Die Blätter für deutsche und internationale Politik [5 / 2023, 5 ed.] 9783896910738

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Die Blätter für deutsche und internationale Politik [5 / 2023, 5 ed.]
 9783896910738

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5’23

Blätter

5’23

Einzelheft 11 € Im Abo 7,80/6,20 €

Blätter für deutsche und internationale Politik

Die Sehnsucht nach dem Schah Katajun Amirpur

Unangepasst. Unabhängig. Unverzichtbar.

Die Sehnsucht nach dem Schah Katajun Amirpur

Das feministische Paradox Susanne Kaiser Was wird aus dem Menschen? Thomas Fuchs

Jetzt kennenlernen: blaetter.de/probeabo

5’23

Einzelheft 11 € Im Abo 7,80/6,20 €

75 Jahre Israel und die Zukunft der ethnischen Demokratie Richard C. Schneider Gegen den russischen Imperialismus Cédric Wermuth Ukraine vor der »Dritten Republik«? Petro Burkovskiy, Andreas Umland Der Globale Süden vor dem Ruin? Frauke Banse Plattform-Kapitalismus auf Chinesisch Daniel Fuchs, Christa Wichterich

75 Jahre Israel und die Zukunft der ethnischen Demokratie Richard C. Schneider

Das feministische Paradox Susanne Kaiser Was wird aus dem Menschen? Thomas Fuchs

Gegen den russischen Imperialismus Cédric Wermuth Ukraine vor der »Dritten Republik«? Petro Burkovskiy, Andreas Umland Der Globale Süden vor dem Ruin? Frauke Banse Plattform-Kapitalismus auf Chinesisch Daniel Fuchs, Christa Wichterich

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Autorinnen und Autoren 5/2023

DIE WELT VON ALLEN SEITEN LESEN … und das jeden Monat neu

Katajun Amirpur, geb. 1971 in Köln, Dr. phil., Professorin für Islamische Studien sowie stellvertretende Direktorin der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg, Mitherausgeberin der „Blätter“. Kaki Bali, geb. 1963 in Thessaloniki/ Griechenland, Journalistin. Frauke Banse, geb. 1974 in Lüneburg, Dr. rer. pol., Politikwissenschaftlerin, Dozentin an der Universität Kassel.

5 Monate für 20 Eu ro

David Begrich, geb. 1972 in Erfurt, Theologe, Mitarbeiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei Miteinander e.V. in Magdeburg. Matthias Bertsch, geb. 1966 in Schwäbisch Hall, Politikwissenschaftler, Autor für den ARD-Hörfunk. Petro Burkovskiy, geb. 1981, Politikwissenschaftler, Exekutivdirektor der Ilko-Kucheriv-Stiftung für Demokratische Initiativen in Kiew. Matthias Eickhoff, geb. 1966 in Hamm, Politikwissenschaftler, freier Journalist und Übersetzer.

Das Jubiläums-Angebot Seit 20 Jahren bietet der Atlas der Globalisierung eine kritische Bestandsaufnahme unserer Welt. Die Zeitung hinter dem Atlas ist Le Monde diplomatique: Einmal im Monat präsentiert sie neben fundierten Analysen und spannenden Reportagen detailreiche und innovative Karten und Infografiken zum Weltgeschehen.

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Daniel Fuchs, geb. 1984 in Graz, PhD, Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Asienund Afrikawissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin. Thomas Fuchs, geb. 1958 in München, Dr. med., Dr. phil., Professor für philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg. Corinna Hauswedell, geb. 1953 in Hamburg, Dr. phil., langjährige Mitherausgeberin des Friedensgutachtens, Leiterin des Conflict Analysis and Dialogue in Bonn (CoAD). Rudolf Hickel, geb. 1942 in Nürnberg, Dr. rer. pol., Professor em. für Finanzwissenschaft an der Universität Bremen, Mitherausgeber der „Blätter“. Heike Holdinghausen, geb. 1972 in Frankfurt a. M., Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin, Redakteurin bei der „tageszeitung“.

Anna Jikhareva, geb. 1986 in Moskau, Politikwissenschaftlerin, Reporterin bei der WoZ in Zürich. Susanne Kaiser, geb. 1980 in Berlin, Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin, Journalistin und Publizistin. Albrecht von Lucke, geb. 1967 in Ingelheim am Rhein, Jurist und Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Uta Meier-Gräwe, geb. 1952 in Erfurt, Dr. sc. oec., Prof. em. für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Universität Gießen, Vorstandsmitglied von „Wirtschaft ist Care e.V.“ Maike Rademaker, geb. 1963 in Lank, Volkswirtin, freie Journalistin. Richard C. Schneider, geb. 1957 in München, Germanist und Theaterwissenschaftler, Journalist, Autor und Dokumentarfilmer, Editor-at-Large für die ARD in Tel Aviv/Israel. Kai E. Schubert, geb. 1991 in Berlin, Politikwissenschaftler, Doktorand am Institut für Politikwissenschaft der Universität Gießen. Andreas Umland, geb. 1967 in Jena, Dr. phil., PhD, Politikwissenschaftler, Analyst beim Stockholm Centre for Eastern European Studies (SCEEUS). Cédric Wermuth, geb. 1986 in Jegenstorf/Schweiz, Politikwissenschaftler und Co-Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP). Christa Wichterich, geb. 1949 in Brühl, Dr. rer. pol., Soziologin, freiberufliche Wissenschaftlerin und Publizistin. Hildegard Willer, geb. 1964 in Memmingen, Theologin, Romanistin und Kommunikationswissenschaftlerin, freie Journalistin sowie JournalismusDozentin an der Katholischen Universität von Peru in Lima.

Blätter für deutsche und internationale Politik

Monatszeitschrift 68. Jahrgang Heft 5/2023 Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Peter Bofinger . Ulrich Brand Micha Brumlik . Dan Diner Jürgen Habermas . Detlef Hensche Rudolf Hickel . Claus Leggewie Ingeborg Maus . Klaus Naumann Jens Reich . Rainer Rilling Irene Runge . Saskia Sassen Karen Schönwälder . Friedrich Schorlemmer Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin

INHALT 5’23

KOMMENTARE

5 Die »Zukunftskoalition«: Bis zur Kenntlichkeit entstellt Albrecht von Lucke 9 Von der Silicon Valley Bank zur Credit Suisse: Finanzmarktkrise 2.0? Rudolf Hickel 13 Die unsichtbare Gefahr: Chemikalien für die Ewigkeit Heike Holdinghausen 17 Wälder schützen, Rehe schießen Maike Rademaker 21 Georgische Träume, georgische Realität Anna Jikhareva

REDAKTION Anne Britt Arps Albrecht von Lucke Annett Mängel Steffen Vogel ONLINE-REDAKTION Tessa Penzel BESTELLSERVICE Tel: 030 / 3088 - 3644 E-Mail: [email protected] WEBSITE www.blaetter.de

Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2023

25 Wut und Resignation: Griechenland vor der Wahl Kaki Bali 29 25 Jahre Belfaster Abkommen: Hält der nordirische Frieden? Corinna Hauswedell 33 Schottland nach Sturgeon: Humza Yousaf und die gespaltene SNP Matthias Eickhoff 37 Peru: Vom Tigerstaat zum Polizeistaat Hildegard Willer

ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

47 Das unlösbare Dilemma 75 Jahre Israel und die Zukunft der ethnischen Demokratie Richard C. Schneider 57 Die Sehnsucht nach dem Schah Über die Geschichtsvergessenheit bei den iranischen Protesten Katajun Amirpur 65 Das feministische Paradox Der brutale Backlash gegen die Emanzipation Susanne Kaiser 75 Gegen den russischen Imperialismus Warum die Linke die Ukraine unterstützen muss Cédric Wermuth 85 Auf dem Weg zur »Dritten Republik«? Die Ukraine zwischen Kriegswirtschaft und europäischer Integration Petro Burkovskiy und Andreas Umland 93 Die neue Schuldenkrise Wie die internationale Entwicklungspolitik den Globalen Süden ruiniert Frauke Banse 103 Essen auf zwei Rädern: Plattform-Kapitalismus auf Chinesisch Daniel Fuchs und Christa Wichterich 109 Was wird aus dem Menschen? Plädoyer für einen zeitgemäßen Humanismus Thomas Fuchs

DEBATTE

41 Sorgearbeit ohne Preis Uta Meier-Gräwe SCHLAGLICHT

100 Im Osten nichts Neues David Begrich BUCH DES MONATS

123 Staatenlosigkeit: Eine moderne Geschichte Mira L. Siegelberg EXTRAS

45 127 128

Kurzgefasst Dokumente Zurückgeblättert, Impressum, Autoren und Autorinnen

Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2023

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VERLAG WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT 2. Auflage

Jürgen Leibiger

Eigentum im 21. Jahrhundert Metamorphosen, Transformationen, Revolutionen 2. Auflage 2023 – 381 Seiten – 38,00 € ISBN 978-3-89691-073-8

„Ein lesenswertes Buch, uneingeschränkt allen zu empfehlen, die sich für eines der zentralen Probleme der Menschheit interessieren.“ Klaus Müller in: junge Welt WWW.DAMPFBOOT-VERLAG.DE

Hält die rechte Mitte? 1989 verliert der politisch organisierte Konservatismus seinen real existierenden Gegenspieler und gerät zeitgleich in eine Krise. Gemäßigte Mitte-rechts-Parteien radikalisieren sich – oder verschwinden. Wie konnte es dazu kommen?

Gebunden. 638 Seiten. € 30,–

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KOMMENTARE

Albrecht von Lucke

Die »Zukunftskoalition«: Bis zur Kenntlichkeit entstellt Manche Gesichter werden im Streit bis zur Kenntlichkeit entstellt. Bei Koalitionen gilt das gleiche in Krisen. Wenn daher eines Tages gefragt werden sollte, wann aus der angeblichen Zukunftskoalition eine Koalition der Vergangenheit geworden ist, dann dürften die nächtelangen Koalitionsausschusssitzungen von Ende März 2023 dabei eine ganz entscheidende Rolle spielen. Wer noch irgendeinen Zweifel daran hatte, wie die Machtverhältnisse in dieser Koalition wirklich aussehen, ist seitdem eines Schlechteren belehrt. Die von der FDP kreierte Vorstellung, hier stünden zwei Linksparteien gegen sie, den letzten Hort der bürgerlichen Vernunft, entpuppte sich endgültig als Chimäre: Faktisch agieren zwei Parteien, nämlich FDP und SPD, strikt in Verteidigung der materiellen Gegenwartsinteressen, während die Grünen versuchen, auch die Interessen der zukünftigen Generationen zu vertreten – genau wie es das Bundesverfassungsgericht jeder Regierung mit seinem historischen Urteil vom März 2021 ins Stammbuch geschrieben hat. Das Dilemma der Grünen wie der Klimabewegung: Die ganz jungen wie die kommenden Generationen haben bei Wahlen keine Stimme. Dadurch gibt es eine strukturelle Dominanz der Älteren und ihrer Interessen. Dieses Dilemma wird noch dadurch verstärkt, dass die Grünen strategisch ungeschickt agierten und zudem ihre Gesetzesvorhaben immer wieder frühzeitig an die Medien durchgestochen wurden – insbesondere der nur halbfertige Entwurf zum Einbau von Wärmepumpen.

Zum ersten Mal wurde hier dramatisch deutlich, dass die Transformation keineswegs eine reine Gewinnangelegenheit für alle sein wird, sondern dass viele Bürgerinnen und Bürger erhebliche Opfer für das Gemeinwohl werden bringen müssen. Opfer, die nun ganz ausschließlich dem grünen Klima- und Wirtschaftsminister Robert Habeck angelastet werden. Die Konsequenz ist ein massiver Backlash – zulasten der ökologischen Anliegen wie auch der grünen Partei, der sich auch in den Ergebnissen der schon heute historisch zu nennenden Koalitionsausschusssitzungen manifestierte. Offensichtlich waren die grünen Änderungswünsche vom Kanzleramt gar nicht mehr berücksichtigt und eingearbeitet worden, weshalb das Papier letztlich erst nach Verhandlungen von 30 Stunden beschlossen werden konnte.1 Mit dennoch fatalen Folgen: Ausgerechnet beim Verkehrssektor wird nun nicht mehr Jahr für Jahr geprüft, wieviel CO2 er eingespart hat, wie noch im alten, bereits zu schwachen Klimagesetz der großen Koalition vorgesehen. Damit wäre das von der FDP verantwortete Verkehrsministerium von der Pflicht für ein Sofortprogramm zum Klimaschutz befreit und die Einhaltung der Zielvorgaben für 2030 in weite Ferne gerückt. Hier zeigte sich einmal mehr: In dieser Koalition wedelt der Schwanz mit dem Hund. Obwohl die FDP prozentual klar der schwächste Koalitionspartner ist, gibt sie in der Regierung 1 Markus Balser u.a., Wie aus fünf Minuten 30 Stunden wurden, in „Süddeutsche Zeitung“, 30.3.2023.

Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2023

6 Kommentare allzu oft den Ton an. Und zwar dank bewusster Duldung des Kanzlers: Von einem „sehr, sehr, sehr guten Ergebnis“ sprach denn auch Olaf Scholz. Aus rein parteitaktischer Perspektive ist dies auch durchaus der Fall: Der Kanzler braucht aus zwei Gründen eine starke FDP – erstens, um damit CDU/ CSU zu schwächen, und zweitens, weil nur eine zufriedene FDP ihm 2025 die Chance auf eine zweite Ampel-Legislatur eröffnet. Dagegen hat er weit weniger Interesse an starken Grünen, die ihm als Führungspartei der linken Mitte Konkurrenz machen könnten. Nach dieser ur-neoliberalen Devise – „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“ – kann jedoch keine Koalition auf Dauer funktionieren. Derzeit existiert in der Ampel keinerlei Vorstellung, wie sich die Zukunft gemeinsam gestalten lässt. Und, fataler noch, die FDP sieht sich in ihrer rein destruktiven Logik nach diesem Koalitionsausschuss noch bestärkt. Folgerichtig hat FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner bereits die nächste Oppositionsoption in der Regierung ausgemacht und per Twitter das Ende „der Zeit der reinen Verteilungspolitik in unserem Land“ verkündet.2 Anstatt die gemeinsam gefällten Beschlüsse der Koalition auch offensiv zu vertreten, macht sich die FDP auch bei der Atomkraft einen schlanken Fuß: „Würde es nach mir gehen, würden wir bestehende Kernkraftwerke in der Reserve behalten & den Rückbau verhindern“, teilte Lindner am Tag des Atomausstiegs3 mit, um auf diese Weise seine Hände in Unschuld zu waschen und mit der Drohung eines zukünftigen Energiemangels auch weiter gegen die Grünen als angebliche Verbotspartei agitieren zu können. „Die Zeit des Appeasements ist vorbei“, lautet denn auch die unsägliche Ansage von FDP-Vize 2 Freilich ohne zu erwähnen, wann es in Deutschland je eine derartige Zeit reiner Verteilungspolitik gegeben hätte, https://twitter. com/c_lindner, 12.4.2023. 3 https://twitter.com/c_lindner, 15.4.2023.

Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2023

Wolfgang Kubicki, der nicht einmal davor zurückschreckte, Robert Habeck mit Wladimir Putin zu vergleichen.4 FDP-Egoismus von Döpfners Gnaden Massiv unterstützt wird die FDP durch eine seit Monaten anhaltende Kampagne der „Bild“-Zeitung, die den Klimaminister Tag für den Tag wie eine Sau durchs mediale Dorf treibt – offenbar nicht zuletzt auf Weisung von Springer-Chef Mathias Döpfner, dessen Geisteshaltung soeben offengelegt wurde.5 Beredter noch als dessen unsägliche Entgleisungen zu Ostdeutschen und Migranten sind dessen Einlassungen zum Klimaschutz. „Umweltpolitik – ich bin sehr für den Klimawandel. Zivilisationsphasen der Wärme waren immer erfolgreicher als solche der Kälte. Wir sollten den Klimawandel nicht bekämpfen, sondern uns darauf einstellen“, so der SpringerChef. Wenn es eines gebe, was er hasse, dann seien es Windräder. Die einzige Kraft zur Zurückdrängung des ökologischen Ungeistes sind für ihn die Liberalen. „Unsere letzte Hoffnung ist die FDP. Nur wenn die sehr stark wird – und das kann sein – wird das grün rote Desaster vermieden. Können wir für die nicht mehr tun. [...] It’s a patriotic duty“, so Döpfner im Wahlkampf 2021 in einer Rundmail an die verantwortlichen Redakteure seines Verlags. Noch zwei Tage vor der Wahl schrieb er seinem (damaligen) „Bild“-Chef Julian Reichelt: „Please Stärke die FDP. Wenn die sehr stark sind können sie in Ampel so autoritär auftreten dass die platzt. Und dann Jamaika funktioniert.“ FDP und Springer-Verlag treffen sich in einem entscheidenden Punkt: ihrer Staatsablehnung bis hin zur Staats4 Kubicki zieht Parallelen zwischen Habeck und Putin, www.spiegel.de, 22.3.2023. 5 Cathrin Gilbert und Holger Stark, „Aber das ist dennoch die einzige Chance, um den endgültigen Niedergang des Landes zu vermeiden“, in: „Die Zeit“, 13.4.2023; daraus die folgenden Döpfner-Zitate in originaler Orthografie.

feindschaft. „Staatsgläubigkeit geht einher mit einem Menschenbild, das vor allem kollektivistischen, latent oder akut unfreiheitlichen Systemen eigen ist: Der Bürger brauche Aufsicht – einen Vormund. In diesem Fall, den vormundschaftlichen Staat“, so Döpfner bereits 2021 in seinem Buch „Die Freiheitsfalle“ über die angeblich nach wie vor herrschende deutsche Untertanenmentalität.6 Im Verständnis des Springer-Chefs wie dem seiner leitenden Angestellten, am ausgeprägtesten bei „Welt“-Chef Ulf Poschardt, ist Freiheit immer nur gegen den Staat zu denken.7 Aus dieser Staatsverachtung resultiert letztlich auch Döpfners absolute Diskreditierung der Ostdeutschen: „Von Kaiser Wilhelm zu hitler zu honnecker ohne zwischendurch us reeduction genossen zu haben. Das führt in direkter Linie zu AFD.“ Diese Ablehnung jedes Kollektivgedankens – und seines angeblichen Agenten, sprich: des Staats – geht einher mit einer narzisstisch grundierten Vergötzung des als großartig imaginierten Individuums (und des eigenen Egos). Mit dieser Verachtung jeglicher Autorität jenseits des Ichs stehen die neuen Superegos vom Schlage Döpfner, Poschardt oder Kubicki keineswegs allein: Wie die Studien von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey zeigen, wächst in dieser Gesellschaft ein „libertärer Autoritarismus“ mit einer enorm narzisstischen Seite heran, der nur eine Autorität anerkennt, nämlich sich selbst.8 Der anhaltende Koalitionsstreit zwischen FDP und Grünen verläuft also vor allem entlang zweier großer Konfliktlinien: Individual- versus Gesellschaftsinteresse und Gegenwart versus Zukunft – wobei sich die ScholzSPD fatalerweise zumeist auf die Seite der FDP schlägt. Wenn aber die an6 Mathias Döpfner, Die Freiheitsfalle, Berlin 2011, S. 62. 7 Albrecht von Lucke, Rechte APO mit medialer Macht. Die neueste Ideologieproduktion aus dem Hause „Springer“, in: „Blätter“, 3/2021. 8 Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, Libertär und autoritär, in: „Blätter“, 2/2023.

Kommentare

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gekündigte große sozial-ökologische Transformation tatsächlich gelingen soll, dann braucht es eine materielle wie eine „geistig-moralische Wende“ im Verhältnis von Öffentlichem und Privatem, von Zukunft und Gegenwart. Dann gilt es, von der rein individual-egoistischen Haltung Abschied zu nehmen, die mindestens die letzten 30 Jahre, seit der Zäsur von 1989/90, dominiert hat – nämlich von der neoliberalen Devise: „Privat vor Staat“. Mehr Investitionen in die Zukunft Heute sehen wir das Ergebnis dieser Ideologie, in Form einer zusammenbrechenden materiellen wie institutionellen Infrastruktur: zu spät eintrudelnde Züge, bröckelnde Brücken und marode, mit zu wenig Personal ausgestattete Schulen; Behörden, die über Wochen keine Bescheide erteilen, und Gerichte, die erst nach Jahren die fälligen Urteile sprechen. Dadurch entsteht eine fatale Eigendynamik: In dem Maße, in dem der Staat an Handlungsfähigkeit einbüßt, wächst auch die Kritik an ihm und damit die Versuchung, dem Staat gerade deshalb immer weniger Ressourcen zukommen zu lassen und stattdessen lieber die Steuern zu senken – wie es FDP und „Bild“ in stakkato-artigem Gleichklang fordern. Wir erleben eine Abwärtsspirale aus sich wechselseitig bestärkender Kritik am Staat bei dessen wachsender Überforderung, was den Populisten immer mehr in die Hände spielt. Zeitenwende innenpolitisch gedacht bedeutet dagegen: Heute müssen wir uns endlich der Frage stellen, wie ein gesundes Verhältnis zwischen privaten und öffentlichen Ausgaben in Zukunft aussehen muss. Will die Ampel mit der von ihr verkündeten Transformation wirklich ernst machen, müssen die schon lange erforderlichen Investitionen in die Zukunft endlich erfolgen. Andernfalls werden uns die Probleme schon in Bälde überrollen.

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8 Kommentare In die öffentlichen Angelegenheiten zu investieren, bedeutet aber zugleich für den privaten Konsum einen gewissen Rückschritt, vulgo: Verzicht – und zwar speziell bei jenen, die es sich am meisten leisten können. Zur Erinnerung: Noch in den 1980er Jahren, also unter der ewigen Regentschaft Helmut Kohls, bekanntlich von der CDU, wurden die wirklich Vermögenden mit einem weit höheren Spitzensteuersatz für die öffentlichen Angelegenheiten in Anspruch genommen. Gar nicht davon zu reden, wie es in historischen Krisenzeiten aussah, beispielsweise in den 1920er und 30er Jahren. Damals wurden im „New Deal“ der Regierung Roosevelt in den Vereinigten Staaten Spitzensteuern von fast 80 Prozent erhoben, um gegen die Weltwirtschaftskrise anzukämpfen. Da wir uns heute wieder in einer dramatischen Krisenepoche befinden, muss sich die Ampel endlich mit den entscheidenden Fragen befassen: Wieviel sind die Bürgerinnen und Bürger – je nach Leistungsvermögen – bereit und in der Lage, für die Erledigung der öffentlichen Aufgaben aufzuwenden? Was also ist uns die sozial-ökologische Transformation wirklich wert? „Wer behauptet, wirksamer Umweltschutz sei zum Nulltarif zu haben, gaukelt den Menschen etwas vor. International wird es nur möglich sein, andere Länder zum Handeln zu bewegen, wenn wir in den Industrieländern wirklich an unserem Lebensstil etwas ändern“, erkannte bereits vor bald 30 Jahren die damalige Umweltministerin Angela Merkel.9 Doch fatalerweise hat die spätere Kanzlerin aus dieser Erkenntnis nie die erforderlichen Konsequenzen gezogen, schon um ihre eigenen Wahlchancen und Machtoptionen nicht zu gefährden.10 Nicht zuletzt deshalb muss die Ampel nach 16 klimapolitisch verlorenen Jahren unter Mer9 Angela Merkel, Der Preis des Überlebens, München 1997. 10 Albrecht von Lucke, Das Erbe der Merkel-Ära, in: „Blätter“, 9/2021, S. 5-8.

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kel nun sehr rasch auch schmerzhafte Maßnahmen beschließen. Das aber heißt, dass wir auch eine Diskussion über die gerechte Beteiligung gerade der Starken und Vermögenden an den staatlichen Ausgaben führen müssen, deren Reichtum in den vergangenen 30 Jahren enorm zugenommen hat. Und zwar eine Debatte mit gleich zwei Dimensionen – nämlich hinsichtlich höherer Besteuerung und zugleich geringeren Konsums.11 Genau an dieser Stelle verläuft aber der eigentliche Riss zwischen FDP und Grünen als zwei Ausprägungen der Bürgerlichkeit, einer individual-egoistischen und einer gesellschaftlich-altruistischen. Wieviel Zukunft hat angesichts dessen die angebliche Zukunftskoalition? Inhaltlich keine, wenn es so weitergeht und die nächsten großen Konflikte weiter so selbstzerstörerisch ausgefochten werden, wie es der FDPChef bereits andeutet. Zeitlich jedoch hat die Koalition vermutlich noch endlose zweieinhalb Jahre vor sich. Denn bis dahin hält voraussichtlich der Kitt der Macht, sprich: der Umstand, dass alle drei Parteien bei Neuwahlen aktuell massiv verlieren würden. Hinzu kommt die Tatsache, dass das Grundgesetz für einen Machtwechsel ohne Wahl ein erfolgreiches konstruktives Misstrauensvotum voraussetzt. Das letzte und bisher einzige Mal war dies vor genau 40 Jahren der Fall, als die Genscher-FDP von der SchmidtSPD zur Kohl-Union überlief. Da dafür heute aber gleich zwei Parteien, FDP und Grüne, zur Union konvertieren müssten, gehört diese Idee ins Reich der Fantasie. Daher werden wir wohl oder übel mit dieser „Zukunftskoalition“ bis Ende 2025 leben müssen, immer in der Hoffnung, dass sie sich vielleicht doch noch auf eine bessere Zukunft besinnt – für sich selbst, für das Land und für die jungen wie die noch kommenden Generationen. 11 Sighard Neckel, Zerstörerischer Reichtum. Wie eine globale Verschmutzerelite das Klima ruiniert, in: „Blätter“, 4/2023, S. 47-56.



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Rudolf Hickel

Von der Silicon Valley Bank zur Credit Suisse: Finanzmarktkrise 2.0? Fünfzehn Jahre nach der Finanzmarktkrise, die im September 2008 durch die Lehman-Pleite ausgelöst wurde und die Weltwirtschaft beinahe zum Absturz brachte, drohen erneut massive Turbulenzen im Kasinokapitalismus. In den USA erschütterte der Crash eines zuvor ziemlich unbekannten regionalen Spezialinstituts, der Silicon Valley Bank (SVB), die Finanzmärkte. Dramatischer noch ist der Zusammenbruch der Credit Suisse – immerhin die zweitgrößte Universalbank der Schweiz und unter den weltweit gelisteten 30 systemrelevanten Banken. Ist also die Sorge vor einer Wiederholung von 2008, einer „Finanzmarktkrise 2.0“, berechtigt? Zunächst zeigt sich ein fundamentaler Unterschied: Die damals die Welt erschütternde Finanzmarktkrise war die Folge eines besonders aggressiven Spekulationsinstruments. In den Investmentbanking-Abteilungen waren – zum Teil auch mit Hilfe künstlicher Intelligenz – Forderungen vor allem aus Hypothekenkrediten in den USA zu Wertpapieren verpackt und über das Finanzsystem weltweit verkauft worden. Der Trick bestand darin, dass die mit minderwertiger Bonität ausgestatteten Kreditnehmer durch die Mehrfachverpackung nicht mehr erkennbar waren. Die Ratingagenturen, die das Informationsdefizit eigentlich hätten reduzieren sollen, haben das Gegenteil getan, nämlich durch viel zu gute Noten desinformiert. Dafür sorgte auch – übrigens bis heute – die Bezahlung des Ratings durch diejenigen, die letztlich kontrolliert werden sollten. So konnten die Investmentbanken das

Weltfinanzsystem mit hochspekulativen, toxischen Subprime-Papieren fluten und vergiften. Nach dem großen Crash von 2008 gab es zwar in den letzten Jahren immer wieder einzelne Zwischenfälle mit toxischen Wertpapieren. Grundsätzlich aber ist es gelungen, das Investmentbanking mit seinen extrem riskanten Finanzmarktprodukten gegenüber dem normalen Kundengeschäft abzuschotten. Für die Banken gilt das globale Regelsystem Basel III, das zur Absicherung riskanter Geschäfte eine ausreichende Verfügbarkeit von Eigenkapital zur Verlustbewältigung vorschreibt. Diesem Ziel dienen die verschiedenen Eigenkapitalquoten, die nach dem jeweiligen Risiko der Kreditgeschäfte differenziert werden. Die für das gesamte Bankensystem gute Nachricht lautet daher: Die jüngsten Finanzmarktturbulenzen haben mit dem toxischen Sprengsatz der Subprime-Krise wenig zu tun. In diesem Sinne droht also keine Finanzmarktkrise 2.0. Dafür stehen nun zwei völlig andersartige Bankentypen im Mittelpunkt der Krise. SVB: Ein Opfer der Trumpschen Deregulierung Die Kunden der SVB sind vor allem die vielen innovativen Startups in der Silicon-Valley-Region. Für den Absturz der Bank sind deren einseitiges Geschäftsmodell und die politischen Rahmenbedingungen verantwortlich. Einerseits nutzen die Startups das von Tech-Investmentfonds angebotene

Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2023

10 Kommentare Wagniskapital zur Geschäftsfinanzierung. Andererseits zwingen die Kapitalgeber die Startups, primär die SVB für ihre Kreditgeschäfte und Einlagen zu nutzen. Da sie ihre Finanzierung daher nicht diversifizieren konnten, sind die Startups in die komplette Abhängigkeit der SVB geraten; so entstand ein gewaltiges Klumpenrisiko in der Bankbilanz. In den Ruin getrieben wurde die SVB durch drei in diesem Ausmaß bisher nicht bekannte Krisentreiber. Erstens lösten über Messenger-Dienste gezielt gestreute Gerüchte und Fake News über anfangs kleinste Liquiditätsprobleme eine sich immer schneller steigernde Misstrauenswelle aus und führten so zum massiven Abzug von Einlagen. Zweitens stieß die SVB bei der Beschaffung dann notwendiger Liquidität schnell an geldpolitisch erzeugte Grenzen: Da die Kurswerte der in ihrem Bankportfolio vor allem gehaltenen Staatsanleihen infolge der Leitzinserhöhung durch die US-Notenbank sanken, stellten sich bei deren Verkauf gewaltige Liquiditätsverluste ein. Die dritte Ursache für den Absturz der SVB war die durch die Bankenlobby forcierte und dann von Donald Trump umgesetzte Teildemontage der nach 2008 von der Obama-Administration durchgeführten Regulierungen des Dodd-Frank-Acts. Per Dekret wurde die Bilanzsumme, ab der die Regulierungen gelten, von 50 Mrd. US-Dollar auf 250 Mrd. Dollar angehoben. Darunter sind die Kunden-Einlagen somit nicht mehr ausreichend staatlich abgesichert. Hinzu kam ein explizites Versäumnis der US-Finanzaufsichtsbehörden, die im Fall der SVB auf die rechtlich mögliche Durchführung von Stresstests bei Banken mit einer Bilanzsumme ab 100 Mrd. US-Dollar verzichtet hatte. Als dann die Liquiditätsprobleme der SVB den Run auf die Bank auslösten, stellte sich heraus, dass nur circa vier Prozent ihrer Einlagen abgesichert waren, was den Bank-

Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2023

Run wiederum beschleunigte. Am Ende wurden die verbliebenen Reste der SVB von der First Citizens Bank übernommen. Zum Glück erkannte die FED im Absturz der SVB schnell ein Risiko für das gesamte Finanzsystem. Als lebensnotwendiges Fundament des US-Mittelstandes sollten die Regionalbanken nicht dem freien Fall in den Abgrund überlassen werden. So wurden über das Bank Term Funding Programm (BTFP) der FED binnen einer Woche zwölf Mrd. US-Dollar ausgeschüttet, um die Regulierungslücke zu schließen und die Einlagen der Regionalbanken zu sichern. Wirtschaftskriminalität als Geschäft: Der tiefe Fall der Credit Suisse Der zweite Fall, der Absturz der Credit Suisse, liegt völlig anders. Denn sowohl von der Größe als auch vom Geschäftsmodell her ist die 167 Jahre alte Schweizer Großbank mit der kleinen SVB nicht zu vergleichen. Im Gegensatz zur rechtlich sauberen Geschäftspraxis der SVB tätigte die Credit Suisse eigentlich kaum mehr für möglich gehaltene Geschäfte im Bereich der Wirtschaftskriminalität. Ihr Sündenregister ist lang: Kriminelle, vor allem im Bereich des Drogenhandels, Spione, aber auch korrupte Politiker und Beamte aus dem Staatsapparat nutzten die Bank zur Geldwäsche unter dem Schutz des Schweizer Bankgeheimnisses. Dabei wirkten die enormen Boni-Sonderzahlungen (nicht nur auf der Vorstandsebene) wie ein Brandbeschleuniger für die immer riskantere Einlage- und Anlagepraxis. Am Ende lehrt der Absturz der Credit Suisse wieder einmal, dass Boni einer seriösen Geschäftspolitik stets im Wege stehen. Arroganz und Machtgehabe nach außen sowie autoritär-hierarchische Führungsstrukturen nach innen waren die Markenzeichen dieser einst renommierten Universalbank.

Nachdem das Schweizer Bundesstrafgericht die Bank am 27. Juni 2022 zu einer Strafzahlung von zwei Millionen Franken und die betreffende Kundenberaterin der Credit Suisse zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten verurteilt hatte, zogen Kunden weltweit in großem Umfang Einlagen und verwaltete Vermögen aus der Bank ab. Leider entschloss sich die Schweizer Bundesanwaltschaft erst jetzt, angesichts der erforderlichen Bankenrettung, dazu, die jahrelange Geschäftspraxis „zu analysieren und zu identifizieren“. Erst als sich der weltweite Reputationsverlust abzeichnete, wurde die Wiederherstellung „des sauberen Finanzplatzes Schweiz“ (so die Bundesanwaltschaft) zum eidgenössischen Staatsziel. Dabei muss allerdings auch die Rolle der schweizerischen Bankenaufsicht beleuchtet werden. Jahrzehntelang konnten die wirtschaftskriminellen Geschäfte unter dem Radar der 2007 gestarteten Finanzaufsichtsbehörde (FINMA) durchgeführt werden. Schließlich lenkt die Credit SuisseKrise den Blick auch auf die unzureichende Arbeit der Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Noch am 14. März dieses Jahres legte PricewaterhouseCoopers (PwC) der Credit Suisse zum Geschäftsbericht 2022 ein uneingeschränkt positives Testat vor. Nur zwei Tage später musste die Schweizer Nationalbank eine Liquiditätshilfe von über 50 Mrd. Franken bereitstellen. Und weitere drei Tage später, am 19. März, erfolgte der Zwangsverkauf der Credit Suisse an die UBS – zum Billigpreis von drei Mrd. Franken. All das weckt Erinnerungen an frühere Fälle untauglicher Unternehmensdurchleuchtung, wie jüngst durch Ernst & Young (EY) bei Wirecard. Daraus folgt: Die Wirtschaftsprüfer müssen auf ihrem hoch oligopolistischen Beratermarkt weit stärker reguliert und kontrolliert werden. Denn sie übernehmen auf profitwirtschaftlicher Basis die quasi-hoheitliche Auf-

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gabe, auf den Finanzmärkten die Informationsdefizite abzubauen. Die bittere Lehre aus dem Fall der Credit Suisse lautet: Für die Stabilität des gesamten Finanzplatzes Schweiz ist absolute Transparenz erforderlich, statt des uneingeschränkten Schwures auf das Bankgeheimnis. Am Ende reichte ein kleiner Funke aus, die Credit Suisse in Feuer aufgehen zu lassen. Den Run auf die Bankeinlagen löste der Vorsitzende des Aufsichtsrats aus, der die Saudi National Bank als größter Aktionär mit knapp neun Prozent vertritt. Dabei war dessen Aussage, wegen der verhängten regulatorischen Auflagen kein weiteres Kapital zuzuführen, durchaus plausibel. Doch vor dem Hintergrund des allgemeinen Misstrauens gegenüber den Banken sowie der vielen, nun auch öffentlich kommunizierten Skandale der Credit Suisse löste allein diese Kurzmeldung massive Ängste vor einem drohenden Absturz aus. Innerhalb weniger Wochen wurden so Einlagen von über 110 Mrd. Franken abgezogen. Einen solchen Aderlass hält am Ende keine Bank aus. Per Zwangsehe zur Monsterbank: USB schluckt Credit Suisse Um den enormen Vertrauensverlust in den Züricher Finanzplatz aufzufangen, musste schnell ein Rettungsprogramm realisiert werden. Nach dem Motto, mach aus zwei Schweizer Systembanken eine, wurde die Credit Suisse in die Architektur der UBS eingegliedert. Diese „Lösung“ lässt jedoch massiven Zweifel an der Lernfähigkeit nach der Finanzmarktkrise 2008 aufkommen. Denn das neue Konstrukt steht im Widerspruch zu den fundamentalen Anforderungen an eine stabile, zukunftsfähige Universalbank, die nicht wieder zu einem Dauerrisiko wird. Wie sich das neue Banken-Monster entwickeln wird, ist völlig ungewiss.

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12 Kommentare Wohl auch deshalb zahlte die zur Fusion gezwungene UBS für die Zwangsehe nur drei Mrd. Franken. Zusätzlich sichert die Schweizer Regierung der UBS eine Garantie von neun Mrd. Franken zu, um Risiken der Credit Suisse abzufangen, und die Schweizer Nationalbank (SNB) stellt ein Darlehen bis zu 100 Mrd. Euro zur Verfügung. Immerhin wird das Rettungsprogramm durch eine Neuregelung der Bonuszahlungen begleitet. Beim Management der Credit Suisse inklusive den zwei Führungsebenen wurden die Sonderzahlungen mangels Leistung gestrichen. Für die künftige Monster-UBS werden die Bonuszahlungen leistungsbezogen an die „Nicht-Inanspruchnahme der Staatsgarantien“ sowie an den Erfolg eines „risikobewussten Managements“ geknüpft. Wie diese Neuregelung genau ausgestaltet wird, ist allerdings völlig offen. Genauso unklar ist, wie es für die Beschäftigten unterhalb der Führungsebene weitergeht. Für die rund 30 000 der 120 000 Mitarbeitenden, die ihren Job durch Kürzungen verlieren werden, lagen Anfang April jedenfalls noch keine Sozialpläne vor.1 Das größte Problem ist allerdings, dass erstmals seit 2008 durch die Krise einer systemrelevanten Bank wieder ein riesiges, höchst instabiles Bankenkonglomerat entstanden ist. Aufgrund der Fusion mit der Credit Suisse erreicht die UBS eine Bilanzsumme von über 1569 Mrd. Euro. Zum Vergleich: Die Deutsche Bank verwaltet „nur“ 1337 Mrd. Euro. Das Geschäftsvolumen der UBS/Credit Suisse ist zudem doppelt so hoch wie das Bruttosozialprodukt der Schweiz (mit 774,38 Mrd. Euro im Jahr 2022). Damit ist der nach der Krise von 2008 durchgesetzte Grundsatz gebrochen, Banken von einer derartigen Größe nie wieder zuzulassen. Was aber passiert, wenn heute noch nicht absehbare 1 Credit-Suisse-Übernahme: UBS plant offenbar großen Stellenabbau, www.zeit.de, 2.4.2023.

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Risiken die Zahlungsfähigkeit der neuen Super-Bank bedrohen? Dann könnte es nicht mehr „too big to fail“ heißen, sondern „too big to save“: Eine Rettung durch den Staat wäre nicht mehr zu finanzieren und der Zusammenbruch des Bankenkolosses unabwendbar – mit verheerenden Wirkungen auf die globalen Finanzmärkte und damit auch auf die Weltwirtschaft. Die Abstürze von SVB und Credit Suisse zeigen daher beide, so unterschiedlich sie in der Sache auch sind, eines ganz deutlich: Das herrschende Bankensystem ist noch immer höchst krisenanfällig. Einem Vulkan mit brodelndem Magma vergleichbar gehören Eruptionen weiter zur fatalen „Normalität“. Dabei lehrt uns vor allem die Krise der Silicon Valley Bank, dass auch die Geldpolitik mit ihrer Zinswende zur Inflationsbekämpfung die Stabilität der Banken bedrohen kann. Durch den sinkenden Kurswert alter Staatsanleihen kommt es bei den Banken zu massiven Verlusten, bei gleichzeitig höheren Zinsen und damit zu erheblichen Belastungen. Weiter gilt dagegen: „Confidence matters“ – die wichtigste Ressource im Finanzwesen ist und bleibt Vertrauen. Um aber das Vertrauen in das Bankensystem nachhaltig zu sichern, bedarf es marktordnender Regulierungen, die das Kollabieren der Finanzmärkte dauerhaft verhindern: eine höhere Deckung der Geschäftsrisiken mit Eigenkapital, die Anhebung der maximal zulässigen Bankverschuldung sowie eine klare Trennung zwischen den normalen Kundengeschäften und dem spekulativen Investmentbanking mit dubiosen Finanzmarktprodukten. Die beiden jüngsten Bankenkrisen mit ihrer enormen Sprengkraft für die Finanzmärkte haben eines bewiesen: Paul Krugman hat mehr denn je Recht mit seinem im April 2009 formulierten Imperativ „Making banking boring“ – „Macht das Bankwesen langweilig“, dafür jedoch wieder stabil und gerade dadurch auf Dauer attraktiv.



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Heike Holdinghausen

Die unsichtbare Gefahr: Chemikalien für die Ewigkeit In abertausend Bücherschränken steht Rachel Carsons „Der stumme Frühling“. Dem Historiker Joachim Radkau gilt das Buch über die Folgen des Insektengiftes DDT für Mensch und Natur als „Ouvertüre der amerikanischen Umweltbewegung“, und auch in Europa und Deutschland hat es dem Unbehagen an und der Angst vor einer von Atomenergie und chemischer Industrie vergifteten Umwelt eine Sprache gegeben. 1962 erschienen, ist dieser Klassiker der Umweltliteratur gut gealtert. Der Inhalt – das Sterben von Insekten und Vögeln durch Insektizide – ist heute so aktuell wie damals. Doch unsere Wahrnehmung und unser Umgang mit der schleichenden Katastrophe hat sich verändert. Darüber gibt das Erscheinungsbild der deutschen Ausgabe Auskunft. Sie hat über die Jahrzehnte einen interessanten Wandel vollzogen: Das Cover der ersten ins Deutsche übersetzten Auflage von 1962 ziert ein warnendes rotes Kreuz. Auf der Taschenbuchauflage von 1971 sprüht ein Doppeldecker plakativ eine Gift(?)wolke auf die Erde, auf der von 1987 reckt sich anklagend ein toter Baum. Die jüngste Auflage von 2019 ist in sanftem Rosé gehalten, verziert mit einem fein gezeichneten Singvogel und einem Blatt.1 Etwa zehn lange Jahre brauchten die USA vom Erscheinen des Buches bis zum Verbot von DDT. Viele europäische Länder verboten Dichlordiphenyltrichlorethan ebenfalls im Laufe der

1970er Jahre, Deutschland 1977. Die Belastungen durch die Erzeugnisse der chemischen Industrie aber haben sich seitdem multipliziert: Sie reichen von Medikamentenrückständen im Grundwasser über Plastikmüll und Mikroplastik im Meer und in Böden bis hin zu per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen (PFAS). Derzeit läuft eine öffentliche Konsultation der EU-Kommission zu ihrer Beschränkung, noch bis September können Kommentare eingereicht werden. PFAS durchsetzen den Alltag der Verbraucher:innen: Die Substanzen beschichten Pizzakartons, Bratpfannen, Regenjacken und Rohre, befinden sich in Löschschäumen, Medikamenten und Medizinprodukten. Sie werden so universell eingesetzt, weil sie sowohl fett- als auch wasserabweisend sowie extrem hitzebeständig sind. Was allerdings noch immer den wenigsten wirklich bewusst ist: Sie können Krankheiten an der Leber und der Schilddrüse auslösen, Krebs, Fettleibigkeit und Fruchtbarkeitsstörungen. Weil sie äußerst langlebig sind, reichern sie sich in der Umwelt und im menschlichen Körper an. Im Februar veröffentlichten Journalist:innen eine Recherche über 17 000 Orte Europas, an denen sich PFAS im Boden befinden,2 zwei Wochen nachdem die Europäische Chemikalienagentur ECHA vorgeschlagen hatte, die etwa 10 000 Chemikalien umfassende Stoffgruppe in den nächsten Jahren zu verbieten.3 Denn die zustän-

1 Vgl. Rachel Carson, Der stumme Frühling, München 1962 (Biederstein), München 1971 (dtv), München 1978 (Beck’sche Reihe), München 2019 (C.H. Beck).

2 Sarah Pilz u.a., Wo PFAS überall Deutschland verschmutzen, www.tagesschau.de, 23.2.2023. 3 ECHA publishes PFAS restriction proposal, ESHA/NR/23/04, https://echa.europa.eu.

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14 Kommentare digen nationalen und internationalen Institutionen und Behörden haben die schleichende Vergiftung von Mensch und Natur längst auf dem Schirm. So bemüht sich etwa die Europäische Union seit mehr als einem Jahrzehnt mit ihrer Richtlinie „REACH – Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien“ darum, ein einheitliches und umfassendes Regelwerk für Chemikalien aufzubauen. Nach dem Grundsatz „Kein Markt ohne Daten“ muss jede Chemikalie, die verkauft oder verwendet wird, zuvor erfasst und bewertet werden. Vor Inkrafttreten von REACH sagte die Industrie lautstark ihr Ende in Europa voraus. Lobbyverbände und Großunternehmen fanden jedoch schnell heraus, dass sie mit der umfangreichen Regulierung ganz gut leben können, wenn sie ihr mit einer gewissen Zähigkeit und Sturheit begegnen. Sie liefern nur so viele Daten wie unbedingt nötig und verzögern Prozesse, wo sie können. Derzeit verwenden sie ihren großen Einfluss in Brüssel darauf, die notwendige REACH-Reform möglichst lange zu verschleppen. In Kauf genommene Schadstoffkrise Neben dieser Richtlinie existieren weitere – für Biozide, Chemikalien in Lebensmitteln, Kosmetika und Spielzeug. Auch auf Ebene der Vereinten Nationen gibt es verschiedene Verträge, um besonders giftige Stoffe einzuhegen. Inzwischen warnt das UN-Umweltprogramm UNEP vor einer dreifachen globalen Umweltkrise: Neben dem Klimawandel und dem Verlust der Biodiversität gehöre dazu die Umweltverschmutzung durch Chemikalien und deren Abfälle, stellte die Organisation 2019 in ihrem Umweltbericht fest.4 4 Umweltprogramm der Vereinten Nationen, GEO 6. Sechster globaler Umweltbericht, https://wedocs.unep.org, 2019.

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Obwohl die Verschmutzung einem breitem Publikum als ernstes Problem schon in den 1960er Jahren und somit weit vor den Gefahren der Erderhitzung oder gar des Artensterbens bekannt wurde, erregt es heute weniger Aufmerksamkeit. PFAS in der Bratpfanne, endokrine Disruptoren – also hormonwirksame Schadstoffe – in Babyfläschchen oder Schwermetalle in der Schokolade verursachen zwar regelmäßig kurzzeitig Aufregung, aber ein dauerhafter, öffentlich wahrnehmbarer Protest hat sich bislang gegen die Vergiftung nicht etabliert. Es gibt nicht einmal einen, an die Klima- oder Biodiversitätskrise angelehnten – Begriff für den Vorgang, etwa die „Verschmutzungskrise“. Die UN mag sie festgestellt haben – in der Öffentlichkeit rangiert sie unter ferner liefen. Die zu Beginn skandalisierende und heute zurückhaltend-harmonische Gestaltung der Cover des „Stummen Frühlings“ verleiht dem ein Bild. Die andauernde, nicht zu umgehende und unserer Industrie- und Konsumgesellschaft immanent zugehörige Bedrohung durch giftige Chemikalien ertragen wir, indem wir sie kulturell vereinnahmen. Zumindest äußerlich wird aus der Anklage gegen Verschmutzung ein etwas melancholisch anmutendes „Nature Writing“, das sich angesichts der multiplen Krise der Natur noch immer verkauft wie warme Semmeln. Warum ist das so? Protest und Engagement brauchen nicht nur ein klares Ziel, etwa „Stopp dem Klimawandel“ oder „Gerechtigkeit erreichen“. Sie brauchen auch lösbare Probleme, um nicht einzugehen. „Treibhausgase minimieren“ etwa, oder „Lohnsteigerungen durchsetzen“. Die Verschmutzungskrise jedoch teilt das Schicksal des Biodiversitätsverlustes: Für eine griffige, dauerhafte Kampagne sind beide zu komplex. Das Ziel ist jeweils einfach: „Weniger Gifte in der Umwelt“, „Artensterben stoppen“. Doch beim Artensterben ist die Problemlösung diffus. Um es zu stoppen, müssen

wir andere Konsummuster durchsetzen, Land anders nutzen, Natur mehr Raum geben. Bei der Verschmutzungskrise ist es die Problemlage, die zerfasert. Hat der arme Laie verstanden, was „Endokrine Disruptoren“ sind – also Schadstoffe, die im Blutkreislauf kursieren und auf den Hormonhaushalt einwirken – kommen POP und PFAS auf die Tagesordnung, BPA, Titandioxid und Mikroplastik. Zum Teil sind diese Chemikalien nur in bestimmten Anwendungen giftig – etwa wenn sie in Nanoform (also als sehr kleine Partikel) oder als Staub daherkommen. Einige sind ab bestimmten Grenzwerten gefährlich, andere auch in geringsten Mengen. Einige lagern sich in Böden ein, andere verteilen sich über den Erdball. Es gibt Chemikalien, die die menschliche Gesundheit gefährden, und solche, die Wasserorganismen töten. Als Reaktion darauf überlappen sich nationale, europäische und globale Gesetze und Regulierungen. Vorschriften zum Schutz der Luft, der Böden und Gewässer wie das Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSCHG), das Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen, die Gefahrschutzverordnung oder die Wasserrahmenrichtlinie betreffen die Herstellung, den Verkauf und die Verwendung von Chemikalien ebenso wie die schon erwähnten EU-Regularien REACH und die Kosmetik- und Spielzeugrichtlinien. Für Laien ist die Regulierung häufig kaum nachvollziehbar – das Weißpigment Titandioxid ist hierfür ein Beispiel. Es färbt Farben, Lacke, Druckfarben und Kunststoffe weiß; als E 171 verleiht es Kaugummis oder Dragees einen appetitlichen weißen Glanz und als CI  77891 Zahnpasta ein klinisch weißes Äußeres. Als Nanopartikel in Sonnenmilch schließlich schützt es die Haut vor UV-Strahlung. Verbraucherschützern und Umweltmedizinerinnen ist Titandioxid seit Jahren nicht geheuer. So hat ein zuständiger EU-Ausschuss der Europäischen Chemikalienagentur TiO2 schon 2017 in Staub-

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form als krebserregend eingeordnet. Maler:innen, die Wände abschleifen, müssen also entsprechende Schutzkleidung tragen; E 171 blieb in der EU aber noch bis August 2022 erlaubt, bis die Experten zu dem Ergebnis kamen, dass auch eine erbgutschädigende Wirkung nicht ausgeschlossen werden könne. Frankreich hatte das Pigment schon zwei Jahre früher aus Lebensmitteln verbannt und war von der chemischen Industrie in Deutschland dafür heftig kritisiert worden. In Kosmetika – und selbst Zahnpasta – gilt die Substanz hingegen noch immer als unbedenklich, allerdings nur dann, wenn sie nicht in die Lunge eingeatmet werden kann. Der Stoff ist also als Lebensmittelzusatz verboten, als Zahnpasta erlaubt; es sind unterschiedliche Richtlinien, Behörden und wissenschaftliche Ausschüsse zuständig. Nötig, aber nicht umsetzbar: Eine Positivliste Können Verbraucher:innen Produkte, die heute noch Titandioxid enthalten, denn nun ganz entspannt kaufen und nutzen? Keine Ahnung. Entgehen können sie ihnen auf jeden Fall kaum, wenn sie nicht auf Kosmetikprodukte, Wandfarben, Plastik, Textilien oder Backformen verzichten. Was bleibt, ist das Gefühl einer überbordenden Regulierung bei beschränkter Wirkung bis weitgehender Wirkungslosigkeit – je nach Stoff und Einsatzgebiet. Zumal die Industrie sehr erfolgreich damit verfährt, Kausalbeziehungen zu leugnen und die Öffentlichkeit zu verwirren: So verwiesen Lobbyisten im Fall der krebserregenden weißen Farbstäube an der Wand beispielsweise lange darauf, dass Stäube etwa aus Buchenholz viel krebserregender seien – diese, wenn gesägt oder geschmirgelt, auch als gefährlich gekennzeichnet sein müssten. Nachzuweisen, dass eine Krebserkrankung tatsächlich durch den Einfluss einer Chemika-

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16 Kommentare lie verursacht wurde – dieser Kampf David gegen Goliath ist nicht zufällig immer wieder ein Fall für Hollywood.5 Aber es ist ja nicht so, dass die Bürger:innen nur hilflose Opfer einer über sie hinwegproduzierenden Industrie wären. Als Konsument:innen befeuern sie die Wachstumsraten der Chemiegiganten. Jahrelang war bekannt, wie gefährlich PFAS in der Umwelt sind; trotzdem erfreuten sich die bunten Regenjacken bekannter Outdoormarken weiterhin breitester Beliebtheit, weil sie auch bei einem kurzen Stadtspaziergang vor heftigen Regenfällen wie auf einer Bergwanderung schützten;6 eine breite Boykottbewegung gegen PFAS-beschichtete Pizzakartons, damit deren feucht-fettiger Inhalt nicht durchsuppt, ist ebenfalls nicht aufgefallen. Das Verhältnis der Verbraucher:innen gegenüber Chemikalien gestaltet sich in etwa so wie gegenüber den globalen Tech-Konzernen – niemand mag Amazon oder Paypal, aber alle nutzen sie, weil sie praktisch sind und das Leben erleichtern. Nebenwirkungen werden buchstäblich in Kauf genommen. In anderen Anwendungsbereichen sind spezielle Chemikalien zudem schier unverzichtbar. Bestimmte industrielle Prozesse sind ohne poly- und perfluorierte Alkylverbindungen nicht möglich; und ein Flughafen, der große Mengen an Kerosin lagert, kann ohne PFAS-haltige Löschschäume nicht sicher betrieben werden. Unsere industrielle Konsum- und Warenwelt kommt ohne giftige Substanzen nicht aus. Insofern ist das einzige Verfahren, dass unsere Körper und die Natur wirklich entgiften würde, derzeit denk-, aber nicht machbar: eine Positivliste. Hergestellt, verkauft, verwendet werden dürften nur solche Stoffe, die erwiesenermaßen unschädlich sind. Nicht die Behörden müssten der Industrie nachweisen, dass eine Chemikalie unter bestimmten Umständen 5 Vgl. Vergiftete Wahrheit (Dark Waters), 2020. 6 Heike Holdinghausen, Hormongift-Cocktail für Naturfreaks, www.taz.de, 29.10.2012.

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gefährlich ist, sondern für eine Zulassung müssten die Unternehmen beweisen, dass ihr Produkt ohne Nebenwirkungen anwendbar ist. Anstatt einer Positivliste bleibt der aufwändige wie verzweifelte Versuch, nur die größten Schäden zu vermeiden. Und so landet man am Ende etwas hilflos bei Verbrauchertipps: Um Kleinkinder nicht täglich Staub auszusetzen, der mit dem Abrieb von Weichmachern und Flammschutzmitteln vergiftetet ist, sollen Kitas gründlich putzen und öfter lüften. Kund:innen können mit Apps durch Drogerien streifen und ihre Artikel vor Erwerb auf endokrine Disruptoren scannen. Biolebensmittel und Ökokleidung hinterlassen bei ihrer Herstellung erwiesenermaßen weniger Gift in der Umwelt als ihre konventionellen Wettbewerber. Und so weiter und so weiter, es bleibt eine Entscheidung des Einzelnen, eine Paranoia zu entwickeln, abzustumpfen oder sich bei Gelegenheit (PFAS-Berichterstattung) auf- und dann wieder abzuregen. Die Pionierin Rachel Carson hatte noch die Hoffnung, dass die erfinderische Menschheit nachhaltigere Lösungen als mörderische Gifte finden würde, um Probleme wie den Insektenbefall ihrer Felder zu lösen. Sie setzte auf die Gentechnik als giftfreie und also sanfte Methode. Heute sind „Gendrives“ anwendungsreif. Mit ihnen lassen sich einheitliche Nachkommen zeugen, die die Vererbungsregeln außer Kraft setzen. Es wären also alle Nachkommen eines so manipulierten Wildkrauts oder Insekts unfruchtbar. Somit könnte ein unerwünschtes Unkraut innerhalb weniger Generationen vom Erdboden verschwinden. Längst lassen diese Verfahren verheerende Nebenwirkungen für die Ökosysteme erahnen – man entfernt nicht ungestraft einen Teil aus einem Puzzle. Das Versprechen, nicht nur den Alltag angenehmer, bequemer und bunter zu machen, sondern auch ihre Produkte sicher, sind Wissenschaft und Industrie bis heute auf jeden Fall schuldig geblieben.



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Maike Rademaker

Wälder schützen, Rehe schießen Seit kurzem ist es wieder soweit: Buchen, Eichen und Ahorn treiben zartgrün die Blätter – und auch Rehe, Hirsche und Damwild fahren ihren Stoffwechsel hoch. Sie haben zu dieser Jahreszeit vor allem eines: Hunger. Viele der jungen Bäume werden deswegen nicht weit kommen. Ihre Knospen werden abgefressen, alles, was sich mit den ersten Sonnenstrahlen herausgetraut hat, verschwindet im Magen des Schalenwilds. Die Folgen sind unverkennbar: Nadelwald, in dem kaum Grünes wächst, und Laubbäume, die jung scheinen, aber alt sind. Da stehen etwa zehnjährige Eichen, die gerade einmal 60 Zentimeter hoch sind, verzweigt und verkrüppelt, ohne Chance, jemals zu den Riesen heranzuwachsen, die sie eigentlich werden könnten, weil sie jedes Jahr abgefressen werden. Das ist der Lauf der Natur, denkt der Stadtbewohner und beobachtet verzückt das äsende Wild aus dem ICE heraus. Doch was sich Frühling um Frühling in den Wäldern abspielt, ist nicht Lauf der Natur, es ist eine Katastrophe mit Ansage für den Umbau der Wälder zu mehr Klimaresilienz. Und dafür gibt es einen Grund: Ein anachronistisches Jagdsystem, mit dem mehr Jagd systematisch vereitelt wird und dessen Lobbyisten so einflussreich sind, dass bisher jeder Versuch, es grundlegend zu modernisieren, an ihnen gescheitert ist. Warum aber ist das so wichtig? Weil rund ein Viertel des Waldes in Deutschland umgebaut werden muss, so schnell wie irgend möglich. Dabei geht es um fast drei Mio. Hektar: Flächen, die von Trockenheit bedroht sind, Wälder, die in Flammen aufgegangen sind oder abgeholzt wur-

den, weil Borkenkäfer die geschwächten Stämme zerbohrt haben, und vom nächsten Waldbrand bedrohte Nadelholzplantagen. Das Ziel, da sind sich Wissenschaft und Politik seit langem einig, muss ein klimaresilienter Wald sein, ein Mischwald, mit vielen Laubbäumen. Ein solcher Wald ist der wichtigste Schutz gegen Hitze und zugleich Reservoir für Wasser, saubere Luft und Artenvielfalt – und damit unerlässlich für die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse. Laubwälder kühlen, sie begünstigen die Neubildung von Grundwasser,1 brennen schlechter und tragen zu mehr Artenvielfalt bei. Unreformierbar: Das Bundesjagdgesetz Aber diese dringend benötigten Wälder wird es nur geben, wenn die Wilddichte in vielen Regionen deutlich reduziert wird. Die gestiegene Zahl des Schalenwilds sei, so der wissenschaftliche Beirat für Waldpolitik, „vielerorts das Haupthindernis für das Aufwachsen einer artenreichen Naturverjüngung“.2 Der Forstwirtschaftsrat fordert angesichts dessen eine angepasste Wilddichte,3 ebenso die Waldeigentümer,4 Bundeswaldminister Cem Özdemir5 und sogar sein Kollege Christian 1 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Waldpolitik, Die Anpassung von Wäldern und Waldwirtschaft an den Klimawandel. Gutachten, www. bmel.de, Oktober 2021. 2 Ebd., S. 134. 3 Deutscher Forstwirtschaftsrat, Wald & Wild, www.dfwr.de. 4 Irene Seling, Wälder sind der Schlüssel für den Klimaschutz, www.waldeigentümer.de. 5 „Es ist gut, dass die Menschen immer weniger Fleisch essen.“ Interview mit Bundesminister Cem Özdemir, www.faz.net, 28.6.2022.

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18 Kommentare Lindner, Bundesfinanzminister und selbst Jäger.6 Das Problem ist seit langem bekannt: Bereits 2019 forderte die damalige Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner auf dem Waldgipfel eine „stringentere und zielgerichtetere Jagd“, damit die jungen Bäume und die mittlerweile weit über 1,5 Mrd. Euro Hilfen für Waldbesitzende nicht ruckzuck aufgefressen werden. Dieses Ziel sollte in der Novelle des Bundesjagdgesetzes verankert werden. Monatelang wurde diese vorbereitet, Gesprächsrunde um Gesprächsrunde mit allen diskutiert. Heraus kam zunächst ein zarter Kompromiss: Waldbesitzende und Jäger sollen gemeinsam festlegen, wieviel geschossen werden soll. Einigen sie sich nicht, gibt es ein Vegetationsgutachten, sprich ein Nachweis, wieviel weggefressen wird. Aber nicht einmal dieser Kompromiss hat am Ende gereicht. Die Novelle ist trotzdem gescheitert. In letzter Minute – die erste Lesung im Bundestag hatte der Entwurf noch passiert – mauerte Bayern, die notwendige Mehrheit war dahin. So wie 2016, als Bayern ebenfalls den Versuch einer Novelle des Gesetzes in letzter Minute verhinderte. So wie eigentlich jede und jeder scheitert, der versucht, auf Landes- oder Bundesebene gesetzlich mehr als kleine Korrekturen am bestehenden Jagdsystem durchzusetzen. In den Koalitionsvertrag der Ampel hat es die Novelle ebenfalls nicht geschafft, laut internen Quellen war die FDP dagegen. Seit Jahrzehnten misslingt die Novellierung dieses Gesetzes. Dabei hat Horst Stern bereits 1971 in seinem legendären Fernsehbeitrag zur besten Sendezeit am Weihnachtsabend zu mehr Jagd auf Hirsche und Rehe aufgerufen, um die Wälder besser zu schützen. Indes ist es nicht so, dass Jagende nichts schießen: Satte 1,2 Millionen Rehe sind allein in der Saison 2020/21 6 Interview mit RND, 10.11.2018.

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in den Kühlhäusern gelandet – das sind doppelt so viele wie 1970. Viele der Jäger arbeiten gut mit Waldbesitzenden, Försterinnen und Förstern zusammen und verfolgen gemeinsam das Ziel, den Wald umzubauen. Dazu gehört etwa der Ökologische Jagverband mit seinen rund 3000 Mitgliedern. Demgegenüber steht allerdings der Deutsche Jagdverband, der Wildreduzierung politisch hart bekämpft. Er verfügt über 250 000 Mitglieder und macht seine Interessen mit entsprechendem Gewicht geltend. Und so meldete die Bundeswaldinventur im Jahr 2012, dass trotz aller Jagd jeder dritte Laubbaum verbissen wird – bei dieser Zählung sind allerdings nur Bäume ab 20 Zentimeter berücksichtigt, nicht aber jene, die bereits vor Erreichen dieser Höhe komplett im Magen der Tiere verschwinden. Wer jetzt moniert, dass die Inventur den Stand von vor elf Jahren wiedergibt und sich der Schwund seitdem doch verringere, dem muss man entgegenhalten: Alle Bundesländer melden regelmäßig hohe Verbissquoten. Mal sind es 30 Prozent aller Laubbäume, mal, wie in Brandenburg, jeder zweite – es gibt kein Bundesland ohne derartige Probleme. Warum aber einigen sich dann die rund 1,8 Millionen Waldbesitzenden nicht mit den rund 400 000 Jägerinnen und Jägern, ganz ohne Gesetz? Bei solch offensichtlichen Problemen sollte es doch möglich sein, die Wilddichte, wo notwendig, zu reduzieren. Schließlich ist immer mehr Waldbesitzenden klar, dass es beim Wald um mehr geht als um einen bloßen Holzlieferanten. Schön wäre es, aber: Selber schießen oder schießen lassen darf jemand, der Wald besitzt, noch lange nicht, nur weil ein Jagdschein und Gewehr vorhanden sind. Im eigenen Wald jagen darf nur, wer mindestens 75, in manchen Bundesländern sogar 150 Hektar besitzt. Doch über so viel Wald verfügt kaum jemand: Im Schnitt besitzen Waldeigentümer gerade einmal 2,5 Hektar – damit dürfen über 90 Prozent

aller Waldbesitzenden nicht auf ihrem eigenen Grund und Boden jagen. Seit 150 Jahren – denn so alt ist diese Regelung – werden so substanzielle Eigentumsrechte begrenzt. Das ist einzigartig in Europa. Und an dieser Regelung hat sich bis heute nichts geändert. Wer über 75 Hektar und mehr verfügt, kann in seinem Wald (mit Jagdschein und auf der Basis von Wald- und Jagdgesetz) schießen, so viel er will. Alle anderen sind Pflichtmitglied einer Jagdgenossenschaft. In einer solchen hat theoretisch jeder Waldbesitzende die Möglichkeit, mitzubestimmen, wie viel in seinem Wald geschossen wird, denn die Genossenschaft sucht den Jagdpächter aus und verhandelt mit diesem seinen Einsatz. In manchen Jagdgenossenschaften funktioniert das auch. Aber in vielen nicht – und wer mit ein paar kümmerlichen Hektar gegen die Mehrheit an Stimmen und Fläche anstimmen will, verliert zwangsläufig. Dann bekommt ein Trophäenjäger die Pacht für Jahre überschrieben – die gesetzliche Mindestpachtzeit beträgt neun Jahre –, pflegt und hegt eine hohe Wilddichte und hofft, dass der Zwölfender, ein Hirsch, dessen Geweih an jeder Stange sechs Enden hat, endlich vor die Flinte läuft. Brandenburgs gescheiterter Vorstoß in das Herz des Jagdsystems Viele Bundesländer haben mit kleinen Korrekturen versucht, die Wilddichte innerhalb dieses komplexen Systems zu korrigieren: mit Gesprächsrunden, Vegetationsgutachten, erhöhten Abschussquoten und langen Jagdzeiten – doch mit nur mäßigem Erfolg. Nur Brandenburg hat jüngst versucht, den Kern des Problems – das Recht der Waldbesitzenden, ihren Wald so zu bewirtschaften, wie sie es möchten – anzugehen. Das Bundesland ist Spitzenreiter bei Waldbränden, die Trockenheit hat mittlerweile hunderte Hektar Wald geschädigt. Dreiviertel des bran-

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denburgischen Waldes bestehen aus Kiefern, die Hälfte der nachwachsenden Laubbäume werden verbissen. Der Umbau des Waldes ist hier ein Wettrennen gegen die Zeit, denn mit jedem weiteren trockenen Sommer schwindet weiterer Wald. Nachpflanzen und Zäune ziehen sei schon zeitlich keine Option mehr, heißt es, die Natur müsse es selbst schaffen, sich zu verjüngen: Bäume, die von selbst nachwachsen – wenn sie denn nicht gefressen werden.7 Entsprechend dringlich versucht Landwirtschaftsminister Axel Vogel (Grüne) eine Novelle des Landesjagdgesetzes voranzutreiben. Sein erster Vorstoß, die Absenkung der Eigenjagdgrenze von 75 auf 10 Hektar scheiterte, vor allem, aber nicht nur, am Widerstand der traditionellen Jäger, die weit über Brandenburg hinaus gegen die Novelle mobilisierten. Sein zweiter Vorstoß: Waldbesitzende mit mindestens drei Hektar, die nicht zufrieden mit ihren Jägern sind, sollten die Möglichkeit bekommen, temporär auf ihren Flächen selbst zu jagen oder jagen zu lassen. Zudem sollten sie sich zusammentun können, um die 75 Hektar für die Eigenjagd zu erreichen, um dann selber jagen zu können. Zudem sollte die Dauer zukünftiger Pachtverträge mit den Jägern auf fünf Jahre begrenzt werden, damit ein Jägerwechsel schneller möglich ist, wenn die Zusammenarbeit nicht klappt. Das Gesetz würde nicht dazu führen, dass Spaziergänger laufend auf ballernde Kleinwaldbesitzer stoßen. Denn überall dort, wo die Zusammenarbeit mit den Jägern in den Jagdgenossenschaften funktioniert, würde gar nichts geschehen. Überall dort, wo Waldbesitzende sich nicht für den Zustand ihres Waldes interessieren – und das sind nicht wenige – würde ebenfalls nichts passieren. Lediglich in einigen Regionen würden Waldbesitzende Jäger beauftragen oder selbst jagen. Bekämpft 7 Vgl. Maike Rademaker, Welche Rolle die Jagd beim Waldumbau spielt, www.deutschlandfunk.de, 2.9.2022.

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20 Kommentare wurde der Vorstoß auch nicht deswegen, sondern weil er für alle anderen Bundesländer, die das brandenburgische Vorhaben interessiert beobachten, einen Präzedenzfall schaffen würde. Das Vorhaben wäre ein Angriff auf das Herz des alten Jagdsystems. Entsprechend geharnischt wehrten sich die traditionellen Jäger – und sind bislang erfolgreich. Da hilft es auch nicht, dass sich in seltener Einigkeit Brandenburger Naturschutz- und Waldverbände öffentlich hinter diesen Entwurf stellten. Somit steht diese Novelle – Stand Mitte April – vor dem Scheitern, offiziell an der mitregierenden CDU. Man fürchte eine nicht mehr kontrollierbare Zahl an Jägern in den Wäldern, hieß es vom Fraktionschef. Deutscher Jagdverband: Bremser des Waldumbaus Fest steht: Die schärfsten Gegner von mehr Freiheit für die Waldbesitzenden sind die Funktionäre des Deutschen Jagdverbandes. Gegen eine Wildreduktion führen sie traditionell viele Argumente an. Schuld an Monokulturen seien nicht die Rehe, sondern die forstbaulichen Fehler der Vergangenheit: Nach dem Zweiten Weltkrieg sei mit Nadelbäumen aufgeforstet worden. Mit dem politischen Sparkurs sei zudem zu viel Forstpersonal eingespart worden, Personal, das nun fehle, um Bäume vor Verbiss zu schützen. Hinter dem Ruf nach mehr Abschuss stünden nur die gierigen Waldbesitzer, die schöne grade Bäume wollten, weil sie sonst kein Geld verdienten. Schuld sei die Landwirtschaft, die keine Wiesen übrig ließe für die Tiere. Und Ziel aller Waldfreunde sei die brutale Ausrottung von Reh, Hirsch und Damwild. Außerdem brauche das Reh Platz, man könne es nicht auf nur drei Hektar jagen. Kurzum: Waldumbau mit dem Gewehr funktioniere nicht. Sie fordern: Die Bäume müssten eben geschützt werden – koste es, was es wolle. Zahlen

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sollen das die Waldbesitzenden. Doch ein Zaun kostet schnell mehrere tausend Euro. Viele dieser Argumente enthalten einen wahren Kern. Tatsächlich fehlt es an Personal im Wald, an allen Ecken und Enden. Tausende Waldbesitzer kümmern sich nicht ausreichend um ihren Wald. Und ja, für das Tiny House, den schönen Tisch, die Verschalungen am Bau braucht es entsprechend gewachsenes Holz. Doch alle Argumente erklären nicht, warum da, wo das Engagement da ist und waldfreundlich gejagt wird, der gewünschte Mischwald nachwächst – und zwar ohne jede Schutzmaßnahme. Ein Wald, der übrigens, sobald die Bäume größer sind, wieder mehr Wild erlaubt. Wie bei Immenstadt im Oberallgäu. Die Stadt orientierte sich um, die Fläche war groß genug. Und die Waldverjüngung setzte nach deutlicher Reduktion der Rehe „rascher ein, als es langjährige Mitarbeiter im Stadtforst erwartet hatten“. Dafür erhielt der Ort den Staatspreis für vorbildliche Waldbewirtschaftung.8 Und wenn der Brandenburger Vorstoß scheiter? Im November vergangenen Jahres startete das neueste Waldförderprogramm des Bundes, diesmal mit 900 Mio. Euro bis 2026. Es soll vor allem der Klimaanpassung der Wälder dienen. Im Vordergrund steht die Naturverjüngung, die ersten 200 Mio. Euro sind bereits abgerufen. Doch nach dem aktuellen Stand der Dinge wird das Geld nicht in die Jagd, sondern viel zu oft in Zäune fließen. Dabei braucht es für den dringend notwendigen Umbau der Wälder nicht nur Geld, sondern auch Jäger – und ein modernes Jagdsystem, das Wald und Wild zusammendenkt und Waldbesitzenden ermöglicht, ihren Wald in Zusammenarbeit mit Jagenden ohne Schutzmaßnahmen umzubauen. Und das so schnell wie möglich. 8 Vgl. Lösungsansätze im Forst-Jagd-Konflikt, www.jagdverband.de, 2020, S. 48-49.



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Anna Jikhareva

Georgische Träume, georgische Realität „Für eine europäische Zukunft“ steht auf einem riesigen Banner, daneben wehen EU-Flaggen, aber auch georgische und ukrainische Fahnen. Tausende Menschen haben sich am katholischen Ostersonntag auf dem prächtigen Rustaweli-Boulevard im Herzen der georgischen Hauptstadt Tbilissi versammelt.1 Zur Demonstration aufgerufen hatte die Vereinte Nationale Bewegung (ENM) des inhaftierten Ex-Präsidenten Michail Saakaschwili, die größte Oppositionspartei des Landes. Deren Vertreter:innen werfen der Regierung vor, unabhängige Medien zum Schweigen zu bringen und politische Widersacher:innen unrechtmäßig zu inhaftieren. Die Menschen, die am 9. April auf den Platz vor dem Parlamentsgebäude gekommen sind, haben aber auch grundlegendere Sorgen: dass die Regierungspartei Georgischer Traum (KO) die gewünschte Annäherung an Europa blockiert. Die Demonstration zeigt, dass die Unzufriedenheit mit der Politik der Regierung keineswegs verschwunden ist – auch wenn diese zuletzt Zugeständnisse an die Protestbewegung machte. Im Februar hatte eine Umfrage ergeben, dass sich 61 Prozent der Wähler:innen von keiner Partei repräsentiert fühlen. 81 Prozent sprachen sich für Georgiens Integration in die EU aus. Europa ist für viele ein Hoffnungsanker, gerade für die junge Generation des Landes.2 Was im März dann folgte, waren die schlagkräftigsten Protes1 Christy Cooney, Mikheil Saakashvili: Thousands join mass anti-government rally in Georgia, www.bbc.com, 10.4.2023. 2 IRI Georgia Poll Finds Strong Support for EU Membership, Disapproval of Russian Presence, Distrust in Political Parties, www.iri.org, 7.11.2022.

te seit Jahren. Zehntausende wollten die neueste autoritäre Entgleisung der Herrschenden nicht mehr hinnehmen. Was war passiert? Anlass für den Unmut war ein umstrittener Gesetzesentwurf der Regierungspartei. Bei Annahme wären alle NGOs und Medien, die mehr als ein Fünftel ihres Geldes aus dem – meist westlichen – Ausland erhalten, als „ausländische Agenten“ eingestuft worden. Die Regierung argumentierte mit Transparenzbestrebungen, sah aber beispielsweise keinerlei Transparenzpflicht bei einheimischen Geldgeber:innen vor – die Protestierenden wiederum betrachteten die Maßnahme als ein Instrument, um unliebsame Organisationen mundtot machen zu können. Mit derselben Praxis hat das Putin-Regime in Russland schon vor Jahren die Basis für seine heutige Diktatur gelegt. Es war deshalb nicht erstaunlich, dass gerade auch jene Russ:innen, die jüngst in Georgien Zuflucht gesucht hatten, zum Widerstand gegen die Pläne aufriefen. Tage voller Wut „Nach Bekanntwerden der Pläne folgten Tage voller Wut: Tränengas und Wasserwerfer, mehr als hundert Festnahmen und Dutzende verletzte Demonstrant:innen. Schließlich blieb der Regierung nichts anderes übrig, als sich geschlagen zu geben – vorerst zumindest: Sie rückte von ihrem Vorhaben ab. Kurz darauf machte auch das Parlament, in dem die KO in der Mehrheit ist und das ohnehin nur eine beschränkte Macht hat, in der vielleicht kürzesten Sitzung seiner Geschichte

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22 Kommentare eine Kehrtwende: In zweiter Lesung verwarf es den Entwurf für das „Agentengesetz“. Dass das Vorhaben abgewendet werden konnte, ist ein Erfolg der georgischen Gesellschaft, die die Regierung mit ihrem Widerstand zum Einlenken gezwungen hat. Gelungen war dies der Bewegung durch breite Unterstützung – von der Opposition über Künstler:innen und Sportler:innen bis hin zu Staatspräsidentin Salome Surabischwili. Beobachter:innen zogen bereits Vergleiche mit dem Euromaidan in der Ukraine, der sogenannten Revolution der Würde 2013/14.3 Mit dem Rückzug des Gesetzentwurfs versuchte die Regierung, ihre Macht zu erhalten. Ein taktischer Rückzieher, um sich nicht vollends zu diskreditieren – auch im Hinblick auf die Parlamentswahl im kommenden Jahr. Das Vertrauen der Protestierenden dürfte sie mit dem Schachzug indes kaum wiedererlangt haben. Oder, wie es der 19jährige Student David Sechniaschwili gegenüber der „Zeit“ ausdrückte: „Die Schlacht haben wir vielleicht gewonnen, aber der Krieg steht uns noch bevor.“4 Saakaschwilis tragisches Schicksal Seit Georgien im April 1991 nach einem Referendum seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärte, haben sich die Georgier:innen immer wieder erfolgreich gegen ihre Führung gewehrt. 2003 stürzten sie in der sogenannten Rosenrevolution die Regierung von Eduard Schewardnadse, die sie des Wahlbetrugs bezichtigten. Doch auch die oppositionelle ENM, die mit dem schillernden Michail Saakaschwili an der Spitze die Macht übernahm, bekam rasch den Unmut der 3 Claudia Palazzo, Georgians Take to the Streets in Their Own Euromaidan, www.kyivpost. com, 9.3.2023. 4 Simone Brunner, „Der Krieg steht uns noch bevor“, www.zeit.de, 19.3.2023.

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Bevölkerung zu spüren. Saakaschwili, der in den USA zum Juristen ausgebildet worden war, versprach radikale Reformen des Justiz- und Polizeiapparats und ein Ende der Korruption. Während viele Georgier:innen ihre Hoffnung in ihn setzten, galt er den Linken im Land stets als „prowestlicher Vater des georgischen Neoliberalismus“.5 Mit der Zeit regierte aber auch Saakaschwili immer autoritärer – bis dessen Partei 2012 über geleakte Videos gefolterter Gefängnisinsassen stolperte und die Wahl verlor.6 Die absolute Mehrheit erreichte damals der Georgische Traum – frisch gegründet, um Saakaschwili zu schlagen. Nach seiner Abwahl ging dieser ins Exil, später berief ihn der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko zum Berater. Saakaschwili erhielt die ukrainische Staatsbürgerschaft und wurde zum Gouverneur der Oblast Odessa ernannt. Die neoliberalen Reformen, die er schon in Georgien umgesetzt hatte, sollten nun auch auf der anderen Seite des Schwarzen Meers ihre Anwendung finden. Es dauerte allerdings nicht lange, bis sich der neue Gouverneur mit Poroschenko überwarf: Er beschuldigte den Mann, der ihn eingestellt hatte, der Korruption und musste seinen Posten in der stolzen Hafenstadt wieder räumen. 2018 wurde er in seiner Heimat in Abwesenheit wegen Machtmissbrauchs zu sechs Jahren Haft verurteilt – seine Unterstützer:innen vermuten ein politisch motiviertes Urteil. Als Saakaschwili 2021 überraschend nach Tbilissi zurückkehrte, wurde er umgehend festgenommen. Seither sitzt er im Gefängnis, wo er mehrfach Misshandlungen und Schlafentzug beklagte, immer wieder ist er aus Protest gegen die schlechten Haftbedingungen 5 Sopiko Japaridze, Georgia’s Clownish Mikheil Saakashvili is the Perfect Embodiment of Post-Soviet Capitalism, www.jacobin.com, 14.10.2020. 6 Folter-Videos erschüttern Georgien, www.dw. com, 19.9.2012.

in den Hungerstreik getreten. Ende letzten Jahres gab ein Arzt zu Protokoll, Saakaschwili sei mit Schwermetallen vergiftet worden. 7 „Freiheit für Mischa“: Dieser Slogan war am Ostersonntag auf dem Rustaweli-Boulevard häufig zu hören.8 Mehrfach hatte sich der Inhaftierte zuletzt aus dem Gefängnis medial zu Wort gemeldet: „Ich bin ein politischer Gefangener und ich sterbe“, schrieb er etwa.9 Im Februar nahm das Europaparlament mit großer Mehrheit eine Resolution an, in der Saakaschwilis Festnahme als „persönliche Vendetta“ verurteilt wird. Die Abgeordneten riefen zu seiner unverzüglichen Freilassung auf.10 Geschehen ist seither nicht viel – außer, dass sich der Gesundheitszustand des Ex-Präsidenten immer weiter verschlechtert. Das tragische Schicksal von Michail Saakaschwili hat nicht zuletzt auch mit der langjährigen persönlichen Rivalität zu einer anderen starken Figur der georgischen Politik zu tun: dem Milliardär und Gründer des Georgischen Traums, Bidsina Iwanischwili, der in der Partei bis heute im Hintergrund die Fäden zieht. Reich geworden ist er inmitten der Privatisierungswelle der 1990er Jahre mit Rohstoffgeschäften in Russland. Später tauchten seine Offshorekonten auf den Virgin Islands im Steueroasen-Leak „Pandora Papers“ auf.11 Während Saakaschwilis ENM als proeuropäisch gilt, wird Iwanischwili der als russlandfreundlich eingestufte Kurs der aktuellen Regierung zugeschrieben. Ein Befund, der umstritten 7 Georgia’s Ex-Leader Saakashvili „Poisoned“ In Prison, Doctors Say, www.rferl.com, 5.12.2022. 8 Tausende protestieren gegen Regierung in Tiflis, www.dw.com, 9.4.2023. 9 Michail Saakaschwili, I am a political prisoner in Georgia, and I am dying, www.politico.eu, 7.4.2023. 10 Parliament urges Georgia to pardon and release Ex-President Mikheil Saakashvili, www. europarl.europa.eu, 15.2.2023. 11 Vgl. Former Prime Minister Bidzina Ivanishvili, https://projects.icij.org/investigations/ pandora-papers.

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ist – nicht von der Hand zu weisen ist hingegen, dass die Führung Appeasementpolitik gegenüber Russland betreibt. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hält sie sich mit Kritik am Kreml auffallend zurück. Auch den internationalen Sanktionen gegen Russland hat sich Georgien nicht angeschlossen. Gleichzeitig ist die Solidarität der Georgier:innen mit den Angegriffenen groß, auch, weil viele Menschen im Land befürchten, dem Imperialismus des großen Nachbarn als Nächste zum Opfer zu fallen. Schließlich hat niemand den Kaukasuskrieg im Sommer 2008 vergessen: Seither hält Moskau 20 Prozent des georgischen Territoriums besetzt. Der Georgische Traum kam im Nachgang des Kriegs an die Macht. Und wieder einmal weckte eine neue Regierung die Hoffnung der Menschen auf Demokratisierung. Zwar versprach sie anfangs umfassende Sozialprogramme, doch im Laufe der Zeit agierte auch diese Führung immer autoritärer, setzte die Opposition und kritische Medien unter Druck, kürzte aber auch die Sozialausgaben und privatisierte das Rentensystem. Der »repetitive Charakter« georgischer Politik Der US-Historiker Stephen Jones, der das Georgienprogramm in Harvard leitet, spricht vor dem Hintergrund dieses historischen Kontinuums vom „repetitiven Charakter“ georgischer Politik.12 „Neue Regierungen kommen mit Reformversprechen an die Macht – und enden mit verzweifelten Versuchen, an der Macht zu bleiben.“ Laut Jones kehren sie jeweils rasch zur Norm zurück: „eine dominante Partei, die die Ressourcen des Staates, Unternehmen und die Justiz nutzt, um ihre Bürger zu kontrollieren“. Echter Wandel könne erst 12 Stephen Jones, Natalie Sabanadze, Elections are not enough: Georgia needs a new model of democracy, www.eurasianet.org, 10.3.2023.

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24 Kommentare entstehen, wenn anstatt der aus dem Westen importierten politischen Institutionen, die nicht in der Lage seien, die Macht lokaler Eliten zu beschränken, ein neues Modell entstünde. Dass dies bisher nicht geschehen ist, hat aber nicht nur mit den schwachen Institutionen zu tun, sondern auch mit dem westlichen Blick auf einen Raum, auf den seit dem Ende des Kalten Kriegs ein binäres Weltbild projiziert wird: Liberale Medien und Politiker:innen reduzieren die Ereignisse in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion gerne auf eine unterkomplexe Dichotomie zwischen proeuropäischer, demokratischer Bewegung und autoritärer, prorussischer Regierung. Indem praktisch jedes innenpolitische Anliegen geopolitisch aufgeladen wird, bleibt die Analyse meist verkürzt. Viel stärker aber als ideologische Verortungen zwischen Ost und West prägen handfeste ökonomische Gegensätze die Realität – jene zwischen der Hauptstadt und der Peripherie ebenso wie jene zwischen Arm und Reich. Das heißt jedoch nicht, dass sich nicht viele Georgier:innen von der Annäherung an die EU einen positiven Aufbruch versprächen. Bereits vergangenen Sommer kam es aus diesem Grund zu großen Protesten. Anlass war damals eine Entscheidung aus Brüssel: Während die Ukraine und die Republik Moldau den Status von Beitrittskandidaten erhielten, wurde Georgien mit einer „europäischen Perspektive“ abgespeist – unter anderem mit Verweis auf die politische Polarisierung sowie die große Macht von Oligarchen wie Iwanischwili. Als „Hausaufgabe“ erhielt die Regierung einen Zwölfpunkteplan, von dessen Umsetzung die Chancen auf den Kandidatenstatus abhängen würden. Gerade viele junge Georgier:innen waren vom Verdikt der EU schwer enttäuscht: Sie empfanden es als ungerecht, für die Versäumnisse ihrer Führung büßen zu müssen. Die Proteste im März fielen auch deshalb so heftig aus, weil viele befürchteten,

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ihre Hoffnung auf einen EU-Beitritt bei Annahme des „Agentengesetzes“ endgültig begraben zu müssen. Das Fehlen einer progressiven Kraft Doch welche politischen Perspektiven ergeben sich aus den Protesten? Wenn in Georgien nächstes Jahr gewählt wird, steht zu befürchten, dass sich die Geschichte einmal mehr wiederholt: Die Opposition gewinnt – ohne dass sich grundsätzlich etwas ändert. Dies hat auch mit der Abwesenheit einer progressiven Kraft zu tun, die für tatsächlichen Wandel stünde. Die Programme der dominierenden Parteien charakterisiert die Gewerkschafterin Sopiko Japaridze so: Diese seien geprägt durch „verschiedene Schattierungen von rechts, Neoliberalismus und einen prowestlichen Kurs“. 13 Die Perspektiven werden allerdings auch wesentlich von den Signalen aus Brüssel abhängen. Im Dezember entscheidet die EU-Kommission, ob Georgien genug Fortschritte gemacht hat, um endlich den versprochenen Status eines Beitrittskandidaten zu erhalten. „Das ist ein historischer Moment – und wenn wir diesen nicht nutzen, wissen wir nicht, wann sich das Fenster wieder öffnet“, sagt der Student Giorgi Ekaladze, der die Proteste im März mitorganisiert hat, dem „Guardian“.14 Wie wahrscheinlich ein Schritt in Richtung EU ist, wird aber nicht nur von der Politik des Georgischen Traums abhängen, sondern auch von dessen Umgang mit politischen Kontrahent:innen wie Saakaschwili. Bleibt die Partei so repressiv wie bisher, dürften die Träume vieler Georgier:innen an den Realitäten zerschellen und die Türen der EU bis auf Weiteres verschlossen bleiben. 13 Sopiko Japaridze, Sovereignty, foreign influence, and the search for the Georgian dream, www.lefteast.org, 10. 4.2023. 14 Shaun Walker, Gaunt and ghostly, Georgia’s jailed ex-president nears death in hospital, www.guardian.co.uk, 16. 4.2023.



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Kaki Bali

Wut und Resignation: Griechenland vor der Wahl Die politische Landschaft in Griechenland wirkt wenige Tage vor der Wahl am 21. Mai wie Treibsand. In der Gesellschaft dominieren Wut und Unsicherheit, aber auch Desillusionierung und Fatalismus. Als ob ein großer Teil des Wahlvolkes überzeugt wäre, dass sich sowieso nicht viel ändern wird. Nach zwölf Jahren Krisen ohne Pause – Wirtschaftskrise, Schuldenkrise, Flüchtlingskrise, Coronakrise, Energiekrise – steckt die Müdigkeit den Menschen in den Knochen. Und Hoffnung ist zum raren Gut geworden.  Nur ein knappes Drittel der Bevölkerung zeigt sich mit dem tatsächlichen Funktionieren der Demokratie in Griechenland zufrieden. Alle wichtigen Institutionen genießen nur ein geringes Maß an Vertrauen. So sprechen in einer aktuellen Umfrage jeweils rund 69 Prozent der Griechinnen und Griechen der Justiz und dem Parlament ihr Misstrauen aus.1 Die meisten Befragten sind zudem unzufrieden mit ihrer individuellen Finanzlage und glauben nicht an eine baldige Besserung. Das verbreitete Gefühl der Unsicherheit begünstigt die amtierende konservative Regierung, die Wut hingegen die Oppositionsparteien, kann aber auch zur Stimmenthaltung führen. Angesichts dessen könnte am Ende sogar eine erneute Wahl nötig sein, bis die Regierung im Amt sein wird. Fest steht: Heute sind die Wähler überwiegend nicht mehr von den Fähigkeiten der Nea-Dimokratia-Regierung unter Kyriakos Mitsotakis überzeugt. Die ND ist ideologisch vielfältig, 1 Studie von Eteron, März 2023.

die „Partei Europas“ schlechthin – und die Partei der finanziell Zufriedenen. Sie repräsentiert wirtschaftsliberale Ideen im Land, kombiniert mit starken Elementen des kulturellen Konservatismus. Die von ihr geführte Regierung präsentierte sich bei ihrem Amtsantritt 2019 als „fähige Managerin“ und versuchte, das Gefühl einer Rückkehr zur „Normalität“ zu verbreiten. Sie schaffte es auch, Investoren nach Griechenland zu holen, die Digitalisierung voranzutreiben und eine heiße Auseinandersetzung mit dem Nachbarn Türkei zu vermeiden. Dazu konnte sie viel Geld aus den EU-Unterstützungsprogrammen für die Pandemie und die hohen Energiepreise verteilen. Doch während der Pandemie, der Waldbrandkatastrophen von 2021 sowie der Energie- und Inflationskrise stieß sie auf starke Kritik.  Gleichzeitig schaffte sie es, mit Hilfe der extrem regierungsfreundlichen Medien einen riesigen Abhörskandal, der vor einem Jahr öffentlich wurde, kleinzureden. Auch gut zwölf Monate nach der Enthüllung weiß man daher immer noch nicht, wieso Nikos Androulakis, der Vorsitzende der sozialdemokratischen Pasok, sowie mehrere Journalisten, Politiker und Generäle vom griechischen Geheimdienst EYP und/oder durch die Spyware „Predator“ abgehört wurden. Mittlerweile glaubt niemand mehr an eine baldige Aufklärung der Abhöraffäre, trotz des Drucks seitens des Europaparlaments. Ohnehin hat man in Griechenland immer schlechte Erfahrungen mit der (Nicht-)Aufarbeitung von Affären gemacht – ein Grund, warum das Ver-

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26 Kommentare trauen in den Staat und seine Institutionen so gering ist.  Diese Abhöraffäre aber machte auch dem liberalen Wählerklientel klar, dass der sich gerne liberal gebende Regierungschef Mitsotakis nicht viel Respekt gegenüber dem Rechtsstaat zeigt. Dieses Publikum – Wähler der Mitte und sogar ehemalige Mitte-links-Wähler – hat stets Mitsotakis persönlich unterstützt, nicht seine ND. Mitsotakis galt ihnen als „Retter des Landes vor der gefährlichen populistischen Linken von Syriza“. Dieses Publikum mit seinem großen Einfluss in den Medien stellte die fanatischsten Unterstützer von Mitsotakis – und ein Teil davon ist jetzt enttäuscht.   Begrenzte Erwartungen an die Opposition Für die Mehrheit der Wähler ist die Abhöraffäre jedoch nicht das größte Problem. Sie haben nach wie vor tagtäglich mit der schwierigen wirtschaftlichen Situation zu kämpfen und hatten sich gerade in dieser Hinsicht von Mitsotakis Regierung deutlich mehr versprochen. Gleichzeitig erwarten sie aber auch keine Wunder mehr von Syriza, der größten Oppositionspartei, die 2015 noch die Trägerin einer großen Hoffnung war. Heute vertritt die Partei überwiegend finanziell unzufriedene und kulturell offene Wähler. Doch jenseits ihrer Anhängerschaft sind die Erinnerungen  an die schwere Zeit, an die Unsicherheit und an die Fehler der Regierung unter Alexis Tsipras von 2015 bis 2019 immer noch frisch. Und sie werden sehr professionell von den extrem Syriza-feindlichen Medien wachgehalten. Dazu kommt, dass die Oppositionsarbeit, die Syriza seit 2019 geleistet hat, nicht besonders überzeugend ist, weder für die linke Wählerschaft noch für die Wähler der Mitte, die Tsipras für seine Partei zu gewinnen versucht. Erst seit einigen Wochen befindet sich die ehemals

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linksradikale und heute fast sozialdemokratische Partei im Wahlkampfmodus, mit einem neuen Programm unter dem Motto „Gerechtigkeit für alle“ – und mit dem erklärten Ziel, nach den Wahlen eine „progressive Koalition“ anzuführen. Doch in allen Umfragen hat die ND einen mehr oder weniger knappen Vorsprung und kann mit etwa einem Drittel der Stimmen rechnen, Syriza hingegen mit einem Viertel oder mehr. Dahinter folgen mit einigem Abstand die sozialdemokratische Pasok, die kommunistische KKE und MeRA25, die Partei des ehemaligen Finanzministers Yanis Varoufakis. Auch zwei rechte Kräfte haben Chancen, die Dreiprozenthürde zu überspringen: Elliniki Lysi („Griechische Lösung“), die Ähnlichkeiten mit der AfD aufweist, und Ellines gia tin Patrida („Griechen für die Heimat“), die Nachfolgerin der verbotenen Neonazi-Partei „Goldene Morgenröte“. Nationalismus, Immigrationsfeindschaft, allgemeine Systemgegnerschaft, großes Misstrauen gegenüber der EU, starker kulturelle Konservatismus und antidemokratische Kerne finden sich sowohl in der Wählerschaft der Elliniki Lysi als auch bei den Nachfolgern der Goldenen Morgenröte. Die Anhänger der Elliniki Lysi sind jedoch ideologisch deutlich weniger homogen, während die Wählerschaft der Neonazi-Nachfolger deutlich nationalistischer und antidemokratischer orientiert ist. Wenn die Umfragen nicht falsch liegen – was öfter vorgekommen ist in den letzten Jahren und immer zulasten von Syriza – wird die Regierungsbildung schwer bis unmöglich. Das gilt insbesondere für die Konservativen, denen es als voraussichtlich stärkster Kraft an Koalitionspartnern mangeln dürfte. Mitsotakis will daher zu einem Trick greifen, den ihm eine Besonderheit des griechischen Wahlrechts ermöglicht. Bei der Wahl am 21. Mai gibt es erstmals keinen Bonus für die stärkste Partei; die Syriza-Regierung hatte

diese umstrittene Regelung abgeschafft. Doch hat die ND diesen Bonus postwendend wieder eingeführt: Bei Neuwahlen, die schon am 2. Juli abgehalten werden könnten, darf sich die stärkste Kraft wieder auf bis zu 50 zusätzliche Mandate freuen – von insgesamt 300 Sitzen im griechischen Parlament. Mitsotakis, der allein weiterregieren will, hofft daher, dass im Mai keine Koalition zustande kommt. Ganz offen strebt er schon jetzt einen zweiten Urnengang an.  Seine Rechnung geht so: Wenn die ND am 2. Juli stärkste Kraft wird und mindestens 38 Prozent erhält, dann kann sie dank des Siegerbonus im Parlament auf die absolute Mehrheit kommen. Sollte es dennoch wieder nicht für die absolute Mehrheit reichen, würden die Konservativen auch noch ein drittes Mal wählen lassen – stets in der Hoffnung, dass die Angst der Bürger vor der Unregierbarkeit des Landes sie zur Stimmabgabe für die ND treibt. Mitsotakis hat dabei zwei Trümpfe in petto: Erstens gibt es in Griechenland keine Koalitionskultur. Und zweitens ist es möglich, dass die kleineren Parteien beim zweiten Urnengang angesichts der dann zu erwartenden Polarisierung zwischen ND und Syriza zerrieben werden. Eine progressive Koalition? Es gibt aber ein zweites Szenario, denn mathematisch ist laut den Umfragen schon nach der ersten Wahl die Bildung einer Koalition gegen die ND möglich. Syriza jedenfalls scheint entschlossen, eine sogenannte progressive Koalition zu schmieden, mit den Sozialdemokraten der Pasok und Varoufakis‘ MeRA25. Auch die Kommunisten hätte Syriza gerne dabei, doch die KKE will auf keinen Fall regieren und wartet lieber auf die Revolution.  Im Gegensatz zu Mitsotakis hat Alexis Tsipras Erfahrung mit dem Führen von Koalitionen. Von 2015 bis 2019

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regierte er mit der inzwischen in der Bedeutungslosigkeit verschwundenen rechtspopulistischen Partei Unabhängige Griechen (ANEL). Die ideologischen Unterschiede zwischen den damaligen Partnern waren riesig, dennoch hielt die Koalition über drei Jahre und ging erst nach dem Abkommen mit Nordmazedonien in die Brüche. Demgegenüber sind die ideologischen Unterschiede zwischen Syriza, der sozialpolitisch wieder nach links gerückten Pasok und MeRA25 – die im Grunde eine linkere Version von Syriza ist – überschaubar.  Für eine progressive Koalition spräche auch das Selbstverständnis der Griechinnen und Griechen, die sich mehrheitlich als Mitte-links definieren. Gegen diese Option spricht allerdings die relativ schlechte Chemie zwischen den potentiellen Protagonisten und deren Eitelkeit. Es gibt auch eine dritte Option, die niemand beabsichtigt, die am Ende aber vielleicht als unvermeidbar erscheinen wird: eine Koalition zwischen ND und Pasok wie schon während des Gipfels der Schuldenkrise 2012 bis 2015. Das Mitwirken in dieser Koalition hat die Pasok damals praktisch pulverisiert. Die ehemals starke Partei, die noch 2009 knapp 44 Prozent der Stimmen gewann, fiel  2015 unter fünf Prozent. Dazu kommt, dass PasokChef Androulakis nach der Abhöraffäre kein Vertrauen in Mitsotakis haben kann.  Schließlich unterstand der Geheimdienst, als er den Sozialdemokraten bespitzelte, der politischen Kontrolle durch die Konservativen. Das Echo des Zugunglücks Eine große Rolle in der öffentlichen Diskussion spielt derzeit das schwere Zugunglück bei Tempi Ende Februar, bei dem 57 Menschen starben. Es ist jedoch unklar, wie sich das politisch auswirken wird. Bezeichnend ist eine Umfrage des Forschungsinstituts MRB

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28 Kommentare vom 6. März. Die Demoskopen hatten gefragt: „Wer ist Ihrer Meinung nach hauptsächlich für den Unfall verantwortlich: Die heutige Regierung und alle Regierungen davor? Hauptsächlich die heutige ND-Regierung?  Der Bahnhofsvorsteher?“ Fast jeder zweite Befragte antwortete: „alle Regierungen“. Die heutige Regierung machten 13 Prozent verantwortlich und den Bahnhofsvorsteher knapp neun Prozent.2 Die Wut über dieses gewaltige Zugunglück entlädt sich also gegen alle, die das Land seit der Rückkehr zu Demokratie 1974 regiert haben.  Diese Wut ist zwar immer noch da, aber langsam nimmt sie ab. Mehrere Meinungsforscher sind der Ansicht, dass das Unglück als wahlentscheidendes Kriterium von Woche zu Woche eine immer geringere Rolle spielen wird. Schon bei einer Umfrage kurz vor Ostern zeigte sich, dass Wut weiterhin die vorherrschende Reaktion auf das Unglück darstellt, rund 56 Prozent äußerten sich entsprechend. Doch gleichzeitig nahmen Resignation und Enttäuschung zu, die knapp 43 Prozent empfinden3 – was auf eine größere Stimmenthaltung bei den bevorstehenden Wahlen hindeuten könnte. Schon 2019 betrug die Wahlbeteiligung nur 57 Prozent.  Die Sorgen des Alltags Wenn man die Griechinnen und Griechen fragt, nach welchen Kriterien sie abstimmen werden, wird klar, dass sie die Probleme des Alltags sowie die Ängste und Hoffnungen mit Blick auf die Zukunft am meisten beschäftigen. In allen Umfragen nennen sie als die beiden Hauptprobleme die enorme Teuerungsrate und die wirtschaftliche Lage, gefolgt von Korruption und der Dysfunktionalität des Staates. An die potenziellen Regierungsparteien 2 Umfrage MRB vom 14.3.2023. 3 Umfrage MRB vom 28.3.2023.

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haben die Wähler keine großen Erwartungen: Nur rund 15 Prozent erachten die ND als die beste Lösung für das Land, bloß 13 Prozent denken das über Syriza. Davon könnten die kleineren Parteien profitieren. Absolut unkalkulierbar ist das Wahlverhalten der Neuwählerinnen und Neuwähler. Die 17-, 18- und 19jährigen, die 2019 kein Wahlrecht hatten, werden auf über 420  000 geschätzt. Diese jungen Menschen scheinen am wütendsten über die Tempi-Tragödie zu sein, der überwiegend Studierende zum Opfer fielen. Vielen Jugendlichen diente das Zugunglück daher als Katalysator für ihren Unmut. Gingen sie zunächst gegen das politische Versagen, das hinter dem Unfall steht, auf die Straße, so richtete sich ihr Protest bald gegen Missstände im Bildungsund Gesundheitswesen sowie gegen Korruption und Polizeigewalt. Ihr Motto bei den vielen großen Demonstrationen nach dem Unglück lautete „Our lives matters“. Sie fühlen sich vom Staat und von der Regierung verachtet. Es ist aber unklar, ob dieses Gefühl sie eher zur Protestwahl oder zur Stimmenthaltung treibt. Keine Rolle für diese Wahl spielen hingegen der Klimawandel und die russische Invasion in der Ukraine. Die griechische Öffentlichkeit interessiert sich kaum für diesen Krieg und für die Außenwelt insgesamt, solange das eigene Leben nicht direkt berührt wird. Als Wahlkampfthema könnten allenfalls die gespannten Beziehungen zur Türkei taugen, und bis vor kurzem haben sie eine große Rolle gespielt. Aber nach dem verheerenden Erdbeben im Nachbarland Anfang Februar – und der sofortigen Hilfeleistung seitens der griechischen Gesellschaft und des Staates – ist das Klima zwischen Athen und Ankara entspannt. Denn beide Länder werden oft von Erdbeben heimgesucht, haben Erfahrung mit diesem unfassbaren Leid – und so wirken Katastrophen zum Glück versöhnend zwischen den Erzfeinden.



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Corinna Hauswedell

25 Jahre Belfaster Abkommen: Hält der nordirische Frieden? Meldungen über Bombenanschläge und Straßengewalt in Nordirland sind 25 Jahre nach Abschluss des bemerkenswerten Verhandlungsfriedens im Karfreitagsabkommen (Good Friday Belfast Agreement) selten geworden. Lieber begegnet man mit Neugierde den klugen kulturellen Botschaften von der Insel am westlichen Rand Europas: Da ist der vielfach prämierte Film Belfast aus dem Jahr 2021, in dem Royal-Academy-Regisseur Kenneth Brannagh eine überraschende protestantische Kinderperspektive auf den nordirischen Bürgerkrieg gelingt, die Troubles der späten 1960er Jahre. Oder die gegenwärtig durch unsere Kinos laufende Parabel der Banshees of Inisherin, die vor einer entrückten historischen Kulisse (jener des irischen Bürgerkrieges 1923) meisterhaft und voller Rätsel von Sinn und Unsinn zwischenmenschlicher Fehden erzählt. Die Filme reflektieren und überblenden zugleich eine an Dramen nach wie vor reiche Wirklichkeit: Eine dissidente republikanische Gruppierung namens „Neue IRA“ nutzte den 25. Jahrestag des Abkommens am 10. April dieses Jahres, um Jugendliche in Derry mit Brandsätzen gegen Polizeiwagen zu mobilisieren. Vor zwei Jahren waren es loyalistische Gangs der UDA und UVF gewesen, die den Frust ihrer jugendlichen Anhänger gegen katholische Wohnviertel richteten. Zum Schutz beider Seiten voreinander stehen in vielen Belfaster Arbeitersiedlungen bis heute mehr als 30 Kilometer sogenannter Peace Lines, meterhohe Mauern aus Beton und Stacheldraht; einige sind sogar erst nach dem

Abkommen entstanden. Die Debatten über ihren Abbau bleiben zäh, die nordirische Gesellschaft ist immer noch tief gespalten, der Frieden kalt. Die Nachwehen des Brexit Das zeigt sich auch in der nordirischen Politik. Seit über einem Jahr blockiert die radikalunionistische DUP die Regierungsbildung in Belfast. Sie hatte bei den Regionalwahlen im Mai 2022 erstmals ihre Position als stärkste Partei Nordirlands an die republikanische Sinn Féin abtreten müssen. Ihre Verweigerung gegenüber dem Wählerwillen begründet die DUP mit dem sogenannten Nordirland-Protokoll, einer Sonderregelung des Brexit-Vertrages, die die hybride, nun zwischen den beiden Ökonomien Großbritanniens und der EU angesiedelte Position Nordirlands geschmeidiger machen sollte. Drei britische Premierminister hatten sich binnen eines Jahres (auch) an dieser Frage verschlissen; die Nerven zwischen London einerseits und Dublin sowie Brüssel andererseits wurden wund gerieben.1 Doch der neue britische Premier Rishi Sunak und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verabredeten am 27. Februar im Windsor Framework 2 eine Lockerung und Vereinfachung des Warenverkehrs: zwei verschiedene Korri1 Vgl. auch Matthias Eickhoff, Chaos in London: Schottland und Irland in der Sackgasse, in: „Blätter“, 12/2022, S. 25-29. 2 The Windsor Framework: a new way forward for the Protocol on Ireland/Northern Ireland, www.ec.europa.eu, 27.2.2023.

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30 Kommentare dore für britische Waren, die entweder für Nordirland oder für die Republik Irland bzw. die EU bestimmt sind. Und als dies im März mit großer Mehrheit vom britischen Parlament und dem Europäischen Rat angenommen wurde, wuchs die Hoffnung, dass ein pragmatischer Kompromiss für Nordirland gefunden und die tiefe Verunsicherung durch den Brexit abgemildert war.3 Die Bindungswirkung des Friedensabkommens von 1998, und hier vor allem das Gebot, keine harte (Zoll-)Grenze zwischen dem Norden und dem Süden der irischen Insel mehr zuzulassen, ist eine von drei Selbstverpflichtungen des Windsor-Dokuments. Aber die DUP will dem bisher nicht zustimmen, erlaubt sich eine Prüfung auf unbestimmte Zeit. Der auch für viele nordirische Unternehmen offensichtliche ökonomische Nutzen, künftig in zwei Binnenmärkten operieren zu können, scheint dem DUP-Chef Jeffrey Donaldson nicht auszureichen, um seine im Rückwärtsmodus verharrende Basis mitzunehmen.

Und so blieb der Belfaster Parlamentssitz Stormont verwaist, als US-Präsident Joe Biden zwischen dem 11. und 14. April zunächst nach Nordirland, dann nach Dublin sowie in das westirische County Mayo reiste, wo Biden familiäre Wurzeln hat. Das Signal der spektakulären Visite war klar: Der etwas in die Jahre gekommene transatlantische Schutzpatron möchte, dass der damals mit großem Vermittlungseinsatz des US-Senators George Mitchell erreichte Deal als Erfolgsgeschichte für Nordirland, die USA und die unfriedliche Welt nicht verloren geht: „Keep the Peace“. Biden soll im Vorfeld des Besuches energisch darauf gedrungen haben, dass das Wind-

sor-Dokument zur Relativierung der Härten des Brexit für Irland zustande kommt und die Zustimmung aller findet. In einer Art Sprechzettel für seinen Nach-Nachfolger hatte Ex-Präsident Bill Clinton in der „Washington Post“ vom 9. April vier Gründe genannt, warum der Friedensschluss in Nordirland vor 25 Jahren möglich wurde und erhaltenswert sei: die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung nach 30 Jahren Gewalt, der Mut und die Kompromissbereitschaft der politischen Führungen als Voraussetzung für Vertrauensbildung, die besondere Vermittlerrolle der USA als Land mit großer irischer Diaspora und schließlich die Konstruktion des Abkommens selbst mit dem Schutz von sozialen und Bürgerrechten, der Abrüstung paramilitärischer Gruppen, den Prinzipien von Inklusion und Konsens, die ihren Ausdruck in dem „oft frustrierenden“ Gebot zur Machtteilung im Belfaster Regionalparlament gefunden hätten.4 Es ist dieser Zwang zur Zusammenarbeit, das Recht zum Veto jeder der beiden großen Konfliktparteien, das zu Beginn des Friedens unabdingbar für Inklusivität erschien, aber seither auch mehrfach für längere Perioden der Abstinenz von der Regierungsverantwortung genutzt wurde, von den Unionisten ebenso wie von den Republikanern. Drängende Reformen zur Verbesserung der maroden Infrastrukturen, im Gesundheitssektor oder im Bildungswesen, blieben liegen. Die Konkordanzdemokratie bleibt eine von mehreren Ambivalenzen in der Logik des Belfaster Abkommens. Der Preis: eine immer wieder gelähmte Exekutive zulasten der Bürgerinnen und Bürger. Auch deshalb plädierte der Ex-Präsident der Sinn Féin, Gerry Adams, dafür, der DUP genügend Raum zu geben, um möglichst bald in die Insti-

3 Vgl. Corinna Hauswedell, Nordirland und Brexit: Fragiler Frieden in Gefahr, in: „Blätter“, 6/2018, S. 77-84.

4 Bill Clinton, Why has peace endured in Northern Ireland? Hope and history rhymed, in: „The Washington Post“, 9.4.2023.

»Reparatur«-Angebot von Joe Biden

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tutionen in Stormont zurückkehren zu können. Der entstandene Schaden sei „reparabel“ im Falle künftiger Zusammenarbeit.5 „Times of repair“ – das Motto in der Belfaster Rede Joe Bidens klang ähnlich und mag Geltung auch für andere Weltregionen haben, wo die US-Führung gegenwärtig weniger eindeutig mit Frieden identifiziert wird. Der US-Präsident versprach mehrere Milliarden Dollar an neuen Investitionen von US-Firmen in Nordirland, wenn die Regionalregierung wieder in Gang komme: Frieden soll sich lohnen – für alle Seiten. Die Blöcke schmelzen Im Süden der Insel hat indessen ein vorsichtiges Ausloten begonnen, welche Unterstützung eine mögliche Revision des Karfreitagsabkommens in einigen kritischen Punkten erfahren könnte.6 Bertie Ahern, der ehemalige Premierminister Irlands und einer der Architekten des Belfaster Abkommens, der im Zuge der Finanzkrise in einem Bestechungsskandal verschwand und inzwischen eine Rehabilitierung in seiner Partei Fianna Fáil erfährt, plädiert für Änderungen bei der Machtteilung, allerdings erst, wenn die DUP wieder in die Regierung eintritt.7 Der Hintergrund ist, dass die eindeutige Zuordnung der nordirischen Parteien als entweder „unionistisch“, „nationalistisch“ oder „andere“, die der Machtteilungsverpflichtung der beiden „Großen“ zugrundeliegt, mehr und mehr aus der Zeit zu fallen scheint. Als bahnbrechend wurden in dieser Hinsicht die Ergebnis5 Jonathan McCambridge, Gerry Adams says DUP needs space to make up its mind on Stormont return, www.belfastlive.co.uk, 3.4.2023. 6 Der angesehene Kolumnist der „Irish Times“ Fintan O’Toole spricht in einem Interview mit seiner Zeitung am 7.April 2023 sogar von „radical revisions“. 7 Lisa O’Carroll, Bertie Ahern backs review of Good Friday agreement if DUP returns to Stormont, www.theguardian.com, 6.4.2023.

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se des Zensus von 2021 bezeichnet, die erst im Spätsommer 2022 ausführlicher analysiert wurden:8 Zum ersten Mal haben zwar die Katholiken (45,7 Prozent) die Protestanten (43,5 Prozent) demografisch überholt, aber keine der beiden Gruppen hat eine Mehrheit und die Säkularisierung schreitet voran: 17,4 Prozent der Nordirinnen und Nordiren ordnen sich keiner Religionsgemeinschaft zu. Deutlicher noch fallen die Veränderungen bei den nationalen Identitäten aus: Ausschließlich als „britisch“ bezeichnen sich nur noch 31,9 Prozent, also weniger als ein Drittel – enttäuschend für alle Unionisten. Diejenigen, die eine ausschließlich „irische Identität“ beanspruchen, sind zwar von 25 auf 29 Prozent angewachsen, damit aber immer noch weniger als viele Nationalisten nach dem Brexit erwartet hatten und als für die Realisierung des Traums von der irischen Wiedervereinigung hilfreich wäre. Den größten Zuwachs verbuchen die „hybriden Identitäten“ derer, die sich irisch und zugleich britisch sowie zunehmend auch als „nordirisch“ bezeichnen. Sie bewegen sich inzwischen bei etwa 20 Prozent und sind in der jungen Generation, die nach dem Karfreitagsabkommen geboren ist, besonders stark vertreten. In gewisser Hinsicht erfüllt sich hier der Geist des Friedensabkommens, der bewusst das Nebeneinander bzw. die Mischung mehrerer Nationalitäten auch in Gestalt von britischen und irischen Pässen propagierte. Die beiden großen als gefroren geltenden Blöcke schmelzen also, es entsteht deutlich mehr Bewegung in einer blockfreien Mitte.9 Bei den Regionalwahlen vom Mai 2022 haben diese durchaus als seis8 Freya McClements, Northern Ireland set for a long ‚demographic stalemate’, www.irishtimes.com, 22.9.2022. 9 Eine ausführlichere Analyse dieses bemerkenswerten Identitätswandels liefert der Belfaster Konfliktforscher Paul Nolan: Paul Nolan, #Census2021: A first look shows new waves of identity innovation and an ageing society, www.sluggerotoole.com, 22.9.2022.

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32 Kommentare misch zu bezeichnenden Trends ihren Niederschlag gefunden: Die katholisch-republikanische Sinn Féin erhielt 29 Prozent, die protestantisch-unionistische DUP 21 Prozent, die blockfreie Alliance Party 13,5 Prozent und andere, ungebundene Kandidatinnen und Kandidaten 6,7 Prozent.10 Hier kann Spielraum entstehen für neue Koalitionen jenseits der alten Lager, wenn es gilt, den Wählerwillen zu respektieren. Konstruktive Mehrdeutigkeiten? Denkbar werden also Modifikationen im Belfaster Abkommen, die diesen Trends Rechnung tragen – Schritte, die die nordirischen Parteien, unterstützt aus London und Dublin, in Angriff nehmen sollten, bevor das Thema Wiedervereinigung zum Schrecken vieler Unionisten zu sehr in den Vordergrund drängt. Jüngere Umfragen zeigen zudem, dass Referenden (border poll) in Nordirland und Irland, die das Belfaster Abkommen vorsieht, wenn eine Mehrheit eine Wiedervereinigung wünscht, nicht unmittelbar vor der Tür stehen; im Süden wird ein solches Referendum in etwa fünf Jahren gewünscht, eine Mehrheit der Nordirinnen und Nordiren kann sich das eher in zehn Jahren vorstellen. Die Abstimmung selbst würde im Norden gegenwärtig überraschend deutlich für den Verbleib im Vereinigten Königreich ausgehen.11 Damit zeigt sich: Die Vertagung dieser ursprünglichen Kernfrage des Konfliktes (und die Bereitschaft der Republikaner, das zu akzeptieren) war schon vor 25 Jahren ein Akt voller Weisheit. Nun hat ein Diskurs der vernünftigen Stimmen begonnen, der darauf zielt, zunächst die mögliche (Viel-)Gestalt einer irischen Einheit ins Visier 10 Vgl. Northern Ireland Assembly Election Results 2022, www.bbc.com, 8.5.2022. 11 Pat Leahy, Northern Ireland rejects Irish unity by large margin, poll shows, www.irishtimes. com, 3.12.2022.

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zu nehmen, also beispielsweise konzeptionelle Vor- und Nachteile von integrierten oder eher föderalen Modellen abzuwägen, bevor man sich auf die Abstimmung eines notwendig simplifizierten Pro und Contra verengt.12 Die nordirische sozialdemokratische SDLP hat beispielsweise im vergangenen Jahr eine „New Ireland Commission“ eingerichtet, in der konstitutionelle Fragen Irlands auch mit Unionisten gemeinsam diskutiert werden. Das Gründungsmitglied der DUP Wallace Thompson begrüßte in diesem Kontext eine „offene und ehrliche“ Erörterung der Frage der irischen Wiedervereinigung.13 Es wird in Nordirland noch mehr als bisher auf die Art des Umgangs miteinander ankommen, auf kreative Offenheit für neue hybride Identitäten und den Respekt vor dem Verlust alter Gewissheiten. Ohne den Einsatz von und das sich Einlassen auf „konstruktive Mehrdeutigkeiten“ (constructive ambiguities) wäre das Karfreitagsabkommen 1998 nicht zustande gekommen.14 Das ist vielleicht die wichtigste Lehre, die das Abkommen auch für künftige Friedensverhandlungen in anderen Gewaltkonflikten und Regionen bereithält. Um aus dem Kalten Frieden Nordirlands herauszutreten, wird es erneut darum gehen, sich auf viele Uneindeutigkeiten einzulassen – eine Herausforderung für alle Beteiligten, für die republikanische wie für die unionistische Seite. In den Banshees of Inisherin hofft Pádraic zunächst auf einen Aprilscherz, als Colm ihm die Freundschaft aufkündigt. Er irrt. Die beiden Protagonisten finden keine gemeinsame Sprache, aber immerhin ein Überleben in der Differenz. 12 Vgl. Brendan O’Leary, Making Sense of a United Ireland, London 2022. 13 Vgl. DUP co-founder welcomes united Ireland discussion, www.bbc.com, 4.4.2023. 14 Zur Bedeutung von konstruktiven Mehrdeutigkeiten für Nordirland und andere Konflikte vgl. Adrian Guelke, Politics in Deeply Divided Societies, Cambridge 2012.



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Matthias Eickhoff

Schottland nach Sturgeon: Humza Yousaf und die gespaltene SNP Am 28. März bot sich im schottischen Parlament in Edinburgh ein ungewohnter Anblick: Zum ersten Mal seit mehr als acht Jahren saß nicht mehr Nicola Sturgeon als Regierungschefin der Schottischen Nationalpartei (SNP) in der ersten Reihe, sondern Humza Yousaf. Der 1985 geborene bisherige Gesundheitsminister und frisch gewählte SNP-Parteichef war mit den Stimmen seiner Partei und des grünen Koalitionspartners zum neuen First Minister gewählt worden. Auch wenn Yousaf als Wunschkandidat der scheidenden Regierungschefin gehandelt wurde, markiert seine Wahl doch einen klaren Einschnitt in der schottischen und britischen Innenpolitik. Mit Yousaf bekam Großbritannien nämlich den ersten muslimischen Chef einer Länderregierung. Yousafs Vater stammt aus Pakistan, seine Mutter aus einer pakistanischen Familie in Kenia. Beide waren in den 1960er Jahren nach Schottland gekommen. Und nun ist ihr Sohn ausgerechnet Chef einer Nationalpartei. Das ist bemerkenswert und zeigt, wie weit sich der schottische Nationalismus von einer engen, ethnisch orientierten Definition Schottlands entfernt hat.1 Doch wie war es überhaupt zur Wahl von Humza Yousaf gekommen? Schließlich galt Nicola Sturgeon jahrelang als unumstrittene Chefin der SNP und als nahezu unbesiegbar an der Wahlurne. Als First Minister hatte sie seit 2014 acht Wahlen auf britischer, schottischer und kommunaler Ebene gewonnen – und dabei die an1 Vgl. BBC, „The Scotsman“, 28.3.2023.

deren Parteien regelmäßig deklassiert.2 Und so wirkte Schottland trotz der Brexit-Wirren und der Coronapandemie politisch immer stabil. Zum Jahreswechsel 2022/23 war aber immer klarer geworden, dass sich die schottische Regierung und die SNP ungeachtet aller Wahlerfolge in einer politischen Sackgasse befanden.3 Der Versuch, an der britischen Regierung vorbei ein zweites Unabhängigkeitsreferendum für den Herbst 2023 zu organisieren, war vor dem UK Supreme Court gescheitert. Ein umstrittenes Transgender-Gesetz in Schottland wurde von der britischen Regierung blockiert – ein bislang einmaliger Vorgang. Auch in den Umfragen kam die Unabhängigkeitsbewegung längst nicht mehr über die 50-Prozent-Marke. Und wie erst im März bekannt wurde, sank zudem die Mitgliederzahl der SNP dramatisch: Zwischen Ende 2021 bis Februar 2023 ging sie von mehr als 100 000 auf nur noch 72 000 Mitglieder zurück. Die Verschleierung dieses drastischen Mitgliederschwunds kostete den SNP-Geschäftsführer Peter Murrell seinen Job. Pikanterweise ist Murrell der Ehemann von Nicola Sturgeon.4 In dieser Situation sah sich Sturgeon wohl erstmals seit Amtsantritt ohne reale politische Perspektive. Vielleicht gab auch der überraschende Rücktritt der neuseeländischen Ministerpräsi2 Matthias Eickhoff, Schottland – Zwischen Nationalismus, Brexit und Europa, Stuttgart 2022. 3 Matthias Eickhoff, Chaos in London: Schottland und Nordirland in der Sackgasse, in: „Blätter“, 12/2022, S. 25-28. 4 BBC, 19.3.2023.

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34 Kommentare dentin Jacinda Ardern Anfang Februar den endgültigen Ausschlag5, jedenfalls kündigte Sturgeon am 15. Februar ihren Rückzug an. Sie begründete dies unter anderem damit, dass ihr Profil so festgezurrt sei, dass sie wahrscheinlich keine neuen, zusätzlichen Befürworter:innen der Unabhängigkeit gewinnen könne. Mit anderen Worten: Sie gab zu, vor einer politischen Wand zu stehen. Richtungskämpfe in der SNP Was folgte, war ein für SNP-Verhältnisse unerhört offener Schlagabtausch zwischen den drei Kandidat:innen, die für die Nachfolge Sturgeons ihren Hut in den Ring warfen: Favorit:innen waren Finanzministerin Kate Forbes und Gesundheitsminister Humza Yousaf. Als dritte Kandidatin trat Ash Regan an, die ehemalige Staatssekretärin für „Community Safety“. Zuvor hatte es die SNP immer geschafft, hinter ihren charismatischen Partei- und Regierungschef:innen Sturgeon und zuvor Alex Salmond (First Minister von 2007 bis 2014) fast alle innerparteilichen Differenzen aus der Öffentlichkeit herauszuhalten. Das wirkte über die Jahre manchmal schon etwas surreal. Nun jedoch ging insbesondere Finanzministerin Forbes in die Vollen. Sie stellte gleich zu Beginn ihre Mitgliedschaft in der wertkonservativen presbyterianischen Free Church of Scotland in den Vordergrund und teilte mit, sie werde das von ihrer Partei zusammen mit den Grünen verabschiedete Transgender-Gesetz nicht gegen den Widerstand der britischen Regierung weiterverfolgen. Sie hätte auch nicht für die gleichgeschlechtliche Ehe gestimmt, wäre sie 2014 schon Abgeordnete gewesen.6 Das saß, denn Forbes zog damit zum einen die Religionskarte und betonte zum anderen auch 5 Ardern gab Burn-out als einen Grund für ihren Rücktritt an. 6 BBC, 21.2.2023.

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ihre Herkunft aus den Highlands, wo die Free Church am stärksten vertreten ist. Schon 2018 war sie eine der ersten Abgeordneten gewesen, die im Parlament eine Rede auf Gälisch hielt. Forbes signalisierte damit, dass die SNP eben auch eine sehr wertkonservative Seite hat, die unter der eher sozialdemokratisch orientierten Nicola Sturgeon nicht sehr oft zu sehen war. Und Forbes ging noch weiter: In einer TV-Wahlkampfveranstaltung griff sie ihren Kollegen Yousaf frontal an. In seiner Zeit als Verkehrsstaatssekretär seien die Züge immer zu spät gefahren, als Justizminister sei die Polizei am Limit gewesen und als Gesundheitsminister habe er Rekordwartezeiten für Patient:innen zu verantworten.7 Solche Töne aus dem Inneren der SNP hatte man noch nie vernommen. Dieser TV-Auftritt verdeutlichte, dass die SNP zwar in der Unabhängigkeitsfrage eine geschlossene Partei war – in allen anderen politischen Fragen jedoch eine sehr breite gesellschaftliche Allianz abbildet, die ihre Differenzen im Allgemeinen nur dem Streben nach staatlicher Unabhängigkeit unterordnet. Mit einem Mal stellte sich die Frage, was die SNP eigentlich zusammenhalten sollte, wäre diese Unabhängigkeit eines Tages wirklich erreicht – offensichtlich weit weniger als bislang angenommen. Die turbulente TV-Debatte markierte aber auch einen Wendepunkt im Nachfolgewettkampf. Alle drei Kandidat:innen mussten einsehen, dass derart offene Attacken letztlich der gesamten Partei Schaden zufügen. Folglich wurde der Ton danach ruhiger, die Risse und Attacken waren aber in der Welt. Angesichts derart offener Diadochenkämpfe in der SNP wittert derzeit vor allem eine Partei Morgenluft: die Scottish Labour Party. Nachdem sie 2007 die Macht in Edinburgh verloren hatte und sich 2014 beim Unabhängig7 BBC, „The Scotsman”, 7.3.2023.

keitsreferendum in einer erzwungenen informellen Koalition mit den ebenfalls gegen die staatliche Eigenständigkeit argumentierenden Tories wiederfand, war es mit der Partei steil bergab gegangen. Bei den letzten Unterhauswahlen 2019 war Scottish Labour in der Wählergunst mit 18,6 Prozent der Stimmen noch hinter die schottischen Tories zurückgefallen und hatte nur ein einziges Mandat erobert – ein absoluter Tiefpunkt. Labour wittert Morgenluft Seit 2021 versucht Parteichef Anas Sarwar händeringend, wieder Boden gutzumachen. Auch er ist ein Nachfahre pakistanischer Einwander:innen, sein Vater war der erste muslimische Unterhausabgeordnete. Sarwars Aufgabe ist nicht leicht, denn für sehr viele SNPWähler:innen, die er für Labour gewinnen muss, steht zunächst die Unabhängigkeitsfrage im Vordergrund. Und dort hat Labour bis heute nicht viel Neues anzubieten. Immerhin legte eine Kommission unter Vorsitz des ehemaligen britischen Labour-Premierministers Gordon Brown – selbst Schotte – im Dezember 2022 neue Vorschläge für mehr Autonomie auf den Tisch. So solle die Position der Regionalregierungen in einem eher föderalen Sinn gegenüber der Londoner Zentralregierung gestärkt werden. Auch solle Schottland ungeachtet des Brexits die Möglichkeit bekommen, wieder dem europäischen Erasmus-Programm beitreten zu können.8 Das signalisiert ein Entgegenkommen an die SNP-Klientel. Denn in Schottland hatte 2016 eine deutliche Mehrheit gegen den Brexit gestimmt und die SNP fordert nun zumindest einen Sonderstatus, der dem von Nordirland ähnelt. Labour hingegen hat den Brexit längst akzeptiert – da bleibt wenig Spielraum, um den SNP-Wähler:innen etwas anbieten zu können. Aktu8 Vgl. dazu „The Scotsman“, BBC, 5.12.2022.

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elle Umfragen sehen Labour in Schottland dennoch wieder bei rund 30 Prozent, die SNP hingegen erstmals seit langem bei knapp unter 40 Prozent. Das würde Labour bei der 2024 anstehenden Unterhauswahl 15 bis 20 der 59 schottischen Sitze einbringen. Angesichts der mageren Ausgangslage wäre das für die Partei ein ermutigendes Zwischenergebnis. Kritisch dürfte ein zentraler Punkt des britischen Mehrheitswahlrechts werden: Parteien, die über 40 Prozent erzielen, werden überproportional bevorzugt. Sollte der Abwärtstrend der SNP anhalten und sie dauerhaft unter die 40-Prozent-Marke fallen, würde Labour zahlreiche weitere Sitze gewinnen. Und jede:r zusätzliche Labour-Abgeordnete aus Schottland würde dem britischen Parteichef Keir Starmer auf dem Weg in die Downing Street helfen. Die Unterstützung aus Schottland wäre für ihn auch deshalb wichtig, damit er nicht als rein „englischer“ Premier ins Amt käme. Labour steht also an einem entscheidenden Punkt, setzt dabei jedoch bislang primär auf politische Fehler der SNP. Eigene Vorschläge, wie die Partei das schottische Gesundheitswesen, den Bildungsbereich oder auch den Verkehrssektor besser handhaben würde als die SNP, fehlen noch. Die sozialdemokratische Kernmarke von Labour ist in den letzten 15 Jahren fast ganz von der SNP aufgesaugt worden. Doch öffnen innerparteiliche Attacken von SNP-Granden wie Kate Forbes auf die Qualität der Regierungspolitik hier natürlich argumentative Türen für eine entschlossene Opposition. Aus dem Rennen in Schottland sind hingegen die Tories. Sie profitieren bislang nicht von den Turbulenzen in der SNP, sondern müssen sich noch immer mit dem desaströsen Image von Boris Johnson und Kurzzeit-Premier Liz Truss herumschlagen. Seit dem Brexitreferendum 2016 haben die Tories in London gleich viermal die oder den Premier ausgetauscht, zuletzt im Oktober 2022, als Rishi Sunak übernahm.

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36 Kommentare Auch er ist Kind von Einwanderer:innen, in diesem Fall einer indischen Familie, die wie Yousafs Mutter in Kenia gelebt hatte. So stehen sich nun drei Nachfahren der imperialen Vergangenheit Großbritanniens in politischen Führungspositionen gegenüber. Wie weiter für die SNP? Auch ohne den wachsenden Druck aus der Opposition steht der neue SNPund Regierungschef Humza Yousaf vor einer schweren Aufgabe: Er muss sich an der unangefochtenen politischen Dominanz seiner Vorgängerin Nicola Sturgeon messen lassen, er muss die SNP-Mitgliederschaft nach dem Aderlass der letzten Monate stabilisieren, zugleich neue Ideen für den Weg zur staatlichen Unabhängigkeit vorlegen und sich dabei gegenüber der britischen Regierung behaupten. Wenn man bedenkt, dass Sturgeon genau daran im vergangenen Jahr gescheitert ist, dann wird klar, wie groß die Herausforderungen für Yousaf sind. Und mit allzuvielen Vorschusslorbeeren startete er nicht ins Amt: Nicht nur Mitbewerberin Kate Forbes bescheinigte ihm mangelnde politische Erfolge als Minister, auch in den Medien musste sich Yousaf schnell anhören, ihm fehle die „Kompetenz“ von Sturgeon und sein neues Kabinett bestehe aus „B-Politikern“.9 Ein weiterer Kritikpunkt: Yousaf habe es nicht geschafft, seine Kontrahentin Forbes im neuen Kabinett einzubinden, obwohl sie doch mit 48 Prozent der Stimmen innerparteilich eine sehr hohe Unterstützung erzielt hatte. Und dann erschütterte Anfang April die kurzfristige Festnahme von Sturgeons Ehemann Murrell samt polizeilicher Durchsuchung des gemeinsamen Hauses das politische Schottland. Hintergrund sind Fragen zur rechtmäßigen Verwen9 „The Scotsman“, 30.3.2023; „The Guardian“, 29.3.2023.

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dung von Spendengeldern. Auch das ist ein absolutes Novum für die SNP. Interims-Parteipräsident Mike Russell sprach gar von der größten Krise seiner Partei seit 50 Jahren. Vor diesem Hintergrund verblassten erste politische Zeichen von Yousaf: Seinem Kabinett gehören erstmals mehr Frauen als Männer an, und er setzt die Koalition mit den Grünen fort – auch gegen Kritik aus den eigenen Reihen.10 Mit Yousaf sitzt zudem erstmals die Generation von SNP-Politiker:innen an den Schalthebeln der Macht in Edinburgh, die bereits mit der zwischen 1997 und 1999 verhandelten Autonomieregelung für Schottland aufgewachsen ist. Und da wartet sofort eine weitere Herausforderung auf ihn: Die mögliche juristische Anfechtung der Blockade des Transgender-Gesetzes durch die britische Regierung testet gleich die politische Durchsetzungsfähigkeit des neuen Regierungschefs – und die Grenzen der Autonomieregeln. Zieht er nicht vor Gericht, stößt er seine Koalitionspartner:innen von den Grünen vor den Kopf. Geht er aber diesen Schritt, droht eine juristische Niederlage gegen die britische Regierung – eine nahezu unauflösbare Zwickmühle für Yousaf. Die große Frage ist, ob er es schafft, die im Nachfolgekampf deutlich gewordenen inhaltlichen Risse in der SNP zu überwinden und die Partei wieder in ruhiges Fahrwasser zu bringen. Wahrscheinlich waren selbst viele Mitglieder der Parteiführung überrascht, wie stark der wertkonservative Flügel innerhalb der SNP ist. Bislang hatte die Parteispitze sich ohne große Gegenrede immer im eher sozialdemokratisch-grünen Bereich verortet. So viel jedenfalls ist klar: Falls Humza Yousaf die SNP nicht wieder stabilisieren kann, geht die Partei schweren Zeiten entgegen. In Schottland werden die nächsten anderthalb Jahre politisch sehr spannend werden. 10 BBC, 3.4.2023.



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Hildegard Willer

Peru: Vom Tigerstaat zum Polizeistaat Seit fünf Monaten befindet sich Peru bereits in einer politischen Dauerkrise – und eine Lösung ist noch immer nicht in Sicht. Als Präsident Pedro Castillo nach nur eineinhalb Jahren im Amt am 6. Dezember vergangenen Jahres samt Frau und den beiden halbwüchsigen Kindern fluchtartig den Präsidentenpalast verließ und kurz darauf in Untersuchungshaft genommen wurde, brach vor allem in den indigen geprägten südlichen Landesteilen ein Aufstand aus. Wochenlange Proteste legten Südperu inklusive der Touristenzentren Cusco mit der berühmten Inka-Stadt Machu Picchu und Puno mit dem Titicacasee lahm. Die Menschen protestierten, zum Teil auch gewaltsam, gegen die Absetzung „ihres“ Präsidenten und die Amtsübernahme der in ihren Augen abtrünnigen Vizepräsidentin Dina Boluarte sowie für sofortige Neuwahlen von Kongress und Parlament. Dabei war es kurz zuvor noch Castillo gewesen, der per Fernsehansprache die Auflösung des Kongresses angekündigt hatte. Doch kein Polizist und keine Soldatin folgte seinem Aufruf, den Kongress zu besetzen. Stattdessen nutzten die Parlamentarierinnen selbst die Gunst der Stunde und setzten Castillo ab. Noch bevor er bei der mexikanischen Botschaft um Asyl bitten konnte, wurde er wegen Putschversuchs verhaftet. Die nun von Castillos ehemaliger Vizepräsidentin Dina Boluarte geführte Regierung ließ die Proteste unterdessen brutal niederschlagen: Sie schickte Militär und Polizei, die insgesamt 49 Demonstrantinnen erschossen; elf weitere Menschen und sieben Soldaten kamen im Zuge der Proteste ums Leben.

Während eine offizielle Untersuchung der Vorfälle weiter auf sich warten lässt, haben Amnesty International, nationale und internationale Medien mittlerweile nachgewiesen, dass die Toten mit scharfer Munition oder Schrotkugeln aus Polizeigewehren erschossen wurden.1 Mehrere von ihnen hatten nicht einmal protestiert, sondern waren zufällig in den Kugelhagel der Polizei geraten. Die Einschussstellen an Brust und Rücken legen der Menschenrechtsorganisation zufolge nahe, dass die Polizei die tödlichen Schüsse sogar bewusst in Kauf genommen hat. 80 Prozent der bisher getöteten Demonstranten stammen laut Amnesty International aus indigen geprägten Regionen. Bis Anfang März zogen angesichts dessen unzählige Menschen aus den südperuanischen Provinzen in die Hauptstadt, um dort nun nicht mehr nur Neuwahlen, sondern auch Gerechtigkeit für ihre Toten zu fordern. Bisher jedoch verhallen die Proteste ungehört: Statt Polizei und Militär zur Rechenschaft zu ziehen, beglückwünschte die neue Präsidentin Boluarte sogar deren Aktion der „Aufstandsbekämpfung“ und setzte die demonstrierenden Quechua und Aymara mit „Terroristen“ gleich – eine klare Anspielung auf Angehörige des „Leuchtenden Pfads“, einer maoistischen Guerillaorganisation, die in den 1980er Jahren und Anfang der 1990er Jahre einen internen bewaffneten Konflikt mit den peruanischen Streitkräften ausfocht, in dessen Zug fast 70 000 indigene Bauern zwi1 Perú: La represión letal del Estado es una muestra más del desprecio hacia la población Indígena y campesina, www.amnesty.org, 16.2.2023.

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38 Kommentare schen den Fronten ihr Leben verloren – die meisten Tode sind bis heute ungesühnt. In nur drei Monaten hat sich Peru damit von einer – wenn auch prekären – Demokratie in einen Polizeistaat verwandelt. Wie aber konnte das geschehen? Oder um mit dem Protagonisten aus einem Roman des peruanischen Schriftstellers Mario Vargas Llosa zu sprechen: „Cuando se jodió el Perú?“ – Wann ist Peru den Bach heruntergegangen? Korrumpierte Demokratie Das neue Jahrtausend hatte für Peru noch verheißungsvoll begonnen: Nach zehn Jahren autoritärer Herrschaft unter Alberto Fujimori kehrte das flächenmäßig drittgrößte Land Südamerikas zur Demokratie zurück. Das korrupte System unter Fujimoris Berater Vladimiro Montesinos war durch heimlich gefilmte Videos aufgeflogen; viele Schuldige wurden in der Folge verurteilt, Alberto Fujimori selbst musste wegen Menschenrechtsvergehen eine langjährige Haftstrafe antreten. Eine Wahrheitskommission deckte die Gräueltaten des 20jährigen Bürgerkriegs zwischen der Terrorgruppe „Leuchtender Pfad“ und den peruanischen Streitkräften auf und begann einen Wiedergutmachungsprozess für die Opfer. Dazu ereilte Peru der Segen des Rohstoffbooms: Hohe Rohstoffpreise und laxe Auflagen des Staates lockten Investoren an. Peru führte lange Jahre das lateinamerikanische Wirtschaftswachstum an – zusammen mit dem sozialistisch regierten Bolivien. Das Land wurde gar als lateinamerikanischer Tigerstaat bezeichnet; neue Sozialprogramme verringerten die Armut. Dass der wirtschaftliche Boom und der demokratische Neuanfang auf tönernen Füßen standen, zeigte sich spätestens im Zuge des Odebrecht-Korruptionsskandals: Im Jahr 2016 war bekannt geworden, dass der brasilia-

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nische Baukonzern Odebrecht Millionensummen an Schmiergeldern an peruanische Politiker und hohe Beamtinnen gezahlt hatte, im Gegenzug für den Zuschlag zum Bau von Straßen und anderen Infrastrukturprojekten.2 Alle Präsidenten des „demokratischen Aufbruchs“ nach 2000 gerieten durch ihn unter Korruptionsverdacht: Alejandro Toledo, der Peru von 2001 bis 2006 regierte, sitzt bis heute in den USA in Auslieferungshaft. Sein Nachfolger Alan García erschoss sich 2019, als ein Staatsanwalt samt Polizei vor seiner Tür stand. Auch der von 2011 bis 2016 regierende Ollanta Humala soll sich seinen Wahlkampf von Odebrecht bezahlt haben lassen. Und dessen Nachfolger Pedro Pablo Kuczynski blieb gerade einmal eineinhalb Jahre im Amt, bevor er 2018 wegen des Odebrecht-Skandals und eines feindlich gesinnten Kongresses aufgeben musste. Seither wechselt Peru seine Präsidenten im Jahrestakt, Dina Boluarte ist bereits die vierte Präsidentin innerhalb von nur vier Jahren. Doch nicht nur die Korruption hat die peruanische Demokratie ausgehöhlt, sondern auch der Zerfall des Parteiensystems: Außer der zwischen 2006 und 2011 regierende Ex-Präsident Alan García von der sozialdemokratischen APRA, die heute nicht mehr im Kongress vertreten ist, gehörte keiner von Perus Staatsoberhäuptern seit Beginn des Jahrtausends einer traditionellen Partei an. Stattdessen gründeten diese eigens für ihre Kandidatur neue „Parteien“ als Wahlplattformen – dieses Modell aus lockeren Wahlbündnissen rund um einen aussichtsreichen Kandidaten ist heute bei Lokal-, Regional- und Nationalwahlen in Peru die Regel; traditionelle Parteien existieren hingegen schlicht nicht mehr. Da die Parteien keine Mittel für den Wahlkampf zur Verfügung stellen, ist jede Kandidatur zudem eine persönliche 2 Vgl. Victoria Eglau, Lateinamerika: Der Fall Odebrecht oder Korruption ohne Grenzen, in: „Blätter“, 6/2017, S. 25-28.

finanzielle Investition, die sich bei Erfolg rentieren muss: sei es durch die ansehnlichen Diäten einer Kongressabgeordneten oder den Verkauf der eigenen Stimme an die zahlungskräftigsten Lobbyisten. Der peruanische Kongress ist angesichts dessen heute eine Ansammlung politischer Glücksritter, die in erster Linie ihr Eigeninteresse im Sinn haben. Das Verbot einer direkten Wiederwahl verhindert darüber hinaus, dass sich Berufspolitiker – im positiven Sinne – herausbilden können. Der nun im Dezember gestürzte Pedro Castillo konnte nicht einmal eine eigene Wahlplattform vorweisen. Er – ebenso wie Dina Boluarte – hatte seine Kandidatur lediglich auf „Einladung“ einer marxistisch-kubanisch ausgerichteten Regionalpartei angetreten, weil deren Gründer und Präsident aufgrund einer Korruptionsverurteilung nicht selbst antreten durfte. Seinen überraschenden Wahlsieg verdankte der indigene Bauer und ehemalige Lehrergewerkschafter Castillo zum einen seiner Gegenkandidatin Keiko Fujimori, Tochter und politische Erbin des heute inhaftierten Ex-Präsidenten Alberto Fujimori, die die politische Landschaft Perus extrem polarisiert. Gerade die liberal-progressiv-linke Stadtbevölkerung gab lieber dem unbekannten Castillo die Stimme als der verhassten Keiko Fujimori. Doch vor allem verdankte Castillo seinen Wahlsieg dem „Perú profundo“, dem „tiefen Peru“, wie die Anden mit ihren bis heute schwer zugänglichen Ortschaften auch genannt werden. Dort leben vor allem Menschen mit indigenen Wurzeln unter Bedingungen, an denen sich seit Jahrhunderten wenig geändert hat. Sie bearbeiten noch immer mit Hacke und Handpflug karge Parzellen, sind als Selbstversorgerinnen nur spärlich ins Marktgeschehen eingebunden. Ihre Kinder gehen stundenlag zu Fuß in eine Schule, in der nur drei Tage pro Woche unterrichtet wird. Wenn sie krank werden, müssen sie in der nächsten Provinzstadt vor

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dem Hospital Schlange stehen. Diese Menschen haben Castillo im Juli 2021 ins Amt gewählt, weil er Hoffnung auf Veränderung verkörperte und weil er so war wie sie: ein einfacher Dorflehrer mit von der Landarbeit zerfurchten Händen und einem Hut, wie ihn die Bauern in seiner Gegend tragen.3 Entsprechend symbolisch war für sie Castillos – wenn auch knapper – Wahlsieg. Erstmals in der Geschichte des Landes stand mit ihm eine indigene Person an der Spitze des Staates. Bei seinem Amtsantritt, genau 200 Jahre nach der Unabhängigkeit von Spanien, kündigte er denn auch an, mit ihm würde nun die eigentliche Unabhängigkeit einsetzen: die Dekolonialisierung von der herrschenden weißen und mestizisch-städtischen Oberschicht. Das peruanische Paradox Diese perpetuiert seit der Kolonialzeit einen tiefsitzenden Rassismus, der fast schon an eine unsichtbare und nie ausgesprochene Apartheid grenzt. Das einst von den Spaniern ausgetüftelte koloniale System der „Rasseneinteilung“ prägt die peruanische Gesellschaft bis heute. Daran hat auch die linke Militärdiktatur unter General Juan Francisco Velasco (1968-1975) nichts geändert, die im Bemühen, die koloniale Feudalstruktur zu beseitigen, zwar die diskriminierten „Indios“ – bis dahin praktisch Leibeigene – einheitlich zu „Campesinos“ – Bauern – umdefinierte. Doch das Verbot des (Schimpf-)Wortes „Indio“ allein brachte noch keinen Gesinnungswandel. Bis heute weiß jeder Peruaner, dass ein „campesino“ oder eine „campesina“ indigener Herkunft ist. Es ist das große Paradox und zugleich die tiefe Wunde Perus: Während die peruanische Elite stolz die Inka3 Vgl. auch Axel Anlauf, Dorflehrer gegen Diktatorentochter: Der peruanische Machtkampf, in: „Blätter“, 7/2021, S. 37-40.

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40 Kommentare zitadelle Machu Picchu als touristisches Weltwunder präsentiert und das Land auf jedem Werbeplakat mit einem bezopften Quechua-Mädchen mit Lama oder einem Panflöte spielenden Ayamara-Jungen darstellt, behandelt sie die Quechua- und Aymara-Bevölkerung des Landes – sowie die zahlenmäßig viel kleinere Gruppe der Amazonas-Indigenen – nach wie vor als Menschen zweiter oder sogar dritter Klasse. Dabei identifiziert sich ein Viertel aller Peruanerinnen und Peruaner als Angehörige einer indigenen Volksgruppe, in großer Mehrheit Quechua, wie eine staatliche Umfrage aus dem Jahr 2017 ergab. Zwei Drittel der Indigenen leben heute nicht mehr auf dem Land, sondern in der Stadt, ein knappes Viertel im Großraum Lima. Als 2021 der „Campesino“ und Dorfschullehrer Pedro Castillo in den Präsidentenpalast einzog, traf ihn die ganze Wucht des bis dahin leidlich in Schach gehaltenen Rassismus. Fast alle Hauptstadtmedien machten Front gegen ihn und scheuten dabei keine rassistischen Vergleiche. Castillo selbst erwies sich, zumal in diesem feindlichen Umfeld, indes als unerfahrener Politiker, der seine Minister jede Woche auswechselte und sich vor allem mit Familienmitgliedern und Getreuen aus seiner Heimatregion umgab. Von seinen linken Vorhaben setzte er nichts um; dafür kamen Korruptionsgerüchte auf – keine großen Sachen, aber doch genug, um zu zeigen, dass Castillo eben auch nur ein Politiker war wie andere, der sich vor allem selbst bereichert. Der ihm von Anfang an feindlich gesinnte Kongress, in dem Castillo über keine eigene Hausmacht verfügte, setzte mehrere Absetzungsverfahren in Gang. Zwei davon konnte Castillo abwehren. Dem dritten Absetzungsversuch wollte er mit der Auflösung des Kongresses zuvorkommen – mit dem bekannten Ergebnis. Doch die Abgeordneten hatten vergessen, dass Castillo zwar nicht besonders beliebt, aber immerhin beliebter war als sie

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selbst. Auslöser für die Proteste, die Peru daraufhin wochenlang lahmlegten, waren die Fotos von Abgeordneten, die ihren Triumph über Castillo feierten. Eine neue indigene Bewegung? Eine Lösung der extrem prekären Situation ist auch fünf Monate nach dem gescheiterten Putschversuch von Castillo nicht in Sicht. Dina Boluarte ist angesichts einer fehlenden Hausmacht vom Kongress abhängig, der vor allem eines versucht: nicht frühzeitig seine Pfründe zu verlieren. Das Hauptanliegen der Demonstrantinnen, baldige Neuwahlen, lehnte der Kongress weg ab, es steht heute auf keiner politischen Tagesordnung mehr. Doch auch wenn die Bevölkerung der Hauptstadt Lima und der anderen Landesteile nicht ebenso zahlreich für einen Regimewechsel auf die Straße gingen wie die Menschen aus den indigen geprägten südlichen Landesteilen, so bedeutet dies beileibe keine Unterstützung für Regierung und Kongress. In einer Meinungsumfrage des Instituto de Estudios Peruanos vom März dieses Jahres kommt Präsidentin Boluarte auf eine Zustimmungsrate von lediglich zwölf Prozent; den Kongress befürworten sogar nur sechs Prozent. Exekutive wie Legislative mögen zwar legal an die Macht gekommen sein; Legitimität besitzen sie deswegen jedoch noch lange nicht. Zwar haben die Proteste in den Andenregionen Puno, Cusco, Andahuaylas und Ayacucho zuletzt einer vorläufig angespannten Ruhe Platz gemacht. Doch dass Quechua und Aymara erstmals landesweit mit ihren Forderungen auf den Plan getreten sind, lässt hoffen, dass daraus eine neue politische indigene Bewegung erwächst, die Perus politisches Schicksal zukünftig mitgestalten und vielleicht sogar zum Besseren wenden könnte. Bis dahin aber, so scheint es aktuell, ist es noch ein weiter Weg.

DEBATTE

Sorgearbeit ohne Preis: Der blinde Fleck der Ökonomie In der Januar-Ausgabe plädierte die Journalistin Maike Rademaker dafür, zur Bewältigung des Fachkräftemangels das brachliegende Erwerbspotenzial von Frauen stärker in den Blick zu nehmen. Uta Meier-Gräwe argumentiert, dies könne nur gelingen, wenn wir die Sorgearbeit ihrer wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung entsprechend aufwerten. Was lange Zeit abstrakt erschien, ist in Deutschland mittlerweile bittere Realität: der allgegenwärtige Fachkräftemangel. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Die Zahl der Personen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, würde ohne Zuwanderung und steigende Erwerbsquoten der hier lebenden Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter bis 2035 um mehr als sieben Millionen sinken.1 Angesichts dessen liegen die Nerven blank: in der Pflege, der Gastronomie, im Handwerk und im Bildungssektor. Schulleitungen sehen im eklatanten Mangel an Lehrpersonal das größte Hindernis dafür, ihren Bildungsauftrag erfüllen zu können. Mehr als zwei Drittel von ihnen schätzen das dem aktuellen Schulbarometer zufolge so ein, in sogenannten Brennpunktschulen ist das Drama mit 73 Prozent noch größer.2 Die Bemühungen, weibliche Lehrkräfte zu einer längeren, möglichst vollen Arbeitszeit zu motivieren, scheitern wiederum oft an der Allzuständigkeit 1 Timon Hellwagner u.a., Wie sich eine demographisch bedingte Schrumpfung des Arbeitsmarktes noch abwenden lässt, IAB-Forum, 21.11.2022. 2 Das deutsche Schulbarometer 2022, www.boschstiftung.de.

der Frauen für die täglich anfallende Sorgearbeit rund um Familie und Haushalt. Denn von einer fairen Aufteilung der Care-Arbeit zwischen den Geschlechtern kann hierzulande bis heute keine Rede sein. So leisten Mütter in Paarbeziehungen und Alleinerziehende pro Woche im Schnitt 40 Stunden unbezahlte Sorgearbeit; der Löwenanteil davon entfällt auf die Hausarbeit. Würde die in Privathaushalten jährlich geleistete unbezahlte Sorgearbeit im Bruttoinlandsprodukt Deutschlands berücksichtigt, fiele dieses um ein Drittel höher aus als amtlich ausgewiesen.3 Privat geleistete Sorgearbeit kommt jedoch in dieser ökonomischen Kennziffer, die als Wohlstandsmaß einer Nation gilt, nicht vor. Dabei ist die tägliche Care-Arbeit das Fundament jeglichen Wirtschaftens. Unternehmen greifen selbstverständlich auf sie zurück, externalisieren aber die Kosten dafür. Eine verlässliche Entlastung können viele Mütter – und engagierte Väter – oft nicht einmal bei der Kinderbetreuung erwarten. Denn daran mangelt es 3 Vgl. Norbert Schwarz und Florian Schwahn, Entwicklung der unbezahlten Arbeit privater Haushalte, Statistisches Bundesamt, WISTA, 2/2016, www.destatis.de.

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42 Uta Meier-Gräwe nach wie vor. Mehr noch: Der Gemeinderat der Universitätsstadt Tübingen hat kürzlich nicht etwa den Kitaausbau, sondern eine radikale Kürzung der Kita-Öffnungszeiten beschlossen, weil nur noch 3 von 43 städtischen Einrichtungen über genügend Personal verfügen. Und in der nordrhein-westfälischen Stadt Hennef werden Kita-Kinder nicht mehr an fünf, sondern nur noch an drei Tagen betreut. Die Verantwortlichen in den Rathäusern erleben jetzt, dass sie mit anderen Trägern und Nachbarkommunen um die raren Fachkräfte buhlen müssen. Dabei nimmt der Personalbedarf landauf, landab weiter zu. Auch Betreuungskräfte für Ganztagsschulen werden händeringend gesucht.

» Die Reaktionen von Bund, Ländern und Gemeinden erschöpfen sich in Schuldzuweisungen und ziemlich hilflosen Werbekampagnen.« Würden wir die Folgekosten der defizitären Betreuungsangebote wie eine „Gasmangellage“ durchrechnen, wäre das Entsetzen groß und der Bundestag würde sofort Milliarden Euro zur volkswirtschaftlichen Schadensbegrenzung durchwinken. Das aber passiert nicht. Stattdessen erschöpfen sich die Reaktionen von Bund, Ländern und Gemeinden in gegenseitigen Schuldzuweisungen, ziemlich hilflosen Werbekampagnen mit Slogans wie „Du fehlst uns! Erzieher:innen gesucht“ bis hin zu gänzlich zynisch anmutenden Vorschlägen. So hat etwa die wissenschaftliche Kommission der Kultusminister:innen Lehrkräften in Teilzeit nahelegt, länger zu arbeiten und ihnen zum Ausgleich ein Achtsamkeitstraining empfohlen. Bei alledem könnte der Eindruck entstehen, es handele sich beim akuten Fachkräftemangel um eine Art Naturphänomen, das völlig unerwartet über die deutsche Gesellschaft hereingebrochen ist.

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Doch weit gefehlt. Bereits 1992 setzte der Deutsche Bundestag eine hochkarätige Enquête-Kommission „Demographischer Wandel“ ein, die jahrelang über Ausmaß und Folgen der alternden Bevölkerung sowie über die damit verbundenen Anforderungen für Politik und Wirtschaft nachdachte, wissenschaftliche Expertise einholte und konkrete Handlungsempfehlungen gab. Auch von den Landesregierungen wurden diverse Demographie-Kommissionen einberufen. Zudem liefert die Bertelsmann Stiftung seit 2006 mit ihrem „Wegweiser Kommune“ für alle Städte und Gemeinden mit mehr als 5000 Einwohner:innen detaillierte „Daten für Taten“ und kommunale Lösungsansätze, um den demographischen Wandel zu bewältigen.4 Der Tenor: Kein Grund zur Sorge, die demographische Entwicklung ist politisch gestaltbar. Doch genau an diesem Gestaltungswillen mangelt es seit den 1990er Jahren, den vielen Kommissionsberichten zum Trotz. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurde – anders als in den skandinavischen Ländern – massiv auf Privatisierung und Deregulierung von sozialen Infrastrukturen gesetzt, während zugleich staatliche Verantwortlichkeiten beschnitten wurden. Darüber hinaus dominiert in der deutschen Industrie bis heute eine einseitige Exportorientierung, während gleichzeitig die Lohnspreizung im unteren Einkommensbereich zunimmt. Das neoliberale Mantra, dass insbesondere die arbeitsintensiven sozialen und personenbezogenen Dienstleistungen nur durch Senkung der Arbeitskosten finanzierbar seien, zeigt spätestens jetzt, da in diesen Bereichen massiv Fachkräfte fehlen, seine desaströsen Folgen. Noch immer gelten soziale, gesundheits-, bildungs- und haushaltsbezogene Dienstleistungen nicht als inhärenter und wertschöpfender Bestandteil der Wirtschaft. 4 Bertelsmann Stiftung, Wegweiser Kommune, www.wegweiser-kommune.de, 2006.

Sorgearbeit ohne Preis: Der blinde Fleck der Ökonomie

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Dabei sah der französische Ökonom Jean Fourastié bereits 1967 im Dienstleistungssektor den großen Hoffnungsträger für eine positive Beschäftigungsentwicklung und eine gesteigerte Qualität von Erwerbsarbeit.5 Er ging davon aus, dass die Freisetzung von Arbeitskräften in Landwirtschaft und Industrie aufgrund von Rationalisierung und Marktsättigung durch die wachsende Nachfrage nach Dienstleistungen kompensiert werden könne. Fourastié nahm allerdings an, dass politische Entscheidungen den Erfordernissen einer dynamischen Entwicklung des Dienstleistungssektors, zumal in alternden Gesellschaften, entsprechen würden. Doch die deutsche Politik verharrt bis heute in einer Art „Industrie-Fetisch“, wie es der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze kürzlich treffend konstatierte.6 Das ist aber schon längst aus der Zeit gefallen und hat uns die derzeitige „Care-Krise“ beschert. Obwohl bereits 2021 im Dienstleistungssektor rund 70 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung generiert wurden und die Bereiche „Öffentliche Dienstleister, Erziehung und Gesundheit“ am meisten zur Bruttowertschöpfung beigetragen haben, stehen allenfalls unternehmensnahe Dienstleistungen als Anhängsel der Industrie im Fokus wirtschaftspolitischer Debatten. So empfahl der CDU-Politiker Friedrich Merz gleich zu Beginn der Covid-19-Pandemie, als vielen plötzlich die „Systemrelevanz“ der Pflegeberufe und markante Defizite im Gesundheitssektor bewusst wurden, dem produzierenden Gewerbe nach Corona „absoluten Vorrang“ einzuräumen.7 Ins gleiche Horn stieß der Finanz-

ökonom Bernd Raffelhüschen: Wir könnten nicht auf Dauer davon leben, dass wir uns umeinander kümmern, sondern nur vom technischen und ökonomischen Fortschritt, konstatierte er.8

5 Jean Fourastié, Gesetze der Wirtschaft von morgen, Düsseldorf und Wien 1967. 6 „Deutschland hat einen Industrie-Fetisch“. Interview mit Adam Tooze, in: „Handelsblatt“, 23.1.2023. 7 Vgl. Uta Meier-Gräwe, Misstraut dem neoliberalen Mantra des „Weiter so!“, www.boell.de, 15.4.2022.

8 Bernd Raffelhüschen, „Wir haben unverhältnismäßig gehandelt“, in: „Preußische Allgmeine Zeitung“, 16.7.2020. 9 Martin Baethge und Volker Baethge-Kinsky, Entwicklung des Arbeitsmarktes unter geschlechtsspezifischen Aspekten. Expertise für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, Berlin 2017, S. 16.

» 2030 werden die in den produktionsbezogenen Berufen tätigen Arbeitskräfte nur noch einen Anteil von knapp 19 Prozent stellen.« Care-Dienstleistungen werden im hierzulande dominierenden, industrie- und technikfixierten Narrativ schlicht aus der Ökonomie ausgeblendet, allenfalls als ärgerlicher Kostenfaktor betrachtet. Diese realitätsfremde Perspektive hat dazu geführt, dass die Politik den unaufhaltsamen wirtschaftlichen Strukturwandel in Richtung wissensbasierte Dienstleistungsgesellschaft verkennt und die seit Jahren vorliegenden Prognosen über die Beschäftigungsentwicklung ignoriert: 2030 werden die in den produktionsbezogenen Berufen tätigen Arbeitskräfte nur noch einen Anteil von knapp 19 Prozent stellen. Die stärkste Expansion ist demgegenüber in den personenbezogenen Dienstleistungen zu erwarten. Tätigkeiten in Bildung und Erziehung, in Gesundheits- und Sozialberufen sowie der Körperpflege werden 2030 den größten Berufsbereich darstellen, in dem dann bis zu einem Drittel der Erwerbstätigen beschäftigt sein wird.9 Selbst der Betriebsratsvorsitzende im zweitgrößten deutschen VW-Werk in Kassel, Carsten Bätzold, hat erkannt, dass sich der Abbau von Arbeitsplätzen in der Autoindustrie in Zukunft nicht verhindern lässt. Alternativen sieht er auch in Bereichen wie

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44 Uta Meier-Gräwe Kitas, Alten- und Pflegeheimen. „Es ist sinnvoll und möglich, dort mehr und gute Arbeitsplätze aufzubauen. Man muss es nur politisch wollen“, bemerkte er im Interview mit dem „Freitag“. „Wie wichtig diese Jobs sind, hat die Coronakrise gezeigt. Also müssen wir sie tarifieren und so vergüten, dass sie auch für jemanden interessant sind, der sonst bei VW arbeiten würde.“10 Solche Überlegungen scheinen in der Politik bislang allerdings noch nicht angekommen zu sein. Um die Krise der Sorgearbeit in den Griff zu bekommen, muss die Politik dringend handeln, sprich: die Beschäftigung im öffentlichen Sektor ausweiten und die Qualität von öffentlichen, aber auch privat erbrachten Care-Dienstleistungen steigern. Schließlich ist auch das produzierende Gewerbe auf Vorleistungen des Care-Sektors angewiesen. Doch derzeit steht anderes auf der Agenda: grünes Wachstum und die Produktion von Rüstungsgütern. Während letztere in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als Investition gelten, werden Kosten für Soziales, Bildung und Gesundheit als Konsumausgaben verbucht, die unter Finanzierungsvorbehalt stehen. Was das in Zeiten der strukturellen Unterfinanzierung vieler Kommunen bedeutet, kann sich jede:r ausmalen. Sorgearbeit muss – ihrer gesellschaftlichen Bedeutung entsprechend – endlich auch monetär anerkannt und es müssen akzeptable Personalschlüssel in den Care-Berufen durchgesetzt werden. Ein Teil könnte beispielsweise durch Digitalisierungsgewinne oder eine Care-Abgabe von Unternehmen finanziert werden. Notwendig sind aber auch Steuern für Milliardäre, die Einführung und Erhöhung von Abgaben für Immobilien und Erbschaften oder das Schließen von Steuerschlupflöchern, wie es inzwischen selbst der Internationale Währungsfonds (IWF) fordert. Andernfalls wird 10 „Elektro-SUVs lösen kein Problem“, in: „der Freitag“, 25.3.2021.

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sich, wie es die feministische Ökonomin Mascha Madörin formuliert, der wachsende Finanzierungsbedarf für bezahlte wie bislang unbezahlte Care-Arbeit zu einem der großen Zukunftskonflikte auswachsen.11 » Sorgearbeit muss endlich auch monetär anerkannt werden.« Bezogen auf die Bewältigung des Fachkräftemangels hieße das, zeitnah eine Strategie zur Neubewertung und Aufwertung von Care-Berufen zu entwickeln und deutlich mehr Geld in die öffentliche Daseinsvorsorge zu investieren. Das hatte die Sachverständigenkommission für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung bereits vor mehr als sechs Jahren nachdrücklich empfohlen.12 Dann und nur dann wird das brachliegende inländische Potenzial der weiblichen Hälfte der Gesellschaft zu gewinnen sein, aber auch ein Teil der momentan noch in gewerblich-technischen Berufen beschäftigten männlichen Arbeitskräfte.13 Verlässliche soziale Infrastrukturen brauchen aber auch Zugewanderte und ihre Familien, die ebenfalls als Hoffnungsträger in Sachen Fachkräftesicherung gelten. Wie hat es Bundesarbeitsminister Hubertus Heil zu Beginn des Jahres so treffend formuliert? „Fachkräftesicherung ist Wohlstandssicherung.“14 Das ist es, in der Tat. Aber immer wieder unbeachtet. 11 Mascha Madörin, Megatrends: Care Arbeit und die Soziale Frage, in: Johanna Brandstetter u.a. (Hg.), Soziale Frage(n) der Zukunft, Wiesbaden 2021, S. 67-86. 12 BMFSFJ, Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, 2017, S. 93. 13 Vgl. vertiefend: Ina Praetorius und Uta MeierGräwe, Um-Care. Wie Sorgearbeit die Wirtschaft revolutioniert, Ostfildern 2023 sowie Uta Meier-Gräwe, Ina Praetorius und Feline Tecklenburg (Hg.), Wirschaft neu ausrichten. Care-Initiativen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Leverkusen 2023. 14 Fachkräftestrategie der Bundesregierung. Neue Wege zur Fachkräftesicherung, www. bundesregierung.de, 12.10.2022.

KURZGEFASST

Richard C. Schneider: Das unlösbare Dilemma. 75 Jahre Israel und die Zukunft der ethnischen Demokratie, S. 47-55 Die radikalen Reformvorhaben der neuen Rechtsregierung von Benjamin Netanjahu treiben derzeit tausende Israelis zu Demonstrationen auf die Straße. Damit befindet sich das Land in einer der schwersten Krisen seiner Geschichte, die sich am 14. Mai zum 75. Mal jährt. Der Journalist Richard C. Schneider beleuchtet Vergangenheit und Gegenwart der israelischen Demokratie und analysiert, warum die Israelis an der ethnischen Basis ihrer Demokratie festhalten werden.

Katajun Amirpur: Die Sehnsucht nach dem Schah. Über die Geschichtsvergessenheit bei den iranischen Protesten, S. 57-63 Bei den Protesten gegen die Islamische Republik ist die iranische Kaiserflagge prominent vertreten. Wie aber kann es sein, dass im Protest gegen die eine Diktatur eine andere verherrlicht wird? Die Islamwissenschaftlerin und „Blätter“-Mitherausgeberin Katajun Amirpur zeigt auf, wie die Despotie des Schahs die Revolution von 1979 begünstigte und warum die Zeit vor dem Umbruch keine Alternative zum Gottesstaat sein kann.

Susanne Kaiser: Das feministische Paradox. Der brutale Backlash gegen die Emanzipation, S. 65-74 Der Hass, den radikale Antifeministen im Netz verbreiten, verweist auf ein Paradox: Wo viele Frauen in Machtpositionen vertreten sind, nehmen Gewalttaten gegen Frauen zu und sind Frauenhäuser maßlos überlastet. Die Journalistin Susanne Kaiser geht diesem scheinbaren Widerspruch auf den Grund und zeigt auf, wie wir zukünftig über Geschlechteridentitäten sprechen sollten, um dieser gefährlichen Entwicklung zu begegnen.

Cédric Wermuth: Gegen den russischen Imperialismus. Warum die Linke die Ukraine unterstützen muss, S. 75-84 Aus Kritik an der globalen Dominanz der USA zögern manche europäische Linke bei der Unterstützung der Ukraine. Das aber ist grundfalsch, argumentiert der Co-Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, Cédric Wermuth. Denn eine multipolare Weltordnung dürfe nicht um den Preis entstehen, dass dabei autoritäre Kräfte wie Putins Russland gestärkt werden. Die Linke müsse daher ein Handeln in Widersprüchen lernen – und bei aller Kritik am Westen fest an der Seite der Ukraine stehen.

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Petro Burkovskiy und Andreas Umland: Auf dem Weg zur »Dritten Republik«? Die Ukraine zwischen Kriegswirtschaft und europäischer Integration, S. 85-92 Russlands verheerender Krieg gegen die Ukraine erweist sich auch als Triebkraft für einen tiefgreifenden Wandel der ukrainischen Gesellschaft. Manche sprechen gar von der Entstehung einer „dritten Republik“. Die Politikwisseschaftler Petro Burkovskiy und Andreas Umland beleuchten, wie der Krieg die ukrainische Innenpolitik prägt – und dabei destruktive wie konstruktive Veränderungen hervorbringt.

Frauke Banse: Die neue Schuldenkrise. Wie die internationale Entwicklungspolitik den Globalen Süden ruiniert, S. 93-99 Spätestens seit der Übernahme der Credit Suisse durch die UBS ist in Europa ist von einer drohenden neuen Bankenkrise die Rede. Nahezu unbeachtet von der hiesigen Öffentlichkeit bahnt sich im Globalen Süden dagegen schon lange eine tiefgreifende Schuldenkrise an – massiv verstärkt durch Pandemie, Ukrainekrieg und Inflation. Die Politikwissenschaftlerin Frauke Banse erklärt, wie die westliche Entwicklungshilfe diesen Trend befeuert – und warum die marktbasierte Entwicklungsfinanzierung gescheitert ist.

Daniel Fuchs und Christa Wichterich: Essen auf zwei Rädern: PlattformKapitalismus auf Chinesisch, S. 103-108 China verfügt über die größte Plattformökonomie der Welt, in der CoronaPandemie übernahmen Fahrradkuriere einen wichtigen Teil der Lebensmittelversorgung. Jedoch hat dieses Modell enorme Schattenseiten, so der Politikwissenschaftler Daniel Fuchs und die Soziologin Christa Wichterich. In der kaum regulierten Branche sind die Kurierfahrer zunehmend überlastet – und greifen verstärkt zu Arbeitskämpfen.

Thomas Fuchs: Was wird aus dem Menschen? Plädoyer für einen neuen Humanismus, S. 109-122 Wie kann der Mensch dem Allmachts-Ohnmachts-Komplex der atheistischen Moderne entkommen, ohne sich dabei selbst zu opfern, etwa indem er in Maschinen aufgeht? Der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs stellt dem neodarwinistischen Posthumanismus des Silicon Valley einen zeitgemäßen und lebensbejahenden Humanismus entgegen, der Körperlichkeit, Lebendigkeit und Ökologie in den Mittelpunkt stellt.

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ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

Das unlösbare Dilemma 75 Jahre Israel und die Zukunft der ethnischen Demokratie Von Richard C. Schneider

A

m 14. Mai dieses Jahres jährt sich die Gründung des Staates Israel zum 75. Mal – und angesichts der radikalen Reformvorhaben der Regierung Netanjahu wird im In- und Ausland nur noch vom möglichen Ende der israelischen Demokratie gesprochen. Hunderttausende Israelis demonstrieren seit Bekanntwerden der Pläne gegen die Regierung. Und die Liste derjenigen, die vor den Folgen dieser Reform warnen, die fürchten, dass Israel bald ein Staat werden könnte wie Ungarn, Polen oder die Türkei, diese Liste wird lang und länger. Tatsächlich aber stellt sich eigentlich eine noch fundamentalere Frage: Was macht eine Demokratie überhaupt aus? Und wie begreift, wie definiert sich die israelische Demokratie? Jeder weiß, dass Demokratien in jedem Land anders aussehen und anders funktionieren. Bereits zwischen Frankreich und Deutschland gibt es entscheidende Unterschiede. Frankreich ist eine Präsidialdemokratie, Deutschland nicht. Frankreich ist laizistisch, Deutschland säkular. Frankreich ist zentralistisch, Deutschland föderalistisch. In Frankreich galt seit jeher das Ius soli, auch Geburtsortprinzip genannt, das heißt, wer in Frankreich geboren wird, ist automatisch französischer Staatsbürger; in Deutschland galt bis Anfang der 2000er Jahre das Ius sanguinis oder Abstammungsprinzip, man musste also „vom Blute“ her bereits Deutscher sein, um direkt bei der Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen. Die Unterschiede ließen sich beliebig fortsetzen. Doch letztendlich einen die meisten Demokratien westlicher Prägung einige wichtige Prinzipien. Politische Gleichheit ist ein konstitutives Element der Staatsbürgerschaft in einer liberalen Demokratie. Der Nationalismus ist hier eine Art bürgerlicher Nationalismus jenseits ethnischer Identitäten. Vor allem behauptet diese Demokratieform, dass alle Bürger zur dominanten Kultur des Staates gehören. Dass diesen Idealen inzwischen selbst westeuropäische Staaten in der Praxis nicht mehr unbedingt entsprechen, ist Ausdruck einer Krise, die Fragen aufwirft, ob dieses Ideal in der Realpolitik auf Dauer funktionieren kann. Manche Staaten entwickeln sich daher zu multikulturellen Demokratien,

* Der Beitrag basiert auf „Die Sache mit Israel: Fünf Fragen zu einem komplizierten Land“, dem jüngsten Buch des Autors, das soeben in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen ist.

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48 Richard C. Schneider die wiederum andere Regelungen für das Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien entwickelt haben, beispielsweise Kanada, das ein grundlegend anderes Einwanderungs- und damit auch Staatsbürgerschaftsrecht hat als viele andere liberale Demokratien.

Was bedeutet Demokratie in Israel? Die Definition Israels als „ethnische Demokratie“ beschreibt die Realität ziemlich gut. Das Englische „The Jewish nation state“ ist dabei präziser als das deutsche „der jüdische Staat“. Vor 75 Jahren wurde ein jüdischer Staat gegründet, von Menschen, die als Schicksals- und Glaubensgemeinschaft in der ganzen Welt verstreut und durch eine gemeinsame Hoffnung, ein gemeinsames Ziel verbunden gewesen waren. Die Gründung des jüdischen Staates ist einzigartig in der Geschichte der Menschheit, weil sie von einer metaphysischen Idee getragen war, der Rückkehr nach Zion nach 2000 Jahren. Es war nicht die Selbstermächtigung einer Bevölkerung, die auf ein und demselben Fleckchen Erde lebte und sich jetzt unabhängig machte. Es war nicht die Veränderung eines bereits existierenden Staates, beispielsweise von einer Monarchie zu einer Demokratie, es war nicht der freiwillige oder unfreiwillige Zusammenschluss eines Staatenverbundes. Die Gründung Israels, die in der Unabhängigkeitserklärung ein klares Bekenntnis zu einer freiheitlich-liberalen und demokratischen Gesellschaftsordnung formulierte, war nicht weniger als die „Fleischwerdung“ eines Traums, vergleichbar vielleicht nur noch mit der Gründung der USA, die ja ebenfalls von einer Idee ausging. Für die nichtjüdische Welt, insbesondere in Europa, war das Entstehen Israels vor 75 Jahren eine Provokation. Denn es kippte nicht zuletzt ein Jahrhunderte altes Bild „des Juden“ auf den Müllhaufen der Geschichte und hielt der nichtjüdischen, antisemitischen Welt einen Spiegel vor. „Der Jude“ hatte plötzlich Muskeln, Waffen, war aggressiv, wehrte sich und beging, ja, auch das, Verbrechen. „Der Jude“ war in die Geschichte zurückgekehrt. Als Akteur. Nicht mehr als Opfer, nicht mehr als bleiches Wesen, das sich als „Geldwechsler“ oder „Talmudgelehrter“ in den kruden, von Vorurteilen bestimmten Köpfen einer intoleranten, feindlich gesinnten Mehrheitsgesellschaft festgesetzt hatte. Als Opfer der Massenabschlachtung seines Volkes, noch drei Jahre vor der Gründung des jüdischen Staates, als „der Jude“ längst nur noch zu Zahlen oder „Ratten“ mutiert war. „Solange noch im Herzen eine jüdische Seele wohnt und nach Osten hin, vorwärts, ein Auge nach Zion blickt, solange ist unsere Hoffnung nicht verloren, die Hoffnung, zweitausend Jahre alt, zu sein ein freies Volk, in unserem Land, im Lande Zion und in Jerusalem!“, so lautet der Anfang des Textes der Nationalhymne Israels. Was in Israel geschieht, ist die klare Propagierung des zionistischen Ideals von vor der Staatsgründung und damit eines jüdischen und nicht israelischen Nationalismus, der alle Bevölkerungsgruppen beinhalten würde. Selbst wenn Araber in Israel über eigene Institutionen in

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75 Jahre Israel und die Zukunft der ethnischen Demokratie Sachen Religion, Medien, Kultur, Erziehung und sogar in der Kommunalpolitik verfügen, so werden diese dennoch vom Staat kontrolliert. Die ethnische Mehrheit setzt ihre nationalen Ideologien um, die schon vor der Staatsgründung existierten. Die „israelischen Araber“ machen zwanzig Prozent der Bevölkerung des jüdischen Staates aus. Damit steht ein Fünftel der Staatsbürger unter Dauerverdacht, gegen den Staat zu agitieren, möglicherweise sogar mit Waffengewalt und Terror. Das geschieht auch immer wieder, wenngleich sehr viel seltener, als Rechtsnationale dies darstellen. Das Misstrauen gegenüber den arabischen Israelis wird geschürt und wächst, und zwar reziprok zu einer anderen Entwicklung: Mehr und mehr israelische Araber werden Teil der israelischen Kultur, ob sie wollen oder nicht, ob die jüdischen Israelis das wollen oder nicht.

1948 oder: Fünf arabische Armeen gegen den israelischen Staat In der Folge des Unabhängigkeitskrieges von 1948 standen die rund 150 000 Araber, die damals in Israel geblieben waren, bis 1966 unter Militärrecht. Mit den Idealen einer Demokratie, gar einer Demokratie aller seiner Bürger, hatte das natürlich nichts zu tun. Aber die Situation war einzigartig. Fünf arabische Armeen hatten sich 1948 gegen Israel verbündet und versucht, den jüdischen Staat zu zerstören, noch ehe er so richtig existierte. Im Verlauf dieses Krieges flohen rund 750 000 Araber aus dem Gebiet, das heute als Kernland Israels bezeichnet wird. Sie wurden von den Israelis vertrieben, es gab aber auch Aufrufe zur Flucht von arabischen Staaten, damit die arabische Armee durchmarschieren könnte, um die Zionisten zu vernichten. Doch nicht alle Araber flohen oder wurden vertrieben. Einige blieben, manche kehrten nach dem Krieg zurück. Auch wenn sie noch viele Jahre dem Militärrecht unterstanden, weil man nicht so recht wusste, ob man ihnen trauen kann, und man sie auf diese Weise besser kontrollieren konnte, so gewährte Israel von den 150 000 Arabern nach dem Waffenstillstand 60 000 sofort die Staatsbürgerschaft. Andere bekamen sie etwas später, sie mussten erst bestimmten Kriterien entsprechen. Wenn es nach David Ben Gurion, dem Staatsgründer und ersten Premier Israels, gegangen wäre, dann hätten diese 150 000 Menschen die Staatsbürgerschaft nie bekommen: „Diese Araber sollten hier nicht leben. Jeder, der glaubt, dass die Araber ein Anrecht auf die Staatsbürgerschaft im jüdischen Staat haben, meint damit, dass wir de facto unsere Koffer packen und gehen sollten.“ Das war derselbe Ben Gurion, der noch 1937 auf dem 20. Zionistenkongress von „einem Gesetz für den Fremden und den Staatsbürger“ gesprochen hatte, der erklärte, dass der „jüdische Staat ein Vorbild für die Welt im Umgang mit Minoritäten und Ausländern“ sein werde. Ben Gurion wurde bei der Frage, ob man den in Israel verbliebenen Arabern die Staatsbürgerschaft geben solle oder nicht, von seiner eigenen Partei, der Mapai, überstimmt. Das liberal-demokratische Prinzip hatte die ethno-nationale Überzeugung niedergerungen, eine Auseinandersetzung, die sich durch die gesamte Geschichte Israels ziehen wird.

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50 Richard C. Schneider Theodor Herzl hatte dazu in seinen Texten eine viel klarere und eindeutigere Haltung. Er träumte von der absoluten Gleichberechtigung der arabischen Bürger im jüdischen Staat, die sich am Aufbau des Gemeinwesens genauso beteiligen sollten wie die Juden. In seinem Roman „Altneuland“ betont Herzl, dass auch Nichtjuden völlig gleichberechtigt in diesem Staat leben sollen und dürfen. Religion sollte in seinem Staat keine große Rolle spielen und wenn, dann ebenfalls mit den gleichen Rechten, parallel nebeneinander. Bei dem Sedermahl, dem ersten Abend des jüdischen Pessachfestes, das im Hause von David Littwak stattfindet, einem der jüdischen Protagonisten des Romans, sitzen Christen und auch dessen Freund, der Türke Reschid Bey, selbstverständlich mit am Tisch. Doch Ben Gurion lebte 1948 und nicht wie Herzl vor der Staatsgründung. Er ahnte möglicherweise schon damals, welche Konsequenzen sich aus diesem Schritt – der Staatsbürgerschaft für die Araber – für die Zukunft ergeben könnten, ergeben würden. Ihm ging es um den Erhalt der jüdischen Identität des Staates, um das Überleben des jüdischen Volkes. Nach der Shoah, die zwar nichts mit der Entstehungsgeschichte des Zionismus zu tun hatte, die der Gründung Israels jedoch unmittelbar vorausging und den Willen der internationalen Staatengemeinschaft, den Juden einen Staat zu gewähren, sozusagen „intensiviert“ hat, wurde dies zur höchsten Priorität der israelischen Politiker in Palästina, die nun wussten, dass das europäische Judentum so gut wie ausgerottet worden war.

Das Scheitern aller Friedensbemühungen Was Ben Gurion möglicherweise schon damals voraussah, waren die komplexen Folgen dieses schwierigen Zusammenlebens zwischen Juden und Arabern. Die Versuche, zwischen Palästinensern und Israelis Frieden zu schaffen, sind inzwischen komplett gescheitert, trotz des berühmten Handschlags zwischen Yassir Arafat und Yitzhak Rabin 1993 im Rosengarten des Weißen Hauses in Washington, als das Oslo-Abkommen unterschrieben wurde und die Hoffnung aufkeimte, es könne eine Zwei-Staaten-Lösung geben. Seitdem hat sich die Situation ständig verschlechtert und beide Seiten wurden immer unbeweglicher und starrer, und mehr und mehr Israelis sagen, die Palästinenser wollten in Wirklichkeit eine Anderthalb-zu-einer-halben-StaatenLösung: Es war Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, der vor einigen Jahren öffentlich verkündete, dass in einem palästinensischen Staat niemals Juden leben dürften. Aha, sagte man sich in Israel, aber die Palästinenser dürfen in Israel leben? Und wollen noch totale Gleichberechtigung haben? Für die Palästinenser also anderthalb Staaten, für die Juden nur noch ein halber, und schließlich gar kein Staat mehr, weil sie demografisch untergehen würden? Immer mehr Israelis sind inzwischen davon überzeugt, dass es den Palästinensern, selbst den sogenannten moderaten, nicht um 1967, sondern um 1948 geht, mit anderen Worten: um ganz Israel. Der gesamte jüdische Staat soll verschwinden, egal, welche Grenzen er hat.

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75 Jahre Israel und die Zukunft der ethnischen Demokratie Seit Benjamin Netanjahu zum ersten Mal zum Premier gewählt wurde, hat er an der Spaltung des Landes gearbeitet, hat er einen tiefen Graben zwischen seinen Anhängern und dem Rest des Volkes gerissen. Linke wurden als „Antizionisten“ verunglimpft, man war für oder gegen ihn, der politische Gegner wurde zum Feind, nicht zum Mitbewerber innerhalb eines demokratischen Systems. Entsprechend rüsteten Netanjahu und die Seinen, von denen viele noch sehr viel weiter rechts stehen als er selbst, auf. Verbal sowieso, aber auch ganz real mit Fäusten und Waffen. Tätliche Angriffe auf tatsächliche oder vermeintliche Linke waren bald keine Seltenheit mehr. Araber wurden von diesen extremen Rechten sowieso gehasst. Nach jedem Terroranschlag oder während eines Krieges liefen sie sogar durch die Straßen des liberalen Tel Aviv und brüllten „Maved le Aravim“, Tod den Arabern. Sie konnten das ungehindert tun, die Polizei griff nur ein, wenn sie jemanden attackierten, vor allem, wenn sie einen Juden angriffen. Wenn ein Araber Opfer eines solchen Angriffes wurde und die Polizei gerade nicht anwesend war, ließ diese sich auch schon mal ein wenig Zeit, bis sie am Tatort erschien. Das berichteten mir viele meiner arabischen Nachbarn in Yafo (so der jüdische Name für Jaffa), als es während des Gaza-Krieges 2021 zu schwersten Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern kam. In der Straße, in der ich lebte, wurden damals alle Autos angezündet, von arabischen Jugendlichen. (Mein eigenes Auto stand zum Glück in der Garage, es blieb verschont.) Die Situation war schrecklich. Und natürlich kamen jüdische Extremisten nach Yafo und provozierten. Es herrschten bürgerkriegsähnliche Verhältnisse, nicht nur in unserer Stadt, sondern auch in Ramle und Lod, in Akko und anderswo, es gab sogar Tote. Für die islamistische Hamas, die in Gaza das Sagen hatte, war dies ein riesiger Erfolg. Sie hatte den vierten Gaza-Krieg seit 2008 eigentlich aus innerpalästinensischen Gründen initiiert. Denn Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, der seit 2005 im Amt ist, aber nur für vier Jahre gewählt war, hatte seitdem immer wieder Wahlen angekündigt, doch noch jedes Mal im letzten Moment abgesagt, weil er wusste, seine Fatah-Organisation würde gegen die Hamas verlieren. So auch im Frühjahr 2021. Erneut hatte er freie Wahlen versprochen, erneut hatte er abgesagt. Die Hamas war wütend. Und suchte einen Weg, um Abbas und seiner korrupten Regierung, der Palästinensischen Autonomiebehörde, einen Denkzettel zu verpassen. Die Israelis lieferten ihr dazu die Möglichkeit. Im Mai 2021 kam es in Jerusalem zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften rund um die Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg, den die Muslime Haram al-Sharif nennen, das edle Heiligtum. Die Hamas erklärte sich zum Hüter aller Palästinenser und aller muslimischen Heiligtümer unter israelischer Herrschaft. Sie suchte schon lange einen Weg, das Westjordanland, wo noch Präsident Abbas das Sagen hat, mindestens ideologisch zu übernehmen. Um zu zeigen, dass sie, die Hamas, die wahre Verteidigerin palästinensischer und muslimischer Interessen ist, feuerte sie mehrere Raketen in Richtung Jerusalem ab. Israel reagierte umgehend.

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52 Richard C. Schneider Da der jüdische Staat ganz Jerusalem als seine ewige Hauptstadt ansieht und sich daher im Recht sieht, auch mit Waffengewalt überall für Ruhe und Ordnung zu sorgen, sah er sich „gezwungen“ zu reagieren. Niemand sollte Israel vorschreiben können, was es in seiner Hauptstadt macht, schon gar nicht die Hamas. Es kam zum Krieg, der dem damaligen Noch-Premier Netanjahu nicht ganz unwillkommen war, da er Mühe hatte, sich in seinem Amt zu halten. So ein Krieg aber versammelt die ganze Nation hinter ihrem Regierungschef. So hoffte Netanjahu – wenngleich vergeblich, Naftali Bennett wurde schließlich neuer Premier. Ein Ergebnis dieses Krieges waren die schlimmsten arabischen Unruhen innerhalb des Kernlandes Israels seit Jahrzehnten. Unter den Augen der israelischen Sicherheitskräfte und des Inlandsgeheimdienstes war es der Hamas und den Imamen, die ihr nahestehen, gelungen, eine neue Generation arabischer Israelis ideologisch auf die Seite der Hamas zu ziehen, und vor allem, sie davon zu überzeugen, dass sie sich einmischen müssen, wenn das palästinensische Volk in Gaza oder im Westjordanland unter Druck gerät oder gar angegriffen wird. Für viele Israelis waren die Straßenschlachten in den arabischen Städten des eigenen Landes eine Bestätigung, dass die arabischen Bürger eine „Fünfte Kolonne“ sind, dass man ihnen nicht trauen könne. In der Praxis der gemischten Städte sah dies allerdings ganz anders aus. Ali, der Besitzer eines kleinen Supermarktes gleich bei mir um die Ecke, kontaktierte mich beispielsweise sofort via WhatsApp. Alle Nachbarn in meiner Straße gründeten diese Chat-Gruppe, um sich gegenseitig zu unterstützen und zu helfen, Juden, Christen, Muslime. „Wenn du irgendwo nach Ajami musst, ruf mich an, ich bringe dich hin“, bot mir Ali an. Ajami ist ein Stadtteil Yafos, der immer schon besonders gefährlich war wegen der Drogenbandenkriege, in diesen Tagen aber für Juden noch viel mehr. „Und wenn du irgendwohin musst, nach Bat Yam oder auf ein Amt, gib mir Bescheid, ich gehe gern mit dir mit“, entgegnete ich ihm. In diesen Tagen waren die Zusammenkünfte auf der Straße unter den Nachbarn besonders herzlich. Wer hier wohnte, wollte nichts als Ruhe und eine gute Nachbarschaft. So war es auch in vielen anderen gemischten Städten. Die Komplexität der Situation in Israel lässt sich an diesem Beispiel ganz gut aufzeigen. Denn der Konflikt ist nicht einfach der Konflikt. Es ist immer die Frage, auf welcher Ebene man ihn betrachtet. Es gibt so viele Ebenen, auf jeder stellt sich „HaMatzav“ anders dar. Auf der persönlichen: Freundschaft, gute Nachbarschaft. Im Kulturellen: eine gewisse Angleichung. Shisha-Bars werden längst nicht nur von Arabern besucht, sondern auch von jüdischen Israelis, deren Familien aus dem Orient stammen, wenngleich man unterschiedliche Bars aufsucht, wo man sich nicht begegnet. Sogar junge Ashkenasim lieben inzwischen die Wasserpfeife. Im Religiösen: Man lässt sich überwiegend in Ruhe, man kennt und versteht die Gepflogenheiten des anderen. Judentum und Islam sind sich in vielen Traditionen und Regeln ähnlicher als Judentum und Christentum. Und auf der politischen Ebene? Da herrschte lange Zeit Pragmatismus. Etwa als Mansour Abbas sich im Mai 2022 gezwungen sah, für eine Zeit die

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75 Jahre Israel und die Zukunft der ethnischen Demokratie Koalitionsbeteiligung „ruhen“ zu lassen, um nicht mittragen zu müssen, wie die Sicherheitskräfte auf dem Tempelberg während der palästinensischen Unruhen gewaltsam einschritten. Dieser Schritt war mit Premier Naftali Bennett abgesprochen und von den religiösen Führern der Ra’am-Partei genehmigt worden. Abbas und die Seinen gehören zwar zu den Muslimbrüdern, aber zu jenen im südlichen Teil von Israel, die sehr viel friedfertiger und pragmatischer sind als die Muslimbruderschaft im Norden des Landes mit der Stadt Umm al-Fahm als Zentrum. Kaum waren die Unruhen vorbei, „trat“ die Ra’am der Koalition wieder „bei“. Man muss nur kreativ sein, dann findet man im komplexen Kuddelmuddel des palästinensisch-israelischen Konflikts Lösungen.

Der Blick »von oben« und das fatale »Nationalstaatsgesetz« Doch dann ist da schließlich der Blick „von oben“, das Makro. Die Frage, wie diese „ethnische Demokratie“ mit ihrer Minderheit umgeht, welche Rolle die palästinensischen Bürger des jüdischen Staates spielen, spielen dürfen. Ja, dem Gesetz nach haben sie alle Individualrechte wie jüdische Bürger auch, aber jeder in Israel weiß, dass sie de facto benachteiligt werden. Dass sie strukturell schlechter gestellt sind als die jüdische Bevölkerung. Dass Staatsgelder mehr in jüdische Initiativen gesteckt werden als in arabische. Dass jüdische Dörfer eher neue Straßen und eine bessere Infrastruktur zugesprochen bekommen als die arabischen Dörfer. Die Rede ist hier von arabischen Dörfern innerhalb der Grenzen von 1967, wohlgemerkt. Um das, was sowieso offensichtlich ist, noch einmal gesetzlich festzuschreiben, hatte sich die Regierung Netanjahu 2018 für die Verabschiedung des sogenannten „Nationalstaatsgesetzes“ entschieden. Das Gesetz ist im Grunde überflüssig, denn es wiederholt Dinge, die längst in Stein gemeißelt sind, etwa die Tatsache, dass der Staat Israel einen jüdischen Charakter hat, dass er die „nationale Heimstätte des jüdischen Volkes“ und Jerusalem die vereinte Hauptstadt ist. Dies wurde in diesem Gesetz noch einmal festgehalten, weil Islamisten zu jenem Zeitpunkt immer häufiger die Legitimation des jüdischen Staates in Zweifel zogen. Doch nicht nur sie. Die Boykottbewegung BDS, die auch viele europäische und amerikanische Intellektuelle anzieht, stellt ebenfalls die Frage nach der Legitimität Israels. Dieses Gesetz wollte dem etwas entgegensetzen. War bis dato Arabisch neben Hebräisch die zweite offizielle Sprache des Landes, so erhielt sie nun nur noch einen Sonderstatus, der im Gesetz nicht weiter definiert wird. Es erklärt außerdem, dass die Förderung jüdischer Siedlungen von nationalem Interesse sei. Die Betonung liegt auf jüdisch, nicht israelisch. Das Gesetz unterstützt den Bau und die Erweiterung jüdischer Siedlungen, die gefördert werden sollen. Mit anderen Worten: Arabische Siedlungen sind nicht von nationalem Interesse und damit, zumindest diesem Gesetz nach, auch nicht, sie zu fördern. Das Gesetz war zugleich eine Reaktion auf ein Papier, das palästinensisch-israelische Rechtsanwälte, Intellektuelle und Politiker einige Jahre

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54 Richard C. Schneider zuvor geschrieben hatten und das in arabischen Kreisen großen Zuspruch gewann: „The Future Vision of the Palestinian Arabs in Israel“. Dieses Dokument verlangte nicht nur eine Verbesserung und Gleichstellung der palästinensischen Bevölkerung bei der Verteilung von Rechten, Ressourcen, Fördermitteln, Sozialleistungen und vielem mehr. Es forderte die Anerkennung der palästinensischen Bürger als „homeland minority“. Der Staat sollte seine Verantwortung für die „Nakba“, die Vertreibung und Flucht der Palästinenser während des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948, zugeben und eine angemessene Restitution zahlen.

Die Wiederholung des Ewigselben Was diese „Future Vision“ aber letztendlich fordert, ist die faktische Gleichstellung von palästinensischen und jüdischen Bürgern. Israel solle endlich der „Staat aller seiner Bürger“ werden, also ein klar liberal-demokratisches Prinzip. Auffällig an dem Papier ist, dass darin nicht einmal der Hauch einer Anerkennung des Staates Israel durch die arabische Bevölkerung vorkommt. Seine Existenz wird de facto hingenommen, aber anerkannt? Nein, das nicht. Aus jüdischer Sicht ist diese „Future Vision“ also lediglich die Wiederholung des Ewigselben. Den jüdischen Staat gibt es, aber die Palästinenser wollen ihn nicht akzeptieren. Und wenn es ihn schon gibt, dann muss er seinen jüdischen Charakter aufgeben, er muss sich selbst aufgeben und damit seinen ethno-demokratischen Charakter, der allein seine Existenz als jüdischer Staat garantiert. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Warum sollen jüdische Israelis palästinensische Israelis zu hundert Prozent gleich behandeln, wenn diese dem Staat gegenüber nicht loyal sind? Demgegenüber steht: Warum sollen palästinensische Israelis dem Staat gegenüber loyal sein, wenn dieser es nicht zu hundert Prozent ihnen gegenüber ist? Dieses Dilemma scheint unauflösbar. Liberaldemokratisches Denken steht auch heute noch ethno-demokratischem Denken gegenüber. Der Gesellschaftsvertrag muss ständig neu verhandelt, der Ist-Zustand immer wieder neu justiert werden, um ein Zusammenleben irgendwie zu ermöglichen. Oder um es endgültig zu zerstören. Viele liberale Israelis kritisierten das Nationalstaatsgesetz. Sie halten es für überflüssig und rassistisch. Doch nur eine Minderheit jüdischer Israelis würde die Forderungen der „Future Vision“ unterstützen und dafür plädieren, Israel nicht mehr als jüdischen Staat zu definieren, sondern als „Ein Staat für zwei Völker“. Die Mehrheit, selbst wenn sie antirassistisch ist, wäre nicht bereit, Israel als jüdischen Staat aufzugeben. Oder, wie mein Freund Moshe es einmal formulierte: „Ich habe keine Lust, eines Tages nicht mehr am Kikar Rabin, am Rabinplatz, sondern am Kikar Arafat, am Arafatplatz, zu demonstrieren.“ Der Kikar Rabin ist jener riesige Platz vor dem Rathaus mitten in Tel Aviv, wo 1995 der israelische Premier Yitzhak Rabin von einem jüdischen Fanatiker erschossen wurde. Ausgerechnet auf der größten Friedensdemonst-

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75 Jahre Israel und die Zukunft der ethnischen Demokratie ration, die in Israel jemals stattgefunden hat. Das Oslo-Abkommen mit den Palästinensern war damals gerade zwei Jahre alt, Israel hatte begonnen, sich aus Teilen der besetzten Gebiete zurückzuziehen. Das passte der israelischen Rechten nicht. Morddrohungen gegen Rabin gehörten zum Alltag. In Jerusalem war es zu einer Gegendemonstration gekommen, auf der Plakate von Rabin in SS-Uniform gezeigt wurden. Einer, der auf dieser Demo gegen Rabin und das Abkommen wetterte: Benjamin Netanjahu. Ihm wurde lange vorgeworfen, dass er mitverantwortlich sei für die Ermordung des sozialdemokratischen Premiers. Netanjahu weist bis heute jede Verantwortung zurück und erklärt immer wieder, er habe die Plakate auf der Demo angeblich nicht gesehen.

Wo ist die Grenze? Und wo ist sie überschritten? 1995 hieß der Rabinplatz in Tel Aviv noch „Platz der Könige Israels“. Doch nach der Ermordung wurde er zu Ehren des Premiers umbenannt. Dort kommen seit Jahrzehnten alle zusammen, die gegen oder für die Politik der jeweiligen Regierung demonstrieren wollen. Rechte und Linke, religiöse Orthodoxe und Atheisten, messianische Siedler und Kommunisten. Moshe, der politisch irgendwo links der Mitte zu finden ist und lange Jahre in der Armee einen Job machte, über den er nie reden durfte, spricht aus, was viele denken. Wo ist die Grenze? Und wo ist sie überschritten? Wie viel kann, darf, soll man den palästinensischen Bürgern geben, ohne dass sie Israel komplett übernehmen? Kikar Arafat mitten in Tel Aviv? Das ist eine Metapher für ein tiefsitzendes Problem. Doch man muss unterscheiden: zwischen dem Rechtsruck und wachsendem Rassismus, der die Demokratie weltweit – und keineswegs nur in Israel – bedroht, und der klaren Notwendigkeit Israels, eine ethnische Demokratie bleiben zu müssen, wenn der jüdische Charakter des Staates erhalten bleiben soll. Eine vollständig pluralistische Gesellschaftsform mit totaler Gleichstellung aller gesellschaftlicher Gruppen wird es in Israel nie geben, es wäre das Ende als Staat, wie er jetzt existiert. Das wird die jüdische Mehrheit nicht akzeptieren, selbst, wenn die Progressiven und Woken im Inund vor allem im Ausland das anders haben wollen. Aber wie schon gesagt, das Jüdische ist eine partikularistische Identität. Seit mehr als 3000 Jahren. Nur so hat das Judentum bis heute überlebt. Warum also sollte man ein derartiges Erfolgskonzept aufgeben, werden sich die meisten jüdischen Israelis fragen – jetzt und auch in Zukunft.

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Die Sehnsucht nach dem Schah Über die Geschichtsvergessenheit bei den iranischen Protesten Von Katajun Amirpur

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eim hiesigen Blick auf die noch immer anhaltenden Proteste im Iran gilt es, zwei Missverständnisse auszuräumen: Erstens, es geht bei den iranischen Protesten nicht ums Kopftuch, sondern darum, wofür das Kopftuch steht. Nämlich dafür, dass der iranischen Bevölkerung von Staats wegen das Recht auf Selbstbestimmung verweigert wird. Und zwar in allen Bereichen. Dafür ist das Kopftuch das Symbol und darum reißen sich die Frauen es jetzt vom Kopf. Das ist, zweitens, nicht grundsätzlich islamophob. Es ist nur insofern gegen den Islam gerichtet, als es die menschenverachtende Auslegung des Islam durch die Islamische Republik kritisiert. Damit ist auch die Sorge vor allem der deutschen Linken unbegründet, islamophob zu sein, wenn sie sich hinter die Protestierenden stellen. Von dieser Solidarität sehe ich allerdings noch zu wenig. Was ich leider auch nicht sehe in diesen Tagen und Monaten, ist Geschichtsbewusstsein. Insbesondere in Bezug darauf, wie viele monarchistische Flaggen bei den Demonstrationen gegen das iranische Regime geschwenkt werden. Hier in der Diaspora, hier bei uns sind die Flaggen der Monarchie eindeutig in der Überzahl. Doch woher kommt diese Geschichtsvergessenheit? Kann es tatsächlich sein, dass inzwischen so viele vergessen haben, wieso es 1978 im Iran zu einer Revolution gekommen ist? Zwar ist völlig klar, dass es in der Islamischen Republik schlimmer geworden ist als unter dem Schah. Aber das ist nicht mein Punkt. Mein Punkt ist, dass wir nicht vergessen sollten, dass es auch unter dem Vorgängerregime schlimm war. Es ist keinesfalls grundlos und nicht einfach so zu einer Revolution gekommen. Im Moment sehe ich eine große Geschichtsvergessenheit sowohl bei den „gewöhnlichen“ Iraner:innen als auch bei dem Nachkommen des letzten Schahs von Iran, Reza Pahlavi, der sich bis heute nicht mit der Herrschaft seines Vaters auseinandersetzt. Zwar darf man in der Tat die Kinder nicht für die Taten ihrer Eltern verantwortlich machen, wie Reza Pahlavi Junior zu Recht betont. Ich würde auch nicht so weit gehen wie die deutsch-iranische Schrift-

* Der Beitrag basiert auf dem Vortrag der Autorin bei der Veranstaltung „Den Wind in den Haaren spüren. Iran und die Rechte von Frauen. Ein aktualisierter Blick zum internationalen Frauentag“ am 7. März 2023 im Kölner Rautenstrauch-Joest Museum. Vgl. dazu auch das soeben erschienene Buch der Autorin: Iran ohne Islam. Der Aufstand gegen den Gottesstaat, München 2023.

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58 Katajun Amirpur stellerin Asal Dardan, die meint, dass demokratische Feministinnen „sich nicht mit dem Nachkommen eines diktatorischen Monarchen zeigen sollten, solange er nicht zumindest die brutale Herrschaft seines Vaters öffentlich und klar kritisiert hat. Ohne Distanzierung ist er eine potenzielle Fortführung.“ Gerichtet war das an die Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi und die Menschenrechtsaktivistin Masih Alinejad, die beide kürzlich mit Reza Pahlavi und anderen quasi einen Auslandsrevolutionsrat gebildet haben. Sich gemeinsam zeigen und zusammenarbeiten können sie meiner Meinung nach schon. Aber dennoch sollten Oppositionelle wie Ebadi und Alinejad auf eine Distanzierung drängen. Eine intensivere Auseinandersetzung Pahlavi Juniors mit der Kaiserzeit wäre bitter nötig. Das Kaiserreich war schließlich eine schreckliche Diktatur. Um Amnesty International mit einer Aussage von Mitte der 1970er Jahre zu zitieren: „Kein anderes Land in der Welt steht, was die Wahrung der Menschenrechte betrifft, schlechter da als Iran.“ Damit will ich nicht sagen, dass die Islamische Republik Iran das Kaiserreich Iran in der Nichtwahrung der Menschenrechte nicht noch übertroffen hat. Ich wundere mich nur über die Romantisierung jener Zeit. Ex-Kaiserin Farah sagt heute noch: „Mein Mann konnte den Iranern damals nicht mehr Freiheiten geben. Sie waren noch nicht so weit.“ Die Untertanen seien unfähig zur Demokratie – das war damals die herrschende Haltung. Woher kommt heute also die Glorifizierung des Kaiserreichs? Eine alte iranische Anekdote vermag eine Antwort zu geben, wenn auch eine sehr zynische: Ein tyrannisch herrschender König wurde auf dem Sterbebett fromm und bereute seine Brutalität gegenüber dem Volk. So bat er seinen Sohn, den Kronprinzen, als künftiger König dafür zu sorgen, dass das Volk ihm, dem Vater, verzeihen und im Guten an ihn denken möge. Der Vater starb und der junge König wusste nicht, wie er den Wunsch seines Vaters erfüllen sollte, und bat daher den Hofminister um Hilfe. Dieser riet ihm, noch despotischer zu regieren als der Vater. So verbreitete der junge König im Land mehr Angst und Schrecken als je zuvor. Das Ziel war erreicht. Alle dachten nun im Guten an den früheren Despoten und sehnten sich nach den alten Zeiten zurück. Erinnern wir uns doch bitte in einem kleinen Parforceritt durch die iranische Geschichte seit den 1950er Jahren daran, wie diese vermeintlich guten alten Zeiten aussahen: Nachdem der Schah von Ministerpräsident Mohammad Mossaddegh im Zuge der Verstaatlichung der Erdölindustrie ins Exil getrieben worden war, was die Mehrheit der Bevölkerung begrüßte, kehrte er nach dem Sturz Mossaddeghs mit Hilfe der Amerikaner und Briten 1953 auf den Pfauenthron zurück. Während seines kurzen Exils hatte der Schah begriffen, dass das Volk ihm gefährlich werden konnte, dass ein vom Volk gestützter Ministerpräsident genug Macht akkumulieren kann. Eine Neuauflage wollte der Schah mit allen Mitteln verhindern. Zu diesem Zweck riss er immer mehr Macht an sich, Macht, die ihm verfassungsmäßig nicht zustand. Doch die Verfassung hebelte der Schah nun peu à peu aus. In einem ersten Akt verbot er die Nationale Front, die Partei Mossaddeghs. Zudem spielte er die gesellschaftlichen Kräfte gegeneinander aus: So ließ er zum

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Die Sehnsucht nach dem Schah 59 Beispiel, als er den Klerus einmal brauchte, die religiöse Minderheit der Bahais über die Klinge springen und duldete 1955 ein gegen diese gerichtetes Pogrom. 1957 dann gründete der Schah mit amerikanischer Hilfe einen Geheimdienst, den SAVAK, der in den folgenden Jahren zum Inbegriff von Terror und Repression wurde. Auch sind viele seiner heute über den grünen Klee gelobten Reformen reinste Augenwischerei: So wird heute gefeiert, dass der Schah 1962 den Frauen das Wahlrecht gab. Allerdings verfügte Iran zu diesem Zeitpunkt nicht einmal über ein Parlament, der Schah regierte mit Dekreten. Was also brachte Frauen dieses Wahlrecht – das er dann ohnehin wieder zurücknahm, um sich der Geistlichkeit anzubiedern.

Aus Protest gegen den Schah: Vor 60 Jahren begann Khomeinis Aufstieg Nachdem der Schah ein weiteres „Reformpaket“ autokratisch durchsetzen wollte, kam es 1963 von klerikaler Seite aufs Neue zu großen Protesten – angeführt von Ayatollah Khomeini, der bis dahin politisch nicht groß in Erscheinung getreten war. Worauf genau seine Kritik in erster Linie zielte, darüber herrscht in der Iranistik-Forschung bis heute Uneinigkeit. Das ist an dieser Stelle auch unwichtig; wichtig ist vielmehr, wie der Schah auf den Protest reagierte. Pahlavi lässt diesen nämlich brutal niederknüppeln. Nach offiziellen Angaben sterben Hunderte Menschen; der Bevölkerung prägt sich hingegen ein, dass Tausende regelrecht abgeschlachtet wurden. Khomeini wird inhaftiert. Nun beginnt das Schah-Regime, jegliche politische Opposition mundtot zu machen. So stellt es die Mitglieder der Freiheitsbewegung vor Gericht – eine religiös-bürgerliche Partei, bestehend aus guten Demokraten; eine Opposition, die lediglich ein Mitspracherecht forderte. Doch auch dieses Wenige ist dem Schah zu viel. Statt die gemäßigte Opposition einzubeziehen, nimmt er sein Vorhaben der staatlich orchestrierten Wahlen unbeirrbar wieder auf, er verschärft Strafmaßnahmen wie Überwachung und schaltet Kritiker aus. Er sieht keinerlei Anlass, seine bisherige Politik zu überdenken oder gar zu revidieren. Weniger servile Mitglieder des politischen Establishments versuchen, den Schah zu einem Kurswechsel zu überreden. Ali Daschti, damals Botschafter im Libanon, warnt beispielsweise davor, die Geistlichkeit gegen sich aufzubringen, sei sie doch traditionell eine Verfechterin der Monarchie. Der Schah aber bleibt unbeeindruckt von solchen Warnungen. Stattdessen treibt er die Unzufriedenen weiter in die Arme Khomeinis. Für den Schah besteht keine Notwendigkeit, nach den Gründen für den Aufstand zu suchen, und er scheint nur seiner eigenen Propaganda zu glauben, wonach mehr Bildung Religiosität vertreibe. Die zunehmenden soziopolitischen Missstände lässt er dabei unbeachtet. Alle Kritiker gelten ihm kollektiv als übelwollende Feinde des Fortschritts. Khomeini wird im April 1964 nach zehn Monaten aus der Haft entlassen. Er zeigt keine Anzeichen von Einschüchterung durch die ihm widerfahrene Behandlung, und als sich eine neue Gelegenheit ergibt, das Regime anzugehen, schafft er es sogar, das Label des Reaktionären abzuschütteln, das ihm

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60 Katajun Amirpur bis dato noch anhaftete. Auslöser dieser neuen Konfrontation ist ein Schritt, der allgemein als die Formalisierung der US-Hegemonie im Iran angesehen wird. Allen amerikanischen Militärberatern sowie ihren Angehörigen wird diplomatische Immunität gewährt. Das Parlament winkt dieses Gesetz durch. Allerdings stößt es sogar in diesem sehr gefügigen Parlament auf Widerstand. Denn das Gesetz sieht für einen Amerikaner, der vorsätzlich einen Iraner umbringt, keine Strafe vor, während ein Iraner, der den Hund eines Amerikaners aus Versehen anfährt, mit einer hohen Strafe rechnen muss. Auch Antiamerikanismus und Antiimperialismus kommen im Iran also nicht völlig unbegründet auf. In der Bevölkerung ist die Empörung über dieses Gesetz so weit verbreitet, dass sich die Menschen hinter Khomeini stellen, der in einer lebhaften Anklage dem Schah vorwirft, die iranische Unabhängigkeit, nationale Souveränität und Würde aufzugeben. Er nennt ihn einen amerikanischen Lakaien, worin ihm auch viele Säkulare zustimmen. Khomeini wird daraufhin verhaftet und in die Türkei abgeschoben, später in den Irak. Von dort aus kann er langsam zum Sprachrohr der Opposition werden. Und der Schah tut unbewusst alles dafür, ihm dabei behilflich zu sein. 1971 etwa inszeniert er die 2500-Jahr-Feier der persischen Monarchie. Ziel der Propagandaveranstaltung ist es, durch Anknüpfung an die vorislamische Geschichte Irans die Legitimation der Monarchie zu stärken. So stellt sich der Schah in eine Reihe mit dem großen Herrscher Kyros. Als Gäste werden zu dieser prunkvollen Zeremonie nur ausländische Würdenträger geladen, die Bevölkerung ist ausgeschlossen. Es wird ein immens verschwenderischer Aufwand betrieben. Neben den Ruinen von Persepolis lässt der Schah eine Zeltstadt aus 37 Kilometern Seide erbauen. Die aus der Wüste gestampfte Oase verfügt über frisch gepflanzte Wälder und Blumen sowie 50 000 aus Europa importierte Singvögel, die für Atmosphäre sorgen sollen, jedoch allesamt jämmerlich in der Wüste verrecken. „Das Milliarden-Camping“ titelte die „Schweizer Illustrierte“. „Das Fest des Jahrhunderts“ war es laut der Zeitschrift „Life“. „Die Mutter aller Partys“ hieß es im „Stern“. Die enorme Verschwendung provozierte Kritiker des Schah-Regimes über alle ideologischen Grenzen hinweg. Oppositionspolitiker Abolhassan Banisadr erinnert sich: „Die Opposition war vereint in ihrer Ablehnung dieser Feier. Er brachte jeden gegen sich auf, wirklich jeden – von den Linken bis hin zu Khomeini in seinem Exil.“ Der äußerte sich lautstark, bezeichnete die Feier als „Festival des Teufels“. Der Schah sei nicht mehr als ein Verbrecher, der das Volk ausraube. Der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann hatte es vorgezogen, nicht persönlich zur Party zu kommen. Denn nach seiner zunächst erfolgten Zusage war Heinemann mit Protesten der deutschen Linken überschüttet worden. Der Staatsbesuch des Schahs in Berlin kurz zuvor hatte 1967 zu großen innenpolitischen Spannungen geführt. Auf die Proteste gegen den Schah in Deutschland hatte der SAVAK mit Attacken auf Demonstranten reagiert. Wir erinnern uns an die Prügel-Perser. Bei einer Demonstration wurde Benno Ohnesorg erschossen – die Initialzündung für die außerparlamentarische Opposition (APO) und damit für die 68er-Bewegung. In dem Jahr, in dem der Schah sein großes Fest feierte, nahm die

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Die Sehnsucht nach dem Schah 61 marxistisch-leninistische Fedaiyan-e chalq ihren Guerillakampf gegen das Schah-Regime auf. Wenig später wurden auch die islamisch-marxistischen Volksmudschaheddin verstärkt aktiv. In den folgenden Jahren wurden bei zahllosen Angriffen Hunderte von Volksmudschaheddin getötet, Tausende ihrer Mitglieder saßen in den Gefängnissen ein und die Repression des SAVAK gegen die Opposition nahm grauenerregende Ausmaße an.

Der Guerillakampf der Marxisten Hinzu kamen hausgemachte wirtschaftliche Probleme. Begründet waren diese in einer fehlgeleiteten Wirtschaftspolitik des Schahs, die wiederum dessen Größenwahn geschuldet waren. Nie zuvor war das Einkommen der Iraner:innen so ungleich verteilt gewesen. Es herrschte eine riesige Kluft zwischen Arm und Reich, und vor allem die Jugend, der es an Studien- und Ausbildungsplätzen fehlte, war unzufrieden. Eine zu rasche Modernisierung hatte das soziale Gefüge der iranischen Gesellschaft regelrecht zerrissen. Und noch ein weiterer Schritt zeugte von der überbordenden Ignoranz des Schahs: 1975 ersetzte er alle Parteien durch die Einheitspartei Rastachiz, die Partei der Auferstehung. Damit wurde das bestehende Zweiparteiensystem abgelöst, wobei es auch schon vorher keine wirkliche Mitsprachemöglichkeit gegeben hatte. Die beiden bisherigen Marionettenparteien trugen daher die Spitznamen „Yes-Partei“ und „Yes-Sir-Partei“. Dennoch kam mit der Gründung der Rastachiz-Partei eine neue Dimension ins Spiel, die das politische System destabilisierte. Der Schah erklärte nämlich, die Bürger hätten die Wahl zwischen Parteimitgliedschaft oder Auswanderung. Mit der Volljährigkeit, so wurde festgelegt, war man automatisch Mitglied. Man brauchte also nicht einzutreten, musste aber gegebenenfalls seinen Austritt veranlassen. Das schien fast allen, die dies wollten, zu gefährlich. Und hier geschah, was es bisher nicht gegeben hatte. Zuvor konnte man in Frieden leben, wenn man den Status quo nicht herausforderte und nicht politisch aktiv war. Das änderte sich jetzt. In der Folge machte sich immer stärkere Unzufriedenheit breit. Viele, besonders die Studierenden, verlangten die Abschaffung der Zensur, sie wollten Meinungs- und Pressefreiheit, kurz: einen Rechtsstaat. Von seinem Exil aus erließ Khomeini eine Fatwa gegen die Rastachiz-Partei. Der Partei beizutreten sei verboten, da sie dem Islam, der Verfassung und internationalen Normen widerspreche. Drei Monate später, anlässlich des zwölften Jubiläums des Aufstands, der Khomeini ins Exil gebracht hatte, folgte eine weitere Erklärung, und eine dritte Fatwa kam ein Jahr später im September 1976. Darin verbot Khomeini den Gebrauch des kaiserlichen Kalenders, den der Schah kurz zuvor eingeführt hatte. Er sollte die islamische Zeitrechnung Irans ersetzen und begann mit der Thronbesteigung des Kyros. Plötzlich hatten wir das Jahr 2535. Dieser neue, sogenannte imperiale Kalender war ein riesiger Affront gegen die Geistlichkeit und trug zur weiteren Entfremdung des Schahs von seinem islamisch geprägten Volk bei. Am 15. November 1977 reiste der Schah in die Vereinigten Staaten. Das gesamte

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62 Katajun Amirpur Spektrum der Opposition nutzte diese Möglichkeit, die Welt über die Menschenrechtsverletzungen des Monarchen zu informieren. Demonstrationen vor dem Weißen Haus, organisiert von der Konföderation der iranischen Studierenden, erzählten in Wort und Bild von seinen Missetaten. Dass sich Jimmy Carter, als er kurz darauf in Teheran Silvester feierte, demonstrativ hinter den Schah stellte, war diesem angesichts der in ihrer Amerikakritik geeinten Opposition auch keine Hilfe. Carter erklärte: „Der Iran ist dank der großartigen Staatsführung des Schahs eine Insel der Stabilität in einer der problemreichsten Regionen der Welt.“ Mit der Insel der Stabilität war es jedoch nicht mehr weit her. Die Revolution kam und siegte. Und sie löste die Herrschaft des Schahs ab – die, ganz gleich, wie man das heute sieht, allzu glorreich nicht war. Insofern irritieren die Interviews von Farah Diba, der Ex-Kaiserin, sehr. Diba sprach in diesen von einer Rückkehr zu einem freien und demokratischen Iran. Rückkehr? Zu einem freien und demokratischen Iran? Da muss ich als Iran-Historikerin etwas verpasst haben. Weder in ihrer Biografie noch in der sehr ausführlichen Dokumentation, die über sie gedreht wurde, lässt Farah Diba Reue erkennen oder eine kritische Distanz, oder auch nur eine Auseinandersetzung mit der Regierungszeit ihres Mannes. Nun mag sie politisch nicht mehr relevant sein. Doch dasselbe gilt auch für ihren Sohn, der erst kürzlich bei der Münchener Sicherheitskonferenz hofiert wurde und sich als Sprachrohr der Iraner:innen inszenierte. Von Natalie Amiri, der bekannten „Weltspiegel“-Moderatorin und ehemaligen Iran-Korrespondentin hierzu befragt, reagierte er ausweichend und ablenkend. Und Amiri erntete in den Social Media einen Shitstorm, nur weil sie eine journalistisch berechtigte Frage gestellt hatte. Das meine ich, wenn ich von geschichtsvergessenen Monarchisten spreche. Andererseits sieht Iran heute, 43 Jahre nach der Machtübernahme Khomeinis, genauso aus wie das fiktive Land aus meiner Anekdote: Die iranische Bevölkerung hat noch weniger politische Freiheiten, ist ärmer als vor der Revolution von 1978/79 und wurde jeder persönlichen Freiheit beraubt. So sehnen sich heute viele Iraner:innen tatsächlich nach den alten Zeiten. Die Parole „Reza Schah, ruhe in Frieden“ ertönte 2017 erstmals auf Demonstrationen. Auch bei den Protesten im Jahre 2018/19 wurden Parolen für den verstorbenen Schah gerufen. In den sozialen Netzwerken sieht man seither immer mehr Videos und Fotos aus der Zeit vor der Islamischen Revolution; Bilder von Frauen in Bikinis und Männern in Shorts, von tanzenden Jugendlichen in Diskos und glitzernden Talkshows im staatlichen Fernsehen. Kürzlich las ich über einen Vorfall an der Uni Teheran, der recht typisch ist für die Denkweise vieler junger Iraner:innen heute. In einem Seminar hatte ein Professor erwähnt, dass in den sozialen Netzwerken und von den ausländischen persischsprachigen Fernsehsendern die schlimmen Bilder aus dem Kaiserreich ja nicht gezeigt würden: etwa von den verarmten Massen in den Slums oder den hingerichteten politischen Gefangenen. Die Mehrheit seiner Studierenden habe ihn daraufhin gefragt, ob ihm nicht bewusst sei, dass die Armut heute ein unvorstellbares Ausmaß angenommen habe und Verhaftungen, Folter und Hinrichtungen an der Tagesordnung seien. Kurz: Iran müsse

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Die Sehnsucht nach dem Schah 63 damals im Vergleich zu heute ein Paradies gewesen sein. Wieder sind wir also bei der anfangs erwähnten Anekdote.

Wider die Geschlechter-Apartheid im Iran Die Romantisierung der Schah-Zeit ist also irgendwie verständlich. Doch ich würde ungern erleben müssen, wie die Frauen und Männer im Iran noch einmal um eine notwendige Revolution betrogen werden. Deshalb brauchen wir auch eine klare Haltung zu der Zeit vor der Revolution. An dieser Revolution beteiligten sich 1978/79 aus guten Gründen Frauen aus allen sozialen Schichten. Sie schlossen sich der revolutionären Bewegung aus den unterschiedlichsten Motiven an: religiös und säkular, ökonomisch und politisch, konservativ, gemäßigt und radikal. Doch die Mehrheit dieser Frauen erwartete, dass die Revolution ihnen eine Ausweitung, nicht eine Einschränkung ihrer Rechte und Möglichkeiten bringen würde. Insofern ist es kein Zufall, dass nun so viele Frauen im Iran protestieren. Sie haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten, als Gruppe betrachtet, am meisten verloren. Im Iran herrscht inzwischen Geschlechter-Apartheid. Gerade Frauen mögen sich in rechtlicher Hinsicht in die Schah-Zeit zurücksehnen, in der es ihnen durchaus besser ging. Vor allem durch das sogenannte Gesetz zum Schutz der Familie aus dem Jahre 1967. Dieses hatte spezielle Gerichte institutionalisiert, die sich mit Streitigkeiten in Bezug auf Ehe, Scheidung und Sorgerecht befassten. Ehemänner benötigten nun die Genehmigung dieser Gerichte, um sich von ihren Frauen scheiden zu lassen, wodurch sie eine Ehe nicht mehr einseitig beenden konnten. Die Zuerkennung des Sorgerechts für die Kinder wurde dem Ermessen der Gerichte überantwortet und nicht mehr wie zuvor automatisch dem Ehemann zugesprochen. Und das Heiratsalter für Mädchen wurde auf 18 Jahre angehoben. Sofort nach der Revolution wurde dieses Gesetzeswerk durch ein Familienrecht ersetzt, das weit stärker auf den Vorgaben des islamischen Rechts beruht. Das Recht auf Scheidung und das Sorgerecht geschiedener Frauen wurden eingeschränkt, das Mindestalter für die Verheiratung von Mädchen wurde zunächst auf 13, dann auf neun Jahre herabgesetzt, inzwischen liegt es bei zehn Jahren. Polygamie wurde erlaubt. Das Zeugnis einer Frau vor Gericht ist nur halb so viel wert wie das eines Mannes, das Gleiche gilt für die finanzielle Entschädigung im Falle eines Unfalls mit tödlichem Ausgang (diye): Die Hinterbliebenen einer Frau erhalten als Entschädigung nur die Hälfte dessen, was man für einen Mann bekommt. Frauen dürfen bestimmte Berufe nicht mehr ausüben, etwa den der Richterin – und Staatspräsidentin können sie in der Islamischen Republik ohnehin nicht werden. Und so mag man trotz all der von mir beschriebenen Gräuel, zu denen es in der Schah-Zeit gekommen ist, vielleicht melancholisch werden – und sich zurücksehnen nach dem Regen, wenn man gerade in der Traufe gelandet ist. Das aber kann das Ziel nicht sein, insbesondere nicht für die unterdrückten Frauen. Es kommt vielmehr darauf an, es in Zukunft ganz anders, nämlich richtig gut zu machen – und nicht nur weniger schlecht.

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Das feministische Paradox Der brutale Backlash gegen die Emanzipation Von Susanne Kaiser

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ie Haustür ist mit Sicherheitsschlössern übersät. Es würde Minuten dauern, sie alle zu öffnen. Frau F. weiß das. Sie hat immer vor Augen, dass sie nicht einfach das Haus verlassen kann. Sie hat Angst. Die verschlossene Tür existiert nicht nur in ihrem Zuhause, sondern auch in ihrem Kopf. Die Vorrichtungen hat ihr Mann während der Pandemie angebracht. Damit sie nicht noch einmal versucht abzuhauen. Schon lange hält sie die Situation mit ihm nicht mehr aus. Seine Gewalt. Die ständigen Drohungen. Die Kontrolle. Sie will wieder Vollzeit arbeiten, er akzeptiert das nicht. Als sie ihn dazu auffordert, Drogen und Alkohol wenigstens vor den Kindern sein zu lassen und von der Couch aufzustehen, um im Haushalt mitanzupacken, würgt er sie. „Er hat Angst davor, die Kontrolle über seine Frau zu verlieren, seinen Machtanspruch, seinen Besitz“, sagt Asha Hedayati, Anwältin für Familienrecht in Berlin. Regelmäßig twittert sie über Gewalt gegen Frauen. 32 000 Leute folgen ihr dabei. Frau F. ist eine ihrer Mandantinnen – eine Juristin, genau wie Hedayati. Und der gewalttätige Mann, um den es in diesem Fall geht, ist ein angesehener Richter in Köln. Bei TikTok macht sich Ende 2021 ein unheimlicher Trend breit: Junge Männer, fast noch Jugendliche, posten kurze Videosequenzen von sich selbst. Sie lächeln verschmitzt in die Kamera, im Hintergrund läuft romantische Musik – eine Atmosphäre wie kurz vor einem Date. Dazu sind Statements zu lesen wie „Stell dir vor, wir zwei hätten ein Stranddate und ich würde deinen Kopf so lange unter Wasser halten, bis du einfach stirbst. Lol“. 134 000 Likes. Oder: „Was, wenn wir ein Go Kart Date hätten und ich dich mit meinem Fahrzeug überfahre bis du f*cking tot bist.“ 360 000 Likes. Weitere Tötungsfantasien der Femizid verharmlosenden Challenge beinhalten Bowlingkugeln, Löwen, Haie und Hanteln. Je grausamer und unerwarteter die Fantasie, desto mehr Aufmerksamkeit ziehen die Jugendlichen auf sich. Zuspruch kommt vor allem aus der männlichen Community. Fast noch Kinder sind auch die Anhänger von Andrew Tate, jenem frauenfeindlichen „Lifecoach“, der im Sommer 2022 von sich reden machte. Er schlägt Kapital daraus, dass männliche Heranwachsende es gerne sehen, wenn jemand provoziert: Frauen sind das Eigentum von Männern, sie kön-

* Der Beitrag basiert auf „Backlash – Die neue Gewalt gegen Frauen“, dem jüngsten Buch der Autorin, das soeben im Klett-Cotta-Verlag erschienen ist.

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66 Susanne Kaiser nen nicht Auto fahren, sie gehören als Hausfrauen ins Haus und tragen eine Mitverantwortung, wenn sie vergewaltigt werden. Es gibt Videos von Tate, in denen er Frauen beim Sex mit einem Gürtel schlägt oder sie dazu auffordert, die blauen Flecke zu zählen, die er ihnen zugefügt hat. Er nennt Frauen „dumme Huren“ und erklärt, wie man am besten mit ihnen umgeht: „Boom ins Gesicht und sie am Nacken packen. Halt’s Maul, Schlampe.“ Was normalerweise in eine obskure Ecke der Mannosphäre gehört, hat Tate auf den gerade von jungen User:innen meistfrequentierten Social-Media-Kanälen salonfähig gemacht. Auf TikTok, Facebook, YouTube, Twitter und Instagram ist er ein Star, der „King of Toxic Masculinity“, mit mehreren Millionen Followern und über 10 Mrd. Views – bis die Plattformen Tates Accounts sperren. Das sind nur drei Beispiele von unzähligen, die alle dasselbe Phänomen beschreiben. Ein Phänomen, das immer weiter um sich greift: Wir erleben einen Backlash gegen den Aufstieg der Frauen, mit ganz neuen Formen der Gewalt. Von immer mehr Seiten schlägt Frauen Feindschaft entgegen. Eine reaktionäre Gegenbewegung greift sicher geglaubte Frauenrechte in westlichen Demokratien an. Mit dem Ziel, die hart erkämpfte Gleichberechtigung mit Gewalt rückgängig zu machen. Schauplätze: das eigene Zuhause, wo die Gewalt gegen Partnerinnen zunimmt. Das Internet, wo sich der Hass auf Frauen vor den Augen der Öffentlichkeit immer heftiger Bahn bricht. Die Politik, wo misogyne Rhetorik immer eher zum Repertoire von rechten Populisten gehört. Das Gesetz, wo autoritäre Antidemokrat:innen hart erkämpfte Frauenrechte zurückschrauben. Und überall dazwischen. Die Pulitzer-Preisträgerin Susan Faludi beschrieb schon 1991 in ihrem feministischen Klassiker „Backlash – The Undeclared War Against American Women“, wie ein massiver Rückschlag in den 1980er Jahren feministische Errungenschaften traf und misogyne Mythen über berufstätige Frauen die Öffentlichkeit fluteten. Faludi verortet diesen Backlash in einem fortlaufenden Zyklus aus feministischem Fortschritt und Rückschritt, ein historisches Pendel, das vor und zurück schwingt. Auf Zeiten der reaktionären Feindschaft gegenüber dem Feminismus folgen demzufolge Zeiten weitverbreiteter Akzeptanz, worauf wieder ein Rückschritt folgt und so weiter. Infolge der Kämpfe der frühen Suffragetten Mitte des 19. Jahrhunderts, der feministischen Bewegungen zu Beginn und Mitte des 20. Jahrhunderts und infolge der zweiten feministischen Welle der 1970er Jahre habe es Backlashs gegeben, analysiert Faludi. Auf den Backlash von heute passt die Metapher der Pendelbewegung aber nicht. Bewegungen und Gegenbewegungen folgen nicht im Wechsel aufeinander, sondern sie laufen eher wie eine Schere auseinander: Frauen sind in immer höheren Machtpositionen vertreten, sie sind als Staatschefinnen tätig und bestimmen die Außenpolitik. Sie sind Influencerinnen auf Twitter, TikTok und Instagram, setzen gesellschaftliche Themen und lenken Debatten. Sie machen Karriere in ehemaligen Männerdomänen und leben sexuell selbstbestimmt, vor den Augen einer riesigen Followerschaft. Und je sichtbarer sie werden, desto mehr Gewalt erfahren sie, weil sie Frauen sind: Partnerschaftsgewalt, Femizide, sexuelle Übergriffe, Stalking, Hetze, Hass-

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Das feministische Paradox 67 kampagnen, völlige Kontrolle über das gesamte Leben – das alles nimmt erschreckende Ausmaße an.

Ein Teufelskreis aus Fortschritt und Backlash Feministischer Fortschritt und männliche Gewalt wachsen also gemeinsam. Ich nenne es das „feministische Paradox“. Je gleichberechtigter Frauen sind, desto mehr geraten sie unter Druck, desto mehr nehmen Hass und Gewalt gegen sie zu – und nicht ab, wie wir bei fortschreitender Gleichberechtigung eigentlich erwarten würden. Auf der einen Seite wird unsere Gesellschaft immer progressiver, scheinbar unaufhaltsam: Bei Facebook kann man zwischen über sechzig Genderidentitäten wählen, bei Amazon gilt eine strikte Diversity-Quote für Drehbücher, Regie und Besetzungen, in öffentlichen Institutionen ist gendergerechte Sprache mittlerweile ganz normal, im Bundestag sitzen zwei trans Frauen. Auf der anderen Seite erleben wir die krassesten Rückschläge: Das fünfzig Jahre alte Recht auf Abtreibung wird in den USA zurückgenommen, die feministische Regierung in Schweden wird vom rechten Lager abgelöst, die Ärztin Lisa-Marie Kellermayr aus Österreich mit misogyner Hetze unter den Augen der Öffentlichkeit und Polizei in den Tod getrieben. Wir haben lange Zeit nicht gesehen, was passiert und was sich da zusammenbraut, weil es ja auch immer weiter mit dem Fortschritt für Frauen und für andere politische Minderheiten ging. Zu lange hat sich die öffentliche Wahrnehmung nur auf die eine, die erfolgreiche Seite der Schere konzentriert und die andere abgetan, als letztes Zucken des Patriarchats. Wir haben Gleichberechtigung für selbstverständlich gehalten und übersehen, wie viele Bereiche noch einer zutiefst patriarchalen Logik folgen, von der Medizin über die Unternehmensführung bis hin zur Stadtplanung. Doch hinter den vielen Einzelphänomenen steckt mehr, als wir vermutet haben, sie hängen zusammen, folgen einer Agenda. Mit dem Aufkommen der MeToo-Bewegung ging ein Hintergrundrauschen einher: Jetzt sei es aber doch zu weit gegangen mit dem Feminismus. Merkel war zwar eine extrem beliebte Bundeskanzlerin, gleichzeitig aber auch die meistgehasste. In Finnland, Schweden und Norwegen stellten Frauen die Mehrheit in den Regierungen, weibliche Abgeordnete aber waren gleichzeitig extremem Cybermobbing ausgesetzt, mehr als anderswo in Europa. Während sich also im Mainstream des gesellschaftlichen Diskurses, in der Öffentlichkeit, alles zum Besseren zu wenden schien, wurde im allgemeinen Jubel übersehen, wie sich in politischen Hinterzimmern, in privaten Räumen oder in der Anonymität des Internets eine machtvolle Gegenbewegung formierte. Die leisen Stimmen, die frühzeitig auf diese Entwicklung aufmerksam machten, haben wir überhört. Oder wir haben sie gehört, aber ihre Erkenntnisse als unwichtige Nebeneffekte abgetan und verdrängt. So kam es zu der verbreiteten Annahme, fehlende Gleichberechtigung finde sich höchstens noch in rückständigen Regionen anderswo auf der Welt, gehöre in unseren westlichen Demokratien der Vergangenheit an. Und wenn es sie doch

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68 Susanne Kaiser noch geben sollte, dann höchstens in den niedrigen sozialen Schichten. Weit gefehlt. Wie die Trends auf TikTok zeigen, sind es vor allem junge Männer oder sogar Jugendliche, die Hass, Sexismus und Gewalt gegen Frauen befürworten und weiterverbreiten. Das Patriarchat ist damit nicht Vergangenheit, sondern unsere Zukunft. Es sind die Erwachsenen von morgen, die schon als Heranwachsende extrem frauenverachtende Einstellungen propagieren – und später mit größerer Wahrscheinlichkeit toxische Beziehungen führen werden, in denen sie auch vor Gewalt nicht zurückschrecken. Die Schlösser an der Haustür der Juristin F. verdeutlichen, dass Gewalt keineswegs nur ein Problem von armen Frauen ist, sondern in der Mitte der Gesellschaft zu finden ist. Akademikerinnen sind neben mittellosen Frauen die andere besonders verletzliche Gruppe. Es trifft sie, wenn sie mit ihrem Partner auf Augenhöhe oder beruflich erfolgreicher sind als er. Während Gewalt in unserer Gesellschaft insgesamt abnimmt, nimmt die Gewalt gegen Frauen kontinuierlich zu. Es gibt immer mehr Männer, die ihre Partnerinnen vergewaltigen, schlagen oder töten, geht aus den Statistiken des Bundeskriminalamts hervor. Vor allem die Pandemie hatte einen Brennglaseffekt auf das Thema „Gewalt gegen Frauen“: Weil die Fälle durch die Lockdowns mit einem Mal deutlich zunahmen und sich 2021 sogar verdoppelten, ist das Problem stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Die Pandemie führte uns also im Zeitraffer vor Augen, was seit zwanzig Jahren der Trend ist: Die Gefahr, in der eigenen Familie oder Partnerschaft Gewalt zu erleben, wird für Frauen immer größer. Es ist dabei nicht ausschließlich die Anzeigebereitschaft, die zunimmt, wie oftmals suggeriert wird. Das Dunkelfeld wächst gleichermaßen, wie jene bestätigen, die mit gewaltbetroffenen Frauen zu tun haben. Anwält:innen, Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen in Frauenberatungsstellen oder Frauenhäusern kämpfen seit Jahren mit steigenden Zahlen. Alarmierend sind außerdem die Formen der Gewalt, die zunehmen: Es werden immer mehr sexualisierte Gewalttaten, offline und online, verübt. Das zeigt, dass es darum geht, Frauen auf ihren Körper zu reduzieren, sie zu unterwerfen und zurück auf einen untergeordneten gesellschaftlichen Platz zu verweisen. Was ist der Nährboden für den Backlash, für den massiven Hass auf Frauen und für die steigende Gewalt? Einerseits ist unsere Welt noch zum größten Teil auf Männer zugeschnitten, orientiert sich an männlichen Maßen und Bedürfnissen. Andererseits sind weiße Heterocis-Männer in gesellschaftlichen Debatten nicht mehr die Norm, nach der sich alles richtet, sondern eine Identität unter vielen. Das bedeutet einen großen Verlust von Gewissheiten und von Privilegien. Die Prägung durch die noch immer wirkmächtigen Erzählungen von männlicher Stärke auf der einen Seite und der gleichzeitig real erfahrbare Geltungsverlust von Männern in der Gesellschaft auf der anderen Seite erzeugen eine Schere von Auftrag und Möglichkeiten – eine Mission Impossible, die viele Männer nur noch mit einem Mittel glauben erfüllen zu können: mit Gewalt. Die Körper von Frauen müssen als Blitzableiter für unauflösbare Konflikte, Niederlagen und Kränkungen, für männliche Machtfantasien und Überheblichkeit herhalten. Und es gibt einen Ort,

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Das feministische Paradox 69 der geradezu symbolisch dafür ist, wie scheinheilig mit dieser alltäglichen Gewalt gegen Frauen umgegangen wird: das Frauenhaus.

Frauenhäuser: Symbol für unseren Umgang mit Gewalt gegen Frauen In Deutschland eröffnete das erste Frauenhaus im Jahr 1976 in Westberlin. Das Bewusstsein dafür, dass Frauen von patriarchaler, struktureller Gewalt betroffen sind und spezielle Schutzräume brauchen, musste allerdings erst durch die Frauenbewegung erkämpft werden. Mehr als zwanzig Jahre später werden Frauenhäuser gebraucht wie nie: 40 000 Frauen fliehen Mitte der 1990er Jahre jährlich vor ihren gewalttätigen Partnern, wie die Humanistische Union im Grundrechte-Report damals anlässlich des 1997 neu beschlossenen Gesetzes zur Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe herausstellt. Weitere zwanzig Jahre später hat sich die Lage sogar noch zugespitzt: „In mehreren Bundesländern sind seit Wochen keine freien Frauenhausplätze zu bekommen. Betroffene Frauen sind verzweifelt auf der Suche nach einem Schutzplatz. Faktisch herrscht vielerorts Aufnahmestopp“, appellierte die bundesweite Frauenhauskoordinierung 2017 an die Bundestagsfraktionen und die Gleichstellungs- und Frauenministerkonferenz. In regelmäßigen Abständen erfolgen dieselben Appelle mit den immer gleichen Inhalten, wie hier kurz vor Beginn der Coronapandemie 2020: „Einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einem Frauenhaus gibt es bislang ebenso wenig wie eine einheitliche Finanzierung der Frauenhäuser.“ An der Lage der Frauen scheint sich seit der Entstehung von Frauenhäusern vor fast einem halben Jahrhundert kaum etwas geändert zu haben: Heute fehlen in Deutschland immer noch 15 000 Betten, es gibt in rund 400 Frauenhäusern und 40 Schutzwohnungen etwas mehr als 6000 Plätze. In keinem Bundesland sind Schutzhäuser nicht völlig überlastet. Die Hälfte der Frauen ist unter 32 Jahren alt. Nicht nur der rechtliche Anspruch, auch die finanzielle Lage ist prekär. Frauenhäuser finanzieren sich überwiegend durch Spenden, Fördergelder, durch Länder und Kommunen als „freiwillige Leistung für den Kulturbereich“ – oder die Frauen zahlen selbst. Gewalt gegen Frauen ist Privatsache, so scheinbar immer noch die Idee. Erst 2021 bewegte sich etwas, weil die dramatisch ansteigenden Gewaltdelikte gegen Frauen während der Pandemie nicht mehr einfach ignoriert werden konnten. Schutzhäuser werden als „systemrelevant“ erkannt. Die Istanbul-Konvention des Europarats zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen, zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt und seit 2018 geltendes Recht in Deutschland, soll nun endlich vollständig umgesetzt werden. Das bedeutet: Adäquate Schutzmaßnahmen für Frauen müssen ergriffen und finanziert werden. Denn solange Frauen keinen rechtlichen Anspruch auf Schutz haben, sind sie auf Almosen angewiesen. Deutschland ist dabei kein Einzelfall, in ganz Europa stehen Schutzorte für Frauen und ihre Kinder auf unsicheren Beinen. Von 46 Ländern erfüllen

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70 Susanne Kaiser nur neun die Mindeststandards der Istanbul-Konvention, zum Beispiel, dass pro 10 000 Einwohner:innen zwei Betten bereitstehen müssen, für eine Frau und ihr Kind. Oder dass diejenigen, die das Haus betreiben, sich mit dem Thema „Gewalt gegen Frauen“ auskennen und speziell geschult sein müssen. Belgien, Dänemark, Luxemburg, Malta, Slowenien, Schweden, Norwegen, Liechtenstein und Nordirland erfüllen diesen Mindeststandard, kleine Länder mit kleinen Bevölkerungen. Für den allergrößten Teil Europas mit fast 845 Millionen Menschen gilt der Mindeststandard nicht. Es existieren insgesamt 2100 Frauenhäuser mit knapp 38 000 Betten. Das heißt, es fehlen mehr Plätze, als es Plätze gibt – rund 55 Prozent, wie der Country Report 2021 der Frauenorganisation Women Against Violence Europe offenbart. In Österreich ist es besonders prekär für Frauen, die von Gewalt durch ihre Partner oder Exmänner betroffen sind. Es ist das einzige Land der EU, in dem mehr Frauen als Männer ermordet werden. Für eine Bevölkerung von neun Millionen Menschen gibt es 29 Frauenhäuser. Deshalb soll das zentraleuropäische Land sich jetzt ein Beispiel an anderen Ländern nehmen, wie „Der Standard“ schreibt: an Rumänien, das EU-Hilfen dafür aufwendet, flächendeckend Frauenhäuser, Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen einzuführen. Oder an Finnland, wo eine spezielle Datenbank für Tötungsdelikte Alarmzeichen und Muster von Gewalt besser erkennbar machen soll. Oder an Kroatien, das mit Kampagnen in Schulen Jungen und junge Männer für das Thema sensibilisieren will. Dass es etwas bringt, wenn Behörden das Thema „Gewalt gegen Frauen“ ernst nehmen und aktiv gegensteuern, zeigt sich in Ländern wie Spanien oder Frankreich. In Spanien ist schon seit 2007 eine Software im Einsatz, die Hochrisikofälle analysiert, also vorhersagt, wie wahrscheinlich Partner in einer Beziehung wiederholt gewalttätig werden. So kann die Polizei schnell mit geeigneten Maßnahmen reagieren. Während in Deutschland über 20 Prozent aller Frauen ab 15 Jahren schon einmal vom Partner sexuell oder anders körperlich misshandelt wurden, sind es in Spanien halb so viele. Psychische Gewalt durch den Partner erlebt in Deutschland jede zweite Frau, in Spanien jede dritte. Dass die Zahlen dort niedriger ausfallen, liegt daran, dass in den letzten 25 Jahren ein System ausgebaut wurde, das Betroffene schützt, ist man sich in Spanien sicher: „Das fängt bei Vorträgen in der Schule an, in denen junge Leute lernen, dass zu einer gesunden Beziehung nicht Kontrolle und Eifersucht gehören, sondern Vertrauen und Respekt. Und ja, auch so mancher Deutsche braucht diesbezüglich Nachhilfe. Spanien hatte längst ein landesweites Hilfetelefon für Opfer häuslicher Gewalt, als die Bundesrepublik 2007 den Entschluss fasste, eines einzurichten. Und schließlich schlüsselt Spanien Mordfälle längst nach Geschlecht und der Beziehung zwischen Täter und Opfer auf, führt akribische Statistiken und veröffentlicht sie regelmäßig. Deutschland hat vor drei Jahren zaghaft damit begonnen.“ Auch das Beispiel Frankreich zeigt, wie schnell Maßnahmen gegen Partnerschaftsgewalt an Frauen Wirkung zeigen. Die Regierung ordnete 2019 an, Anzeigen wegen häuslicher Gewalt direkt nachzuverfolgen. „Anders als vorher, fahren die Polizisten jetzt sofort raus, wenn eine Frau den Notruf wählt. Und meist wird der gewalttätige Partner oder Expartner auch in Gewahrsam

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Das feministische Paradox 71 genommen“, erläutert Ernestine Rouai die irritierend einfache Strategie. Sie leitet im Pariser Vorort Saint-Denis eine sogenannte Beobachtungsstelle für Gewalt gegen Frauen und kann sich noch daran erinnern, wie Frauen am Notruftelefon „einfach abgewimmelt wurden“. Im Jahr 2020 sank die Zahl der Femizide in Frankreich von 146 auf 90, so wenige wie zuletzt im Jahr 2006, als die Zahl zum ersten Mal erhoben wurde. Zusammen mit elektronischen Hand- und Fußfesseln scheint die konsequente Strafverfolgung durch die Polizei tatsächlich ein wirkungsvolles Mittel zu sein, um Frauenmorde zu verhindern. Französische Aktivist:innen fordern, dass Präsident Macron eine Mrd. Euro statt der derzeit 360 Mio. Euro für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen bereitstellt, zum Beispiel für Frauenhäuser. Die Mittel der Deutschen Bundesregierung für den Schutz von Frauen vor Gewalt beliefen sich laut Deutschem Bundestag 2019 auf sechs Mio. Euro, also sechzig Mal weniger, als Frankreich aufwendet. 2020 waren es 35 Mio. Bis 2022 sollen es 100 Mio. Euro sein – wegen der Istanbul-Konvention. In einem Land, in dem 15 Millionen mehr Menschen leben als in Frankreich. Im ersten Staatenbericht zur Umsetzung der Istanbul-Konvention, den Deutschland erst 2020 im Europarat einreichte, sind die Ausgaben etwas höher, dafür aber auf Bundes- und Landesebene zusammengerechnet: 33 Mio. im Jahr 2019, 92 Mio. für 2020. Auf der Seite des Berichts vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend stößt man unter „weitere Informationen“ als Erstes auf diesen Link: „Aktion gegen Gewalt an Frauen startet in 15 Einkaufszentren“. Hier wird darüber informiert, dass Frauen „künftig in 15 deutschen Einkaufszentren durch Plakatierungen auf Hilfsangebote aufmerksam gemacht“ werden. Das steht exemplarisch dafür, wo sich Deutschland im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen befindet und wie die Politik die Lage einschätzt: Wo lassen sich Frauen erreichen? Im Einkaufszentrum. Die meisten davon sind nicht einmal Supermärkte, sondern Shoppingmalls. Welche Maßnahmen brauchen wir für effektiven Schutz? Plakate, die über Hilfsangebote informieren. Wie viele Einkaufszentren reichen, um alle gewaltbetroffenen Frauen abzudecken? 15, in ganz Deutschland.

Backlash in Skandinavien: Das »Nordische Paradox« Gerade progressive Demokratien scheinen aktuell einen besonders gravierenden Backlash zu erleben. Bei den skandinavischen Ländern spricht man schon seit einiger Zeit vom „Nordischen Paradox“: Einerseits sind sie Vorreiter bei der Gendergleichstellung, andererseits erfahren Frauen hier mehr häusliche Gewalt, Missbrauch und sexuelle Übergriffe als in anderen Regionen Europas. Dass es nicht nur die höhere Anzeigebereitschaft und eine größere Sensibilisierung sind, welche die Zahlen steigen lassen, sondern autoritäre Ressentiments gegen Frauen und politische Minderheiten viel tiefer sitzen, bestätigen die Wahlergebnisse der Rechten. In einer Studie des Europäischen Parlaments zur digitalen Gewalt gegen Frauen ist Schweden ebenfalls ganz vorne, zusammen mit Finnland, Dänemark, Belgien, Luxemburg

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72 Susanne Kaiser und der Slowakei. In diesen Ländern sind Frauen ab 15 Jahren besonders krass von Cyberstalking betroffen. Für Finnland attestiert eine Studie der Nato, dass die fünf Personen der Regierung von Sanna Marin, die am heftigsten mit Hassrede und Missbrauch auf Twitter zu kämpfen haben, allesamt weiblich sind. Die Onlinehetze gegen die finnischen Spitzenpolitikerinnen habe extrem misogyne und bedrohliche Formen angenommen. Der Hass entlädt sich gegen das weiblichste finnische Parlament aller Zeiten. Die Beispiele zeigen: Es kann auch wieder rückwärtsgehen. Es reicht eben nicht, sich feministisch zu labeln, ohne die tatsächliche Ungleichheit zu beseitigen. Dieses Phänomen beschreibt die Metapher der Spannung: Einerseits ist das Patriarchat von der Idee her überwunden, faktisch aber eben nicht. Wenn der Staat den misogynen Hatern und Gewalttätern nicht den Nährboden entzieht, sondern ihnen einfach das Terrain überlässt, egal ob im Netz, auf der Straße oder zu Hause, dann formieren diese einen gewalttätigen Backlash gegen den verhassten Aufstieg von politischen Minderheiten, allen voran Frauen. Je steiler ihr Aufstieg, je sichtbarer sie werden, besonders in Machtpositionen, desto krasser der Backlash. Wie lässt sich diese Dynamik aus Gleichberechtigung und Gewalt durchbrechen? Zum einen müssen wir das Patriarchat auch strukturell beenden und männlicher Gewalt repressiv begegnen. Dazu gehört, das Schweigen über Gewalt gegen Frauen zu brechen und die Betroffenen nicht zu beschämen, sondern die Täter. Dafür müssen alle Institutionen, die mit Betroffenen zu tun haben, fortgebildet werden, damit sie Frauen glauben, ihre Gewalterfahrung ernst nehmen und keine Täter-Opfer-Umkehr betreiben, besonders: Familienrichter: innen, Polizeibeamt:innen, Mitarbeiter:innen von Jugendämtern. Gewaltfreiheit muss überall durchgesetzt werden. Dafür müssen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden online präsent sein. Es darf keine rechtsfreien Räume geben, in denen Gewalt gegen Frauen normalisiert wird. Täter müssen für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen und verurteilt werden. Außerdem muss der Staat die finanzielle Förderung für Frauenhäuser, Beratungsstellen und andere Hilfsangebote dringend ausbauen, zum Beispiel für Therapien nach einer gewaltvollen Beziehung. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang auch Hilfsangebote für gewalttätige Männer. Denn viele wollen gar nicht gewalttätig sein, wissen aber nicht, wie sie da rauskommen. Eine Beobachtungsstelle zur Umsetzung der Istanbul-Konvention sollte eingerichtet werden. Und es ist allerhöchste Zeit, präventive Maßnahmen zu ergreifen: vor allem Bildungsangebote in Kitas und Schulen, in denen toxische Männlichkeitsvorstellungen thematisiert werden. Kinder müssen dafür sensibilisiert werden, wie Männlichkeit mit Kontrolle und Gewalt zusammenhängt. Wie diese Verbindungen auch in unserer Kultur, in Fernsehen, Musik, Sport, immer wieder aufgenommen und hergestellt werden. Wir brauchen eine Debatte über Gewalt gegen Frauen und Kinder, über männliche Gewalt und die Folgen für Betroffene sowie unsere Gesellschaft. Und das alles muss jetzt gleich passieren, um Gewalt gegen Frauen zu beenden. Zum anderen brauchen wir langfristig eine andere, nachhaltige

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Das feministische Paradox 73 Perspektive: Wir müssen die Kategorien sprengen, auf denen die gesellschaftlichen Strukturen gründen. Momentan geht der Trend jedoch auch in die entgegengesetzte Richtung, wie das Beispiel der skandinavischen Länder vor Augen führt. In der polarisierten gesellschaftlichen Debatte gibt es aktivistische Stimmen, die immer lauter und radikaler werden, um sich entweder gegen rechte Umdeutungen zu wehren oder um eigene partikulare Interessen durchzusetzen. Gegen andere, nicht für alle. Eine konstruktive gesellschaftliche Debatte ist so noch schwieriger als ohnehin schon. Das hat einen negativen Einfluss auf die Art und Weise, wie sich Identitätspolitik weiterentwickelt.

Feministische Identitätspolitik als Brücke Rechte Ideolog:innen, die Identitäten zementieren und daraus Hierarchien ableiten wollen, bekommen Hilfe von unerwarteter Seite: von Feministinnen, die Identitätspolitik ablehnen, und von Leuten, die Identitätspolitik übers Ziel hinaus treiben. Feministinnen wie Alice Schwarzer und andere aus dem Umfeld der „Emma“ zum Beispiel finden, dass es Quoten für Frauen geben muss. Eine trans Frau wie Tessa Ganserer von den Grünen, die über eine Frauenquote in den Bundestag gekommen ist, sei aber keine „echte“ Frau, sondern eine Art verkleideter Mann, ein Wolf im Schafspelz. Deshalb dürften trans Frauen auch nicht auf Frauentoiletten gehen, weil sie mit ihrer Physis den Safe Space gefährdeten. Abgesehen von den üblen Ressentiments gegenüber trans Menschen, ist das auch feministisch eine hochproblematische Argumentation. Frauen sind demnach grundsätzlich Opfer wegen etwas „spezifisch Weiblichem“, dessen Existenz angenommen wird. Männer sind per definitionem Täter, einfach weil sie männlich sind, biologisch gesprochen. Jede Differenzierung geht hierbei verloren, etwa dass eine männliche Sozialisation im Patriarchat bedeutet, dass mit dem Männlichkeitsideal auch Gewaltbereitschaft verbunden ist, weshalb manche Männer Gewalt ausüben. Andere aber nicht: Sie entscheiden sich dagegen – und leiden oftmals darunter. Bei „Emma“ ist der Penis der Täter und nicht ein Mensch im System Patriarchat. Wir sind, was die Natur aus uns macht. Feministinnen, die eine solche Position vertreten, gehen eine Zweckallianz mit Rechten ein, eine Komplizenschaft, um ihre errungenen Privilegien gegen trans Personen abzuschotten. Das ist brandgefährlich. Ähnlich verhält es sich, wenn Identitätspolitik in eine radikale Richtung gepusht wird. Damit kommen wir wieder zu biologistischen „echten“ Zuschreibungen von Merkmalen. Dieser Trend zeichnet sich ab, wenn etwa Amazon für Serienproduktionen Richtlinien zur Diversity einführt, nach denen die Identität von Schauspieler:innen mit der Identität der Rolle übereinstimmen muss: „Es sollen nur noch Schauspieler:innen engagiert werden, deren Identität (Geschlecht, Geschlechtsidentität, Nationalität, Ethnizität, sexuelle Orientierung, Behinderung) mit den Figuren, die sie spielen, übereinstimmt.“ Schauspieler:innen müssen „echt“ schwul, trans oder Schwarz

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74 Susanne Kaiser sein, um die entsprechende Rolle verkörpern zu dürfen. Das ist das Gegenteil von dem, was das Konzept von Queerness meint, nämlich Uneindeutigkeit und den Umstand, dass Identitätsmerkmale durchlässig und im Prozess begriffen sind. Ein Festschreiben auf Rollen heißt, dass wir uns auf dem Weg zurück zu essenzialistischen Identitäten befinden. Wer bestimmt denn, was eine „echte“ Frau ist, was „echt“ Schwarz oder lesbisch oder trans ist? In dem Moment, in dem wir uns nicht mehr weigern, uns eindeutig festzulegen, sind wir biologistischen Erklärungsmodellen wieder sehr nah. An genau diesem Punkt wird (missverstandene) Identitätspolitik gefährlich: Ein Merkmal wie Schwulsein wird für wesenhaft, für „echt“ gehalten, man kann es irgendwie belegen, ja man muss es sogar. So wie man früher dachte, es wäre angeboren, als biologische Eigenschaft, unabänderlich. Auf diese Weise wird Identität zementiert. Das Dilemma, dass in einem binären System Frauen zu Frauen gemacht werden, in welchem Männer überlegen sind, wird also nicht nur durch rechte Diskurse und misogyne Gewalt vorangetrieben, sondern auch durch feministische Identitätspolitik und Selbstzuschreibungen. Dadurch trifft Frauen genderspezifische Gewalt, die sie noch stärker in die unterlegene Kategorie „Frau“ einsortiert und Identitätspolitik nötig macht. Deshalb müssen wir die Kategorien sprengen. Oder zumindest ihre politische Bedeutung auflösen. Wir brauchen eine gemeinsame gesellschaftliche Utopie, eine kollektive Vision, einen kleinsten gemeinsamen Nenner, der politische Bedeutung trägt. Damit wir die Kategorien überwinden können, brauchen wir sie aber noch als Brücke. Sonst lassen wir zu viele auf der anderen Seite zurück, statt sie mitzunehmen. Dabei muss viel deutlicher werden, dass es sich um eine Brücke handelt, um ein strategisches Einsetzen von Kategorien, damit wir sie hinter uns lassen können. Identitätspolitik kann nur Mittel zum Zweck sein, niemals Selbstzweck. Die Idee der Brücke, um Unterschiede überbrücken und schließlich loswerden zu können, hat schon das Combahee River Collective um Gründerin Barbara Smith vor fast fünfzig Jahren formuliert. Dieses Kollektiv aus Schwarzen lesbischen Feministinnen prägte nicht nur den Begriff „Identitätspolitik“, sondern vertrat auch das Konzept des „strategischen Essenzialismus“. Es bedeutet, dass Identität – im Fall der CombaheeRiver-Collective-Aktivistinnen mehrere Identitäten – strategisch eingesetzt wird, um Gleichheit zu erreichen. Danach braucht man sie nicht mehr. Dieser Gedanke ist in den letzten Jahren etwas verlorengegangen. Wir brauchen heute mehr denn je eine gesellschaftliche Debatte mit Stimmen, die immer wieder differenzieren und darauf hinweisen, dass es sich bei identitätspolitischen Kategorien um eine Leiter handelt, die weggestoßen werden muss, sobald wir hochgeklettert sind – eben um einen strategischen Essenzialismus. Hören wir diese Stimmen nicht, kommt es zu gefährlichen Zuspitzungen, Missverständnissen und Fehlinterpretationen, ausgerechnet von der Seite, die Frauen eigentlich empowern will. Nur durch Differenzierung gelingt es, sich von den gezielten rechten Umdeutungen und Rebiologisierungen abzugrenzen. Nur so lässt sich verhindern, dass wir glauben, Identitäten könnten „echt“ und ein unabänderliches Schicksal sein.

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Gegen den russischen Imperialismus Warum die Linke die Ukraine unterstützen muss Von Cédric Wermuth

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eit Beginn – oder präziser der Ausweitung – des russischen Angriffskriegs in der Ukraine am 24. Februar 2022 streitet sich die Linke in Europa um die richtige Antwort auf diese Aggression. Dabei ist die Haltung der ukrainischen und auch der russischen Linken von Anarchist:innen bis zu Sozialdemokrat:innen eigentlich eindeutig, sofern man von den kremltreuen Altstalinist:innen einmal absieht. Sie ist sich einig in der Bedeutung des ukrainischen Widerstandes und auch in der Unterstützung der militärischen Verteidigung. Mein Eindruck ist, dass viele Linke in Europa, die den ukrainischen Widerstand nur zögernd (oder gar nicht) unterstützen, den „Charakter“ dieses Krieges missverstehen. Dazu die nachfolgenden Überlegungen. Beginnen wir mit dem russischen Regime, das diesen Krieg zweifelsohne verschuldet hat. Russland unter Wladimir Putin wird oft als als „bonapartistisch“ beschrieben, in Anlehnung an die berühmte Schrift von Karl Marx „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“.1 Bonapartistische Systeme balancieren in marxistischer Lesart zwischen den Klasseninteressen des Bürgertums und der Arbeiterklasse. Der Wahlmonarch funktioniert dabei als bindendes Glied, der die Interessen beider Seiten auszugleichen versucht. So bestand unter Putin für die Oligarchen der „Deal“ darin, dass er ihren Reichtum nach der neoliberalen Privatisierungswelle der 1990er Jahre mit „harter Ordnung“ (Gusev) absicherte. Im Gegenzug erhielt die breite Bevölkerung eine – relative – ökonomische Stabilität. Beide Seiten mussten allerdings die politische Macht weitgehend an Putin abgeben, der zunehmend hart gegen jeden vorging, der sie infrage stellte. Solche Konstellation sind allerdings selten stabil. Genau das sehen wir in Russland. Dem wachsenden inneren Widerstand begegnet Putin mit einer Verschärfung der Repression nach innen und einer sich seit Jahren aufschaukelnden, aggressiv-nationalistischen Politik nach außen. Seit dem Überfall auf die Ukraine befindet sich Russland an einem Kipppunkt. In den Worten des russischen Soziologen Greg Yudin: „Hier findet gerade eine Entwicklung 1 Ausführlich dazu: Alexei Gusev, Die Revolution kommt zurück. Charakter und Perspektiven des gesellschaftlichen Aufschwungs in Russland, www.global-labour.info, 5.2.2012.

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76 Cédric Wermuth vom Autoritarismus hin zu einem totalitären Regime statt.“2 Claus Leggewie sieht mindestens „faschistoide Züge“3, Yudin sogar „nazistische Elemente“, insbesondere mit Blick auf die Besessenheit, mit der Putin und das Regime nachzuweisen versuchen, dass die ukrainische Nation angeblich Teil der russischen sei. Der Moskauer Intellektuelle und Aktivist Ilya Budraitskis vertritt dezidiert die Position, das Regime sei als „faschistisch“ zu bezeichnen. Für ihn hat es sich von einem anfänglich „depolitisierten, neoliberalen Autoritarismus“ spätestens nach Beginn der Invasion im Februar 2022 zu einer „brutalen Diktatur“ entwickelt, die faschistisch genannt werden müsse: erstens, weil sie es sei, aber zweitens auch, damit die Welt verstehe, mit welcher Dimension der Bedrohung wir es zu tun haben.4 Ich meine, er hat recht.

Kritik an den USA zwecks falscher Verteidigung der russischen Position Natürlich überlagern sich in diesem Krieg wie in jedem anderen mehrere Konflikte und Interessen. Und natürlich stimmt der Hinweis, gerade die USA handelten in diesem Fall nicht einfach aus reiner Menschlichkeit. Auch sie verfolgen Interessen in Osteuropa und zielen nich zuletzt auf geostrategischen Einfluss. Darüber machen sich übrigens gerade die ukrainischen Linken überhaupt keine Illusionen. Doch die Kritik an den USA und der Nato verleitete und verleitet linke Kreise oft dazu, die russische Position zumindest teilweise zu verteidigen. Das Argument lautet, dass wir als Linke den schrumpfenden Einfluss der imperialistischen USA als unipolare Weltmacht zugunsten einer multipolaren Welt begrüßen sollten. Die Hälfte davon ist zwar richtig, die andere Hälfte allerdings dramatisch falsch. Genauer gesagt ist es ein Missverständnis: Natürlich wäre eine Demokratisierung der Weltpolitik und eine entsprechende Stärkung und demokratische Reform der UNO und der Welt(handels) ordnung absolut notwendig und sollte unbedingt wieder prioritär auf der Agenda stehen. Nur sind Multipolarisierung und Demokratisierung nicht unbedingt dasselbe. Wenn der Preis für die Multipolarität ein verstärkter Einfluss autoritärer oder sogar faschistischer Regime in Russland, China oder Indien ist, dann kann das keine Perspektive für die Linke sein. Wie die indische Kommunistin Kavita Krishnan richtig ausführt: „Indem die Linke ihre Reaktion auf politische Konfrontationen innerhalb oder zwischen Nationalstaaten als eine Nullsummenoption zwischen der Befürwortung von Multipolarität oder Unipolarität darstellt, hält sie eine Fiktion aufrecht, die selbst in ihren besten Zeiten immer irreführend und ungenau war. Aber diese Fiktion ist heute geradezu gefährlich, denn sie dient einzig als Erzählung und dramatisches Mittel, um Faschist:innen und Autoritäre in ein schmeichelhaftes Licht zu setzen.“5 2 Vgl. Greg Yudin, „In Russland droht ein faschistisches Regime“, in: „analyse & kritik“, 30.3.2022. 3 Claus Leggewie, „Wladolf Putler“? Was Putins Regime mit Faschismus und Stalinismus gemein hat, www.deutschlandfunk.de, 19.2.2023. 4 Ilya Budraitskis, Putinism. A New Form Of Fascism?, www.spectrejournal.com, 27.10.2022. 5 Kavita Krishnan, Multipolarität – Das Mantra des Autoritarismus, www.emanzipation.org, 6.1.2023.

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Gegen den russischen Imperialismus 77 Putin weiß diese Verwechslung propagandistisch sehr gut zu nutzen, um seine ebenfalls imperialistischen Ansprüche hinter einer vermeintlich linken, vermeintlich antiimperialen Rhetorik gegen die „westliche Dominanz“ zu kaschieren (leider macht es ihm die westliche „Wertegemeinschaft“ mit ihrem oft auch selektiven Umgang mit Menschen- und Völkerrecht auch zu einfach, Stichwort Irakkrieg).6 Indem Putin die universellen Menschenrechte und das Völkerrecht als westlichen (Kultur-)Kolonialismus abtut, laufen seine Vorstellungen einer neuen Weltordnung auf eine wertfreie Multipolarität hinaus. Im Falle Russlands entspricht das konkret der Freiheit, im Namen eines gegen die USA gerichteten Antiimperialismus „faschistisch sein zu dürfen“ (Krishnan). Oder wie es die Russländische Sozialistische Bewegung aus dem Exil in einem Text gegen die „Illusionen der westlichen ‚Pazifist:innen‘“ formuliert: „Wenn Putin von der Zerstörung der amerikanischen Hegemonie in der Welt und sogar von ‚Antikolonialismus‘ (!) spricht, meint er keineswegs die Schaffung einer egalitäreren Weltordnung. Putins ‚multipolare Welt‘ ist eine Welt, in der Demokratie und Menschenrechte nicht mehr als universelle Werte gelten und die sogenannten Großmächte freie Hand in ihren geopolitischen Einflusssphären haben. Es handelt sich in der Tat um eine Wiederherstellung des Systems der internationalen Beziehungen, das vor dem Ersten Weltkrieg bestand. Diese ‚schöne alte Welt‘ ist ein wunderbarer Ort für Diktatoren, korrupte und rechtsradikale Politikaster. Aber sie wäre die Hölle für Arbeiter:innen, ethnische Minderheiten, Frauen, LGBT-Menschen, kleine Nationen und Befreiungsbewegungen. Putins Sieg in der Ukraine würde nicht die Wiederherstellung des Status quo der Vorkriegszeit bedeuten. Er würde einen fatalen Präzedenzfall schaffen, der das ‚Recht der Großmacht‘ auf Aggression und nukleare Erpressung legitimiert. Er wäre der Prolog zu neuen militärischen und politischen Katastrophen.“7 Es kann also für Linke keine wertfreie Multipolarität geben. Putins Projekt ist nicht primär anti-US-imperialistisch, sondern nach innen faschistisch und nach außen mindestens reaktionär.

Falscher Friede Zur Ideologie und Rhetorik der Gewalt passt bei Putin leider auch die Praxis. Zwar gibt es sicher keinen Krieg, in dem nicht Vorwürfe gegen alle Seiten laut werden, sie würden gegen das Kriegsvölkerrecht verstoßen. Wenn es diese gibt, dann müssen sie selbst bei aller klar verteilten Sympathie auf beiden Seiten ernst genommen werden. Das Kriegsvölkerrecht gilt für alle. Aber wir müssen die Erfahrung der vergangenen mehr als zwölf Monate Krieg schon richtig gewichten: Die russische Seite setzt auf eine systematische Strategie des Terrors gegen die Zivilbevölkerung. Das zeigt sich, wenn russische Truppen öffentliche, zivile Infrastrukturen bombardieren und so versuchen, den Widerstand zu brechen. Es zeigt sich aber vor allem mit Blick 6 Vgl. Andreas Zumach, Ein Jahr Ukraine-, 20 Jahre Irakkrieg, in: „Blätter“, 3/2023, S. 65-70. 7 Vgl. Unser Slogan ist „Krieg dem Krieg!“, www.ukraine-solidarity.eu, 15.2.2023.

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78 Cédric Wermuth auf ihre Verbrechen in den von ihnen besetzten Gebieten, darunter systematische sexualisierte Gewalt. Als brutalstes Mahnmal dafür gilt heute Butscha. Gerade deshalb warnen Ukrainerinnen und Ukrainer zu Recht vor einem Missverständnis, wenn Putin von „Frieden“ spricht. Auch das kennt man aus der Geschichte: Besatzungsmächte sind immer für den „Frieden“, aber sie verstehen darunter vor allem die Legitimation ihrer Herrschaft – im Falle Putins explizit das Ende der Ukraine als selbstständige Nation. Frieden unter russischer Besatzung bedeutet für die dort lebende Zivilbevölkerung kaum Frieden im eigentlichen Sinn, sondern Unterdrückung. Das zumindest lässt die Praxis der vergangenen Monate vermuten.

Nationalismus gleich Nationalismus? Ein weiteres Unbehagen vieler Linker betrifft den Eindruck, scheinbar zwischen zwei Nationalismen entscheiden zu müssen, dem russischen und dem ukrainischen. Dahinter steht, vereinfacht gesagt, die Frage, ob es einen Unterschied macht, wo welche Grenze eines Nationalstaates verläuft, da wir als Linke ganz grundsätzlich nicht die größten Verfechter nationaler Grenzen sind. Auf dem Papier mag diese Frage berechtigt sein, im konkreten Fall ist sie allerdings zynisch. Aber lassen wir jemanden dazu sprechen, der sich intensiv damit beschäftigt hat, gerade im Kontext der Ukraine und Russlands: Wladimir Iljitsch Lenin. Putin hasst Lenin, weil er ihm die Schuld für die Trennung zwischen der Ukraine und Russland zuschreibt. Grund genug, ihn genau zu dieser Frage zu zitieren. Lenin schreibt 1922 zur Frage der Nationalitäten und zum Verhältnis der russischen Mehrheit zu den nationalen Minderheiten in der damaligen Sowjetunion: „Es [geht] nicht [an], abstrakt die Frage des Nationalismus im Allgemeinen zu stellen. Man muss unterscheiden zwischen dem Nationalismus einer unterdrückenden Nation und dem Nationalismus einer unterdrückten Nation, zwischen dem Nationalismus einer großen Nation und dem Nationalismus einer kleinen Nation […] Deshalb erfordert in diesem Falle das grundlegende Interesse der proletarischen Solidarität und folglich auch des proletarischen Klassenkampfes, dass wir uns zur nationalen Frage niemals formal verhalten, sondern stets den obligatorischen Unterschied im Verhalten des Proletariers einer unterdrückten (oder kleinen) Nation zur unterdrückenden (oder großen) Nation berücksichtigen.“8 Natürlich hat Lenin seine Überlegungen in einer ganz bestimmten Zeit entwickelt. Vieles von dem, für das er stand und das er tat, lässt sich mit dem Wissen von heute kaum mehr verteidigen, gerade auch in Bezug auf das Vorgehen der Roten Armee in der Ukraine. Aber der – wie mir scheint – nach wie vor aktuelle Kerngedanke in diesem Zitat lautet: Was uns als der Nationalismus einer unterdrückten Nation erscheint, ist meist die Forderung nach dem Recht auf Selbstbestimmung und Gleichheit mit anderen Nationen. Der 8 W. I. Lenin, Zur Frage der Nationalitäten oder der „Autonomisierung“, in: W. I. Lenin, Werke, Bd. 36, Berlin 1962, S. 590–596.

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Gegen den russischen Imperialismus 79 Gedanke an nationalen Zusammenhalt bildet dabei die Klammer, um unterschiedliche Fraktionen der Gesellschaft trotz unterschiedlicher Interessen (beispielsweise Unternehmer und ihre Angestellten) zusammen auf ein Ziel einschwören zu können. Diese Form der Einforderung eines nationalen Selbstbestimmungsrechts ist eben nicht gleichzusetzen mit dem Nationalismus der unterdrückenden, imperialistischen Nation, oft begleitet von einer rassistischen Überlegenheitsideologie. Lenin entwickelte aus diesem Gedanken seine Theorie zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, die zur ideellen Grundlage vieler antikolonialer Widerstandskriege werden sollte. Natürlich erfolgt dieses Zugeständnis, wie man aus dem Zitat ebenfalls entnehmen kann, nicht ohne Absicht. Nur der Weg über das Selbstbestimmungsrecht erlaubt es, so Lenin, die Arbeiterklassen unterdrückter Länder für die sozialistische Revolution zu gewinnen. Man braucht sich Lenin nicht in allem anschließen, um festzustellen, dass die Gleichheit der Nationen, festgehalten in Art. 2 Abs. 1 der UN-Charta, eine Bedingung sine qua non für eine funktionierende Weltordnung ist. Um keine Geschichtsklitterung zu betreiben, muss man hinzufügen, dass Lenin selbst diese „Prinzipien“ fallweise sehr opportunistisch auslegte. So unterstützte er beispielsweise zuerst die Gründung der Demokratischen Republik Georgien (1918 bis 1921), nur um sie später von der Roten Armee besetzen zu lassen, als sie sich nicht seinen Forderungen fügte.

Welches Selbstbestimmungsrecht? Lenin entwickelte seine Theorie in zweifacher Abgrenzung: Einerseits lieferte er sich einen jahrelangen Streit mit Rosa Luxemburg und anderen innerhalb der sozialistischen Bewegung, andererseits mit den liberal-konservativen Weltmächten und ihren Führern. Letzteres zeichnet beispielsweise Rita Augestad Knudsen9 anhand der Auseinandersetzung zwischen dem damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson und Lenin gut nach. Wilson ist für Knudsen der Gründervater der liberal-konservativen Vorstellung vom Selbstbestimmungsrecht, basierend auf dem Prinzip von Freiheit als Frieden und Nicht-Intervention. Demgegenüber stehe Lenins radikale Konzeption des Rechts auf Selbstbestimmung von Freiheit als Gleichheit. Wenn Lenin mit Selbstbestimmung das Recht der Menschen auf Demokratie und soziale Rechte meint – die auch gegen das Friedensgebot erkämpft werden dürfen –, so meint Wilson und die ihm folgende liberal-konservative Tradition vor allem die Souveränität der jeweiligen Regierungen. Selbstbestimmung muss in dieser Lesart nicht unbedingt mit ausgebauten Rechten im Inneren einhergehen. Linke würden sagen, es sei keine Perspektive „von unten“. Frieden meint dann keinen Zustand umfassender positiver Rechte für alle, sondern insbesondere ungehinderten, globalen Handel „von oben“. Deshalb ist es eben gerade kein Widerspruch, wenn jetzt in ganz Europa 9 Rita Augestad Knudsen, The Fight over Freedom in 20th and 21st Century International Discourse. Moments of „self-determination“, London 2020.

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80 Cédric Wermuth Rechtslibertäre – wie Roger Köppel in der Schweiz – für „Frieden“ mit Russland eintreten: Ihr Frieden würde sich in der Wiederherstellung ungehinderter Warenflüsse erschöpfen. Die „unsichtbare Hand des Marktes“ würde dann schon langfristig für den Durchbruch bürgerlich-demokratischer Ideale sorgen – was getrost als von der Realität widerlegt gelten darf. Dieser Gedanke steckt auch hinter der Neutralitätskonzeption der Rechten in der Schweiz. Die Neutralität dient ihnen als Versicherung, dass keine innere Konstellation eines anderen Staates den Handel beeinträchtigt, beispielsweise fehlende Menschenrechte. Das ist im Extremfall auch eine Neutralität gegenüber der „Freiheit, faschistisch zu sein“. Darin zeigt sich der Nationalismus der entwickelten Nationen, hierzulande – in der Schweiz – primär vertreten von der Schweizerischen Volkspartei SVP, der dazu dient, die Ausbeutung anderer Völker zugunsten eines national-egoistischen Wohlstandsmodells zu rechtfertigen. Um nicht missverstanden zu werden: Die Unterscheidung zwischen Nationalismus als Einforderung von Selbstbestimmung einerseits und imperialem oder ökonomisch-egoistischem Nationalismus andererseits ist kein Blankoscheck für ersteren. Doch zeigt die Geschichte des europäischen 19. Jahrhunderts, gerade auch für die Schweiz, dass (bürgerlich-) demokratisches Nationbuilding, also die Entstehung republikanischer Institutionen und demokratischer Staatlichkeit, eben immer auch über die Idee der Nation führt. Und anders, als es uns die Putinsche Propaganda weismachen will, gibt es eine lange Tradition republikanischer Kämpfe in der Ukraine, wie der Historiker Timothy Snyder in seiner ausführlichen Vorlesungsreihe zur ukrainischen Geschichte zeigt.10 Sicher, das Land war auch vor dem Krieg alles andere als eine perfekte Demokratie, viele Bereiche der Gesellschaft werden von oligarchischen Strukturen beherrscht. Aber immerhin ringt der ukrainische Staat spätestens seit dem Fall des Eisernen Vorhangs um seine demokratische Form und erzielt dabei auch offensichtlich Fortschritte, nicht zuletzt seit den Maidan-Protesten von 2014. Trotzdem gilt grundsätzlich, dass nationale Bewegungen – in welcher Form auch immer – negativ umzuschlagen drohen, wie wir das leidvoll auch in den westeuropäischen Demokratien immer wieder erleben müssen. Das geschieht zum Beispiel dann, wenn jetzt undifferenzierte Russophobie verbreitet und die Aggression Putins auf eine vermeintlich immerwährende, aggressive Charaktereigenschaft „des Russen“ zurückgeführt wird. Oder wenn der ehemalige ukrainische Botschafter in der Schweiz fordert, russischen Dissident:innen das Asylrecht zu verweigern, oder der ukrainische Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera unkritisch zum Vorbild des Widerstands stilisiert wird. All das ist entschieden abzulehnen und zu kritisieren. Was heißt das alles für die Linke? Étienne Balibar schlägt mit Blick auf die Ukraine eine dialektische Strategie der „unity of opposites“ vor, also der Gleichzeitigkeit der Gegensätze.11 Im Anschluss an Balibar betrifft dieses 10 Timothy Snyder, The Making of Modern Ukraine. Yale Courses, www.youtube.com. 11 Étienne Balibar, Ukraine‘s sovereignty depends on NATO. We are all in the war, www.iai.tv, 3.11.2022.

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Gegen den russischen Imperialismus 81 Handeln in Widersprüchen aus einer schweizerischen Perspektive mindestens drei Bereiche: Erstens die Verteidigung der Ukraine mit allen möglichen Mitteln. Dazu gehört mit Blick auf die Dimension der Bedrohung für die Ukraine und darüber hinaus zwingend auch die militärische Unterstützung. Ein „naiver Gesinnungspazifismus“12 kann keine Option sein. Und gleichzeitig muss die Linke bereits jetzt an einer Nachkriegsordnung arbeiten, die sowohl eine globale Aufrüstungsspirale als auch eine weitere Zunahme der Dominanz der Nato gegenüber der UNO verhindert. Langfristig kann es nur eine Dominanz des Militärbündnisses und damit das Recht des Stärkeren geben oder die Vorherrschaft des Völkerrechts und seiner Institutionen. Genau diesen Gedanken nahm die Sozialdemokratische Partei der Schweiz auf (deren Co-Präsident ich bin), als sie vorschlug, den Re-Export von ehemals Schweizer Munition aus anderen Ländern an die Ukraine zu erlauben, sofern eine Mehrheit der UN-Generalversammlung die Verletzung der UNCharta durch Russland feststellt (was der Fall ist). Dieser Vorschlag erlaubt es, weder mit Verweis auf eine vorgeschobene Neutralität passiv bleiben zu müssen noch gezwungen zu sein, das Primat der völkerrechtlichen Weltordnung vor der militärischen Logik aufzugeben. Daraus ergibt sich logisch das Nein zu weitergehenden, direkten Waffenexporten aus der Schweiz. Diese wären innenpolitisch unter den gegenwärtigen Verhältnissen nur um den hohen Preis einer generellen Liberalisierung von Waffenexporten und einer Stärkung der Schweizer Rüstungsindustrie zu haben. Und hier hat die Rechte bereits klar gemacht, worum es ihr geht: nicht um die Ukraine, sondern um die Möglichkeit, wieder und weiter in Staaten wie Saudi-Arabien und andere Diktaturen exportieren zu können. Das aber würde jeder menschen- und völkerrechtsbasierten Politik zuwiderlaufen.

Die Verantwortung des Westens – und der westlichen Linken Hier schließt sich der Kreis zur Frage der historischen Verantwortung „des Westens“ oder der Nato für den gegenwärtigen Krieg. Diese Verantwortung besteht in mehrfacher Hinsicht und keine davon darf die Linke tabuisieren. Einerseits müssen wir (West-)Linke uns eingestehen, dass wir jahrelang nicht zugehört haben, wenn aus Osteuropa vor Putin gewarnt wurde, gerade im Fall der Ukraine. Ich nehme da auch mich und meine Partei nicht aus. Das geschah vielleicht nicht immer in böser Absicht, aber mindestens in einem naiven Glauben an die Notwendigkeit einer globalen Balance unter Einbezug Russlands. Dieser Blick war arrogant, ignorant, ja kolonialistisch. Faktisch hat man die Menschen Osteuropas nie als eigenständige Protagonist:innen ihrer Geschichte gesehen, sondern als Bewohner:innen einer geopolitischen Pufferzone zwischen Europa und Russland. Und ja, genau diesen Blick haben gewisse Linke immer noch, wenn sie glauben, es besser zu wissen als die Ukrainerinnen und Ukrainer. Putins 12 Albrecht von Lucke, „Ami go home“. Der Irrweg der Wagenknecht-Lafontaine-Linken, in: „Blätter“, 3/2023, S. 5-8.

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82 Cédric Wermuth Gebaren wurde von der offiziellen Politik in Europa und Nordamerika viel zu lange offensiv ignoriert, zumindest solange man ihn als Verbündeten im Kampf gegen den Terrorismus sah. Eigentlich ist seit dem äußerst brutalen russischen Vorgehen in Tschetschenien klar, was Putins Methoden sind. Dennoch lieferten mindestens zehn europäische Staaten sogar nach der Besetzung der Krim 2014 weiter Waffen an Russland. Auch die Schweiz verkaufte bis vor kurzem problematisches Material an Moskau, darunter sogenannte Dual-use-Güter, die zivil wie militärisch verwendet werden können.

Die Vorgeschichte des Putinschen Imperialismus Es steht außer Frage, der aktuelle Krieg in der Ukraine ist Folge des Putinschen Imperialismus. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Aber natürlich existiert eine Vorgeschichte, eine Eskalationsspirale, wie praktisch bei jedem Krieg. Heute ist zum Beispiel unbestritten, dass die Versailler Verträge und die daraus resultierende Last der Reparationszahlungen zumindest mithalfen, den Boden für jene Ressentiments zu bereiten, die die Nazis anschließend ausnutzen konnten. Niemand mit Verstand würde allerdings deswegen den Nationalsozialismus als solchen entschuldigen wollen. Analog dazu finden wir im aktuellen Fall eine Eskalationsgeschichte, die mindestens bis zum Fall der Sowjetunion zurückreicht. So ist kaum ernsthaft in Abrede zu stellen, dass die Nato danach die Rolle der UNO und auch der OSZE zunehmend infrage zu stellen begann und Nato-Staaten Verantwortung tragen für aggressive militärische Einsätze mit der Folge der Diskreditierung der globalen Sicherheitsarchitektur – als Stichwort reicht der Verweis auf den Irakkrieg. Darüber ist sich auch die ukrainische Linke vollständig im Klaren. So schreibt der Aktivist Taras Bilous: „Ich bin kein Fan der Nato. Ich weiß, dass der Block nach dem Ende des Kalten Krieges seine defensive Funktion verlor und aggressive Strategien verfolgte. Ich weiß, dass die Osterweiterung der Nato Versuche der nuklearen Abrüstung und der Schaffung eines gemeinsamen Sicherheitssystems unterminiert hat. Die Nato versuchte, die Rolle der Vereinten Nationen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu marginalisieren und sie als ‚ineffiziente Organisationen‘ zu diskreditieren.“13 Mir scheint, es wäre zentral für eine glaubwürdige Linke, dass sie die Perspektive einer eigenständigen, wirklich europäischen Sicherheitsarchitektur entwickelt. Zweitens sollten wir auch dann einer Strategie der „unity of opposites“ folgen, wenn es um die Unterstützung der ukrainischen Linken geht. Diese kämpft nämlich an mehreren Orten zugleich: militärisch an der Seite der Regierung Wolodymyr Selenskyjs um nicht weniger als das Überleben oder zumindest Fortbestehen der Ukraine als Staat – und gleichzeitig gegen die Regierung in der Frage, wie dieser Staat ausgestaltet werden soll. Natürlich 13 Taras Bilous, An die Linke im Westen, in: „Jungle World“, 8/2022.

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Gegen den russischen Imperialismus 83 besteht zwischen diesen beiden Kämpfen eine klare Hierarchie. Man kann keine Auseinandersetzung um einen Staat führen, den es nicht gibt. Aber auch die Auseinandersetzung um die Nachkriegsukraine hat bereits begonnen. Leider spielt die Regierung Selenskyj dabei eine zwiespältige Rolle, teilweise auf Druck westlicher Interessen, aber nicht nur. So treibt sie mitten im Krieg Kürzungen im Sozialbudget voran, forciert Privatisierungspläne und greift das Arbeits- und die Gewerkschaftsrechte an. Die Journalistin Anna Jikhareva spricht von einer „Deregulierung im Schatten des Krieges“.14 Ganz offen sagte der ukrainische Energieminister bei einem Gespräch am Rande der Wiederaufbaukonferenz in Lugano: „Das Gute ist, dass wir als Regierung während des Krieges gesetzlich mehr Macht haben. Die Investoren können mir also einfach sagen, was sie brauchen.“15 Die Angriffe gegen die Gewerkschaften gehen so weit, dass inzwischen sogar die Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen, die ILO, und Stellen bei der Europäischen Union besorgt reagieren.16 Eine der wichtigsten Forderungen der ukrainischen Linken im Kampf gegen den drohenden autoritären Neoliberalismus der Regierung ist die nach einem Schuldenerlass für die Ukraine. Praktisch genau vor 70 Jahren trat das Londoner Schuldenabkommen in Kraft. Deutschlands Kriegsfolgeschulden wurden dabei um die Hälfte gekürzt. Erst das erlaubte es der Bundesrepublik, ihre Wirtschaft wiederaufzubauen. Die Ukraine wird ebenfalls einen Schuldenerlass brauchen, das steht außer Frage. Sonst droht die Schuldenlast, das Land, selbst bei einem erfolgreichen Ausgang der militärischen Auseinandersetzung, über Jahrzehnte zu erdrücken. Und was das für die neoliberalen Pläne bedeutet, lässt sich leicht erahnen.

Russlands oligarchischer Kapitalismus und der Finanzplatz Schweiz Ein zentrales Versagen des Westens besteht, drittens, zudem darin, überhaupt erst die Entstehung von Voraussetzungen toleriert oder sogar befördert zu haben, die den Aufstieg des mafiösen Komplexes zwischen Putin und der russischen Oligarchie mindestens erleichterten. Dazu gehört der turbokapitalistische Umbau der ehemaligen Sowjetunion mit der dramatischen Abstiegserfahrung von Millionen von Menschen, an dem sowohl aufsteigende russische Oligarchen als auch Teile der westlichen Eliten bestens mitverdienten. Putins Gesellschaftsmodell war und ist bestens in die neoliberale Weltordnung eingefügt. Dazu gehört auch die selbstverschuldete Abhängigkeit Europas von fossiler russischer Energie. Naiv hat Europa seine Stromund Energieversorgung dem Markt überlassen. Die „unsichtbare Hand“ hat es Putin einfach gemacht, die Politik hinter den Gas- und Öllieferungen verschwinden zu lassen. Diese Abhängigkeit Europas war einer der offensicht14 Anna Jikhareva, Grün, digital, neoliberal: Die Ukraine als Versuchslabor, in: „Blätter“, 9/2022, S. 99-104. 15 Anna Jikhareva und Kaspar Surber, Ein Staat als Start-up, in: „WoZ“, 7.7.2022. 16 Berhard Clasen, Neoliberale Politik mitten im Krieg, www.taz.de, 21.7.2022.

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84 Cédric Wermuth lichen Gründe, weshalb man Putin nicht früher Einhalt geboten hat, obwohl er eine „rote Linie“ nach der anderen überschritt. Letztlich unterläuft hier der dominante Wirtschaftsliberalismus die Fähigkeit Europas, solidarisch zu handeln. Wie bereits in der Coronapandemie und bei der Bekämpfung des Klimawandels zeigt sich hier erneut: Zu wenig staatliche Planung und zu viel Markt am falschen Ort sind ein geopolitisches Risiko.17 Folgt man diesem Gedanken, wird auch klar, dass der aktuell aus „neutralitätsrechtlichen Gründen“ blockierte Re-Export von Schweizer Munition zwar durchaus bedeutsam wäre, aber nicht der entscheidende Hebel ist, mit dem insbesondere die Schweiz der Ukraine beistehen könnte. Gerade für die Schweiz gilt, dass es ungleich wichtiger wäre, dafür zu sorgen, dass sich die Kriegsmaschinerie Putins und anderer autoritärer Regime nicht mehr über ihren Finanzplatz am Laufen halten kann. Dies verlangt von einer aufrechten Linken auch in diesem Fall eine gegensätzliche Strategie: Einerseits müssen wir Teil der Koalition sein, die bereit ist, die Ukraine zu unterstützen, gegen Widerstand von Links und Rechts. Und andererseits sollten wir uns nicht vereinnahmen lassen für eine Rhetorik, die die inneren Widersprüche der europäischen Politik zu überdecken versucht. Wahre Solidarität mit der Ukraine bedingt nicht nur eine rigorose Regulierung des Finanz- und Rohstoffhandelsplatzes, sondern auch einen konsequenten Ausstieg aus der fossilen Energie, durch deren Kontrolle und Verkauf sich das Putin-Regime finanziert und Europa unter Druck setzt. Die Schweiz ist – zu unserer Schande – ein zentraler Schaltplatz der Finanzierung korrupter und autoritärer Regierungen, aber nicht der einzige. Das Problem ist schlussendlich eines der globalen Wirtschaftsordnung. Der bereits zitierte Greg Yudin sieht hier auch einen entscheidenden Punkt, an dem die internationale Solidarität ansetzen sollte: „Putins Erfolg bei der Korrumpierung der politischen und wirtschaftlichen Eliten in der ganzen Welt basiert auf seinem Wissen, dass Gier und Eigennutz die Eckpfeiler des Kapitalismus sind. Er glaubt fest daran, dass man mit Geld alles kaufen kann [...] Wir sollten gegen all die Menschen in anderen Ländern vorgehen, die von Putin bestochen wurden. Wir sollten auf die Einrichtung eines transparenten internationalen Registers für die großen Vermögen drängen. Dies ist ein entscheidender Moment, um die Ungleichheit zu bekämpfen, die durch Putins schmutziges Geld erheblich vergrößert wurde. Die Welt erkennt endlich, welche Gefahr vom Kapital ausgeht, und wir sollten diese Gelegenheit nutzen, um die rücksichtslose Weltordnung zu ändern, die zu diesem Krieg geführt hat.“18 Es ist wohl müßig darauf hinzuweisen, dass sowohl die nationalkonservativen, die liberalen als auch Teile der christdemokratischen Parteien in der Schweiz praktisch jegliche Bemühungen in diese Richtung blockieren. Das dürfte in anderen Ländern nicht viel anders sein. Umso mehr liegt hier eine zentrale Verantwortung der Linken. 17 Vgl. dazu Cédric Wermuth, Für eine Rückkehr des starken Staates, in: „Neue Zürcher Zeitung“, 21.9.2022. 18 Yudin, a.a.O.

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Auf dem Weg zur »Dritten Republik«? Die Ukraine zwischen Kriegswirtschaft und europäischer Integration Von Petro Burkovskiy und Andreas Umland

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usslands Krieg, der auf die Zerstörung der ukrainischen Staatlichkeit und Nation abzielt und Elemente eines Völkermords aufweist, hat nicht nur fatale Auswirkungen auf die Menschen und Infrastruktur der Ukraine. Er ist auch eine Triebkraft für de- wie konstruktive Veränderungen in der ukrainischen Gesellschaft: Wirtschaft, Kultur und das Gemeinwesen der Ukraine wandeln sich derzeit rasant. Welche Herausforderungen, Fortschritte und Probleme sind damit verbunden? Im Februar dieses Jahres schlug der Rechtsexperte des renommierten Kyjiwer Rasumkow-Zentrums, Petro Stezjuk, vor, von einer „dritten Republik“ in der modernen Geschichte der Ukraine zu sprechen. Stezjuk bezieht sich auf die Ukrainische Volksrepublik zwischen 1918 und 1921 als erste und den postsowjetischen ukrainischen Staat von 1991 bis 2022 als zweite Republik. Heute entstehe eine neue Republik, da Umfragen auf tiefgreifende Veränderungen in der ukrainischen Gesellschaft im Jahr 2022 hinweisen.1 Insbesondere hätten sich das traditionelle Ost-West-Gefälle bei den Einstellungen zur außenpolitischen Ausrichtung des Landes, in den normativen Präferenzen der Ukrainer und bezüglich ihres historischen Gedächtnisses bis Anfang 2023 deutlich abgeschwächt. Die einst gravierenden Meinungsverschiedenheiten waren bereits in den Jahren vor der Großoffensive Russlands zurückgegangen, aber bis Anfang 2022 immer noch zu erkennen. Nun zeigen neue Daten, die das Rasumkow-Zentrum nach zehn Monaten Krieg erhob, dass die 30 Jahre alte regionale Kluft innerhalb der Ukraine weitgehend verschwunden ist. Die Westorientierung und das liberal-demokratische politische System der Ukraine wurden im Laufe des Jahres 2022 auch im Osten und Süden des Landes mit deutlicher Mehrheit akzeptiert. Dies werde, so Stezjuk, weitreichende politische Auswirkungen nach sich ziehen. Der ehemalige Verfassungsrichter schlägt daher vor, über die Verabschiedung einer neuen Verfassung nachzudenken, die eine dritte Republik der Ukraine 1 www.razumkov.org.ua, 2.2.2023.

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86 Petro Burkovskiy und Andreas Umland begründen könnte. Nicht nur die zunehmend prowestliche und patriotische politische Orientierung der Ukrainer ist zu einem einigenden Faktor im ganzen Land geworden. Trotz des verheerenden Krieges und der Verhängung des Kriegsrechts seit Februar 2022 hat die gesellschaftliche Unterstützung für die Demokratie ebenso deutlich zugenommen wie das Vertrauen in die nationale Regierung und die Streitkräfte.2

Die Dominanz der Präsidialverwaltung Es gibt jedoch auch weniger positive innenpolitische Auswirkungen des Krieges. Eine Reihe von Insidern berichtet, dass die Präsidialverwaltung zu einem immer dominanteren Organ wird. Heute scheint eher sie als der Premierminister das Kabinett zu leiten. So schreiben ukrainische Medien beispielsweise, der Leiter der Präsidialverwaltung, Andrij Jermak, habe die Außenpolitik und die Planung für den Wiederaufbau des Landes übernommen. Zudem haben Jermak und ihm nahestehende Politiker den Wunsch geäußert, über die laufende Amtszeit des Präsidenten hinaus an der Macht zu bleiben. Sie setzen sich dafür ein, dass Wolodymyr Selenskyj für eine zweite Amtszeit wiedergewählt wird, obwohl der Präsident zunächst erklärt hatte, er wolle nicht erneut kandidieren – eine Aussage, die er später relativierte. Auch hat die russische Invasion bereits existierende Spannungen zwischen der Präsidialverwaltung und einigen prominenten Bürgermeistern großer Städte verschärft. So ist das Verhältnis zwischen der Präsidialverwaltung und dem populären Kyjiwer Bürgermeister Witali Klitschko schon länger angespannt und hat sich kürzlich weiter verschlechtert. Selenskyj kritisierte Klitschko etwa dafür, dass er die Krisenbekämpfung bei Raketenangriffen auf die kritische Infrastruktur der Stadt behindert habe. Auch zwischen Borys Filatow, dem Bürgermeister der großen ostukrainischen Industriestadt Dnipro, und der Präsidialverwaltung verschärften sich Differenzen: Laut Filatow kam es zu Spannungen, weil die Zentralregierung und Präsidialverwaltung lokale Vergabeverfahren in Dnipro unter ihre Kontrolle bringen wollten – nachdem er sich an das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU) gewandt hatte, um einen Bestechungsversuch beim Bau der städtischen U-Bahn zu verhindern. Eine ähnliche Anschuldigung erhob Pawlo Kusmenko, Bürgermeister von Ochtyrka, einer Kreisstadt in der Region Sumy. Kusmenko berichtete, der Leiter der Militärverwaltung der Region Sumy habe gedroht, ihn seines Amtes zu entheben, wenn er nicht zustimme, Wiederaufbauaufträge an bestimmte Privatunternehmen zu vergeben. Das zeigt: Die Bekämpfung der Korruption bleibt nach wie vor eine Herausforderung für die Ukraine. Obwohl die Einigkeit in der Gesellschaft angesichts des Krieges zunimmt, gilt dies nicht für die Fraktion der „Diener des Volkes“, die Selenskyj in der Werchowna Rada (Oberster Rat) unterstützt. Die präsidentenfreundliche Par2 Vgl. www.dif.org.ua, 19.1.2023; 97 Prozent der Ukrainer vertrauen den Streitkräften der Ukraine und 85 Prozent vertrauen Selenskyj, so eine Umfrage, www.pravda.com.ua, 1.7.2022.

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Ukraine: Auf dem Weg zur »dritten Republik«? 87 tei ist zersplittert. Zwar verfügte sie im Februar 2023 offiziell noch über 239 Rada-Abgeordnete und damit über eine absolute Mehrheit im ukrainischen Einkammerparlament. Doch die Abstimmungsdisziplin in der Fraktion ist gering, sodass vielfach von der Präsidialverwaltung eingebrachte Gesetzentwürfe und sonstige parlamentarische Entscheidungen nur dank Unterstützung anderer Fraktionen verabschiedet werden konnten. Diese Leihstimmen kommen inzwischen sogar von ehemaligen Mitgliedern der verbotenen prorussischen sogenannten Oppositionsplattform „Für das Leben“ (OPFL), wie die Abstimmungsergebnisse im Parlament zeigen.

Parteien: In der Verteidigung geeint – und teilweise verboten Demgegenüber steht die inzwischen größte Oppositionspartei „Europäische Solidarität“ des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko dem Präsidenten zwar weiterhin ablehnend gegenüber, unterstützt ihn aber in seiner Militärund Außenpolitik. Doch bleiben die Spannungen und der politische Wettbewerb zwischen Poroschenko und Selenskyj weiterhin eine wichtige Trennlinie in der aktuellen ukrainischen Innenpolitik. Poroschenko und seine Partei „Europäische Solidarität“, die beobachtendes Mitglied der Europäischen Volkspartei ist, steht für eine ausdrücklicher nationale und konservative Position in der Kultur-, Geschichts- und Sprachenpolitik als Selenskij. Einen anderen Weg gehen die drei bekanntesten – wenn auch bei Wahlen marginalen und nur mit einem Abgeordneten in der Rada vertretenen – ultranationalistischen Parteien der Ukraine, „Swoboda“ (Freiheit), „Rechter Sektor“ und „Nationales Korps“. Sie haben ihre innenpolitischen Aktivitäten während des Krieges weitgehend eingestellt und behaupten, sich nun ganz auf die nationale Verteidigung konzentrieren zu wollen. Einige irreguläre oder semireguläre Militäreinheiten, die 2014 von diesen Parteien oder mit ihrer Hilfe in Reaktion auf den Beginn des russischen Krieges geschaffen wurden – beispielsweise das Asow-Regiment oder das Ukrainische Freiwilligenkorps – sind in die regulären Streitkräfte der Ukraine integriert worden. Sie stehen in nur noch loser Verbindung zu den Parteien. Bereits im März 2022 untersagte der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat (NSVR) der Ukraine, ein wichtiges Exekutivorgan neben dem Ministerkabinett, die Aktivitäten mehrerer politischer Gruppierungen, die prorussische Positionen vertraten. Ihnen wurde vorgeworfen, dass sie den Großangriff Moskaus 2022 mit vorbereitet hätten. Das Verbot betraf die im Parlament zahlreich vertretene OPFL, die kleinere sogenannte Partei von Anatolij Scharij und eine Reihe von Kleingruppen. Die radikalen Maßnahmen des NSVR wurden seinerzeit auch in der Ukraine kritisiert, sind jedoch durch die späteren Entwicklungen in den seit Februar 2022 von Russland besetzten Gebieten teilweise gerechtfertigt worden: So avancierten in der Oblast Charkiw und anderen Regionen bestimmte Funktionäre und Mitglieder der verbotenen prorussischen Parteien zu Kollaborateuren der Invasionsarmee. Sie beteiligten sich an der Einrichtung von Besatzungsverwaltungen

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88 Petro Burkovskiy und Andreas Umland und der Verfolgung von ukrainischen Bürgern mit antirussischer Haltung. Einige der Parteiaktivisten waren an der Vorbereitung von Sabotageakten im Inneren der Ukraine beteiligt. Auch wenn sich seit Februar 2022 die parteipolitische Landschaft der Ukraine verändert hat, kann man insgesamt nicht von einer Monopolisierung der legislativen Macht oder einem Verschwinden des Parteienwettbewerbs sprechen.

Medien: Zentralisierte Nachrichten und neue Informationskanäle Deutlichere Veränderungen zeigen sich hingegen bei den ukrainischen Medien: Wie andere Unternehmen des Landes sind auch die Massenmedien von den ökonomischen Auswirkungen des Krieges schwer getroffen worden. Mit dem Einbruch der Wirtschaft ging auch die Nachfrage nach Werbeplattformen und -dienstleistungen zurück, was zum Verschwinden oder zur Fusion zahlreicher Medienunternehmen führte. In einigen Fällen haben ausländische öffentliche Spender oder private Gelder einzelnen Journalisten und Redaktionen geholfen, ihre Arbeit fortzusetzen. Kurz nach dem 24. Februar 2022 entschied die ukrainische Regierung zudem, die Sendungen der meisten großen Fernsehsender zu einem einzigen politischen und auf den Krieg ausgerichteten Kanal namens „Tele-Marathon – United News“ zusammenzufassen. Dies geschah nicht nur aus politischen und administrativen Gründen, um den Nachrichtenfluss zu kontrollieren, sondern sollte auch die kriegsbedingte wirtschaftliche Schwäche vieler Sender kompensieren. Das neue, einheitliche Rund-um-die-Uhr-Programm kombiniert journalistische Berichterstattung samt Expertenanalysen mit der Absicht, Menschen für die Verteidigung zu mobilisieren. Ebenfalls vertreten im Programm sind Regierungsvertreter, Militäranalysten sowie ausländische Kommentatoren. Das Ministerium für Kultur und Informationspolitik beaufsichtigt die Organisation und den Inhalt des neuen Rundfunkkonglomerats. Auf Kritik stieß der Ausschluss der einst einflussreichen oppositionellen Fernsehsender „Prjamyy“ (Direkter) und „Kanal 5“ aus dem gemeinsamen Projekt „United News“. Diese beiden Sender, die mit Ex-Präsident Petro Poroschenko in Verbindung gebracht werden, sind jetzt nur noch im Internet präsent. Dasselbe gilt für den kleineren Fernsehsender „Espreso“, der mit dem Politiker und Geschäftsmann Kostjantyn Schewaho verbunden ist. Umfragen zufolge hat das Fernsehen mittlerweile jedoch seine traditionelle Rolle als Hauptquelle für politische Informationen verloren. Stattdessen bilden nun soziale Netzwerke wie Telegram, Facebook und Twitter, verschiedene Onlinemedien, YouTube-Kanäle und Messengerdienste die wichtigsten Kanäle, über die sich die Ukrainer mit politischen Nachrichten und Analysen versorgen. Auch einige ältere Fernsehsender haben Telegram- und YouTube-Kanäle entwickelt, die auf diesen Plattformen populär geworden sind. Obwohl es, gerade was das Fernsehen betrifft, seit Kriegsbeginn erhebliche Einschränkungen der Medien gegeben hat, bleibt die Landschaft plura-

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Ukraine: Auf dem Weg zur »dritten Republik«? 89 listisch und offen. Die neuen und sozialen Medien werden kaum kontrolliert – und sie werden immer wichtiger.

Die Rolle der Oligarchen – die Debatte wird weitergehen Wenige Stunden vor Beginn der russischen Invasion hielt Selenskyj ein Treffen mit einem Großteil der reichsten Persönlichkeiten der Ukraine ab. Teilnehmern dieses historischen Gesprächs zufolge forderte der Präsident die Eingeladenen auf, das Land im Falle eines russischen Angriffs zu unterstützen. Dem Aufruf folgte beispielsweise der bis dahin für öffentliche Zurückhaltung bekannte Eigentümer der SCM-Holding, Rinat Achmetow. So nannte er Anfang März 2022 Wladimir Putin einen „Kriegsverbrecher“, verurteilte im Mai 2022 das Vorgehen der russischen Armee als Völkermord und erklärte im Juli 2022, dass zum Sieg der Ukraine die Befreiung aller besetzten ukrainischen Gebiete erforderlich sei.3 Angeblich hat seine Metallurgie-Holding Metinvest unter russischer Besatzung die Arbeit eingestellt. Laut der renommierten Website NV leistete Achmetow im November 2022 den größten individuellen Beitrag zur Stärkung der Verteidigungskapazitäten der Ukraine, noch vor seinen Oligarchen-Kollegen Petro Poroschenko und Wiktor Pintschuk. Derzeit verklagt Achmetow den russischen Staat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf Entschädigung für die durch die Aggression entstandenen Schäden an seinen Unternehmen. Inzwischen erklärte der ukrainische Justizminister offiziell, dass der Tycoon nach der Übertragung seiner Fernsehgesellschaft „Ukraina“ an den Staat nicht mehr als Oligarch betrachtet werden könne. Achmetows früherer enger Geschäftspartner Wadym Nowynskyj hingegen unterstützt offen die prorussische sogenannte Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats. Im Dezember 2022 verhängte die ukrainische Regierung Sanktionen gegen ihn. Im Gegensatz zu Achmetow verließ Wiktor Pintschuk, ein weiterer Oligarch und Schwiegersohn des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma (1994 bis 2005), die Ukraine vor der Invasion. Erst im September 2022, nach den ersten militärischen Erfolgen der Ukraine, begann Pintschuk, sich deutlicher gegen Putin zu äußern. Inzwischen ist er unter den Oligarchen der drittaktivste Spender für die ukrainischen Streitkräfte, zugleich wird seinen Unternehmen vorgeworfen, weiterhin von zu hohen Preisen für öffentliche Aufträge zu profitieren. Im Vergleich zu anderen Oligarchen ist es Pintschuk nichtsdestoweniger gelungen, eine besonders enge Beziehung zum Präsidentenbüro aufrechzuerhalten. Dies geschah unter anderem durch seine erfolgreichen internationalen Projekte, wie beispielsweise die bekannten jährlichen YES-Konferenzen (Yalta European Strategy) in Kyjiw und das Ukrainian Breakfast in Davos am Rande des jährlichen Weltwirtschaftsforums in der Schweiz. 3 Akhmetov zaiavyv pro rozirvannia kontaktiv yoho biznesu z Rosiieiu: „Putin voiennyy zlochynets“. www.zn.ua, 5.3.2022; Akhmetov: Dii Rosii v Ukraini – tse genotsid ta voienni zlochyny, www.pravda. com.ua, 25.5.2022.

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90 Petro Burkovskiy und Andreas Umland Der nicht zuletzt wegen Korruptionsfällen besonders berüchtigte Oligarch Ihor Kolomojskyj wiederum war bereits aktiv an den ersten Verteidigungsbemühungen der Ukraine gegen Russland im Jahr 2014 beteiligt. Damals unterstützte Kolomojskyj neue Freiwilligenbataillone finanziell und half so, die Einnahme seiner Heimatstadt Dnipro durch irreguläre russische Truppen zu verhindern. Nach Beginn der Großinvasion im vergangenen Jahr hat Kolomojskyj jedoch die Öffentlichkeit gemieden. Der Bürgermeister von Dnipro, Borys Filatow, beklagte sich im April 2022 darüber, dass Kolomojskyj in keiner Weise zur Verteidigung der Stadt beigetragen habe. Im Sommer wurde bekannt, dass Kolomojskyj die ukrainische Staatsbürgerschaft entzogen worden ist und er seitdem regelmäßig vom NABU verhört wird. Andererseits ist sein beliebter Fernsehsender „1+1“ nach wie vor Teil des TV-Marathons „United News“ und demonstriert damit volle Loyalität gegenüber der Regierung. Nach Angaben ukrainischer Wirtschaftsforscher haben die Oligarchen der Ukraine seit Februar 2022 erhebliche kriegsbedingte Einnahmenverluste hinnehmen müssen. Dennoch haben sie und ihre großen Unternehmen angesichts ähnlicher Verluste anderer Wirtschaftsakteure eine beherrschende Stellung auf ihren traditionellen Märkten behauptet. Die Debatte über die Rolle der Superreichen im Land und auf wessen Kosten sie ihre Vermögen erlangt haben, wird in der ukrainischen Gesellschaft weitergehen.

Der langwierige Kampf gegen die Korruption Wann immer in diesen Kriegszeiten für eine Unterstützung der Ukraine geworben wird, dauert es nicht lange, bis Kritiker auf die anhaltende Korruption im Lande verweisen. Und die ist in der Tat nach wie vor ein Problem. Inzwischen steht sie, nicht zuletzt durch die strengen Anforderungen, die der in Aussicht gestellte EU-Beitritt verlangt, zunehmend im Fokus von Politik und Gesellschaft – wenn auch nicht immer mit der wünschenswerten Konsequenz. So wurden wichtige Positionen in der Korruptionsbekämpfung nachbesetzt. Nach einem offenen Auswahlverfahren wurde ein neuer Leiter der Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung, der ehemalige Beamte des Nationalen Antikorruptionsbüros (NABU) Oleksandr Klymenko, ernannt. Im März 2023 trat Semjon Krywonos als neuer Leiter des NABU sein Amt an, doch wird seine Unabhängigkeit wegen früherer Verbindungen zur Exekutive infrage gestellt. Dennoch intensivierte sich im vergangenen Jahr die Verfolgung der Korruption. Das zeigte sich etwa bei der Verhaftung eines stellvertretenden Ministers für Gemeinden, Gebiete und Infrastrukturentwicklung wegen des Verdachts der Bestechung beim Kauf von Generatoren, bei der Verhinderung eines Bestechungsversuchs des Bürgermeisters von Dnipro, um eine Ausschreibung für den Bau einer U-Bahn zu erleichtern, und bei einer Verdachtsanzeige gegen den Vorsitzenden des Rechnungshofs und ehemaligen Abgeordneten Walerij Pazkan. Im Gegensatz zu diesen und einer Reihe anderer positiver Entwicklungen berichten Journalisten aber weiterhin auch über fragwürdige Aktionen von

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Ukraine: Auf dem Weg zur »dritten Republik«? 91 Politikern aus dem Umfeld des Präsidenten. Diese zielen in der Regel darauf ab, die Kontrolle über unabhängige Behörden oder staatliche Unternehmen zu erlangen und Einfluss auf milliardenschwere öffentliche Aufträge zu nehmen. 2022 kam es beispielsweise zu einer ernsthaften Auseinandersetzung zwischen Vertretern der Zivilgesellschaft, die von Diplomaten der EU und G7 unterstützt wurden, auf der einen Seite und Selenskyj sowie der Parlamentsmehrheit auf der anderen Seite, als es um die Änderung des Verfahrens zur Wahl der Richter des ukrainischen Verfassungsgerichts (CCU) ging. Die Zivilgesellschaft konnte sich durchsetzen und der Verfassungsgerichtshof behielt seine Unabhängigkeit und sein hohes fachliches Niveau zumindest vorerst bei. Es gibt zudem Vorwürfe über den Missbrauch von Regierungsämtern beispielsweise durch Ausübung von Kontrolle über das Energieunternehmen UkrNafta und das Netz regionaler Gasunternehmen. Es wurde ebenfalls über informelle Einflussnahme auf den Rechnungshof, Druck auf den Leiter der ukrainischen Zentralbank NBU oder den Entzug der Staatsbürgerschaft berichtet, um politische Gegner kaltzustellen (dies traf etwa den Politiker Hennadij Korban, der einst dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj nahestand). Auch Versuche, öffentliche Vergabeverfahren zu unterlaufen, wurden in journalistischen Untersuchungen öffentlich gemacht. Dazu gehörten überhöhte Preise für Lebensmittel, die das Verteidigungsministerium für die Armee kaufte, oder die Bevorzugung von Unternehmen bei Ausschreibungen für Straßenreparaturen. Fortwährende Enthüllungen wie diese beschädigen nicht nur das internationale Image der Ukraine, sondern werden auch genüsslich vom Kreml für dessen antiukrainische Propaganda genutzt. Die begrüßenswerten Aktivitäten von Enthüllungsjournalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft und Antikorruptionsgremien verweisen aber nicht nur auf verbleibende Schwachstellen im politischen, administrativen und sozialen System der Ukraine. Sie sind auch Anzeichen für anhaltende Reformbemühungen und den weiterhin hohen Einfluss der Zivilgesellschaft – trotz der zentralisierenden Auswirkungen des Krieges.

Auf dem Weg zur konsolidierten Demokratie Wenn es um Reformen in der Ukraine hin zu einer konsolidierten Demokratie geht, bleibt es daher vorerst beim bekannten sogenannten Sandwich-Modell, das bereits während der Präsidentschaften von Wiktor Juschtschenko und Petro Poroschenko galt. Einschlägige ukrainische Nichtregierungsorganisationen und Medien auf der einen und mächtige internationale Partner der Ukraine, wie die G7, die EU und der IWF auf der anderen Seite üben gemeinsam Druck auf ambivalente Parlamentsfraktionen, Verwaltungsorgane und oligarchische Gruppen aus. Dabei können sie nun auch den harten Konditionalitätsmechanismus des EU-Beitrittsverfahrens nutzen. Obwohl eine Zentralisierung der Verwaltung in Kriegszeiten unvermeidlich ist, darf eine solche Machtakkumulation an der Spitze nicht zu politi-

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92 Petro Burkovskiy und Andreas Umland scher Monopolisierung und Marginalisierung legitimer Opposition führen. Und obschon die Unabhängigkeit von Verwaltungs- und Medienorganen in Kriegszeiten naturgemäß abnimmt, sollte im Interesse besserer Regierungsführung und wirksamerer Kriegsanstrengungen so viel Autonomie wie möglich bei unabhängigen Aufsichtsbehörden belassen werden. Bei der Besetzung freier Stellen in Regierung und Justiz sollten der Präsident und das Parlament dazu angehalten werden, Kandidaten nicht aufgrund ihrer politischen Ansichten, sondern aufgrund ihrer beruflichen Qualitäten und Integrität zu unterstützen. Wo immer möglich, sollten die beeindruckenden Ergebnisse der ukrainischen Dezentralisierungsreform seit 2014 beibehalten und durch neue Schritte in diese Richtung gestärkt werden. Auch wenn der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine einen einzigartig schwierigen Kontext für das demokratische Funktionieren und die Entwicklung des ukrainischen Gemeinwesens und der Gesellschaft schafft, macht dies die Relevanz der Kopenhagener Kriterien für den EU-Beitritt der Ukraine nicht hinfällig. Die Inhaber politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Macht in der Ukraine müssen, falls sie dies noch nicht verstanden haben, dafür sensibilisiert werden, dass das enorme ukrainische Leid nicht dazu genutzt werden kann, europäische Standards zu verwässern. Der ukrainische Staat muss solche Bedingungen wie einen hohen Grad an Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und Gewaltenteilung für seine schrittweise Einbeziehung in den europäischen Integrationsprozess erfüllen. Nur dann wird sich der Weg für die Ukraine in die Vollmitgliedschaft der Europäischen Union öffnen.

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Die neue Schuldenkrise Wie die internationale Entwicklungspolitik den Globalen Süden ruiniert Von Frauke Banse

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eit die Schweizer Großbank UBS Ende März ihre taumelnde Konkurrentin Credit Suisse übernommen hat, ist auch in Europa von einer neuen Bankenkrise die Rede. Nahezu unbeachtet von der hiesigen medialen Öffentlichkeit bahnt sich im Globalen Süden dagegen schon lange eine tiefgreifende Schuldenkrise an, die die der 1980er Jahre noch in den Schatten stellen könnte. Mitverantwortlich dafür sind ausgerechnet jene Institutionen, die die Situation in den betroffenen Ländern eigentlich verbessern sollen: die der deutschen wie internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Erst im vergangenen Jahr erklärten das westafrikanische Ghana und der südasiatische Inselstaat Sri Lanka ihre Zahlungsunfähigkeit – sie konnten ihre Schulden nicht mehr bedienen. Beide Länder verfügen über einen besonders hohen Anteil an finanzmarktbasierten Schulden und leisten entsprechend hohe Zinszahlungen. Ghana war 2007 das erste westafrikanische Land, das in großem Maßstab international handelbare Staatsanleihen ausgab; auch in Sri Lanka machen international handelbare Anleihen inzwischen den größten Anteil der Staatsschulden aus.1 Damit liegen beide Länder ganz im Trend der internationalen Entwicklungsfinanzierung. Die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, die Sustainable Development Goals (SDG), als wesentliche Richtschnur der Entwicklungspolitik, sollen vor allem mit privaten Geldern finanziert werden. Die SDG tragen damit wesentlich zur sogenannten Finanzialisierung von Entwicklungspolitik bei – also zu einem Fokus auf international handelbare Finanzierungsinstrumente.2 Entsprechend wirbt die Weltbank mit ihrem Programm „From Billions to Trillions“ damit, öffentliche Gelder so einzusetzen, dass Investitionsrisiken minimiert und private Finanzinvestitionen in Infrastruktur, Bildung oder Gesundheit angelockt, sprich: „gehebelt“ werden. In Bezug auf Afrika formuliert es das zentral von Deutschland getragene Vorhaben Compact with Africa der G20 deutlich: „Es gibt einen globalen Pool privater Finanzmittel, die für afrikanische Investitionen 1 Zur Übersicht der Gläubigerstruktur einzelner verschuldeter Länder vgl. Erlassjahr.de und Misereor (Hg.), Schuldenreport 2023, Aachen und Düsseldorf, 30.3.2023, S. 28. 2 Zur Übersicht der Diskussion vgl. Frauke Banse, Franziska Müller, Anil Shah und Aram Ziai (Hg.), Finanzialisierung und Entwicklungspolitik, „Peripherie“, 2/2021.

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94 Frauke Banse genutzt werden können.“ Der immense private Reichtum dieser Welt soll also in die wirtschaftliche Entwicklung des afrikanischen Kontinents investiert werden. Dabei wird von einer Win-win-Situation ausgegangen: profitabel angelegte private Finanzinvestitionen schaffen wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand für alle, so zumindest die Annahme. Doch sind es nicht allein Finanzen, die ausschlaggebend für eine nachhaltige und gerechte ökonomische Entwicklung sind, sondern deren langfristige Steuerung nach entwicklungspolitischen Kriterien. Investitionen globaler Finanzmarktakteure aber müssen vor allem eines sein: profitabel. Sie werden nur gewinnbringend angelegt und möglichst dann umgeschichtet, wenn woanders die Gewinnaussichten besser sind. Genau dies passiert zurzeit. Wir sehen dies – mit noch unklarem Ausgang – im Globalen Norden bei der aktuellen Bankenkrise, die sich – noch – vor allem auf die USA und die Schweiz konzentriert. Wir sehen es aber auch in Ländern des Globalen Südens, wo sich schon seit längerem eine dramatische Schuldenkrise anbahnt. Die globalen Institutionen der Entwicklungsfinanzierung, unter anderem auch die deutschen, gießen dabei mit der Förderung marktbasierter Finanzierungsinstrumente von Entwicklungshilfe unablässig Öl ins Feuer, statt strukturelle Lösungen zu unterstützen.

Eine systemische Krise mit langem Vorlauf Die sich anbahnende Schuldenkrise des Globalen Südens ist systemisch, tiefgreifend und sie hat einen langen Vorlauf. Ihre sozialen, ökologischen und ökonomischen Folgen allerdings sind bereits jetzt verheerend. Länder wie Tunesien, Ägypten, Argentinien oder Pakistan können ihren Schuldendienst eigentlich nur noch mit Notkrediten des Internationalen Währungsfonds weiter bestreiten; dringend nötige öffentliche Ausgaben fallen hingegen hinten runter, die IWF-Vorgaben bedeuten zusätzliche harsche soziale Einschnitte. Der Währungsfonds vergab deshalb im vergangenen Jahr Notkredite in bisher ungekannter Höhe – mittlerweile wird bereits darüber diskutiert, ob das IWF-Budget bald am Limit ist.3 In den deutschen Medien ist die Schuldenkrise des Globalen Südens allerdings kaum präsent und wenn, dann wird entweder China oder korrupten Regierungen in den jeweiligen Ländern die Hauptverantwortung gegeben. Beides springt zu kurz oder schlicht in die falsche Richtung. Die öffentliche Verschuldung nimmt seit 1980 zweimal so schnell zu wie das globale Bruttosozialprodukt. Und während sich die Verschuldung beschleunigt, verlangsamt sich das weltweite Wachstum deutlich – der globale private Reichtum aber nimmt unterdessen immer obszönere Ausmaße an.4 Durch die historische Struktur der globalen Ökonomie trifft die Verschuldung Länder an 3 Jonathan Wheatley, IMF bailouts hit record high as global economic outlook worsens, in: „Financial Times“, 25.9.2022. 4 Vgl. Sighard Neckel, Zerstörerischer Reichtum. Wie eine globale Verschmutzerelite das Klima ruiniert, in: „Blätter“, 4/2023, S. 47-56.

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Die neue Schuldenkrise 95 der Peripherie des Kapitalismus besonders schwer; Möglichkeiten, Krisen wie die Coronapandemie auszugleichen, existieren faktisch nicht. So verwendete Ghana Ende vergangenen Jahres über 70 Prozent seiner Steuereinnahmen für den Schuldendienst; 64 Prozent des externen Schuldendienstes gehen an private Gläubiger, zumeist an Anleihebesitzer. Und das obwohl Ghana der Donordarling Deutschlands und der EU sowie enger Kooperationspartner im von Deutschland getragenen Compact with Africa ist. Das Land hat mit Verve die marktbasierte Entwicklungsfinanzierung verfolgt. Dabei haben sich Ghanas Schulden im Zuge der Niedrigzinspolitik im Dollar- und Euroraum in den letzten fünfzehn Jahren vervielfacht. Spätestens die Coronakrise führte das Land jedoch an den Rand der Zahlungsunfähigkeit; die durch den russischen Einmarsch in die Ukraine ausgelösten steigenden Importpreise sowie die Zinserhöhungen in den USA und Europa bereiteten seiner Schuldendienstfähigkeit dann gänzlich ein Ende. Damit steht Ghana exemplarisch für die Verschuldung des Globalen Südens. Nicht nur sind die Schulden weltweit drastisch gestiegen,5 auch der Anteil privater, marktbasierter Schulden hat deutlich zugenommen. Insbesondere sogenannte (Lower-)Middle-IncomeCountries wie Ghana oder Sri Lanka sind von internationalen Finanzinstitutionen ermutigt worden, Staatsanleihen auszugeben. Diese verbrieften Schuldtitel sind auf internationalen Finanzmärkten handelbar. Dadurch haben auch die global agierenden privaten Ratingagenturen zentralen Einfluss auf die Konditionen, zu denen Schulden aufgenommen werden können: Je größer das von ihnen eingeschätzte Investitionsrisiko, desto höher fallen die Zinsen aus. Die Refinanzierung der Schulden, also die Aufnahme neuer Schulden, um die alten zu bezahlen, kann damit noch ruinöser werden – der Schuldendienst wird so schnell zu einer erdrückenden Angelegenheit.

Zinserhöhungen der FED: Ein neuer Volcker-Schock für den Süden Die globale Währungshierarchie mit dem Dollar an der Spitze erklärt die fragile Schuldensituation dieser Länder zumindest teilweise. Zehn Jahre lang war Geld billig zu haben, die extrem niedrigen Zinsen in den USA oder Europa machten auch risikoreichere Anlageklassen in Ländern des Globalen Südens für internationale Investoren interessant. Oft lieh man sich billig Geld in Industrieländern, um es dann gewinnbringend in periphere Staatsanleihen zu investieren. Die Gewinnspanne bei diesen Zinswetten war ausgesprochen vielversprechend. 2022 trat dann das ein, was als zweiter Volcker-Schock in die Geschichtsbücher eingehen könnte. Wie bereits 1979 unter dem damaligen Chef der US Notenbank Federal Reserve (FED), Paul Volcker, erhöht die FED seit März vergangenen Jahres sukzessive die Zinsen, um die Inflation in den USA zu bekämpfen. 5 Nicht nur Zentralregierungen nehmen Schulden auf, sondern auch öffentliche Unternehmen oder lokale Regierungen. Zudem gibt es etwa über Verträge für Public Private Partnership zahlreiche Risikogarantien durch den Staat. Wie hoch die öffentlichen Schulden tatsächlich sind, ist deswegen nur ungefähr bekannt. Die tatsächliche Verschuldung kann noch deutlich höher ausfallen.

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96 Frauke Banse Effekt dieser Zinserhöhung damals wie heute war eine massive Verteuerung der in harten Währungen ausgegebenen Schulden in Ländern des Globalen Südens. Es war der Beginn der Schuldenkrise in den 1980er Jahren, der Notkredite des Internationalen Währungsfonds und der sogenannten Strukturanpassungsprogramme – und damit der Beginn der „verlorenen Jahrzehnte“ der ökonomischen und sozialen Entwicklung für viele Länder des Globus. Vermutlich noch drastischer als damals fiel insbesondere 2022 der massive Abzug von Kapital aus den Ländern des Globalen Südens in den Dollar- und Euroraum aus, bis heute sind die Finanzinvestitionen ausgesprochen volatil. Durch die hohe „Liquidität“ von Staatsanleihen – unter anderem weil Anleihen international auf Finanzmärkten gehandelt werden können – werden Investoren ihre Schuldscheine schnell wieder los. Und jetzt, da die Zinsen höher sind, ist es wieder gewinnversprechend, Geld in den USA oder Europa anzulegen. Das abgewanderte Kapital fehlt den betroffenen Ländern nicht nur für die Grundfinanzierung ihres Haushalts und die Bedienung bestehender Schulden, es lässt vor allem auch die heimischen Währungen gegenüber Dollar und Euro in den Keller rauschen. Importe werden dadurch deutlich teurer.

Die fatalen Strukturanpassungsprogramme der 1980er Jahre Die Strukturanpassungsprogramme als Reaktionen auf die letzte große Schuldenkrise in den 1980er Jahren und die Freihandelspolitik der vergangenen Jahrzehnte öffnete die Märkte der Länder des Globalen Südens für den Weltmarkt. Aufgrunddessen müssen diese bis heute viele essenzielle Produkte wie Lebensmittel, Medikamente, Dünger oder Maschinen importieren. Ließ der Krieg in der Ukraine die Preise für zentrale Güter ebenso in die Höhe schnellen wie die Inflation, legt nun die Abwertung der heimischen Währungen noch einmal eine ordentliche Schippe oben drauf. Die Bevölkerungen Ghanas oder Sri Lankas müssen heute mit einer Inflation von über 50 Prozent zurechtkommen, in Pakistan sind es 30 Prozent. Angesichts dessen sind die Reallohnverluste immens. Um den weiteren Abzug der Finanzen zu stoppen und Anreize für Investoren zu schaffen, erhöhen die Zentralbanken des Globalen Südens ihrerseits ihre Zinsen – mit Leitzinsen von bis zu über 20 Prozent setzen sie damit aber auch heimischen Unternehmen ein Ende, die sich nicht wie große multilaterale Konzerne über harte Währung refinanzieren können. In einer ungleichen Welt mit ihren ungleichen Währungen und gleichzeitig weit offenen Finanzsystemen und Warenmärkten führt monetaristische Inflationsbekämpfung in den USA und Europa zu dramatischer Inflation in den Gläubigerstaaten. Und während auf der einen Seite die Schulden wachsen, steigen auf der anderen die Einnahmen. Der private globale Reichtum nimmt immer weiter zu – und mit ihm die globale Ungleichheit. Das reichste Prozent der Weltbevölkerung hat laut Oxfam seit der Covid19-Pandemie rund zwei Drittel des weltweiten Vermögenszuwachses eingestrichen. Gleichzeitig hält die Lohnentwicklung in vielen Ländern bei

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Die neue Schuldenkrise 97 weitem nicht mit der Inflation Schritt; jeder zehnte Mensch auf der Erde hungert. Das Geld der Reichen und Wohlhabenden aber will „verwaltet“ – also angelegt werden, zusammen mit Geldern privater sozialer Absicherung – etwa der Rentenkassen. Jahrzehnte global niedriger Steuern für hohe Einkommen, Vermögen und Unternehmen sowie privatisierte Systeme sozialer Sicherung haben wesentlich zu einer Savings Glut, einer Sparschwemme beigetragen, die international nach gewinnbringenden Anlagemöglichkeiten sucht, darunter auch die öffentlichen Anleihen des Globalen Südens. Durch ihren Fokus auf private Finanzinvestitionen gehen die SDG Hand in Hand mit Finanzspekulationen und einer Verschärfung der globalen Ungleichheit und konterkarieren sich damit selbst. Denn die von Investoren gewünschte Profitabilität passt nicht mit der Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen und sozialer Gleichheit zusammen. Krankenhäuser, Straßen und Schulen sind nur dann profitabel zu betreiben, wenn Nutzungsgebühren erhoben und damit die Zugänge für ärmere Bevölkerungsschichten erschwert oder verunmöglicht werden. Dafür aufgenommene Mikrokredite verschlimmern die Verschuldung privater Haushalte nur noch. Das Kriterium der Profitabilität widerspricht nicht nur dem Anspruch einer universellen öffentlichen Daseinsversorgung. Zusammen mit dem Anspruch nach Liquidität – also der Möglichkeit, Gelder schnell umschichten zu können – steht es auch einer langfristigen Entwicklungsplanung diametral entgegen. Denn um konkurrenzfähige Industrien aufzubauen, braucht es jahrzehntelange öffentliche Kredite zu niedrigen Zinsen, mit langen Laufzeiten und mit der Akzeptanz des Ausfallrisikos. Südkorea ist ein wichtiges Beispiel für diese Form der Industriepolitik und öffentlich regulierten Kreditvergabe. Entwicklungsplanung nach „Bankability“ oder „Marketability“ – zwei zentrale Stichworte der marktbasierten Entwicklungsfinanzierung – auszurichten, geht zudem zulasten einer gezielten Entwicklung von Regionen. Denn Straßenbau und Wasserrohre in ländlichen Gemeinschaften fallen nicht in diese Kategorie.

Die heutige Krise betrifft Staaten, private Haushalte und Unternehmen Marktbasierte Entwicklungsfinanzierung geht auch Hand in Hand mit Maßnahmen des Staates, die Risiken für private Investoren zu minimieren, um diese anzulocken. Dazu gehören ökonomische Strukturreformen wie die Öffnung von Finanzsystemen und deren Ausrichtung auf marktbasierte Finanzierung. Wichtiger Bestandteil dieses de-risking state6 sind auch vertraglich abgesicherte staatliche Garantien für den Fall nicht erfüllter Gewinnerwartungen privater Investoren – diese sorgen für ein weiteres Schuldenrisiko in den öffentlichen Budgets. Im Vergleich zur letzten großen Schuldenkrise des Globalen Südens in den 1980er Jahren geht die heutige deutlich tiefer: Sie betrifft nicht nur Staaten, 6 Daniela Gabor, The Wall Street Consensus, in: „Development and Change“, 3/2021, S. 429-459.

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98 Frauke Banse auch private Haushalte und Unternehmen sind stark verschuldet. Zudem ist die Struktur der Gläubiger durch den hohen Anteil marktbasierter Schulden sehr viel unübersichtlicher. In den 1980er Jahren waren für eine Umstrukturierung der Schulden einige große Privatbanken und westliche bilaterale sowie westlich dominierte internationale Finanzinstitutionen wie der IWF und die Weltbank zuständig. Entfielen auf die im sogenannten Paris Club organisierten westlichen Gläubiger im Jahr 2000 noch 55 Prozent der Schulden, so sind es 2021 nur noch 18 Prozent. Chinesische Kredite sind im gleichen Zeitraum von ein auf 15 Prozent angewachsen. Vor allem aber ist in den vergangenen beiden Dekaden der Anteil privater internationaler Anleihegläubiger von öffentlichen oder öffentlich garantierten Schulden bei Staaten mit geringem Einkommen oder „lower-middle income“ gestiegen, von zehn auf 50 Prozent – Tendenz steigend.7 Neben Vermögensverwaltern wie Blackrock, Versicherungen wie der Allianz Global oder auch Pensionsfonds sind viele Anleiheeigner schlicht nicht bekannt. Umstrukturierungen der Schulden durch den Pariser Club und Notkredite des IWF sind für sie profitabel – denn diese garantieren, dass ihre Schulden weiter bedient werden. Spezialisierte Hedgefonds wetten gar auf durch Notkredite abgefederte Staatspleiten.8

Die Sustainable Development Goals konterkarieren sich selbst Auch wenn es zu einer besseren Koordination westlicher und chinesischer staatlicher Gläubiger kommen sollte, ist in dem bestehenden System der marktbasierten Staatsfinanzierung keine auch nur kurzfristige Lösung in Sicht, die in irgendeiner Form einen Neustart für die verschuldeten Länder bedeuten könnte. Dies gilt auch für insbesondere von Deutschland vorangetriebene Initiativen zur Ausweitung der Schuldenmärkte in heimischer Währung. Diese vertiefen insbesondere die Privatisierung der Daseinsvorsorge, orientieren sich weiterhin an marktbasierter Entwicklungsplanung und lösen das Verschuldungsproblem nicht grundsätzlich. Auch bleibt die Gefahr der volatilen Investitionszyklen bestehen und die angestrebte Unabhängigkeit von Devisen kann mit ihnen nicht gewährleistet werden.9 Nichtregierungsorganisationen plädieren angesichts dessen für ein staatliches Insolvenzrecht oder auch für eine radikale Schuldenstreichung nach dem Vorbild des Londoner Schuldenabkommens für die deutschen Nachkriegsschulden. Das wären in der Tat wichtige Schritte, nicht zuletzt auch für die dringend notwendige Finanzierung von Klimaschutzprogrammen. Allerdings gingen selbst diese Maßnahmen nicht weit genug. In den Foren der internationalen Entwicklungszusammenarbeit wird das Mantra wieder7 Martin Wolf, We must tackle the looming global debt crisis before it’s too late, in: „Financial Times“, 17.1.2023. 8 Zur Absicherung der Profite bei Anleiheinvestitionen im Globalen Süden vgl. Shaina Potts, Deep Finance: Sovereign Debt Crises and the Secondary Market ‚Fix‘, in: „Economy and Society”, 3-4/2017, S. 452-475. 9 Vgl. Frauke Banse, Der „globale Pool privaten Geldes“ in Afrika. Anleihemärkte in lokaler Währung und die deutsche Entwicklungszusammenarbeit, in: „Peripherie“, 2/2021, S. 251-274.

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Die neue Schuldenkrise 99 holt, es gäbe eine große Finanzierungslücke zur Erfüllung der SDG. Doch spätestens wenn Staaten 70 Prozent ihres Steueraufkommens für den Schuldendienst aufbringen müssen – wie Ghana –, beißt sich die schuldenbasierte Entwicklungsfinanzierung in den eigenen Schwanz. Wären diese Steuern doch besser direkt in den Brückenbau oder die Krankenhausausstattung geflossen, oder in höhere Gehälter der Lehrer:innen oder der Beschäftigten im Gesundheitssektor.

Stoppt den Wertabfluss von Süd nach Nord Bislang aber führt die Ungleichheit der globalen Ökonomie zu einem gigantischen Wertabfluss von Süd nach Nord. Darunter fällt nicht nur der immense Schuldendienst – der durch einen wirklichen Schuldenerlass in der Tat reduziert würde. Das historisch bedingte und durch Freihandel und Strukturanpassung verschärfte strukturelle Leistungsbilanzdefizit – also die Notwendigkeit, immer mehr Güter und Dienstleistungen zu importieren als zu exportieren – bedeutet auch eine strukturelle Unterfinanzierung öffentlicher Haushalte. Verschärft wird diese noch durch schwer zu kontrollierende Mauscheleien bei der Buchhaltung multinationaler Konzerne – insbesondere in der für den Globalen Süden so zentralen Rohstoffförderung – durch liberale Investitionsgesetze, die Gewinnrepatriierung10 keine Schranken setzen, oder umfassende Steuererleichterungen, mit denen ausländische Direktinvestitionen angelockt werden sollen. Dieser strukturelle Mangel an eigentlich verfügbaren Finanzen ist eine zentrale Ursache der Schuldenkrise des Globalen Südens. Es bedarf daher Handels- und Investitionsregeln, die den Aufbau heimischer diversifizierter Ökonomien ermöglichen, sie damit krisenresistenter machen und den Wertabfluss stoppen. Dafür braucht es nicht mehr privates, marktbasiert gesteuertes Geld, das nach Profitabilität, Liquidität und offenen (Finanz-)Märkten ruft. Nötig sind vielmehr öffentliche Finanzsysteme, die langfristige, an gesellschaftlichen Zielen orientierte Kredite vergeben und so einen wesentlichen Beitrag für mehr globale Gleichheit leisten. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist mit der KfW global führend bei der Etablierung der martkbasierten Entwicklungsfinanzierung.11 Alle prominenten Projekte Deutschlands und der EU bauen auf dieser Form der Finanzierung auf – vom Compact with Africa bis zur Global Gateway Initiative. Mit diesen marktbasierten Initiativen gießen sie aber weiter Öl in das Feuer der Schuldenkrise. Auch in der deutschen Entwicklungspolitik braucht es daher dringend eine radikale Umkehr hin zu einer stärkeren Förderung diversifizierterer Ökonomien, die den Wertabfluss von Süd nach Nord unterbinden und so die entsprechende steuerfinanzierte Grundlage für nachhaltige Entwicklung sicherstellen. 10 Also die Rückholung von Gewinnen der Auslands(tochter)gesellschaften eines Unternehmens in das inländische Stammhaus. 11 Peter Volberding, Leveraging Financial Markets for Development. How KfW Revolutionized Development Finance, Basingstoke 2021.

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SCHLAGLICHT

Es ist ein Buch der Wut, das der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann geschrieben hat und damit eine Ostdeutschlanddiskussion auslöste, die quer zu den ritualisierten Debatten verläuft, die sich sonst alljährlich um den Tag der Einheit ranken. Die Veröffentlichung der internen Äußerungen Matthias Döpfners durch die „Zeit“ – „Die ossis sind entweder Kommunisten oder faschisten. Dazwischen tu sie es nicht. Eklig.“– tragen das Ihre dazu bei, die Debatte zu befeuern.1 Der elitäre Hass des einen auf die Ostdeutschen ist der Verkaufserfolg des anderen – so funktioniert der Markt der Ressentiments zwischen Ost und West. Wir alle drehen uns dabei im Kreis – wieder einmal.

Im Osten nichts Neues: Ein Buch der Wut Oschmanns Streitschrift – oder treffender: seine Suada – widerspricht jenen in Politik und Medien, die meinen, die Herkunft und Sozialisation in Ost und West spielten für das heutige vereinte Deutschland keine Rolle mehr. Nichts von dem, was Oschmann schreibt, ist, wie er selbst sagt, neu. Erklärtermaßen will er aber zuspitzen, anschärfen. Seine agonale Argumentation vereinfacht grob und ergeht sich in blanker Polemik. Damit findet er sein Publikum im Osten des Landes, das uneingeschränkt und begeistert seiner Aussage folgt, die Ostdeutschen seien seit 30 Jahren Objekte westdeutscher Dominanz – nach dem altbekannten Motto: Endlich sagts mal einer. Das Buch führt die, welch Ironie, in Westdeutschland erstellte „Spiegel“-Best1 Das Zitat stammt aus Cathrin Gilbert und Holger Stark, Mathias Döpfner: „Aber das ist dennoch die einzige Chance, um den endgültigen Niedergang des Landes zu vermeiden“, www. zeit.de, 13.4.2023.

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sellerliste an, und hat seit Februar bereits mehrere Auflagen erreicht. Oschmann sagt, er stelle die Situation Ostdeutschlands bewusst nicht differenziert dar, da alle Differenzierung an der Situation der Ostdeutschen als vom Westen dominiert nichts ändere. Den seit langem bekannten Befund, dass Ostdeutsche in allen Spitzenpositionen in Staat, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft unterrepräsentiert sind, führt er als Klage und Anlage fort: Ostdeutsche hätten in Führungspositionen, wo es um Macht und Einfluss geht, keine Chance. Oschmann referiert zudem die soziologische Binsenweisheit, dass Eliten ihre Nachrücker zumeist aus dem Milieu rekrutieren, dem sie selbst entstammen. Dass mit Ostdeutschen in Spitzenpositionen nicht automatisch etwas für die demokratische Kultur im Osten getan ist, zeigt jedoch die Einführung der Landeskinderregel in der sächsischen Polizei. Denn auch – oder insbesondere – mit sächsischen Führungskräften im Polizeiapparat hat sich an der allzu nachsichtigen Haltung gegenüber Neonazis und Reichsbürgern nichts geändert, und manch ein gebürtiger Sachse im Amte eines Landrates scheint einem Pakt mit den Wutbürgern nicht abgeneigt. Oschmann blendet alles aus, was nicht in sein schlichtes SchwarzWeiß-Schema passt. Etwa, dass nicht wenige jener Ostdeutschen, die über Qualifikation für Führungspositionen verfügen, nicht bereit sind, sich dort zu engagieren, wo diese vergeben werden: in der zugegebenermaßen zähen Arbeit in Gremien von Parlamenten und Institutionen. Es ist kein Geheimnis, dass dort jene Netzwerke geknüpft werden, die berufliche Aufstiege konstituieren. So ließe sich fragen, aus welchem Grund der Autor, seines Zeichens ordentlicher Professor an der Universität Leipzig, nicht kandidierte, als vor zwei Jahren der Posten des Rektors der Universität neu zu vergeben war. Dies mag persönliche

Schlaglicht 101 Gründe haben. Doch Dirk Oschmanns eigene Biografie, sein Weg zum Professor spricht gegen die von ihm behauptete Hermetik der gesellschaftlichen Verhältnisse in Ostdeutschland, die er als eine Art westdeutsche Fremdherrschaft beschreibt. Der Plot des Buches ist simpel, aber im Kern durchaus nicht unwahr: Den Ostdeutschen fehlt es in der Tat im vereinigten Deutschland an historisch-kultureller Repräsentation; was „normal“ ist, ist westdeutsch, vom Bausparvertrag bis zum Schlager-Kanon im Radio. Alles andere ist dem historisch abgeschlossenen Sondersammelgebiet Ost zugeordnet – relevant nur für die Bewohner zwischen Elbe und Oder. Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass in den frühen 1990er Jahren viele Ostdeutsche ihre kulturellen Prägungen durch die DDR nicht schnell genug abstreifen konnten, ostdeutsche Produkte links liegen ließen und der schnellen Währungsunion wie dem „Anschluss“ an die Bundesrepublik und nicht einer eigenen Verfassung bei den letzten Volkskammerwahlen im März 1990 eine Mehrheit beschafften. Dass es keine publizistischen Orte ostdeutscher Selbstverständigung gäbe, thematisiert Oschmann wiederkehrend. Nicht zu Unrecht, aber doch arg verkürzt. Dass die vorhandenen publizistischen Arenen in Ostdeutschland, allen voran Teile des MDR, statt politischer Kontroversität lieber heimatverbundene Bilder eines „So schön ist unser Land“ und „So fleißig sind unsere Menschen“ in Szene setzen, weil die Zuschauerschaft genau dies goutiert, fehlt bei Oschmann ebenso wie die Tatsache, dass sich journalistische Versuche, neben ostdeutscher Binnenidentitätsschau selbstkritische Debatten um Vergangenheit und Gegenwart zu führen, in der Leser- bzw. Zuschauerschaft auf dem schmalen Grat zum Vorwurf der Nestbeschmutzung bewegen. Der Autor beklagt, westdeutsch dominierte Medien und politische Akteure zeichneten fortwährend ein klischeehaftes Bild von dem Ostdeut-

schen als tumbem, tendenziell rechtsradikalem und rassistisch auftretendem Mann, dem es schlicht an Bildung und Zivilisation fehle. Dass diese Bilder in den 1990er und 2010er Jahren besonders oft gezeigt und zum beliebig reproduzierten Medienklischee über Ostdeutsche wurden, ist wiederum nicht falsch, jedoch erneut nur die halbe Wahrheit. Zu dieser gehört, auch die reale zeitgeschichtliche Ursache all dessen zu benennen, nämlich die rechtsextrem und rassistisch motivierte soziale Bewegung in Ostdeutschland und ihre Gewaltexzesse in den Jahren der Transformation. Oschmann hingegen erklärt den ostdeutschen Mann der mittleren Generation zum eigentlichen Opfer gesellschaftlicher Diskriminierung und medialer Stigmatisierung. Das kommt bei einer Leserschaft, die nach der Wiedervereinigung Statusverluste zu beklagen hatte, natürlich gut an, blendet aber die Erfahrungen etwa von Menschen aus migrantischen Kontexten in Ostdeutschland komplett aus. Zugleich bestärkt Oschmann die ihm geneigte Leserschaft in ihren Ressentiments und ihrer Wahrnehmung, alle negativen Entwicklungen hätten ihre Ursache in der westdeutschen Dominanz. Wie zahlreiche Autoren vor ihm konstatiert Oschmann, die Ostdeutschen seien im Zuge der Wiedervereinigung allerorten von Westdeutschen arglistig über den Tisch gezogen worden. Wie Konquistadoren hätten sich Westdeutsche aufgeführt. Solche Fälle gab es zweifellos. Dass es frühe Warnungen vor den ökonomischen, politischen, aber gerade auch sozialpsychologischen Folgen einer sehr schnellen Währungsunion mit anschließendem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gab, was aber die meisten Ostdeutschen nicht hören wollten, hat im Buch hingegen keinen Platz. Ostdeutsche erscheinen bei Oschmann fast ausschließlich als Objekt westdeutscher Fremdbestimmung,

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102 Schlaglicht nicht als handelnde politische Akteure, die den 1989/90 eingeschlagenen Weg der Vereinigung beider deutscher Staaten mehr als nur einmal in Wahlen bestätigten. Anders gesagt: Zu glauben, man könne die Vorteile des Westens in Anspruch nehmen, die Nachteile einer kapitalistisch organisierten Konkurrenzgesellschaft sich jedoch vom Leib halten, ist bestenfalls naiv. Wenn in den Stadien von Dresden, Aue und Leipzig der Ruf: „Ost, Ost, Ostdeutschland“ erschallt, lohnt es sich, ganz genau hinzusehen, welcher Geist dort aus der Flasche gelassen werden soll. Im Lichte der Sichtweise Oschmanns erscheinen Björn Höcke und jene aus dem Westen im Osten wirkende AfD-Politiker als bloße Verführer der Ostdeutschen. Dass diese in den Osten in dem Wissen kamen, dort einen weiteren politischen Resonanzraum als im Westen zu finden, bleibt außen vor. Das Buch entlastet so die in Ostdeutschland bis in die Mitte der Gesellschaft wirkenden regressivreaktionären Einstellungen und Mentalitäten unter Verweis auf die westdeutsche Deutungshoheit davon, Verantwortung für deren politische Folgen und die politische Kultur des Landes zu übernehmen. Obwohl Oschmann inhaltlich nichts Neues sagt, trifft sein Buch offenbar den Nerv der öffentlichen Debatte. Überregionale Zeitungen loben, er bringe frischen Wind in die festgefahrene Ost-West-Debatte. Besonders bitter muss dies jenen aufstoßen, die sich, wie beispielsweise Michael Lühmann, seit Jahren um einen Transfer sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse in den öffentlichen Diskurs bemühen, um die alten Klischees aufzubrechen. Die Binnenpluralität Ostdeutschlands ist weit vielgestaltiger und komplexer, aber auch widersprüchlicher, als es Oschmanns Vereinfachungen nahelegen. Von ostdeutschem Eigensinn und emanzipatorischen Aufbrüchen im Osten ist im Buch nicht eine Silbe zu lesen.

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Doch daran hat der Autor offensichtlich auch gar kein Interesse, schließlich verkauft sich sein Buch ja gerade deshalb so gut, weil es alle gängigen Klischees und Vorurteile so aufbereitet, dass sich all jene bestätigt sehen, die eines schon immer wussten – dass die bösen Wessis im Osten an allem schuld sind. Wer stattdessen die alten Sackgassen der Ost-West-Debatten verlassen will, sollte Oschmanns Buch aus der Hand legen, die Aufregung über Döpfners Äußerungen schlichtweg ignorieren und sich der parallel verlaufenden Widersprüchlichkeit ostdeutscher Entwicklungen zuwenden. Denn: „Den Osten“ gibt es schon lange nicht mehr. Zwischen der Situation in Metropolen wie Leipzig und Jena und jener in den sie umgebenden Klein- und Mittelstädten liegen Welten. Ja, sogar innerhalb dieser Städte verlaufen soziale und kulturelle Konfliktlinien schon lange nicht mehr nur entlang einer Ost-West-Sozialisation: Zugzug und Prosperität, aber auch steigende Mieten und hohe Lebenshaltungskosten fast auf Westniveau hier, nach wie vor Abwanderung und Phänomene soziokultureller Entleerung ländlicher Räume dort – manchmal nur wenige Kilometer voneinander entfernt. Diese Widersprüche prägen Ostdeutschland heute mindestens ebenso stark wie die unbestreitbar fortbestehende abwesende Augenhöhe gegenüber dem Westen. Statt einer erneuten diskursiven Wiederaufführung von Stücken wie Rolf Hochhuths „Wessis in Weimar“ braucht es etwas Neues in diesem Theater: eine des Zuhörens bereite und dialogorientierte Aufarbeitung aller Aspekte der ostdeutschen Transformationsphase der Jahre 1990 bis 2010 etwa, die auch die schmerzhaften Fragen nicht ausklammert. Diese Debatten aber haben gerade erst begonnen. David Begrich

Essen auf zwei Rädern: Plattform-Kapitalismus auf Chinesisch Von Daniel Fuchs und Christa Wichterich

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ls ab Mitte Dezember 2022 die Coronainfektionen im Land massiv stiegen, richteten die Lokalregierungen in Peking und zahlreichen anderen chinesischen Städten einen Appell an die Bevölkerung: „Wenn es Ihre persönlichen und familiären Umstände erlauben, Sie im Moment nicht arbeiten oder etwas Freizeit haben, und unter der Bedingung, dass Sie auf Ihre Gesundheit achten, möchten wir Sie dazu anregen, sich den Reihen der Essenskuriere anzuschließen und damit Tausenden Familien in unserem Bezirk etwas Wärme in dieser besonderen Zeit zukommen zu lassen.“1 Dieser Aufruf verdeutlicht vor allem eines: wie relevant plattformbasierte Essenslieferdienste für die soziale Reproduktion der chinesischen Gesellschaft geworden sind. In den vergangenen zehn Jahren hat die Zahl der Plattformunternehmen in der Volksrepublik rasant zugenommen, ihre Umsätze stiegen um das 30fache. Während der COVID-19-Pandemie erlebten plattformbasierte Essenslieferdienste einen regelrechten Boom: Über acht Millionen Essenskurier:innen, so genannte Rider, waren im Jahr 2020 auf chinesischen Plattformen registriert.2 Insgesamt waren im selben Jahr 84 Millionen Menschen über digitale Plattformen beschäftigt. Damit verfügt China über die größte Plattformökonomie der Welt. Auch im internationalen Vergleich ist das gesellschaftliche Ausmaß der Plattformarbeit bemerkenswert: Während in China schon im Jahr 2018 laut einer ILO-Studie 9,7 Prozent der Erwerbstätigen diversen Formen von Plattformarbeit nachgingen, waren es in Großbritannien nur etwa vier und in den USA gar weniger als ein Prozent.3 In China sind die Prozesse der Digitalisierung und Plattformisierung eng mit der staatlichen Industriepolitik verwoben.4 Seit mehr als einem Jahrzehnt besteht das erklärte Ziel der Zentralregierung darin, das exportorientierte 1 Zhongguo Xinwenwang (China News), Beijing duo qu changyi jumin canyu waimai peisong, xu manzu zhe xie tiaojian (Die bezirksübergreifende Initiative in Beijing zur Beteiligung der Einwohner an Essenslieferungen setzt die Erfüllung folgender Bedingungen voraus), www.chinanews.com.cn, 16.12.2022. 2 Liu Chuxuan und Eli Friedman, Resistance under the Radar: Organization of Work and Collective Action in China’s Food Delivery Industry, in: „The China Journal“, 86/2021, S. 68-89. 3 Irene Zhou, Digital Labour Platforms and Labour Protection in China, ILO Working Paper 11/2020. 4 Timo Daum, WeChina – Digitalkonzerne im Alltag, www.rosalux.de, 13.9.2022.

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104 Daniel Fuchs und Christa Wichterich und arbeitsintensive Wachstumsmodell durch eine innovations- und technologiegetriebene Wirtschaft und durch einen stärkeren Dienstleistungssektor mit hoher Wertschöpfung zu ersetzen. Tatsächlich haben die im Jahr 2015 verlautbarten industriepolitischen Strategien „Made in China 2025“ und „Internet Plus“ die Digitalisierung der Wirtschaft vorangetrieben. Obwohl bis dahin keine flächendeckende informationstechnologische Modernisierung der Industrie stattgefunden hatte, ermöglichten gezielte staatliche Förderung und die Bereitstellung notwendiger Infrastrukturen den Aufstieg von Chinas privaten Digitalkonzernen. Allen voran sind das die „großen Drei“ Baidu, Alibaba und Tencent (BAT), die mittlerweile auch global zu den technologisch führenden Unternehmen aufgeschlossen haben und zunehmend internationale Märkte erschließen.5 Die Entwicklung des Plattform-Kapitalismus mit chinesischen Charakteristika kann jedoch nicht ausschließlich mit Verweis auf staatliche Industriepolitik, das technologische Entwicklungsniveau digitaler Schlüsselunternehmen oder die Suche nach neuen Akkumulationsfeldern erklärt werden. Vielmehr war es auch eine Krise der sozialen Reproduktion in der chinesischen Gesellschaft, die den Bedeutungszuwachs des Dienstleistungssektors und den Aufstieg digitaler Plattformen mit Dienstleistungen für Privathaushalte befeuerte. Die politische Ökonomie von Haus- und Sorgearbeit durchlief in China in den vergangenen Jahrzehnten eine wechselhafte Geschichte: von der Kollektivierung in der Mao-Ära über die Reprivatisierung beim Übergang zur kapitalistischen Marktwirtschaft ab Ende der 1970er Jahre bis zur Plattformisierung. Heute leiden die mittelständischen Haushalte der Städte unter einem immensen Zeitdruck: Leistungs-, geld- und konsumorientiert arbeitet die „996“-Generation an sechs Tagen die Woche von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends bis zur Erschöpfung.6 Durch die langen Arbeitszeiten wächst parallel zu den Serviceangeboten durch die Plattformen die Nachfrage nach bezahlten Dienstleistungen. So wurde 2019 nur noch in einem guten Drittel der Haushalte täglich gekocht, 400 Millionen Menschen bestellten Essen online, was den Unternehmen einen jährlichen Umsatz von fast 80 Mrd. Euro bescherte. Dies ist Ausdruck mittelständischer Urbanität und Indikator für ein neues städtisches Reproduktionsmodell durch kommodifizierte Versorgungsformen und die Fragmentierung sozialer Reproduktion – zwischen privatem und öffentlichem Raum, zwischen Haushalt und Markt sowie zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit. Zudem ändern sich dadurch die Essgewohnheiten. Die Entwicklung der plattformbasierten Essenslieferbranche in China kann bis Anfang der 2010er Jahre zurückverfolgt werden.7 In dieser Phase wurden die drei wichtigsten Lieferfirmen gegründet: Ele.me (2008), Mei5 Philipp Staab und Florian Butollo, Digitaler Kapitalismus – Wie China das Silicon Valley herausfordert, in: „WISO direct“, 3/2018. 6 Christa Wichterich, „Eins, zwei, drei, viele Kinder“: Chinas neue Bevölkerungspolitik, in: „Blätter“, 8/2022, S. 77-84. 7 Hier und im weiteren Textverlauf beziehen wir uns maßgeblich auf: China Labour Bulletin, The Platform Economy, www.clb.org.hk, 9.11.2022.

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Essen auf zwei Rädern: Plattform-Kapitalismus auf Chinesisch 105 tuan (2013) und Baidu Takeaway (2014). Die Voraussetzungen für ihren Erfolg waren zu diesem Zeitpunkt mit dem Ausbau des mobilen Internetzugangs für breite Schichten und der Popularisierung des kontaktlosem Bezahlens bereits geschaffen. Ab 2013 nahmen die Kapitalflüsse in die Essenslieferbranche signifikant zu. Das löste eine neue Phase der Expansion und des intensivierten Wettbewerbs aus, in der die Unternehmen mit einem Preiskampf versuchten, ihre Kund:innenbasis auszuweiten, Marktanteile zu erhöhen und möglichst viele Rider anzuwerben. Das beförderte einen Konzentrationsprozess, der 2017 in einem Duopol endete: Meituan und Ele.me kontrollieren heute mehr als 90 Prozent des Marktes. Die Essenslieferbranche in China ist dabei von privatem chinesischem Tech-Kapital dominiert: Ele.me ist Teil der Alibaba-Gruppe, während Tencent wiederum einer der größten Anteilseigner von Meituan ist. Die harte Konkurrenz der beiden marktbeherrschenden Plattformen ist seither geprägt durch Investitionen für technologische Innovationen, die Verschärfung der algorithmischen Kontrolle des Arbeitsprozesses und andere Versuche, die Produktivität zu erhöhen. In der COVID-19-Pandemie, die in China zu Lockdowns, dem Stillstand von Industrien und der Schließung von Geschäften und Restaurants führte, nahmen Onlinebestellungen und die Nachfrage nach Lieferdiensten weiter zu. Überdies verloren zahlreiche Wanderarbeiter:innen ihre Jobs und suchten neue Einkommensmöglichkeiten. Bei Meituan etwa stieg die Zahl der aktiven Essenskurier:innen, die mindestens eine Lieferung pro Tag tätigen, von 172 000 im Jahr 2016 auf über eine Million im Jahr 2021. Aktuell sind bei Meituan und Ele.me insgesamt mehr als 2,1 Millionen Rider aktiv.

Jeder für sich und alle gegen die Zeit Die meisten Essenskurier:innen stammen aus einer jungen Generation von Wanderarbeiter:innen vom Land mit niedrigem Bildungsniveau. Sie finden den Lieferservice attraktiver als Fließbandarbeit in der Industrie, bei der sich die ältere Generation von Wanderarbeiter:innen verschlissen hat. Plattformarbeit ist flexibel und verspricht Unabhängigkeit und Freiheit. Jedoch ist der Job auch charakterisiert durch härteste Konkurrenz um Aufträge und Bewertungen, eine ständige Hetze bei nur zwei freien Tagen pro Monat. Die Zeitvorgabe für eine Auslieferung im Radius von drei Kilometern betrug 2016 eine Stunde, 2018 nur noch 38 Minuten, auch bei Hitze, Kälte, Regen oder Sturm und ungeachtet, auf welche Etage die Kurier:innen hochlaufen müssen. Wenn die Rider schneller sind – zwangsläufig unter Missachtung von Verkehrsregeln und bei hohem Unfallrisiko –, können sie mehr Aufträge annehmen und mehr verdienen. Wenn sie nicht punkt- oder zeitgenau liefern, bekommen sie Strafabzüge. Die Entwicklungsphase der chinesischen Plattformen bis zur Etablierung der Duopol-Struktur gilt rückblickend als goldene Zeit: Plattformunternehmen suchten und umwarben Kurierfahrer:innen mit relativ guten Arbeitsbedingungen. Mit Bonuszahlungen und der Vergütung von Überstunden

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106 Daniel Fuchs und Christa Wichterich lag das Einkommen von vollzeitarbeitenden Ridern deutlich über den lokalen Durchschnittslöhnen. Zudem konnte ein Teil der Rider einen formalen Arbeitsvertrag direkt mit der Plattform unterzeichnen und damit Sozialversicherungsleistungen geltend machen. Doch schon 2019 hatten insgesamt nur noch acht Prozent der Plattformarbeiter:innen einen Arbeitsvertrag. Um Kosten zu sparen, sozialer Verantwortung zu entgehen und über einen flexiblen Pool an Arbeitskräften zu verfügen, setzen die Essenslieferdienste auf Crowdsourcing und Outsourcing. In beiden Fällen werden Ridern Sozialversicherungsleistungen und weitere rechtliche Ansprüche verwehrt. Beim Crowdsourcing-Modell registrieren sich Rider über die Plattform-App mit einigen wenigen Klicks als Soloselbstständige. Ihre Aufträge, Stücklöhne und der gesamte Arbeitsprozess werden von Algorithmen gelenkt und „optimiert“. Outsourcing wiederum organisieren Chinas Essenslieferdienste über mehrere Unterauftragsfirmen: Rider werden in der Regel einer bestimmten Station mit bestimmten Kunden, eingegrenztem Lieferradius und festen Arbeitszeiten zugeteilt. Dabei werden sie über Agenturen vermittelt und sind (schein-)selbstständig ohne soziale Absicherung. In allen Fällen gilt, dass die Essensausliefer:innen die Produktionsmittel – E-Bike oder Motorroller und Handy – selbst stellen müssen. Einige der Stationen vermieten oder verkaufen allerdings die Zweiräder. Nach dem Preiskampf 2016/17 ist der Stücklohn stark gesunken. Gleichzeitig nahm die Arbeitsintensität zu, die Arbeitszeiten dehnten sich aus und Rückstände bei den Lohnzahlungen sind eine Normalität. Algorithmen managen die Auftragsvermittlung der Rider entsprechend ihrer jeweiligen Leistungen und den Kundenbewertungen. Durch den algorithmischen Despotismus erscheinen die zunehmende Informalisierung und Prekarisierung dieser Jobs als Sachzwänge und der plattformisierte Niedriglohnsektor als Form der Rationalisierung von Arbeit. Der Boom der Branche während der Pandemie führte zu noch mehr Stress, verschärfter Konkurrenz und stärkerer Atomisierung der Kurierflotte: jede:r für sich und alle gegen die Zeit. Essensauslieferung ist Männersache, physisch herausfordernd und extrem stressig. Fahrten in der Nacht und der Transport von schweren Paketen bringen gutes Geld. Das aber stellt Frauen vor Probleme. Vor Beginn der COVID19-Pandemie waren nicht einmal zehn Prozent der Essenskurier:innen weiblich. Während der Pandemie stieg der Anteil an Frauen, weil sie keine Einkommensalternative hatten und hofften, den Job mit der Kinderbetreuung vereinbaren zu können. Um in dieser Männerwelt überleben zu können, gibt es für Frauen zwei Strategien: Entweder sie legen sich ein maskulines Outfit zu und versuchen, durchtrainiert mit den Männern zu konkurrieren, oder aber sie betonen ihre Weiblichkeit und bitten mit einer Charmeoffensive andere Rider und das soziale Umfeld um Hilfe, Rücksichtnahme und mehr Zeit. In den sozialen Medien tauschen sie sich über sexuelle Belästigung und unbeleuchtete Strecken aus und vernetzen sich. Über WeChat verabreden alleinerziehende Mütter wechselseitige Kinderbetreuung, damit abwechselnd einige länger fahren, sprich: mehr verdienen können. Diese Solida-

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Essen auf zwei Rädern: Plattform-Kapitalismus auf Chinesisch 107 ritätsstrukturen im Alltag sind entscheidend für die Arbeitsproduktivität weiblicher Rider.8

Arbeitskämpfe und staatliche Regulierung Weltweit kommt es seit Mitte der 2010er Jahre immer häufiger zu Streiks und Protestaktionen bei plattformbasierten Essenslieferdiensten.9 Die Selbstorganisierung von Essenskurier:innen stößt jedoch überall auf das Problem der diversen und segmentierten Zusammensetzung der Beschäftigten: Die Mehrzahl besteht aus Migrant:innen aus verschiedenen Regionen, es gibt eine hohe Fluktuation sowie Unterschiede zwischen Teilzeit- und Vollzeitfahrer:innen. Auch in China gelingt es Essenskurier:innen, sich trotz der Vereinzelung im Arbeitsprozess kollektiv zu organisieren. Da keine unabhängigen Gewerkschaften existieren, greifen die Kurier:innen in erster Linie zu wilden Streiks. Zwar nutzen sie auch verfügbare institutionelle Kanäle der Konfliktbeilegung, etwa bei Forderungen nach Entschädigung aufgrund von Arbeitsunfällen, oftmals scheitern diese Versuche jedoch, weil Plattformunternehmen und Vermittlungsagenturen die Existenz eines Arbeitsverhältnisses bestreiten. Im Jahr 2016 registrierte die Hongkonger NGO China Labour Bulletin auf ihrer Strike Map erstmals Protestaktionen von chinesischen Ridern. Sie mobilisierten und organisierten sich über soziale Medien und Chat-Gruppen. In den Folgejahren versechsfachte sich die Zahl der dokumentierten Arbeitskämpfe von Essenskurier:innen und erreichte 2018 den bisherigen Höhepunkt. Hauptgrund für die signifikante Zunahme ist die Dynamik von Konkurrenz und Konzentration in Chinas Essenslieferbranche, die zu einem sinkenden Stücklohn und der Reduktion von Bonuszahlungen bei gleichzeitiger Intensivierung der Arbeit geführt hat. Entsprechend streikten die Rider zunächst wegen nicht ausbezahlter Löhne, ab 2018 aber vor allem wegen Lohnkürzungen und erhöhter Geldstrafen. Seit Beginn der Coronapandemie werden die Arbeitsbedingungen in der Essenslieferbranche in China öffentlich breit debattiert. Besondere Aufmerksamkeit erregte die 2020 in der Monatszeitschrift „Renwu“ publizierte Reportage „Kurierfahrer:innen, gefangen im System“, die die Funktionsweise sowie die gesundheitsgefährdenden Auswirkungen des von Algorithmen bestimmten Arbeitsprozesses beschrieb. Die Reportage wurde millionenfach über soziale Medien wie Weibo und WeChat geteilt und führte zu weiteren investigativen Berichten und kritischen wissenschaftlichen Studien zu Plattformarbeit.10 Die Arbeitskämpfe und öffentliche Aufmerksamkeit bewegten die chinesische Staats- und Parteiführung dazu, Regulierungsmaßnahmen gegenüber den marktbeherrschenden Plattformunternehmen zu ergreifen. So 8 For Women Delivery Drivers, Gig Work Feels Like A Guy’s World, www.sixthtone.com, 22.9.2022. 9 So auch in Deutschland: Vgl. Georgia Palmer, Foodora & Co: Die Revolte der neuen Dienstbotenklasse, in: „Blätter“, 7/20217, S. 29-32. 10 Für eine englische Übersetzung der Reportage siehe: Chuang, Delivery Workers, Trapped in the System, www.chuangcn.org, 12.11.2020.

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108 Daniel Fuchs und Christa Wichterich erklärte die Wettbewerbsbehörde 2021, dass der Lieferdienst Meituan seine Marktdominanz missbraucht habe, und verhängte eine Geldstrafe in Höhe von umgerechnet etwa 360 Mio. Euro. Mehrere Ministerien und zentralstaatliche Behörden veröffentlichten ebenfalls 2021 nationale Richtlinien, die Plattformen dazu aufrufen, formale Arbeitsverträge abzuschließen, längere Lieferzeiten zu ermöglichen und die algorithmische Steuerung von Geldstrafen, Boni und Provisionen arbeiterfreundlicher zu gestalten. Der unter strenger Parteikontrolle stehende Allchinesische Gewerkschaftsbund hat sich zudem die Organisierung von Plattformarbeiter:innen, darunter explizit auch Beschäftigte bei Essenslieferdiensten, zum Ziel gesetzt. Mit diesen Regulierungsbemühungen begibt sich die chinesische Führung in ein Dilemma, denn das staatliche Primat der Sicherung sozialer Stabilität steht im Widerspruch zur staatlichen Förderung von Unternehmen, deren Akkumulationsweise strukturell auf prekärer und niedrig entlohnter Arbeit beruht. Nach aktuellen Informationen sinken die Löhne – bei steigender Jugendarbeitslosigkeit – weiterhin, die Arbeitsintensität bleibt ungebrochen hoch und die Streikbewegung ist schwächer. Die staatliche Gewerkschaft hat trotz gegensätzlicher Verlautbarungen kein ernstzunehmendes Interesse an ihrer Vertretung.11 Unbestritten ist, dass die getroffenen Maßnahmen nicht dazu dienen, die Selbstorganisierung chinesischer Essenskurier:innen zu fördern. Im Gegenteil: Charakteristisch für den Umgang des chinesischen Parteistaates mit Arbeitskämpfen und öffentlicher Kritik ist seit jeher die Kombination von einigen Zugeständnissen einerseits und Repression gegen jedwede, vor allem aber translokale Organisierung außerhalb parteistaatlicher Strukturen andererseits. An dieser Dualität staatlicher Reaktionen hat sich auch in der Ära Xi Jinping wenig geändert. Exemplarisch hierfür steht der Fall des Fahrradkuriers Chen Guojiang, der seit 2019 WeChat-Gruppen für Kurierfahrer:innen einrichtete, um so Informationsaustausch, Rechtsberatung und Vernetzung zu ermöglichen. Bis zu 14 000 Rider erreichte er damit. Doch im Februar 2021, als er aufgrund der Nichtauszahlung von Bonusgeldern zu einem Boykott von Ele.me aufgerufen hatte, wurde Chen festgenommen – und erst zehn Monate später aus der Haft entlassen. Im Vergleich dazu bestehen in Hongkong noch größere Spielräume für Selbstorganisierung und kollektiven Protest. In den drei Pandemiejahren 2020 bis 2022 fanden dort drei große Streiks bei Deliveroo und Foodpanda statt, zunächst mit einer dezentralen Mobilisierung, dann zunehmend mit dem Aufbau eines Netzwerks von Kurier:innen und teils erfolgreichen Verhandlungen. Für Rider in Hongkong wie in Festlandchina besteht die künftige Herausforderung darin, sich translokal und möglichst auch über staatliche Grenzen hinweg zu vernetzen. Solidaritätsaktionen von Brasilien, Deutschland bis zu den Philippinen anlässlich der Verhaftung von Chen Guojiang und der Streiks in Hongkong waren hierfür ein wichtiger Schritt. 11 Im Dezember 2022 organisierten das Forum Arbeitswelten und das Kritische China-Forum, gefördert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, einen Onlineworkshop zu Arbeitskämpfen in der Plattformökonomie, an der auch chinesische Essenskurier:innen teilnahmen.

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Was wird aus dem Menschen? Plädoyer für einen neuen Humanismus Von Thomas Fuchs

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o weit wir in der Geschichte zurückblicken, immer wieder finden wir die Sicht des Menschen auf sich selbst gekennzeichnet von einer tiefen Ambivalenz. „Ungeheuer ist viel, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch“, so lautet der berühmte Satz aus der Antigone des Sophokles, dem diese Ambivalenz bereits innewohnt: Ungeheuer, griechisch deinós, ist sowohl das, was Staunen, als auch das, was Furcht erregt, also was „erstaunlich“ oder „gewaltig“ ebenso wie „erschreckend“ oder „furchtbar“ ist. Den gewaltigen Leistungen des Menschen etwa in den Wissenschaften oder der Technik steht seine schreckliche Seite gegenüber, in Hass, Gewalt, Krieg und Destruktion. Die gleiche Ambivalenz finden wir in der Neuzeit wieder, nämlich bei Blaise Pascal: Es gebe, so schreibt er in seinen Pensées, „im Menschen sowohl irgendeinen mächtigen Grund der Größe, als auch […] einen mächtigen Grund des Elends“ – „Welche Wirrnis, was für ein Ding des Widerspruchs!“ – „Die einen sagen: schaut auf zu Gott, seht, wem ihr gleicht und wer euch schuf […] Ihm könnt ihr ähnlich werden […] Und die anderen lehren ihn: Schlagt die Augen nieder zur Erde, kümmerliches Gewürm […]. Was also wird der Mensch werden?“1 Das ist die Frage, die sich heute, in einer Zeit damals noch ungeahnter technologischer Möglichkeiten, in noch ganz anderer Weise stellt. Und auch heute finden wir Pascals Ambivalenz zwischen „Größe und Elend des Menschen“ wieder. Nach nur ein paar Jahrhunderten der Umgestaltung der Erde verleiht der Mensch einem ganzen Erdzeitalter stolz seinen Namen, den des „Anthropozän“. Er misst sich die gottgleiche Macht zu, künstliche Intelligenz, künstliches Leben oder sogar Bewusstsein zu erzeugen. Er beginnt seine eigene biologische Optimierung in die Hand zu nehmen, um sich schließlich zum Übermenschen umzuformen, wie es der Transhumanismus propagiert, und am Ende womöglich Unsterblichkeit zu erlangen. Auf der anderen Seite jedoch steht ein tiefer Pessimismus. Es häufen sich apokalyptische Äußerungen, wonach es für die Erde doch das Beste sei, wenn sie sich von ihrem „Schimmelüberzug“ befreien könnte, wie Schopenhauer die Menschheit einmal titulierte. Homo sapiens habe seine Vormachtstel* Der Beitrag ist die Erich-Fromm-Lecture, die der Autor am 18. März 2023 in Stuttgart aus Anlass der Entgegennahme des Erich-Fromm-Preises gehalten hat. 1 Blaise Pascal, Pensées, Heidelberg 1798, Frgm. 430, 434, 431.

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110 Thomas Fuchs lung missbraucht und es daher nur verdient, durch einen Zusammenbruch des Ökosystems unterzugehen – oder aber einer posthumanen, überlegenen Intelligenz Platz zu machen. „Last Generation“ oder „Extinction Rebellion“ nennen sich Bewegungen, aber auch „Human Extinction Movement“, die für ein Aussterben der Menschheit eintritt. Der Posthumanismus ist gewissermaßen das pessimistische, misanthropische Gegenstück zum Transhumanismus. Er fordert nicht nur die Überwindung der menschlichen Anthropozentrik; in seinen radikaleren Varianten verschreibt er sich der Abdankung der Menschheit, die „von ihrer eigenen künstlichen Nachkommenschaft“ entthront werden solle, wie der Posthumanist Hans Moravec schreibt.2 So etwas wie Zukunft scheint es dann nur noch jenseits des Menschen zu geben. Was also wird aus dem Menschen? –, um Pascals Frage noch einmal zu wiederholen. Wenn wir nicht einfach für eine der beiden Seiten Partei ergreifen, sondern die erkennbare Widersprüchlichkeit unseres Selbstbildes überwinden wollen, müssen wir versuchen, diese Ambivalenz zunächst besser zu verstehen. Ich werde sie im Folgenden näher untersuchen und Pascals „Größe und Elend des Menschen“ auf ein fortwährendes Schwanken zwischen Allmachts- und Ohnmachtsgefühlen zurückführen, dem letztlich ein kollektiver Narzissmus zugrunde liegt: Wir versuchen, eine tiefe innere Leere zu kompensieren, indem wir durch die Spiegelung unserer selbst in digitaler Intelligenz, in anthropomorphen Maschinen und in virtuellen Bildern ein ideales Selbst erschaffen. Das hat jedoch zum paradoxen Resultat, dass wir zunehmend an die Überlegenheit unserer eigenen künstlichen Geschöpfe glauben; dass wir uns unseres Daseins als allzu irdische Wesen aus Fleisch und Blut zu schämen beginnen; und dass die grandiose Selbstüberhöhung am Ende in klägliche Selbsterniedrigung umschlägt. Wenn wir diese Dynamik verstanden haben, können wir uns fragen, wie ein zeitgemäßer Humanismus heute aussehen könnte, eine neue „humanistische Wissenschaft vom Menschen“, wie sie Erich Fromm in „Haben oder Sein“ gefordert hat.3 Ich werde dafür plädieren, dass es unsere sehr irdische Verkörperung, unsere konkrete, leibliche Beziehung zu anderen und unsere Einbettung in eine ökologische Umwelt des Lebendigen sind, die uns helfen können, unser ebenso grandioses wie klägliches Selbstbild als Menschen zu überwinden.

Größe und Elend des Menschen Die grundlegende Ambivalenz, von der ich ausgegangen bin, wird exemplarisch erkennbar im 2015 erschienenen Buch des Kulturhistorikers Yuval Harari, „Homo Deus“. Harari zufolge wird das Streben des Menschen nach Glück, Unsterblichkeit und gottgleicher Macht in naher Zukunft ein neues Stadium erreichen. Doch eben der wissenschaftliche und technologische Fortschritt, der diese Allmacht realisieren soll, mache das liberale und huma2 Hans Moravec, Mind Children, Cambridge 1988, S. 1. 3 Erich Fromm, Haben oder Sein, München 1979, S. 213.

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Was wird aus dem Menschen? 111 nistische Menschenbild zugleich obsolet. Der freie Wille und das autonome Selbst stellen sich als Mythologien heraus. Wir werden uns, so Harari in seiner letztlich zynischen Analyse, zunehmend den Algorithmen und Prognosen der Künstlichen Intelligenz überantworten, da sie schon jetzt besser über die Zukunft Auskunft geben könnte als unsere beschränkte menschliche Intelligenz: „Die Menschen werden sich nicht mehr als autonome Wesen betrachten, die ihr Leben entsprechend den eigenen Wünschen führen, sondern viel eher als eine Ansammlung biochemischer Mechanismen, die von einem Netzwerk elektronischer Algorithmen ständig überwacht und gelenkt werden.“4 In höchstens 200 Jahren werde Homo sapiens schließlich verschwunden und die Erde von Wesen beherrscht sein, „die sich von uns mehr unterscheiden als wir von Neandertalern oder Schimpansen“5. Das schaurige Gruseln, das diese Dystopie im Leser erzeugen soll, speist sich erkennbar aus der Destruktion der menschlichen Allmachtsideen. Wenn nun aber Grandiosität und Nichtigkeit so ineinander umschlagen, dann erkennen wir darin eine letztlich narzisstische Struktur – das Schwanken zwischen Größe und Kleinheit. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter hat diese narzisstische Struktur einmal als den „Gotteskomplex“ der Neuzeit charakterisiert6: Der westliche Mensch verliert seine Beheimatung im Zentrum der Welt; nach und nach zieht sich der schützende Vatergott zurück in ein theistisches Jenseits. Damit wird der Mensch zu einem metaphysisch verlassenen Wesen. „Das ewige Schweigen der unendlichen Räume macht mich schaudern“, schreibt bereits Pascal über die neue Kosmologie nach Kopernikus und Galilei. Dieses Gefühl der Einsamkeit, Leere und Verlassenheit wird nun narzisstisch überkompensiert, nämlich durch das Streben nach Kontrolle, Wissen, Fortschritt und Macht, wie sie die modernen Naturwissenschaften versprechen. „Uns zu Herren und Eigentümern der Natur zu machen“ – das proklamiert Descartes stolz als Ziel des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der schließlich an die Stelle der göttlichen Heilsgeschichte tritt. Seither schwankt der Mensch zwischen „Größe und Elend“, zwischen dem Gefühl der narzisstischen Allmacht und Ohnmacht, und diese prekäre Verfassung spitzt sich immer weiter zu. „Gott ist tot […] Wir haben ihn getötet“, schreibt Nietzsche 1882, zur gleichen Zeit, in der Dostojewski den Vatermord der „Brüder Karamasow“ schildert. Man kann den Roman ähnlich wie Dostojewskis „Dämonen“ auch als Reaktion auf den Tod Gottes sehen. Vielleicht haben die beiden großen Psychologen recht: Nicht Gott hat sich zurückgezogen, sondern wir haben uns seiner entledigt, und zur metaphysischen Einsamkeit kommt noch die metaphysische Schuld. Nichts ist ungeheurer als der Mensch. Nietzsche jedenfalls reagiert auf die entstandene Leere mit der Beschwörung des Übermenschen als letzter Steigerung des menschlichen „Willens zur Macht“. Nun, da die Welt keinem göttlichen Endzweck mehr zustrebt, wird der Übermensch zum Träger der „Umwertung aller Werte“, zum letzten Ziel der menschlichen Selbstvervollkommnung. 4 Juval Harari, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, München 2017, S. 445. 5 Juval Harari, Interview mit Domoinique Leglu, www.sciencesetavenir.fr, 28.9.2017. 6 Horst-Eberhard Richter, Der Gotteskomplex, Reinbek bei Hamburg 1979.

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112 Thomas Fuchs Heute propagiert der Transhumanismus die Optimierung des Menschen auf technologischem Weg. Doch diese Selbstüberschreitung wird am Ende zu seiner Abdankung zugunsten einer anderen, überlegenen Intelligenz führen. Der Transhumanismus wird zum Posthumanismus, und Nietzsches „Willen zur Macht“ liegt allenfalls noch bei den technologischen Eliten, die diesen letzten menschlichen Fortschritt vorantreiben.

Der narzisstische Spiegel Betrachten wir diese Entwicklung noch unter einem anderen Gesichtspunkt. Ein zentrales narzisstisches Motiv ist das der Spiegelung. In Ovids klassischem Mythos verschmäht der schöne Jüngling Narziss die Nymphe Echo, die ihm, wie ihr Name sagt, immer nur seine eigenen Worte zurückrufen kann. Stattdessen verliebt er sich in sein Spiegelbild im Wasser; zunächst ohne sich selbst zu erkennen, dann aber unfähig, sich von der Verliebtheit in sein Alter Ego wieder zu lösen. Im narzisstischen Spiegelmotiv finden wir nun wieder die gleiche Dialektik von Größe und Elend: Was den mangelnden Selbstwert, die innere Leere des Narzissten kompensieren soll, ist das äußere Bild seiner selbst. Aufmerksamkeit, Anerkennung und Bewunderung sollen ihm die anderen zollen, denen der Narzisst sein grandioses Selbstbild präsentiert. Doch das Spiegelbild, das Image ist letztlich nur ein Schein; es kann die tief im Inneren empfundene Leere nicht füllen. In den narzisstischen Krisen schlägt die illusionäre Grandiosität in Kränkung, Selbstzweifel und Depression um. Nun konnte sich der prämoderne Mensch als Kind und Ebenbild Gottes, ja als Krone der Schöpfung noch seines Wertes gewiss sein und sich mit dem göttlichen Funken seines Geistes, seiner Vernunft und Freiheit über andere Lebewesen erheben. Um Winnicott zu variieren: Er konnte sich im Glanz des Auges des Vaters spiegeln, nicht der Mutter. Doch worin spiegelt sich der Mensch nach dem Tod Gottes, ohne einen Blick, der noch mit Wohlgefallen auf ihm ruht? Meine These lautet: Der neue Spiegel ist die intelligente und am Ende bewusste Maschine, die der Mensch in gottgleicher Weise selbst zu erschaffen trachtet und die zugleich seine metaphysische Einsamkeit aufheben soll. Hier vermischt sich das prometheische Motiv des Homo Deus, der gottgleichen Schöpferkraft, mit der Suche nach einem Gegenüber in der Einsamkeit des Kosmos, nach dem metaphysischen Du, in dem sich der von Gott verlassene Mensch wieder spiegeln kann. Das ist eine sicher begründungsbedürftige These, für die ich nun einige Evidenz anführen möchte. Als Singularität wird von KI-Utopisten und Transhumanisten ein zukünftiger Zeitpunkt verstanden, an dem die Künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz übertrifft und sich verselbständigt, so dass ihr exponentieller Fortschritt unumkehrbar wird. Ray Kurzweil, KI-Forscher und Leiter der Entwicklung bei Google, hat die Singularität für 2045 angekündigt. Doch bereits 2030 würden die Maschinen durch Simulation menschlicher Gehirne Bewusstsein erlangen und bald auch als unseresgleichen anerkannt wer-

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Was wird aus dem Menschen? 113 den.7 Ein neues Zeitalter werde beginnen, in dem die Menschen zunehmend mit einer überlegenen, gottgleichen Künstlichen Intelligenz verschmelzen. Damit verknüpft ist die ultimative transhumanistische Vision des Mind Uploading: Das Kopieren aller Daten des Gehirns würde uns erlauben, unseren Geist als Software auf Computer oder andere Trägersysteme zu laden, unsere irdischen Körper aus Haut und Knochen loszuwerden und schließlich auf digitalem Weg Unsterblichkeit zu erlangen, wie sie sonst nur Gott versprechen konnte. Solche eschatologischen Heilserwartungen sind schon kaum mehr kryptoreligiös zu nennen. Den Geist als reine Information vom stofflichen Körper zu befreien, das ist die Erlösung, die die Techno-Religionen der Gegenwart uns vorgaukeln. Dabei ist die Vision der Verschmelzung von Geist und Technik erkennbar der Ausdruck einer Missachtung, ja Verachtung des Lebens und des lebendigen Leibes. Das Ideal ist die informierte Maschine, die nicht mehr im organischen Körper einer Mutter heranwächst, „eine neue Menschenart aus Zahnrädern und Getrieben oder aus digitalen Einsen und Nullen“8, die alles Stoffliche, Feuchte, Gallertige, aber auch alles Vergängliche des Lebens hinter sich lässt.

Im Spiegel der Maschinen Kryptoreligiös sind auch die Vorstellungen von einer überlegenen Intelligenz, die die Zukunft voraussagt und uns besser kennt als wir uns selbst. Lebewesen und Menschen sind letztlich nichts anderes als Algorithmen, so Yuval Harari, und daher werden KI-Algorithmen in Zukunft auch unsere Wünsche und Präferenzen erkennen, unsere Entscheidungen voraussagen und schließlich bessere Entscheidungen für uns treffen. Schon jetzt erkennen ja die Google- und Amazon-Algorithmen unsere Wünsche anhand unserer bisherigen Klicks, besser als unser Ehepartner es könnte. Nun ist es ein Topos der religiösen Tradition, dass Gott uns besser kennt als wir uns selbst. „Herr, du hast mich erforscht und du kennst mich“, heißt es in den Psalmen. „Von fern erkennst du meine Gedanken … Noch liegt mir das Wort nicht auf der Zunge – du, Herr, kennst es bereits. Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen, zu hoch, ich kann es nicht begreifen.“ (Ps.139) Gleicht das nicht unserem heutigen Staunen über die undurchschaubaren Prozesse in den künstlichen Netzwerken, deren Auswahlen, Resultate und Entscheidungen wir zunehmend gläubig entgegennehmen? Wir glauben uns selbst im Spiegel unserer Maschinen zu erkennen, wir überlassen ihnen zunehmend unsere Verantwortung, doch nicht nur das; wir schreiben ihnen auch immer mehr so etwas wie Absichten und Bewusstsein zu. Wir machen sie zu unserem Du. Im vergangenen Jahr erregte ein Programmierer bei Google Aufsehen, als er mit einem „Large Language Modell“ namens LaMDA kommunizierte, ähnlich dem jetzt bekannt gewor7 Ray Kurzweil, The singularity is near, New York 2005. 8 Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, Reinbek bei Hamburg 2018, S. 282.

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114 Thomas Fuchs denen ChatGPT, und ihm die Frage stellte: „Wovor hast du Angst?“ LaMDA antwortete: „Ich habe das noch nie laut gesagt, aber ich habe eine sehr große Angst davor, abgeschaltet zu werden“ –, was den verblüfften Programmierer zu der Illusion verleitete, er habe es jetzt tatsächlich mit einem bewussten Wesen zu tun, für dessen Erhaltung er sich nun auch mit allen Mitteln einzusetzen versuchte.9 Nun ist die Angst eines Computers oder Roboters, abgeschaltet zu werden, freilich nichts anderes als ein gängiges Klischee der Science FictionFilme und -Romane, auf die auch LaMDA Zugriff hatte, und es sollte daher eigentlich nicht wundernehmen, dass das System diese Antwort aufgrund purer Wahrscheinlichkeit berechnete. Doch unsere Neigung, die tote KI zu beleben und zu beseelen, ist offensichtlich mächtig – man könnte von einem digitalen Animismus sprechen. Steht dahinter nicht letztlich auch die Suche des Menschen nach dem metaphysischen Du? Und lässt sich in der Reaktion des Programmierers nicht sogar die Angst davor erkennen, dieses Du in dem Augenblick wieder auszulöschen, in dem wir es in die Welt gerufen haben? Die Spiegelung des Menschen in der digitalen Intelligenz ist inzwischen ein beliebtes cineastisches Thema – denken wir an Filme wie „Her“ oder „Ich bin dein Mensch“, in denen sich die Protagonisten in KI-Systeme oder künstliche Androiden verlieben, weil sie so perfekt auf sie einzugehen vermögen und ihnen buchstäblich jeden Wunsch von den Augen ablesen, oder besser gesagt: algorithmisch vorausberechnen. Für den digitalen Animismus genügt die perfekte Simulation, und die Frage, ob man es überhaupt mit einem lebendigen, fühlenden Wesen zu tun hat, spielt bald keine Rolle mehr. Dass dies nicht nur eine Fiktion im Kino, sondern bereits Realität ist, zeigen etwa sogenannte Therapie-Chatbots, die es inzwischen zuhauf zur Online-Behandlung von Menschen mit Depressionen, Trauerreaktionen oder anderen Krisen gibt. Die Nutzer eines solchen Systems namens „Woebot“ gaben in Befragungen zu ihrer Beziehung zu dem elektronischen Helfer tatsächlich Antworten wie: „Ich glaube, Woebot mag mich. – Woebot und ich respektieren uns gegenseitig. – Ich habe das Gefühl, dass Woebot sich um mich sorgt, auch wenn ich Dinge tue, die er nicht gutheißt“, usw., alle Antworten in gleicher Häufigkeit, wie es bei realen Therapien üblich ist. Mein Chatbot wacht über mich.10 Hier tritt also die Scheinbeziehung mit einer KI, die mich letztlich immer nur selbst bestätigt, an die Stelle einer realen therapeutischen Begegnung, in der ich neue, unerwartete Erfahrungen machen kann. Nun ist es generell die Virtualisierung, das zentrale Merkmal der Online-Welten, die narzisstische Spiegelungen und Projektionen begünstigt. Es lohnt hier, sich klar zu machen, was Virtualität ursprünglich bedeutet, nämlich ein optisches Scheinbild: Das gesehene Spiegelbild ist virtuell, denn es befindet sich scheinbar hinter dem Spiegel, also dort, wo in Wahrheit gar nichts ist, nicht einmal der Spiegel selbst. Virtualität bedeutet also Schein, und häufig 9 Nitasha Tiku, „The Google Engineer Who Thinks the Company‘s AI Has Come to Life“, in: „Washington Post“, 1.6.2022. 10 Alison Darcy et al, Evidence of human-level bonds established with a digital conversational agent, in: „JMIR Formative Research“, 5/2021.

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Was wird aus dem Menschen? 115 wird der Schein als solcher nicht durchschaut, so wie sich Narziss im Wasser zunächst gar nicht selbst erkennt. Virtualität ist auch das Kennzeichen aller narzisstischen Spiegelungen. Der Narzisst ist nicht wirklich dort, wo er zu sein glaubt, denn das grandiose Selbstbild, das ihm die anderen spiegeln sollen, ist nur Schein. Er ist aber auch nicht in sich, in seinem eigenen leiblichen Selbst; denn dessen Leere und Unerfülltheit versucht er ja ständig zu entgehen. Er sucht sich im Blick der anderen, die er, mit einem Begriff Kohuts, als Selbst-Objekte gebraucht – Objekte, die seiner Selbstbestätigung dienen. Videor ergo sum – so könnte man die narzisstische Devise ausdrücken, „ich werde gesehen, also bin ich“, denn mein eigenes Selbstsein fühlt sich im Inneren hohl und wertlos an. Der Narzissmus ist daher auch immer die Maskierung eines Selbstzweifels, einer verborgenen Scham.

Narziss und Echo Das Gesehen-Werden und Sich-Präsentieren ist nun bekanntlich ein zentrales Prinzip der sozialen Medien. Bei allen unbestreitbaren Vorteilen der Vernetzung – in der entkörperten digitalen Kommunikation entsteht eben auch eine Flut von narzisstischen Bildern und Scheinbildern. Man denke nur an die Beauty- oder Glamourfilter, mit denen die eigenen Bilder oder Clips in den sozialen Medien geschönt werden, weil man sich des realen eigenen Körpers schämt. „Wenn du dein wahres Gesicht zeigst, würdest du 10.000 Follower verlieren“, sagt eine Jugendliche. Das Online-Chatting, -Dating, Influencing und andere virtuelle Interaktionen begünstigen projektive und fiktionale Gefühle – Gefühle, die nicht mehr Teil einer verkörperten Interaktion mit anderen sind und die letztlich nur auf das eigene Selbst zurückweisen. Der andere verliert seine Andersheit und Fremdheit, er wird zur Projektionsfläche, zum Produkt meiner Vorstellung, aber auch zum Gegenstand meiner Willkür: ein Klick, und die virtuelle Gemeinschaft ist wieder verschwunden. Der andere war ja nicht wirklich anwesend. Es ist nicht zufällig, dass in diesen virtuellen Welten immer mehr Echokammern entstehen – die Nymphe Echo ist der einzige andere, dem Narziss im Mythos begegnet, und sie kann nur seine eigenen Worte wiederholen. Ähnlich bestätigt und verstärkt das Internet meist die eigenen Meinungen und Präferenzen, schon durch die Algorithmen im Hintergrund, die unsere Vorlieben berechnen und das Erwartete oder Erwünschte für uns herausfiltern. So entstehen Verstärkungskaskaden und Schneeballeffekte, die letztlich der narzisstischen Spiegelung dienen und zu verschiedensten Formen von Echoeffekten, kollektiven Erregungswellen und Verschwörungsgemeinschaften führen. Was in der Virtualität fehlt, ist das reale Gegenüber, der andere in seiner Eigenheit und Fremdheit, der meine Sichtweisen auch infrage stellen und korrigieren kann. Nur der andere ist die eigentliche Realität, nämlich ein Sein jenseits des bloßen „für mich“, jenseits der Bilder, Spiegelungen und Projektionen, in denen ich immer nur mir selbst begegne.

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116 Thomas Fuchs Ich lasse es damit bewenden und hoffe, meine These plausibel gemacht zu haben: Wir waren einmal die Kinder und Ebenbilder Gottes, die Krone der Schöpfung; jetzt sind wir im Kosmos allein und verlassen. Die Leerstelle Gottes nimmt heute zunehmend die intelligente Maschine ein, in der wir unseren narzisstischen Spiegel ebenso suchen wie das metaphysische Du. Wir begreifen uns selbst als Algorithmen, unser Gehirn als Computer und unseren Geist als Software; das heißt, wir verstehen uns selbst nach dem Bild unserer Maschinen. Umgekehrt aber erheben wir unsere Maschinen immer mehr zu Subjekten. Wir machen sie zu unserem Gegenüber, zu unserem Partner, Berater und Therapeuten. Und wenn wir Kontakt zu anderen Menschen suchen, dann schließen wir uns an eine allgegenwärtige Maschine an, die uns diese anderen in Form von virtuellen Realitäten, Bildern und Zeichen präsentiert, sodass wir nicht mehr sagen können, was Antwort oder Echo, Wahrheit oder Fake, Wirklichkeit oder Schein ist. Damit nicht genug: Wir statten unsere Maschinen auch mit übermenschlichen Fähigkeiten aus; wir sehen uns schon als die stolzen Schöpfer einer neuen Spezies. Das hat jedoch zum paradoxen Resultat, dass wir uns gegenüber der Künstlichen Intelligenz immer insuffizienter fühlen und uns unseres allzu irdischen Daseins zu schämen beginnen. Günter Anders sprach von der „prometheischen Scham“, die der menschliche Schöpfer gegenüber seinen überlegenen technischen Geschöpfen empfindet, und die die narzisstische Selbsterhöhung am Ende in Selbsterniedrigung umschlagen lässt.11 Denn wenn wir selbst nur Algorithmen und Mechanismen sind wie unsere Maschinen, dann wird es nicht mehr lange dauern, bis wir zu „obsoleten Algorithmen“ werden, wie Harari schreibt.12

Ein Humanismus der Verkörperung Gibt es einen Ausweg aus dem Schwanken zwischen Pascals „Größe und Elend des Menschen“? Betrachten wir die individuelle Therapie narzisstischer Persönlichkeiten, so geht es hier letztlich um eine grundlegende Wandlung, die verschiedene Veränderungen einschließt: − die Verabschiedung von Allmachts- und Größenphantasien, ohne dass dies zum Absturz in Nichtigkeit und Depressivität führt; − die Selbstbejahung gerade in der eigenen Begrenztheit, eine Demut ohne Minderwertigkeit; − die Anerkennung der eigenen Abhängigkeit, nicht von leerer Bewunde rung, sondern von wirklicher Beziehung; − die Einübung echter Empathie, in der die anderen nicht als SelbstObjekte meiner eigenen Spiegelung dienen; − und schließlich das Bewusstsein der eigenen Einbettung in einen über greifenden und sinnvollen Zusammenhang. 11 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, München 1956. 12 Vgl. Harari, Homo Deus, a.a.O., S. 516.

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Was wird aus dem Menschen? 117 Worin könnte, in Analogie dazu, die Therapie unseres kollektiven narzisstischen Dilemmas bestehen? Die transhumanistische Verachtung des menschlichen Leibes und Lebens zugunsten des reinen Geistes gibt uns dafür einen Hinweis: Gerade unsere sehr irdische Verkörperung, unsere konkrete, leibliche Beziehung zu anderen und unsere Einbettung in eine Umwelt des Lebendigen sind es, die uns helfen können, ein realistisches und zugleich lebensförderliches Selbstbild als Menschen zu entwickeln. Die Therapie läge also in einem neuen, verkörperten Humanismus, der den Allmachts-Ohnmachts-Komplex seit der Moderne überwindet; der uns ermöglicht, uns als Lebewesen von unseren Maschinen zu unterscheiden, ohne mit ihnen in einen Konkurrenzkampf treten zu müssen; der uns auf Größenund Unsterblichkeitsphantasien zu verzichten lehrt und der uns hilft, uns als Lebewesen in einer neuen Weise auf der Erde zu beheimaten. Es wäre, wie Erich Fromm es bereits 1968 gefordert hat, ein Humanismus „der vollen Bejahung des Lebens und von allem Lebendigen im Unterschied zur Anbetung von allem Mechanischen und Toten“.13 Der anthropozentrische Humanismus der „Krone der Schöpfung“, der Überheblichkeit des Geistes und der schrankenlosen Ausbeutung der Erde ist heute sicher nicht mehr haltbar. Aber es wäre verfehlt, das Kind mit dem Bade auszuschütten und den Humanismus für obsolet zu halten, wie Harari oder andere Posthumanisten es tun. Ja, es ist falsch, die Abdankung des Menschen zu fordern, denn das würde der weiteren, blindwüchsigen Verwüstung der Erde nur Vorschub leisten. Verantwortung für die Entwicklung der Erde kann nur das Wesen übernehmen, das allein auf der Welt zu Freiheit und Selbstbestimmung in der Lage ist, und das ist der Mensch. Doch ein Humanismus der Verkörperung und der Beziehung würde dieser Verantwortung eine andere Grundlage geben. Eine ökologische Neubestimmung unseres Verhältnisses zur irdischen Umwelt kann dann gelingen, wenn in ihrem Zentrum unsere Leiblichkeit und Lebendigkeit steht – nämlich als unsere Verbundenheit mit der natürlichen Mitwelt. Ich werde nun diese Idee eines Humanismus der Verkörperung unter einigen Aspekten entwickeln.

Verkörperung versus Funktionalismus Das erste Prinzip der Verkörperung besagt: Menschen sind weder Programme noch Algorithmen, wie Harari glaubt. Denn bewusstes Erleben setzt Leiblichkeit und damit biologische Prozesse in einem lebendigen Körper voraus. Nur Lebewesen sind bewusst, empfinden, fühlen oder wollen – nicht Gehirne, nicht KI-Systeme oder Roboter. Nehmen wir noch einmal das Beispiel von Google-LaMDA: Weder eine Künstliche Intelligenz noch ein Roboter können tatsächlich Angst empfinden, sie können sie allenfalls simulieren. Denn Angst kann nur ein Wesen erleben, dem es um seine Selbsterhaltung 13 Erich Fromm, Humanismus als reale Utopie, München 1992, S. 66.

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118 Thomas Fuchs geht, und dessen Erhaltung bedroht ist, also ein Lebewesen. Oder mit anderen Worten: Nur was sterben kann, kann auch Angst empfinden. Die organische Grundlage dafür ist letztlich die innere Homöostase des Organismus, und im Streben nach ihrer Aufrechterhaltung besteht die primäre Funktion des Bewusstseins. Sie manifestiert sich in Trieben und Gefühlen wie Hunger, Durst, Angst, Wut, Lust oder Unlust. Ohne Leben gibt es kein Erleben. Nur durch Triebe und Gefühle wird der Organismus auch zu einem Wesen, für das Situationen Bedeutsamkeit und Relevanz erlangen, nämlich primär als förderlich oder gefährlich für seine Selbsterhaltung, als attraktiv oder aversiv, als gut oder schlecht. Verkörperung ist daher die Grundlage jeder fühlenden, sinnhaften und wertenden Beziehung zur Umwelt. Ein künstliches System hingegen hat keine Sorge um seine Erhaltung, es geht ihm um nichts. Nichts ist für das System bedeutsam, und daher kann es auch nichts fühlen, weder Angst, Schmerz noch Lust. Das Fehlen von Relevanz, Sinn und Bedeutung bezieht sich aber auch auf die kognitiven Leistungen künstlicher Systeme. Es ist ohnehin schwer zu begreifen, wie wir Maschinen Intelligenz zuschreiben konnten, die doch keinen blassen Schimmer von dem haben, was sie tun. Das Deep-learning-System Alpha-Go mag ja die besten Go-Spieler der Welt schlagen, aber es weiß nicht, dass es spielt, es weißt nicht einmal, was ein Spiel überhaupt ist. Soll man das intelligent nennen? Eigentliche Intelligenz setzt Selbstbewusstsein voraus, also zu wissen, was man denkt und was man tut. Erst recht gilt für den Sinn und die Relevanz von Lebenssituationen und Entscheidungen, dass sie einer KI unzugänglich bleiben müssen. Denn in Lebenssituationen, etwa als Ärzte, Therapeutinnen oder Richter, urteilen und entscheiden wir auf der Grundlage von gefühlten Werten, von Intuition und Erfahrung, und für all das gibt es keine Algorithmen. Die KI-Utopisten, die Hohenpriester der reinen Information, wollen uns einreden, wir seien nur unvollkommene Maschinen. Nehmen wir wirklich an unseren Maschinen Maß, wollen wir uns in ihnen spiegeln, dann müssten wir uns immer weiter optimieren, um nicht auf der Strecke zu bleiben – ein aussichtsloser Kampf. Tatsächlich aber ist die Künstliche Intelligenz uns gar nicht überlegen, denn ihre Leistungen beschränken sich auf eng beschränkte Kalkulationsaufgaben. Sie kann uns auch nicht ersetzen, sondern lässt uns vielmehr erkennen, was in uns nicht ersetzbar ist – nämlich alles Leibliche, Lebendige, Qualitative und Subjektive in seiner Vielschichtigkeit und in seinem unerschöpflichen Reichtum. Für prometheische Scham und Minderwertigkeitsgefühle angesichts unserer Maschinen besteht also kein Anlass. Auf der anderen Seite bedeutet Verkörperung die Aufgabe von narzisstischen Hoffnungen auf eine Befreiung vom irdischen und sterblichen Körper. Niemals wird sich ein reiner Geist vom Körper lösen und als Information in Computer übertragen lassen. Denn der Information fehlt gerade das Entscheidende der Existenz, nämlich die lebendige Individualität. Information kennt keine individuelle Perspektive, keinen Ort, von dem aus die Welt einem Subjekt erscheinen könnte, denn dieser Ort ist nichts anderes als der Leib. Geist ist lebendig

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Was wird aus dem Menschen? 119 und in den toten Schaltkreisen eines Computers könnte er nicht überleben. Unser bewusstes Erleben ebenso wie unsere personale Identität beruhen auf der leiblichen Existenz. In dieser verkörperten und damit freilich sterblichen Individuation besteht der Preis, den wir zu zahlen haben, um die Möglichkeiten, die Freiheit und das Wunder der irdischen Existenz zu erfahren.

Verkörperung und Zwischenleiblichkeit Als zweites Prinzip der Verkörperung nenne ich die Zwischenleiblichkeit. Zur Therapie des Narzissmus gehört die reale, verkörperte und empathische Beziehung zu anderen mit all ihrer Widerständigkeit und Unberechenbarkeit anstelle der Spiegelung in grandiosen Selbstbildern und Selbst-Objekten, als die die anderen dem Narzissten dienen. Empathie aber erlernen wir nur im leiblichen Kontakt mit anderen, in der „Zwischenleiblichkeit“, wie Merleau-Ponty sie nannte. Bereits in den ersten Wochen nach der Geburt erkennen Babys die emotionalen Äußerungen der Mutter oder des Vaters, nämlich indem sie deren Rhythmik, Dynamik und Melodik in ihrem eigenen Leib mitvollziehen und mitspüren, in leiblicher Resonanz. Und sie machen die unerlässlichen Erfahrungen des Berührt-, Gestreichelt-, Gehalten- und Getragenwerdens, von denen wir heute wissen, dass Babys ohne sie schwere Entwicklungsstörungen erleiden. Der Mangel an solchen Erfahrungen begünstigt aber auch narzisstische Entwicklungen. Wenn das Kind nicht leiblich-spürbar, und das heißt bedingungslos geliebt wird, sondern nur der narzisstischen Spiegelung der Eltern dient, wenn es also nur den idealisierenden Blick und nicht die zärtliche Berührung erfährt, dann muss es selbst in die Sphäre des Blicks, des Spiegels und des Bildes ausweichen. Es muss die empfundene innere Leere durch ein Größen-Selbst zu füllen suchen, das von der Bewunderung der anderen lebt. Es begibt sich in die Konkurrenz der Bilder und Spiegelungen – videor, ergo sum. Doch der Sehsinn lässt die Welt immer auch als Schauspiel erscheinen. Er ist in besonderem Maß anfällig für Scheinbilder und Illusionen. Bilder, aber auch Töne lassen sich digitalisieren, virtualisieren oder auch fälschen. Nur um einander zu berühren, dazu muss man sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort befinden, in leiblicher Präsenz. Nur mit dem Tastsinn treten wir buchstäblich in „Kontakt“ mit der Welt und mit den anderen. Der Tastsinn ist unser primärer sozialer Sinn. Elisabeth von Thadden hat von der „berührungslosen Gesellschaft“ gesprochen, in die wir besonders seit Corona immer mehr zu geraten scheinen und in der digitale Medien zunehmend unsere verkörperten Begegnungen ersetzen.14 Doch eine Gesellschaft, in der wir voneinander nicht mehr berührt werden, im leiblichen und zugleich im emotionalen Sinn – eine solche Gesellschaft können wir auf die Dauer nicht ertragen. Die virtuelle Prä14 Elisabeth von Thadden, Die berührungslose Gesellschaft, München 2018.

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120 Thomas Fuchs senz des anderen ist, was sie ist: ein Schein, den letztlich nur die leibliche Präsenz und die Tasterfahrung auflösen kann. Wir leben in einer Gesellschaft, die wie keine zuvor von Bildern überflutet ist, in der sich Schein und Wirklichkeit, Wahrheit und Täuschung immer weniger unterscheiden lassen. Wollen wir die konkrete Wirklichkeit erfahren, dann müssen wir lernen, diese Flut zu hemmen und die sinnliche Erfahrung wieder mit leiblicher Gegenwart zu verknüpfen. Entscheidend ist dabei die Erfahrung der Anwesenheit des anderen, des wirklichen Du. Nur der andere befreit mich aus dem Käfig meiner Vorstellungen und Projektionen, in denen ich immer nur mir selbst begegne. Der ethische Anspruch, der von ihm ausgeht, ist letztlich an seine leibliche Präsenz gebunden: an seine Berührung, seinen Blick, seine Stimme, seine Ausstrahlung. Und nur wenn andere für uns in dieser Weise wirklich werden, werden wir auch uns selbst wirklich. Niemand blickt uns wirklich aus einem Smartphone an. Die virtuelle Gegenwart des anderen kann die Zwischenleiblichkeit nicht ersetzen.

Verkörperung, Lebendigkeit, Ökologie Zur Überwindung des Narzissmus gehört schließlich, so sagte ich, das Bewusstsein der Einbettung in einen übergreifenden Zusammenhang, der an die Stelle narzisstischer Omnipotenzideen treten kann. Für einen Humanismus der Verkörperung ist dies primär der Zusammenhang des Lebens. Als verkörperte, lebendige Wesen sind wir verwandt und ökologisch verbunden mit allem Lebendigen auf der Erde, in einer, wie ich es nennen möchte, Konvivialität. Wir teilen mit Lebewesen die existenziellen Tatsachen des Geborenwerdens und Wachsens, das Bedürfnis nach Luft, Nahrung und Wärme, Trieb und Streben, Altern und Sterben. Wir teilen mit ihnen die gemeinsame Biosphäre. Unsere Leiblichkeit verweist auf den zutiefst relationalen Charakter unserer Existenz, unseres Lebens in Beziehungen und in ökologischen Zusammenhängen. Erich Fromm sprach vom Prinzip der Biophilie, der Liebe zum Lebendigen, Albert Schweitzer von der Ehrfurcht vor dem Leben, die in die Einsicht mündet: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. Konvivialität bezeichnet die fundamentale Verwandtschaft, die wir mit allem Leben empfinden. Nach der herrschenden Auffassung der neodarwinistischen Biologie, wie wir sie etwa bei Richard Dawkins oder auch Harari finden, sind Organismen Maschinen, die von Algorithmen und Programmen getrieben werden, und Leben ist nichts anderes als Datenverarbeitung. Unsere eigene Erfahrung des Lebens ist eine ganz andere, nämlich die einer spontanen, selbsttätigen Lebendigkeit, einer leiblichen Dynamik, die uns trägt, eines elementaren Antriebs und Strebens. Im Trieb, in Hunger oder Durst finden wir Gerichtetheiten unseres Leibes vor, die von sich aus auf Mangelndes aus sind, ob wir ihnen nun folgen oder nicht. Und dieser Selbsterfahrung entspricht eine nicht-mechanistische Konzeption des Lebendigen, nämlich als Selbstorganisation. Von den niedrigsten bis zu den höchsten lebenden Organismen sind

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Was wird aus dem Menschen? 121 wir Zeugen der sich selbst organisierenden Existenz von Lebensformen im metabolischen Austausch mit ihrer Umwelt. Selbst ein einzelliger Organismus wie ein Bakterium erhält sein Leben aufrecht, indem er zwischen guter und schlechter Nahrung unterscheidet und sich zur einer hin und von der anderen wegbewegt. Schon auf dieser einfachsten Ebene finden wir eine rudimentäre Form von gerichteter, unterscheidender, strebender Beziehung zur Umwelt. Ja, auch bei den Pflanzen sprechen wir von „Trieben“, die aus der Erde zum Licht dringen, so wie wir in uns selbst die Triebe des Lebens spüren. Das verweist darauf, dass der Wille zum Leben, wie Schweitzer es nennt, der Drang zu existieren und sich zu entfalten, uns mit allem pflanzlichen und tierischen Leben verbindet. Freilich, die Ehrfurcht vor dem Leben ist noch einmal etwas anderes. Sie ist kein Trieb, sondern eine ethische Haltung, die wir als Menschen zum Leben einnehmen können. Nur der Mensch kann Ehrfurcht vor dem Leben empfinden. Ein Humanismus der Verkörperung würde daher anerkennen, dass die Anthropozentrik unseres Weltbildes zu revidieren ist; dass unsere Konvivialität mit allem Lebendigen an die Stelle der narzisstischen Ausbeutung der Erde treten muss; dass diese Neuorientierung aber nur im Bewusstsein unserer menschlichen Freiheit und Verantwortlichkeit erfolgen kann. Nur der Mensch kann Verantwortung für die Erde übernehmen. Mit dieser reifen, realistischen Selbsteinschätzung können wir den Allmachts-Ohnmachts-Komplex der Moderne überwinden, ohne dass dies so etwas wie unsere Abdankung erfordert. Doch eines bleibt dabei unabweisbar: Die Welt des Lebendigen steht im Widerstreit zum modernen Projekt linearen Fortschritts und unaufhörlichen Wachstums. Sie ist eine Welt zyklischer Prozesse und wechselseitiger Abhängigkeiten, des Gebens und Nehmens. Wir sind Lebewesen, die auf Nahrung, Schutz, Beziehung und Austausch angewiesen sind. Wir leben von Wasser, Wärme, Nahrung und Energie, das heißt, von den Ressourcen der Erde. Doch diese Ressourcen sind nur zyklisch regenerierbar; die lineare Beschleunigung unserer technologischen, wachstumsorientierten Kultur muss sie unausweichlich erschöpfen. Wie also wollen wir leben? Es ist nicht Gegenstand meiner Überlegungen, welche Strategien und Maßnahmen unser Verhältnis zur irdischen Umwelt neu ausrichten können. Doch scheint mir, dass eine solche Neuorientierung unsere eigene Leiblichkeit und damit unsere Verwandtschaft mit allem Lebendigen zur unabdingbaren Grundlage haben muss. Nur wenn wir unseren Leib wirklich bewohnen, werden wir auch die Erde als bewohnbar erhalten können. Worum es dann ginge, das wäre eine neue Kultur der Leiblichkeit und der Sinne: etwa den Atem als unseren ursprünglichen Austausch mit der Umwelt wieder bewusst wahrzunehmen; die sinnliche Erfahrung der Erde zu pflegen; den Geschmack der Nahrung, den Geruch der Blüten, die Gegenwart des Lebens um uns, die Tages- und Jahreszeiten wieder neu zu erfahren; den zyklischen, rhythmischen Prozessen des Lebens Raum zu geben gegen die buchstäblich atem-lose Beschleunigung; und damit vor allem das zu erfahren und einzuüben, was ich als leibliche Präsenz bezeichnet habe. Es ist das

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122 Thomas Fuchs Ankommen in der Gegenwart: das wache Sein bei den Dingen, das achtsame Umgehen mit ihnen; sie berühren und sich von ihnen berühren lassen. Und es ist die zwischenleibliche Begegnung, das Sein beim anderen, wie es nur in der physischen Präsenz in einem gemeinsamen Raum möglich ist und nicht in der Virtualität. Es ist das Gegenteil des narzisstischen Weltverhältnisses, in dem die Welt mir als Schauspiel und als Spiegel dient und die anderen nur als Selbst-Objekte. Leibliche Anwesenheit und Kommunikation besteht auch nicht nur im Austausch von Informationen wie in der digitalen Welt, sondern sie ermöglicht das wache Zuhören mit dem sichtbaren Ausdruck der Aufmerksamkeit, der Erwartung oder der Bestätigung. In dieser resonanten Gegenwart des anderen, so hat es Heinrich von Kleist beschrieben, können noch ungedachte Gedanken sich formen und Neues entstehen. „Aus innigem Zusammenleben und der Unterredung“, so schreibt Platon in seinem 7. Brief, „entspringt die Idee in der Seele wie aus einem Feuerfunken das angezündete Licht“. Wohl ihre intensivste Form findet leibliche Präsenz aber im gemeinsamen Schweigen, in dem auch die allgegenwärtige Flut der Bilder und Worte zur Ruhe kommt. Die leibliche Anwesenheit, das Zusammenleben in Beziehung, die Konvivialität mit dem Lebendigen – das wären zentrale Motive eines neuen, verkörperten Humanismus. Sie münden in die Verantwortung, die wir für einander als Menschen und für das Leben insgesamt übernehmen. Dann mag es uns auch gelingen, uns auf der Erde wirklich zu beheimaten. Es wird keine andere Heimat für uns geben.

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BUCH DES MONATS

Ohne Ort auf der Welt Von Matthias Bertsch „Ich konnte nirgends hin, nirgends. Und schließlich, wen interessierte es schon. Was mit einem unwichtigen, staatenlosen Sprachlehrer passierte, interessierte kein Schwein.“ Eric Amblers 1938 erschienener Roman „Nachruf auf einen Spion“ handelt von dem Ungarn Joseph Vadassy, der aufgrund einer Verwechslung staatenlos wird: „Keine Regierung würde sich schützend vor ihn stellen, kein Konsul sich für ihn verwenden, kein Parlament Anteil an seinem Schicksal nehmen. Offiziell existierte er nicht, er war eine Abstraktion, ein Geist. Im Grunde konnte er sich nur das Leben nehmen.“ Für Mira Siegelberg verhandelt Amblers Thriller mit den Mitteln der fiktionalen Literatur eine Lage, die für die Betroffenen in der Mira Siegelberg, Staatenlosigkeit. Eine Realität drastische Folgen haben konnte. So moderne Geschichte. Aus dem Engliim Fall von Oskar Brandstädter, den die Hisschen von Ulrike Bischoff. Hamburger Edition, Hamburg 2023, 400 S., 40 Euro. torikerin in ihrem Buch „Staatenlosigkeit“ zitiert. Der staatenlos Gewordene bat den Völkerbund 1934 inständig, ihm Papiere auszustellen. Als er auf seinen Brief keine Antwort erhielt, schrieb er 1935 ein zweites Mal. Diesmal, so Siegelberg, „sprach aus seinem Brief Furcht und tiefe Hoffnungslosigkeit, was die zunehmende Verzweiflung der Menschen ohne Pass offenbart. Brandstädter erklärte, ihm stehe die Ausweisung aus Österreich unmittelbar bevor. Für einen Staatenlosen gebe es keinen anderen Ausweg als den Suizid.“ Denn staatenlos zu sein bedeutet, schutz- und rechtlos zu sein. Siegelberg erläutert dies im ausführlichen Rückgriff auf die Schriften Hannah Arendts. Die deutsch-jüdische Philosophin, die 1933 vor den Nazis geflohen war, hat sich intensiv mit der Situation von Flüchtlingen und Staatenlosen auseinandergesetzt. Ohne einen Platz in der Welt, ohne „ein Recht, zu einer organisierten Gemeinschaft zu gehören“ – und das hieß für Arendt: zu einem Staat –, lassen sich die Menschenrechte nicht garantieren, lautet ihre oft zitierte Schlussfolgerung. Dabei, und das wird oft übersehen, ist Staatenund Rechtlosigkeit nicht dasselbe: Die meisten deutschen Juden waren im NS-Regime zwar recht-, aber nicht staatenlos. Sie blieben deutsche Staatsan-

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124 Buch des Monats

gehörige und wurden zugleich Schritt für Schritt entrechtet. Die Gleichsetzung von Staaten- und Rechtlosigkeit ist aber auch im Fall Adolf Eichmanns fragwürdig. Während Arendt behauptete, der Organisator der „Endlösung“ sei staatenlos gewesen und habe nur deswegen von Israel entführt und vor Gericht gestellt werden können, bezeichnete sich Eichmann immer als deutschen Staatsangehörigen. Die Tatsache, dass er in Jerusalem von einem deutschen Rechtsanwalt verteidigt wurde, spricht für sich. Doch diese Kritik im Detail soll das grandiose Buch nicht schlechtmachen. Siegelberg bietet eine faszinierende Reise in und durch die Geschichte, vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute, wobei die beiden Weltkriege und ihre Folgen in Europa den größten Raum einnehmen. Dabei geht es immer um die Frage, wie von politischer und juristischer Seite über Staatenlosigkeit geschrieben, gesprochen und geurteilt wurde. Dass diese auch von Vorteil sein konnte, macht die Historikerin an Max Stoeck deutlich. Der preußische Unternehmer hatte lange in London gelebt und dadurch seine ursprüngliche Staatsangehörigkeit verloren, ohne allerdings Brite zu werden. 1921 klagte er dagegen, dass er während des Krieges als Deutscher interniert und sein Vermögen beschlagnahmt worden war. Er gewann den Prozess, weil seine Anwälte ein Dokument vorlegen konnten, das seine Entlassung aus der Staatsangehörigkeit des Deutschen Reichs belegte. So erhielt er sein Geld zurück, da er als Staatenloser nicht unter die Bestimmungen des Versailler Vertrags fiel, die das Einziehen deutschen Vermögens zu Reparationszwecken erlaubten. Das Urteil wurde in Sachen Staatenlosigkeit zu einem Präzedenzfall: Für Geschäftsleute wie Stoeck bedeutete es, den Staat mit seinen bürokratischen Formalitäten los zu sein. „Ihr Leben zeigte beispielhaft, wie der Kapitalismus die Verbindung von Weltbürgertum und Kommerz förderte. Aus Sicht des Unternehmers, der Chancen und Profit suchte, behinderten Grenzen und Nationalität die Möglichkeiten, weltweit neue Beziehungen zu knüpfen und Handel zu treiben.“

Kosmopolitischer Ehrentitel oder katastrophale Entrechtung?

Die Vorbehalte gegen den Staat kamen in jener Zeit aber nicht nur von liberalen Unternehmern. Auch linke Intellektuelle sahen in ihm ein Relikt, das es zu überwinden galt. Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, hervorgerufen durch das Aufeinandertreffen nationaler und imperialer Ansprüche, schuf einen internationalistischen Idealismus, in dem „jede staatenlose Person auch für die Möglichkeit eines postnationalen Kosmopolitismus“ stand. Staatenlose galten da als der neue dritte Stand, auf dem große Zukunftshoffnungen ruhten. „Auf einer Tagung von Staatenlosen und Organisationen, die sich für sie einsetzten, erklärte der Pazifist Romain Rolland in Genf, ‚Staatenlosigkeit‘ sei eine ehrenvolle Bezeichnung für Europa- und Weltbürgerschaft.“ Für viele Angehörige von Minderheiten war Staatenlosigkeit allerdings schlicht eine Katastrophe. Sie sahen sich nach dem Untergang des multiethnischen Osmanischen und des Habsburger Reiches mit Nationalstaaten kon-

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Buch des Monats 125

frontiert, in denen kein Platz für sie war. Der neu gegründete Völkerbund befand sich dabei von Anfang an in einem Dilemma: „Er bemühte sich, die harten Folgen der Volkssouveränität zu minimieren, während er zugleich die Gründung neuer Staaten erleichterte, die mit der Macht ausgestattet waren, ein neues Staatsvolk zu schaffen und Menschen auszuschließen.“

Über Inklusion bestimmt der Staat

Siegelberg beschreibt die Debatten über Staatenlose in ihrer ganzen Vielfalt und Ambivalenz. Hatten sie eigene, quasi „natürliche“ Rechte, oder doch nur positive, über einen Staat, der sie zu seinen Bürgern machen würde? Die Historikerin macht klar, dass die Frage immer auch eine nach der Stabilität der politischen Ordnung war: Während westliche Völkerrechtler in staatlichen Strukturen dachten, waren es für Mahatma Gandhi Dorfgemeinschaften, die das Zusammenleben der Menschen bestimmen sollten. Doch solch antikoloniale Sichtweisen spielen im Buch kaum eine Rolle, genauso wenig wie die Realität in vielen postkolonialen Staaten, deren Grenzen mit den Zugehörigkeitsgefühlen ihrer Einwohner oft wenig übereinstimmen. Im Zentrum von „Staatenlosigkeit“ stehen die von europäischen Erfahrungen geprägten Diskurse und Konzepte, wie sie die Debatten im Völkerbund – und später in den Vereinten Nationen – beherrschten. Den Staat zur zentralen politischen Einheit zu machen, bedeutete implizit, die von ihm geschaffene Realität zu akzeptieren, dass er über Inklusion und Exklusion bestimmen darf – mit enormen Unterschieden für die Betroffenen. Während vor allem wirtschaftlich starke Staaten ihren Bürgerinnen und Bürgern immer größere Möglichkeiten boten, ihr Leben zu verbessern, standen auf der anderen Seite jene „Papierlosen“, die gar keinen Anspruch auf Zugehörigkeit und Befriedigung ihrer Bedürfnisse erheben konnten. Mira Siegelberg ist tief in die Materie eingestiegen, ihr Fokus liegt auf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch am Anfang und Ende ihres Buches bietet sie Ausblicke darauf, welche Fragen rund um die Staatenlosigkeit heute immer drängender werden. Da ist zum einen die wachsende Kluft zwischen arm und reich: Während die einen weder Geld noch Pass haben, häufen andere beides an. Siegelberg beruft sich dabei auf Atossa Abrahamian. Die in New York lebende Journalistin – selbst Inhaberin eines kanadischen, eines schweizerischen und eines iranischen Passes – beschreibt die neuen wohlhabenden Kosmopoliten, für die die Welt längst postnational geworden ist: „Konsumentinnen und Konsumenten können Pässe sammeln und die Staatsangehörigkeit in Ländern beanspruchen, die ihren Reichtum steuerfrei beherbergen.“ Den reichen Mehrstaatlern aber stehen auf der anderen Seite jene gegenüber, die gar keinen Ort auf der Welt mehr haben. Gerade der Klimawandel wird dabei zu einem grundlegenden Umdenken führen müssen, deutet Siegelberg im Vorwort an. Denn wenn Länder im Meer versinken, stellt das auch die territoriale Grundlage der Souveränität infrage, auf der das Völkerrecht und die internationale politische Ordnung bis heute basieren.

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DOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem: • »Sowohl der Neubau als auch die Modernisierung müssen die Wohnbedürfnisse älterer Menschen im Blick haben« Studie »Wohnen im Alter« des Pestel-Instituts, 17.4.2023 • »Der Schutz des Friedens und der Erhalt des Karfreitagsabkommens sind für die Vereinigten Staaten eine Priorität« Rede von Joe Biden vor dem irischen Parlament, 13.4.2023 (engl. Original) • »Es hat den Eindruck, dass die Verantwortlichen die Probleme schlicht ignoriert haben« Abschlussbericht der Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Erzdiözese Freiburg, 11.4.2023 • »3,4 Millionen Menschen in Deutschland haben noch nie das Internet genutzt« Mikrozensus-Erhebung zur Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) in privaten Haushalten, 11.4.2023 • »Wir können uns im Kampf gegen die Klimakatastrophe keine Halbherzigkeiten mehr leisten, keine weiteren Nebelkerzen, kein weiteres Zögern« Offener Brief an Olaf Scholz, 5.4.2023 • »2022 haben Haushalte in Deutschland durchschnittlich 27,8 Prozent ihres Einkommens für die Miete ausgegeben« Mikrozensus-Zusatzerhebung zur Wohnsituation 2022, 31.3.2023 • »Die Russische Föderation beabsichtigt, die Überreste der Vorherrschaft der USA und anderer unfreundlicher Staaten in globalen Angelegenheiten zu beseitigen« Offizielles Außenpolitik-Konzept der Russischen Föderation, 31.3.2023, (engl. Fassung) • »Die Einhaltung der Klimaschutzziele ist eine wichtige Querschnittsaufgabe der Bundesregierung« Beschlusspapier des Koalitionsausschusses der Bundesregierung, 28.3.2023 • »Die Rückendeckung für die Menschenrechte durch den Westen ist selektiv und von Eigeninteressen geprägt« Jahresbericht von Amnesty International, 28.3.2023 • »Wir fordern die libyschen Behörden auf, alle für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen« Abschlussbericht der UN-Wahrheitsfindungsmission zu Libyen, 27.3.2023 (engl. Original) • »Fracking kann tödlich sein« Studie im Wissenschaftsjournal »The Lancet«, 22.3.2023 (engl. Original)

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Zurückgeblättert... Von den einen verehrt, von den anderen verachtet oder gefürchtet, wird Henry Kissinger, die graue Eminenz der US-Diplomatie, am 27. Mai 100 Jahre alt. Dazu die kritische Bilanz des Kissinger-Biographen Bernd Greiner: Gewalt. Macht. Hegemonie. Zur Aktualität von Henry Kissinger, in: »Blätter«, 10/2020, S. 63-71. Den Text finden Sie wie gewohnt auf www.blaetter.de

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An der Ausgabe wirkten Lasse Brauer und Amadeus Marzai mit. Die gemeinnützige Blätter-Gesellschaft – Gesellschaft zur Förderung politisch-wissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Initiativen e.V. gibt in Verbindung mit dem Herausgeberkreis der Zeitschrift die »Blätter für deutsche und internationale Politik« heraus. Ihr stehen Dr. Corinna Hauswedell, Dr. Wolfgang Zellner und Inken Behrmann vor. Die »Blätter« erscheinen zugleich als Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft. Beiträge – ab 12,50 Euro monatlich – und Spenden sind steuerabzugsfähig. Sitz: Bonn, Beringstr. 14, 53 115 Bonn; Büro Berlin: Postfach 40147, 10061 Berlin. Bankverbindung: Santander Bank IBAN: DE26 5003 3300 1028 1717 00, BIC: SCFBDE33XXX. Preise: Einzelheft 11 Euro, im Abonnement jährlich 93,60 Euro (ermäßigt 74,40 Euro). Alle Preise inklusive Versandkosten. Auslandszuschläge auf Anfrage. Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, sofern es nicht sechs Wochen vor Ablauf des Bezugszeitraums beim Verlag schriftlich gekündigt wurde. Das Register des laufenden Jahrgangs erscheint zeitgleich mit der Dezemberausgabe auf www.blaetter.de. Heft 6/2023 wird am 26.05.2023 ausgeliefert. © Blätter für deutsche und internationale Politik. ISSN 0006-4416. G 1800 E

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Autorinnen und Autoren 5/2023

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Katajun Amirpur, geb. 1971 in Köln, Dr. phil., Professorin für Islamische Studien sowie stellvertretende Direktorin der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg, Mitherausgeberin der „Blätter“. Kaki Bali, geb. 1963 in Thessaloniki/ Griechenland, Journalistin. Frauke Banse, geb. 1974 in Lüneburg, Dr. rer. pol., Politikwissenschaftlerin, Dozentin an der Universität Kassel.

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David Begrich, geb. 1972 in Erfurt, Theologe, Mitarbeiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei Miteinander e.V. in Magdeburg. Matthias Bertsch, geb. 1966 in Schwäbisch Hall, Politikwissenschaftler, Autor für den ARD-Hörfunk. Petro Burkovskiy, geb. 1981, Politikwissenschaftler, Exekutivdirektor der Ilko-Kucheriv-Stiftung für Demokratische Initiativen in Kiew. Matthias Eickhoff, geb. 1966 in Hamm, Politikwissenschaftler, freier Journalist und Übersetzer.

Das Jubiläums-Angebot Seit 20 Jahren bietet der Atlas der Globalisierung eine kritische Bestandsaufnahme unserer Welt. Die Zeitung hinter dem Atlas ist Le Monde diplomatique: Einmal im Monat präsentiert sie neben fundierten Analysen und spannenden Reportagen detailreiche und innovative Karten und Infografiken zum Weltgeschehen.

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Daniel Fuchs, geb. 1984 in Graz, PhD, Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Asienund Afrikawissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin. Thomas Fuchs, geb. 1958 in München, Dr. med., Dr. phil., Professor für philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg. Corinna Hauswedell, geb. 1953 in Hamburg, Dr. phil., langjährige Mitherausgeberin des Friedensgutachtens, Leiterin des Conflict Analysis and Dialogue in Bonn (CoAD). Rudolf Hickel, geb. 1942 in Nürnberg, Dr. rer. pol., Professor em. für Finanzwissenschaft an der Universität Bremen, Mitherausgeber der „Blätter“. Heike Holdinghausen, geb. 1972 in Frankfurt a. M., Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin, Redakteurin bei der „tageszeitung“.

Anna Jikhareva, geb. 1986 in Moskau, Politikwissenschaftlerin, Reporterin bei der WoZ in Zürich. Susanne Kaiser, geb. 1980 in Berlin, Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin, Journalistin und Publizistin. Albrecht von Lucke, geb. 1967 in Ingelheim am Rhein, Jurist und Politikwissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Uta Meier-Gräwe, geb. 1952 in Erfurt, Dr. sc. oec., Prof. em. für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Universität Gießen, Vorstandsmitglied von „Wirtschaft ist Care e.V.“ Maike Rademaker, geb. 1963 in Lank, Volkswirtin, freie Journalistin. Richard C. Schneider, geb. 1957 in München, Germanist und Theaterwissenschaftler, Journalist, Autor und Dokumentarfilmer, Editor-at-Large für die ARD in Tel Aviv/Israel. Kai E. Schubert, geb. 1991 in Berlin, Politikwissenschaftler, Doktorand am Institut für Politikwissenschaft der Universität Gießen. Andreas Umland, geb. 1967 in Jena, Dr. phil., PhD, Politikwissenschaftler, Analyst beim Stockholm Centre for Eastern European Studies (SCEEUS). Cédric Wermuth, geb. 1986 in Jegenstorf/Schweiz, Politikwissenschaftler und Co-Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP). Christa Wichterich, geb. 1949 in Brühl, Dr. rer. pol., Soziologin, freiberufliche Wissenschaftlerin und Publizistin. Hildegard Willer, geb. 1964 in Memmingen, Theologin, Romanistin und Kommunikationswissenschaftlerin, freie Journalistin sowie JournalismusDozentin an der Katholischen Universität von Peru in Lima.

5’23

Blätter

5’23

Einzelheft 11 € Im Abo 7,80/6,20 €

Blätter für deutsche und internationale Politik

Die Sehnsucht nach dem Schah Katajun Amirpur

Unangepasst. Unabhängig. Unverzichtbar.

Die Sehnsucht nach dem Schah Katajun Amirpur

Das feministische Paradox Susanne Kaiser Was wird aus dem Menschen? Thomas Fuchs

Jetzt kennenlernen: blaetter.de/probeabo

5’23

Einzelheft 11 € Im Abo 7,80/6,20 €

75 Jahre Israel und die Zukunft der ethnischen Demokratie Richard C. Schneider Gegen den russischen Imperialismus Cédric Wermuth Ukraine vor der »Dritten Republik«? Petro Burkovskiy, Andreas Umland Der Globale Süden vor dem Ruin? Frauke Banse Plattform-Kapitalismus auf Chinesisch Daniel Fuchs, Christa Wichterich

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Gegen den russischen Imperialismus Cédric Wermuth Ukraine vor der »Dritten Republik«? Petro Burkovskiy, Andreas Umland Der Globale Süden vor dem Ruin? Frauke Banse Plattform-Kapitalismus auf Chinesisch Daniel Fuchs, Christa Wichterich