Die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897: II. Band
 9783205111320, 9783205085560

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Berthold Sutter Die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897 II. Band

VERÖFFENTLICHUNGEN DER

KOMMISSION FÜR NEUERE GESCHICHTE ÖSTERREICHS 47

Berthold Sutter

Die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897 II. Band

19 6 5 VERLAG H E R M A N N BÖHLAUS NACHF. I G R A Z - K Ö L N

DIE BADENISCHEN SPRACHENVERORDNUNGEN VON i897 ihre Genesis und ihre Auswirkungen vornehmlich auf die innerösterreichischen Alpenländer

Von

Berthold Sutter

II. Band

19 6 5

VERLAG HERMANN BÖHLAUS NACHF.

I GRAZ-KÖLN

DIE KOMMISSION FÜR NEUERE GESCHICHTE ÖSTERREICHS Vorsitzender: Univ.-Prof. Dr. Hugo Hantsch Stellvertr. Vorsitzender: Univ.-Prof. Dr. DDr. h. c. Leo Santifaller Univ.-Prof. DDr. Heinrich Benedikt Univ.-Prof. DDr. Friedrich Engel-Janosi Univ.-Prof. Dr. Heinrich Fichtenau Hofrat Univ.-Prof. Dr. Alfred Hoffmann Univ.-Prof. Dr. Alphons Lhotsky Univ.-Prof. Dr. Alexander Novotny Hofrat Dr. Gebhard Rath Univ.-Prof. Dr. Friedrich Walter Univ.-Prof. Dr. Hermann Wiesflecker Univ.-Prof. Dr. Erich Zöllner

Alle Rechte vorbehalten Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Unterricht und der Steiermärkischen Landesregierung Copyright ©

1965 by Hermann Böhlaus Nachf., Graz

In der Borgis Plantin gedruckt bei R. Spies Co., Wien V. Klischees: Patzelt & Co., Wien VII / Buchbinder: H. Scheibe, Wien III Buchausstattung: Ferry Α. Limberg, Wien I

I N H A L T Seite

Vorwort VII. Die Reaktion der Alpenländer auf die Badenischen Sprachenverordnungen

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Die politische Situation nach Schließung der XII. Session (11) — Badems „verbissene Feinde" (13) — Haltung der Tschechen und der deutschen Obstruktionsparteien (14) — „Supranationale Lösung"? (15) — Vorherrschaft der Tschechen in Böhmen (17) — Die Situation in Graz (18) — Korpskommandant F M L Eduard v. Succovaty (20) — Statthalter Oliver Marquis Bacquehem (27) — Landeshauptmann Gundaker Graf Wurmbrand-Stuppach (30) — Rektor Professor Dr. Friedrich Thaner (32) — Die nationalen Verhältnisse in der Untersteiermark (34) — Das Verhalten gegenüber den Slowenen seit 1848 (36) — Die Wandlung bei Anastasius Grün (37) — Erste Agitationen gegen die Badenischen Sprachenverordnungen (38) — Protest der Prager Universität (41) — Kundgebung der reichsdeutschen Professoren (41) — Protest der Grazer Hochschulen (42) — Studentendemonstrationen (44) — Sängerfahrt und „Bundesfest deutscher Bauern" (45) — Die Cillier Gymnasialfrage (46) — Herabwürdigung Badenis (47) — Verhängnisvoller Radikalismus der Provinzpresse (48)

VIII. Der Sturz Badenis Möglichkeiten eines nationalen Ausgleichs (50) — Brüchigkeit der Majorität (50) — Badenis Hoffnung auf den Verfassungstreuen Großgrundbesitz (51) — Lipperts „Was nun ?" (53) — Pfersche-Ulbrichscher Sprachengesetzentwurf (53) — „Unbedingte Obstruktion" (54) — Wachsende Erregung gegen die Regierung (55) — Die deutschen Volkstage in Eger und Klagenfurt (56) — Konferenz der christlichsozialen Partei (58) — Staatsstreichpläne der Tschechen (59) — Der Pacäksche Nationalitätengesetzentwurf (60) — Die Haltung der Ungarn (62) — Wilhelms II. Trinkspruch in Budapest (64) — Geplante deutschtschechische Ausgleichskonferenz (65) — Badenis fünf Vorlagen für die Ausgleichskonferenz (65) — Der Ministerrat vom 17. August 1897: Die Ausgleichsvorlagen (69); Die Delegationswahlen (71) — Einladung zur Konferenz (73) — Absage der deutschen Fortschrittspartei (73) — „Zuerst Rücknahme der Sprachenverordnungen" (74) — Der Ministerrat vom 24. August 1897: Badenis Demissionsangebot (77); Das Verhältnis zur Majorität (78); Das Programm der Autonomisten (80); Das Verhältnis zur Majorität (82); Zustimmung zur Einberufung des Reichsrates (85) — Regierungsbesprechungen mit der Majorität (87) — Der Ministerrat vom 8. September 1897 unter dem Vorsitz des Kaisers (89): Das Verhältnis zur Majorität (89); Notwendigkeit der Delegationswahl (90); Anwendbarkeit des § 14 gegenüber Ungarn (91); Änderung der Geschäftsordnung (96); Die Präsidiumsfrage des Abgeordnetenhauses (97) — Eröffnung der XIII. Session des Reichsrates (100) — Das Duell Badeni contra Κ. H. Wolf (101) — Die Delegationswahlen (103) — Ministeranklagen (104) — Endlose Obstruktion (104) — Das erste Pultdeckelkonzert (105) — Das Ausgleichsprovisorium mit Ungarn (106) — Lechers Dauerrede (106) —

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Inhalt Seite

Theodor Mommsens Brief „An die Deutschen in Österreich" (108) — Die Haltung des deutschen Reiches gegenüber Österreich (110) — Obstruktion im Budgetausschuß (112) — Haltung der Katholischen Volkspartei (113) — Die innenpolitische Lage (115) — Neue Ministeranklagen gegen Badeni (117) — Tätlichkeiten im Parlament (118) — Die „Lex Falkenhayn" (119) — Die Sozialdemokraten reißen die Führung des Kampfes an sich (122) — Polizei im Parlament (123) — Ausschließung von Abgeordneten (123) — 27. November 1897: Tumultszenen im Abgeordnetenhaus (124) — Das Ende der XIII. Session (126) — Der Ministerrat vom 27. November 1897 (126) — Kaizl: „Nur eine Etappe vor dem Endziel" (128) — Die Demission der Regierung Badeni (129) — Beurteilung der Vorgänge in Frankreich (129) — Die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses (132) — Reformen der Geschäftsordnung (133) — Kritik am Parlamentarismus (141) — Das Recht der Minoritäten (141) — „Corpus Slavorum" - „Corpus Germanorum" (142) — Die Forderung nach Fachparlamenten (144) — Das österreichische Notverordnungsrecht (145) — Der berüchtigte § 14 (149) — „Der einzig wirklich vernünftige Paragraph" (159) — Folgen der Obstruktion (160) — Die Regelung des wirtschaftlichen Verhältnisses zu Ungarn (161) — Die österreichisch-ungarische Reichskrise (163) — Ungarns Kampf gegen die Idee eines Gesamtreiches (163) — Ungarns Rückhalt an Preußen (169) — Der Streit tun die staatsrechtliche Natur ÖsterreichUngarns (170) — Die Obstruktion: Verhängnisvollster Fehler der Deutschen (174)

IX. Die Badeni-Unruhen

. . :

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Die Grazer nationale deutsche Studentenschaft (176) — Grazer Gemeinderatswahlen (185) — Blutige Wahlunruhen (185) — Haltung der Sozialdemokraten (186) — Heraus mit dem allgemeinen Wahlrecht (186) — Arbeiteraussperrungen (187) — 26. November 1897: Beginn der Badeni-Unruhen (189); Straßendemonstrationen gegen Badeni (190) — 27. November 1897: Blutige Demonstrationen (193); Der militärische Einsatz (194) — 28. November 1897: Demonstration gegen die Militärkapelle der Bosniaken (199); Postierung von Militär in der Innenstadt (199); Jubel über die Entlassung Badenis (200) — Das Begräbnis der erschossenen Demonstranten (203) — Aufhetzung gegen die Bosniaken (208) — Beleidigung des Korpskommandanten durch Studenten (215) — Grundsätzliche Erwägungen des Kriegsministers (219) — Das Disziplinarverfahren gegen einzelne Studenten (221) — Entschuldigungsschreiben der Rektoren (225) — Antidynastische Handlungen (227) — Wachsender Radikalismus der Jugend (229)

X. Das Prager Farbenverbot und der deutsche Hochschulstreik . . . . 231 Die Prager Exzesse nach Badenis Sturz (231) — Standrecht über Prag (234) — „Los von Prag" (236) — Das Prager Farbenverbot (237) — Akademikertag in Leitmeritz (238) — Streikbeschluß der Prager Studenten (239) — Allgemeiner Hochschulstreik (240) — Gegenmaßnahmen der Regierung (242) — Aufhetzung gegen das Militär (244) — Das Marburger Duell (244) — Beginn des Hochschulstreiks in Graz (247) — Nationale Konflikte während des Hochschulstreiks (249) — Die Streikbewegung an der Leobner Bergakademie (250) — Das Eingreifen der Regierung (252) — Der Ministerialerlaß vom 5. Feber 1898 (252) — Laibacher Universitätswünsche (254) — „Los von Wien! Los von Graz!" (254) — Studentenzusammenstöße in Laibach (257) — Folgen der Laibacher Studentenzusammenstöße im Krainer Landtag (262) — Die Situation bei den Slowenen und ihre „patriotischen Gedanken" (263) — Die Feiern zur Erinnerung an die März-Revolution 1848 (264)

Inhalt

7 Seite

XI. Die Haltung der Deutschen Volkspartei bei Beginn der XIV.Reichs269 ratssession Deutsch-tschechische Ausgleichsversuche durch Gautsch (269) — Die Gautschschen Sprachenverordnungen (273) — Das Kabinett Thun (276) — Verhandlungen der deutschen Parteien mit dem Grafen Thun (278) — Klubobmännerkonferenz der Linken (281) — „Rückhaltlose Fortsetzung der Obstruktion" (283) — Radikale Phrasen der Provinzpresse (284) — Agitation an den Hochschulen gegen den Ministerialerlaß vom 5. Feber 1898 (286) — Geplante Ministeranklagen gegen Gautsch (290) — Eröffnung der XIV. Session des Reichsrates (292) — Delegationswahlen (293) — Schönerers Fehde gegen die deutschen Parteien (294) — Schönerer als Skandalmacher (297) — Grabmayrs Absage an Schönerer (298) — Die Deutsche Volkspartei unter dem Druck der Radikalen (301) — Neue Ministeranklagen gegen Badeni (304) — Elf Sprachenanträge (305) — Die Erklärung des Grafen Thun (311) — Sprachenausschuß: „Nicht einsetzen! Nicht beschicken!" (315) — Unterbrechung der Sprachendebatte (317)

XII. Die Degradierungen und neuerlichen Demonstrationen in Graz .

.319

Demonstrationen gegen die bosnische Militärkapelle (319) — Die Wiederernennung des Grafen Gleispach zum Oberlandesgerichtspräsidenten (325) — Die Degradierung von 33 Reserveoffizieren (334) — Geplante Studentendemonstrationen (344)

XIII. Das Durchgreifen der Staatsgewalt und das Ende der XIV. Session

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Die Beschlüsse des Grazer Gemeinderates vom 25. Mai 1898 (346) — Passivität der Sozialdemokraten (348) — Auflösung des Grazer Gemeinderates (352) — Absage der Sozialdemokraten an die Nationalen (353) — Verschärfung der allgemeinen Lage durch die Grazer Vorgänge (355) — Sympathiekundgebungen für Graz (356) — Ein schwer krankes Parlament (359) — Vergebliche Sprachendebatte (365) — Vertagung des Reichsrates (367) — „Eidbrüchige Gesellen" (368) — Die Kornblume als Symbol der Treue (369) — Die Politik Berlins gegenüber den Deutschnationalen Österreichs (372) — Die Grazer Gemeinderatswahl (375) — Die Haltung der Christlichsozialen in nationalen Fragen (376) — Die patriotisch deutschösterreichische Bürgerpartei (381) — Wahlsieg der Deutsch-Radikalen (383) — Folgen der Grazer Ereignisse bis 1938 (387) — Schwierigkeiten der Regierung Thun (387): Die Palacky-Feier in Prag (388); Verhandlungen der deutschen Linken mit Thun (392); Der Ausgleich mit Ungarn (394); Die Ischler Konferenz (395) — Der Rücktritt Baernreithers (395) — Die „neue Taktik" (396) — Die Clarysche Sprachenverordnung (398) — Aufruhr in Galizien (399) — Nationale slowenisch-italienische Konflikte (400)

XIV. Das Erbe Badems Schmähschrift „Badeoft, der Herr Minister" (402) — Konkrete Lösungsvorschläge (402) — Das Problem der konstruktiven Reichsgestaltung (403): Wenzel Frind (403); Alfred von Offermann — Stanislaus Ritter von Madeyski (406); Richard Charmatz — Aurel Popovici — Stjepan Radic — Karl Renner (407); Ignaz Seipel — Heinrich Lammasch — Erzherzog Franz Ferdinand (409) — Folgen der Badeni-Krise (411) — „L'Europe sans Autriche" (413) — Das französisch-tschechische Bündnis (414) — Die tschechisch-russischen Bindungen (417) — Das Nationalitätenproblem in anderen europäischen Staaten (418) — Das Nationalitätenproblem in Rußland (418) — Das Nationalitätenproblem in Preußen (421) — Bismarcks Haltung gegenüber den Polen (422) —

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Inhalt Seite

Die Ausweisung aller nicht heimatberechtigten Polen (424) — Das Enteignungsgesetz vom 20. März 1908 (427) — Unglaublicher Dilettantismus bei der Behandlung der polnischen Frage (427) — Die nordschleswigsche „Sprachenverordnung" von 1888 (428) — Ein leuchtendes Vorbild: Österreich (431) — Das österreichische Nationalitätenrecht (435) — Das europäische Minderheitenproblem nach 1918 (437) — Europa irredenta (438) — Der „Passivposten einer 50-Millionen-Irredenta" (439) — Der Minderheitenschutz nach dem 2. Weltkrieg (440) — Die Idee des übernationalen Staates (441) — Rückblick (442) — Badenis Streben, die Tschechen zu gewinnen (443) — BadeniKrise: Schlüssel zum Verständnis des österreichischen Nationalitätenkampfes (445) — Die Mitschuld der deutschen Parteien am Untergang der Monarchie (445)

Anhang

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1. Pfersche-Ulbrichscher Sprachengesetzentwurf vom 29. Juni 1897 (446) — 2. Pacäkscher Nationalitätengesetzentwurf vom 28. Juni 1897 (454) — 3. Pfingstprogramm. Nationalpolitisches Programm der Gemeinbürgerschaft vom 20. Mai 1899 (461) — 4. Rudolf Laun: Entwurf eines internationalen Vertrages über den Schutz nationaler Minderheiten (476) — 5. Entwurf eines Vertrages über den Schutz nationaler Minderheiten. Ausgearbeitet für die Friedenskonferenz in Versailles und Saint Germain von der Deutschen Mittelstelle in Graz (483)

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

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Personenverzeichnis

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ABBILDUNGS VERZEICHNIS Dr. Josef Kaizl 1854—1901, österreichischer Finanzminister 1898—1899 David Ritter von Abrahamovicz 1843—1926, Präsident des österreichischen Abgeordnetenhauses 1897 Karikaturen auf die Auflösung des österreichischen Reichsrates am 23. Jänner und auf den Sturz Badenis am 28. November 1897 Die Ereignisse im österreichischen Abgeordnetenhaus am 26. November 1897. Räumung der Tribüne des Präsidiums durch die vom Grafen Badeni herbeigerufene Sicherheitswache. Zeitgenössische, als Postkarte verbreitete Darstellung General d. I. Eduard Succovaty Freiherr von Vezza 1839—1919, Kommandant des 3. Korps und Kommandierender General in Graz 1897—1907 . . Oliver Marquis de Bacquehem 1847—1917, österreichischer Handelsminister 1886—1893, Innenminister 1893—1895, Statthalter von Steiermark 1895—1898, seit 1906 Präsident des Verwaltungsgerichtshofes . . . . Dr. Viktor von Hochenburger 1857—1918, Obmann des Parlamentsklubs der Deutschen Volkspartei 1898, österreichischer Justizminister 1909—1916 Dr. Karl Grabmayr von Angerheim 1848—1923, Mitglied des österreichischen Abgeordnetenhauses 1897—1907 (Verfassungstreuer Großgrundbesitz, Tirol), 1913 Präsident des Reichsgerichtes Allerhöchste Bemerkung Kaiser Franz Josephs zum Bericht des 3. Korpskommandos über die Grazer Ereignisse vom 17. Mai 1898 (Kriegsarchiv KM Praes. 1898, 52-5/9) Franz Graf (Fürst) von Thun und Hohenstein 1847—1916, Statthalter von Böhmen 1889—1896 und 1911—1915; österreichischer Ministerpräsident 1898—1899

80 96 176

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„ Wer über die Verwirklichung des Nationalitätenschutzes in großen Staaten reden will, der studiere zuerst das Sprachenrecht Österreichs, die Praxis der Gerichte und der staatlichen und autonomen Verwaltungsbehörden dieses Landes über diese Materie, die Bestrebungen in der neueren Verfassungsgeschichte Österreichs, welche auf die Verwirklichung einer vollständigen Gleichheit der Nationen abzielen, die Schwierigkeiten, welche sich entgegenstellen, die reiche, historische, juristische und administrativ-technische Literatur (von der politischen gar nicht zu reden), welche über alle diese Gegenstände in Österreich besteht." Rudolf L a u η : Zur Nationalitätenfrage.

VORWORT Sogleich nach der Erlassung der Sprachenverordnungen für Böhmen und Mähren im April 1897 stand Österreichs Ministerpräsident Graf Kasimir Badeni einer ausweglosen Situation gegenüber, denn einerseits hatten die deutschen Oppositionsparteien den bedingungslosen parlamentarischen Ausnahmezustand proklamiert und sich in das Schlagwort verrannt, daß sie erst nach Zurücknahme der Sprachenverordnungen mit der Regierung verhandeln könnten, andererseits aber mußten rechtzeitig die den Ausgleich mit Ungarn betreffenden Gesetze auf parlamentarischem Wege behandelt und finalisiert werden, da die ungarische Reichshälfte nicht gesonnen war, in diesem Punkte dem Grafen Badeni oder irgendeiner anderen österreichischen Regierung entgegenzukommen. So war die Einberufung des Reichsrates im Herbst 1897 trotz banger Sorgen vor erneuten Skandalszenen im Hinblick auf Ungarn unumgänglich. Die nationalen deutschen Parteien aber haben mit der Verhinderung der parlamentarischen Regelung des wirtschaftlichen Verhältnisses zwischen der österreichischen und der ungarischen Reichshälfte wohl ihren verhängnisvollsten Fehler seit dem Beginne der parlamentarischen Ära begangen und das ohnehin nicht gerade starke Gefüge des Gesamtreiches schwerstens erschüttert. Die Haltung des Verfassers und seine Darstellung dieser unglücklichen Epoche österreichischer Geschichte bedürfen keiner Rechtfertigung. Wer sich an den objektiv vorgelegten Materialien oder daran stößt, daß die nationalen Phrasen der Jahre 1897/98 wiederholt zitiert wurden, der möge bedenken, daß sich eine geschichtliche Epoche immer nur in ihrer eigenen Sprache verstehen läßt, daß wir unsere politischen Gegenwartsprobleme auch nicht 70 Jahre zurückprojektieren dürfen und nur durch die radikalen nationalen und staatsrechtlichen Gedankengänge und Ideologien die Politik der Parteien im österreichischen Abgeordnetenhaus erklärbar wird. Gerade weil der Verfasser, in der Tradition seiner Familie verhaftet, sich stets und ohne zeitbedingte Schwankungen zu Österreich, seiner Geschichte, Kultur und Toleranz bekannte, braucht er auch dort nicht die Wahrheit zu scheuen, wo sie bitter erscheint. Eine einseitige Schwarz-Weiß-Zeichnung, welche alle Schuld nur dem Grafen Badeni oder nur den tschechischen Parteien und den Feudalen Böhmens oder nur der deutschen Obstruktion anlastet, würde die Tatsachen vom Grunde auf verfälschen. Graf Badeni hat, ohne Zweifel, um die Notwendigkeit eines staatsrechtlichen Umbaues Cisleithaniens gewußt, trotzdem aber hatte er, dafür liegen eindeutige Beweise vor, von sich aus — vielleicht in richtiger Erkennung sowohl der Haltung der Krone als auch der nicht mißzuverstehenden Einflußnahme Berlins — nie die Absicht, die Verfassung zu ändern. Er wollte lediglich einzelne Artikel im autonomistischen Sinne ausgelegt wissen. Wer aber in Badeni einen großen

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Vorwort

Staatsmann sehen will, der möge bedenken, daß in der Geschichte immer noch der Erfolg ausschlaggebend gewesen ist und es nicht genügt, eine Situation lediglich richtig erkannt zu haben. Als „groß" kann in der Geschichte nur der bezeichnet werden, der die Kraft hat, seinen gestaltenden und in die Zukunft weisenden Willen durchzusetzen und die einzelnen widerstrebenden politischen Machtfaktoren auszugleichen und für sich zu gewinnen. Es kann niemand bestreiten, daß der Grundentwurf der Badenischen Sprachenverordnungen inhaltlich voll berechtigt war. Hätte aber Graf Badeni wirklich innenpolitisch und auf Cisleithanien bezogen ein sehr klares Konzept besessen, dann hätte er die Befriedigung Böhmens als Politiker grundsätzlicher und umfassender und als kluger Taktiker zu einem anderen Zeitpunkt beginnen müssen. So aber ließ er sich, trotz aller rechtzeitigen Warnungen, von der Notwendigkeit des Augenblickes, nämlich des Abschlusses des wirtschaftlichen Ausgleiches mit Ungarn, und von dem Wunsche, in der Quotenfrage durch eine breite Majorität im österreichischen Abgeordnetenhaus auf Ungarn einen verstärkten Druck ausüben zu können, in seinen Handlungen bestimmen. Leider sind seit dem Erscheinen des ersten Bandes fünf Jahre vergangen, obwohl schon damals das Manuskript in allen wesentlichen Teilen abgeschlossen vorlag. Andere Arbeiten hatten sich in den Vordergrund geschoben. Selbst die Korrekturen sind über ein Jahr unberührt liegengeblieben, da die große steiermärkische Landesausstellung 1964 „Graz als Residenz — Innerösterreich 1564—1619", deren wissenschaftliche und organisatorische Gesamtverantwortung dem Verfasser zusätzlich dienstlich übertragen worden war, alle Kräfte erfordert hatte, um sie zu einem Erfolg zu führen. Nun, am Ende der Arbeit habe ich der K o m m i s s i o n f ü r N e u e r e G e s c h i c h t e Ö s t e r r e i c h s (W i e n) unter ihrem Vorsitzenden Herrn Univ.-Professor Dr. Hugo Η a η t s c h nochmals für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe ihrer Veröffentlichungen und für die Zugestehung des erweiterten Umfanges des zweiten Bandes den geziemenden Dank auszusprechen. Die Herren Univ.-Professoren Dr. Friedrich W a l t e r und Dr. Balduin S a r i a haben mir auch beim zweiten Band ihre Hilfe und wohlwollende Unterstützung nicht versagt, und ich bleibe ihnen zu Dank verpflichtet. Der Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Dr. Richard Β 1 a a s, und der Direktor des Allgemeinen Verwaltungsarchivs Wien, Univ.-Professor w. Hofrat Dr. Walter G o l d i n g e r , haben durch großzügiges Entgegenkommen die Arbeit wesentlich gefördert und erleichtert. In gleicher Weise gilt der Dank der Hilfsbereitschaft der übrigen Beamten dieser beiden Institute, insbesondere Herrn Univ.-Dozent Dr. Hans W a g n e r . Meine Kollegen an der Österreichischen Nationalbibliothek, an der Universitätsbibliothek Wien, an der Universitätsbibliothek Graz, im Österreichischen Kriegsarchiv und im Steiermärkischen Landesarchiv sind mir stets hilfreich zur Seite gestanden. Herr Staatsbibliothekar I. Kl. Dr. Friedrich Κ e 1 b i t s c h ist in kollegialer Weise niemals müde geworden, gemeinsam mit mir zweifelhafte Zitate zu klären. Mein herzlichster und aufrichtigster Dank gilt nicht zuletzt meiner Frau, welche mit Verständnis und nie versagender Geduld manchen Verzicht auf sich genommen, die Arbeit redlich geteilt und die Korrekturen mitgelesen hat. Graz, am Großen Frauentag 1965. Berthold

Sutter

VII. D I E R E A K T I O N D E R A L P E N L Ä N D E R A U F D I E BADENISCHEN SPRACHENVERORDNUNGEN Als am 2. Juni 1897 Österreichs Ministerpräsident Graf Kasimir Badeni 1 ) die X I I . u n d zugleich kürzeste Session des österreichischen Reichsrates im Auftrage des Kaisers Schloß, mußte er sich sagen, daß v o n der falschen oder glücklichen Wahl seiner nunmehrigen Entscheidungen die Existenz u n d der gesicherte Fortbestand nicht nur seines Kabinetts, sondern auch des nationalen Friedens in Österreich abhängig sein werden 2 ). Er mußte sich darüber Rechenschaft abgeben, daß seine „glückliche Zeit" u n d seine Erfolge zu Ende gegangen waren 3 ), als er die Sprachenverordnungen für B ö h m e n erlassen u n d sich die Parteien im Abgeordnetenhaus bei Beginn der gleich stürmisch wie ergebnislos verlaufenen, soeben geschlossenen Session selbständig u n d gegen seine Intentionen gruppiert hatten. D i e politische Situation berechtigte daher keineswegs, optimistisch eine baldige u n d einvernehmliche Lösung der nationalen Streitfragen 4 ), die sich seit d e m *) Zu seiner Biographie vgl. S t . S t a r z y n s k i , Badeni Kazimierz. — Entgegen den bei Antritt seiner Ministerpräsidentschaft verbreiteten und selbst im Monatsblatt der k. k. heraldischen Gesellschaft Adler publizierten schmeichlerischen Behauptungen hoher und italienischer Abkunft seiner Familie (siehe I. Band S. 128 Anm. 1) ist richtigzustellen, daß Badeni von keiner italienischen Adels-, sondern von einer rumänischen Kaufmannsfamilie — wallachischen Ursprungs — herstammte, und des Ministerpräsidenten Ururgroßvater Bürger von Lemberg war. (Gothaisches Genealog. Taschenbuch der Gräflichen Häuser 1890 und Teil Β 1939.) Der Urgroßvater Stanislaus (gest. 1824) war königlicher Sekretär und Kabinettsdirektor des polnischen Königs Stanislaus August Poniatowski und brachte nicht zuletzt durch seine Ehe mit Katharina Stadnicka, einer Magnatentochter, seine Familie zu Ansehen (Polski Slownik Biograficzny 1, S. 209). Der Vater des Ministerpräsidenten, Wladyslaw Badeni (1819—1888) (vgl. F. P o h o r e c k i , Badeni Wladyslaw), „wurde endgültig, dank seiner Heirat mit der sehr reichen Gräfin Mier, in den engen Kreis der Aristokratie eingelassen, nicht ohne daß deren altvornehme Mitglieder über ihn als einen Homo novus die Nase rümpften. Immerhin rollte in Kazimierz Badenis Adern, durch die Mutter, das Blut der Sapieha und, weiter zurück, das anderer fürstlicher Häuser. Da er höchst begütert und ebenso ehrgeizig wie von Familiensinn erfüllt war, gehörte die Integration in die echte Hocharistokratie zu den beherrschenden Lebenszielen Badenis. Die Heirat seiner Tochter Wanda mit dem Chef der erlauchten Familie Krasinski bedeutete für ihn vielleicht mehr als sämtliche staatlichen Würden und Erfolge." (O. F o r s t d e B a t t a g l i a , Altösterreichs Schicksalsjahr.) Des Ministerpräsidenten Sohn, Ludwig Josef Ladislaus (gest. 1916), war mit Alice von Ankarcrona vermählt, die dann in zweiter Ehe Erzherzog Karl Albrecht von Österreich heiratete. 2 ) Zur Beurteilung der Lage nach Schließung des Reichsrates vgl. die nicht gezeichneten Artikel „Der parlamentarische Konflikt in Österreich" in den Preußischen Jahrbüchern 89, 1897, S. 174—181 und „Parlamentarische Anarchie in Österreich" in den Histor.-pol. Blättern 120, 1897, S. 49—60. — Hier auch eine sachliche Auseinandersetzung über die Badenischen Sprachenverordnungen (S. 118—130; 280—294; 498—511). *) Über Badenis „glückliche Zeit" siehe unten S. 51, Anm. 3. — Vgl. den noch knapp vor Erlassung der Badenischen Sprachenverordnungen in der „Revue politique et parlementaire" XI, S. 178—187 erschienenen Artikel von G. Κ ο 1 m e r (Κ ο h n), Autriche. ') An Literatur vgl. dazu vor allem R. A. K a n n , The multinational Empire I, S. 191—

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VII. Reaktion der Alpenländer auf die Badenischen Sprachenverordnungen

4. April 1897 wesentlich verschärft hatten, anzunehmen. Die Deutschen in Böhmen hatte eine wilde Erregung erfaßt, die von radikalen Elementen ohne Rücksicht auf staatspolitische Notwendigkeiten geschickt weiter geschürt wurde. Die Deutschen in den Alpenländern, mit deren Interesselosigkeit an den böhmischen Streitfragen Badeni sicher gerechnet hatte, waren in den gleichen, wenn auch vorerst nicht so radikalen nationalen Taumel wie die Deutschböhmen geraten. Die Tschechen, die zu gewinnen Badenis Absicht und Ziel gewesen war, hatten neue Forderungen angemeldet und sich trotz der Sprachenverordnungen als unbefriedigt erklärt. Sie hatten sich überdies jener Majorität im Abgeordnetenhaus angeschlossen, die gegen den Willen des Ministerpräsidenten die Führung im Hause übernommen hatte. Dem staatsrechtlichen Programm dieser zudem noch innerlich und numerisch schwachen Majorität konnte Badeni sich nicht anschließen, obwohl er ihm gewiß innerlich wohlwollend gegenüberstand, weil er damit in Konflikt mit der Krone geraten wäre. Badeni wußte nur zu gut, daß Kaiser Franz Joseph nicht zuließ, daß an den Dezember-Verfassungsgesetzen von 1867 gerüttelt werde. Den konservativen und klerikalen Forderungen der Majorität vor allem nach Gewährung eines größeren Einflusses der Kirche auf Schule und Staat aber widerstrebte Badeni als Altliberaler persönlich. Die Partei, die nach seinem Plane seine Politik tragen und ihre Durchsetzung im Abgeordnetenhaus hätte ermöglichen sollen, hatte sich ihm beharrlich versagt. Es bestand keine Hoffnung mehr, daß der Verfassungstreue Großgrundbesitz sich zu jener regierungstreuen Mittelpartei umwandle, die er seiner ursprünglichen Bestimmung nach hätte werden sollen. Noch aussichtsloser war ein Versuch, die Deutsche Volkspartei aus der Obstruktion herauszulösen und sie für die Regierungspolitik zu gewinnen. Badeni konnte demnach nicht auf die Unterstützung auch nur durch eine einzige Partei oder Parteigruppe5), nicht einmal auf die der Tschechen rechnen. Der Rückhalt, den er bei Johann von Chlumecky und Adolf Beer wenigstens teilweise persönlich noch fand, war bedeutungslos. Beide hatten zwar als Führer der einstigen Vereinigten Deutschen Linken Badenis Politik von 1895 an gefördert, beide verfolgten zwar mit wachsender Sorge die von den deutschen Parteien nach Erlassung der Sprachenverordnungen eingeschlagene Taktik, aber ihre Berufung ins Herrenhaus im März 1897 wog nicht den mit dem Ausscheiden aus dem Abgeordnetenhaus verbundenen Verlust an Einfluß gegenüber dem Rest der deutsch-liberalen Abgeordneten auf. Zu seinen von Anfang an vorhandenen „verbissenen Feinden" 6 ), zu denen die 205. — H. F. S c h w a r z , Bohemia under the Habsburgs S. 256—258. — Ε. W i s k e m a η η, Czechs and Germans S. 43—69. H. H a n t s c h (Nationalitätenfrage S. 122) hat zu diesem Buch, das sich zum größten Teil mit den nationalen Verhältnissen zwischen 1919 und 1938 beschäftigt, mit Recht bemerkt: „Die Neigung zu Verallgemeinerungen beeinträchtigt das objektive Bild." — R. S i e g h a r t , Letzte Jahrzehnte einer Großmacht. — E. Z ö l l n e r , Geschichte Österreichs S. 429—442. — A . J. Μ a y,The Hapsburg Monarchie. — Ρ. Μ ο 1 i s c h, Badenische Sprachenverordnungen. — H. M ü n c h , Böhmische Tragödie. s ) „ . . . , eine bunte Musterkarte politischer Parteibildungen, die wohl auch einen weiseren Mann, als Graf Badeni zu sein scheint, Grausen bereiten könnte." (Histor.-pol. Blätter 119, 1897, S. 671.) — Zur Beurteilung Badenis von Seiten der katholischen Kräfte vgl. die Histor.-pol. Blätter 116, 1895, S. 536—542; 761—773. 6 ) J. L a n g , Ein Jahr Badeni S. 13. — Badenis Wahlreform, die ihm die erbitterte Gegnerschaft der das allgemeine und direkte Wahlrecht fordernden Sozialdemokraten eintrug, hatte jedoch auch der berühmte Staatsrechtler Georg Jellinek abgelehnt: „In Wahrheit aber bedeutet diese Reform die Gefahr der tiefsten Revolution, die Österreich je gedroht

Die politische Situation nach Schließung der XII. Session junge galizische Bauernpartei u n d die ruthenische Opposition 7 ) ebenso wie die Sozialdemokraten gehörten, hatten sich die liberale Presse u n d die dahinter stehenden Kräfte gesellt, die den Sieg Luegers nicht verwinden konnten 8 ). W e n n Badeni sein Ziel erreichen wollte, dann mußte er sich der Majorität anschließen, doch hatte dann diese u n d nicht mehr er die Führung u n d die Zügel in der Hand. D a b e i stand drohend i m Hintergrund der Ausgleich mit Ungarn 9 ). D i e parlamentarische Erledigung der Ausgleichsvorlagen in der österreichischen Reichshälfte war eine Forderung der Ungarn, v o n der abzugehen sie nicht gewillt waren. D i e Situation war für Badeni bereits ausweglos geworden. D e n T s c h e c h e n zu n e h m e n , was ihnen durch die Sprachenverordnungen gewährt worden war, ging nicht an. Wir dürfen nicht übersehen, daß bei diesen noch die Erinnerung an die Zerschlagung des Ausgleiches von 1871 mitklang, die sie als eine tiefe, persönliche Kränkung empfanden 1 0 ). Hatte Kaiser Franz Joseph nicht i m Septemberreskript

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hat." (G. J e 11 i η e k, Wahlreform.) — Vgl. dazu Η. Μ ο m m s e n , Sozialdemokratie und Nationalitätenfrage. So hatte am 28. Oktober 1895 Julian Romanczuk, k. k. Professor am akademischen Obergymnasium in Lemberg, anläßlich der Debatte über die acht Tage zuvor abgegebene erste Regierungserklärung Badenis im Abgeordnetenhaus am Ende seiner Rede erklärt: „Es ist überhaupt die Tätigkeit Seiner Exzellenz des Herrn Ministerpräsidenten in Galizien viel hervorgehoben und weithin ausposaunt worden. Es wurde erzählt, daß in Galizien musterhafte Ruhe und Ordnung herrscht, daß dort die Versöhnung der Parteien und der Nationalitäten eingetreten ist. Sonderbare Fiction! Ganz das Gegenteil davon ist geschehen! Die Nationalitäten und Klassen verfeinden sich jetzt stärker als je, und wenn dies vielleicht anscheinend nicht so extensiv hervortritt, so ist der Grund allerdings derjenige, daß die ,starke Hand' auch eine gewisse Einschüchterung hervorgebracht hat, jedoch eine Einschüchterung nicht gerade bei den sogenannten extremen Elementen, welche sich überhaupt schwerer einschüchtern lassen, sondern gerade bei den Mittelparteien, bei den gemäßigten Elementen. Ich will die Sache nicht weiter ausspinnen. Ich muß aber leider das Urteil über die Tätigkeit und die Politik des gegenwärtigen Herrn Ministerpräsidenten in Galizien in der Weise aussprechen, wie es ein hervorragendes Blatt getan hat, indem es sagte, daß die Politik des Grafen Badeni in Galizien nichts als allseitige Verbitterung, Verschärfung des Klassen- und Nationalitätenhasses, Schwächung des Rechtsbewußtseins und der Rechtssicherheit beim Volke, Demoralisation und Korruption des Mittelstandes und der Presse, Protection, Nepotismus und Cliquenwirtschaft gezeitigt habe. Möge ein günstiges Geschick das übrige Österreich vor einem solchen Resultate der Regierungspolitik bewahren und möge es dem gegenwärtigen Statthalter in Galizien, welcher früher als Landeshauptmann sich vielseitiges Vertrauen erworben hat, gelingen, das Land in einen gedeihlicheren Zustand zu bringen." (Stenogr. Prot. XI. Session 423. Sitzung S. 21155.) Sehr aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang der nicht gezeichnete Artikel: „Die liberalen Katastrophen in Österreich bis zur Epoche ,Lueger'" in den Histor.-pol. Blättern (116, 1895, S. 841—858). Zur inhaltlichen Beurteilung der Ausgleichsvereinbarungen zwischen den Ministerien Badeni und Banffy vgl. R. Z u c k e r k a n d 1, Konsumsteuern im österreichisch-ungarischen Ausgleich S. 405—410. — F. G a e r t n e r , Der österr.-ungar. Ausgleich S. 338 bis 354. — Im Nachruf der „Neuen Freien Presse" für Adolf Beer vom 8. Mai 1902 wurde als dessen Verdienst hervorgehoben, daß es ihm gelungen sei, „die kleine Herabminderung des österreichischen Beitrages zu den gemeinsamen Angelegenheiten durchzusetzen, welche die einzige Errungenschaft des Badeni-Thunschen Ausgleiches ausmacht". So schrieb Josef Penizek in diesem Zusammenhang: „Prag erhielt bald anstatt eines Krönungszuges eine Reprise des Ausnahmezustandes und der Repressionspolitik zu verkosten. Solche herbe Enttäuschungen, ein solcher plötzlicher Umsturz und ein derartiger Sprung

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VII. Reaktion der Alpenländer auf die Badenischen Sprachenverordnungen

von 1871 die Rechte des Königreiches Böhmen anerkannt und erklärt, bereit zu sein, diese Anerkennung mit seinem Krönungseide zu erneuern? Hatte er sich zum König von Böhmen krönen oder nicht vielmehr umstimmen lassen und sein heiliges Wort gebrochen, das er verpfändet hatte ? Wir dürfen nicht übersehen, daß die politische Gleichgültigkeit, die heute gegenüber den Parteien und der Regierung in Österreich besteht, damals nicht existierte, daß im Gegenteil die Probleme in aller Öffentlichkeit und in aller Heftigkeit durchdiskutiert wurden. Die damalige Flut an politischen Publikationen, die oft recht wertvoll waren, ist ein Beweis dafür. Hätte Badeni selbst die Sprachenverordnungen wieder zurückgenommen, so hätten die Tschechen, die seit 1871 gerade in diesem Punkte besonders empfindlich geworden waren, ihn mit Recht des Treuebruches angeklagt11). Die deutschen Obstruktionsparteien aber verrannten sich in dem Schlagwort, daß sie erst nach Rücknahme der Sprachenverordnung mit den Tschechen und der Regierung in Verhandlungen eintreten könnten. Deren Zustandekommen und deren Gelingen konnten einzig allein noch den nationalen und den parlamentarischen Frieden wiederherstellen. Stand den Deutschen in Österreich das Wohl des Staates, den sie zusammengefügt, gebaut und durch so manche Fährnisse gerettet hatten, noch immer als oberstes Gebot vor Augen, dann mußten sie allein schon im Hinblick auf die von Ungarn her gefährdete Reichseinheit in diese Verhandlungen eintreten und dabei den Tschechen all das großzügig gewähren, was diese gerechterweise forderten, all das aber selbst verlangen, was die nationale Existenz der Deutschböhmen sichern konnte. Badeni aber seinerseits hätte nun alles daransetzen müssen, um eine Annäherung der Regierung an die deutschen Obstruktionsparteien zu ermöglichen, diese durch gesicherte Zugeständnisse zu gewinnen und gleichzeitig zu überzeugen, daß die Herstellung des nationalen Friedens in Böhmen durch gegenseitige Übereinkunft in ihrem eigenen Interesse liegen mußte. Trotz der seit den Apriltagen gemachten Erfahrungen glaubte jedoch Badeni auch jetzt noch, die Deutschen für seine Politik nicht auf gütlichem Wege gewinnen zu müssen und stark genug zu sein, um ihren Widerstand durch „entschlossenes Vorgehen" brechen zu können. Diese Vorstellung, daß die Autorität der Krone und des Staates gegenüber den deutschen Obstruktionsparteien durchgesetzt werden müsse, daß sich diese der Regierung des Kaisers zu fügen hätten und daß sich die breiten Bevölkerungsschichten von der nationalen Hochflut abwenden würden, sobald sie die starke Hand der Regierung und deren Unnachgiebigkeit fühlten12), war so tief, nicht zuletzt durch des Kaisers aus einem Extrem in das andere hinterlassen immer in der Seele eines vielverfolgten Volkes einen nicht so leicht zu beseitigenden Stachel von Mißtrauen und Erbitterung." (J. Ρ e n i t e k, Von einem toten Ausgleich S. 254.) n ) 1906 erklärte Karel Kramäf: „Von uns Liebe zu verlangen zum Österreich von gestern und heute, aus dem man in Wien eine Negation all dessen gemacht hat, was dem böhmischen Volke teuer ist, zu jenem zentralistisch-germanisierenden Österreich, das uns trotz aller Zusicherungen, trotz aller Eide und geltenden Rechte unser staatliches Selbstbestimmungsrecht genommen hat, welches sich so lange der Entwicklung und Erstarkung unseres Volkes widersetzte und welches in uns niemals dasjenige zu sehen vermochte, was wir seit Jahrhunderten waren, die bewährteste und sicherste Stütze dieses Reiches — ist wahrlich eine Naivität." (K. K r a m ä f , Anmerkungen zur böhmischen Politik S. 91.) " ) Ganz anders dagegen die einsichtige Haltung des Ministerpräsidenten Baron Beck, der am 27. Juni 1908 im Herrenhaus erklärte: „Ich glaubte die Aufmerksamkeit des hohen Hauses auf diese Angelegenheiten lenken zu dürfen, weil sie klassische Beispiele dafür bieten, daß bei der besonderen Natur der Verhältnisse Österreichs das Kompromiß immer und immer wieder das sicherste Mittel ist, Schwierigkeiten zu überwinden und erträgliche Zustände her-

Badems „verbissene Feinde"

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Zustimmung, in Badeni verwurzelt, daß er auch jetzt noch diesen Irrweg in d e m Glauben beschritt, er werde ans Ziel kommen. D a m i t aber versperrte er e n d gültig nicht nur sich den W e g zu den nationalen deutschen Parteien, sondern gleichzeitig auch diesen den W e g des Einlenkens u n d Verhandeins. D i e Badenischen Sprachenverordnungen sind als „der letzte Versuch" bezeichnet worden, „eine supranationale L ö s u n g gegenüber einer national-autonomistischen durchzusetzen" 1 3 ). Sie können aber nur deswegen den R u h m in Anspruch n e h m e n , der letzte Versuch in dieser Richtung gewesen zu sein, weil die F o l g e n ihrer ungenügend vorbereiteten Erlassung alle weiteren Lösungen — und waren sie noch so positiv u n d für beide Nationalitäten in B ö h m e n annehmbar — von vornherein z u m Scheitern verurteilten. Badeni vertrat ohne Zweifel die Ansicht, daß die Autonomie der Länder als historische Individualitäten fortgebildet werden müsse. O b er sich dabei in Galizien eine Vorherrschaft der Polen gegenüber den Ruthenen, in B ö h m e n eine solche der T s c h e c h e n gegenüber den D e u t s c h b ö h m e n vorstellte, wissen wir nicht. V o n Vorstellungen supranationaler Lösungen kann zustellen. Ich werde daher auch alles daran setzen und erblicke unsere Hauptaufgabe darin, dieses System des Vermitteins zum Zwecke des Zusammengehens aller staatlich Gesinnten immer mehr zu vertiefen . . ." (Stenogr. Prot. Η. Η. XVIII. Session S. 325. Sperrung hier.) Diese Erklärung wurde in die vereinfachte Formel gebracht und so oft zitiert: „Bei der besonderen Natur der österreichischen Verhältnisse ist das Sicherste immer der Kompromiß."— Gerade im Sommer 1897 brachten die Preußischen Jahrbücher (89, 1897, S. 174—181) eine mit 16. Juni datierte Zuschrift, die mit den Worten schließt: „Es gibt keine Form der Habsburgischen Monarchie, in welcher ihre ältesten Heergesellen, ihre treuesten Knechte als Unterdrückte leben könnten. Das weiß Habsburg. Und wenn es zu einer ernsten Entscheidung kommen sollte, dann wird kein Habsburgischer Kaiser vergessen, was er den Deutschen schuldig ist. Würde Graf Badeni die Geschichte des Staates, den er regieren soll, etwas genauer kennen, so würde er niemals auf den Gedanken gekommen sein, daß man in Österreich den Willen der Deutschen auf die Dauer ignorieren könne." u ) R. A. K a n n (Nationalitätenproblem S. 206): „Auch wer die anfechtbare Taktik Badenis, vor allem den Bruch der parlamentarischen Geschäftsordnung, scharf verurteilt und selbst die objektive Berechtigung der Sprachenverordnungen ablehnt, wird doch zugeben müssen, daß der Wille der Regierung, gegenüber der deutschen Forderung nach verwaltungs- und amtssprachenmäßiger Teilung Böhmens, an der Geschlossenheit eines in toto zweisprachigen Sprachgebietes festzuhalten, der letzte Versuch war, eine supranationale Lösung gegenüber einer national-autonomistischen durchzusetzen." — Im Gegensatz dazu die zeitgenössischen Kritiken von W. F r i η d und Α. ν. Ο f f e r m a η η. Dieser schrieb noch 1897 (Badeni und die Sprachenverordnungen S. 59), daß Badenis Rechnung ja ganz schön gewesen sei, nur ein Fehler sei dabei unterlaufen. „Graf Badeni übersah, daß Österreich bei einem Punkte angelangt ist, wo es kein Vorwärts und kein Rückwärts gibt, bevor die Nationalitätenfrage gelöst ist. Der Vorrat an kleinen Konzessionen war verbraucht, die Völker wollen alle endlich ein endgiltiges Resultat ihres Kampfes sehen . . . Graf Badeni übersah, daß gerade die Frage, die er gewissermaßen links liegen lassen wollte, für die er ein neues Mittel: ,kraftvolles Ignorieren' erfunden hatte, die Hauptfrage ist. . . Für das, was er leisten wollte, ist jetzt nicht der Zeitpunkt, und wofür jetzt der Zeitpunkt ist, das ist eben nicht das ,Fach' des Grafen Badeni." W. F r i η d (Das sprachliche und sprachlich-nationale Recht S. 310—316) aber hat den Badenischen Sprachenverordnungen gerade vorgeworfen, „daß sie das faktische Verhältnis der sprachlich-nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung Böhmens völlig ignorieren", da sie keinerlei geschlossene Sprachgebiete kennen, „daß sie von den naturrechtlichen Bestimmungen über das Recht und die Pflicht gänzlich absehen", daß sie die „Gleichberechtigung unter Außerachtlassung der Natur und der Richtungen der Gerechtigkeit in rein mechanischer und formeller Weise verwirklichen" und den „Grundsatz des wirklichen praktischen Bedürfnisses" verlassen, der allein für die Staatsregierung in Betracht kommen könne.

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VII. Reaktion der Alpenländer auf die Badenischen Sprachenverordnungen

jedenfalls bei Badeni weder während seiner Tätigkeit als Statthalter in Galizien14) noch während der Zeit seiner Ministerpräsidentschaft nachweisbar gesprochen werden. Auch die tschechischen Parteiführer, welche die entscheidenden Punkte der Badenischen Sprachenverordnungen veranlaßt, ja teilweise selbst formuliert hatten, dachten doch niemals daran, nach Durchführung der völligen Zweisprachigkeit in Böhmen ihre nationaltschechische Einstellung gegenüber einer supranationalen gesamtösterreichischen zurückzustellen. Das hätten sie auch gar nicht mehr gekonnt, denn der Nationalismus hatte bereits allseitig zu radikale Formen angenommen. Für solche Lösungen war es in Österreich zu spät geworden. Auch dürfen wir den BadenischenSprachenverordnungen keinesfalls nachträglich höhere Ideen unterschieben. Badeni sah in den Sprachenverordnungen für Böhmen einzig und allein jenes Mittel, durch das er den nationalen Wünschen der Tschechen entgegenkommen und deren Zustimmung zu den Ausgleichsvorlagen mit Ungarn gewinnen konnte. Dieses Mittel aber erwies sich als unzulänglich, weil nur eine großzügige Gesamtlösung aller nationalen Forderungen den nationalen Frieden hätte bringen können und weil die Existenz eines geschlossenen deutschen und eines geschlossenen tschechischen Gebietes in Böhmen verwischt werden sollte. In Mähren lagen die Verhältnisse anders15), und auch nur dort konnte durch Anerkennung der Zweisprachigkeit im November 1905 der nationale Ausgleich hergestellt werden. Auch die tschechoslowakische Republik der Jahre 1918 bis 1938 ging daran zugrunde, daß sie das geschlossene deutsche Gebiet in Böhmen leugnete und die Deutschen an der Verantwortung des Staates nicht teilhaben lassen wollte16). Das Ziel der Tschechen war schon 1897 nicht eine supranationale Lösung in Böhmen, sondern die Vorherrschaft über die Deutschen17) und deren " ) So hatte er als Statthalter den südgalizischen polnischen Gutsbesitzern versprochen, nichts auf Kosten der Polen für die Ruthenen zu unternehmen, die dadurch 1894 zur radikalnationalen Politik griffen und in die Opposition gingen. Zu Badenis Politik gegenüber den Altruthenen und Moskophilen vgl. S t . S t a r z y n s k i , Badeni Kazimierz. Erwähnt sei noch, daß Badeni, als durch Interventionen am Wiener Hof die Überführving der Leiche des größten nationalen polnischen Dichters Adam Mickiewicz von Paris nach der Krakauer Königsburg Wawel im Jahre 1890 verhindert werden sollte, gemeinsam mit dem Landmarschall Jan Tarnowski die Demission in einer Audienz dem Kaiser anbot, der jedoch daraufhin die Überführung gestattete. 15 ) H. R a u c h b e r g, Der nationale Besitzstand in Böhmen. — H. H e r z , Der nationale Besitzstand in Mähren. — D e r s., Der nationale Besitzstand in Mähren 1910. — D e r s., Die nationale Berufsgliederung in Mähren. — „Den Prager Deutschen wird nachgesagt, sie hätten sich vielfach geweigert, die tschechische Sprache zu erlernen. Der bekannte Heidelberger Gelehrte Alfred Weber rügt dies besonders an den Universitätskreisen. Diese hatten mit der Masse der Bevölkerung wahrscheinlich genau so wenig Berührung wie jene von Wien oder Heidelberg. In Brünn hingegen verschmolzen beide Landessprachen fast zu einer Stadtsprache; so war es auch in anderen mährischen Städten. Es hat wohl an keinem Punkt Europas so viel freudig gepflegte Mehrsprachigkeit gegeben wie an den Berührungsflächen der österreichischen Völker. Schwierigkeiten ergaben sich, wo die Sprache zum Politikum gemacht wurde." (H. J a k s c h, Europas Weg S. 88.) 1β ) H. R ö η η e f a r t h, Die Sudetenkrise. — G. M. G a t h o r n e - H a r d y , Internationale Politik S. 532—544. — E. F r a n z e l , Die Politik der Sudetendeutschen. — J. Η a η c, Czechoslovakia. — Η. R a s c h h o f e r, Sudetenkrise. 17 ) Selbst der national äußerst gemäßigte „Christlichsoziale Verband für Deutschböhmen", der im scharfen Gegensatz zur deutschfortschrittlichen Partei stand, erklärte in einer in den letzten Apriltagen des Jahres 1897 erschienenen Flugschrift: „Der Deutsche soll eine staatliche Anstellung im deutschen Gebiete nur vermöge gleichzeitiger cechischer Sprachbeherrschung erlangen können. Gibt es nun keinen R e c h t s grund dieser Forderung,

Vorherrschaft der Tschechen in Böhmen

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Vertreibung aus dem böhmischen Raum. Die klassische Formulierung dieses Zieles sprach Eduard Benes am 16. Mai 1945 nach seiner Ankunft in Prag aus: „Unser Wahlspruch wird sein, daß wir unser Land von allem Deutschen, kulturell, wirtschaftlich und politisch, reinigen müssen."18) Was dann geschah, brachte zwar eine „Endlösung", aber sie war furchtbar, denn sie bedeutete die Ausrottung und Vertreibung der Deutschen aus Böhmen19). wo liegt dann wenigstens der G r u n d derselben ? Lediglich darin, daß die Cechen damit unzufrieden sind, in Böhmen mit den Deutschen auf dem Boden des B e d ü r f n i s s e s nach g l e i c h e m R e c h t e behandelt zu werden . . . Nach ihnen darf es k e i n e ,deutschen' Bezirke in Böhmen g e b e n . . . Das ist n a t i o n a l e r Chauv i n i s m u s , welcher nicht an den Naturgesetzen seine Grenze findet, sondern seine Stütze darin erhalten soll, daß das Land in der anderen Sprache ,Cechy' heißt und e h e m a l s eine politische Selbständigkeit besaß . . vermöge eines , b ö h m i s c h e n S t a a t s r e c h t e s ' soll der deutsche Beamte für österreichische Deutsche oder doch deutschsprechende österreichische Staatsbürger innerhalb Böhmens cechisch können müssen. Dies ist der letzte G r u n d einer solchen Sprachenzwangsforderung: der n a t i o n a l e C h a u v i n i s m u s auf der Grundlage eines g e t r ä u m t e n , b ö h m i s c h e n S t a a t e s ' . Wir finden ihn für ebenso ungenügend als ungerecht." (Die Badenische Sprachenverordnung und ihre Bedeutung S. 4 f.) 1S ) W. J a k s c h , Europas Weg S. 427. — „Tatsächlich hat die Deutschenvertreibung aus der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn national nahezu einheitliche Staaten werden lassen. Die wirtschaftlichen Probleme dieser Staaten sind aber durch sie nicht gelöst, sondern eher kompliziert worden, und die nationale Einheitlichkeit mußte mit dem Verlust der Kontakte nach Westen und der bedingungslosen Eingliederung in das östliche Machtsystem erkauft werden." (G. R h o d e , Massenzwangswanderung S. 35.) 19 ) Die Zahl der von der Vertreibung 1945 persönlich betroffenen Deutschen aus der Tschechoslowakei beträgt nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes der BR Deutschland 2,909.400. Das Schicksal von 225.600 Deutschen aus Böhmen, Mähren, Schlesien und der Slowakei ist nicht geklärt. „Es ist anzunehmen, daß diese Zahl annähernd die Zahl der direkten oder indirekten Opfer der tschechischen Vergeltungs- und Vertreibungspolitik wiedergibt." (Dokumentation der Vertreibung S. 134 f. Anm. 4.) Gegenüber einer Zahl von 3,318.445 = 22,53% der Gesamtbevölkerung (davon 3,231.688 mit tschechoslowakischer Staatsangehörigkeit) nach der amtlichen Volkszählung vom 1. Dezember 1930 (von 3,218.005 = 23,64% der Gesamtbevölkerung nach der Zählung vom 15. Februar 1921, von 3,483.231 nach der österreichischen Volkszählung von 1910 für Böhmen, Mähren und Schlesien innerhalb des später zur Tschechoslowakei gehörenden Gebietes und von 3,305.000 einheimischen Deutschen nach dem Stande vom Mai 1939) lebten am 31. Dezember 1955 nur mehr 165.167 Deutsche in der Tschechoslowakei = 1,27% der Gesamtbevölkerung." (Ebd. IV/1 S. 7 f. Anm. 2, S. 11 Anm. 1, S. 15 und S. 132 Anm. 3. — Vertreibungsverluste S. 315—368.) — Vgl. auch Α. Β ο h m a η η, Herkunft der Sudetenund Karpatendeutschen. — Die Dokumente zur Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei, herausgegeben vom Bundesministerium der BR Deutschland für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsbeschädigte, spiegeln ein grauenvolles Bild des Hasses auf der einen Seite, des Jammers und der Not auf deutscher Seite wider. (Vertreibung der deutschen Bevölkerung. — M. S c h e l l , Tagebuch aus Prag.) 1945 herrschte die Parole „Nemec jako Nemec" (Ein Deutscher ist wie der andere). — Zur Problematik und zu den Methodenfragen der Massendokumentation im Zusammenhang mit der Vertreibung T h . S c h i e d e r , Die Vertreibung der Deutschen. — Die Rolle von Eduard Beneä in der Entstehung des Vertreibungsgedankens J. W. Β r ü g e 1, Die Aussiedlung der Deutschen. — Über die Schrecken der Jahre 1938—1945 ebenfalls W. J a k s c h , Europas Weg S. 338 f. — O. F ο r s t d e Β a 11 a g 1 i a, Zwischeneuropa S. 212 f. — Gegen die Behauptung, „die gegen Deutsche vorgenommenen Zwangsmaßnahmen rechtfertigen sich als Antwort auf die während der nationalsozialistischen Zeit deutscherseits 2

Sutter, Sprachenverordnungen II.

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VII. Reaktion der Alpenländer auf die Badenischen Sprachenverordnungen

Die Bedeutung der Badenischen Sprachenverordnungen für die Geschichte Österreichs ist wahrhaft nicht durch die ihr zugrunde liegende Idee oder in ihrer Konzeption gegeben20). Badeni hat keinen neuen Weg zur Lösung des Nationalitätenzwistes in Böhmen gewiesen. Er beschritt alte, ausgefahrene Bahnen. Aber durch die Art und Weise seines Vorgehens hat er den Zwist in Böhmen zu einem Kampf innerhalb der ganzen österreichischen Reichshälfte gesteigert, dem die Monarchie zum Opfer fiel. Erst durch die Badenischen Sprachenverordnungen stellten auch die Deutschen in den Alpenländern die nationalen Interessen über die des Gesamtstaates. Jetzt erst begannen die Parolen Georg Schönerers bei ihnen Eingang zu finden, jetzt erst wetteiferten sie mit den Deutschböhmen an „treudeutscher Gesinnung". Die „starke Hand" hatte klirrend danebengeschlagen21). Zum Verständnis der Ereignisse in Graz, die sich im November 1897 und im Mai 1898 dramatisch zuspitzten, ist wesentlich, daß Statthalter, Korpskommandant und Bürgermeister erst kurz vor Beginn der politischen Spannungen ihr Amt angetreten hatten. Sie konnten, als die schwerwiegenden Meinungsverschiedenheiten begannen, noch nicht auf Jahre gemeinsamer, vertrauensvoller Zusammenarbeit zurückblicken, die manchem ihrer Schritte auch nach Beginn der Gegensätzlichkeiten die verletzende Schärfe genommen hätte. So aber gerieten Bürgermeister Dr. Franz Graf, Statthalter Marquis Oliver Bacquehem und Korpskommandant FML Eduard Succovaty Ritter vonVezza in eine fast ausweglose Situation, die sich erst löste, als der Statthalter von Wien aus abberufen wurde. Auch die Ressentiments der Bevölkerung gegen das Korpskommando wichen erst, als 1907 Succovaty durch den dann 1914 als Chef der Landesregierung von Bosnien und der Herzegowina für das Unglück von Sarajewo mitverantwortlichen F M L Oskar Potiorek ersetzt wurde. Die Hauptschuld, daß die Geschehnisse in Graz zu einem politischen Ereignis ersten Ranges wurden, trifft ohne Zweifel Dr. Franz Graf 22 ), der am 7. April durchgeführten Austreibungen und Umsiedlungen", wurde vom Standpunkt des Völkerrechtes erwidert, daß Austreibungen nicht durch Austreibungen wiedergutgemacht werden und das Völkerrecht nur dann die Beantwortung eines Rechtsbruches mit einem anderen erlaubt, „wenn es der Zweck der Gegenmaßnahme ist, den Rechtsbrecher zur Aufgabe seines bestimmten rechtswidrigen Verhaltens zu veranlassen (sogenannte Repressalie)". Nach dem Völkerrecht sei jedoch ein solches Tun gegenüber abgeschlossenen Tatbeständen nicht erlaubt. „Als Antwort auf die seitens der nationalsozialistischen Regierung vorgenommenen Massenaustreibungen und Zwangsumsiedlungen lassen sich die nach dem Zweiten Weltkrieg deutschen Bevölkerungen gegenüber verübten Gewaltakte völkerrechtlich nicht rechtfertigen." (H. R a s c h h o f e r, Massenvertreibungen S. 121 ff.) — Zur Beurteilung des deutschen Vertriebenen- und Flüchtlingsproblems K. O. K u r t h , Sicht des Auslandes. — Vgl. auch K. R a b 1, Amerikanische Politik und sudetendeutsche Bevölkerung. — D e r s., Zur Frage der Deutschenvertreibung. 20 ) Die Badenischen Sprachenverordnungen sind eben doch nur einzuordnen in die lange Reihe aller jener „kleinen beliebten Mittel, mit denen man in Österreich große Fragen gerne lösen will" — ein Wort, das L u d w i g v o n M i s e s 1914 bei Behandlung der Wirtschaftskrise von 1912/13 gebrauchte. al ) Histor.-pol. Blätter 116, 1895, S. 858 und 121, 1897, S. 49. Dieser Ausspruch wurde ursprünglich im Zusammenhang mit der Lueger-Frage gebraucht und in dem mit 2. Juni 1897 datierten Artikel „Parlamentarische Anarchie in Österreich" mit dem Zusätze wiederholt: „das ist jetzt nach anderthalb Jahren buchstäblich wahr geworden". 22 ) Franz Graf, geboren am 23. September 1837 in Nägelsdorf bei Straden in der Oststeiermark, entstammte einer in dieser Gegend bis 1684 zurückverfolgbaren bäuerlichen Familie.

Die Situation in Graz: Korpskommandant F M L Succovaty

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1897, also zwei T a g e nach Erlassung der Badenischen Sprachenverordnung für Böhmen, mit überwiegender Stimmenmehrheit z u m Bürgermeister v o n Graz gewählt worden war u n d am 16. April, am gleichen T a g übrigens wie D r . Karl Lueger als Bürgermeister v o n Wien, die Bestätigung durch Kaiser Franz Joseph erhalten hatte. Seiner politischen Überzeugung nach war Dr. Graf ein orthodoxer Altliberaler, den erst der Lauf der Geschehnisse ins radikalnationale Lager trieb 23 ). V o n der Eitelkeit beherrscht, möglichst viele öffentliche Würden zu b e kleiden, trat er das Bürgermeisteramt mit der redlichen Absicht an, mit d e m Gemeinderat u n d mit den staatlichen Behörden i m besten Einvernehmen zu bleiben. Sein juristisches Wissen, seine administrative Befähigung und sein Fleiß, Eigenschaften, die auch von seinen Gegnern anerkannt werden mußten, wären in ruhigen Zeiten für die Stadt segensreich zur Entfaltung gekommen. Für die unruhigen Monate, die bevorstanden, sollte er nicht stark g e n u g sein. Er wollte vermitteln u n d ausgleichen, tat es aber so, daß i h m schließlich selbst v o n den eigenen Kreisen geringe Wahrheitsliebe u n d Unverläßlichkeit vorgeworfen wurden. Er war nicht der M a n n , der führte u n d der sich d e m radikalen Zug zu widersetzen vermochte, obwohl er es immer wieder versuchte. Er besaß w e n i g Durchschlagskraft u n d nicht die Energie, der gemäßigten Linie z u m Sieg zu verNach dem Besuch des Gymnasiums in Marburg a. d. Drau studierte er an der Wiener, dann an der Grazer Universität und wurde hier am 16. Juni 1862 zum Doktor der Rechtsund Staatswissenschaften promoviert. Er trat anschließend in den Dienst des steiermärkisch-kärntisch-krainischen Oberlandesgerichtes und wurde am 29. Dezember 1873 zum Staatsanwaltsubstituten bei der Staatsanwaltschaft Graz ernannt, resignierte jedoch freiwillig am 30. April 1876. Ausschlaggebend für diesen Schritt war seine 1874 geschlossene Ehe mit Therese, Tochter des bereits 1872 verstorbenen Franz Hold, Besitzers der ausgedehnten Brauerei Puntigam, an deren Geschäftsführung Graf sich zu beteiligen genötigt sah. Seiner Ehe, der zwei Kinder entstammten, war allerdings kein langes Glück beschieden, da seine Gattin im April 1880 starb. Graf hat sich nicht wieder vermählt, sondern sich ganz dem öffentlichen Leben gewidmet. Bereits 1886 und 1889 war er Abgeordneter im steirischen Landtag, gehörte vom 1. Jänner 1880 bis 1884 dem Grazer Gemeinderat an und war 1890 neuerdings dessen Mitglied geworden. Als am 7. April 1897, da die Amtszeit des Grazer Bürgermeisters Dr. Ferdinand Portugall abgelaufen war, der damals 47 Mitglieder zählende Gemeinderat zur Wahl des Stadtoberhauptes schritt, wurde Dr. Franz Graf mit 42 Stimmen auf drei Jahre zum Bürgermeister gewählt. Diese Wahl war ein Akt der Verlegenheit. Dr. Portugall, der seit dem 11. Mai 1885 das Amt innegehabt hatte, war nicht bereit, sich wieder wählen zu lassen. Dr. Julius von Derschatta und der Grazer Rechtsanwalt Dr. Viktor von Hochenburger, die als Oberhaupt der Stadt gern gesehen worden wären, lehnten durch ihre Verpflichtungen im Landtag und im Abgeordnetenhaus kategorisch ab. Die Nichtjuristen, die in Frage gekommen wären, gönnten sich gegenseitig die Bürgermeisterwürde nicht. Da die Zeit drängte, fiel bei den vertraulichen Vorbesprechungen auch der Name Dr. Graf, der zur allgemeinen Überraschung die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnte. (Bericht des Statthalters. LA Graz Statth. Praes. 1898 — 22 b — 3111.) Am 4. Mai 1897 wurde er vom Statthalter Marquis Bacquehem eidlich als Bürgermeister angelobt. " ) Dr. Graf, seit 1876 in der Bezirksvertretung Graz-Umgebung und seit 1882 als deren Obmann tätig, hatte in „stets korrekter, dynastischer und patriotischer Haltung", die in der Gründung einer Habsburgerstiftung Ausdruck fand, die Bezirksvertretung, eine Einrichtung, die es übrigens nur in der Steiermark und in Böhmen gab, vom Felde der Politik ferngehalten und deren Tätigkeit auf jene Verwaltungszweige, die ihr durch Gesetz zugewiesen waren, beschränkt. (Bericht des Statthalters. LA Graz Statth. Praes. 1898 — 22 b — 3111.) Das Einvernehmen mit den staatlichen Behörden war so gut, daß 1893 der Bezirkshauptmann von Graz-Umgebung eine kaiserliche Auszeichnung für Dr. Graf beantragte. 2*

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helfen. Er unterwarf sich dem Terror des radikalen Flügels der Deutschen Volkspartei, der sich im „Grazer Tagblatt" repräsentierte. Er hat in allen entscheidenden Situationen das Mißtrauensvotum dieser Zeitung mehr gefürchtet als Maßregelungen durch die staatlichen Behörden. Das Jahr 1898 hat Dr. Graf durch die Auflösung des Grazer Gemeinderates, sehr zu Unrecht, als nationalen Heros gefeiert. Er kehrte siegreich in sein Amt zurück. Die finanzielle Katastrophe, die der Stadt nach 1910 drohte, vermochte er allerdings nicht zu meistern, denn seine Hand war in Fragen der Stadtfinanzen nicht glücklicher als in denen der Politik24). Während der politischen Ereignisse des Jahres 1897/98 war Dr. Graf, nachdem er im November 1897 militärische Hilfe zur Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung in Graz beansprucht hatte, durch seine eigene Unzulänglichkeit und durch den Radikalismus des Grazer Gemeinderates sowie der Grazer Studentenschaft in Gegensatz zum Korpskommandanten und Kommandierenden General in Graz, FML Eduard Succovaty vonVezza25), geraten. Dieser hatte sich als Komman24

) Dr. Graf konnte 1907 bei seiner Ernennung zum Grazer Ehrenbürger anläßlich seines 70. Geburtstages mit Stolz und mit Recht den Bau des Grazer Opernhauses als sein ureigenstes Werk bezeichnen und auf die Errichtung von Schulen, Waisenhäusern, Volksbädern sowie des städtischen Amtshauses hinweisen. (Amtsblatt Graz XI, 1907, S. 523; Festsitzung vom 23. September 1907.) Im Jahre 1912 jedoch betrug der Abgang im ordentlichen Stadthaushalt 1,191.225 Kronen, und Statthalter Manfred Graf Clary und Aldringen war gezwungen, da durch die wüste Obstruktion der Sozialdemokraten eine gedeihliche Beratung der Bedeckung der Abgänge nicht zu gewärtigen war, den greisen Bürgermeister abermals seines Amtes zu entheben, den Gemeinderat aufzulösen und am 25. April 1912 Statthaltereirat Anton Unterrain von Meysing als Regierungskommissär einzusetzen. (Amtsblatt Graz XVI, 1912, S. 233—235. — Die Stadt Graz 1128—1928, S. 28.) Fernab vom öffentlichen Leben, jedoch noch Tag für Tag die Vorstellungen im Grazer Opernhaus besuchend, hat Dr. Graf seine letzten Lebensjahre verbracht. Am 31. Dezember 1921 ist er in Graz verstorben. 26 ) J. S ν ο b ο d a, Militär-Akademie II, S. 339 f.; III, S. 24 und 339. — Succovaty, bürgerlicher Herkunft, war am 16. März 1839 in Olmütz als Sohn eines aus einer ungarischen Familie stammenden Offiziers geboren worden. 1848 verlor er seinen Vater. In der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt nach einer „klösterlich-militärischen" Erziehung (E. S u c c o v a t y , Südw. Kriegsgebiet S. 6 Anm.) am 20. August 1858 als Rangerster seines Jahrganges zum I.R. 33 als 19jähriger Unterleutnant ausgemustert, n a h m er als Leutnant am Feldzug 1859 teil, war am 8. Juni bei der Unterdrückung des Aufstandes in Bologna eingesetzt und während des Krieges 1866 als Hauptmann beim Generalstab einer Brigade in Südtirol zugeteilt. Am 30. August 1866 wurde er in Anerkennung seiner ebenso tapferen als kaltblütigen und selbst während des heftigsten Schlachtgetümmels besonnenen Haltung im Gefechte bei Vezza (4. Juli 1866) mit dem Eisernen-Kronen-Orden 3. Klasse ausgezeichnet. Nach weiterer Verwendung beim Generalstab trat er in den Aktivstand der k. k. Landwehr über, wozu ihn die durch die Reorganisation des Generalstabes unter dem Kriegsminister Kuhn gestellte Bedingung bewog, nach der nur mehr jene Hauptleute zu Stabsoffizieren im Generalstab ernannt werden konnten, die sich einer strengen Erprobung, in der Armee „Erzengelprüfung" genannt, unterzogen. Die rangälteren Generalstabshauptleute fanden, mißgestimmt, es unvereinbar, daß sie, die als Generalstäbler vor dem Feind ihr Können bewiesen hatten, eine theoretische Prüfung ablegen sollten. Auch Succovaty war dieser Ansicht, aber während alle anderen doch jener Forderung nachkamen, verzichtete Succovaty lieber auf die ganz außerordentlichen Beforderungsvorteile, als daß er seinem Entschlüsse, seiner Überzeugung untreu geworden wäre. Es ist dies bemerkenswert, weil sich hier ein Grundzug seines Charakters, nämlich Festigkeit und starres Festhalten an einem einmal gefaßten Entschlüsse, zeigt. So trat Succovaty in die in jener Zeit eben errichtete k. k. Landwehr über und schuf sich dort

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dant der 4. Infanterie-Truppen division in Brünn durch seine, jeglichen nationalen Chauvinismus ablehnenden Verfügungen die Feindschaft der tschechischen Bürgerkreise zugezogen, die zweimal durch ihre Abgeordneten im Parlament Succovatys Verhalten heftig kritisieren und aufrollen ließen. Für den 6. Juni 1895 war nämlich die Musikkapelle des k. u. k. Infanterie-Regimentes Erzherzog Karl Stephan Nr. 8 vom tschechischen Leseverein in Brünn zu einem nationalen Zwecken dienenden Konzert im Restaurationsgarten des Besedni dum engagiert gewesen. Um die Mittagsstunde des genannten Tages erhielt der Vorstand des Lesevereines die Mitteilung, daß Succovaty als Militärstationskommandant befohlen habe, daß die Regimentsmusik im Besedni dum nicht spielen werde. Gleichzeitig wurde der gesamten Brünner Garnison der Besuch der im Besedni dum befindlichen Lokalitäten untersagt, was am 14. Juni den mährischen Abgeordneten und Advokaten Dr. Josef Tucek im Abgeordnetenhaus veranlaßte, eine Anfrage an den Verteidigungsminister zu stellen26): die Tschechen Brünns betrachteten „gewiß mit vollem Recht" Succovatys Verfügung als einen Akt offenbarer Feindseligkeit gegenüber der „böhmischen Gesellschaft Brünns", als Ausfluß der geringen Sympathien, „die in gewissen Kreisen gegenüber dem böhmischen Volke herrschen". Im Budgetausschuß der Delegation vom 17. Juni wurde über Anregung des Delegierten Dr. Josef Herold die Anfrage vom Reichskriegsminister FZM Edler von Krieghammer beantwortet, der erklärte, bereit zu sein, die Verantwortung für die Verfügung Succovatys zu übernehmen. In der öffentlichen Sitzung der Delegation vom 25. Juni tat Krieghammer die Angelegenheit im gleichen Sinne mit wenigen Worten ab27). Sobald die Bürgschaft geboten sein werde, daß im Besedni dum keine politische Demonstration stattfinden werde, stehe der Aufhebung des ergangenen Verbotes nichts mehr entgegen. Gegenüber allen Vereinen, welcher Nationalität oder Richtung immer, werde, sobald sie politische Enunziationen vornehmen, die gleiche Maßnahme verfügt und aufrechterhalten werden. Diese Worte des Reichskriegsministers schienen dem Verteidigungsminister Graf Welsersheimb durchaus ausreichend, so daß er im Abgeordnetenhaus am 6. Juli die Interpellation Tuceks mit einem kurzen Hinweis auf die Stellungnahme des Reichskriegsministers beantwortete28). Den Tschechen jedoch genügte weder die Erklärung Krieghammers noch die kurze und bündige Verweisung Welsersheimbs und sie stellten so am 19. Juli 1895 im Abgeordneteneine hervorragende Stellung. In kurzer Folge zum Major und Oberstleutnant befördert, wurde er am 14. Februar 1878 Adjutant des Erzherzog Rainer unterstehenden LandwehrOberkommandos und am 1. November 1884, inzwischen zum Obersten avanciert, dem Landwehr-Kommando in Brünn zugeteilt. Zwei Jahre später trat er in das k. u. k. Heer zurück, wurde Kommandant der 29. Infanterie-Brigade und, mit dem Ritterkreuz des Leopolds-Ordens dekoriert, erhielt er am 1. Mai 1886 seine Ernennung zum Generalmajor. Bald hernach erging an ihn die Anfrage, ob er das Kommando der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt übernehmen wolle. Succovaty lehnte entschieden mit der Begründung ab, daß er zum Pädagogen keine Berufung in sich fühle. Trotzdem wurde er am 2. September 1889 Kommandant der Militärakademie. Succovaty bat sofort um Rücknahme dieser Verfügung. Bei seiner Meldung bei Kaiser Franz Joseph als Akademiekommandant wiederholte er diese Bitte, trat jedoch als gehorsamer, pflichtgetreuer Soldat dieses Amt an, das er zu strenge und in allzu unbeugsamer Weise erfüllte. Wohl deshalb erhielt er bereits am 14. September 1890 das Kommando der 4. Infanterie-Truppendivision in Brünn. 26 ) Stenogr. Prot. XI. Session 14. Juni 1895, S. 19550. 27 ) Stenogr. Prot. Delegation des Reichsrates 31. Session S. 260. 2e ) Stenogr. Prot. XI. Session S. 20087.

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haus erneut an den Minister für Landesverteidigung eine Anfrage 29 ): das Verbot mit allen seinen Konsequenzen erweise sich immer klarer als ein Akt offenbarer Feindseligkeit gegen die tschechische Gesellschaft und „als eine direkte Beleidigung der Böhmen Brünns". Es müsse, da sich die Regierung doch wohl nicht mit derartigen Verfügungen identifizieren wolle, die Frage gestellt werden, warum der Besuch des Besedni dum verboten wurde und ob jenes Verbot aufgehoben werde. Die Anfrage blieb unbeantwortet. Kaum ein Jahr später hatte Succovaty neuerdings, und zwar diesmal mit Tschechen und Sozialdemokraten, einen Zusammenstoß, indem er der Brünner Garnison den Besuch einer Gasthauslokalität, in der Arbeiterversammlungen abgehalten wurden, verbot. Am 14. April 1896 erklärte im Abgeordnetenhaus Gustav Eim, dieses Verbot sei eine willkürliche Einschränkung der Freiheit von Militärpersonen in ihrer außerdienstlichen Zeit, ein Affront gegen die Arbeiterklasse, eine herausfordernde Anmaßung von Befugnissen, welche Succovaty nicht zuständen, und es sei schließlich eine Gewerbestörung mutwilligster Natur. Der über die Gastlokalität verhängte Boykott sei geeignet, das durch die unqualifizierbare Handlungsweise Succovatys gestörte Verhältnis zur Zivilbevölkerung neuerdings aufs bedenklichste zu stören und Spannungen herbeizuführen, die von der Militärbehörde tunlichst zu vermeiden wären. Aus den angeführten Gründen werde die Anfrage gestellt, ob „die Kriegsverwaltung dem provokanten Gebaren des Kommandierenden in Brünn endlich Einhalt zu gebieten" gedenke und „denselben von der Stelle zu amovieren, wo er so viel Unheil anstiftet"; ob der Handelsminister gedenke zu veranlassen, „daß den Militärinstanzen die Möglichkeit entzogen werde, durch Akte eklatanter Gewerbestörung Privatinteressen zu stören" und ob das Kriegsministerium beabsichtige, „den Offizieren die Belehrung zu erteilen, daß ihre traditionelle Mißgunst gegen die Arbeiter und ihre legalen Bestrebungen nicht bloß dem Zeitgeist widerspricht, sondern eine schwere Versündigung gegen diejenigen Bevölkerungsschichten involviert, welche Lasten und Opfer an Gut und Blut am meisten und am schwersten zu tragen haben?" 30 ). In der Zwischenzeit (1. Mai 1891) zum Feldmarschalleutnant befördert, wurde Succovaty am 2. April des kritischen Jahres 1897, also fünf Tage vor der Wahl Dr. Franz Grafs zum Bürgermeister von Graz, von Brünn abberufen31) und ") Ebenda S. 20915. 80 ) Ebenda XI. Session S. 24013. — G. Κ ο 1 m e r, Parlament u. Verfassung VI, S. 125. ai ) Die von FZM Anton Freiherr von Schönfeld als Kommandant des 2. Korps, dem Succovaty als Brigadier in Brünn unterstand, verfaßte Dienstbeschreibung war 1891 wenig günstig. Zwar hob er Succovatys ernsten, ehrenhaften Charakter, seine gründliche Bildung und sein positives Wissen, seine „schätzbaren Eigenschaften" hervor, doch betonte Schönfeld gleichzeitig seine Abgeschlossenheit, seine wenig aus sich heraustretende Natur, seine starre Gründlichkeit. „Die Einwirkung auf die Truppe wäre ersprießlicher, würde sie nicht durch einen entscheidenden Hang zur Pedanterie abgeschwächt. Die Fürsorge für dieselbe kann nicht in Abrede gestellt werden." Ein Jahr später war Schönfelds Beurteilung schon wohlwollender. „Die im ersten Jahre zu Tage getretene übergroße, an Passivität grenzende Ruhe hat heuer einer sichtlichen, verständnisvoll einwirkenden Initiative Platz gegriffen. Er ist mitteilsamer, vorteilhafte Wendung gegenüber 1891, weniger in sich gekehrt." 1894 ist Schönfelds Lob uneingeschränkt: „Führung der Truppe mit Ruhe, Bedacht und Sicherheit. Dispositionen klar und bestimmt." Als Succovaty 1897 von Brünn schied, schrieb General d. K. Graf Alexander Üxküll, der inzwischen das 2. Korps übernommen hatte, in die Dienstbeurteilung: „War ein ausgezeichneter Divisionär; ernst; Haltung der Truppe: mustergütig; Durchbildung für das Gefecht eine ungewöhnlich gründliche und gute." (KA Wien, Personalakt.)

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als Nachfolger des z u m Generaltruppen-Inspektor beförderten F Z M Wilhelm Frh. v. Reinländer z u m Kommandanten des 3. Korps und z u m K o m m a n d i e renden General in Graz ernannt 32 ). D i e Grazer Tagespresse begrüßte ihn unter Hinweis auf sein energisches Vorgehen gegenüber den T s c h e c h e n in Brünn w o h l wollend, w e n n nicht sogar freudig, i m Glauben, einen M a n n ihrer streng deutschnationalen Gesinnung in i h m sehen zu können. Sie irrte sich darin allerdings gründlich, denn d e m neuen Kommandierenden General war jegliches nationalistische G e f ü h l fremd. „Als Offizierssohn deutsch erzogen", reifte er, nach seinen eigenen Worten, z u m M a n n e heran, als Österreich die Vormacht i m D e u t s c h e n Bunde war, „als österreichisch u n d deutsch gleichbedeutend waren." Er hatte sich als Österreicher, als Angehöriger „eines Reiches gefühlt, das vieler Nationen Heimat war". Er anerkannte i m Prinzip die Berechtigung nationaler Bestrebungen der einzelnen Volksstämme, aber eben i m R a h m e n des großen Österreichs. Er stellte den Staat höher als die Nationalität, höher als eine einzelne Provinz. Succovaty schrieb von sich selbst, daß er, seit er erwachsen, wenngleich er deutsch fühlte, „national geschlechtslos (solchen Deutschen, die gewohnt sind, F r e m d worte zu gebrauchen, mag der Ausdruck indifferent bezeichnender erscheinen)" geblieben war. Er hat darum bis z u m Zusammenbruch der Monarchie im Oktober 1918 abgelehnt, irgendwo die Heimatzuständigkeit zu erwerben. Erst 1919 bekennt sich Succovaty in einer kleinen Schrift als „Deutschösterreicher" 3 3 ). Es 32

) Wenige Wochen später, am 28. Mai, wurde Succovaty mit der Würde eines Geheimen Rates ausgezeichnet, im Juni 1897 als Ritter des Ordens der Eisernen Krone 3. Klasse mit der Kriegsdekoration mit dem Prädikate „von Vezza" statutengemäß in den österreichischen Ritterstand erhoben und am 29. Oktober 1898 zum Feldzeugmeister ernannt. Er scheint ein fähiger, ja hervorragender Korpskommandant gewesen zu sein, der jedoch nicht sonderlich beliebt gewesen sein muß, da er von ehemaligen Soldaten noch heute mit seinem Spottnamen „Sekkierovaty" benannt wird. Getreu des von ihm geprägten Satzes, daß Bürgermeister, Bezirkshauptleute, Stationskommandanten und Generale auf die Straße gehören (Südw. Kriegsgebiet S. 18 f.), kannte er seinen Militärbereich ausgezeichnet. Er sprach tschechisch, ungarisch, italienisch und ziemlich gut französisch. Bei der 1870 vom 1. Infanterie-Truppen-Divisionskommando durchgeführten ä la vue Aufnahme der Trasse der ottomanischen Eisenbahn in Bosnien hatte er, der stets als ein guter und genauer Zeichner und als verläßlicher Mappeur beschrieben wurde, mitgewirkt. Seine Länderkenntnisse, die von Siebenbürgen und Galizien bis Graubünden, von Böhmen bis Venetien, Istrien und Bosnien reichten und die er sich durch systematische Fußmärsche und Rekognoszierungsreisen erworben hatte, wurden stets in seinen Dienstbeschreibungen hervorgehoben. M ) E. S u c c o v a t y , Deutschösterreichs Zukunft S. 6. — Vgl. auch D e r s., Ein alter Österreicher S. 23. — Seine Gesinnung gegenüber Preußen war bis 1870 keineswegs freundlich. Seine Einstellung war durch die Haltung Preußens im Krieg von 1859 sowie durch die Ereignisse von 1866 noch verschärft. Die militärischen Leistungen der preußischen Heere 1870/71 blieben jedoch auf ihn, den alten Soldaten, nicht ohne Eindruck, so daß er Kaiser Wilhelm I. nicht mehr allein im Lichte des Fürstentages von Frankfurt a. M. des Jahres 1863 sah. Der Weltkrieg 1914/18 hat dann vollends in ihm eine Änderung seiner Einstellung gegenüber den Preußen gebracht. Als Friedrich Naumann 1916 zum Schaden der Monarchie das Werk „Mitteleuropa", jene deutsche Propagandaschrift veröffentlichte, in welcher der Gedanke ausgesprochen wurde, daß es zum engsten Zusammenschluß Österreichs und des Deutschen Reiches im politischen sowie im militärischen Sinne unter Nichtantastung der Staatshoheit beider Verbündeter zu einem „Oberstaat" Mitteleuropa, der „ein Bund existierender Staaten" sein sollte, kommen müsse, trat Succovaty diesen Ideen, ihre augenblickliche inner- und außenpolitische Tragweite nicht absehend, mit Begeisterung bei. (E. S u c c o v a t y , Ein alter Österreicher.) — Zum Problemkreis Mitteleuropa vgl. vor allem P. R. S w e e t , Germany, Austria-Hungary and Mitteleuropa. — G. S t o l p e r ,

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wäre für ihn selbstverständlich gewesen, daß die Deutschen in Österreich auch nach 1866 die geistigen und kulturellen Beziehungen mit ihren Stammesgenossen außerhalb der schwarz-gelben Grenzpfähle aufrechterhielten. Sein Selbstgefühl als Österreicher, wie er es nennt, habe sich jedoch gegen die Strömung aufgebäumt, welche die deutschen Länder Österreichs staatsrechtlich in das Deutsche Reich einzugliedern gedachte, weil dadurch der Kaiser von Österreich ein Vasall des Deutschen Kaisers geworden wäre. Darin hatte, nach eigener Aussage, der Angelpunkt seiner persönlichen und sachlichen Gegnerschaft gegen die Alldeutschen und die Deutschnationalen in Österreich, da diese jenen Gefolgschaft leisteten, gelegen. Da er seine Abneigung gegenüber alldeutschen Bestrebungen nie verhehlte, mußte er in Graz in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu den führenden Kreisen des größtenteils deutschnationalen Bürgertums gelangen, zumal er seine Abscheu gegen die Verhimmelung der Dynastie der Hohenzollern, ebenso gegen die staats- und dynastiefeindliche Verherrlichung Bismarcks, gegen den von Eger ausgegangenen Bismarckkult schlechthin und gegen das Tragen von Abzeichen und Hissen von Fahnen in den Farben Schwarz-Rot-Gold nicht verheimlichte. Er lehnte die Alldeutschen ab, denn „für sie gibt es nur Einen Gott, der heißt Schönerer; er ist sein eigener Prophet gewesen, und seine Anhänger erkennen als Heimat nur Alldeutschland an"34). Succovatys kompromißlose, streng österreichische Haltung hat ihm seine Stellung in Graz auch nach den unglücklichen Novembertagen des Jahres 1897 erschwert. Er war erbittert, als 1898 beim Regierungsjubiläum des Kaisers der Gemeinderat durch vorwiegend schwarz-rot-goldene Fahnen auf dem Rathaus die Übereinstimmung seiner Gesinnung mit der durch Schönerer und Κ. H. Wolf vertretenen extrem nationalen, alldeutschen Partei bekundete, als 1899 der Auerspergplatz in Bismarckplatz umgetauft wurde und 1908 beim 78. Geburtstag des Kaisers das Rathaus unbeflaggt blieb35). Von allen Veranstaltungen, die auf nationaler Grundlage stattfanden, hielt er sich fern, auch dann, wenn sie Wohlfahrtsziele verfolgten36). Dazu kam, daß er zurückhaltend, befangen im gesellDeutsch-österreichisch-ungarischer Wirtschaftsbund. — J. S z t e r e n y i , Das Problem der Schaffung „Mitteleuropas". — Τ h. Η e u s s, Friedrich Naumann S. 439—451. 31 ) E. S u c c ο ν a t y , Deutschösterreichs Zukunft S. 9. 35

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) „Grazer Volksblatt" 19. August 1908, Morgenausgabe. — „Grazer Tagblatt" 19. August 1908, S. 1. — S u c c o v a t y hatte an das „Grazer Volksblatt" geschrieben: „Wenn Sänger oder Turner in Graz ein Fest begehen, so werden das Rathaus und die städtischen Gebäude sowie der Schloßberg in den verschiedensten Farben geschmückt und erläßt der Bürgermeister die Aufforderung an die Hausbesitzer, das gleiche bei ihren Häusern zu tun. Im Jubiläumsjahr der 60jährigen Regierung Sr. Majestät ist das allerhöchste Geburtstagsfest gewiß ein Anlaß, welcher die Herzen der Bevölkerung von Graz mindestens so freudig bewegt, als ein Sänger- oder Turnfest und bei einem großen Teile der Bevölkerung die Gemüter festlicher stimmt, als ζ. B. die Abhaltung der ,Grazer Herbstmesse', bei welcher Veranstaltung ebenfalls die Schmückung der Stadt von amtswegen empfohlen wird. Trotzdem hatte der Bürgermeister am heutigen Tage weder die Beflaggung des Rathauses verfügt, noch einen Aufruf an die Bewohner gerichtet, ihre Häuser zu beflaggen. Wohl hat der Bürgermeister, wenn in den letztverflossenen Jahren ein Mitglied des allerhöchsten Kaiserhauses in Graz weilte, nicht unterlassen, seiner und der Bevölkerung Loyalität und patriotischen Gesinnung mit Worten Ausdruck zu geben. Wenn man aber diese Tatsache dem früher Gesagten entgegenhält, so drängt sich die offene Frage auf: Handelt der Bürgermeister etwa nach dem Grundsatz: ,Richtet euch nicht nach meinen Worten, sondern beurteilt mich nach meinen T a t e n / "

) E. S u c c o v a t y , Ein alter Österreicher S. 27.

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schaftlichen Verkehr, verschlossen, abweisend und in seinem Verhalten eckig war. Als 77jähriger Mann bekennt er, es hafte ihm „einige Schroffheit" vielleicht noch immer an, weil er nicht schon in der Jugend die Gelegenheit gehabt habe, die scharfen Kanten seines Wesens abzuschleifen37). Als im Jahre 1902 das 6. Deutsche Sängerbundfest in Graz zur „Stärkung der deutschen Bestrebungen in Österreich" veranstaltet wurde, stellte Succovaty, als an ihn mit dem Ersuchen herangetreten wurde, Platzmusiken der Militärkapellen zu gestatten, die Bedingung, daß diese nur auf neutralem Boden gegenüber dem Sängerbundfest stattfinden sollten und falls eine Ausschmückung stattfinden würde, keine andere als österreichische Reichs- oder steiermärkische Landes-Embleme, also keine Fahnen in Schwarz-Rot-Gold, verwendet werden dürften 38 ). Auf dieses Verlangen hin wurde dem Statthalter Graf Clary von Bürgermeister Dr. Graf mitgeteilt, daß er auf militärische Platzmusiken verzichten müsse, da er die ernste Besorgnis habe, die vom Korpskommandanten gestellten Bedingungen, welche notwendigerweise bekannt werden würden, seien geeignet, in nationalen Kreisen große Erbitterung gegen die Militärbehörde hervorzurufen, welche zu Demonstrationen unliebsamster Art führen könnten. Außerdem wollte der Festausschuß des Sängerbundfestes lediglich die Beistellung der Musiken der deutschen alpenländischen Infanterie-Regimenter und von vornherein den Ausschluß der Musikkapellen des bosnisch-herzegowinischen InfanterieRegimentes Nr. 2, das in Graz stationiert war, und der nicht rein deutschen Infanterie-Regimeter Nr. 17 und Nr. 87, dessen Inhaber Succovaty war. Dieser stellte beim Reichskriegsminister den Antrag, da die Geschäftsführung des Sängerbundfestes von Alldeutschland und von der Liebe zum deutschen Vaterland spreche, das Fest als eine große nationale Tat bezeichnet werde und es nicht unbegründet sei, sogar die Absicht zu vermuten, mittels der Beiziehung von Militärmusiken zum Sängerfeste das Militär von Haus aus und unmittelbar in eine politische, deutschnationale Demonstration hineinzuziehen, die Militärmusiken von der Mitwirkung bei diesem Sängerfest fernzuhalten. Nicht, daß sich Succovatys Gesinnung seit Brünn gewandelt hätte. Ihm war wirklich jede nationale Regung fremd und unvereinbar mit den Begriffen „Österreicher" und „Offizier". Als 1901 ein Kriegerdenkmal zur Erinnerung an den bosnischen Feldzug errichtet wurde, ließ er zur Feierlichkeit das in Graz stationierte bosnisch-herzegowinische Infanterie-Regiment Nr. 2 ausrücken, trotz aller Vorhaltungen, dieser Akt müsse als Verletzung der nationalen Regungen der Bosniaken und als eine Provokation der deutschen Bürger in Graz, deren Angehörige in Bosnien gefallen waren, ausgelegt werden. Er verstand weder das eine noch das andere39). 3

') E. S u c c o v a t y , Südw. Kriegsgebiet S. 6 Anm. — In der vom General d. K. Graf Alexander Üxküll als Kommandant des 2. Korps verfaßten Personalbeschreibung heißt es: „Seine mitunter zu Tage tretende etwas starre und dadurch wohl etwas einseitige Auffassung der Verhältnisse wird jedenfalls durch die ernste, wirkliche Arbeit aufgewogen." (KA Wien, Personalakt.) 3S ) K. H a f n e r , Geschichte des 6. Sängerbundfestes S. 8 Anm. 5, S. 32 und 36 f. 3 ") Succovaty hatte gehofft, sein effektives 50. Dienstjahr, das 1908 zu Ende gegangen wäre, zu erreichen, um dann, wie er selbst äußerte, als ein Mann, der mit Stolz auf sein Lebenswerk blicken kann, zufrieden und ruhig aus der Aktivität auszuscheiden. Es sollte jedoch anders kommen. Bereits in den Jännertagen 1907 brachte die stets gut informierte Wiener Presse die Nachricht, daß Succovaty aus dem Dienst scheiden werde, der damals im 69. Lebensjahr stand, dabei aber noch den Anforderungen seiner Stellung vollkommen gewachsen war. Da den Pressemitteilungen kein Dementi entgegengesetzt wurde, fragte er persönlich in Wien an, ob den Gerüchten irgendwelche Berechtigung beizumessen sei. Da

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Beim Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie i m Jahre 1918 versuchte Succovaty gestaltend u n d richtungweisend einzugreifen. I m April 1919, als die Frage aktuell wurde, ob Deutschösterreich ein Teilstaat der D e u t s c h e n Republik werden sollte, hat Succovaty in einer kleinen Schrift den Standpunkt vertreten, daß die staatliche Unabhängigkeit Österreichs unter allen U m s t ä n d e n zu erhalten sei. Er hielt den Alldeutschen vor, daß sie die Brüste der Mutter Germania suchten, dabei aber nicht bedenken, daß diese für Österreich immer bloß eine Stiefmutter wäre — auch in volkswirtschaftlichen Angelegenheiten. U n d so verlangte 1919 Succovaty, daß der Deutschösterreicher die Ostmark seine Mutter nennen solle, u n d er forderte, daß, wer es mit Deutschösterreich ehrlich meine, an der Ostmark, als der Mutter des Stammes der D e u t s c h österreicher, festhalte 40 ). Eine Annäherung Österreichs an die Sukzessionsstaaten, dies zuständigen Ortes verneint wurde, kehrte er beruhigt nach Graz zurück. Einige Tage später erhielt er jedoch die dienstliche Aufforderung, seinen Posten der Kriegsverwaltung zur Verfügung zu stellen. Dieser Vorgang hat auf Succovaty, dessen Charakter den Grundzug rückhaltloser Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit zeitlebens trug, deprimierend gewirkt. Mit Wirkung vom 1. Mai 1907 schied er, einer der wenigen noch aktiven Generale, die vor dem Feldzug von 1859 in die Armee getreten waren, nach 48 Jahren und 8 Monaten Dienstzeit, davon 21 im Generalsrang, nicht als zufriedener Mann aus dem Aktivstand, sondern mit dem Gefühle unverdienter Kränkung. Die Grazer Zeitungen, die einst ihn so bekämpft und geschmäht hatten, traten nun auf seine Seite. Selbst die „Tagespost" schrieb: „So befehligte denn Succovaty das 3. Korps zehn Jahre und übergibt dasselbe seinem Nachfolger in vortrefflichstem Zustande, was gewiß für seine Kommandoführung deutlich spricht. In einer harten Lebensschule großgezogen, ist Succovaty, dem man schon als Akademiezögling großen Fleiß nachrühmte, ein entschieden fordernder Vorgesetzter geworden, der — mitunter pedantisch und minutiös das Detail des Dienstes überwachend und von seinen Auffassungen nicht handbreit abgehend — mit voller Gerechtigkeit und ausgesprochenem Wohlwollen seine Untergebenen behandelte und beurteilte, sich für deren Interessen einsetzte, für sie sorgte und den man mit Bedauern scheiden sieht." Succovatys Nachfolger wurde der um 14 Jahre jüngere F M L Oskar Potiorek. Die Kränkung, die Succovaty zugefügt worden war, sollte durch seine „als Anerkennung für die in Krieg und Frieden geleisteten ausgezeichneten Dienste" am 27. Mai 1907 erfolgte Erhebung in den erblichen österreichischen Freiherrenstand und durch seine Ernennung zum General d. I. im Jahre 1908 aufgewogen werden. Es ist ein in vielen Personalabteilungen der Regierungen eingewurzelter Irrtum, zu glauben, treue Staatsdiener wie leblose Schachfiguren einem angeblich höheren Zwecke opfern und unnotwendige persönliche Kränkungen nachträglich mit Orden und Auszeichnungen gutmachen zu können. Wirklichen Persönlichkeiten geht es nicht um äußere Ehrungen, sondern um die innere Ehre. Da der einzelne mit seinem persönlichen Einsatz, seiner Hingabe und seiner persönlichen Verantwortung den Staat trägt, hat dieser über die mehr oder minder angemessene geldliche Entlohnung der geleisteten Dienste hinaus seinen Beamten Schutz angedeihen zu lassen und zu überprüfen, ob nicht hinter geplanten personellen Veränderungen der persönliche, unmotivierte Ehrgeiz eines einzelnen steht, der laut auf seine Verdienste pocht, während der Tüchtige meistens bescheiden und still seines Weges geht. 40 ) E. S u c c o v a t y , Deutschösterreichs Zukunft S. 9 und 14 f. — Schon in einer in beschränkter Zahl vervielfältigten und an Ämter und Politiker verteilten, nicht gerade sehr originären Denkschrift vom 22. November 1917 wies Succovaty darauf hin, daß die Situation die Ordnung der Verhältnisse im Südosten der Monarchie durch die Zusammenlegung Kroatiens, Dalmatiens und Bosniens in ein einheitliches Verwaltungsgebiet gebieterisch fordere. Eine Angliederung der Slowenen in Krain, in der Südsteiermark sowie im Territorium von Triest und dem Küstenlande an diesen Länderkomplex lehnte Succovaty ab, da es geographisch und politisch ein Unding wäre und die wirtschaftlichen In-

Statthalter Oliver Marquis Bacquehem

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„vielleicht auch eine engere Verbindung mit ihnen", sah er als die zukunftweisende Aufgabe Österreichs an41). Zwischen FML von Succovaty als Kommandierendem General und Bürgermeister Dr. Graf stand 1897/98 als Repräsentant der staatlichen Autorität der Statthalter, Oliver Marquis de Bacquehem, der sich vergeblich um eine Beruhigung der politischen Situation in Graz und um einen Ausgleich zwischen der Stadtgemeinde und der Militärbehörde bemühte. Oliver Marquis von Bacquehem42) war am 26. Juni 1886 in das Ministerium teressen der Slowenen vorwiegend an Österreich geknüpft seien. Triest von Österreich abzuschnüren, würde das Lebensinteresse des Staates verletzen. Um einen Trialismus zu verhindern, forderte er dieses neue autonome Verwaltungsgebiet als gemeinsamen Besitz Österreichs und Ungarns. Diese Idee verfocht er in Zeitungsartikeln und griff sie in einer Broschüre im September und in den entscheidenden Oktobertagen 1918 neuerdings auf. (E. S u c c o v a t y , „Schwanengesang? eines alten Österreichers".) Er wirft darin den Regierungen von 1867 bis 1914 Gleichgültigkeit vor gegenüber den Anbiederungen der Tschechen an Rußland und Frankreich, Gewährenlassen der russischen Wühlarbeit in Galizien, ängstliches Auftreten gegen die auf österreichischem Gebiete offen zutage getretene Irredenta und Nichtunterbindung der serbischen Umtriebe in den österreichischen, von den Südslawen bewohnten Gebieten. Den Deutschen hält er vor, dadurch gefehlt zu haben, daß sie oft genug geneigt waren, den Kampf gegen nationale und kulturelle Bestrebungen der Nichtdeutschen höher zu stellen als die Sorge für die staatlichen Bedürfnisse. Geeinigt unter dem Wahlspruch „Wir stehen für Österreich ein", wären sie eine starke moralische Macht gewesen. Nach der Ausrufung der Republik trat Succovaty vergeblich beim Staatsrat für die Erhaltung wichtiger Einrichtungen, so der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt ein. 41 ) Am Sonntag, dem 10. August 1919 erschoß sich Succovaty in seiner Wohnung. Eine stadtbekannte Persönlichkeit war dahingegangen. Vergessen war aller Haß, alle Feindschaft. Die Grazer Zeitungen brachten spaltenlange Berichte. Es sei sein Gemüt umdüstert gewesen und er habe seit dem Umsturz oft durch Wochen kein Wort gesprochen. Er sei blasenleidend und durch wassersuchtartige Erscheinungen am Gehen behindert gewesen. Seine Gattin Wilhelmine, eine geborene Kunewalder, mit der er sich am 23. Februar 1873 verehelicht hatte, war längst gestorben. Er war einsam geworden, und er, der bei der Hochzeit Kaiser Franz Josephs mit Elisabeth von Bayern am 24. April 1854 als Page gedient hatte, der beim Leichenkondukt Radetzkys im Jänner 1858 als Kadett mitmarschiert war und die glanzvollsten Tage der franzisko-josephinischen Ära miterlebt hatte, verstand die Welt nicht mehr. In einem Nachruf heißt es: „Still wollte er vermutlich aus einer Welt scheiden, die ihm kaum anderes mehr zu bieten hatte als Ungemach." Das ist auch der Schlüssel zum eigentlichen Grund, warum Succovaty selbst zur Pistole griff. Er hatte eine große Wohnung in der Elisabethstraße, dicht behängt die Wände mit Erinnerungsgegenständen. Da er alleinstehend war, forderte der Soldatenrat die Wohnung an. Bei einer Besichtigung seiner Räume fielen harte Worte. Mit solchem Gesindel verhandle ein österreichischer General nicht. Was Succovaty in seiner Erregung aussprach, genügte für einen Ehrenbeleidigungsprozeß. Aber so weit ließ es ein österreichischer General gar nicht kommen, sich vor Gericht als von einem „Gesindel" Beschuldigter verantworten zu müssen. Ein langes Leben hatte sich damit erfüllt. " ) Bacquehem war am 25. August 1847 in Troppau geboren worden. Er empfing seine Ausbildung im Theresianum und trat nach Absolvierung der juridischen Studien zunächst in die Gerichtspraxis. 1870 wurde er ins Unterrichtsministerium von Karl v. Stremayr berufen, der während seiner zweiten Ministerpräsidentschaft den jungen Vizesekretär Bacquehem mit der Leitung der Präsidialabteilung betraute. 1873 ging Bacquehem in die politische Verwaltung erster Instanz und stand bei den Bezirkshauptmannschaften Neutitschein, Mistek und Budweis in Verwendung, bis er als Bezirkshauptmann nach Teschen berufen wurde. Nach der Okkupation von Bosnien und der Herzegowina meldete er sich zur neuerrichteten Landesregierung in Sarajevo. Unter dem Ministerpräsidenten Graf

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Taaffe als Handelsminister 43 ) berufen worden, was von der deutschen liberalen Presse als ein Akt von Rückbildung des Kabinetts Taaffe nach der deutschen Seite hin begrüßt worden war. Nach dem Sturze Taaffes trat Bacquehem als Minister des Innern in die Regierung Windischgrätz ein. Da der Cillier Gymnasialstreit sein Ressort nicht beschäftigte, blieben ihm die Sympathien der nationalen deutschen Kreise erhalten. Nach dem Rücktritt des Koalitionsministeriums suchte Bacquehem vom Kaiser mit der Kabinettsbildung betraut zu werden, doch zog dieser den Grafen Kielmannsegg vor, obwohl sich Bacquehem, der die Lage rasch durchschaute, vor dem vom Kaiser bereits ausersehenen Grafen Kielmannsegg bei Franz Joseph zur Audienz gemeldet hatte, in der Hoffnung, den Kaiser umstimmen zu können44). Mit kaiserlichem Handschreiben vom 10. Oktober Taaffe, seinem Onkel, den er sehr verehrte und dessen hervorragende staatsmännische Begabung er rückhaltlos bewunderte, kam er für kurze Zeit zur Statthalterei in Linz, um dann am 15. September 1882 zum Landespräsidenten von Schlesien ernannt zu werden. In dieser Stellung erwarb er sich die allgemeinen Sympathien durch eine strenge Unparteilichkeit und seinen Eifer in der Förderung der Landesinteressen. 43 ) Als Bacquehem das Handelsministerium übernahm, beschäftigte sich der Reichsrat bereits mit den Ausgleichsgesetzen, welche die Regierungen Österreichs und Ungarns vereinbart hatten. Im Zoll- und Handelsbündnis zwischen Österreich und Ungarn vom 24. Dezember 1867 waren die Städte Fiume und Triest als Freihäfen vom gemeinsamen Zollgebiet ausgeschlossen. Bei der Erneuerung des Bündnisses im Jahre 1878 wurde die Aufhebung dieser Zollausschlüsse gegenseitig zugesagt. Mit Gesetz vom 28. Mai 1887 wurde die Einbeziehung des Freihafengebietes von Triest und Fiume in das allgemeine österreichischungarische Zollgebiet bis spätestens 31. Dezember 1889 verordnet, doch der Termin mit Gesetz vom 30. April 1889 auf Grund des zwischen den beiden Ministerien gepflogenen Einvernehmens bis 1. Juli 1891 verlängert. An diesem Tage erlosch das Freihafenprivileg Kaiser Karls VI. vom 18. März 1719 für beide Hafenstädte. Dadurch wurde eine besondere Fürsorge für die Handelsverhältnisse von Triest notwendig, deren sich Bacquehem als Ressortminister besonders annahm. Der „Lloyd" wurde 1891 unter seiner Leitung durch eine gründliche Reform saniert und bei dieser Gelegenheit die Beziehung zur ungarischen Regierung gelöst, weshalb der alte Name „Österreichischer Lloyd" wiederhergestellt wurde. (E. B e c h e r , Lloyd S. 494 f.) Bacquehem förderte weiters die österreichischen Staatsbahnen (A. C ζ e d i k , Österr. Staatsbahnen), die Donau-Dampfschiffahrtsgesellschaft, das Post-, Telegraphen- und Telephonwesen, dem er besondere Aufmerksamkeit schenkte. Er schuf die gesetzlichen Grundlagen für die Ausführung der Wiener Stadtbahn und damit verbunden der Donaukanal- und Wienflußregulierung. Bacquehems „eigentliches Lebenswerk, seine Freude und sein Stolz" (O. L e c h e r , Olivier Μ. Bacquehem) waren die Handelsverträge, die im Dezember 1891 zwischen Österreich-Ungarn, Deutschland, Italien, Belgien und der Schweiz wechselseitig auf die Zeit von zwölf Jahren abgeschlossen wurden. Diese Dezemberverträge, welchen den amtlichen Motiven gemäß die Absicht zugrunde lag, „das wirtschaftliche Gebiet der beteiligten Staaten zu sichern und später auch zu erweitern", wurden als „mitteleuropäisches Vertragssystem" bezeichnet. (Α. Β r i f , Handelsverträge S. 704 ff.) Die Vorlagen für die großen sozialen Wohlfahrtseinrichtungen, wie Kranken- und Unfallversicherung, hatte ebenfalls Bacquehem eingebracht. (Vgl. dazu O. S t ö g e r , Arbeiterkrankenversicherung S. 228 ff.; D e r s., Arbeiterunfallversicherung S. 263 ff.) Noch 1917 konnte Otto L e c h e r in seinem Nachruf auf Olivier Marquis Bacquehem („Neue Freie Presse" 24. April 1917, Morgenausgabe S. 1) schreiben, daß diesem „nahezu die ganze soziale Gesetzgebung, deren sich Österreich erfreut", zu verdanken ist. „Sein Name wird in der Ruhmeshalle des Friedens dauern neben jener von List, Bruck und Schwarzenberg." — Vgl. auch A. C ζ e d i k , österr. Ministerien I, S. 374—381. — G. Κ ο 1 m e r , Das Herrenhaus S. 66—69. — Im November 1886 erhielt Bacquehem die Würde eines Geheimen Rates verliehen. " ) J. R e d l i c h , Tagebuch I. S. 109 f. Tagebucheintragung vom 9. November 1911 nach einer Erzählung Kielmannseggs.

Statthalter Oliver Marquis Bacquehem

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1895 wurde Bacquehem als Nachfolger des Freiherrn Guido Kübeck von Kübau zum Statthalter in der Steiermark ernannt. Kübeck, dessen Enthebung als Statthalter am gleichen Tage erfolgte, hatte seit 28. Mai 1870 dieses Amt bekleidet, und sein Abgang wurde aufrichtig und allgemein betrauert45). Trotzdem war die Begrüßung Bacquehems durch die Grazer Tagesblätter einschließlich des „Grazer Tagblattes"46), das ihn als einen wohlerfahrenen, in der politischen Landesverwaltung bestens bewährten Staatsmann von reichen Talenten rühmte, durchwegs freundlich und wohlwollend. Ihm war als Statthalter in Graz aber keine so lange Tätigkeit wie seinem Vorgänger oder seinem Nachfolger beschieden. Während der stürmischen Ereignisse des Jahres 1897/98 in Graz war es ihm nicht gelungen, normale Verhältnisse zwischen der Gemeinde und dem Korpskommando anzubahnen, und als Bürgermeister Dr. Graf nach seiner Enthebung als Stadtoberhaupt im Juni 1898 mit überwältigender Mehrheit im Herbst wieder gewählt wurde, trat Bacquehem mit 1. Dezember 1898 aus „Gesundheitsrücksichten" zurück. An seine Stelle wurde Manfred Graf Clary und Aldringen berufen, welcher der letzte k. k. Statthalter in der Steiermark sein sollte47). Allgemein wird Bacquehems große Rednergabe hervorgehoben48). Ihre Stärke bestand nicht in hinreißender Wärme, dafür aber in der formal glatten, scharf treffenden Weise, mit der er den Gegner zu erfassen wußte. „In diesem Sinne waren die in den Delegationen erstatteten, nicht selten mit feiner Satire gewürzten Berichte über die politischen Verhältnisse von Land und Leuten stets der Gegenstand des größten Anreizes."49) Er konnte seine französische Abstammung nicht verleugnen, doch verschafften ihm sein prickelnder Geist und seine Medisance ebenso viele Feinde wie Bewunderer50). Er kannte die Hauptakteure auf der politischen Bühne Österreichs fast alle und versagte sich nicht, sie scharf, oft 15

) So die Würdigung Kübecks im „Tagblatt" 13. Oktober 1895, S. 1 f. und 14. Oktober S. 3; „Tagespost" 13. Oktober 1895, S. 1 f. — Vgl. auch K. V e r b a , Guido Freiherr Kübeck. Gerade die nationalen Gegensätze zwischen den Slowenen und den Deutschen hatte Kübeck als Statthalter stets zu überbrücken versucht. " ) „Tagblatt" 9. Oktober 1895, S. 1. *7) E. F l o o h - W a g n e s , Manfred Graf Clary und Aldringen. 48 ) Bacquehem, mit dem Großkreuz des Stephans- und Leopolds-Ordens sowie mit dem Ritterkreuz des Eisernen-Kronen-Ordens 1. Klasse dekoriert, war seit 1895 Mitglied des Herrenhauses des Reichsrates, wo er viele Jahre über den Voranschlag des Ministeriums des Äußern berichtete. Im Jahre 1900 wurde er Mitglied des Verwaltungsgerichtshofes, kurz darauf dessen Senatspräsident und 1908 Erster Präsident dieses Gerichtshofes. Er hat diesen bis zu seinem Tode mit kundiger und sicherer Hand geleitet und für eine ebenso rasche wie gründliche Arbeit dieser Institution gesorgt, was im kaiserlichen Handschreiben vom 30. Oktober 1916 anerkennend und rühmend hervorgehoben wurde. Dr. Heinrich Freiherr von R e i s s i g , Senatspräsident am Verwaltungsgerichtshof, hob in gleicher Weise in seinem „Gedenkblatt" („Neue Freie Presse" 23. April 1917, Nachmittagsblatt S. 3) hervor: „Insbesondere ist es seinen unermüdlichen Anstrengungen gelungen, den langjährigen Übelstand großer Rückstände vollständig zu beseitigen und auch die Einheitlichkeit der Rechtssprechung zu fördern." Fast 70jährig, starb er am 22. April 1917 in Wien. (Nachrufe auch im „Grazer Tagblatt" und in der „Tagespost" am 23. April 1917.) Josef Redlich hat am gleichen Tag in sein Tagebuch eingetragen: „ . . . erzählt mir telephonisch, daß heute nacht Marq,uis Bacquehem gestorben ist. Er war ein merkwürdiger Mensch, ein ,Emigre' von Coblentz, der im Österreich Franz Josephs geboren und aufgewachsen war und — österreichischer Staatsmann wurde." (J. R e d l i c h , Tagebuch II, S. 201.) *·) A. C ζ e d i k, österr. Ministerien I, S. 380. " ) Α. Ρ ο 1 ζ e r - Η ο d i t ζ , Kaiser Karl S. 98.

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VII. Reaktion der Alpenländer auf die Badenischen Sprachenverordnungen

wenig anerkennend zu beurteilen, doch tat er es nie ohne ein geistreiches Aper£u, nie ohne Witz. Arthur Graf Polzer-Hoditz, der spätere Kabinettschef Kaiser Karls und Schwager Bacquehems, bekennt, er habe, als junger Konzipist in Graz dem Statthaltereipräsidium zugeteilt, von keinem seiner Vorgesetzten für seinen Beruf so viel gelernt, wie von Bacquehem, „diesem geistvollen und hochgebildeten Mann, der in Minuten erledigte, womit sich andere tagelang abplagten". Weniger erfreulich ist die Charakteristik, die Ernst von Plener in seinen Erinnerungen bei der Behandlung des Kabinetts Windischgrätz gibt, dem beide angehört hatten. Bacquehem habe ihn enttäuscht, denn dieser habe keine feste politische Gesinnung und keinen Ernst gehabt, er sei leichtfertig und innerlich hohl gewesen51) und habe sich mit einigen schlechten Witzen über schwierige Lagen hinweggeholfen. „Er hatte", schreibt Plener weiter, „die Geläufigkeit des geschulten Beamten, ohne Gründlichkeit, war flink und geschickt mit der Feder, sprach gut und geistreich, wenn auch seine großen Reden sorgfältig und nicht immer von ihm ausgearbeitet waren, die er aber dann mit bewundernswertem Gedächtnis sehr hübsch in der Öffentlichkeit vortrug."52) Es ist hinzuzufügen, daß Ernest von Koerber, der spätere Ministerpräsident es war, der für Marquis Bacquehem, als dieser Handelsminister war, so manche Rede verfaßt hatte. Der geistreiche Bacquehem hatte sehr schnell Koerbers Fähigkeiten erkannt und dem jungen Präsidialisten die Leitung der Präsidialkanzlei des Handelsministeriums übertragen53). Die Zukunft der Monarchie beurteilte Bacquehem stets pessimistisch. Er sah das herannahende Schicksal und zur Zeit der Annexionskrise äußerte er sich gegenüber Graf Polzer-Hoditz, daß ein alter Staat wohl eine ungeahnt große Lebens- und Widerstandskraft besitze, er aber doch die Tage der österreichischungarischen Monarchie für gezählt ansehe84). Ausgleichend hätte in Graz 1897/98 auch Landeshauptmann Gundaker Graf Wurmbrand-Stuppach wirken müssen, allein er war krank und zu einem aktiven Eingreifen nicht mehr fähig. Er war wie Bacquehem in das Ministerium Windischgrätz, und zwar als Handelsminister, berufen worden — ein Entgegenkommen gegenüber den deutschen Alpenländern, die berechtigt über die Vorherrschaft der Deutschböhmen klagten. Wurmbrands Ernennung löste „aber doch gewisse Unzufriedenheiten aus"55), vor allem eben bei den übergangenen Deutschböhmen. Plener charakterisiert ihn als geistreichen Autodidakten, etwas sprunghaft und jeder Schablone abhold, voll origineller Gedanken und kühner Pläne, mit rascher Auffassung und schneidigem Entschluß. Seine politische und deutsche Gesinnung sei über jeden Zweifel erhaben und sein unabhängiger Charakter eine Bürgschaft für seine Haltung in dem so vielen Einflüssen ausgesetzten Ministerium gewesen, allein er habe durch kleine Fehler vielfach die Kritik herausgefordert. Wurmbrand war 1878 durch den Großgrundbesitz in den steirischen Landtag und 1879 durch die Grazer Handelskammer in das Abgeordnetenhaus gekommen, Am 3. September 1884 wurde er zum Landeshauptmann von Steiermark ernannt, 51

) Ebenso beurteilte ihn Josef R e d l i c h , wenn dieser am 30. April 1916 in sein Tagebuch (II, S. 113) die Bemerkung einträgt: „Ob sein Hauptgewährsmann, der Marquis Bacquehem, wirklich mehr als Klatsch weiß ?" ") Ε. Ρ 1 e η e r, Erinnerungen III, S. 115. 53 ) Κ. Τ s c h u ρ ρ i k, Franz Joseph S. 464. 54 ) Α. Ρ ο 1 ζ e r - Η ο d i t ζ , Kaiser Karl S. 101. ") Ε. Ρ 1 e η e r, Erinnerungen III, S. 109 f. — A. C ζ e d i k, österr. Ministerien II, S. 2—34, vor allem S. 33 f.

Landeshauptmann Gundaker Graf Wurmbrand-Stuppach

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da sein Vorgänger Dr. Moriz Blagatinschegg Edler von Kaiserfeld, der wenige Monate später (Februar 1885) starb, eine Wiederwahl abgelehnt hatte. Nach seiner Ministerzeit wurde er am Beginn der neuen Landtagsperiode, am 15. Dezember 1896, zum zweitenmal vom Kaiser zum Landeshauptmann bestellt. Ihm hat das Joanneum seine Reorganisation und sein Statut von 1887 zu verdanken56). Im Reichsrat war er durch die Forderung, die deutsche Sprache als Staatssprache zu erklären, hervorgetreten57). Am 30. November 1897 teilte er, da Landesausschußbeisitzer Dr. Schmiderer gegen seine Intentionen eine Dankeskundgebung der Studenten entgegengenommen hatte, schwer krank, dem Statthalter seine Resignation auf die Würde eines Landeshauptmannes mit. Die Würdigung in der „Tagespost" ist kurz und vornehm, obwohl eingestanden wird, daß sie wiederholt „— auch in politischer Richtung — in Opposition gegen einzelne Maßregeln des scheidenden Landeshauptmannes" gestanden sei. Das „Grazer Tagblatt" sieht einen Gegner scheiden, der zwar im „allgemeinen der liberalen Partei" angehörte, jedoch gewagt hatte, „in manchen Fällen das Staatsinteresse über das nationale" zu stellen. Ihm wurde vom „Tagblatt" zudem nicht verziehen, daß er jenem Ministerium angehört hatte, das im Fall „Cilli" den Slowenen zu einem „unverdienten Sieg" verholfen, und daß er immer eine friedliche Zusammenarbeit mit den Slowenen angestrebt hatte58). Zum Nachfolger Wurmbrands wurde mit kaiserlicher Entschließung vom 14. Dezember 1897 der Geheime Rat und Landtagsabgeordnete Edmund Graf Attems69) ernannt, der bereits vom 14. Dezember 1893 bis 15. Dezember 1896, also während der Ministerzeit Wurmbrands, dieses Amt bekleidet hatte. Die neuerliche Ernennung wurde von der deutschnationalen Presse neutral und ohne Kommentar veröffentlicht, dagegen nahm die slowenische eine feindliche Stellung ein. So schrieb die Zeitung „Slovenski Narod" am 18. Dezember 1897: δβ

) Α. L u s c h i n - E b e n g r e u t h , Das Joanneum S. 132 ff. " ) Siehe I. Band S. 88 ff. 58 ) „Tagespost" und „Tagblatt" vom 1. Dezember 1897. — Wurmbrands Stellvertreter wurde mit Allerh. Entschließung vom 21. September 1890 der Slowene Dr. Franz Jurtela, Grundbesitzer und Advokat in Pettau (L.G. Pettau), dem 1896 ebenfalls ein Slowene, der Cillier Advokat Dr. Josef Sernec (L.G. Cilli) folgte. " ) Vgl. auch F. I I w o l f , Die Grafen von Attems. — V. v. G e r a m b , Verewigte Gefährten S. 9—12. Geramb schreibt: „Bekannter ist jene denkwürdige Landtagssitzung des Jahres 1912, die die slowenische Obstruktion durch Dauerreden sprengen wollte. Sie hofften, den Landeshauptmann zu zwingen, doch einmal seinen Sessel zu verlassen und den Vorsitz seinem slowenischen Stellvertreter abtreten zu müssen. Doch der Graf rührte sich 36 Stunden nicht vom Platze, bis die Obstruktion aus Ermüdung zusammenbrach." Dazu ist festzuhalten, daß im Jahre 1912 überhaupt nur fünf Sitzungen des steiermärkischen Landtages, und zwar in der Zeit vom 16. bis 30. Jänner, abgehalten wurden, wobei es bei keiner einzigen zu Obstruktionsreden kam und keine das Ausmaß von vier Stunden überschritt. Die bekannte Obstruktionssitzung in der steirischen Landstube fand am 15. Oktober 1913 statt, die etwas mehr als 21 Stunden dauerte und bei der nicht die Slowenen, sondern die sozialdemokratischen Abgeordneten Albert Horvatek, Michael Kollegger, Johann Resel und Dr. Michael Schacherl die Erhöhung der Biersteuer durch Obstruktionsreden zu verhindern suchten. Zu einem ernsthafteren Zusammenstoß zwischen den deutschen und den slowenischen Abgeordneten im steiermärkischen Landtag kam es während der II. Session der X. Landtagsperiode, die vom 16. Jänner 1912 bis zum 3. März 1914 währte, eigentlich nur in der 26. (Abend-) Sitzung am 2. März 1914, die jedoch auch nach rund zwölf Stunden beendet wurde. (Vgl. Stenogr. Protokolle des stmk. Landtages X/ II. Session.) — Zur Tätigkeit der Landeshauptleute Graf Wurmbrand und Graf Attems vgl. auch: Die Landesvertretung der Steiermark Band 5—8.

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VII. Reaktion der Alpenländer auf die Badenischen Sprachenverordnungen

„Wir hatten nicht erwartet, daß statt des Grafen Wurmbrand wieder Graf Edmund Attems zum steirischen Landeshauptmann ernannt werden würde. Wurmbrand hat abgedankt, damit die Leitung des Landtages nicht an den Landeshauptmann-Stellvertreter Dr. S e r η e c übergehe. Mit der Ernennung des Grafen Attems ist der G e g e n s a t z zwischen den slowenischen und deutschen Abgeordneten im steirischen Landtage bedeutend v e r s c h ä r f t worden. Attems hat bei dem bekannten Cillier Antrage, wegen dessen die slovenischen Abgeordneten aus dem Landtage austraten, seine g a n z e g i f t i g e F e i n d s c h a f t gegen die slovenische Bevölkerung dieses Landes gezeigt, und weil er auch ein äußerst p a r t e i i s c h e r M e n s c h , von provocatorischer Natur ist, ist es ganz natürlich, daß wir Slovenen mit ihm ganz und gar nicht zufrieden sind. Die Regierung irrt sich sehr, wenn sie glaubt, mit der Ernennung des Grafen Attems unsere Deutschnationalen gewonnen zu haben. D i e s e b e r e i t e n sich jetzt s c h o n auf g e w i s s e E r k l ä r u n g e n im n ä c h s t e n L a n d t a g e vor, und Graf A t t e m s ist mit i h n e n im E i n v e r s t ä n d n i s . Die nächste Session des Landtages wird infolgedessen sehr interessant, wenn nicht gar stürmisch werden. Wir steirischen Slovenen erwarten, daß unsere Abgeordneten kräftig, entschieden und unerschrocken unsere Rechte verteidigen werden. Schläfriges Diplomatisieren hilft nichts."

Wie Wurmbrand, so hat auch Attems in die Ereignisse der Jahre 1897/98 in Graz nicht unmittelbar eingegriffen. Dagegen trat als ein Hauptakteur auf der Bühne des politischen Geschehens im Herbst der für das Studienjahr 1897/98 zum Rektor der Karl-Franzens-Universität gewählte Kanonist Friedrich Thaner hinzu60). Ein stiller, bescheidener Mann von verschlossenem Wesen, der wenig die Berührung mit der Öffentlichkeit suchte, „hochverdient als Editor wie als scharfsinniger Quellenkritiker und -historiker". 1871, nach Ausbildung am Österreichischen Institut für Geschichtsforschung, als Privatdozent für Kirchenrecht an der Grazer Universität zugelassen, übernahm er im Sommersemester 1871 die Supplierung der erledigten Lehrkanzel und folgte im Herbst des gleichen Jahres einem Ruf an die Innsbrucker Universität, wo er 1885/86 die Rektorswürde bekleidete. Am 5. Juni 1888 wurde ihm die Grazer Lehrkanzel für Kirchenrecht verliehen, die er bis zu seiner Emeritierung im Sommer 1907 innehatte. Eine Anfrage, ob er einer Berufung nach Wien Folge leisten würde, wies er 1894 von vornherein ab. Thaner war ein gewissenhafter Forscher, „schon in den Vorarbeiten streng solid und zuverlässig, vorsichtig und besonnen in seinem Urteile, aber klar, scharf und bestimmt in der Fassung seiner Resultate". Einzelne Schriften von ihm waren geradezu „bahnbrechend", seine Editionen mustergültig und seine Darstellung einzelner Probleme wurde „in allen ihren wesentlichen Ergebnissen zum unanfechtbaren Gemeingut" von Wissenschaft und Lehre. Als Professor wirkte Thaner, der die Quellenlehre viel zu sehr in den Vordergrund stellte, langweilig, so daß er wenig Hörer hatte61). Seine wissenschaftliche Objektivität bewies er während seines Innsbrucker Rektorates, indem er sich für den von den Liberalen abgelehnten Historiker Josef Hirn und dessen Ernennung zum Extraordinarius für allgemeine Geschichte aus fachlichen Gründen einsetzte62), obwohl er selbst alles eher als klerikal oder katholisch war. Über seine Weltanschauung erfahren wir zwar aus seinen Schriften kaum etwas, höchstens aus seiner Innsbrucker eo

) Geb. 5. März 1839 in Linz. — Vgl. N . G r a s s , Kirchenrechtslehrer S. 182—184. — H. S i n g e r , Friedrich Thaner. — R. v. S c h e r e r, (Nekrolog) Friedrich Thaner. — Α. Ρ ö s c h 1, Friedrich Thaner f . — U. S t u t z , Die kirchliche Rechtsgeschichte S. 42. — J. F. v. S c h u l t e , Canonisches Recht III/l, S. 441. el ) Briefliche Mitteilung von Professor N i k o l a u s G r a s s , Innsbruck, wofür ich diesem aufrichtig danken möchte. — D e r s., Kirchenrechtslehrer der Univ. Graz S. 239—253. e2 ) L. ν. Ρ a s t ο r, Tagebücher S. 189.

Rektor Professor Dr. Friedrich Thaner

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Rektoratsrede63), die von katholischer Seite beanstandet wurde61), wohl deshalb, weil er mit der Feststellung Schloß, das kanonische Recht habe eine Reihe von Privilegien für den geistlichen Stand ausgebildet. Ein Privilegium, das wichtigste, werde nie aufgezählt, es ließe sich aber als Privilegium rationis bezeichnen, als das Vorrecht der Geistlichkeit, dem Denken die Grenzen zu ziehen, die Vernunft im Dienste der geistlichen Interessen zu halten. Mit dieser Geisteshaltung stimmt eine von Ludwig von Pastor überlieferte Äußerung des während des Weltkrieges (am 12. Juli 1916) wegen Hochverrates in Trient hingerichteten Dr. Fabio Filzi überein. Dieser soll dem Kuraten, der ihn auf den Tod vorbereiten wollte, gesagt haben, „seinen Glauben habe er auf der Universität in Graz verloren, wo er den Professor Thaner hörte, der dort Kirchenrecht vortrug"64). Die politischen Ansichten Thaners können wir seiner ebenso berühmten als unglücklichen Landtagsrede vom 8. Februar 1898 entnehmen, in der er sich zu schweren Ausfällen gegenüber den slawischen Stämmen Österreichs hinreißen ließ und erklärte, die Deutschen würden durch den Zwang, eine slawische Sprache zu lernen, geradezu von ihrem geistigen Niveau herabgedrückt werden65). Noch deutlicher tritt uns seine Gesinnung in seinen vor Studentenkommersen gehaltenen Festansprachen entgegen. Er versuchte keineswegs die studentische Bewegung, der er innerlich zustimmte, als Rektor in den notwendigen Schranken zu halten. Die „Allmutter Germania" war auch für ihn das politische Idealbild, das durch die geforderte Freiheit von Rom nur noch an Glanz gewann. Bei aller Entschiedenheit seines nationalen und politischen Standpunktes fehlten ihm, seinem Wesen nach, die Voraussetzungen, in der Politik als Politiker bestehen zu können. Im Unglücksjahre 1897/98, durch die von den Studenten getragenen Ereignisse an der Grazer Universität unmittelbar als deren Rektor betroffen und durch die, kraft seines Amtes, für das Jahr seines Rektorates ihm zustehende Virilstimme im steiermärkischen Landtag in den Vordergrund der politischen Bühne geschoben, wurde er eine der treibenden Kräfte in diesem unglücklichen Spiele, von der Überzeugung geleitet, daß er seinem Volke einen Dienst erweise und daß die dem Gelehrten zustehende Pflicht der weisen Beurteilung der Gegenwart eine völkisch zu verdammende Schwäche wäre. Als Thaner am 29. November 1915 in Graz, wenige Monate nach seinem Landsmann, Studiengenossen und Freund Heinrich Brunner, starb, schrieb Heinrich Singer in einer Fußnote zu dem von ihm verfaßten Nekrolog: „Wir würden es nicht für richtig halten, hier etwa auch auf diese politische Tätigkeit Thaners näher einzugehen und dieselbe in ihrem Zusammenhange mit den Verhältnissen und Zuständen, mit den Ereignissen kritischer Tage jener Epoche zu schildern. Gewiß wird ja der Gegensatz der Weltanschauungen und der durch denselben begründeten politischen Programme auch in späterer Zeit stets seine Bedeutung behaupten; diese Gegensätze werden für die politischen Parteien Deutsch-Österreichs auch in Zukunft richtunggebend sein. Aber wenn einmal der Zeitabstand es gestatten wird, die Kämpfe der Epoche, in welche Thaners politisches Auftreten fiel, von einer höheren Warte aus zu beurteilen, wird man wohl auch allgemein das Verständnis dafür gewinnen, daß zu jener Zeit die Gegensätze unter den Deutschen Österreichs sich so verschärft hatten, weil eben auch deutsche Parteien die Gefahren einer von ihnen unterstützten Politik für Staat und Nation nicht rechtzeitig erkannten und deshalb dieser Politik — obwohl sie dieselbe, ohne ihren Grundsätzen zu vergeben, hätten bekämpfen können — damals noch Gefolgschaft leisteten." **) F. T h a n e r , Abälard u. das kan. Recht. ·*) L. v . P a s t o r , Tagebücher S. 651.—N. G r a s s , Kirchenrechtslehrer S. 182f. Anm. 180e. ") Siehe I. Band S. 86 f. 3

Sutter, Sprachenverordnungen II.

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VII. Reaktion der Alpenländer auf die Badenischen Sprachenverordnungen

Als führende Männer bei den gegen Badeni gerichteten Ereignissen in Graz sind noch die bedeutsameren Reichsrats- und Landtagsabgeordneten wie Viktor von Hochenburger, Julius von Derschatta und Paul Hofmann von Wellenhof zu nennen. Die Regie aber lag bei der deutschnationalen Studentenschaft, die zeitweilig von der Sozialdemokratischen Parteileitung unterstützt wurde, und beim „Grazer Tagblatt", dessen aufhetzende Schreibweise für den blutigen Zusammenstoß am 26. November 1897 mitverantwortlich zu machen ist. Dieses „Tagblatt" bestand zwar schon seit dem 30. August 1891, war aber erst zu Beginn des Jahres 1897 von der Deutschen Volkspartei gekauft und zu ihrem Organ für die Alpenländer gemacht worden. Der Hauptschriftleiter, Hermann Kienzl, ein verbummelter, von der Grazer Universität relegierter Student, manövrierte das „Tagblatt" in einen Radikalismus hinein, der nur von den Organen Schönerers und Karl Hermann Wolfs übertroffen wurde, dessen bedingungsloser Gesinnungsgefährte Kienzl war. Haltung und Richtung des „Tagblattes", von den Burschenschaften getragen und gedeckt, hätten allerdings nicht Zustimmung gefunden, wenn nicht die Voraussetzungen dazu gegeben gewesen wären. In diesem Zusammenhang braucht nur an die Affäre „Cilli", die Richard Charmatz einen Markstein in der Geschichte Österreichs nennt 66 ), und ihre gewissen- und sinnlose Übersteigerung erinnert sowie auf das von den Slowenen oft bekundete politische und staatsrechtliche Programm und auf die Spannungen wegen der sprachlichen Verhältnisse bei den Gerichten im steirischen Unterland verwiesen werden. Baron Alois Prazak, als Führer der gemäßigten Tschechen stets bestrebt, die vorhandenen Rechtsverhältnisse zugunsten der slawischen Sprachen auszulegen, hatte als Leiter des Justizministeriums in den Jahren 1881 bis 1887 auch in der Steiermark regelnd eingegriffen. Von seinen Erlässen an das Oberlandesgerichtspräsidium in Graz ist der vom 18. April 1882 von Bedeutung, da er eine strenge Auslegung des an die Oberlandesgerichtspräsidien Graz und Triest gerichteten Erlasses des Justizministeriums vom 15. März 1862 veranlaßte. In dem Erlasse von 188267) wird nach einer Übersicht über die sprachlichen Regelungen seit 1854 festgestellt: im Sprengel des Oberlandesgerichtes Graz, „wo die in bestimmten Landesteilen neben den Deutschen in dichten Gruppen wohnenden Slowenen in neuerer Zeit zu einer solchen Ausbildung und Verbreitung ihrer Schriftsprache gelangt sind, daß dieselbe auch für den Gebrauch vor Gericht als anstandslos geeignet sich erweist, sind die Gerichte in der Anerkennung dieser Tatsache, welche bewirken muß", daß die slowenische Sprache, die im Sinne der allgemeinen Gemeindeordnung als „landesübliche Sprache" zu gelten hat, auch zu einer „bei Verfahren außer Streitsachen 'bei Gericht üblichen Sprache' werde, noch immer zurückgeblieben", weshalb sich für das Justizministerium die Notwendigkeit ergebe, „dieser vermißten Anerkennung auf administrativem Wege auch bei den Gerichten zum Durchbruch zu verhelfen". Weiters heißt es wörtlich: „Dabei halte ich als Leiter des Justizministeriums an dem Standpunkte fest, den das Justizministerium seit 20 Jahren in seinen Verfügungen als den richtigen erkannt hat, daß 66 67

) R. C h a r m a t z , Bundesstaat Österreich S. 41. — Siehe auch I.Band S. 107—127. ) A. F i s c h e 1, Sprachenrecht S. 145 f. Nr. 275 und S. 213—216 Nr. 379. — Vgl. dazu auch Α. Ρ i t r e i c h, Slovenisch und Deutsch in der Justiz. Diese Arbeit des ehemaligen Grazer Oberlandesgerichtspräsidenten ist deshalb besonders wertvoll, weil im Jahre 1938 die gesamten Präsidialakten des Grazer Oberlandesgerichtes als nicht mehr aktuell vernichtet wurden und diese sich auch von Wien her durch die Vernichtung der Akten beim Brand des Justizpalastes nicht mehr rekonstruieren lassen. — O. L o b m e y r - H o h e n l e i t e n , Steiermark, Kärnten, Krain.

Die nationalen Verhältnisse in der Untersteiermark

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es nur der Regierungs- und Vollzugsgewalt auf Grund der ihr allein im vollen Umfange zu Gebote stehenden Hilfsmittel und Quellen zusteht, das Factum festzustellen, wie weit die Entwicklung der slowenischen Sprache und deren Eignung für den gerichtlichen Gebrauch gediehen sei. Daß dagegen die Gerichte nicht berufen sind, dieses Factum von Fall zu Fall einer Untersuchung zu unterziehen und der Eventualität widerspruchsvoller Entscheidungen auszusetzen, sondern daß den Gerichten obliegt, das von competenter Seite ein für allemal festgelegte tatsächliche Verhältnis ihren richterlichen Amtshandlungen zum Grunde zu legen. Überhaupt halte ich es nicht für die Aufgabe der Gerichte, einer Sprache, welche die Staatsverwaltung als eine landesübliche' anerkennt, den ihr durch das Gesetz verbürgten Zutritt zu Gericht dauernd zu verwehren; und wenn die Gerichte slowenische Eingaben bloß aus dem Grunde a limine abweisen, weil der Überreichende auch deutsch versteht, so erblicke ich darin zwar ein einfaches, aber keineswegs ein gesetzliches Mittel, um die ganze Frage der Gleichberechtigung a limine abzuweisen."

Von diesen Erwägungen geleitet und sorglich bemüht, vorläufig nur den auffälligsten, jeden weiteren Fortschritt zu einer gedeihlichen Lösung hemmenden Übelständen zu begegnen, dagegen eine vorzeitige Erlassung bindender Normen dort zu vermeiden, wo noch immer erwartet werden könne, daß eine aufgeklärte Praxis von mehreren offenen Wegen den besten auffinden und einschlagen werde, beschränke er sich zur Zeit auf die Verfügung, daß für den Gebrauch der slowenischen Sprache bei Gericht im Herzogtum Krain, in dem Gerichtshofsprengel Cilli des Herzogtums Steiermark und in den slowenisch und sprachlich gemischten Gerichtsbezirken des Herzogtums Kärnten die Bestimmungen der in den Jahren 1862, 1866 und 1867 erlassenen Justizministerialerlässe maßgebend zu sein und sich alle Gerichte in Zukunft genau nach diesen Bestimmungen zu benehmen hätten. Dies bedeutete letztlich nichts anderes als die Gleichstellung der slowenischen Sprache mit der deutschen im äußeren Amtsverkehr der Gerichte mit den Parteien. Insbesondere forderte Prazäk, daß alle in Zivil- und Strafsachen vorkommenden Eingaben und namentlich die Rechtsklagen, die in slowenischer Sprache überreicht werden, anzunehmen sind und daß dies nicht „weiter auf den Fall eingeschränkt werde, daß die überreichende Person des Deutschen nicht mächtig ist". Obwohl die Prazäkschen Ordonnanzen als gerechtfertigt angesehen werden müssen, erblickten die Deutschen in der Steiermark in diesen nur den Verlust ihrer traditionellen Hegemonie. Sie vergaßen dabei, wie leicht gerade die steirischen Slowenen im allgemeinen befriedigt und zu gewinnen gewesen wären, da die Mehrzahl kaisertreu war, durchaus nicht mit dem Radikalismus der krainischen Slowenen harmonisierte und nie eine Oberherrschaft Laibachs als eine glückliche Lösung ansah. Stück um Stück mußten sich die Slowenen jedoch die sprachliche Gleichberechtigung erringen, und je schwerer dies gelang, je entschiedener der anfängliche Widerstand war, um so größer wurde der slowenische Radikalismus, von Laibach aus genährt und geschürt. So kam es, daß bei der schmalen steirisch-slowenischen Intelligenzschicht die staatsrechtlichen Pläne eines südslawischen Teilreiches der Monarchie Zustimmung fanden, während die breite Schicht der steirisch-slowenischen Bauern von solchen Überlegungen unberührt blieb. In Graz aber wuchs die Furcht vor einer Trennung der beiden steirischen Landesteile und es wurde gern auf jenes am 14. September 1848 an das Ministerium in Wien abgesandte Protestschreiben hingewiesen, das sich gegen Ludwig von Löhners ethnographische Einteilung der Monarchie gerichtet hatte und in welchem festgehalten war, daß „die Vertreter der slawischen Teile Steiermarks einstimmig ihre Sympathien für ein festes Zusammenhalten der Slawen mit den Deutschen und für die Untrennbarkeit des Herzogtums Steiermark laut 3*

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VII. Reaktion der Alpenländer auf die Badenischen Sprachenverordnungen

aussprachen"68). Für viele genügte der Hinweis auf diese Willensäußerung, und Landeshauptmann Graf Wurmbrand, der seinem Amtsvorgänger Moriz Blagatinschegg Edlen von Kaiserfeld, einem leidenschaftlichen Deutschösterreicher, der jedoch die slowenische Abkunft seines Hauses nie verbarg, nacheiferte und den nationalen Frieden im Lande durch gerechtfertigte Zugeständnisse zu erhalten suchte, wurde von den Deutschnationalen allein gelassen. Statt beispielsweise die besten Kräfte der Verwaltung in das steirisch-slowenische Unterland zu senden, was notwendig gewesen wäre, scheint dieses eher nicht vollwertig genommen worden zu sein. So erzählt der spätere Kabinettschef Kaiser Karls, Graf Polzer-Hoditz, er habe als junger Konzipist nach Ablegung der politisch-praktischen Prüfungen den Statthalter Marquis Bacquehem um Versetzung ins steirische Unterland gebeten, um seine durch Studium erworbenen Kenntnisse im politischen Dienst der ersten Instanz praktisch zu verwerten und um die slowenische Sprache zu erlernen. Marquis Bacquehem sei „sehr erstaunt" gewesen über diese Bitte und habe ihm diese „Dummheit" auszureden versucht, denn die Versetzung in das steirische Unterland sei bisher stets als eine Strafmaßnahme angesehen worden. Es sei ihm, habe der Statthalter erklärt, in seiner Praxis noch nie vorgekommen, daß sich ein Beamter aus dem Präsidialdienst aufs Land abgemeldet hätte. Bacquehem gab zwar schließlich nach, doch blieb Graf PolzerHoditz kaum ein halbes Jahr bei der Bezirkshauptmannschaft Marburg 69 ). Die Deutschen übersahen, daß sich die Verhältnisse seit 1848 geändert, die Reibungsflächen vergrößert und die Ansprüche der Slowenen vermehrt hatten. Gewandelt hatte sich nicht zuletzt die Einstellung, die sie selbst zu den Slowenen hatten. Noch 1848/49 konnte der Krainer Großgrundbesitzer, Politiker und Poet Anton Graf Auersperg, der sich als Dichter Anastasius Grün nannte, die Slowenen „meine Brüder" nennen und davon schreiben, es habe „in neuester Zeit das weithin vernehmbare Rauschen der alten und vielästigen Slawenlinde deutlich genug angekündigt", „daß die großen Fragen, welche die Menschheit bewegen, nicht ohne Mitwirkung der mächtigen Slawenfamilie nachhaltig zu lösen sind"70). Seinen Aufruf „An meine slowenischen Brüder" vom 26. April 1848 Schloß er „mit dem herzlichen Rufe: Hoch die Slowenen und die übrigen österreichischen Brüder! . . . Hoch unser konstitutionelles Österreich". Er fügte allerdings noch hinzu: „Österreich im innigen Bunde mit dem einigen Deutschland!" In seinem zweiten Sendschreiben vom 6. Mai 1848 schrieb Auersperg die bekannte Stelle nieder: „Auch ich glaube an eine große, schöne Zukunft des slawischen Namens, auch ich begleite das slowenische Volk auf seinem Bildungsgange mit dem wärmsten Herzensanteile. Möge Slovenia noch eine Weile an dem Arme ihrer älteren Schwester Austria wandeln; dieser Leitung darf sie sich nicht schämen, sie ist zwar keine Minderbegabte, aber doch die Jüngere. Wenn sie einst die Tage ihrer vollständigen Reife erreicht hat, dann wird auch die Trennung natürlich und darum nicht minder schmerzhaft sein."71) 6e

) F. 11 w ο 1 f , Der prov. Landtag S. 121 ff. (Siehe I. Band S. 64 Anm. 85.) — Vgl. auch B. G r a f e n a u e r , Slovenski kmet ν letu 1848. — V. Μ e 1 i k, Frankfurtske volitve 1848 na Slovenskem. Beide Arbeiten tragen allerdings die politische Signatur ihrer Entstehungszeit und sind ideologiebestimmt. Dagegen ist immer noch heranzuziehen F. A. G a 11 i, Ereignisse des Jahres 1848. (Zur Haltung der Slowenen vor allem S. 147—157.) Gatti war Dozent der Welt- und Kunstgeschichte am Joanneum zu Graz. M ) Α. Ρ ο 1 ζ e r - Η ο d i t z, Kaiser Karl S. 101. ,0 ) A. G r ü n , Volkslieder aus Krain. Vorwort. Werke V S. 37. ") A. G r ü n , Antwort auf das Offene Sendschreiben des Vereines „Slovenja" in Wien. Werke V I , S . 143. —Vgl. dazu V . M e l i k , Frankfurtske volitve 1848 na SlovenskemS.il 7.

Das Verhalten gegenüber den Slowenen seit 1848

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Hier herrschte noch die Achtung vor dem anderen Volkstum, hier wurde noch die Herdersche Humanität gewahrt72). 1897, ein halbes Jahrhundert später, hatte sich die Situation so gewandelt, daß nicht nur keiner mehr, der Wert darauf legte, als nationaler Deutscher angesehen zu werden, den Mut gehabt hätte, so zu sprechen, wie es 1848/49 Auersperg getan hatte, sondern Κ. H. Wolf sich sogar hinreißen ließ, die Slawen als tief minderwertige Nationen zu bezeichnen und dieses für ihn selbst entwürdigende Wort weithin mit Beifall aufgenommen wurde. Hier liegt der eigentliche Bruch in der Entwicklung. Auersperg selbst ist das sinnfälligste Beispiel für die ganze Wandlung in der Einstellung gegenüber den Slowenen, so, wenn er am 14. Jänner 1870 im Herrenhaus erklärte, es müsse betont werden, „daß die Deutschen in Österreich den Rassenhaß nicht kennen, daß sie niemanden unterdrücken wollen, daß sie aber sich nicht in die Tributpflichtigkeit und Dienstbarkeit d e r U n k u l t u r begeben wollen . . .", oder wenn er ebenfalls im Herrenhaus am 30. November 1867 das Wort „nicht unausgesprochen lassen" konnte: „Hätte man in Österreich germanisiert zur rechten Zeit, wäre man in den Geist der germanischen Bildung eingedrungen, hätte man ihn zum Leben geführt, hätte man sich nicht überflügeln lassen von einer anderen Seite, so ständen wir ganz woanders, als wir jetzt stehen." Diese „herzerquickenden Bekenntnisse seiner deutschenGesinnung", bezeichnenderweise vom „Grazer Tagblatt" 1909 aus Auerspergs Reden im Herrenhaus und im Krainer Landtag herausgeschält und gesammelt veröffentlicht, schlagen keine Brücke mehr hinüber zu jenem Volksstamm, dem Auersperg 1848 noch brüderlich begegnete, lassen nicht mehr „das Maß der Berechtigung, die Macht der Begeisterung und heroischen Tatkraft auch in dem anderen Lager" gelten73). Doch nicht allein im Herrenhaus sprach Auersperg so; aus seinen im Krainer Landtag gehaltenen Reden ist der Gegensatz noch deutlicher herauszuhören, etwa in der Rede vom 28. Jänner 1863 zur „Gleichberechtigung der Sprache". Hier geht es nicht mehr um fördernde oder verständnisvolle Mithilfe bei der slawischen Wiedergeburt, sondern um die Rettung des nationalen deutschen Besitzstandes, denn wie bei den Tschechen war bei den Slowenen die Sprache, die nur Mittel, nie Werkzeug sein darf, zum Selbstzweck geworden74). Diese Wandlung innerhalb der kurzen Spanne der reifen Mannesjahre eines Menschenlebens zeigt in erschütternder Deutlichkeit, was vor und nach 1848 in gleicher Weise versäumt wurde75). Österreich als Großmacht und ,2

) R. C r a e m e r, Deutschtum im Völkerraum S. 245. — Zur Geschichte der Slowenen der wohl abgewogene und objektive Artikel von L. H a u p t m a n n , Slovenci. Historija S. 210—232 in „Narodna Enciklopedija" IV, 1929. — Vgl. auch B. A u e r b a c h , Les races et les nationalstes S. 65—80. ") A. G r ü n , Volkslieder aus Krain. Vorwort. Werke V, S. 37. — Graf Anton Auersperg als Parlamentarier und Politiker. — Zur Entwicklung der slowenischen Bewegung gerade in diesen Jahren Η. Ν a b e r t, Bedrängnis des Deutschtums S. 36 f. — G. F r a n z , Liberalismus S. 381—385. — L. H a u p t m a n n , Slovenci. Historija S. 219—232. — F. Z w i t t e r , Problem narodnega preroda. '*) „Das ist nicht germanisieren, meine Herren! das ist nicht zentralisieren; das ist dem Volke ein kostbares Gut, welches es bereits hat, wahren und es darin schützen. Es ist in slowenischer Sprache das Wort erklungen und an uns gerichtet worden: Gebet dem Volke, was des Volkes ist. Nun wohlan! Wir wollen ihm ja das geben und wahren, nämlich deutsche Bildung und deutsche Kultur. (Lachen im Zentrum. Bravo! rechts.) Im Interesse und im Namen und zum Wohle des Volkes dürfen wir dieses deutsche Kulturgebiet nicht aufgeben, wir müssen und sollen es festhalten." (Werke VI, S. 196 f.) 7ä ) Zu den nationalen Verhältnissen in der Steiermark bis 1897 vgl. K. W e r b a , Guido Freiherr Kübeck. — H. S u e 11 e, Der nationale Kampf. — G. W e r n e r , Sprache und

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VII. Reaktion der Alpenländer auf die Badenischen Sprachenverordnungen

Vielvölkerstaat hätte auf Grund der gegebenen Bedingungen nicht untergehen brauchen. Der Haß der Nationalitäten gegeneinander wurde durch die „versäumten Gelegenheiten" gesteigert, und das Deutschtum pochte auf seine Vormachtstellung, ohne sie staatspolitisch und geistig zu erfüllen. Der große, erfolgreiche, weitschauende und zugleich vom Glück begünstigte Staatsmann ward dem Österreich von 1848 bis 1918 nicht geboren und nicht geschenkt worden. Es ist bezeichnend, daß fünfzig Jahre nach der Revolution von 1848, fünfzig Jahre nachdem den Slowenen die freie nationale Entfaltung im Entwürfe der steirischen Landesverfassung durch Einteilung der Steiermark in zwei deutsche und einen slawischen Kreis garantiert worden war, am 13. Februar 1897 die erste Interpellation in slowenischer Sprache in der steirischen Landstube verlesen wurde. Daß sich die Slowenen unter den gegebenen Verhältnissen positiv zu den Badenischen Sprachenverordnungen stellten, war selbstverständlich. Am 8. Mai gab der Laibacher Advokat Ivan Sustersic namens der slawisch-christlich-nationalen Partei deren Zustimmung im Abgeordnetenhaus bekannt, denn die Regierung sei durch die Erlassung der Sprachenverordnungen nur ihrer verfassungsgemäßen Pflicht nachgekommen. Sie habe „auf dem mit so viel Mut, Energie und Kraft betretenen Weg auszuharren" und insbesondere den Bestimmungen des Artikels 19 des Staatsgrundgesetzes „ a u c h i n j e n e n K ö n i g r e i c h e n u n d L ä n dern, welche von den Slowenen, K r o a t e n und R u t h e n e n b e w o h n t w e r d e n , praktische Geltung zu verschaffen, indem wir das volle und gleiche nationale Recht f ü r a l l e V ö l k e r unseres Vaterlandes f ο r d e r n". So waren alle Voraussetzungen dafür gegeben, daß entgegen Badenis Prognosen die in Böhmen vorhandene nationale Erregung auf die Alpenländer übergriff und hier die Slowenen und die Deutschen mitriß. Bereits Ende April lief bei der Statthalterei in Graz die Meldung des Bezirkshauptmannes von Leibnitz ein, daß der Reichsratsabgeordnete Franz Girstmayr, Gastwirt in Marburg, sämtliche Wahlorte des Städtewahlbezirkes Leibnitz im Auftrag der Deutschen Volkspartei bereist, um Kundgebungen der Gemeinden und Bezirks Vertretungen gegen die Sprachenverordnung zu veranstalten76). Am 23. April fand in Graz eine Versammlung des Vereines der Deutschnationalen in Steiermark statt, die durch die Anwesenheit des Reichsratsabgeordneten Κ. H. Wolf einen besonders erregten Verlauf nahm. Innerhalb weniger Wochen hatten neben dem Gemeinderat Graz beispielsweise die Gemeindevertretungen von Leoben, Pettau, Hartberg, Weiz, Gleisdorf, Stainz, Fürstenfeld, Frohnleiten, Mürzzuschlag und Trofaiach sowie die meisten Bezirksvertretungen ziemlich gleichlautende Beschlüsse gefaßt, in denen die Erlassung der Sprachenverordnung als eine Verletzung des Staatsgrundgesetzes, als Verfassungsbruch, als doppelter Friedensbruch, als ein Angriff gegen das Deutschtum und eine schwere Schädigung der Deutschen erklärt wurde. Die „deutschgesinnten" Abgeordneten wurden aufgefordert, für die Aufhebung der Verordnung „mit allen parlamentarischen Mitteln unausgesetzt", „rücksichtslos", „mit äußerster Konsequenz" und „mit aller Kraft unbeugsam" zu kämpfen, während den klerikalen Abgeordneten „wegen Volkstum. — Vgl. auch die 1888 erschienene Flugschrift „Sine ira" (S. 61—68), in welcher der ungenannte Verfasser auch die slowenischen Schulverhältnisse und Schulwünsche objektiv behandelt. '«) LA Graz Statth. Praes. 1897 — 27 — 1442.

Agitationen gegen die Badenischen Sprachenverordnungen

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ihres deutschfeindlichen Verhaltens die Verachtung ausgesprochen" und diesen schriftlich mit amtlichem Schreiben der Beschluß mitgeteilt wurde77). " ) Am 28. Mai richtete daher im Abgeordnetenhaus der von den Landgemeinden Cilli und Rann gewählte Besitzer der steirischen landtäflichen Herrschaft Reifenstein bei Cilli, Hugo Reichsritter von Berks, an Badeni als Leiter des Ministeriums des Innern folgende Interpellation (Stenogr. Prot. X I I . Session S. 1043 f.): 1. Die Bezirksvertretung von Leibnitz hat in ihrer Vollversammlung vom 19. Mai 1897 einstimmig eine Resolution beschlossen, in welcher gegen die Sprachenverordnungen und gegen jede weitere Vergewaltigung der Deutschen Protest erhoben und alle deutschen zu ihrem Volke stehenden Abgeordneten aufgefordert werden, die dermalige Regierungspolitik mit aller Schärfe zu bekämpfen und gegen alle Regierungsanträge ausnahmslos so lange in Opposition zu verharren, bis diese die Deutschen schädigenden und demütigenden Sprachenverordnungen wieder aufgehoben sind. Gleichzeitig wird allen jenen deutschen Abgeordneten, welche sich in die Reihen der Feinde der Deutschen gestellt haben, insbesondere den steiermärkischen Abgeordneten Karion, Kurz, Kaltenegger, Herk, Hagenhofer und Wagner wegen ihres deutschfeindlichen Verhaltens die V e r a c h t u n g ausgesprochen. Schließlich wird der Abgeordnete des Bezirkes, Karion, welcher von deutschen Bauern gewählt wurde und daher verpflichtet war, in erster Linie die Interessen seiner deutschen Stammesgenossen zu wahren, jedoch durch sein deutschfeindliches Verhalten stets die Deutschen geschädigt hat, aufgefordert, sogleich sein Reichsratsmandat niederzulegen. 2. Der Bezirksausschuß von Judenburg richtete unter dem 19. Mai 1897 Z. 201 an den Reichsratsabgeordneten Herk folgende amtliche Zuschrift: Euer Wohlgeboren! In Befolgung des Bezirksausschuß-Sitzungsbeschlusses vom 3. Mai d. J. berichte ich Euer Wohlgeboren, daß der Bezirksausschuß Judenburg den stimmeneinhelligen Beschluß faßte, Euer Wohlgeboren das allertiefste Bedauern zum Ausdrucke zu bringen über Ihr unqualifizierbares und unverantwortliches Verhalten im hohen Hause anläßlich der Dringlichkeitsantragabstimmung über die unglückliche Sprachenverordnung. Der Ausschuß muß über Ihr Vorgehen umsomehr „seine entrüstete Mißfälligkeit" zum Ausdrucke bringen, weil Sie als Abgeordneter aus dem Herzen einer unverfälscht deutschen Provinz nicht im Interesse ihrer streng deutschen Wähler handelten, sondern sich als willenloser Sklave Ihrer Gesinnungsgenossen dokumentierten. — Der Obmann Zamponi. Durch diese beiden Kundgebungen haben, ganz abgesehen von dem Eingriffe in die Rechte der Abgeordneten, wie solche durch § 16 des Gesetzes über die Reichsvertretung gewährleistet erscheinen, und ganz abgesehen von den beleidigenden strafgerichtlich verfolgbaren Anwürfen, die darin zum Ausdrucke kommen, diese beiden Körperschaften ihren ihnen durch das Gesetz über die Bezirksvertretungen f ü r das Herzogthum Steiermark vom Jahre 1867 zugewiesenen Wirkungskreis überschritten, ohne daß von Seite der politischen Behörden die darauf bezüglichen Bestimmungen des Bezirksvertretungsgesetzes zur Anwendung gebracht worden wären. Nachdem jedoch, wie wir durch zahlreiche Präcedenzfälle darzutun in der Lage sind, die politischen Behörden in Untersteiermark, also in dem von Slovenen bewohnten Teile Steiermarks das Bezirksvertretungsgesetz in der allerstrengsten Weise handhaben und weder politische Debatten in den Bezirksvertretungen noch derlei Antragstellungen jemals zugelassen haben und allfällige ähnliche in Abwesenheit des Regierungskommissärs gefaßte Beschlüsse jedesmal systiert wurden; so finden wir uns durch diese ungleiche Gesetzesanwendung im deutschen und slovenischen Teile Steiermarks in unseren politischen Rechten schwer beeinträchtigt und stellen demnach an den Herrn Ministerpräsidenten als Leiter des Ministeriums des Innern die A n f r a g e : „,1. Sind Seiner Excellenz die eingangs erwähnten Vorgänge und deren Billigung durch die politischen Behörden bekannt, und wenn ja, 2. gedenkt Seine Excellenz zur Erzielung eines gleichen Rechtes für alle den Bezirkshauptmannschaften in dem von Slovenen bewohnten Teile Steiermarks den Auftrag zu ertheilen, künftighin auch den Bezirks vertretungen ihrer Amtssphäre das Recht der freien Meinungsäußerungen aus politischen Anlässen einzuräumen,,entrüstete Mißfälligkeits-, und,Verachtungskundgebungen' zu gestatten und Sistierungen von solchen Beschlüssen zu vermeiden ? ' "

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VII. Reaktion der Alpenländer auf die Badenischen Sprachenverordnungen

In Graz, Marburg und Cilli wurden Wählerversammlungen im Beisein der deutschvölkischen Abgeordneten Dr. Paul Hofmann-Wellenhof, Dr. Viktor von Hochenburger, Dr. Eduard Wolff hardt, Dr. Josef Pommer und Franz Girstmayr abgehalten, bei denen gleichartige Resolutionen gefaßt wurden. Schon in diesem Anfangsstadium wurden so scharfe Angriffe gegen Badeni gerichtet, daß die Behördenvertreter wiederholt die Redner zur Mäßigung mahnen mußten. Am 18. Mai nahm die Grazer Handels- und Gewerbekammer gegen die Sprachenverordnungen Stellung. Die Kampfansage wurde damit begründet, daß diese Verordnung in absehbarer Zeit für die Alpenländer dasselbe traurige Geschick befürchten ließe. Eine ähnliche Resolution, die nach Wiederzusammentritt des Reichsrates dem Abgeordnetenhaus als Petition überreicht werden sollte78), beschloß die Handels- und Gewerbekammer Leoben über Antrag des Gewerken Hans von Pengg. Das Reichsratsmandat der Handels- und Gewerbekammer Leoben hatte Oberbergrat Franz Kupelwieser, Professor an der Bergakademie, inne, der zur Freien Deutschen Vereinigung gehörte und der den im Reichsrat eingebrachten Antrag auf Erhebung der Ministeranklage nicht mitunterfertigt und der auch vorgezogen hatte, bei der Abstimmung über diesen Antrag zu fehlen. Diese korrekte Haltung gegenüber dem Staat, dessen Beamter er war, wurde ihm von der ihn in den Reichsrat entsandten Kammer übel angerechnet. Die zur Hälfte den Deutschfreiheitlichen und zur Hälfte der Deutschen Volkspartei angehörenden Gewerbemitglieder wollten ihm sofort das Mandat entziehen. Sie verlangten ungestüm eine Rechtfertigung und eine Präzisierung seines Standpunktes 79 ). Gerade dieses am Rande zu liegen scheinende Beispiel Leoben zeigt, wie in den Alpenländern nur die kompromißloseren und radikaleren Reichsratsabgeordneten den Beifall selbst politisch gemäßigter Gruppen gewannen, wodurch sich ihre ursprünglich recht schwache Position festigte. Der radikale Flügel errang rasch das entscheidende Übergewicht, während die gemäßigten Kräfte, um nicht der nationalen Feme zu verfallen und nicht als national ehrlos zu gelten, dem Druck der politischen Führerkräfte nachgaben und keinen Widerstand, kein Einlenken in besonnenere Bahnen mehr versuchten. Die Agitation in den verschiedensten Vereinen und Körperschaften wuchs von Tag zu Tag, so daß am 18. Mai ein vervielfältigtes Schreiben Badenis als Leiter des Ministeriums des Innern an die einzelnen Statthalter erging80): Streng vertraulich! Aus den öffentlichen Tagesblättern der letzten Zeit sowie aus einzelnen hierüber eingelaufenen Berichten habe ich entnommen, daß die Agitation gegen die für Böhmen und Mähren erlassenen Sprachenverordnungen auch von Vereinen geführt wird. ™) LA Graz Statth. Praes. 1897 — 26 — 1475; 1897 — 26 — 1735; 1897 — 26 — 1950; 1897 — 26 — 3000. — Zum Rechenschaftsbericht des Abgeordneten der Grazer Handels- und Gewerbekammer „Grazer Tagblatt" 9. Juli 1897 S. 2 f. ,9 ) Diese fiel nach Ansicht der Kammermitglieder kläglich genug aus. In der Sitzung der Kammer vom 16. September hielt man Kupelwieser den Abgeordneten des Stadtbezirkes Leoben-Bruck, Oberbergrat Professor Franz Lorber (Deutsche Volkspartei), vor, der in Erkenntnis der Unvereinbarkeit einer Staatsanstellung mit dem Abgeordnetenmandate seine Professur an der Prager deutschen Technik niedergelegt hatte, ein Beispiel, dem Kupelwieser aus Existenzgründen nicht folgen konnte. So wurde ein Mißtrauensantrag eingebracht, der mit der Stimme des deutschfortschrittlichen Handelskammerpräsidenten, jedoch nur in Ermangelung eines Ersatzes, abgelehnt wurde. 80 ) LA Graz Statth. Praes. 1897 — 26 — 1747.

Protest der deutschen Universität in Prag

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Wenn ich auch nicht verkenne, daß politischen Vereinen eine gewisse Berechtigung, diese Angelegenheit in den Kreis ihrer Erörterungen einzubeziehen, nicht unbedingt abgesprochen werden kann und daß andererseits den Vereinen im allgemeinen das Recht der freien Meinungsäußerung zusteht, so kann ich mich doch der Ansicht nicht verschließen, daß die Art der Besprechung der Aktion der Regierung und die dabei gefaßten Beschlüsse, durch welche oft den deutschen Abgeordneten Weisungen für ihr ferneres Verhalten gegeben werden, den Rahmen einer bloßen Meinungsäußerung weit überschreiten und selbst bei politischen Vereinen mit den Vereinsstatuten kaum in Einklang sein dürften. Ich beehre mich daher Hochdieselben zu ersuchen, in jedem einzelnen derartigen Falle nach reichlicher Erwägung aller maßgebenden Momente die entsprechende Amtshandlung eintreten zu lassen oder mir hierüber motivierte Anträge stellen zu wollen. Genehmigen Hochdieselben die Versicherung meiner vollkommenen Hochachtung. Wien, am 18. Mai 1897. Badeni

Inzwischen hatten auch die beiden Grazer Hochschulen und die deutschnationale Studentenschaft in den Kampf gegen die Sprachenverordnungen eingegriffen. Das Professoren-Kollegium der deutschen Universität in Prag hatte Mitte Mai den beiden Grazer Rektoraten Abschriften seiner von sämtlichen Professoren der Prager Universität am 12. Mai einstimmig beschlossenen Petition an beide Häuser des Reichsrates mit der Einladung übersandt, zu veranlassen, daß das Professoren-Kollegium der Universität und der Technischen Hochschule Graz ähnliche Eingaben beschließen mögen. Diese Prager Petition81), die ausführt, wie schwer durch die Sprachenverordnungen die Zukunft der deutschen Universität gefährdet, das deutsche Volk in Böhmen ungerechtfertigt bedrückt und geschädigt und das Wohl und die Gesamtinteressen des Vaterlandes beeinträchtigt werden müßten, fand nicht nur in der deutschen Bevölkerung Österreichs, sondern auch im Deutschen Reich jubelnde Zustimmung. So langte Mitte Juli 1897 an die deutsche Universität in Prag eine von 816 ordentlichen Professoren sämtlicher 21 Universitäten des Deutschen Reiches unterzeichnete Kundgebung ein82): „In dem großen und schweren Kampfe, den heute die Deutschen Österreichs um ihre nationale Existenz und ihre berechtigte Stellung in der alten, von ihnen geschaffenen und in erster Linie durch ihre Kraft erhaltenen habsburgischen Monarchie zu kämpfen gezwungen sind, hat die Prager Universität, die älteste deutscher Zunge, mannhaft das Wort ergriffen, um auf gesetzlichem Wege die großen Gefahren zu betonen, die ihr, der uralten Stätte deutscher Wissenschaft, und dem ganzen deutschen Volkstum in Böhmen und Mähren drohen. Die unterzeichneten ordentlichen Professoren der Universitäten des Deutschen Reiches drücken den Kollegen der ehrwürdigen österreichischen Schwesteruniversität ihre wärmsten und lebhaftesten Sympathien zu ihrem Vorgehen aus und geben der Überzeugung Ausdruck, daß Millionen national gesinnter Bürger des Deutschen Reiches mit ihnen in diesen Gefühlen sich einig wissen."

Daß die Grazer Professoren bei der allgemeinen Begeisterung nicht zurückstehen wollten, war selbstverständlich, doch war gerade damals an der Universität der Professor für Kirchengeschichte und Patrologie an der theologischen Fakultät Anton Weiß Rektor, der nicht gesonnen war, in das radikale Fahrwasser einzuschwenken, und der sich mit dem Statthalter Marquis Bacquehem besprach. Dieser gab den Rat, die Einladung der Prager Universität unbeachtet zu lassen. 81 a2

) Wortlaut in der „Bohemia" und im „Prager Tagblatt" vom 14. Mai 1897. ) Text bei Α. Η a u f f e n , Deutsche Universität in Prag S. 115 und in der „Neuen Freien Presse" vom 17. Juli 1897, S. 1 f. mit den Namen der Professoren, welche die SympathieKundgebung unterzeichnet hatten. Die Anregung zu diesem Schritt hatte die Universität Heidelberg gegeben.

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VII. Reaktion der Alpenländer auf die Badenischen Sprachenverordnungen

In seinem Bericht an den Unterrichtsminister betonte der Statthalter jedoch, daß auf den Rektor ein starker Druck ausgeübt werde83). Da dieser jedoch standhaft blieb, wurde am 26. Mai von der Mehrzahl der Professoren der Grazer Universität in einer „privaten Versammlung" eine an die beiden Häuser des Reichsrates gerichtete Petition beschlossen84), die mit der Bitte endete, auf die Aufhebung der Sprachenverordnungen hinzuwirken. Eine gleichartige, allerdings in einer offiziellen Sitzung behandelte Petition85) wurde vom Professorenkollegium der Technischen Hochschule dem Reichsrat übermittelt86). E i n g a b e d e r P r o f e s s o r e n d e r k. k. t e c h n i s c h e n H o c h s c h u l e i n G r a z in A n g e l e g e n h e i t der S p r a c h e n v e r o r d n u n g e n f ü r B ö h m e n und Mähren. Wir unterzeichneten Professoren der k. k. technischen Hochschule in Graz halten es für unsere Pflicht, als die Vertreter der technischen Wissenschaften in den Alpenländern e i n e m h o h e n H a u s e unsere schweren Bedenken gegen die für Böhmen und Mähren erlassenen Sprachenverordnungen oifen zu äußern. Wir erblicken in den bezeichneten Verordnungen eine Einengung des Verwendungsgebietes unserer Hörer und daher eine Schädigung unserer Anstalt. Vermöge der Lage unserer Hochschule auf Hörer deutscher Sprache in erster, auf solche slowenischer und italienischer Sprache in zweiter Linie angewiesen, müssen wir eine Maßnahme beklagen, durch welche von unseren Hörern, sobald sie in Böhmen oder Mähren im Staatsdienste Verwendung finden wollen, die Kenntnis der tschechischen Sprache verlangt wird, zu deren Erlernung sie weder in ihrer Heimat noch in Graz Gelegenheit hatten. Neben der Benachteiligung unserer Hochschule müssen wir aufs tiefste die schwere Schädigung der deutschen Schwesternanstalten in Prag und Brünn beklagen, denn die Sprachenverordnungen erschweren nach der Lage der Dinge dem deutschen Studenten sein späteres Fortkommen, bevorzugen das des Tschechen und treffen daher die deutschen Hochschulen auf gemischtsprachigem Gebiete auf das empfindlichste und nachhaltigste. Nur mit großem Kummer können wir Grazer Professoren aber das Schauspiel betrachten, wie hervorragende, um die Pflege der technischen Wissenschaften im allgemeinen und um die Entwicklung der österreichischen Technik insbesondere hochverdiente Anstalten auf das äußerste gefährdet werden. Die traurige Erwägung des Schicksals unserer nördlichen Schwesternanstalten soll uns aber nicht davon ablenken, den Einfluß zu erwägen, den die Sprachenverordnungen auf die österreichischen Techniker überhaupt haben müssen, wobei wir uns als Männer der Wissenschaft dem Bewußtsein nicht verschließen können, daß heute auf zwei Länder beschränkte Maßnahmen ähnliche in anderen Ländern fast unvermeidlich nach sich ziehen, und daß, wenn erst 83

) LA Graz Statth. Praes. 1897 — 26 — 1750; 1897 — 26 — 1819. ) Das Rektorat der Universität Innsbruck fragte in Graz am 21. Mai an, ob der Grazer Universitätslehrkörper auf den Prager Wunsch einzugehen gedenke und ob eventuell ein gemeinsamer Schritt der übrigen deutsch-österreichischen Universitäten in dieser Angelegenheit in Aussicht genommen sei. (LA Graz Univ. Arch. Rek. 1896/97 Fasz. 72 Z. 1387.) 85 ) Während aber der Prorektor der Techn. Hochschule, Prof. Kraft, die Petition seiner Hochschule in Abschrift dem Unterrichtsministerium bekanntgab, hatte dieses von der Eingabe der Universität keine Einsicht erhalten. So fragte im August 1897 das Ministerium beim Statthalter in Graz an, ob die Petition der Universität auch von Hofrat Prof. Ferdinand Bischoff unterzeichnet worden sei, was dem Statthalter von einem „vollkommen vertrauenswürdigen Universitätsprofessor" bejaht wurde. (VA Wien MCuU Praes. 1897 — 2576). Prof. Bischoff war mit Ende des Studienjahres 1896/97 in den Ruhestand getreten (vgl. A. L u s c h i n E b e n g r e u t h , Ferdinand Bischoff) und sollte nun eine kaiserliche Auszeichnung erhalten. 8β ) VA Wien M C u U Praes. 1897—1161; Text der Petition VA Wien M C u U Praes. 1897 — 1142 und LA Graz Univ. Arch. Rek. 1896/97 Fasz. 72 Z. 1802. Nicht unterzeichnet ist diese Petition nur vom o. Professor für Mathematik, Franz Hocevar, und vom o. Professor für Baukunst, Wilhelm Edler von Low. 84

Protest der Grazer Hochschulen

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ein schädlicher Grundsatz Eingang gefunden hat, sich die Grenze nicht angeben läßt, bei der mit seiner verhängnisvollen Anwendung haltgemacht werden wird. Dieser schädliche Grundsatz ist, daß die Sprachenverordnungen von einem Deutschen, also von einem jener Österreicher, die das Glück haben, eine Welt- und Kultursprache ihre Muttersprache zu nennen, behufs Anstellung im Staatsdienste die vollkommene Beherrschung einer zweiten Sprache in Wort und Schrift verlangen, die keine Weltsprache und in diesem Sinne keine Kultursprache ist; deren Kenntnis ihm also zu keiner neuen nennenswerten Fachliteratur den Schlüssel bietet, keinen weiteren Horizont vor seinem Blicke freilegt, keine neuen technischen Errungenschaften seinem Fortbildungseifer zugänglich macht. Englisch, Deutsch, Französisch sind die Weltsprachen der Technik; nicht nur die Engländer und Amerikaner, die Deutschen im Reiche, Österreich und der Schweiz, die Franzosen und Belgier bedienen sich ihrer, sondern auch alle jene Fachmänner, gleichgiltig welchen Volkes, die zur Allgemeinheit sprechen wollen, weil sie der Allgemeinheit Wissenswertes mitzuteilen haben. Englisch, Deutsch, Französisch soll daher jeder Techniker verstehen, und wenn man einem österreichischen Ingenieur eine andere Sprache — noch dazu in Wort und Schrift — aufnötigt und ihn dadurch abhält, Englisch und Französisch geläufig lesen zu können, so schadet man ihm und beeinträchtigt damit das Gedeihen der österreichischen Technik. Denn viele Sprachen kann ein Techniker — ohne ausnahmsweise Begabung — nicht erlernen. An die Aufnahmsfähigkeit der Hörer setzt der technische Beruf von Jahr zu Jahr erhöhte Anforderungen; bereits werden die Klagen über die Überlastung der technischen Hörer, über die lange Dauer ihres Studiums, ihren späten Eintritt in die Praxis lauter und lauter; bereits hat in dankenswertester Weise, freudig begrüßt von der gesamten österreichischen Fachwelt, das hohe k. k. Ministerium für Cultus und Unterricht die Arbeit zur möglichsten Vereinfachung des technischen Unterrichtes, zur ängstlichen Fernhaltung alles irgend entbehrlichen Wissens begonnen. In diesem Augenblicke dem Grundsatze nachzugeben, daß eine ganze Sprache mehr in Wort und Schrift jedem Techniker, der sich die Möglichkeit einer Staatsanstellung sichern will, aufgenötigt werde, heißt ohne Rücksicht auf die realen Interessen der österreichischen Technik und Industrie der bedenklichen Vorliebe für Sprachen von geringer Verbreitung und dürftigsten Fachliteratur nachgeben. Mögen die geäußerten schweren Bedenken und unsere hiemit gestellte Bitte dazu beitragen, daß das H o h e H a u s auf die Aufhebung der für Böhmen und Mähren erlassenen Sprachverordnungen hinwirke. Graz, im Mai 1897 Philipp Forchheimer, Franz Wittenbauer, Maximilian v. Kraft, Josef Cecerle, Franz Hlawatschek, Josef Bartl, Heinrich Bank, Emil Teischinger, Johann Rumpf, Josef Wastler, Rudolf Schüssler, Karl Stelzel, Johann Wist, (Oskar Peithner Frh. von) Lichtenfels, Friedrich Reinitzer, Albert von Ettinghausen, Friedrich Emmich. Infolge von Abwesenheit hat seine Zustimmung schriftlich erteilt: Benjamin Reinitzer.

Am 22. Mai richtete Badeni an die Statthalter der Länder mit Hochschulen einen streng vertraulichen Erlaß, mit dem, da die Prager Studenten zu gleichzeitigen Protestkundgebungen gegen die Sprachenverordnungen aufgerufen hatten, anbefohlen wurde, jede zu diesem Zweck einberufene Versammlung zu untersagen oder bei vorherigen Nichtanmeldungen aufzulösen, selbst dann, wenn nur geladene Gäste mit Legitimation oder Einladung eingelassen würden87). Am gleichen Tag aber brachte schon das „Grazer Tagblatt" den Aufruf der Prager Studentenschaft an die deutschen Studenten der österreichischen Universitäten im vollen Wortlaut: Commilitonen! Am 24. Wonnemonds wird, wie Ihr aus dem beigelegten Aufrufe erseht, die Prager deutschnationale Studentenschaft sich versammeln, um, folgend dem Hochgebote der nationalen »') LA Graz Statth. Praes. 1897 — 26 — 1774.

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VII. Reaktion der Alpenländer auf die Badenischen Sprachenverordnungen

Pflicht, die schärfste Verwahrung einzulegen gegen die rechtswidrigen, gewalttätigen slawischen Zwangsmaßregeln, die Sprachenverordnungen. Wir wenden uns an Euch, liebe Brüder, mit der Bitte, ein Gleiches zu tun, damit die unerschütterliche nationale Geschlossenheit der gesamten deutschnationalen akademischen Jugend Österreichs, der begeisterte einige Wille zum Kampfe bis zum Äußersten für unser deutsches Volk und gegen alle seine Feinde der ganzen Welt zum Wahrzeichen und zur Richtschnur wieder einmal machtvollen und erhebenden Ausdruck gewinnt. Aber auch an Euch, Ihr lieben Brüder an den Hochschulen des Deutschen Reiches, geht unser Ruf von der ältesten Stätte deutscher Wissenschaft. Ihr seht uns mit Begeisterung, stark und mutig und voll Hoffnung auf den Sieg, errungen durch die eigene Kraft, im Kampfe stehen. Es ist nicht die Not, nicht das Bewußtsein der Schwäche, das uns den Ruf auspreßt; nein, es ist vielmehr das herrliche Bewußtsein unserer Würdigkeit, als Glieder des großen deutschen Volkes im allerersten Treffen gegen dessen erbitterte Feinde zu stehen, es ist das Bewußtsein der Bluts- und Stammesgenossenschaft mit Euch, der geistigen Einheit aller deutschen Hochschulen, dies Bewußtsein ist es, das uns antreibt, Euch zu grüßen und Euren Heilruf zu fordern, damit sein Donnerhall all unseren Feinden sage, nicht Österreichs deutsche Jugend allein, des ganzen deutschen Volkes Jugendbann steht auf dem Plan. Darauf bieten wir Euch Herz und Hand! Und mit Zuversicht! Denn schon ist Leipzig, die aus dem Schöße unserer alma mata Pragensis entsprungene Tochter-Universität, vorangegangen mit freundlicher Ladung, der wir dankbar und mit Freude auch Folge leisten werden. Darum auf, Ihr lieben deutschen Brüder alle, zeigt, daß wir fest zusammenstehen! Heil und Sieg unserem Volke! I n B e f o l g u n g dieses A u f r u f e s b e r a u m t e n die Grazer S t u d e n t e n , da i h n e n die A u l a v o m Rektor versagt w o r d e n war, f ü r d e n 31. M a i i m Gasthaus „ Z u m S a n d wirt" i n der Griesgasse e i n e allgemein z u g ä n g l i c h e V e r s a m m l u n g deutscher H o c h s c h ü l e r i n Graz an, u m g e g e n die S p r a c h e n v e r o r d n u n g e n Stellung z u n e h m e n . T r o t z des polizeilichen Verbotes v e r s a m m e l t e n s i c h dort mehrere h u n dert nationale S t u d e n t e n , räumten aber, als sie v o m Polizeikommissär dazu a u f gefordert w u r d e n , da die vorbereitete R e s o l u t i o n bereits jubelnd u n d e i n s t i m m i g a n g e n o m m e n w o r d e n war, das Lokal, allerdings m i t S c h m ä h r u f e n auf B a d e n i u n d Gleispach 8 8 ). Sie d a c h t e n auch n i c h t daran, ihre D e m o n s t r a t i o n a u f z u g e b e n u n d es m i t d e m halb gescheiterten V e r s u c h einer V e r s a m m l u n g b e w e n d e n z u lassen. I n g e s c h l o s s e n e n R e i h e n z o g e n sie, n a c h d e m sie s i c h w i e d e r g e s a m m e l t hatten, d u r c h die Herrengasse u n d über d e n R i n g zur Universität, hernach zur T e c h n i k , w o sie jeweils ihre Protestrufe w i e d e r h o l t e n u n d das Bismarcklied u n d andere K a m p f l i e d e r a n s t i m m t e n . V o r d e r T e c h n i s c h e n H o c h s c h u l e w u r d e n die Pfiffe u n d A b z u g r u f e wiederholt, bis j e m a n d in die u n s c h l ü s s i g e Schar v o n u n g e f ä h r 350 S t u d e n t e n die Parole warf, vor der Burg z u demonstrieren. D e r kleinere T e i l f a n d d i e s e n Vorschlag „ u n s i n n i g " u n d zerstreute sich, die anderen z o g e n zur Burg, w o sie n e u e r d i n g s „Pereat Badeni!" schrien u n d schließlich die „ W a c h t a m R h e i n " sangen. D e r V e r s u c h eines Polizeikommissärs, die S t u d e n t e n a m D u r c h z u g d u r c h das B u r g tor z u hindern, scheiterte, da die städtische Sicherheitswache zur Burg n u r einige M a n n abgeordnet hatte, die sogar m i t d e n D e m o n s t r a n t e n ein Stück mitzogen 8 9 ). 8e

) LA Graz Statth. Praes. 1897 — 26 — 1814; 1897 — 26 — 1817; 1897 — 26 — 1855; 1897 — 26 — 1890. Der Rekurs gegen die Untersagung wurde von der Statthaltern ebenfalls ablehnend beschieden. Ebenda 1897 — 26 — 1918. — Auszug aus dem Tagebuch des Dr. Heinrich Schönwiese, Graz, hinterlegt in Abschrift im LA Graz. " ) Bericht des Polizeikommissärs VA Wien M C u U Praes. 1897—1198.—Vgl. auch LA Graz Statth. Praes. 1897 — 2 6 — 1837. Die mangelnde Bereitstellung städtischer Polizei löste einen umfangreichen Schriftwechsel zwischen der k. k. Polizeidirektion und dem Stadtrat als Sicherheitsbehörde aus. Aus dem Bericht des städtischen Wacheführers kann die unge-

Studentendemonstrationen

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Schließlich gingen die Studenten, die „auf dem Boden der Alten Universität" eine Zeitlang weiter demonstrierten, aus eigenen Stücken auseinander, lange bevor die Verstärkung der städtischen Wache eintraf. Statthalter Marquis Bacquehem, der während dieser Aktion von Graz abwesend war, meldete am anderen Tag die Vorfälle an den Unterrichtsminister Baron Gautsch, unter dem Hinweis, daß für den 3. Juli eine Promotion sub auspiciis imperatoris angesetzt sei, bei der er als Statthalter im Namen des Kaisers zu intervenieren habe. Er erbat sich weitestgehende Vollmachten, falls die Promotion durch Demonstrationen gestört würden. In Erwiderung dieses Berichtes ermächtigte Gautsch den Statthalter im Falle von Störungen zur sofortigen Sistierung sämtlicher Vorlesungen, Übungen und Prüfungen. Inzwischen hatte der Statthalter aber vom Rektor der Universität die Zusicherung erlangt, daß von Seiten des Rektorates alles vorgekehrt würde, um Demonstrationen der Studenten bei diesem feierlichen Akte hintanzuhalten 90 ). So verlief die Promotion sub auspiciis imperatoris ohne Störung. Studenten hatten sich allerdings nicht viele und keine in Couleur eingefunden91). Diese hatten es vorgezogen, sich der Sängerfahrt des Deutschen Akademischen Gesangvereines nach Cilli und Rann a. d. Sawe anzuschließen, um in diesen beiden deutschen Städten im slowenischen Unterland gemeinsam mit den örtlichen Turn- und Gesangvereinen „für die nationale Sache" einzutreten. Der Festkommers im Schloß Rann war eine leidenschaftliche politische Demonstration92) unter dem Vorwand der Sangesfreudigkeit. Solche Anlässe, um unter einem Deckmantel die Erregung zu steigern, „das Volkstum zu festigen" und den Abgeordneten Gelegenheit zu politischen Reden zu geben, damit die Bewegung über die Sommermonate nicht verebbe und sich beruhige, wurden, mit viel Geschicklichkeit gegenüber der Polizei, gerade zu dieser Zeit gesucht und gefunden. So sollte in Graz am 4. und 5. Juli der deutschösterreichische Bauerntag stattfinden, der vom Führer des sogenannten „Christlichen Bauernbundes", Freiherr F. K. von Rokitansky, einberufen worden war und mit einer Messe beginnen sollte. Die nationale Presse begrüßte überschwenglich die Vertreter des „so arg vernachlässigten Nährstandes", warf der Regierung vor, für die Bauern nichts getan und so ziemlich alles unterlassen zu haben, was diese vor den magyarischen Machenschaften schützen könnte, und sprach von germanischem Recht und germanischer Sitte. Am 4. Juli abends wurde nach dem Fest in der Industriehalle, dessen Leitung wiederum in den Händen von Studenten lag, die Fortsetzung des „Bundesfestes deutscher Bauern" von der Grazer Polizeidirektion wegen Absingens nationaler Lieder und wegen gegen die Regierung gerichteter Ansprachen, ohne daß die propagandistische Auswirkung bedacht wurde, verboten. heure Erregtheit der Studenten geschlossen werden. „Um nun einerseits zu bewirken, daß auch der andere Teil der Studenten ruhig werde und um größere Exzesse zu verhindern, insbesondere nicht Waffengewalt anwenden zu müssen und B l u t v e r g i e ß e n zu vermeiden, was bei der Aufgeregtheit der Anwesenden zur vollständigen Zerstreuung entschieden notwendig gewesen wäre und um schließlich gegen ein eventuelles weiteres Schreien der anderen Studenten einschreiten zu können, gewährte ich den Durchlaß" durch das Burgtor. (LA Graz Statth. Praes. 1897 — 2 6 — 1890.) »·) VA Wien MCuU Praes. 1897 — 1198 = LA Graz Statth. Praes. 1897 — 26 — 1837. Weiters drängte der Statthalter darauf, daß die akademische Behörde die stattgefundene Demonstration mißbillige und die Studenten unter Hinweis auf die möglichen Folgen von weiteren Kundgebungen warne. • l ) Ebenda Praes. 1897 — 1207, 1897 — 1218. »*) „Grazer Tagblatt" 1. Juli 1897, S. 1 Abendblatt, 3. Juli S. 5.

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VII. Reaktion der Alpenländer auf die Badenischen Sprachenverordnungen

Zu allem Überfluß wurde auch noch neuerdings die Cillier Gymnasialfrage akut. Am 5. Jänner 1897 hatte das Abgeordnetenhaus die Budgetpost für das slowenische Untergymnasium in Cilli abgelehnt. Das Unterrichtsministerium hätte daraufhin die Pflicht gehabt, die Anstalt sogleich zu schließen, doch wurde im Hinblick auf die politischen Folgen und mit Rücksicht auf die Schüler das Schuljahr zu Ende geführt. Als jedoch am 15. Juli 1897 mit kaiserlicher Verordnung auf Grund des Notverordnungsrechtes nach § 14 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867 zur Bedeckung mehrerer im Finanzgesetze für das Jahr 1897 nicht vorgesehenen Auslagen entsprechende Nachtragskredite bewilligt wurden, befand sich unter diesen auch einer für das slowenische Staats-Untergymnasium in Cilli bis Schluß des Schuljahres 1896/97 und für die „weitere Vorsorge für slowenisch-deutschen Gymnasialunterricht" in der Höhe von 12.500 Gulden. Mit gleichem Datum wurden auf Grund eines Erlasses des Unterrichtsministeriums in Cilli „selbstständige Gymnasialklassen mit deutsch-slowenischer Unterrichtssprache" geschaffen. Diese Lösung war bestrebt, weder die Deutschen noch die Slowenen zu kränken, und doch waren beide Volksstämme, vor allem auch die Slowenen, die sich mehr erhofft hatten, sehr erbittert. Da aber einem selbständigen slowenischen Gymnasium beharrlich die Mittel versagt worden waren und die Deutschen in Cilli dem Gymnasium angeschlossene slowenische Parallelklassen wegen der Gefahr der Slowenisierung der gesamten Schule rundweg ablehnten, hatte das Unterrichtsministerium, das auch wiederum den Slowenen nicht nehmen konnte, was sie sich so energisch und halsstarrig erkämpft hatten, zu dem Ausweg „selbständiger Parallelklassen" gegriffen. Den deutschen nationalen Zeitungen war die neuerliche Aufrollung der Cillier Gymnasialfrage höchst willkommen, da durch diese hinreichend Anlaß zu radikalen Leitartikeln gegeben war. Tagelang bestimmten die Proteste gegen die „Kränkung", welche durch die „Slowenisierungsanstalt" den Deutschen zugefügt werde, die Titelseiten der Grazer „Tagespost". Nach der ungeheuren Erregung, die schon 1895 den Fall „Cilli" zu einer Staatsaktion hatte werden lassen, war es nun nicht schwer, in die gleiche Kerbe zu schlagen. Das Cillier Gymnasium, hieß es auch jetzt wieder in den verschiedenen nationalen deutschen Zeitungen, müsse deutsch bleiben und „dieses Recht" müsse „mit aller Rücksichtslosigkeit" gegen jede Macht verfochten werden. Die Cillier „Deutsche Wacht" konnte am 25. Juli 1897 schreiben, daß sie aus den Stimmen der gesamten deutschen Presse Österreichs wisse, „daß in der neu aufgerollten Gymnasialfrage alle deutschen Volksgenossen gleichgesinnt hinter uns stehen". Ein böser Zufall wollte, daß für den 7. und 8. August 1897 ein Sokol-Fest nach Cilli einberufen worden war, ein „panslawistisches Hetzfest", wie die Cillier „Deutsche Wacht" schrieb, zu dessen Schutz Militär als Sicherheitsvorkehrung aufgeboten worden war. Die Zeitungen scheuten sich nicht, die beiden Ereignisse ursächlich miteinander zu verquicken, und auf Badem, der die Deutschen in den Alpenländern nur zu täuschen versuche und auf diese Weise nie gewinnen oder von ihren deutschen Brüdern in Böhmen werde lösen können, hagelten die Vorwürfe der „Blindheit", „Verschlagenheit" und „Hinterhältigkeit" ein93). Mit Kommentaren zu den Ereignissen und Vorfällen im Nationalitätenkampf in und außerhalb der Steiermark sparte das „Grazer Tagblatt", aber auch- die anderen Tageszeitungen nicht, während selbst der Ausstand der über 200 Gerber der Grazer Lederfabrik Rieckh in der zweiten JuliM

) „Tagespost" 19., 21., 22.-24., 26. Juli 1897. — „Deutsche Wacht" 5., 8., 12. und 15. August 1897.

Die Cillier Gymnasialfrage — Herabwürdigungen Badenis

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hälfte und die dann im August 1897 einsetzende Lohnbewegung der Müllereiarbeiter94) mit ihrem sozialen Hintergrund von der deutschnationalen Presse überhaupt nicht erkannt und gesehen und von dieser darüber nur deshalb berichtet wurde, weil durch die Lohnkämpfe der Regierung Schwierigkeiten erwuchsen. Die Flut der demagogischen Floskeln zielte dabei in zwei Richtungen. Die Hauptangriffe wurden gegen Badeni unmittelbar selbst gerichtet. Er wurde zu dem Manne gestempelt, „für den das Nationalrecht der Deutschen nicht mehr als ein ungebügelter Hemdkragen" wert ist, der sich als „Apostel der slawischen Solidarität in Österreich" entpuppe, der sich nach Meinung der Majorität „in lobenswerter Weise" dem Diktat der lange am Busen gewärmten Jungtschechen unterworfen habe und dem spöttisch, da die Deutschen ja „gutmütige Leute" seien, „eine recht baldige und auch glückliche Heimreise ins gelobte Land" gewünscht wurde, denn seine Politik „bis zum heutigen Tage war polnisch, war jungtschechisch, war slawisch, war klerikal und reaktionär". Mehr Ausdrücke der Verachtung gab es gar nicht mehr. Wenn die Gefahr, zensuriert zu werden, beim Leitartikel Zurückhaltung gebot, wurde in einer entsprechend aufgemachten Wiedergabe der Ereignisse im Abgeordnetenhaus vollkommener Ersatz gefunden, so etwa in der Rede Κ. H. Wolfs vom 6. Mai 1897 im Parlament, die an Radikalismus nicht mehr zu übertreffen war. Sein Satz „Die großpolnische Idee ist die Hauptsache für die heutige Regierung . . .", der den Vizepräsidenten David Ritter von Abrahamovicz veranlaßte, ihm das Wort zu entziehen, wurde zu einem geflügelten Ausspruch. Harmlose Vergleiche wie jener mit „einem Küchenchef, der den Slowenen Krapfen geben soll", doch den Zeitpunkt schlecht wählt, „da ihm gerade das Backschmalz ins Gesicht spritzt", wurden in den Maitagen seltener, dafür die unerbittlichen Vorwürfe häufiger, Badeni habe, was Graf Taaffe nie getan, sich zum „Vollstrecker der Verfolgungssucht erniedrigt", er versuche „die Rettung Österreichs durch die Beseitigung des deutschen Übergewichtes zu besorgen", er habe in Galizien viele Erfahrungen gesammelt, und nun biete es „dem Polen keine Schwierigkeiten mehr, die Ansprüche anderer Nationen zu übergehen und zurückzudrängen". Während die „NeueFreiePresse" am 30.Mai 1897 Badeni daran erinnerte, daß ein Ministerpräsident nicht bloß der Inhaber einer goldstrotzenden Uniform ist, auf die ein Kleiderkünstler recht viele Sterne und Borten näht, dieser vielmehr auch einen Gedanken haben müsse, fragte das „Tagblatt" unverblümt, ob es überhaupt einen Ministerpräsidenten gäbe, der einen solchen Unsinn, wie die Sprachenverordnungen, ernst nehmen könne. Wenn es gelingen werde, Badeni dorthin zu senden, woher er gekommen, werde sich ein Herzenswunsch des deutschen Volkes erfüllen95). Als Badeni dann im November ") „Tagblatt" 20. Juli 1897, S. 3 und 23. August 1897, S. 3. — Die sozialdemokratische Presse aber hetzte gerade in diesen Wochen das nationale Bürgertum zum Widerstand gegen Badeni auf. So schrieb der Grazer „Arbeiterwille" am 8. Juli 1897: „Also auf, ihr deutschen Bürger und Gemeinderäte, die ihr stets den Mund so voll nehmt mit dem Kampf gegen die Regierung der Sprachenverordnung . . . zeiget, ob ihr es ernst meint mit dem Kampf gegen das Ministerium." Einige Tage später, am 15. Juli, heißt es in der gleichen Zeitung: „Oder glauben die deutschen Bürger, mit ein paar Artikeln sei der Kampf gegen das polnische Ministerium zur Genüge geführt? Von den Schüssen dieser Kinderkanonen fällt keine Regierung." — Zur Haltung der sozialdemokratischen Presse vgl. E. P a c h i n g e r , Die Badenischen Sprachenverordnungen S. 28—47. *5) Unter den zahlreichen Postkarten mit politischen Karrikaturen, die damals vor allem von Studenten versandt wurden, scheinen jene besonders bevorzugt worden zu sein, die „DeutschÖsterreichs Hoffnung: Abzug Badenis" und „Badenis Glück und Ende" darstellten. Diese

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VII. Reaktion der Alpenländer auf die Badenischen Sprachenverordnungen

1897 gestürzt war, er „mit den Flüchen und Verwünschungen von Millionen Menschen beladen" zurück ins Privatleben trat und „in so schmählicher Weise in sein Nichts" versank „wie außer Metternich kein Minister in Österreich", als die Deutschen die Genugtuung hatten, daß „das unfähigste aller österreichischen Ministerien" endlich entlassen wurde, zeichneten ihn die Tageszeitungen als den „gewaltigen Stümper", der es verstanden hatte, „auch die regierungsfrömmsten Schichten" gegen sich aufzubringen, noch einmal „in aller Erbärmlichkeit". Am 28. April 1897 hatte ihn das Grazer „Tagblatt" schon einen „Zerstörer Österreichs" genannt, und dieser ungeheure Vorwurf wurde auch noch dem Gestürzten nachgerufen. An Schwere hat diese eine Anklage nur insofern seitdem verloren, als hinzugefügt werden muß, daß Badeni ehrlichen Willens die notwendige Friedensmission in Böhmen erfüllen wollte. Aber auch heute gilt das am 15. Juni 1897 von Karl von Grabmayr in der Bürgerversammlung zu Meran geprägte Wort: „Wenn regieren vorhersehen heißt, so hat unsere Regierung mit Erlassung dieser Verordnung einen glänzenden Nichtbefähigungsnachweis erbracht; denn die Regierung hat von alledem, was nach diesen Verordnungen kommen mußte und gekommen ist, nichts, gar nichts vorhergesehen."9®) Neben der persönlichen Erniedrigung Badenis kennzeichnet die Forderungen der deutschen nationalen Tagespresse97) die Parole nach bedingungsloser Zurücknahme und nach Aufhebung der Sprachenverordnungen als Voraussetzung für die Beschickung von Ausgleichsverhandlungen seitens der Deutschen. Dieser Kampfruf, unklug und unpolitisch von den Provinzblättern aufgebracht und leidenschaftlich vertreten, wurde bedeutungsvoll, da sich Ludwig Schlesinger in den ersten Julitagen ihm unterwarf, in der „Neuen Freien Presse" eine Erklärung in diesem Sinne abgab und sich damit selbst und der Parteiführung die politische Bewegungs- und Entschlußfreiheit raubte. Selbst nach dem Sturze Badenis wurde an dieser Losung krampfhaft festgehalten und damit günstige Ausgleichsmöglichkeiten vernichtet. Die Provinzpresse ließ notwendige politische Verhandlungen und Taktikänderungen nicht mehr zu, sie diktierte und bestimmte die innerstaatliche Politik der Deutschen. Hier liegt die Berechtigung, sich mit der Provinzpresse der Badenizeit zu beschäftigen und die Verhältnisse außerhalb von Wien und Prag zu beleuchten. Nicht mehr die deutschen Abgeordneten und nicht die deutschen Wählerschaften waren es, die Politik machten, sondern die jungen, unerfahrenen, aus den Burschenschaften kommenden Redakteure der Provinzblätter, „einige Schreier, deren Gewissenlosigkeit nur von ihrer Borniertheit und Ignoranz erreicht wurde". J. Patzelt erzählt bitter, ein Redakteur eines kleinen Provinzblättchens sei auf die Idee gekommen, „daß den Deutschen sofort geholfen würde, wenn ihre Abgeordneten das Ministerium Badeni unter Anklage stellen. Karten wurden teilweise in Aussig und Leipa, aber auch in Cilli gedruckt. — Vgl. dazu auch J. Ο f η e r: Die Sprachenverordnung. — Sprachenverordnungen des Grafen Badeni. ··) K. v. G r a b m a y r , Die Sprachenverordnungen S. 18 f. ") Die von J. K o l a r vorliegende ungedruckte Grazer phil. Dissertation (Die Sprachenverordnungen Badenis im Spiegel der deutschen nationalen Presse Steiermarks), im Winter 1940 eingereicht, trägt allzu deutlich die Signatur der Entstehungszeit und geht an den Problemen vorbei, ohne sie zu sehen. Die von der Hand des begutachtenden Professors (Hans Pirchegger) stammenden zahlreichen Randbemerkungen in dem in der UB Graz aufliegenden Exemplar lassen die Mangelhaftigkeit der Arbeit noch deutlicher hervortreten. Auch die ungedruckte Innsbrucker phil. Dissertation von E. P a c h i n g e r (Die Badenischen Sprachenverordnungen) leidet darunter, daß der Verfasserin durch kriegsbedingte Bergungsaktionen wichtige Zeitungen ganz oder teilweise nicht zugänglich waren.

Verhängnisvoller Radikalismus der Provinzpresse

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Fünf, sechs deutschnationale Provinzblätter druckten das kritiklos nach, und siehe da, seitdem wurden — was hier über die Genesis der Ministeranklagen gesagt wird, ist buchstäblich wahr — von der deutschen Opposition die Ministeranklagen halbdutzendweise fabriziert; ein viertel Dutzend wurde immer zugleich fertig, denn die Deutsche Volkspartei durfte nicht den Schönerianern und jener nicht die Deutsche Fortschrittspartei nachstehen, das wäre ja wieder Verrat am Deutschtum gewesen!"98) Die Provinz erzwang das Fernbleiben der Deutschen von den von Badeni eingeleiteten Ausgleichsversuchen, deren Gelingen die traurigen Vorgänge im Parlament nach Eröffnung der XIII. Session verhindert hätte. 9S

) J. Ρ a t ζ e 11, österr. Jahrbuch 1897, S. 94.

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Sutter, Sprachenverordnungen II.

VIII. DER STURZ Β ADENIS Nach Schließung der XII. Session des Abgeordnetenhauses am 2. Juni hatte Badeni verlauten lassen, es sei beabsichtigt, während der parlamentarischen Pause zwischen dem Verfassungstreuen Großgrundbesitz, der Fortschrittspartei und den Jungtschechen Verhandlungen anzuknüpfen, um einen nationalen Ausgleich in Böhmen herzustellen. Die gemäßigten Elemente waren durchaus gesonnen, eine Ausgleichskonferenz zu beschicken, allein Badeni begann die ihm für die Gewinnung der widerstrebenden Kräfte zur Verfügung stehende Zeit eines kurzen Sommers mit jenem Geheimerlaß vom 2. Juni, mit dem er die Schönerianer mundtot machen wollte, um mit den verantwortungsbewußten Politikern leichter verhandeln zu können. Zwar hüteten sich die Schönerianer und ihre Gesinnungsgenossen, mit den Behörden in Konflikt zu kommen, aber diesen kleinen Vorteil mußte Badeni mit der Erbitterung weitester Volkskreise erkaufen. Trotzdem standen die Chancen nicht schlecht. Die Majorität konnte sich nicht mehr darüber hinwegtäuschen, wie brüchig ihr innerer Zusammenhalt war. Am 20. Juni distanzierte sich der Klerikale Alfred Ebenhoch, der spätere Landeshauptmann von Oberösterreich, in einer Rede in Peuerbach vom staatsrechtlichen Programm der Jungtschechen, denen dadurch zum Bewußtsein kam, daß sie innerhalb der Parlamentsmajorität gerade mit den essentiellen, staatsrechtlichen Forderungen ihres Programms isoliert waren. Von den Aftliberalen versuchte Johann Freiherr von Chlumecky die Annäherung der Deutschen an die Regierung vorzubereiten und erklärte so gegenüber einem Pester Blatt, daß er die gegenwärtige österreichische Regierung jedenfalls geeigneter halte, die reaktionäre Strömung aufzuhalten als die nach ihr folgende, ein Satz, der als Aviso aufgefaßt und verstanden wurde1). Badeni aber, der die Deutschen nicht gewinnen, sondern unter die Autorität der Regierung bringen wollte, erregte erneut stürmischen Unwillen, als er den für den 13. Juni nach Eger einberufenen deutschen Volkstag verbot. Durch diese *) Chlumecky, der als Präsident der Südbahn in Budapest weilte, empfing am 16. Juni 1897 einen Mitarbeiter des „Magyarorszag", dem gegenüber er sich zur politischen Lage in Österreich äußerte: „Ich habe während meiner ganzen politischen Laufbahn mich niemals einem Interview gestellt, und ich will diesem Grundsatz auch jetzt nicht untreu werden; allein mit rein orientierenden Informationen will ich Ihnen gerne dienen und Ihnen meine Ansicht mitteilen. Nach meiner Auffassung ist die Lage in Österreich wahrhaft ernst, sehr ernst, und ich sehe auch kaum noch einen Ausweg. Wenn es nicht rasch gelingt, Deutsche und Tschechen mit einander zu versöhnen, so geraten wir in eine Strömung, die ganz direkt in die Reaktion treibt. In allen Freiheitsfragen bilden die Deutschen und Tschechen die wichtigsten Elemente, ohne deren Zusammenwirken solche Fragen — natürlich im liberalen Geiste — nicht gelöst werden können. Der Grund für die Erlassung der letzten Sprachenverordnungen ist mir nicht vollständig klar. Ich bin nun der Meinung, daß, wenn es nicht rasch gelingt, die Deutschen mit den Tschechen auszugleichen, die Reaktion unbedingt über uns hereinbricht, deren Folgen dann ganz unabsehbar sein werden." Auf die Frage, ob Freiherr von Chlumecky die gegenwärtige österreichische Regierung für geeignet halte, um die reaktionäre Strömung zu verhindern, erwiderte er: „Jedenfalls halte ich sie für geeigneter als diejenige, die nach ihr folgen würde." Die „Neue Freie Presse" brachte diesen Wortlaut ohne Kommentar (17. Juni 1897 S. 3).

Möglichkeiten eines nationalen Ausgleichs — Brüchigkeit der Majorität

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„kopflosen, vexatorischen Maßregeln der Regierung"2) wurden die Deutschböhmen in jene Erregung versetzt, die sie zur Beute einiger politischer Abenteurer machten. Es hat sich nachträglich gezeigt, daß Badeni sofort nach Schließung des Abgeordnetenhauses eine Ausgleichskonferenz selbständig, ohne auf die Initiative der Parteien zu warten, mit positiven, bis in die Details ausgearbeiteten konkreten Vorschlägen hätte vorbereiten sollen, also zu einem Zeitpunkt, da jenen Elementen in der Deutschen Fortschrittspartei und in der Deutschen Volkspartei, die wußten, daß es eine Politik ohne Kompromisse nicht gibt, noch nicht gänzlich die Zügel entglitten waren. Badeni baute Mitte Juni 1897 wiederum auf den Verfassungstreuen Großgrundbesitz, von dem er hoffte, er könne ihn veranlassen, die Initiative zu den Ausgleichsverhandlungen zu ergreifen. Graf Oswald Thun-Salm-Reifferscheidt, Vertrauensmann dieser Parteigruppe, suchte seit Ende Mai zwischen Badeni und dem Abgeordnetenhaus zu vermitteln, doch stand er mit der Ansicht, „daß man ganz gut in Unterhandlungen treten könnte, ohne die momentane Annullierung der Sprachenverordnungen zu fordern", völlig isoliert da3). Die Verhandlungen waren um so schwieriger, als Badenis 2 ) J. Ρ a t ζ e 11, österr. Jahrbuch 1897, S. 93. ') Brief Thuns an den Fürsten Alain Rohan vom 14. Juni 1897 nach Ρ. Μ ο 1 i s c h , Briefe S. 353 ff. — Die großen Erwartungen und Hoffnungen, die vielfach auf Badeni gesetzt worden waren, belegt die Flugschrift des Publizisten J u l i u s L a n g , Badeni und das neue Ministerium. Der Verfasser gehörte der Vereinigung katholischer konservativer Bürger Wiens an und schrieb nach der Programmrede des Ministeriums Badeni 1895: „Instinktiv fühlt man, daß in dem Grafen Badeni ein Mann von außergewöhnlicher Bedeutung das Staatsruder ergriffen h a t . . . So spricht nur ein Mann, der mit klarer Einsicht in das Wesen seiner Aufgabe jene Selbstverständlichkeit und Tatkraft verbindet, welche die wertvollste Eigenschaft eines leitenden Staatsmannes i s t . . . Daß Graf Badeni den M u t gehabt hat, es auszusprechen, daß ,die auf dem historischen Momente beruhende traditionelle Stellung und die allen anderen Völkern Österreichs voranleuchtende Kultur des deutschen Volkes' bei jeder österreichischen Regierung die ihr gebührende Beachtung finden muß, das beweist allein schon, daß wir in dem neuen Ministerpräsidenten einen bedeutenden, vorurteilslosen und echt österreichischen Staatsmann vor uns haben. Hätte ein deutscher Minister diese Worte gesprochen, so würden ihm vielleicht die Vertreter der nichtdeutschen Volksstämme Parteilichkeit für seine Nation vorgeworfen haben. Dem Polen Badeni kann ein solcher Vorwurf nicht gemacht werden; sein obiger Ausspruch zeigt nur, daß er, frei von jeder nationalen Engherzigkeit, sich auf jenen höheren Standpunkt zu erheben vermag, welcher dem Charakter des österreichischen Vielvölkerstaates entspricht." Genau ein Jahr später stellte der gleiche Verfasser fest, „daß die Politik des Grafen Badeni allen billigen und gerechten Forderungen entsprochen hat und auch Erfolge aufzuweisen hat". (J. L a n g , Ein Jahr Badeni S. 4 ff.). An Schlagfertigkeit habe sich Badeni seinen Gegnern ebenbürtig gezeigt und er sei „weder dem Meister der volkstümlichen Redekunst Herrn Dr. Carl Lueger, noch dessen minderbegabten Gesinnungsgenossen etwas schuldig geblieben". Badenis „vornehme Ruhe", welche ihn „auch in dem hitzigsten Gefechte niemals verläßt", habe jedoch die Leidenschaftlichkeit der Debatte gemildert. „Man war seit langen Jahren nicht mehr gewohnt, einen der Redekunst so mächtigen Premier-Minister vor sich zu haben." Badeni habe sich „sowohl in der Form als im Ausdruck" als ein „geradezu meisterhaft geschulter Redner" erwiesen, „der die deutsche Sprache in seiner Gewalt hat und kaum einen Anflug von Dialekt zeigte". Neben Badenis Reden seien vor allem die Bilinskis „mit ihren großen Gesichtspunkten und festen Zielen zu nennen". Seit Bruck und Dunajewski sei „keine solche Kapazität mehr in dem Prinz-Eugen-Palais in der Himmelpfortgasse ansässig" gewesen. Neben Badeni und Bilinski stellte Lang als Dritten Eduard von Rittner, da dessen Name mit der Wahlreform unzertrennlich sei. Größere Schwierigkeiten als die Wahlreform habe die „Lueger-Frage" bereitet, allein auch diese sei von Badeni „glänzend" gelöst worden. „Daß die liberale Partei den Verlust ihrer Herrschaft im Wiener Rathause, der ja doch nur 4*

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VIII. Der Sturz Badenis

Haltung gegenüber der Majorität des Abgeordnetenhauses keineswegs eindeutig beurteilt werden konnte. Wohl hatte er den Adreßentwurf nicht gebilligt, doch andrerseits bei Schließung des Reichsrates allein der Majorität die Gelegenheit gegeben, ihren Standpunkt zu präzisieren. Die zögernden Bemühungen gediehen trotzdem immerhin so weit, daß die liberale Parteipresse Ende Juni die Bedingungen fixierte. Ein „österreichischer Staatsmann" verlangte am 26. Juni im „Neuen Wiener Tagblatt" die Sistierung der Badenischen Sprachenverordnungen, um die Bahn für ein Nationalitätengesetz freizugeben, das bestimmen sollte, daß in den von mehr als einem Volksstamm bewohnten Ländern jeder Volksstamm seine Rechte durch eigens von diesem gewählte und in einer Nationalkammer vereinigte Vertreter geltend machen könne und daß die Wahlordnung für die Nationalkammer und deren Einrichtung im Wege der Landesgesetzgebung zu erfolgen habe. In den nur von einem Volksstamm bewohnten Ländern sollte dieser in Angelegenheiten des Gesetzesartikels 19 durch den Landtag vertreten werden. Ein ihre eigene Schuld ist, nicht zu ertragen vermochte, das erscheint wohl begreiflich, aber den Grafen Badeni hierfür verantwortlich zu machen und von ihm Unmögliches zu verlangen, das grenzt an Torheit und politischen Unsinn." Auch Lang bringt den Frontwechsel der „Neuen Freien Presse" von einer durchaus positiven zu einer rein negativen Einstellung gegenüber Badeni mit der Wiener Bürgermeisterfrage in Zusammenhang. „Das Hauptorgan des abgewirtschafteten Liberalismus in Wien, welches noch im vorigen November dem Grafen Badeni zujubelte . . . kehrte jetzt den Spieß um und bekämpfte seit dem Tage, wo Dr. Lueger zur kaiserlichen Audienz berufen wurde, dieselbe Regierung bald offen, bald versteckt, aber fast immer mit den vergifteten Waffen, welche dieses Organ noch gegen alle Ministerien, selbst jene, die seiner Partei nahe standen, wie z.B. das Ministerium Lasser, genannt Auersperg, gebraucht hatte." Auch der 1896 — unglücklicherweise, wie sich zeigen sollte — nicht erfolgte Abschluß des Ausgleiches mit Ungarn gehe nicht auf Kosten Badenis, da die Vertagung der Erledigung auf Wunsch der ungarischen Regierung beschlossen wurde. Dieser gegenüber habe Badeni die österreichischen Rechte standhaft gewahrt. In der Innenpolitik habe „die konziliante Form des persönlichen Verkehres, welche dem Grafen Badeni eigen ist, manche Gegensätze gemildert". Es sei „jedenfalls eine dankenswerte Neuerung, daß bei den Soireen des Herrn Minister-Präsidenten auch jene Abgeordnete, welche die Regierung prinzipiell bekämpfen, gastfreundliche Aufnahme finden. Das Palais des Ministeriums des Innern blieb in den letzten Jahren ziemlich vereinsamt. Heute öffnen sich wieder seine prunkvollen, glänzend restaurierten Räume zum Empfange und zu größeren glänzenden Soirien." Die konservativen Katholiken hätten allen Grund, ihr Vertrauen und ihre Sympathien dem Grafen Badeni auch fernerhin zu bewahren. Die Begrüßungsrede des Statthalters Sigismund Graf Thun beim vierten österreichischen Katholikentag in Salzburg habe „großes Unbehagen innerhalb der bankerotten liberalen Linken" verursacht, „welche vor ihrem Hinsiechen noch ein Lebenszeichen von sich zu geben als notwendig erachtete, um gewisse judenliberale, kirchenfeindliche Wählerkreise zu captivieren". Graf Badeni habe sich durch die im Abgeordnetenhaus erfolgte Interpellation nicht einschüchtern lassen. Er habe mit Mannesworten geantwortet, „eines österreichischen Ministers würdig", mit katholischen Worten, „wie wir sie im katholischen Österreich zu hören leider schon lange entwöhnt waren". Es müsse getrachtet werden, „daß die Katholische Volkspartei numerisch stark und in sich einig auf dem Plan erscheine." — Im Gegensatz zu dieser wenige Monate vor den Neuwahlen von zumindest einem Teil der Katholischen Volkspartei offensichtlich politisch propagierten Haltung gegenüber dem Ministerium Badeni stehen die Pläne Badenis für eine Regierungsmehrheit im Abgeordnetenhaus, in welche er die Katholische Volkspartei nicht einbeziehen wollte (Siehe I. Band S. 142 und S. 222.) — Schon im Herbst 1895 verhandelte Badeni über die Gründung eines großen Regierungsblattes, doch zerschlug sich der Plan eines Konkurrenzblattes zur „Neuen Freien Presse". Zu deren Geschichte und Rolle in der Donaumonarchie A. W a n d r u s z k a , Geschichte einer Zeitung.

Lipperts „Was nun?" —Pfersche-Ulbrichscher Sprachengesetzentwurf

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positiver Vorschlag, dem die Stellungnahme des Oberstlandmarschall-Stellvertreters von Böhmen, Julius Lippert, und der Gesetzentwurf Pfersche-Ulbrich folgten. Lippert stellte am 27. Juni in der „Neuen Freien Presse" unter der Überschrift „Was nun ?" die Frage: „Was soll denn bei der jetzigen Lage der Dinge ausgeglichen werden ?" Er ging dabei von der Feststellung aus, daß das, wodurch die Deutschen Böhmens und Mährens in ihrer nationalen Existenz bedroht werden, nicht so sehr die tschechische Sprache als vielmehr der tschechische Zentralismus sei, daher für die deutsche Seite der Föderalismus, die administrative Teilung des Landes das Programm bleiben müsse und in der administrativen Sonderung des deutschen und des tschechischen Gebietes in Böhmen die Basis des Friedens zu schaffen sei. Damit hat Lippert offensichtlich kraft seiner Autorität den böhmischen Sprachengesetzentwurf vorbereitet, den die Prager Universitätsprofessoren Emil Pfersche und Joseph Ulbrich am 29. Juni 1897 im Morgenblatt der „Neuen Freien Presse" veröffentlichten und der in erster Linie die Teilung Böhmens in einsprachige und zweisprachige Gerichtsbezirkssprengel vorsah. Dadurch wären 108 einsprachige Bezirksgerichte mit tschechischer Gerichtssprache, 81 einsprachige mit deutscher Gerichtssprache und 32 zweisprachige Bezirksgerichte entstanden, während der dann von Badeni für die geplante Ausgleichskonferenz im August 1897 vorbereitete Gesetzesentwurf bei Vermehrung der Gerichtsbezirke 113 tschechische, 80 deutsche und 41 gemischte vorsehen wollte. Einsprachige tschechische Kreisgerichte sollten nach Pfersche-Ulbrich in Jungbunzlau, Kuttenberg und Tabor, einsprachig deutsche Gerichtshöfe in Böhmisch-Leipa, Brüx, Eger, Leitmeritz und Reichenberg bestehen (§ 5), wobei aus dem Sprengel in Brüx das Bezirksgericht in Laun und aus dem Sprengel des Kreisgerichtes in Leitmeritz die Bezirksgerichte in Raudnitz und Libochowitz ausgeschieden und im Verordnungswege anderen Gerichtshöfen zugewiesen werden sollten, welche die Gerichtssprache der genannten Bezirksgerichte gebrauchten (§ 26). Zweisprachige Gerichtshöfe sollten das Landesgericht in Prag, das Handelsgericht in Prag und die Kreisgerichte Chrudim, Jicin, Königgrätz, Pilsen und Pisek sein. Bei den einsprachigen Gerichten sollte regelmäßig nur die Gerichtssprache gebraucht werden, „die berechtigte Anwendung der nicht gerichtsüblichen Landessprache" jedoch durch einen weitgehenden „Übersetzungsdienst" gesichert sein (§ 6), der ermöglichen sollte, daß schriftliche Eingaben bei allen Gerichten in der einen oder anderen Landessprache überreicht (§ 7) und mündliches Anbringen in der Nichtgerichtssprache durch den zum Übersetzungsdienst berufenen Beamten aufgenommen werden könnten (§ 8). Für die zweisprachigen Gerichte (§§ 16—21) sollten die Badenischen Sprachenverordnungen in modifizierter Weise gelten. Bei einsprachigen Gerichten wären nur solche Beamte anzustellen gewesen, welche die Kenntnis der Gerichtssprache in Wort und Schrift nachgewiesen hätten. Bei zweisprachigen Gerichten sollten beider Landessprachen kundige Beamte nach Maß der tatsächlichen Bedürfnisse angestellt, beim Oberlandesgericht in Prag elf zweisprachige und je fünfzehn einsprachige Ratsstellen vorgesehen werden (§ 24). Für die Geschäfte des Übersetzungsdienstes sollten richterliche Hilfsbeamte oder Beamte der Gerichtskanzlei bestellt und besonders beeidet werden (§ 25). Dem Entwurf fügten Ulbrich und Pfersche einen ausführlichen, lesenswerten Motivenbericht an4). Obwohl das Pfersche-Ulbrichsche Projekt von dem bisher von den Deutschen in Böhmen eingenommenen Standpunkt ausging, war es zum Scheitern verurteilt, «) Siehe Anhang I, S. 447—454.

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VIII. Der Sturz Badenis

da die Verfasser von den Organen Schönerers sofort als „Verräter" gebrandmarkt wurden. Nur mit „unangemessenem Wohlwollen", schrieb das „Grazer Tagblatt", könne man den Gesetzesentwurf „als harmlos doctrinäre Gelehrtenarbeit" bezeichnen. „Von der nach Lampenöl duftenden Arbeit, die deshalb eine besondere Ungeschicklichkeit ist, weil sie den grundsätzlichen Boden der Deutschen verläßt: jeden Ausgleichsgedanken zurückzuweisen, solange die Sprachenverordnungen bestehen —, gilt vielleicht das Wort: Das ist mehr als ein Verbrechen, das ist ein Fehler." Pfersche werde den Versuch, sich bemerkbar zu machen, wahrscheinlich mit dem Verluste seines Mandates bezahlen. Der Stadtrat von Teplitz-Schönau berief tatsächlich eine Bürgermeisterkonferenz des Aussiger Wahlbezirkes, dessen Mandat Pfersche ausübte, zu einer allgemeinen Mißtrauensaktion gegen diesen ein, während die Zeitungen weiter geiferten, „derartige Aufdringlichkeiten" einen „nackten Verrat" nannten und höhnten, deutsche Männer, insbesondere deutsche Volksvertreter, hätten in der jetzigen Zeit „etwas Gescheiteres zu tun, als Regierungsvorlagen auf Grund tschechischer Standpunkte auszuarbeiten, um zu zeigen, wie man ein Sprachengesetz in den letzten Jahren des Grafen Taaffe gemacht haben würde". Doch auch Lippert wurde nicht verschont, und die Wiener „Deutsche Zeitung" schrieb, den Widerstand des deutschen Volkes hätten die Volksvertreter nicht durch „Was nun?"-Rufe, allerlei Vermittlungsvorschläge und „Goldene Brücken"-Entwürfe, die nichts anderes bewiesen, „als daß ihre Verfasser eher das Zeug haben, Regierungsvorlagen zu entwerfen als Opposition zu machen", abzuschwächen und bloßzustellen. Die Fortschrittspartei hatte nicht den Mut, den billigen Vorwurf „Verrat" zu ertragen, und ihre Führer waren nicht mannhaft genug, auf ihrer besseren Einsicht zu beharren. So gab die deutschböhmische Fortschrittspartei die Erklärung ab, „die unzeitgemäßen Privatarbeiten" seien „private Kundgebungen" gewesen, „Luftgebilde", die „eher Täuschungen herbeiführen als zur Verständigung hinüberleiten" könnten. Den Kopf müsse sich die Regierung selber zerbrechen. Das Bittere an diesen demagogischen Floskeln war, daß sie von ihren Verfassern auch wirklich geglaubt wurden und die deutsche Politik dem hohlköpfigen Radikalismus ausgeliefert war. Zwar hatten auch die Jungtschechen, des Beistandes des böhmischen Feudaladels sicher, auffallend rasch in der Tagespresse das Projekt der beiden Professoren abgelehnt, aber es ist nicht zu zweifeln, daß die Deutschen im Verein mit der Regierung auf dieser Basis die Jungtschechen zum Nachgeben hätten bringen können, zumal Kaizl und Pacäk sich nicht abgeneigt zeigten, auf dieser Grundlage zu verhandeln. Kaizl sah die Möglichkeit dadurch gegeben, daß der Entwurf keine deutsche Staatssprache forderte, nicht auf den Wiener Punktationen und der Schönbornschen Verordnung beharrte, die Gleichberechtigung der deutschen und tschechischen Sprache anerkannte und mit den Fundamentalartikeln übereinstimmte5). Am 4. Juli nahm Pacäk zum Pfersche-Ulbrichschen Gesetz Stellung und ließ dabei durchblicken, daß man die Zeit zur Erlernung der zweiten Landessprache verlängern und sich inzwischen mit der Doppelsprachigkeit der Ämter begnügen könne. Am 8. Juli erstattete Badeni Kaiser Franz Joseph Bericht über seine Bemühungen, am Tage hernach gab das offiziöse „Fremdenblatt" bekannt, daß die ersten Verständigungsversuche als gescheitert angesehen werden müßten. Endgültig brachen Badenis Berechnungen zusammen, als am 11. Juli der Verfassungstreue Großgrundbesitz auf einer großen Parteiversammlung beschloß, den deutschen 6

) J. Κ a i ζ 1, Ζ meho 2ivota III, S. 417.

.Unbedingte Obstruktion"

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Stammesgenossen treu zur Seite zu stehen, eine Kundgebung, die „viel ungeheuchelte Zustimmung" fand und „bis Oben hinauf einen starken Eindruck machte" 6 ). Die erhoffte Umbildung und Erweiterung der Parlamentsmajorität war damit gescheitert. Das „Grazer Tagblatt" aber schwelgte in diesen Tagen in der Alternative: „Entweder Aufhebung der Sprachenverordnung oder unbedingte und unbeschränkte Obstruktion." Daher bat bereits Mitte Juli Graf Oswald Thun-Salm, dieser besonnene Vermittler, den Minister des k. u. k. Hauses und des Äußeren Graf Agenor Goluchowski dringend, seinen Einfluß geltend zu machen, für die Zeit der Verhandlungen die Sprachenverordnungen zu sistieren7), da sonst die Deutschen gewiß zu keiner Mitarbeit zu bewegen seien, die Tschechen aber darauf eingehen könnten, da die Sprachenverordnungen ja sofort bei Scheitern der Verhandlungen wieder in Kraft treten könnten. Jetzt erst, Mitte Juli, ließ Badeni im Innenministerium eine detaillierte Grundlage für die Verhandlungen ausarbeiten. Schon im Hinblick auf den geplanten Ausgleich und angesichts des bereits im Juni „auf den Höhepunkt gesteigerten Haß beider Nationalitäten" Böhmens, der „Erregung und Erbitterung in allen deutschen Kreisen, wie sie noch nie vorhanden war", und der „vollständigen Lahmlegung der selbständigen Aktionsfreiheit der gemäßigten Parteien"8) hätte Badeni alles vermeiden müssen, was die Erregung der Deutschen vermehren konnte, und alles versuchen, daß die gemäßigten Elemente wieder das Heft in die Hände bekämen. Gerade im Juli 1897 jedoch hat er sogar jene Deutschen gereizt und zum Widerstand gegen die Regierung aufgebracht, die sich sonst nicht mit dem neuen Kurs solidarisch erklärten9). Der für den 13. Juni anberaumte, doch verbotene deutsche Volkstag in Eger war von den drei deutschen Obstruktionsparteien, der Deutschen Volkspartei, der Schönerergruppe und der Fortschrittspartei gemeinsam unter peinlichster Beachtung aller gesetzlichen Vorschriften abermals, und zwar für den 11. Juli einberufen worden. Da er „eine großartige einmütige Kundgebung des gesamten deutschböhmischen Volkes gegen die Sprachenverordnungen, gegen das Kabinett Badeni und für die unbedingte Obstruktion" werden sollte, wurde er von der Bezirkshauptmannschaft Eger, trotz der vom böhmischen Statthalter Graf Karl Coudenhove gegenüber Badeni erhobenen Bedenken10) über dessen Weisung wegen „ausgesprochenen demonstrativen Charakters" verboten. Das „Grazer Tagblatt" fragte sofort, ob die Rede des Prinzen Schwarzenberg in Budweis, mit der er die Monarchie in Trümmer schlagen wollte11), oder das Fest des tschechischen Schulvereines im deutschen Brüx am 5. Juli, bei dem es zu solchen Reibereien gekommen war, daß Dragoner zur Wiederherstellung der Ruhe eingesetzt werden mußten, keinen demonstrativen Charakter gehabt hätten. Fast ist aus dem „Tagblatt" ein Frohlocken herauszuhören, daß Badeni „mit ungesetz·) Brief des Grafen Oswald Thun-Salm an den Fürsten Alain Rohan vom 18. Juli 1897 nach P. M o l i s c h , Briefe S. 355f. 7 ) Brief Oswald Thuns an den Fürsten Alain Rohan vom 18. Juli 1897 nach Ρ. Μ ο 1 i s c h, Briefe S. 356. «) Ebenda S. 354. 9 ) „. . . die ratlose Regierung . . . verstand nur, durch eine Reihe von Ungeschicklichkeiten . . . die gewaltige deutsche Volksbewegung zu verstärken und zu vertiefen. Auch in Tirol, wo man sonst an einen äußerst ruhigen Verlauf des politischen Lebens gewöhnt war, kamen die Geister, vom nationalen Wirbel erfaßt, in stürmischen Aufruhr." (K. v. G r a b m a y r , Erinnerungen S. 48.) 10 ) Ρ. Μ ο 1 i s c h, Deutschnationale Bewegung S. 192. ") Siehe I. Band S. 271 f.

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VIII. Der Sturz Badems

licher Gewalt" die wahre Volksstimmumg unterdrücken wollte, denn je mehr der feindliche Sturmwind in die Glut blase, nur um so heller flamme sie auf. „Die d e u t s c h n a t i o n a l e B e w e g u n g i n Ö s t e r r e i c h " , schreibt es weiter, „ h a t k e i n e n b e s s e r e n Agitator als den Grafen Badeni mit seinem Systeme. Glaubt der Pole durch Leiden und Unterdrückung die Deutschen mürbe zu machen ? Nein, die eiserne Hand rüttelt täglich aufs neue unsere Ehre wach und macht die trägsten Glieder rührig. Herzlichen Dank, Graf Badeni!" Vom Bürgermeister von Eger wurde, obwohl er nicht der Einberufer des Volkstages war, im Erlaß der Bezirkshauptmannschaft, der das Verbot aussprach, die Widerrufung der Einladung verlangt, ein Begehren, das unmöglich im Einzelnen zu erfüllen war, da über 3000 Einladungen versandt worden waren. Die Einberufer hatten zudem nicht die Absicht, das Verbot zu beachten. „Man wird ja sehen", schrieb die „Ostdeutsche Rundschau", „ob die Regierung tatsächlich den Mut hat, frivolerweise die letzten Reste von österreichischem Patriotismus durch Bajonette und Mannlicher zu zerstören." Telegraphische Nachrichten aus Prag und Pilsen über Inmarschsetzung und Durchreise von berittenen tschechischen Sicherheitswachleuten, von Polizei und Gendamerie sowie von Statthaltereibeamten steigerte die „wahrhaft fieberhafte Aufregung" in Eger und seiner Umgebung, die durch die unwahrscheinlichsten Gerüchte genährt wurde. Obwohl alle Sonderzüge verboten wurden, trafen am 11. Juli doch zehntausend Deutsche, darunter über 70 Abgeordnete, in Eger ein, das festlichen Fahnenschmuck angelegt hatte. Die Ankömmlinge wurden im Triumph in die Stadt geleitet. Die Versammlung selbst sollte im Schießhause abgehalten werden, vor dem jedoch berittene Polizei Aufstellung genommen hatte. Da die offiziellen Einberufer des Volkstages gar nicht vom Verbot verständigt worden waren, verlangten die Abgeordneten Dr. Anton Pergelt und Dr. Alois Funke vom Regierungsbeauftragten die Ermöglichung der Versammlung. Dessen Antwort war ein entschiedenes Nein. Auf die Frage, ob man die Deutschen allenfalls mit Waffengewalt an der Versammlung hindern werde, wurde ihnen erwidert, daß alle Mittel rückhaltlos angewandt werden würden. Die Nachricht vom Ausgang der Intervention löste die ersten Reibungen mit den unglückseligerweise herbeigerufenen tschechischen Polizisten aus, die sich selbstverständlich gegen die „Schmähungen und die Bearbeitung mit Stöcken" zur Wehr setzten und rücksichtslos mit ihren Pferden in die Menge ritten, später dadurch noch mehr gereizt, daß ihnen von den Gastwirten der Bezug von Verpflegung verweigert wurde. Nach einem formellen Protest bei der Bezirkshauptmannschaft zogen die Abgeordneten mit der Menge in den Hof des Stadthauses von Eger, in dem einst Wallenstein ermordet worden war. Hier wurde der berühmt gewordene sogenannte „Schwur von Eger" barhäuptig12) geleistet, zu dem der Leitmeritzer Bürgermeister und Advokat Dr. Alois Funke mit den Worten aufforderte: „Ein einig Volk von Brüdern, ein kräftiger, mannhafter, rücksichtsloser deutscher Volksstamm ist das deutsche Volk in Böhmen geworden, und an dieser historischen Stätte geloben wir noch einmal, fest, treu und deutsch I2

) Zur Erinnerung daran wurde eine Gedenktafel angebracht, deren Spruch Felix Dahn dem Bürgermeister zugesandt hatte: „Das höchste Gut des Mannes ist sein Volk, Das höchste Gut des Volkes ist sein Recht. Des Volkes Seele lebt in seiner Sprache. Dem Volk, dem Recht und unsrer Sprache treu Fand uns der Tag, wird jeder Tag uns finden." (Bekanntgabe des Abg. Schücker am 22. Oktober im Parlament. XIII. Session S. 869.)

Die deutschen Volkstage in Eger und Klagenfurt

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zu bleiben; (brausende Hochrufe: ,Wir schwören es!') und nicht zu erlahmen, bis wir aus dem uns aufgedrungenen Kampfe als Sieger hervorgehen, bis die Sprachenverordnungen nicht mehr bestehen. (Lebhafter, andauernder Beifall.)"13) Bei Verlassen des Stadthauses kam es zu neuen Zwischenfällen mit der berittenen Polizei. Am Nachmittag zog die Volksmenge über die bayrische Grenze, um im Orte Waldsassen, wo in Gastwirtschaften Versammlungen mit Reden einzelner Abgeordneter abgehalten wurden, „freie Luft" zu atmen. Am Abend, nach Rückkehr der Teilnehmer an den Kundgebungen in Waldsassen, kam es zu ernsten, blutigen Zusammenstößen14), die sich an Badeni bitter rächen sollten, und zwar nicht so sehr deswegen, weil sie als Vorwand für jene Ministeranklage gegen Badeni dienen konnten, die von Viktor von Hochenburger in der ersten Sitzung der XIV. Session am 23. September 1897 eingebracht wurde. Die Teilnehmer am Volkstag in Eger waren durch das Verbot zu Helden, die Verwundeten, Verletzten und Verhafteten zu nationalen Märtyrern geworden. Ein besonnenes Gewährenlassen hätte Badeni weniger geschadet als dieses unbedingte Streben, die Autorität der Regierung und der Staatsmacht unter allen Umständen durchzusetzen, im Glauben, die Bevölkerung würde sich beugen, wenn sie die starke Hand spüre. Mit dem Volkstag von Eger mußte er alle Hoffnungen, mit den Deutschen zu einem Ausgleich zu kommen, begraben15), zumal am gleichen Tag die Deutsche Volkspartei in Klagenfurt einen „Deutschen Volkstag" abgehalten hatte. Badeni hatte diesen in der Hoffnung nicht verbieten lassen, daß sich ein Gegensatz zwischen den Alpen- und den Sudetenländern herausstellen werde. Seine Berechnungen, die Alpenländer würden ihre eigenen Wege gehen, erfüllten sich jedoch nicht. Männer wie Otto Steinwender, der noch bei Ankündigung der Obstruktion durch die in der Deutschen Fortschrittspartei vereinigten Böhmen die Alpenländische Deutsche Volkspartei aus dieser Taktik zuerst völlig, dann wenigstens in wirtschaftlichen Fragen heraushalten wollte und nur zögernd den von den Deutschböhmen ausgegebenen Parolen nachfolgte, gaben angesichts der nationalen Hochflut auf, Vernunft zu predigen. Der Klagenfurter Volkstag wurde zu einer Kriegserklärung an Badeni und — noch ist das von Dumreicher geprägte Wort „Gemeinbürgschaft" nicht allgemein aufgegriffen — zu einer Manifestation der „Einheit der Deutschen". Nichts aber hätte dem radikalen Flügel innerhalb der Deutschen Volkspartei willkommener sein können als die aus Eger eintreffenden und zur Verlesung gebrachten knappen und mit Spannung geladenen telegraphischen Nachrichten, da diese die Begeisterung ihrem Höhepunkt zuführten und das spontane Gelöbnis bewirkten, daß „die deutschen Älpler im Geiste den Brüdern im Norden treue Kampfgefolgschaft und volle Gemeinbürgschaft halten werden, möge da kommen, was da wolle". Nichts anderes sprach letztlich auch die vom steirischen Landesausschuß-Beisitzer Julius von Derschatta vorgelegte Entschließung aus: „Die versammelten Vertrauensmänner der Deutschen Volkspartei erklären i h r e u n bedingte und u n e r s c h ü t t e r l i c h e Gemeinsamkeit mit ihren 13

) Zahlreiche zeichnerische Darstellungen des „Schwurs von Eger" entstanden und dienten als Vorlage für die vielen Postkarten, die zur Erinnerung an dieses Ereignis in Verkehr gebracht wurden. — Eine sehr enthusiastische Schilderung der Vorgänge in Eger bei E. M a y e r L ö w e n s c h w e r d t , Schönerer S. 166—169. M ) Siehe die vom Abg. Schücker am 22. Oktober im Abgeordnetenhaus bekanntgegebenen Einvernahmen. (XIII. Session S. 854—869.) Badenis Rechtfertigung ebenda S. 869—871. 15 ) „Nach dem Tage von Eger konnte es für niemand mehr zweifelhaft sein, daß das Gewitter, das über Österreich heraufzog, unabwendbar sei." (T h. v. S ο s η ο s k y, Politik S. 180.)

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VIII. Der Sturz Badenis

d u r c h d i e S p r a c h e n v e r o r d n u n g e n z u n ä c h s t b e d r o h t e n und beleidigten S t a m m e s g e n o s s e n i n B ö h m e n u n d M ä h r e n und sie sind fest entschlossen, den Kampf, der ihnen aufgedrängt wurde, mit ihrer ganzen Kraft fortzuführen, bis dem deutschen Volke R e c h t u n d G e n u g t u u n g wird; sie billigen vollkommen die bisherige Haltung ihrer Abgeordneten im Reichsrate und sind überzeugt, daß dieselben a u c h i n H i n k u n f t dem Gebote der nationalen Ehre entsprechen und j e d e n A u s g l e i c h s v e r s u c h z u r ü c k w e i s e n werden, solange die Sprachenverordnungen aufrechterhalten werden. Die Deutschen der Alpenländer sind darauf gefaßt, einen langen und opfervollen Kampf führen zu müssen, sie sind sich aber auch der Kraft ihres Volkes bewußt und verachten alle Drohungen und Einschüchterungen; sie erklären insbesondere, daß sie a l l e n G e w a l t maßregeln einen Widerstand bis aufs ä u ß e r s t e entgegensetzen werden."

Die Auswirkungen des Volkstages in Eger zeigten sich sofort. Der Wiener Gemeinderat sprach am 23. Juli, verstimmt auch durch die Zuschrift des niederösterreichischen Statthalters an Lueger, daß der Ministerpräsident aus formellen und materiellen Gründen nicht in der Lage sei, dem Wiener Gemeinderatspräsidium die Audienz beim Kaiser zu erwirken16), „seine tiefste Entrüstung über die seitens der Regierung gegen das Recht der freien Meinungsäußerung des deutschen Volkes angewendeten Maßregeln aus" und gab „der Hoffnung Ausdruck, daß das deutsche Volk in unserem Vaterlande Österreich zum Schutze desselben den ihm aufgedrungenen Kampf siegreich bestehen werde". Zusätzlich berief Lueger die Christlichsoziale Partei, die sich bisher keineswegs mit den Obstruktionsparteien solidarisch erklärt hatte, zu einer Konferenz ein, bei der folgende Resolution angenommen wurde17): „Die Christlichsoziale Partei verurteilt auf das Entschiedenste die Bedrängung und Beschränkung der freien Meinungsäußerung, wie sie gegenüber den Kundgebungen des deutschen Volkes in Sachen der Sprachenverordnung, insbesondere gegenüber dem Volkstage in Eger stattfand. Sie wiederholt aufs Neue das bereits vom Wiener Gemeinderate gestellte Begehren um Rücknahme der Sprachenverordnung und Regelung der Sprachenfrage im gesetzgeberischen Wege unter Rücksichtnahme auf die berechtigten Ansprüche des deutschen Volkes in Österreich. Sie spricht die Erwartung aus, daß alle ehrlichen deutschen Österreicher in diesem Kampfe gegen die Sprachenverordnung und für ihr Volkstum ausharren werden, ohne sich durch Machenschaften einzelner Klerikaler, Judenliberaler und der mit diesen verbündeten Schönerianer auf Abwege bringen zu lassen."

Empört über die Ereignisse in Eger, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen, zeigten sich auch die tschechischen Blätter, doch war die Entrüstung unecht und geheuchelt und lediglich für die Straße, für die Masse bestimmt. Die jungtschechischen Führer frohlockten innerlich, denn all diese Geschehnisse kamen ihren Plänen und Zielen entgegen. Die Tschechen haben damals den Staatsstreich gewollt und auf diesen hingearbeitet. Sie haben sich nicht gescheut, dies offen auszusprechen. Das Gefühl, daß eine verfassungsrechtliche Umgestaltung unmittelbar bevorstehe, war ganz allgemein vorhanden18). Wiederum war es Zeno Graf " ) Siehe I. Band S. 247 ff. " ) J. Ρ a t ζ e 11, österr. Jahrbuch 1897, S. 90. — „Reichspost" 23. Juli 1897. ls ) So begleitete F r i e d r i c h T e z n e r seinen Beitrag über „Böhmisches Staatsrecht", veröffentlicht am 31. Juli 1897 in der Wiener Wochenschrift „Die Zeit" (Mitherausgeber Hermann Bahr) mit der Feststellung ein: „Jetzt, wo die czechisch-nationale Bewegung einer f u n d a m e n t a l e n v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e n U m g e s t a l t u n g unter scheinbar politisch nicht ungünstigen Verhältnissen z u s t r e b t , dürfte es am Platze sein, sie für den Zweck der Information eines größeren Publikums unter dem staatsrechtswissenschaftlichen Gesichtspunkt zu betrachten, zumal in ihrer politischen Begründung das Staats-

Staatsstreichpläne der Tschechen

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Welsersheimb, der gegenüber Kaiser Franz Joseph I., im Ministerrat vom 8. September 1897, eine Lösung von „gesamtstaatlichen Gesichtspunkten" aus verlangte und der offen aussprach, daß die große Gesamtheit der Bevölkerung die Erzielung allgemeiner Wohlfahrt aus unleidlichen Verhältnissen als eine Erlösung begrüßen würde19). Die Tschechen aber haben auch im Sommer 1897 auf Badeni, trotz der von ihm im Frühjahr gemachten Erfahrungen, einen ungeheuren Druck und Einfluß ausgeübt. Am 19. Juli forderte Kaizl schriftlich Badeni auf 20 ): „Seien Sie fest und zum Äußersten entschlossen, nicht in Ihrem Interesse, sondern im Interesse des Staates. Nicht um Ihre Person handelt es sich mehr, sondern um die Autorität der Krone und des Staates, um den Charakter Österreichs und seines Regierungssystems und seines Berufes. Von den 8 Millionen Deutschen Cislajthaniens sind es etwa 50% d. i. 4 Millionen, welche den Kaiser, den Staat und alle übrigen Völker terrorisieren wollen. Und warum ? Wegen der Sprachen-Verordnung ? Nein. Sondern weil man sieht, daß die 1879 angeschossene künstliche Präpotenz der Deutschen jetzt, nach dem Verfall der Linken, definitiv ihrem Ende zueilt. Darum der Verzweiflungskampf der Erben der Linken, der Deutschfortschrittlichen, welche sich besinnungslos unter Schönerers Commando stellen, und darum die Assistenz des früher auch zur Linken gehörigen verfassungstreuen Groß-Grund-Besitzes. Der Kaiser soll sich von Schönerer in's Bockshorn jagen lassen und dazu würden Sie die Wege ebnen, wenn Sie jetzt weichten und sich schwach erweisen. Und was würde erzielt werden, wenn Sie, ζ. B. zurücktreten würden? Was könnten Sie dem Kaiser raten? Können Sie dem Kaiser raten die Sprachen-Verordnung zu kassieren? So viel ist sicher, daß die Majorität, welche Ihnen gegenüber sehr leise auftritt und auftreten wird, dann erst recht fest und selbstbewußt sich fühlen würde. Die Polen wissen, um was es sich handelt, die Coalition unter Windischgrätz war ein letzter Versuch; mit Schönerer, Funke-Steinwender werden sich die Polen nicht koalieren. Man müßte dann in Österreich ein Minoritäts-Regime etablieren und als Hauptstütze dieses österreichischen Regimes die dem Herrn Schönerer gehorchenden Parteien aufstellen. Sie sehen, das geht Alles nicht, weil die Majorität wohl für Ihre Politik, aber für keine schwächere zu finden ist. Lassen Sie sich von Niemandem überreden, es dürfe ein polnischer Minister nicht den unvermeidlichen Streich führen, das sind blasse Sentimentalitäten. Sie sind zunächst nicht polnischer Minister, sondern österreichischer Minister Seiner österreichischen Majestät. Sodann ist nicht einzusehen, warum gerade ein Pole, der geborene Autonomist, nicht am meisten berufen sein sollte, den centralistischen verwickelten Knoten durchzuhauen. Und warum wollten Sie die seculäre That, den heilbringenden Umschwung in Österreich mutig herbeigeführt zu haben, Jemand anderen überlassen? Ich meinerseits würde im Gegenteil jeden beneiden, der berufen war, dabei mitzuwirken. Lassen Sie jetzt alle weiteren Conferenzen u. dgl. bei Seite. Sie erzielen dadurch gar nichts und die Deutschen machen Sie nur störriger und flößen ihnen nur Courage ein, bei uns aber wecken Sie nur Mißtrauen, und wir sind bisher gut dagestanden. Sie, malgri tout haben das recht der vernewerten Landesordnung von 1627, das Oktoberdiplom vom Jahre 1860 und gewisse kaiserliche Handschreiben den breitesten Raum einnehmen." (Sperrung hier.) — 1898 brachten die „Histor.-pol. Blätter für das katholische Deutschland" einen von „angesehener Seite aus Österreich" zugesandten Artikel, dem „als einer symptomatischen Kundgebung" Raum gewährt wurde. Der Verfasser dieses nicht gezeichneten Beitrages, der von christlicher Überzeugung ausging, sich aber ganz auf den Standpunkt tschechischer Parteibestrebungen hinsichtlich der nationalen Frage stellte, erklärte wörtlich: „Aber wir stehen heute nicht mehr vor der Revolution, wir stehen trotz momentan eingetretener Ruhe in Mitte der Revolution, wir stehen vor folgender Alternative: entweder Fortsetzung des Parlamentarismus, also sicherer Untergang Österreichs, oder, als einzig mögliche Rettung: der Staatsstreich; ist die Wahl so schwer?" (Band 122, 1898 S. 595 f. — Replik S. 854 ff.) " ) Siehe unten S. 96. 20 ) J. Κ a i ζ 1, Ζ miho Zivota III, S. 629 ff.

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VIII. Der Sturz Badems

Refus (Etappe Nr. 2.) bereits erhalten und historisch notiert. Damit genug. Lassen Sie jetzt die Deutschen wüthen, das schadet ja gar nichts, selbst wenn noch 3 mal alle reichsdeutschen Professoren der Neuen Freien Presse ihr Votum senden — ist alles schon dagewesen, vide Kuchelbad 1881. In der Politik wird schnell gelebt, heutiger Effekt ist übermorgen ganz verblaßt. Die Neue Freie Presse braucht schon jetzt einen Ersatz, zum mindesten die angebliche Thatsache der Ministerkrise. Sie wissen gar nicht, wie hungrig eine Opposition wird, wenn sie mit dem höchsten Caviar anfangt und dann gar nichts zwischen die Zähne bekommt: wir wissen das ex 1871—79 und ex 1891—95 und Hunger macht sehr schwach. Die einzige Politik ist jetzt: aufpassen, fest dastehen u. auch nicht den Schein eines Wankens oder Kompromittieren erwecken. Nach Eger sowenig Vorteil als möglich. Eger genügt, man hat gezeigt, daß auch den Deutschen vis ä vis die Staats-Gewalt ihren Willen durchsetzen kann. Dann aber im Herbste im Reichs-Rate die verneuerte Obstruction eine Weile toben lassen. Vereiteln die Herren die Delegations-Wahl — faut mieux — dann ist die 3. und letzte Etappe glänzend erreicht und die Stunde hat geschlagen."

Eine deutlichere Sprache konnte gar nicht mehr geführt werden. Von der Richtigkeit des in diesem Brief ausgesprochenen, zielsicheren Programms der Tschechen größtenteils innerlich überzeugt, übernahm Badeni dieses, wie die kommenden Ereignisse lehrten, und wahrte nur durch gespielten Widerstand den äußeren Schein. Lediglich vor der letzten Etappe in ihrer extremsten Form schreckte er zurück, da er die nunmehrige Abneigung Kaiser Franz Josephs gegen jedes Verfassungsexperiment, um so mehr gegen einen Verfassungsbruch kannte. Die übrigen Vorstellungen Kaizls über das für die Regierung Notwendige aber kehren in verblüffender Gleichheit später bei Badeni wieder. Wie schon bei den Verhandlungen vor Erlassung der Sprachenverordnungen zeigte sich nun auch jetzt, daß Badeni selbst politisch nicht schöpferisch war, daß er sich an die Beschlüsse des Ministerrates gar nicht gebunden fühlte, daß er Bedenken zu hören nicht gesonnen war und die Katastrophenpolitik im Einvernehmen mit den jungtschechischen Parteihäuptern weiter betrieb und dabei seine Kollegen im Ministerrat hinterging. Er hatte, wie wir aus einem Brief Kaizls vom 27. November 1897 entnehmen können, im Sommer seine Entschlüsse gefaßt und hielt nun an diesen fest, obwohl die Voraussetzungen wiederum nicht eintrafen, von denen er ausgehen wollte21). Ende Juli legte auf tschechischer Seite Friedrich Pacäk den Entwurf eines umfassenden Nationalitätengesetzes zum Schutze der Gleichberechtigung des böhmischen und des deutschen Volkes in Böhmen vor, das den Gebrauch beider Landessprachen bei den autonomen Behörden (I. Abschnitt), bei den Staatsbehörden (II. Abschnitt) und im Schulwesen (IV. Abschnitt) sowie die sprachliche Qualifikation der bei den Staatsbehörden angestellten Beamten (III. Abschnitt) und schließlich allgemein (V. Abschnitt) die Verwendung beider Sprachen im Landtag und bei Publizierung von Gesetzen und Kundmachungen regeln sollte. Der erste Abschnitt entsprach einem vonPacak bereits am 18. Jänner 1896 im böhmischen Landtag eingebrachten Antrag. Einen völlig neuen Gesichtspunkt brachte lediglich der § 12, der die Sicherstellung der Verhältnisse der beiden Nationalitäten in den Gemeinden und Bezirken einer besonderen, zu diesem Zwecke bestellten Landeskommission übertragen wollte, die durch die Landtagskurien zu wählen gewesen wäre. Hauptaufgabe dieser Landeskommission sollte sein, alle zehn Jahre, unabhängig von der Volkszählung, festzustellen, ob in den einzelnen Gemeinden oder Bezirken wenigstens ein Fünftel der Einwohner die zweite Landessprache gebrauchte, weil dadurch die betreffende autonome Verwaltungseinheit und Behörde automatisch ") J. Κ a i ζ 1, Ζ meho iivota III, S. 665.

Der Pacäksche Nationalitätengesetzentwurf

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zweisprachig werden sollte. Eine noch gefährlichere Bestimmung enthielt der II. Abschnitt, in dem Pacäk zwar den vielumstrittenen § 7 der Badenischen Sprachenverordnung auf die Fälle der doppelten Amtssprachigkeit einschränkte, dafür aber mit den §§15 und 17 den schwersten Einbruch in die halbwegs noch geschlossene deutsche Amtssprache versuchte. Nach § 15 sollte darüber, welche von den beiden Landessprachen in dem Umfange einer Staatsbehörde oder eines Gerichtes als i n n e r e A m t s s p r a c h e zu gelten hat, auf Grund der für die Gemeinden und Bezirksvertretungen geltenden Bestimmungen entschieden werden. Nur wenn die Amtssprache aller Bezirksvertretungen des ganzen Umfanges der bezüglichen Staatsbehörde eine und dieselbe war, sollte diese Landessprache auch als innere Amtssprache der Staatsbehörde gelten. Das war eine ungerechtfertigte Härte gegenüber den Deutschen, solange die Einteilung der politischen Verwaltungsgebiete nach ethnographischen Gesichtspunkten nicht durchgeführt war. Noch weiter wurde der Bogen im § 17 gespannt, da Staatsbehörden und Gerichte, in denen e i n e innere Amtssprache statuiert erschien, berechtigt sein sollten, diese in allen inneren Verhandlungen und in der Korrespondenz mit den Staatsbehörden i n u n d a u ß e r dem Lande und mit allen Zentralbehörden zu benützen. Es hätte also eine in Tschechischböhmen liegende Bezirkshauptmannschaft mit jeder anderen Bezirkshauptmannschaft, gleichgültig, ob deren Amtssprache deutsch, italienisch, polnisch oder slowenisch war, ja selbst mit den Wiener Ministerien tschechisch verkehren können. Bei Anerkennung von gleichzeitig zwei inneren Amtssprachen innerhalb eines Gerichtes oder einer anderen Staatsbehörde sollten diese, über die Bestimmungen des § 7 der Badenischen Verordnung weit hinausgehend, verpflichtet sein, die Sprache des mündlichen Anbringens oder der Eingabe, mit der eine Sache anhängig gemacht wurde, „bei allen der Erledigung oder Entscheidung dieser Sache notwendigen Amtshandlungen anzuwenden, so bei allen Antragstellungen und Beratungen, bei allen Korrespondenzen und Gerichten und Staatsbehörden und auch bei allem inneren Dienstgang". Hinsichtlich der sprachlichen Qualifikation sah der III. Abschnitt im § 29 ein Provisorium von fünfzehn Jahren vor, doch sollte nach § 27 niemand als Staats- oder Landesbeamter oder Angestellter belassen oder ernannt werden, der nach diesem Zeitraum nicht beider Landessprachen mächtig war. Der § 34 legte außerdem fest, daß eine Verlängerung des Provisoriums von 15 Jahren nicht möglich sein sollte22). Daß die Deutschen auf dieser Basis nicht verhandeln konnten, ist selbstverständ22

) Siehe Anhang II, S. 454. — Es stimmt nicht, wenn G. H a n s e l (Tschechische Stellungnahme S. 85) glaubt, Pacäk habe den § 7 Badenis durch den § 15 „fallengelassen", da jener im § 17 bei Pacäk sogar noch erweitert wiederkehrt. — Nach dem Zusammenbruch der Monarchie wurden den Deutschen in der Tschechoslowakei durch das Sprachengesetz vom 29. Feber 1920 und die Durchführungsverordnung vom 3. Feber 1926 keineswegs jene Rechte eingeräumt, die 1897 die Tschechen zum „Schutze der Gleichberechtigung des tschechischen und deutschen Volkes in Böhmen" als Mindestbedingungen angesehen hatten. Es gab jedoch immerhin Tschechen, so E. R ä d l , der in seinem Buch „Der Kampf zwischen Tschechen und Deutschen" gegen die Zurücksetzung der Deutschen als tschechoslowakische Staatsbürger, gegen die „sittlich nicht berechtigte" Bodenreform, die nationalistischen Zwecken diente, und für einen ehrlichen Brückenschlag zwischen den beiden Volksstämmen kämpfte, indem er alte Vorurteile richtigzustellen und die Ideologie des Kampfes zwischen Tschechen und Deutschen zu analysieren versuchte. An seine Betrachtungen über die Bodenreform knüpft er die Warnung (S. 155): „Die Menschen begreifen ihr ungerechtes Vorgehen nicht; da sie von ihr Vorteile haben, fühlen sie nicht, daß sie den Boden anderen zu Unrecht weggenommen haben; der Gerechtigkeitssinn des Volkes wird abgestumpft; statt des Glaubens an die Wahrheit lernt das Volk den Glauben an die Gewalt.

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VIII. Der Sturz Badenis

lieh. Interessant ist, daß Pacäk hier einsprachige Gebiete in B ö h m e n immerhin n o c h anerkannte, obwohl er in der Landeskommission ein Instrument schaffen wollte, durch welches jene Schritt u m Schritt mittels der alle zehn Jahre vorgesehenen Erhebungen abgebaut werden sollten. In dem v o m Abgeordneten Herold u n d i h m eingebrachten Antrag über die Unteilbarkeit Böhmens v o m 4. Februar 1898 hat er einsprachige Gebiete nicht mehr anerkannt und i m § 6 festgelegt, daß sowohl die tschechische als auch die deutsche Sprache bei sämtlichen Staatsu n d Landesämtern in B ö h m e n Amtssprache sein sollten. Inzwischen hatte sich Badenis Lage auch v o n U n g a r n her verschlechtert, da es dort, zwei W o c h e n vor der Ernte, zu einem Streik der Landarbeiter i m Alföld gek o m m e n war, die, schlecht bezahlt u n d in sozial trostloser Lage 2 3 ), die Ernte i m ganzen Land verhindern u n d damit die Landwirte zwingen wollten, ihre Forderungen zu erfüllen 24 ). D e r Zeitpunkt des Erntestreikes war sehr geschickt g e wählt, da eine ausgesprochen schlechte Ernte in Aussicht stand 25 ). D e r Erfolg Und das sollte ohne Folgen bleiben?" Die Folgen haben sich 1945 gezeigt. Rädl, der sich rühmte, daß sich sein „Urteil in politischen Dingen bewährt" (S. 7), hat die große politische Entwicklung sehr klar vorausgesehen, wenn er schreibt (S. 161): „Deutschland wird sicherlich den Frieden von Versailles korrigieren und in der Welt wird sich dagegen kein Protest erheben; Österreich wird den Anschluß an Deutschland vollziehen, der Danziger Korridor wird aufgehoben werden und das Nationalitätenprinzip, das man im Kampfe gegen Deutschland anwendete, wird in dessen Händen zur Waffe werden. Auch zur Waffe gegen die Tschechoslowakei, deren Bevölkerung zu einem Viertel deutsch ist ? Was wird geschehen, bis es zu einem neuen Zusammenstoße kommt, der die ganze Welt in Mitleidenschaft zieht ? Sind die Deutschen Böhmens nicht die Avantgarde deutscher Expansionslust? Die Sorgen der Tschechen um die Zukunft des Staates sind nicht unbegründet." ") L. ν. Ν a ν a y, Arbeiterfrage im Alföld. — Selbst J o s e f G r a f M a i l ä t h (Landarbeiterfrage S. 82) mußte zugeben: „Die Landarbeiter fingen an, in den Grundbesitzern und den Behörden ihre Bedrücker zu sehen. Dieses Gefühl, zu welchem auch d i e Gleichgültigkeit der meisten G r u n d b e s i t z e r gegenüber den L e i d e n d e r A r b e i t e r das ihrige beitrug, wurde besonders im Alföld, wo der Gegensatz zwischen dem reichen Segen Gottes, der reichen Ernte und der mißlichen materiellen Lage der Arbeiter am meisten in die Augen fiel, auch durch diesen letzteren Umstand erheblich gesteigert. Der Landarbeiter des Alföld freut sich kaum, wenn eine reiche Ernte in Aussicht steht, denn nach seiner Auffassung wird diese doch nur wieder den Wohlstand der Reichen heben." (Sperrung im Original.) 24

) R. Κ r e j c s i, Landarbeiterfrage S. 366. — Zu den Hauptforderungen gehörte: Bemessung der Arbeitszeit mit 12 statt 15 und mehr Stunden; Abschaffung des Naturallohnes und Ausfolgung des Arbeitslohnes in barem Gelde; Bezahlung der Frauen für gleiche Arbeit ebenso wie die der Männer; Verbot der Verwendung von Kindern unter 14 Jahren zur Arbeit; Krankenunterstützungskassen für die mit Feldarbeiten beschäftigten Männer, Frauen und Kinder; vollständige Abschaffung des Dienstbotenverhältnisses. 25 ) Nach der amtlichen ungarischen Statistik des Jahres 1900 gab es mit mehr als 1000 Joch Ackerland lediglich 1954 Besitzer, die aber mit siebeneinhalb Millionen Hektar 31,19% des gesamten Grundbesitzes in ihren Händen hatten, während 2,432.944 Besitzer mit einem Ackerland bis zu 100 Joch nur auf insgesamt 13 Millionen Hektar Land wirtschafteten. 1,353.875 Kleingrundbesitzer — und das waren 55,20% aller Grundbesitzer — hatten weniger als fünf Joch. So kam es, daß an dem im ungarischen Tieflande in den neunziger Jahren ausgebrochenen agrar-sozialen Unruhen nicht nur die vermögenslosen Landarbeiter, deren soziale Lage besonders trostlos war, sondern auch die Kleingrundbesitzer teilnahmen.— G. R u b i η e k, Parasztszocialismus. — J. Β u η ζ e 1, Ungar. Landarbeiter. — J. F e r e n c ζ i, Koalitionsrecht in Ungarn. — J. M a i l ä t h , Landarbeiterfrage. — Diese Verteilung der politischen und sozialen Machtverhältnisse macht die Ereignisse in Ungarn nach Ende des Ersten Weltkrieges und die Politik der Kleinen Landwirtepartei nach 1945 verständlicher.

Die Haltung der Ungarn

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dieses Streikes war aber weder allgemein, noch führte er bezüglich der Lohnforderungen zu dem gewünschten Resultat, da die ungarische Regierung sich durch polizeiliche Maßnahmen und durch Konskribierung und Vermittlung von 5277 Arbeitern als Ersatz für die ausständigen in den Lohnkampf einmischte26). Die durch den Erntestreik aber entstandene innerpolitische Schwierigkeit versuchte das Kabinett Bänffy durch staatsrechtliche Forderungen gegenüber Österreich zu kompensieren. Das Einvernehmen zwischen dem österreichischen Ministerpräsidenten Graf Badeni und dem ungarischen Ministerpräsidenten Baron Bänffy war längst getrübt. Zwar hatte Bänffy, als im ungarischen Reichstag die Angriffe Karl Luegers zur Sprache gekommen waren, spöttisch erklärt, für eine Beschwerde bei der österreichischen Regierung erscheineihm die Persönlichkeit „jenes gewissen Lueger" nicht wichtig genug, trotzdem aber wurde Luegers Bestätigung als Bürgermeister von Wien im April 1897 in Ungarn als eine Spitze gegen die liberale ungarischePartei27) hingestellt. Schon im November 1896 hatte das Regierungsblatt „Nemzet" dem Grafen Badeni vorgeworfen, daß er nichts dagegen unternehme, um die antiliberale Bewegung einzudämmen. Ja Badeni wurde im gleichen Blatt beschuldigt, an der Zerstörung des Dreibundes zu arbeiten und den Klerikalismus in Österreich zur Herrschaft bringen zu wollen. Das eigentlich leitende Blatt, der „Pester Lloyd", drohte ganz offen den „Unholden der Reaktion" in österreich 28 ).Die ganzen Schwierigkeiten, die das ungarische Kabinett dem österreichischen bei der Frage nach einer provisorischen Lösung der Ausgleichsfragen machte, sind nur von hier aus zu verstehen. Ungarn hatte kein Interesse mehr an Badeni, da es ihm nicht gelungen war, die von ihm erhoffte liberale Mehrheit im Abgeordnetenhaus zustande zu bringen. Ungarn hätte die Stellung Badenis durch Entgegenkommen hinsichtlich der Modalitäten eines Ausgleichsprovisoriums festigen können. Da aber die Liberale Partei an dem Sturze jenes Mannes interessiert war, der Lueger doch Bürgermeister von Wien hatte werden lassen, kehrte sie ihre staatsrechtlichen Bedenken hervor, welche Badeni zwangen, im Herbst 1897 den österreichischen Reichsrat wieder einzuberufen, obwohl er um die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens wußte. 28

) J o s e f G r a f M a i l ä t h (Landarbeiterfrage S. 111) gibt zwar zu: „Es ist ein beispielloser Fall, daß die Staatsgewalt sich mit einem Aufwande von so viel Kraft in den Lohnkampf einmengt", versucht aber das Verhalten der ungarischen Regierung mit dem Hinweis zu rechtfertigen, daß die „Sicherung des Fortganges der Erntearbeiten" in einem „Agrarstaat, wie in Ungarn, im allgemein volkswirtschaftlichen Interesse gelegen ist." 27 ) Diese hatte ihren Sieg bei den Reichstagswahlen im Jahre 1896 „durch direkten nackten Stimmenkauf" und durch Gewalt erzwungen. „Etwa 40 Tote und 90 Schwerverwundete sind eine ganz hübsche Verlustliste für 1896." Unter dem Vorwand, Raufereien zu verhindern, wurden die Wähler einzelner Gemeinden von Militär und Gendarmerie umzingelt und so den ganzen Tag festgehalten. Auch kam es vor, daß die Abstimmung plötzlich unter einem Vorwand geschlossen wurde, so daß ganze Gemeinden gar nicht zur Abstimmung gelangten. (Vgl. Histor.-polit. Blätter 118, 1896, S. 785—795 und S. 920.) — Das Prager deutsch-böhmische Hauptblatt „Politik" schrieb am 6. November 1896: „So viel Schmutz und Korruption, so viel barbarische Rücksichtslosigkeit und Brutalität hat noch kein europäischer Wahlkampf zu Tage gefördert, wie dieser Feldzug im tausendsten Jahre glorreicher magyarischer Staatsunabhängigkeit." 28 ) »Je größer die liberale Partei in Ungarn, desto schärfer wird der Gegensatz zwischen dem ungarischen Liberalismus und der schwarzen Reaktion Österreichs zum Ausdruck kommen, und ob ein solch klaffender Zwiespalt der Gesinnungen und Bestrebungen den Ideen der Gemeinsamkeit nützlich sein kann, das werden wohl auch die österreichischen Staatskünstler leicht ermessen können." (Nach der Münchener „Allgemeinen Zeitung" vom 19. November 1896.)

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VIII. Der Sturz Badenis

Das nationale Selbstbewußtsein der Ungarn wurde zudem gerade im Herbst 1897 durch eine Tischrede des deutschen Kaisers und Königs von Preußen, Wilhelm II., gestärkt, der am 20. September als Gast Kaiser Franz Josephs in Budapest eingetroffen war und der am Tage hernach bei dem Festmahle in der Ofener Königsburg mit schwungvollen, dithyrambischen Worten die Ritterlichkeit, die Tapferkeit, den Patriotismus und die dynastische Loyalität der Magyaren feierte. Den überraschenden Beschluß dieses ungewöhnlichen kaiserlichen Trinkspruches bildete aber in ungarischer Sprache der Ruf: „Eljen a kiräly!" (Es lebe der König!) Offenbar als Anerkennung für die Ungarn, welche als die getreueste Stütze des Dreibundes innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie betrachtet wurden, hatte Wilhelm II. nur des „Königs von Ungarn" gedacht29), aber er hatte das ohnehin durch die Ausgleichsfragen gespannte Verhältnis zwischen den beiden Reichshälften dadurch noch verschärft. Die österreichischen Tagesblätter aller Parteien ließen darüber keinen Zweifel, daß „die einseitige Rücksicht bloß auf die andere Hälfte der Monarchie" unfraglich peinlich berühren müsse. Bei den Magyaren aber löste der Toast unvorstellbaren Jubel und grenzenlose Begeisterung aus. Im Lande wurden wegen des Trinkspruches Huldigungsfeste gefeiert und Wilhelm II. überschwenglich gepriesen. In der regierungsfreundlichen Budapester Zeitung „Pesti Hirlap" schrieb der Publizist und Reichstagsabgeordnete Gusztäv Beksics, das Ausland sei sich vollständig im klaren darüber, daß Ungarn den Schwerpunkt der Monarchie bildet. Die nationale Reorganisation des ungarischen Staates knüpfe sich in das Gewebe der Interessen Europas und des Friedens. „Seit dem Trinkspruch des deutschen Kaisers hat das Germanentum aufgehört, selbst kulturell unser Feind zu sein." Wilhelm II., „der germanische Kaiser, hat ostwärts der Leitha alles Deutschtum aufgegeben, und er sucht die Stärke der Deutschen im Reich in der Befestigung der magyarischen Nation". Keine der ungarischen Nationalitäten könne mehr auf eine Stütze im Ausland rechnen. Ungarn müsse die Fahne jener nationalen Politik entfalten, die alles dem Ziele der inneren Konsolidation unterordne und welche nur das Glaubensbekenntnis habe, „daß der ungarische Staat seine definitive Gestalt annehmen, und daß die magyarische nationale Einheit keinerlei Lücke zeigen soll"30). Diesen ungarischen Bestrebungen nach staatlicher Unabhängigkeit kamen die 29

) Vgl. dazu E. T r e u m u n d , Baron Desider Bdnffy S. 439. — U m die Ungeheuerlichkeit dieses Schlusses des Trinkspruches zu ermessen, muß daran erinnert werden, daß 1898 anläßlich der Feier des fünfzigjährigen Regierungsjubiläums Kaiser Franz Josephs in Ungarn öffentlich erklärt wurde: „Der Kaiser des fremden Staates" feiere dieses Jubiläum, damit habe Ungarn nichts gemein, zudem habe der ungarische Reichstag schon am 7. Dezember 1848 die Thronbesteigung Franz Josephs I. als „Ursupation" bezeichnet; wie könne man nun diesen Akt als, Jubiläum" feiern. Dem ungarischen Abgeordnetenhaus mußte durch wiederholte Abstimmung eine Huldigungskundgebung abgerungen werden, die überaus bescheiden war und im wesentlichen in einem protokollarisch ausgedrückten Danke an die Vorsehung bestand, daß sie der Regierung Kaiser Franz Josephs eine so lange Dauer verliehen hatte. Andererseits wurde gerade Wilhelm II., der König und souveräner Herrscher des Königreiches Preußen war, auch in seiner mit dem Reiche verbündeten Erbmonarchie Preußen stets mit seinem obersten Herrschertitel „Kaiser" benannt, der ihm als Haupt des deutschen Bundesstaates zukam. Es ist notwendig, sich vorzustellen, welchen Eindruck es gemacht hätte, wenn Kaiser Franz Joseph in Berlin statt ein Hoch auf den deutschen Kaiser ein Hoch auf Wilhelm, den König von Preußen, ausgebracht hätte.

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) Nach der Übersetzung in den Histor.-polit. Blättern 120, 1897, S. 692 f. Anm. 1. — Zur Interessengemeinschaft zwischen dem preußisch-deutschen Reich und den Magyaren siehe unten S. 169 f.

Geplante deutsch-tschechische Ausgleichskonferenz

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ungeordneten parlamentarischen Verhältnisse in Österreich sehr gelegen, denn Ungarn war gewillt, sich alle formalrechtlichen Zugeständnisse bei Abschluß des Ausgleiches durch staatsrechtliche Zugeständnisse teuer abkaufen zu lassen. Erst Ende Juli ging Badeni ernstlich daran, eine Ausgleichskonferenz einzuberufen, für die er fünf Gesetzesvorlagen vorbereitet hatte. An der Spitze stand ein Gesetz über den Gebrauch der beiden Landessprachen bei den autonomen Behörden und Organen, das sich an die verschiedenen, im böhmischen Landtag verhandelten Fassungen anlehnte. Jede Gemeinde, in der nicht wie bei Pacak ein Fünftel, sondern ein Viertel der Bewohner der anderen Nationalität angehörte, sollte als gemischt angesehen werden, ebenso jeder Gerichtsbezirk, wo ein Fünftel der Gemeinden sich zur anderen Nationalität bekannte oder gemischtsprachig war. Alle anderen Gemeinden und Bezirke sollten als deutsch oder tschechisch behandelt werden. Von den beiden Stadtgemeinden mit eigenem Statut — Prag und Reichenberg — sollte Reichenberg deutsch, Prag trotz der dominierenden tschechischen Bevölkerung als Landeshauptstadt zweisprachig bleiben. Bei Verwirklichung des Gesetzentwurfes wären 78 deutsche Gemeinden mit einer tschechischen und 29 tschechische Gemeinden mit einer deutschen Minorität, also 107 gemischte Gemeinden entstanden. Von den Gerichtsbezirken wären 113 rein tschechisch, 80 rein deutsch und 41 gemischtsprachig geworden. Da bei den politischen Bezirken jene gemischtsprachig sein sollten, in denen auch nur ein Gerichtsbezirk nicht ganz reinsprachig war, wären 22 gemischte, 28 deutsche und 42 tschechische entstanden. Diese Einteilung hätte ziemlich den faktischen Bevölkerungsverhältnissen des Landes entsprochen, obwohl durch Arrondierung die gemischtsprachigen Bezirke zugunsten der reinsprachigen hätten abgebaut werden können. Für die Deutschen war — da sie eine Wiederholung der jungtschechischen Taktik von 1890 befürchteten — von Interesse, ob die Sprachenverordnungen bis zur Einigung über dieses Gesetz weiterbestehen sollten oder nicht. Die zweite Vorlage bildete den Entwurf zu einem Kuriengesetz, das im wesentlichen jenem Gesetzesantrag folgte, den Ludwig Schlesinger und Victor W. Russ im Dezember 1895 im böhmischen Landtag eingebracht hatten. Danach sollte der Landtag — mit Ausnahme der Kurie des Großgrundbesitzes — bei den von ihm zu vollziehenden Wahlen in zwei nationale Kurien geteilt werden. Allerdings war diesen kein exklusives Veto oder eine meritorische Beschlußfassung zugedacht. Lediglich die Wahlbezirkseinteilung sollte zum Zwecke der Kurienbildung mit der zu modifizierenden Landtagswahlordnung in Übereinstimmung gebracht werden. Gegen diese Vorlage wandten die Deutschen von vornherein ein, daß der Antrag Russ-Schlesinger, der in dieser Form 1895 nur unter der gegebenen Situation und in der Hoffnung, wenigstens etwas im Landtag zu erreichen, als „Etappenziel 1895" gestellt worden war, überholt sei und sie auf nationalen Kurien mit sachlicher Kompetenz in Analogie mit den Bestimmungen der Wiener Vereinbarungen oder, noch besser, des Nationalitäten-Gesetzentwurfes in den Fundamentalartikeln bestehen müßten. Noch entscheidender waren, und zwar mit Recht, die deutschen Bedenken gegen die dritte Vorlage, die sich auf die Modifikation der böhmischen Landesordnung und Landtagswahlordnung bezog. Der nicht fideikommissarische Großgrundbesitz sollte in jene fünf Wahlkreise geteilt werden, die für die Reichsratswahlen bereits bestanden, so daß der Verfassungstreue Großgrundbesitz eine Vertretung im Landtag erhalten hätte. Wahlort sollte aber Prag bleiben. Eine neue Handelskammer sollte in Königgrätz errichtet und die Landtagsmandate um 5

Sutter, Sprachenverordnungen II.

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VIII. Der Sturz Badenis

15, von 242 auf 257, vermehrt werden, um, wie Badeni im Ministerrat erklärte, „eine Ausgleichung zwischen Stadt und Land und die Anwendung eines gleichen Maßstabes in den beiden Kurien für beide Nationalitäten des Landes zu erreichen. 194 Orte, darunter 91 Industrieorte, mit zusammen 651.682 Einwohnern und mit 2,645.900 fl. Steuerleistung sollten aus den Landgemeinden ausgeschieden und zu den 163 Orten, die in der Städtekurie wählten, hinzugereiht werden. Badeni stellte dabei die Rechnung auf, daß die Deutschen künftighin in der Städtekurie 34 statt bisher 32, in den Landgemeinden statt 30 nur mehr 29 Mandate haben würden, also insgesamt ein Mandat gewonnen hätten, während er den Tschechen elf neue zuschanzen wollte, da sie in der Städtekurie 36 statt den bisherigen 30 und in den Landgemeinden 54 gegenüber 49 bisherigen Mandaten haben sollten. Außerdem sollte die Stadt Prag ein neues Mandat dazu erlangen. Die Deutschen, die bisher in der Städtekurie zwei Mandate mehr als die Tschechen besaßen, nunmehr aber zwei weniger als diese innehaben sollten, und die mit der Annahme der von Badeni vorgeschlagenen Änderung auf die Aussicht, die Mehrheit in der Städtekurie jemals wieder zu erlangen, verzichtet hätten, mußten jede Verschiebung des Stimmenverhältnisses im böhmischen Landtag fürchten. Die Tschechen hätten mit dem zusätzlichen neuen Prager Stadt- und den zwei neuen Königgrätzer Handelskammermandaten insgesamt 14 Abgeordnete mehr in den Landtag entsenden können, die Deutschen jedoch nur einen, so daß sie die Möglichkeit verloren hätten, durch einen Exodus im Landtag jede Abänderung der Wahlordnung zu verhindern, für welche die Anwesenheit von drei Viertel der Abgeordneten vorgeschrieben war, ein Prozentsatz, den die Tschechen zu erreichen vorerst keine Aussicht hatten. Die Abänderung der Landtagswahlordnung ließen und durften sich die Deutschen daher nur um den höchsten Preis abringen lassen. 1890 hatten sie dafür die nationalen Kurien im Landtag mit sachlicher Wirksamkeit und Vetorecht sowie die nationale Abgrenzung der Bezirke eingehandelt. Nun sollten sie auf ihre Position für nationale Kurien, die wertlos waren, und für einen ebenso fragwürdigen Stimmenzuwachs verzichten. Der von Badeni für die Deutschen vorgesehene „Hauptgewinn" sollte nämlich in den errechneten 13 deutschen Abgeordneten aus dem Verfassungstreuen Großgrundbesitz liegen. Bei der keineswegs stets eindeutigen nationalen Haltung des Verfassungstreuen Großgrundbesitzes war dessen Zulassung jedoch für die Deutschböhmen kein „Gewinn", durch den die Stimmenverschiebung im Landtag wettgemacht worden wäre. Außerdem hatte Badeni im Gegensatz zu den im Anschluß an die Ausgleichspunktationen ausgearbeiteten Projekten statt 21 lediglich 13 Mandate für den Verfassungstreuen Großgrundbesitz beantragt und so diesem die Möglichkeit entzogen, in der Kurie des Großgrundbesitzes gegenüber dem fideikommissarischen Feudaladel die Mehrheit zu erlangen. In der „Neuen Freien Presse" stellte am 22. August „einer der hervorragendsten und maßgebendsten Abgeordneten aus Böhmen", der sich selbst nicht zu erkennen gab, die Frage: „Im übrigen aber möchte ich die Grundlage kennenlernen, auf welcher sich die Vermehrung der tschechischen städtischen Vertreter um vierzehn rechtfertigen ließe. Als Basis die gegenwärtigen deutschen Wahlbezirke anzunehmen und im Verhältnisse die tschechischen zu vermehren, ist ein so unpolitischer, dilettantischer Gedanke, der nur der Begehrlichkeit der Tschechen entsprungen sein kann. Hier haben einzig und allein die faktischen Verhältnisse: Kopfziffer, Steuerleistung, besondere lokale Umstände u. dgl. zu entscheiden. Darüber müßten vorher die genauesten Erhebungen gepflogen werden. Aus denselben aber würde sich eher eine Vermehrung der deutschen städtischen Wahlbezirke als der

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Badenis Vorlagen für die Ausgleichskonferenz

tschechischen als gerechte Notwendigkeit ergeben." Die Antwort gibt das Ministerratsprotokoll vom 17. August 1897. Badeni hatte folgende Rechnung aufgestellt, nach der auf einen Abgeordneten entfielen: gegenwärtig künftig gegenwärtig künftig

in Städten außer Prag 103.465 fl 27 kr Steuer 129.439 fl 16 kr Steuer in Landgemeinden 167.120 fl 89 kr Steuer 127.188 fl 36 kr Steuer

17.590 Einwohner 24.899 Einwohner 57.847 Einwohner 47.208 Einwohner

Den Vorteil sah Badeni darin, „daß die auf einen Abgeordneten entfallenden Verhältniszahlen in der Städtekurie entsprechend erhöht wurden, während sie in der Landkurie sanken". Was die Anwendung des gleichen Maßstabes in den beiden genannten Kurien anbelange, wurde hierbei, erklärte Badeni weiters, „der Besitzstand der Deutschen zugrunde gelegt und hiernach die für die böhmischen Bezirke entfallende Zahl von Mandaten errechnet". Badeni war also bei seinen Berechnungen nur von den reinen Zahlen, von den statistischen Ergebnissen ausgegangen, getreu seinem Grundsatz, daß den Deutschen nur jene Rechte zugebilligt werden könnten, die auf Grund ihres prozentuellen Anteiles an der Gesamtbevölkerung Böhmens rechnungsmäßig auf sie entfallen. Nach den Berechnungen Badenis stellten sich für einen Abgeordneten folgende Verhältnisse heraus: bei den Deutschen

bei den Tschechen

139.526 fl 78 kr 24.288 1.765

119.922 fl 12 kr 25.457 1.912

132.505 fl 57 kr 46.283 3.321

124.333 fl 12 kr 47.705 3.272

a) S t ä d t e Steuer Einwohner Wähler b) L a n d g e m e i n d e n Steuer Einwohner Wähler

Dazu erklärte Badeni, „daß bei Entgegenhaltung der drei Verhältniszahlen für beide Nationalitäten im Durchschnitt der gleiche Maßstab sich ergibt". Hatte er auch rein rechnerisch recht, so konnte er doch nicht glauben, damit die in Erregung befindlichen Deutschen zu gewinnen, zumal ein Vergleich der angegebenen Steuerleistung sofort die Ungerechtigkeit offensichtlich macht. Wenn schon jene in Ermangelung des allgemeinen Wahlrechtes noch als Basis mitherangezogen werden mußte, so konnte es nicht als gerecht gelten, wenn bei den Tschechen auf einen Abgeordneten in der Städtekurie 1169 mehr Einwohner (Landgemeinden 1422), aber rund 19.614 fl. weniger Steuerleistung (Landgemeinden 8172 fl.) entfielen. Das Maß der tatsächlichen Bedürfnisse und der politischen Klugheit hatte Badeni als nicht errechenbar unberücksichtigt gelassen. Bei der vorgesehenen Ausgleichskonferenz sollte als vierte Vorlage ein Gesetz über die Minoritätsschulen beraten werden. Ein solches war 1890 als Zugeständnis der Deutschen an die Tschechen bereits in die Ausgleichspunktatationen aufgenommen und von der Regierung im böhmischen Landtag eingebracht, von diesem jedoch nicht mehr verhandelt worden. Die Tschechen hatten ihrerseits allerdings nach 1890 wiederholt Anträge zur Durchführung der Gleichberechtigung beider Landessprachen in den Volksschulen und Errichtung von Schulen für nationale Minderheiten im Landtag überreicht. So war noch in der 5*

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VIII. Der Sturz Badenis

Session des Jahres 1896 vom Abgeordneten Celakovsky ein Gesetzentwurf betreffend die Minoritätsschulen vorgelegt und dieser im Schulausschuß beraten und erörtert worden. Im allgemeinen bestand in dieser Frage zwischen den beiden Nationalitäten Böhmens keine wesentliche Differenz. Geteilter Meinung waren sie nur in der Frage, ob das Land oder die Gemeinden den Aufwand für die zu errichtenden Minoritätsschulen zu zahlen hätten. Gautsch erklärte dazu im Ministerrat vom 17. August, daß, genauer besehen, dieser Punkt mit der Frage zusammenfalle, ob die Regierung die Absicht habe, die Errichtung solcher Schulen zu fördern oder nicht. Wenn nicht, müßten die Gemeinden zur Zahlung herangezogen werden. Sollte aber die Errichtung von Minoritätsschulen begünstigt werden, dann seien die Kosten zur Gänze auf das Land zu über wälzen31). Vom Standpunkte der Regierung werde es sich im allgemeinen als das Richtigste erweisen, wenn sie all das, worüber zwischen Deutschen und Tschechen in dieser Frage bereits ein Einverständnis erreicht worden sei, in die Vorlage aufnehme. Von der alten Regierungsvorlage sei nur der einzige Punkt aufzugreifen, der normiert, daß der Mehraufwand, welcher der Schulgemeinde durch die Errichtung einer Minoritätsschule erwächst, ihr vom Lande vergütet werde. Da die Zahl der deutschen Minoritätsschulen gegenüber den tschechischen geringer gewesen wäre und außerdem ein ständiges Anwachsen der tschechischen Minoritätsschulen zu erwarten war, fürchteten die Deutschen, daß die Landesmittel in weit größerem Maße den Tschechen zufließen würden. Sie verlangten daher als Gegenwert die Abänderung des böhmischen Schulerrichtungsgesetzes nach dem Muster des mährischen, die ihnen 1890 die Tschechen zugebilligt hatten, die aber nunmehr in der Regierungsvorlage des Sommers 1897 nicht berücksichtigt worden war. Die Deutschen hätten bei den Verhandlungen diese Forderung neu erkämpfen und sich überdies mit den Tschechen in dem wichtigen Punkt der erforderlichen Kinderzahl als Voraussetzung für eine Minoritätsschule einigen müssen. Während die auf den Punktationen basierende Vorlage dahin lautete, daß eine Minoritätsschule in Gemeinden mit gemischter Bevölkerung überall dort zu errichten sei, wo sich nach fünfjährigem Durchschnitt mehr als 40 Kinder der anderen Landessprache befinden, hatten sich inzwischen die Parteien im böhmischen Landtag dahin geeinigt, das Bedürfnis nach einer solchen Schule dann als erwiesen anzunehmen, wenn mehr als 40 Schulkinder der betreffenden Nationalität vorhanden sind und diese mindestens drei Jahre im Schulsprengel wohnten. Eine Bestimmung, die sich etwas günstiger für die Tschechen erwies, aber der Billigkeit entsprach, da die angesetzte Zeitdauer als vollkommen genügend angesehen werden konnte, um nicht durch vorübergehende Zuwanderungen die Gemeinden zur Errichtung von Minoritätsschulen zu zwingen. Die wichtigste der ausgearbeiteten Vorlagen war die fünfte und letzte, die nicht ein Landes-, sondern ein Reichsgesetz betraf, durch das die Regierung ermächtigt werden sollte, zur Erleichterung des Geschäftsganges der politischen Verwaltung in jenen Ländern, wo Statthaltereien bestanden, Kreisämter als ent31

) Die Aktualität dieser Frage bewies der Streit um die Minoritätsschule in Dux. Dort hatte der Bezirkshauptmann als Vorsitzender des Bezirksschulrates zur Erzwingung der Unterbringung der tschechischen Volksschule einen Grundkomplex um 44.000 fl angekauft und unter Androhung politischer Exekution der Gemeinde Dux die Bezahlung aufgetragen. Am 4. Mai stellte Abg. Pfersche (XII. Session S. 465) im Abgeordnetenhaus deshalb einen Dringlichkeitsantrag, dessen Behandlung, obwohl auch Gautsch dafür eintrat, abgelehnt wurde. (S. 465 bis 470 und 482 f.) — Zur Bevölkerungsveränderung in den böhmischen Industriegebieten A. G. W h i t e s i d e , Industrial Transformation. — D e r s„ National Socialism.

Der Ministerrat vom 17. August 1897: Die Ausgleichsvorlagen

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scheidende Instanz zu bestellen, denen einerseits Angelegenheiten aus dem Wirkungskreise der angeblich überlasteten Bezirkshauptmannschaften und andrerseits gewisse Statthaltereigeschäfte zur Besorgung bzw. Entscheidung zu überweisen gewesen wären. Bezeichnend ist, daß Badeni dazu im Ministerrat nur bekanntgab: „Die Feststellung des Wirkungskreises für diese neuen Behörden befinde sich auch schon im Stadium des Entwurfes, doch erachte der Ministerpräsident eine nähere Mitteilung hierüber in der Konferenz noch nicht an der Zeit." In der „Neuen Freien Presse" begrüßte der ungenannte deutschböhmische Abgeordnete am 22. August die Kreiseinteilung als einen gesunden, auch von den Deutschen vertretenen Gedanken. „Soll dieselbe aber für die Deutschen einen Wert besitzen, so muß sie auf nationaler Grundlage erfolgen, und da komme ich auf das ceterum censeo der nationalen Abgrenzung zurück, von der ich gar nicht begreife, daß man in Regierungskreisen davor zurückschreckt, zumal dabei höchstens 263 Gemeinden unter mehr als 7000 in Frage kommen." Nach Vorbereitung dieser Vorlagen teilte Badeni am 17. August im Ministerrat offiziell mit, daß er die Absicht habe, eine Konferenz der im böhmischen Landtag vertretenen Parteien einzuberufen und dieser eine Reihe von Projekten vorzulegen, die dann im Prager Landtag einzubringen seien, um einen Ausgleich zwischen Deutschen und Böhmen herbeizuführen. Badeni hatte jedoch selbst „nur wenig Hoffnung", daß die Deutschen diese Konferenz beschicken würden. Sollten diese die Beteiligung an den geplanten Beratungen ablehnen, so sollte nach seiner Ansicht nicht nur die Konferenz, sondern auch eine Einberufung des böhmischen Landtages unterbleiben, da die Deutschen dann beim Landtag wie bei der Konferenz nicht erscheinen oder einen Exodus veranstalten würden, wodurch der Zweck der ganzen Aktion verfehlt sei. Er habe zwar weder eine offizielle noch offiziöse Verständigung über die Nichtbeschickung der Konferenz seitens der Deutschen erhalten und er gewärtige immer noch die ihm in Aussicht gestellte briefliche Mitteilung Dr. Schlesingers als Führer der deutschen Landtagspartei. „Aber eine starke Vermutung bestehe für die Nichtbeschickung." Trotzdem glaubte Badeni, ohne Angabe näherer Gründe, „daß jedenfalls die Einladung zur Konferenz jetzt zu erlassen und die Antwort abzuwarten sei. Die erfolgte Einladung wäre zu veröffentlichen und gleichzeitig dann auch zu veranlassen, daß das Substrat der Verhandlungen in der Presse entsprechend bearbeitet werde." Im Zusammenhang mit der Besprechung der für die Ausgleichskonferenz vorbereiteten Entwürfe gab Badeni dem Ministerrat bekannt, daß im Falle der Beschließung des Gesetzes über den Sprachengebrauch bei den autonomen Behörden in Böhmen gleichzeitig eine für die staatlichen Behörden geltende Ministerialverordnung in Wirksamkeit treten sollte, deren Bestimmungen den Prinzipien angepaßt werden müßten, die dem erwähnten Gesetz zugrunde liegen. „Die Regierung hätte dabei den Standpunkt zu vertreten, und demselben auch bei den Konferenzen Ausdruck zu geben, daß sie sich des Rechtes, im Verordnungswege hier vorzugehen, nicht begeben könne, daß sie sich aber verpflichtet erachte, wenn ein solches Gesetz über die Sprache bei den autonomen Behörden zustande kommt, die Konformität ihrer früher erlassenen Verordnung mit dem neuen Gesetze herzustellen." Nach dieser beabsichtigten Verordnung wäre in den Ämtern der reinsprachigen Bezirke jeweils entweder deutsch oder tschechisch und in den gemischten Bezirken nach den Grundsätzen der Badenischen Verordnungen vom 4. April 1897 amtiert worden. Die Sprachenerfordernisse sollten auf Richter und Konzeptsbeamte reduziert und der Termin zur Erwerbung dieser Quali-

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VIII. Der Sturz Badems

fikation hinausgeschoben werden. In formeller Beziehung sollten die §§ 7 und 9 der Verordnung vom 4. April sowie die Verordnung über die sprachliche Qualifikation der Beamten außer Kraft gesetzt werden und an ihre Stelle neue Bestimmungen treten. Deren Wortlaut ist leider nicht erhalten geblieben, doch löste der von Badeni vorgeschlagene Text eine lange Diskussion aus, in der die Feststellung dominierte, es müßte bei den für die künftige Verordnung aufgestellten Grundsätzen all das, was nach der geltenden Sprachenverordnung aus allgemeinen Rücksichten deutsch zu bleiben hatte, auch weiterhin deutsch bleiben. Besonders Gautsch und Gleispach verfochten diese Ansicht. Dieser fügte noch hinzu, er glaube, „daß auch bei noch so hochgehenden Wogen der nationalen Bewegung die salus rei publicae nicht preisgegeben werden solle. Er sei indes der Ansicht, daß dies bei der vom Ministerpräsidenten bekanntgegebenen Stilisierung des Verordnungsentwurfes nicht der Fall" sei. Bei der beabsichtigten Konferenz würde es sich daher darum handeln, das, was aus allgemein staatlichen Rücksichten deutsch bleiben müsse, zu fixieren. Eine Präzisierung durch den vorliegenden Entwurf sei aber nach seiner Ansicht nicht präjudiziell:. Badeni waren diese entschiedenen Stellungnahmen sichtlich unangenehm und er schnitt daher eine weitere Diskussion mit dem Bemerken ab, daß diese Probleme, so auch die gleichfalls aufgeworfene Frage, ob an einer Zweisprachigkeit der Konzeptsbeamten dann notwendigerweise festzuhalten sei, erst erörtert werden sollten, wenn über das Zustandekommen der Konferenz Gewißheit bestehe. Graf Ledebur-Wichein versuchte trotzdem auf ein von ihm immer wieder vertretenes Anliegen zu kommen: die Einführung des obligatorischen Unterrichtes in der zweiten Landessprache bei den Mittelschulen, da nach seiner Ansicht der richtige Augenblick gekommen war, um diese Angelegenheit bei den Parteien zur Diskussion zu stellen. Gautsch, der schon bei den Verhandlungen über die Sprachenverordnungen im Februar und März 1897 namens der Regierung sowohl gegenüber den Tschechen wie gegenüber den Deutschen klar und bestimmt die Absicht ausgesprochen hatte, der Frage dieses obligatorischen Unterrichtes näherzutreten, stellte sich an die Seite Ledeburs, zumal die Tschechen ohnehin den Standpunkt eingenommen hatten, daß sie, wenn die Sprachenverordnungen erlassen seien und sich die erste Aufregung hierüber gelegt haben werde, ihrerseits nichts mehr gegen diese Einführung einzuwenden hätten. Seitens der Deutschen allerdings war erklärt worden, daß sie zwar auch für die Normierung des obligatorischen Unterrichtes in der zweiten Landessprache seien, sie sich diesen Unterricht jedoch nicht in jeder Klasse als obligatorisch vorstellten, vielmehr in Form von Sprachkursen, die aber nur nach Einigung über die sprachlichen Verhältnisse eingeführt werden dürften32). Die übrigen Vorlagen wurden vom Ministerrat ohne Diskussion zur Kenntnis genommen, nur zur Kreiseinteilung33) bemerkte Gautsch, er sei der Überzeugung, sa

) Nur der Christlichsoziale Verband für Deutschböhmen hatte in einer Entschließung vom 25. April 1897 die Überzeugung ausgesprochen, „daß zur pbnung vieler Schwierigkeiten in Böhmen in Hinkunft der Unterricht in der zweiten Landessprache an allen deutschböhmischen Bürger- und Mittelschulen eingeführt und derselbe in einer Form erteilt werden müsse, daß er auch die praktische Beherrschung dieser Sprache zu vermitteln vermag". (Die Badenische Sprachenverordnung und ihre Bedeutung S. 15 f.) M ) Zu ihrer Geschichte und den mit Badeni einsetzenden neuen Projekten B. v. R i e g e r, Kreisverfassung in Böhmen. — D e r s . , Zfizenl krajski ν Cechäch. — E. v. P l e n e r , Eine Kreisordnung für Böhmen. — F. v. W i e s e r , österr. Verfassung S. 409 f. — Zu größerer Aktualität gelangte die Frage der Kreisverfassung, als im sogenannten Pfingst-

Der Ministerrat vom 17. August 1897: Die Delegationswahlen

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daß diese Rückkehr zu einer altösterreichischen Institution, die sich stets bewährt hatte, den Anfang für eine sich nicht auf Böhmen allein erstreckende gründliche Reform im Bereiche der politischen Verwaltung bedeute. Gleispach, der auch auf die voraussichtlich beträchtlichen Kosten für den Staat hinwies, wollte sich nicht wieder mit einer Halbheit begnügen und verlangte eine umfassende Änderung der Verwaltung, namentlich eine erhebliche Entlastung der Ministerien. „Man werde dazu gelangen, an diese Behörden auch eine entsprechende autonome Organisation anzuschließen und hier werde der Punkt sein, wo die Maßnahmen zur Beseitigung der Zweigeleisigkeit in der Verwaltung zunächst werden anzusetzen haben." Obwohl Graf Ledebur dem Justizminister beipflichtete, nahm Badeni zu diesen Erweiterungsvorschlägen nicht Stellung. In der Frage des Termins zur Hinausgabe der Konferenz-Einladung und zur Abhaltung der Konferenz selbst einigte sich der Ministerrat, die Einladungsschreiben mit dem gleichen Tag, also den 17. August zu datieren, am Vormittag des 19. August zu expedieren und die Konferenz für den 26. August in Aussicht zu nehmen. Damit stand das Kabinett vor der Frage, was zu geschehen hätte, wenn die Konferenz wegen Nichterscheinen der Deutschen unterbleiben müßte. Badeni bekannte, daß er den Eindruck habe, die Deutschen würden in ihrer Haltung von dem Wunsche beeinflußt, seine Demission zu erzwingen. Es sei kein Zweifel, daß sie, nachdem sein Name mit den Sprachenverordnungen verknüpft sei, darin eine Satisfakation erblicken würden. „Er selbst", heißt es im Ministerratsprotokoll, „halte diesen Ausweg für einen günstigen und erachte es für eine Gewissenssache, daß man denselben, nachdem sich kein zweiter Weg darbietet, aus Rücksicht für seine Person nicht preisgibt." Er fühle sich verpflichtet, dies dem Kaiser zu erklären. Es handle sich nur um ihn, nicht um das Kabinett, das nach seiner Ansicht nicht demissionieren müßte. Er glaube weiters dem Kaiser empfehlen zu müssen, den Reichsrat baldmöglichst einzuberufen, äamit dieser sich ehestens konstituiere und die Delegationswahl vornehme und sich mit den Notstandsvorlagen beschäftige. Was zu geschehen hätte, wenn der Reichsrat sich unfähig erweise, seine Konstituierung und die Delegationswahl vorzunehmen, darüber könne er sich nicht äußern. „Er könne heute nur über das sprechen, worüber er für seine Person schlüssig sei." Dazu bemerkte Gautsch, er teile die Auffassung Badenis, daß das Kabinett nicht die Arbeit einfach im Stich lassen könne und die notwendigste Vorsorge für die nächsten und dringendsten Erfordernisse des Staates, wie die Delegationswahl, zu treffen hätte, er könne jedoch nicht übersehen, daß die Lage eine sehr ernste sei. Alle Nachrichten aus Böhmen stimmten darin überein, daß die Erregung unter der deutschen Bevölkerung eine enorme sei. „Es fehle dabei nicht an Symptomen sehr unpatriotischer Art." Die Situation sei aber nicht bloß durch die Erregung in Böhmen, die sich bereits auf die Alpenländer auszudehnen beginne, kompliziert, sondern auch durch die Majorität, die „sich im Abgeordnetenhaus ohne Zutun der Regierung, um nicht zu sagen gegen ihren Willen, im Momente der letzten Demission gebildet hat", und die nach wie vor mit ihrem im Adreßentwurfe niedergelegten34) und von der Regierung nicht akzeptierten Prinzipien Programm der Deutschen vom 20. Mai 1899 für Böhmen die Schaffung national abgegrenzter Kreise mit Kreisvertretung postuliert wurde. — Dazu der im Zusammenhang mit der im März 1900 von Ministerpräsident Koerber einberufenen Verständigungskonferenz von J. Ulbrich in der „Neuen Freien Presse" (22. und 23. März) veröffentlichte Entwurf eines Landesgesetzes über Kreisverbände im Königreich Böhmen. Schon am 8. November 1899 hatte Ulbrich in gleicher Weise die Frage der Kreisverfassung in Böhmen aufgegriffen. 163 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses XII. Ses-

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VIII. Der Sturz Badems

bestehe. Diese Majorität nehme zwar gegenüber der Regierung keine feindselige Stellung ein, aber sie sei eben nicht die Majorität der Regierung und werde dieser nur solange gefügig sein, als sich deren Maßnahmen mit ihren Prinzipien decken. Vorausgesetzt, daß auf Seiten der Deutschen die Obstruktion fortgesetzt werde und die Majorität im Abgeordnetenhaus der Regierung nicht mit voller Verläßlichkeit folge, habe diese jede Führung im Parlament verloren. Darum glaube er, die Regierung hätte mit aller Offenheit auszusprechen, daß sie vielleicht noch die Delegationswahl durchzusetzen vermöchte, aber daß sie mit dem Reichsrat im übrigen nicht werde zusammenarbeiten können. Da ein Beschluß über die politischen Verhältnisse noch nicht gefaßt werden könne, handle es sich darum, die Tatsachen zu konstatieren, damit der Regierung aus der Unterlassung einer rechtzeitigen Kennzeichnung der Sachlage kein Vorwurf erwachse. Gleispach sprach sich dezidierter aus. Im Falle des Scheiterns der in Aussicht genommenen Konferenz sei der Moment gekommen, an die Krone mit der Frage des Wechsels der Regierung heranzutreten. Das ganze Kabinett müßte sich dem Schritt des Ministerpräsidenten anschließen, und zwar schon aus dem Grunde, weil er den Gedanken perhorreszieren möchte, „als wenn der Kampf gegen die Sprachenverordnung, wie er sowohl im Reichsrat wie in Böhmen inauguriert wurde, ein solcher sei, dem gegenüber eine derartige Konzession zu machen wäre, wie es das Opfer eines Ministerpräsidenten ist". Hingegen könne das Kabinett solidarisch erklären, daß die von ihm unternommene politische Aktion zur Gründung einer Regierungsmehrheit im Reichsrat gescheitert und daß es darum zurückzutreten entschlossen sei, ein Vorgang, der vollkommen konstitutionell wäre und als ein Schritt angesehen werden müßte, der nicht den Obstruktionisten zu Gefallen, sondern angesichts der bestehenden Majorität unternommen wurde, mit welcher die Regierung sich nicht identifizieren könne. „Aber diesen Schritt geradezu als Folge des Vorgehens der Deutschen erscheinen zu lassen, erscheine ihm vom autoritativen Standpunkt im höchsten Grade gefährlich." In der Frage der Einberufung des Reichsrates, auch nach einem Mißerfolg der Verhandlungen wich Gleispach ebenfalls von den geäußerten Anschauungen ab. Die Obstruktionisten, nicht nur in Böhmen, hätten in zahllosen Beschlüssen und Parteiversammlungen mit vollster Bestimmtheit erklärt, daß sie die Obstruktion mit allen Mitteln fortsetzen wollten. Die Leute stünden unter dem Banne der Schönerer-Partei, also eines destruktiven, antiösterreichischen Elementes. Die Wahl der Delegation werde ihnen gerade die willkommenste und sicherste Handhabe sein, um ihren Standpunkt zur Geltung zu bringen und „er halte es für feststehend, daß, wenn die geplanten Vereinbarungen nicht gelingen, das Parlament der Schauplatz noch viel wüsterer Szenen sein werde". Es erscheine ihm weder im Interesse der staatlichen noch der Regierungsautorität gelegen, „mit der bestimmten Aussicht auf Erfolglosigkeit die Einberufung des Reichsrates zu vollziehen". Er glaube, daß, falls die Regierung am Platz verbleibe, eher noch einmal zu versuchen wäre, die Deutschen, eventuell durch eine nähere Einführung ihrer Vertreter in die Intentionen der beabsichtigten Vorlagen, für die Teilnahme an den geplanten Vorberatungen zu gewinnen. Mit der Einberufung des Parlamentes könnte er sich nur unter zwei Voraussetzungen einverstanden erklären, wenn nämlich ein fester Plan bestünde, was dann zu geschehen hätte, wenn die Obstruktion ihre volle Tätigkeit wieder aufnehme und das Zustandekommen der notwendigen reichsrätlichen Akte und Beschlüsse vereitle, und für diesen Plan auch die Genehmision. Hier auch die Minoritätsentwürfe des Verfassungstreuen Großgrundbesitzes und der Deutschen Fortschrittspartei. — Siehe I. Band S. 268.

Einladung zur Konferenz — Absage der Deutschen

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gung der Krone vorliege. Finanzminister Bilinski schwächte Gleispachs Worte ab, indem er hinwies, das Opfer, das Badeni bringen wolle, sei natürlich nur dem Kaiser gegenüber gedacht. Wenn Badeni demissioniere, dann müsse mit dem Chef auch das übrige Ministerium gehen. Es sei aber die Frage, was mit einem solchen Schritt erzielt werden solle. Handle es sich um den Beweis, daß der Reichsrat nicht arbeitsfähig sei, müßte er früher einberufen werden, damit die Öffentlichkeit diese Arbeitsunfähigkeit konstatieren könne. Wenn das aber nicht beabsichtigt sei, dann wäre es besser, vorher zu demissionieren. Er müsse nicht nur als Politiker, sondern auch als Leiter seines Ressorts die Konsequenzen ziehen. Indem es sich um eine so namhafte Reihe für die Staatsinteressen unentbehrlicher finanzieller Maßregeln handle, die ohne Reichsrat nur zum geringen Teil zustande kommen könnten, sei er der Ansicht, daß jedes Opfer gebracht werden müsse, wenn sich daran die Hoffnung knüpfe, einen arbeitsfähigen Reichsrat zu erlangen. Deshalb habe er das Gefühl, daß die Regierung vorerst zu demissionieren habe. Die Wahl der Delegation werde kaum durchzusetzen sein, dafür aber voraussichtlich der persönliche Kampf gegen den Ministerpräsidenten erst recht beginnen. Ein Resultat für den Staat und dessen dringende Bedürfnisse werde kaum herausschauen. Nachdem sich Graf Ledebur mit diesen Äußerungen solidarisch erklärte, resümierte Badeni die Erörterungen der Situation und stellte die Fortsetzung für den Zeitpunkt in Aussicht, da die Regierung Gewißheit über das Zustandekommen der Konferenz habe. Badeni fügte hinzu, daß dies vielleicht schon am 23. August der Fall sein könnte. Auf Grund dieses Ministerrates wurden die weiteren Vorbereitungen für die Ausgleichskonferenz getroffen. Eingeladen wurden nicht einzelne Mitglieder der Parteien, sondern deren Führer und diesen die Wahl der übrigen Teilnehmer im Einvernehmen mit ihrer Partei überlassen. So ergingen die Einladungsschreiben für den Konservativen Großgrundbesitz an den Grafen Karl Buquoy-Longueval, für die Deutschen an Dr. Ludwig Schlesinger und für die Tschechen an Dr. Josef Herold. Der Verfassungstreue Großgrundbesitz war zwar nicht im böhmischen Landtage vertreten, da aber ihm durch die neue Landtagswahlordnung eine entsprechende Vertretung im böhmischen Landtag gesichert werden sollte, wurde auch Graf Oswald Thun-Salm-Reifferscheidt eingeladen. Ad personam ging eine Einladung an den Fürsten Georg Lobkowitz in seiner Eigenschaft als Oberstlandmarschall35). Vom tschechischfeudalen Großgrundbesitz wurden Prinz Ferdinand Lobkowitz, Graf Eduard Pälffy von Erdöd und Wenzel Schulz, von den Jungtschechen die Landtagsabgeordneten Adamek, Dr. Eduard Gregr, Dr. Josef Kaizl, Dr. Friedrich Pacäk und Dr. Podlipny, Prags Bürgermeister, vom Verfassungstreuen Großgrundbesitz zusätzlich J. M. Baernreither als Teilnehmer nominiert. Die Deutsche Fortschrittspartei aber sagte ab. Die Absage erfolgte nicht aus sachlichen Gründen. Bedenken gegen die Vorlagen der Regierung wurden nur in einer Zuschrift an die „Neue Freie Presse", von dieser am 22. August veröffentlicht, erhoben, und zwar lediglich, um die Haltung der deutschen Parteien zu beschönigen und ihr ein Mäntelchen umzuhängen. Es war Feigheit vor dem radikalen Flügel, Feigheit vor den bei den letzten Wahlen nur mit knapper Mehrheit gewählten Schönerianern, die Schlesinger und die Deutschfortschrittliche Partei bewogen, die dargebotene Hand auszuschlagen. Sie haben sich damit selbst ins Unrecht gesetzt. Keiner hatte den Mut, schon aus Angst vor dem für den 22. August nach Asch einberufenen deutschen Volkstag, offen für seine 35

) Ministerrat vom 17. August 1897.

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gemäßigte Überzeugung einzutreten, weil sie alle sich bewußt waren, daß ihre Autorität in der eigenen Wählerschaft erschüttert und diese durch die Schönerianische Demagogie zum Teil bereits zu einer völlig disziplinlosen Masse geworden war. Interesse an den turbulenten Zuständen hatten auf deutscher Seite eigentlich nur zwei Elemente, die alle Hebel in Bewegung setzten, den Ausgleich in Böhmen zu verhindern: die Schönerianer und die altliberale Presse. Beiden ging es dabei um die Erlangung der Macht. Den Schönerianern war die trostlose Lage willkommen, weil sie die Bevölkerung für die radikalen Phrasen Schönerers empfänglich machte und er so die übrigen deutschen Fraktionen unter seine Gewalt bringen konnte, der liberalen Presse, weil sie vom Nationalitätenkampf den Rückgang der antisemitischen Bewegung, die Niederlage der Christlichsozialen und eine Renaissance des Liberalismus in ganz Österreich erhoffte. So spielten beide Gruppen eng zusammen und Julius Patzelt berichtet, es sei mehr als einmal vorgekommen, daß jüdische Fabrikanten für Schönerianische Versammlungen Extrazüge besorgten36). Sofort nach Bekanntwerden der Einladung zur Ausgleichskonferenz begann das „Grazer Tagblatt" zu hetzen. So schrieb es am 20. August: U. A. w. g. „Um Antwort wird gebeten" — das ist der übliche Vermerk auf Einladungskarten. Wir wollen nicht zögern, dem Grafen Badeni, der nun tatsächlich die Einladungen zu einer für den 26. August festgesetzten Völkerversöhnungskonferenz im Ministerratspräsidium ausgeschickt hat, die Antwort zu geben, die wir aus dem Herzen des mit Ausnahme der klerikalen Landsknechte geeinten deutschen Volkes schöpfen. Zunächst sei uns gestattet, die teilnahmsvolle Bemerkung vorauszuschicken, daß uns der Ort für die angenehme Unterhaltung möglichst ungünstig gewählt scheint. Die Stube des Ministerratspräsidiums ist geradezu ein böses Omen; in dieser Luft wurden die ,Völkerversöhnungen' gezeugt und geboren — vom Stremayr'schen Sprachenerlasse bis zu den Badeni-Gleispach'schen Verordnungen, deren jüngste blutigrote Frucht die Ermordung eines Deutschen in Böhmen ist. Und allzu aufrichtig ist jener grüne Tisch! Um ihn sind sonst die Minister versammelt und er soll nun die Führer der böhmischen Parteien vereinigen, die Sache des — ratlosen Kabinetts zu retten. Wir hätten das wohlig gedämpfte Licht im fein gedeckten Salon separee bei Sacher dem Grafen Badeni vorzuziehen geraten — und zwar umso unbefangener und selbstloser, a l s o h n e d i e s n i c h t d i e Rede davon sein kann, daß einer der mit dem wahren Willen d e s d e u t s c h e n V o l k e s v e r t r a u t e n u n d zu d e s s e n A n w a l t s c h a f t b e r u f e n e n Vertreter der Einladung Folge leisten werde... Die Antwort des deutschen Volkes lautet wie schon vor Wochen und Monaten so auch heute kurz und bündig: ,An keine noch so akademische und unverbindliche Vorberatung etwaiger Friedenspräliminarien ist auch nur im entferntesten zu denken, so lange die tschechischen SprachenVerordnungen nicht bedingungslos und kurz weg aufgehoben wurden.' Keine Leimspindel wird die Deutschen verlocken . . . "

Die „Ostdeutsche Rundschau" erklärte, es wäre schade, mit zwecklosem Gerede die Zeit zu verzetteln, und selbst die Prager „Bohemia", deren Beziehungen zur Deutschen Fortschrittspartei sehr eng waren, antwortete scharf und abweisend. Unter diesem Druck traten am 23. August in Prag 63 deutsche Abgeordnete zusammen, um einhellig zu beschließen, die Konferenz nicht zu beschicken. „Die in Prag am 23. August 1897 tagende Versammlung der deutschböhmischen Landtagsund Reichsrathsabgeordneten hat folgende einhellige Entschließung gefaßt: 1. Wir halten fest an der von den deutschen Abgeordneten im Reichsrathe vertretenen Rechtsanschauung, wonach die Regelung der sprachlichen Verhältnisse bei den k. k. Behörden nur im Wege der Gesetzgebung erfolgen kann. »·) J. Ρ a t ζ e 11, österr. Jahrbuch 1897, S. 93.

.Zuerst Rücknahme der Sprachenverordnungen"

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2. Wir wiederholen die bereits mit größtem Nachdrucke vertretene Forderung der deutschen Abgeordneten im Reichsrathe nach Beseitigung der trotz eindringlicher Warnung der deutschen Vertrauensmänner erlassenen Sprachenverordnungen in Böhmen und Mähren, die das deutsche Volk in seinem nationalen Leben aufs tiefste verletzen, eine Rechtsungleichheit deutscher Staatsbürger in den einzelnen Ländern der Monarchie schaffen, der Bildung eines tschechischen Staatswesens Vorschub leisten und somit den Bestand der Verfassung, sowie die Einheit und Machtentfaltung der Monarchie bedrohen. 3. Wir fühlen uns in vollster Uebereinstimmung mit dem einhellig ausgesprochenen W i l l e n u n s e r e s V o l k e s , welcher durch tausende von Petitionen und Entschließungen deutscher Gemeinden, Städte, Bezirke und hervorragender und ansehnlicher Körperschaften zum unverfälschten Ausdrucke gelangt ist. 4. Wir stehen in unverbrüchlicher Treue zu unserem Volke, das, ungebeugt durch die feindseligen Maßnahmen der Regierung zur Unterdrückung der freien Meinungsäußerung durch Wort und Schrift, in feierlichen Kundgebungen durch seine erwählten Vertrauensmänner sich verpflichtete, i n k e i n e r l e i V e r h a n d l u n g m i t d e r R e g i e r u n g e i n z u t r e t e n , s o l a n g e die S p r a c h e n v e r o r d n u n g e n a u f r e c h t erh a l t e n bleiben. 5. Wir sehen uns zur Erkenntnis gedrängt, daß die k. k. Regierung nicht gewillt ist, durch Zurückziehung der Sprachenverordnungen einen neutralen Boden für die Verhandlungen zu schaffen, als vielmehr wohl Aenderungen und Bedingungen in Aussicht stellt, d e r e n E r f ü l l u n g zu v e r h i n d e r n dem im g l ü c k l i c h e n B e s i t z e befindl i c h e n G e g n e r e i n l e i c h t e s i s t . Wir sind durchdrungen von der Ueberzeugung, daß es sich heute schon nicht mehr um eine engere deutsch-tschechische Frage handle, sondern um die Wahrung der nationalen Lebensbedingungen der Deutschen in Oesterreich überhaupt. Aus diesen Gründen spricht sich die Versammlung der deutschböhmischen Landtags- und Reichsrathsabgeordneten mit aller Entschiedenheit gegen die Beschickung der vom k. k. Ministerpräsidenten auf den 26. August 1897 anberaumten Konferenz aus. Zur B e g r ü n d u n g unseres Verhaltens weisen wir auf die Treulosigkeit der anderen Vertragsparteien und die dadurch hervorgerufene bittere Enttäuschung der Vertreter des deutschen Volkes bei den Ausgleichsverhandlungen von 1890 hin. Wir heben ferner hervor, daß nach dem Wortlaute dieser Einladung bei der Aufstellung der Verhandlungsgegenstände wohl die tschechischen Wünsche Berücksichtigung fanden, dagegen die vom deutschen Volke verlangte und 1890 zugestandene nationale Selbstverwaltung, die Abgrenzung der Bezirke, die Errichtung von Landtagscurien mit sachlicher Wirksamkeit und dem Vetorechte keine Aufnahme gefunden haben, im Gegenteile in der Einladung eine Anknüpfung an die vom Statthalter im böhmischen Landtage am 26. Jänner d. J. abgegebene Erklärung ausgesprochen wird, eine Erklärung, welche die deutschen Abgeordneten sofort auf das nachdrücklichste bekämpften, weil sie lediglich in ganz einseitiger Weise den Wünschen der tschechischen Abgeordneten Rechnung getragen hat. Wir betonen ferner, daß für die Erklärung des Statthalters vom 5. Februar d. J., welche die Deutschen einigermaßen beruhigte, in dieser Erklärung eine Anknüpfung nicht gesucht wird und dies offenbar nur aus dem Grunde geschehen ist, weil die in der Regierungserklärung enthaltenen Versprechungen keine Erfüllung erfahren haben, vielmehr im Gegensatze zu denselben ohne Vorbesprechung mit den Deutschen die Sprachenverordnungen erlassen worden sind. Wir erklären endlich als gewählte Vertrauensmänner des geeinigten deutschen Volkes, d e n z ä h e s t e n u n d e n t s c h i e d e n s t e n W i d e r s t a n d zur Verteidigung der Rechte und der Ehre des deutschen Volkes unbeugsam fortsetzen zu wollen. Ein System von Täuschungen, einseitiger falscher Stellungnahme und feindseligen Verhaltens dem Ausdrucke des Volkswillens gegenüber kann ebensowenig wie die haßerfüllte und gewalttätige Haltung des tschechischen Volkes jenes Vertrauen erwecken, welches die notwendige Voraussetzung zur erfolgreichen Verhandlung sein müßte."

Die Begeisterung über die Ablehnung war in den radikalen deutschen Tageszeitungen allgemein. Die „Neue Freie Presse" erklärte, „wenn ein Ministerium seine Existenz dafür einsetzte, um das einer Handvoll Slowenen gegebene Versprechen von Cilli einzulösen, so sind es wohl die Deutschen wert, daß sie nicht

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VIII. Der Sturz Badenis

erst eine Ranzionierung leisten müssen, um von den Sprachenverordnungen befreit zu werden". Die deutschen Abgeordneten Böhmens hätten erkannt, daß sie die Dünenwächter seien, denen der letzte Damm gegen die slawische Überflutung anvertraut sei. „Wer sie trotzdem der Unversöhnlichkeit und des Starrsinnes zu beschuldigen vermöge, der werfe den ersten Stein auf sie." Um aber Badeni die Möglichkeit zu nehmen, mit dem § 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung vom 21. Dezember 1867 weiterzuregieren, was die tschechischen Blätter offen ventilierten, wurden ihm die äußersten Repressalien seitens der Deutschen angedroht, die überdies wußten, daß die Ungarn nicht gewillt waren, einem Zustandekommen des Ausgleiches der beiden Reichshälften auf Grund des § 14 zuzustimmen. Die „Ostdeutsche Rundschau" frohlockte: Die Politik des Grafen Badeni habe mit dem Beschluß der deutschböhmischen Abgeordneten eine vollständige Niederlage erlitten. Nicht minder vollständig war die Niederlage, die sich die deutschen Oppositionsparteien selbst zugefügt hatten. Die Jungtschechen hatten Angst vor einer Überflügelung durch die radikalen Tschechen und hielten es darum für ratsam, den Bogen nicht zu überspannen. Damals, im August 1897, hatte, wie sich nachträglich zeigt, zum letztenmal die Möglichkeit zu einem Ausgleich in Böhmen bestanden. Wären die Deutschen in die Verhandlungen eingetreten, so wären nach allgemeinem Ermessen die Vorbedingungen zur Regelung der Nationalitätenfrage in Böhmen getroffen worden, wodurch überdies auch die Opposition gegen die Ausgleichsvereinbarungen mit Ungarn rechtzeitig auf die Majorität ausgedehnt und die ungarische Regierung in der Frage der Erneuerung des wirtschaftlichen Ausgleiches der beiden Reichshälften unter wirksamen Druck gesetzt worden wäre. Wie nur das Wiener „Deutsche Volksblatt" für die Beschickung eingetreten war, wagte nun nur die Wiener „Deutsche Zeitung" ihre Bedenken gegen den Prager Beschluß am 24. August anzumelden: „Es war schon im Voraus Niemand darüber im Unklaren, wie der heutige Beschluß ausfallen werde. Es wäre freilich auch die Möglichkeit eine verlockend schöne gewesen — und wir können dies jetzt nach vollzogenem Beschlüsse ruhig sagen, ohne uns den Vorwurf machen lassen zu müssen, daß wir die Abgeordneten im unvolkstümlichen Sinne beeinflussen wollen — es wäre die Möglichkeit eine schöne gewesen, daß eine Handvoll wackerer deutscher Führer, ja nur ein einziger, eine echtdeutsche Kraftgestalt, ein deutschböhmischer Luther, ein Bismarck, mit eherner Faust und unbeugsamem Sinne des deutschen Volkes Rechte und gerechte Forderungen im Palaste des kaiserlichen Ministers zu Wien verteidigt hätte. Ein solcher Mann hätte seinem Volke unendlichen Nutzen schaffen können. Aber derartige Kraftnaturen erzeugt ein Volk kaum alle hundert Jahre eine."

Ja, wo wäre der Mann dazu gewesen ? Weder die Deutsche Fortschritts- noch die Deutsche Volkspartei besaß ihn. Die Einsicht war ja vorhanden, und im vertrauten Kreise fehlten die Stimmen der Sorge nicht. „Was wird Badeni jetzt machen ?" fragte am 29. August Oswald Thun. „Ich habe große Besorgnis für die Zukunft", schrieb er weiter, während der dem böhmischen Feudaladel zugehörige spätere Ministerpräsident Graf Franz Thun sich gegenüber seinem Nachfolger als böhmischer Statthalter, Graf Karl Coudenhove, am Tage zuvor äußerte: „Wenn es so fortgeht, führt uns Badeni zur Revolution: er verbittert auf der einen Seite und läßt auf der anderen Seite Aspirationen sich stärken, die ohne Zerfall des Reiches nicht befriedigt werden können. Je früher Badeni fällt, desto besser für die Sache . . ."37). Aber was hilft die richtige Erkennung der politischen Situation, wenn niemand den Mut findet, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen und ") Ρ. Μ ο 1 i s c h , Briefe S. 356 und 357.

Der Ministerrat vom 24. August 1897: Badems Demissionsangebot

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auch gegenüber schwersten Angriffen zu verteidigen. Optimistisch scheint nur mehr Badeni selbst gewesen zu sein. Die ablehnende Antwort der Deutschen veranlaßte ihn, den Ministerrat am 24. August einzuberufen, um sich von diesem die Ermächtigung erteilen zu lassen, die Konferenz telegraphisch abzusagen und denjenigen Geladenen, die sich zur Teilnahme bereit erklärt hatten, den Dank für ihr beabsichtigtes Erscheinen auszusprechen. Aber noch wichtiger war, die Haltung der Regierung festzulegen. Badeni erklärte, er wolle dem Kaiser die Demission für seine Person anbieten, doch habe er nicht die Absicht, diesen Schritt ohne Rücksichtnahme auf das zu unternehmen, was weiter zu geschehen habe. Seine Proposition wäre nicht im Sinne einer Rücktrittserklärung des Kabinetts zu nehmen, sondern als ein interner Schritt des Ministerpräsidenten, um auf die Möglichkeit aufmerksam zu machen, daß durch seine Entfernung ein Ausweg aus der Situation gewonnen werden könnte. Alle Minister, die im Verlaufe der Konferenz dazu Stellung nahmen, beteuerten, daß selbstverständlich das ganze Kabinett sich dem Kaiser zur Verfügung stellen müßte. Gautsch fügte noch hinzu, daß er es doch, wenn sich dies auch aus der außerparlamentarischen Stellung des Kabinettes ergebe, angesichts der ernsten Lage angezeigt hielte, diese Bereitwilligkeit zur Demission Allerhöchsten Ortes im gegenwärtigen Augenblicke besonders zum Ausdrucke zu bringen. Gleispach ergänzte diesen Punkt dahin, daß der vom Ministerrate am 17. August einhellig eingenommene Standpunkt allein so zu deuten sei, daß, im Falle der Ministerpräsident sich für seine Person dem Kaiser zur Disposition stelle, sich selbstverständlich sämtliche Minister diesem Schritte anschließen würden und daß dieser Schritt nur eine logische Konsequenz jener früheren Demission bilde, welche aus dem Grunde erfolgte, weil die Regierung ihr Programm als gescheitert angesehen hatte. Indem die Regierung in ihrem Bestreben, auf dem ihr vom Kaiser vorgezeichneten Wege die Geschäfte weiterzuführen, leider erneut vor einem Mißerfolg stehe, habe sie folgerichtig zu ihrem nunmehrigen Entschlüsse gelangen müssen. Mit diesem sei jedoch nicht beabsichtigt, eine Erklärung in dem Sinne abzugeben, daß die Regierung die Geschäfte weiterzuführen nicht in der Lage oder gewillt sei; vielmehr solle nur die kaiserliche Entscheidung über die neu entstandene Situation angerufen werden. Wesentlich schwieriger war die Frage, welche Haltung das Kabinett künftig einnehmen werde. Bei der Beratung darüber fehlte es nicht an gereizten Unstimmigkeiten und Widersprüchen. Badeni glaubte, daß kein anderer Weg offenstehe, als den Reichsrat einzuberufen. Mit Rücksicht darauf, daß der Wiederzusammentritt des ungarischen Reichstages für den 27. September anberaumt war und die Delegationen nicht vor dem 20. Oktober tagen konnten, war Badeni der Ansicht, daß der Reichsrat jedenfalls erst in der zweiten Hälfte September zu versammeln wäre und daß der Eröffnung unbedingt eine „Art Annäherung oder wenigstens Auseinandersetzung" mit jenen Parteien voranzugehen hätte, die im Frühjahr im Parlamente sich ruhig verhalten und nicht Obstruktion getrieben hatten, um über das Arbeitsprogramm für die nächste Zeit schlüssig zu werden, die Konstituierung des Hauses sicherzustellen und die Maßnahmen zu vereinbaren, die im Falle des Wiederauftretens der Obstruktion zu ergreifen wären. Die Auseinandersetzung mit den Parteien sollte jedoch nicht im Sinne eines Paktierens über die verschiedenen Wünsche, welche diese hatten, verstanden werden. Einer solchen Auffassung müßte, wenn sie sich zeigen sollte, ausdrücklich entgegengetreten werden. Es müßte gesagt werden, daß die sich als Majorität deklarierenden Parteien vorerst den Beweis zu liefern hätten — eine Ansicht, die in dieser und in ähnlichen Formulierungen bei den weiteren Beratungen immer wiederkehrte —,

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VIII. Der Sturz Badenis

daß sie das Haus arbeitsfähig zu machen und das durchzusetzen imstande seien, was zu den dringendsten staatlichen Anforderungen gehörte. Für den weiteren Weg gebe es dann zwei Eventualitäten: entweder, daß man die Delegationswahl vornimmt und falls dann die Obstruktion weiter getrieben werde, den Reichsrat nach Hause schicke und mit Zuhilfenahme des § 14 soweit als möglich durchzukommen trachte, oder, wenn der § 14 vermieden werden solle, daß nach Vornahme der Delegationswahl im Wege eines entsprechenden Einvernehmens mit der Majorität und dem künftigen Präsidium dem Hause die Regierung eine Geschäftsordnung oktroyiert, wodurch es möglich werde, das unbedingt Notwendige im Reichsrate zur Erledigung zu bringen. Badeni hielt es „nicht für aussichtslos", sich über ein solches Vorgehen mit der Majorität auseinanderzusetzen. Ferner wollte er vom Kaiser, nach dessen Rückkehr nach Wien, einen Ministerrat unter dessen Vorsitz zur Besprechung der weiteren Maßnahmen erbitten. Auf eine Zwischenbemerkung des F M L v. Guttenberg hin betonte Badeni, daß für ihn die Aufrechterhaltung der Sprachenverordnungen unter den gegebenen Verhältnissen außer Frage stehe. Im Gegensatz zu Badeni schnitt Gautsch sofort das Grundsätzliche an. Wenn der Kaiser das Verbleiben des Kabinettes im Amte anbefehle, müsse die Regierung die Position, welche sie bisher eingenommen habe, unbedingt aufrecht halten. Diese Position sei klar gekennzeichnet durch die Antrittserklärung der Regierung vom 22. Oktober 1895, durch die Thronrede, welche das Programm der Regierung im einzelnen enthalte, und zuletzt durch die Weisungen des publizierten kaiserlichen Handschreibens vom 4. April. Die Regierung, wie sie gegenwärtig zusammengesetzt sei, würde ihre Daseinsberechtigung in dem Augenblick verlieren, wo sie diesen Standpunkt auch nur im geringsten verlassen würde. Dies veranlasse ihn seinerseits, sich über das Verhältnis des Ministeriums zur Majorität auszusprechen. Eine Auseinandersetzung mit ihr über das formelle Vorgehen im Parlament sei nicht nur gerechtfertigt, sondern auch geboten, indem die Tatsache des Bestandes einer Majorität, wenn sie sich auch ohne Zutun der Regierung gebildet habe, von dieser wohl nicht ignoriert werden könne. Ebenso stehe aber auch die Tatsache fest, daß das Programm der Majorität viele Punkte enthalte, welche die Regierung nach ihrem eigenen Programm nicht akzeptieren könnte. Es erschiene daher ihm dringend notwendig, daß die Regierung in der gegenwärtigen Lage auf das bestimmteste betone, daß sie nach wie vor zu ihrem Programm stehe und in dieser Beziehung eine Transaktion mit der Majorität einzugehen nicht geneigt sei. Allein schon durch die Art und Weise, wie das Verhältnis der Regierung zur Majorität gegenwärtig in der Presse behandelt werde, trete eine solche Verwirrung der Anschauungen zutage, daß die Autorität der Regierung darunter Schaden leiden müsse. Die Lage der Regierung sei, wenn sie ihre Reputation nicht einbüßen wolle, so, daß sie nur einen von zwei Wegen gehen könne. Entweder sie verwandle sich offen und deutlich in ein Parteiministerium der Rechten und trage dann auch in jedem einzelnen ihrer Mitglieder die volle Verantwortung für das, was hieraus entsteht, was natürlich gewisse Veränderungen zur Folge haben müßte, oder sie bleibt auf dem Standpunkt, den sie wiederholt als den ihrigen — als ihr Programm — bezeichnet habe. Hierüber müßte aber eine loyale Aussprache gegenüber der Rechten erfolgen, welche auch deswegen notwendig sei, weil jedes Mitglied des Ministeriums eines festen Rückhaltes für seine Äußerungen im Parlamente und gegenüber intervenierenden Abgeordneten bedürfe. Er allerdings könne nach seinen Überzeugungen nur auf dem Standpunkt, welchen die Regierung seit ihrem Amtsantritte eingenommen habe, beharren. Er

Der Ministerrat vom 24. August 1897: Das Verhältnis zur Majorität

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stimme für die Einberufung des Reichsrates, nach vorausgegangener Besprechung über die Art, wie die Geschäfte im Parlament weiterzuführen seien. Die Delegationswahl dürfte nach glaubhaften Nachrichten auf keine besonderen Schwierigkeiten stoßen, was für den Augenblick vielleicht das wichtigste sei. Hinsichtlich des weiteren möchte er, wenn die Obstruktionsszenen sich erneuern sollten, nicht den Rat geben, mit der Oktroyierung einer Geschäftsordnung vorzugehen. Er würde vielmehr glauben, daß der Reichsrat in solchem Falle nach Hause zu schicken wäre und dann die Regierung fest entschlossen die Konsequenz zu ziehen, auf Grund des § 14 sowohl das Ausgleichsprovisorium mit Ungarn als auch das Budget zu votieren hätte. Wenn die Regierung nicht vom Platze weiche, dürfe sie vor dieser Konsequenz nicht zurückscheuen, wobei die Hoffnung auf Besserung der Lage bestünde, insbesondere dann, wenn die Zwischenzeit benützt werde, um die abgerissenen Beziehungen, soweit möglich, wieder anzuknüpfen. Im Prinzip somit sei er mit dem Ministerpräsidenten einverstanden, unter der Voraussetzung, daß das Ministerium sich über das Festhalten an seinem Programme klar ausspreche, weder der Obstruktion weiche, noch sich unter das Joch der Majorität begebe. Das aber lag gar nicht in den Intentionen des Finanzministers Ritter v. Bilinski, der zwar erklärte, mit Gautsch der Ansicht zu sein, daß mit der Majorität klar gesprochen werden müßte. Im wesentlichen Punkte aber wich er von den Anschauungen des Unterrichtsministers ab. Es handle sich, erklärte Bilinski, um die Alternative, ob die Majorität die Kraft haben werde, Ordnung im Parlament zu schaffen oder nicht. Im letzteren Falle werde nichts anderes übrigbleiben, als den Reichsrat zu entlassen und den § 14 anzuwenden. Im ersteren Falle aber verändere sich die Position der Majorität zur Regierung erheblich. Die Majorität werde durch den erreichten Erfolg sich so gekräftigt fühlen, daß sie an die Regierung mit der Forderung einer entschiedeneren Stellungnahme herantreten und daß die Frage einer positiven Unterstützung der Regierung seitens der Majorität aktuell werden würde. Er möchte vorläufig sich nicht in so prägnanter Weise gegenüber der Majorität ausdrücken, wie es vom Unterrichtsminister proponiert werde, sondern glaube, es wäre, unter Beschränkung auf das Notwendigste, der Majorität nur nahezulegen, daß es ihre nächste Aufgabe sei, für Ordnung zu sorgen. Mit der Frage, was weiter geschehen werde, wäre diese auf jenen Zeitpunkt zu verweisen, in welchem sie sich darauf berufen könne, diese nächstliegende Aufgabe gelöst zu haben. Würde nämlich schon jetzt von der Regierung ein unbedingtes Festhalten an ihrem ursprünglichen Programme proklamiert werden, so würde der Majorität der Ansporn entzogen, sich um die Herstellung der parlamentarischen Ordnung zu bemühen, während es andrerseits nicht ausgeschlossen erscheine, daß, wenn wieder geregelte Zustände im Parlamente eingekehrt seien, durch eine Gegenüberstellung der Programmpunkte der Regierung und der Majorität sich schließlich ein Modus finde, welcher es der Regierung ermögliche, mit der Majorität zusammenzuarbeiten. Er könne es begreifen, daß im äußersten Notfalle, wenn es absolut nicht gelinge, eine parlamentarische Arbeit durchzusetzen, die Regierung sich in die Stellung eines Konfliktministeriums begebe und ohne übermäßige Skrupellosigkeit den § 14 zur Anwendung bringe. Aber im offenen Parlamente könne die Regierung wohl nicht den Versuch machen, wichtige Vorlagen einzubringen, ohne eine einzige Partei für sich zu haben. Seine persönliche Überzeugung sei es, daß sie mit dieser Majorität, die nun einmal da sei, gehen könne. Er möchte warnen, die Majorität auf die Gefahr aufmerksam zu machen, daß sie die Ordnung für eine Regierung schaffe, die sich ihr dann nicht anschließen wolle. Auch Ackerbauminister Graf Ledebur-

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V I I I . Der Sturz Badenis

Wichein hielt es zwar für vollkommen korrekt, daß Gautsch betont hatte, es sei die Aufgabe der Regierung, das Programm fest im Auge zu behalten. Die praktische Durchführung, die Fühlungnahme mit der Rechten jedoch wollte auch er nicht nur auf die formale Frage, wie man über die nächsten Schwierigkeiten hinauskommen könne, beschränkt wissen. Man möge beachten, daß die Majorität doch im großen und ganzen sich auf Grund des von der Regierung aufgestellten Programms gebildet habe, daß sie in dem von ihr angenommenen Adreßentwurfe ihre Prinzipien zwar weiter ausgestaltet habe, als es mit den Anschauungen der Regierung harmonisierte, daß sie andrerseits aber auch betonte, es handle sich hier um Wünsche und Bestrebungen, welche der Zukunft vorbehalten blieben. Er hege keinen Zweifel, daß, wenn die Regierung offen erklären würde, die Unterstützung der Majorität anzunehmen, diese auch bereit wäre, allzu weitgehende Punkte ihres Programms zu unterdrücken oder zurückzustellen. Es könnten allerdings konkrete Anträge gestellt werden, denen gegenüber die Regierung Stellung zu nehmen genötigt sein würde, wie beispielsweise der Ebenhochsche Schulantrag38). Was diesen Antrag betreffe, so sehe er in diesem nichts, was er für seine Person nicht zu verantworten vermöchte. Man müsse jedenfalls gefaßt sein, daß solche und ähnliche Fragen an die Regierung herantreten werden. Wenn diese nun beim Wiederzusammentritt des Reichsrates ihr Programm so präzisieren würde, daß sie absolut in keinem Punkt von ihrem bisher eingenommenen Standpunkte abzugehen vermöge, so wäre zu befürchten, daß sie so sich damit in eine unhaltbare Stellung bringe und sie auch für die notwendigsten Dinge im Parlamente ohne Unterstützung bliebe. Der Verfasser und designierte Referent des Adreßentwurfes der Majorität, Adalbert Graf Dzieduszycki, habe in einer im Druck erschienenen Schrift die im Entwürfe enthaltenen Gedanken weiterentwickelt. Diese zeigten sich in der weiteren Ausführung weit weniger unannehmbar39). Man dürfe nicht nur den Wortlaut des Adreßentwurfes ins 38 )

Am 4. Mai 1897 hatte der Oberösterreicher Dr. Alfred Ebenhoch namens der Katholischen Volkspartei einen Gesetzesentwurf eingebracht, durch den die Grundsätze des Unterrichtswesens in der Volksschule festgestellt werden sollten. (Stenogr. Prot. X I I . Session S. 485; 99 der Beilagen.) Am 5. Oktober 1897 legte dann Ebenhoch seinen Schulantrag in etwas geänderter Form neuerdings vor. Der Antrag verlangte die sogenannte konfessionelle Schule und ging von folgenden Grundsätzen aus: Die Kinder sind nach den Lehren ihrer Religion zu erziehen. Die Regelung der interkonfessionellen Verhältnisse der Schulen ist der Landesgesetzgebung zu überweisen. Der Unterricht in den Realien ist auf das „Faßlichste und Wissenswerteste" zu beschränken. Bei Festlegung des Lehrplanes ist die Unterrichtsverwaltung an die Zustimmung des Landesausschusses gebunden, der auch die Zahl der Religionsstunden und die Zulässigkeit der Lehr- und Lesebücher im Einvernehmen mit der Kirchenbehörde bestimmt. Dieser Antrag wurde von den national-freisinnigen Gruppen schwerstens angefeindet. Es wäre allerdings bei Verländerung der Schule beispielsweise weder in Böhmen, Mähren, Schlesien, Niederösterreich oder in der Steiermark zur „Verklerikalisierung der Schule" gekommen, zumal auch das industrielle Proletariat bereits eine zu große Rolle spielte. Gefährlich war der Ebenhochsche Schulantrag im Hinblick auf Länder wie Galizien, die Bukowina und Dalmatien, wo der Prozentsatz der Analphabeten noch erschütternd groß war, es jedoch Pflicht dieser Kronländer gewesen wäre, für das Schulwesen entsprechend zu sorgen. Bei weiterer Machtvollkommenheit der Länder im Schulwesen hätte dieses noch mehr gelitten. — Zum katholischen Standpunkt in der Schulfrage vgl. Histor.-polit. Blätter 122, 1898, S. 790—800. " ) A. D z i e d u s z y c k i , Programm der Autonomisten-Partei. — Ganz abgesehen von der nicht leicht zu beantwortenden Frage, ob eine autonomistische Lösung die innere Konsolidierung des österreichischen Vielvölkerstaates bedeutet hätte, ist Graf Ledeburs Ansicht, daß die „weiteren Ausführungen" Dzieduszyckis weit weniger unannehmbar seien als der

D r . Josef Kaizl 1854—1901

Der Ministerrat vom 24. August 1897: Das Programm der Autonomisten

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Auge fassen. Schon anläßlich der Beratungen über die Majoritätsbildung habe er sich den Wunsch auszusprechen erlaubt, daß auch die Katholische Volkspartei in diese Majorität einbezogen werde, was ursprünglich nicht in der Intention des Ministerpräsidenten gelegen wäre. Dieser Wunsch sei durch die Tatsache überholt, und er glaube, nicht zum Schaden der parlamentarischen Situation, denn Adreßentwurf, schon deshalb nicht ganz verständlich, weil Dzieduszycki diesen, wenn auch als Anhang, so doch als integrierenden Bestandteil in seine kleine Schrift aufnahm, mit der er „eine schriftliche Besprechung der Prinzipien der Reichsratsmajorität an die Stelle der nicht zustandegekommenen Debatte" treten lassen wollte, in der Hoffnung, „daß, wenn es gelingen wird, einige Klarheit zu schaffen, dies zur teilweisen Beschwichtigung der politischen Leidenschaften beitragen kann". Die Stärke der Majorität sieht er darin, daß die Parteien, die sich im Frühjahr im Abgeordnetenhaus zusammentaten, nicht „wie einstens ein programmloses opportunistisches Leben fristen" wollten und „nicht verlegen" waren, „einen bedeutsamen gemeinschaftlichen Namen zu finden: die Majorität nannte sich eine große Autonomistenpartei. Im Namen war auch das Programm schon gegeben." Dzieduszycki hebt ausdrücklich hervor: „. . . der im Adreßausschusse angenommene Adreßentwurf enthält das volle für jetzt und für die Zukunft geltende Programm der Mehrheit des Abgeordnetenhauses, und alle diese Mehrheit bildenden Parteien haben durch eine gemeinschaftliche Kundgebung in der feierlichsten Form ihren Willen erklärt, bei dem beschlossenen Programm treu und fest zu verharren. Eine abenteuerliche Politik will die Autonomistenpartei weder führen noch zulassen; das Gedeihen der Monarchie steht ihr viel zu hoch; daher hat sie sich auf den Boden der geltenden Gesetze gestellt und hat in ihr für das Parlament bestimmte Arbeitsprogramm nur solches aufgenommen, was ohne Änderung der Verfassung mit einer dermalen einzig möglichen, einfachen Majorität vom Abgeordnetenhause beschlossen werden kann." Nur wenige Zeilen später gesteht Dzieduszycki jedoch „im Interesse einer vollkommenen Aufrichtigkeit" ein, „daß eine Änderung der Verfassung von den Autonomisten angestrebt werden wird, sobald die Verhältnisse eine solche als im legalen Wege erreichbar darstellen werden. Dieses Eingeständnis berechtigt die Gegner aber keineswegs dazu, uns reichsgefährliche Gedanken unterzuschieben." Auch an anderer Stelle (S. 36) verheimlicht der Verfasser nicht, daß die Ziele der Majorität wesentlich weiter gesteckt seien. „Die parlamentarischen Gruppen, welche die Majorität des Abgeordnetenhauses zusammensetzen, haben manchen Wunsch in den Hintergrund treten lassen, um ein praktisches Arbeitsprogramm für die gegenwärtige Wahlperiode zu bilden und eine Majorität zustandezubringen, auf welche sich die Regierung stützen könnte. Sie haben manche Opfer gebracht, um den regelmäßigen Fortgang des konstitutionellen Lebens in Österreich zu ermöglichen." Damit ist zugleich eine Aufforderung an Badeni ausgesprochen, sich auf die Majorität des Abgeordnetenhauses zu stützen und sich dieser zu bedienen. Im übrigen begründet Dzieduszycki lediglich die im Adreßentwurf niedergelegten Forderungen nach Gewährung eines proportionalen Anteiles der Steuererträge an die Landtage, nach größerem Einfluß der Landesgesetzgebung auf das Volksschulwesen und die Verländerung der Regierungsorgane außerhalb der Zentralstellen. (Zum Text des Adreßentwurfes siehe I. Band S. 268 Anm. 41.) Dzieduszycki versucht, gemäßigt und sachlich, den Vorwurf, das Programm der Autonomisten würde die notwendige Reichseinheit zersetzen, zu entkräften und betont, „daß niemand daran denkt, den Landtagen die Angelegenheiten der Wehrmacht und die auswärtigen Angelegenheiten zu überweisen". Zusammenfassend betont Graf Dzieduszycki : „Wir Autonomisten sind überzeugt, daß nur dann feste und glückverheißende Verhältnisse im Reiche geschaffen werden können, wenn den Landtagen ein größerer Einfluß eingeräumt wird, die nationalen Streitigkeiten in den einzelnen Ländern ausgefochten werden und das Centralparlament sich unbehindert durch anderwärtige, ihm selbst nicht in entsprechender Weise lösbare Aufgaben sich der Sorge um die Macht und wirtschaftliche Entwicklung des Gesamtstaates, der Entwicklung eines den wahren Rechtsprinzipien entsprechenden allgemeinen Privat- und Strafrechtes, und sozialpolitischer Arbeit widmet." Zur Biographie des Grafen Dzieduszycki vgl. G. Κ ο 1 m e r, Parlamentarisches Jahrbuch V, S. 171. — J. S y l v e s t e r , Vom toten Parlament Taf. XXII. 6

Sutler, Sprachenverordnungen II.

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VIII. Der Sturz Badenis

gerade von dieser Partei sei zu hoffen, daß sie gegenüber den weitgehenden Bestrebungen der Jungtschechen ein Gegengewicht bilden werde, während andererseits nicht zu befürchten sei, daß sie vom Standpunkt ihres religiösen Programms solche Forderungen stellen könnte, denen gegenüber die Regierung sich ablehnend verhalten müßte. Was die Änderung der Geschäftsordnung betreffe, so sei es auch seine Überzeugung, daß ohne eine solche es kaum möglich sein werde, die Verhandlungen im Parlamente weiter zu führen. Man dürfe sich der Hoffnung nicht hingeben, daß die Obstruktionisten ihre Taktik so leicht aufgeben würden. Wenn das Verhältnis zur Majorität sich so gestalte, daß sich diese bereit erkläre, die nötigen Änderungen an der bestehenden Geschäftsordnung en bloc anzunehmen, so würde das gewiß für das weitere Vorgehen sehr förderlich sein. Wenn man auch über die Delegationswahl noch hinauskomme, so dürfte doch nach dieser die Obstruktion in der heftigsten Weise sich erneuern. Trotz der einmütigen Ansicht im Ministerrat, daß es im Parlament erneut zu Obstruktionsszenen kommen werde, hat kein einziger Minister sich im Hinblick auf die Notwendigkeit der Delegationswahl gegen die Einberufung des Reichsrates ausgesprochen. Auch Gautsch war damit einverstanden, daß der Reichsrat, falls das Kabinett in seiner bisherigen Zusammensetzung noch weiter im Amte bleiben sollte, einberufen werde, wobei er aber nicht die Ansicht verhehlte, daß diese Einberufung zunächst nur den Charakter einer Demonstration haben solle, um zu statuieren, ob mit diesem Parlamente die notwendigsten Regierungsakte vorgenommen werden könnten und ob es überhaupt arbeitsfähig sei. In dieser Beziehung könne, fügte Justizminister Graf Gleispach hinzu, er leider nicht die Erwartung des Unterrichtsministers teilen, wonach die Vornahme der Delegationswahl keinen Anstand finden werde. Nach den ihm zugegangenen Informationen sei vielmehr zu gewärtigen, daß gerade bei der Delegationswahl die Obstruktion sich in intensivster Weise äußern werde, weil jene als ein unerläßlicher Staatsakt angesehen wurde. Indes halte er es immerhin für möglich, die Vornahme dieser Wahl, trotz der Obstruktion, mit Hilfe der Rechten zu forcieren. Er glaube auch, daß es nützlich — vielleicht notwendig — sein könnte, mit der Rechten Vorbesprechungen zu halten. Dem Finanzminister und dem Ackerbauminister hielt er jedoch vor, daß in ihren Äußerungen jene unüberbrückbaren Gegensätze in den politischen Anschauungen einzelner Mitglieder des Kabinetts zum Vorscheine gelangt seien, die bereits in den Beratungen vor der ersten Demission sich bemerkbar gemacht hatten. Eine Auseinandersetzung mit der Majorität in der Weise, wie die beiden genannten Minister sie im Auge hatten, erschien ihm nicht nur nach seiner persönlichen Überzeugung, sondern auch im Interesse der Regierungs- und der Staatsautorität ausgeschlossen. Durch ein solches Hinüberschwenken zur Rechten würde das durch die hochgehende politische Erregung ohnehin gesunkene Ansehen der Regierung einen schweren Stoß erleiden. Diese dürfe angesichts der Auflehnung, in welcher sich die Deutschen gegen die Regierungsgewalt befinden, sich nicht schwach und schwankend erweisen. Sie habe ihre Aufgabe darin zu erkennen, als Regierung des Kaisers mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln auf die Wiederaufrichtung der gesunkenen Autorität bedacht zu sein. Er stimme daher der Anschauung des Unterrichtsministers bei, daß es für die gegenwärtige Regierung nur unter Festhaltung des bisherigen Regierungsprogramms denkbar und möglich sei, die Geschäfte weiter zu führen, wobei nötigenfalls selbst von einer energischen Handhabung des § 14 nicht werde abgesehen werden können. Formale Bedenken von kleinlichem Belange dürften dabei keine Berücksichtigung finden, zumal die

Der Ministerrat vom 24. August 1897: Das Verhältnis zur Majorität

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Majorität schon numerisch, aber auch mit Rücksicht auf die diametral entgegengesetzten Anschauungen der Parteien, aus denen sie gebildet sei, auf ziemlich schwachen Füßen stehe und insbesondere der Katholischen Volkspartei es gegenüber gewissen Unterströmungen, welche sich in ihren Wählerkreisen schon verschiedentlich geäußert haben, am schwersten möglich sein dürfte, sich auf die Dauer in diesem Verbände zu halten. Anders wiederum dachte Handelsminister Freiherr von Glanz. Da es ihm mit Rücksicht auf die verfassungsmäßige Behandlung in Ungarn kaum möglich schien, auf Grund des § 14 zur Zusammenstellung des gemeinsamen Haushaltes zu schreiten, betonte er, es werde jedenfalls getrachtet werden müssen, die Wahl in die Delegation durchzusetzen. Schon deshalb habe die Regierung in Vorbesprechungen mit der Majorität einzutreten. Glanz schloß sich der Anschauung des Unterrichtsministers an, daß von der Regierung an ihren bisherigen programmatischen Erklärungen festzuhalten wäre. Es werde sich aus den Besprechungen mit der Majorität ja zeigen, ob und inwieweit ohne Preisgabe dieses Standpunktes die Möglichkeit gegeben sei, der Rechten in der einen oder anderen Nuance entgegenzukommen. Auch Minister Dr. Rittner stellte die Frage, ob zwischen dem Programm der Regierung und dem Programme der Rechten ein so unausgleichbarer Gegensatz bestehe, daß, wenn die Regierung eine gewisse Annäherung an die Rechte vollziehe, dadurch allein schon ein Abgehen vom Regierungsprogramme bedingt sei. Daß die Regierung auf gewisse Postulate unter keinen Bedingungen eingehen könne, sei selbstverständlich. Aber es sei nicht notwendig, einen Gegensatz der beiden Programme nach außen scharf zu präzisieren. Der Ministerpräsident habe nur die Absicht, sich über das nächste Vorgehen im Parlamente — über einen vorläufigen Modus vivendi — mit der Rechten auseinanderzusetzen. Es wäre leicht möglich und vielleicht zu wünschen, daß die Rechte bei diesem Anlasse mit bestimmten Forderungen an die Regierung herantrete. Dann werde es Sache des Ministerrates sein, zu erwägen, ob das betreffende Postulat noch mit dem Regierungsprogramm in Einklang zu bringen sei oder nicht, und je nach dem Beschlüsse werde die Regierung einem solchen Ansinnen gegenüber Stellung zu nehmen haben. Aber schon im vorhinein zu sagen, daß die Regierung von ihrem Programme mit keinem Jota abweichen und nach keiner Richtung irgendeine Konzession machen könne, hieße im vorhinein jede Auseinandersetzung zunichte machen. Auch Eisenbahnminister F M L Ritter von Guttenberg stand auf diesem Standpunkt. Er habe die Äußerungen des Finanzministers nicht so aufgefaßt, erklärte er, daß gegenüber den Forderungen der Rechten von vornherein eine gewisse Nachgiebigkeit seitens der Regierung geübt werden solle, sondern in dem Sinne, daß programmatische Fragen vorderhand überhaupt nicht zu berühren seien. Im voraus aber der Majorität einen Entgegenhalt zu machen, welcher die Aussicht auf jedwedes Entgegenkommen seitens der Regierung abschneide, würde auch er nicht für politisch klug halten. Gautsch sah sich nun allerdings genötigt, gegen den Ackerbauminister scharf zu replizieren. Er müsse konstatieren, daß der Ebenhochsche Schulantrag kein Antrag der Majorität, sondern einer einzelnen Partei in derselben sei. Er möchte aber auch die Bitte stellen, daß, „bevor ein Mitglied des Kabinetts sich über seine Stellung gegenüber einem solchen Einzelantrag zu Protokoll ausspricht, dem Ressortminister Gelegenheit geboten werde, seinen Ressortstandpunkt in der Sache darzulegen". Zurückkommend auf seine Äußerung gegen die vorzeitige Anwendung einer oktroyierten Geschäftsordnung bemerkte er, daß seine Anschauung in der Überzeugung gelegen sei, daß, wenn ein derartiges Mittel angewendet werde, die Gefahr bestehe, es werde als nächste Folge die 6*

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VIII. Der Sturz Badems

sofortige Absenz eines bedeutenden Teiles der deutschen Abgeordneten eintreten. Er glaube daher, daß in diesem Punkte, wenn man nicht ein Rumpfparlament riskieren wolle, sehr vorsichtig vorzugehen wäre. Durch Gautsch gereizt, antwortete Graf Ledebur, daß er nicht glaube, durch die Art und Weise, wie er den Ebenhochschen Schulantrag zur Sprache gebracht habe, dem ressortmäßigen Ausspruch des Unterrichtsministers irgendwie vorgegriffen zu haben. Es habe sich ihm nur um ein Beispiel gehandelt. Daß der erwähnte Antrag kein solcher der Majorität sei, wäre richtig; doch könne angenommen werden, daß dieser jedenfalls nicht ohne Zustimmung auch der übrigen Parteigruppen der Majorität eingebracht wurde. Auch Badeni wandte sich nun gegen Gautsch und griff ihn wegen dessen Bemerkungen hinsichtlich der Gefahren einer oktroyierten Geschäftsordnung an. Diese Maßnahme sei nicht im Hinblicke auf die voraufgegangene Obstruktion zu treffen. Die Oktroyierung werde erst aktuell werden, wenn sich wieder ein Fall der Obstruktion ergeben sollte und auf dies hin die Regierung hierüber schlüssig geworden sei und sich mit der Rechten verständigt haben werde. Da Badeni mit diesen allgemeinen Wendungen den offenen Gegensatz im Ministerrat überdecken wollte, erörterte Graf Gleispach den erheblichen Unterschied zwischen dem, was hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der Majorität und des damit angestrebten Zweckes vom Ministerpräsidenten einerseits und vom Finanzminister und Ackerbauminister andererseits vorgebracht wurde. Während Gleispach den dargelegten Intentionen des Ministerpräsidenten beistimmte, stellte er sich gegen die Absichten Bilinskis und Ledeburs mit ihren viel weitergehenden Folgerungen. Gleispach konstatierte den Abstand zwischen den beiden Meinungen, um neuerlich den Autoritätsstandpunkt zu betonen. Dieser war durch die Intentionen des Ministerpräsidenten in keiner Weise tangiert, wohl aber durch die Ausführungen Ledeburs. Gleispach sah in dessen Zustimmung zum Ebenhochschen Schulantrage einen Vorgang, durch den die Regierungsautorität einen empfindlichen Stoß erleiden würde. Gegen diesen Vorwurf verteidigte sich Bilinski. Auch er sei der Ansicht und sei es immer gewesen, daß die Autorität ein Hauptelement für die Wirksamkeit einer Regierung sei. Er könne aber eine Untergrabung dieser Autorität noch nicht darin erblicken, daß eine Regierung, welche die Mitwirkung des Parlamentes brauche, mit einer vorhandenen Majorität gehe, deren Programm sich nicht in ausgesprochenem Gegensatze zu den Regierungsgrundsätzen befinde. Eine Regierung, welche es nicht als eine Schwächung ihrer Autorität betrachte, mit einer Minorität zu verhandeln, könne ihre Autorität wohl nicht gefährden, wenn sie sich, um das Zustandekommen der wichtigsten Staatsakte zu ermöglichen, mit einer Majorität auseinandersetzt, die sich anbiete und die ihr zu ihren Zielen behilflich ist. Er mache nur aufmerksam, daß bei allen den Ausgleich betreffenden Fragen die Anwendung des §14 von der Zustimmung der Ungarn abhänge, die sich hierfür gehörig bezahlen lassen würden. In dieser gereizten Situation griff Badeni wieder ein und bemerkte, daß die Divergenzen, welche sich aus der mehr nach links oder rechts neigenden politischen Parteirichtung der einzelnen Kabinettsmitglieder ergeben, ihm keine Besorgnis einflößen. Er sei überzeugt, daß, falls das Ministerium sich vor Augen halte, was es momentan anzustreben und zu leisten habe, jedes Mitglied des Kabinetts bereit sei, das zurückzustellen, was im Hinblicke auf diese Aufgabe zurückgestellt werden müsse. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, daß weitgehende Differenzen zwischen den Mitgliedern der Regierung existierten. Seine Anschauung gehe dahin, daß die bestehende Majorität schwach sei, sowohl nach der Zahl wie nach der Divergenz der Ansichten und Bestrebungen, welche sie in sich berge.

Der Ministerrat vom 24. August 1897: Das Verhältnis zur Majorität

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Deshalb wäre es ein Fehler und leichtsinnig, auf diese Majorität ein System aufzubauen und dieser Majorität zu Gefallen irgend etwas von den Prinzipien und Ideen preiszugeben, mit welchen die Regierung ihr Amt angetreten und durch zwei Jahre geführt habe. Die Majorität müsse beweisen, daß sie wirklich eine feste Majorität sei, daß sie der Obstruktion im Reichsrate Herr werde, daß sie etwas schaffe und in wichtigen, prinzipiellen Fragen vollständig einig sei. Er hege jedoch begründeten Zweifel und fühle sich daher nicht veranlaßt, von dem, was die Regierung wünschen oder anstreben müsse, nur deshalb abzusehen, weil ihr die Majorität etwas in Aussicht stelle, was sie vielleicht gar nicht durchzuführen imstande sein werde. Erst wenn diese Vermutung sich unbegründet erweisen und sich zeigen sollte, daß die Majorität die nötige Kraft besitzt, wirklich für die Regierung einzustehen, erst dann wäre, wenn unter konkreten Anträgen solche sein sollten, welche entweder den Grundsätzen des Kabinettes oder eines Mitgliedes desselben widersprechen, der Moment gekommen, wo sich die Frage nach dem Verbleiben des Kabinettes im Amte oder eventuell eines Ministers im Kabinett ergeben würde. Alle jene schwachen Seiten, welche die Majorität aufweise, bedeuteten ja für das Ministerium eine Stärke. Sei die Majorität schwach und in ihren Anschauungen divergierend, so werde dies auch der Regierung zugute kommen und von ihr benützt werden können. Solange die Majorität nicht mit größerer Stärke und Einigkeit auftrete, brauche die Regierung vor ihr keine Besorgnis zu hegen. Auch jene Verschiedenheit in den Anschauungen einer mehr oder weniger prägnanten Aussprache gegenüber der Majorität bedeute keine Schwierigkeit für das Vorgehen der Regierung. Es werde erklärt werden können, daß die Regierung fest bleibe bei dem, was sie bei ihrem Amtsantritte ausgesprochen habe und was als ihr Programm in der Thronrede enthalten sei. Aber es könne dies ohne Schroffheit geschehen und ohne schon im vorhinein auszusprechen, daß die Regierung keinen Schritt weiter weder nach links noch rechts gehen werde. Man werde der Majorität nahelegen können, daß sie — um eine wirkliche Majorität zu sein — erst eine Staatspartei werden müsse und dem Staate das zu gewähren habe, was er unbedingt brauche, und daß sie sich als solche Partei zu bewähren habe. Von dem, was die Rechte von der Regierung verlangen könnte, wäre nicht zu sprechen. Die Situation sei die, daß die Majoritätsadresse nicht zustande kam und mit der Schließung des Reichsrates die Sache begraben sei. Jedenfalls müsse es als ausgeschlossen gelten, daß etwa von einem Mitglied der Regierung irgendwelche Aussprüche oder Zusagen an einzelne Persönlichkeiten, Abgeordnete oder Vertretungen erfolgen, welche dann das Kabinett in der gegenwärtigen Zusammensetzung nicht einzuhalten vermöchte. In dieser Hinsicht halte er die vom Unterrichtsminister ausgegangene Anregung für begründet. Badeni konstatierte abschließend unter Zustimmung des Ministerrates, es bestehe keine Meinungsverschiedenheit in dem Punkte, daß der Reichsrat einberufen werden solle, daß zunächst die Wahl der Delegation und was sonst noch möglich sei, forciert werden müsse und daß, falls die Obstruktion sich erneuere, die Regierung wegen einer Änderung der Geschäftsordnung mit der Majorität sich ins Einvernehmen zu setzen hätte. Bezüglich der Anwendung des § 14 stimmte der Ministerrat der Anschauung des Ministerpräsidenten zu, daß sie nur dann einzutreten habe, wenn es absolut notwendig sei, wobei Badeni aufmerksam machte, daß die Regierung, wenn sie unter dem Zwange der Situation zu diesem Mittel greife, soweit es sich um das Ausgleichsprovisorium mit Ungarn handle, dem Vorwurf nicht entgehen werde, das staatliche Interesse den Ungarn ausgeliefert zu haben. Es wäre auch leichtsinnig und unüberlegt, nicht zu bedenken,

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VIII. Der Sturz Badenis

daß in dieser Hinsicht die österreichische Reichshälfte tatsächlich „den kürzeren zu ziehen" Gefahr laufe. Schließlich kam Badeni noch auf jene Zeitungsstimmen z u sprechen, die Gautsch erwähnt hatte und die neuestens einen T o n anschlugen, als ob die Regierung unter d e m Diktate der parlamentarischen K o m m i s s i o n der Rechten stünde. N a c h Badenis Ansicht sollte diesem, der Regierungsautorität abträglichen Treiben entgegengetreten werden, wobei er beabsichtigte, in entsprechender Weise die Öffentlichkeit zu informieren, daß die Regierung sich mit den Vertretern der Rechten wegen des Arbeitsprogramms für den Reichsrat in Verbindung gesetzt habe. N a c h einer kurzen Besprechung über den T e n o r dieser Veröffentlichung wurde die Beratung geschlossen. Wiederum konnte sich Kaiser Franz Joseph nicht entschließen, Badeni fallenzulassen. Maßgeblich dafür scheinen neben den bereits im April ausschlaggebenden Gründen der Notwendigkeit der Erneuerung des wirtschaftlichen A u s gleiches mit Ungarn, der Wahrung der Staatsautorität, der Tangierung der Krone durch den Rücktritt des Kabinettes n u n auch noch mitbestimmend gewesen zu sein die allgemeine Ratlosigkeit 4 0 ), was nach der Gewährung der D e m i s s i o n Badenis zu geschehen habe, ohne eine Verfassungsänderung in den Bereich der Möglichkeit zu rücken, u n d schließlich der sorglose Optimismus Badenis u n d der Krone 4 1 ), irgendwie aus der ausweglosen Situation doch noch herauszukommen. " ) So fragte am 28. August 1897 Graf Franz Thun den böhmischen Statthalter nach dem Wunsche, Badeni möge möglichst bald fallen, „— aber wer soll sein Nachfolger werden ?" (Ρ. Μ ο 1 i s c h , Briefe S. 357.) 41 ) Bresnitz von Sydacoff (Vom habsburgischen Kaiserhof S. 69) berichtet dazu: Kaiser Franz Joseph habe gegenüber dem ungarischen Ministerpräsidenten Baron Desider Bänffy, als dieser, da ihm jeden Tag klarer wurde, daß Badeni der Obstruktion der Deutschen nicht Herr werden würde, den Ausgleich, um den er bangte, urgierte, gesagt: „Badeni wird es schon machen." Auch Gohichowski habe Bänffy, der daraufhingewiesen hatte, daß die Situation um so ungeheurer erschwert werde, je später Badeni der Obstruktion geopfert werde, damit getröstet, „daß Badeni es machen werde und von einem Nachgeben gegenüber der Obstruktion keine Rede sein könne". Bresnitz von Sydacoff versichert, daß Bänffy selbst ihm erzählt habe: „Wir waren aber bereits bis tief in den November hineingekommen, der Monat näherte sich schon seinem Ende und die parlamentarische Erledigung des Ausgleiches kam in Österreich nicht einen Schritt weiter. Ich fuhr neuerlich nach Wien und nahm Audienz bei Sr. Majestät, um mir Gewißheit darüber zu verschaffen, was geschehen werde. Bisher galt der 1. Dezember als der Termin, an welchem der Ausgleich in Österreich erledigt sein wird. Se. Majestät empfing mich sehr gnädig und gab mir auf meine Vorstellungen neuerlich die Versicherung, daß der Ausgleich am 1. Dezember vom österreichischen Parlament fertiggestellt sein werde. Ich war erstaunt. Wir hielten schon Ende November. Wie konnte das möglich sein? Ich wollte eine Frage tun, allein Se. Majestät sagten: ,Fragen Sie mich nicht, fragen Sie auch Gohichowski und Badeni nicht, sondern fahren Sie beruhigt nach Budapest zurück, Sie werden den Ausgleich am 1. Dezember haben.' Ich fuhr nach Budapest zurück und war überzeugt, daß nun irgendein Staatsstreich kommen werde. Es kam die Lex Falkenhayn und mit ihr die furchtbaren Parlamentsstürme und gleich darauf der Sturz Badenis. Die Ausgleichsvorlage aber blieb unerledigt. Ich sah nun, da dieses von so starken Zeichen kaiserlichen Vertrauens getragene Kabinett so gründlich von der parlamentarischen Anarchie hinweggefegt worden war, ernste Verwicklungen und insbesondere ein Überspringen der Obstruktion auf den ungarischen Reichstag voraus. Ich reiste nach Wien und nahm neuerlich Audienz bei Sr. Majestät. Der Monarch schien mir sehr bekümmert, hörte meinen Vortrag, in dem ich meinen Besorgnissen ungescheut Ausdruck gab, gnädigst an und sagte: ,1 ch h ä t t e n i c h t n a c h g e b e n s o l l e n . I c h s e h e es e i n , es w a r e i n F e h l e r v o n m i r . Es t u t m i r l e i d , e i n zweites Mal werde ich n i c h t n a c h g e b e n ! ' " ( B r e s n i t z von S y d a δ ο f f, Habsburg. Kaiserhof S. 70. Sperrung im Original.)

Die Regierungsbesprechungen mit der Majorität

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Badenis Entlassung im September 1897 hätte der Autorität der Krone und dem Ansehen des Reiches weit weniger geschadet als die Ereignisse in der Herbstsession des Parlamentes und die Unruhen, die im November Badenis Sturz erzwangen. Ein rechtzeitiges Fallenlassen Badenis hätte durch kluges Vorgehen und richtige Wahl des neuen Ministerpräsidenten noch lange nicht einen Affront gegen die Tschechen bedeuten müssen, wohl aber gleichzeitig jenen „Ausgleich der Krone mit den gesamten Deutschen in Österreich" herstellen können, den diese als neueste Parole, als Gegenstück zu dem „Ausgleich der Regierung mit den Tschechen", immer stürmischer zu fordern begannen. Wie bereits bei den Verhandlungen, die der Erlassung der Sprachenverordnungen vorausgegangen waren, so zeigt sich auch nach dieser Ministerkonferenz vom 24. August 1897 in aller Deutlichkeit, daß Badeni anders handelte, andere Wege einschlug, als der Ministerrat unter dem Druck des Widerspruches der beiden Minister für Justiz und für Kultus und Unterricht grundsätzlich disponiert hatte. Obwohl Gautsch und Gleispach im Ministerrat den Ton angaben, setzte sich Badeni über ihre Bedenken und über die auf Grund ihrer Einwendungen gefaßten Beschlüsse letztlich hinweg. Die Möglichkeit zu einer Annäherung an die Majorität über die im Ministerrat protokollmäßig festgehaltenen Grenzen bot ihm der unüberbrückbare Gegensatz zwischen den Mitgliedern des Kabinetts. Badeni konnte sich stets auf die im Ministerrat geäußerte Meinung von Bilinski und Ledebur berufen, zu der ja die größere Zahl der Minister hinneigte. Diese heterogene Zusammensetzung des Kabinetts Badeni ermöglichte aber weder die klare Einhaltung eines Mittelweges noch die eindeutige Anlehnung an die Majorität des Abgeordnetenhauses, die Gleispach und Gautsch, gestützt auf den Standpunkt Kaiser Franz Josephs, wenn auch nicht ganz verhindern, so doch stets merklich abschwächen konnten42). Es zeigt die ganze Kopflosigkeit der Politik der Deutschen, daß sie einem Manne wie Gautsch, als dieser nach Badenis Sturz Ministerpräsident wurde, die Gefolgschaft unter der Parole „Zuerst Rücknahme der Sprachenverordnungen" versagten. Es irrt allerdings Gustav Kolmer, wenn er dezidiert schreibt, Badeni habe den achtundzwanzig Vorstandsmitgliedern der vereinigten Parteien der Rechten, die sich am 1. September über Veranlassung der Regierung versammelt hatten, durch den Vorsitzenden Apollinar Ritter von Jaworski erklären lassen, „daß sich die Regierung fortan auf die Parteien der Majorität der Rechten, Slawen und Deutsch-Klerikalen zu stützen gewillt sei und mit ihnen parlamentarisch vorgehen werde"43). So leicht konnte es sich Badeni gar nicht machen und er hatte darum wesentlich vorsichtiger formuliert und Jaworski nur ermächtigt, zu erklären, „daß die Regierung fortan ihre Stütze in der Majorität zu suchen entschlossen sei". In diesem Sinne antwortete auch die Obmännerversammlung: „Die Vertreter der Majorität nehmen mit Befriedigung zur Kenntnis, daß die Regierung sich entschlossen hat, ihre Stütze in den Majoritätsparteien zu suchen, und erklären sich bereit, unter Festhaltung an den im Adreßentwurf dargelegten Grundsätzen und unter Betonung eines solidarischen Vorgehens aller Majoritätsgruppen ein Subkomitee zu wählen, welches mit der Regierung weiter Verhandlungen zu führen hätte." Diese gestalteten sich überaus schwierig, da Badeni von der Krone den strikten Auftrag hatte, der Möglichkeit einer Revision der Verfassung im föderalistischen Sinne um jeden Preis vorzu") Vgl. dazu Η. A. K r a u s , Die Stellung des Ministerpräsidenten. — J. 2 ο 1 g e r, Ministerratspräsidium. — F. T e z n e r , Rechtliche Stellung des Gesamtministeriums. ") G. K o l m e r , Parlament u. Verfassung VI, S. 2,76. — Ihm folgt F. K o r n a u t h , Graf Badeni S. 88.

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VIII. Der Sturz Badems

beugen, das Subkomitee jedoch verlangte, daß Badeni namens der Regierung die im Adreßentwurf der Majorität enthaltenen Hauptprinzipien anerkenne. Badeni entschloß sich hier nun zu einem Ausweg und erklärte, er könne keine bindende Zusage erteilen, da er die konkreten Forderungen der Rechten gar nicht kenne. Dieser Schachzug war nicht ungeschickt, denn wenn auch die Obmännerkonferenz der Rechten als gescheitert gelten mußte, so hatte Badeni die Brücke nicht abgebrochen und den längst vorhandenen Riß in der Majorität erweitert, durch den er hoffte, die Jungtschechen doch noch herauszulösen und zu einer Mittelpartei zu gelangen. Sein Entgegenkommen — und dies ist immer übersehen worden — der Majorität gegenüber ist letztlich nur ein Entgegenkommen gegenüber den Tschechen. Auf diese stützte er sich, auf sie baute er seine geheimsten Pläne auf: die parlamentarische Erweiterung des Kabinettes im gegebenen Augenblick durch einen Jungtschechen und einen aus dem Verfassungstreuen Großgrundbesitz. Dr. Josef Kaizl, der schon Ende Juli bei Jaworski die Obmännerkonferenz der Rechten verlangt und urgiert hatte, um mit der Regierung über das Herbstprogramm zu verhandeln und um vis ä vis „dem Toben der Deutschen die Solidarität und das Selbstbewußtsein der Rechten zu manifestieren", hatte brieflich Badeni gegenüber „den resultatlosen Verlauf oder besser das Fiasko der MajoritätsKonferenz" vorausgesehen44). Trotzdem entwarf er für Dr. Emanuel Engel, den Obmann des Tschechenklubs, ein Konzept der einzuschlagenden Taktik. Er ging von der Frage aus, wie die Majorität gestaltet werden könnte und wer, Majorität oder Regierung, nachgehe, also im zweiten Falle diese nur der Vollzugsausschuß der Majorität werde. Unabhängig von diesen allgemeinen, fast professoralen taktischen Überlegungen hob Kaizl noch hervor, daß es für die Böhmen „ohne zu suggerieren" für alle Fälle von Belang sei, die bei den Verhandlungen vor Erlassung der böhmischen Sprachenverordnungen getroffene „März-Abmachung zu revidieren und zu praezisieren". „Darauf ist nicht zu vergessen", fügte er ausdrücklich hinzu. Zu neuen Vereinbarungen zwischen den tschechischen Unterhändlern und der Regierung kam es allerdings in den ersten Septembertagen nicht. Friedrich Kornauth 45 ) und, diesem folgend, Gertraud Hansel46) verlegen in diesen Zeitabschnitt die Ende März von den Tschechen vorgebrachten 35 Postulate, indem sie übersehen, daß es sich jetzt nur um die Revision und Präzision handeln sollte. Ernstlich dagegen wurde in den ersten Septembertagen über Kaizls Berufung ins Kabinett, die dieser selbst angesichts der unklaren Lage, und Badeni, angesichts der Haltung des Kaisers, vorerst zu verhindern suchten, und vor allem über die Änderung der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses zwischen Badeni und Engel, sowie den übrigen einzelnen führenden Obmännern der Majorität verhandelt. Kaizl hat dazu am 6. September brieflich Stellung genommen47) und die Abmachungen über eine Änderung der Geschäftsordnung eine „Selbsttäuschung oder wechselseitige Täuschung" genannt, da er überzeugt war, daß man nicht einmal die erste Lesung werde gegenüber der Obstruktion durchsetzen können. Die Deutschnationalen schrecke man dadurch ebensowenig wie durch platonische Erklärungen der Regierung, sich fortan auf die Majorität stützen zu wollen. Kaizl war der Ansicht, daß die Geschäftsordnung geändert werden müßte, dies jedoch nur durch ein Oktroi möglich ") ") ") ")

J. Κ a i ζ 1, Ζ meho iivota III, S. 652. F. K o r n a u t h , Graf Badeni S. 89 f. G. H a n s e l , Tschechische Stellungnahme S. 90. J. Κ a i ζ 1, Ζ meho zivota III, S. 652 f.

Der Ministerrat vom 8. September 1897 unter dem Vorsitz des Kaisers

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sei. Dieses Oktroi, verlangte er, solle „die Rückkehr zu den Landtagen und die Dekapitalisierung des Reichsrates gleichzeitig benützen", also unter einem die Verfassung ändern. Das sei jetzt die „Tat und Aufgabe der Regierung", schürte er weiter. Damit könne die Regierung die Führung der ganzen Majorität des künftigen Hauses übernehmen und erlangen, denn am leichtesten wird da Führer, „der für die Anderen arbeitet und denkt". Wolle „das aber die Regierung nicht tun aus Schwäche oder Furcht und will sie mit kleinlichen, fruchtlosen und lächerlichen Versuchen mit Hilfe einer zehnstimmigen Majorität irgendwie jetzt die Geschäftsordnung allein zu ändern, sich durchfretten, dann ist es aus, dann ist sie verloren, die Majorität verloren und die ganze Sache der Autonomie auf das schwerste und für Jahre hinan kompromittiert und geschädigt". Die auswärtige Situation sei „trotz Hamburg und Budapest die denkbar günstigste". Er wisse nicht, „wann überhaupt je die Lage so einladend und förderlich sein wird". Badeni solle, forderte Kaizl, die Stunde wahrnehmen, eh sie entschlüpft. Am 8. September trat neuerdings der Ministerrat zusammen, und zwar diesmal wieder unter dem Vorsitz Kaiser Franz Josephs, der mit der Bemerkung eröffnete, daß es sich darum handle, die notwendigen Maßnahmen zu besprechen, denn die Lage sei schwierig und erfordere wohlüberlegte Beschlüsse. Über Aufforderung erklärte dazu Badeni, er habe dem Kaiser die Bitte um Einberufung der Konferenz unterbreitet, damit sich dieser vergewissern könne, daß sich die Minister mit den Vorschlägen des Ministerpräsidenten einverstanden und sich mit ihm solidarisch erklärt haben. Angesichts der Schwierigkeit der Lage müsse die Regierung unbedingt ein festes Programm aufstellen. Sie habe kein Mittel unversucht gelassen, um eine Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Tschechen herbeizuführen. Nachdem dies mißlungen sei, habe er sich mit Zustimmung seiner Kollegen veranlaßt gesehen, sich mit der sogenannten Majorität ins Einvernehmen zu setzen als denjenigen Elementen, von denen man annehmen könne, daß sie sich aufraffen werden, ein arbeitsfähiges Haus zu ermöglichen. Bei diesen Besprechungen seien Versuche gemacht worden, Forderungen zu stellen, allein er habe sie zurückgewiesen und erklärt, daß die Regierung unter Festhaltung ihres Programms bereit sei, gemeinschaftlich mit der Majorität vorzugehen, sich auf diese zu stützen, vor allem aber verlangen müsse, daß ein arbeitsfähiges Haus hergestellt werde. Nur auf diesem Wege könnten die Parteien der Rechten beweisen, daß sie eine wirkliche Majorität zu bilden imstande seien, denn nur eine wirkliche und nicht bloß mathematische Majorität sei in der Lage, nicht bloß Wünsche zu haben, sondern sie auch durchzuführen. Er sei mit dem Resultate der Auseinandersetzungen zufrieden. Die Vertreter der Rechten hätten sich bereit erklärt, in diesem Sinne vorzugehen, hätten auch über das künftige Programm gesprochen und die Hoffnung ausgedrückt, daß sie nach dem mit ihrem Klub gepflogenen Einvernehmen in der gewünschten Richtung vorgehen könnten. Volles Vertrauen in diese Zusagen habe er allerdings nicht. Es mangle bei diesen Parteien am notwendigen Mut. Es fehlten die hervorragenden Persönlichkeiten, welche die einzelnen Parteien mit Energie und Festigkeit führen könnten. Überdies gebe es Einzelne, die alle Anstrengungen machten, um zu beweisen, daß der Reichsrat überhaupt nicht arbeitsfähig sei. Er habe es als illoyal bezeichnet, daß man gemeinschaftliche Besprechungen darüber abhalte, wie ein arbeitsfähiges Parlament zu schaffen wäre und gleichzeitig Mitglieder dieser Konferenz Anschauungen zu propagieren suchten, was zu geschehen habe, wenn dieses Ziel nicht erreicht werde. Einzelne Unterhändler hätten seine Bemerkungen, daß die Regierung in einem solchen Falle nicht mittun könnte, auch ver-

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standen. Trotz seines mangelnden vollen Vertrauens in die Festigkeit der Majorität müsse jedoch der Versuch mit ihr gemacht werden. Diese habe sich bereit erklärt, am ersten Tag einen Initiativ-Antrag zur Abänderung der Geschäftsordnung48) einzubringen, um damit zu beweisen, daß sie faktisch die Geschäftsordnung zu ändern entschlossen sei. Es bestehe die Absicht, sodann in normaler und vorschriftsmäßiger Weise nach der alten Geschäftsordnung vorzugehen, bis zu dem Zeitpunkte, in welchem das Präsidium sich zu der Erklärung gezwungen sehen würde, es könne die Verhandlungen nach der bisherigen Geschäftsordnung nicht weiter leiten. Für diesen Fall bleibe nichts übrig, als auf nicht geschäftsordnungsmäßigem Wege die neue Geschäftsordnung einzuführen. Dies werde entweder über die Initiative des Präsidenten oder über die des Ministerpräsidenten erfolgen. Er hoffe, daß er die Majorität zu diesem Entschlüsse bringen werde. Die wichtigste Aufgabe wäre, was im Verlaufe der Konferenz Kaiser Franz Joseph bestätigte, die Konstituierung des Hauses. Badeni stellte nach eingeholter Zustimmung seiner Kollegen in diesem Zusammenhang den vor Schluß der Sitzung vom Kaiser ohne Bedenken genehmigten Antrag, daß dieser den Reichsrat nicht mit einer Thronrede eröffne. Diese sei, erklärte Badeni, nach dem Gesetze nicht notwendig, nachdem die Angelobung entfalle und die Verifizierung der Wahlen vollzogen sei, womit die in der Verfassung für die feierliche Eröffnung der Session normierten Voraussetzungen nicht gegeben seien. Weiters stellte Badeni im Einvernehmen mit seinen Kollegen den Antrag, die beiden Häuser des Reichsrates auf den 23. September einberufen zu dürfen. Er werde sich bemühen, daß an diesem Tage die Konstituierung des Abgeordnetenhauses vorgenommen werde. Den folgenden Tag würde keine Sitzung stattfinden, damit sich die Mitglieder des Hauses über die für die Delegation zu nominierenden Abgeordneten verständigen könnten. Am 25. September würden die Delegationswahlen vorgenommen werden, zu denen er mit einer bereits am 23. September dem Hause vorliegenden Zuschrift auffordern werde. Wenn die Wahl gelingen sollte, wäre dies von großer Wichtigkeit, weil das am 27. September zusammentretende ungarische Parlament vor dem fait accompli der Delegationswahl in Österreich stünde. Nach Badeni sprach auch diesmal als erster Gautsch. Der Ministerpräsident habe die Verhältnisse treffend gekennzeichnet, als er das beabsichtigte Vorgehen als einen Versuch hinstellte. Er glaube nicht voraussagen zu können, daß dieser Versuch gelingen werde. Dennoch müsse er gewagt werden. Dabei werde sich zeigen, ob die Majorität tatsächlich jene Qualitäten besitze, die notwendig sind, um wenigstens das eine Ziel zu erreichen, die Obstruktion in eine Opposition umzugestalten und ein so weit arbeitsfähiges Haus herzustellen, daß die dringendsten Fragen ihre Erledigung finden könnten. Seine Hoffnungen in dieser Richtung seien sehr gering. Selbst wenn es gelinge, die Delegationswahlen vorzunehmen—und bezüglich dieses Punktes habe er eine etwas günstigere Ansicht—, so dürfe dennoch selbst bei einer gewaltsamen Änderung der Geschäftsordnung eine weitere Tagung des Parlamentes als wenig aussichtsvoll sich erweisen. Es fehle bereits nicht an Stimmen, die der Obstruktionspartei für diesen Fall die Absentierung empfehlen. Es sei daher nicht ausgeschlossen, daß die Konsequenz einer gewaltsamen Änderung der Geschäftsordnung ein Rumpfparlament sein werde. Er sei daher der Ansicht, daß, wenn auch dieser Versuch unternommen 48

) In der Eröffnungssitzung am 23. September brachte Jaworski einen Antrag ein, einen 36-gliedrigen Ausschuß zur Prüfung der Geschäftsordnung zu wählen (XIV. Session, 3 der Beilagen).

Der Ministerrat vom 8. September 1897: Das Verhältnis zur Majorität

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werde, die Augen des Kabinetts über die nächsten Wochen hinaus gerichtet bleiben müßten und es, wenn es berufen sein sollte, die Geschäfte weiterzuführen, sich heute schon darüber klar sein müsse, daß dies nur auf Grund des § 14, und zwar in ausgedehntester Weise werde geschehen können. Die Anwendung des § 14 habe eine Auseinandersetzung mit der anderen Reichshälfte zur Vorbedingung. Wenn diese im günstigen Sinne erfolge, könnte auf Monate hinaus das Notwendigste vorgekehrt werden, indem das Ausgleichsprovisorium und der Staatsvoranschlag auf Grund des § 14 ihre Erledigung fänden. Er selbst hätte keine Bedenken, in diesem Sinne vorzugeben, nachdem dieser Schritt in der Verfassung für den Fall vorgesehen sei, daß sich das Parlament arbeitsunfähig erweise. Bei einer energischen Handhabung des § 14 sei zu hoffen, daß eine gewisse Einkehr in den Gemütern erreicht werde. Er möchte daher seine Anschauung resümieren, daß, wenn der Versuch, das Abgeordnetenhaus arbeitsfähig zu machen, nicht gelinge, diesem im Interesse der staatlichen Autorität keine zu lange Frist gewährt werde und die Regierung mit dem § 14 die Geschäfte führen sollte. Auch mit anderen Maßregeln müßte sie der Bevölkerung klarmachen, daß sie gewillt sei, von jenen Gewalten, die in ihre Hand gelegt sind, in „rücksichtsloser Weise" Gebrauch zu machen. Dann würden jene Strömungen, die von unten ausgehen und von den Abgeordneten als die Ursache für ihre turbulente Haltung ausgegeben werden, diese zwingen, andere Wege zu betreten. Solange die Regierung bestehe, könne sie von dem Programme nicht abgehen, das der Ministerpräsident bei seinem Amtsantritte entwickelte, da die einzelnen Mitglieder des Kabinettes nur unter dieser Voraussetzung ins Amt getreten seien. Die Umwandlung der Regierung in eine Parteiregierung hätte gewisse Voraussetzungen, auch persönlicher Natur, zur Folge, deren Besprechung er jetzt jedoch unterlassen wolle. Darauf replizierte Bilinski. Was das Gelingen des Planes betreffe, so sei dies Sache des persönlichen Gefühles. Er sei optimistischer, da er über die Majorität günstiger denke und weil er wünsche, daß aus dem Zusammenwirken der Regierung mit dieser Majorität für den Staat Vorteile erstehen. Diese Majorität habe — hier wiederholte Bilinski fast wörtlich seine im Ministerrat vom 4. April 1897 vorgebrachte Anschauung — diese Majorität habe durch mehr als ein Dezennium unter dem Grafen Taaffe Hervorragendes zum Nutzen des Staates geleistet. Wenn die Obstruktionsparteien das Haus verlassen, so würde er darüber nicht trauern, da man wenigstens für Monate Gelegenheit hätte, einige sehr nützliche Gesetze zu beschließen. Er müsse von seinem speziellen Ressortstandpunkte die Herstellung eines arbeitsfähigen Parlamentes mit großer Zuversicht erhoffen, wobei er zugeben wolle, daß, wenn kein Parlament vorhanden sei, allerdings nur der § 14 übrig bleibe. Die aus seinem Ressort entspringenden Gründe seien in erster Linie das Verhältnis zu Ungarn. Jeder Schritt, den die ungarische Regierung zugunsten der österreichischen Verhältnisse tun müßte, um ihr die Behandlung der Ausgleichsvorlagen oder sonstigen gemeinsamen Angelegenheiten nach § 14 zu ermöglichen, würde Österreich viel Geld kosten. Dies erschwere die Lage außerordentlich. Bei dem Bestände des Parlaments würde Österreich dagegen nach den Erklärungen des ungarischen Ministerpräsidenten die Aussicht haben, den Ausgleich „bald finalisieren und damit einen größeren finanziellen Erfolg erzielen" zu können, so daß ein Ausgleichsprovisorium tatsächlich nur für den Fall der Unmöglichkeit der Durchberatung des definitiven Ausgleiches bis Ende 1897 beschlossen zu werden brauche. Ein zweites, ins Gewicht fallendes Moment sei der Staatsvoranschlag. Er könne nicht übersehen, daß bei längerer Anwendung des § 14 Ungesetzlichkeiten begangen werden müßten. So werde die Regierung den

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normalen Staatsvoranschlag auf Grund des § 14 zweifellos erledigen können, obwohl genau zu untersuchen wäre, ob nicht aus diesem für den Staat dauernde Verpflichtungen entstünden. Anders sei das Verhältnis bei dem Investitionspräliminare, das eine dauernde Belastung im Gefolge habe. Dazu kämen noch verschiedene Steuergesetze, bei denen, soweit es sich nur um die österreichische Reichshälfte handle, formell für die Anwendung des § 14 kein Hindernis bestehe, bei denen aber doch wieder in materieller Beziehung eine große Schwierigkeit vorliege, diese auf Grund des § 14 einzuführen, da aus den Einnahmen dieser Steuern wieder Ausgaben bestritten werden, die dann nicht mehr zurückgenommen werden können. Von seinem Ressortstandpunkte hätte er daher ein Parlament sehr nötig. Gegenüber Bilinski hob Graf Gleispach hervor, daß das ganze Kabinett einig sei, daß die Obstruktion mit allen Mitteln zu brechen und ein arbeitsfähiges Parlament herzustellen sei. Nachdem er in dieser Richtung wenig Hoffnung hege, so müsse die Regierung erwägen, was zu geschehen hätte, wenn die Obstruktion nicht zu beseitigen wäre. Der § 14 gebe nicht nur in den inneren Angelegenheiten, sondern auch der anderen Reichshälfte gegenüber genügende Handhaben zur Fortführung der Staatsgeschäfte. Speziell der letzteren gegenüber möchte er hervorheben, daß von ihrer Seite eine Einwendung gegen Verfügungen auf Grund des § 14 nicht erhoben werden könnte, nachdem dieser Paragraph einen Bestandteil der österreichischen Verfassung bilde und auf Grund dieses Paragraphen verfassungsmäßig regiert werden könne. Die andere Reichshälfte dürfe daher nicht behaupten, daß in Österreich keine verfassungsmäßigen Zustände herrschten. Nach seiner juridischen Überzeugung sei das Ausgleichsgesetz kein Staatsgrundgesetz, es können daher mit Hilfe des § 14 mit Ungarn alle in den Ausgleichsgesetzen vorgesehenen Maßnahmen getroffen werden49). Gelinge es dagegen der Majorität, die Obstruktion zu brechen, dann " ) Die Problematik lag rein rechtlich darin, daß die ungarische Publizistik ein ungarisches Notverordnungsrecht leugnete, woraus gefolgert wurde, daß auch in Cisleithanien bei allen in Österreich und Ungarn gleichartig zu behandelnden Angelegenheiten das Notverordnungsrecht nicht zur Anwendung kommen könne, da in beiden Reichshälften gleichartig vorgegangen werden müsse. Aber selbst bei Bejahung der Vorfrage nach einem ungarischen Notverordnungsrecht ergaben sich dadurch Schwierigkeiten, als in den Paragraphen 21, 25 und 69 des ungarischen Gesetzesartikels XII des Jahres 1867 mit „emphatischer Deutlichkeit" (F. T e z n e r , österr. Notverordnung S. 375) ausgesprochen war, daß der ungarische Reichstag bei allen Arten gesetzgeberischer Parallelaktionen und bei der im Gesetz vorgesehenen Vereinbarung über die nach gleichen Grundsätzen zu verwaltenden Angelegenheiten nicht mit der österreichischen Regierung, sondern „mit den übrigen Ländern Sr. Majestät als konstitutionellen Völkern in Berührung treten" wolle. Außerdem war nach § 61 des ungarischen Gesetzesartikels XII/1867 und nach § 36 des cisleithanischen Ausgleichsgesetzes vom 21. Dezember 1867 (R.G.B1. Nr. 146) zwar die Vorbereitung, nicht aber die Perfektion der Vereinbarung zwischen der österreichischen und der ungarischen Regierung möglich. Die Abweichungen zwischen der ungarischen und der österreichischen Textierung der Ausgleichsvereinbarungen von 1867 zeigen sich auch hier sehr deutlich. (Vgl. J. 2 ο 1g e r , Der staatsrechtliche Ausgleich S. 235 f. und S. 341 f.) In Cisleithanien waren die Ansichten über die Anwendbarkeit des Notverordnungsrechtes bei der Erneuerung des Ausgleiches geteilt. Das Problem wurde bereits im Juni 1897 aufgerollt, da mit dem 31. Juli das Gesetz vom 5. Juni 1896, betreffend die Zuckersteuer, außer Kraft zu treten hatte. Da eine Regelung auf gesetzlichem, parlamentarischem Weg in Cisleithanien durch die Schließung des Reichsrates nicht möglich war, wurde mit kaiserlicher Verordnung vom 24. August 1897 (R.G.B1. Nr. 193) auf Grund des § 14 der Zeitraum der Gültigkeit des abgelaufenen Gesetzes vom 1. August 1897 bis zum 31. Juli 1898 verlängert. Dieser kaiserlichen Verordnung ging eine lebhafte Debatte voraus. Der Deutsch-

Der Ministerrat vom 8. September 1897: Anwendbarkeit des § 14 gegenüber Ungarn

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werde der Moment gekommen sein, in welchem die Regierung neuerdings an den Kaiser herantreten werde, um gegenüber den Ansprüchen der Rechten ihren Standpunkt zum Ausdrucke zu bringen. Dann werde die Frage zu lösen sein, ob das Kabinett in seiner Gänze weiter bestehen könne oder ob es teilweise rekonstruiert werden müsse. Noch sei jedoch diese Frage nicht aktuell, da es sich vor allem darum handle, die Obstruktion zu brechen und mit aller Entschiedenheit und Energie für die Herstellung der staatlichen Autorität zu sorgen, die in letzter böhme A d o l p h M e n z e l , Verwaltungs- und Staatsrechtslehrer an der Wiener Universität und später ordentliches Mitglied der österreichischen Akademie der Wissenschaften, erklärte in der „Neuen Freien Presse" vom 23. Juni 1897 unumwunden: „In Ungarn bezweifelt Niemand, daß es in den gemeinsam zu behandelnden Angelegenheiten kein Notverordnungsrecht der königlich ungarischen Regierung gibt. Wir müssen vom Standpunkt der österreichischen Verfassung gleichfalls annehmen, daß in den gleichartig zu behandelnden Angelegenheiten kaiserliche Verordnungen mit provisorischer Gesetzeskraft ausgeschlossen erscheinen; die Verfassung der beiden Reichshälften kann in dieser Frage nicht verschieden sein." Dieses von Adolph Menzel erörterte Problem wurde von den verschiedensten Zeitungen des Reiches aufgegriffen, wobei die jeweilige Haltung gegenüber Badeni und den deutschen Obstruktionsparteien die Auslegung der strittigen Fragen bestimmte. So schrieb im Gegensatz zur „Neuen Freien Presse" die Prager „Politik" als eines der Organe der Majorität: „Dieser Bedingung wäre auch dann entsprochen, wenn die österreichische Regierung im Falle der Unmöglichkeit, die Zustimmung der beiden Häuser des Reichsrates einzuholen, diese durch eine Verordnung im Sinne des obzitierten § 14 ersetzen würde, denn dieser bildet ja einen wesentlichen Teil der Verfassung und seine Anwendung kann unmöglich als eine Alterierung der vollen Verfassungsmäßigkeit in unserer Reichshälfte oder gar als eine Beseitigung der konstitutionellen Vertretung derselben bezeichnet werden. Der § 14 statuiert ein Notrecht der Regierung und befand sich bekanntlich auch schon in der FebruarVerfassung, von wo er in die Dezember-Verfassung übernommen wurde. Die DeutschLiberalen hatten es damals in der Hand, diese Bestimmung zu eliminieren. Sie taten es nicht und müssen sich's daher jetzt auch gefallen lassen, wenn man von ihr in einer ihnen mißliebigen Weise Gebrauch macht. Der Versuch aber, diese Eventualität als eine Beeinträchtigung der konstitutionellen Einrichtungen unserer Reichshälfte hinzustellen, ist so unsinnig, daß sich ein ernstes Blatt wahrlich schämen sollte, mit ihm herauszurücken." Die „Neue Freie Presse" erklärte dazu am 30. Juli 1897 (S. 3), daß es ihr nicht einfalle, „gegen diesen Widersinn zu polemisieren". Die ungarischen Gesetze würden in Ungarn interpretiert, nicht in Prag, und das mache den wesentlichen Unterschied. In den „Juristischen Blättern" griff am 1. August 1897 Friedrich Tezner in diese Diskussion ein. Er setzte ein ungarisches Notverordnungsrecht voraus, kam aber trotzdem „zum Schlüsse: eine Vereinbarung des Ausgleiches durch Gesetz auf der einen, Verordnung oder Notverordnung auf der anderen Seite ist keine verfassungsmäßige, wirksame, also so gut wie keine Vereinbarung. Eine Verordnung, und auch eine kaiserliche, ist kein paritätischer Gegenwert eines Gesetzes, und d e r R e g i e r u n g u n d d e m P a r l a m e n t e jedes der beiden Staaten fehlt die v e r f a s s u n g s m ä ß i g e Legitimation, mit dem Parlamente beziehentlich der Regierung des a n d e r e n Staates zur P e r f e k t i o n i e r u n g des Ausg1eiches z u s a m m e n z u w i r k e n . Diesen verfassungsmäßigen Grundsatz der Parität und der C o r r e l a t i o n d e r ä q u i v a l e n t e n O r g a n e sind die Organe beider Staaten zu wahren verpflichtet. Die Pflicht entspringt für diese Organe aus dem Gesetze ihres Staates. Ihre Wahrung ist keine Einmengung in die inneren Verhältnisse des anderen." (F. T e z n e r , österr. Notverordnung S. 375, Sperrung im Original.) — In Ungarn wurde diese Frage während der Debatte über die Verlängerung des Zuckerprämien-Gesetzes im Reichstag aufgerollt, die am 30. Juni begann und im Zusammenhang mit dem § 16 zum Einführungsgesetz der Strafprozeßordnung zu einer ernsten Krise trieb, die erst in den letzten Julitagen durch einen Kompromiß gelöst werden konnte.

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VIII. Der Sturz Badenis

Zeit sehr gelitten habe, da die bestehenden Gesetze nicht die genügende H a n d habe z u m entschiedenen Eingreifen böten. Kaiser Franz Joseph war mit der Ansicht Gleispachs keinesfalls einverstanden. So erklärte er, daß, ohne die A n w e n d u n g des § 14 in Frage stellen zu wollen, es i h m dennoch zweifelhaft scheine, ob es, selbst bei der korrektesten juridischen Deduktion, Ungarn gegenüber möglich sein werde, den Standpunkt aufrecht zu halten, daß es gegen eine A u s dehnung der Anwendbarkeit des § 14 auf die gemeinsamen Angelegenheiten keine Einwendung erheben könne. Es sei sehr fraglich, ob die ungarische Regierung diesen Beweis vor d e m ungarischen Parlamente werde führen können. Zwar habe Ministerpräsident Bänffy für seine Person sich bereit erklärt, die Verhältnisse in Österreich als Provisorium zu betrachten u n d den Ausgleich wie alle gemeinsamen Angelegenheiten entschieden aufrecht zu halten, allein damit sei der Disput über ein mit der österreichischen Regierung auf Grund des § 14 speziell auf dem Gebiete der gemeinsamen Angelegenheiten zu treffendes A b k o m m e n keineswegs abgeschlossen 5 0 ). Gleispach antwortete sofort darauf, daß nach seiner A n Auf die staatsrechtliche Auseinandersetzung Adolph Menzels in der „Neuen Freien Presse" antwortete schon am 24. Juni 1897 der „Budapesti Naplo": „Unser Recht ist, von österreichischer Seite einheitliche Staatlichkeit und eine auf Grund der Repräsentativverfassung konstitutionelle Regierung zu fordern. Unsere Pflicht aber ist, uns darüber hinaus nicht in österreichische Angelegenheiten zu mischen. Wenn Österreich dieser Anforderung nicht mehr Genüge tut, so ergibt sich daraus nicht die Konklusion, daß wir uns mit dem Grafen Badeni nicht weiter einlassen sollen, sondern die, d a ß d e r s t a a t s r e c h t r e c h t l i c h e A u s g l e i c h z w i s c h e n Ö s t e r r e i c h und U n g a r n aufh ö r t u n d U n g a r n s e i n R e c h t zu E t a b l i e r u n g d e r v o l l s t ä n d i gen s t a a t l i c h e n U n a b h ä n g i g k e i t wieder erlangt." 50 ) Im ungarischen Reichstag warnte am 2. Juli 1897 Karl Eötvös (Unabhängigkeitspartei) wegen der Zuckerprämien (siehe Anm. 49) einen Vertrag mit Österreich einzugehen, ohne daß die dortige Volksvertretung mitwirke, weil dadurch ein sehr gefährlicher Präzedenzfall geschaffen werde, welcher die fürchterlichsten Konsequenzen nach sich ziehen könne. Dabei konnte sich Eötvös auf jene österreichischen Politiker und Staatsrechtslehrer berufen, welche die Anwendbarkeit des § 14 in diesem Falle zumindest für bedenklich erklärten. Am 21. Juli 1897 erklärte Franz Kossuth an gleicher Stelle namens der ungarischen Opposition, jedermann wisse, in welcher Situation sich Österreich befinde und daß dort die Verfassung in Gefahr stehe. Es sei daher diesem Österreich gegenüber die Pflicht Ungarns, zu zeigen, daß ein eventuell nicht verfassungsmäßiges Österreich die größten Schwierigkeiten finden werde, wenn es dem ungarischen Reichstage als verhandelnder Teil gegenüber stünde. Bei dem am 30. Juli 1897 in Budapest zustande gekommenen Kompromiß der ungarischen Parlamentsparteien wurde auch die Zustimmung aller Parteien zu einem Ausgleichsprovisorium mit Österreich gegeben. In der Konferenz der Vertrauensmänner wurde jedoch vom Präsidenten des ungarischen Abgeordnetenhauses v. Szilagyi, vom Ministerpräsidenten Baron Bänffy und von den Führern der oppositionellen Parteien, in deren Namen Graf Albert Apponyi (Nationalpartei) sprach, mit größtem Nachdruck betont, daß sich das Ausgleichsprovisorium nur auf eine Verlängerung des Status quo erstrecken könne und sich innerhalb des Rahmens der Dispositionen des Ausgleichsgesetzes Artikel XII vom Jahre 1867 bewegen müsse, also mit anderen Worten, daß selbst ein Ausgleichsprovisorium in Österreich parlamentarisch zustande kommen müsse und nicht durch den § 14 dekretiert werden dürfe. Nach dem Bericht der „Neuen Freien Presse" (31. Juli 1897 S. 2) habe Baron Bänffy zustimmend genickt, als speziell Graf Apponyi diese Forderung neuerdings formulierte und hinzufügte, daß daraus selbstverständlich hervorgehe, daß bei jeder Abweichung von diesen Prinzipien die moralische Verpflichtung der Opposition zur Einhaltung des Kompromisses aufhöre. Bänffy, der zu dieser Zeit an die parlamentarische Erledigung zumindest eines Ausgleichsprovisoriums durch den cisleithanischen Reichsrat glaubte, hatte die Zustimmung der ungarischen Opposition in diesem Punkte durch sein Nachgeben in der Frage des so heftig

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schauung das Gesetz über das Verhältnis zu Ungarn keinen Bestandteil der Verfassung bilde und formell kein Staatsgrundgesetz sei und somit ein Einspruch von ungarischer Seite keine haltbare Grundlage hätte. Doch der Kaiser hob demgegenüber hervor, daß nach der Lage der Verhältnisse in Ungarn wenig Aussicht vorhanden sei, diesen Standpunkt den Ungarn begreiflich zu machen. Wenn es nicht gelinge, in Österreich die Delegationswahlen vorzunehmen, so sei es vollkommen ausgeschlossen, daß die ungarische Delegation allein tage, da ja beide Delegationen ein Ganzes bilden. Was die Anwendung des § 14 betreffe, schaltete sich Graf Ledebur ein, so erscheine ihm Ungarn gegenüber weniger das finanzielle Moment entscheidend; weit mehr sei die Schwächung des moralischen Prestiges der österreichischen Reichshälfte auf das lebhafteste zu beklagen, wenn sie durch die Fortführung der Geschäfte auf Grund des § 14 in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Ungarn gelangen sollte61). Deshalb glaubte er, daß man die parlamentarischen Verhältnisse solange als möglich aufrechtzuerhalten und mit der Majorität auszukommen bestrebt sein müßte. Die Verhandlungen des Ministerpräsidenten mit den Parteien der Rechten böten einige Hoffnung, daß die Majorität bereit sein werde, die Regierung zu unterstützen, ohne allzu weitgehende Forderungen zu stellen. Es werde sich darum handeln, ob diese Parteien ihre radikalen Elemente soweit beherrschen, daß sie das in der Thronrede enthaltene Regierungsprogramm zu dem ihrigen machen können. Er selbst werde sich mit vollstem Vertrauen der Führung des Ministerpräsidenten anschließen. Ähnlich äußerte sich auch Handelsminister Freiherr von Glanz, während Minister Dr. Rittner in Übereinstimmung mit dem Finanzminister hervorhob, daß der §14 nicht für alle Staatsnotwendigkeiten genüge. In vielen Fällen müßte die Regierung sich dessen bewußt sein, daß sie geradezu verfassungswidrig vorgehe. Von ungarischer Seite könne sie sich auf große Schwierigkeiten gefaßt machen, denn dort werde man behaupten, der § 14 sei auf die gemeinsamen Angelegenheiten nicht anwendbar, da die Ausgleichsgesetze ihn nicht erwähnen. Eine solche Anschauung sei zwar nicht richtig, aber sie habe viel für sich, speziell da sich die Ungarn auch auf die in Österreich entwickelten gegenteiligen Rechtsanschauungen berufen können. Er möchte nur wünschen, es möge ein derartiges Verhältnis zur Majorität geschaffen werden, daß sie animiert werde, mit der umstrittenen § 16 zum ungarischen Einführungsgesetz der Strafprozeßordnung erreicht, indem er dessen Modifikation zusagte. Dieser Kompromiß wurde von Seite Bänffys offensichtlich unter dem Eindruck seiner unmittelbar vorausgegangenen Reise nach Ischl und der Audienz bei Kaiser Franz Joseph geschlossen. 51 ) Die Schwierigkeiten, auf Grund des § 14 den Ausgleich mit Ungarn provisorisch um ein Jahr zu verlängern, zeigten sich Ende Dezember 1897. Erst am 30. Dezember 1897 konnte Kaiser Franz Joseph das Ausgleichsprovisorium verfügen (R.G.B1. 1897 Nr. 308). — Vgl. auch G. Κ ο 1 m e r, Parlament u. Verfassung VI S. 369. — Mit kaiserlicher Verordnung vom 30. Dezember 1898 (R.G.B1. 1898 Nr. 239) wurde die Wirksamkeit der Bestimmungen des bisherigen Zoll- und Handelsbündnisses mit den Ländern der ungarischen Krone und das Verhältnis zur Österreichisch-ungarischen Bank neuerdings u m ein Jahr, und zwar bis zum 31. Dezember 1899, verlängert. Auch der dann endlich 1899 zustande gekommene und bis Ende 1907 geltende Ausgleich mußte auf Grund des § 14 dekretiert werden, und zwar durch die kaiserliche Verordnung vom 21. September 1899 (R.G.B1. 1899 Nr. 176), betreffend das wirtschaftliche Verhältnis zu den Ländern der ungarischen Krone, die gänzliche Einlösung der Staatsnoten, die Einführung der Kronenwährung als Landeswährung, die Verlängerung des Privilegiums der Österreichisch-ungarischen Bank und die Ordnung der Schuld von ursprünglich 80 Millionen Gulden. — Zu den weiteren mit dem § 14 zusammenhängenden Problemen siehe unten S. 145—160.

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VIII. Der Sturz Badenis

Regierung zu gehen. Von großen Konzessionen könne keine Rede sein, das Kabinett müsse aber der Majorität entgegenkommen, soweit dies vom Standpunkt des Regierungsprogramms möglich sei. Es genüge nicht, der Majorität nur die Aufgabe zu stellen, die Obstruktion niederzukämpfen. Nun erst sprach Graf Welsersheimb. Von seinem Ressortstandpunkte habe er vorerst nur das Rekrutenbewilligungsgesetz für das kommende Jahr ins Auge zu fassen, welches innerhalb der gesetzlichen Bestimmungen, wenn es nicht rechtzeitig bewilligt würde, bis auf weiteres dekretiert werden müßte. Ein anderes wäre die Erhöhung des wehrgesetzlich bestimmten Rekrutenkontingentes im Zusammenhange mit der projektierten Ausgestaltung der Armee, doch habe indes die Heeresleitung beschlossen, nicht unmittelbar vorzugehen und dies für eine „kommende Zeitperiode" ins Auge zu fassen. Was die Zukunft betreffe, sei er der Ansicht, daß der erste Schritt zur Besserung der Verhältnisse darin bestehen müsse, die gesunkene Regierungsautorität zu heben, entschiedene Festigkeit zu zeigen und allseitig klarzumachen, daß die Regierung entschlossen sei und die Macht habe, für die staatlichen Erfordernisse unter allen Umständen vorzusorgen, sei es in gegenseitiger Unterstützung mit dem Parlamente oder, solange es mit diesem nicht ginge, allein, objektiv, nach allgemein rationeller Notwendigkeit. Dies mit strenger Vorsorge für Ruhe und Ordnung dürfte einigermaßen ernüchternd wirken; wenn die Leute sehen, daß sie nichts erreichen und die Regierung unparteiisch über sie hinweggeht, dürften sie gefügiger werden. Belohnung der Ungebärdigkeit wirke als schlimmes Beispiel. Gebe das Kabinett einmal nicht nach, werde schließlich allen der Atem ausgehen. Erst wenn ein Schritt für Schritt konsequentes Vorgehen nicht zur Herstellung normaler Verhältnisse führen sollte, würde sich die Notwendigkeit ergeben, über Weiteres schlüssig zu werden, dann aber von gesamtstaatlichen Gesichtspunkten: der Erzielung allgemeiner Wohlfahrt aus unleidlichen Verhältnissen, aus denen erlöst zu werden die große Gesamtheit der Bevölkerung mit Befriedigung begrüßen würde. Nachdem alle Minister gesprochen hatten, erklärte der Kaiser, daß die dringendste Aufgabe sei, das Parlament arbeitsfähig zu machen und die notwendigsten Arbeiten, speziell auf dem Gebiete der gemeinsamen Angelegenheiten, so die Delegationswahlen, durchzuführen. Es müsse mit Entschiedenheit, Festigkeit und Konsequenz dahin gestrebt werden, daß die Obstruktion gebrochen werde und die jetzige Majorität ihre Schuldigkeit leiste. Eine Änderung der Geschäftsordnung müsse nachdrücklichst verlangt werden. Wenn dies auf legalem Wege möglich, dann sei dies um so besser, im Gegenfalle müsse dies auf einem anderen Wege erreicht werden. Er müsse jedoch die Frage stellen, ob ein halbwegs brauchbarer Präsident durchzusetzen sein werde. Badeni erwiderte, daß der frühere Präsident Dr. Kathrein an ihn die Erklärung gelangen ließ, er befinde sich gesundheitlich wieder ganz wohl und sei bereit, die Wahl zum Präsidenten anzunehmen, werde aber keineswegs gekränkt sein, wenn er nicht wiedergewählt werden sollte. Badeni teilte nun mit, er habe dies den Obmännern der Klubs der Rechten zur Kenntnis gebracht und gleichzeitig beigefügt, daß er die Wahl eines Nichtdeutschen zum Präsidenten für nicht opportun erachte, womit sich diese einverstanden erklärt hätten. Über die Präsidentenfrage wollten sich die Klubs der Rechten einige Tage vor Beginn der Session einigen. Sollte von dieser Seite ein Versuch gemacht werden, aus den Reihen der Obstruktionsparteien das Präsidium zu ergänzen, so werde er dagegen keine Einwendungen erheben. Er selbst, erklärte Badeni, verfüge über keine Persönlichkeit, welche die notwendige Qualifikation hätte. Unter den Deutschen sei wohl einer geeignet — der niederösterreichische

David Ritter von Abrahamovicz 1843-i—1926

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Antisemit Dr. Robert Guido Pattai52) —, allein dieser könne gegenwärtig nicht in Betracht kommen. Auch Dr. Ebenhoch werde genannt, der ein energischer Mann sei. Bevor man sich jedoch überhaupt für eine Persönlichkeit entscheide, müsse man sich vergewissern, ob diese bereit und entschlossen sei, die gefaßten Beschlüsse durchzuführen. Dazu müßte sich diese verpflichten. Die Regierung " ) Dr. Robert Guido Pattai stand damals im Lager Karl Luegers. Der Christlichsoziale Reichsratsklub, der sich zwar den deutschen Obstruktionsparteien nicht angeschlossen, sich aber auch weder gegenüber Badeni noch gegenüber der Majorität die Hände gebunden hatte, hätte einer Kandidatur Pattais für die Präsidentenstelle unter den gegebenen Verhältnissen ebenso wenig wie die Majorität des Abgeordnetenhauses zugestimmt. So konnte Badeni nicht rechnen, Pattai als Präsident durchzudrücken, obwohl — wie die „Neue Freie Presse" beim Tode Pattais schrieb — dieser sich schon damals „bereit hielt, den Platz eines Präsidenten des Abgeordnetenhauses einzunehmen" und sich daher von der „wüsten Agitation" zurückgezogen hatte. Pattais Ehrgeiz erfüllte sich jedoch 12 Jahre später, als der Christlichsoziale Dr. Richard Weiskirchner, der spätere Bürgermeister Wiens, im Februar 1909 in das Kabinett Bienerth als Handelsminister berufen wurde und so die Stelle des Präsidenten des Abgeordnetenhauses neu besetzt werden mußte. Bei der am 10. März 1909 erfolgten Wahl wurde Pattai als Mitglied der christlichsozialen Partei als der stärksten Gruppe mit 237 von 342 gültigen Stimmen auf diesen Posten berufen. Bei Beginn der XX. Session wurde er am 22. Oktober 1909 mit 266 von 408 Stimmen bei 141 leeren Stimmzetteln wiedergewählt. Er hatte dieses Amt bis zum 21. Juli 1911 inne. Bei den Reichsratswahlen dieses Jahres erhielt er nicht mehr die notwendige Stimmenanzahl, so daß er sein Mandat verlor. Pattai, am 9. August 1846 in Graz geboren, hatte die Realschule besucht und hernach an der Technischen Hochschule studiert, daneben die alten Sprachen nachgeholt, so daß er die Universität beziehen konnte (R. P a t t a i , Kampf um die Rechtswissenschaft S. 58). Am 12. April 1872 wurde er zum Doktor der Rechte promoviert. 1876 ließ er sich als Hof- und Gerichtsadvokat in Wien (Mariahilf) nieder, wo er den „österreichischen Reformverein" gründete. Er stellte sich an die Spitze der kleingewerblichen Bewegung in Wien und Niederösterreich. „Im Laufe seiner politischen Tätigkeit hatte er manche Wendung mitgemacht, ist aber in allen Lagen seinen Hauptgrundsätzen treu geblieben. Er war der eigentliche Begründer und Organisator der antisemitischen Bewegung in Wien. Durch ihn wurden sowohl Schönerer als auch Lueger dieser Bewegung zugeführt. Er war zeitlebens ein überzeugter Antisemit, wenn er auch im persönlichen Verkehr mit seinen Berufsgenossen dies nicht zum Ausdruck brachte." (J. S y l v e s t e r , Vom toten Parlament S. 28.) Am 1. Juni 1885 zog er als Abgeordneter in den Reichsrat ein. Am 10. Februar hielt er bei Besprechung der Beantwortung einer die Kohlentarife betreffenden Interpellation eine vielbeachtete Rede, die er mit den Worten Schloß: „Lassen wir es nur eine Zeit lang noch so fortgehen, und der Moment wird nicht mehr ferne sein, wo man, wie in Frankreich, auch in Österreich Krondiamanten verschleißt. Reißt die Fetzen von euren alten Wappenschildern, um unsere Schande damit zu bedecken." (Stenogr. Prot. X. Session S. 6933). Pattai Schloß sich im Abgeordnetenhaus vorerst dem Liechtenstein-Klub an, der im harten Kampf gegen die alldeutsche Bewegung stand, bald hernach der christlichsozialen Bewegung. Er wurde eine der Hauptstützen Karl Luegers. Im Nachruf, den die „Neue Freie Presse" für Pattai am 30. September 1920 (Abendblatt S. 2) brachte, wurde ihm vorgeworfen, daß er „an allen turbulenten Wahlkämpfen in den Wiener Vororten" regen Anteil genommen habe, als die „Christlichsozialen in Wien ihre Agitation von Wirtshaus zu Wirtshaus" trugen. Seit 1899 war Pattai auch Abgeordneter zum niederösterreichischen Landtag. Als niederösterreichischer Landesausschuß-Beisitzer betreute er das Finanzreferat und das Referat f ü r Landesbahnen. In Angelegenheit der Landesbahnen kam es mit seinen Parteigenossen zu einem Konflikt, der mit einem Ehrenbeleidigungsprozeß endete. („Neue Freie Presse" vom 30. September 1920.) 1917 wurde er in das Herrenhaus berufen, wo er sich der Mittelpartei anschloß. Seine hier im deutschnationalen Sinne gehaltene Rede über die Kriegs- und Friedensziele löste nicht nur „massenhafte Zustimmungen" („Deutsches Volksblatt", Wien 28. Februar 1918), sondern auch eine am 9. März 1918 von der Wiener Rathauskorrespondenz versandte 7

Sutter, Sprachenverordnungen II.

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VIII. Der Sturz Badems

müßte dem für den Präsidentenstuhl ausersehenen Abgeordneten loyal sagen: er solle unparteiisch vorgehen, jedoch die Dringlichkeitsanträge, mit denen die O b struktion das Haus überschwemmen werde, nach d e m Beispiel des Freiherrn v o n Chlumecky in der zweiten Hälfte der Sitzung zur Verhandlung bringen. Er müsse seine Bereitwilligkeit erklären, daß er in dem M o m e n t e , in dem er nicht mehr die Verhandlungen zu leiten imstande sei, u n d Regierung wie Majorität dies v o n i h m verlangen, die Änderung der Geschäftsordnung auf gewaltsamem W e g e durchführe. Als Ministerpräsident habe er die Sorge, daß Dr. Kathrein auf diese Forderungen, u n d zwar aus physischen Gründen, nicht eingehen werde, weshalb Kaiser Franz Joseph erwiderte, daß unter solchen Verhältnissen die Wahl einer anderen Persönlichkeit w o h l angezeigt wäre. W e n n auch Dr. Kathrein für die Majorität der bequemste Präsident sei, so dürfe mit d e m Präsidenten kein Fiasko bereitet werden, da mit einem solchen die ganze Situation verdorben wäre. Badeni fügte erklärend hinzu, daß die Majorität den Standpunkt einnehme, es müsse jemand aus ihrer Mitte z u m Präsidenten gewählt werden. D a er selbst gegen die Wahl eines Polen war, so blieben neben den klerikalen nur noch die antisemitischen Abgeordneten, die zwar nicht zur Majorität gehörten, aber sich an der Obstruktion nicht beteiligten u n d diese auch außerhalb des Hauses bekämpften. Badeni konnte nicht übersehen, daß die Obstruktionsparteien mit der Erklärung aus: „Die christlichsoziale Partei stellt fest, daß Dr. Pattai seit Jahren in keinerlei Beziehung zur christlichsozialen Partei steht und daher die Partei die Verantwortung für dessen Handlungen und Reden, insbesondere für die Herrenhausrede vom 28. Februar, ablehnt." Am 27. März 1918 nahmPattai in einer Versammlung des Deutschantisemitischen Bezirksvereines im Simmeringer Brauhaussaal dazu Stellung: „Gegen diese Erklärung ist im tatsächlichen nichts einzuwenden. Ich habe wirklich, abgesehen von persönlichen guten Beziehungen zu Parteimitgliedern, seit Jahren mit der Partei als solcher nicht verkehrt und habe auch in meiner Rede nicht gesagt, daß ich sie im Namen der Partei halte . . . Umso mehr habe ich es bedauert, daß ein Führer des sogenannten Arbeiterflügels der christlichsozialen Partei eine pazifistische Rede in Graz dazu benützt hat, um unter höchst einseitigen Darstellungen über mich herzufallen . . . Wenn jener Redner behauptet, daß ich alles, was ich bin, der christlichsozialen Partei verdanke, so frage ich, was denn die christlichsoziale Partei mir verdankt, erwähne weiter, daß ich schon Mitglied des Reichsrates war, als die heutige christlichsoziale Partei noch nicht einmal dem Namen nach bestand, sondern eine von mir ganz selbständig geführte Reformpartei." („Deutsches Volksblatt", Wien 31. März 1918, S. 7.) Julius Sylvester berichtet von Pattai, daß er „zu den glänzendsten Rednern" im Hause zählte, daß er als „Volksredner" ebenso „größte Erfolge" hatte, daß er „eine ungeheure Arbeitskraft, eine große Vielseitigkeit und einen ehernen Fleiß" besaß, daß er „im Justizausschuß die schwierigsten Referate" ausarbeitete und daß er neben seiner politischen Tätigkeit „eine sehr ausgedehnte Wiener Advokatur" betrieb. „Manchmal sehr präpotent und voll Ironie, hatte er zahlreiche persönliche Konflikte, die bei Gericht oder mit Waffen ausgetragen wurden." Sylvester bemerkt weiters, daß Pattai, obwohl Mitglied der christlichsozialen Partei, in seinen Ansichten mehr zur Deutschen Volkspartei neigte. „Seinem ausgezeichneten juristischen Wissen verdankte er seine Berufung als Mitglied und 1914 als ständiger Referent in das Reichsgericht. Pattai hat auch eine Reihe von fachwissenschaftlichen Schriften veröffentlicht, so über „Das Erbbaurecht", über die Haftpflicht, über „Der Kampf um die Rechtswissenschaft und die Freirechtsbewegung" und über „Das klassische Gymnasium", dessen Bedeutung für die Stärkung des nationalen Bewußtseins er betont. Von seinen Reden im Abgeordnetenhaus sind noch bedeutungsvoll die vom 30. November 1888 über die Agrarfrage anläßlich der Debatte über die bäuerliche Erbfolgeordnung und die vom 4. Februar 1909 zur Nationalitätenfrage. — Zu seiner Charakteristik auch J. R e d l i c h , Polit. Tagebuch I, S. 38. — G. Κ ο 1 m e r, Parlamentarisches Jahrbuch V, S. 238. —A. C ζ e d i k, österr. Ministerien IV, S. 186 ff. —Pattai starb am 30. September 1920 in Wien nach erfolgter Krebsoperation.

D e r Ministerrat vom 8. September 1 8 9 7 : Präsidiumsfrage des Abgeordnetenhauses

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Wahl des Dr. Kathrein weniger vor den Kopf gestoßen wurden als etwa mit der Wahl des Baron Dipauli. Es ist interessant, daß Gautsch hier in die Debatte eingriff, um hervorzuheben, er halte, bei aller persönlichen Wertschätzung, Dr. Kathrein in der gegenwärtigen Situation als Präsidenten für unmöglich, worauf Kaiser Franz Joseph eine feste Hand als das Wichtigste des künftigen Präsidenten bezeichnete. Die Frage sei so wichtig und schwierig, daß dabei über alle Rücksichten hinweggegangen werden müsse. „Die Majorität müsse", wie der Kaiser nun ausdrücklich erklärte, „schon bei dieser Gelegenheit beweisen, daß sie eine wirkliche Majorität sei. Sie müsse zuerst zeigen, was sie leisten kann — und nicht vor allem mit Wünschen und Forderungen an die Regierung herantreten." Man dürfe ihr daher — vor allem staatsrechtlich — auch nichts versprechen.53) Wenn dies alles nicht gelinge, wenn infolge einer Änderung der Geschäftsordnung oder aus anderen Gründen die Obstruktionsparteien das Parlament verlassen, so werde mit dem Rumpfparlament fortgearbeitet werden können, ohne daß es notwendig sei, nach dem § 14 vorzugehen. Hier hakte sofort Badeni ein, der dem Kaiser beipflichtete, es sei, wenn die turbulenten Elemente das Parlament verließen, kein Grund vorhanden, dieses nach Hause zu schicken. Doch verlangte Franz Joseph ausdrücklich, daß, wenn der Skandal zu groß würde und die Majorität nicht die Kraft hätte, ihn einzudämmen, das Haus noch vor dem Zusammentritt der Delegationen vertagt werden müßte. „Dies wäre jedoch das Äußerste und sehr fatal." Für den Fall neuer Skandale verlangten Gautsch und Gleispach, das Haus nach Beendigung der Delegationsberatungen zu schließen. Darauf betonte wiederum der Kaiser, die Regierung müsse sich darüber vollkommen klar sein, daß, wenn das Parlament auf irgendeine Art nach Hause geschickt werden müßte, nichts übrigbliebe, als nach § 14 zu regieren. Dies müßte aber mit voller Energie geschehen. Aber auch durch andere Maßregeln müßte die Regierungsautorität hergestellt werden. Er verwies auf die Zustände in Böhmen und bezeichnete es als notwendig, sich mit diesen eingehend zu beschäftigen und alles vorzubereiten, um selbst eventuell den Ausnahmezustand verhängen zu können. Es gebe verschiedene Gradationen, die vorbereitet werden könnten, aber die Regierung müßte erforderlichenfalls auch zum Äußersten greifen. Von vielen Seiten werde dies dringend gewünscht und er glaube nicht, daß die Regierung durch ein derartiges Vorgehen bei vielen Teilen der Bevölkerung auf Opposition stoßen werde. Überraschenderweise replizierte darauf Badeni. Er habe aus den politischen Kreisen zwar oft die Forderung nach strengster Wahrung der Regierungsautorität vernommen, jedoch selten oder vielmehr nie hören können, daß in dem einen oder anderen speziellen Falle die Anwendung dieses Prinzips das Richtige war, eine Bemerkung, die Franz Joseph veranlaßte, Badeni zu versichern, daß alles, was bisher von der Regierung zur Aufrechterhaltung der Ordnung verfügt wurde, vollkommen gerechtfertigt gewesen wäre. Nach der Frage, in welchem Zeitpunkt die Rekrutenvorlage eingebracht werden müsse, die Graf Welsersheimb dahin beantwortete, daß die Vorlage erst ")

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„Kaiser Franz Joseph aber scheint allein unter allen, die sich über Österreichs Zukunft Gedanken machten, im Besitze der richtigen Erkenntnis gewesen zu sein, daß eine Föderalisierung der Monarchie nicht ihre Sicherung gegen äußere Angriffe, sondern vielmehr verstärkten Anreiz zu solchen bewirken würde." (R. W o 1 k a n , Österreichischer Staatsgedanke S. 863. Sperrung im Original.) Dazu allerdings ist ergänzend zu bemerken, daß eine Föderalisierung im Sinne der geforderten Länderautonomie wohl eine weitgehende innere Konsolidierung gebracht hätte, doch war es nach 1897 für eine solche Entwicklung zu spät geworden. — Vgl. dazu auch A. N o v o t n y , Kaiser Franz Joseph und die Nationalitätenfrage.

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VIII. Der Sturz Badenis

nach Neujahr an das Parlament gelangen müßte, korrekterweise dies jedoch regelmäßig schon früher geschehe, und nach einigen allgemeinen Bemerkungen über Entschiedenheit und Festigkeit, die er der Regierung anempfehle, schloß Kaiser Franz Joseph diesen Ministerrat, dessen Ergebnis völlig unbefriedigend ist. Einen klaren Marschbefehl hatte der Kaiser, mit Ausnahme des strikten Verbotes, der Majorität verfassungs- und staatsrechtliche Versprechungen zu machen, nicht gegeben. Die Probleme waren hin- und hergewendet, so die Anwendung des § 14 begrüßt und verurteilt, seine Anwendbarkeit gegenüber Ungarn verneint und bejaht worden. Letztlich aber, von einigen, zwar nicht unwesentlichen Punkten abgesehen, war die Möglichkeit ofFengelassen, den einen oder den anderen diametral entgegengesetzten Weg einzuschlagen. Gewiß, niemand konnte das Verhalten von Majorität und Obstruktion vorausberechnen, aber es hätte die Möglichkeit bestanden, klar zusammenzufassen und jeweils zu sagen und zu entscheiden : wenn dies Ereignis eintritt, dann hat sich die Regierung so und nicht anders zu verhalten. Auch ein konstitutioneller Monarch durfte wegbestimmend sein, und er hätte es bei Entschlußfreudigkeit auch sein können. Das Verhängnisvollste war, daß sich einige Minister einer Selbsttäuschung hingaben und die Ziele der Majorität sowie die Kraft des deutschen Widerstandes verkannten. Auch die Erfolglosigkeit der Forderung „Wahrung der Staatsautorität mit starker Hand" hätte gesehen werden müssen, schon angesichts der Vorgänge in Böhmen, angesichts der am 15. Juli begonnenen Einstellung der Arbeiten im übertragenen Wirkungskreis bei den deutschböhmischen Gemeinden, also des passiven Widerstandes bei Einhebung der direkten Steuern, bei der Zustellung politischer Erledigungen, bei der Ausfertigung und Zustellung von Vorladungen von Stellungspflichtigen und bei Amtshandlungen in Gewerbeangelegenheiten, sie hätte gesehen werden müssen angesichts der Demonstrationen am untersagten deutschen Volkstag in Asch am 22. August und der neuerlichen Überschreitung der österreichischen Grenze durch die Teilnehmer, diesmal, um in Wildenau in Bayern die allerdings auch dort verbotenen Versammlungen abzuhalten; angesichts der blutigen Zusammenstöße und der tschechischen Exzesse in Brüx, Pilsen und Prag. Überall dort, wo die Regierung ihre Autorität und Macht hervorgekehrt hatte, war es zu Gegenmaßnahmen oder Demonstrationen gekommen, waren die Gemüter nicht beruhigt, sondern noch mehr erregt worden. Trotz der gemachten Erfahrungen zu glauben, mit Gewalt die Bevölkerung beruhigen zu können, denn darum mußte es der Regierung ja gehen, war ein entscheidender Irrtum. Innerhalb der Regierung selbst herrschten — und das war das Hauptübel — keineswegs klare Vorstellungen, wie sich die Zukunft gestalten werde, als auf Grund des Ministerrates vom 8. September am nächsten Tag durch kaiserliches Patent der Reichsrat für den 23. September zu seiner XIII. Session einberufen wurde. Die Verhältnisse innerhalb der Majorität waren, als das Parlament zusammentrat, für die Regierung eher kritischer als günstiger geworden, und Badenis Wunsch, daß die erste oder wenigstens die zweite Vizepräsidentenstelle einem Abgeordneten aus der Gruppe des Verfassungstreuen Großgrundbesitzes überlassen werde, war besonders von der Katholischen Volkspartei energisch abgelehnt worden. Die Parteien der Majorität hatten sich nach langem Widerstreit doch auf Dr. Theodor von Kathrein geeinigt, obwohl dieser jedweden Bruch der Geschäftsordnung von vornherein entschieden abgelehnt und sich gerade in dieser Hinsicht zu nichts verpflichtet hatte. So wurde das Präsidium der am 2. Juni 1897 vorzeitig geschlossenen XII. Session des Abgeordneten-

Eröffnung der XIII. Session des Reichsrates

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hauses in der Eröffnungssitzung der XIII. demonstrativ in der gleichen Zusammensetzung : Kathrein, David Ritter von Abrahamovicz und Dr. Karel Kramär mit den Stimmen der Rechten wiedergewählt, wobei nur die Schönerianer den Wahlvorgang störten. Auch die überwiegende Mehrzahl der 35 eingebrachten Dringlichkeitsanträge bezog sich auf wirklich dringliche Bedürfnisse, vor allem auf die notwendig gewordene Staatshilfe für die von Überschwemmungen und sonstigen Naturkatastrophen betroffenen Gebiete, die in dem sonst trockenen und dürren Sommer 1897 heimgesucht worden waren. Trotzdem zeigte sich schon in der ersten Sitzung, so in dem durch Gesetzesstellen belegten Begehren des Abgeordneten Dr. Anton Pergelt nach feierlicher Eröffnung des Reichsrates durch eine Thronrede des Kaisers, daß die Session einen stürmischen Verlauf nehmen und eine dritte Widerstandswelle gegen Badeni beginnen werde, die heftiger als die erste während der Frühjahrssession und heftiger als die zweite während der Sommermonate werden sollte. Am Tage vor Eröffnung des Reichsrates hatten die Deutsche Volkspartei und die Deutsche Fortschrittspartei sich geeinigt, die Obstruktion wieder aufzunehmen, die Delegationswahl jedoch nicht zu verhindern. Dafür lagen ein Dringlichkeitsantrag und ein Antrag auf Versetzung des Ministerpräsidenten in den Anklagezustand wegen des Geheimerlasses vom 2. Juni sowie ein von Viktor von Hochenburger eingebrachter weiterer Antrag auf Ministeranklage wegen der Vorgänge in Eger bereits in der Eröffnungssitzung vor. Die Schönerianer gingen getrennt vor und brachten ihrerseits wegen der gleichen Anlässe zwei Anträge auf Erhebung der Anklage gegen Badeni ein. Daß die Schönerianer gewillt waren, für Skandal zu sorgen, daran war nicht zu zweifeln. Ehe noch der Alterspräsident am 23. September den Vorsitz dem gewählten Präsidenten abgeben konnte, erklärte der christlichsoziale Abgeordnete Josef Gregorig, es sei zu seiner Kenntnis gelangt, daß sich im Hohen Hause sechzehn als Diener maskierte Polizeibeamte befänden. Während des Tumultes, der durch diese an den Präsidenten gerichtete Anfrage entstand, schleuderte Κ. H. Wolf, der in der Mitte des Saales und in nächster Nähe des Platzes des Ministerpräsidenten stand, diesem die von mehr als hundert Personen vernommenen Worte zu: „Herr Graf Badeni, das ist eine Schufterei."54) Badeni sah sich durch diese ihm in öffentlicher Sitzung, mit bestimmter Absicht und nicht etwa als Ausfluß irgendeiner Erregung zugeschleuderten Beschimpfung veranlaßt, den General d. K. Alexander Grafen Üxküll-Gyllenband, der sich seinen Generalstabschef Oberst Anton Resch als zweiten Kartellträger beigesellte, zu ersuchen, den Abgeordneten Wolf zu fordern55). Wolf nahm diese Forderung an und bezeichnete als seine Kartellträger die Abgeordneten Dr. Julius Sylvester und Dr. Arthur Lemisch. Das Duell fand am 25. September 1897 in der Reitschule des Reitlehrer-Institutes statt. Die Bedingungen waren dreimaliger Kugelwechsel, 54

) Mitteilung des Justizministers im Ministerrat vom 25. September 1897. — Zu diesem Duell vgl. auch M. B o g d a n o w i c z , Wspomnienia II, 162, doch ist hier das herausfordernde Wort irrtümlich mit: „Das ist eine polnische Niederträchtigkeit" wiedergegeben. ") G. K o l m e r (Parlament u. Verfassung VI, S. 287) spricht von einer Duellwut, die durch die Erregung der Obstruktionsära ausgelöst wurde. So war Wolf schon wegen des am 6. Mai 1897 gebrauchten Ausdruckes von den minderwertigen slawischen Nationen vom Jungtschechen Horica auf Säbel gefordert und beide Duellanten verwundet worden. Kurz nach dem Duell mit Badeni wurde Wolf wegen beleidigender Ausdrücke gegen die Polen vom Abgeordneten Wladimir Ritter von Gniewosz-Olexow auf Säbel gefordert. Während der Pole verwundet wurde, blieb Wolf auch hier unverletzt. — Zum „Duellunwesen" vgl. auch F. F u n d e r , Vom Gestern ins Heute S. 262—266.

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VIII. Der Sturz Badenis

25 Schritte Distanz unter den herkömmlichen Modalitäten. Beim ersten Gang schoß Κ. H. Wolf etwa eine halbe Sekunde vor seinem Gegner und verwundete bereits diesen am rechten Arm. Badenis Schuß mußte schon durch die Verletzung fehlgehen, obwohl es sich nur um eine Fleischwunde handelte. Die Kugel war oberhalb des Ellbogens in den Arm eingedrungen, in der Schulter steckengeblieben und konnte von den Ärzten anstandslos extrahiert werden. Bald nach dem Duell fand unter dem Vorsitz des Unterrichtsministers Baron Gautsch ein Ministerrat statt, dem Gleispach die Vorgänge mitteilte. Er fügte hinzu, daß Badeni in seinem Zimmer herumgehen dürfe und eine Störung in der Führung der Geschäfte nicht eintreten werde. Weiters stellte Gleispach die Frage, ob er beim Kaiser auf Grund der Bestimmungen der Strafprozeßordnung § 2 Alinea 3 den Antrag stellen könne, der Kaiser möge befehlen, daß wegen dieses Zweikampfes gegen alle bei demselben beteiligten, der Ziviljurisdiktion unterstehenden Persönlichkeiten das strafgerichtliche Verfahren nicht eingeleitet werde. Die Motive für diesen Antrag lägen im Falle selbst. Die Beleidigung wäre eine so gröbliche, die Art und der Ort, an dem sie vorgebracht wurden, eine derart beschimpfende, daß nach seiner „tiefinnersten Überzeugung" Badeni zur Wahrung seiner Ehre geradezu moralisch genötigt gewesen sei, diesen Schritt zu unternehmen. Er habe diese Anschauung in ähnlichen Fällen selbst als Richter und Ankläger vertreten und glaube, dies um so mehr auch als Minister tun zu können. Seiner Ansicht nach seien Konflikte zwischen der gesellschaftlichen Auffassung des Ehrbegriffes und den gesetzlichen Bestimmungen über die Strafbarkeit des Zweikampfes in den meisten Fällen unter den Begriff des im Strafgesetze vorgesehenen unwiderstehlichen Zwanges zu subsumieren. Es falle ihm nicht leicht, die kaiserliche Abolition auch für Κ. H. Wolf, der den Zweikampf in der unverantwortlichsten Weise provoziert habe, zu beantragen, allein es könne keine Ausnahme statuiert werden. Da Kaiser Franz Joseph in Budapest weilte, wurde er telegraphisch vom Beschluß des Ministerrates in Kenntnis gesetzt. Badeni seinerseits sandte an Franz Joseph Meldung über den Vorfall und reichte wieder einmal seine Demission ein, obwohl er wußte, daß sie nicht angenommen werde. Immerhin ließ Franz Joseph den Grafen Welsersheimb zur Berichterstattung an das kaiserliche Hoflager nach Pest kommen. Die Wirkung des Duells war in und außerhalb Österreichs ungeheuerlich. Κ. H. Wolf wurde, obwohl selbst nicht verwundet, als nationaler Heros gefeiert. Mit der Aureole des Helden umgeben, stieg sein verderblicher Einfluß ins schier unermeßliche. Unzählige Postkarten mit Darstellungen des Duells, mit den Bildern der beiden Duellanten über zwei gekreuzten Pistolen und mit Datum und genauen Bedingungen des Zweikampfes erschienen und wurden, vor allem von der akademischen Jugend und einstigen Burschenschaftern versandt. Innerhalb der Majorität war die Katholische Volkspartei über das Ärgernis, das Badeni gegeben hatte, äußerst erzürnt, so daß der Obmann dieser Partei am 11. Oktober 1897 beim Linzer Katholikentag, wo die Duellaffäre erörtert werden sollte, um sie im Abgeordnetenhaus weiter zu verfolgen, erklären mußte, es habe, wo der Herr verziehen, der Knecht nicht mehr zu zürnen. Die christlichsoziale „Reichspost" wurde dreimal nacheinander von der Staatsanwaltschaft wegen Besprechung des Duells konfisziert56). Allgemein aber blieb bisher unbeachtet, welch Aufsehen das 5e

) Anfrage im Reichsrat am 1. Oktober 1897, XIII. Session S. 265. — Zur Verurteilung „jener ärgerlichen Verletzung der kirchlichen und staatlichen Ordnung" vgl. Histor.-polit. Blätter 122, 1898, S. 413. — F. F u η d e r, Vom Gestern ins Heute S. 209. — Das Duell mit Badeni trug Κ. H. Wolf eine „Nationalspende" ein. Sein Presseorgan, die „Ostdeutsche

Das Duell Badeni contra Κ. H. Wolf — Ministeranklagen

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Duell des österreichischen Ministerpräsidenten mit einem Abgeordneten des Reichsrates außerhalb der staatlichen Grenzen erregte. Am 30. September sandte der österreichische Geschäftsträger und Legationssekretär in London, Albert Graf Mensdorff, an Außenminister Goluchowski einen ausführlichen Bericht57): Hochwohlgeborener Graf! Das Duell des Herrn Ministerpräsidenten Grafen Badeni hat auch hier das lebhafteste Aufsehen erregt. Da der Zweikampf im Laufe des letzten halben Jahrhunderts vollständig aus den englischen Sitten geschwunden ist, so wird ein Duell hier nie sehr wohlwollend beurteilt. Wir haben auch richtig die alten Gemeinplätze über „veraltete Vorurtheile", „Rest mittelalterlicher Anschauungen" und dergl. m. zu hören bekommen. Die „Times" hat in diesem Sinne einen salbungsvollen Artikel gebracht, in welchem mit Behagen auf die Superiorität englischer Anschauungen über Ehre und Recht gegenüber denen des Continents hingewiesen wird. Andere Blätter haben teils in ähnlicher Weise geschrieben, teils das Duell zum Anlaß genommen, um allerhand Witze zu machen. So bringt die „Westminster Gazette" nun täglich sehr komische Illustrationen, die Duelle zwischen Lord Salisbury und Mr. Labonchere, Sir William Harcourt und Mr. Goschen, sowie zwischen anderen bekannten Persönlichkeiten darstellen. In gesellschaftlichen und politischen Kreisen wird das Duell ebenfalls lebhaft discuttirt und mir gegenüber ist man überall darauf zu sprechen gekommen. Trotz der Abneigung der Engländer gegen das Duell als Institution glaube ich doch eine gewisse Sympathie für den Grafen Badeni und seine Vorgangsweise bemerken zu können. Die empörenden Scenen in unserem Abgeordnetenhause sind den englischen Ideen von parlamentarischem Ansehen und Würde so sehr widersprechend, daß man unsere turbulenten Elemente auf das strengste verurtheilt und es begreiflich findet, wenn Graf Badeni die Geduld verliert. Weniger begreiflich findet man es, daß die parlamentarischen Reglements bei uns keine Handhabe geben, um Scenen, wie sie sich im österreichischen Abgeordnetenhause leider oft ereignen, zu verhindern und die Schuldigen zu bestrafen. Das Prinzip, daß ein Ministerpräsident sich duellieren könne, wird hier natürlich heftig angegriffen und die Befürchtung ausgesprochen, daß nach diesem Präcedenz, die extremen Parteien sich immer einer gewissen Anzahl professioneller buetteurs versichern könnten, die jedem ihnen unbequemen Minister zum Zweikampfe zwingen würden. Bei derartigen Gesprächen erlaubte ich mir immer meine Mitredner daran zu erinnern, daß Canning als Premierminister, sowie der Herzog von Wellington als Feldmarschall, Sieger von Waterloo und gewesener Premierminister es nicht verschmäht hätten, sich zu duellieren. Aus der Umgebung Lord Salisbury's wird mir mitgetheilt, daß, als Seine Lordschaft die Nachricht des Duells des Grafen Badeni in den Blättern sah, er ausrief, daß wenn er sich für jede Insult schlagen müßte, er den Kampfplatz nie verlassen würde: "If I had to fight every time I was insulted I should never leave the price-ring."

Inzwischen hatten in der 3. Sitzung, am 25. September, die Wahlen in die Delegation stattgefunden, bei denen, da die Delegierten nach einzelnen Königreichen und Ländern gewählt wurden, die Tschechen ihre aus den Volksabgeordneten und den Feudalen zusammengesetzte Mehrheit von 56 Stimmen rücksichtslos ausgenützt hatten, so daß trotz des prozentuellen Anteiles der Deutschen in Böhmen Rundschau", wurde auch von politischen Gegnern eifrigst gelesen. Aus jeder Konfiskation erwuchsen dem Blatt neue Abnehmer. Der Agitation Κ. H. Wolfs war es zuzuschreiben, daß die „Alldeutsche Partei" schließlich sechzehn Mann stark ins Parlament einzog. Die „Ostdeutsche Rundschau" hätte nach diesem Wahlsieg ein politischer Machtfaktor in Österreich werden können, aber Georg von Schönerer lähmte durch seine Eitelkeit, durch seine „stets lauernde Eifersucht" auf Κ. H. Wolf und durch seinen unduldsamen Parteidoktrinarismus die Entwicklung dieses Blattes, das am 23. Oktober 1904 sein Erscheinen einstellte und nur bis zum 20. November 1904 als „Neues Deutsches Tagblatt" weitergeführt werden konnte. (Vgl. den Wochenbericht der „österreichischen Rundschau" 1, 1904/05, S. 280—282). «') H.H.St.A. Wien PA V I I I 119 f. 81—86.

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VIII. Der Sturz Badems

kein einziger von den deutschböhmischen Volksabgeordneten, die zusammen nur 27 Stimmen hatten, berücksichtigt wurde58). Die Delegationswahl schien aber auch das einzige Zugeständnis zu sein, das die Obstruktionisten der Regierung um der allgemeinen Staatswohlfahrt willen zu machen bereit waren, denn nun begannen sich die Beratungen endlos hinzuziehen. Bereits am 24. September hatte die Beratung der dringlichen Notstandsanträge begonnen, die erst am 7. Oktober dem Budgetausschuß zugewiesen werden konnten, der insgesant 2,640.000 fl an nicht zurückzahlbaren Unterstützungen, 1,550.000 fl an unverzinslichen Vorschüssen, 650.000 fl für die notwendigsten Aufräumungsarbeiten und provisorischen Ausbesserungen an jenen Flußläufen in Böhmen und Oberösterreich, die im Sommer Hochwasser geführt hatten, und 300.000 fl als Unterstützung für die durch andere Naturereignisse geschädigte Bevölkerung aufbringen und bewilligen sollte. Am 8. Oktober begann die erste Lesung der Regierungsvorlage betreffend den Gesetzentwurf über die Gewährung von Unterstützungen aus Staatsmitteln und Bewilligung anderweitiger Kredite anläßlich von Elementarereignissen, die immerhin schon am 12. Oktober beendet wurde. Einen Tag später begann die erste Lesung der Ministeranklageanträge gegen Badeni, die von der Linken nach allen Regeln der Obstruktion ins Endlose gezogen wurde. In der Nacht vom 19. auf den 20. Oktober unterbrach der Präsident um 1.10 Uhr die Sitzung, um sie am Vormittag um 11.40 Uhr wieder aufzunehmen. Als sie um 21 Uhr des 20. Oktober nach mehr als 24 Stunden geschlossen wurde, waren die Verhandlungen um nichts weitergediehen. Badeni geriet in Zeitnot. Über einen Monat tagte das Abgeordnetenhaus, aber positive Arbeit war noch keine geleistet worden. Wohl konnte die Anklagedebatte wegen des Geheimerlasses vom 2. Juni am 20. Oktober abgetan werden, aber nun standen erst die Anklagen wegen des Volkstages in Eger zur Verhandlung, die wiederum die Sitzungen bis zum 26. Oktober ausfüllten. Dazu kamen endlose Petitions- und Dringlichkeitsanträge. Das ganze, schon in der Frühjahrssession erprobte Spiel mit der Geschäftsordnung wurde vorexerziert. Namentliche Abstimmungen, Anträge, wörtlich verlesene Schriftstücke im Wortlaut in das stenographische Protokoll aufzunehmen, und schwere Angriffe gegen das Präsidium raubten die Hoffnung, die vorgesehenen Gesetze zur Verhandlung bringen zu können. Dazu kamen Tumultszenen, wüste Beschimpfungen, der Zwischenfall Gregorig - Iro, der die üble Verleumdungstaktik der Schönerianer gegen die Christlichsozialen aufdeckte und Iro zwang, sein Mandat niederzulegen, und die von den Sozialdemokraten auf eigene Faust betriebene Obstruktion. Nach einem Bericht des Präsidenten des Hauses am 22. November war in der Zeit vom 30. September bis 20. November allein 84mal lediglich über Petitionen namentlich abgestimmt und damit nicht weniger als 58 Stunden vertan und vom Standpunkte der Obstruktion gewonnen worden59). Jedoch wurden auch zusätzlich noch bei allen anderen nur möglichen Gelegenheiten namentliche Abstimmungen, so beispielsweise diese 13mal in der Sitzung vom 27. Oktober verlangt, was die Verlesung von insgesamt 5.225 Namen und den Verlust von sieben Stunden bedeutete. Allerdings hatte die Linke, wie sich nachträglich zeigen sollte, versäumt, einen Schlachtplan zu entwerfen, wodurch es einerseits den Schönerianern mit ihren Skandalszenen gelang, die Führung an sich zu reißen, und ande58) Dieses Vorgehen veranlaßte dann 1898 die Deutsche Fortschrittspartei, trotz des Geschreies der Schönerianer, sich vor der Delegationswahl mit den Tschechen auf ein Kompromiß zu einigen. Siehe unten S. 293. » ) Stenogr. Prot. XIII. Session S. 1794 und S. 1800.

Endlose Obstruktion — Das erste Pultdeckelkonzert

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rerseits vom Standpunkte der Obstruktion schwerste taktische Fehler begangen wurden. J. M. Baernreither gibt in seinem Tagebuch zu60), daß die Reden, die von den deutschen Parteien bei den Ministeranklagen gehalten wurden, „mit einer einzigen Ausnahme, nämlich der Rede des Freiherrn Heinrich D'Elvert bei der Sprachenanklage, herzlich unbedeutend" waren. Die Inszenierung der Obstruktion, erzählt Baernreither weiter, „machte den Herren soviel Mühe, daß sie sich auf eine Vorbereitung zum Reden gar nicht einlassen konnten. Die Rechte reagierte nur wenig, die Regierung so gut wie gar nicht." Die Erklärungen Badenis waren schwach, und es gelang ihm nicht, das Haus aus seiner unheilvollen Bahn herauszureißen. Vielleicht wollte er es auch nicht. In der Sitzung vom 19. Oktober bediente sich die Obstruktion zum ersten Male der beweglichen Pultdeckel auf den Bänken des Hauses und der Lineale zu wüsten Lärmkonzerten. Die Tischler hatten Mühe, den Schaden bis zur nächsten Sitzung einigermaßen wieder gutzumachen. Eine Flut von Schimpfworten mußte das Präsidium über sich ergehen lassen. Angesichts dieser Tatsachen hätte Badeni, zumal die Oktroyierung der Geschäftsordnung bei der Majorität selbst auf Widerstand stieß und mit der Vertagung des Reichsrates und der Anwendung des § 14 mit Rücksicht auf die andere Reichshälfte nicht vorgegangen werden sollte, entweder einen Vergleich mit der Opposition finden oder das Feld räumen müssen, damit seinem Nachfolger noch die Zeit übriggeblieben wäre, ein Ausgleichsprovisorium bis zum 31. Dezember 1897 verfassungsmäßig zustande zu bringen. Vergeblich appellierten die Abgeordneten der Christlichsozialen Partei an die Vernunft und Einsicht der Volksvertretung. Er appelliere, rief Abgeordneter Johann Wohlmeyer im Abgeordnetenhaus aus, zugunsten des notleidenden Volkes an die verschiedenen Nationen, die ja zusammen den österreichischen Kaiserstaat bilden. Mehrere Jahrzehnte dauere bereits der Nationalitätenkampf, und die Notlage der Völker werde dabei immer größer. Die Völker rauften mitsammen und andere, Dritte, hätten den Gewinn und den Vorteil daraus gezogen. So sei der Sachverhalt, und er bedaure, daß selbst in diesem Haus wieder der Nationalitätenstreit zum Ausbruch gekommen sei und alles beherrsche. „Weil es aber dringlich ist, daß dem Volk endlich geholfen wird, weil in diesem Hause gegenwärtig statt gemeinsamer friedlicher Auseinandersetzungen, statt der Schaffung nützlicher Gesetze, die ja als das Resultat der Gerechtigkeit und geistigen Überlegenheit gelten können, nur momentane Erregtheit, Streit und nationaler Haß zum Ausdruck gekommen ist, der jede ersprießliche Tätigkeit hindert, weil in diesem Haus statt der Sprache der Gebildeten manchmal sogar der Ton der Spelunke platzgegriffen hat und weil es, wenn es so fortgeht, noch so weit kommen wird, daß man in dieses Haus, um seine Ehre zu schützen, nicht kommen kann, wenn man nicht einen Revolver oder Prügel mitnimmt, . . . wende ich mich an den obersten Schirmherrn der Völker Österreichs, an unseren Herrn und Kaiser, den berufenen Schützer der Völker mit der Bitte: Kenntnis zu nehmen von der Not des Volkes, das der dringendsten Hilfe bedarf, Kenntnis zu nehmen von den Zuständen, die in diesem Hause herrschen, die dem Volke große Kosten verursachen und unproduktiv sind, Kenntnis zu nehmen, wie hilflos unsere Regierung gegen diese Zustände ist, Kenntnis zu nehmen von den dringlichen Bitten des Volkes um endliche Abhilfe." 61 )

Am 12. und 13. Oktober wurde, da Badeni einfach nicht länger mehr warten konnte, auf Grund einer Zuschrift des Finanzministers im Abgeordnetenhaus das Unveröffentlichte Stelle Tagebuch f. 27 H.H. St. A. Wien, Nachlaß B. — Zur rechtlichen Seite der Ministeranklage vgl. A. F i n g e r , Die strafrechtlichen Bestimmungen des Gesetzes, betr. die Verantwortlichkeit der Minister. ") Stenogr. Prot. 6. Sitzung, XIII. Session, 5. Oktober 1897, S. 309—314.

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VIII. Der Sturz Badenis

den Ausgleich mit Ungarn betreffende Provisorium aufgelegt, das am 1. Oktober die österreichische und die ungarische Regierung endgültig vereinbart hatten, das aus einem einzigen Paragraphen bestand, nur unter der Bedingung in Wirksamkeit treten sollte, daß es in beiden Reichshälften auf parlamentarischem Wege zustande kam, und das eine Verlängerung der Wirksamkeit des Gesetzes über die Beitragsleistung zu den gemeinsamen Angelegenheiten, ferner des Zoll- und Handelsbündnisses und des Privilegiums der Österreichisch-ungarischen Bank bis zum 31. Dezember 1898 bedeutete. Da keine Aussicht bestand, auf normalen Wegen die erste Lesung in Angriff zu nehmen, war Badeni am 25. Oktober entschlossen, diese mit Gewalt durchzusetzen. Mit einem solchen Vorgehen war nicht nur ein Teil der Jungtschechen, der zuvor Konzessionen einhandeln wollte, sondern auch Präsident Dr. Kathrein keineswegs einverstanden. Aber während Badeni immer nur mit seinem Rücktritt spielte, zog Kathrein die vollen Konsequenzen, indem er noch am gleichen Tag Wien verließ und in einer Zuschrift an Vizepräsident Ritter von Abrahamovicz diesen bat, „einem Hohen Hause bekanntzugeben, daß er die Stelle eines Präsidenten hiermit niederlege"62). Eine Erklärung oder irgendwelche Motive hatte Kathrein nicht hinzugefügt. Im Parlament löste die Verlesung dieses unerwarteten Schrittes auf beiden Seiten Bewegung aus. In seiner Vaterstadt Hall, die ihm einen Fackelzug darbrachte, erklärte Kathrein, er wolle nicht länger Präsident eines Hauses sein, das durch eine unglückselige Politik zur Untätigkeit verurteilt sei. Die Bedingungen für die Rückkehr geordneter Zustände im Parlament erfordern eine aufrichtige Verständigung mit den Deutschen. Gerade aber diese suchte Badeni nicht mehr; er wollte den Widerstand brechen. Um dies zu ermöglichen, beantragte der Obmann des Polenklubs, Apollinar v. Jaworski, am 27. Oktober mit Rücksicht auf die hohe Wichtigkeit und Dringlichkeit der Erledigung des Ausgleichsprovisoriums Doppelsitzungen abzuhalten, und zwar sollten die Abendsitzungen ausschließlich der ersten Lesung des Ausgleichsprovisoriums mit den Ländern der ungarischen Krone vorbehalten bleiben. Nach heftigem Widerspruch der Linken wurde der Antrag Jaworskis unter Bruch der Geschäftsordnung mit Mehrheit genehmigt. Die Obstruktion sah sich überrumpelt und umgangen und begann eine verzweifelte Gegenwehr. „Von nun ab herrschte die Anarchie im Hause, jede Rücksicht auf persönliche Würde verschwand, alle Grundlagen des parlamentarischen Lebens wurden mißachtet, unter dem Drucke der Majorität gelangte die Minorität zu förmlichen Wahnsinnsausbrüchen, kein Teil dachte daran, nachzugeben. Im Momente gab es für beide Gegner nur ein Kampfziel: die Frage der Durchsetzung der ersten Lesung des Ausgleichsprovisoriums um jeden Preis."63) In der ersten Abendsitzung, die am 28. Oktober um 19.10 Uhr begann und um 9.50 Uhr des nächsten Tages erst endete, hielt der Abgeordnete der Brünner Handelskammer, Dr. Otto Lecher, eine zwölfstündige Dauerrede, mit der er den Ausgleich fachmännisch verurteilte. Lecher ist durch diese Rede, der bei aller Sachlichkeit, nach seinen eigenen Worten, allerdings „eine bandwurmartige Tendenz" nicht abzusprechen war, berühmt geworden. Vom Standpunkte der Obstruk62

) Am 12. November wurde Abrahamovicz zum Präsidenten gewählt und Kramär rückte gleichzeitig zum 1. Vizepräsidenten auf, während erst am 22. November zum 2. Vizepräsidenten der Mitbegründer der Katholischen Volkspartei im Abgeordnetenhaus, der Advokat Dr. Viktor Freiherr von Fuchs gewählt wurde, der jedoch den folgenden Sturmsitzungen fernblieb. Fuchs war dann vom 21. März 1898 bis zum 8. Februar 1901 selbst Präsident des Abgeordnetenhauses. 63 ) G. Κ ο 1 m e r, Parlament u. Verfassung VI, S. 302.

Ausgleichsprovisorium mit Ungarn — Lechers Dauerrede

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tionsparteien hätte sie, obwohl durch sie die Obstruktion, „die zuletzt nur eine formelle war und durch die fortwährenden namentlichen Abstimmungen und bei den Haaren herbeigezogenen Zwischenfälle einen öden, geistlosen Eindruck machte, moralisch außerordentlich gehoben wurde"64), nie gehalten werden dürfen, denn damit war das erreicht, was das Präsidium und was Badeni wollte, die Obstruktionisten aber um jeden Preis hätten verhindern müssen: die Eröffnung der Debatte über das Ausgleichsprovisorium. Während Lecher allgemein umjubelt wurde, sein Bild in den verschiedensten Variationen auf Postkarten erschien, er mit Versen gefeiert und ihm bei seiner Rückkehr in Brünn eine stürmische Ovation dargebracht wurde, erschien am 3. November 1897 im „Spaßvogel", der Beilage des „Grazer Extrablattes", ein wenn auch nicht künstlerisch wertvolles, aber durch seinen Schluß erschütterndes Gedicht, das die Kehrseite der Vorgänge im Parlamente zeigte: Bericht unseres Spezialberichterstatters Tobias Krempel zur Parlamentssitzung vom 28. Oktober 1897 oder Allerseelen in Österreich Erhob sich der Lecher Und sprach in den Saal: „Ich bitt', bin nun Sprecher, Um ein bißchen Krawall!

Erscheint schon Aurora Am Helios Port, Man läutet zur Hora — Der Lecher spricht fort.

Ich werde nun sprechen Zwölf Stunden, wenn's geht — vom Heu und vom Zechen Von Ungarn und Meth."

Der Kramarsch will werfen Sein' Stell' über Bord, Ihm zittern die Nerven — Der Lecher spricht fort.

So begann er um achte Auf d'Nacht seine Red, — Der Kramarsch sagt: „Sachte, Sonst wird's nicht so spät."

Der Wolf ist schon heiser Vom Singen und Brüll'n, — Der Lecher spricht leiser Vom Wert der Kamill'n.

Der Wolf pfeift dazwischen Und trommelt voll Wut, Die Rechte tut zischen Und schreit: „Welche Brut!"

Und heimlich verfluchen Sie alle den Tort, — Der Lecher ißt Kuchen, Und spricht wieder fort.

Erhebt sich ein Heulen, 's schreit einer gar: „Mord!" Der Lang will ihn keilen, Der Lecher spricht fort.

Um neun Uhr sagt endlich Der Lecher: „Genug!" — Der Kramarsch sagt: „Schändlich! Versäum' nun den Zug."

Auch Schnarchen und Gähnen Man hört an den Ort, Die Schreiber schon stöhnen, Der Lecher spricht fort.

Dann rennen und tappeln Nun alle behend. Wohin denn so zappeln? Zur Kirche am End'!

Es krachen die Därme Vom nächtlichen Sport, Doch spricht von der „Wärme" Der Lecher still fort.

Zur Kassa! — Diäten Beheben — dann z'Haus — Zu ruhn in den Betten Vom „Plagen" sich aus!

" ) J. Μ. B a e r n r e i t h e r , Verfall des Habsburgerreiches S. 24 f.

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VIII. Der Sturz Badems Und als sie dann alle verlassen den Saal, Da wankte von rückwärts herbei nun ein Weib, Mit Schmerz in den Zügen, das Auge voll Qual, In Trauer gekleidet den stattlichen Leib. Aus Pulten und Sesseln macht sie einen Bau, Drapiert mit schwarzem Tuch ihn dann fein, Das gleichet nun einem Sarge genau, — Drauf fällt durchs Fenster der Sonnenschein. Sodann legt Frau Austria einen Kranz, auf dessen Schleifen die Worte stehn: „Hier liegen die Früchte der Parlamentsarbeit im Jahre 1897." Allerseelen in Österreich!

In dieser spannungsgeladenen Situation veröffentlichte am 31. Oktober 1897 die „Neue Freie Presse" ein „An die Deutschen in Österreich" gerichtetes Offenes Schreiben, dessen Verfasser der damals achtzigjährige Theodor Mommsen war. Der Umstand, daß ein deutscher Gelehrter vom Range eines Mommsen sich in den österreichischen Nationalitätenkampf mit heftigen Worten einschaltete, erregte diesseits und jenseits der Grenzen der Monarchie ungemeines Aufsehen. Dem Deutschtum in Österreich hat dieses Schreiben unendlich mehr geschadet als genützt, denn Mommsen hatte darin die Tschechen als „Apostel der Barbarisierung" bezeichnet, was diese, aber ebenso auch die übrigen Slawen, in ihrem Stolz tief verletzte. Nicht minder waren sie über den Satz erbittert: „Vernunft nimmt der Schädel der Tschechen nicht an, aber für Schläge ist auch er zugänglich", der oft genug als Beweis für das rücksichtslose Vorgehen der Deutschen gegenüber den Tschechen zitiert werden sollte. Der Lemberger Rechtshistoriker und damalige Rektor Oswald Balzer, der damals junge Dozent für österreichische Geschichte an der tschechischen Universität in Prag, Josef Pekar, und der Wiener Slavist Vatroslav Jagic haben neben vielen anderen Mommsen geantwortet. In der österreichischen und in der reichsdeutschen Presse wurde in gleicher Weise leidenschaftlich für oder gegen Mommsen Stellung genommen, und selbst in russischen und in französischen Zeitungen fand Mommsens Brief einen bewegten Nachhall. Keine Rede, kein Ausspruch, kein Ereignis der so stürmisch bewegten Badeni-Tage wurde so lange kommentiert, besprochen, zitiert und nicht vergessen, als gerade Mommsens Schreiben65). Dieses wurde um so mehr beachtet, als ganz allgemein in Deutschland, und zwar über den Ersten Weltkrieg hinaus, den Vorgängen in Österreich wenig Beachtung geschenkt wurde. Die Berichterstattung über England oder Frankreich nahm in der reichsdeutschen Presse weit mehr Raum ein als die über Österreich66). Auch in dem für Österreich so β5

) B. S u t t e r , Mommsens Brief. — Ο. Β a 1 ζ e r, Offenes Schreiben an Mommsen. — J. P e k a r , Die Böhmen als Apostel der Barbarisierung. Zu dieser Meisterleistung der tschechischen Geschichtsapologie vgl. auch R. G. Ρ 1 a s c h k a, Von Palacky bis Pekar S. 76 f. — V. J a g i c , Mommsen. — D e r s . , Spomeni mojega 2ivota II, S. 245 f. — Auch Karl Lueger hatte als Bürgermeister von Wien in der Gemeinderatssitzung vom 3. November 1897 sich gegen Mommsens Angriffe in aller Form verwahrt. (Amtsblatt Wien 1897.) 66 ) K. S ζ a m e i t a t, Die inneren Verhältnisse Österreich-Ungarns. — Von H. J. Theil wurden die Jahre 1903 bis 1906 untersucht. Er kommt zu einem „erschütternden" Gesamtergebnis. „Führerlos und richtungslos verlor sich die öffentliche Meinung in Deutschland in nebelhafte Gefilde der ,Weltpolitik' oder in Ideologien . . . Die Vorgänge in ÖsterreichUngarn waren ihr zum großen Teil Angelegenheiten eines fremden Staates, der in ,Verfassungskonflikte' geraten war, dessen tiefere Zusammenhänge sie außerdem zumeist nicht erkannte. Wenn man sich schon um eine eigene Stellungnahme bemühte, so erfolgte sie aus-

Theodor Mommsens Brief „An die Deutschen in Österreich"

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entscheidenden Jahr 1897 hatte sich diese Tendenz der reichsdeutschen Presse dem österreichischen Nationalitätenproblem gegenüber wenig geändert. Die konservativen Zeitungen vertrauten auf die unerschütterliche Autorität der Krone in Österreich und sahen daher in den Nationalitätenkämpfen keinen Anlaß zur Beunruhigung. Ähnlich urteilten die klerikalen Blätter, die als Parteigänger der katholischen österreichischen Parteien scharf die deutsche Obstruktion mißbilligten, die jedoch zugleich ihre Abneigung — in gleicher Weise wie gegenüber der Linken in Deutschland — auch gegenüber der österreichischen Regierung zum Ausdruck brachte, soweit sich diese gegen die klerikalen Wünsche stellte. Hierin unterschieden sie sich von den konservativen Zeitungen. Aus der gleichen Haltung heraus verurteilte die klerikale reichsdeutsche Presse schärfstens die Vorgänge in Transleithanien. Sie mißbilligte offen die sonst wenig beachtete Unterdrückung der nichtmagyarischen Nationalitäten in Ungarn. So stellte die „Kölner Volkszeitung" am 6. Juli 1897 fest, daß es eine „Reichstagswahl im europäischen Sinne" in Ungarn „wohl auf dem Papier, nicht aber in Wirklichkeit" gebe. Das Interesse am Nationalitätenkampf in Transleithanien ist bei diesen Blättern weitaus größer als an dem in Cisleithanien. Die Urteile sind kritischer, schärfer und vielleicht auch verständnisvoller. Mit größter Aufmerksamkeit verfolgte die einheitlich ausgerichtete reichsdeutsche sozialdemokratische Presse die österreichischen Ereignisse, doch galt ihre Aufmerksamkeit weniger den nationalen Fragen als vielmehr dem Kampf der österreichischen Genossen gegen den „reaktionären" Staat und die „bürgerlichen Cliquen". Die Haltung der liberalen Blätter war dagegen zwiespältig, obwohl ihnen die unbedingte Feindschaft gegen die „reaktionären" Slawen und Klerikalen gemeinsam war. Hier sind die Stimmen der Sorge, wie es um die Zukunft Österreichs bestellt sein werde, zahlreicher als in den anderen Lagern, allein hinter der Anteilnahme stand vielfach lediglich das besorgte Interesse um das Schicksal der österreichischen Liberalen. Diesen Blättern gegenüber zählen die antisemitischen reichsdeutschen Zeitungen nicht, die zwar den Vorgängen in der Monarchie allgemein Verständnis entgegenbrachten und offen Zweifel über ihren Weiterbestand aussprachen, doch viel zu unbedeutend waren, um ausschlaggebend die öffentliche Meinung auf den eng verbündeten Nachbarstaat lenken zu können. Die Haltung der ausschlaggebenden Mehrzahl der reichsdeutschen Presse und damit der großen Öffentlichkeit stimmte gegenüber den nationalen Fragen des schließlich nach wirtschaftlichen, konfessionellen oder parteipolitischen Gesichtspunkten und Interessen. S a t u r i e r t h e i t und O p t i m i s m u s , die Grundzüge des Vorkriegsdenkens, gaben der Haltung der deutschen Presse und Publizistik auch in dieser außenpolitischen Frage das Gepräge. Nur vereinzelt finden wir wirkliche Kenntnis und Überzeugung von dem Ernst der Entwicklung und der Probleme in Österreich-Ungarn". (H. J. Τ h e i 1, Die reichsdeutsche Presse S. 127.) — Den gleichen Vorwurf hatte schon R. Fr. Kaindl erhoben: „Im neuen Deutschen Reich vergaß man aber, daß die Deutschen an der Donau auch Deutsche sind. Man sprach offen davon, daß 1871 alle deutschen Stämme geeinigt worden sind. Diese unglückliche, unrichtige Behauptung wurde zu einem gefährlichen Schlagworte. Man gewöhnte sich in Deutschland daran, die Deutschen der Donaumonarchie als Ausländer zu betrachten, die vielen Deutschen ferner standen als die Neger in Kamerun . . . Man redete sich förmlich ein, daß man an den Österreichern nichts verloren habe und fühlte sich höchstens durch ihren Wettbewerb benachteiligt. . . Die Klage über die ablehnende Kühle der reichsdeutschen Presse war nichts seltenes. Man unterschätzte die Donaudeutschen politisch und völkisch, wußte auch nichts von ihren Verdiensten um Kultur und Fortschritt." (R. Fr. K a i n d l , Österreichs Politik S. 27.) — W. R u d e r t , Stellung des dt. Reiches zur innerösterr. Lage.

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VIII. Der Sturz Badenis

Augenblickes in Österreich mit der offiziellen Haltung der reichsdeutschen Regierung fast völlig überein. Deren Tendenz wurde bei den Verhandlungen des Deutschen Reichstages am 18. Mai und der Debatte vom 14. bis 16. Dezember 1897 klar ausgesprochen. Am 18. Mai 1897 brachte der deutsch-soziale Abgeordnete Zimmermann die Sprache auf jene von ihm für den 9. Mai nach Dresden einberufene Versammlung, in der gegen die Badenischen Sprachenverordnungen protestiert werden sollte und die von der sächsischen Polizei aufgelöst wurde. Gegen Zimmermann und seine Darstellung des Sachverhaltes, der zur Auflösung der Versammlung führte, wandte sich sofort der sächsische Bundesratsgesandte, Graf von Hohenthal und Bergen, der in lapidaren Sätzen erklärte: „Es handelt sich da um eine Versammlung, die von Herrn Zimmermann und seinen Freunden einberufen worden war zum Zwecke der Protesterhebung gegen die Badenische Sprachenverordnung. Nun frage ich: ,Was geht das uns an?'" 6 7 ) Zimmermann brachte anläßlich der Etatdebatte vom 14. bis 16. Dezember 1897 die österreichischen Angelegenheiten erneut im Reichstag zur Sprache68) und replizierte auf die Äußerung des Grafen von Hohenthal und Bergen mit der Bemerkung: „Ich wüßte nicht, was uns Deutsche mehr angehen könnte als die Not und das Leid unserer Volksgenossen außerhalb des Reiches." Die Reichsregierung könne nicht eingreifen, dies verlange aber auch niemand, verlangt werde lediglich, daß die verbündeten Regierungen nicht die Sympathiekundgebungen der deutschen Bevölkerung des Reiches zu verhindern versuchen. Beachtung verdienten die Geschehnisse in Österreich doch vor allem wegen des deutsch-österreichischen Bündnisses. „Was glauben wir überhaupt, was aus dem Bündnis zwischen dem Deutschen Reiche und Österreich wird, wenn nicht mehr das Deutschtum drüben die führende Rolle spielt." Ähnlich äußerte sich der nationalliberale Abgeordnete Professor Dr. Ernst Hasse, Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes. Er hielt es für notwendig, ausdrücklich zu erklären, „daß in diesem Völkerkampfe unsere, des deutschen Volkes Sympathien denen gehören, die bis zum Jahre 1866 mit uns zu einem Bundesstaat gehörten und die noch heute nicht aufgehört haben, unsere Blutverwandten, unsere Volksgenossen zu sein." Hier klingen die von Theodor Mommsen in seinem Brief „An die Deutschen in Österreich" ausgesprochenen Gedanken deutlich durch. Hasse erklärte — gegen die Konservativen gerichtet — weiters, daß seinem nationalen Empfinden „der letzte deutsche Bauer und Arbeiter, ja der roteste, wenn nur deutsch gesinnte Demokrat, näherstehen als der höchstgeborene polnische Graf oder tschechische Fürst." Ungleich ausführlicher äußerte sich als Dritter über Österreich der antisemitische Abgeordnete Dr. Förster, der ungescheut die „alldeutschen" Tendenzen bei den Deutschen Österreichs als gerechtfertigt hinstellte und die Weisheit des österreichischen Monarchen jene Weisheit nannte, „von der es heißt: Mein Sohn, mit wie wenig Weisheit wird doch die Welt regiert". Wie könne von einer Stärkung des Dreibundes gesprochen werden, wenn in Österreich das Heft der deutschen Hand immer mehr entgleitet und „in die Hände anderer, undeutscher und uns nicht freundlich gesinnter Völkerschaften" übergehe, „die nach Paris Telegramme schicken und den Bund zwischen Frankreich und Rußland begrüßen und ihm je eher, je lieber beitreten möchten". Für die Deutschösterreicher gehe „die Treue zum Volkstum . . . über die Treue zum Oberhaupt hinaus". Vor allem auch die Zustände in Siebenbürgen hätten gesamtdeutschen Charakter. „Das ist e7

) Stenogr. Bericht über die Verhandlungen des 1895/97, 8. Band S. 5919 f. 68 ) Ebenda V. Session 1897/98, 1. Band S. 228 ff.

Reichstages

IX. Legisl., IV. Session

D i e Haltung des Deutschen Reichs gegenüber Österreich

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eben keine Prestigefrage mehr, das ist eine Frage der Partei, die man deutsches Volk nennt." Diese drei Redner waren jedoch Außenseiter und hatten ohne Parteianhängerschaft gesprochen, die Antisemiten als Mitglieder einer verschwindend kleinen Fraktion, Dr. Hasse trotz formaler Zugehörigkeit zu den Nationalliberalen nur im eigenen Namen. Ganz anders erklang die Stimme der Redner der großen Parteien. Von den Konservativen mißbilligte der Abgeordnete Carl Freiherr von StummHalberg die Angriffe auf die Mehrheit des österreichischen Parlaments und die an der Haltung der Magyaren in Ungarn geübte Kritik. Der Abgeordnete Graf zu Limburg-Stirum bedauerte, „daß überhaupt die Verhältnisse des österreichischen Kaiserstaates erörtert worden sind". Er teilte zwar die Sympathien für die deutschen Volksgenossen in Österreich, doch diese sollten sich sagen, „daß, wenn sie die beste Stütze des Hauses Habsburg sind, sie auch eine andere Rolle in Österreich spielen werden". Er wünsche, daß „die deutsche Eigenschaft der Treue auch dort sich bewähre gegen das dortige Kaiserhaus". Dieser den Deutschen in Österreich erteilte Rat zum engen Anschluß an die Dynastie des Reiches erinnert an die Haltung des Fürsten Bismarck, die in der „Hamburger Zeitung" verschiedentlich zum Ausdruck gebracht worden war69). In diese Debatte griff der Fraktionsführer des Zentrums, Dr. Ernst Lieber, selbst ein, unter Hinweis auf die Außenseiterrolle der Abgeordneten Zimmermann und Förster. Im Reichstag sei „nicht Platz für Sympathiekundgebungen nach außen", da es sich von selbst verbiete, daß man sich „in einer so hervorragenden gesetzgebenden Versammlung" in „innere Angelegenheiten einer auswärtigen Macht" einmische. Derartiges sei in Anbetracht der „Ehrfurcht vor der Person des Monarchen der österreichisch-ungarischen Monarchie" im höchsten Grade unangebracht. Namens seiner Partei stellte Lieber ausdrücklich fest, daß diese in der bedauerlichen Lage sei, „diejenigen parlamentarischen Mittel, deren sich die Deutschen in Österreich jüngst bedient haben, um ihr Volkstum zu verteidigen, im Interesse des Parlamentarismus selbst" nicht gutheißen könne. Es bestehe wenig Grund zu hohen Worten über Bedrückung von Deutschen außerhalb des Reiches bei denjenigen, die im Reiche selbst rücksichstlos gegen jedes Volkstum vorgingen. „Verschonen Sie uns mit Ihren Sympathiekundgebungen für Deutsche außerhalb, solange Sie so ungerecht im eigenen Lande fremde und eigene Volksgenossen mit aller ihrer Antipathie beehren." Hier hakte der Abgeordnete der reichsdeutschen polnischen Minorität Cegielski ein, der gleichzeitig für Badeni, der ein „sehr gerechter und edelgesinnter Leiter der höchst schwierigen österreichischen Politik" gewesen sei, eine Lanze brach. Als zweiter polnischer Abgeordneter sprach Czarlinski, der die Lage der 500.000 Polen im Reich mit derjenigen der neun Millionen Deutschen in Österreich verglich. Er könne die Zusicherung geben, daß die Polen, wenn sie als Minorität die Rechte hätten, die das deutsche Volk unter österreichischer Herrschaft besitze, sehr froh sein und nicht die Taktik der Schönerianer und Wolfs befolgen würden. Aber auch die Weifen äußerten sich in diesem Zusammenhange, und zwar 69

) Vgl. zur Stellung Bismarcks gegenüber dem österreichischen Vielvölkerstaat H. R o t h f e l s , Bismarck, der Osten und das Reich S. 44—68. — H. v. S r b i k, Bismarck-Kontroverse S. 926—929. Srbik betont, daß es nicht haltbar ist, die preußischen Machtziele „mit dem deutschnationalen Motiv zu rechtfertigen, obwohl das Zentrum des politischen D e n kens und politischen Handelns Bismarcks damals und später der Staat und nicht das Volk war". — Eine spezielle Untersuchung über Bismarcks Stellung gegenüber dem österreichischen Deutschtum fehlt noch.

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durch den Abgeordneten Freiherrn von Hodenberg. Dieser richtete heftigste Angriffe gegen den deutschen Einheitsstaat und verglich die Stellung der Ungarn in der Monarchie mit derjenigen der Preußen im Reiche. In beiden Fällen handle es sich um nackte Gewaltherrschaft. Man müsse den deutschen Regierungen „alle Anerkennung aussprechen, daß sie es nicht geduldet haben, daß die annexionistischen Deutschliberalen, deren Vorgehen an Landesverrat grenzt, ihr Treiben auf deutschem Boden fortsetzen können". Interessant ist, daß auch Staatssekretär Bernhard von Bülow das Wort ergriff. Er glaubte, das Haus hinsichtlich des deutsch-österreichischen Bündnisses beruhigen zu können. „Der Dreibund erfreut sich des besten Wohlseins, unsere Beziehungen zu Österreich-Ungarn und zu Italien sind gleich gute." Bei allen Sympathiekundgebungen bestehe stets „die Pflicht zur Mäßigung, zur Besonnenheit und zur Achtung fremder Rechte . . . und diese Pflicht besteht ganz besonders gegenüber dem verbündeten und eng befreundeten österreichisch-ungarischen Reiche, an dessen Spitze ein Herrscher steht, zu dessen Weisheit alle seine Völker im gleichen Vertrauen emporblicken können". Diese Haltung war stets in gleicher Weise vom maßgebenden reichsdeutschen Regierungsblatt, der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung", vertreten worden. Erst als sich die Ereignisse im österreichischen Parlament zugespitzt hatten, war am 4. Oktober 1897 von dieser Zeitung das Wort für die deutsche Opposition, jedoch mit dem Zusatz, daß möglichst würdige Formen zu wünschen seien, ergriffen worden. Nach der durch das Allerheiligen- und Allerseelenfest bedingten Unterbrechung wurden am 4. November die Sitzungen des österreichischen Abgeordnetenhauses wieder aufgenommen. Die Vormittagssitzung, die dem Einlauf vorbehalten war, wurde über Antrag des Vizepräsidenten Kramär geheim weitergeführt. Obwohl selbst die Stenographen den Saal verlassen mußten und so völlig intern verhandelt werden konnte, gelang es dem Präsidium nicht, das Haus zu beruhigen. In der Nachtsitzung, die um 19.25 begann und am 5. November um 9.50 endete, vermochte die Majorität die erste Lesung des Ausgleichsprovisoriums zu beenden und die Zuweisung an den Budgetausschuß durchzusetzen. Das war ohne Zweifel ein äußerer Erfolg für die Regierung, aber eben doch nur ein äußerer. Im Budgetausschuß wurde die Obstruktion fortgesetzt70) und von der Linken gegen die Beratung der Vorlage protestiert, da die erste Lesung unter Verletzung der Geschäftsordnung erfolgt sei. Am 8. November beschwor Bilinski als Finanzminister den Ausschuß, nicht die Regierung zu zwingen, mit dem § 14 ,0

) Aus diesem Grunde drohte Finanzminister Bilinski im Budgetausschuß ganz offensichtlich mit einer Änderung der Verfassung, worauf die sozialdemokratischen Abgeordneten am 12. November 1897 im Plenum des Hauses einen Dringlichkeitsantrag einbrachten, den Notverordnungsparagraphen aufzuheben. (Stenogr. Prot. XIII. Session S. 1479 f.) Dies war seit 1867 übrigens der erste Versuch, den § 14 zu ändern oder aufzuheben. Der Antrag wurde damit begründet, daß sich das Notverordnungsrecht unter dem Ministerium Badeni „zum Regierungssystem ausgebildet hat" und daß der Sinn des Gesetzes klar sei, „dies aber trotzdem die Regierung nicht gehindert hat, unter Berufung auf eben diesen § 14 mit dem Staatsstreiche zu drohen". Da dieser Antrag in der XIII. Session nicht zur Verhandlung gelangte, wurde er von den gleichen Abgeordneten am 21. März 1898 in der Eröffnungssitzung der XIV. Session mit einigen geringfügigen Änderungen wiederholt und dabei betont, daß die Regierungen „unter Berufung auf eben diesen § 14 eine Unzahl von Verfassungsbrüchen" begangen haben. — Die eigentliche Blütezeit des § 14 begann allerdings erst nach dem Unglücksjahr 1897. (Siehe unten S. 145—160.)

Obstruktion im Budgetausschuß — Haltung der Katholischen Volkspartei

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„eine Frage von so eminenter Wichtigkeit zu regeln". Am gleichen Tage wurden die Plenarsitzungen fortgesetzt, auf deren Tagesordnung die erste Lesung der von Dr. Alois Funke eingebrachten dritten Ministeranklage wegen der Sprachenverordnungen für Böhmen und Mähren stand. Inzwischen hatte hinter den Kulissen ein verzweifelter Versuch der Verfassungstreuen Großgrundbesitzer begonnen, aus der Majorität die Katholische Volkspartei, bei der nun die Entscheidung lag, herauszulösen. In wochenlanger Arbeit war deren Führer, Josef Freiherr von Dipauli, und dessen Tiroler Gruppe für den Abfall gewonnen worden71). Er sowie der Innsbrucker Advokat Max Kapferer waren weitblickend genug, um den möglichen Umschwung in der öffentlichen Meinung und in den Wählerschaften zu wittern. Zwar wurde Dipauli anfänglich von seinem Klub im Stich gelassen, aber die Tiroler hielten zu ihm, und die übrigen hätten sich schließlich aus Sorge und Furcht vor einer Spaltung der Partei gebeugt, wenn nicht, wie so oft in der Politik, ein Zufall entschieden hätte. Dipauli erkrankte, und zwar schwer, so daß sein persönlicher Einfluß wegfiel und seine Gegenspieler, der steirische Prälat Alois Karion und der Oberösterreicher Dr. Alfred Ebenhoch, freies Feld hatten72). Unter diesen Umständen mußte es bei einer Abstimmung über die wegen Eger eingebrachten Dringlichkeitsanträge auf des Messers Schneide stehen. Als am 12. November der Antrag des Abgeordneten Pacäk über die Anträge auf Erhebung der Ministeranklage zur Tagesordnung überzugehen, zur Abstimmung gelangte, wurde er zwar angenommen, allerdings lediglich mit einer knappen Mehrheit von 177 gegen 171 Stimmen. Dieses Abstimmungsergebnis war ein Triumph der deutschen Seite, die endlich einmal als eine Einheit aufgetreten war; es wäre ein Erfolg gewesen, wenn sie mit den noch fehlenden sieben Stimmen hätte die Phrase von der „Majorität" im Hause zerstören können. Von der Katholischen Volkspartei hatte nur der steirische Prälat Karion und der oberösterreichische Dechant Schachinger für den Antrag Pacäks gestimmt, doch war ein Teil der oberösterreichischen und steirischen bäuerlichen Abgeordneten der Abstimmung ferngeblieben. Diese saßen beim Bier in der Restauration und lachten, nach Baernreither, „jeden höhnisch an, der sie erinnerte, daß drinnen für die deutsche Sache in Österreich abgestimmt werde". Und Baernreither fügt hinzu: „Vererbter und klubmäßig entwickelter Parteihaß ist doch das stärkste Element im öffentlichen Leben. Darin eine Änderung herbeizuführen, bedarf es entweder großer ") Die Katholische Volkspartei hatte ihre Haltung gegenüber den Sprachenverordnungen im Herbst 1897 ganz offiziell geändert. Bereits am 5. Oktober hatte Baron Dipauli im Namen seiner Partei im Abgeordnetenhaus den Antrag eingebracht, daß zwecks Aufhebung der Sprachenverordnungen im Dringlichkeitswege binnen sechs Wochen ein Nationalitäts- und Sprachengesetz für ganz Österreich durch eine ad hoc ernannte Kommission vorgelegt werde. In den Kreisen der Majorität wurde nach dem Rücktritt Dr. Kathreins als Präsident des Hauses ein weiteres Abrücken der Katholischen Volkspartei von der Rechten befürchtet. Am 30. Oktober gab das „Tiroler Volksblatt", das Organ Dipaulis, die Parole aus: „Los von den undankbaren Hussiten! Los von den unverläßlichen Polen! Los von dieser Regierung! Die Stellung an der Seite der Christlichsozialen bleibt das einzig Natürliche für eine katholisch-volkstümliche Partei!" — Zur Charakteristik Dipaulis vgl. F. F u η d e r, Vom Gestern ins Heute S. 213 f. So konnte am 12. November das „Linzer Volksblatt" mit deutlicher Spitze gegen Dipauli und der von ihm geführten Tiroler Gruppe schreiben, daß die Parole der Katholischen Volkspartei sei: „Keinen Schritt weiter nach links!" Karion empfahl nach dem Rücktritt von Dr. Kathrein sogar Ebenhoch als neuen Präsidenten. Andererseits waren die Christlichsozialen nicht gesonnen, in diesem Augenblick ein engeres Bündnis mit der Katholischen Volkspartei einzugehen. 8

Sutter, Sprachen Verordnungen I I .

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VIII. Der Sturz Badenis

politischer U m w ä l z u n g e n oder greifbarer, aber starker Vorteile für die Partei u n d den Einzelnen." 7 3 ) D i e Politik des von Ebenhoch u n d Karion geführten Flügels der Deutschkonservativen konnte nicht durch die Stimme der Kassandra in deren Presseorganen wettgemachtwerden. Wären dieDeutschkonservativendas„Lager der echtesten Österreicher" 74 ) in der praktischen Politik wirklich gewesen, dann hätten sie im Parlament andere W e g e gehen müssen. W e n n n o c h heute die nationalen Kräfte sich lieber auf die sozialistisch-marxistische als auf die bürgerlich-christliche Seite stellen, so ist dies eine Nachwirkung jener damals begangenen Schuld. Was half es schon, w e n n die konservativen Blätter, wie die „Reichswehr" in W i e n oder das „Grazer Volksblatt" konstruktive Vorschläge machten, w e n n die A b g e ordneten dieser Partei nicht danach handelten, obwohl ihr Klubobmann Dipauli den richtigen W e g wies. Dieser hatte seine bereits am 9. April 1897 abgegebene Erklärung in einen Antrag umgewandelt, den er am 5. Oktober vorlegte u n d der vorsah, daß zwecks A u f h e b u n g der Sprachenverordnungen ein Gesetzesentwurf mit grundsätzlichen Bestimmungen über die anzustrebende Regelung der N a t i o nalitäten- und Sprachenfrage binnen sechs W o c h e n d e m Hause vorzulegen sei. D a s war echte Versöhnungs- u n d Ausgleichspolitik, die allerdings auch auf Seite der Linken auf Widerstand stieß. D e r hier erhobene Vorwurf gegen die D e u t s c h konservativen hat nichts mit liberaler Gesinnung gemein. Lueger, d e m doch gew i ß nicht eine antikirchliche Haltung vorgeworfen werden kann, hat den deutschen Klerikalen oft genug ihr ganzes Sündenregister vorgehalten — und wir glauben mit Recht. Es war nicht allein das Verdienst der Alldeutschen unter ,3 ,4

) J. M. B a e r n r e i t h e r , Verfall des Habsburgerreiches S. 23 f. ) A. P o s e h, Badeni, heute gesehen S. 36. — In einer Flugschrift des Christlichsozialen Verbandes für Deutschböhmen wurde bereits Ende April 1897 die Frage aufgeworfen: „Sind die oberösterreichischen und alpenländischen deutschen Stammesgenossen für den Mangel ihrer Orientierung a l l e i n die Schuldträger? Wir müssen a u c h A n d e r e in die Anklage ziehen. Die bisherigen deutschen Reichsratsabgeordneten Böhmens gehörten ausschließlich der l i b e r a l e n , jetzt ,deutschfortschrittlichen' Partei an. Mit welcher Eifersucht hat die Prager Parteileitung darüber gewacht, daß a u c h n i c h t e i n deutscher Stammesgenosse die Wahlurne passiere, der n i c h t a u f d a s l i b e r a l e B e k e n n t n i s eingeschworen war. Die Bewerbung eines c h r i s t l i c h gesinnten Kandidaten galt schon als Attentat nicht bloß auf den Liberalismus, sondern auch auf das ,Deutschtum'. Das Letztere hatte der Judenliberalismus allein gepachtet. Deutschtum und Fortschritt i h r e s Sinnes galt der liberalen Parteileitung als identisch. Das Schiboleth des Deutschtums war nicht deutsche Sprache, Abstammung und Gesinnung, sondern dazu gehörte auch die Beiseitesetzung der Kirche aus dem öffentlichen Leben. In ihrem Sinne war es nie möglich, daß es auch einen Fortschritt gebe in Harmonie mit und kraft der Religion! Das galt allen führenden liberalen Männern in Böhmen als ausgemacht, daß ,Katholizismus' und ,Deutschtum' sich ausschließen! Und nun wundern sie sich, daß die oberösterreichischen und alpenländischen deutschen Abgeordneten katholischer Richtung sich an die über sie seit 30 Jahren verhängte ,deutsche Exkommunikation' bereits gewöhnt haben und gegen dieselbe abgestumpft sind ? Ist es ein Wunder, daß die alpenländischen deutschen Abgeordneten gegen die liberalen deutschen Kollegen auch jetzt völlig m i ß t r a u i s c h sind, wo w i r k l i c h e d e u t s c h e Interessen in Österreich auf dem Spiele stehen ? . . . Wir beklagen die I r r u η g e n, wir bedauern das vorläufige Votum der,Katholischen Volkspartei' Dipaulis; aber in der S c h u l d f r a g e bleiben wir bei denselben n i c h t stehen, sondern gehen bei der Untersuchung tiefer auf die letzten, die — d e u t s c h l i b e r a l e n U r s a c h e n , welche obige Irrungen erklären. Es rächen sich alte Sünden!" (Die Badenischen Sprachenverordnungen und ihre Bedeutung S. 7 f. Sperrungen im Original.) — Zur Beurteilung der katholisch-religiösen Standpunkte vgl. Histor.-polit. Blätter 122, 1898 S. 330—344; 389—419; 590—599; 853—873.

Die innenpolitische Lage

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Schönerer, daß es eine Los-von-Rom-Bewegung überhaupt geben konnte. Warum waren bei den slowenischen und tschechischen Konservativen völkisches Bewußtsein und religiöses Glaubensbekenntnis vereinbar, bei den klerikalen Deutschen aber nicht ? Hätten diese völkisch nicht versagt, hätten Κ. H. Wolf und Schönerer nie die Führung der deutschen Sache an sich reißen können. Die Hauptschlachten gegen die Deutschradikalen — und ebenso gegen die Sozialdemokraten — lieferten nicht Karion oder Ebenhoch, sondern Lueger und seine Anhänger, die aber eben doch alles eher wiederum waren als Konservative. Lueger war es, der den Alldeutschen zurief, weder die Christlichsoziale Partei noch seine Wenigkeit werden „sich dem Kommando einiger weniger Individuen unterordnen, welche keine einzige deutsche Tugend ihr eigen nennen, welche politisch und persönlich ehrlos sind, welche sich wie die gemeinsten Gassenjungen benehmen und welche der deutschen Nation wahrlich nur zu Schande gereichen!"75) Lueger war es, der am 4. November 1897 im Abgeordnetenhaus dem gewissenlosen Schönerer standhielt, und Lueger und seine Partei waren es, die sich des verarmten kleinen Mittel- und Gewerbestandes annahmen und sich der sozialen Reform besannen. Hatte der antisemitischeAbgeordnete Leopold Steiner, einWiener Zimmermaler, so unrecht, wenn er am 19. November im Parlament in der Debatte über die Notstandsvorlage den oberösterreichischen und steirischen Klerikalen ihre „Sünden" vorhielt und dabei erklärte, „daß die Herren von der Katholischen Volkspartei gar kein Recht haben, über die Not der deutschen Bauern der Alpenländer zu klagen". Waren diese Männer um Lueger vielleicht weniger echte Österreicher als die Konservativen? In diesen kritischen Wochen verlangte der Sektionschef im Ministerium des Äußeren, Baron Karl Wolfarth, Chef der Staatspolizei, vom Verfassungstreuen Großgrundbesitz eine vertrauliche Information, die er für seine laufenden, an den Kaiser zu erstattenden Berichte verwenden wollte. Graf Stürgkh hat das Expose des Verfassungstreuen Großgrundbesitzes am 17. November Baron Wolfarth übergeben. Darin heißt es76): „Auf normalem Wege, das heißt mit Einhaltung der Geschäftsordnung ist die Durchführung der zweiten Lesung des Ausgleichsprovisorium bei Fortdauer der Obstruktion in den nächsten Wochen unmöglich. Von der Regierung nahestehenden Personen wird davon geredet, daß Gewaltmaßregeln, das heißt der rücksichtslose Bruch der Geschäftsordnung angewendet werden wird. Die Folgen eines solchen Vorganges, die im Haus entstehen können, lassen sich nicht absehen. Da die Delegationen gleichzeitig tagen so ist es außer Zweifel, daß die Gültigkeit eines derartig zu Stande gekommenen Beschlusses und alles was damit zusammenhängt vor diesem Forum zur Sprache gebracht werden wird. Die Erregung unter der deutschen Bevölkerung sowohl in Böhmen als in den Alpenländern ist sehr groß. Die Abgeordneten folgen nur den Antrieben derselben und ihr heftiges Auftreten ist den unmittelbaren Einflüssen aus den Wählerschaften zuzuschreiben. Wenn die Situation fortdauert, kann die Bewegung in diesen Teilen des Reiches Formen annehmen, die eine spätere Aussöhnung fast unmöglich machen wird. Die radikalnationale Partei (Schönerer, Wolf) hat in dem letzten halben Jahr in der Bevölkerung leider successive an Boden gewonnen. Wolf wurde im März in Trautenau mit knapper Majorität und nur mit Hilfe der Tschechen gewählt. Heute stehen gerade ihm viele Wahlbezirke offen. Über die Fortschritte dieser Bewegung haben wir besonders aus Salzburg ,s

) Wiener Gemeinderatssitzung vom 3. November 1897 (Amtsblatt Wien 1897, S. 2246). — Siehe oben S. 108, Anm. 65 und unten S. 380. ") J. Μ. Β a e r η r e i t h e r, Verfall des Habsburgerreiches S. 26. — Die zitierte Stelle (Tagebuch f. 35 T ) ist nicht veröffentlicht.

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VIII. Der Sturz Badenis

Nachrichten. Auch die Aufnahme, die Wolf beim Volkstage in Bozen gefunden hat, ist in dieser Hinsicht sehr lehrreich. Je länger die Situation dauert, desto schwerer wird es werden diese nationalradikale Partei zu isolieren und die Fortschritte dieser Richtung aufzuhalten."

Selbst Goluchowskis Einfluß bei Kaiser Franz Joseph hat Mitte November noch nicht ausgereicht, den Sturz Badenis — und zwar vor der Katastrophe — zu erreichen77). " ) Vom 7. bis 12. November 1897 brachte die konservative und kaisertreue „Reichswehr" einen ihr „von hochgeschätzter Seite" zugegangenen und „von einem österreichischen Politiker" verfaßten „politischen Essay". Als Verfasser dieser vor allem in Ungarn stark beachteten Untersuchung über „Staatsverfassung und Verfassungsstaat" dürfen wir mit einigem Recht Badeni selbst vermuten. So haben verschiedene ungarische Zeitungen sogleich behauptet, Österreichs Ministerpräsident habe sich diesen Artikel bestellt, um die liberalen Deutschen im letzten Augenblick noch zur Vernunft zu bringen. Der Essay geht von der Feststellung aus, daß Jahrhunderte die Grundmauern Österreichs gefügt und gekittet haben und gewaltige Erschütterungen vergeblich gesucht hätten, daran zu rütteln. Die österreichische Verfassung aber sei erst wenige Jahrzehnte alt und durch einen einzigen Federzug ins Leben gerufen worden. Sie sei geschaffen worden als ein Nutzbau des Volkswohles und nicht als ein Trutzbau der Unvernunft. Freilich, diesen Zweck habe die Verfassung eigentlich nie so recht erfüllt. „Als in der Silvesternacht des Jahres 1867 die neuen Staatsgesetze verlautbart und damit der Monumentalbau der Dezember-Verfassung enthüllt wurde, da sammelten sich vor demselben alle die großen Gegensätze unseres politischen Lebens: Absolutismus und Demokratie, Liberalismus und Klerikalismus, Zentralismus und Föderalismus, deutsche Hegemonie und nationale Gleichberechtigung. Durch die gastlich geöffneten Pforten konnten sie Alle Einlaß finden, wenn sie sich nicht eifersüchtig drängten und stießen, sondern sich einten und verständigten. In dem Verfassungsgebäude selbst war Raum genug, sie konnten darin Alle einträchtig beisammen wohnen, wenn Jedes ein Opfer brachte und Keines nach der Alleinherrschaft begehrte. Aber es war anders gemeint. Der Liberalismus hatte seinen Fuß bereits auf die Türschwelle gesetzt, er zog den schwächlich geratenen deutschen Zentralismus mit sich und mit einem kühnen raschen Schritte stand er als der Erste auf dem Boden der Verfassung. Dann fiel das Tor jäh und krachend ins Schloß, der Riegel klirrte und alle die übrigen gegensätzlichen Faktoren des politischen Lebens standen enttäuscht und erbittert außerhalb der Verfassung." Der Liberalismus sei an die Durchführung der ersten und wichtigsten Reformen geschritten. „Sie standen in schroffem Gegensatze zu der traditionellen Eigenart Österreichs. Diese Eigenart, die sich Jahrhunderte weit zurückverfolgen läßt und die wohl auch Jahrhunderte weit in die Zukunft reichen wird, findet ihren Ausdruck in drei charakteristischen Merkmalen: im d y n a s t i s c h e n Gedanken, im k a t h o l i s c h e n G l a u b e n und im k o n s e r v a t i v e n S i n n seiner Völker. Die bloße Klugheit, geschweige denn die berufene Staatsweisheit erheischte, daß diese untilgbare, staatserhaltende Eigenart Österreichs sorgsam gehütet und kräftig gefördert werde. Aber dem Liberalismus galt die Tradition nichts und die eigene geheiligte Doktrin alles." Zwischen der traditionellen monarchischen, katholischen und konservativen Eigenart Österreichs und seiner neuen verfassungsmäßigen Entwicklung habe sich so ein gefährlicher, weil grundsätzlicher Zwiespalt aufgetan. „U n d a u s d i e s e m Z w i e s p a l t i s t es e n d l i c h emporgewachsen, das verfassungsmäßige V e r h ä n g n i s Österreichs, die heillose V e r s c h ä r f u n g aller p o l i t i s c h e n und n a t i o n a l e n Gegensätze, der Verfall des e i n i g e n d e n und e r h e b e n d e n R e i c h s g e d a n k e n s , das Überwuc h e r n des b r u t a l e n P a r t e i - E g o i s m u s , die endlose Folge polit i s c h e r K r i s e n und Kämpfe, die alle geistige, k u l t u r e l l e und w i r t s c h a f t l i c h e E n t w i c k l u n g b e e i n t r ä c h t i g e n , k u r z u m die g a n z e M i s e r e u n s e r e s p o l i t i s c h e n L e b e n s." Alle Parteien, die irgendeine Tradition verkörperten, seien dem usurpatorischen Liberalismus als entschlossene Feinde entgegengetreten. Es stehe jedenfalls fest, daß es eine Unmöglichkeit sei, „ ö s t e r-

Ministeranklagen gegen Badeni

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D i e Sitzungen des Abgeordnetenhauses wurden nach einer Unterbrechung v o n mehreren T a g e n am 17. N o v e m b e r wieder aufgenommen, u m mit der zweiten Lesung der Notstandsanträge zu beginnen, die am 22. N o v e m b e r in zweiter u n d sofort anschließender dritter Lesung genehmigt wurden. A m Schlüsse dieser Sitzung beantragte Abrahamovicz als Präsident des Hauses die nächste Sitzung für den 24. N o v e m b e r u n d setzte gegen den Einwand der Linken als ersten T a g e s ordnungspunkt die zweite Lesung des Ausgleichsprovisoriums u n d erst an zweiter u n d dritter Stelle die ersten Lesungen zweier neuer Ministeranklage-Anträge gegen Badeni fest. Bei der namentlichen A b s t i m m u n g wurde mit 132 gegen nur 79 S t i m m e n diese Tagesordnung genehmigt. N u n m u ß t e n Obstruktion u n d Graf Badeni sich z u m Äußersten entschließen. D i e Sitzung v o m 24. N o v e m b e r kündete die Katastrophe an. Schon z u m Protokoll der vorangegangenen Sitzung stellte der deutschböhmische Abgeordnete Gustav Gross Berichtigungsanträge, die erst nach vier namentlichen Abstimmungen abgelehnt waren. Bei der anschließenden Verlesung der Petitionen stellte der tschechische Advokat Emanuel D y k den Antrag, von den 56 eingelaufenen, völlig gleichlautenden Petitionen nur eine zu verlesen, da hierdurch auch die übrigen erledigt seien. Dieser geschäftsordnungswidrige Antrag hätte bei G e n e h m i g u n g der Linken die Möglichkeit geraubt, mit r e i c h in e i n e n V e r f a s s u n g s s t a a t , sei er n u n wie i m m e r g e a r t e t , zu v e r w a n d e l n , u n d d a ß n u r in d e r z w e c k d i e n l i c h e n E n t w i c k lung und V e r w e n d u n g der S t a a t s v e r f a s s u n g seine Z u k u n f t l i e g e n k ö n n e . " Der Liberalismus aber habe verstanden, die Machtmittel, die er besaß, zu verwenden: die Presse, den Parlamentarismus und die Beamtenschaft, die in Österreich nicht Behelfe der Staatspolitik, sondern Mittel der Parteipolitik seien. Dem Grafen Badeni aber sei, als er Ministerpräsident wurde, von der liberalen Presse von Anfang an die Frage aufgedrängt worden: Krieg oder Frieden mit dem Liberalismus. Dieser habe sehr richtig erkannt, „ d a ß i n d e r c h r i s t l i c h - s o z i a l e n B e w e g u n g e i n g u t T e i l d e r so l a n g e u n d e r f o l g r e i c h v e r d r ä n g t e n t r a d i t i o nellen Eigenart Österreichs nach G e l t u n g ringe, daß die e l e m e n t a r e K r a f t d i e s e r B e w e g u n g in i h r e m v o l k s t ü m l i c h e n österreichischen und d y n a s t i s c h e n G e i s t e u n d in i h r e m ebenso volkstümlichen c h r i s t l i c h e n C h a r a k t e r zu s u c h e n s e i . Und d a r ü b e r war und ist mit dem Liberalismus n i c h t zu reden. Denn ein Sieg dieser Eigenart wäre tatsächlich das Ende der liberalen Doctrin, und deshalb wurde an den Grafen Badeni so laut und so aufdringlich das Ultimatum gestellt: Krieg oder Frieden mit dem Liberalismus." Die Audienz Karl Luegers beim Kaiser in der Hofburg am 27. Oktober 1896 rage „wie ein bedeutungsvoller Markstein aus der Geschichte der jüngsten Vergangenheit empor", sie bezeichne „geradezu einen Wendepunkt in der Entwicklung unserer innerpolitischen Verhältnisse" und sie sei „die erste, mittelbare Ursache" der trostlosen politischen Lage geworden. Es gehe eigentlich gar nicht um die Sprachenverordnungen Badenis, sondern um die Entscheidung: Staatsverfassung oder Verfassungsstaat. Die innere „Kriegslage" aber sei eine so ernste und bedeutungsvolle, daß sie auch ernste und weitreichende Beschlüsse der Staatskunst erheische. Dem Wechsel der Zeit und dem Wandel der Parteiinteressen entrückt sei in Österreich nichts als die Krone. Ihr komme daher naturgemäß jene weitausblickende Initiative zu, die allein über alle Sonderinteressen hinweg dem politischen Leben Richtung und Ziel geben könne. Die Prärogative der Krone müsse bei einer Ausgestaltung jener Staatsverfassung, die Österreich brauche, um einig, stark und glücklich zu werden, nicht nur von jeder Schmälerung, sondern auch von jeder einschränkenden Deutung bewahrt werden. Groß, schier unlösbar seien die Aufgaben, welche eine Ausgestaltung der Staatsverfassung im Geiste der traditionellen Eigenart Österreichs in sich berge. Die Staatspolitik aber müsse in Österreich auf den Grundsäulen des dynastischen Gedankens, des christlichen Glaubens und eines konservativen Sinnes ruhen. (Sperrungen im Original.) — Zur „Reichswehr" vgl. K. P a u p i e , Pressegeschichte 1, S. 138.

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VIII. Der Sturz Badenis

den zahllosen Petitionen gegen die Sprachenverordnungen Obstruktion zu betreiben. Der Sturm, den er auslöste, ist unbeschreibbar, zumal Abrahamovicz unmotiviert erklärte, eine weitere Debatte über diesen Antrag nicht zulassen zu können. Das stenographische Protokoll versagt hier. Um so anschaulicher ist das Bild, das die Zeitungsberichte vermitteln. Abrahamovicz, dem Wolf zurief: „Schmeißt ihn herunter! Ein Lakai das Grafen Badeni! Er ist eine Schande für das Parlament", aber ebenso auch Kramär wurden, während sie bisher nur einem Hagel von Beschimpfungen ausgesetzt waren, nun auf der Präsidentenbühne tätlich bedrängt. Da Abgeordnete der Rechten sich schützend vor das Präsidium stellten, begann ein entwürdigender Faustkampf, bei dem Schönerer dem Präsidenten die Glocke entriß, um deren Besitz regelrecht gerauft wurde, bis der polnische Bauer Stanislaus Potoczek sie als Siegestrophäe wieder vor den Präsidenten stellte. Da die Keilerei in unmittelbarer Nähe des Präsidiums immer bedrohlichere Formen annahm, unterbrach Abrahamovicz, mit fahlem Antlitz und innerer Erregung, die Sitzung, um sich durch die Türe hinter dem Präsidentenstuhl aus dem Saale zu flüchten. Die Unterbrechung wurde kaum bemerkt, der Faustkampf ging weiter. Κ. H. Wolf, von den Abgeordneten der Rechten bedrängt und gestoßen, rief in maßloser Wut seinen Angreifern entgegen: „Nächstens komme ich mit einem Revolver!" In der linken Ecke des Saales umringten Tschechen den Abgeordneten Pfersche, der, obwohl Jurist und Prager Universitätsprofessor, sich hinreißen ließ, mit einem offenen Taschenmesser auf seine Umgebung loszugehen und zu drohen, jedem, der ihm nahekomme, den Bauch aufzuschlitzen. Erst der Ruf: „Kollega, bedenken Sie, wer und wo Sie sind!", ernüchterte ihn. Schönerer, der sich zur Ministerbank durchkämpfte, ergriff ein schweres Ministerfauteuil, um es in den Menschenknäuel vor der Tribüne zu schleudern, wurde aber vom steirischen Abgeordneten Franz Hagenhofer daran gehindert, der ihm den Polstersessel entriß, während Schönerer gleichzeitig von der Tribüne mit einem Glas Wasser Übergossen wurde. Auch als die Kämpfer ermatteten, dauerte der Lärm weiter an. Nach einer Unterbrechung von 25 Minuten nahm Abrahamovicz die Sitzung auf. Die Präsidentenbühne aber blieb weiterhin belagert. Sofort meldete sich Schönerer zu Wort, ohne daß Abrahamovicz darauf reagierte, der vielmehr die förmliche Erklärung abgab: „Aber Herr Schönerer, ich bekomme eine andere Glocke, nachdem der Herr Abgeordnete Schönerer den Mut gehabt hat, sich dieser Glocke zu bedienen." Während Abrahamovicz die Glocke zur Seite stellte, wurde ihm, unter ironischem Beifall der Linken, eine andere gereicht, die sofort Κ. H. Wolf ergriff, unter Heiterkeit der Linken fragend: „Haben Sie noch eine dritte?" Das Präsidium war völlig hilflos. Wolf aber rief, die Glocke in der Hand, in das Haus: „Mit solchen kindischen Witzen wagt ein Präsident das Parlament zu frozzeln. Das ist zu dumm!" Schon zehn Minuten nach Wiederaufnahme der Sitzung sah sich Abrahamovicz durch den Lärm, in dem jeder Ordnungsruf ungehört verhallte, durch die Schimpfworte und persönlichen Beleidigungen, mit denen er bedacht wurde, gezwungen, jene neuerlich zu unterbrechen. Nach kurzer Zeit erschien das Präsidium wieder, allerdings nur, um die Sitzung zu schließen. Vorher aber gab Abrahamovicz noch eine Erklärung ab, die ankündete, daß die Majorität nun bereit war, sich der führenden Obstruktionisten zu entledigen. „Angesichts der Gewalttaten, die sich in diesem Hause zugetragen haben, erachte ich es als meine Pflicht, die heutige Sitzung aufzuheben und wird die nächste Sitzung im schriftlichen Wege bekanntgegeben werden. Nachdem mehrere Abgeordnete sich bei mir gemeldet haben, mit dem Wunsche, mir Näheres über die heutigen Szenen anzugeben, ersuche ich diejenigen

Tätlichkeiten im Parlament — Die „Lex Falkenhayn"

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Herren, die mir die Abgeordneten namhaft machen können, welche sich der Gewalttaten schuldig gemacht haben, in meinem Bureau zu erscheinen."

Unmittelbar anschließend trat das Exekutivkomitee der Rechten zu einer Beratung zusammen, an der Badeni, Gleispach, Bilinski und Rittner teilnahmen. Sektionschef v. Ruber wurde beigezogen, um den Weg zu zeigen, wie gegen die exzedierenden Abgeordneten strafrechtlich vorgegangen werden könnte. Aber die Lage hatte sich so zugespitzt, daß es nun für alle weiteren Maßnahmen zu spät war. Badeni sah das nicht. So wurde beschlossen, am 25. November den Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung zu stellen und auf Grund der neuen Bestimmungen in der darauffolgenden Sitzung mit Hilfe der gewöhnlichen Polizei dreimal verwarnte Abgeordnete aus dem Saal entfernen zu lassen. Diese beiden Punkte wurden gegen die schwersten Widerstände innerhalb der Majorität durchgesetzt. Die Jungtschechen bestanden darauf, daß die Änderung der Geschäftsordnung „auch nicht die geringste Beschränkung der parlamentarischen Rechte der Abgeordneten enthalten dürfe", da sie fürchteten, es könnte diese auch einmal gegen sie selbst angewendet werden. Nur die rohe Gewalt im Hause sollte gebrochen werden, und zwar durch eine Parlamentswache, deren Einführung Badeni jedoch nicht wollte. Kramär bekennt, „daß man niemals einem Staatsstreich näher gestanden" war als damals. „Doch Graf Badeni hat sich dazu nicht entschlossen." Die Zustimmung zum Einschreiten der Polizei im Parlamente wurde von Abrahamovicz und Kramär als den beiden Präsidenten nur gegeben im Glauben, Badeni werde entschlossen sein, wie sich Kramär mehrmals ausdrückt, „usque ad finem zu gehen", worunter nichts anderes als eben ein Staatsstreich, ein Bruch mit der alten und Oktroyierung einer neuen Verfassung, die den autonomen Länderwünschen entsprochen, das böhmische Staatsrecht anerkannt und verwirklicht hätte, verstanden werden darf. Kramär nahm nachträglich alle Schuld für die Vorgänge am 25. und 26. November auf sich und bekannte, daß eben er, während Engel als Obmann des Tschechenklubs in den Beratungen der Rechten geradezu ängstlich jeden Gedanken an die Anwendung von Brachialmitteln zurückgewiesen habe, entschlossen war, „usque ad finem" zu gehen, weil es seine tiefe Überzeugung gewesen sei, daß nur auf diese Weise die Obstruktion gebrochen hätte werden können78). Die Sitzung am 25. November dauerte drei volle Stunden, sie nimmt aber im stenographischen Protokoll nur knapp etwas mehr als zwei Seiten ein. In ihr wurde vom oberösterreichischen Großgrundbesitzer Julius Graf Falkenhayn unter tosendem Lärm der vom Abgeordneten Stransky ausgearbeitete und von 62 Abgeordneten unterfertigte Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung, die so berüchtigte und berühmt gewordene „Lex Falkenhayn", eingebracht. „Die Szenen, welche sich gestern in diesem hohen Hause zutrugen, legen der Majorität dieses hohen Hauses die Pflicht auf, dafür zu sorgen, daß sich solche Schmach nicht wiederhole; dazu ist unbedingt notwendig, daß die Geschäftsordnung in diesem hohen Hause, welche zu einer Zeit verfaßt wurde, wo ganz andere Verhältnisse hier herrschten, als dies heute der Fall ist, geändert werde. Nachdem aber die Verfassung einer neuen Geschäftsordnung immerhin eine längere Zeit in Anspruch nehmen muß, so hat die Majorität auch dafür zu sorgen, daß sofort von jetzt ab dem Präsidium die Möglichkeit gegeben ist, seiner Obliegenheit, die Ordnung zu wahren, gerecht zu werden. Diesem Zwecke entspricht der Antrag, welchen ich zur Annahme empfehle. Der Antrag lautet: Das hohe Haus wolle beschließen, und zwar ohne Debatte: ") K. K r a m ä r , Böhmische Politik S. 27 ff. — Eine ausführliche Schilderung der Vorgänge nach dem 22. November 1897 in der Flugschrift „Der Sturz Badenis" S. 8—20.

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VIII. Der Sturz Badems

Bis zur Einführung einer neuen Geschäftsordnung treten folgende Bestimmungen sofort nach ihrer Annahme durch das Haus provisorisch in Kraft: A. Würde ein Abgeordneter trotz erhaltener zwei Ordnungsrufe fortfahren, in seiner Rede, in seinen Zurufen oder in seinem Benehmen den parlamentarischen Anstand oder die parlamentarische Sitte gröblich zu verletzen oder die Verhandlung durch Tumult oder sonstige Gewalttätigkeiten zu behindern, so steht dem Präsidenten das Recht zu, den Abgeordneten höchstens für drei Sitzungen, dem Hause aber steht das Recht zu, auf Antrag des Präsidenten den betreffenden Abgeordneten für die Dauer von höchstens 30 Tagen aus dem Hause auszuschließen. Im ersteren Falle steht dem Abgeordneten das Recht zu, an das Haus zu appellieren. Die betreffenden Beschlüsse werden ohne Debatte gefaßt. Sollte der Abgeordnete dieser Ausschließung nicht freiwillig Folge leisten, so ist der Präsident berechtigt, denselben durch die von der Regierung beizustellenden Exekutivorgane aus dem Hause entfernen zu lassen. Im Falle der Ausschließung eines Abgeordneten aus dem Hause durch den Präsidenten oder durch Beschluß des Hauses hört der Bezug des Taggeldes mit dem Tage, an welchem die Ausschließung erfolgt, auf und beginnt erst mit dem Tage wieder, an welchem der Abgeordnete nach Ablauf der Ausschließungsfrist sein Wiedereintreffen im Hause angezeigt hat. Während der Dauer der Ausschließung darf der Ausgeschlossene die Räume des Parlamentsgebäudes nicht betreten. B. Die Regierung wird aufgefordert, dem Präsidium des Hauses die zur Aufrechterhaltung der Ordnung notwendigen Exekutivorgane zur Verfügung zu stellen. C. Insoferne diese Bestimmungen nicht im Einklänge stehen mit den Bestimmungen der bestehenden Geschäftsordnung, werden letztere für die Dauer dieses Provisoriums aufgehoben." Kein Wort v o n der R e d e des Grafen Falkenhayn war zu vernehmen. D a es Abrahamovicz unmöglich war, das rasende Getöse, das Pfeifen u n d T r o m m e l n zu überschreien, beorderte er Stenographen zu seinem Sitz, denen er die A b s t i m mungsformel ins Ohr schrie. Ü b e r ein Zeichen des Vizepräsidenten Kramar erhob sich applaudierend die Rechte, worauf Abrahamovicz den Stenographen zurief, der Antrag sei angenommen. Erst aus d e m gedruckten stenographischen Protokoll erfuhren die Abgeordneten, daß Abrahamovicz nach Verlesung des Antrages Falkenhayn erklärt hatte: „Da ich den Antrag des Grafen Falkenhayn als eine Notwehr gegen die Vernichtung des Parlamentarismus betrachten muß, als eine Notwehr gegen die Revolution im Parlamente, nachdem ferner nach den gestrigen Vorkommnissen kaum anzunehmen ist, daß eine Debatte im Hause durchgeführt werden kann, so bringe ich diesen Antrag zur Abstimmung." D e r Antrag des Grafen Falkenhayn bezog sich zwar rechtlich auf jenen Antrag auf Abänderung der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses, den am 23. September 1897 Apollinar Ritter v o n Jaworski gestellt hatte 79 ), trotzdem ist v o m rechtlichen Standpunkt her ein „dreifaches Gebrechen" festgestellt worden 8 0 ). Widerrechtlich war ganz allgemein schon der Grundsatz, auf dem die „Lex Falkenhayn" basierte, daß nämlich d e m Präsidenten eines Parlaments außer den geschäftsordnungsmäßigen auch n o c h alle zweckentsprechenden Ordnungs- u n d Disziplinarmittel zur Verfügung stehen, da dieser Grundsatz „zu einer rechtlich approbierten Willkürherrschaft der Majorität" führen würde. Widerrechtlich war weiters „der Vollzug parlamentarischen Zwecken dienender Funktionen unter U m s t ä n d e n , unter denen sie ihren Zweck nicht zu erreichen vermögen". M i t anderen Worten: unter den gegebenen U m s t ä n d e n hatte weder Beratungs- n o c h Verhandlungsmöglichkeit bestanden, so daß auch kein Antrag zur Beratung u n d '·) Stenogr. Prot. XIII. Session, 3 der Beilagen. — Siehe oben S. 90, Anm. 48. 8 °) F. Τ e ζ η e r , Volksvertretung S. 524.

Die rechtlichen Gebrechen der „Lex Falkenhayn"

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A b s t i m m u n g gebracht w e r d e n konnte. „ E s lag n i c h t m e h r als eine S c h e i n b e r a t u n g u n d S c h e i n a b s t i m m u n g vor." Widerrechtlich war drittens, d a ß d u r c h die Ä n d e r u n g der a u t o n o m e n G e s c h ä f t s o r d n u n g z u g l e i c h auch das G e s c h ä f t s o r d n u n g s g e s e t z mitbetroffen w o r d e n war. D a s e n t s c h e i d e n d e G e b r e c h e n der „ L e x Falkenhayn" aber lag darin, daß der Antrag des G r a f e n Falkenhayn trotz der ausdrücklichen Vorschrift des § 80 der Geschäftsordnung 8 1 ) als ein „dringlicher" g e stellt u n d v o m Präsidenten als ein solcher behandelt w o r d e n war. H i e r i n bestand die unleugbare u n d offensichtliche rechtliche V e r l e t z u n g der b e s t e h e n d e n B e stimmungen82). D e m V e r s u c h , m i t H i l f e der „ L e x Falkenhayn" die Obstruktion z u ist nachträglich der V o r w u r f g e m a c h t w o r d e n , er habe „ d e n Charakter w ö h n l i c h p l u m p e n Dilettantismus" an sich getragen 8 3 ). D a s G e s e t z n u r a m 25., 26. u n d 27. N o v e m b e r 1897 G e l t u n g u n d war d u r c h die der X I I I . S e s s i o n obsolet geworden 8 4 ).

bezwingen, eines u n g e selbst hatte Schließung

81

) § 80 der am 2. März 1875 beschlossenen Geschäftsordnung für das Abgeordnetenhaus des Reichsrates: „Die Änderung oder Aufhebung der Bestimmungen dieser Geschäftsordnung hängt ausschließlich von dem Hause ab, insoweit sie nicht aus den Gesetzen aufgenommen sind. Anträge auf Abänderung der Geschäftsordnung müssen selbständig eingebracht und nach besonderer Verhandlung der Beschlußfassung unterzogen werden. Bei solchen Anträgen ist die im § 42 vorgesehene Abkürzung der Geschäftsbehandlung unzulässig." In dem von Karl Giskra unterschriebenen Motivenbericht des GeschäftsordnungsAusschusses vom 27. März 1874 heißt es zu dieser Schlußbestimmung der Geschäftsordnung ausdrücklich: „Der Ausschuß beantragt, für Anträge wegen Abänderung oder Aufhebung einzelner Bestimmungen der Geschäftsordnung das . . . vorgesehene Abkürzungsverfahren nicht zuzulassen, weil im entgegengesetzten Falle der Bestand aller Bestimmungen der Geschäftsordnung, welche doch die dauernde Grundlage der parlamentarischen Geschäftsbehandlung bilden sollen, durch einen einzigen Dringlichkeitsantrag nach dem augenblicklichen Bedarfe des Hauses sofort wieder aufgehoben werden könnte." (Stenogr. Prot. VIII. Session, 147 der Beilagen, und S. 1322,1874.— Vgl. dazu auch K. u. Ο. Ν e i s s e r, Geschäftsordnung II S. 409—414. — Text der Geschäftsordnung bei E. B e r n a t z i k , Verfassungsgesetze 2 S. 818—839; K. u. Ο. Ν e i s s e r , Geschäftsordnung II, Beilage S. 39 bis 95 mit den Änderungen vom 16. Juli 1908.) S2 ) Von reichsdeutschen Juristen wurde vielfach eine „Notwehr der Parlamente auch ohne geschäftsordnungsmäßige Ermächtigung" konstruiert. So behauptete K a r l B i n d i n g (Notwehr der Parlamente S. 29), es könne „darüber gar kein Zweifel sein, d a ß d a s N o t w e h r r e c h t des Hauses, das mit s e i n e r E x i s t e n z ohne w e i t e r e s u n d o h n e j e d e s g e s c h r i e b e n e W o r t g e g e b e n ist, in v o l l e m Umfange neben den Satzungen d e r G e s c h ä f t s o r d n u n g bes t e h e n b l e i b t ! " (Sperrung im Original.) Friedrich Tezner wies mit Recht darauf hin, daß nach diesem, allerdings nicht gerechtfertigten Standpunkt „die im höchsten Lärm vom Präsidenten des österreichischen Abgeordnetenhauses den Stenographen in die Feder diktierte, von der Majorität auf ein verabredetes Zeichen ohne Vernehmung des Inhaltes angenommene, auf gewaltsame Entfernung der Obstruktion gerichtete Lex Falkenhayn vom 25. November 1897 e i n g a n z ü b e r f l ü s s i g e r S c h r i t t und die exekutive Entfernung einzelner deutscher Abgeordneter, auch abgesehen von diesem Beschluß, v o l l k o m m e n g e r e c h t f e r t i g t " war. (F. T e z n e r , Karl Binding. Notwehr der Parlamente S. 260.) 8S ) F. T e z n e r , Volksvertretung S. 525. 84

) Siehe unten S. 292. — Über Geschichte und Wesen der Obstruktion s. I. Band S. 264 bis 267. — Vgl. ergänzend dazu Ο. Κ ο 11 e r , Obstruktion. — G. J e 11 i η e k, Obstruktion. — Sehr ähnlich waren dann 1904 die Vorgänge im ungarischen Abgeordnetenhaus. Gra

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VIII. Der Sturz Badenis

Jede weitere Verhandlung war nach A n n a h m e der „Lex Falkenhayn" u n m ö g lich. D i e Minister wurden bedroht und mußten eiligst den Saal verlassen, u m die Präsidentenbühne entstand ein wilder Kampf. T r o t z d e m glaubte Badeni, mit der A n n a h m e der „Lex Falkenhayn" alles gewonnen zu haben. So ließ er am M o r g e n des 26. N o v e m b e r den Kanzleidirektor des Herrenhauses, August R. v. Jauner, rufen, u m i h m die Frage vorzulegen, „ob, w e n n das Abgeordnetenhaus am nächsten T a g das Ausgleichsprovisorium votiert haben würde, das Herrenhaus in der Lage wäre, dasselbe sofort in der folgenden W o c h e ebenfalls zu erledigen". Joseph Maria Baernreither berichtet, Jauner, der geglaubt, nicht recht zu hören, habe Zweifel laut werden lassen, ob das Abgeordnetenhaus diese Arbeit in vierundzwanzig Stunden leisten werde. „Badeni aber war brüsk u n d ganz siegesgewiß. Er inspizierte die Polizeimannschaft, die auf den Korridoren stand, u n d war der M e i n u n g , daß, w e n n nur die Hauptschreier aus d e m Hause entfernt sein würden, das Ausgleichsprovisorium doch übers K n i e gebrochen werden würde." 8 5 ) A m 26. N o v e m b e r allerdings setzten sich i m Parlament die wüsten Szenen fort. M i t d e m Bruch der Geschäftsordnung hatte Badeni die Sozialdemokraten zu seinen erbittertsten Feinden gemacht, die n u n die Führung des Kampfes an sich rissen 86 ), u m das christlichsoziale W i e n auf diesem W e g e zu erobern. N a c h d e m stenographischen Protokoll hatten die Sozialdemokraten sich am 26. N o v e m b e r korporativ vor der Ministerbank versammelt, u m hier bei Beginn der Sitzung das PräStefan Tisza, seit November 1903 ungarischer Ministerpräsident, erblickte, ohne die Wurzeln des Übels tiefer zu fassen, im „Liberalismus" und der „Unzulänglichkeit der Geschäftsordnung" die Ursache der ungesunden parlamentarischen Verhältnisse. Er ließ daher dem Hause einen Antrag auf Abänderung der Geschäftsordnung unterbreiten, am 18. November 1904, in einer stürmischen Abendsitzung des Abgeordnetenhauses, diese neue Geschäftsordnung, die sogenannte Lex Däniel, durch den Präsidenten als angenommenen Beschluß des Abgeordnetenhauses enunzieren und dann den Reichstag durch königliches Reskript vertagen. Als am 13. Dezember 1904 das Abgeordnetenhaus wieder zusammentrat, schlug die verbündete Opposition im Saale des ungarischen Abgeordnetenhauses alles kurz und klein. Da auf diese Weise die Möglichkeit parlamentarischer Verhandlungen ausgeschlossen war, ließ Tisza den Reichstag auflösen. Bei den im Jänner 1905 erfolgten Wahlen erlitt die seit 30 Jahren herrschende liberale Mehrheitspartei ihre große Niederlage. (Vgl. O. K o l l e r , Obstruktion S. 81—83. — H. M a r c z a l i , Ungarisches Verfassungsrecht S. 103—112.) 85

) J. M. B a e r n r e i t h e r , Verfall des Habsburgerreiches S. 29. — Kurz vor dieser Stelle schreibt Baernreither von Badeni: „Dem Zusammenbruch ging, wie immer, die Verblendung voraus. Die innerste, g e w a l t t ä t i g e N a t u r B a d e n i s kam zum Vorschein. Aber auch seine naive Urteilslosigkeit. Wie ein angeschossener Bär tappte er herum und sah den Abgrund nicht, dem er immer näher kam." (Ebenda S. 28. Sperrung im Original.) 86 ) So schrieb die „Arbeiter-Zeitung": „Heute hat die Sozialdemokratie Wien erobert." — Die Sozialdemokraten gehörten schon während Badenis Statthalterschaft in Galizien zu dessen Gegnern (vgl. J. D a s z y n s k i , Pami^tniki I, S. 98). Ihr Gegensatz zu Badeni steigerte sich nach dessen Wahlreform, die sie als völlig unzureichend bezeichneten. Die Wiener politische, humoristische Wochenschrift „Der Floh" griff Badenis Wahlreform wiederholt scharf an (beispielsweise 1896 Nr. 5 Titelseite, Nr. 8 Seite 4). „Der Floh" änderte 1897 seine Linie, die innerpolitischen Witze wurden seltener, die Haltung regierungsfreundlich. Hauptangriffsziel war in beiden Jahren Karl Lueger. — Zum rechtlichen Inhalt der Wahlreform Badenis vgl. K. Th. v. I n a m a - S t e r n e g g , Reform der Reichsratswahlen. — Außerdem hatte Badeni durch Erlaß des Ministeriums des Innern vom 13. März 1897 (Z. 1690) sämtliche sozialdemokratischen „Fachorganisationen" der Eisenbahnbediensteten sowie den Verband der Beamten, Hilfsbeamten und Unterbeamten aufgelöst, da die Tendenz dieser Vereine „mit dem Staatsinteresse unvereinbar" wäre.

Polizei im Parlament — Ausschließung von Abgeordneten

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sidium mit Lärm und stürmischen Pfui-Rufen zu empfangen. Kaum hatte Abrahamovicz die Sitzung als eröffnet erklärt, sprangen der steirische Sozialistenführer Johann Resel und der Olmützer Ernst Berner über die Ministerbank und die Referentenbühne und stürmten gegen die Tribüne des Präsidiums, um Abrahamovicz und Kramär mit Gewalt von ihren Plätzen zu verdrängen. Da den Schutz des Präsidiums Abgeordnete der Rechten übernahmen, entstand ein wilder Tumult. Und nun griff Badeni zur letzten Verzweiflungstat. Abrahamovicz unterbrach die Sitzung, und während die sozialdemokratischen Abgeordneten die auf den Tischen des Präsidiums liegenden Mappen und Schriftstücke ergriffen und in den Saal schleuderten, rief Badeni selbst, nach kurzem innerem Zweifel, die schon bereitgestellte Sicherheitswache herbei, die zunächst die Tribüne räumte und sodann links und rechts vor der Estrade sowie vor der Ministerbank Aufstellung nahm. Als nach mehr als einer Stunde Abrahamovicz den Versuch machte, die Verhandlungen weiterzuführen, wurde er mit stürmischem Tumult, mit Rufen „Hinaus! Hinaus die Polizei!" und mit Pultschlagen empfangen. DieVersicherung, er werde alsogleich die 60 Mann starke Wache entfernen, wenn die Abgeordneten ihr Wort geben würden, daß sich alles ruhig vollziehen werde, ging im Tumult des Pultschlagens unter. Um ein Exempel zu statuieren, rief Abrahamovicz den ununterbrochen pfeifenden Κ. H. Wolf zur Ordnung. Nach der zweiten Verwarnung schloß Abrahamovicz auf Grund der „Lex Falkenhayn" den Heroen der studentischen Jugend für drei Sitzungen des Hauses aus und ließ ihn, da er die Aufforderung, die Sitzung zu verlassen, nicht befolgte, von Polizeibeamten aus dem Saal führen. Insgesamt 13 Abgeordnete wurden ausgeschlossen und in gleicher Weise aus dem Saal geschleift, ein Sozialdemokrat, der sich zur Wehr setzte, mit dem Kopf nach unten. Gustav Kolmer hat als Augenzeuge diesen Hexensabbath, diese widerlichen und entwürdigenden Vorgänge geschildert87). Die ganze Kopflosigkeit des von Badeni selbst verfügten Einzuges der Polizei in den Saal zeigte sich, als Abrahamovicz gegen 13 Uhr dem Druck der Abzugrufe nachgab und anordnete, daß die Polizei den Saal zu verlassen habe. „Meine Person stelle ich Ihnen zur Verfügung", erklärte er gegenüber den Obstruktionisten, die ihm „alter Verbrecher", „polnischer Pferdehändler", „Zuchthäusler", „armenischer Ziegenschinder", „feiger Kerl", „Schänder", „Scherge" und „Staatsverbrecher" zuriefen. Als Abrahamovicz auch Schönerer ausschloß, verlangte Dr. Victor Wilhelm Russ vom Präsidenten: „Aber Sie müssen oben sitzen bleiben und nicht weggehen und der Polizei das Haus überlassen. Sie müssen das mitansehen." Abrahamovicz zog allerdings vor, die Sitzung zur gewaltsamen Entfernung Schönerers zu unterbrechen und dann den Vorsitz Kramär zu überlassen, um mit Badeni und den Klubobmännern der Rechten die Situation zu beraten. Kramär, als „Russenreisender", „russischer Polizeimeister"^ ") G. K o l m e r , Parlament u. Verfassung VI, S. 321—325. — „Der Sturz Badenis" S. 13 bis 20. Diese Flugschrift des „Eisenbahner" hebt vor allem den Anteil der Sozialdemokraten beim Kampf gegen die „Lex Falkenhayn" hervor. Als der Sozialdemokrat Ernst Berner den Saal verließ, rief er noch „Hoch die internationale Sozialdemokratie". „Das Messer des Abgeordneten Pfersche" wird in dieser Flugschrift (S. 8—10) verniedlicht. Pfersche sei gewürgt worden und einer Ohnmacht nahe gewesen. Auch hier zeigt sich die sozialdemokratisch-deutschnationale „Waffenbrüderschaft" sehr stark. — Unter dem Eindruck der Vorgangsweise der Sozialdemokraten hatte Dr. Anton Pergelt (Deutsche Fortschrittspartei) dem Vizepräsidenten Kramär, der den Vorsitz führte, zugerufen: „Schluß der Sitzung! Schließen Sie doch die Sitzung!", worauf Kramär antwortete: „Das kann ich nicht." (Stenogr. Prot. XIII. Session S. 1821.)

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VIII. Der Sturz Badenis

„verkappter Russe", „Moskophile", „Badeni-Lakai", „Badeni-Poschalik" empfangen und beschimpft, versuchte die Ruhe einigermaßen wiederherzustellen. Um 14 Uhr waren von den insgesamt 14 sozialdemokratischen Abgeordneten bereits elf ausgeschlossen. Die Christlichsozialen verhielten sich ruhig, und die Linke war unter dem Eindrucke der Ereignisse einer Fortsetzung der Verhandlungen nicht abgeneigt. Aber gerade in dem Momente, in dem die gewaltsamen Ausschließungen zu wirken begannen, Schloß Kramär plötzlich die Sitzung. Im Ministerrat vom 27. November bezeichneten Rittner und Guttenberg dies als einen schweren Fehler. Eine Erklärung dazu findet sich in den Erinnerungen Bilinskis. Nach dessen Bericht hatte Abrahamovicz, der in den Couloirs verhandelte, den Kanzleidirektor des Abgeordnetenhauses zu Kramär gesandt, um ihn zu weiteren Ausschließungen aufzufordern. Jener hätte nun dem Vorsitzenden das Wort „ausschließen" zugeraunt, Kramär jedoch in dem beispiellosen Tumult „schließen" verstanden und eine veränderte Situation vermutet, so daß er, anstatt die Verhandlungen bis zur Verlesung des Ausgleichsprovisoriums zu führen, Schluß der Sitzung verkündete88). Der Fehler, den Kramär begangen hatte, war vom Standpunkte Badenis unverzeihlich. Trotzdem hoffte Badeni, am 27. November das Ausgleichsprovisorium genauso wie die „Lex Falkenhayn" unter Bruch der Geschäftsordnung in einfachem Wege durchsetzen zu können. Aber noch am 26. November abends schlossen sich die Deutsche Volkspartei, die Christlichsozialen und die Deutsche Fortschrittspartei zusammen, um eine neue Ministeranklage wegen der Verwendung der Polizei im Parlamente einzubringen. Am nächsten Morgen wurde zusätzlich ein einmütiges Vorgehen in der Sitzung beschlossen. Die Lücke, die durch die Ausschließung von Schönerer, Κ. H. Wolf und den elf Sozialdemokraten in die Obstruktion gerissen worden war, wurde nun von hundert anderen, unter diesen geschlossen die Christlichsozialen, ausgefüllt, die mit Pfeifen, Kindertrompeten, Trommeln und anderen Lärminstrumenten bewaffnet, erschienen waren, um die erste Katzenmusik im österreichischen Parlament zu inszenieren. Die Sitzung vom 27. November gehört zu den traurigsten in der Geschichte der alten Monarchie. Kühl und sachlich hat das stenographische Protokoll die ungeheuren Vorgänge verzeichnet. Präsident (besteigt, von den Abgeordneten der Linken mit anhaltenden stürmischen Pfui-Rufen und anderen im Lärm unverständlich bleibenden Zwischenrufen, mit Johlen und Pfeifen empfangen, die Estrade): Ich eröffne die Sitzung und konstatiere die Beschlußfähigkeit des hohen Hauses. (Stürmische 8S

) J. ν. Τ w a r d ο w s k i, Bilinskis Memoiren S. 169. — Den Eindruck, den diese Sitzung auf alle Parlamentarier machte, schildert ein Brief, den Victor W. Russ am 28. November an seinen Stiefsohn Dr. Hans Löwenfeld-Russ sandte. (Ρ. Μ ο 1 i s c h, Briefe S. 357): „. . . Der vorgestrige Tag war der tieftraurigste meines politischen Lebens. Ich bin ergraut in dem mich immer aufrecht erhaltenden Bewußtsein, daß ich einer Körperschaft angehöre, deren Unverletzlichkeit und privilegierte Stellung Vieles ersetzt. Nun mußte ich mit ansehen, wie nicht bloß eine lumpige Geschäftsordnung, sondern die Gesetze als: das zum Schutze der persönlichen Freiheit, das Reichsratswahlgesetz und andere mehr durch einen erschlichenen, selbst formal rechtswidrigen Beschluß des Abgeordnetenhauses einfach hinweggefegt werden, Männer von streng katholischer Gesinnung mit Eidbrüchen spielen, die obersten Spitzen der Regierung diesem verbrecherischen Treiben ihre Organe zur Verfügung stellen und in den herrlichen Saal der Unverletzlichen die Straßenwache unter dem frenetischen Beifall der Rechten einrückt . . . Allein die Sühne folgt schnell. Wien ist aufgestanden — endlich! Wien hat die herrschende Partei zu uns gezwungen. Die Dinge reifen mit Schnelligkeit ihrem Ende entgegen . . . Ohne volle Sühne werden wir nicht eines Haares Breite zurückweichen . . . "

27. November 1897: Tumultszenen im Abgeordnetenhaus

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Unterbrechung links und Rufe: Verbrecher, hinaus! — Abgeordneter Glöckner: Weichen Sie nicht, dann haben Sie es mit Hundert zu thun!) Das Protokoll über die Sitzung vom 26. d. M . liegt im Bureau zur Einsicht auf. (Rufe links: Alles ist ungesetzlich! — Tosender Lärm und Zwischenrufe links.) Die Herren Abgeordneten Wenger und Ritter v. Proskowetz sind unwohl gemeldet. (Tosender Lärm, Pfeifen und Johlen links.) Die Herren Abgeordneten Freiherr v. Ehrenfels und Dr. Weiskirchner haben ihre Stellen als Schriftführer niedergelegt. (Unausgesetzte lärmende Unterbrechungen, Poltern, Johlen, Pfeifen und Blasen links.) Ich werde die hiedurch nothwendig gewordenen Ersatzwahlen, gleichwie die übrigen nothwendig gewordenen Ersatzwahlen in das Bureau auf die Tagesordnung einer der nächsten Sitzungen setzen. (Anhaltendes Getöse und Lärmen links.) Abgeordneter Schneider: Der Jude Blumenstock muß hinaus! Er muß entlassen werden! Präsident: Zu einer Erklärung ertheile ich dem Herrn Abgeordneten Grafen Stürgkh das Wort. (Stürmische Unterbrechungen und Widerspruch links. — Dazwischen Pfeifen, Trommeln, Trompeten u.s.w.) Abgeordneter Schneider: Der Jude Blumenstock muß hinaus! Abgeordneter Dr. Lecher (wiederholt gegen den Präsidenten): Schuft! Schuft! Schuft! Abgeordneter Dr. Jarosiewicz (gegen den Präsidenten): Sie sind ja unfähig! Abgeordneter Dr. Gross: Hochverräther! Abgeordneter Glöckner: Holen Sie Polizei! Abgeordneter Dr. Jarosiewicz: Das Blut der galizischen Bauern klebt noch an Ihnen! Abgeordneter Bielohlawek: Blumenstock hinaus! Abgeordneter Kienman: Gewiß! Der Halban hat den Anschlag dazu gegeben (Ministerpräsident Graf Badeni erscheint an den Stufen des Saales). Abgeordneter Dr. Jarosiewicz (gegen den Ministerpräsidenten): Der hat auch gegen die ruthenischen Bauern kommandiert. Abgeordneter Kiesewetter: Politik der Polaken! Das Haus ist entheiligt worden durch die Polizei! (Anhaltendes Pfeifen, Johlen, Trompeten ohne Unterbrechung. — Mehrere Abgeordnete der Linken schlagen auf die Pulte. — Ohrenbetäubender Tumult.) Abgeordneter Dr. Pommer (zum Präsidenten): Sie sind unwürdig, hier im Hause zu sein, hinaus mit Ihnen! Sie Mörder des Parlamentarismus! Hinaus mit Ihnen! Abgeordneter Glöckner: Züchter der Revolution! Abgeordneter Dr. Schücker: Nehmen Sie den Beschluß zurück, sonst wird nicht verhandelt! (Präsident gibt das Glockenzeichen. — Neuerlicher furchtbarer Lärm, Tumult, Pfeifen, Trompeten und Pultschlagen links. — Abgeordneter Bielohlawek: Hinaus mit dem Juden Blumenstock! Der ist schuld an allem! — Abgeordneter Dr. Gross: Hochverräther seid Ihr alle da! — Abgeordneter Dr. Lecher: Aufhängen würde man Euch in einem anderen Lande! Schamlosestes Arschgesicht! Elender Schurke! Elender Schuft! Das Blut über Euere Köpfe! Gesetzbrecher seid Ihr! Staatsverbrecher! Laßt die Polizei kommen! Ohne Polizei werdet Ihr heute nicht vorwärts kommen! — Abgeordneter Dr. Gross: Herunter mit dem Präsidium! — Abgeordneter Girstmayr: Sie schänden diesen Stuhl! — Abgeordneter Dr. Schücker: Wir verlangen, daß der Beschluß zurückgenommen werde! Das ist eine Infamie! Eine Niederträchtigkeit, einen solchen Beschluß zu fassen! Das muß zurückgenommen werden! — Abgeordneter Heeger: Sie sind der größte bewußte Lügner! Sie haben behauptet, der Antrag ist einstimmig angenommen. Das ist eine Lüge! Das haben Sie als Präsident des Hauses enuncirt! Sie haben es nicht nur mit dem Proletariat zu thun! Die friedliche Bürgerschaft habt Ihr vergiftet! — Abgeordneter Dr. Gross: Hochverräter seid Ihr! — Abgeordneter Glöckner: Sie züchten die Revolution! — Abgeordneter Kienman: Auf diese Weise können Sie polnische Wahlen machen, nicht das Parlament! — Abgeordneter Dr. Pfersche: Alter armenischer Hund! Pfui! — Abgeordneter Dr. Russ: Thun Sie Ihre ungesetzliche Schuldigkeit! Gestern haben Sie dem Stenographen diktiert: Ich rufe den zur Ordnung. Der hat gar nichts gehört davon! Thun Sie es heute auch! Vorwärts! Sitzen Sie nicht mit der Maske der Ruhe da! — Abgeordneter Glöckner: Pauschaliren Sie einfach! — Abgeordneter Schneider: Nur der Gauner Blumenstock macht das! — Abgeordneter Rohling: Nehmen Sie zurück den verbrecherischen Beschluß, das ist alles verbrecherische Gewalt! — Abgeordneter Dr. Russ: Rufen Sie doch zur

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VIII. Der Sturz Badenis

Ordnung! Abgeordneter Glöckner: Heute habt Ihr es mit Hundert zu ihun, nicht mit Dreizehn. — Abgeordneter Kienman: Der Beschluß ist null und nichtig! Sie haben gelogen, Herr Präsident! — Abgeordneter Kiesewetter: Das ist immer so gewesen! Da hat man von oben herunter einen Appell zur Revolution ergehen lassen! Ein parlamentarischer Gewaltstreich, ein Verfassungsbruch ist das! — Abgeordneter Dr. Schücker: Nehmen Sie den Beschluß zurück! Sonst wird nicht verhandelt! Es gibt eine Masse von Abgeordneten, die sagen, sie haben gar nicht dafür gestimmt! — Abgeordneter Dobernig: Sogar die Polen lehnen Sie ab!) Präsident (gibt das Glockenzeichen. — Tosendes Lärmen und Poltern, Pfeifen und Johlen und stürmische Rufe links: Hinaus! Hinaus!): Ich unterbreche die Sitzung auf 20 Minuten.

Damit endet die XIII. Session. In der von Abrahamovicz verfügten Zwischenpause begaben sich die Klubobmänner der Linken zu Badeni und verlangten von ihm, einen geeigneten Schritt einzuleiten, um im Parlamente wieder geordnete Verhältnisse herbeizuführen. Lueger fügte, da längst die Erregung auf die Straße übergegriffen hatte, noch hinzu, er könne als Bürgermeister für die Ruhe in Wien nicht mehr einstehen. Badeni versprach, vor drei Tagen keine Plenarsitzung einzuberufen, wenn der Schluß der Sitzung in Ruhe verkündet werden könnte, was auch tatsächlich dann möglich war. Da auch Gautsch89) unabhängig davon den Schluß der Sitzung begehrte, sah sich Badeni veranlaßt, in diesem Sinne beim Präsidium des Abgeordnetenhauses zu intervenieren, das sich seinem Willen fügte. Während in den Straßen von Wien und Graz sich an diesem 27. November 1897 die Massen zusammenrotteten und sich die ersten Sturmzeichen einer Revolution ankündeten, trat der Ministerrat in Wien zusammen. Badeni mußte bekennen, daß es unmöglich wäre, die parlamentarischen Verhandlungen weiterzuführen, da auch die bisher ruhigeren und gemäßigteren Elemente, wie die Christlichsozialen, sich an den Skandalen beteiligt hatten. Er rügte, daß zuvor nicht ein Massenausschluß von Abgeordneten erfolgte, mußte jedoch zugeben, daß dadurch die allgemeine Aufregungnumoch gesteigertworden wäre und eineEnbloc-Annahme des Ausgleichsprovisoriums zu forcieren geradezu eine Gesetzesverletzung involvieren würde. Das alles sei eben nicht an einem Tag oder in einer Sitzung durchführbar gewesen. Es sei ihm nichts anderes Übriggeblieben, als auf das Präsidium wegen Schließung der Sitzung einzuwirken. Dazu meinte Gautsch, daß nach dieser Intervention der Regierung kein anderer Zustand wie am Tage zuvor ohne diese Intervention bestünde, während Bilinski den Unterschied darin sah, daß am Tage zuvor wenigstens einzelne Skandalmacher ausgeschlossen worden seien, während heute eigentlich — wenn man von der Beseitigung des Abgeordneten Wolf absehe — gar nichts geschehen sei. Eine Diskussion darüber hielt Graf Welsersheimb für unzeitgemäß, da er die Anzeichen einer Revolution erkannte und deshalb die Entscheidung der Krone verlangte. Doch Graf Ledebur ließ von der Erörterung der Parlamentslage nicht ab, da er nicht verstand, warum man die Polizei, nachdem dieser Weg schon einmal beschritten war, wenn schon nicht, um Ausschließungen vorzunehmen, so doch um dem Präsidium den notwendigen Schutz zu gewähren, nun nicht mehr habe in den Saal einrücken lassen. Bilinski gab ihm recht und sprach von einem Echec, der seiner Ansicht nach darin lag, daß vor zwei Tagen die Majorität von der Regierung zu Beschlüssen induziert worden sei, auf Grund welcher man am 26. November vorging, um diesen Modus procedendi am 27. November wieder fallenzulassen. Badeni wehrte sich dagegen. Es könnte dermalen wohl weder von einem Echec noch von einem Erfolg gesprochen werden. Doch war er ratlos, was dem Kaiser M

) Ministerrats-Protokoll vom 27. November 1897.

Das Ende der XIII. Session — Der Ministerrat vom 27. November 1897

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vorzuschlagen sei und überließ diesmal zuerst seinen Kollegen das Wort, von denen Gautsch erklärte, er sei weder für eine Auflösung des Hauses noch für eine Verfassungsänderung. Jene hielt er als verhängnisvoll, da eine neuerliche Reichsratswahl die Fortsetzung jener Bewegung gebildet hätte, die Welsersheimb als Revolution bezeichnete, diese hielt er geradezu für ein Unglück, durch das man vom Regen in die Traufe käme. Geändert müßten Regierung und Parlamentspräsidium werden, dieses, da bei aller Anerkennung seiner fast übermenschlichen Leistungen eine gedeihliche Wirksamkeit ihm nicht mehr prognostiziert werden könnte. Gautsch war dafür, daß vor allem reiner Tisch gemacht werde, und zwar auch hinsichtlich der Ursache aller Beunruhigung, der Sprachenfrage. Ledebur widersprach. Der Regierung seien in der Sprachenfrage die Hände gebunden — mit Rücksicht auf die Wahrung der Autorität. So verlangte Baron Glanz als letztes „Auskunftsmittel" die Anwendung des § 14, den aber wiederum Bilinski nur für kurze Zeit anwendbar hielt, da der Ausgleich und das Budget auf diesem Wege mit Rücksicht auf Ungarn nicht beschlossen werden könnten. Überdies hielt er nicht den richtigen Augenblick für gekommen, angesichts der Straßenexzesse, angesichts „der empörendsten Szenen im Parlament" und der als Revolution bezeichneten Bewegung dem Kaiser die Demission anzubieten. Die Regierung hätte dazu jetzt gar kein Recht mehr. Eine Änderung des Präsidiums und der Sprachenverordnungen hielt er ebenso für ganz verfehlte Maßregeln. Die Tschechen hätten in ihren Zeitungen Konzessionen in der Sprachenfrage angeboten, die Deutschen aber hätten das tschechische Entgegenkommen mit unerhörten Gewaltakten und Skandalen im Parlamente beantwortet, weshalb nicht zu ihren Gunsten interveniert werden könnte. Am ruhigsten und gelassensten war in diesem Ministerrat Graf Gleispach, der nicht so unmittelbar unter den Ereignissen der vorangegangenen Parlamentssitzung stand. Er verstand die Aufregung seiner Kollegen nicht. Im Ministerrat vom 8. September hätte die Regierung, erklärte er, sogar nicht einmal die Konstituierung des Hauses, geschweige denn die Vornahme der Delegationswahlen für möglich gehalten. Die Voraussicht, daß die Bewilligung des Ausgleichsprovisoriums nicht zu erzielen sein werde, habe sich erfüllt, daher müßten die damaligen Beschlüsse jetzt ausgeführt werden. Das Parlament müßte vertagt, mit dem § 14 regiert werden. Eine Demission sei abzulehnen, „als ein grobes Unrecht der Krone gegenüber", deren Autorität nach Gleispachs Ansicht „das einzige Feste in Österreich" noch geblieben war. Rittner und Guttenberg pflichteten Gleispach sofort bei. Badeni selbst gab keine eigene Meinung ab und resümierte lediglich, daß die Demission nicht angeboten werden könne, daß der Reichsrat vorerst sofort zu vertagen und nach Beendigung der Delegationssitzungen zu schließen und der § 14 anzuwenden wäre. Über Antrag von Gautsch sollte an der Spitze der auf Grund des § 14 zu treffenden Verfügungen die Bewilligung der Notstandskredite stehen, als eine Maßnahme, die ohne Zweifel einen guten Eindruck machen werde. Auf den von der parlamentarischen Kommission am gleichen Tage gefaßten Beschluß, eine von allen Mitgliedern der Majorität zu unterfertigende Erklärung des Inhalts abzugeben, daß sie bestrebt gewesen sei, das Ausgleichsprovisorium auf parlamentarischem Wege zu beschließen und daß sie der Vorlage zustimme, sollte sich die Regierung jeder Ingerenz enthalten, da erwartet werden müßte, daß dann die Opposition erklären werde, das Ausgleichsprovisorium jeder anderen als der gegenwärtigen Regierung zu bewilligen. Badeni erklärte weiters, daß er am Abend noch, wenn er dem Kaiser berichte, diesen bitten werde, bei allen Kombinationen pro futuro von seiner Person abzusehen. Er habe sich mit den Vorgängen der letzten Monate zu sehr

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VIII. Der Sturz Badems

identifiziert, als daß er einen Ausweg und eine Beruhigung „unter seiner Firma" für möglich halte. An diesem Tag schrieb noch Kaizl aus Prag an Badeni90), es sei nun so weit gekommen, daß niemand den weiteren unveränderten Fortbestand der verfassungsmäßigen und parlamentarischen Zustände Österreichs für möglich halten werde. „Jetzt ist der Augenblick gekommen", heißt es in diesem Brief, „wo Sie tun können, was Sie schon im Sommer wollten." Die „Ergänzung derGeschäftsordnung" hielt Kaizl für „eine gute und notwendigeTat", aber eben nur als eine Etappe vor dem Endziel. Gleichzeitig meldete er neue Wünsche an. Es wäre der Augenblick für Badeni gekommen, seine feste Position und die Gesinnung der Krone durch die Verleihung einer sehr hohen Auszeichnung an Abrahamovicz und an Kramär, der sich auch „vortrefflich gehalten", zu markieren. Obwohl Badeni ein umhergepeitschter Mann sei, halte er es geradezu für eine Gewissenssache, ihn noch weiter zu beunruhigen. Auf seine Loyalität könne Badeni dabei vollauf trauen, wie auch er, Kaizl, neben dem Vorteil für sein Volk auch Badenis Vorteil unentwegt im Auge behalte. Der von Kaizl vertretenen staatsparteilichen und regierungsfreundlichen Politik wäre ein Akt des Kaisers sehr förderlich, etwa durch die Errichtung einer Hof bildergalerie in Prag oder durch Subventionierung des Nationaltheaters und dessen Umbenennung in Hoftheater. Weiters möge ein Forstgesetz dem Landtag vorgelegt werden, ein Verwaltungsgerichtshof in Böhmen und Mähren für die Angelegenheiten der autonomen Judikatur errichtet und das Fachschulwesen autonomisiert werden. Die Sprachenverordnungen seien schärfer durchzuführen, die einzelnen Präsidialbüros in Prag nicht den deutschliberalen Parteigängern auszuliefern. Die offiziellen und offiziösen Zeitungen und die Prager Statthalterei hielten der Opposition die Stange. Gegen die Deutschen werde milder vorgegangen als seinerzeit gegen die Tschechen. Und Kaizl fährt weiter fort: „Ich weiß wohl, Sie bluten wegen der Sprachenverordnung, aber es ist Zeit fortzuschreiten und den Deutschen Festigkeit und starren Mut zu beweisen. Nichts entfesselt den überhebungsvollen Wahnwitz derselben mehr, als Schwanken und das Bestreben alsogleich und ä tout prix mit ihnen zu paktieren. Sie haben mit der Sprachenverordnung das getan, was wir wollten, und nun können wir auf Grund dieses status quo uns mit den Deutschen auseinandersetzen, aber nur dann, wenn die Deutschen zur Erkenntnis gelangt sind, daß sie weder durch Straßenkrawalle noch durch Messer und Pfeife — sondern durch gütliche Vereinbarung die Sprachenverordnung modifizieren können. Das ist Ihr Interesse und auch das unsrige. Aber Ihre autonomistische Politik muß daneben sich entfalten und vorwärtsgehen."

Aber nun entschieden die Ereignisse, und zwar gegen Badeni. Infolge der in Wien ausgebrochenen Tumulte brach Kaiser Franz Joseph, der in Wallsee weilte, am 27. November um 15 Uhr seinen bis zum Abend des nächsten Tages in Aussicht genommenen Aufenthalt ab. Um 18.45 Uhr traf er in Wien ein, eine Viertelstunde später mußte bereits Goluchowski Bericht erstatten. Dreißig Minuten dauerte die Audienz, dann erst wurde Badeni vorgelassen91). Aus den i0

) J. Κ a i ζ 1, Ζ meho zivota III, S. 665: „Die Ergänzung der Geschäftsordnung war eine gute und notwendige Tat und die öffentliche Meinung des Inlandes sowie die des Auslandes wird sie gutheißen. Sie sollten nur verkünden lassen, daß die Polizei im Parlament den Befehlen des Präsidenten durchaus unterstellt ist und dann die ganze Maßregel provisorisch ist, da eine selbständige Parlamentsgarde errichtet werden wird (Budget pro 1898 Nachtragskredit). Es wird nicht schaden, es noch mit 2—3 Sitzungen zu versuchen und noch die Ärgsten auszuschließen. Geht es auch dann noch nicht — dann Rest." — Vgl. auch Ζ. V. Τ ο b ο 1 k a, Badeni a Cechovi S. 46 f. ") Der Kaiser soll bei dieser Audienz Badeni mit den Worten empfangen haben: „Herr Graf,

Die Demission der Regierung Badeni

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kurzen Andeutungen Badenis im letzten Ministerrat am 28. November morgens kann geschlossen werden, daß Franz Joseph die Demission des ganzen Kabinetts wünschte.. Als nach 35 Minuten Badeni den Kaiser verließ, waren die Würfel gefallen. Es war ein schwerer Fehler, daß Franz Joseph nicht auf der sofortigen Übergabe des Demissionsgesuches bestand und den Rücktritt sogleich bekanntgeben ließ, sondern die Demission erst am Montag, dem 29. November, offiziell behandeln wollte. Spät am Abend empfing der Kaiser noch den Leiter der Militärkanzlei, F M L von Bolfras. Zur selben Zeit stand die Bevölkerung in Wien und Graz bereits in hellem Aufruhr. Nun drängte die Zeit, sollte aus den Unruhen nicht eine offene Revolution werden. Daß am Vormittag des 28. November Lueger vom Kaiser empfangen wurde und Wiens Bürgermeister Badenis Sturz unter Hinweis auf die Straßenexzesse durchgesetzt und sich so an diesem gerächt habe, stimmt nicht92). In den ersten Nachmittagsstunden des 28. November wurden von Polizeibeamten Sonderausgaben der amtlichen „Wiener Zeitung" verteilt, in denen die Vertagung des Reichsrates und die Entlassung Badenis bekanntgegeben wurde. Mit der Kabinettsbildung aber hatte Franz Joseph den bisherigen Unterrichtsminister Freiherrn von Gautsch beauftragt, der kein leichtes Erbe antrat. Was Badeni hinterließ, war ein entweihtes und entehrtes Parlament, war Aufruhr, Haß, Unversöhnlichkeit, Radikalismus und für immer zerstörte Brücken zwischen den beiden Volksstämmen in Böhmen, war ein Staat, der sein Ansehen in der Welt verloren hatte. Im Ausland, vor allem in Frankreich, war den turbulenten Vorgängen im österreichischen Parlament größte Beachtung geschenkt worden. In der „Revue politique et parlementaire" hat Francis de Pressense im Dezember 1897 die Ereignisse in Österreich weit ausholend dargestellt und dabei ganz offensichtlich verzeichnet. Er schrieb alle Schuld ausschließlich den Schönerianern und Sie machen mir eine Revolution." (M. B o g d a n o w i c z , Wspomnienia II, 167.) — Diese Audienz dauerte 35 Minuten. Um 20.15 Uhr empfing der Kaiser noch FML von Bolfras (H.H.St.A. Wien: Tagebücher des Flügeladjutanten des Kaisers). — Zu den stürmischen Vorgängen in den Straßen Wiens vgl. „Der Sturz Badenis" S. 24—31. ,2 ) Diese angebliche Audienz Luegers erwähnt bereits F. d e P r e s s e n s e , La politique exterieure (S. 688) im Dezember 1897. Sie wird seither in der Literatur immer wieder angeführt, so bei O . K o l l e r , D i e Obstruktion S. 69 und auch noch bei A . P o s c h , Badeni, heute gesehen S. 35. — Ähnlich auch E. D e n i s , La Boheme depuis la Montagne-Blanche (II, S. 649): «Lueger, le bourgmestre, declara ä l'Empereur qu'il ne ripondait plus de l'ordre.» — Zur Erklärung, wie das Gerücht entstand, J. M. B a e r n r e i t h e r , Verfall des Habsburgerreiches S. 31. Nach dieser Schilderung verkündete Lueger im Frack und weißer Krawatte, als käme er von der Audienz beim Kaiser, der Menge die Entlassung Badenis an. Einen Beweis, daß er nicht zur Audienz gerufen wurde, haben wir in den Tagebüchern der Flügeladjutanten des Kaisers (H.H.St. A. Wien): Wien, 28. November 1897: 7 Uhr ah. Kirchgang 8 Uhr FZM Gf Welsersheimb (halbe Stunde) 9 Uhr General d. K. Graf Paar (10 Minuten) 9.10 Uhr FZM Gf. Welsersheimb (5 Minuten) 9.45 Uhr Kab.Direktor Baron Braun (viertel Stunde) 10.30 Uhr FZM Gf. Welsersheimb und Minister Baron Gautsch (45 Minuten) 11.45 Uhr Ministerpräsident Baron Bänffy (halbe Stunde) 12 Uhr dejeuner 2 Uhr Minister Graf Goluchowski (halbe Stunde) 4.30 Uhr Kab.Dir. Baron Braun (10 Minuten) 5 Uhr Diner a. 1. c. (Kummer, Major) 9

Sutler, Sprachenverordnungen II.

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VIII. Der Sturz Badenis

den Antisemiten unter Luegers Führung zu, diesem „skrupellosen Impresario" einer „halbdemagogischen Bewegung", den man zum König von Wien habe werden lassen. Daß Lueger damals schon ein „schwarzgelbes Kapital" darstellte, hat Pressense überhaupt nicht erkannt. Er ist für ihn „le demagogue par excellence, le roi de Pantisemitisme". Aber noch schlimmer ist die Fehlbeurteilung der Obstruktionisten, die er mit den Alldeutschen schlechthin gleichsetzt. Die starke Beteiligung der Sozialdemokraten an den Vorgängen am 26. November im Abgeordnetenhaus wurde von Pressense völlig verschwiegen. Es entsteht der Eindruck, daß die gesamte Obstruktion fast einzig und allein von Schönerer und seiner Gruppe 93 ) und überdies lediglich aus alldeutschen Motiven inszeniert worden sei. Daß in den Reihen der Obstruktion auch kaisertreue, überzeugte Österreicher standen, muß gegenüber dieser Verfälschung der Tatsachen hervorgehoben werden. Pressense warnt vor einer Germania irredenta und er spottet zugleich über das germanische Element in Österreich, das seiner Superiorität so sicher und auf seine Kultur und seine Zivilisation so unerträglich stolz wäre. Er spricht vom verrückten Wahnsinn der betrunkenen Heloten des kriegerischen Germanismus94) und von rasenden Epileptikern. Ob er Lueger oder Schönerer mehr verachtete, ist schwer zu entscheiden95). Ehrlich ist seine Entrüstung über die entwürdigenden Szenen im österreichischen Abgeordnetenhaus, „de ce lamentable spectacle". Wie ungeheuer die Ereignisse in Frankreich empfunden wurden, ist diesem Bericht zu entnehmen. So schreibt Pressense: «Jamais dans aucun Parlement du monde, pareil scandale ne fut donne. Aupres des exploits de la gauche allemande, les hauts faits de feu Parnell et Biggear ä Westminster ne sont que jeux d'enfants — et d'entfants sages.» Und wenige Seiten später heißt es: «Jamais le sabbat parlementaire n'avait atteint ce degre d'epilepsi. »96) Aber neben aller Abscheu ist doch zugleich eine gewisse wortreiche Wollust zu spüren, der sich Pressense bei der Schilderung der Tumulte hingibt97). Seine blendende, 93

) F. d e P r e s s e n s e , La politique exterieure S. 679: s ) «Ce fut le temps que Μ. Lueger prit pour virer de bord. Cet habile homme jugea qu'il s'etait fourvoye en s'engageant ä l'egard du comte Badeni. Sa popularite etait manifestement en declin. Peu lui importait de s'etre collete en public avec M. de Schoenerer, d'avoir avec ses fideles assene aux quatre mousquetaires du pangermanisme des epithetes ä faire pälir un tambour-major et rougir une poissarde.» (Ebenda S. 688.) e6 ) Ebenda S. 684 und S. 687. ·') Meme ä un certain jour, vers la fin, quand l'atmosphere fut surchargee d'electricite, quand les combats singuliers et les luttes ä main plate se furent multiplies, on vit briller la lame d'un couteau, on entendit un heros teuton menacer de tirer son revolver, on vit le president

Beurteilung der Vorgänge in Frankreich

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wenn auch parteiische Schilderung schließt er mit den bezeichnenden Worten: «Malheureux empire! Malheureux empereur! Malheureuse Europa!» Zwei schicksalsschwere Folgerungen sind in diesem Bericht bereits gezogen: die Sache Österreichs ist die Sache Europas, und gegenüber einem Deutschtum in Österreich, das pangermanistisch gesinnt ist und die „Wacht am Rhein" singt, haben die Tschechen die natürlichen Verbündeten Frankreichs zu sein98). Mit der gleichen Breite und Ausführlichkeit hat Ernest Denis „la bataille dans le Reichsrath" geschildert und der „Agitation pangermaniste" das Programm der Tschechen gegenübergestellt. Er lehnt sich bei seinem Bericht ganz offensichtlich an Pressense an, doch fehlen bei Denis die Angriffe auf Lueger. Auch die Rolle der Sozialdemokraten verkennt er nicht. Aber im Vordergrund steht auch bei ihm das Verhalten Schönerers und ganz besonders Κ. H. Wolfs im Parlament, das gezückte Messer in den Händen von Emil Pfersche und die gegen das Präsidium geschleuderten, ungeheuerlichen Worte. Darüber hinaus hat Denis sämtliche alldeutschen Regungen während der stürmischen Badeni-Tage zusammengetragen und registriert, so beispielsweise die Adresse der Städte Teplitz, Brünn, Reichenberg und Aussig an Kaiser Wilhelm II., das Hissen der deutschen Farben durch Deutschböhmen, die auch „les hymnes nationaux prussiens" sangen, den „Terror der Alldeutschen" und all die Erscheinungen einer aus ihren Fugen geratenen Bewegung"). Auch hier ist ganz deutlich zu spüren, mit welch sichtlicher Überlegenheit der Franzose Denis auf jenes „Kulturvolk" herabsah, das im Parlament eines Vielvölkerstaates solche Skandale inszenierte. Was Denis nur andeutet und durchklingen läßt, das hatte der russische Schriftsteller Vladimir Michnevic bereits Ende November 1897 in einem Feuilleton der „Novostni" nach einer kritischen Darstellung der Vorgänge im österreichischen Abgeordnetenhaus offen ausgesprochen: „Und alles das tun die Deutschen, die auf ihre Rasse- und Kulturvorzüge vor den verachteten Slaven so stolz tun und besonders in der letzten Zeit den Anspruch darauf erheben, wenn nicht politisch, so doch moralisch die ganze Welt zu beherrschen und die erste große Nation zu sein, deren Aufgabe es ist, nach der Theorie Hegels die Repräsentation des Weltgeistes zu sein. In der wilden, hitzigen Opposition Schönerers und Wolfs sehen offenbar alle Deutschen oder in jedem Falle die Majorität derselben ihre gemeinschaftliche nationale Sache, einen Teil des alles umfassenden pangermanischen Druckes auf alle übrigen Völker, den sie überall nach echt deutscher Systematik ausüben. Wie tief antipathisch sind diese Schönerers und Wolfs und die ihnen assistierenden Liberalen! Was ist das für ein Freisinn, der sich der Verwirklichung der Hauptgrundsätze des Liberalismus: der Gleichheit und Brüderlichkeit zwischen den Menschen, Stämmen und Völkern widersetzt! Was sind das für Kulturträger, assailli ä son fauteuil, chasse de la salle des seances, les representants du peuple poursuivre une discussion suivant le nouveau mode en roulant ä terre enlaces et en s'administrant force coups de pieds et de poings et un homme sage, desireux que la tribune servit ä quelque chose, puisqu'il n'en partait plus de lumineux discours ni d'eloquentes apostrophes, verser deliberement dans le cou et sur la tete de ces collegues, engages dans cette conversation orageuse, la carafe d'eau des orateurs, apparemment pour refroidir un peu les cerveaux.» (Ebenda S. 685.) S8

) Siehe unten S. 411 ff. — Interessant ist ein Vergleich mit dem Bericht von G. Κ ο 1 m e r , Autriche in der „Revue politique et parlementaire" XV, S. 164—177. ··) E. D e η i s, La Boheme depuis la Montagne-Blanche II. S. 639—651. — Zur Beurteilung der Obstruktion im österreichischen Parlament vgl. auch O. K o l l e r , Die Obstruktion S. 64—70. — Die Schilderung der parlamentarischen Vorgänge im November 1897 bei B. S k o t t s b e r g (Österr. Parlamentarismus S. 91 f.) beruht ausschließlich auf G. Kolmer und A. Czedik. 9*

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VIII. Der Sturz Badenis

die sich in ihrer politischen Tätigkeit schlechter aufführen als berauschte Schuster und die ihrer Opposition mit der Zügellosigkeit afrikanischer Wilder Ausdruck geben?"

Die Tatsache, daß es im österreichischen Parlament zu „empörenden Szenen" kam, wurde im Ausland vielfach gerade noch begriffen, nicht begriffen wurde, und zwar vor allem in England, daß die „parlamentarischen Reglements" in Österreich keine Handhabe gaben, um diese Szenen „zu verhindern und die Schuldigen zu bestrafen" 100 ). Aber auch in Frankreich wurde über die Geschäftsordnung des österreichischen Abgeordnetenhauses scharf geurteilt: «Le reglement de la Chambre autrichienne semble avoir ete fait pour des anges ou par idiots: il ne contenait aucune desposition disciplinaire, aucun rappel ä l'ordre efficace, nulle exclusion temporaire. C'etait purement et simplement la tyrannie legale de la majorite par la minorite. »101) Dieses harte Wort wird der auf Grund des Geschäftsordnungsgesetzes vom 12. Mai 1873 autonom beschlossenen Geschäftsordnung des österreichischen Abgeordnetenhauses vom 2. März 1875, die mit nur geringfügigen Änderungen bis zum 12. Juni 1917 in Geltung stand102), nicht gerecht. Ihre Kenntnis und ihre Geschichte allein vermögen jedoch verständlich zu machen, wieso es nach der Erlassung der Badenischen Sprachenverordnung der deutschen Linken und nach Publizierung der Claryschen Sprachenverordnung den Tschechen möglich war, die Arbeit im österreichischen Parlament durch Obstruktion jahrelang fast völlig lahmzulegen. Die Geschäftsordnung von 1875 spiegelt nicht nur das politische Freiheitsstreben ihrer Entstehungsjahre, sondern auch den unerläßlichen Wunsch wider, die Rechte der Minderheiten des Hauses, das ja das Parlament eines Vielvölkerstaates war, zu sichern. Während der zweiten Lesung der Geschäftsordnung in den vier Sitzungen vom 17. bis 23. Februar 1875 war sehr eingehend über die Frage debattiert worden, welche Rechte durch die Geschäftsordnung der Mehrheit und welche der Minderheit des Hauses einzuräumen seien. Mit einem gewissen Stolz hatte der Berichterstatter Dr. Eduard Sturm erklärt, daß es keine parlamentarische Geschäftsordnung gebe, die der Minderheit ausgedehntere Befugnisse überlasse als die österreichische auf Grund des Gesetzes von 1873103). Die Freiheit der Rede, die Möglichkeit zu einer „tatsächlichen Berichtigung", zu „Anfragen an den Präsidenten", das Interpellationsrecht und das Petitionsrecht, die sogenannten „Dringlichkeitsanträge", der gänzliche Mangel wirksamer Disziplinarvorschriften, die Zehnminutenpause vor jeder zur Abstimmung gelangenden Frage und das Verbot, die autonome Geschäftsordnung im Dringlichkeitswege zu ändern, sollten die Freiheit des Hauses, die Freiheit der Debatten und die Freiheit der Beschlüsse garantieren. All diese parlamentarischen Rechte aber wurden nach dem 5. April 1897 ins Gegenteil umgekehrt, aus Debatten wurden Monologe, Abgeordnete, die in der Rednerreihe keinen Platz fanden, sprachen zur „tatsächlichen Berichtigung" 10

°) Bericht des österreichischen Botschafters in London vom 30. September 1897. H.H.St.A. Wien, PA. VIII. 119 f. 81—86. 101 ) F. Ρ r e s s e η s έ, La politique ext6rieure S. 685. 102 ) Die Geschäftsordnungsnovelle vom 16. Juli 1908 regelte neu lediglich die Zahl der Vizepräsidenten und der Schriftführer sowie die Reihenfolge der Vertretung des Präsidenten durch die Vizepräsidenten. 108 ) Stenogr. Prot. VIII. Session S. 4020. — Zum rechtlichen Inhalt der Geschäftsordnung und zu ihrer Geschichte vgl. K. u. Ο. Ν e i s s e r, Geschäftsordnung. — Μ. Κ u 1 i s c h , Die rechtliche Stellung des Reichsrates.—Über das österreichische Parlamentsrecht, dessen wissenschaftliche Behandlung vernachlässigt worden war, F. Τ e ζ η e r, Die Volksvertretung. — J. U 1 b r i c h, Reichsrat.

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Die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses

und unter dem Titel „Anfrage an den Präsidenten" hielten sie Reden, deren Thema mit dem Verhandlungsgegenstand gar nichts zu tun hatte. Vor allem die Dringlichkeitsanträge arteten seit 1897 zu einem Kampfmittel der Obstruktion aus. In der Zeit vom 19. Juni 1903 bis zum 26. Jänner 1905, also durch mehr als 18 Monate, war das Abgeordnetenhaus durch die sinnlos hohe Zahl der damals eingebrachten Dringlichkeitsanträge, die gemäß § 42 der Geschäftsordnung „sogleich in Verhandlung zu nehmen" waren, zu der Beratung von Gesetzen gar nicht gelangt104). Die Reform der Geschäftsordnung wurde um so dringlicher, je länger die Obstruktion und die Lahmlegung jeglicher parlamentarischer Arbeit währte. Die Bemühungen, sie den veränderten parlamentarischen Verhältnissen anzupassen, hatten allerdings bereits ein halbes Jahr nach ihrer Annahme durch das Haus eingesetzt. Jedoch keinem einzigen Versuch war Glück beschieden105). In mehreren Sessionen gab es Ausschüsse zur Vorberatung einer Geschäftsordnungsreform, doch konnte lediglich der Ausschuß der XI. Session (1891—1897) einen Antrag vorlegen, der gerade die Bestimmungen über die Dringlichkeitsanträge einschränken wollte. Aber dieser Antrag wurde nicht behandelt. Eine vom Subkomitee des gleichen Ausschusses ausgearbeitete generelle Geschäftsordnungsreform, deren Verfasser Johann Freiherr von Chlumecky war, blieb schon im Ausschuß stecken, da die Parteien sich aus politischen Gründen auf eine Verschärfung der Geschäftsordnung nicht einigen konnten. Da das Abgeordnetenhaus auch nach dem Sturz Badenis nicht mehr zur Ruhe und damit zur Arbeit kam, wurden in der XVII. Session (1901—1907) ernste Versuche zur Reform der Geschäftsordnung unternommen 106 ). Die von den verschiedenen Parteien ein1M

)

Dringlichkeitsanträge in Notstandsmit Ausnahme der angelegenheiten Notstandsangelegenheiten In den dreißig I.—X. Session XI. XII. XIII. XIV. XV. XVI. XVII. XVIII. XIX. XX. XXI.

Jahren der (1861—1891) (1891—1897) (1897) (1897) (1898) (1898—1899) (1899—1900) (1901—1907) (1907—1909) (1909) (1909—1911) (1911—1914)

5 307 47 96 63 67 130 1427 1058 293 532 1022

24 150 29 39 72 69 52 672 225 116 145 88

Vgl. dazu den von Karl von Grabmayr erstatteten Bericht Stenogr. Prot. XVII. Session, 1729 der Beilagen S. 9. — K. u. Ο. Ν e i s s e r, Geschäftsordnung I, S. 487, II, S. 165. — Nicht aufgenommen sind hier rein formale Dringlichkeitsanträge, also beispielsweise Anträge auf Vornahme der dritten Lesung einer soeben in zweiter Lesung erledigten Vorlage und Fristfestsetzungen für Berichterstattung. Insgesamt wurden vom 2. März 1875 bis zum 12. Juni 1917, dem Tage des Inkrafttretens einer neuen Geschäftsordnung, 81 Initiativanträge und fünf Regierungsvorlagen zur Abänderung der Geschäftsordnung eingebracht. Ein auf der Arbeit eines Referentenkomitees fußender, im Jahre 1912 von Dr. Otto Steinwender erstatteter Bericht des Geschäftsordnungsausschusses wurde vom Hause nicht verhandelt, weil er auf den Widerstand der Regierung stieß. — Vgl. dazu Stenogr. Prot. XIX. Session, 1 der Beilagen; XXII. Session, 181 der Beilagen. — K. u. Ο. Ν e i s s e r, Geschäftsordnung I, S. 71—91. Schon die Thronrede vom 4. Februar 1901 enthielt den Passus: „Ruhigere Zeiten werden

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gebrachten Anträge auf Abänderung der Geschäftsordnung gelangten im Februar 1903 zur ersten Lesung und konnten einem Geschäftsordnungsausschuß zugewiesen werden. In diesem führte Josef Maria Baernreither den Vorsitz, dem es gelang, bereits Ende März 1903 die Beratungen abzuschließen. Dem Hause wurde ein von Karl von Grabmayr verfaßter Bericht vorgelegt, der ungemein lesenswert ist107) und der zahlreiche Änderungen der autonomen Geschäftsordnung und es auch ermöglichen, die Geschäftsordnung des Reichsrates, unbeengt von politischer Besorgnis und allein im Sinne der allseits anerkannten Notwendigkeit der Beschleunigung seiner Arbeiten abzuändern, ohne daß der Freiheit der Beratungen oder den Privilegien der Reichsvertretung Abbruch geschähe." (Stenogr. Prot. XVII. Session S. 7.) 107 ) Stenogr. Prot. XVII. Session, 1729 der Beilagen: „Wenn wir des brausenden Jubels gedenken, mit dem die Völker Österreichs — längst müde der geistigen Öde und wirtschaftlichen, wie politischen Unfähigkeit des Absolutismus — die vom Monarchen gewährte Verfassung begrüßten, wenn wir uns an das goldene Zeitalter des österreichischen Parlaments erinnern, wo erlesene Geister mit den vornehmen Waffen glänzender Beredsamkeit und sachlichen Wissens um die Palme rangen, wo der Sieg nur dem besten Argument gehörte, wo im heftigsten Streite der Parteien sich Keiner gegen die dem Andern schuldige Achtung verfehlte, und wenn wir mit diesem, seit unserer Kindheit in uns haftenden Bilde die heutigen Zustände, mit dem Bilde das Zerrbild vergleichen, dann können wir uns einer tiefschmerzlichen Empfindung nicht erwehren. Wollte man den mannigfachen, tieferliegenden Gründen nachforschen, die den Tiefstand des österreichischen Parlamentarismus verschulden, so fände man zweifellos obenan den heillosen Nationalitätenhader, der seit den stürmischen Bewegungen des Jahres 1848 in immer leidenschaftlicheren Äußerungen die innerpolitischen Verhältnisse unseres Reiches zerrüttet. Solange diese Hauptursache all unserer politischen Misere fortwirkt, können wir auf keine gründliche, dauernde Besserung hoffen . . . Versuchen wir uns im einzelnen über diese Entartung Rechenschaft zu geben, so finden wir zunächst als auffälligste Erscheinungsform eine grenzenlose V e r w i l d e r u n g d e r p a r l a m e n t a r i s c h e n S i t t e n . Nicht nur eine Vergröberung der Umgangsformen, nicht bloß einzelne Ausbrüche ungebändigter Leidenschaft haben wir zu beklagen, sondern wir sehen die Zügellosigkeit als Gewohnheit, die Roheit als alltägliche Erscheinung. Schmachvolle Scenen, wüste Schimpforgien läßt das Haus apathisch über sich ergehen, unfähig, seine Würde gegen renitente und excessive Mitglieder wirksam zu wahren. Noch schlimmer geht es dem Präsidium, dessen Autorität, die selbstverständliche und unerläßliche Voraussetzung geregelter Verhandlung, immer wieder mißachtet, ja geradezu offen verhöhnt wird. Dem Präsidenten fehlen taugliche Mittel, um die in der Geschäftsordnung ihm auferlegte Pflicht, für die Ordnung in der Versammlung zu sorgen, zu erfüllen. So herrscht nur Ordnung im Hause, solange es gerade jedem gefällt, und hinter dem täuschenden Scheine parlamentarischer Regeln lauert jederzeit die latente Anarchie. Nicht nur in turbulenten Lärmscenen und wechselseitigen Beschimpfungen der Mitglieder des Hauses äußert sich das gesunkene Bildungsniveau, sondern nicht minder in groben Beleidigungen außerhalb des Parlamentes stehender Personen, die gegen noch so freche und verleumderische Angriffe völlig schütz- und wehrlos sind, weil das Immunitätsprivileg den Beleidiger von jeder Verantwortung freispricht. Alle diese Entartungserscheinungen haben nicht nur den Charakter der Verhandlungen des hohen Hauses höchst nachteilig beeinflußt, sondern sie haben auch das Ansehen des Hauses nach außen, die ihm vom Volke und von allen Factoren der Öffentlichkeit zu zollende Achtung empfindlich geschmälert. . . . Traurige Erfahrungen lehren, daß das Interesse, dem sachliche Ausführungen so selten begegnen, durch den in was immer für Formen auftretenden Scandal plötzlich und sicher geweckt wird. In dieser Erscheinung liegt für die Redner ein bedenklicher Anreiz, die durch Sitte und Anstand der Redefreiheit gezogenen Schranken zu durchbrechen und durch möglichst scharfe Ausdrücke oder beleidigende Ausfälle jene Aufmerksamkeit zu

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hinsichtlich des Verfahrens bei Interpellationen auch des Gesetzes über die Geschäftsordnung vorsah. Hauptsächlich sollten Zuweisungen von Regierungsvorlagen und Anträgen an die Ausschüsse ohne erste Lesung erleichtert, tatsächliche Berichtigungen eingeschränkt, Debatten über die Dringlichkeit von Anträgen mit Ausnahme der Begründungsrede des Antragstellers beseitigt und namentliche Abstimmungen bei Fragen der formellen Geschäftsbehandlung verhindert erringen, deren sich noch so gediegene sachliche Reden nur ganz ausnahmsweise erfreuen. Schlägt dann ein Redner diesen unziemlichen Ton an, dann fehlt es nie an verständnisvoll eingreifenden Zwischenrufern, die als Gegner oder Secundanten den Redner mit Kraftausdrücken noch überbieten. Mit einemmal hat man eine ,Debatte', die allerdings allem eher als der herkömmlichen Vorstellung parlamentarischer Debatten entspricht. All diesen Ausschreitungen, aller Entartung der Redefreiheit zur Zügellosigkeit steht das Präsidium machtlos gegenüber. Zu den betrübendsten Symptomen der parlamentarischen Demoralisation gehört die Entwertung des Ordnungsrufes, der sich nach der geltenden Geschäftsordnung nebst der Wortentziehung als das einzige dem Präsidenten zur Verfügung stehende Censurmittel darstellt. Die Wortentziehung kommt regelmäßig zu spät, weil sie dem begangenen Redeexceß erst nachfolgt, und der Ordnungsruf wird gerade von jenen Mitgliedern des Hauses, die nach Temperament und Bildungsstand zu Redeausschreitungen neigen, längst nicht mehr als sühnende Strafe empfunden. Das Gleiche gilt von der ,Mißbilligung' des Hauses, der sich der Redner durch Beleidigung anderer Abgeordneten aussetzt, und damit erklärt es sich, daß trotz der nur zu häufig vorkommenden Beleidigungsfälle so selten ein Mitglied von dem geschäftsordnungsmäßigen Mißbilligungsverfahren Gebrauch macht. . . . Die geschilderten ordnungswidrigen Zustände können nicht verfehlen, auf das Interesse an den Aufgaben des Hauses, auf das Pflichtgefühl und die Arbeitsfreude der Mitglieder eine höchst ungünstige Rückwirkung zu üben. Gerade jene noch immer zahlreichen Mitglieder, denen Wissen und Rednergabe zu eigen, verlieren die Lust zum Reden in einem Hause, das nicht zuhört, oder das, nachdem es Wochen und Monate tatlos vergeudet, f ü r eine tiefer eindringende sachliche Debatte keine Zeit hat. Daß dem Hause nicht selten die Zeit für die Erledigung wichtiger Angelegenheiten zu knapp wird, läßt sich wenigstens zum Teile auf den in den letzten Jahren eingerissenen Mißbrauch zurückführen, demzufolge das Haus nur für je vier Tage der Woche wirklich versammelt bleibt, während sich für die übrigen drei Tage die Mehrzahl der Mitglieder in alle Winde zerstreut. So drängen sich die Verhandlungen des Hauses und alle Ausschußberatungen in dem knappen Räume von vier Wochentagen zusammen und es müssen daraus notwendig allerlei störende Collisionen entstehen. Diese Teilung der Woche in zwei nahezu gleiche Hälften, deren eine die Abgeordneten den öffentlichen, deren andere sie ihren Privatgeschäften oder ihrer Erholung widmen, ist der Geschäftsordnung fremd und man darf wohl sagen, daß in diesem Falle das Entgegenkommen des Präsidiums gegen die Wünsche einzelner Gruppen von Abgeordneten zu weit geht. Mit diesem Übelstande hängt die übermäßig lange Dauer der jährlichen Sessionen innig zusammen; mit einer Arbeitszeit von sechs anstatt von vier Wochentagen könnte das Haus dieselbe Arbeit in sechs Monaten leisten, zu der es bei der jetzt üblichen Arbeitseinteilung volle neun Monate benötigt. . . . In unserem, wie wohl naturgemäß in allen Parlamenten, wird die zu leistende Arbeit zwischen dem vollen Hause und seinen Ausschüssen nach gewissen Regeln verteilt. Muß auch die Vorberatung jeder complicierteren Angelegenheit in einem Ausschusse als Regel gelten, so könnten doch gewisse einfache Vorlagen weit öfter, als es jetzt geschieht, sofort im vollen Hause ihre definitive Erledigung finden. So ist zum Beispiel nicht abzusehen, weshalb ein Budgetprovisorium alle Stadien der ersten Lesung im Hause, der Vorberatung im Budgetausschusse, dann wieder der zweiten und dritten Lesung im Hause durchmachen muß, während doch von vornherein feststeht, daß die Natur der Vorlage erhebliche sachliche Änderungen ausschließt. Von dieser unnötigen Schwerfälligkeit abgesehen, finden wir in der üblich gewordenen Form der Ausschußtätigkeit so manches schädliche Symptom der Entartung. Der ur-

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werden. Interpellationen sollten nur dann im Hause verlesen werden, wenn fünfzig Mitglieder es verlangen, sonst sollten sie einfach in Druck gelegt und verteilt werden; der interpellierte Minister sollte jedoch verpflichtet sein, binnen sechs Wochen Antwort zu geben. Doch auch dieser Antrag kam im Abgeordnetenhaus nicht zur Verhandlung. So versuchte das Herrenhaus auf dem Umwege einer sprünglichen Idee zufolge sollte der Ausschuß ein Fachcollegium sein, das im engen Kreise mit dem Gegenstand besonders vertrauter Mitglieder die Vorlagen einer rein sachlichen Prüfung unterzieht. An die Stelle dieser Fachcollegien sind heute nach politischen Gesichtspunkten gebildete Körperschaften getreten, die nach der Art ihrer Zusammensetzung und nach der Zahl ihrer Mitglieder kleinen Parlamenten gleichen und aus mancherlei Gründen zur zweckmäßigen Förderung der ihnen zugewiesenen Arbeiten immer weniger taugen. Ein weiterer Übelstand ist die übermäßige Cumulierung von Ausschußmandaten, derart, daß einzelne Abgeordnete vier, fünf oder noch mehr Ausschüssen gleichzeitig angehören. Läßt sich von vornherein kaum erwarten, daß ein Mitglied so vielfach gehäuften Pflichten voll zu entsprechen vermöge, so erwächst daraus die weitere Unzukömmlichkeit, daß eine gleichzeitige Tagung mehrerer Ausschüsse meistenteils verwehrt ist, weil eine zu große Anzahl von Mitgliedern dem einen und dem anderen Ausschusse angehört. Hiezu kommt noch als wesentliche Erschwerung die schon früher gerügte Übung, derzufolge sich ein großer Teil der Mitglieder nur während vier Tage der Woche am Sitze des Parlamentes aufhält. Alle Sitzungen des Hauses und der Ausschüsse drängen sich demnach in diese vier Tage zusammen, woraus sich Collisionen ohne Ende ergeben. Nicht nur diese Ursachen allein, sondern mit ihnen zusammenwirkend die in den traurigen Verhältnissen des Hauses wurzelnde allgemeine Unlust, der überhandnehmende Mangel an Arbeitsfähigkeit und Arbeitsfreude führen zu einer höchst bedauerlichen Folge, zur Β e s c h l u ß u η f ä h i g k e i t d e r A u s s c h ü s s e , einer parlamentarischen Entartungserscheinung, die in den letzten Jahren geradezu erschreckend überhand nahm. Es dürfte unnötig sein, eine Einzelstatistik der beschlußunfähig gebliebenen Ausschußsitzungen hier vorzuführen; es handelt sich ja um notorische Verhältnisse, von denen auch die große Öffentlichkeit, nicht zur Wahrung des Ansehens des Hauses, durch die Zeitungsberichte Kenntnis erlangt. Wenn in einzelnen Ausschüssen die Beschlußunfähigkeit eine chronische Form annahm, so daß wichtige, ja sogar vom Hause als dringlich erklärte und befristete Angelegenheiten gar nicht erledigt werden konnten, so muß man leider auf einen unter den Abgeordneten weit verbreiteten Mangel an Pflichtgefühl schließen, den die allgemeine verworrene Zerrüttung unserer parlamentarischen Verhältnisse zum Teile erklärt, aber keineswegs entschuldigt. . . . Ohne auf Vollständigkeit Anspruch zu machen, dürfte doch die vorstehende Schilderung genügen, um über die Haltbarkeit der im Hause herrschenden Zustände zu einem abschließenden Urteil zu gelangen. Man glaube nicht, daß das entrollte traurige Bild zu dunkel gefärbt sei. Was hier gesagt wird, ist nur Wahrheit, und diese Wahrheit mußte gesagt werden, weil dem hohen Hause vor allem Selbsterkenntnis nottut. So kann es nicht weitergehen! Wollen wir die constitutionellen Einrichtungen in Österreich vor gänzlichem Verfalle bewahren, wollen wir die stets drohende Wiederkehr eines auf den viel berufenen § 14 gestützten absolutistischen Regiments oder andere noch gefährlichere Experimente dauernd vermeiden, dann müssen wir ernstlich daran gehen, in unserem Parlamente geordnete Zustände zu schaffen und die demoralisierende Anarchie aus unserem Volkshause zu verbannen. In seiner heutigen Verfassung ist das Parlament zur Ohnmacht verurteilt, ein Spielball bald einzelner Parteien, bald einer klugen Regierung, die mit geschickter Hand die amorphe Masse nach ihrem Belieben knetet. Soll das Parlament wieder zu soviel Macht und Einfluß gelangen, als ihm gemäß seiner Stellung im staatlichen Leben gebühren, so muß es vor allem wieder die Selbstachtung erringen, die es in den aufreibenden, selbstmörderischen Kämpfen der letzten Jahre verlor. Ohne Selbstachtung kann man auf die Achtung anderer nicht rechnen. Zur Selbstachtung des Parlamentes führt aber nur ein Weg — es ist der Weg der Ordnung und Arbeit." (Sperrung im Original.)

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Novelle zum Geschäftsordnungsgesetz eine Änderung der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses zu erzwingen. Drei Wochentage sollten, wenn im Hause das Budget, das Rekrutengesetz oder ein Staatsvertrag vorlag, zu deren ausschließlichen Behandlung reserviert bleiben. Bei anderen Regierungsvorlagen sollten ebenfalls die Regierung, das Präsidium oder der zuständige Ausschuß die ausschließliche Beratung an höchstens drei Tagen in der Woche beantragen können. Gewissen Ausschüssen sollten zur Berichterstattung genaue Fristen gesetzt werden. Am letzten, für die Verhandlung einer Vorlage im Plenum bestimmten Sitzungstage habe der Vorsitzende, selbst mit Unterbrechung eines Redners, um zwei Uhr nachmittags die Debatte zu schließen und die Abstimmung vornehmen zu lassen. Die Interpellationen sollten auch nach diesem Entwurf ohne Verlesung in Druck gelegt und nur über Verlangen einer bestimmten Anzahl von Mitgliedern verlesen werden, eine Bestimmung, die in veränderter Form im Geschäftsordnungsgesetz vom 12. Juli 1917 wiederkehrt. Obwohl das Herrenhaus am 11. Februar 1905 diesen Gesetzesentwurf, dem vielfach die Bestimmungen des englischen Unterhauses zum Vorbild dienten, einstimmig annahm, blieb er im Abgeordnetenhaus unverhandelt liegen, da dieses in dem Beschluß des Herrenhauses einen Eingriff in sein autonomes Recht erblickte. Um der Obstruktion und dem Spiele mit der Geschäftsordnung Herr zu werden, legte Ministerpräsident Freiherr von Gautsch am 23. Februar 1906 dem Abgeordnetenhaus Gesetzentwürfe zur Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes für die Reichsvertretung zusammen mit dem Entwürfe eines neuen Geschäftsordnungsgesetzes vor. Nach langen Verhandlungen mußte die Regierung auf das beabsichtigte Junktim verzichten und nur die Wahlreform konnte 1907 vom Ministerpräsidenten Max Wladimir Freiherr von Beck durchgeführt werden. Im Frühjahr 1907 fanden die ersten Reichsratswahlen auf Grund des allgemeinen und direkten Wahlrechtes statt108). Die Hoffnungen, die an die Wahlrechtsreform geknüpft worden waren, erfüllten sich jedoch nicht. In der Thronrede, die am 19. Juni 1907 die XVIII. Session eröffnete, wurde wiederum auf die Wichtigkeit einer Gelos) vgl. dazu Μ. V. v. B e c k , Der Kaiser und die Wahlreform. — W. A. J e η k s, The Austrian electoral reform. — J. C h r . A l l m a y e r - B e c k , Baron Beck S. 139—161. Schon 1898 schrieb F. Τ e ζ η e r (Der österr. Kaisertitel S. 423 f.): „Die Existenzbedingungen des Staates werden gegenwärtig durch ein national intransigentes, von einem sinnlosen Taumel befallenes Bürgertum aller Nationen in einer Weise gefährdet, wie sie seit der Schlacht am Weißen Berge von dem Feudaladel nie gefährdet worden sind. Wir befinden uns in einer Epoche staatsgefährlicher, gegen jede Regierung gerichteter Drohungen der verschiedenen nationalen Parteien, welche auf die gleichzeitige Erzwingung entgegengesetzter Leistungen gerichtet sind. Da erübrigt nichts anderes, als, was in Österreich schon einmal mit Erfolg unternommen worden ist, als eine höhere soziale Schichte sich für die Fundierung des Staates unverwendbar erwies, nämlich das Fundament etwas tiefer zu legen . . . Der Gedanke, an Stelle eines schmäleren und höher gelegenen ein breiteres und tieferes Fundament im Interesse des Gesamtstaates zu suchen, ist in der österreichischen Politik wiederholt aufgetaucht und gerade in dieser Verbindung nicht originell. . . Die unpolitische Haltung des Bürgertums aller Nationen macht in der Tat die Erkenntnis immer zwingender, daß nur auf breitester Basis die Lösung der Nationalitätenfrage vor sich gehen könne, ohne daß der Patient über die gelungene Operation zugrunde geht, also ohne Pulverisierung des Staates, im Namen der Kaiseridee, für welche der Spruch: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, soviel bedeutet als: Gebet dem Staate, was des Staates ist. So rücken wir dem geschichtlichen Wendepunkt immer näher, in welchem sich das 1804 gegründete österreichische V ö l k e r kaisertum in ein V o l k s kaisertum verwandeln muß auf Grund der Fertigstellung des bisher noch halb dastehenden und von den bisherigen politischen Parteien der Verwahrlosung überlassenen Rechtsstaates." (Sperrung im Original.)

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schäftsordnungsreform hingewiesen. Am 27. Juni 1907 brachte Ministerpräsident Freiherr von Beck den Entwurf eines Abänderungsgesetzes ein, der jedoch im Abgeordnetenhaus nicht verhandelt wurde. Dieses erhöhte lediglich am 17. Juli 1908 aus eigenem Entschluß die Zahl der Vizepräsidenten von zwei auf fünf 109 ). Die im Geschäftsordnungsausschuß von Dr. Otto Steinwender ausgearbeitete Novelle zur Geschäftsordnung, durch welche der Geschäftsgang des Hauses beschleunigt und einige Obstruktionsmöglichkeiten beseitigt werden sollten, gelangte zwar innerhalb des Ausschusses zur Generaldebatte, doch blieb auch dieser Versuch durch die Schließung der XVIII. Session am 5. Februar 1909 ohne Resultat. Von rechtsdogmatischer Seite her wurde gerade 1908 die Frage aufgeworfen, „ob und bejahendenfalls inwieweit nach dem geltenden Rechtszustande das Geschäftsordnungsrecht für das Abgeordneten- und das Herrenhaus durch eine Notverordnung geregelt werden" könnte110). Eine solche Möglichkeit hätte ohne Zweifel einen Ausweg aus der verfahrenen Situation im Abgeordnetenhaus bedeutet und das Parlament wieder arbeitsfähig gemacht. Allein diese Frage war geradezu nur erörtert worden, um darzulegen, daß die Geschäftsordnungen beider Häuser des Reichsrates „einer Regelung durch die Notverordnung entzogen" waren, also um eine vom juristischen Standpunkte „nicht immer gerechtfertigte österreichische Notverordnungspraxis" in diesem Falle unbedingt zu verhindern. Ja, die Nichtanwendbarkeit des § 14 zur Änderung der Geschäftsordnungsvorschriften wurde als „ein juristisch wie politisch höchst beachtenswerter Schutz für die Kompetenz des Abgeordneten- und des Herrenhauses, ihre Geschäftsordnung selbst zu regeln", besonders betont und hervorgehoben. Gemäß § 80 der autonomen Geschäftsordnung konnte aber deren Reform auch nicht durch Dringlichkeitsantrag nach § 42 erzielt werden. Die „Lex Falkenhayn" war ja gerade deshalb als ungesetzlich verdammt worden, weil ihr Beschluß unter Abkürzung des Verfahrens erfolgt war. Die Zustände im Abgeordnetenhaus drängten jedoch im Oktober 1909 neuerdings nach einer Reform der Geschäftsordnung, denn die Exaltados sämtlicher Parteien warteten nur auf den geringsten Anlaß, um mit der Obstruktion abermals einzusetzen und so die Arbeit des Volksparlamentes zu verhindern. Es war schmachvoll, daß sich kompakte Majoritäten von kleinen Minderheiten schachmatt setzen lassen mußten. Bei geänderter Geschäftsordnung wäre es möglich gewesen, die Lärmtrompeter zum Stillschweigen zu bringen. Vor einer gewaltsamen Oktroyierung einer Geschäftsordnung schreckte aber die Regierung und die Mehrzahl der Parteien zurück, aus Furcht, es könnte „sehr leicht in die Zeiten Badenis und der Lex Falkenhayn eingeschwenkt werden". Durch die Erinnerung an die Ereignisse des November 1897 im Parlament waren die Parlamentarier in diesem Punkt doppelt vorsichtig und doppelt empfindlich. Die Oktroyierung einer sinnvolleren Geschäftsordnung begegnete 1909 überdies dem heftigsten Widerstand der damals zweitgrößten Partei, der Sozialdemokraten, und es wurde sehr befürchtet, „daß dann die Genossen Adlers selber mit fliegenden Fahnen ins Heerlager der Obstruktion einrückten. Mit der Lex Falkenhayn ist es also nichts, und die Zeiten des kniffligen Badeni bleiben nicht vergessen, doch versunken."111) Da kein anderer Weg übrigblieb, wurde am 17. Dezember 1909 nach einer 86stündigen, Tag und Nacht fortgesetzten Sitzung, welche lediglich mit der Debatte über Dringlichkeitsanträge ausgefüllt war, nun 10i

) Mit Beschluß vom 22. Dezember 1909 wurde die Zahl der Vizepräsidenten auf neun erhöht, diese jedoch 1917 wieder auf sieben reduziert. ) Μ. Κ u 1 i s c h, Die rechtliche Stellung des Reichsrates S. 364—366. m ) J. J a e g e r , Der Österreicher S. 383. uo

Reformen der Geschäftsordnung

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auch ein Dringlichkeitsantrag auf Änderung und Ergänzung des Geschäftsordnungsgesetzes — befristet auf ein Jahr — gestellt und auf diesem hinsichtlich seiner Legalität allerdings anfechtbaren Umweg eine Reform angebahnt. Der Antrag wurde angenommen und sogleich mit Zweidrittelmajorität die zweite und die dritte Lesung durchgeführt. Am folgenden Tag trat das Herrenhaus bei und noch am 20. Dezember 1909 wurde die kaiserliche Sanktion erteilt112). Die Geltungsdauer wurde im Dezember 1910 und 1911 jeweils durch Gesetz um ein m

)

Gesetz vom 20. Dezember 1909 über die Ergänzung des Gesetzes vom 12. Mai 1873,R.G.B1. Nr. 94, in betreff der Geschäftsordnung des Reichsrates (R.G.B1. Nr. 204 vom 21. Dezember 1909). Mit Zustimmung beider Häuser des Reichsrates finde ich anzuordnen, wie folgt: Artikel I. Dem § 5 des Gesetzes vom 12. Mai 1873, R.G.B1. Nr. 94, werden folgende Bestimmungen angefügt: Im Abgeordnetenhaus werden in der Regel nach Eröffnung der Sitzung vor allem Zuschriften der Regierung und des anderen Hauses, Mitteilungen der Abteilungen und Ausschüsse, Berichte derselben sowie Anträge angekündigt und nach Ermessen des Präsidenten auch verlesen, bezüglich der Anträge nötigenfalls die Unterstützungsfrage gestellt, die vom Präsidenten im eigenen Wirkungskreise erteilten Urlaube zur Kenntnis und Urlaubsgesuche an das Haus zur Entscheidung gebracht. Endlich wird das Verzeichnis der bis zum Tage vor der Sitzung eingelangten Petitionen mit Angabe ihres wesentlichen Inhaltes mitgeteilt und die Frage, betreffend die Genehmigung des amtlichen Sitzungsprotokolles, gestellt. Zum Zwecke der Fernhaltung jeder Störung und jedes Mißbrauches der Geschäftsordnung und der Hausordnung ist der Präsident des Abgeordnetenhauses befugt, diese Mitteilungen mit Ausnahme der bei Beginn der Sitzung bereits vorgelegten Zuschriften der Regierung und des anderen Hauses ganz oder zum Teile im Verlaufe oder am Schlüsse der Sitzung zu machen, die Verhandlung von Initiativanträgen, für welche die dringliche Behandlung gefordert wird, sowie die Fortsetzung solcher Verhandlungen und die Fortsetzung der Verlesung von Interpellationen, die in der letzten Sitzung nicht beendet werden konnte, nach seinem Ermessen im Verlaufe oder am Schlüsse der Sitzung vornehmen zu lassen, die Gewährung einer Pause vor der Abstimmung zu verweigern und bei Anträgen zur formalen Geschäftsbehandlung keine andere Abstimmungsart als die einfache durch Erheben von den Sitzen zuzulassen. Im Falle einer schweren Beleidigung des Präsidenten oder einer offenen Widersetzlichkeit gegen seine Anordnungen ist der Präsident befugt, den schuldtragenden Abgeordneten auf die Dauer der betreffenden Sitzung, eventuell auch für die folgende oder für die zwei nächstfolgenden Sitzungen auszuschließen. Gegen jede auf Grund dieses Paragraphen getroffene Verfügung des Präsidenten ist der Appell an das Haus gestattet, worüber das Haus ohne Debatte in einfacher Abstimmung entscheidet. Verfügt der Präsident die Ausschließung eines Abgeordneten auch für die folgende oder für die zwei folgenden Sitzungen, so entscheidet das Haus über den Appell gegen eine solche Verfügung vor Eingang in die Tagesordnung der nächstfolgenden Sitzung ohne Debatte in einfacher Abstimmung. Artikel II. Die Geltungsdauer dieses Gesetzes, welches mit dem Tage der Kundmachung in Wirksamkeit tritt, erlischt am 31. Dezember 1910. Wenn bis dahin an Stelle der in dem vorstehenden Gesetz getroffenen Bestimmungen, beziehungsweise an Stelle der derzeit geltenden Geschäftsordnung keine neue Regelung Rechtswirksamkeit erlangt hat, treten die bisherigen diesfälligen Bestimmungen des Gesetzes vom 12. Mai 1873, R.G.B1. Nr. 94, sowie die für das Abgeordnetenhaus des Reichsrates beschlossene Geschäftsordnung vom 2. März 1875 wieder in Kraft. Wien, am 20. Dezember 1909 r> · .ι F r a n z J o s e p h m . p. ,, ... Bienerthm.p. j r r Haerdtlm.p.

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Jahr verlängert113), doch fehlten beidemal vom Gesetz vom 20. Dezember 1909 bei Artikel I gänzlich Alinea 4 und von Alinea 5 der zweite Satz. Eine weitere Verlängerung dieser Gesetzesbestimmungen erfolgte 1912 nicht mehr, doch wurden sie durch Beschluß des Abgeordnetenhauses vom 20. Dezember 1912 unmittelbar in die Geschäftsordnung, und zwar an Stelle der bisherigen Bestimmungen des § 46, zweiter und dritter Absatz, aufgenommen. Die Geltungsdauer dieser veränderten Fassung des § 46 sollte am 30. Juni 1913 erlöschen, doch wurde sie zehn Tage zuvor bis zum 15. Mai 1914 erstreckt. Die große Reform der Geschäftsordnung wurde 1917 sofort bei Beginn der XXII. und zugleich letzten Session des Reichsrates vom Abgeordnetenhaus „aus eigener Kraft und mit Verzicht auf die Krücken einer Regierungsvorlage" in Angriff genommen, um „im eigenen Haus Zustände zu schaffen, die der Volksvertretung die Möglichkeit zu voller Entfaltung" bieten sollten114). Schon in der Eröffnungssitzung vom 30. Mai 1917 lag ein Antrag auf Abänderung des Gesetzes über die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses vor, der von den Parteien gemeinsam eingebracht worden war. Auf Grund der vorausgegangenen Verhandlungen zwischen allen Parteien war eine eingehendere Beratung in dem noch am 30. Mai gewählten Geschäftsordnungsausschuß „überflüssig". So konnte schon am 5. Juni 1917 die zweite Lesung durchgeführt werden, bei der die nationale Zerrissenheit Österreichs und des Parlaments trotz aller Parteienvereinbarungen ebenso deutlich hervortrat, wie am Tage darauf, als vor Beginn der dritten Lesung der Berichterstatter seine Stelle aus Protest zurücklegte115). Dennoch konnten das Geschäftsordnungsgesetz und die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses am 6. Juni 1917 bei Anwesenheit von mehr als der Hälfte der Abgeordneten mit Zweidrittelmehrheit beschlossen, das Gesetz nach Zustimmung durch das Herrenhaus und Erteilung der kaiserlichen Sanktion am 11. Juni 1917 publiziert und die Geschäftsordnung am folgenden Tag in Kraft gesetzt werden. Den Rücktritt des Berichterstatters, welcher der Deutschradikalen Partei innerhalb des Deutschen Nationalverbandes angehörte, hatte ein Zusatzantrag zum § 51 ausgelöst, der ursprünglich bei den Parteienverhandlungen und ebenso auch im Geschäftsordnungsausschuß abgelehnt, jedoch anläßlich der zweiten Lesung vom Hause als ein Zeichen der Völkerversöhnung spontan angenommen worden war. Nach diesem Zusatzantrag waren „sämtliche Reden wortgetreu, wie sie vorgetragen wurden, in das stenographische Protokoll aufzunehmen", wodurch die so lange umstrittene parlamentarische Sprachenfrage zugunsten der wörtlichen Aufnahme auch nichtdeutscher Reden in die stenographischen Protokolle entschieden war116). Das Abgeordnetenhaus hatte durch die rasche Reform der Geschäftsordnung „eine so eindrucksvolle Bejahung seines Daseins ausgesprochen, daß mit Recht 113

) Gesetz vom 21. Dezember 1910 (R.G.B1. Nr. 232 vom 24. Dezember 1910) und vom 28. Dezember 1911 (R.G.B1. Nr. 245 vom 31. Dezember 1911). 114 ) Bericht des Geschäftsordnungsausschusses Stenogr. Prot. XXII. Session, 181 der Beilagen. — Hier auch Hinweise auf die Parteienverhandlungen noch vor Zusammentritt des Reichsrates. 115 ) Stenogr. Prot. XXII. Session S. 55—90 und S. 104 f. lle ) Vgl. dazu auch K. u. Ο. Ν e i s s e r, Geschäftsordnung II S. 423—478. — In der Praxis haben im allgemeinen die nichtdeutschen Abgeordneten trotz der Bestimmungen der Geschäftsordnung von 1917 lediglich nur den Beginn ihrer Reden in ihrer Muttersprache, den Hauptteil jedoch deutsch gehalten, sofern sie auf die radikale Betonung ihrer anderen Nationalität überhaupt Wert legten.

Reformen der Geschäftsordnung — Kritik am Parlamentarismus

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auf eine gesunde Entwicklung der gesetzgeberischen Tätigkeit der Volksvertretung gehofft werden" konnte. Zwar war keine „Idealreform" durchgeführt, doch die Grundlagen für den ruhigen Gang der Verhandlungen im Abgeordnetenhaus gesichert worden. Weitgehende Abweichungen von der alten Geschäftsordnung waren schon dadurch nicht möglich, da keine Partei eine Einschränkung der Immunitätsrechte der Abgeordneten zulassen wollte und „fast jede Partei in einer anderen Stelle des geltenden Rechtes die sicherste Gewähr für die Wahrung irgendeines Teiles der Immunität erblickte"117). Wie die Gegenüberstellung der beiden Geschäftsordnungen118) zeigt, war vor allem versucht worden, durch Aufnahme neuer Bestimmungen, die Redezeit so zu beschränken, daß es einer obstruierenden Minderheit nicht mehr möglich sein konnte, durch tatsächliche Berichtigungen oder Dauerreden die Verhandlungen lahmzulegen119). Völlig gestrichen wurde mit dem gleichen Ziele der § 42 der alten Geschäftsordnung, der die Abkürzung des Geschäftsverfahrens bei den sogenannten Dringlichkeitsanträgen festgelegt hatte. Als ein schwacher Ersatz für die Dringlichkeitsanträge wurde die Möglichkeit der „dringlichen Anfragen" an einen Minister geschaffen, von der dann auch überreichlich Gebrauch gemacht wurde120). Trotz aller Schwächen, welche die alte Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses besaß, ist es ungerecht, ihr allein die Schuld an den Vorkommnissen in der Obstruktionsära in die Schuhe zu schieben. Auch eine ideale Geschäftsordnung vermag die Arbeitsfähigkeit eines Hauses nur so lange zu verbürgen, als keine ins Gewicht fallende Gruppe die Schranken durchbricht und aus parteipolitischen Gründen entschlossen ist, wider den Geist und Sinn der Bestimmungen der Geschäftsordnung aufzutreten. Die Schuld an den Vorgängen im Abgeordnetenhaus nach Erlassung der Badenischen Sprachenverordnungen tragen ganz allein die Führer der Parteien, welche nicht gewillt waren, das Interesse der österreichischen Reichshälfte und des Gesamtreiches über das ihrer eigenen nationalen Ziele zu stellen und die Erfüllung ihrer Forderungen geringer als den Bestand der Monarchie einzuschätzen. Die ernsthaften Diskussionen zogen in diesen Krisenjahren daher nicht so sehr die Geschäftsordnung als vielmehr die Ursachen der Verfallserscheinungen in ihren Bereich und es wurde versucht, sowohl den „Parlamentarismus", der in der Leidensgeschichte des kurzen österreichischen Verfassungslebens überzeugend ad absurdum geführt worden sei121), als auch das „Majoritätsprinzip" und „Das Recht der Minoritäten" wissenschaftlich dar"') Stenogr. Prot. XXII. Session, 181 der Beilagen S. 1. ) Ebenda, 181 der Beilagen S. 15—69 und 222 der Beilagen S. 27—41. lle ) § 46 Alinea 2: „Eine tatsächliche Berichtigung darf die Dauer von fünf Minuten nicht überschreiten." — § 56: „Auf Vorschlag des Präsidenten kann das Haus bei einzelnen Verhandlungen sowohl für die Generaldebatte als auch für einzelne oder sämtliche Abschnitte der Spezialdebatte beschließen, daß die Redezeit eines jeden Redners aus dem Hause mit Ausnahme des Berichterstatters ein bestimmtes Ausmaß nicht überschreiten darf. Auf weniger als eine halbe Stunde kann jedoch die Redezeit nicht herabgesetzt werden. Einwendungen gegen den Vorschlag des Präsidenten sind unzulässig. Der Beschluß wird ohne Debatte gefaßt." l20 ) § 69. „Im Falle besonderer Dringlichkeit kann auf Vorschlag des Präsidenten oder auf Antrag von zwanzig Mitgliedern ohne Debatte beschlossen werden, daß eine in derselben Sitzung eingebrachte Anfrage an einen Minister vom Fragesteller vor Eingehen in die Tagesordnung oder nach deren Erledigung mündlich begründet werde und hierauf eine Debatte über den Gegenstand stattfinde. In dieser Debatte darf kein Redner länger als 20 Minuten reden." m ) A. v. O f f e r m a n n , Vervollkommnung Österreichs S. 46 118

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VIII. Der Sturz Badenis

zulegen. Noch 1898 ließ Georg Jellinek, der zu den bedeutendsten Rechtsgelehrten seiner Zeit gehörte, seinen in der juristischen Gesellschaft in Wien gehaltenen Vortrag über „Das Recht der Minoritäten" erscheinen, in welchem er sich gegen die vorherrschende Lehre wandte, daß die staatstragenden Majoritäten zur Majorisierung nationaler Minderheiten berechtigt seien. „Die Lehre, daß wie in anderen, so auch in nationalen Fragen Mehrheit zu entscheiden habe, ist nichts anderes als eine in der Politik so häufig vorkommende Deduction aus ungenügend fundierten Prämissen. Es wird nämlich die für das Majoritätsprinzip notwendige innere politische Einheit des gesamten Volkes in einem Punkte vorausgesetzt, in dem sie nicht vorhanden sein kann. Das ist ein Fall des alten, verderblichen Doctrinarismus, der für alle Staaten und alle Parlamente nur eine geheiligte Schablone anerkennen will, er gehört zu den Dogmen jener naturrechtlichen Politik, die unerbittlich Glauben verlangt und den verketzert, der ihren öden Gemeinplätzen Anerkennung versagt. Wir haben ja gesehen, wie der Satz, Mehrheit solle herrschen, hervorging aus der naturrechtlichen Anschauung von der absoluten Gleichheit aller Menschen. Was für das absolut Gleiche gilt, kann aber nicht für das absolut Ungleiche seine Geltung beanspruchen."122) Die „für das Majoritätsprinzip notwendige innere politische Einheit des gesamten Volkes" werde „in einem Punkte vorausgesetzt, in dem sie nicht vorhanden sein kann." In Österreich seien „gesetzliche und administrative Maßregeln getroffen, um jeder Nationalität, namentlich im Gebrauche ihrer Sprache, bei den Behörden und in der Schule Schutz zu erteilen". Es bleibe aber, da eine Verlegung aller national bedeutsamen Fragen in die Landtage nur auf Kosten einer tiefgehenden, den Staat zerrüttenden Revolution erfolgen könne und jene niemals die Zustimmung der Nationen finden würde, die außerordentlich schwierige Frage, wie im Zentralparlament, in welchem acht Nationalitäten vertreten sind, die Rechte der nationalen Minderheiten zu schützen seien und welche parlamentarischen Sonderrechte diesen erteilt werden könnten, ohne den Gang der Verhandlungen für immer unmöglich zu machen. Die Macht der geschichtlichen Verhältnisse sei hier weiser als alle politische Klugheit. Die Nationalitätenfrage sei in Österreich in erster Linie eine deutsche Frage geworden. Einer deutschen Minorität stehe seit einer Reihe von Jahren eine slawische Majorität gegenüber, so daß sich, unabhängig von aller gesetzlichen Normierung, durch die Macht der nationalen und politischen Gegensätze im Reichsrate gleichsam ein Corpus Germanorum und ein Corpus Slavorum gebildet hätten, denen aber de iure nicht gleiche Rechte zukämen. Die großen Kämpfe der Badeni-Zeit seien der erste Versuch des Corpus Germanorum gewesen, sich vor der Majorisierung durch das andere Corpus zu schützen. In der Anerkennung bestimmter, der Majorisierung entzogener Rechte des Corpus der Deutschen im Zentralparlamente läge die einzige Möglichkeit, normale Zustände im Reichsrate zu garantieren, denn es müsse in einem Nationalitätenstaat „jede Majorisierung in nationalen Dingen als Barbarisierung empfunden" werden. Formal müßten die gleichen Rechte auch dem anderen Corpus zuerkannt werden, obwohl dieses ja durch die Tatsache geschützt sei, daß ihm auch in Zukunft die Majorität sicher sei. Der Gegensatz zwischen deutsch und slawisch sei aber der einzige, „der fortwährend an den Existenzbedingungen Österreichs rüttelt, alle 122

) W. Starosolskyj definierte in seiner Studie über das „Majoritätsprinzip", das er bis zu dessen Anfängen in Griechenland und Rom zurückverfolgte und das er sowohl soziologisch als auch systematisch und rechtsdogmatisch untersuchte, die unversöhnlichen religiösen oder nationalen Interessengegensätze innerhalb einer Gruppe als „eine Schranke für die Anwendung des Majoritätsprinzipes". (W. S t a r o s o l s k y j , Majoritätsprinzip S. 66.)

Das Recht der Minoritäten

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anderen Gegensätze unter den Nationalitäten sind von verhältnismäßig geringer Bedeutung"123). Mit anderen Worten: Jellinek wollte auch für den Reichsrat nationale Kurien einführen, wie solche für den böhmischen Landtag längst gefordert wurden und geplant waren. Wichtiger als dieser unmittelbar aktuelle Hinweis auf eine Lösungsmöglichkeit des deutsch-slawischen Gegensatzes im österreichischen Abgeordnetenhaus war die ganz allgemeine und in die Zukunft weisende, aus sittlicher Verantwortung gestellte Forderung Jellineks nach Feststellung und Anerkennung der den Minoritäten zustehenden Rechte124). Die Behandlung des Problems des Minoritätenschutzes war damals noch verhältnismäßig neu. Hatten die konstitutionellen Ideen ihre Entstehung dem Bestreben der Regierten zu verdanken, sich gegen die Willkür der regierenden Fürsten zu 123

) G. J e l l i n e k , Recht der Minoritäten S. 456. — Zur ausführlichen Beurteilung dieser grundlegenden und bedeutungsvollen Schrift vgl. E. V i e f h a u s , Minderheitenfrage S. 13—16. — L. S p i e g e l , Funktion der Notverordnung S. 89. — Unter dem Einfluß von Jellinek offensichtlich auch H. K e l s e n , Problem des Parlamentarismus S. 28—39. —Zur Problematik der Stellung von Regierungen gegenüber widerstrebenden parlamentarischen Minderheiten vgl. F. v. W i e s e r , Recht und Macht S. 104. ui ) „Noch viel bedeutsamer als für die Gegenwart, und zwar nach allen Richtungen hin, nicht etwa nur für gesetzgebende Versammlungen, wird die Frage nach dem Rechte der Minoritäten einer fernen Zukunft erscheinen. Die moderne Gesellschaft befindet sich in einem immer weiter vorwärts schreitenden Prozeß der Demokratisierung. Mag man nun diese Entwicklung mit Freude begrüßen oder fürchten, keine Macht der Welt ist imstande, diesen geschichtlichen Naturprozeß dauernd zu hemmen. Hier schneller, dort in zögernder Weise gehen die Kulturnationen der allgemeinen Nivellierung entgegen. . . . Je weiter aber die Demokratisierung der Gesellschaft vorwärts schreitet, desto mehr dehnt sich auch die Herrschaft des Majoritätsprinzips aus. Je mehr das Individuum durch den Gedanken der menschlichen Solidarität zurückgedrängt wird, desto weniger Schranken erkennt der herrschende Wille gegenüber dem Einzelnen an. Das eröffnet aber die Aussicht in eine furchtbare Gefahr, die der gesammten Civilisation droht. Nichts kann rücksichtsloser, grausamer, den primitivsten Rechten des Individuums abholder, das Große und Wahre mehr hassend und verachtend sein, als eine demokratische Mehrheit. Das ist nicht etwa ein Lehrsatz, welcher einer der Umbildung der Gesellschaftsordnung feindlichen Gesinnung entsprungen, vielmehr von Vorkämpfern der modernen politischen Entwicklung anerkannt und häufig mit beredten Worten geschildert worden ist. Nur ein der Wirklichkeit gänzlich abgewendeter Mensch kann heute noch den T r a u m von der Güte und Wahrheitsliebe der Massen träumen. Es müßte auch mit wunderlichen Dingen zugehen, wenn die guten und edlen Eigenschaften des Menschen, die wir ja beim Individuum so selten finden, der Masse in großem Umfange zukommen sollten. . . . Jene neuen Lehren vom Übermenschen und der Herrenmoral bis in die Verirrungen der anarchistischen Theorien hinein sind nur aus einer Zeit heraus zu verstehen, die bestrebt ist, das schonungslose Recht der Mehrheit zu proclamiren. In all diesen Lehren ruht als wichtiger Kern der Gedanke, daß Anerkennung einer staats- und gesellschaftsfreien Sphäre des Individuums, innerhalb deren es keinem Mehrheitswillen sich zu unterwerfen hat, ein s o z i a l e s Interesse ersten Ranges ist. Collectivismus und Individualismus sind keine ausschließenden Gegensätze, wenn man erkannt hat, daß das Collectivum durch völlige z w a n g s w e i s e Unterwerfung des Individuums unter die Gesamtheit in der Erreichung höherer Ziele für immer gehemmt ist. Die schöpferischen socialen Taten sind stets freie Taten des Individuums gewesen, während der gesellschaftliche Zwang, in welcher Form immer geübt, nur regulierend, niemals schaffend wirken kann. Mit dieser Erkenntnis aber ist der Zukunft eine gewaltige Aufgabe gestellt. Der ewige Kampf zwischen Imperium und Libertas wird auch in der demokratischen Gesellschaft der kommenden Jahrhunderte gekämpft werden." (G. J e l l i n e k , Recht der Minoritäten S. 463—465. Sperrung im Original.)

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VIII. Der Sturz Badenis

schützen, so suchten nunmehr die Minoritäten der parlamentarischen Kollegien Schutz gegen Willkürakte der Majoritäten. Jellineks Postulate aber sind über diese begrenzte Frage des Schutzes parlamentarischer Minoritäten im Zusammenhang mit dem Wunsche, nationale Minderheiten schlechthin zu schützen, bedeutungsvoll geworden125). Zu jenen, die noch von einer Umgestaltung der Verfassung und von einer Sicherung der Minorität im Parlament eine Wandlung erhofften, ohne jedoch den letzten Schritt zu einer großen Konzeption einer verfassungsrechtlichen Neugestaltung zu wagen, gehörte auch Alfred Freiherr von Offermann, dessen erste Flugschrift gerade 1897 erschien und der vor allem dann in seinem Hauptwerk in apodiktischer Form davon sprach, daß das parlamentarische System, das immer auf Majoritätsherrschaft hinziele, in einem Nationalitätenstaat ohne ein geregeltes Nationalitätenrecht geradezu „staatsfeindlich und staatszerstörend" wirke und sich dort die Gebrechen des Parlamentarismus in unabsehbarer Weise verschlimmern müßten. Aller Parlamentarismus sei nur so lange möglich, als die ihn bildenden Parteien nicht nur über alle wesentlichen Verfassungsfragen einig seien, sondern überhaupt von keinen unüberbrückbaren Gegensätzen beherrscht würden. Der ideale Gedanke des Parlamentarismus setze unabdingbar eine hohe politische Einsicht von dem beschränkten Rechte der Majorität voraus. Diese selbstverständliche Beschränkung des Majoritätsrechtes in Nationalstaaten ergebe sich daraus, daß die Nationalität eine Frage der Existenz darstelle, die ebenso grundrechtlich zu schützen sei wie der Anspruch des einzelnen auf die unveräußerlichen Menschenrechte126). „Die Widersinnigkeit des Majoritätsprinzips" und das Versagen des Parlaments, das durch „die öffentliche Roheit" auf das Niveau „der Gasse und Gosse" herabgezogen wurde, aber veranlaßten 1902 Ernst Victor Zenker, der dann selbst von 1911 bis zum Untergang der Monarchie dem Abgeordnetenhaus angehörte und sich dem Klub der deutschen Demokraten angeschlossen hatte, die Reform des parlamentarischen Systems zu fordern, die ihm in keinem Staate so notwendig schien, wie in Österreich, „für dieses mißleitete, von Dummheit, Bosheit und Roheit zerrissene Gemeinwesen"127). Die konkrete Problematik des österreichischen Parlamentsrechtes hatte 1900 Franz Hauke in seinem Czernowitzer Rektors-Inaugurationsvortrag aufgegriffen. Auch er forderte unter dem Eindruck von Georg Jellinek die rechtliche Bestimmung des Verhältnisses „zwischen der Majorität und der Minorität des Parlamentes ohne Abbruch der Interessen des Staatsganzen", doch sucht er die Lösung der Parlamentsfrage in einer Änderung der Parlamentsverfassung. Unter Hinweis auf Vorschläge, „die schon in älterer Zeit vertreten worden sind", möchte er neben dem Gesamtparlament, „das nach wie vor als Organ in allen verfassungsrecht125

) Vgl. unten S. 402. ) Α. ν. Ο f f e r m a η η, Verfassung als Quelle des Nationalitätenhaders. — D e r s., Verfassung Österreichs. — D e r s.: Bedingungen des Constitutionellen Österreichs. — D e r s., Vervollkommnung Österreichs. — D e r s., Parlamentarismus contra Staat — Zur Beurteilung Offermanns vgl. E. V i e f h a u s, Minderheitenfrage S.17—19. Dieser hat Offermanns 1899 erschienene Arbeit „Die Verfassungsrechtliche Vervollkommnung" nicht herangezogen, obwohl gerade hier die Nichtanwendbarkeit der englischen Parlamentsform auf eine Bevölkerung, die in Nationalitäten gespalten ist, besonders nachdrücklich ausgesprochen wird. m ) Ε. V. Z e n k e r , Reform des Parlamentarismus S. 48 und S. 93. — Vgl. auch D e r s., Parlamentarismus. Wesen und Entwicklung S. 24—38. — D e r s., Ein Mann im sterbenden Österreich. Diese nicht sehr tiefgehenden Erinnerungen tragen das politische Signum ihrer Entstehungszeit und werden dem alten Österreich in keiner Weise gerecht. 12β

Die Forderung nach Fachparlamenten

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liehen Fragen ausschließlich in Betracht zu kommen hätte und namentlich berufen wäre, die Gesamtheit der Fragen zu behandeln, welche sich auf die staatsbürgerliche Rechtsstellung beziehen", auch noch Fachparlamente errichten, die den Charakter von Justizgesetzgebungs- und von Verwaltungsparlamenten gewinnen sollten. Damit wäre nach Haukes Ansicht das Gesamtparlament als eigentliches Verfassungsparlament entlastet, die Fachparlamente aber „der aufregenden Atmosphäre der spezifisch politischen Versammlung" entzogen. Diese „aus fachlich qualifizierten Elementen" gebildeten Kollegien würden offensichtlich „mit größerem Eifer, mit höherem Interesse" arbeiten „als eine Versammlung, in welcher mehr als die Hälfte der Mitglieder fachmännische Einsichten entbehrt"128). Dem Verfassungsparlament aber sollte eine Einflußnahme auf die Zusammensetzung des Fachparlamentes zustehen, die Fassung der Gesetzesbeschlüsse durch das Fachparlament aber als eine im vorhinein gesetzlich bestimmte Delegierung zu betrachten sein. Über Wert oder Unwert dieser Vorschläge zu urteilen, sind wir enthoben. Der österreichische Parlamentarismus „hat sich von dem Schlag von 1897 bis zum Ende der Monarchie nicht mehr erholt"129). Die Krankheit saß tiefer als lediglich bei der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses. Nur eine umfassende konstruktive Reichsgestaltung hätte die nationalen Gegensätze auszugleichen vermocht. Eine Änderung der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses wäre nur ein Hilfsmittel, um die Obstruktion einzudämmen, nicht aber ein Heilmittel zur Wiedergesundung der österreichischen Innenpolitik gewesen, denn die Verirrungen waren so weit gediehen, daß keine Geschäftsordnung mehr, es sei denn, sie hätte den hergebrachten Parlamentarismus selbst erschlagen, Hilfe hätte bringen können. Aber auch die Anwendung des Notverordnungsrechtes konnte nur über den augenblicklichen Gesetzgebungsnotstand, der um so größer wurde, je länger die Obstruktion andauerte, sehr mühsam hinweghelfen, denn die kaiserlichen Notverordnungen waren niemals imstande, ein arbeitsfreudiges Parlament zu ersetzen. Jedoch gerade als Begleit- und Komplementärerscheinung der Obstruktion gelangte das im § 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 141 kodifizierte Notverordnungsrecht zu einer vom Gesetzgeber ursprünglich gewiß nicht vorgesehenen Bedeutung130). Dieses Notverordnungsrecht, das nach 1897 auch dem einfachsten Manne in Österreich, und zwar schlechthin als „berüchtigter § 14"131) bekannt war, trat an die Stelle der konsti12e

) F. H a u k e , Fragen des Parlamentsrechtes S. 10. — Auch Ε. V. Z e n k e r (Parlamentarismus. Wesen und Entwicklung S. 187 f.) forderte eine Teilung des Parlamentes in zwei Kammern, in eine gesetzgebende Körperschaft und in eine Reichswirtschaftskammer. Um die wirtschaftliche Gesetzgebung „aus den Fängen der Politik" zu befreien, verlangte noch 1917 Franz Klein die Berufung von „fachlich befähigten Wortführern der wirtschaftlichen und Verkehrsinteressen" als gleichberechtigte Mitglieder in die entsprechenden Ausschüsse des Parlamentes. (F. K l e i n , Parlamentarische Gesetzgebung.) —Vgl. auch B. S k o t t s b e r g , österr. Parlamentarismus. — H. K e l s e n , Problem des Parlamentarismus. — G. J e l l i n e k , Verfassungsänderung S. 48—80. — Vgl. dazu den Bericht K a r l v . G r a b m a y r s S . 134, Anm. 107. 12B ) R. A. K a n n , Nationalitätenproblem S. 207. lao ) „Wenn einmal die Geschichte des österreichischen Parlamentes geschrieben wird, dann wird gewiß eines der interessantesten Kapitel den § 14 behandeln." K a r l v. G r a bm a y r im Herrenhaus vom 29. Dezember 1913. Stenogr. Prot. H.H. XXI. Session S. 759. m ) Selbst L. E i s e n m a n n (Le compromis Austro-Hongrois S. 280 Anm. 1) spricht vom „fameux § 14, qui depuis six ans a remplace toute la Constitution cisleithane". — R. A. K a n n (Nationalitätenproblem S. 207) nennt den § 14 ein „dubioses Hilfsmittel" und 10

Sutter, Sprachenverordnungen II.

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VIII. Der Sturz Badems

tutionellen, an die Mitwirkung der Reichsvertretung gebundenen Gesetzgebung. Was als „singuläres Auskunftsmittel" für äußerst seltene Ausnahmefälle gedacht war, wurde zur Regel, „ u m die wirklichen oder vermeintlichen Staatsnotwendigkeiten i m kurzen W e g e sicherzustellen". N i c h t ganz zu U n r e c h t wurde daher v o n „Kryptoabsolutismus" 1 3 2 ) u n d von „Absolutismus der Regierung" gesprochen, „der unter der schützenden Hülle des § 14 den äußerlichen Schein der Verfassungsmäßigkeit nur kümmerlich wahrte" 133 ). D i e sachliche Berechtig u n g eines Notverordnungsrechtes, also einer kodifizierten Ermächtigung des Staatsoberhauptes oder dessen Regierung, sich in dringenden Fällen über das Erfordernis der parlamentarischen Z u s t i m m u n g hinwegzusetzen u n d das N o t wendige i m Verordnungswege zu erlassen, wurde selten bezweifelt u n d so das Notverordnungsrecht in den Verfassungen der verschiedensten Staaten verankert 134 ). In Österreich hatte bereits der § 87 der „Reichsverfassung" v o m spricht in diesem Zusammenhang von einer „gewiß nicht unanfechtbaren Regierungstaktik". l32 ) L. S p i e g e l , Funktion der Notverordnung S. 96. — In der vom tschechischen Historiker Josef Pekar im Jahre 1917 verfaßten, für Kaiser Karl bestimmten Denkschrift der nationalen, doch Österreich treuen Tschechen wurde ausdrücklich auch auf den § 14 Bezug genommen, unter dessen Vorwand ein absolutistisches Polizeiregime geführt werde. Vgl. J. Ρ e k a r , Κ ceskemu boji stätoprävnimu S. 523. 1S3 ) Bericht des Obmannes des Verfassungsausschusses K a r l v . G r a b m a y r . Stenogr. Prot. Abg.H. XVII. Session, 2668 der Beilagen S. 2. 13 ') So ermöglichte beispielsweise die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 in Art. 48 die Reichsexekution gegen die Länder, die ihre Pflichten nicht erfüllten, und die Bekämpfung ungewöhnlicher Störungen oder Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch außerordentliche diktatorische Maßnahmen des Reichspräsidenten und der Landesregierungen. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 kennt dagegen in Art. 81 nur den Gesetzgebungsnotstand, den der Bundespräsident auf Antrag der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates gegen den Bundestag bei einer bestimmten Gesetzesvorlage aussprechen kann. Bei der Beratung dieses Gesetzesartikels wurde ausdrücklich erklärt, man habe die Gefahren, die ein Notverordnungsrecht im Sinne des Art. 48 der Reichsverfassung von 1919 in sich berge, wohl erkannt. „Man habe in den Vorschlag alle Sicherungen eingebaut, die nach menschlichem Ermessen denkbar seien." (Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes S. 594.) — Nach dem geltenden österreichischen Bundesverfassungsgesetz regeln das „Notverordnungsrecht" des Bundespräsidenten die Absätze 3 bis 5 des Art. 18, die durch die Bundes-Verfassungsnovelle vom 7. Dezember 1929 diesem Artikel angefügt wurden: „Art. 18 (3) Wenn die sofortige Erlassung von Maßnahmen, die verfassungsgemäß einer Beschlußfassung des Nationalrates bedürfen, zur Abwehr eines offenkundigen, nicht wieder gutzumachenden Schadens für die Allgemeinheit zu einer Zeit notwendig wird, in der der Nationalrat nicht versammelt ist, nicht rechtzeitig zusammentreten kann oder in seiner Tätigkeit durch höhere Gewalt behindert ist, kann der Bundespräsident auf Vorschlag der Bundesregierung unter seiner und deren Verantwortlichkeit diese Maßnahmen durch vorläufige gesetzändernde Verordnungen treffen. Die Bundesregierung hat ihren Vorschlag im Einvernehmen mit dem vom Hauptausschuß des Nationalrates einzusetzenden ständigen Unterausschuß (Artikel 55 Absatz 2) zu erstatten. Eine solche Verordnung bedarf der Gegenzeichnung der Bundesregierung. (4) Jede nach Absatz 3 erlassene Verordnung ist von der Bundesregierung unverzüglich dem Nationalrat vorzulegen, den der Bundespräsident, falls der Nationalrat in diesem Zeitpunkt keine Tagung hat, während der Tagung aber der Präsident des Nationalrates für einen der der Vorlage folgenden acht Tage einzuberufen hat. Binnen vier Wochen nach der Vorlage hat der Nationalrat entweder an Stelle der Verordnung ein entsprechendes Bundesgesetz zu beschließen oder durch Beschluß das Verlangen zu stellen, daß die Verordnung

Das österreichische Notverordnungsrecht

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4. März 1849 die Berechtigung des Kaisers dekretiert, wenn der Reichstag oder der Landtag nicht versammelt ist, unter Verantwortlichkeit des Ministeriums Verfügungen mit provisorischer Gesetzeskraft zu treffen, sofern dringende Maßregeln mit Gefahr auf dem Verzug erforderlich sind. Dagegen wurde im § 13 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung vom 26. Februar 1861 das Ministerium ganz allgemein ermächtigt, zur Zeit, als der Reichsrat nicht versammelt ist, in einem Gegenstande seines Wirkungskreises dringende Maßregeln zu treffen135). Doch noch im gleichen Jahr war das Abgeordnetenhaus des Reichsrates — wenn auch vergeblich — bestrebt, eine seinen Interessen günstige Abänderurg des § 13 zu erreichen. Dessen Problematik wurde deutlich, als in den Jahren 1863 und 1864 wiederholt Notverordnungen erlassen wurden, was das Abgeordnetenhaus veranlaßte, energisch seine Abänderung zu begehren. Die Debatten zeigen, daß dieser § 13 die verschiedensten Deutungen zuließ136). „In der Tat war der § 13 so

von der Bundesregierung sofort außer Kraft gesetzt wird. Im letzterwähnten Fall muß die Bundesregierung diesem Verlangen sofort entsprechen. Zum Zweck der rechtzeitigen Beschlußfassung des Nationalrates hat der Präsident die Vorlage spätestens am vorletzten Tag der vierwöchigen Frist zur Abstimmung zu stellen; die näheren Bestimmungen trifft die Geschäftsordnung. Wird die Verordnung nach den vorhergehenden Bestimmungen von der Bundesregierung aufgehoben, treten mit dem Tag des Inkrafttretens der Aufhebung die gesetzlichen Bestimmungen wieder in Wirksamkeit, die durch die Verordnung aufgehoben worden waren.

(5) Die im Absatz 3 bezeichneten Verordnungen dürfen nicht eine Abänderung bundesverfassungsgesetzlicher Bestimmungen bedeuten und weder eine dauernde finanzielle Belastung des Bundes, noch eine finanzielle Belastung der Länder, Bezirke oder Gemeinden, noch finanzielle Verpflichtungen der Bundesbürger, noch eine Veräußerung von Staatsgut, noch Maßnahmen in den im Artikel 10 Z. 11 bezeichneten Angelegenheiten, noch endlich solche auf dem Gebiet des Koalitionsrechtes oder des Mieterschutzes zum Gegenstand haben." Vgl. dazu L . A d a m o v i c h , Österr. Verfassungsrecht S. 326—328. — D e r s., Bundesverfassungsgesetze S. 73—75. 1 , s ) Zur Geschichte des Notverordnungsrechtes J. H a t s c h e k , Ursprung der Notverordnung. — A. F r i e d m a n n , Notstandsverordnungen S. 5—52. — Κ. Ν e i s s e r , Geschichte des § 14. — L . S p i e g e l , Notverordnungen S. 714—718. — J. H a t s c h e k will im Art. 14 der französischen Charte von 1814 den „Urtypus aller Notverordnungsparagraphen" gesehen wissen, obwohl dieser nicht das Notverordnungsrecht, sondern das Verordnungsrecht der Krone regelte. Der Art. 14 berechtigte den französischen König, Ordonanzen zu erlassen, zu einer Zeit, da die Kammern versammelt waren. Die Ordonanzen des französischen Königs konnten alles enthalten, was nur immer „la süreti de l'etat" erforderte, waren aber trotzdem keine stellvertretenden Gesetze. Sie hatten mit der puissance legislative nichts zu tun. Auch die Ableitung von der englischen Indemnitybill ist insofern nicht ganz stichhältig, als für das Notverordnungsrecht nicht charakteristisch ist, daß das Parlament die Notverordnung billigen, sondern daß es sie verwerfen kann und die Regierung die Indemnitybill gar nicht braucht. — Zur Kritik an J. Hatschek vor allem L . S p i e g e l , Ursprung der Notverordnung. 136 ) Vgl. über den §13 W. L u s t k a n d l , Ungar.-österr. Staatsrecht S. 387—400. — Am Schlüsse seiner Analyse des § 13 schreibt Lustkandl: „Wir hoffen zu Gott und zum Kaiser, es werde in Österreich nie nötig sein, daß das Volk und der Reichsrat wegen der verliehenen Verfassungsrechte, und namentlich wegen der eben auseinandergesetzten Verfassungsgedanken allzu mißtrauisch werde wachen müssen; aber weil die Frage doch wichtig und so fein gegliedert erscheint, daß sie nicht mit starktönendem Gepolter, oder mit unklaren Worten auseinandergesetzt werden kann, noch im Unklaren bleiben soll, so haben wir wenigstens so viel als möglich das Unsrige beitragen wollen, die in vertrauten Kreisen und auch im Parlamente schon mehrfach angeregte Frage zur durchsichtigen Klarheit und wahrhaften Erkenntnis mit bringen zu helfen. Möge man unsere Ansicht prüfen, vielleicht hält sie die Probe der Richtigkeit aus." 10*

VIII. Der Sturz Badenis

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allgemein gehalten, daß man ihm ein j e d e s außerhalb der Parlamentstagung bewirkte Oktroi subsumieren konnte137). Auch das Sistierungspatent vom 20. September 1865, durch welches die Februarverfassung und mit dieser auch der § 13 aufgehoben worden war, hat als Notverordnung bezeichnet werden können. Aber selbst in diesem Sistierungspatent ist eine Oktroyierungsermächtigung ausgesprochen, welche die kaiserliche Regierung berechtigt, „insolange die Reichsvertretung nicht versammelt ist", die „unaufschieblichen Maßregeln und unter diesen insbesondere jene zu treffen, welche das finanzielle und volkswirtschaftliche Interesse des Reiches erheischt". Nach dem Zusammentritt des Reichsrates im Jahre 1867 war es die Regierung selbst, welche eine „den konstitutionellen Anforderungen entsprechende Modifikation des § 13" anregte138). Tatsächlich kam eine Änderung dieses Paragraphen mit Gesetz vom 16. Juli 1867 (RGBl. Nr. 98) zustande139), das dann vollinhaltlich als § 14 in das Staatsgrundgesetz über die Reichs Vertretung übernommen wurde. Gegenüber dem § 87 der Märzverfassung und dem § 13 des Jahres 1861 präzisiert der § 14 weitaus schärfer die Voraussetzungen, unter denen das Notverordnungsrecht zur Anwendung gelangen sollte140). Märzverfassung 1849 §87:

Grundgesetz über die Reichsvertretung 26. Februar 1861, § 13:

Staatsgrundgesetz über die Reichsvertretung 21. Dezember 1867, § 14:

Wenn der Reichstag oder der Landtag nicht versammelt ist und dringende, in den Gesetzen nicht vorgesehene Maßregeln mit Gefahr auf dem Verzuge für das Reich oder für ein Kronland erforderlich sind, so ist der Kaiser berechtigt, die nötigen Verfügungen unter Verantwortlichkeit des Ministeriums, mit provisorischer Ges e t z e s k r a f t zu treffen, jedoch mit der Verpflichtung, darüber dem Reichs- oder beziehungsweise Landtage die Gründe und Erfolge darzulegen.

Wenn zur Zeit, als der Reichsrat nicht versammelt ist, in einem Gegenstande seines Wirkungskreises dringende Maßregeln getroffen werden müssen, ist das Ministerium verpflichtet, dem nächsten Reichsrate die Gründe und Erfolge der Verfügung darzulegen.

Wenn sich die dringende Notwendigkeit solcher Anordnungen, zu welchen verfassungsmäßig die Zustimmung des Reichsrates erforderlich ist, zu einer Zeit herausstellt, wo dieser nicht versammelt ist, so können dieselben unter Verantwortung des Gesamtministeriums durch kaiserliche Verordnung erlassen werden, insoferne solche keine Abänderung des Staatsgrundgesetzes bezwecken, keine dauernde Belastung des Staatsschatzes und keine Veräußerung von Staatsgut betreffen. Solche Verordnungen haben provisorische Gesetzeskraft, wenn sie von sämtlichen Ministern unterzeichnet sind und mit ausdrücklicher Beziehung auf diese Bestimmung

U7

) L. S p i e g e l , Notverordnungen S. 717. ) Thronrede vom 22. Mai 1867. Stenogr. Prot. IV. Session S. 16. lsi ) Der am 27. Juni 1867 im Abgeordnetenhaus (Stenogr. Prot. IV. Session S. 251—273) gestellte Antrag auf gänzliche Aufhebung des § 13 blieb in der Minderheit. — Vgl. auch Κ. Ν e i s s e r, Geschichte des § 14 S. 135—183. uo ) Damit war in Österreich eine Reihe von Zweifeln nicht vorhanden, welche sich in Preußen aus der Interpretation des Art. 63 der preußischen Verfassung ergaben (G. J e l l i n e k , Gesetz und Verordnung S. 377 Anm. 15). — F. G 1 a t ζ e r, Recht der prov. Gesetzgebung.

18e

Der „berüchtigte" § 14

149 des Staatsgrundgesetzes kundgemacht werden. Die Gesetzeskraft dieser Verordnung erlischt, wenn die Regierung unterlassen hat, dieselben dem nächsten nach deren Kundmachung zusammentretenden Reichsrate, und zwar zuvörderst dem Hause der Abgeordneten, binnen vier Wochen nach diesem Zusammentritte zur Genehmigung vorzulegen, oder wenn dieselben die Genehmigung eines der beiden Häuser des Reichsrates nicht erhalten. Das Gesamtministerium ist dafür verantwortlich, daß solche Verordnungen, sobald sie ihre provisorische Gesetzeskraft verloren haben, sofort außer Wirksamkeit gesetzt werden.

Der Wille des Gesetzgebers war 1867 ganz offensichtlich der, durch Verordnungen mit Gesetzeskraft dringende Maßregeln auch dann erlassen zu können, wenn der Reichsrat gerade nicht versammelt war. Um aber zu verhindern, daß der Reichsrat vertagt werde, um mit dem Notverordnungsparagraphen zu regieren, war ausdrücklich festgelegt worden, daß sich die dringende Notwendigkeit zu einer Zeit herausstellen müsse, wo der Reichsrat nicht versammelt ist. Weiters bestimmt der § 14, daß auf seiner Grundlage unter Verantwortung des Gesamtministeriums nur solche Verordnungen erlassen werden könnten, welche „keine Abänderung des Staatsgrundgesetzes bezwecken, keine dauernde Belastung des Staatsschatzes und keine Veräußerung von Staatsgut betreffen". Die Klagen über die Handhabung des Notverordnungsrechtes, die zur Zeit der Februarverfassung geführt worden waren, verstummten nach 1867 durch volle 30 Jahre. Mit Recht konnte der Prager Staatsrechtslehrer Ludwig Spiegel in seiner umfassenden und grundlegenden Arbeit über das Notverordnungsrecht schreiben, „daß der § 14 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung jene Garantien in der Tat schuf, die für die Ausübung des Notverordnungsrechtes in einem konstitutionellen Staate notwendig sind"141). Bezeichnend ist, daß damals aus berufenem Munde dieser Monographie „unerquickliche Breite und Weitschweifigkeit" vorgeworfen wurde. Es sei dem Verfasser gelungen, „über ein kleines Thema eine große Monographie zu schreiben". Man stoße fortwährend auf Erörterungen, „deren Zweck und Nutzen man nicht verstehen kann", und es sei „die Gefahr ausgeschlossen, daß diese Arbeit einen Einfluß auf die Theorie und Praxis gewinnen könnte"142). Jene aktuelle Problematik, die mit der Obstruktionära in diesem Fragenkomplex einsetzte, gab es vor der Erlassung der Badenischen Sprachenverordnungen tatsächlich nicht143), da von 1867 bis zum 2. Juni 1897, dem Tage, an welchem die XII. Session des Reichsrates geschlossen worden war, lediglich 30 kaiserliche U1

) L. S p i e g e l , Kaiserl. Verordnungen S. 13. ) Besprechung durch P. L a b a η d im Archiv für öffentl. Recht. " 3 ) Vgl. L. S p i e g e l , Notverordnung u. Ausnahmsverordnung. 1