Sicherheit wiegen und sich vor falschen Gefahren fürchten – und damit letztlich vor allem eines aufs Spiel setzten: die offene Gesellschaft und damit die Prinzipien der liberalen Demokratie. Als der damalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso 2012 den Friedensnobelpreis für die Europäische Union entgegennahm, erinnerte er an die aufklärerische Idee eines Friedens, der mehr bedeutet als nur die Abwesenheit von Krieg: „Die Europäische Union steht nicht nur für den Frieden zwischen den Nationen.“ Als ein „mächtiges Vorbild für die ganze Welt“ verkörpere sie vielmehr, betonte Barroso mit Verweis auf Spinoza, den Frieden als „Tugend“ und „Geisteshaltung“ (state of mind).25 Angesichts ihres Alltagsgeschäfts dürfte den meisten Innenministern und Grenzschutztruppen in Europa diese Idee des Friedens, an die Barroso wenigstens noch einmal erinnerte, denkbar fremd sein und nicht einmal als Ideal dienen. Wenn man die Friedensidee dagegen ernst nimmt, bestünde ein Ausweg aus der heutigen Situation vielleicht darin, sich aus der tagespolitischen Fixierung auf angebliche Ausnahmezustände und Krisen an einzelnen Grenzen zu lösen und neu über die Grundlagen einer demokratischen Grenzpolitik nachzudenken. Ein berühmter Satz aus einem Gedicht des US-amerikanischen Dichters Robert Frost lautet, dass es „gute Zäune“ sind, die „gute Nachbarn“ machen.26 Leider wird der Satz oft missverstanden als ein Plädoyer für Zäune, Mauern und geschlossene Grenzen – oder aber als eine pauschale Ablehnung der Grenzen. Man kann ihn jedoch auch so deuten, dass Frost ein Beurteilungskriterium entwickelt, das es uns erlaubt zu entscheiden, ob ein Grenzzaun gut ist oder nicht. Gute Zäune wären demnach solche, die für gute nachbarschaftliche Beziehungen sorgen. Und nur durchlässige Zäune mit Türen und Toren, die niemanden verletzen, die nicht nur von einer Seite aus kontrolliert werden und außerdem einem erkennbaren und sinnvollen Ziel dienen, schaffen gute Beziehungen. „Ich würd mich fragen, eh ich Mauern zög: / Was zäun ich damit ein, was zäun ich aus, / Und wen mein Zäunen leicht verletzen möcht.“27 Das stets zu bedenken, könnte auch verhindern, dass die um Europa gezogenen Mauern uns selbst immer mehr korrumpieren und damit unsere demokratische Gesellschaft beschädigen. 25 Herman Van Rompuy und José Manuel Durão Barroso, From War to Peace: A European Tale, www. nobelprize.org, 10.12.2012; Zu diesem weiten Begriff des Friedens und seinem Einfluss auf die europäische Einigung vgl. besonders Stella Ghervas, Conquering Peace. From the Enlightenment to the European Union, Cambridge/USA 2021. 26 Robert Frost, Beim Mauer-Ausbessern (Mending Wall), Übersetzung von Hermann Stock, in: „Gesammelte Gedichte“, Mannheim 1952, S. 64 f. 27 Ebd., S.64.

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Kein Frieden ohne Gerechtigkeit Plädoyer für ein zukunftsfähiges Europa Von Oleksandra Matwijtschuk Der verstärkte Beschuss ziviler Ziele durch die russische Armee lenkt den Blick erneut auf die zahlreichen Kriegsverbrechen der Besatzungstruppen in der Ukraine. Eine der wichtigsten Organisationen, die russische Kriegsverbrechen dokumentieren, ist das Center for Civil Liberties aus Kiew. Gegründet wurde die Menschenrechtsorganisation 2007, um die Demokratisierung des Landes voranzutreiben. Mit Beginn der russischen Invasion im Donbass und der Annexion der Krim 2014 begann sie zudem, politische Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten zu dokumentieren. Im vergangenen Herbst erhielt die Organisation rund um ihre Vorsitzende, die Juristin Oleksandra Matwijtschuk, den Friedensnobelpreis. Am 9. Mai hielt Oleksandra Matwijtschuk die diesjährigen „Rede an Europa“ auf dem Wiener Judenplatz. Das Format wurde vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen, der ERSTE Stiftung und den Wiener Festwochen ins Leben gerufen, um renommierten Intellektuellen die Möglichkeit zu bieten, einer breiten Öffentlichkeit originelle Denkanstöße zur Zukunft des europäischen Projekts zu geben. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Katharina Hasewend.

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ie Geschichte kann nur schwerlich idealisiert werden, wenn man sie kennt. Das 20. Jahrhundert brachte zwei verheerende Weltkriege, schreckliche Kolonialkriege, Millionen von Toten und eine totale Entmenschlichung hervor, die ihre konkreteste Form im Holocaust und den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten annahm. Diese schrecklichen Ereignisse machten entschlossenes Handeln nötig. Die Tatsache, dass man gewillt war, Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen, kam im Mahnruf „Nie wieder!“ zum Ausdruck. Staats- und Regierungschefs schufen die Vereinten Nationen und unterzeichneten internationale Abkommen. Die Schuman-Erklärung markiert den Beginn des Projektes eines vereinten Europas. Getragen von der Auffassung, dass jeder Mensch frei und gleich an Würde und Rechten geboren ist, entstand in der Nachkriegszeit ein neuer Humanismus Aber das Böse lässt sich nicht für immer besiegen. Menschen müssen sich jeden Tag aufs Neue entscheiden. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte wurden nur in einem Teil Europas zur gelebten Praxis, und der totalitäre sowjetische Gulag wurde nie gerichtlich verurteilt. Und so kehrt das Böse immer wieder zurück: das Massaker von Srebrenica; die Zerstörung

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72 Oleksandra Matwijtschuk von Grosny, wo damals eine halbe Million Menschen lebte; die russische Bombardierung von Aleppo; die Brandbomben auf Mariupol; die Leichen der Ermordeten auf den Straßen von Butscha. Wie können wir im 21. Jahrhundert Menschen, ihre Würde, ihre Rechte und ihre Freiheit verteidigen? Können wir uns auf das Recht stützen – oder werden Waffen das Einzige sein, was zählt? Ich stelle diese Fragen nicht nur als Bürgerin eines Landes, das sich gegen eine militärische Aggression Russlands verteidigt. Ich stelle diese Fragen als Bürgerin Europas. Europa muss auf die Herausforderungen der heutigen Zeit reagieren. Europa muss seine Rolle in einer globalen Welt wahrnehmen, in der Autoritarismus und Demokratie, Interessen und Werte, Macht und Recht, schnelle Gewinne und langfristige Perspektiven gegeneinanderstehen. Es ist die Entschlossenheit zum Handeln, die eine Gesellschaft zukunftsfähig macht.

Das gelungene Europa... Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl sollte nicht nur eine gemeinsame Grundlage für wirtschaftliche Entwicklung schaffen. Vielmehr vertieften die Bemühungen für ein gemeinsames europäisches Projekt die Solidarität zwischen Ländern, deren Beziehungen jahrhundertelang durch blutige Auseinandersetzungen belastet waren. Der Europäischen Union ist es gelungen, dieses Erbe zu überwinden und Frieden zwischen ihren Mitgliedsstaaten zu gewährleisten. Die kontinuierlichen Bemühungen der Regierungen um die Förderung von Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte ermöglichten über Jahrzehnte hinweg ein stabiles Wachstum. Dies ist jenes Europa, dem es gelungen ist, kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern. Dieses Europa befindet sich nach wie vor auf dem schwierigen Weg der Selbstfindung. Auch wenn es sich heute mit neu entdeckten guten Absichten schmückt, kommt es nicht umhin, das verheerende Erbe seiner kolonialen Vergangenheit anzuerkennen. Europa steht vor der Herausforderung, eine Einheit zu erzeugen, ohne auf Uniformität zu drängen; Integration zu gewährleisten, ohne Homogenität zu erzwingen. Es muss lernen, seine Vielfalt als Quelle der Solidarität zu nutzen. Es darf nicht zulassen, dass Autoritarismus und Imperialismus in seinen Gesellschaften Wurzeln schlagen. Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, ist fast vollständig von uns gegangen. Die nachfolgenden Generationen sahen sich nicht gezwungen, ihr Blut zu vergießen. Sie haben die Werte der Demokratie von ihren Eltern übernommen. Und sie begannen, Rechte und Freiheiten als selbstverständlich zu betrachten. Zunehmend verhielten sie sich weniger als Träger dieser Werte denn als deren Konsumenten. Sie verstanden Freiheit immer öfter bloß als die Möglichkeit, im Supermarkt zwischen verschiedenen Käsesorten zu wählen. Und so sind sie bereit, Freiheit gegen Profit, Sicherheitsversprechen oder persönlichen Komfort einzutauschen. Es sollte

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Kein Frieden ohne Gerechtigkeit 73 nicht überraschen, dass populistische Kräfte in den entwickelten Demokratien an Boden gewinnen; Kräfte, die die Grundsätze der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte infrage stellen. Unsere heutige Welt ist schnelllebig, komplex und vernetzt. Die technologische Entwicklung, der Klimawandel, Verletzungen der Privatsphäre, wachsende Ungleichheit, die Entwertung von Wissen und andere globale Herausforderungen verlangen nach Antworten, die nicht im Rückgriff auf Vergangenes formuliert werden können. Jahrzehnte des relativen Wohlstands und das wachsende Verlangen nach einfachen Lösungen haben den Blickwinkel der entwickelten Demokratien verändert. Sie verstehen nicht mehr, dass der Frieden in Europa nicht ohne Anstrengungen erhalten werden kann, die dem Grad der Gefährdung angemessen sind.

...und die Notwendigkeit, Verantwortung zu übernehmen Die Europäische Union umfasst bei weitem nicht ganz Europa. Sie ist jener Teil Europas, der es geschafft hat, den Grundsatz zu verwirklichen, dass Frieden, Fortschritt und Menschenrechte untrennbar miteinander verbunden sind. Dann sah sie sich der Gefahr der Stagnation gegenüber. Das gelungene Europa sollte die Bewegung anderer Länder in Richtung europäischer Werte unterstützen. In einer sich ständig verändernden Welt überleben nur offene Systeme und wandlungsfähige Kulturen. Mauern und Grenzen können nicht vor globalen Herausforderungen schützen. Wer aufhört, nach vorne zu schreiten, wird untergehen. Die gegenwärtige Lage hängt nicht nur von den Entscheidungen und Handlungen des gelungenen Europas ab, sondern auch von seiner unmittelbaren Umgebung. Es ist das eine, von Ländern umgeben zu sein, die sich ebenfalls den Werten der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verschrieben haben. Ganz anders stellt sich die Situation dar, wenn man von Staaten umringt ist, die diese Werte ablehnen. Wenn solche Länder an Stärke gewinnen, werden sie versuchen, euch zu zerstören. Das gelungene Europa hat sich lange Zeit geweigert, gegenüber anderen Ländern der Region Verantwortung zu übernehmen, und dadurch die Etablierung autoritärer Regime zugelassen. Dieses Europa hat vergessen, dass Länder, die Journalisten töten, Aktivisten inhaftieren und friedliche Proteste auflösen, nicht nur für ihre eigenen Bürger eine Gefahr darstellen. Solche Staaten sind eine Bedrohung für die gesamte Region, ja, für die ganze Welt. Aus diesem Grund hätte es einer Reaktion auf systematische Menschenrechtsverletzungen bedurft. Menschenrechte sollten bei politischen Entscheidungen eine ebenso wichtige Rolle spielen wie wirtschaftlicher Nutzen oder Sicherheitsfragen. Ein Ansatz, der diesem Imperativ Rechnung trägt, muss auch in der Außenpolitik verfolgt werden. Das zeigt sich sehr deutlich im Fall Russlands, das seine eigene Zivilgesellschaft Schritt für Schritt zerstört hat. Doch die entwickelten Demokratien haben davor lange die Augen verschlossen. Sie schüttelten russischen Reprä-

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74 Oleksandra Matwijtschuk sentanten die Hände, bauten Gaspipelines und machten weiter wie bisher. In vielen Ländern begingen russische Streitkräfte über Jahrzehnte hinweg Verbrechen, die stets ungeahndet blieben. Sogar bei der Annexion der Krim, einem beispiellosen Vorgang im Europa der Nachkriegszeit, zeigte die Welt kaum eine Reaktion. Russland glaubte tun zu können, was ihm beliebt.

Das gescheiterte Europa Im Februar 2014 begann Russland einen Krieg gegen die Ukraine und besetzte die Halbinsel Krim sowie Teile der Oblaste Donezk und Luhansk. Zu diesem Zeitpunkt war die „Revolution der Würde“ in der Ukraine gerade zu einem Ende gekommen. Millionen von Menschen hatten sich mutig gegen ein autoritäres und korruptes Regime aufgelehnt. Im ganzen Land gingen sie auf die Straße und forderten eine weitere Annäherung an Europa und an wahrhaft demokratische Werte. Sie kämpften für das Recht, einen Staat aufzubauen, in dem die Rechte jedes Einzelnen geschützt werden, in dem Behörden Rechenschaft ablegen müssen, Gerichte unabhängig sind und die Polizei nicht auf friedlich demonstrierende Studenten einprügeln darf. Einige von ihnen zahlten dafür den höchsten Preis. Im Herzen der Hauptstadt erschoss die Polizei mehr als hundert friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten. Menschen starben unter den Bannern der Ukraine und der Europäischen Union. Als das autoritäre Regime zusammenbrach, erhielt die Ukraine ihre Chance auf einen demokratischen Wandel. Um den Fortschritt der Ukraine zu einer wahren Demokratie aufzuhalten, begann Russland im Februar 2014 seinen Krieg. Im Februar 2022 weitete es diesen Krieg zu einer umfassenden Invasion aus. Nicht die Nato ist es, die Putin fürchtet; er hat Angst vor der Demokratie. Diktatoren fürchten die Idee der Freiheit. Nun versucht Russland, den Widerstand zu brechen und die Ukraine zu besetzen, indem es der Zivilbevölkerung größtmögliches Leid zufügt. Russische Streitkräfte zerstören gezielt Wohnhäuser, Kirchen, Schulen, Museen und Krankenhäuser; sie schießen auf Evakuierungskorridore; sie halten Menschen in Filtrationslagern gefangen; sie führen Zwangsdeportationen durch; sie entführen, foltern und töten Menschen in den besetzten Gebieten. Europa gelang es nicht, dem ein Ende zu setzen. Dies ist nicht zuletzt ein Krieg der Werte. Russland versucht, die ukrainische Nation davon zu überzeugen, dass ihre Entscheidung für die europäische Integration ein Fehler war. Russland versucht, die ganze Welt davon zu überzeugen, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ein Betrug sind, dass sie falsche Werte sind. Denn in Kriegszeiten schützen sie niemanden. Russland will beweisen, dass ein Staat mit einem mächtigen Militär und Atomwaffen der gesamten internationalen Gemeinschaft die Spielregeln diktieren und sogar international anerkannte Grenzen verschieben kann. Es handelt sich also nicht um einen Krieg zwischen zwei Ländern, sondern um einen Krieg zwischen zwei Systemen – Tyrannei und Demokratie.

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Kein Frieden ohne Gerechtigkeit 75 Der Kampf wütet bereits. Die Menschen begreifen dies zwar erst, wenn ihnen die Bomben auf den Kopf fallen, aber dieser Krieg hat noch andere Dimensionen: Er ist ein Wirtschaftskrieg, ein Informationskrieg, ein Krieg der Werte. Ob wir den Mut haben, es einzugestehen oder nicht, dieser Krieg hat bereits die Grenzen zur Europäischen Union überschritten. Russland hat Europa den Krieg erklärt. Russland kämpft gegen jene Werte, die Europa ausmachen. Europa muss also Verantwortung übernehmen. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte können nicht ein für alle Mal erkämpft werden. Vielmehr müssen die Werte der modernen Zivilisation verteidigt werden. Wir müssen für sie kämpfen.

Das ängstliche Europa Europa weiß nicht, wie es den Krieg beenden soll. Immer wieder fordern einzelne Stimmen die Ukraine dazu auf, Frieden zu schließen. Niemand will den Frieden mehr als die Ukrainer. Aber es gibt keinen Frieden, wenn das angegriffene Land die Waffen streckt. Das ist kein Frieden, sondern eine Besatzung, und Besatzung ist lediglich Krieg in anderer Gestalt. Russland hat in den von ihm besetzten Gebieten eine Schreckensherrschaft errichtet, um sie unter Kontrolle zu halten. Das beinhaltet, dass russische Truppen und Spezialeinheiten dort die führenden Köpfe der lokalen Zivilgesellschaft auslöschen – Bürgermeister, Aktivisten, Journalisten, Freiwillige, Priester und Künstler. Ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht oder Gesundheit. Die Menschen dort sind nicht in der Lage, ihre Freiheit, ihr Eigentum, ihr Leben und das Leben ihrer Lieben zu verteidigen. Bei einer Besatzung geht es nicht darum, die Flagge eines Staates gegen die eines anderen auszutauschen. Besatzung bedeutet Folter, Deportation, Zwangsadoption, Identitätsverleugnung, Filtrationslager, Massengräber. In einem dieser Massengräber in der befreiten Region Charkiw wurde unter der Nummer 319 die Leiche von Wolodymyr Wakulenko gefunden. Wolodymyr war Kinderbuchautor. Er verfasste wunderbare Bücher, ganze Generationen wuchsen mit seinen Werken auf. Während der russischen Besatzung verschwand Wolodymyr. Seine Familie hoffte bis zuletzt, dass er noch lebt und sich in russischer Gefangenschaft befindet, wie Tausende andere Menschen auch. Es fällt ihr schwer, den gerichtsmedizinischen Befund zu akzeptieren, wonach seine Leiche identifiziert wurde. Dauerhafter Frieden bedeutet die Freiheit, ohne Angst zu leben und Pläne für die Zukunft machen zu können. Wir müssen aufhören, die Ergebnisse militärischer Drohungen als „politische Kompromisse“ zu tarnen. Forderungen, die Ukraine solle ihre Verteidigung einstellen, nur um den imperialen Gelüsten Russlands nachzugeben, sind nicht nur fehlgeleitet. Sie sind unmoralisch. Man kann die Menschen in den besetzten Gebieten nicht dem Tod und der Folter ausliefern. Das Leben der Menschen darf nicht Gegenstand eines „politischen Kompromisses“ sein. Für den Frieden zu kämpfen bedeutet, sich

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76 Oleksandra Matwijtschuk nicht dem Druck des Aggressors zu beugen, sondern die Menschen vor dessen Grausamkeit zu schützen. Russland ist ein modernes Imperium. Die gefangengehaltenen Völker von Belarus, Tschetschenien, Dagestan, Tatarstan oder Jakutien sind einer Zwangsrussifizierung, der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und dem Verbot ihrer eigenen Sprache und Kultur ausgesetzt; sie werden gezwungen, ihre Identität zu verleugnen. Das Imperium hat ein Zentrum, aber es hat keine Grenzen. Es strebt stets nach Expansion. Wenn Russland nicht in der Ukraine gestoppt wird, wird es weitergehen. Dies ist nicht der Krieg eines Einzelnen. Es ist der Krieg eines Landes, das durch seinen Wunsch, „russische Größe“ wiederzuerlangen, seine Fähigkeit verloren hat, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Daher bejubeln die Menschen die Einnahme ukrainischer Gebiete. Daher denunzieren sie einander. Als die 12jährige Russin Mascha Moskaljowa in der Schule ein Antikriegsbild malte, informierte jemand die Behörden. Nun sitzt ihr Vater im Gefängnis und Mascha wurde in ein Waisenhaus gesteckt. Das russische Volk trägt die Verantwortung für diese schändliche Episode seiner Geschichte und für den Versuch, das ehemalige Imperium mit Gewalt wiedererrichten zu wollen. Das Bewusstsein für diese Verantwortung veranlasst ehrliche Menschen dazu, sich gegen das Böse zu stellen und die Dinge beim Namen zu nennen, auch wenn dies der vorherrschenden öffentlichen Meinung widerspricht. In Russland gibt es heute sehr, sehr wenige von diesen Menschen, aber es ist ihrem Mut zu verdanken, dass Russen niemals werden sagen können, sie hätten von nichts gewusst. Seit Beginn der großflächigen Invasion hat die Ukraine der Aggression standgehalten, dank der Bereitschaft des ukrainischen Volkes, Freiheit und Demokratie zu verteidigen, aber auch dank der Unterstützung der entwickelten Demokratien. Diese Länder sagten erst: „Lasst uns der Ukraine helfen, die Niederlage abzuwenden.“ Jetzt sagen sie: „Wir stehen euch zur Seite, solange es nötig ist.“ Und doch muss dieses Paradigma geändert werden. Statt der Ukraine dabei zu helfen, bloß eine Niederlage abzuwenden, sollten diese Staaten vielmehr so handeln, dass sie der Ukraine zum Sieg verhelfen. Und zwar schnell. Das ängstliche Europa ist versucht, schwierigen – aber verantwortungsvollen – Entscheidungen aus dem Weg zu gehen. Es tut so, als ob die globalen Herausforderungen eines Tages irgendwie von selbst verschwinden würden. In Wahrheit aber werden sie nur noch akuter. Wir vergeuden bloß Zeit.

Das zukunftsfähige Europa... Der Krieg verwandelt Menschen in bloße Zahlen. Das Ausmaß der Kriegsverbrechen nimmt so rasant zu, dass es schlicht unmöglich ist, alle Geschichten zu erzählen. Aber ich werde Ihnen eine erzählen. Die Geschichte von Svitlana, die ihre gesamte Familie verlor, als ihr Haus von einer russischen Rakete getroffen wurde: „Ich hörte, wie sie starben. Mein Mann schnaufte,

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Kein Frieden ohne Gerechtigkeit 77 als ob er versuchte, sich aus dem Schutt zu befreien, aber es gelang ihm nicht. Irgendwann hörte er einfach auf, sich zu rühren. Großmutter und Zhenya waren auf der Stelle tot. Ich hörte meine Tochter weinen. Plötzlich war auch sie still. Was meinen Sohn betrifft, hat meine Mutter mir erzählt, dass er mehrmals nach mir rief, dann verstummte er.“ Solange die militärische Dimension des Krieges an den Grenzen der Ukraine endet, kann das gelungene Europa die Nachrichten über Kriegsverbrechen ausblenden und die entsetzlichen Fotos und Videos ignorieren. Millionen von Menschen in der Ukraine können dies nicht. Wir können den Krieg nicht einfach abschalten. Das Grauen ist zu unserem Alltag geworden. Menschen sind keine bloßen Zahlen. Wir müssen dafür sorgen, dass allen Menschen Gerechtigkeit widerfährt, unabhängig davon, wer sie sind; unabhängig von ihrem sozialen Status; unabhängig von der Art des Verbrechens, das an ihnen verübt worden ist und der Grausamkeit, die sie erlitten haben; unabhängig davon, ob ausländische Medien und internationale Organisationen sich für ihr Schicksal interessieren oder nicht. Wir müssen die Menschen wieder bei ihren Namen nennen. Und ihnen mit ihrem Namen auch ihre Menschenwürde zurückgeben. Denn das Leben jedes Einzelnen ist von Bedeutung. Wir sehen die Welt immer noch so wie zu Zeiten des Nürnberger Tribunals, als Kriegsverbrecher erst nach dem Sturz des Naziregimes verurteilt wurden. Aber Gerechtigkeit sollte nicht von der Beständigkeit autoritärer Regime abhängen. Schließlich leben wir in einem neuen Jahrhundert. Gerechtigkeit sollte nicht hintangestellt werden. Es liegt an uns, den Kreislauf der Straflosigkeit zu durchbrechen und unsere Vorgehensweise bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen zu ändern. Wir müssen ein internationales Tribunal errichten und Putin, Lukaschenko und andere Kriegsverbrecher vor Gericht stellen. Ja, das ist ein mutiger Schritt. Aber wir müssen zeigen, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit funktionsfähig sind und dass die Gerechtigkeit letztlich obsiegt. Eine verzögerte Gerechtigkeit ist immer noch besser als gar keine Gerechtigkeit.

...und ein neuer Humanismus Dies ist eine Aufgabe für ein Europa, das seine Zukunft selbst bestimmt. Europäer zu sein bedeutet, sich solidarisch zu zeigen mit jenen, die für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einstehen. Europa muss eine aktive Rolle übernehmen, statt sich mit leeren Phrasen zu begnügen. Es geht nicht nur um die Frage, wie wir Menschen im 21. Jahrhundert schützen können. Dank seiner multikulturellen Vielfalt und seiner komplexen Geschichte hat Europa das Potenzial, die Bedeutung des Humanismus in einer Zeit des rasanten technologischen Fortschritts neu zu definieren und dem Begriff der Menschlichkeit neue Facetten zu verleihen. Das gelungene Europa kann dazu beitragen, eine Welt zu schaffen, die wir gelungen nennen dürfen. Europa kann eine Schlüsselrolle bei der Schaffung eines Systems der internationalen Zusammenarbeit spielen, das ent-

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78 Oleksandra Matwijtschuk wickelte Demokratien mit jenen Staaten zusammenbringt, die auf dem Weg der Demokratisierung voranschreiten oder zuversichtlich in diese Richtung aufbrechen. Eine solche Union sollte nicht nur verbunden sein durch eine gemeinsame Geschichte, Bestrebungen um wirtschaftliche Entwicklung oder durch die geografische Lage, sondern auch durch gemeinsame Werte und eine geteilte Haltung. Denn bei den Menschenrechten geht es um eine Denkweise, um ein bestimmtes Paradigma der Weltwahrnehmung, das bestimmt, wie wir denken und handeln. Es reicht also nicht aus, geeignete Gesetze zu erlassen oder Institutionen zu schaffen. Die Werte einer Gesellschaft sind stärker als alle Gesetze oder Institutionen es je sein könnten. Wir brauchen eine neue humanistische Bewegung, die von der Gesellschaft getragen ihre Ziele verfolgt; die versucht, Menschen aufzuklären; die die Unterstützung der Massen findet und die sich für die Verteidigung der Rechte und Freiheiten einsetzt. Eine solche Bewegung sollte Intellektuelle und die Zivilgesellschaft aus verschiedenen Ländern zusammenbringen, denn die Ideen der Freiheit und der Menschenrechte sind universell. Wenn das Gesetz vorübergehend versagt und wir uns nicht mehr darauf verlassen können, können wir uns immer noch auf andere Menschen verlassen. Auch wenn wir keine politischen Instrumente haben, so haben wir doch unser Wort und unsere geteilte Haltung. Gewöhnliche Menschen haben viel mehr Macht, als ihnen bewusst ist. Die Stimme von Millionen von Menschen in verschiedenen Ländern kann die Welt rascher und tiefgreifender verändern als jede Intervention der Vereinten Nationen. Unsere Zukunft ist ungewiss. Das Europa des 21. Jahrhunderts könnte zum Geburtsort eines neuen Humanismus oder abermals zum Schauplatz von Verbrechen von beispielloser Brutalität werden. Europa trägt eine Mitverantwortung, die globalen Herausforderungen zu bewältigen und einen neuen Weg der Weltverständigung einzuschlagen. Europa definiert sich weniger über seine geografische Lage als über die Werte, für die es steht. Wir leben in einer Welt, in der Werte keine nationalen Grenzen kennen. Und nur wenn wir die Idee der Freiheit verbreiten, können wir unsere Welt sicher machen.

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Bedroht, getäuscht und provoziert? Russlands Krieg und der Westen Von Reinhard Wolf

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ach mehr als einem Jahr blutigem Krieg in der Ukraine und angesichts der intensivierten Kampfhandlungen mehren sich die Stimmen, die einen baldigen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen fordern. Dies gilt in besonderem Maße für die Bevölkerung in Ostdeutschland.1 Manifeste und Demonstranten fordern oft mehr Verständnis für russische Interessen und mehr Reflexion über den westlichen Beitrag zum Krieg.2 Dieses Ansinnen provoziert bisweilen heftige Reaktionen von Kommentatoren, die in solchen Appellen weitere Fälle von naivem, wenn nicht gar feigem „RusslandVerstehen“ sehen. Dabei sind manche Punkte der „Russland-Versteher“ durchaus nachvollziehbar. Erstens ist Empathie (im Sinne von Einfühlungsfähigkeit) grundsätzlich wertvoll und oft sogar politisch unentbehrlich – insbesondere während militärischer Auseinandersetzungen, in denen die Gegner meistens viel zu schnell dämonisiert werden. Zweitens sieht man sich in Moskau inzwischen wirklich militärisch bedroht. Drittens fühlen sich Russlands Eliten und weite Teile der Bevölkerung tatsächlich gekränkt durch die Politik des Westens. Sie sehen sich nicht ohne Grund in Europa ausgegrenzt – die Folge eines Prozesses, an dem die Nato-Staaten keineswegs unbeteiligt waren. Kränkung ist aber nur ein Gefühl, das, für sich genommen, noch keine Ansprüche begründet. Deshalb wäre es falsch, aus russischen Klagen zu folgern, dass die westlichen Staaten unverzüglich auf einen Friedenskompromiss hinwirken sollten, der den russischen Ordnungsvorstellungen stärker Rechnung trägt. Denn dies würde den grundlegenden Konflikt nicht lösen, sondern höchstens seine Entscheidung vertagen. Im schlimmsten Fall würde so ein Entgegenkommen in Moskau Erwartungen wecken, die den Konflikt langfristig noch verschärfen könnten. Um dies besser zu verstehen, darf man

1 Vgl. Deutsche beim Thema „Leopard“ gespalten, www.tagesschau.de, 19.1.2023; Michael Bartsch, Ukraine-Krieg spaltet Ostdeutschland, www.taz.de, 14.12.2022; Henry Bernhard, Umstrittenes Verständnis – Ostdeutschland, Russland und der Angriff auf die Ukraine, www.deutschlandfunk.de, 19.7.2022. 2 Vgl. Reiner Braun et al., Frieden für die Ukraine. Ein Friedensappell aus der Mitte der Gesellschaft, www.berliner-zeitung.de,1.4.2023; vgl. Krieg in der Ukraine. Waffenstillstand jetzt!, www.zeit.de, 29.6.2022.

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80 Reinhard Wolf nicht nur auf den aktuellen Krieg blicken. Man muss dafür viel tiefer einsteigen und die historische Entwicklung analysieren, die zu ihm geführt hat. Dann sieht man, dass Russland kein Opfer westlicher Machtgier war, sondern dass der Kreml spätestens seit dem Amtsantritt Wladimir Putins eine europäische Ordnung anstrebte, die fast alle europäischen Staaten ablehnten, ja ablehnen mussten. Dies ist der entscheidende Konfliktpunkt, der einen echten Frieden verhindert und in der deutschen Debatte viel zu wenig beachtet wird. Auch heute, mehr als ein Jahr nach Kriegsbeginn, verstellen – nicht nur in der Bundesrepublik – Mythen einen klaren Blick auf die grundlegenden außenpolitischen Ziele des Putin-Regimes.

Drei hartnäckige Mythen Der erste dieser Mythen ist, dass der Kreml die Ukraine angegriffen hat, weil er sich vom Westen schon lange militärisch bedroht fühlt. Nach dieser Vorstellung, die am prominentesten der amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer vertritt, hat die Nato-Erweiterung Russlands Sicherheit zunehmend gefährdet.3 Putin konnte demnach nicht tatenlos zusehen, wie die Nato immer näher an russische Grenzen heranrückte. Wenn diese Diagnose stimmt, dann wären Sicherheitsgarantien oder andere militärische Zugeständnisse des Westens ein gutes Mittel, um den Weg zu einer dauerhaften Friedenslösung zu ebnen. Tatsächlich stand diese Erklärung aber von Anfang an auf schwachen Füßen. Richtig an ihr ist nur, dass die westliche Allianz sich in Richtung Russland ausgedehnt hat. Dass im Zuge dessen Russlands Sicherheit gefährdet wurde, ist hingegen falsch, und dies war auch den russischen Eliten bewusst. Gegen die Mearsheimer-These sprechen zum einen objektive Faktoren. Russland verfügt über ein enormes Territorium, an dem schon viele Eroberer gescheitert sind und das heute zusätzlich durch Kernwaffen gesichert ist. Die Nato wäre aber auch sonst nicht in der Lage, wesentliche Teile Russlands zu erobern. Politisch könnte ein solcher Angriffsbeschluss niemals gefasst oder durchgesetzt werden. Militärisch fehlen dazu eindeutig die Fähigkeiten. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme ist die militärische Stärke der Nato während des Erweiterungsprozesses keineswegs gestiegen, sondern insgesamt gesunken. Zwar bedeutete die Aufnahme neuer Mitglieder einen kleinen Zuwachs an Kampfkraft. Militärische Einsparungen bei den bisherigen Mitgliedern und die Umstellung auf Friedenseinsätze haben diesen Gewinn an Stärke jedoch mehr als kompensiert. Insbesondere hat das wichtigste Bündnismitglied, die USA, zwischen 1990 und 2014 sein Militärpersonal in Europa um 85 Prozent reduziert. Washington hat diesen Prozess sogar noch fortgesetzt, nachdem Russland 2008 Georgien angegriffen hatte. Im Zuge ihres „Schwenks nach Asien“ zog die Obama-Administration auch dann noch weitere Truppen ab und kündigte an, den Schwerpunkt künftig 3 Vgl. John J. Mearsheimer, Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault. The Liberal Delusions That Provoked Putin, in: „Foreign Affairs“, 5/2014, S. 77-89.

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Bedroht, getäuscht und provoziert? 81 auf die maritime Rüstung zu legen. Als Russlands „grüne Männchen“ auf der Krim einmarschierten, verfügte die US Army in Europa gerade noch über zwei Brigaden.4 Zum Vergleich: Allein das Heer der Bundesrepublik umfasste beim Fall der Mauer zwölf Divisionen mit jeweils drei Brigaden. In der deutschen Diskussion über die Folgen der Nato-Erweiterung werden diese zeitgleichen Entwicklungen zumeist ausgespart. Wer dieser Debatte folgt, könnte bisweilen den Eindruck gewinnen, Kriege würden mit Gipfelerklärungen und Beitrittsurkunden entschieden statt mit militärischen Kampfverbänden.

Die Reform der russischen Streitkräfte Im Kreml war man damals nicht so naiv und wusste sehr gut, dass man von der Nato wenig zu befürchten hatte. Dies zeigte sich am deutlichsten in der Umstrukturierung der russischen Streitkräfte, die nach dem Georgienkrieg ernsthaft begann. Diese Reform bezweckte eine Verkleinerung und Professionalisierung der Armee, für die der Anteil der Zeitsoldaten zulasten der Wehrpflichtigen erhöht wurde. Gleichzeitig wichen die schwerfälligen Divisionen den agileren Brigaden. Ziel war die Schaffung einer modernen Interventionsarmee, die nicht mehr auf großangelegte Landesverteidigung, sondern auf kleinere Einsätze jenseits der russischen Grenzen ausgerichtet war. Dies verdeutlicht unmissverständlich, dass die russische Führung auch auf lange Sicht eine westliche Invasion ausschloss.5 Äußerungen der russischen Entscheidungsträger lassen darauf schließen, dass sie großes Vertrauen in die Fähigkeiten ihrer Streitkräfte hatten. So rühmte Putin in einer Rede von 2018 seine strategischen Nuklearstreitkräfte als „unbesiegbar“.6 Auch in nichtöffentlichen Gesprächen mit ausländischen Verantwortlichen kamen solche Einschätzungen zum Ausdruck. Noch zwei Wochen vor der Invasion der Ukraine erklärte der Chef des russischen Generalstabs seinem britischen Pendant, Russlands Streitkräfte seien jetzt den amerikanischen ebenbürtig.7 Schon 2014 soll Putin gegenüber dem damaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko erklärt haben, seine Armee könne innerhalb von zwei Tagen nicht nur Kiew, sondern auch Riga, Vilnius, Tallinn, Warschau und Bukarest besetzen.8 Dass solche Erklärungen nicht ohne weiteres als großspurige Bluffs abgetan werden können, sollte der Beginn des jüngsten Angriffskrieges zeigen. Offenbar glaubte man sich 4 Vgl. R. Taft Blackburn, The Drawdown in Europe. What Does it Mean?, www.discover.dtic.mil, 30.4.2012; Kimberly Marten, NATO enlargement: evaluating its consequences in Russia, in: „International Politics“, 3/2020, S. 401-426; vgl. Helen Cooper und Steven Erlanger, Military Cuts Render NATO Less Formidable as Deterrent to Russia, www.nytimes.com, 26.3.2014. 5 Vgl. Mark Galeotti, Putin’s wars. From Chechnya to Ukraine, Oxford 2022, S. 193; vgl. Margarete Klein und Kristian Pester, Russlands Streitkräfte: Auf Modernisierungskurs. Stand und Perspektiven der russischen Militärreform, Berlin 2013. 6 Wladimir Putin, Presidential Address to the Federal Assembly, en.kremlin.ru, 1.3.2018. 7 Vgl. Britain’s most recent defence attaché in Moscow on the failings of Valery Gerasimov. John Foreman sees Russia’s top general as fit only to face a court, www.economist.com, 5.3.2023. 8 Vgl. Daniel Brössler, Putin soll Europa laut Poroschenko massiv gedroht haben, www.sueddeutsche. de, 18.9.2014.

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82 Reinhard Wolf im Kreml wirklich so hoch überlegen, dass Kiew mitsamt der ukrainischen Regierung innerhalb weniger Tage fallen würde. Das subjektive Bedrohungsgefühl war in den letzten Jahrzehnten also nie besonders hoch. Es ist nach 2014 zweifellos wieder etwas angestiegen, nachdem sich die Ost-West-Beziehungen erneut verschlechtert hatten, auch weil der Westen Wirtschaftssanktionen verhängt und die USA ihr militärisches Engagement moderat verstärkt hatten. Diese Neubewertung zeigt sich u.a. daran, dass die erwähnte Umstellung auf Brigaden teilweise wieder zurückgenommen wurde.9 Zur Zeit der ersten Ukraine-Intervention glaubte sich der Kreml aber in einer sehr starken Position. In diesen wegweisenden Jahren fühlte sich die russische Führung nicht militärisch bedroht, sondern sah den Westen eher in einer Phase der Schwäche, die Moskau ausnutzen konnte.

Hat der Westen Moskau getäuscht? Ein zweiter Mythos, der heute auch vom Kreml ausgiebig propagiert wird, besagt, dass zahlreiche Wortbrüche des Westens, insbesondere in den 1990er Jahren, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit verhindert hätten. In diesem Zusammenhang wird vor allem auf die Nato-Osterweiterung, aber auch auf die Nato-Luftschläge im ehemaligen Jugoslawien verwiesen.10 Diese Erklärung ist schon etwas plausibler – selbst wenn man der Auffassung ist, dass westliche Politiker Moskau nie getäuscht hätten.11 Zumindest stimmt es, dass sich die russischen Eliten, quer durch alle ideologischen Lager, hintergangen fühlten und entsprechend verärgert waren. Unrichtig ist jedoch die Wahrnehmung, dies habe die Beziehungen dauerhaft vergiftet. Das beste Gegenbeispiel ist Putin selbst, der sich in seinen ersten Amtsjahren keineswegs besonders misstrauisch oder nachtragend zeigte. Im Gegenteil: Obwohl die Jugoslawienkriege damals gerade erst vorbei waren und die Nato-Expansion noch weiter voranschritt, machte Putin zunächst erstaunliche Zugeständnisse. Er ermöglichte US-Streitkräften den Zugang zu Russlands Klientenstaaten in Zentralasien, schloss eine Basis in Vietnam sowie einen Horchposten auf Kuba und unterstützte die amerikanische Forderung nach Sanktionen gegen Iran und Nordkorea.12 Verschiedentlich äußerte er sogar Interesse an einem Beitritt zur Nato.13 Auch wäh9 Vgl. Galeotti, a.a.O., S. 243 ff. 10 Vgl. Address by President of the Russian Federation to the State Duma deputies, Federation Council members, heads of Russian regions and civil society representatives in the Kremlin, en.kremlin.ru, 18.3.2014; Vgl. Meeting of the Valdai International Discussion Club, en.kremlin.ru, 19.9.2013; vgl. Transcript: Vladimir Putin’s Televised Address on Ukraine, www.bloomberg.com, 24.2.2022; vgl. St. Petersburg International Economic Forum Plenary session, en.kremlin.ru, 17.6.2022. 11 Vgl. Mary E. Sarotte, Not One Inch. America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate, New Haven 2021; Joshua R. Itzkowitz Shifrinson, Deal or No Deal? The End of the Cold War and the U.S. Offer to Limit NATO Expansion, in: „International Security“, 4/2016, S. 7-44; Sarotte, ebd., S. 87; Angela Stent, Russia and Germany Reborn, Princeton 2000. 12 Vgl. Angela Stent, The limits of partnership. U.S.-Russian relations in the twenty-first century, Princeton 2014. 13 Vgl. Robert Person und Michael McFaul, What Putin Fears Most, in: „Journal of democracy“, 2/2022, S. 28-38; Lilia Shevtsova, Lonely power. Why Russia has failed to become the West and the West is weary of Russia, Washington 2010, S. 47.

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Bedroht, getäuscht und provoziert? 83 rend der Präsidentschaft von Dmitri Medwedjew erlebten die Beziehungen zu den USA wieder einen vorübergehenden Aufschwung.14 Man kann also kaum sagen, dass westliche Unehrlichkeiten die Hauptursache der gegenseitigen Entfremdung darstellten. Insofern sollte auch niemand glauben, dass es heute nur eine aufrichtigere Politik des Westens bräuchte, um die politischen Spannungen zu entschärfen.

Mit dem Rücken zur Wand Näher an der Wahrheit ist der dritte Mythos, demzufolge die westliche Politik Russland in die Isolation getrieben hat, bis es in Europa schließlich allein mit dem Rücken zur Wand stand.15 Als Schuldige hierfür machen einige Beobachter US-Regierungen aus, die angeblich stets darauf aus waren, die Macht der USA auf russische Kosten auszuweiten. In der Tat ist Russland derzeit in Europa weitestgehend marginalisiert. Richtig ist auch, dass Washingtons Politik zu diesem Einflussverlust beigetragen hat, nicht zuletzt im Zuge der Nato-Erweiterung und durch die Unterstützung von „Farben“-Revolutionen in der russischen Peripherie. Falsch ist aber die populäre Behauptung, amerikanische Machtgier habe diesen Prozess maßgeblich beeinflusst. Washington versuchte anfangs keineswegs, russische Macht zu untergraben und die eigene Hegemonie über Europa auszuweiten. Im Gegenteil: US-Regierungen suchten den Zerfall der Sowjetunion zu verhindern und setzten sich, nachdem er doch Realität geworden war, dafür ein, dass Russland alle Kernwaffen aus den ehemaligen Teilrepubliken erhielt – nicht zuletzt die Sprengköpfe aus der Ukraine.16 Auch der bereits erwähnte Abzug von US-Streitkräften verdeutlicht, dass Washington andere Prioritäten hatte. So wollten die Präsidenten George H. W. Bush und Bill Clinton die Befriedung des Jugoslawienkonflikts zunächst ihren europäischen Verbündeten überlassen, um sich stärker auf innenpolitische Agenden konzentrieren zu können. Für ihre Nachfolger George W. Bush und Barack Obama standen dagegen der „Krieg gegen den Terror“ bzw. der „Schwenk nach Asien“ im Vordergrund. In Europa ging es ihnen eher darum, mit möglichst wenig Aufwand destabilisierende Entwicklungen zu verhindern. Vorangetrieben wurde die Isolation Russlands vor allem von ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes, die auf eine rasche Mitgliedschaft in Nato und EU drängten.17 Sie taten dies nicht nur, um ihren Wohlstand und ihre europäische Identität zu stärken, sondern insbesondere auch, um Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten gegenüber Russland zu verringern. Hätten 14 Vgl. Michael McFaul, From Cold War to Hot Peace. The Inside Story of Russia and America, London 2018; Samuel Charap, The Transformation of US-Russia Relations, in: „Current History“, October 2010 (729), S. 281-287. 15 Vgl. Richard Sakwa, Russia Against the Rest, Cambridge 2017; William Holway Hill, No place for Russia. European security institutions since 1989, New York 2018. 16 Vgl. Stent, The limits of partnership, a.a.O. 17 Vgl. Sarotte, Not One Inch, a.a.O.; James M. Goldgeier und Michael McFaul, Power and purpose. U.S. policy toward Russia after the Cold War, Washington 2003.

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84 Reinhard Wolf ihre Regierungen und Gesellschaften Moskau mehr Vertrauen entgegengebracht und eine verlässliche Zusammenarbeit für möglich gehalten, hätten sie vielleicht nie den Nato-Beitritt beantragt. Dieser Faktor kann gar nicht stark genug betont werden. Aber warum fasste man in Warschau oder Riga nicht mehr Vertrauen zum neuen Russland? Dies lag einmal an den unsicheren Perspektiven der russischen Demokratie, wie sie u.a. 1993 in der gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Regierung und Parlament zum Ausdruck kamen. Es lag weiterhin an Moskaus Militärinterventionen in der russischen Peripherie, allen voran an der brutalen Niederschlagung der tschetschenischen Unabhängigkeitsbestrebungen. Es lag aber wohl am meisten an der Tatsache, dass man es im Kreml nicht für nötig hielt, Vertrauensbildung zu betreiben, um die baltischen Republiken und die ehemaligen Satellitenstaaten für eine enge Kooperation zu gewinnen. Bezeichnend für diese geringschätzige Haltung ist ein Erlebnis, das der deutsche Diplomat Wolfgang Ischinger 1993 im russischen Außenministerium hatte, also zu einer Zeit, in der Russland noch in seiner „liberalen Phase“ war. Als er seinen Gesprächspartner, einen sehr hochrangigen Diplomaten, fragte, was der Kreml unternehmen wolle, um polnische oder ukrainische Ängste zu besänftigen, erhielt er zur Antwort: „Was soll schlecht daran sein, wenn unsere Nachbarn uns fürchten?“18 Mit dieser Einstellung konnten die russischen Eliten ihre Nachbarstaaten nur in die Arme der Nato treiben und sich selbst in Europa isolieren. Dies führt zum Kern des Problems, nämlich der Tatsache, dass das postsowjetische Russland wie selbstverständlich eine herausragende Position für sich reklamierte, die ihm die meisten anderen europäischen Staaten und die USA bis heute nicht zugestehen wollen. Putin hat diesen Anspruch später nur radikalisiert und trotziger und gewalttätiger vertreten als sein Vorgänger. Vereinfacht gesagt, will die russische Elite zurück zu einer Ordnung, wie sie vor zweihundert Jahren bestand.19 Damals gab es in Europa ein Konzert von fünf Großmächten, die die Fragen des Kontinents gemeinsam, also über die Köpfe aller „kleineren“ Staaten hinweg, regelten. Zwei dieser erstrangigen Staaten, Russland und Großbritannien, überragten dabei noch die anderen, gleichsam als Vorläufer der späteren Supermächte. Heute beansprucht Russland vehement immer wieder die Gleichrangigkeit mit den USA, ein Vetorecht in allen wichtigen Fragen der europäischen Sicherheit sowie eine Einflusssphäre abhängiger Staaten, in der andere Mächte nur mit Zustimmung Moskaus aktiv werden dürfen.20 Staaten in solchen „Zonen privilegierter Interessen“ (Medwedjew) sind demnach eine Art Manövriermasse der Großmächte, was nicht zuletzt bedeutet, dass sie sich 18 Vgl. Putin’s brinkmanship, in: „The Economist“, 8.1.2022, S. 13-15. 19 Vgl. Shevtsova, Lonely power, a.a.O., S. 130; Bobo Lo, Russia and the new world disorder, Washington 2015; Angela Stent, Putin’s World. Russia Against the West and with the Rest, New York 2019, S. 144 und S. 346-349. 20 Vgl. Putin’s Prepared Remarks at 43rd Munich Conference on Security Policy, www.washingtonpost.com; Meeting of the Valdai International Discussion Club, en.kremlin.ru, 19.9.2013; News conference of Vladimir Putin, en.kremlin.ru, 18.12.2014; Michail Sygar, Endspiel. Die Metamorphosen des Wladimir Putin, Köln 2015, S. 357-358; Shevtsova, Lonely power, a.a.O., S. 322.

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Bedroht, getäuscht und provoziert? 85 ihre internationalen „Freunde“ nicht einfach frei aussuchen können. Vielmehr haben ihre mächtigen Nachbarn ein Recht auf die Freundschaft – oder zumindest auf die Fügsamkeit – der schwächeren Staaten. Ihre Sicherheit ist nicht gemeint, wenn Moskau gleiche und unteilbare Sicherheit einfordert.

Großmacht oder gar nichts Hervorzuheben ist dabei, dass Putin und weite Teile der postsowjetischen Eliten in dieser prominenten Position nicht nur ein erstrebenswertes Ziel sehen, sondern sie für Russlands angestammtes Recht halten. Sie glauben, dass ihr Land aufgrund seiner enormen Größe, seiner Kernwaffen und seiner historischen Leistungen – wie die Siege über Napoleon und Hitler und die friedliche Beendigung des Kalten Kriegs – diese Vorrangstellung naturgemäß verdient. Wer sie ihm verweigert, setzt sich in ihren Augen ins Unrecht. Putins Äußerungen und Handlungen zeigen, dass dies von Anfang an die Sicht war, die seine Politik anleitete. Schon zu Beginn seiner Amtszeit schrieb er in seinem programmatischen Manifest „Russland an der Schwelle zum neuen Jahrtausend“, dass das Land zwar inhärent ein großes Land sei, aber nach den turbulenten Jahren unter Boris Jelzin wieder einen starken Staat benötige, der alle Kräfte bündeln müsse, um einen Abstieg in die Liga der zweit- oder drittklassigen Staaten zu vermeiden.21 Einige Jahre später erklärte er wörtlich, Russland sei entweder eine Großmacht oder gar nichts.22 An dieser Vorstellung hält er bis heute fest. Wie dieser besondere Großmachtanspruch realisiert werden würde, war hingegen zweitrangig. Insofern gehen diejenigen fehl, die jetzt plötzlich erkannt haben wollen, dass Putin nie guten Willen zeigte, sondern von Anfang an die Wiedererrichtung des verlorenen Imperiums anstrebte. Vielmehr versuchte er zunächst, die kooperative Konzert-Option zu verwirklichen. Wie schon erwähnt, machte er dafür durchaus auch Zugeständnisse gegenüber dem Westen. Er machte sie aber auch gegenüber der Ukraine, deren aktuelle Grenzen und politische Unabhängigkeit er noch 2008 ausdrücklich anerkannte23 – vermutlich, weil er damals noch davon ausging, dass ihre autoritär-korrupten Eliten den Nachbarstaat aus Eigeninteresse im russischen Einflussbereich verankern würden, statt ein „Anti-Russland“ zu schaffen, das sich dem Westen annähert. Sichtbarster Ausdruck dieser kooperativen Großmachtstrategie waren Putins Äußerungen, wonach er eine russische Nato-Mitgliedschaft keineswegs ausschlösse. Wie er zu Beginn des Jahrtausends mehrfach betonte, käme ein Beitritt aber nur infrage, wenn Russland in der Allianz ein gleichberechtigter Partner sei. Problematisch sei an der Nato momentan noch, dass 21 Vgl. Vladimir Putin, Россия на рубеже тысячелетий. www.ng.ru, 30.12.1999. 22 Vgl. Lilia Shevtsova, Putin‘s Russia, Washington 2005, S. 175. 23 Vgl. Russian Prime Minister Vladimir Putin interviewed by the German ARD TV channel, archive. government.ru/eng, 29.8.2008. Im Mai 2002 hatte Putin auch erklärt, die Ukraine könne selbst entscheiden, wie weit sie sich an die Nato annähern wolle. Vgl. Robert Person und Michael McFaul, What Putin Fears Most, a.a.O. S. 32.

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86 Reinhard Wolf Moskau an ihren Entscheidungsprozessen nicht „uneingeschränkt beteiligt“ sei.24 Es ist also durchaus möglich, dass der russische Präsident den Beitritt betrieben hätte – vorausgesetzt, Russland wäre in der Nato gegenüber niemandem zurückgesetzt worden, auch nicht gegenüber den USA. Die folgenden Jahre sollten jedoch zeigen, dass der Westen nicht bereit war, Russland die beanspruchten Vetorechte, Einflusszonen oder die Ebenbürtigkeit mit den Vereinigten Staaten zuzugestehen. Die westlichen Regierungen nahmen durchaus Rücksicht auf Moskau, insbesondere in Form von Konsultationen und bei der militärischen Ausgestaltung der Nato-Osterweiterung. Die endgültigen Entscheidungen behielten sie sich aber vor. Dies galt insbesondere für Washington, das unter der Bush-Administration nicht nur im Zuge der Irak-Invasion, sondern auch in der umstrittenen Frage der Raketen-Verteidigung und bei der Reaktion auf die „Farben“-Revolutionen in Georgien und der Ukraine deutlich machte, dass Russlands Einverständnis zwar willkommen, aber oftmals eben doch nicht notwendig war. Diese Haltung trug entscheidend bei zur wachsenden Entfremdung zwischen Moskau und Washington. Dies zeigte sich immer wieder in Putins Reden (u.a. auf der Münchner Sicherheitskonferenz), in denen der russische Präsident ständig amerikanische Alleingänge und Belehrungen anprangerte sowie ganz allgemein mangelnden Respekt vor der Gleichrangigkeit Russlands beklagte. Unmissverständlich hieß es in einem Grundsatzdokument, das das russische Außenministerium Anfang 2007 veröffentlichte, dass „Komplikationen“ mit den USA „regelmäßig“ dann entstünden, wenn Washington versuche, die bilateralen Beziehungen nach dem „FührerGefolgschaftprinzip“ zu gestalten.25 Diese Kränkung zeigte sich aber auch bei Putins Treffen mit US-Präsidenten. Aus mehreren Quellen wird berichtet, dass Putin bei diesen Gesprächen sich zunehmend über amerikanische Alleingänge und Arroganz beschwerte. Dies war ihm offenbar so wichtig, dass er alle Vorfälle, die dies seiner Meinung nach belegten, auf Karteikarten notierte, um sie dann Punkt für Punkt vorzutragen. Auch bei seinem ersten Treffen mit Präsident Obama kamen diese – von den Amerikanern schließlich als „Klage-Karten“ bezeichneten – Notizen offenbar zum Einsatz. Jedenfalls beantwortete Putin Obamas Aufforderung, seine Sicht der russisch-amerikanischen Beziehungen darzustellen, sofort mit einem ausführlichen Vortrag darüber, wo und wann die Bush-Administration Russland missachtet hätte.26 In den Folgejahren hat sich dieses Gefühl der Missachtung offenbar weiter verfestigt zu einem tiefsitzenden Ressentiment gegenüber den USA, das bei 24 Vgl. Samuel Charap und Timothy J. Colton, Everyone loses. The Ukraine crisis and the ruinous contest for post-Soviet Eurasia, Abingdon 2017, S. 68; Robert Person und Michael McFaul, What Putin Fears Most, a.a.O. 25 Vgl. Ministry of Foreign Affairs, A Survey of Russian Federation Foreign Policy. Unofficial translation from Russian, http://achive.mid.ru; Jeffrey Mankoff, Russian foreign policy. The return of great power politics, Lanham 2009; Sakwa, Russia Against the Rest, a.a.O. 26 Vgl. McFaul, From Cold War to Hot Peace, a.a.O., S. 130 f.; Angus Roxburgh, The Strongman. Vladimir Putin and the Struggle for Russia, UK 2021, S. 157 f.; William J. Burns, The back channel. A memoir of American diplomacy and the case for its renewal, New York 2019, S. 277 f.; Sygar, Endspiel, a.a.O., S. 134.

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Bedroht, getäuscht und provoziert? 87 Putin und Teilen seiner Umgebung kaum noch von Hass zu unterscheiden ist. Der Kreml beschloss, amerikanische Alleingänge nicht länger hinzunehmen, sondern ging verstärkt dazu über, seinerseits Washington und seine Verbündeten vor vollendete Tatsachen zu stellen, u.a. in Georgien, 2014 auf der Krim, 2015 in Syrien und kürzlich mit der Invasion der Ukraine. Gleichzeitig verschärfte er seine Rhetorik. Das Regime verbat sich immer entschiedener westliche „Belehrungen“ über den Zustand der russischen Demokratie und beschuldigte Washington, keinerlei Regeln einzuhalten, jedoch selbst der ganzen Welt diktieren zu wollen, wie sie zu leben habe.27 Die US-Eliten, so Putin, „sehen auf alle herab“ und hielten jeden anderen für „zweitklassig“. Sie belehrten ältere Nationen wie Russland, „als ob sie gerade aus dem Dschungel gekrochen kämen, mit Hufen und Hörnern“. Die USA verhielten sich, als wären sie „Gottes Gesandter auf Erden“, und seien darauf aus, aus jedem Land eine ihrer Kolonien zu machen.28 Auch wenn man einen Teil dieser Anklagen als politische Rhetorik einstufen mag, die auf die Abwehr westlicher Einflüsse und die Mobilisierung des russischen Nationalismus abzielt, spricht alles dafür, dass sie insgesamt eine tiefsitzende Verletzung widerspiegelt, die das Regime mit der Mehrheit der Bevölkerung teilt. Diese Sprache artikuliert sehr deutlich das Gefühl, dass sich der Westen nach dem Fall der Mauer wie ein Sieger verhielt, der alles besser weiß und sich – trotz anderslautender Beteuerungen – berechtigt fühlte, seine überlegene Macht rücksichtslos anzuwenden, um seine eigenen Werte und Interessen durchzusetzen. Sehr ähnlich haben viele Ostdeutsche den Prozess der deutschen Vereinigung erlebt, was vielleicht teilweise erklärt, weshalb sie oft mehr Empathie für den Kreml zeigen und im gegenwärtigen Konflikt der amerikanischen Politik, westlichen Sanktionen und deutschen Waffenlieferungen weitaus skeptischer gegenüberstehen als der Rest der Republik.

Ein unüberbrückbarer Gegensatz Aber was hätte der Westen anders machen können, um dieses Gefühl der Kränkung zu vermeiden? Letztlich stand dies kaum in seiner Macht, wenn er seinen Grundprinzipien treu bleiben wollte. Gewiss hätten seine Vertreter, allen voran die Bush-Administration, gelegentlich feinfühliger auftreten können. Und der Irakkrieg von 2003 hätte ohnehin ganz unterbleiben müssen. All dies hätte jedoch nichts daran geändert, dass Russlands Statusansprüche insgesamt schwer zu erfüllen waren. Hätte man Moskau eine exklusive Einflusszone in Osteuropa zugestanden, wäre dies auf einen Verrat an zentralen Werten der liberalen Demokratie und der EU hinausgelaufen. Man 27 Vgl. Address by President of the Russian Federation to the State Duma deputies, Federation Council members, heads of Russian regions and civil society representatives in the Kremlin, en.kremlin.ru, 18.3.2014; Sygar, Endspiel, a.a.O., S. 114, S. 198, S. 285, S. 364. 28 Vladimir Putin, St. Petersburg International Economic Forum Plenary session, en.kremlin.ru, 17.6.2022; Transcript: Vladimir Putin’s Televised Address on Ukraine, www.bloomberg.com, 24.2.2022.

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88 Reinhard Wolf hätte die betroffenen Staaten implizit als zweitklassig und halbsouverän eingestuft und ihre freie Entwicklung zu Demokratien infrage gestellt. Aus ähnlichen Gründen konnten amerikanische und europäische Regierungsvertreter auch nicht kommentarlos zusehen, während in einem wichtigen Land wie Russland demokratische Rechte eingeschränkt wurden. Unglaubwürdig und nicht durchsetzbar war auch die Forderung nach Ebenbürtigkeit mit den USA. Aufgrund der ungesicherten Demokratie und Menschenrechtslage in Russland, angesichts seiner viel geringeren Wirtschaftsleistung und auch wegen seines schwächeren Militärs schlossen die im Westen geltenden Statuskriterien so ein Zugeständnis eindeutig aus. Die Akzeptanz der Ebenbürtigkeit hätte bestenfalls geheuchelt werden können. Eine gleichberechtigte Mitsprache in allen wichtigen Angelegenheiten hätte Russland einen großen Einflussgewinn verschafft, wozu die US-Eliten keine Veranlassung sahen.29 Eine solche Parität kam auch für die große Mehrzahl der europäischen Nationen nicht in Betracht, am wenigsten für die Staaten, die gerade erst der sowjetischen Herrschaft entkommen waren. Mit weniger hätte sich Moskau jedoch kaum zufriedengegeben. Dafür spricht die geringe Wirkung der verschiedenen institutionellen Zugeständnisse, die der Westen Russland in dieser Zeit machte: die Aufnahme in die Welthandelsorganisation und die G7 oder die Schaffung der Bosnien-Kontaktgruppe und des Nato-Russland-Rates. Alle symbolischen Aufwertungen und freundlichen Gesten konnten nichts daran ändern, dass beide Seiten sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber hatten, welche internationale Rangordnung angemessen war. Das russische Regime und große Teile der Bevölkerung glaubten von Anfang an, ihr Land besäße einen berechtigten Anspruch auf eine herausragende Statusposition. Der Westen wiederum kann diese Sonderstellung einfach nicht akzeptieren. Subjektiv steht hier mithin Recht gegen Recht. Dieser fundamentale Gegensatz war nie zu überbrücken, sondern allenfalls kurzfristig zu übertünchen, um anschließend erst recht wieder klar zutage zu treten. Dies verleiht den letzten drei Jahrzehnten durchaus auch eine tragische Note: Solange beide Seiten an ihren grundlegenden Statusvorstellungen festhielten, konnten die Beziehungen nur scheitern, nachdem Russland die Wirtschaftskrise der 1990er Jahre überwunden hatte. Heute sind die Aussichten keineswegs besser. Putin und seine Anhänger sind inzwischen überzeugt, dass ein europäisches Mächtekonzert nicht funktionieren kann, weil der Westen niemals den Rang anerkennen wird, der Russland ihrer Meinung nach gebührt. Man glaubt, dass die Moskau zustehende Einflusszone nur noch mit Gewalt durchzusetzen ist, weil der Westen einfach keine andere Sprache verstünde. Putins berüchtigter Aufsatz von 202130 deutet darauf hin, dass er zumindest im Fall der Ukraine sogar imperiale Kontrolle anstrebt – womöglich weil er sich davon die ultimative Garantie gegen westliche Einmischung verspricht. 29 Vgl. Burns, The back channel, a.a.O., S. 413; Philip Short, Putin. His life and times, London 2022, S. 668 ff.; Sarotte, Not One Inch, a.a.O., S. 226. 30 Vgl. Vladimir Putin, On the Historical Unity of Russians and Ukrainians, en.kremlin.ru, 12.7.2021.

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Bedroht, getäuscht und provoziert? 89 Klar ist auf jeden Fall, dass für Putin in der Ukraine nur ein Sieg infrage kommt. Ein Kompromissfrieden wäre aus seiner Sicht nicht tragfähig, weil er Kiew und Washington nicht für vertrauenswürdig hält. Ein solches Ergebnis würde auch nicht die großen russischen Opfer rechtfertigen und selbst im Inneren sehr deutlich machen, dass Putin es in zwei Jahrzehnten nicht vermocht hat, Russland die beanspruchte Stellung zu verschaffen. Die Erkenntnis, dass er mit diesem zentralen Projekt gescheitert ist, kann der russische Machthaber nicht zulassen. Ein Waffenstillstand, wie ihn jetzt viele hierzulande fordern, wäre für den Kreml also nicht mehr als das: eine Feuerpause, die einen endgültigen Erfolg über die Ukraine keineswegs ersetzen kann. Ein längerfristiges Patt würde er als Niederlage ansehen.

Gegen halbgare Kompromisse Der Westen muss sich also klar machen, dass Moskaus Vorstellungen der internationalen Ordnung mehr denn je seinen eigenen widersprechen. Deshalb steht im gegenwärtigen Krieg für beide Seiten weit mehr auf dem Spiel als nur das Schicksal der Ukraine. Es geht darum, ob Staaten an der russischen Peripherie selbst entscheiden können, wohin sie sich außenpolitisch orientieren. Wenn es dem Kreml gelänge, die Souveränität der Ukraine dauerhaft zu beschränken und den westlichen Einfluss zurückzudrängen, würde dies jedoch nicht nur andere Regionalstaaten verunsichern und so die Nato schwächen. Es würde auch Putin und seine Gefolgsleute gefährlich ermutigen. Es würde sie zu der Ansicht verleiten, dass Russlands Ansprüche jetzt mehr akzeptiert werden und dass sich seine angeblichen Statusrechte am besten mit Gewalt durchsetzen lassen. Infolgedessen würde die russische Führung in künftigen Krisen vermutlich noch rücksichtsloser auftreten. Wer angesichts dessen an das „Konzept der gemeinsamen Sicherheit“ anknüpfen will,31 hat die grundlegenden Ursachen des Krieges nicht verstanden. Der Westen kann sich aus dem Konflikt nicht einfach davonstehlen mit Vorschlägen für Waffenstillstände oder halbgare Kompromisse, die genau wie die beiden Minsk-Abkommen die Auseinandersetzung allenfalls unterbrechen würden. Er muss sich dem Konflikt stellen und die Ukraine so lange konsequent unterstützen, solange ihre Gesellschaft sich wehren möchte. Der Westen muss auch klar sehen, dass es in der Auseinandersetzung um weit mehr als die Grenzen der Ukraine geht. Wirklich zu lösen ist der Konflikt erst dann, wenn sich in Russland die Einsicht durchsetzt, dass sich das Land als wichtiger, aber normaler Staat in die europäische Ordnung einfügen muss. Erst wenn die russischen Eliten verstehen, dass die Freundschaft und das Vertrauen ihrer Nachbarn nicht das natürliche Anrecht mächtiger Staaten sind, sondern von diesen erst mühsam verdient werden müssen, erst dann kann Russland in einer einvernehmlichen Friedensordnung den prominenten Einfluss ausüben, den es immer erstrebte. 31 Braun, Frieden für die Ukraine, a.a.O.

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KOLUMNE

Die Verschwundenen von Belarus Von Olga Bubich Das Gedächtnis ist eine knifflige und äußerst unbeständige Sache. Mit jeder neuen „Schicht“ an Erfahrungen wird der Inhalt unserer Erinnerungen beständig verändert. Wir sind von Natur aus wirklich nicht gut darin, uns Dinge zu merken, und die Aussichten werden angesichts unseres blinden Vertrauens in mobile Geräte und das sogenannte Silikongedächtnis nicht besser. Repressive Regime nutzen das kollektive Gedächtnis jedoch immer wieder als einen Raum, in dem sich die Geschichte fälschen lässt, und setzen alles daran, dass neue Generationen bestimmte „unbequeme“ Episoden oder störende Meinungsführer vergessen oder sich falsch an sie erinnern. Zwei Jahre nach der größten Protestbewegung in der Geschichte meines Heimatlandes Belarus scheint das Land in eine Fabrik der Amnesie verwandelt zu werden. Erst unentschuldbar spät las ich über die „desaparecidos“ – über die repressive Strategie des Verschwindenlassens durch den unterdrückenden Staat oder eine politische Organisation, gefolgt von der Weigerung, das Schicksal oder den Aufenthaltsort dieser Person bekannt zu geben. Den herrschenden Militärjuntas erschien dies günstig: Da keine Leichen gefunden wurden, konnten keine Anklagen erhoben und auch keine Gerichtsverfahren begonnen werden. Schon die ungefähre Zahl der Verschwundenen ist kaum vorstellbar: 30 000 Opfer in Argentinien und über 2000 in Chile. Von keinem dieser Menschen wurden jemals Spuren gefunden. In Argentinien wurde das Schweigen jedoch schnell gebrochen, und zwar von

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jenen, für die das Erinnern eine Pflicht war – den Aktivistinnengruppen der Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo. Sie wurden 1977 spontan von Verwandten der Verschwundenen gegründet und verlangten Gerechtigkeit mit regelmäßigen Protesten auf dem gleichnamigen Platz in Buenos Aires. Die Unmöglichkeit, über den Verlust trauern zu können, verlagerte das Trauma in eine ewige Gegenwart – die Toten waren immer noch da und mit ihren verzweifelten Familien umkreisten sie auf Fotos und selbstgemachten Plakaten den Platz, stets begleitet von derselben Frage: „Wo sind diese Menschen?“ Als ich über die Mobilisierungen zur Bewahrung des Gedächtnisses in Lateinamerika las, konnte ich gar nicht anders, als ein heftiges Déjà-vu-Gefühl zu verspüren. All diese Frauen mit Schwarz-Weiß-Portraits ihrer Lieben, die Lippen fest aufeinander gepresst, die Gesichter eisern entschlossen. Ich entdeckte, dass die Tragödie der Verschwundenen sich nicht nur jenseits des Ozeans abspielte – sondern auch zur Realität meines Landes gehörte. Und bis heute gehört. Zum Schweigen gebracht

Leider erwies sich der Argentinier Jorge Videla nicht als der letzte Diktator, der Oppositionelle entführen ließ und dann verlangte, man solle eine neue Seite aufschlagen. Vielmehr gehören Auslöschung und das folgende Schweigen des Staates auch zu den Instrumenten des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko. Seit seiner ersten

Kolumne 91 Amtszeit ging er auf Nummer sicher, indem er jeden Rivalen eliminieren ließ, der den Thron seines Landes hätte erobern können. Zu den bekanntesten Fällen belarussischer „desaparecidos“ gehören die Politiker Juri Sacharenko und Viktor Gonchar, der Unternehmer Anatol Krasovsky sowie der politische Journalist und Kameramann Dmitri Sawadski. Im Jahr 2004 gründeten Iryna Krasovskaya und Swetlana Sawadskaya, die Ehefrauen der Verschwundenen, die gemeinnützige Stiftung „We Remember“.1 Ihr Ziel ist es, die Verantwortlichen für die Morde an ihren Partnern vor Gericht zu bringen. Doch obwohl private Ermittlungen den Plan hinter diesen „perfekten Morden“ aufgedeckt haben, von denen es mehr als 30 gegeben hat, musste sich bislang kein Staatsdiener für die Entführungen vor Gericht verantworten2. Hingegen wurde Pawel Scheremet, der diesen Plan gemeinsam mit Swetlana Kalinkina in ihrem Buch „Der zufällige Präsident“ aufgedeckt hatte, 2016 von unbekannten Tätern ermordet. Nach diesem lauten Vorgehen in den späten 1990er Jahren griff Lukaschenko zu einer anderen Methode, um den Dissens zum Schweigen zu bringen. Oppositionsführer durften ihre Meinung nun äußern – aber nur bis zu einem gewissen Grad. Denn das Regime lässt sie nicht mehr entführen, sondern aufgrund von absurden Vorwürfen anklagen und ins Gefängnis stecken. Sodann verbreitet es nur wenige oder gar keine Nachrichten über ihre körperliche und seelische Verfassung. Wir kennen also scheinbar den Aufenthaltsort dieser Menschen, aber was bedeutet das unter diesen Umständen schon? Sie werden von der Öffentlichkeit ausgeschlossen, medizinische Hilfe wird ihnen verweigert, und sie müssen monotone, gesundheitsgefährdende Arbeiten verrichten. Damit sind sie in Wirklichkeit die bela1 Vgl. www.ciwr.org 2 Pawel Scheremet und Swetlana Kalinkina, Slutschainyi President, St. Petersburg 2004, S. 159.

russischen „desaparecidos“. Von den 24 Präsidentschaftskandidaten, die bei den fünf Wahlen nach 1994 gegen Lukaschenko antraten, wurden sieben inhaftiert, weitere vier sahen sich Gewalt und Drohungen ausgesetzt. Zusammen kommen Lukaschenkos Konkurrenten um die Staatsspitze auf über 60 Jahre Haft. Dem Menschenrechtszentrum Wjasna zufolge gibt es in Belarus derzeit rund 1500 politische Gefangene. Im Jahr 2020 lag die Inhaftierungsrate bei 345 Gefangenen pro 100 000 Einwohner. Belarus gehört damit weltweit zu den 20 Staaten mit der höchsten Rate – als einziges europäisches Land neben der Türkei. Verurteilt wurden die politischen Gefangenen, weil sie „Absichten“ geäußert, „verurteilendes Schweigen“ gezeigt, „mentale Solidarität“ geleistet haben oder gar, weil sie „stillschweigend zugestimmt“ haben. Unter ihnen finden sich Teenager, Rentner und Mütter mit kleinen Kindern. Mit Stand Sommer 2022 beliefen sich ihre Strafen zusammengenommen auf 2756 Jahre. Dennoch enthalten die Schulbücher für das Fach Geschichte, die 2021 neu geschrieben wurden und die Zensur des kollektiven Gedächtnisses betreiben, nur drei Zeilen über die Massenproteste von 2020 und ihre verheerenden Folgen: „Die sechsten Präsidentschaftswahlen fanden am 9. August 2020 statt. Bei fünf anderen Kandidaten erhielt der gegenwärtige Präsident 80,1 Prozent der Stimmen.“ Erzwungene Amnesie

In Belarus fallen jedoch inzwischen nicht nur Menschen unter die erzwungene Amnesie. Derzeit finden die Kämpfe um das kollektive Gedächtnis auch in Bildung, Kultur und Medien statt. In den vergangenen drei Jahren wurden 37 Medienschaffende verhaftet, alle nichtstaatlichen Medien für „extremistisch“ erklärt und verboten und um die 300 NGOs zwangsweise geschlossen.

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92 Kolumne Die Namen und Geschichten einst populärer Kunst- und Kulturprojekte haben sich neue Eigentümer angeeignet, deren Agenda keine politische Kritik mehr enthält. Das gilt beispielsweise für die jährliche Kunstausstellung „Herbstsalon“ der Belgazprombank. Deren Direktor, der ehemalige Präsidentschaftskandidat Wiktar Babaryka, wurde zu 14 Jahren Haft verurteilt, und die Ausstellung wird nun von neuen, regimetreuen Personen geleitet. Ruhig und gehorsam. Verbannte Farben

Eine lächerliche, aber bezeichnende Episode aus dem kulturellen Feld betrifft die jüngst angelaufene Fernsehserie „Eine halbe Stunde vor dem Frühling“, ein Biopic über die populäre sowjetisch-belarussische Folk-Rockband „Pesnjary“. Eine Rolle in dieser Serie wird von Dmitriy Esenevich gespielt, ein ehemaliges Ensemblemitglied des Kupalovsky-Theaters, der 2021 zusammen mit 58 anderen Darstellern auf die schwarze Liste des belarussischen Kulturministeriums geriet, auf der Menschen mit der „falschen“ Haltung stehen. Da sie ihn nicht komplett aus der Serie entfernen konnten, griffen die Behörden zu einer radikalen, aber ästhetisch verstörenden Maßnahme: Esenevich erscheint zwar auf dem Bildschirm, aber entweder ist sein Gesicht verschwommen oder es werden nur Teile seines Körpers gezeigt. Im heutigen Belarus ist es auch unerwünscht und sogar gefährlich, in der Öffentlichkeit bestimmte Farben zu zeigen. Nach den massiven Protesten gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen von 2020, die mit der brutalen Bekämpfung der Zivilgesellschaft endeten, führten weiß-rote Kleidungsstücke, Schals, Socken, Armbänder, Vorhänge und sogar Süßigkeiten oftmals zu Verhaftungen. Das Regime verknüpft die Kombination dieser Farben mit Extremismus und leugnet ihre historische Bedeutung als offizielles Staatssymbol

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zwischen 1918 und 1919 sowie zwischen 1991 und 1995. Weil er rot-weiße, „extremistische“ Bänder beschützte, wurde im November 2020 der Künstler Roman Bondarenko  von Leuten mit Sturmhauben in seinem eigenen Hof totgeschlagen – die unbekannten Täter waren dort, um sie abzuschneiden. Für den 31jährigen Aktivisten war es eine Frage der Ehre, für die Farben seines Landes einzustehen. Doch trotz zahlreicher dokumentierter Fälle von Gewalt, Einschüchterung und Folter an den Gefangenen ist seit August 2020 kein Vertreter der Sicherheitsbehörden vor Gericht gestellt oder verurteilt worden. Recht auf Erinnerung

Wenn ich über die belarussischen „desaparecidos“ und die Fabrik der Amnesie nachdenke, die das Regime mit großem Aufwand errichtet, kommt mir eine einfache, aber sehr wahre Aussage in den Sinn, auf die ich in dem Buch „The Impossible City“ der aus Hongkong stammenden Schriftstellerin Karen Cheung stieß: „An einem Ort, an dem es Dir nie erlaubt wurde, Deine eigene Geschichte zu schreiben, kann selbst das Erinnern zu einer radikalen Handlung werden.“ Als ich das las, sah ich vor meinem inneren Auge drei Länder, drei Kämpfe und drei Geschichten über den Widerstand gegen die Amnesie, die sich zu einer mächtigen kultur- und generationsübergreifenden Aussage verbinden – ein Versprechen, für das Recht auf Erinnerung einzutreten. Den Großmüttern der Plaza de Mayo gelang es, 120 als Kinder verschleppte Erwachsene aufzufinden, von denen die Junta wollte, dass sie sie vergessen. Ihr 30jähriger Kampf hatte Früchte getragen. Solche Geschichten sollten uns Hoffnung geben. Wenn uns nur wenige Mittel zum Widerstand bleiben, so können wir doch in der Pflege und Weitergabe unserer Erinnerung radikal bleiben. Aus dem Englischen von Steffen Vogel.

Ein Triumph der Schwäche: Erdog˘ans letzter Sieg Von Jürgen Gottschlich

I

n der Nacht seines Sieges nahmen die Autokorsos kein Ende. Bis drei Uhr morgens dröhnten immer wieder Fahrzeuge mit fahnenschwenkenden jungen Männern und lauter Musik durch das Viertel. Das war nicht nur die Freude über einen Wahlsieg, sondern eine Kampfansage an die Verlierer. Gezielt suchten sich die Erdog˘an-Anhänger in Istanbul solche Viertel aus, die gegen den alten und neuen Präsidenten gestimmt hatten. Entlang des Bosporus und auf der Bag˘dat Caddesi, der Hauptstraße durch die CHP-Hochburg Kadıköy auf der asiatischen Seite der Stadt, paradierten die Erdog˘anUltras. Und es blieb nicht bei den Autokorsos. Schüsse hallten durch die Nacht, wenn auch nur in die Luft. Doch die Botschaft war klar: Wir haben die Macht und die Waffen. Die Aktionen der Erdog˘an-Ultras bieten einen Vorgeschmack auf die kommenden Jahre. Schon die Siegesrede ihres „Reis“ (ihres Führers) hatte jene Aggressivität ausgedrückt, die dann von seinen Anhängern gespiegelt wurde. Seine berühmt-berüchtigte Balkonrede in der Nacht des Sieges hielt Recep Tayyip Erdog˘an dieses Mal nicht mehr wie sonst vom Balkon seiner Parteizentrale in Ankara, sondern er sprach vor dem Präsidentenpalast auf einem Hügel vor der Hauptstadt. Das Schema seiner Rede entsprach allerdings den Balkonreden nach vorangegangenen Wahlen: Zu Beginn gab er den Landesvater, behauptete, sein Sieg sei ein Gewinn für alle Türkinnen und Türken, um dann wie im Wahlkampf die Opposition als „von Terroristen gesteuert“ zu denunzieren und deren Toleranz für Menschen der LGBTIQCommunity als einen Anschlag auf die Familie zu bezeichnen. Recep Tayyip Erdog˘an wird das Land nun für weitere fünf Jahre allein regieren, er hat es im hundertsten Jahr des Bestehens der türkischen Republik noch einmal geschafft, sich knapp durchzusetzen. Nach offiziellen Angaben des von ihm kontrollierten Wahlrates erhielt er 52,14 Prozent der abgegebenen Stimmen, sein Herausforderer Kemal Kılıçdarog˘lu 47,86 Prozent. Dieser Vorsprung genügte, um eine für ihn wirklich bedrohliche Debatte um Wahlfälschungen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Doch die nackten Zahlen sagen wenig darüber aus, was dieser Wahlsieg tatsächlich wert ist. Ein Blick auf die politische Landkarte zeigt vielmehr, dass Erdog˘an lediglich einen „Pyrrhussieg“ eingefahren haben könnte, wie die oppositionelle

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94 Jürgen Gottschlich Zeitung „BirGün“ am Tag darauf titelte. Denn die Spaltung des Landes hat sich nach dem ersten Wahlgang am 14. Mai noch einmal vertieft: Die Opposition hat die gesamte Mittelmeer- und Ägäisküste plus die ganze europäische Türkei gewonnen, dazu aber auch den gesamten Südosten und Osten entlang der Grenzen zum Iran und zu Georgien. Das sind zum einen alle Provinzen des Landes, in denen die Kurden einen relevanten Anteil an der Bevölkerung stellen, und zum anderen alle Provinzen, die eher nach Westen ausgerichtet sind. Wichtiger aber noch: Erdog˘an konnte in den urbanen Ballungsgebieten kaum mehr punkten. Der Vorsprung von Kılıçdarog˘lu in den drei größten Städten des Landes – Istanbul, Ankara und Izmir – ist im zweiten Wahlgang noch gewachsen. Mit den Provinzen Ankara und Eskis¸ehir hat die Opposition auch die wirtschaftlich wichtigsten Provinzen in der Landesmitte gewonnen. Der Rest des Landes gehört zwar Erdog˘an, aber das ist – wie Ökonomen sagen würden – der eher „abgehängte“ Teil der Türkei.

Mehr vom Gleichen Dazu passt die Parteienkoalition, die Erdog˘an im Parlament unterstützt. Neben seiner AKP, die mit ihren 35 Prozent bei den Parlamentswahlen am 14. Mai auch längst nicht mehr die früheren Werte von gut über 40 Prozent erreichen konnte, sind das die rechtsradikale MHP, mit der er schon in den letzten Jahren zusammen regiert hatte, plus zwei neue islamistische Kleinparteien: die kurdische Hüda Par und die Yeniden Refah Partei, die vom Sohn des früheren türkischen Islamistenführers Necmettin Erbakan gegründet wurde. Beide Parteien sind betont frauenfeindlich und haben mit ihren an Afghanistan erinnernden Forderungen nach einer traditionellen Familienpolitik selbst etliche Frauen innerhalb der AKP verstört. So ist es kein Wunder, dass die Taliban in der Wahlnacht mit zu den ersten Gratulanten Erdog˘ans gehörten und ihrer Hoffnung auf weitere gute Zusammenarbeit Ausdruck verliehen. Dass die nächsten Gratulanten dann Wladimir Putin und Viktor Orbán waren – alle noch bevor die Wahl überhaupt ausgezählt war – verwundert auch nicht weiter. Als Allerersten aber hatte Erdog˘an den Scheich aus Katar, Tamim bin Hamad Al Thani, in der Leitung. Der wichtigste Finanzier Erdog˘ans freute sich ganz besonders, dass sich seine Investitionen in den türkischen Präsidenten gelohnt hatten. Der Rest der weltweiten Investoren und Bankmanager ist hingegen nicht so erfreut über Erdog˘ans Wahlsieg. Gingen die Aktien türkischer Banken schon nach dem ersten Wahldurchgang in den Keller, erreichte die türkische Lira am Montagmorgen nach der Stichwahl einen historischen Tiefstand: Für einen Dollar muss man in der Türkei jetzt 20,06 Lira zahlen, der Euro stieg in Richtung 22 Lira. Allerdings präsentierte Erdog˘an eine Woche nach den Wahlen, am Tag seiner Vereidigung, mit dem neuen Finanzminister Mehmet S¸ims¸ek eine Überraschung. S¸ims¸ek war von 2009 bis 2018 schon einmal Finanzminister im Kabinett Erdog˘an, wurde dann aber geschasst: Erdog˘an hatte andere Vor-

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Der letzte Sieg des Recep Tayyip Erdog˘an? 95 stellungen von Inflationsbekämpfung als S¸ims¸ek – und als der Rest der Welt. Erdog˘ans erzwungene Niedrigzinspolitik führte dann bekanntermaßen in eine veritable Währungskrise und zu einer der höchsten Inflationsraten weltweit. Nun will der frühere Investmentbanker S¸ims¸ek das Land wieder auf den Pfad einer international abgestimmten orthodoxen Finanzpolitik zurückführen, um die Inflation zu drücken und wieder ausländische Investitionen ins Land zu holen. Die Frage wird sein, ob Erdog˘an S¸ims¸ek dabei gewähren lässt. Erdog˘ans weitere Antworten auf die Wirtschaftskrise deuten eher darauf hin, dass er mehr vom Gleichen plant: Vor allem mehr Betonprojekte, denn die Bauwirtschaft war schon immer Erdog˘ans Konjunkturmotor, und daran will er festhalten. Neben dem Wiederaufbau in den Erdbebengebieten, der in großen Teilen aus dem Ausland finanziert werden soll, setzt der Präsident weiterhin auf sein ökologisch massiv umstrittenes Lieblingsprojekt „Kanal Istanbul“, den „zweiten Bosporus“ vom Schwarzen Meer zum Marmarameer. Dieses gigantische Bauprojekt, das aus Katar teilweise vorfinanziert wurde, könnte nun tatsächlich in Gang kommen. Erdog˘an baut dabei auf Geldgeber vom Golf, aus Russland und China. Mit der EU rechnet er dagegen eher nicht. Leuten, die glauben, er würde nun wieder auf die EU zugehen, erklärte er noch in der Wahlnacht, die Freilassung von Gefangenen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seit langem fordert, komme nicht infrage, solange er an der Macht ist. Der ehemalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas¸ und der Kulturförderer Osman Kavala müssen also in Haft bleiben.

Keine Experimente Wie aber konnte es angesichts der massiven Wirtschaftskrise und des Versagens der Regierung nach dem Jahrhundertbeben im Februar überhaupt noch einmal zu einem Wahlsieg Erdog˘ans kommen? Dafür gibt es mehrere Gründe, die auf unterschiedlichen Ebenen liegen: Die erste Antwort darauf ist scheinbar paradox. Erdog˘an ist gerade von vielen ökonomischen Verlierern und Opfern des Erdbebens gewählt worden, weil sie trotz allem nur ihm zutrauen, sie aus dem Elend wieder herauszuführen. Oppositionsführer Kılıçdarog˘lu hatte diesen Menschen versprochen, ihre Situation zu verbessern, die Inflation zu bekämpfen und die Preise damit wieder zu senken. Doch gute Wirtschaftspolitik ist schwer in massentaugliche Parolen zu bringen, entscheidend ist vielmehr, ob dem Politiker, der sie verspricht, genügend Kompetenz zugesprochen wird. Erdog˘an hat, durch welche Umstände auch immer begünstigt, vielen Menschen vor zehn Jahren einmal zu einem bescheidenen Wohlstand verholfen. Die Leute kennen ihn, die Wahl für Kılıçdarog˘lu hingegen hätte einen Sprung ins Ungewisse bedeutet. In unsicheren Zeiten ist Angst ein starkes Motiv, viele Leute neigen dann dazu, keine Experimente zu wagen. Denn mit Erdog˘an verbinden viele Türkinnen und Türken immer noch, dass er in den ersten Jahren seiner Regierung wichtige Reformen angepackt hat. Vor allem drei Bereiche sind für seine Wählerinnen und Wähler auf lange

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96 Jürgen Gottschlich Sicht besonders wichtig gewesen: Erdog˘an hat erstens das Gesundheitssystem modernisiert und für alle Leute zugänglich gemacht, auch für diejenigen mit wenig Geld. Das zahlte sich beispielsweise während der Coronapandemie deutlich aus. Zweitens hat Erdog˘an angesichts einer stark wachsenden Bevölkerung den sozialen Wohnungsbau enorm angekurbelt, was es wiederum auch den weniger Wohlhabenden erlaubt hat, sich eine Wohnung zu kaufen. Und Erdog˘an hat dafür gesorgt, dass die Renten immer pünktlich gezahlt wurden. In allen diesen drei Politikfeldern gibt es auch viel zu kritisieren, aber unbestreitbar ist: Viele Menschen haben in den vergangenen zwanzig Jahren von Erdog˘an profitiert.

Erdog˘ans Identitätspolitik Die zweite Ebene, auf der Erdog˘an seine Macht gefestigt hat und die bei den Wahlen den entscheidenden Ausschlag gegeben haben dürfte, ist seine Identitätspolitik. Kein Politiker vor ihm hat die Türkei so tiefgreifend gespalten. Seit zwanzig Jahren macht Erdog˘an Politik nach dem Schema: die und wir. Wir, das ist die konservative, gläubige sunnitische Bevölkerung, die zumeist auf dem Land lebt oder aber selbst nach ihrer Abwanderung in die Städte oft nach wie vor sehr traditionsverhaftet bleibt. Die anderen, das sind die säkularen, ungläubigen Menschen, die den Gläubigen ihre Moscheen wegnehmen und den Frauen die Kopftücher verbieten wollen. Dieser Konflikt zieht sich durch die gesamte Geschichte der türkischen Republik: Unter der Führung des im westlichen Saloniki groß gewordenen Mustafa Kemal Atatürk brach die junge Republik in den 1920er Jahren mit dem Erbe des Osmanischen Reiches, schaffte das Kalifat ab, erkannte den Islam nicht mehr als Staatsreligion an und löste die Türkei durch die Einführung der lateinischen Schrift und die Schaffung von Institutionen nach westlichem Vorbild bewusst aus dem Nahen Osten heraus. Damit setzte sie sich in scharfen Kontrast zu vielen Traditionalisten, die diese Veränderungen passiv und aktiv bekämpften. Erdog˘ans identitäre Botschaft lautet: Wir werden diesen Irrweg der türkischen Republik beenden und unser Land wieder am Islam und an den erfolgreichen osmanischen Vorbildern ausrichten. Diesen Konflikt zwischen Säkularen und Traditionalisten hat Erdog˘an immer wieder angeheizt und für sich instrumentalisiert. Die Folge davon ist: Selbst wenn er, wie in den vergangenen Jahren geschehen, die Wirtschaft gegen die Wand fährt, würden viele seiner Anhänger sich doch lieber die Hand abhacken, als einen säkularen Kandidaten wie Kemal Kılıçdarog˘lu zu wählen. Ein Vorfall kurz vor den Wahlen hat das noch einmal verdeutlicht: In einer Moschee in einem Vorort von Istanbul hatte ein Imam ganz offen zum Bürgerkrieg aufgerufen, falls Kılıçdarog˘lu die Wahl gewinnen sollte. Er hätte seine beiden Gewehre bereits geladen und sei vorbereitet, die Gemeinde solle ihm folgen. Als zwei Männer gegen diese Hetze protestierten, wurden sie von den anderen aus der Moschee gejagt. Und als sie zur Polizei gingen, weigerte diese sich, eine Anzeige aufzunehmen. Nur weil die Rede

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Der letzte Sieg des Recep Tayyip Erdog˘an? 97 des Imam auf YouTube ihre Kreise zog, sah sich das Religionsministerium gezwungen, wenigstens pro forma disziplinarisch gegen den Prediger vorzugehen. Die dritte Ebene von Erdog˘ans Machterhalt ist die Repression. Seit es ihm gelungen ist, die Justiz und den Sicherheitsapparat weitgehend auf sich zuzuschneiden, hat es sowohl die parlamentarische als auch die außerparlamentarische Opposition sehr schwer. Im Parlament, aber auch in den Kommunen, werden erfolgreiche Oppositionspolitiker drangsaliert, indem man ihre Immunität aufhebt, sie mit Verfahren überzieht und am Ende häufig ins Gefängnis steckt. Spätestens seit 2013, als, ausgehend von ökologischen Protesten im Istanbuler Gezi-Park, landesweit vor allem junge Türkinnen und Türken gegen Erdog˘ans zunehmend autoritärer werdende Identitätspolitik demonstrierten, wird jeder außerparlamentarische Protest im Land durch Polizei und Justiz niedergeschlagen. Selbst Politiker innerhalb der regierenden AKP, die damals eher auf eine Verständigung mit dem anderen Teil der Gesellschaft drängten, sind längst aussortiert worden. Stattdessen hat sich die AKP unter Erdog˘ans Alleinherrschaft immer weiter radikalisiert.

Die enttäuschte Jugend Dennoch hält der Widerstand gegen Recep Tayyip Erdog˘an an. Bei fairen Wahlen hätte er wahrscheinlich trotz seiner Identitätspolitik keine Mehrheit mehr. Das hat sich schon 2015 gezeigt, bei den letzten Parlamentswahlen in der Türkei, die noch einigermaßen normal verliefen. Die AKP verlor damals im Frühjahr ihre absolute Mehrheit und hätte eine Koalition eingehen müssen. Erdog˘an verhinderte dies und erzwang damit Neuwahlen für den November desselben Jahres. In den Monaten bis zur Neuwahl häuften sich schwere und schwerste Terroranschläge. Am Ende konnte die AKP mit der Parole, nur sie könne wieder Stabilität garantieren, ihre absolute Mehrheit wieder herstellen. Seitdem wird getrickst, werden Oppositionspolitiker eingesperrt und Erdog˘an-kritische Journalisten sowie Medien insgesamt bedroht und dicht gemacht. Der bis heute nicht in Gänze aufgeklärte Putschversuch im Sommer 2016 sorgte dann dafür, dass Erdog˘an per Verfassungsreferendum die exekutive Präsidentschaft durchsetzen konnte. Geht eine Wahl zu Ungunsten von Erdog˘an aus, wie die Parlamentswahl im Frühjahr 2015 oder die Kommunalwahl im Frühjahr 2019, sorgt er mit massivem politischen Druck dafür, dass sie wiederholt wird. Dass die erzwungene Wiederholungswahl in Istanbul 2019 dann dennoch der Oppositionskandidat Ekrem Imamog˘lu gewann, ist einer der Gründe, warum die Opposition trotz allem auf einem Wahlsieg im Mai 2023 gehofft hatte. Vor allem bei vielen jungen Leuten ist die Enttäuschung jetzt gewaltig. Eine junge Frau, die mit ihrer Freundin in einem Café am Bosporus sitzt, sagt noch zwei Wochen nach der Wahl, sie begreife immer noch nicht, was eigentlich geschehen sei: „Es ist eine Riesenenttäuschung. Ich verstehe eigentlich gar nicht, wie das passieren konnte.“ Auch ihre Freundin ist sichtlich mitge-

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98 Jürgen Gottschlich nommen: „Was sollen wir jetzt machen? Was sollen wir in diesem Land noch machen? Wir haben gesehen, dass Erdog˘an alles in der Hand hat, jede Wahl manipulieren kann. Wir haben hier keine Chance mehr.“ Beide Frauen, eine Architektin, die andere Fotografin, haben schon ihre persönliche Konsequenz im Blick. „Wir werden versuchen, ins Ausland zu gehen.“ Mit wehmütigem Blick auf den Bosporus sagt eine der beiden: „Schaut euch an, was wir zurücklassen müssen.“ Ähnliche Antworten bekommt man in den Wochen nach der Wahl von vielen jungen Leuten, die mit großen Hoffnungen Kemal Kılıçdarog˘lu gewählt haben. Wie die beiden Frauen vom Bosporus sind auch viele andere überzeugt, dass das Ergebnis manipuliert wurde. Zwar hatte Kılıçdarog˘lus CHP drei Tage nach der Wahl verkündet, dass in 7000 Fällen landesweit ihre Protokolle aus den Wahllokalen nicht mit den bei der Wahlbehörde eingegebenen Ergebnissen übereinstimmen und etliche für die CHP oder die IYI-Partei abgegebene Stimmen später als AKP oder MHPStimmen geführt wurden, doch da war das Momentum längst vorbei. „Wir hätten noch in der Wahlnacht zur Hohen Wahlbehörde ziehen müssen, mit Kılıçdarog˘lu an der Spitze“, sagen die beiden jungen Frauen, „später ließ sich der Betrug nicht mehr aufdecken.“

Die große Abwanderung Schon vor den Wahlen hatte eine Umfrage unter jungen Menschen zwischen 18 und 30 Jahren ergeben, dass fast drei Viertel aller Befragten sich mit dem Gedanken tragen, ins Ausland zu gehen. Aus politischen, vor allem aber auch aus ökonomischen Gründen. Selbst viele Erdog˘an-Anhänger wollen weg. Der Wahlsieg des Präsidenten dürfte diesen Trend noch verstärken. Schon nach den niedergeschlagenen Gezi-Protesten 2013 hatte in der Türkei eine starke Abwanderung besonders von Akademikerinnen und Akademikern begonnen. Diese Abwanderung bekam einen neuen Schub nach dem Putschversuch 2016 und der anschließenden allumfassenden Repression während des zwei Jahre andauernden Ausnahmezustandes. Auch jetzt sind es wieder vor allem gut ausgebildete junge Leute, die ihr Glück lieber außerhalb der Türkei suchen wollen. Beschränkt wird die Abwanderung nur durch die rigiden Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen für Türken in der EU und anderen Zielländern wie Kanada und den USA. Vielleicht müssen die jungen Leute aber gar nicht mehr so lange warten, bis in der Türkei trotz des nochmaligen Wahlsieges von Erdog˘an ein Wandel einsetzt. Auch die längste Ära geht einmal zu Ende. Der gesellschaftliche Trend spricht klar dagegen, dass Erdog˘an noch lange an der Macht bleibt. Er hat fast alle Großstädte verloren, und der ganz überwiegende Teil der jüngeren Wählerinnen und Wähler lehnt sein autoritäres System ab. Dazu kommt, dass es für Erdog˘an aus seinen eigenen Reihen keinen überzeugenden Nachfolger gibt. Das ganze von ihm errichtete System hängt an seiner Person. Ohne Erdog˘an wird es zwar auch zukünftig noch eine Art von Erdog˘anismus in der Türkei geben, doch machtpolitisch wäre seine Partei dann am Ende.

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Zwischen Repression und Hoffnung: Die iranische Revolte Von Golineh Atai

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nzwischen sind mehr als neun Monate vergangen, seit mit dem Tod von Mahsa Jina Amini in „Polizeigewahrsam“ am 16. September 2022 die jüngste Protestbewegung im Iran begann. Doch wo steht die Revolte jetzt? Was passiert im Land, was passiert mit den Frauen? Ja, die größeren Proteste haben sich beruhigt – aufgrund massiver Repression. Ja, die meisten Menschen befinden sich in einer Depression – wegen der psychischen Folgen der Repression, aber auch wegen der atemberaubenden Wirtschaftskrise, für die sie – zu Recht – das Regime verantwortlich machen. Und doch ist die Revolte keineswegs beendet, im Gegenteil: Wir befinden uns mitten in einer Art sanftem Krieg, einer andauernden Revolution der Werte und Mentalitäten, bei der keineswegs ausgemacht ist, dass das Regime am Ende obsiegen wird. Für diese offene Situation spricht auch, so brutal es ist, dass das Regime selbst die gegenwärtige Situation als „Kriegszustand“ bezeichnet. Es sieht jeden Angriff auf seine Schleier-Schal-Manteaux-Tschador-Uniform als einen Angriff auf seine „Fahne“ und die Angreiferinnen und Angreifer als „Feinde, die diese Fahne herunterreißen wollen“. Daran zeigt sich: Das Regime kann nur noch mit Zwang und Repression um sein Überleben kämpfen. Es überlebt, indem es gezielt das Augenlicht von Demonstranten angreift (und auf öffentlichen Bannern ihre Augenzeugenberichte als „Lügen“ darstellt). Es exekutiert politische Gefangene, es zwingt sie, bewusstseinsschädigende Tabletten zu nehmen oder vergewaltigt sie. Es rächt sich, indem es Tausende von protestierenden Schulmädchen vergiftet, und flößt damit massive Angst ein. Der Anblick eines schwer atmenden Mädchens unter einer Sauerstoffmaske, das in einem Krankenhausbett liegt, ist in den vergangenen Monaten zu etwas Normalem geworden. Als ob ihnen jemand sagen wollte: Das passiert, wenn du dein Kopftuch abnimmst und den Mittelfinger in Richtung des Obersten Führers in den Klassenzimmern hebst, wo sein Bild hängt – ein inzwischen ikonisches Foto und kraftvolles Symbol der Proteste. Daher ist für das Regime jeder gefallene Schleier, jede NichtHidschab-Frau gleichbedeutend mit einer ausländischen Verschwörung. Mit einem Angriff des sogenannten Feindes. Der Präsident hat klar gesagt, dass das Hidschab-Problem ein Sicherheitsproblem ist. Deshalb setzt das Regime noch massiver auf Repression und Indoktrination, deshalb werden die fünf

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100 Golineh Atai ohne Kopftuch und Schleier tanzenden Mädchen, deren Video viral und um die Welt ging, brutal vorgeführt und zur öffentlichen Abbitte für ihre Untat gezwungen.

Politik nach der Devise »Teile und herrsche« Was das Regime jetzt macht, folgt der alten Devise „Teile und herrsche“. Die zusätzlichen neuen Gesetze, die dem alten Strafgesetzbuch hinzugefügt wurden, führen effektiv zur sozialen und wirtschaftlichen Lähmung von Frauen, die sich nicht daran halten. Einige meiner Bekannten haben sofort offizielle Verwarnungen auf Instagram erhalten, nachdem sie ihre Bilder ohne Schleier gepostet hatten. Sie wissen, dass ihnen ein Strafgericht droht, und machen trotzdem weiter. Hunderttausende wurden in den vergangenen Monaten per SMS aufgefordert, die sogenannten islamischen Regeln des Staates zu beachten. Wiederholungstätern drohen saftige Geldstrafen und der Verlust des Zugangs zu Mobiltelefonen und Internetdiensten. Die berüchtigten Gesichtserkennungskameras sollen nun überall installiert werden, aber es scheint, als hätten die meisten dieser neuen Kameras vorerst zwei Beine: Unzählige Polizeispitzel sind seit Beginn der Demonstrationen auf den Straßen unterwegs und notieren sich die Nummernschilder von Autos, in denen sie unverschleierte Frauen entdecken. Oder sie machen Fotos oder Filme von unverschleierten Frauen. Frauen, die sich „Betreuerinnen“ nennen, stehen vor dem Metro-Eingang und ermahnen Frauen, dass sie ohne Kopftuch die Metro nicht benutzen können. Kleriker fordern die Bürger auf, Spione zu werden und unverschleierte Frauen zu melden. Sittenwächter stehen vor den Universitäten und lassen unverschleierte Frauen nicht hinein. Unverschleierte Studentinnen werden mehrere Semester ausgeschlossen. Schauspielerinnen verlieren ihre Anstellungen. Sängerinnen dürfen ihren Lebensunterhalt nicht mehr mit Gesang verdienen, weil sie sich für die „Freiheit des Frauenlebens“ einsetzen. Unzählige Geschäfte erhalten SMS, in denen sie aufgefordert werden, unverschleierte Frauen nicht hereinzulassen, sonst drohe die Schließung. Kürzlich schrieb eine Frau, dass es ihr nicht gefalle, dass ihr Protest das wirtschaftliche Elend anderer Menschen hervorriefe. Dass sie daher versuche, „das verdammte Ding“ auf ihrem Kopf zu behalten. Sofort erhoben andere Frauen Einspruch und sagten ihr: „Was ist mit den zahllosen Frauen, die ihre Einkommensquelle verloren haben, weil sie einen vermeintlich losen Hidschab trugen? Fühlst du dich auch ihretwegen schuldig?“ Hier zeigt sich, dass es eine Menge an Solidarität gibt. Eine Frau schreibt: „Ich war in einem Café, als ich sah, wie ein Geistlicher eine Frau wegen des fehlenden Kopftuchs kritisierte – da habe ich mich vor seinen Augen auch meines Kopftuchs entledigt.“ Taxifahrer, Ladenbesitzer, Ärzte beteiligen sich an dem weiblichen Ungehorsam. Immer mehr Schauspielerinnen treten ohne Kopftuch auf – und stecken damit auch die Männer an: Ein Kinobetreiber verliert seinen Job, weil er eine prominente Schauspielerin ohne Kopf-

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Iran: Zwischen Repression und Hoffnung 101 tuch zu einer Veranstaltung gehen ließ. Männliche Motorradfahrer halten vor Frauen, die von der Polizei ermahnt werden, und verteidigen diese vor Belästigungen. Studenten, die nicht ins Gebäude gelassen werden, holen sich Hilfe von anderen, sie bilden eine Gruppe und drängen sich durch. Gäste in einem Restaurant bitten den Besitzer, einen Kunden, der Unverschleierte fotografiert, aus dem Lokal zu werfen, er kommt der Bitte nach. Wenn in Maschhad, das als klerikale Hauptstadt des Regimes angesehen werden kann, ein Krankenwagen ohne Nummernschild auftaucht (das sind die Autos, mit denen die Demonstranten zu den Polizeistationen gebracht werden), bilden die Fahrer keinen Durchgang mehr, um sie durchzulassen, und Passanten starren demonstrativ auf den Krankenwagen. Andere haben noch weit mehr Mut. „Ein Video aus meiner Nachbarschaft“, schreibt A., aufgenommen bei Nacht, aus einem Fenster im Herzen Teherans: Ein unsichtbarer junger Mann ist darauf zu hören. „Tod der Hinrichtungsrepublik!“. ruft er, sichtlich bemüht, die Worte richtig auszusprechen. „Er hat eine Behinderung, doch das hält ihn nicht davon ab, seit Beginn der Proteste auf das Dach zu steigen und ‚Tod dem Mörder, dem Obersten Führer!‘ zu rufen“, erklärt mir A. „Manchmal hallt es wütend zurück: ‚Führer Khamenei hat keine Wurzeln in unserer Erde. Der Aufstand wird nicht aufhören!‘“ Das sind Stimmen der Verzweiflung, aber mehr noch des Zorns, auf die Straße gebrüllt, im Schutz der Dunkelheit. Stimmen, die von einem zermürbenden Krieg erzählen. Der Iran ist heute eine Gesellschaft, die sich „unter Besatzung“ oder „in Geiselhaft“ sieht, in der dunkelsten Phase ihrer Geschichte. Aber der Iran ist zugleich eine Gesellschaft, deren grundlegende Werte und Lebensvorstellungen sich seit einigen Jahren – und umso mehr nach der Erschütterung der vergangenen Proteste – fundamental und unumkehrbar verschieben. Eine Gesellschaft, in der vielfältige Protestformen zur neuen Normalität geworden sind – die jede für sich lange Gefängnisstrafen oder Peitschenhiebe zur Folge haben können.

Die Stimmen des Widerstands Um die Dimension der Umwälzung zu verstehen – einige sprechen gar von einem zivilisatorischen Wandel –, habe ich erneut viele Gespräche mit jenen Frauen geführt, deren Widerstand ich seit einigen Jahren verfolge und in meinem Buch „Iran – Die Freiheit ist weiblich“ dokumentiert habe.1 „Ich bin hoffnungsvoller geworden. Wir, die Familien der Regimeopfer, haben lange geduldig auf diesen Moment gewartet. Auf den Moment der Bewusstwerdung in der Gesellschaft, auf dieses Miteinander, diese beispiellose Vereinigung“, erzählt mir Schahnaz Akmali. Hoffnung – ausgerechnet aus dem Munde einer Mutter, deren Sohn 2009 bei einer Anti-RegimeDemonstration getötet wurde. Eine zentrale Figur in der Bewegung der Mütter, deren Kinder vom Regime erschossen wurden, und die nicht aufhören, 1 Siehe dazu auch Golineh Atai, „Frau, Leben, Freiheit“. Die Kraft der Iranerinnen und ihr Kampf gegen die Theokratie, in: „Blätter, 11/2022, S. 39-49.

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102 Golineh Atai an die Straflosigkeit der Verantwortlichen zu erinnern. Für diese öffentliche Erinnerung wurde Schahnaz Akmali unter anderem mit einer Haftstrafe für ihr einziges verbliebenes Kind, ihre Tochter, bestraft. „Als 2009 mein Sohn erschossen wurde, machten mich die Gleichgültigkeit und die Einwände meiner Umgebung bitter. Nach dem Motto: Euer Mustafa ist doch selbst schuld, wenn er demonstrieren ging. Jetzt aber verstehen mich die meisten. Jetzt besuchen richtig viele die Trauerfeiern der getöteten Demonstranten – ein politischer Akt“, erklärt Schahnaz Akmali. In allen meinen Gesprächen höre ich von dieser Hoffnung und Bewusstwerdung: „Wir sind nach wie vor in diesem schwarzen Loch. Aber wir haben uns von diesem dunkelsten Punkt entfernt. Jetzt können wir zumindest das Licht sehen.“ Bei allen höre ich von Momenten der Solidarisierung, wenn Frauen wegen ihres Protests gegen den Zwangsschleier auf der Straße von der Staatsgewalt bedroht – und dann von einer Menschenmenge, darunter etlichen Männern, lautstark unterstützt werden. Von einer Gesellschaft, die von ihren Forderungen nach einem angstfreien Leben in einem neuen, säkularen Staat unmöglich wieder ablassen und, wie Schahnaz Akmali sagt, auf die Augenwischerei von Reformpolitikern des Regimes nie mehr hereinfallen wird. „Ich habe Stress, Wut, Unruhe und Depression erfahren in den vergangenen Monaten. Aber nie Hoffnungslosigkeit. Im Gegenteil, ich spüre, dass wir eine lichte Zukunft verdienen“, sagt die Grafikerin Rahele Mahouti, deren Zeichnungen und Motive in den ersten Wochen der Protestbewegung im Netz und auf der Straße zu sehen waren. „Vor Mahsa Jina Amini war das Kämpfen um mein Lebensrecht als Frau etwas Furchteinflößendes. Aber jetzt kämpfe ich für alle. Nicht nur für mich. Ich bin Teil eines größeren Ganzen geworden. Es ist, als ob wir Frauen uns ineinander erkennen – in diesen Momenten, in denen ich unverschleiert aus dem Haus trete, eine Verschleierte mich sieht – und den Schleier fallen lässt, wir uns auf der Straße anlächeln, und unser Mut sich vervielfacht.“ Vor September sei die Hoffnung tot gewesen – nun halte „die Hoffnung auf unseren Sieg“ die Menschen aufrecht, sagt Mahouti.

Eine Zeit der Hoffnung „Insgesamt habe ich jetzt Hoffnung – in diese Gesellschaft, diese Menschen, dieses Land“, ist auch Ensieh Daemi überzeugt. Ihre Schwester Atena Daemi kämpfte gegen die Todesstrafe im Iran und erduldete dafür mehr als sechseinhalb Jahre Haft. Ensieh bezeichnet sich als die stets ängstliche und konservative der Geschwister. Doch seit den Protesten stellt sie Veränderungen an sich fest: Sie scheut Auseinandersetzungen nicht mehr. Sie stellt erstmals ihre Grenzen klar. Als Einzelne habe sie genau wie die Gesellschaft einen über Jahre dauernden Wandel durchgemacht, dessen Ergebnis im Ausbruch der Protestbewegung sichtbar wurde. Während der Streik- und Boykottaufrufe in den ersten Monaten der Proteste erschien die Friseurmeisterin nicht zur Arbeit, während die Chefin den Salon weiter geöffnet ließ. Ensieh hörte

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Iran: Zwischen Repression und Hoffnung 103 auf, für ihre Arbeit auf Instagram zu werben – sie brachte es nicht über sich, nachdem eine junge Frau wegen ihrer Haare getötet worden war. Eine der vielen nicht auszulöschenden Erfahrungen, erzählt sie, sei das Mitgefühl in der Menge der Demonstranten gewesen, die gegenseitige Hilfe, wenn es zu Zusammenstößen kam. Die kleinen Steine, die Jugendliche mit sich trugen, um sich zu verteidigen. Die Art, wie die Menschen im Wohnviertel ihrer Eltern, ein äußerst konservativ-religiöser Bezirk im Süden der Hauptstadt, sich zu nächtlichen Protestrufen verabreden – oder wie sie das WM-Spiel Iran gegen USA zelebrierten. „Ich konnte es nicht glauben, wie sehr die Einwohner ausgerechnet dort auf eine Niederlage unserer Mannschaft hin fieberten und wie sehr sie sich über jedes amerikanische Tor freuten!“, sagt Ensieh Daemi. Und der Schleier? „Wenn ich allein unterwegs bin, bin ich oft etwas ängstlich, ganz unverschleiert aus dem Haus zu gehen. Niemand würde dann im Fall einer Festnahme wissen, was mit mir passiert ist. Aber in Gesellschaft lasse ich das Tuch definitiv zuhause.“ Ensieh Daemi ist eine von Abertausenden, die eine neue Realität zementieren. Frauen nehmen – in kurzer, enger Sportkleidung nur – an einem StadtMarathon teil. Eine Schauspielerin geht unverschleiert zu einer Filmpremiere. Eine junge Frau, die in der Metro wegen ihrer Schleierlosigkeit ermahnt wurde, postet demonstrativ ein Video über ihre Absicht, dies zu wiederholen. Das Regime sieht in den Haaren den imperialistischen „Feind“ am Werk. Ein Kommandeur der Revolutionsgarden in Buschehr warnt, „auch an dieser Front“ werde man dem Feind eine Niederlage bereiten. Und ein Vizepräsident erinnert, der Hidschab sei das Symbol der Islamischen Republik, ohne den sie ja keinen rechten Sinn mehr habe.

Nie wieder Bürger zweiter Klasse Das Regime verschärft die Strafgesetze, die – in einem Land, in dem die Frauenarbeitslosigkeitsrate doppelt so hoch ist wie bei den Männern –, zur zusätzlichen wirtschaftlichen und sozialen Lähmung der Frau führen. Es suspendiert Studentinnen von der Uni, es droht mit dem Entzug von Mobiltelefon und Internet. Mehr noch, es zieht alle in Mitleidenschaft, die eine solche Selbstbestimmung tolerieren. Wenn selbst in einer Polizeistation ständig Unverschleierte auftauchen, dann kann sie, wie sie in einem Banner am Eingang schreibt, „den anderen guten Bürgern ihre Dienste nicht mehr anbieten“. Auch Männer zahlen hohe Geldstrafen für die Unterstützung von Frauen ohne die Uniform des Regimes. Taxifahrer verlieren ihren Führerschein, wenn sie Unverschleierte mitnehmen; Ladenbesitzer müssen ihr Geschäft versiegeln; Arztpraxen, Restaurants, Apotheken und touristische Zentren werden vorübergehend geschlossen. „Wir waren unser ganzes Leben lang Bürger zweiter Klasse“, schreibt eine Teheranerin auf Twitter. „Jetzt versuchen sie, uns zu einer Plage zu machen, uns als einen unersättlichen Unruhestifter darzustellen. Uns in eine öffentliche Bedrohung zu verwandeln, auf die beschlagnahmte Autos und ver-

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104 Golineh Atai siegelte Geschäfte zurückzuführen sind. Aber wir wollen einfach wir selbst sein. Ein echter Mensch, der das Recht hat, zu wählen!“ Doch das staatliche Werben für den Zwangshidschab bewirkt das Gegenteil: Wenn Banner mit falschen Zitaten von Victor Hugo und Leonid Tolstoi über die angebliche Sinnhaftigkeit des Hidschabs aufgestellt werden, löst das Fassungslosigkeit und Kopfschütteln aus. Auf die allgegenwärtigen Poster mit dem Ausspruch „Der Hidschab ist das Erbe der Mütter“ – darauf eine Mutter, die ihrer Tochter den Schleier zurechtzieht – reagieren viele mit ätzendem Spott: Der Zwang, die Gewalt, der Schmerz und die Chancenlosigkeit – das sei das Erbe der Mütter, antworten sie dem Staat. Und der „Feind“, vor dem sie Staatsfernsehen und Schulbücher 44 Jahre lang warnten? „Sie lügen, wenn sie sagen, unser Feind sei Amerika. Unser Feind ist hier“, lautet ein seit Jahren geläufiger Protestruf.

Ein Protest, der die ganze Nation erfasst Ist die Protestbewegung eine „feministische Revolution“, wie es in Deutschland oft heißt? Alle Frauen verneinen meine Frage. Dies sei keine vollständige Beschreibung. „Hier ist der Begriff Feminismus den meisten nahezu unbekannt“, erklärt Atena Daemi. Sicher, Frauen seien ganz vorne dabei. Aber ausgehend von der Tötung Mahsa Jina Aminis erfasse der Protest längst etwas Größeres – eine ganze Nation, all das Unrecht, das ihr seit 44 Jahren angetan werde. So, wie die Lehrervereinigung, die Rentnerunion, die Arbeiter der Petrochemie und die Geschäftsbesitzer in ihren Streikaufrufen hinter den Frauen standen, unterstützten sie genauso auch die Minderheiten im Land. „Der neue Kaveh ist eine Frau“, schrieb der Fußballer Ali Karimi, einer der prominenten Protestunterstützer. In der altiranischen Mythologie des Königsbuchs von Firdausi ist Kaveh, der Schmied, ein einfacher Mann aus dem Volk, der gegen den fremden Eindringling und Tyrann Zahak kämpft. Die Heldensage über den Widerstand gegen nichtiranische Invasoren ist ein zentrales Motiv der Demonstranten. Es geht ihnen um ihre iranische Identität, die das Regime auslöschen will. So erklärt sich das Tattoo auf dem Arm des hingerichteten Demonstranten Majid Reza Rahnavard: ein Löwe im Zeichen der Sonne. Das im Land sehr beliebte astrologische Symbol war seit Jahrhunderten, bis 1979, Emblem der Nationalflagge, stellvertretend unter anderem für schiitische, babylonische, zoroastrische Elemente der Geschichte. So erklären sich auch die vielen jungen Frauen, die sich mit wehenden Haaren vor dem Grab des Achämenidenkönigs Kyros dem Großen fotografieren lassen und ihr Bild in soziale Medien stellen: ein Protestakt vor einem imperialen Herrscher, der für Menschenrechte und Toleranz bekannt war – eine Art persischer Urvater. Ein grundlegender Wandel hat stattgefunden. Nicht nur, dass eine Provinz wie Sistan-Balutschistan, die niemals bei den Protesten des übrigen Landes mitmarschierte, nun ein Epizentrum des wöchentlichen Widerstands ist. Kommen Iraner aus anderen Landesteilen dorthin, loben sie unentwegt den

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Iran: Zwischen Repression und Hoffnung 105 Mut der Demonstranten, erzählt mir die Journalistin Sahra Rousta, die in Zahedan lebt. „Die ganze Gesellschaft – alle Schichten, Gruppen, politischen Richtungen, Religiöse wie Nichtreligiöse, wollen die Islamische Republik beendet sehen. Und: Es zeichnet sich eine kulturelle Revolution ab. Gegen Misogynie, gegen patriarchalische Vorstellungen. Wir beginnen, tief eingepflanzte Glaubensmuster aufzuarbeiten. Eine schwierige Arbeit“, fasst Atena Daemi die Entwicklung zusammen. Ihren Aktivismus bezahlt sie teuer: Kaum aus dem Gefängnis entlassen, ist sie untergetaucht, um weiter zu publizieren. Ihre chronische Krankheit, die sich im Gefängnis entwickelte, kann sie in ihrem Versteck nicht behandeln. Wie alle befragten Frauen ist sie überzeugt: Die Proteste werden weiter gehen, in der einen oder anderen Form. Wie alle sieht sie den Staat als stark und zugleich als im Verfall befindlich an: einerseits der ideologische Ruin des politischen Islam, die Unfähigkeit, Tausende von unverschleierten Frauen zu verhaften, zunehmend säkulare Einstellungen, die neue Angstfreiheit vieler Menschen und ihre neue Radikalität – und auf der anderen Seite das einzig verbliebene Mittel des Staates, die Keule der Repression und Hinrichtung. Und über allem ein Land in Trauer, das seine Getöteten nach und nach in unzähligen Handyvideos kennenlernt.

Die Diversität der Opposition und ihrer Motive Aus welchen politischen Milieus stammen die Opfer der Repression? Welche politischen Ideale zeichnen sie aus? Unser Blick darauf bleibt oft vage. Doch die Diversität der Demonstrierenden und der Opfer verdient unsere Aufmerksamkeit. Die Familie der getöteten Nika Shakarami, eine Sechzehnjährige, die ihr Kopftuch auf der Straße verbrannte, personifiziert diese Unterschiede. Mutter und Tante – offenbar die beiden wichtigsten Bezugspersonen der Schülerin – sind so divers wie die gesamte Gesellschaft in ihrer Opposition zum Regime. Während die Mutter den Sohn des letzten Schahs, Reza Pahlavi, als politischen Anführer der Opposition sieht, fühlt sich die Tante in keiner Weise der Monarchie verbunden. Während der Hingerichtete Mohammad Seyed Hosseini, Arbeiter in einer Hühnerfabrik und Kampfsportler, die Ära vor 1979 offenbar als Ideal ansah, wie sein Instagram-Kanal preisgibt, warnt Reza Khandan, der Ehemann der Anwältin und Frauenrechtlerin Nasrin Sotoudeh, vor einer Rückkehr der Monarchie als „säkularer Diktatur“. Oppositionell sein im Iran bedeutet: als linker Verteidiger von Arbeiterrechten in Haft zu sitzen oder aber auch als religiöse Familie die Vermischung von Politik und Religion abzulehnen und mit der Idee der Monarchie zu sympathisieren. Die Ablehnung der Revolution 1979 als „Schritt ins Mittelalter“, die Entwertung der Revolutionäre als „primitive, ungebildete, verrohte und gewaltbereite Schicht“ oder als „dumme Intellektuelle“ ist in weiten Bevölkerungskreisen, vor allem in den jüngeren Generationen, geläufig. Die meisten Iraner sind sich einig, dass sich

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106 Golineh Atai das Land aufgrund der Revolution zurückentwickelt hat. Die Hinrichtungsorgie und Generalabrechnung klerikaler Faschisten, die zivile Fundamente zerstörten und die Geschichte der Nation eliminieren wollten, ist für viele im Rückblick ein Moment der Schande und Scham. Sämtliche „Nostalgiker“ als rückwärtsgewandte Antidemokraten zu kennzeichnen, zeugt daher eher von Desinteresse an den Menschen als von einem Begreifen der Proteste. Die Motive für die Wertschätzung der Monarchie – oder genauer: des Iran vor 1979 – sind nicht auf einen Nenner zu bringen. Mal wird diese Ära herbeigewünscht als eine „ideale Startrampe“ für Reformen, die sie hätte sein können – ein kulturell erhaltenswerter Zustand, der in eine politische Reform hätte überführt werden müssen und an den nun angeknüpft werden müsse. Ein Zustand, in dem gesellschaftliche und wirtschaftliche Freiheiten gewährt wurden, der Status der Frau sich erheblich verbesserte und das Land nicht auf ausländischen Schlachtfeldern (Syrien, Libanon, Irak oder Jemen) ideologische Glaubenskriege führte, sondern in dem die eigenen Bürgerinnen und Bürger ohne ein Visum in viele westliche Länder einreisen konnten. Ein Zustand der Entwicklungssprünge, der immer weiteren Schichten einen sozialen Aufstieg und ein planbares Leben ermöglichte.

Vor und nach 1979: Von der Monarchie in den klerikalen Faschismus Die ehemalige Weltbankökonomin Nadereh Chamlou weist zum Beispiel darauf hin, wie die Revolution Irans aufstrebende Unternehmer- und Industrieklasse vernichtete: „Entgegen mancher Annahme, dass sie vom Vetternwirtschaftskapitalismus des Schahs profitierten, stammten die meisten frühen Industriellen aus einfachen Verhältnissen und waren self-made businessmen – etwa die Khajjami-Brüder aus Mashhad, die aus der Mittelschicht aufstiegen und die Automobilindustrie gründeten, heute Irans drittgrößter Arbeitgeber, nach Öl und Gas.“ Der Iran vor 1979 war ein Land, dessen Bruttoinlandsprodukt weit über dem der Türkei, Südkoreas und Vietnams lag – und der diesen Vorsprung jäh verlor. Dessen Pro-Kopf-Einkommen seit der Revolution nie wieder so sprunghaft wachsen konnte. Und dessen menschliches Potenzial – die Masse an ausgebildeten Jugendlichen – nie wirklich genutzt wurde und stattdessen – qua erzwungener Auswanderung – westlichen Ländern zugute kam. „Wenn ganz normale Menschen sich erinnern, dann wünschen sie sich dieses Lebensminimum zurück. Es ist klar, dass sie an einem politischen System interessiert sind, das dieses Minimum erfüllte, ohne dass sie sich dafür in Angst und Panik in einem quälenden Kampf aufreiben mussten“, erklärt die Politikwissenschaftlerin Farangiss Bayat, die in Teheran als Journalistin für verschiedene Zeitungen schrieb und soziale Bewegungen analysiert. Wer beide Systeme auf den Nenner „Beides gleich schlecht“ herunterbreche, begehe einen Denkfehler. Dieser „alte, fruchtlose Streit zwischen dem Schah und seinen Gegnern“ sei obsolet und unangemessen angesichts der überwältigenden heutigen Probleme: die Umweltkrise, der Generationenkonflikt, Unterernährung, zunehmend aufgelöste

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Iran: Zwischen Repression und Hoffnung 107 Familienstrukturen, eine Bildungskrise und wachsendes Analphabetentum, die Krise der öffentlichen Gesundheitsversorgung sowie ein Regime, das fanatische Kräfte in der Region fördert, aufgrund seines Atomprogramms die Nachbarn dazu antreibt, selbst nuklear aufzurüsten – und so die Sicherheit der kommenden Generationen in der Region bedroht. „In einem Land, in dem Eltern Angst haben müssen, dass ihre Kinder jederzeit wie Mahsa Jina Amini gejagt und getötet werden oder in der Schule einem Giftgasangriff ausgesetzt sein können, ein Land, in dem ganze Familien keine andere Wahl haben, als Müll zu sammeln für ihren Lebensunterhalt – in so einem Land ist der bis heute endlose Streit über die Politik des Schahs zwischen dessen Befürwortern und Gegnern für die Bevölkerung unwichtig. Welche Notwendigkeit besteht, jetzt die Schah-Diktatur zu verurteilen – und dieser Kritik Priorität einzuräumen –, statt sich genauestens mit dem heutigen, komplizierten, blutigen Iran zu beschäftigen?“, fragt sich Bayat. Sie führt diese Tendenz einiger westlicher Beobachter auf eine versteckte Neigung zurück, die Verbrechen des heutigen Regimes zu leugnen oder zu bagatellisieren – darunter, erinnert sie, mögliche „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und Massaker, deren Verantwortliche bis dato nur in einem singulären Fall in Schweden zur Rechenschaft gezogen wurden. Zwischen den beiden Systemen bestünden galaktische Unterschiede: hier eine konstitutionelle Monarchie, in der die Schwächung des Rule of Law zur politischen Repression und schließlich zum Umsturz führte; dort ein Regime, das eine islamistische Utopie zum Ziel hat, dessen Doktrin einen schiitischen Endzeitherrscher erwartet, einen Ort, wo der Krieg „ein Segen“ ist und „der Baum des Islam nach Blut verlangt“. Hier der klassische Militarismus unter dem Schah – dort die Warlords der Revolutionsgarden. Hier eine Gesellschaft, in der sozialer Aufstieg und Umschichtung meritokratisch, nach den Gepflogenheiten, erfolgte – dort ein islamo-militärischer Klientelismus mit einer Mafia-Wirtschaft, die mit den religiösen Oberhäuptern verflochten ist. Ein System, das mit seiner Bevölkerungspolitik einen Krieg gegen die Menschen führt – zum Beispiel, indem es Millionen alteingesessene Städter der Mittelschichten aus den urbanen Zentren in Satellitenstädte vertreibt oder sie gar an den Rändern in Containern hausen lässt, während die Stadtzentren nunmehr den „Eigenen“ gehören. Oder indem es Innenstädte so umbaut und absichert, dass dort keine Versammlungen mehr stattfinden können. Das heutige Regime sei ein weicher Faschismus, ist Bayat überzeugt – im Äußeren angedockt an kriminelle Vereinigungen, organisierte Kriminalität und Drogenbanden (NarcoStaat Syrien) sowie militärstrategisch verbunden mit Russland.

Die Loyalität in den Sicherheitsstrukturen und eine Revolte ohne Vision Wo also steht der Iran heute, bald ein Jahr nach der Tötung von Mahsa Jina Amini? Nach wie vor inmitten eines allmählichen Falls, eines revolutionären Funkens – aber nicht in einer umfassenden Revolution. Das liegt an verschiedenen Faktoren. Die im Iran lebende Frauenrechtlerin und Schriftstellerin

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108 Golineh Atai Nuschin Ahmadi-Khorasani fragt, warum die sogenannten grauen Schichten der Bevölkerung bei den Protesten nicht dauerhaft mobilisiert werden konnten. Jene mittleren Generationen der Mittelschicht, deren Beruf, Lebensunterhalt, Verpflichtungen und Verantwortungen sie offenbar vom dauerhaften zivilen Ungehorsam abhielten. Sie stellt fest: Diese Schichten finden einen Protest, der unter dem Banner „Gegen den Zwangshidschab“ einen Umsturz verlangt, eher widersprüchlich und vage und sprechen ihm das Potenzial für einen Umsturz eher ab. Sie vermissten eine politische Alternative mit einer breiten Struktur und Organisation, so Ahmadi-Khorasani. Während die ersten Versammlungen – als Ausdruck der Trauer und Wut über den Tod von Mahsa Jina Amini und etlichen jungen Demonstrantinnen – noch eine größere Menge anzogen, dünnte der Straßenprotest allmählich aus. Die eher patriarchalische Gesellschaft, resümiert die Schriftstellerin, – sowohl säkular- als auch religiöspatriarchalisch – geriet in Zweifel über einen Umsturz im Namen der Selbstbestimmung über den Körper. Als Zeugnis dieses Zweifels führt sie die Einführung der Triade „Mann – Vaterland – blühende Landschaften“ an, die alsbald neben die ursprüngliche „Frau – Leben – Freiheit“ gestellt wurde, selbst in der mit einem Emmy gekrönten Protesthymne der Bewegung.

Noch hält die Loyalität der Sicherheitskräfte zum System Prominente staatliche Überläufer gibt es nach wie vor keine. Immer noch ist das Regime offenbar fähig, Loyalität in den Sicherheitsstrukturen zu erzeugen. Auch wenn in mehreren Leaks aus vertraulichen Unterredungen beim Obersten Führer bekannt wurde, dass unter den Sicherheitskräften Unzufriedenheit und Inkompetenz nicht selten seien – und es während des Höhepunkts der Proteste vereinzelt eine Solidarisierung von Milizen und Demonstrierenden gegeben haben soll. Wie also weiter? Einfach nur auf die Straße zu kommen ohne einen klaren Zweck bringe nichts, stellt der ehemalige Studentensprecher und Häftling Majid Tavakoli klar. Er ist einer der prominentesten Dissidenten und politischen Theoretiker im Iran. „Niemand hat irgendeine Art von Vision, von Konzept“, beklagt er. „Ohne ein Bild, ohne eine Vision ist die Zukunft unklar und läuft die Gesellschaft nicht mit Euch mit.“ Tavakoli wendet sich damit an die In- und Auslandsopposition, deren Planlosigkeit er kritisiert. „Soll jeder in Richtung Teheran laufen? Oder in anderen Städten zusammenkommen? Ein paar Türen und Fenster einschlagen? Wir haben nie darüber gesprochen. Was ist mit dem Militär? Eine solche Bewegung braucht eine Organisation. Eine Art Führung. Und vor allem: das Vertrauen des Volkes.“ Tavakoli unterteilt die Opposition in vier Gruppen: zum einen ehemalige Reformer, von der Revolution 1979 nach wie vor überzeugt. Diese sähen heute in einem Referendum ein Allheilmittel – würden aber nicht anerkennen, dass es keine reformfähige Regierung gibt für ein echtes Referendum. Die zweite Gruppe, die „Hauptströmung der Opposition“, repräsentiert den zivilen Nationalismus („civic nationalism“), der mittels einer „nationalen Revolu-

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Iran: Zwischen Repression und Hoffnung 109 tion“ eine liberaldemokratische Ordnung anstrebt und alles dem Wohle Irans unterstellt – im Gegensatz zu den islamischen Revolutionären, die 1979 alles National-Iranische bekämpften. Für die Gruppen drei und vier sieht Tavakoli in der iranischen Gesellschaft dagegen keine Basis: prominente Medienund NGO-Aktivisten sowie die (separatistische) Linke. Die oppositionelle Hauptströmung habe letztlich einen Hang zur Simplifizierung und Naivität – und keine durchdachten Überlegungen zum Wandel.

Die vertane Chance der Auslandsopposition Nach vier Monaten der Proteste waren immense Erwartungen an die iranische Auslandsopposition entstanden. Und tatsächlich: Erstmals in ihrer Geschichte schuf sie eine Art Bündnis, eine „Allianz für Freiheit und Demokratie im Iran“ und eine Charta für den Übergang. Zu den ersten Treffen kamen die Frauenrechtsaktivistin Masih Alinejad, der Sprecher für die Familien der Opfer des von den Revolutionsgarden abgeschossenen ukrainischen Passagierflugzeugs Hamed Esmaeilion, Shirin Ebadi, Friedensnobelpreisträgerin 2003, Abdullah Mohtadi, ehemaliger Gründer der Kommunistischen Partei Irans und heute Vorsitzender der linken Komala-Partei Iranisch-Kurdistans; die Frauenrechtsaktivistin Nazanin Boniadi, die Schauspielerin Golshifteh Farahani, der nach Deutschland geflüchtete Fußballer Ali Karimi – und schließlich der ehemalige Kronprinz Reza Pahlavi, der nach Meinungsumfragen der Gamaan-Forschungsgruppe auch im Iran eine größere Anzahl von Anhängern hat, wohl besonders in den ländlicheren Gebieten. Die Allianz hätte – dank der im Iran immens populären Exil-TV-Sender – eigentlich eine ideale Plattform für ihre Botschaften gehabt. Doch bereits im April war sie Geschichte. Anstatt taugliche Strukturen zu schaffen und eine Einheit, die regimekritische Bürgerinnen und Bürger im Innern hätte stärken können, wird seit Monaten das Fell eines noch gar nicht erlegten Regimes zerteilt – und wetzen die Anhänger der jeweiligen politischen Vertreter die Messer, um Gegner auszuschließen und mit ihnen abzurechnen. Die Stimmung ist antipluralistisch. Keine Partei und Richtung zeigt Interesse an einer historischen Aufarbeitung der begangenen Fehler. Radikalrechte Monarchisten erinnern in Sprache und Gestus an chauvinistischen Putin-Nationalismus, der nichts gemein hat mit den liberaldemokratischen Aussagen Pahlavis. Dessen Distanzierung von seinen ultrarechten Anhängern wirkt wiederum bislang zu unentschlossen. Radikale Linke bedrohen Pahlavi dagegen mit dem Tod. Sie wollen, so scheint es, stärker eine Rückkehr der Monarchie verhindern denn das gegenwärtige Regime überwinden. Eine Distanzierung von der terroristischen Vergangenheit und ihrer Rolle während der Revolution 1979 bleibt aus. In sozialen Medien wird der Diskreditierung der jeweiligen Gegner mittlerweile mehr Platz eingeräumt als der Tyrannei des Regimes. Zum Vorteil der Islamischen Republik: Sie reitet auf dieser Welle mit und verstärkt sie noch. Sie setzt ihre Cyber-Agenten gezielt dazu ein, Zweifel an der Opposi-

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110 Golineh Atai tion zu säen und die wichtigsten politischen Kontrahenten zu entwerten, sodass am Ende niemand und nichts mehr vertrauenswürdig erscheint – und das Regime gestärkt daraus hervorgeht. Eine Strategie, die ich aus Russland kenne, wo Meinungsagenten des Kreml über Jahre Oppositionelle als vom Westen erschaffene Figuren darstellten und mittels bestimmter Codewörter als unpatriotisch delegitimierten. Eines dieser Codewörter im iranischen Diskurs ist der Begriff „Separatist“, der nun inflationär als Vorwurf gegenüber diversen Oppositionellen verwendet wird. Wie aber wirken diese Zerwürfnisse der Auslandsopposition im Iran selbst? Sie seien zu weit weg und ihre Dimension zu unklar, als dass sie den Widerstandsgeist und die öffentliche Wut schwächen würden, höre ich oft. „Sicher, je einiger die Diaspora, umso beruhigender ist das für uns im Iran. Jetzt gerade haben wir das Gefühl, wir sind allein, wir haben nur uns und müssen es ganz allein schaffen. Als Friseurmeisterin höre ich oft von meinen Kunden, dass ‚die da drüben‘ an nichts sonst als an ihren zukünftigen Anteil an der Macht denken – während wir hier, im Angesicht des Todes, uns einig und nahe sind“, sagt Ensieh Daemi. Dennoch wirkt umgekehrt der Protest im Innern weiter auf die iranische Diaspora ein. Anders als in der Auslandsopposition sind in der mindestens fünf Millionen Menschen starken Diaspora Mobilisierung und neue Strukturen zu beobachten – vom einfachen Kioskbesitzer in der Kölner Innenstadt, der Protestaktionen organisiert, bis hin zu den potenziellen „Leadern“ von morgen, die an der US-Universität Stanford oder in anderen Zirkeln über die Herausforderungen eines möglichen Machtübergangs nachdenken. Die Islamische Republik hat die Diaspora stets als unfähig dargestellt und herabgesetzt, ihre Führungspersönlichkeiten aber über Jahrzehnte angegriffen und teilweise ermordet. Die Diaspora pauschal zu delegitimieren bedeutet daher nichts anderes, als ein zentrales Narrativ des Regimes zu wiederholen und sich in ihren Dienst zu stellen.

Holen wir die Opfer aus ihrer Namenlosigkeit Der konkrete Kampf im Inneren Irans bedarf dagegen anderer Unterstützung. Die Opfer aus der Namenlosigkeit herauszuholen – das sei eine der wichtigsten Aufgaben westlicher Beobachter, betonen alle Frauen im Interview. „Zeigt die Bilder unserer Getöteten und Gefangenen. Lernt sie kennen. Und übt Druck auf Eure Regierungen aus, jede Zusammenarbeit mit unseren Henkern zu beenden.“ Wahre Solidarisierung fange an, wenn die unmenschliche Natur des Regimes endlich verstanden werde. Doch keine der Befragten kann bisher einen tiefgreifenden Stimmungswandel der Weltgemeinschaft gegenüber dem Regime erkennen. Nur Neugier, in den dunklen Schacht zu schauen, in dem sich Irans Menschen befinden –, deren Proteste ja angeblich „so überraschend“ kamen. Die inzwischen acht EU-Sanktionsbeschlüsse, die Einreise-, Vermögens- und Geschäftsverbote aussprechen, seien bloße Symbolik. „Die Welt ist – vor

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Iran: Zwischen Repression und Hoffnung 111 allem nach dem Irakkrieg 2003 – an einem Punkt angekommen, an dem selbst Chemieangriffe, ob auf iranische Schülerinnen oder syrische Zivilisten, keine ernsthaften Reaktionen hervorbringen. Oft regieren dort Politiker, die mehr oder weniger in Friedenszeiten aufwuchsen, also faschistische Systeme nur als historische Erinnerung kennen und keine Erfahrung mit dem Kampf gegen diese haben – obwohl der Kampf gegen den klerikalen Faschismus der größte Kampf unserer Zeit wäre“, fasst die Politologin Farangiss Bayat die Gleichgültigkeit vor allem westlicher Länder zusammen.

Das Versagen des Westens Weiterhin dominiert der Drang, den Iran lediglich aus der Perspektive des Atomkonflikts zu sehen. Ganz offenbar verfügt die westliche Politik nicht über die Vorstellungskraft – oder über den Willen, den Riss zwischen Bevölkerung und Staat anzuerkennen und die Protestierenden aktiv zu unterstützen. Weder Europa noch die USA haben die Revolutionsgarden zu einer terroristischen Einheit erklärt. Weder werden Diplomaten ausgewiesen noch ziehen die USA einen Schlussstrich und kündigen die Rückkehr zum alten Atomdeal auf. Obwohl die Gegebenheiten ganz andere sind als noch vor zehn Jahren, bleiben sie bei ihrer strategischen Ambiguität. Sie benutzen nicht einmal ihre Social-Media-Kanäle, um mit den Protestierenden zu kommunizieren. Im Gegenteil: Hartnäckig halten sich unbestätigte Meldungen, wonach Washington und Teheran miteinander im Gespräch seien, um blockierte iranische Staatsvermögen im Ausland zu entsperren – im Gegenzug für Geiselfreilassungen von US-Bürgern. Belgien hat jüngst einen verurteilten Diplomaten und Terroristen in den Iran zurückgeschickt, um einen belgischen NGO-Mitarbeiter in Teheran aus der Haft zu bekommen. Ein solches Einknicken vor der Geiseldiplomatie macht weitere Tauschgeschäfte möglich. Schon zählen Iranerinnen und Iraner die Tage, bevor der vor einem Jahr von einem Stockholmer Gericht wegen Beteiligung an den Massenhinrichtungen politischer Gefangener im Sommer 1988 zu lebenslanger Haft verurteilte Hamid Nouri durch einen ähnlichen Deal freikommt – und damit der erste Erfolg der universalen Rechtsprechung über einen Menschenrechtsverbrecher nichtig wird. Wie zum Hohn wurde dem Mullah-Regime jüngst der Vorsitz im Sozialforum des UN-Menschenrechtsrats gewährt – wo untersucht werden soll, wie Wissenschaft und Technologie Menschenrechte fördern. Ob das Regime dort seine Gesichtserkennungskameras vorstellen wird, mit deren Hilfe es zukünftig unverschleierte Frauen identifizieren und bestrafen will? Ja, die Verbitterung über die Gleichgültigkeit der Welt ist groß. Allen westlichen Solidaritätsbekundungen zum Trotz bleiben viele Iranerinnen und Iraner von einer Sache überzeugt: „Ohne internationale Unterstützung hätte dieses System niemals so lange überlebt. Die da drüben wollen letztlich gar nicht, dass wir unser Regime stürzen.“

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DOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem: • »Die weltweite Reduzierung der einsatzfähigen atomaren Sprengköpfe scheint zum Stillstand gekommen zu sein« Jahresbericht von SIPRI, 12.6.2023 (engl. Original) • »Die Unterstützung für die Ukraine zu beenden und den Aggressor Russland zu beschwichtigen, brächte noch lange keinen Frieden« Friedensgutachten 2023, 12.6.2023 • »Die hohe Anzahl an Waldbränden auf der Nordhalbkugel in diesem Frühjahr sorgten für Rekordemissionen« Bericht des Kopernikus-Atmosphärenüberwachungsdienstes, 1.6.2023 (engl. Original) • »Wenn die KI weiter fortgeschritten ist, könnte sie katastrophale oder existenzielle Risiken mit sich bringen« Stellungnahme von Experten zu den Risiken Künstlicher Intelligenz, 30.5.2023 (engl. Original) • »Die von der Bundesregierung forcierten Verschärfungen des Flüchtlingsrechts stellen den Rechtsstaat als solchen in Frage« Offener Brief von Rechtsanwält:innen und Jurist:innen, 26.5.2023 • »Die Taliban führen einen Krieg gegen afghanische Frauen und Mädchen, der wahrscheinlich ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist« Bericht von Amnesty International und der Internationalen Juristenkommission zur Situation der Frauen in Afghanistan, 26.5.2023 (engl. Original) • »Internationale Düngemittelkonzerne konnten in den letzten fünf Jahren ihre Gewinne verdreifachen und dadurch die Lebensmittelpreise beeinflussen« Studie von GRAIN und dem Institute for Agriculture and Trade Policy, 23.5.2023 (engl. Original) • »Die 21 größten Unternehmen im Bereich der fossilen Brennstoffe müssten jährlich 209 Mrd. Dollar Klimareparationen zahlen« Studie in der Zeitschrift »One Earth«, 19.5.2023 (engl. Original) • »Die derzeitig erwartete globale Erwärmung würde etwa ein Drittel der Weltbevölkerung aus der ›menschlichen Klimanische‹ drängen« Studie in der Fachzeitschrift »Nature Sustainability«, 22.5.2023 (engl. Original) • »Es bleibt die Botschaft: Russland muss Truppen zurückziehen« Bundeskanzler Olaf Scholz im Pressestatement zum Gipfeltreffen der G7-Staaten, 21.5.2023 • »Ein Viertel der Viertklässler:innen in Deutschland verfügt nur über eine schwache Lesekompetenz« Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) 2021, 16.5.2023

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Hass, Hetze, Gewalt: Mexiko als Vorposten der Abschottung Von Kathrin Zeiske

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iudad Juárez, Mexiko, 27. März 2023: Auf dem Video der Überwachungskamera des Abschiebegefängnisses schlagen Flammen aus der Zelle. Drei uniformierte Männer verlassen zügig, aber ruhig, den Vorraum. Keiner von ihnen macht Anstalten, die Sammelzelle aufzuschließen. Kurze Zeit später ist die Rauchentwicklung so heftig, dass sie die Sicht der Kamera versperrt. Die Feuerwehr wird nicht zu Hilfe gerufen, sondern entdeckt den Brand zufällig. Die Einsatzkräfte brechen die Zellentür auf und bergen 39 Tote und 29 Schwerverletzte aus dem überbelegten, fensterlosen Raum. Ein Überlebender erliegt ein paar Tage später seiner Rauchvergiftung im Krankenhaus. Die betroffenen Geflüchteten aus Guatemala, El Salvador, Venezuela, Honduras, Kolumbien und Ecuador waren am selben Tag bei Razzien auf den Straßen der Grenzmetropole zu Texas aufgegriffen worden. Die festgenommenen Frauen wurden angesichts der Brandentwicklung aus ihrer Zelle befreit, die Männer nicht. Vermutlich haben sie selbst das Feuer entfacht, um gegen ihre Haft zu protestieren. Sie hatten weder Wasser noch Essen bekommen und sollten abgeschoben werden, obwohl viele von ihnen über eine Aufenthaltsgenehmigung verfügten.  Massaker an Personen in Haft oder unter haftähnlichen Bedingungen, bei denen Zuständige nicht die Tür öffnen und den Tod Dutzender Menschen durch Verbrennen und Ersticken bewusst in Kauf nehmen, sind in der mesoamerikanischen Region eine traurige Konstante, wie die Gefängnisbrände in Honduras in den Jahren 2004 und 2012 und der Brand in einem staatlichen Mädchenheim in Guatemala vor fünf Jahren zeigen. Im Transitland Mexiko prangern Nichtregierungsorganisationen wie auch die staatliche Menschenrechtskommission seit Jahrzehnten die Bedingungen in den Abschiebegefängnissen an. Vor zwei Jahren erreichten sie dadurch immerhin, dass Minderjährige nicht mehr eingesperrt werden dürfen. Trotzdem haben sich in Mexiko während der Pandemie in Abschiebegefängnissen mehrfach Brände unter Umständen ereignet, die denen in Ciudad Juárez gleichen. In der Stadt Tapachula im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas kam dabei bereits eine Person ums Leben. Und exakt die gleiche Szenerie wie am 27. März im Abschiebegefängnis in Ciudad Juárez hatte sich bereits vier Jahre zuvor am selben Ort abgespielt. Damals allerdings war die Zelle sofort aufgeschlossen worden. Dass es bei dem jüngsten Brand anders verlief, zeigt, wie sehr sich

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114 Kathrin Zeiske die Situation der Migrant:innen in Mexiko in den letzten Jahren verschärft hat. Und das wiederum ist maßgeblich auch auf die Entwicklungen der USMigrationspolitik zurückzuführen. Denn in dieser Zeit kam es auf Seiten der USA zu einer faktischen Aushebelung des Rechts auf Asyl: Mit Beginn der Pandemie im März 2020 setzte Ex-Präsident Donald Trump das gesundheitspolitische Dekret Title 42 in Kraft. Von der US-Border-Patrol aufgegriffene Geflüchtete aus Lateinamerika konnten damit direkt nach Mexiko zurückgeschoben werden, ohne zuvor die Möglichkeit zu erhalten, um Asyl zu bitten1 – ein Präzedenzfall seit der Verankerung des Asylrechts in der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen im Jahr 1948. Damit verschärfte sich die Abhängigkeit der migrierenden Menschen von den mächtigen mexikanischen Drogenkartellen, die mittlerweile sämtliche Schleusertätigkeiten in der Region in Richtung USA als teilweise lukrativere Einnahmequelle als der Drogenhandel selbst übernommen haben, und zusätzlich wird die Migration durch Gerüchte über Gesetzesänderungen in den USA noch befeuert. Das stellte die Menschen, die sich während der Pandemie vor allem in Mittelamerika mit einem Einbruch der Arbeitsmärkte, einer verstärkten Militarisierung und Repression sowie zunehmendem autoritären Gebaren ihrer Regierungen etwa in El Salvador und Nicaragua2 konfrontiert sahen, vor enorme Herausforderungen. Die Mehrheit dieser Bevölkerungen arbeitet im informellen Sektor und verdient am Tag, was sie zum Leben braucht. Hunger und eine fortschreitende Verarmung sorgten für einen Exodus in Richtung Norden, ohne Aussicht auf Asyl im Zielland USA. Zugleich sahen sich viele Menschen in Mexiko selbst im Zuge der Pandemie mit Machtverschiebungen innerhalb der mexikanischen Kartelllandschaft konfrontiert. Vor allem aus Michoacán zogen Tausende Binnenflüchtlinge angesichts von Zwangsrekrutierungen und Gewalt an die mexikanische Grenze. Deren Rückschiebung war besonders dramatisch, da sie die an der Grenze operierenden Kartelle und deren Vernetzung gen Süden fürchten mussten. Auch die vor Gewalt, fehlender Gesundheitsversorgung und aufgrund von Armut aus Haiti fliehenden Menschen saßen durch den Title 42 in den mexikanischen Grenzstädten fest, die in diesen Jahren als die gefährlichsten Städte der Welt galten.  Während die mexikanische Regierung die Rückschiebungen aus den USA unter dem Title 42 hinnahm, gab es für die Grenzstädte keine entsprechende finanzielle und logistische Unterstützung, um diese Herausforderung zu meistern. In Ciudad Juárez verhinderte in dieser Zeit nur ein Netzwerk aus katholischen und evangelikalen Herbergen und ein erfolgreicher Dialog mit Unternehmern und allen drei Regierungsebenen eine humanitäre Krise. Aus der Zivilgesellschaft kamen auch die Initiative zur Schaffung einer Erstanlaufstelle („Catedral”) und einer Quarantänestation („Hotel Filtro”) für an 1 Tatsächlich wurden Festgenommene oft von einer Grenzstadt in eine andere geflogen. Vermutlich, um Schleppernetzwerke zu durchbrechen, die oftmals ein Paket von mehreren Grenzübertritten anbieten, und um Geflüchtete zu demotivieren, sie zu vereinzeln und finanziell zu ruinieren. 2 Vgl. Erika Harzer, Nicaragua: Die Spirale der Unterdrückung, in: „Blätter“, 6/2023, S. 31-34.

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Hass, Hetze, Gewalt: Mexiko als Vorposten der Abschottung 115 der Grenze ankommende Geflüchtete und aus den USA Zurückgeschobene, um mit einem Gesundheitszertifikat in einer der hermetisch abgeriegelten Herbergen aufgenommen zu werden. Immer mehr Menschen fanden sich so in den letzten Jahren völlig mittellos und ohne Unterstützung in der Grenzmetropole Juárez ein und hofften auf eine kurzfristige Änderung der Gesetzeslage. Denn der seit 2021 regierende US-Präsident Joe Biden versuchte mehrfach, den von seinem Vorgänger Trump eingesetzten Title 42 zurückzunehmen. Doch er wurde das gesamte Jahr 2022 über durch die Urteile von den Republikanern wohlgesinnten Bundesrichtern gestoppt.

Digitale Zitterpartie: Asylverfahren via Smartphone Erst im April bestätigte Biden schließlich das Ende des Title 42 für den 11. Mai dieses Jahres; zugleich kündigte er aber auch die vollständige Digitalisierung des Asylverfahrens an, eine umfangreiche Wiederaufnahme von Abschiebungen und eine Bestrafung der illegalen Einreise. Entgegen seinem Wahlkampfversprechen führt er damit die Abschottungspolitik seines Vorgängers Trump de facto fort. Mit der Entscheidung begann ein Run auf die Grenzstädte; alle, die sich auf Reisen durch den Kontinent gen Norden befanden, versuchten, vor diesem Datum an die Grenze zu gelangen. Entsprechend stieg die Zahl der in Herbergen, Ruinen sowie in einem Zeltlager vor dem Abschiebegefängnis lebenden Menschen in Ciudad Juárez sprunghaft von geschätzten 12 000 auf mindestens 35 000 Personen an. Die Stimmung unter den Geflüchteten wandelte sich vom Warten auf das Ende des Title 42 in Panik vor dem, was danach kommen konnte. So lieferten sich bis zum letzten Tag Tausende der US-Border-Patrol aus, die die Menschen nach langen Wartezeiten in der Wüstensonne tatsächlich einließen. Die Betroffenen hofften, unter Ausnahmeregelungen zu fallen und im Zweifelsfall jeweils nur nach Mexiko anstatt bis in ihr Herkunftsland ausgewiesen zu werden, was all ihre Strapazen, Risiken, Verluste und Investitionen in Schlepper auf einen Schlag zunichte gemacht hätte. Seit dem 11. Mai gilt nun für die Migrant:innen der Title 8, sprich: Wer es nicht schafft, vor Antritt seiner Reise über eine mobile App namens CBP One einen Asylantrag zu stellen, wird aus den USA sofort wieder in sein Herkunftsland abgeschoben – ohne Prüfung des Rechts auf Asyl. Lediglich Geflüchtete aus Kuba, Venezuela und Nicaragua werden wie gehabt nach Mexiko zurückgeschoben, da die USA zu diesen Ländern weiterhin keine diplomatischen Beziehungen unterhält. Das Gleiche gilt für Haiti, das die USA als Failed State definieren. Täglich können nun etwa 3000 Menschen entlang der Grenze ein erstes Interview führen. Wer aber nicht mit der App einreist, sondern illegal die Grenze übertritt und sich dann ausliefert oder aufgegriffen wird, ist für ein Asylverfahren fortan disqualifiziert. Die App CBP One hatte die Biden-Regierung indes bereits im Januar – offenbar in einer Testphase – gestartet und damit viele zumeist mittellose Migrant:innen einer extrem prekären Situation ausgeliefert. Ein geladenes

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116 Kathrin Zeiske Smartphone, seine Bedienung mit gekauften mobilen Daten und das Verständnis der spanischen Sprache in Wort und Schrift wurden damit zur Voraussetzung für einen Asylantrag und die einzige Chance, auf legalem Weg in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Doch in den ersten Monaten des Jahres war die App zumeist völlig überlastet und nur wenige Minuten am Tag nicht blockiert. Hinzu kam, dass die Seiten der App fehlerhaft ins Spanische übersetzt und viele Formulierungen uneindeutig waren. Für viele Migrant:innen begann eine digitale Zitterpartie mit wenig Aussicht auf Erfolg. Überall in Ciudad Juárez sah man nun Geflüchtete, die sich mit ihrem Mobiltelefon an Internet-Hotspots oder Ladestationen aufhielten. Für alle, die auf die App hofften, war es unmöglich, eine Arbeit im informellen Sektor zu suchen, da sie den ganzen Tag online sein mussten. Speziell für Geflüchtete aus Venezuela, die sich angesichts von Armut und Chancenlosigkeit in ihrem Heimatland auf die gefährliche Reise durch die Landenge des Darién zwischen Kolumbien und Panamá an die Südgrenze der USA aufgemacht hatten und die sich seit Ende vergangenen Jahres vermehrt in der Stadt sammelten, war dies besonders schwer. Als relativ neue Migrationsbewegung konnte diese Gruppe im Vergleich zu mittelamerikanischen oder kubanischen Migrant:innen zum einen nicht auf die finanzielle Unterstützung von in den USA etablierten Familienangehörigen zählen. Zum anderen nahm die augenscheinlich klassizistische Ablehnung in der Bevölkerung von Menschen aus Venezuela, die an den Verkehrskreuzungen der mehrspurigen Boulevards Windschutzscheiben putzten und Geld erbaten, deren Haut auf den Fußmärschen durch den Darién, von Zugfahrten durch Mexiko und durch das Campen am Grenzfluss verbrannt, deren Körper vom Hunger ausgemergelt und die Kleidung auf der Reise abgenutzt worden war, in den ersten Monaten des Jahres immer weiter zu. Und das obwohl sich die 1,5 Millionen Einwohner:innen zählende Industriemetropole durch den ständigen Zuzug von Menschen zur Arbeit in den Weltmarktfabriken an der USGrenze gebildet hatte und man eigentlich Hilfsbereitschaft erwarten müsste. Doch während die mehrheitlich selbst migrantischen Familien ab 2019 die mittelamerikanischen und karibischen Communities ohne große Vorbehalte aufgenommen hatten, wuchs nun auf einmal die rassistische Ablehnung der Menschen aus Venezuela. Ihre Abhängigkeit von der App CBP One wurde gegen sie ausgelegt; sie hätten keine Lust zu arbeiten, säßen die ganze Zeit nur am Handy und gingen dann betteln, hieß es vielerorts. Zugleich waren Geflüchtete aus Mittel- und Südamerika zunehmend von Polizeigewalt betroffen. Das Menschenrechtszentrum „Paso del Norte“ dokumentierte die Aussagen unzähliger von der Lokalpolizei verschleppter Geflüchteter, die in Lagerhallen gefoltert und mit dem Tode bedroht werden, um Geld von deren Verwandten zu erpressen. Die Kartelle, die angesichts fehlender legaler Möglichkeiten zum Grenzübertritt ein Millionengeschäft mit klandestinen Alternativen machen, gingen ihrerseits über Leichen. In Juárez und im angrenzenden Juáreztal verschwanden laut der Organisation immer wieder Geflüchtete, denen Schlepper versprochen hatten, sie über die Grenze zu bringen.

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Hass, Hetze, Gewalt: Mexiko als Vorposten der Abschottung 117 Im März drangen Polizisten gleich zweimal in die Flüchtlingsanlaufstelle unterhalb der Kathedrale in Ciuadad Juárez ein und versuchten, venezolanische Geflüchtete zu verschleppen. Diese demonstrierten daraufhin im Zentrum der Stadt gegen Misshandlungen und Einschüchterungen durch Beamt:innen der Migrationspolizei. Schließlich versuchten Hunderte verzweifelt, über die Grenzbrücke Santa Fé zu stürmen, wurden aber von der US-Nationalgarde gestoppt. Einen Tag später verbot die Stadtregierung von Ciuadad Juárez das Betteln an Verkehrskreuzungen. Am 27. März wollte man das Verbot auch durchsetzen, Lokal- und Migrationspolizei führten Razzien durch. An diesem Abend kam es zum Massaker im Abschiebegefängnis.  Es ist das Stigma der Kriminalisierung, mit dem sowohl die ideelle Entrechtung der betroffenen Personen als auch ihre reelle Auslöschung gerechtfertigt werden. Dabei sind es vielfach die Umstände, die die Menschen in Prekarität und Illegalität treiben: Die Region ist von Straflosigkeit und Korruption geprägt, gewählte Regierungen kooperieren oft eng mit Drogenkartellen und unzählige Menschen leiden unter Marginalisierung, Chancen- und Perspektivlosigkeit sowie Zwangsrekrutierungen durch kriminelle Banden. Obwohl all das bekannt ist, verstummte der Hass in der Bevölkerung gegenüber Menschen aus Venezuela mit dem Massaker keineswegs. In den sozialen Netzwerken waren Aussagen wie „Ihr werdet alle brennen” zu lesen; in einem Gebäude, in dem Geflüchtete bis heute selbstorganisiert leben, wurde Feuer gelegt und eine Bewohnerin aus dem ersten Stock geworfen. Die rassistischen Motive mischen sich hier zudem mit territorialen Interessenkonflikten, denn die von den Geflüchteten bewohnten, ehemals leerstehenden Gebäude im Zentrum sind als Drogenumschlagplatz und Konsumort unter Kleindealern des Juárezkartells aufgeteilt. Lediglich die Migrant:innen selbst und vereinzelte linke Kollektive in der Stadt erhoben im Anschluss an das Massaker die Forderung nach kollektiver Erinnerung und Gerechtigkeit.

Militarisierung und Abschottung statt Gerechtigkeit Zwar ließ der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador kurz darauf Ermittlungen einleiten, doch das Verfahren wirkt wenig vertrauenswürdig: Während einer der Hauptverdächtigen, der Leiter der mexikanischen Migrationspolizei, Francisco Garduño, erst Wochen später seines Postens enthoben wurde – in denen er Zeit hatte, Beweise zu vernichten und Zeugen zu beeinflussen –, wurden zwei überlebende Venezolaner angeklagt und andere Überlebende nicht als Nebenkläger:innen anerkannt. Zudem wurde Juan Carlos Meza, Chef der „Grupo Beta“ von Ciudad Juárez, einer mit rein humanitären Aufgaben betrauten Untereinheit der Migrationspolizei, ebenfalls in Untersuchungshaft verbracht. Dabei ist Meza allen, die in Juárez mit Geflüchteten arbeiten, aufgrund seiner außergewöhnlich humanitären Einstellung bekannt.  Eine Haltung, die Francisco Garduño und sein ebenfalls angeklagter Kollege Salvador González, ein Angehöriger der Streitkräfte, kaum teilen dürften.

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118 Kathrin Zeiske Hatte Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) bei seinem Amtsantritt die Posten in der Migrationspolizei noch vor allem mit Akademikern aus der Zivilgesellschaft besetzen lassen, um eine Menschenrechtsvision im Instituto Nacional de Migración zu verankern, wurden diese unter dem Druck Trumps ab 2019 gegen Militärs ausgetauscht. Trump hatte, als sich im selben Jahr die ersten Migrant:innenkarawanen von Mittelamerika nach Norden in Bewegung setzten, Mexiko mit der Anhebung der Handelszölle – und damit dem Einbruch der Märkte – gedroht. Die Regierung Lopez Obrador sah sich daraufhin gezwungen, Trumps Remain-in-MexikoProgramm zu akzeptieren, mit dem das US-Asylverfahren ins Nachbarland verlagert wurde. Menschen aus Lateinamerika mussten ihren Asylantrag fortan an den Grenzbrücken in die USA stellen und dann ein erstes Interview und schließlich Gerichtstermine in Mexiko abwarten. Zeitgleich kam es, parallel zur verstärkten Abschottungspolitik der USA, zu einer Militarisierung der mexikanischen Migrationspolitik. Die von López Obrador geschaffene Militärpolizei wurde an die Südgrenze zu Guatemala geschickt, um schon dort Migration in Richtung Norden abzuwehren. Parallel zur jüngsten Gesetzesänderung in den USA unter Biden kündigte die mexikanische Migrationspolizei nun abermals eine Verschärfung an: nämlich das Ende der Vergabe von Transitdokumenten an Migrant:innen bei einer gleichzeitigen schnellen Abschiebung aus Mexiko. Sie begründete dies auch mit der unhaltbaren Situation in den mexikanischen Abschiebegefängnissen. Allein im letzten halben Jahr hat Mexiko 80 000 Transitvisa vergeben. Und vor dem Ende des Title 42 versuchten noch einmal 50 000 Menschen in der südlichen Grenzstadt Tapachula ein solches zu erhalten, um legal durch Mexiko reisen zu können. Die Biden-Regierung wiederum hat unterdessen damit begonnen, ihre Asylverfahren noch weiter nach Süden zu verlagern: Anfang Juni kündigte sie gemeinsam mit der guatemaltekischen Regierung die Eröffnung von Asylantragszentren in Guatemala an. Diese sollen auch in Kolumbien geschaffen werden und Menschen auf der Flucht schon weit vor der US-Grenze abfangen. All das zeigt: Migration und Flucht wird in Mexiko und den USA mit Militarisierung und Abschottung begegnet; Asylverfahren werden digtialisiert und nach Süden ausgelagert. Anstatt humane Antworten auf eine humanitäre Herausforderung zu suchen, werden durch diese diskriminierende Praxis Menschen extrem vulnerablen Situationen ausgeliefert. Außer Acht gelassen wird dabei die aktuelle, jahrzehnte- und sogar jahrhundertealte Einflussnahme der USA in Lateinamerika, die eine gerechtere Verteilung von Land und Ressourcen immer wieder vereitelt und in der letzten Zeit vor allem dazu geführt hat, dass autokratische Regierungen demokratische Prozesse und Institutionen aushebeln, Kartelle in Machtsphären der Regierungen vordringen und diese kontrollieren. Diese Dynamiken tragen über Narcogewalt, Vertreibungen, Landraub, Straflosigkeit und Repression einmal mehr zu dem Exodus gen Norden bei. An diesen Ursachen der Migration gilt es anzusetzen; andernfalls wird die massenhafte Migration auch in den kommenden Jahren weitergehen – ebenso wie das Leid der Geflüchteten an den Grenzen.

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Verbannte Bücher: Der Kulturkampf der US-Rechten Von Annika Brockschmidt

U

nsere Gruppe wurde als Book Banners bezeichnet, was offenkundig falsch ist. Wir wollen keine Bücher verbrennen oder sie aus dem Verkehr ziehen. [...] Wir fordern lediglich, dass explizit sexuelles, vulgäres und/ oder obszönes Material in unseren öffentlichen Schulen nicht verfügbar ist, wo die Eltern weniger Kontrolle darüber haben, was ihre Kinder lesen können.“1 So verteidigt sich die Organisation Moms for Liberty in einem mehr als hundertseitigen Dokument – und so klingen zahlreiche der Organisationen und Aktivist:innen, die sich „Elternrechte“ auf die Fahnen geschrieben haben und in den USA derzeit dafür sorgen, dass Bücher aus den Regalen von Schulbibliotheken entfernt oder ganz aus dem Curriculum einzelner Bundesstaaten verbannt werden. Es handelt sich dabei nicht um Einzelfälle. Die Autor:innen-Vereinigung PEN America hat allein in der ersten Hälfte des aktuellen Schuljahres 1477 Fälle von Buchverboten gezählt – ein Anstieg um 28 Prozent im Vergleich zum zweiten Halbjahr im vorigen Schuljahr.2 Ziele der Zensoren sind sowohl Bücher für junge Erwachsene, als auch Bilderbücher für jüngere Kinder.3 Dabei halten sich die Aktivist:innen nicht an bestehende Handlungsempfehlungen der American Library Association (ALA) und der National Coalition Against Censorship (NCAC) für Bedenken gegenüber Büchern, sondern gehen weit darüber hinaus: 96 Prozent der im PEN-Bericht aufgeführten 2532 Verbote wurden ohne Beachtung dieser von Expert:innen verfassten Richtlinien verhängt.4 Laut der American Library Association gehören „Gender Queer“ von Maia Kobabe (über nichtbinäre Identität), „All Boys Aren’t Blue“ von George M. Johnson und Toni Morrisons „Sehr blaue Augen“ zu den Büchern, die 2022 am häufigsten von Zensurversuchen betroffen waren.5 Besonders häufig sind Bücher von BiPoC6 und queeren Autor:innen Zielscheibe von Verboten: Im ersten Schulhalbjahr 2022/23 vermerkt PEN America, dass 30 Prozent der verbotenen Bücher race, Rassismus und die 1 Moms for Liberty, Book of Books. 2 Vgl. PEN America, Banned in the USA: State Laws Supercharge Book Suppression in Schools (Update), www.pen.org, 20.4.2023. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Vgl. American Library Association, Top 13 Most Challenged Books of 2022, www.ala.org. 6 Die Abkürzung BiPoC steht für „Black, Indigenous, and People of Color“, eine nur schwer übersetzbaren Bezeichnung für von Rassismus betroffene Personengruppen – d. Red.

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120 Annika Brockschmidt Erfahrungen von BiPoC behandeln, während weitere 26 Prozent LGBTQIPersonen oder -Themen in den Mittelpunkt stellen.7 Die Ziele, auf die die „besorgten Eltern“ sich eingeschossen haben, sind immer dieselben – und die Zensurversuche flächendeckend. Es gehe nicht um „ein einziges Buch, das in einem einzigen Bezirk entfernt wird“, sagte Kasey Meehan, die Leiterin des Freedom to Read-Programms von PEN America, der „Los Angeles Times“. „Es geht um eine Reihe von Ideen, Themen, Identitäten, Wissen über die Geschichte unseres Landes – das sind die größeren Bereiche dessen, was in öffentlichen Schulen und öffentlichen Schulbibliotheken entfernt, eingeschränkt und unterdrückt wird.“8 Im vergangenen Jahr haben rechte Akteure:innen ihre Zensurversuche auf weitere Themenbereiche ausgeweitet, darunter auch Mental Health: „[D]ie Verbote in diesem Schuljahr betreffen zunehmend eine breitere Palette von Titeln, darunter solche, die Gewalt und Missbrauch darstellen (44 Prozent), Themen der Gesundheit und des Wohlbefindens behandeln (38 Prozent) und Tod und Trauer (30 Prozent) thematisieren. Dies verdeutlicht, wie sich die Zensur auf ein breites Spektrum von Büchern auswirkt, insbesondere da Schulbezirke auf vage Rechtsvorschriften reagieren, indem sie eine große Anzahl von Büchern vor einer formellen Überprüfung entfernen“, verzeichnet PEN America in ihrem aktuellen Bericht.9

Kinderschutz als Vorwand Die stark angestiegene Zahl der Zensurversuche ist jedoch nicht das Ergebnis einer organisch gewachsenen Graswurzelbewegung, auch wenn Verbände wie Moms for Liberty sich gerne so darstellen. Vielmehr wird durch stramm organisierten Basisaktivismus der Eindruck einer großen Bewegung geschaffen. Die lokalen Gruppen sind dabei meist eingebunden in ein bestehendes Netzwerk aus rechten Thinktanks und Nonprofit-Organisationen, die landesweit Einfluss auf die Gesetzgebung in republikanisch regierten Staaten nehmen. So pflegt Moms for Liberty beispielsweise Beziehungen zur rechten Heritage Foundation und zum Leadership Institute und hat in der Vergangenheit von beiden Gelder erhalten.10 PEN America zählt landesweit mindestens 50 Gruppen, die sich auf nationaler, bundesstaatlicher oder lokaler Ebene für die Zensur von Büchern in Schulen und Kitas einsetzen. Wie Moms for Liberty wurde die große Mehrheit (73 Prozent) dieser Organisationen erst ab 2021 gegründet.11 Moms for Liberty formierte sich ursprünglich als Gruppe, die gegen die Coronaschutzmaßnahmen an Schulen und gegen Schulschließungen protestierte. 7 Vgl. PEN America, Banned in the USA 2023, a.a.O. 8 Alexandra E. Petri, Book bans are on the rise in U.S. schools, fueled by new laws in Republican-led states, www.latimes.com, 22.4.2023. 9 PEN America, Banned in the USA 2023, a.a.O. 10 Vgl. Maurice Cunningham, The Right-Wing Money And Influence Behind Moms For Liberty, www. buckscountybeacon.com, 10.10.2022. 11 Vgl. PEN America Report: Banned in the USA: The Growing Movement to Censor Books in Schools, www.pen.org, 19.9.2022.

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Verbannte Bücher: Der Kulturkampf der US-Rechten 121 Seit dem Ende der Pandemiemaßnahmen haben sie sich ganz auf die Zensur von Büchern ausgerichtet, die LGBTQI-Themen, Sexualität, Race oder Rassismus thematisieren.12 Dabei argumentieren sie unter dem Deckmantel des „Kinderschutzes“. PEN America warnte schon 2022 in einem Bericht vor dem Einfluss dieser Gruppen, die direkt für 20 Prozent und indirekt für weitere 30 Prozent der verhängten Bücherverbote verantwortlich seien.13 Auffällig ist die Sprache, die die Aktivist:innen verwenden. Immer wieder tauchen gleiche Redewendungen und Wörter auf: „Sexualisierung von Kindern“, „Pornographie“, „obszöne Inhalte“ und „nicht altersgemäß“. Die gleichen Begriffe verwenden auch Politiker:innen der Republikanischen Partei (GOP), denn sie wissen, dass Buchverbote extrem unbeliebt sind: Einer Umfrage zufolge sprechen sich 70 Prozent aller amerikanischen Eltern gegen solche Zensurbemühungen aus – und zwar parteiübergreifend.14 Daher verstecken sich Republikaner:innen hinter Begriffen wie „Altersangemessenheit“ und „Kinderschutz“: „Man muss vorsichtig sein, denn sobald man versucht, etwas zu verbieten, wird man für rassistisch erklärt oder so und all dieses Zeug“, so Jay Taylor, Senator im Bundesstaat West Virginia.15

Republikanische Zensurstrategien Mit dieser Strategie hat die GOP bereits in zahlreichen Staaten, in denen sie die Legislative dominiert, Erfolg gehabt: In Bundesstaaten wie Texas, Missouri und Florida haben Republikaner extrem vage formulierte Gesetze verabschiedet, die es Eltern einfacher machen, Bücher aus den Regalen von Schulbibliotheken und aus Lehrplänen zu entfernen, wenn sie den Inhalt der Bücher als „nicht altersgerecht“ oder „anstößig“ empfinden. Die moralische Panik um LGBTQI-Inhalte hat drastische Folgen – für LGBTQI-Personen, die durch restriktive Gesetze in ihren Rechten eingeschränkt werden, aber in Bezug auf Zensurvorhaben auch auf Bibliotheken und ihre Mitarbeiter:innen, die sich weigern, dem Druck rechter Akteur:innen nachzugeben. Die mit Zensurabsicht verabschiedeten Gesetze in republikanisch regierten Bundesstaaten beschränken auch die Lehrpläne massiv: So hat Ron DeSantis, Gouverneur von Florida und Herausforderer von Trump bei den kommenden Präsidentschaftswahlen, ein Gesetz vorangetrieben, dass es Schulen grundsätzlich verbietet, über geschlechtliche Orientierung zu sprechen. Solche Gesetze werden auch andernorts in immer kürzeren Abständen verabschiedet – zuletzt Ende Mai in Iowa: Dort sollen alle Bücher, die „sexuelle Handlungen“ enthalten, die in einer Auflistung definiert werden, aus Schulbibliotheken entfernt werden. 12 Vgl. Maddie Hanna, Moms for Liberty: What it is and who’s behind the group, www.inquirer.com, 2.6.2023. 13 Vgl. PEN America Report: Banned in the USA 2022, a.a.O. 14 Vgl. American Library Association, Large majorities of voters oppose book bans and have confidence in libraries, www.ala.org, 24.3.2022. 15 Ian Karbal, Some West Virginia lawmakers are interested in banning books. Just don’t call it a book ban, www.mountainstatespotlight, 9.12.2022.

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122 Annika Brockschmidt Pädagog:innen warnen, dass solche Gesetze wie in Iowa genutzt werden könnten, um eine ganze Bandbreite an Büchern zu verbieten: „[Das Gesetz] kann auch für einen John-Grisham-Roman oder für die Canterbury-Erzählungen gelten, für alles von klassischer bis hin zu zeitgenössischer Literatur, was auf den ersten Blick keinen pädagogischen Wert zu haben scheint, [...] den Kindern jedoch hilft, das Lesen zu lieben“, sagte Melissa Peterson, eine Lobbyistin der Iowa State Education Association dem „Des Moines Register“.16 Zwei Ausnahmen sind erlaubt: Bücher für „persönliches Wachstum“ und religiöse Texte wie die Bibel. Damit soll vermutlich verhindert werden, dass es zu einer ähnlichen Peinlichkeit kommt wie in Utah: Dort hatte ein Elternteil ein Gesetz aus republikanischer Feder zu dem Versuch genutzt, die Bibel wegen „nicht altersgerechter“ Inhalte aus Klassenzimmern zu entfernen. In dem Beschwerdeschreiben heißt es in ironischem Tonfall: „Ich danke der Legislative von Utah und Utah Parents United dafür, dass sie diesen böswilligen Prozess so viel einfacher und effizienter gemacht haben. Jetzt können wir alle Bücher verbieten, und man muss sie nicht einmal lesen oder es genau wissen. Verdammt, man muss das Buch nicht einmal sehen!“17 Und tatsächlich: Der Schulbezirk entfernte die Bibel für Unter- und Mittelstufenschüler aus der Schulbibliothek. Denn in Utah gilt seit dem Sommer 2022 „House Bill 374“ mit dem Namen „Sensitive Materials in Schools“, ein Gesetz, das „sensible Inhalte“ an Schulen verbietet. Darauf spielt der zitierte Beschwerdebrief an. Denn das Gesetz ermöglicht Eltern, sich direkt über Bücher zu beschweren, die ihrer Meinung nach unter diese Kategorie fallen. Und Bundesstaatsanwalt Sean D. Reyes, ein Republikaner, darf demnach festlegen, welche Inhalte als „sensibel“ einzuschätzen sind. Dessen Richtlinien sind jedoch exrem schwammig und lassen offen, was genau als „sensibel“ einzuschätzen ist. Auch die gewählten Bezeichnungen sind vage, von „Pornographie“ wird beispielsweise als „Public Health Crisis“ gesprochen.18 In Texas wiederum verabschiedete die republikanisch dominierte Legislative Ende Mai 2023 „HB 900“, ein Gesetz, das „explizit sexuelle“ Inhalte aus Schulbibliotheken verbannt. Was genau damit gemeint ist, bleibt auch hier vage – der Gesetzestext verbietet in Schulbibliotheken „alles, was Beschreibungen, Illustrationen oder Audiodateien enthält, die sexuelles Verhalten darstellen, das nicht für den vorgeschriebenen Lehrplan relevant ist [...]“. Das Gesetz wird demnächst von Gouverneur Greg Abbott unterschrieben und damit in Kraft treten. Bereits im November 2022 hatte ein Schulbezirk im texanischen Tarrant County Bücher verboten, die „Gender-Fluidität“ thematisieren. Die Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU) legte Beschwerde ein. Denn, so die Kritik der ACLU, der Bezirk wolle „transgender und nichtbinäre Identitäten auslöschen“. So werde „die Botschaft gesendet, 16 Katie Akin, What is a sex act in Iowa? And how would it affect a likely school book ban? We found out, https://eu.desmoinesregister.com, 30.4.2023. 17 David K. Li, Utah parent upset by book bans gets Bible pulled from school shelves to expose ‘bad faith process’, www.nbcnews.com, 2.6.2023. 18 Utah Attorney General Sean D. Reyes; Utah Solicitor General Melissa A. Holyoak; Education Division Director Meb W. Anderson: Official Memorandum-Laws Surrounding School Libraries, https:// attorneygeneral.utah.gov, 1.6.2022.

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Verbannte Bücher: Der Kulturkampf der US-Rechten 123 transgender und nichtbinäre Schüler gehörten nicht zur Gemeinschaft“ des Schulbezirks. Dass die Richtlinie ausgerechnet während der Trans Awareness Week beschlossen wurde, sei besonders verwerflich, so die ACLU Texas.19

Rassismus beschweigen Den Zensurbestrebungen fallen oft auch Bücher zum Opfer, die sich mit bestimmten Kapiteln der amerikanischen und europäischen Geschichte auseinandersetzen: Eine Schule im Schulbezirk Fort Worth (Florida) entfernte eine Graphic Novel-Adaption des Tagebuchs der Anne Frank aus der Schulbibliothek, nachdem eine lokale Gruppe von Moms for Liberty wegen „explizit sexueller“ Inhalte Beschwerde eingelegt hatte.20 Ein School Board in Tennessee stimmte im Januar 2022 dafür, die mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnete Graphic Novel „Maus“ von Art Spiegelmann aus dem Curriculum zu entfernen, weil sie nicht „altersgerecht“ sei. Spiegelmann erzählt in seinem berühmten Werk die Biographie seines Vaters, eines KZ-Überlebenden. Entsprechend befremdet reagierte er auf das Verbot. Er habe den Eindruck bekommen, die School Board-Mitglieder würden fragen: „Warum kann man den Holocaust nicht netter unterrichten?“21 Die Entscheidung wurde trotzdem nicht aufgehoben.22 Moms for Liberty hatte sich neben dem Protest gegen die Coronamaßnahmen zunächst der künstlich erzeugten moralischen Panik bezüglich der Critical Race Theory (CRT) verschrieben. Die CRT entstand in den 1970er Jahren in der Rechtswissenschaft und wird an manchen Universitäten im Jura-Studium auf Master-Level gelehrt. Sie untersucht systemischen Rassismus und wie dieser sich in Institutionen und Gesetzgebung manifestiert hat. Rechte Meinungsmacher und Aktivisten wie Christopher Rufo nutzen den Begriff CRT jedoch synonym für jegliche Thematisierung von systemischem Rassismus oder kritischer Geschichtsschreibung. Sie behaupten, Kindern werde in Schulen durch CRT beigebracht, ihr Land zu hassen,23 und sprechen von umgekehrtem Rassismus gegen Weiße. Das Narrativ ist ähnlich wie im Fall der rechten Anti-LGBTQI-Mobilisierung: Kinder und Jugendliche würden in Schulen „indoktriniert“ und müssten vor dieser Ideologisierung geschützt werden – damit sie, so die verquere Logik, nicht alle ein queeres Leben anstreben. Auch die in republikanisch regierten Staaten verabschiedeten Anti-CRT-Gesetze sind extrem vage und lassen einen großen Interpretationsspielraum zu.24 19 ACLU Texas, Fact Sheet on the Proposed Board Policies for Keller ISD, www.aclutx.org, November 2022. 20 Vgl. Isobel van Hagen, A Florida school banned an adaptation of Anne Frank’s diary because Moms for Liberty deemed it ‚sexually explicit‘, www.businessinsider.com, 9.4.2023. 21 Jenny Gross, School Board in Tennessee Bans Teaching of Holocaust Novel ‚Maus‘, www.nytimes. com, 27.1.2022. 22 Vgl. Daniel Kreps,Tennessee School Board Stands By Decision to Ban ‚Maus‘ Despite Community Uproar, www.rollingstone.com, 12.2.2022. 23 Vgl. Ruth Ben-Ghiat, The Right’s War on Universities, www.nybooks.com, 15.10.2015. 24 Vgl. Tess Bissell, Teaching in the Upside Down: What Anti–Critical Race Theory Laws Tell Us About the First Amendment, in: „Stanford Law Review“, Bd. 75 (Jan. 2023), S. 205-259.

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124 Annika Brockschmidt Die schwammigen Formulierungen in Gesetzen, die Lehrpläne und den Zugang zu Büchern an Schulen beschränken sollen, sind kein Zufall. Vielmehr haben sie System: So soll Unsicherheit unter Lehrenden und Bibliothekar:innen geschaffen werden, die sich – aus Angst vor Geld- oder gar Freiheitsstrafen – präventiv gegen den Einsatz bestimmter Bücher oder Themen entscheiden. Gesetze wie der in Florida verabschiedete „Stop W.O.K.E Act“ beinhalten daher auch autoritäre Kontrollelemente. So erhalten Eltern finnanzielle Anreize, Schulen und Lehrpersonal zu verklagen, die angeblich die CRT lehren würden.25 Die Angriffe auf die Verfügbarkeit von Literatur, die die Hegemonie weißer, christlicher Sensibilitäten infrage stellt, reihen sich ein in eine lange Geschichte der Bestrebungen der Religiösen Rechten: Sie wollen das öffentliche Bildungswesen attackieren oder gar zerstören, das sie als säkulare Bedrohung einer „christlichen Erziehung“ wahrnehmen.26 Schon in den 1970er Jahren kam es in Kanawha County, West Virginia, zu den sogenannten Textbook Wars – damals empörten sich von der Religiösen Rechten mobilisierte Aktivist:innen über die Aufnahme von multiethnischen und multiracial Büchern in das Schulcurriculum. Es kam zu Protesten und Gewalt, angeheizt von rechten Akteur:innen wie der Heritage Foundation und der verschwörungsgläubigen John Birch Society. Am Ende marschierte der Ku Klux Klan auf, es gab Bombenanschläge. So ist es wenig verwunderlich, dass es bei der gegenwärtigen Neuauflage derselben rechten Narrative erneut zu Drohungen gegenüber Lehrpersonal und Bibliothekar:innen kommt.27 Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub von der Stanford University erklärt: „Book bans haben in den USA eine lange Tradition, aber sie gehen erstens generell von Aktivist:innen auf dem lokalen Level aus – religiöse Fundamentalist:innen auf einem School Board etwa – und wurden zweitens normalerweise schnell von Gerichten kassiert. Beides ist diesmal anders: Die Initiativen passieren auf der Ebene des Bundesstaates, tangieren somit Millionen, und die Gerichtsbarkeit, die sie zurückstutzen könnte, wurde von Donald Trump stark nach ganz rechts gerückt.“ Die Zensurvorhaben rechter Akteur:innen sind aber nicht nur auf einzelne Bundesstaaten beschränkt, sondern liefern eine Blaupause für andere, es ihnen gleichzutun. Allein in diesem Jahr haben Missouri, Florida, Iowa, Utah und South Carolina Gesetze verabschiedet, die es rechten Zensor:innen einfacher machen zu bestimmen, was Schüler:innen lesen und lernen dürfen und was nicht.28 Es steht zu befürchten, dass weitere republikanische Staaten nachziehen werden. Und sollten die Republikaner bei den kommenden Präsidentschaftswahlen im November 2024 siegen – ob mit Trump oder DeSantis – stünde ein landesweiter Feldzug gegen die Vielfalt bevor. 25 Vgl. Andrew Atterbury, DeSantis pushes bill that allows parent to sue schools over critical race theory, www.politico.com, 15.12.2021. 26 Kyle Vass, West Virginia textbook battle shows how GOP turned its image from ‚blue blood to blue collar’, www.guardian.com, 25.11.2021. 27 Vgl. Claire Woodcock, Libraries Across the US Are Receiving Violent Threats, www.vice.com, 27.9.2022. 28 Vgl. Katie Lobosco, New Iowa law restricts gender identity education, bans books with sexual content, https://edition.cnn.com, 27.5.2023.

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BUCH DES MONATS

Der besiegte Sieger Von Achim Engelberg Reinhart Koselleck schien sich von Geburt an auf der Siegerstraße des Fortschritts zu bewegen. Doch der Sohn einer bürgerlichen Familie mit Bildung und Besitz erlebte und erlitt die Abgründe eines extremen Zeitalters – und entwickelte daraus ein Werk, das gerade in den letzten beiden Jahrzehnten weltweit übersetzt wird. Neben dem repräsentativen Band zu seinem hundertsten Geburtstag „Geronnene Lava“ ist nun ein weiterer Briefband – nach jenem mit Carl Schmitt jetzt mit Hans Blumenberg – erschienen, dazu die auf dem Nachlass fußende intellektuelle Biographie von Stefan-Ludwig Hoffmann „Der Riss in der Zeit“. Dadurch wird das Ende seines bürgerlichen Entwicklungsromans plastisch kenntReinhart Koselleck: Geronnene lich: Als Soldat an der Ostfront hört KoselLava. Texte zu politischem Totenleck von den Massenerschießungen in kult und Erinnerung. Suhrkamp, Babyn Jar, wo die Nazis im größten MasBerlin 2023, 572 S., 38 Euro. saker des Zweiten Weltkriegs mehr als 33 000 Juden ermordeten. „Wie ein Lauffeuer“ geht die Kunde umher, die der große Historiker aber lange verdrängt. Noch während des Krieges erfährt er von einer Tante, der Goethe-Expertin Hildegard Marchand, beim Tee in Weimar „von den fürchterlichen KZ-Zuständen auf dem Ettersberg“. Als sowjetischer Kriegsgefangener reißt er dann in Auschwitz die IG-Farben-Fabrik ab, in der wenige Monate zuvor Primo Levi, der später von ihm bewunderte große literarische Zeuge der Shoah, schuften musste. Nicht durch Aufklärung, sondern durch ein unerhörtes Erlebnis wird Koselleck die Realität der Gaskammern deutlich: Wütend bricht es aus einem ehemaligen Häftling, der Kriegsgefangene bewacht, mit zum Schlag erhobenen Schemel heraus: „Was soll ich dir schlagen Schäddel ein, ihr habt ja vergasst Millionen.“ Später kommt Koselleck in ein Kriegsgefangenenlager nach Kasachstan. Die Strapazen der Haft verändern ihn so, dass der Vater den Sohn bei der Rückkehr ins aufgeteilte Deutschland zunächst nicht erkennt. In der zerbombten Heimat erfährt Koselleck, dass die Nazis seine schizophrene Tante im Euthanasieprogramm vergast haben, seine beiden Brüder

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126 Buch des Monats

im Krieg starben, Breslau, wo er Teile seiner Kindheit verbracht hatte, nun zu Polen gehört und zwei Drittel seiner Schulklasse nicht aus dem Krieg zurückgekehrt sind. Rückblickend notiert er: „Krieg und Russische Gefangenschaft = Erfahrungswissenschaft.“ Im Jahr 1947 kommt es in Schloss Göhrde in der Lüneburger Heide zu einer denkwürdigen Begegnung. Einer seiner Demokratielehrer ist der noch unbekannte Eric J. Hobsbawm. Beide entwickeln sich zu musisch gebildeten Jahrhunderthistorikern. In seiner Jugend wollte Koselleck an der Kunstakademie studieren, weshalb eine Zeichnung des jungen Hobsbawm überliefert ist, der Jazzkritiken verfasste. Bis heute kann man die Werke beider als Kritik des jeweils anderen lesen, zuweilen gibt es verblüffende Parallelen. Für Reinhart Koselleck war auf lange Sicht die Geschichtsschreibung der Verlierer oft weiser: „Die Erfahrung des Besiegtwerdens enthält Erkenntnischancen, die ihren Anlass überdauern.“ In Erwartung des Sieges des Sozialismus schrieb Hobsbawm schlechter, als wenn seine Erfahrungen mit den Krisen des Kapitalismus einflossen. So sah er im Epilog seines Werks „Das Zeitalter der Extreme“ (1994) die Widersprüche klarer und immer noch verblüffend aktuell, während seine liberalen Kritiker erfahrungslos und erwartungsvoll an ein „Ende der Geschichte“ glaubten.

Die gegenwärtige Vergangenheit

Ein episches Meisterwerk schrieb Koselleck nie. An mangelnder Fähigkeit kann es bei diesem Stilisten nicht gelegen haben. Aber alle opulente Weltgeschichtsschreibung tendiert zu von der Erfahrung abgelösten Ideen. Hobsbawms Dreiteilung des 20. Jahrhunderts in „Katastrophenzeitalter“, „Goldenes Zeitalter“ (1945 bis Mitte der 1970er Jahre) und „Erdrutsch“ kann erzählerisch fesseln, aber intellektuell nicht überzeugen. Zeugen die Millionen, die in China durch menschenverursachten Hunger und Terror qualvoll starben, von einem „goldenen Zeitalter“? Hier ist der auf Erfahrungen insistierende Meisteressayist Koselleck prägnanter. Das Allerweltswort „Globalisierung“ nennt er im Deutschen „Verkugelung“ und betrachtet die zunehmenden Rückwirkungen der kolonialen Expansionen auf Europa. So tobt der Siebenjährige Krieg in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht nur in Schlesien, sondern wütet als Konflikt europäischer Mächte in Nordamerika, in Indien oder Afrika. Es war ein anderer Erster Weltkrieg, der in seiner Gänze den Erlebnissen und Erfahrungen eines Einzelnen entzogen war. In dieser aufbrechenden Lücke konnten nach Koselleck losgelöste Leitideen in der damit verbundenen Beschleunigung der Geschichte wirken. Die Historie wurde beispielsweise oft als handelndes Subjekt vereinheitlicht, und Napoleon galt als „Weltgeist zu Pferde“. Nach den sinnlosen Massentötungen des 20. Jahrhunderts ist für Koselleck „die“ Geschichte jedoch keine Lehrmeisterin mehr. Zum modernen Diderot wird er als entscheidender Herausgeber der enzyklopädischen siebenbändigen Ausgabe „Geschichtliche Grundbegriffe“, für

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Buch des Monats 127

die er als produktiver Autor schreibt. Im Gegensatz zu den beiden älteren Mitherausgebern Otto Brunner und Werner Conze ist er nicht bestrebt, den Riss der Nazidiktatur zu überdecken. In seinem Willen zur Erkenntnis nimmt Koselleck vernachlässigte Quellen ernst: „Die erzählten Traumgeschichten bezeugen – als fiktionale Texte – den Terror, zugleich aber sind sie Vollzugsweisen des Terrors selbst. Der Terror wird nicht nur geträumt, sondern die Träume sind selber Bestandteil des Terrors. Sie werden in den Leib diktiert.“ Sie gehören für Koselleck zur „gegenwärtigen Vergangenheit“, was die durch Narben und Erinnerungen uns stets begleitende Historie meint. Er stellt immergrüne Fragen und gibt immer wieder neue vorläufige Antworten, weshalb sein Werk Fragment bleiben muss: Was sind die Bedingungen möglicher Geschichten? Wie viel Geschichte ragt in die Gegenwart und welche Zukunft wächst aus ihr?

Mit dem Rücken nach Osten

Wer Kosellecks Texte zum politischen Totenkult liest – er misstraute Konstrukten wie „Kollektives Gedächtnis“ – erkennt, wie scharf er Gefahren des mittlerweile Durchgesetzten wie der Neuen Wache in Berlin sah, bis hin zur Hierarchisierung der Opfer. In einem der wenigen Ost-West-Dialoge zwischen dem marxistischen Historiker Ernst Engelberg und dem konservativen Verleger und Essayisten Wolf Jobst Siedler findet man Ähnliches. Der Titel „Es tut mir leid: ich bin wieder ganz Deiner Meinung“ zitiert einen Antwortbrief Siedlers zur scharfen Ablehnung Engelbergs am neuen Gedenken der 1990er Jahre. Freilich, es setzten sich nun nachgeborene Generationen durch, die sich in der Gnade der späten Geburt wähnten. Westdeutsche, so muss man hinzufügen. „Moskau hat das Gesicht Deutschlands gewaltsam nach Westen gedreht“ ist der einzige Essay von Wolf Jobst Siedler, der in allen Auswahlbänden seiner Schriften enthalten ist. Und viele, die zu Kosellecks 100. Geburtstag Scharfsinniges schrieben, entwickelten sich mit dem Rücken nach Osten. Ihre Fehler bezüglich dieser ihnen unbekannten Weltgegenden fallen umso stärker auf, weil Kosellecks markante Erinnerungstexte gleichzeitig erschienen. So besitzt das Steppengebiet um Karaganda eine ungeheure epische Kraft, allerdings umfasste es nie, wie man in der ansonsten überzeugenden Studie von Stefan-Ludwig Hoffmann lesen kann, fast die Größe Frankreichs. Und Koselleck war dort nie im Gulag, wie es in allen Gedenkartikeln in den großen Medien hieß, sondern in Kriegsgefangenenlagern. Das ist keine Spitzfindigkeit, sondern Koselleck erlitt dadurch nicht die den Gulag charakterisierende Herrschaft der Kriminellen, die die politischen Häftlinge terrorisierten. Kann man bald, wo Liveticker zum Krieg in der Ukraine informieren, ein Gegenstück zu Siedlers nun klassischem Essay schreiben? Dringend gesucht sind die, die Ost-West-Passagen ermöglichen. Nicht zuletzt deshalb sollte man den schon 2006 verstorbenen Reinhart Koselleck lesen, der kundig im westlichen und östlichen Gelände war.

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Zurückgeblättert... Den umjubelten Deutschland-Besuch John F. Kennedys vor 60 Jahren analysierte »Blätter«-Redakteur Johannes Weidenheim vor seinem zeitgeschichtlichen Hintergrund (Nach Kennedys Besuch, in: »Blätter« 7/1963, S. 503-511, siehe dazu auch Kennedys »Washingtoner Friedensrede«, ebd., S. 563-568). Den Text finden Sie wie gewohnt auf www.blaetter.de

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An der Ausgabe wirkten Pia Henne und Moritz Hentz mit. Die gemeinnützige Blätter-Gesellschaft – Gesellschaft zur Förderung politisch-wissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Initiativen e.V. gibt in Verbindung mit dem Herausgeberkreis der Zeitschrift die »Blätter für deutsche und internationale Politik« heraus. Ihr stehen Dr. Corinna Hauswedell, Dr. Wolfgang Zellner und Inken Behrmann vor. Die »Blätter« erscheinen zugleich als Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft. Beiträge – ab 12,50 Euro monatlich – und Spenden sind steuerabzugsfähig. Sitz: Bonn, Beringstr. 14, 53 115 Bonn; Büro Berlin: Postfach 40147, 10061 Berlin. Bankverbindung: Santander Bank IBAN: DE26 5003 3300 1028 1717 00, BIC: SCFBDE33XXX. Preise: Einzelheft 11 Euro, im Abonnement jährlich 93,60 Euro (ermäßigt 74,40 Euro). Alle Preise inklusive Versandkosten. Auslandszuschläge auf Anfrage. Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, sofern es nicht sechs Wochen vor Ablauf des Bezugszeitraums beim Verlag schriftlich gekündigt wurde. Das Register des laufenden Jahrgangs erscheint zeitgleich mit der Dezemberausgabe auf www.blaetter.de. Heft 8/2023 wird am 20.7.2023 ausgeliefert. © Blätter für deutsche und internationale Politik. ISSN 0006-4416. G 1800 E

Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2023

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Autorinnen und Autoren 7/2023

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Golineh Atai, geb. 1974 in Teheran/ Iran, Auslandskorrespondentin und Publizistin, Leiterin des ZDF-Studios in Kairo/ Ägypten. Ulrike Baureithel, geb. 1957 in Freiburg, Literaturwissenschaftlerin, freie Journalistin, Mitbegründerin der Wochenzeitung „Der Freitag“.

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Wir kaufen und liefern nach Bedarf unserer Partner:innen in der Ukraine medizinische Hilfsgüter, bspw. Wundversorgung, OP-Bedarf oder PostRape-Kits, und organisieren den Transport für Menschen auf der Flucht aus der Ukraine.

Daniel Bax, geb. 1970 in Blumenau/ Brasilien, Journalist und Autor, Pressesprecher des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Anja Bensinger-Stolze, geb. 1963 in Otterndorf, Lehrerin, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Annika Brockschmidt, geb. 1992 in Berlin, Historikerin, freie Journalistin, Autorin und Podcast-Produzentin. Olga Bubich, geb. 1980 in Minsk/Belarus, Journalistin, Fotografin, Dozentin und Kuratorin, lebt seit 2021 im Exil in Berlin. Hannah El-Hitami, geb. 1991 in Nürnberg, Politikwissenschaftlerin und Arabistin, freie Journalistin in Berlin mit Schwerpunkt arabische Welt, Migration und Völkerstrafrecht. Achim Engelberg, geb. 1965 in Berlin, Dr. phil., Historiker, Journalist und Buchautor.

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Jürgen Gottschlich, geb. 1954 in Herne, Journalist, lebt in Istanbul. Stefan Grönebaum, geb. 1962 in Düsseldorf, Historiker, Referatsleiter im Wirtschaftsministerium von NordrheinWestfalen. Volker M. Heins, geb. 1957 in Braunschweig, Dr. phil., Permanent Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, Apl. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg Essen.

Albrecht von Lucke, geb. 1967 in Ingelheim am Rhein, Jurist und Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Oleksandra Matwijtschuk, geb. 1983 in Bojarka/Ukraine, Juristin und Menschenrechtlerin, Vorsitzende des 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Center for Civil Liberties. Robert Misik, geb. 1966 in Wien, Publizist und Autor, schreibt u.a. für „Die Zeit“, „Falter“ und „Der Freitag“. Uwe Ritzer, geb. 1965 in Franken, Journalist und Publizist, Wirtschaftskorrespondent und Investigativ-Reporter der „Süddeutschen Zeitung“. Fabian Scheidler, geb. 1968 in Bochum, Autor und Dramaturg, Mitbegründer des Fernsehmagazins „Kontext TV“. Simone Schlindwein, geb. 1980 in Baden-Baden, Historikerin und Politikwissenschaftlerin, Afrika-Korrespondentin der „tageszeitung“ in der Region der Großen Seen, lebt in Uganda. Leena Simon, geb. 1984, Philosophin und Netzpolitologin sowie IT-Beraterin für den Verein Digitalcourage. Rena Tangens, Künstlerin, Datenschutzaktivistin und Netzpionierin, Gründerin des Vereins Digitalcourage, seit 2000 in der Jury der BigBrotherAwards. Frank Wolff, geb. 1977, Dr. phil. habil., Historiker, wiss. Mitarbeiter am Historischen Seminar und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Uni Osnabrück. Reinhard Wolf, geb. 1960 in München, Dr. phil., Professor für Internationale Beziehungen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Kathrin Zeiske, geb. in Bonn, Politikwissenschaftlerin, berichtet als freie Journalistin aus Mexiko.

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Hitze-Hotspot Deutschland Uwe Ritzer Iran: Repression und Hoffnung Golineh Atai

Erdog˘ an: Triumph der Schwäche Jürgen Gottschlich »Festung Europa«: Was die Mauern mit uns machen Volker M. Heins und Frank Wolff Das Dilemma der Grünen Stefan Grönebaum USA: Die rechte Bücherverbannung Annika Brockschmidt