Stand und Aufgabe der allgemeinen Sprachwissenschaft 9783111546087, 9783111177557

176 46 17MB

German Pages 199 [200] Year 1965

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Stand und Aufgabe der allgemeinen Sprachwissenschaft
 9783111546087, 9783111177557

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Kapitel Was ist Allgemeine Sprachwissenschaft?
II. Kapitel Was ist „Bedeutung"?
III. Kapitel Beziehungsmittel und ihre Leistungen
IV. Kapitel Gliederung der Sprachwissenschaft
V. Kapitel Die Struktur der Sprachtypen
VI. Kapitel Wortlehre
VII. Kapitel Sprechakt und Sprachwandel
Anhang: Kritik der Sprachkritik
Nachwort
Verzeichnis der öfter erwähnten Schriften
Sachregister

Citation preview

ERNST O T T O • STAND U N D AUFGABE DER ALLGEMEINEN SPRACHWISSENSCHAFT

E R N S T OTTO

STAND U N D AUFGABE DER

ALLGEMEINEN SPRACHWISSENSCHAFT

Zweite Auflage

WALTER D E G R U Y T E R & CO. vormals G. J. Gösdien'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit &'Comp. BERLIN

1965

2. durchgesehene und erweiterte Auflage mit einem Anhang: Kritik der Sprachkritik von Emst Otto und einem Nachwort von Gerhard Haselbach.

Archiv-Nr. 34 88 651

© 1954 and 1985 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Gösdien,'sche Verlagshandlung • J.Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer • Karl J . Trübner • Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Str. 13 Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Spradien, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages Ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanisdiem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen

I n h a l t I. Kapitel Was ist Allgemeine Sprachwissenschaft? A. Allgemeine und universale Sprachwissenschaft B. Empirische und apriorische Sprachwissenschaft I. A. Marty 3. — II. E. Husserl 3. C. Kritische Stellungnahme

1 2 4

II. Kapitel Was ist „Bedeutung"? A. Wortvorstellung, Begriffsbedeutung und Sachvorstellung 9 I. Kategorematische und synkategorematische Ausdrücke 10. — II. Selbstbedeutende (autosemantische) und mitbedeutende (synsemantische) Ausdrücke 13. — III. Selbständige und unselbständige Bedeutungen 14. B. Lexikalische Begriffsbedeutung und syntaktische Beziehungsbedeutung.. 16 I. Zusammenfassender Rückblick. Die Beziehung 16. — II. Vollwörter und Gliedwörter 17. — III. Irrtümer und die Praxis 19. III. Kapitel Beziehungsmittel und ihre Leistungen A. Vier Arten von Beziehungsmitteln 22 I. Ihre systematische Ableitung 23. — II. Verfügt jede Sprache über alle Beziehungsmittel? 28. B. Die Leistungen der Beziehungsmittel 29 I. Innensyntaktische 29. — II. Außensyntaktische 29. — III. Die eigentliche Mitteilung 30. — IV. Stellungnahme zum Sachverhalt 30. C. Ergänzungen und Berichtigungen zu Zahl und Wesen der Wortart 52 I. Die Zahl der Wortarten 32. — II. Wesen und Quelle der Wortart 33. — III. Praktische Auswirkungen 36.

A. B. C.

D. E. F. G.

IV. Kapitel Gliederung der Sprachwissenschaft Historischer Rückblick Das System der Grammatik Erläuterungen I. Sprachwissenschaft und Sprechwissenschaft 44. — II. .Satz"- und Wortlehre. F. de Saussure und seine Nachwirkungen: L. Bloomfield, L. Hjelmslev, K. Togeby, O. Funke 44. — III. Begriffsbedeutung und Stimmungsgehalt 51. — IV. Phonologie und Phonetik 51. Vergleichende und Allgemeine Sprachwissenschaft Gliederung der Syntax. Morphologie der Beziehungsmittel und ihre Leistungen Ausgang von der Lautform oder von den Beziehungen (Leistungen)? . . . . Der VI. Internationale Linguisten-Kongreß

58 41 44

52 55 57 60

V. Kapitel Die Struktur der Sprachtypen A. Die Problemlage

62 V

B. Sprach typen und Struktur I. Genealogische Klassifikationen. Fr. Müller: morphologische und genealogische Klassifikation, Raoul de la Grasserie, E. Sapir 67. — II. Haupttypen (F. N. Finck, E. Lewy) 71. — III. Ubergang zu Wesenstypen (F. N. Finck, W. Wundt — A. Marty) 76. C. Sprache und Geist I. Die mechanisch-gegenständliche Wirklichkeit 87. — II. Die biologische Wirklichkeit 87. — III. Die geistige Wirklichkeit 88. D. Typologie der Sprachen I. Gesichtspunkt der Intensität 90. — II. Qualitative Betrachtungsweise 91. E. Struktur und System

A.

B. C. D. E.

66

82 90 93

VI. Kapitel Wortlehre Klärung wichtiger Fachausdrücke 98 I. Name 98. — II. Bedeutung und Bedeuten 99. — III. Benennen und Nennen 100. — IV. Bezeichnen 101. — V. Bedeutung, Begriffsbedeutung und Sinn 101. Kontext 101 Feldtheorien 104 Wendung zum apriorischen Grundgefüge 105 Die sprachlichen Grundlagen 107 I. Sprache und ihre „Vollendung" (Wilh. v. Humboldt) 107. — II. Gesetzlichkeiten (L. Weisgerber) 107. — III. Das „Richtige" (J. Trier) 111. — IV. Natur- und Kultursprachen 113. — V. Das Begriffssystem (R. Hallig und W. v. Wartburg) 114. VII. Kapitel Sprechakt und Sprachwandel

A. Der Sprechakt 123 I. Wirkung und Ablauf des Beziehungsbedeutens: Analogiebildungen (H. Paul) 123. Der Satz als Gliederung (W. Wundt, O. Niemeyer) 123. Determinierende Tendenzen (N. Ach) 127. Komplexergänzungen (O. Selz) 129. Schöpferische Kräfte 133. — II. Die Reproduktion der Begriffswörter 135: sprachliche Assoziationen 136. Begriffssphären 136. Gesprächslage 137. — III. Die Wortbildung: Bildung neuer Begriffswörter 138. Bildung der „Formen" 138. — IV. Die „Regel" 140. B. Der Sprachwandel 141 I. H. Paul: Lautwandel 142. Wandel der Begriffsbedeutung 143, der Beziehungsbedeutungen 143. Wortbildung 144. — II. W. Wundt: Lautwandel 145. Bedeutungswandel 146. Wortbildung 147. — III. S. Ulimann 149. — IV. Die Bedingungen 149. Die wirkenden Kräfte 154. Wirkung der Triebe 157. Wirkungen der geistigen Akte 158. — V. Tabu- und Sondersprachen 170. Rückblick 172. Anhang: Kritik der Sprachkritik 176 Nachwort 179 Verzeichnis der öfter erwähnten Schriften 184 Sachregister 188 VI

Vorwort Es ist eine anerkannte Tatsache, daß „die Krise der Grammatik" nicht erst seit den letzten Jahrzehnten, sondern seit Jahrhunderten anhält. Den Irrtümern und Widersprüchen zwischen Falschem und Richtigem wird man daher nur beikommen können, wenn man dem Für und Wider der Meinungen und ihrer Begründungen im Wandel der Zeiten nachgeht. Vollständigkeit ist dabei nicht möglich, nicht einmal nötig. Man wird also, trotz eigenen Widerstrebens, dazu gedrängt, den Wortlaut der Quellen aufzuzeigen, unter möglichst genauer Angabe der betreffenden Stellen, um so eine Nachprüfung und weitere Aussprache zu ermöglichen. Das ist allerdings eine recht leidige Angelegenheit, zumal in Berlin eine zureichende wissenschaftliche Bibliothek immer noch fehlt und man, abgesehen von den emporstrebenden Seminaren und Instituten der Freien Universität, wesentlich auf den Bücherverkehr mit dem Westen angewiesen ist, den die Universitätsbibliothek in vorbildlicher Weise versieht. Da meine sprachlichen Arbeiten — die „Grundlegung", zwei Abhandlungen der Prager Akademie und die „Grundlinien der deutschen Satzlehre" — seit langem vergriffen sind, ein Restbestand schließlich den Kriegswirren zum Opfer gefallen ist, glaubte ich, statt der einen oder der anderen Neuauflage besser eine Überarbeitung und wesentliche Erweiterung meiner Forschungen hiermit bieten zu sollen. Nach wie vor wird die Linguistik als empirische Wissenschaft behandelt, d.h. es wird grundsätzlich von den Einzelsprachen bzw. den bereits vorliegenden Einsichten ausgegangen, nicht von einer Idee, und zwar in erster Linie vom Indogermanischen; aber auch von den nichtindogermanischen Sprachen, um jeglicher Einseitigkeit vorzubeugen. Methodologisch knüpfe ich überdies an die vom jüngeren Jac. Grimm (R. Rask und Fr. Bopp) begründete Tradition an, aber auch an die von Wilh. v. Humboldt gewiesene Richtung, unter weitgehender Berücksichtigung der vom Auslande beigesteuerten Erkenntnisse und Betrachtungsweisen. Das Hauptanliegen dieser Schrift betrifft die G r u n d f r a g e n der S a t z l e h r e und der W o r t l e h r e , die schon auf den beiden letzten Internationalen Linguistenkongressen (1948 und 1952) in den Vordergrund der Vollsitzungen und Aussprachen getreten sind; die Lautlehre ist nur gelegentlich gestreift. Da jedes einzelne Problem der Allgemeinen Sprachwissenschaft mit allen anderen eng verquickt ist, gehe ich von der Fragestellung nach dem Sinn und den Hauptproblemen der Allgemeinen VII

Grammatik aus und versuche, in immer weiter gezogenen Kreisen die nächstliegenden Probleme einer Lösung zuzuführen. Wenn also zuerst die S y n t a x im Blickpunkt des Interesses steht, sollen verwandte Fragen der S e m a s i o l o g i e nicht beiseite geschoben und natürliche Zusammenhänge nicht zerrissen werden — und umgekehrt. Es kommt also beidemal auf die Akzentverteilung an. Dabei drängt sich manche Frage vor, deren mögliche Lösung bei dem derzeitigen Stand der Linguistik nur angedeutet werden kann und mithin einer späteren Forschung als Aufgabe gestellt bleibt. Das Ziel der Arbeit ist zunächst die systematische Aufhellung der allgemein sprachlichen Probleme, darüber aber hinaus eine Klärung unseres Kulturbewußtseins sowie der Völker verbindenden Aufgabe unserer Zeit auf Grund der an der menschlichen Sprache gewonnenen objektiven Einsichten in das kategoriale Grundgefüge unseres Seins und Daseins; in sachlich schlichter Sprache unter möglichster Vermeidung neuer Terminologien. Nur die Abgrenzung der (lexikalischen) Begriffsbedeutung von der (syntaktischen) „Beziehungsbedeutung", statt des vieldeutigen Ausdrucks „Funktion", konnte nicht umgangen werden, zumal sich die Fachausdrücke „Beziehungsbedeutung" wie auch „Beziehungsmittel" schon in neueren Grammatiken eine gesicherte Heimat erobert haben. In einem Anhang sind die häufiger wiederkehrenden Schriftwerke verzeichnet, wobei die fettgedruckten Teile der Titel im Text verwendet und in Anführungsstriche gesetzt sind. Schließlich möchte ich nicht verfehlen, Herrn cand. phil. Gerhard Haselbach meinen aufrichtigen Dank für wesentliche Hilfe bei der Aufstellung des Sachverzeichnisses sowie bei der Durchsicht der Korrekturbogen auszusprechen. Berlin-Dahlem, im August 1953 E. Otto

VIII

I Was

ist A l l g e m e i n e

Sprachwissenschaft?

Seit dem erstmaligen Erscheinen der Grammaire générale et raisonnée (auch Grammaire de Port Royal genannt) im Jahre 1660, Nouvelle édition, Paris 1756, ist die Frage einer Allgemeinen Grammatik immer drängender geworden. Die Verfasser L a n c e l o t u n d A r n a u d suchen „les raisons de plusieurs choses qui sont ou communes à toutes les langues, ou particulières à quelques-unes". Sie erklären in der Vorrede, daß es in der Welt nur eine Grammatik für alle Sprachen gibt, weil es nur eine Logik für alle Menschen gibt. Die Einzelsprachen sollen in diesem Rahmen ihre besondere Eigenheit haben. In J o h. S e v. V a t e r s „Auszügen aus zeitgenössischen Autoren" (J. G. Meyer, J. G. C. Neide) wird bald von der Grammatica universalis, bald von Allgemeiner Sprachkunde (Ignatz Mertian) gesprochen; die Bezeichnung philosophische Grammatik wird abgelehnt. K. C h r . F. K r a u s e sagt „Wesensprache", die in eine „Laut-" und in eine „ Gestaltwesensprache " zerfällt. Daneben taucht auch die Bezeichnung „Allgemeine Sprachwissenschaft" auf. A. Es ist kaum beachtet worden, daß ebenso H e i n r . P e s t a l o z z i Entscheidendes zu diesem Thema gesagt hat. Er spricht auch von dem „Wesen" der Grundformen jeder Sprache. Diese vereinfachenden Grundformen drücken sich in der Muttersprache aus „als in ihnen selbst liegend und durch die Erfahrung in ihnen selber begründet"; — wie sich doch auch die Sprachkraft nach ewigen Gesetzen entfaltet. Im „Schwanengesang" wie in der „Skizze" zur „Langenthaler Rede" kommt Pestalozzi auf die Idee der „schon so lange gesuchten Allgemeinen Sprachlehre" zurück, auf die „ewigen und in ihrem Wesen unveränderlichen Grundteile,aller Sprachen", und wiederum auf das „geistige Wesen" bzw. das „innere Wesen aller Sprachen in dem Dasein ihrer ewigen unveränderlichen Hauptteile". Auch K. F. B e c k e r spricht von einer Allgemeinen Grammatik: „Da die gesprochene Sprache ein organisches Erzeugnis der menschlichen Natur ist, und das ganze Menschengeschlecht nur Eine natürliche Gattung ausmacht; so sind die Grundverhältnisse aller Sprachen auf der logischen sowohl als auf der phonetischen Seite dieselben. Diese allen Sprachen gemeinsamen Grundverhältnisse aus der Idee der Sprache als eines organischen Erzeugnisses der menschlichen Natur zu entwickeln und durch eine vergleichende Zusammenstellung der verschiedenen 1 O t t o , Sprachwissenschaft

1

Sprachen nachzuweisen, ist die Aufgabe der A l l g e m e i n e n G r a m matik." A u g . S c h l e i c h e r stellt entsprechend fest, daß „die Sprachen ganzer Teile der Erde, bei aller Verschiedenheit, doch einen übereinstimmenden Charakter zeigen, etwa wie die Floren und Faunen ganzer Erdstriche". Im weiteren Sinne, definiert M i c h e l B r é a l : „La Grammaire générale se propose de montrer le rapport qui existe entre les opérations de notre esprit et les formes du langage." Hinsichtlich der von J. S. Vater erwähnten Grammatica universalis möchte ich schließlich bemerken, daß auf dem VI. Internationalen Linguisten-Kongreß (1948) zwischen „universal" und „allgemein" unterschieden wurde. So erklärte L. H j e l m s l e v : „Un fait linguistique est g é n é r a l s'il est réalisé dans toute langue où les conditions sont les mêmes." Er fügte aber hinzu: „Dans le cas où un fait grammatical se réalise dans toutes les conditions, sans aucune restriction on peut l'appeler u n i v e r s e l . " Ich möchte dagegen annehmen, daß die Bezeichnung „universal", bei aller Gründlichkeit, auf das U m f a s s e n d e , den U m f a n g , die W e i t e geht (vgl. Universum, Universität, Universalsprache etc.); „allgemein" aber auf das G e s e t z l i c h - N o t w e n d i g e , wenn man will: auf das Wesentliche. So auch G. v. d. G a b e 1 e n t z und A. F. B e r n h a r d i. Und darum handelt es sich hier. Ja, nach A. F. P o t t will „das allgemeine Sprachstudium" die Sprache i m A l l g e m e i n e n ergründen und will nicht „alle Sprachen umfassen"; auch nicht bloß das Allgemeine, sondern ebenso das Abweichende und seine Beziehungen zu dem Systematisch-Allgemeinen betrachten. Desgleichen A. R e i c h 1 i n g. O t t o F u n k e versteht unter „Universal-Grammatik" den Gedanken „einer allen Sprachen zugrundeliegenden gemeinsamen geistigen Struktur", spricht dann aber auch mit Recht von einer universellen künstlichen Sprache1. B. Es leuchtet ein, daß ein Jac. Grimm, namentlich in seinen jüngeren Jahren, für eine „philosophische Behandlungsart der Grammatik", und zwar nach dem Stande der damaligen Philosophie (und Psychologie) 1 Joh. Sev. Vater, „Übersicht", S. 129 ff., 149 ff., 267 ff.; — K. Chr. F. Krause, „Vorlesungen", S. 246, 249; — Heinr. Pestalozzi, hersg. von L.W. Seyffarth, Liegnitz 1899ff., 12. Band, S. 318, 323, 331 ff., 336, 522ff.; — K. F. Becker, „Ausführliche deutsche Grammatik" (l.Aufl.), Erste Abtig., S. 5; — Aug. Schleicher, über die Bedeutung d. Sprache f. d. Naturgeschichte des Menschen, Weimar 1865, S.25; — Michel Bréal, „Les idées latentes"; — L. Hjelmslev, „Actes" VI, p. 419; — G. v. d. Gabelentz, „Sprachwissenschaft", S. 481; — A. F. Bernhardi, „Sprachlehre", S. 64 f.; — A. F. Pott, Wilh. v. Humboldt und die Sprachwissenschaft I (1880), S. CCLXXVI; — A. Reichling, What is General Linguistics? Lingua I (1948), p. 8, 18; — Otto Funke, Spradiphilosophie und Grammatik, Studia Neophilologica XV, 1—2.

2

nur ein geringes Verständnis haben konnte. Inzwischen haben sich jedoch unsere philosophischen und psychologischen Einsichten wesentlich geändert. Es kann daher eine weitere Klärung des angeschnittenen Problems von der Auseinandersetzung zwischen Husserl und Marty mit gewisser Berechtigung erwartet werden; der erstere ein Philosoph, der letztere ein Psychologe, beide aus der Schule Franz Brentanos. Anton Marty hatte in seinem Hauptwerk, „Untersuchungen" I (Halle 1908), die Logischen Untersuchungen Husserls (II, 1 Halle 1901) einer kritischen Würdigung unterzogen, worauf Husserl in der 2. Auflage (1913) geantwortet hatte. I. Hören wir zunächst A n t o n M a r t y . Als Schüler Brentanos vertritt er eine Psychologie vom empirischen Standpunkt. Er erklärt: 1) Uber die Allgemeine Grammatik „kann nur die Erfahrung Aufschluß geben" („Untersuchungen" I, S. 58); also Empirismus. 2) Als Psychologe vertritt Marty mit H. Steinthal die Ansicht: Die Sprache ist „durchaus n i c h t l o g i s c h e n Charakters, als ob sie methodisch und nach vorbedachtem Plane und System geschaffen wäre". Im Gegenteil: Die Sprachbildung erfolge „ u n b e w u ß t und unbeabsichtigt", „nicht unwillkürlich und wahllos, wohl aber unsystematisch und planlos"'. 3) Also ist „die Sprache nicht wesenseins mit dem Denken". Es besteht „kein strenger und verläßlicher Parallelismus" zwischen Sprache und Denken („Gesammelte Schriften" II, 2, S. 60). Darauf ist später zurückzukommen. 4) Schließlich bestimmt Marty treffend als Aufgabe der Allgemeinen Grammatik: Sie hat vor allem „die allgemeinen Grundlinien und Eigentümlichkeiten des in aller menschlichen Sprache Auszudrückenden oder dessen überall übereinstimmende Kategorien zu beschreiben" („Untersuchungen" I, S. 58). 5) Diese Aufgabe ist methodisch „nicht a priori" zu leisten (ebenda). Wo Marty von „Sprachphilosophie" handelt, erklärt er, daß sie ein Teil der Sprachwissenschaft sei. „ Z u r S p r a c h p h i l o s o p h i e g e h ö r e n a l l e d i e j e n i g e n auf das A l l g e m e i n e und Gesetzmäßige g e r i c h t e t e n Fragen der S p r a c h w i s s e n s c h a f t , w e l c h e p s y c h o l o g i s c h e r N a t u r s i n d oder nicht ohne v o r n e h m l i c h e Hilfe der P s y c h o l o g i e gelöst w e r d e n können"3. II. Wesentlich anders E d m u n d H u s s e r l . Er betont wiederholt („Log. Unt." II, 1 S. 336 ff.), im Sinne Kants, daß es von größter Wichtigkeit sei, „Apriorisches und Empirisches scharf zu sondern". Er wendet ' „Gesammelte Schriften" II, 2 1920, S. 62; — „Untersuchungen" I, S. 629. ' „Psydie und Sprachstruktur", S. 83; — vgl. „Untersuchungen" I, S. 4 ff. und S 19.



3

sich ausdrücklich gegen Martys Auffassung, daß selbst die logisch-grammatischen Erkenntnisse „ihre natürliche Heimat in der Sprachpsychologie" hätten. Er gesteht zu, daß die „obere" Sphäre des Logischen, die auf die „formale Wahrheit" gerichtet ist, „für die Grammatik sicherlich gleichgültig" sei. „Nicht so das Logische überhaupt." Im besonderen unterscheidet Husserl: a.Die a p r i o r i s c h e Grammatik. Wie sich in der Logik das Apriorische vom Empirisch-Praktischen sondert, ebenso sondert sich auch „in der grammatischen Sphäre das sozusagen ,rein' Grammatische, d. h. eben das Apriorische" vom Empirischen. Für dieses Apriorische sagt Husserl auch, in Anlehnung an Wilh. v. Humboldt, die „idealische Form" der Sprache. Während das Empirische teils „durch die allgemeinen und doch nur faktischen Züge der Menschennatur bestimmt" sei, „teils auch durch die zufälligen Besonderungen der Rasse", des Volkes, des Individuums, sei das Apriorische aber mindestens in seinen primitiven Gestaltungen „selbstverständlich". Diese „apriorischen Fundamente" der Sprache seien ein „ideales Gerüst", das jede Einzelsprache „in verschiedener Weise mit empirischem Material ausfüllt und umkleidet". Man muß, nach Husserl, dieses ideale Gerüst, nach Marty im Sinne einer „Vorlage", „vor Augen haben, um sinnvoll fragen zu können: Wie drückt das Deutsche, das Lateinische, das Chinesische usw. ,den' Existenzialsatz, ,den' kategorischen Satz, ,den' hypothetischen Vordersatz, ,den' Plural, ,die' Modalitäten des .möglich' und .wahrscheinlich', das .nicht' usw. aus?" So werden die vorwissenschaftlichen, empirisch getrübten Vorstellungen überwunden, die uns die historische, etwa lateinische Grammatik an die Hand geben. Dabei ist unter dem „idealen" Gerüst (der „idealischen Form") der menschlichen Sprache nicht etwa ein Durchschnittstypus zu verstehen, sondern zunächst einmal ein Wesenstyp, eine spezifische Kategorie. So möchte ich denn sagen: Allgemeine Sprachwissenschaft schließt eine besondere Stellungnahme zu linguistischen Problemen in sich, aus einer grundsätzlichen Haltung. Mit seiner „reinlogischen" (wie Husserl statt „rein" in der 2. Aufl. sagt) oder „philosophischen" Grammatik knüpft Husserl an die bereits erwähnte Grammaire générale et raisonnée an. b. Die „ u n i v e r s e l l e " Grammatik im weitesten Sinne. Sie zieht, über die apriorische Sphäre hinaus, das „allgemein Menschliche" im empirischen Sinne heran. Diese konkrete, „empirisch-allgemeine" Wissenschaft hat ihren theoretischen Standpunkt „bald in empirischen, bald in apriorischen Wissenschaften". Damit schlägt Husserl ausdrücklich eine Brücke zu Martys Untersuchungen. C. Dazu wäre zu bemerken: In Ubereinstimmung mit Franz Brentano betont M a r t y immer den 4

empirisch-psychologischen Charakter seiner Untersuchungen, verwahrt sich aber mit Recht gegen den von Adickes erhobenen Vorwurf des (abwertenden) Psychologismus'. Man würde der Eigenart der von Brentano und seinen Schülern vertretenen deskriptiven Psychologie in keiner Weise gerecht werden, wenn man diese empirische Psychologie gleichsetzen wollte mit der naturwissenschaftlichen oder der erklärenden Psychologie, wie sie auch von Dilthey abgelehnt ist5. Mit gutem Grund stellt Marty der Allgemeinen Grammatik die Aufgabe, das in aller menschlichen Sprache „ A u s z u d r ü c k e n d e " zunächst einmal zu beschreiben. Ich nehme diese Bezeichnung Martys auf, um sie zweckmäßig im Sinne der im III. Kapitel folgenden Darlegungen zu gebrauchen. Unter dem „Auszudrückenden" kann man die „Leistungen" meinen, die grundsätzlich von jeder Sprache zu erfüllen sind, insofern Sprache der Beeinflussung fremden Seelenlebens, der Mitteilung bzw. der Verständigung dient, z. B. durch Kennzeichnung innensyntaktischer Beziehungen, überdies gehören zur Allgemeinen Grammatik auch die „allgemeinen Grundlinien" des s p r a c h l i c h A u s g e d r ü c k t e n , welche diese Leistungen vollbringen, auf dem Gebiete der Flexion z. B. die sprachlich ausgeprägten Kategorien der Kasus, der Numeri, der Tempore, etc. Die ersteren Kategorien (der auszudrückenden Leistungen) könnte man „die philosophischen" nennen oder auch „die apriorischen", insofern sie an der Erfahrung eingesehen werden und notwendig sind. Die letzteren Kategorien (des sprachlich Ausgedrückten) können „empirische" heißen, insofern sie allerdings von Sprache zu Sprache wechseln, aber doch auch auf „allgemeine Grundlinien und Eigentümlichkeiten" der menschlichen Sprache zurückgehen. Soweit ihre Art und Zahl wesentlich bestimmt und umgrenzt ist, könnte man diese allgemeinen sprachlichen Bildungen „fundamental" nennen, z. B. die fundamentalen Wortarten, die gegebenenfalls als Wiedergabe der angeschauten bzw. vorgestellten Wirklichkeit durch Gegenstands-, Eigenschaftswörter etc. die angemessenen („idealen") Sprachmittel sein können. Diese und die apriorischen Kategorien bilden zusammen das „ideale Gerüst" der Sprache, im angegebenen Sinne. Es umfaßt auch, und zwar auf s e m a s i o l o g i s c h e m Gebiete, die Grundstrukturen der B e g r i f f s b e d e u t u n g e n , d. h. die umfassenden Sinnfelder als Rahmen historisch-empirischer Wortbedeutungen. S. das VI. und VII. Kapitel. Und wie steht es mit der g e n e t i s c h e n Frage nach dem W a n d e l der Sprache, der „Bedeutungen" und des Lautkörpers? Vollzieht sich • A. Marty, „Untersuchungen" I, S. 11; — vgl. dazu Alfr. Kastils letzten Aufsatz i. d. Ztschr. f. Philos. Forsdi. V (1951), S. 402 ff.: Ablehnung des „Psychologismus" wie auch des „verstiegenen Apriorismus". 5 Vgl. dazu: Anton Marty, „Untersuchungen" I, S. 11 sowie „Gesammelte Schriften" II, 2 S. 57 ff., sowie S. 133 ff. (Auseinandersetzung mit K.Voßler).

5

dieser Wandel in einer bestimmten Richtung? Gibt es auch .allgemeine" Eigentümlichkeiten des Wandels? Welches sind die bewegenden Kräfte? Alle diese Probleme rufen nach einer angemessenen Klärung. Man könnte wohl geneigt sein, die auf das Allgemeine und Gesetzmäßige gerichtete Forschung auch den Sprachwissenschaftlern zuzugestehen und sie nicht nur den Sprachphilosophen vorzubehalten. Sonst würde die Linguistik (als Wissenschaft) in der Erforschung von Einzeltatsachen stecken bleiben und veröden. Haben sich doch vorwiegend Sprachwissenschaftler und gerade die Junggrammatiker mit der Frage befaßt: Gibt es Lautgesetze? So auch Ed. Wechssler in der Festgabe für H. Suchier, Halle 1900. In Anlehnung an Marty („Untersuchungen" I, S. 5) möchte ich dann sagen, der Sprachwissenschaftler arbeitet „philosophisch", sofern seine Forschung auf das Allgemeine und Gesetzmäßige gerichtet ist. Vgl. dazu unten S. 52 ff. Das widerspräche auch nicht Th. Litt, Denken und Sein (Stuttgart 1948, S. 166 ff.). Z u H u s s e r l s Ausführungen wäre zu sagen, daß ich nach der obigen Unterscheidung zwischen „universal" und „allgemein" (s. o. S. 2) die Bezeichnung „universelle Grammatik" (auf das „Allgemein-Menschliche" gehend) nicht gelten lassen kann: Sie ist mehr aus Humboldts Zeitalter geboren und für die damalige Vergleichende Sprachwissenschaft passend, für die ja die Weite der Blickrichtung charakteristisch war. E. Husserl sondert, wie erwähnt, in der „grammatischen Sphäre" das Apriorische von dem Empirischen, dem allgemein Menschlichen. In ersterer Hinsicht spricht er vom rein Grammatischen, von der idealischen Form der Sprache, von der philosophischen, der reinlogischen Grammatik, welche die Voraussetzungen oder Fundamente behandelt, die für alle Sprachen gleichmäßig in Betracht kommen. Das ist das Logische der Sprache, das Apriori der „Bedeutungsform". Die oben (S. 4) erwähnten Beispiele der apriorischen Grundformen liegen aber nicht auf einer Ebene. Dahin gehören wohl der Existenzialsatz wie der kategoriale Satz, die modalen Sätze etc., nicht aber „der Plural", das „nicht" Denn diese sind bereits sprachlich-empirisch geprägt. Husserl sagt auch an anderer Stelle (auf S. 339) richtiger: die Pluralität, die Negation. Es ist demnach zu unterscheiden das „Auszudrückende" als aufgegebene Leistung der Sprache einerseits und die Grundlinien des in einer konkreten Sprache bereits Ausgedrückten andererseits*. Denn „der" (reinlogische) Existenzialsatz, „der* kategoriale Satz etc. sind an sich logische Fiktionen; sie können ohne sprachliche Formulierung weder vorgestellt noch ausgesprochen werden. Wenn sie aber formuliert sind, z. B. • Husserls Unterscheidung von Unsinn, z. B. ein rundes Viereck, und WiderSinn (Absurdität), z.B. ein Mensch und ist läuft auf die Unterscheidung von gedanklich-logischen und sprachlich-grammatischen Unverträglichkeiten hinaus.

6

in unserer Muttersprache: Der Mensch ist sterblich, so sind sie empirische Gebilde einer konkreten Einzelspradie. Da das apriorische und unveränderliche Gerüst der Sprache nicht real ist, sollte man statt ideal wohl besser „ideell" sagen. Ob aber die e m p i r i s c h e n E i n z e l s p r a c h e n in ihrem Wandel der „Vollendung", einem Ideal, dem „Echten" zustreben, das ist ein großes Problem, das noch zu erhellen ist. Schließlich sei bemerkt, daß Husserls Beispiele etwas einseitig vom logisch-formalen Gesichtspunkt gewählt sind: Bis auf einen Fall (die Pluralität) sind sie alle „Beziehungsformen" des Prädikats auf das Subjekt (bejahende, verneinende, kategorische usw. Urteile), was wir später, vom linguistischen Standpunkt, „Stellungnahmen zum Satzgedanken" nennen werden. Es wird sich herausstellen, daß es noch andere Leistungen gibt, die ein „Satz" (die Rede) notwendig erfüllen muß. Es bleibe vorläufig dahingestellt, ob der Kreis der Grundformen syntaktischer Art. auch im Hinblick auf semasiologische Gesichtspunkte zu erweitern ist (s. u. das VI. und VII. Kapitel). Es sei hier hinzugefügt, daß Husserl von der objektiven, idealen „Bedeutungseinheit" sagt, daß sie „ist, was sie ist, ob sie jemand im Denken aktualisieren mag oder nicht". Damit — und mit ähnlichen Aussprüchen — wird sein grundsätzlicher Standpunkt gekennzeichnet. Diesem metaphysischen Idealismus kann ich jedoch nicht folgen. Insofern aber Husserl die apriorischen Grundlagen der „Allgemeinen Grammatik" betont, die „apriorischen Fundamente" der Sprache, darf nicht übersehen werden, daß die empirische Erkenntnis keineswegs alle Möglichkeiten wahrer Erkenntnis ausschöpft. Denn, mit Kant gesprochen, wenn auch „alle unsere Erkenntnis m i t der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle a u s der Erfahrung". Gibt es doch neben der Erfahrung noch eine andere Quelle bzw. Bedingung, die uns die Gültigkeit objektiver Wahrheit verbürgt. Diese mögliche Begründung objektiver Allgemeinheit und Notwendigkeit (der Allgemeinen Grammatik) beruht auf der grundsätzlichen Gleichgerichtetheit subjektiver Erkenntnis- (Bewußtseins-) und objektiver Seinskategorien, wie man in Anlehnung an Kants Erörterungen über den obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile mit der modernen Ontologie sagen könnte. Wilh. v. Humboldt, auf den Husserl (a.a.O. S. 342) anerkennend hinweist, drückt diesen Tatbestand so aus: „Jedes Begreifen einer Sache setzt, als Bedingung seiner Möglichkeit, in dem Begreifenden schon ein Analogon des nachher wirklich Begriffenen voraus, eine vorhergängige, ursprüngliche Übereinstimmung zwischen dem Subjekt und Objekt", d.h. „die vollständige Durchschauung des Besonderen" setzt immer die „Kenntnis des Allgemeinen" voraus, unter dem es begriffen wird. Das Begreifen „besteht allemal in der Anwendung eines früher vorhandenen Allgemeinen 7

auf ein neues Besondres". Ähnlich hat sich F r i t z S t r o h ausgesprochen1. Auf das Verhältnis von Allgemeiner und Vergleichender Sprachwissenschaft (Sprachvergleichung) ist unten im Kapitel über die Gliederung der Sprachwissenschaft zurückzukommen. Wenn in sprachwissenschaftlichen Werken öfters behauptet wird, daß die Ableitung einer Regel auf i n d u k t i v e m Wege erfolgt, so kann man mit dem Ausdrude Induktion" nicht vorsichtig genug umgehen. Denn die Einsicht in das Wesen einer sprachlichen Erscheinung geschieht, wissenschaftlich oder schulisch, immer an einigen oder auch nur an einem einzigen typischen Fall. Mag man diese phänomenologische Klärung durch intuitive Wesensschau nun „ide'ierende Abstraktion" mit Husserl nennen oder nicht, es kommt weniger auf den Namen als auf die Sache an. Und dieses Schauen auf den Kern der Dinge hat im Grunde jeder ernste Wissenschaftler gemeint und geübt. 7 W.v.Humboldt, Uber die Aufgabe des Geschichtschreibers (1821), »Gesammelte Schriften" IV, S. 46 ff.j — Fritz Stroh, Das Volk und seine Sprache, Deutsche Volkserziehung, Frankfurt (Main) 1939, S. 1: „Diese Ordnung der Erscheinungen durch unsere Sprache kommt nicht allein von den .Dingen' her. Sie wird ja vielmehr von den ordnenden Menschen, von den ausgliedernden völkischen Sprachgemeinschaften gestiftet."

8

II Was ist

„Bedeutung"?

Die systematische Durchforschung der Grammatik setzt eine klare Sonderung von Wortlehre und Satzlehre voraus. Sie ist durch die Vermischung von lexikalischer Begriffsbedeutung und syntaktischer Beziehungsbedeutung immer wieder hintangehalten worden. A . J o h n L o c k e erklärt zu Anfang des 2. Kap. des 3. Buches: "The use then of words is to be sensible marks of ideas (Vorstellungen); and the ideas they stand for are their proper and immediate signification" (Works, London 1801, 1824). Was ist aber „signification"? Um daher zu klären, was alles dieser Fachausdruck besagen kann, fragen wir zunächst einen Sprachwissenschaftler und sodann einen Psychologen. Nach F e r d . d e S a u s s u r e , „Cours", p. 98 f., 144, eint das sprachliche Zeichen einen Begriff (concept oder besser: signifié) und ein sprachliches Bild (image acoustique oder besser: signifiant). Das ist etwas mager. Vgl. z. B. die Kritik R. H. Robins, Ancient and Mediaeval Grammatical Theory in Europe, London 1951, p. 82 f., Anm. W i l h e l m W u n d t , „Die Sprache" I, S. 568 ff., unterscheidet an der Wortvorstellung drei zusammengesetzte Komponenten: den akustischmotorischen Lautkörper (a m), die optische Komponente nebst Schreibbewegung (o m1) und die objektive Sachvorstellung nebst Gefühlston (v g). Es fehlen unter anderem die Gesichtswahrnehmung der vom Munde abgelesenen Sprechbewegung und die Tastwahrnehmungen der Taubstummenschrift. Beschränken wir uns aber auf die Bedeutungskomponente. Die Sachvorstellung (v) ist nicht gleichbedeutend mit der Begriffsbedeutung., Sie kann beim geläufigen Sprechen und Lesen fehlen. Experimentelle Untersuchungen haben erwiesen, daß ein Bedeutungsverständnis von Sätzen und Worten ohne anschauliche Repräsentation sachlicher Inhalte möglich ist. Solch Gegenwärtigsein eines unanschaulich gegebenen •Wissens ist von Marbe als „Bewußtseinslage", von N. Ach als „Bewußtheit", von Messer als „Sphärenbewußtheit", von B. Erdmann als „unbewußt erregte Bedeutungsinhalte", von Karl Bühler als „Platzbestimmtheit" innerhalb einer gewissen Ordnung bezeichnet worden. Genauere Angaben finden sich in meiner „Grundlegung" S. 39ff. In der letzteren Definition klingt schon ein Zusammenhang an, der von späteren Linguisten als Feldtheorie tiefer begründet ist. 9

Es ist also zu unterscheiden: eine sachlich-objektive Vorstellungskomponente und die Begjiffsbedeutung. Die erstere, die Sachvorstellung, ist von H u s s e r l als bedeutungserfüllender Akt bezeichnet worden ; er ist als illustrierende Anschauung für das Satz- und Wortverständnis außerwesentlich. Dagegen sind die bedeutungsverleihenden Akte für das sinnbelebte Wort wesentlich. Von der Begriffsbedeutung dieser Akte ist noch der Gefühlston zu sondern, der von Gruppe zu Gruppe, auch von Individuum zu Individuum verschieden sein kann, z. B. Volksdemokratie. Mit dieser Unterscheidung von Begriffsbedeutung (bedeutungsverleihenden Akten) und Gefühlston ist es sicherlich nicht getan. Weitere Klärung über das, was „Bedeutung" heißen kann, wird ein kurzer g e s c h i c h t l i c h e r R ü c k b l i c k gewähren. Vgl. außerdem unten: Kap. IV («Gliederung der Sprachwissenschaft"). I. A r i s t o t e l e s unterscheidet, z.B. zu Beginn des Organon, ohne scharf zwischen Wortart und Satzteil zu sondern: 1. onoma und rhema, d. h. Nomen und Verbum. Diese beiden sind allein Ausdrücke, die konventionell etwas bedeuten, etwas zu verstehen geben; 2. die syndesmoi, die Verbindungsmittel: Pronomen, Präposition und Konjunktion. Hier liegt das große Problem, das uns am Herzen liegt. Diese Einteilung geht durch die Jahrhunderte bis in unsere Zeit. J . Vendryes, „Langage", p. 158, unterscheidet ähnlich: 1. Noms et verbes: les éléments vivants, und 2. Outils grammaticaux: prépositions, conjonctions, articles ou pronoms. Gelegentlich (in der Poetik) weist Aristoteles auch auf das arthron, das Gelenk, hin: Artikel (und Pronomen). Auch die späteren A r i s t o t e l i k e r gehen vom Satz aus und unterscheiden: 1. kategorematische Ausdrücke; diese können als Subjekt bzw. Prädikat einer Aussage stehen, 2. synkategorematische Ausdrücke; sie bedeuten nur in Verbindung mit anderen. Was besagt nun synkategorematischer Ausdruck? Ich greife eine Reihe geschichtlicher Beispiele heraus: Nach der Lehre der S t o a besteht das vollständige einfache Urteil aus Nomen (Substantivum nebst Adjektivum) und Verbum. Das lekton (das .Ausgesprochene"), die Bedeutung, ist (psychologisch) ein Mittleres zwischen Ding und Gedanken1. Seine Existenzweise ist bei den Stoikern 1 Die Unterscheidung von dem „Bezeichneten" und dem „Bezeichnenden" geht bis auf die Stoa zurück. Die Worte "bedeuten die im Gedächtnis aufgesparten Allgemeinbilder des Wahrgenommenen, so daß das früher Wahrgenommene durch die Sprache wieder hervorgerufen werden kann. Vgl. F. Manthey, „Sprachphilosophie", S. 168,188 f. Im .Mittelalter ist der sprachliche Ausdruck nie auf einen Gegenstand als solchen bezogen, sondern nur auf den in der species

10

sehr umstritten. Nach dem scharfen Urteil Carl Prantls („Geschichte der Logik" I, S. 415, 136) geht „die erbärmliche Behandlungsweise der Grammatik" auf die Stoa zurück. Ja, Prantl spricht von dem „Blödsinn der stoischen Philosophie". A b a e l a r d (Dialéctica I) nennt die Postprädikamente Nomen und Verbum als Bestandteile des Urteils. Er wirft die uns vor allem interessierende Frage auf, ob die Präpositionen und Konjunktionen Redeteile seien. Auch die S c h u l e d e s P s e l l o s bringt keine Klärung über das Wesen der Synkategorematika. Ich nenne als bedeutsame Vertreter dieser Richtung: Michael Psellos (ll.Jahrh.), W. Shyreswood (Anf. d. 13. Jahrh.), der auf Psellos zurückgeht, und Petrus Hispanus (als Papst Johann XXI., 1277 gest.), ein Schüler Shyreswoods in Paris. In der Lehre vom Urteil unterscheiden die genannten Scholastiker, mit Aristoteles und Priscianus, zwei Redeteile, Nomen und Verbum; die übrigen Teile heißen „Synkategoreumata". Nach C. P r a n 11, „Geschichte der Logik" III, S. 12: „... lógica duas tantum ponit partes orationis, scilicet nomen et verbum; ceteras autem partes appellat sincategoreumata." Das Synkategoreuma definiert Shyreswood: „Semper enim cum aliquo iungitur in sermone" (Prantl, a.a.O., S. 20). Als Synkategoreumata werden, abgesehen von den obliquen Kasus, besonders genannt: omnis, totus, inlinitus, qualislibet, quantuslibet, uteique, nullus, neuter, praeter, solus, tarnen, non, necessaiio, contingenter, desinit sowie die Konjunktionen nisi, quin, et, vel, an, ne und sive. Heftige Kontroversen haben dazu ausgelöst besonders est, incipit und si, auch omnisl Es fehlt das angemessene momentum divisionis. Nach M. Heidegger unterscheidet D u n s S c o t u s hinsichtlich der constructio (des Bedeutungszusammenhanges im Satze) vier Arten von Prinzipien: principium materiale, formale, efficiens und finale. Zum principium efficiens constructionis bemerkt er, daß die Bedeutungskategorien, die modi significandi, die Funktion haben, die Abhängigkeit, d. h. die Verknüpfungsmöglichkeit der Bedeutungen zu bestimmen. Sie bereiten gleichsam die constructio vor und bringen die „Bausteine" in Formen. Es fragt sich, inwiefern hier die Begriffsbedeutung (der Präpositionen I) von der syntaktischen Beziehungsbedeutung abgesetzt ist. Gelegentlich unterscheidet Duns Scotus zwischen dem, was das Wort (dictio) bedeutet (significat) und dem, was es mitbedeutet (consignificat): „Intellectus... d u p l i c e m r a t i o n e m (Sinn) ei (voci) tribuit, scilicet rationem significandi, quae vocatur s i g n i f i c a t i o , per quam efficitur Signum vel intelligibilis gegebenen Gegenstand. Die modi significandi nehmen von der realen Naturwirklichkeit nur ihren „Ursprung". So erklärt es sich, daß désigné ( < designatum = bezeichneter Gegenstand) schon in scholastischer Zeit als .Bedeutung" fungieren konnte, wie ja auch F. de Saussure die Bezeichnung «signifié* im Sinne van „concept" gebraucht.

11

significans, et sic formaliter est dictio ; et rationem c o n s i g n i f i c a n d i , quae vocatur m o d u s s i g n i f i c a n d i a c t i v u s (die subjektive Seite des Sprechakts), per quam vox significans fit c o n s i g n u m vel c o n s i g n i f i c a n s et sie f o r m a l i t e r est p a r s o r a t i o n i s " (Wortart!)2. Und die Wortart ist, wie später zu zeigen ist, ein syntaktisches Beziehungsmittel mit einer gewissen Beziehungsbedeutung. Vgl. .Sprache und Sprachbetrachtung", S. 50 i. (Anm. 12): „Proprium autem verbi est consignificare tempus" (Boethius); der Zeit, durch das Beziehungsmittel der Konjugation ausgedrückt, eignet eben eine gewisse Beziehungsbedeutung 3 ! Audi die R e n a i s s a n c e bringt keine klare Kennzeichnung der Synkategorematika. Ich greife als Beispiel zwei wichtige Vertreter heraus: P i e r r e v o n A i l l y (1350—1426) und P a u l u s N i c o l e t t u s V e n e t u s (gest. 1428). Der erstere bekämpft Duns Scotus' Ansichten über die modi significandi. Er bemerkt, daß die Formen lego und curro teils Kategorematika, teils Synkategorematika sind, ohne aber die ganze Tragweite dieser Einsicht abzusehen. Der letztere kommt dem wahren Sachverhalt auch sehr nahe, hält aber Konjunktionen wie vel weder für kategorematisch noch für synlcategorematisch (Prantl, „Gesch. d. Log." III, S. 110, 120). Höchst eigenartig ist die Grammaire générale et raisonnée von L a n 1 M. Heidegger, „Kategorienlehre", S. 129 f., 146 ff. — Separatausgabe „De Modis significandi: B. Joannis Duns Scoti Doct.Subtilis O.F.M. G r a m m a t i c a e s p e c u l a t i v a e nova editio cura et studio P. Fr. Mariani Fernàndez Garcia". Quaracchi 1902, Cap. I, 1 b ff. (S. 7). Nach M. Grabmann ist Thomas von Erfurt (Anf. d. 14. Jh.) der Verfasser. — C. Prantl, a. a. O. III, S. 20 (Anm. 67), 215 f. 1 Nach F. Manthey, „Sprachphilosophie", S. 78 ff., hat jede dictio: 1. Significatio, d. h. die Bedeutung des Nomens und des Verbums als Bedeutungserlebnis; 2. Consigniflcatio, d. h. eine Mitbedeutung, z. B. des Verbums „als zu einer Zeit sich abspielend", also curro: ich laute jetzt neben cursus: der Laut schlechthinI Der Zeitcharakter kann aber auch durch ein Zeitadverbium (heute) angegeben werden. Die consigniflcatio der Verben besteht eben darin, daß sie die actio in der Zeit bedeutet. Entsprechend hat auch ein Nomen eine Mitbedeutung, insofern es ein männliches (weibliches, sächliches) Geschlecht hat. Es kommt eben darauf an, w i e eine Sache erfaßt wird, d. h. als Ding, Eigenschaft, Tätigkeit (der Wortart nach!). Vgl. Jacques Maritain, Éléments de philosophie II, Paris 1923, p. 63 f.: significatio „signifie un objet qui à lui seul est quelque chose (aliquid per se)". Consignificatio ( = syncategorematikon) „signifie une simple modification de quelque chose; par exemple ,tout', .quelque", .vite', .facilement' etc.". Siehe auch R. H. Robins, Ancient and Mediaeval Grammatical Theory in Europe, London 1951, p. 80 ff. Was den Unterschied zwischen significatio und modus significandi betrifft, so bezieht sich nach Thomas die erstere auf einen bezeichneten Gegenstand (significatum) ; die verschiedenen modi significandi gehen auf die verschiedenen Arten des Seins bzw. Erkennens (modi essendi, cognoscendi) zurück, als Substanz, als Akzidenz, als Relativum, als- Absolutum etc.

12

c e l o t - A r n a u d (Nouvelle edition, Paris 1756). In der Vorrede wird ausdrücklich erwähnt, daß es nur eine Grammatik in der W e l t für alle Sprachen gibt, worauf bereits hingedeutet ist, daß aber die Einzelsprachen ihre besonderen Eigenheiten enthalten. Die Worte werden folgendermaßen eingeteilt (S. 63): 1. „les uns signifient les objets des pensées: noms, articles, pronoms, participes, prépositions et adverbes", 2. „les autres la forme et la manière de nos pensées, quoique souvent ils ne la signifient pas seule, mais avec l'objet, les verbes, les conjonctions et les interjections" 4 . II. In neuerer Zeit haben sich A. Marty und Edm. Husserl mit demselben Problem auseinandergesetzt. Wenn F r a n z B r e n t a n o (Wahrheit und Evidenz, 1905; ed. O. Kraus, Leipz. 1930, S. 81) gelegentlich behauptet: Partikeln, casus obliqui bedeuten nichts für sich allein, so ist das nicht haltbar5. Es kommt auch darauf an, was man unter Partikeln versteht; casus obliqui haben außerdem Beziehungsbedeutungen. M a r t y greift nun schärfer zu und teilt die Ausdrücke in „ s e l b s t b e d e u t e n d e " ( a u t o s e m a n t i s c h e ) und „ m i t b e d e u t e n d e * (synsemantische). 1. A u t o s e m a n t i k a sind Ausdrucksmittel, die schon für sich allein genommen den Ausdruck „eines für sich mitteilbaren psychischen Phänomens bilden". Nach Brentanos Klassifikation der psychischen Phänomene haben wir zu unterscheiden: Vorstellen, begriffliches Urteilen und Interesse-Heischen (Emotionen). Nur die beiden letzteren können nach A . Marty im vollen Sinne als Autosemantika bezeichnet werden. Es wäre also zu sondern: a) Sprachmittel, die b e g r i f f l i c h e Vorstellungen im Hörer wachrufen sollen: „Vorstellungssuggestive", denen eben „eine gewisse Selbständigkeit" zukommt. Sie umfassen: a) fingierte (fiktive) Reden, z. B. „unter Umständen dichterische Erzählungen". Marty nennt sie „praktische Autosemantika", insofern sie für sich allein verwendet werden können. ß) „Namen", „theoretische Autosemantika" genannt. Sie umfassen einfache Namen. b) Sprachmittel, die U r t e i l e bedeuten: Aussagen. * Nach Otto Funke, Sprachphilosophie und Grammatik, Studia Neophilologica X V , 1—2, nennt J. Wilkins (1668) als Selbstbedeuter (integrales) nur das Nomen (wie das vom Adjektiv abgeleitete Adverb); als Mitbedeuter (partícula) gelten die Kopula, teilweise die Pronomina, primäre Adverbia, Präpositionen, Konjunktionen, Interjektionen, auch die Ableitungssilben der Wortbildung. Für Cooper (Grammatica 1. Anglic. 1685) sind Nomina wie V e r b a Selbstbedeuter. 5 Im Gegensatz dazu braucht Thomas für die dictiones syncategorematicae auch significare, denotare, designare etc. und sagt, sie hätten eine Bedeutung secundum apparentiam. Vgl. Manthey, „Sprachphilosophie", S. 110f.

13

c) Sprachmittel, die I n t e r e s s e - P h ä n o m e n e bedeuten, Emotive wie Ausruf, Wunsch, Befehl und Frage, insofern sie auch wie b) .wirkliche Reden", selbständige Hauptglieder der Sätze sind. 2. S y n s e m a n t i k a sind syntaktisch gegliederte Redeteile (Redeglieder), insofern sie aus dem Redezusammenhang gelöst sind. Dazu rechnet Marty auch Betonung, Wortstellung, Satzmelodie, »synsemantische Zeichen" genannt (also nicht Redeteile!). Die Synsemantika haben „nur mit anderen Redebestandteilen zusammen eine vollständige Bedeutung". Als Beispiele nennt Marty Adjektiva wie grün und groß, finite Verbalformen wie sitzt, Adverbia, oblique Kasusformen, Bindewörter und Präpositionen. Sitzt, geht und dgl. sind also synsemantisch; die Aristoteliker hätten diese Ausdrücke wohl als kategorematisch bezeichnet, da sie das Prädikat eines Satzes bilden können. Nur Gehender, Sitzender und er geht, er sitzt könnte Marty als autosemantisch gelten lassen. Er bemerkt dazu, daß Partikeln wie wenn, aber allein genommen nicht Ausdruck eines für sich mitteilbaren psychischen Phänomens sind. Denn „ e i g e n t l i c h g e s p r o c h e n haben Wörtchen wie .aber", ,oder', ,und" f ü r s i c h k e i n e n S i n n " . — In einem Brief an Jaberg hat Marty später (16.10.1910) zugestanden, daß in manchen Fällen auch Suffixe und Präfixe, zwecks Ableitung von Adjektiven aus Substantiven, synsemantische Funktion (in deskriptivem Sinne) ausüben könnten*. III. Diesen Ausführungen gegenüber scheidet E d m . H u s s e r l : 1. s e l b s t ä n d i g e B e d e u t u n g e n , wenn sie die „volle und ganze Bedeutung eines konkreten Bedeutungsaktes" ausmachen können; 2. u n s e l b s t ä n d i g e B e d e u t u n g e n sind Inhalte, die „nicht für sich, sondern nur als Teile von umfassenderen Ganzen Bestand haben können". Echte Synkategorematika (unselbständige Bedeutungen) sind Flexionspräfixe und -suffixe; sie werden verstanden, selbst wenn sie vereinzelt stehen! Als Träger inhaltlich bestimmter Bedeutungsmomente verlangen sie jedoch nach einer gewissen Ergänzung, die ihrer Form nach durch den gegebenen Inhalt mitbestimmt ist. Wo das Synkategorematikum im Zusammenhang eines selbständig abgeschlossenen Ausdrucks normal fungiert, da hat es „zu dem gesamten Gedanken allzeit eine b e s t i m m t e Bedeutungsbeziehung"! Von einer Partikel („Beziehungswort") wie aber, von einem Genetiv wie des Vaters können wir also sagen, sie hätten immerhin eine Bedeutung. Ein Wortstück wie bi (billig, bissig) hat aber noch keine synsemantische Bedeutung. („Log. Unt." II, 1 S. 306 ff.) • A. Marty, „Untersuchungen" I, S. 206 ff.; — „Gesammelte Schriften" II, 2, S. 92; — „Psyche und Sprachstruktur", S. 17, 38 f.; — Satz und Wort, Bern 1950, S. 87 f., beide herausgeg. von Otto Funke; — derselbe, „Innere Sprachform", S. 22 f.

14

In den ¡.Ideen" I. Buch, faßt Edmund Husserl diese Darlegungen kurz zusammen: „das vereinzelte ,und', .wenn', der vereinzelte Genetiv ,des Himmels' ist verständlich, und doch unselbständig, ergänzungsbedürftig." Es wird sich zeigen, daß zwischen und und beispielsweise dem Genitiv des Himmels weitere Unterscheidungen zu machen sind. Auch das Wörtchen „ergänzungsbedürftig" bedarf der Klärung. Sind doch schließlich auch Wörter wie halten, begierig ergänzungsbedürftig. (Vgl. „Ideen zu einer reinen Phänomenologie" I, Haag 1950, S. 310.) Auch J o h a n n W e r n e r M e i n e r kommt immer wieder in seinem „Versuch", S. XXXVII ff., zunächst auf die Einteilung in selbständige Wörter (Substantiva) und unselbständige Wörter (Adjektiva und Verba) zurück. Zur Frage der Synkategorematika haben sich auch andere Philosophen und Grammatiker geäußert. So spricht A l e x a n d e r P f ä n d e r i n seiner „Logik" (Halle 1929, S. 165ff.) von reinen „ F u n k t i o n s b e g r i f f e n " oder auch „Flickwörtern", da solche Synkategorematika „nur mit anderen Wörtern zusammen etwas meinen". Er unterscheidet: 1. die a p p e r z e p t i v e n Funktionsbegriffe, die zeigend (dieser), verbindend (und) oder trennend (ohne, auch nicht), vertauschend und dirigierend (statt, oder) sein können; 2. die m e n t a l e n Funktionsbegriffe, die fragend, bittend usw. sein können und auch häufig durch die Sprachmelodie ersetzt werden. Weiterhin die abschwächenden, verstärkenden, bedingenden oder disjungierenden Begriffe (vielleicht, notwendigerweise, falls, entweder ... oder); 3. die erläuternden, zugebenden usw. Begriffe (nämlich, freilich etc.). Trotz des Versuchs einer scharfen Gruppierung wird hier doch recht Verschiedenes zusammengestellt. Schließlich als Grammatiker F r i e d r i c h N e u m a n n (Satz u. Wort, Blätter f. dt. Philos. IV, S. 47 ff.). Er sondert: 1. Wörter, die einen Sachverhalt aus Seinszusammenhängen herausheben: Verbum, Substantivum, Adjektivum und adjektivisches Adverbium (als s e l b s t ä n d i g e Wörter); 2. „Syntaktische Wörter", die ein g e r i n g e s M a ß d e r S e l b s t ä n d i g k e i t aufweisen: Binde- und Verhältniswörter. Sie legen die Beziehungen fest zwischen Gliedern eines Seinszusammenhangs, z. B. er stieg in den Wagen-, 3. Die Gruppe der Prä- und Suffixe, die u n s e l b s t ä n d i g sind. Friedrich Neumann fügt mit Recht bezüglich der Präpositionen hinzu: „Immerhin sind sie noch Klangeinheiten und damit Bedeutungseinheiten, die man aus sprachlichen Gefügen als selbständige Glieder herauslösen kann . . . " — So stehen Meinungen gegen Meinungen. 15

B. Wenn nun A n t o n M a r t y i n diesem Zusammenhang sondert homo und amo als selbstbedeutende Ausdrücke, hominis und amas aber als mitbedeutende; wenn weiterhin H u s s e r l die „Partikel" aber und den Genetiv des Vateis in einem Atem nennt, so wird man nach all dem Gegeneinander der Ansichten dahin gedrängt, n i c h t e t w a e i n zelne Wörter nach ihren Bedeutungen klassifizieren z u w o l l e n , s o n d e r n v i e l m e h r an d e n W ö r t e r n z u sondern7: 1. die l e x i k a l i s c h e B e g r i f f s b e d e u t u n g , 2. die s y n t a k t i s c h e M i t b e d e u t u n g , d i e w i r d i e B e z i e h u n g s b e d e u t u n g n e n n e n w o l l e n (vgl. meine „Grundlegung", S. 77). L. B l o o m f i e l d , „Language", p. 265, sagt: „ the grammatical (d.h. syntactical!) function of the lexical form". Klingt doch, wenn man die sprachwissenschaftlichen Werke der letzten Jahrhunderte überblickt, immer wieder, allerdings in recht verschiedenem Sinne, das Wort „Beziehung" auf (Relation, Beziehungsausdruck, Beziehungslaut, Beziehungsfunktion, Beziehungselement usw.), ohne als betonter Fachausdruck im Gegensatz zum „Begriffswort" zu gelten. So in den Schriften von J. G. Schottel, Schleicher, Friedrich Müller, W. Wundt, Cassirer, Husserl, F. de Saussure, L. Bloomfield, K. Bühler, Joh. Lohmann usw. Ich weise besonders auf O. N i e m e y e r s experimentelle Arbeit („Entstehung des Satzbewußtseins", S. 86 ff.) hin; er spricht von .Beziehungselementen", von „Beziehungskategorien". I. Werfen wir jedoch, bevor wir unsere These näher erläutern, einen zusammenfassenden Blick auf das durchschrittene Labyrinth der „Kategorematika"-„Synkategorematika" (Syndesmoi) und die daran entzündete Aussprache: 1. A r i s t o t e l e s versteht unter „syndesmoi" nicht syntaktische Beziehungsmittel wie Flexion, Wortstellung, Akzent, sondern meint damit volle Begriffswörter, z. B. Das Buch liegt auf dem Tische, wo die .Beziehung" (Verknüpfung) durch eine Präposition hergestellt wird. Das besondere Interesse der Grammatiker wendet sich daher vor allem der Frage zu, was unter synkategorematischen Ausdrücken zu verstehen sei. So während der Scholastik bis auf unsere Zeit (F. Neumann). 2. Die G r a m m a i r e g é n é r a l e e t r a i s o n n é e gelangt allerdings zu einer Unterscheidung von objets des pensées und forme (manière de nos pensées; vgl. die modification, Anm. 3 auf S. 12). Die Verfasser haben aber nodi kein Verständnis für das Wesen der Begriffswörter, wenn sie — im Gegensatz zu Aristoteles und seinen Anhängern — Nomina und Verba auseinanderreißen. 3. In der Unterscheidung von significatio und consignificatio leuchtet 7 Vgl. unter diesem Gesichtspunkt die Unterscheidung von significatio und consignificatio, oben S. 12, Anm. 3.

16

bereits eine Ahnung von s y n t a k t i s c h e r B e z i e h u n g s b e d e u t u n g auf, insofern z. B. beim Verbum nicht die actio schlechthin, sondern das Wie des Zeitverlaufs (Tempus usw.) ins Auge gefaßt wird. Diese Fälle (z. B. homo und curro) werden auch später erörtert bis hin zu Marty und Husserl (amo, aber amas; homo, aber hominis als Sonderung der Kategorematika bzw. Synkategorematika), ohne daß es zu klaren Scheidungen kommt. 4. M a r t y ist jedoch auf dem richtigen Wege, wenn er beispielsweise die syntaktisdien Beziehungsmittel wie Wortstellung, Betonung und Satzmelodie als „ s y n k a t e g o r e m a t i s c h e Z e i c h e n " anspricht. Andererseits wird in neuerer Zeit ganz allgemein von „ B e z i e h u n g " (auch „Funktion") gesprochen, ganz gleichgültig, ob es sich um lexikalische Begriffsbedeutungen oder um syntaktische Beziehungsbedeutungen und noch andere „Beziehungen" handelt. So sagt F. d e S a u s s u r e , „Cours", p. 170: tout (!) repose sur des rapports, seien es nun „syntagmes" oder „rapports associatifs"; siehe die Beispiele weiter unten. L. B l o o m f i e l d , „Language", unterscheidet allerdings zwischen lexical und grammatical form (meaning, function); das ist richtig, wenn man syntactical (statt grammatical) sagt 8 . Und entsprechend unterscheidet E d w . S a p i r , „Language", p. 99 f., 119, zwischen concept (material content) und syntactical relation. Man versteht demgemäß, mit geringen Ausnahmen, unter „rapport" bzw. „relation" bald Bedeutung, bald Beziehungsbedeutung und noch vieles mehr. Wenn man derartig gegen den ersten Grundsatz der Logik, das principium identitatis, verstößt, braucht man sich über den auch sonst beklagten Stand der heutigen Sprachwissenschaft nicht zu wundern 9 . II. Machen wir nunmehr eine Probe aufs Exempel: »Vom Großen Kurfürsten an aber w a r ich parteiisch genug, antikaiserlich z u urteilen und natürlich z u finden, d a ß d e r Siebenjährige Krieg sich vorbereitete." (Bismarck, Gedanken u. Erinnerungen, I.Kap.) Dieser „Satz" ist ein Gefüge von Begriffswörtern, deren Zusammenhang durch Beziehungsmittel gekennzeichnet ist. In dem Satzgefüge sind zu sondern: 1. V o l l w ö r t e r mit B e g r i f f s b e d e u t u n g e n , d. h. B e g r i f f s 8 Audi J. R. Firth, „General Linguistics", p. 85, unterscheidet zwei Arten von Bedeutungen: 1. at the grammatical (besser: syntactical) level (: Kasus, Numerus, Wortart) und 2. at the lexical level. Vgl. Modes of Meaning, Essays and Studies IV (1951), p. 120 f.

• „Warum herrscht heute noch auf dem Gebiete der sogenannten Syntax ein chaotischer Zustand? Weil die semasiologische Problematik noch im argen liegt, weil die Beschreibung der Bedeutungen eine vielfach mangelhafte ist, weil semasiologisch Zusammengehöriges getrennt, zu Trennendes vereint wird." A. Marty, „Psyche u. Sprachstruktur", S. 42. 2 Otto, Sprachwissenschaft

17

w ö r t e r , z. B. von, an, groß, Kurfürst, aber, ich, parteiisch, genug usw. Zu diesen Begriffswörtern gehören also auch die Präpositionen 10 . Diese Begriffswörter haben zudem noch eine B e z i e h u n g s b e d e u t u n g , die durch Beziehungsmittel charakterisiert sind, z. B. a) durch F l e x i o n : vom ( ich hoffe, daß er kommt. Mit Sicherheit kann man wohl sagen, daß lat. ad > frz. à zu einem bloßen Beziehungsmittel abgeschwächt ist in au père; entsprechend lat. de in du père = patris; aber il s'amuse à jouer? Wenn wir vergleichsweise in Klammern eine deutsche Entsprechung hinzugefügt haben — à Paris (in Paris) —, so soll damit kein schlüssiger Beweis geliefert sein, sondern nur eine Brücke geschlagen werden zum Verständnis des Fremden von unserer Muttersprache aus; gehen doch Muttersprache und Fremdsprache in Fällen wie in Rom — lat. Romae gerade entgegengesetzte Wege. Im übrigen können Vollwörter, denen wir grundsätzlich eine Begriffsbedeutung zugestehen, in der fließenden Umgangssprache, von der ja immer auszugehen ist, gelegentlich stark an Gewicht einbüßen und sich so den bloßen Gliedwörtern annähern, z. B. und in Ich kam, 'n sah, 'n siegte. Die Träger der syntaktischen Beziehungsbedeutungen, seien sie nun 11 Vgl. Albert Grote, Uber die Funktion der Copula, Philos. Literaturanzeiger 1 (1945), 6. Heft, S. 252. — Im Türkischen wird das adjektivische und das stubstantivische Prädikatsnomen wie das Verb flektiert (Finck, „Haupttypen", S. 78). — Die „Kopula" fällt z. B. im Russischen aus, kann auch im Chinesischen fortbleiben.

20

selbständig (Gliedwörter) oder unselbständig (Suffixe oder dgl.), dynamischer und musikalischer Akzent usw., haben wir zusammenfassend „ B e z i e h u n g s m i t t e l " genannt. Mit der genauen Sonderung von B e g r i f f s w ö r t e r n und B e Z i e h u n g s m i t t e l n ist zugleich die später zu behandelnde Gliederung der Grammatik vorbereitet.

21

III B e z i e h u n g s m i t t e l und i h r e

Leistungen.

Wir sahen uns gedrängt, die unbestimmte Sonderung der kategorematischen und der synkategorematischen Ausdrücke zu ersetzen durch die Sdieidung von Vollwörtern mit Begriffsbedeutungen einerseits und den Beziehungsmitteln mit Beziehungsbedeutungen andererseits. Die Aufzeichnung der Begriffswörter und ihrer Bedeutungen ist Sache des Lexikons, die Erforschung der Beziehungsmittel und ihrer Beziehungsbedeutungen ist Aufgabe der Syntax, um es auf eine kurze Formel zu bringen. Es tauchen dann folgende Probleme der Syntax auf: 1) einen systematischen Überblick zu gewinnen über die möglichen Arten von Beziehungsmitteln; ja es entsteht die Forderung einer systematischen Ableitung ihrer Wesenstypen, wodurch allein die Art und die Anzahl der Beziehungsmittel gewährleistet würde, und zwar im Rahmen einer Allgemeinen Grammatik (vgl. „Sprache und Sprachbetrachtung", S. 5). Wirft man einen Blick auf unsere wissenschaftlichen und Schulgrammatiken, so ist es wohl nicht zu viel behauptet, wenn wir sagen, daß wir da vor einem Chaos stehen, ganz abgesehen von der verfehlten Gliederung der heutigen Sprachlehre. 2) Das erstere Problem drängt weiter zur Frage nach den möglichen Leistungen der einzelnen Beziehungsmittel im Rahmen des Satzgefüges. Um gleich von vornherein den Ort jedes einzelnen, etwa der Flexion, i m g r o ß e n R a h m e n d e s G a n z e n kenntlich zu machen, schicke ich die Lösung der beiden Probleme voraus 1 : Begriffswörter



B e zi e h u n g s m i 11 e 1

Arten : 1. Akzent, 2. Flexion, 3. Wortstellung, 4. Wortart.

Leistungen: 1. innensyntaktisch, 2. außensyntaktisch, 3. eigentliche Mitteilung, 4. Stellungnahme.

A. Zum ersteren Problem: Systematische Ableitung der möglichen B e z i e h u n g s m i t t e l vom Standpunkt einer Allgemeinen Sprach1 Dies System ist w ö r 11 i c h von W. Jung, Kleine Grammatik der deutschen Sprache, Leipzig 1953, übernommen worden, allerdings ohne das angemessene Verständnis. Unter den .Literaturhinweisen" wird mein Name, der im Text gelegentlich zweimal vorkommt, nicht genannt.

22

Wissenschaft, und zwar aus dem Wesen und Zweck der menschlichen Sprache unter den einmaligen Gegebenheiten dieser Welt: I. Das Sprechen ist: 1. ein r e i n k l a n g l i c h e s Gebilde, d.h. zunächst einmal abgesehen von der Artikulation der Laute. Klanglicher Charakter eignet dem m u s i k a l i s c h e n u n d d y n a m i s c h e n A k z e n t , d.h. der Stimmführung nach Höhe und Tiefe, nach Tempo und Rhythmus des Sprechtones sowie nach der Intensität, was wir Betonung oder Nachdruck nennen. Die Besonderung der akustischen Klangwirkungen liegt darin, daß sie auf größere Entfernungen wirken. In der S c h r i f t , bzw. im Druck werden diese Möglichkeiten durch visuelle Zeichen, z.B. durch Frage- und Ausrufungszeichen ersetzt, auch durch Unterstreichen bzw. durch gesperrten oder fetten Druck der hervorzuhebenden Wörter. 2. Der Sprechakt ist fernerhin ein a r t i k u l i e r t e s Gebilde der mit Hilfe hoch differenzierter Sprachorgane hervorgebrachten L a u t e , z. B. der Präfixe, der In- und Suffixe auf dem Gebiete der F1 e x i o n , d. h. der Deklination und der Konjugation. Der akustische Charakter der artikulierten Laute macht eine Verständigung auf weitere Entfernungen möglich8. 3. Das Sprechen der Sprache vollzieht sich sodann als ein Nacheinander in der Z e i t . Auf dieser Eigenart der gesprochenen Sprache beruht die W o r t f o l g e , die Wortstellung der Rede. 4. Schließlich ist die gesprochene Sprache ein k a t e g o r i a l e s , nicht ein begrifflich-inhaltliches Abbild unserer gegenständlichen Umwelt, die uns als G e g e n s t ä n d e , mit bestimmten E i g e n s c h a f t e n , mit B e w e g u n g e n in R a u m u n d Z e i t erscheint. Darauf beruht die Sonderung der Wörter in Wortarten, d. h. Gegenstands-, Eigenschafts-, Vorgangs- und Verhältniswörter, worauf noch weiter unten sehr ausführlich einzugehen ist. Daraus ergeben sich a priori, d. h. „mit der Erfahrung", da es keine weiteren spezifischen Eigenschaften der Sprache gibt, v i e r grundsätzlich verschiedene Wesenstypen syntaktischer Beziehungsmittel: musikalischer Und dynamischer Akzent, Flexion, Wortstellung und Wortart. Veranschaulichen wir uns die Eigenart dieser vier Typen und ihrer 4 Auf dem VII. Intern. Linguisten-Kongreß in London wurde das Problem erörtert: Can a purely formal grammatical analysis be carried out on languages such as Chinese, — und dazu der Nachsatz: in which all or nearly all the words are invariable, and if so, on what principles? Der Veranlasser dieser Frage scheint von der Voraussetzung auszugehen, daß die Flexion das einzige Beziehungsmittel sei. Denn wozu sonst der Nachsatz, in dem die chinesische Sprache als wesentlich nicht variabel angesprochen wird! W a s besagt zudem der Ausdruck «formale Analyse"? Ist die Flexion außerdem nicht konkreter als Wortstellung, Akzent und die Wortart? Gäbe es überhaupt eine allgemeine Satzlehre, wenn man die gestellte Frage verneinen wollte?

23

Durchkreuzungen an dem folgenden schlichten B e i s p i e l unserer Muttersprache: Seine Eltern leben. 1. Rein klanglich kann die Rede, z. B. im Deutschen, als Aussage, Befehl oder Frage, und zwar durch die Art des m u s i k a l i s c h e n A k z e n t s gekennzeichnet werden. Legen wir in der Aussage: Seine Eltern leben den d y n a m i s c h e n A k z e n t bald auf Seine, bald auf Eltern oder leben, so vollzieht sich jedesmal eine wesentliche Sinnänderung. Der Nachdruck kann auch der Differenzierung der Begriffsbedetftung dienen, z. B. im Chinesischen und im Ewe (Sudan). Die Abtönungen von Rhythmus, Betonung und besonders von musikalischem Akzent sind schwer zu erfassen und festzulegen, da sie innerhalb eines Sprachgebietes sowohl dialektisch (landschaftlich) als auch differentiell (z. B. nach dem Geschlecht) und individuell, ja nach Stimmung und Situation variieren. — Die Zeichensetzung, ganz natürlich mit dem Erlebnis bzw. Nacherlebnis einer Gesprächssituation verknüpft, z. B. So komm doch endlich!, ist später konventionell geregelt worden und dient als optischer Ersatz des akustisch Geäußerten bzw. Wahrgenommenen 8 . 2. Lautlich wird seine Eltern durch Flexion als Subjekt des „Satzes" gekennzeichnet; es könnte, der bloßen Flexion nach, aber auch ein Objekt sein. Das Prädikat leben ist Plural des Präsens. Wenn wir die Flexion als lautliches Beziehungsmittel bestimmen, wird man nicht anstehen, auch das (unbetonte) Gliedwort nicht als Flexion zu bezeichnen. Das wird im Laufe meiner Darlegungen immer mehr einleuchten. Dazu vergleiche man engl, one und none, die enklitische Fragepartikel lat. -ne, entsprechend dem chinesischen Gliedwort mo, insofern auch dessen begriffliche Bedeutung abgeschwächt ist4. Die analytische Bildungsweise der französischen Kasus de mon père, à mon père, aus den präpositionalen Begriffswörtern lat. de, ad entstanden, worauf bereits im vorhergehenden 3 Hinsichtlich des musikalischen und dynamischen Akzents sind also wohl zu unterscheiden die Fälle, wo der Akzent stereotyp-konventionell („usuell") und wo er aus der Sprechsituation heraus („okkasionell") gebraucht wird. Vgl. dazu Ch. Bally, Intonation et syntaxe, Cahiers F. de Saussure 1, Genf 1941, p. 33 ff. Entsprechendes gilt für die Wortstellung. 4 Wenn auf dem VII. Internat. Linguisten-Kongreß in London die Frage gestellt wurde nach dem Zentralproblem von „Form" und „Bedeutung" (meaning!) der N e g a t i o n , so beschränkten sich viele Linguisten zunächst darauf, die mannigfaltigen Gesichtspunkte für die möglichen Ausdrucksformen zusammenzutragen („Prelim. Rep.", p. 61 ff.): ne ... pas (point), impossible, peu poli; als Beispiele von Oppositionen: inobstruée, pleasure — unpleasure, nein — ja, nonstop train, little, no more, no sugar, dazu keineswegs, kaum, vielleicht; die doppelte Negation ne ... jamais rien; not uncommon etc. Vgl. dazu O. Jespersen, „Philosophy", p. 322 ff.; E. Lewy, „Bau der europäischen Sprachen", S. 86. Das zentrale Problem ist aber die „Bedeutung" der Negation. Demgemäß ist zu sondern zwischen Begriffswörtern (/ do not know, pas du tout) und Beziehungsmitteln (i don't know, ne ... pas), d. h. zwischen Begriffsbedeutungen und Beziehungsbedeutungen. Erstere betreffen die Wortlehre, letztere die Satzlehre.

24

Kapitel hingewiesen ist, offenbart deutlich den Ubergang von ursprünglichen Vollwörtern in Gliedwörter. 3. Die Wortstellung. Man erkennt das Subjekt im einfachen deutschen Aussagesatz daran, daß es gewöhnlich vor dem Prädikat steht. Subjekt — Prädikat des Indogermanischen läßt unser Beispiel als Aussagesatz erkennen. Dreht man die Wortfolge um, so daß das Prädikat den „Satz" eröffnet: Leben seine Eltern (?), so wird der Charakter der Frage augenscheinlich. Das Attribut seine steht im Deutschen vor dem Kernwort und wird infolge der Wortstellung als solches gekennzeichnet. 4. Das ursprünglichste und daher am wenigsten beachtete Beziehungsmittel ist die Wortart. Das Subjekt seine Eltern ist ein Substantiv, von dem etwas ausgesagt wird; das Prädikat leben ist ein Verbum, das vom Subjekt eine Tätigkeit (Vorgang oder Sein) aussagt. Dieser Gebrauch der Wortart als Beziehungsmittel, der gegenständlichen Wirklichkeit nachgebildet, ist bereits von anderen Linguisten mehr oder weniger klar eingesehen worden (L. Bloomfield, W. Simon, J. Gonda). O. Niemeyer 5 behauptet mit Recht, daß die Aufteilung der Situation durch Tätigkeits- und Dingwörter, also die ganze S t r u k t u r des Satzes, „ein erstes Mittel zur Verständigung über ihren Sachverhalt" sei. Diese Auffassung macht die klassische Auseinandersetzung zwischen G. v. d. G a b e l e n t z und H. S t e i n t h a l verständlich. Der letztere hatte die Behauptung aufgestellt, die „Satzglieder" des Chinesischen seien keine „Wörter" und „wo kein Wort ist, kann kein Nomen und Verbum sein, keine Deklination und Konjugation". Dieser Irrtum begegnet immer wieder. Dagegen erklärte G. v. d. Gabelentz, der trotz der wenig genauen Ausdrucksweise wohl auf dem rechten Wege war, daß die Redeteile „nicht durch lautliche, sondern durch syntaktische Mittel" bestimmt werden, also durch die S t r u k t u r der Syntax, d. h. durch den Zusammenhang der Worte im Satz, z. B. das Gegenstandswort durch ein Eigenschaftswort, das Tätigkeitswort durch eine Ergänzung, der Wirklichkeit entsprechend. Sagt er doch auch: Es ist der Unterschied „zwischen Ding, Eigenschaft und Tätigkeit durch die Betrachtung der Welt gegeben". „Kurz, der Mensch brauchte nur die Welt zu betrachten, um des Unterschieds zwischen Ding, Eigenschaft und Tätigkeit inne zu werden." Ganz abgesehen von der Struktur des Satzgefüges eignet nach G. v. d. Gabelentz zudem jedem Worte eine „Grundbedeutung", womit er nicht den Begriffskern oder den etymologischen Ansatzpunkt det 5 L. Bloomfield, „Language", p. 146, 163, 185, 265 ff., 271 f.; — W . Simon, „Transactions" 1937, p. 99 ff.. 107 ff.; — J. Gonda, Lingua III/l (1952), p. 17 f.; — O. Niemeyer, „Entstehung des Satzbewußtseins", S. 63; — Joh. W. Meiner, „Versuch", S. 100,- — Joh. S. Vater, „Übersicht", S. 10; — K. F. Becker, „Ausführliche deutsche Grammatik", 2. Abt., S. 8.

25

Begriffsbedeutung meint, von der hier zunächst abgesehen ist, sondern die kategoriale Beziehung eines Wortes auf die Kategorien der gegenständlichen Wirklichkeit, die uns eben als Gegenstände, als deren Eigenschaften, Vorgänge und zeit-räumliche Relationen gegeben ist. Als Beispiel bietet v. d. Gabelentz das chinesische Adjektiv ta (groß), dessen kategoriale „Grundbedeutung" groß als E i g e n s c h a f t besagt, dann erst im abgeleiteten Sinn, je nach dem Zusammenhang des Satzes, ein Gegenständliches (Größe), einen Vorgang (vergrößern) usw. Diese Grundbedeutung ist bestimmend für die Auffassung des jeweils vorliegenden Satzgefüges, womit keine syntaktische Beziehung hineingedeutet, sondern umgekehrt aus der Struktur des Satzes angemessen ausgedeutet wird. Dies alles schwebte vielleicht W. W u n d t vor, wenn er, reichlich mißverständlich, von der „Stellung", von der „inneren Wortform" spricht, die natürlich nicht mit der inneren Sprachform zu verwechseln ist. Ist doch die Wortstellung aufs tiefste mit dem Gedanken der Struktur verwandt. In der bereits herangezogenen experimentellen Untersuchung von O. N i e m e y e r heißt es daher mit Recht: „Das schnelle Verständnis des Satzes hält sich zuerst immer an seine formale Struktur", zunächst einmal ganz abgesehen von dem Wissen um den begrifflichen Inhalt der Worte. Dasselbe meint im Grunde F. N. F i n c k , wenn er ausführt, daß eine mit Bist anfangende Rede schon erkennen läßt, daß dieses Wort nicht etwa ein Ding bezeichnen kann. Oder positiv gewandt: Par sa nature (!) même, le «sujet» est nécessairement un nom (A. M e i l l e t ) 4 . Die kategoriale „Grundbedeutung" bestimmt mithin par sa nature même — ebenso v.d. G a b e l e n t z , „Sprachwissenschaft", S.382 — in erster Linie den Typus der Wortart, z. B. Haus als Gegenstand, groß als Eigenschaft, leben als Vorgang, vor als örtlich-zeitliche Relation, zunächst einmal abgesehen von der Begriffsbedeutung. So werden auch die Bemerkungen von J. Vendryes („Langage", p. 143) und J. Larochette („Actes" VI, p. 289) verständlich. Nehmen wir ein anderes praktisches Beispiel, und zwar aus einer nichtindogermanischen Sprache, deren Begriffsworte wir durch deutsche Worte ersetzen. Der Grundgedanke von Hannibal ad portas würde ausgegliedert im Altajischen lauten: siegreich Heerführer Tore vor stehend. Trotz der Eigenart der altajischen Syntax — keine Kongruenz von Substantiv und Attribut, nachgestellte Präposition (d. h. Postposition), Parti• H. Steinthal—Fr. Misteli, „Charakteristik", S. 39 ff., 166; — G . v . d. Gabelentz, Anfangsgründe der chinesischen Grammatik, Leipzig 1883, S. 19 f., 26 ff., 80 £f.; ders., Zur chines. Sprache und z. allgemeinen Grammatik, Intern. Ztschr. f. Allgemeine Sprachwissenschaft III (1887), S. 92 ff., und „Sprachwissenschaft", S. 382; — E.Otto, „Sprache und Sprachbetrachtung", S. 15 f., 22; — W. Wundt, . D i e Sprache" II, S. i ff.; — O. Niemeyer, „Entstehung des Satzbewußtseins", Si 63, 68, 81; — F. N. Finck, „Haupttypen", S. 89 ff.; — A. Meillet, „Linguistique" II, p. 5.

26

zipialkonstruktion mit Hinneigung zur Gerundialkonstruktion statt der Gliederung in Subjekt und Prädikat — ist uns die Struktur vollständig klar auf Grund der kategorialen Grundbedeutungen der einzelnen Wörter. Audi trägt die (natürliche) Wortstellung dazu bei, zumal das Altajische wie das Deutsche eine unterordnende Sprache ist, d. h. das Bestimmende vor dem Bestimmten steht, worüber weiter unten noch zu handeln ist. Der Sachverhalt ist also der, daß die W o r t a r t zu erkennen ist: 1. wohl auch aus l a u t l i c h e n Merkmalen, z.B. im Deutschen an der (lexikalischen) Wortbildung von Substantiven (-ung), Adjektiven (-¡ich), Verben (-en) usw., worauf sich dann erst sekundär die Art der Flexion aufbaut. So geht R. M. Meyer in seiner Auseinandersetzung mit J. Ries von der Annahme aus, daß der Unterschied zwischen Nomen und Verbum ein „flexivischer" ist7. Dieses lautliche Kennzeichen ist aber nicht typisch für die Wortart! 2. Wesentlich für die eigentliche Kennzeichnung der Wortart ist jedoch die St r u k t u r des Satzgefüges als mehr oder weniger getreue Nachbildung der gegenständlichen Wirklichkeit. In diesem Sinne spiegelt die „Form" der Sprache in jedem Idiom eine spezifische Weitsicht, eine Weltansicht wieder, mit W i l h . v. H u m b o l d t gesprochen. Auch die deutsche Schreibung der „Hauptwörter" (!), d. h. der „Gegenstandswörter" (!) mit großem Anfangsbuchstaben erleichtert die Einsicht in die Struktur des Satzgefüges. Desgleichen die Beifügung eines persönlichen bzw. besitzanzeigenden Pronomens zum Verb, bzw. zum Substantivum (ich liebe, meine Liebe), besonders auch in Sprachen, wo die Wortarten sonst nicht oder nur schwach unterschieden sind, z. B. im Samoanischen8. Die Interpretation eines Textes, wesentlich unter dem besonderen Gesichtspunkt der Wortart bzw. der Satzstruktur gesehen, vollzieht sich dann aus dem wechselseitigen Zusammenwirken von Struktureinsichten, Erfassen der „Grundbedeutungen" und näherer Feststellung der in gewissen Grenzen immerhin vagen Wortbedeutungen. Man vergegenwärtige sich dieses Ineinandergreifen vergleichsweise an der Ausdeutung eines hebräischen oder eines chinesischen Textes und zwar ohne Angabe der Vokale bzw. der Tonqualitäten der Begriffsworte. Aus der wiederholten Uberschau des ganzen Satzgefüges leuchtet an einer bestimmten ' German.-Roman. Monatsschrift, 1913, Dezemberheft, S. 643; — Ida C. Ward, Tones and Grammar in West African Languages, „Transactions" 1936, p. 50 ff., legte dar, daß im Ibo, Efik, Yoruba (Nigeria) und Twi (Goldküste) der Tonfall fpitch) nicht nur die Wortbedeutungen (Wortbildungen) differenziert, sondern auch in syntaktischer Hinsicht die Flexion neben der Wortart. 8 L'importance du nom dans la phrase . . . se marque par le rapport qui existe entre la forme du nom et la structure de la phrase . . . Dans une langue ainsi faite (sc. une langue moderne), un mot peut souvent servir de nom ou de verbe, suivant les mots accessoires qui l'entourent (the love, 1 love)-, so A. Meillet, a. a. O., p. 7 f. 27

Stelle der erhellende Funke auf, der dann, sich immer weiter ausbreitend, das Ganze klärt und aufhellt. — II. Es versteht sich, daß keine Einzelsprache von einem bestimmten Beziehungsmittel Gebrauch machen m u ß ; so kennt zum Beispiel das Chinesische die Flexion in unserem Sinne nicht. In den neueren Sprachen ist das Deklinations- und Konjugationssystem durch den Synkretismus der Kasus, der Zeiten und Numeri sehr vereinfacht worden. Man spricht in solchen Fällen oft im abwertenden Sinne von einem »Verfall", wo der Formenreichtum aus ökonomischen Gründen durch Wortstellung ersetzt ist (vgl. „Grundlegung", S. 89). Schon W. D. W h i t n e y („Life and Growth", S. 221 f.) hatte 1880 ausgesprochen: "There are no relations to which language must necessarily give expression." Wir haben uns im Gegenteil von alten Vorurteilen freizumachen, also auch nicht Wortart oder Flexion zu vermuten, wo sie nie bestanden haben oder aufgegeben sind. Bei diesem wichtigen Punkte müssen wir noch einen Augenblick verweilen. Im Gegensatz zur Wundt'sehen These ist M i c h e l B r é a l der Überzeugung, daß Inhalt und Form der Sprache sich nicht entsprechen: «Je me propose de montrer qu'il est dans la nature du langage d'exprimer nos idées d'une façon très-incomplète.» Also muß unsere Intelligenz dem Wort zu Hilfe kommen und ergänzen, was sprachlich nicht ausgedrückt ist. In diesem Sinne spricht Bréal auch von einer „ellipse intérieure"®. Er behauptet mit Recht: «Toute la syntaxe a d'abord résidé dans notre intelligence.» Wenn aber ein Idiom ein Beziehungsmittel aufgegeben hat, so ist das etwas anderes; es ist eben ein Zeichen, daß die geistigen Kräfte, die einstmals eine Sprachform geschaffen haben, nicht mehr vorhanden sind. Wohl könnte ein Beziehungsmittel, Flexion oder Wortart, formal n o c h n i c h t ausgebildet sein, als bereits das „Sprachgefühl" auf Ausdruck hindrängte. Davon verschieden ist es aber, wenn „nos langues . . . omettent ce qui va sans dire", d. h. auch wenn das „Sprachgefühl" e r s t o r b e n ist. Es geht schließlich doch gar nicht um die Bewußtseinslage des Sprechenden, sondern um das, was er seinem Gesprächspartner tatsächlich sagt, der die gehörten und wirklich verlautbarten Worte zu deuten hat. Das ist der springende Punkt. Wir haben nicht das Bewußtsein zu analysieren, sondern ein linguistisches Problem zu sehen und deskriptiv darzustellen. Was also sprachlich nicht in die Erscheinung getreten ist, kann auch nicht dem Verständnis dienen. Die einzelnen syntaktischen Mittel sind in der Tat nicht gleichartig, aber doch gleichwertig. Der Kult der Flexion ist mithin abwegig; falsch * M. Bréal, „Les idées latentes"; ebenso A. Marty: logisch nicht begründete Synsemantika, „Untersuchungen" I, S. 537 ff.; „Psyche und Sprachstruktur*, III. Teil. 28

ist auch, daß die Kasus durch die Stellung ausgedrückt werden (vgl. Wundt, „Die Sprache" II, S. 69)! Und damit steht Wundt nicht allein. Die Grundwortarten können sprachlich in dieser oder jener Sprache noch weiter differenziert werden, so kann z. B. das A d v e r b neben dem Adjektiv sprachlich herausgebildet sein: glücklicherweise neben glücklich, bien neben bon usw. Aber auch hier muß man sich hüten hineinzulegen, was nicht in der Sprache vorhanden ist. So hatte H. Paul („Prinzipien", 1909, S. 366) mit Recht behauptet: „Wir haben eigentlich kein Recht mehr, gut in Sätzen wie Er ist gut gekleidet als Adverb dem Adjektiv gegenüber zu stellen." Die von Franz Kern geübte Kritik ist eben abwegig10. Also ist auch V. B r o n d a l („Essais", p. 10) zuzustimmen, wenn er behauptet, daß in Irapper dur das zum Verb gestellte dur nicht als Adverb, der Wortart nach, gekennzeichnet ist. Was im übrigen die Ausdrucksweise Adverb betrifft, so ist die deutsche Bezeichnung „Bestimmung" (des Umstandes) im allgemeinen vorzuziehen; müßte man doch angemessener Adadjektiv sagen in Fällen wie Er ist ganz tüchtig. — B. Zum zweiten Problem, den Leistungen der Beziehungsmittel (vgl. „Sprache und Sprachbetrachtung", S. 12). Ehe ich jedoch von der eigentlichen Leistung der Beziehungsmittel für die Sprache als V e r s t ä n d i g u n g s m i t t e l handle, sei der Hinweis gestattet, daß die Stimmführung, Nachdruck und auch die Wortstellung es ermöglichen, die feinsten Erregungen der Seele in der Sprache als E n t l a s t u n g zum „Ausdruck" zu bringen. Ich unterscheide folgende Arten von Leistungen: I. Die Beziehungsmittel kennzeichnen die Beziehungen der Begriffswörter innerhalb des Satzgefüges, z. B. durch die Wortstellung wie auch durch die Kasus. Ich spreche in diesem Falle von i n n e n s y n t a k t i s c h e n Leistungen. II. Die Numeri beziehen sich dagegen auf Verhältnisse der Außenwelt, d.h. also der Gesprächssituation im weitesten Sinne; ebenso die Zeitstufen, die Aktionsarten und die Aspekte; z. B. im Englischen11. Auch die Wortarten; sie sind ursprünglich der kategorialen Gliederung der U m w e l t in Gegenstände, Eigenschaften, Vorgänge und Relationen des Ortes usw. entlehnt und spiegeln, in Nachbildung der Umwelt, den dort bestehenden Zusammenhang im Satzgefüge wider, z. B. Das Haus am Marktplatz. Desgl. die Grade der Steigerung, und zwar sind dies bloße B e z i e h u n g e n auf die Gegebenheiten der Außenwelt, keine begrifflich genauen Angaben. Man kann solche Leistungen der Beziehungsmittel 10

Entsprechend ist (ein Glas) Wasser weder Nominativ noch Akkusativ (ebd. S. 156). 11 Vgl. J. Raith, Untersuchungen zum englischen Aspekt, S. 18, 21 ff. — K. Bühler, „Sprachtheorie", S. 79 ff. — Deutschbein-Klitscher, Grammatik der englischen Sprache, Heidelberg 1953, S. 110 ff. 29

außensyntaktisch nennen. Die deiktisdie Möglichkeit der Sprache hat schon K. Bühler ausführlich dargetan: Unterscheidung von Symbol- und Zeigfeld, ich — du, hier — doit. Seine Ausführungen beschränken sich aber auf Begriffswörter wie Pronomina und Adverbia; sie lassen die hier zu behandelnden syntaktischen Verhältnisse außer acht. III. Die eigentliche Mitteilung, d. h. der Kern der Aussage (der Frage oder Aufforderung), den W. W u n d t die „dominierende Vorstellung" genannt hat. Dieses logisch wichtigste Satzglied wird im Deutschen durch den dynamischen Akzent, im Französischen (Lateinischen) vornehmlich durch Endstellung, auch durch Umschreibung mit c'est.. .qui {que) gekennzeichnet. Die Verkennung dieser bedeutsamen und eigenartigen Leistung menschlichen Sprechens, sofern die Rede überhaupt gegliedert ist und der Sprechende sich nicht damit begnügt, nur die eigentliche Mitteilung hervorzustoßen (z. B. Feuer!), hat zu der Sonderung von psychologischem und grammatischem Prädikat geführt. G e o r g v. d. G a b e l e n t z hat sich dahingehend ausgesprochen, daß das, worüber ich nachdenke, zunächst mein „psychologisches Subjekt", sodann das, was ich darüber denke, mein „ p s y c h o l o g i s c h e s P r ä d i k a t " sei. Er hat damit die Zustimmung Ph. W e g e n e r s und K. B r u g m a n n s gefunden. Diese Theorie geht von der falschen Voraussetzung aus, daß das Prädikat wesentlicher ist als das Subjekt. Auch H. P a u 1 hat diese Ansicht aufgenommen und zwischen psychologischem und grammatischem Subjekt bzw. Prädikat unterschieden. Schließlich hat A. T o b 1 e r auch von einem „logisdien Subjekt" gesprochen. Die zugrunde liegende Beobachtung, daß nicht alle Satzglieder gleich wichtig sind, trifft wohl zu, verkennt aber die Tatsache, daß die Beziehungsmittel nicht bloß die innensyntaktischen Beziehungen ausdrücken, sondern viel mehr Aufgaben haben. Das muß erst einmal im Rahmen des ganzen, oben aufgewiesenen Systems (S. 22) gesehen werden. Denn die dem Indogermanischen eigene Gliederung eines Satzgedankens in Subjekt und Prädikat liegt auf einer ganz anderen Ebene als die Leistung jeglicher Sprache schlechthin, das wichtigste Glied der Rede durch syntaktische Beziehungsmittel kenntlich zu machen I Auch die von Knud Togeby herangezogene Diskussion verkennt diese Zusammenhänge. Der hier vorliegende Irrtum ist auch von A. M a r t y, allerdings von anderen Gesichtspunkten her, gerügt worden1*. IV. Schließlich die Stellungnahme zum Sachverhalt des Satzgedankens, der als Frage, Aufforderung, Verneinung, Notwendigkeit, Unmöglichkeit 11

G. v. d. Gabelentz, Anfangsgründe der chinesischen Grammatik, Leipzig 1883, S. 20 f.; ders. „Sprachwissenschaft", S. 365 ff.; — Herrn. Paul, „Prinzipien", S. 124 ff.; — A. Tobler, Vermischte Beiträge I (Erste Aufl. 1886), zweite Aufl. 1902, S. 5 ff., 88 ff.; — Knud Togeby, Structure immanente de la langue française, Copenhagen 1951, p. 112; — A. Marty, Uber die Scheidung von grammatischem, logischem und psychologischem Subjekt resp. Prädikat, „Ges. Schriften" II, 1, S. 328 ff., 339 ff.

30

usw., aber auch als bloße Aussage näher charakterisiert wird18. Es handelt sich also nicht um eine Haltung zur „Wirklichkeit" als einer „grammatischen Kategorie" (vgl. P. D i d e r i c h s e n , „Actes" VI, p. 131 f.), sondern um eine Stellungnahme zum Satzgedanken. Dies geschieht beispielsweise im Deutschen durch Stimmführung, Wortstellung (in der Frage), durch Modalverben, durch Gliedwörter wie nicht, was wir bereits berührt haben 14 . H . B o n n a r d („Actes" VI, p. 266) unterscheidet verschiedene Arten von indications de modalités ; ähnlich A. M a r t i n e t und J . L a r o c h e t t e („Actes" VI, p. 181 bzw. 431). Ich füge dies hinzu, um diese Gedanken in den größeren Zusammenhang des Systems zu stellen und demgemäß zu würdigen. Auf diese Leistung der Sprache ist gelegentlich in ganz verschiedenem Sinne hingedeutet worden. So spricht A. M a r t y , als Schüler Fr. Brentanos, von dem anerkennenden oder ablehnenden, bejahenden oder verneinenden Verhalten gegenüber dem, was in jedem Urteil vorgestellt wird. Nach K. B ü h 1 e r ist auch das Urteil „eine Stellungnahme zu dem Sachverhalt". Ebenso spricht H. L i p p s vom Urteil wie von einer Haltung, in der man fragend usw. zu etwas steht. Auch nach E. M a 11 y ist die einfache Aussage mehr als die Darstellung, nämlich wesentlich Feststellung, Geltenmachen eines anzuerkennenden Sachverhaltes 15 . Die Sache liegt nun so : F r . B r e n t a n o teilt bekanntlich die psychischen Phänomene ein in Vorstellen, Urteilen und Interessenehmen (oder Gemütsbewegungen), d.h. Gefallen oder Mißfallen. Dazu glaubt A . M e i n o n g noch die „Annahme" fügen zu müssen, ein Mittelding zwischen Vorstellen und Urteilen, weil den Annahmen der für das Urteilen wesentliche Charakter der Uberzeugung einerseits fehle, andererseits sei mit den Annahmen ein Anerkennen oder Leugnen verbunden, das aus dem Vorstellen herausfalle. Die Lösung dieses Problems scheint mir nur darin zu liegen, daß die Annahme keine besondere intentionale Beziehung n e b e n dem Vorstellen, Urteilen und Interessenehmen ist, sondern etwas ganz anderes, nämlich eine S t e l l u n g n a h m e z u m S a c h v e r h a l t , womit sich dieses Problem der hier zur Behandlung stehenden Frage einordnet 14 . M L. S. Stebbing, A Modern Introduction to Logic, London 1933, 3. Aufl., p. 33: „anything that is believed, disbelieved, doubted or supposed" (s. u.: Annahme). Und auf die Grammatik angewandt schon K. F. Becker, „Ausf. deutsch. Grammatik" II, S. 16 ff. 14 Deutschbein-Klitscher, Grammatik der englischen Sprache, Heidelberg 1953, S. 120 f., geben eine Fülle ausgezeichneter Beispiele. 1 5 A. Marty, „Psyche und Sprachstruktur", S. 128; — K. Bühler, Abriß der geistigen Entwicklung des Kindes, Leipzig 1919, S. 121 f.; — H. Lipps, Die Verbindlichkeit der Sprache, Frankfurt a. M. 1944; — E. Mally, Erlebnis und Wirklichkeit, 1935, S. 87. w Alfred Kastil, „Franz Brentano", S. 45 ff.; — A. Meinong, Ztsdir. f. Psych, u. Phys. der Sinnesorgane, 1902, II. Ergänzungsband; — A. Marty, „Untersuchungen" I, S. 244 ff. und II, 2, S. 4 ff.

31

Die Stellungnahme ist nur eine der Leistungsmöglichkeiten der Beziehungsmittel; sie darf also nicht zu dem Kriterium des Satzes gemacht werden, welcher Ansicht auch ich früher zuneigte. Anknüpfend an die Satzdefinition W. S t e r n s („Ausdruck für eine Stellungnahme zu einem Bewußtseinsinhalt") erklärte auch E. W i n k l e r : „Das Kennzeichnende des Satzes ist eben das Sich-Vollziehen der Stellungnahme selbst." Ähnlich Fr. Kainz. Auch für Bröcker-Lohmann ist der Akt der Entscheidung (décision) das wesentliche Kennzeichen der Rede (dire)17. Worauf es mir aber besonders ankommt, ist die Forderung, die Stellungnahme als Leistung der Beziehungsmittel im Rahmen der allgemeinen Grammatik in ihrer vollen Tragweite zu sehen. Was nun nicht minder wichtig ist, wäre die Einsicht, daß sich wohl dieses oder jenes B e z i e h u n g s m i t t e l , wegen ihrer sich durchkreuzenden Verwendungsmöglichkeiten, in irgendeinem Idiom nicht entwickelt haben könnte, daß aber ihre aufgewiesenen Leistungen: die beiden syntaktischen Beziehungen, die eigentliche Mitteilung wie auch die Stellungnahme, zum „idealen Gerüst" der allgemeinen Grammatik wesensnotwendig gehören, da sie ganz verschiedene Aufgaben erfüllen, z. B. omnia vincit amor, wo die innensyntaktischen Beziehungen durch Flexion und Wortart (auch wohl durch Wortstellung und Stimmführung), die außensyntaktische Beziehung durch das historische Präsens [vincit), die eigentliche Mitteilung durch Endstellung (vielleicht auch durch Nachdruck) die Stellungnahme zum Sachverhalt durch Bejahung der Aussage gekennzeichnet ist. Es stände nichts im Wege, diese Leistungen durch das sonst so vieldeutige Fremdwort Funktion (function, la fonction) zu benennen im klärenden Gegensatz zu der Bezeichnung „Beziehungsbedeutung". S. o. S. 4 ff. C. Ergänzungen und Berichtigungen zu Zahl und Wesen der Wortart (vgl. „Sprache und Sprachbetrachtung", S. 25 ff.; „Grundlegung", S. 80 ff.)18. I. Die Zahl der Wortklassen richtet sich, geschichtlich gesehen, danach, 1. ob man sich im Anschluß an A r i s t o t e 1 e s (s. o. S. 10) auf onoma und rhema beschränkt, was z. B. über Duns Scotus bis Fr. Müller, A. Meillet und E. Sapir nachwirkt, also auf zwei Wortarten, wobei zwischen Grammatik und Logik nicht klar geschieden ist; 2. oder ob man die syndesmoi (Synkategorematika) einbezieht (H. Delacroix) und dann den partes declinabiles als zwei Gruppen (deklinierbare 17 E. Winkler, Sprachtheoretische Studien, J e n a u. Leipzig 1933, S. 59,- — Fr. Kainz, „Sprache" 1, S. 109 ff.; — Bröcker-Lohmann, Lexis I, S. 35. 1 8 Uber die Einteilung der W o r t a r t e n in der englischen Sprachwissenschaft seit Petrus Ramus (gest. 1572) siehe O. Funke, Die Frühzeit der englischen Grammatik, Bern 1941, S . 7 5 f f .

32

und konjugierbare!), die partes indeclinabiles als dritte Gruppe gegenüberstellt, z. B. Fr. Haase, C. Hermann und J. Wackernagel bis auf den heutigen Tag; 3. oder ob man, wie es bei P r i s c i a n und dann allgemein im Mittelalter geschieht, Substantiv und Adjektiv dazu sondert und mithin vier Gruppen annimmt. 4. Diese Gliederung fügt sich aber nunmehr der älteren ein, die seit D i o n y s i o s T h r a x (um 120 v. Chr.) und A p o l l o n i o s D y s k o l o s (2. Jahrh. n. Chr.) acht Wortarten kennt und von R e m m i u s P a l a e m o n (1. Jahrh. n. Chr.) auf die lateinische Sprache übernommen wird, wo bereits die Interjektion statt des fehlenden Artikels eintritt. Mit D o n a t u s herrscht dann dieses System durch die folgenden Jahrhunderte. 5. Diese Zahl wird von den lateinisch schreibenden Deutschen übernommen (Alb. ö 1 i n g e r , 1573) und bis auf z e h n erweitert, mit Einschluß der Interjektion ( J o h . C h r . A d e l u n g , 1782). 6. Diese allgemeine Linie wird nun immer wieder in besonderer Weise durchkreuzt; so wenn V a r r o (1. Jahrh. v. Chr.) das Partizipium, das als Adjektiv und Verb an beiden Arten der partes declinabiles „partizipiert", zur vierten Wortart erklärt, neben den partes indeclinabiles; wenn W. v. O c c a m drei Wortklassen (Substantiv — Adjektiv — Relation) unter Zustimmung C. Pr a n t i s nennt; wenn neuere Linguisten (W.Porzeziñski, Kurylowicz, O. Naes, B. Sütterlin) auf die Vierzahl, aber in recht verschiedenem Sinne hindrängen; wenn O. J e s p e r s e n und L . H j e l m s l e v f ü n f Wortklassen (Substantiv — Adjektiv — Pronomen — Verbum — Partikeln bzw. Adverb), O . B e h a g h e l deren s i e b e n verzeichnen, E d . H e r m a n n d r e i z e h n und V. B r a n d a l gelegentlich f ü n f z e h n (neben vier: Relator — Relatum, Descriptor — Descriptum). Was Wunder, daß dann H. Paul wie F. de Saussure zu keinem Entschluß kommen können und Ludwig Wyplel und Th. Kalepky, dazu W. Porzig und L. Weisgerber der rein „formalen Grammatik" schlechthin den Rücken kehren 19 ! II. In diesen Nöten hilft nur eine grundsätzliche Besinnung auf das Wesen und die Quelle der Wortart aus der sprachlichen Nachbildung der gegenständlichen Wirklichkeit, wie wir sie in diesem Kapitel dargelegt haben. Geschichtlich ist diese Klärung von zwei Seiten geschehen: 1. von der sprachpsychologischen und 2. von der sprachphilosophischen Seite. " Vgl. meine Akademie-Abhandlung, .Wirklichkeit", S. 5 ff.; — W. Porzig, Das Wunder der Sprache, München 1950; — Leo Weisgerber, Ztsdir. Wirkendes Wort, 1950/51, S. 130: „Grammatik ist ihrem Wesen nach eine Zwischenstufe, wenn man will, ein notwendiges Übel." Demnach seien „gewisse noch unentbehrliche grammatische Denkweisen" vorläufig weiterzuführen. — H. Glinz, „Geschichte und Kritik". — L. J. Piccardo, El Concepto de „Partes de la Oración", Montevideo 1952, p. 12 ff. 3 Otto, Sprachwissenschaft

33

1. Wohl ist gelegentlich die strukturelle Entsprechung zwischen gegenständlicher Wirklichkeit und Satzbau gesehen oder mehr unbewußt gefühlt worden, z.B. von P r i s c i a n u s , in der G r a m m a i r e g é n é r a l e e t r a i s o n n é e (substance — accident), von A. F. B e r n h a r d i (Entstehung der Redeteile durch Anschauung der Wirklichkeit, Imagination und Verstand), sowie besonders von G. v. d. G a b e 1 e n t z , worauf bereits oben hingewiesen ist. Damit schließt sich der Kreis. Diese Zusammenhänge wurden klarer durchschaut und ausgesprochen von Fr. M i s t e 1 i : Substantiva, Adjektiva und Verben entsprechen der Wirklichkeit, d.h. den Gegenständen, Eigenschaften und Tätigkeiten, resp. Zuständen. Diese Wirklichkeit ist uns in räumlicher und zeitlicher Anordnung gegeben. Damit treten die vier Fundamentalkategorien der Wirklichkeit bzw. der Wortarten klar heraus. Es fehlte nur noch, diese Erkenntnisse in das System der Beziehungsmittel und ihrer Leistungen einzuordnen20. Vgl. ob. S. 22. 2. Auf der anderen Seite klärt H. L o t z e, der Logiker, grundsätzlich die Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den „unentbehrlichen", d.h. fundamentalen und den abgeleiteten Wortarten: a) Die Sprache gliedert sich in die „bekannten Redeteile überhaupt", in Substantiva, Adjektiva und Verba. b) Präpositionen und Konjunktionen sind „zu den unentbehrlichen Bestandteilen unserer Vorstellungswelt" zu rechnen. Sind doch, nach den Erkenntnissen der neueren Physik, Raum und Zeit Relationsformen des Gegebenen. c) Die Pronomina werden auf Substantiva und Adjektiva zurückgeführt. d) Die Adverbia „treten zu dem verbalen Inhalt völlig in dieselbe Beziehung, wie die Adjektiva zu den substantivischen". Er sieht also mit Recht keinen kategorialen Unterschied zwischen Adjektiv und Adverb. Ebenso A. F. B e r n h a r d i. Das hatte ich in meiner „Grundlegung" noch nicht klar herausgearbeitet. Schon vorher hatte J . S . V a t e r bemerkt: „Interjektionen sind also eigentlich keine Wörter" 81 . Es bleiben also mithin vier f u n d a m e n t a l e Wortarten, die sich sprachlich indes noch weiter verzweigen können. Ich möchte nunmehr sagen: Weil es nur vier Kategorien der gegenständlichen Wirklichkeit gibt, kann es auch nur vier fundamentale Wortarten als „ideales Gerüst" der allgemeinen Grammatik geben. S. o. S. 4 f. 10

Priscianus, Institutionum grammaticarum libri XVIII, rec. M. Hertz, in Keil, Grammatici latini II, Leipzig 1855, p. 54 ff.j — „Grammaire générale et raisonnée", p. 68 f.; — A. F. Bernhardi, „Sprachlehre" I, S. 131 (296); — H. Steinthal/Fr. Misteli, „Charakteristik", S. 35 f. " H. Lotze, Logik, Leipzig 1912, S. 17 ff. und Mikrokosmos II, Leipzig 1905, S. 243 ff. ; — A. F. Bernhardi, „Sprachlehre" I, S. 283, 297, 301; — J. S. Vater, .Ubersicht", S. 130, 278.

34

Logische bzw. psychologische Überlegungen haben immer wieder auf ähnliche Gedankengänge hingeleitet Wenn der Neuplatoniker S i m p 1 i k i o s vier Grundkategorien unterscheidet, nämlich Substrat — Qualität — wie sich verhaltend — wie sich gegen irgend etwas verhaltend (vgl.Relation), so führen auch die Kategorien des A r i s t o t e l e s , der weniger Gewicht der Anzahl der Kategorien beimißt, auf die vier Grundklassen zurück: Substanz — Quantität und Qualität als Akzidenzien (Eigenschaften) — Relation (Ort und Zeit einschließend) — Tätigkeit und Leiden des Verbs 22 . Nach Hans Leisegangs Deutung fragt die transzendentale Logik K a n t s nach den apriorischen, auf die Erfahrung anwendbaren Kategorien der Gegenstände, die nicht anders gedacht werden können als ausgedehnt (der Größe nach), mit bestimmten Eigenschaften (Qualitäten), in Beziehung zu anderen Gegenständen (Relationen). Soweit entsprächen diese Angaben unseren Wortarten. Als vierte Kategorie fügt Kant die Modalität hinzu (Wirklichkeit, Möglichkeit, Notwendigkeit), die immerhin in gewisser Hinsicht den durch das Verb gekennzeichneten Verlaufsarten entspricht. Auch W. W u n d t und C h r . S i g w a r t sind aus logischen Überlegungen zu den erwähnten Fundamentalkategorien der Worte gekommen. Aus ontologischen Feststellungen haben C1. u n d W . S t e r n sowie E. M e u m a n n ähnliche Schlußfolgerungen gezogen (Substanz-, Aktions-, Relations- und Qualitätsstadium) sowie B. M a 1 i n o w s k i aus phylogenetischen Beobachtungen: "We can say that the fundamental grammatical categories, universal to all human languages, can be understood only with reference to the pragmatic Weltanschauung of primitive man, and that, through the use of Language, the barbarous primitive categories must have deeply influenced the later philosophies of mankind." Es ist wohl von einigem Gewicht, wenn H . P e s t a l o z z i aus eigensten Erwägungen als „unveränderliches Fundament der Redekraft*, d. h. als die vier Wortarten, erkannt hat: Gegenstands-, Beschaffenheits-, Zeit- und Verbindungswörter2®. über die Auffassung der Relation als Kategorie s. H. Heimsoeth: N. Hartmann, Der Denker und sein Werk, Göttingen 1952, S. 169 ff. , s Simplikios, In Aristot. categorías commentarium, Akad.-Ausgabe (Berlin): Commentaria in Arist. Graeca, Bd. VIII, ed. C. Kalbfleisch 1907, p. 66 f. ¡ — Aristoteles, Organon I, Leipzig (Meiner), S. 37 f.¡ — H. Leisegáng, Einführung in die Philosophie, Göschen Bd. 281, S. 63; — W . Wundt, „Die Sprache" II, S. 6 f.¡ — vgl. auch A. H. Gardiner, „Theory", p. 130¡ — Chr. Sigwart, Logik I, Tübingen 1911, S. 34 ff. j — W . Stern, Die Aussage als geistige Leistung und als Verhörsprodukt, Beitr. z. Psych, d. Aussage, 3. Heft (1904); — Clara und W . Stern, Die Kindersprache, Leipzig 1907, S. 216; — E. Meumann, „Vorlesungen" I, Leipzig 1911, S. 306 ff.¡ — B. Malinowski, „Meaning", p. 328; — H. Pestalozzi, Epochen, Kritische Ausgabe XIV, S.131 und W i e Gertrud ihre Kinder lehrt, ebd. XIII, S. 295; vgl. die Skizze zur Langenthaler Rede,' Liegnitzer Ausgabe von L. W . Seyffarth, XII. Band, S. 522 ff. — Zu H. W . de Groots Darstellung meiner Theorie in Structural Linguistics and Word-classes, Lingua I (1948), p. 429 f., darf idi bemerken, daß ich schon in meiner „Grundlegung", S. 90, gesagt habe, daß die

35

Entsprechend kann man auf den Gebieten der anderen Beziehungsmittel „fundamentale" Kategorien herausstellen. Im Rahmen der F l e x i o n : vier (innensyntaktische) Kasus, zwei Numeri (Ein- und Mehrzahl), drei Tempora (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) usw.; im Rahmen der W o r t s t e l l u n g : Vor-, Zwischen- und Nachstellung; im R a h m e n des A k z e n t s : Haupt- und Nebenton usw. Ich verweise auf die diesbezüglichen Stellen meiner „Grundlegung", §§ 4—6. III. Das Problem der Wortart zeigt auch einige p r a k t i s c h e Auswirkungen. Man schreibt im Deutschen die Hauptwörter mit großem Anfangsbuchstaben, worauf im vorhergehenden Kapitel bereits Bezug genommen ist. Man kommt aber immer wieder in Verlegenheit, wie man schreiben soll, und greift mechanisch zum „Duden", z. B. in Fällen wie im großen (und) ganzen. Dazu bemerkt der Duden (13. Aufl., S. 19): „Trotz der Ausführlichkeit der Behandlung werden in der schwierigen Frage der Groß- und Kleinschreibung oft Fälle vorkommen, die die folgenden Regeln nicht bestimmt entscheiden" (I). Das amtliche Regelbuch rät, in solchen Zweifelsfällen mit k l e i n e m Anfangsbuchstaben zu schreiben. Dann folgt die Regel: „Alle w i r k l i c h e n Hauptwörter werden mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben." Ja, das ist aber gerade die Frage: Woran erkennt man die Hauptwörter? Und was heißt „wirklich"? Der Rat müßte vielmehr lauten: Man prüfe selbst, inwiefern das fragliche Wort im vorliegenden s t r u k t u r e l l e n Zusammenhang und je nach der S i t u a t i o n einen Gegenstand meint, dem ein Hauptwort (Gegenstandswort) entspräche. Im vorliegenden Falle ist die Wortgruppe im großen und ganzen nur noch ein erstarrter Ausdruck. Es wird auch nicht mit dem Artikel (Gliedwort) auf einen Gegenstand hingedeutet wie z. B. das Ganze. Also Kleinschreibung! Auf die Abstrakta ist in der Wortlehre zurückzukommen. Demnach wäre der autoritäre Drill in der Schule durch Erziehung zum Sprachverständnis zu ersetzen, auch zur Einsicht, daß sich die Sprache in dauerndem Wandel befindet. Und die Entscheidung würde je nach Ort und Zeit, Beruf und Alter recht verschieden ausfallen! — Schließlich noch ein kurzer p r a k t i s c h e r Hinweis24! Auf deutschen Schulen — auch auf Hochschulen? — ist es Brauch, den Sinn eines Satzgefüges zu erschließen, indem man entweder fragt: Von wem wird etwas ausgesagt? — Was wird ausgesagt? Oder man fragt nach dem Subjekt mit Wer oder Was? Nach dem Objekt mit Wen oder Was? Im ersteren Falle wird vorausgesetzt, daß der Sinn des Satzgefüges bereits b e k a n n t ist; aber der soll doch gerade erst erschlossen werden! Im zweiten Falle wird vorausgesetzt, daß es nur ein Beziehungsmittel Beziehungsbedeutung der Wortart „aus den Kategorien unserer Umwelt entstanden" ist und „daß das Wesen der Wortart gerade durch ihre eigenartige Beziehungsbedeutung bestimmt wird". 14 Vgl. meine „Grundlinien*, S. 9 ff.

36

gibt, nämlich die Flexion, durch die das Subjekt bzw. Objekt lautlich gekennzeichnet ist. Wie aber nun, wenn — wie auch im verkürzten indogermanischen Satz — die Gliederung: Subjekt — Prädikat — Objekt nicht durchgeführt ist oder, wie im Englischen, substantivisches Subjekt und Objekt lautlich nicht durch Flexion geschieden sind, was ja auch im Deutschen vorkommt? Z. B. Gebranntes Kind scheut das Feuer oder Die Ideen erzeugen die Dinge. Man wird dann lebhaft an J e r e m i a s G o 11 h e 1 f erinnert, der in seinem Rückblick, „Leiden und Freuden eines Schulmeisters", 1. Band, an die damaligen Vorschriften zurückdenkt: Beim Konstruieren mußte nämlich vor allem das Hauptzeitwort gesucht werden. Hatte man dies, so wurde weiter gefragt: „Wer? Wessen? Wem? Wen? Was? Von Wem? Wann? Wie? Wo?, und wie die W alle heißen. Wenn man alle Wörter abgefragt hatte, so war man mit dem Satz fertig." Dazu gibt Jeremias Gotthelf das folgende Beispiel aus der „Kinderbibel": „Um jene Zeit befahl der Kaiser Augustus, daß alle Einwohner Palästinas aufgeschrieben würden." Das Konstruieren ging dann folgendermaßen vor sich: „Wer befahl? Der befahl! Wer der befahl? Der Kaiser Augustus befahl. Was befahl er? Um jene Zeit; ja, das war nicht recht; ich sann lange und fand endlich, daß ich fragen müsse, um alle Worte ordentlich zu bekommen: Wann befahl der Kaiser Augustus? Um jene Zeit befahl der Kaiser Augustus. Und was befahl der Kaiser Augustus um jene Zeit?" usw. usw. Ahnlich noch heute. Lassen wir also dieses Gefrage und wenden wir uns ernsthafteren Dingen zu: den möglichen Arten syntaktischer Kennzeichnungen. Wie eingewurzelt der Glaube an die Kasus als die Beziehungsmittel ist, erhellt aus den folgenden Beispielen sehr ernster Gelehrter. J o h a n n W. M e i n e r erklärt, daß der Akkusativ im Französischen aus der Stellung im Satze zu erschließen sei. Nach W i l h e l m W u n d t könne „die Sprache gewisse Kasus bloß durch die Wortstellung ausdrücken". W. v. W a r t b u r g behauptet: „In dem Satze ne porrez men ( = mon) pere faire honte (Aucassin et Nicolete) hat men pere den Wert und die Funktion eines Dativs, trotzdem es lautlich dem Akkusativ gleich ist." Und Aug. Schleicher meint ganz allgemein: „Wir haben kein Recht, Funktionen da vorauszusetzen, wo keine Lautform (!) ihr Vorhandensein anzeigt." Also wieder der Gedanke an Flexion, an Kasus, Tempora usw.25! Demgemäß kann man in Lehrbüdiern und Aufsätzen über die englische Sprache immer wieder von einem „unbezeichneten Dativ" oder einem „Stellungsdativ" oder von „invisible cases" lesen, z. B. I gave the boy the book. Dann braucht man nicht überrascht zu sein, wenn an der passiven Konstruktion The boy was given a book Anstoß genommen wird. " Joh. W . Meiner, „Versuch", Vorwort S. XLVIII; — W. Wundt, „Die Sprache" II, S. 69; — W. v. Wartburg, „Einführung", S. 84; — Aug. Schleicher, Die Unterscheidung von Nomen und Verbum, S. 501 ff. 37

IV G l i e d e r u n g der

Sprachwissenschaft

Nachdem die systematische Unterscheidung von Vollwörtern und Beziehungsmitteln, von (lexikalischer) Begriffsbedeutung und (syntaktischer) Beziehungsbedeutung geklärt ist, können wir der Frage nach der Gliederung der Sprachwissenschaft nähertreten. Das bisher ungelöste Problem der Anlage und Einteilung der Grammatik ist nicht nur ein Anliegen wissenschaftlicher Forschung, sondern verlangt auch nach einer Neuorientierung des sprachwissenschaftlichen Unterrichts in der Schule, insofern der Aufbau der Schulgrammatiken von der größten Bedeutung für die ersten grammatischen Grundbegriffe und den ganzen Bildungsprozeß unserer Jugend ist. Werden diese Grundeinsichten gefälscht, so ist Bildung durch grammatischen Unterricht unverständlich. A. Wir sehen uns gezwungen, einen gedrängten historischen Rückblick über die Entwicklung dieser Frage zu geben: 1. Die ars grammatica der R ö m e r unterschied nach den ersten Versuchen des Apollonios Dyskolos folgende Teile: a) Die vox (littera), Definitionen und lautliche Bestimmungen; b) die partes orationis umfaßten die Formenlehre derRedeteile; c) schließlich statt einer Syntax: vitia et virtutes orationis. Gewisse Anregungen gaben überdies Varro (im 1. Jahrh. v. Chr.): die Formenlehre; dann Remmius Palaemon (1. Jahrh. n. Chr.), vom Griechischen her kommend, und Martianus Capella (etwa 425). 2. Ende des 4. J a h r h u n d e r t s wurde die lateinische Orthoepie und Metrik betont. 3. Anfang des 6. J a h r h u n d e r t s bildete sich unter besonderem Einfluß des bereits erwähnten Apollonios Dyskolos eine Gliederung der Grammatik heraus, die von Priscianus (Institutiones grammaticae) bis Ende des 18. Jahrhunderts eine herrschende Rolle spielte: a) De voce (auch orthographia oder de litteris genannt), im wesentlichen eine Lautlehre. b) De syllaba (auch prosodia), die Lehre von den Silben. c) Dictio (etymologia oder de partibus orationis, auch analogia): Das Wort als Bedeutungsträger, wesentlich die Formenlehre der Wortarten. d) Oratio (syntaxis, auch constructio) als Versuch einer Syntax. 4. Daneben laufen die Bemühungen deutscher Grammatiker, die zunächst lateinisch schreiben, auch die Vierteilung beibehalten und die Prosodie 38

gewöhnlich an das Ende setzen. So im allgemeinen vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. Sie gliedern demgemäß: a) Orthographia: die Lautlehre, Rechtschreibung, auch Figuren und Prosodie umfassend. b) Wortarten (Formenlehre), auch Wortbildung. Diese Zusammenstellung wirkt bis auf die neueste Zeit nach. c) Satzlehre, d. h. Kasuslehre (rectio) und Kongruenz (convenientia): die Gliederung folgt den Wortarten. d) Die eigentliche Verslehre, häufig mit angefügten Proben 1 . Als einflußreiche Grammatiker nenne ich L. Albert, A. ölinger (beide um 1573), Joh. Clay (nach dem Vorbild Melanchthons); seine Schriften werden von 1578 bis 1720 aufgelegt. Noch im 17. Jahrhundert umfaßt die „Ausführliche Arbeit an der Teutschen Haubtsprache" J. G. Schottels, Braunschweig 1663, folgende Teile: Nachdem im ersten Buch (4. Rede) de literis (radicibus seu vocibus) gesprochen ist, folgt im zweiten Buch die Wortforschung (orthographia, etymologia und auch orationis partes); als drittes Buch die Wortfügung (constructio syntactica), wozu auch — mit Recht — die Zeichensetzung gehört; als viertes Buch die Verskunst; dazu als fünftes Buch die Namenerklärungen, Sprichwörter und Stammwörter. Ähnlich noch Adelung (1781), der aber die Orthographia an den Schluß setzt. Gottfried Hermann läßt das Kapitel de syllaba aus (1801). Die vorstehende Gliederung enthält bereits alle Irrtümer, welche die Grammatik (Syntax) bis auf den heutigen Tag belastet haben: 1. S y n t h e t i s c h e Gliederung, d.h. mit den Elementen (der Lautlehre) beginnend, nach der alten Auffassung des Satzes als „Verbindung" von Worten, statt der analysierenden Auffassung des Satzes als Ausgliederung. 2. M o r p h o l o g i s c h e Betrachtungs- und Darstellungsweise der Syntax nur von den Lautformen, nicht von den Beziehungen her, weil es eben noch an einer Beziehungslehre, d. h. an einer Theorie der syntaktischen Beziehungen fehlte. So konnte denn K. F. B e c k e r in der Vorrede zur ersten Auflage seiner „Ausführlichen deutschen Grammatik" (1842!),- S. V, erklären: „Der Unterschied zwischen Nomen, Verb und Partikel ist überall nach der äußeren Form und nicht nach der Bedeutung aufgefaßt; Nomen ist, was dekliniert, Verb, was konjugiert, und Partikel, was nicht flektiert wird". Ebenso beim Verb im einzelnen, usw. 3. In der als Wortlehre verstandenen F o r m e n l e h r e werden sowohl s y n t a k t i s c h e Formen wie b e g r i f f l i c h -lexikalische Wortbildungen abgehandelt. 1

Vgl. dazu O. Funkes Darstellung der mit den englischen Humanisten einsetzenden Entwicklung, Die Frühzeit der englischen Grammatik, Bern 1941, S. 45 ff.

39

4. Die ausgeplünderte Satzlehre enthält dann nur noch die alte rectio und congruentia, d. h. im Grunde: Der Gegensatz von Syntax ist Morphologie (Formenlehre). Von dieser Gegenüberstellung ging noch der Internationale Linguistenkongreß in Paris (1948) aus (s. u.). 5. Mit K . R e i s i g (1839) und seinem Schüler Fr. H a a s e tritt die Bedeutungslehre in ihre Rechte. Damit gliedert sich die Sprachlehre in a) Buchstaben, Silben, Wortbildung und Flexion (Etymologie); b) die neue Bedeutungslehre; c) die Satzlehre (dyasintastica): concordantia (convenientia) und rectio, auch die Wortstellung (ordo naturalis) umfassend. Der erste Teil (a) umschließt also die beiden ersten Teile der älteren Grammatiken. Der zweite Teil (b) ist die neue Bedeutungslehre, der dritte Teil (c) übernimmt mithin den dritten Teil der früheren Einteilung. Die Verslehre fällt fort. 6. Die neuere Sprachvergleichung, hervorgegangen aus den Anregungen der Heidelberger Romantik (Gebr. Schlegel), führt zu den grundlegenden Werken der neuen Richtung: der Däne R. K. Rask, Franz Bopp, Jacob Grimm, Aug. Fr. Pott, dazu Karl Lachmann, W. Scherer und dann weiterhin die Junggrammatiker (Schleicher, Brugmann, Delbrück, Leskien, Osthoff, auch Paul usw.), woran sich dann die Einzelforschung reiht. Diese Gelehrten suchen weniger ein „System", sondern behandeln in umfassenden Vergleichen wesentlich morphologisch-genetische Probleme des Ursprungs und der Klassifikation der (indogermanisdien) Sprachen sowie die Lexikographie 8 . 7. Die sinngerichtete Forschung ist philosophisch begründet und geht von W11 h. v. H u m b o l d t und seinem Gegenspieler K . F . B e c k e r weiter zu Th. V e r n a l e k e n , zu H. W u n d e r l i c h , R a o u l d e l a G r a s s e r i e und O. J e s p e r s e n , um Vertreter bestimmter Richtungen zu nennen. Nach Humboldt ist es das Ziel des Vergleichenden Sprachstudiums, uns nicht nur in der Sprachwissenschaft zu sicheren und bedeutenden Aufschlüssen zu führen, sondern auch in Fragen der Völkerentwicklung und der Menschenbildung! Jespersen stellt schon die große Frage, auf die wiederholt zurückzukommen ist, ob man in der Darstellung der Syntax methodisch ausgehen solle „from the outward form" oder * Th. Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft, 1869; — Max Hermann Jellinek, Geschichte der nhd. Grammatik von den Anfängen bis auf Adelung I und II, Heidelberg 1913—1914; — August Engelien, Geschichte der nhd. Grammatik, in: Karl Kehr, Geschichte der Methodik des Volksschulunterrichts I, Gotha 1889; — Richard Newald, Einführung in die Wissenschaft der deutschen Sprache und Literaturwissenschaft, Lahr i. Baden 1947, S. 58; — Fr. Stroh, Handbuch der germanischen Philologie, Berlin 1952, S. 58 ff., 82 ff., 88 ff.; — .Sprache und Sprachbetrachtung*, S. 35 ff.; — siehe auch F. Spechts Rückblidc, Lexis I, S. 229 ff.

40

«from the inner meaning" 3 . Das Problem wird von J. Trier und L. Weisgerber aufgenommen (s. u. „Wortlehre"). 8. Und nun folgen die Erörterungen über die Systematik von Satz und Syntax, die größtenteils an der Verkennung der Wortart als Beziehungsmittel und damit an der angemessenen Sonderung von (lexikalischer) Begriffsbedeutung und (syntaktischer) Beziehungsbedeutung scheitern. Hier wäre vor allen Dingen zu nennen J. R i e s (Was ist Syntax? Marburg 1894, Prag 1927) und sein Gegner R. M. M e y e r. Der erstere sieht sehr richtig (S. 142 ff.), daß die Syntax der Ausgangspunkt der Forschung ist; es müsse zudem .das, was den Einzellaut allein angeht, getrennt werden von dem, was die Worte und die Wortgefüge betrifft". Er erklärt mit vollem Recht: „Der Gegensatz von Syntax ist nicht Formenlehre, sondern Wortlehre", und .in Formenlehre und Bedeutungslehre (bzw. BeziehungslehreI) zerfällt sowohl die Wortlehre als die Syntax*. Da aber nicht klar zwischen Begriffs- und Beziehungsbedeutung unterschieden wird, kommt J. Ries zu dem irrigen Schluß: .Die Bedeutungslehre der Wortarten und Flexionen (1) gehört prinzipiell ebensogut wie ihre Formenlehre zur Wortlehre." Vgl. S. 83 f., 87, 168, 176 und Idg. Forschungen (Anzeiger) 34 (1915), S. 11 ff. Auch O. J e s p e r s e n (a.a.O.) macht einen guten Ansatz, insofern er sound und sense, Morphologie und .Funktion" in der Syntax gegenüberstellt4. John Ries' Kritiker R. M. Me y e r befürwortet folgende Einteilung: Lautlehre — Formenlehre — Syntax — Bedeutungslehre. Er trennt also Formenlehre und Syntax. Was ist dann Syntax? Und was heißt Bedeutungslehre? Vgl. G. R. M. V (1913), S. 640 ff. B. Das System der Grammatik Ich möchte an meine obige Sonderung von Begriffswörtern und Beziehungsmitteln anknüpfen (S. 22), womit die Unterscheidung von Syntax und Lexikon, d. h. von Satzlehre und Wortlehre, begründet ist. Entsprechend war schon in der berühmten G r a m m a i r e g é n é r a l e e t * W. v. Humboldt, Ober die Verschiedenheit Ges. Sdmften" VII, S. 1 ff.; — K. F. Beckers organische .Deutsche Sprachlehre' will die Grammatik im Sinne Humboldts .von innen" her begründen und geht demgemäß — in der Theorie! — vom Satze aus und sollte demgemäß auch mit der Syntax einsetzen (I 1827, S. 124 f., 159 ff. ; II, 1829, Vorwort u. S. 41); auch die .Ausführliche deutsche Grammatik" (Erste Abteiig. 1836, Vorrede d. 1. Aufl.). In der Praxis beginnt die Erste Abteilung mit der .Etymologie" (Laut- und Formenlehrel); die Zweite Abteilung des 2. Bandes (1837) bringt erst die Syntax; — Th. Vernaleken, Deutsche Syntax I (Wien 1861), II (1863); — H. Wunderlich, Der deutsche Satzbau I, II (1901); — Raoul de la Grasserie, De la psychologie du langage, Paris 1889; — O. Jespersen, .Philosophy", p. 33. — Jos. Weisweiler, Die indogermanische Sprachwissenschaft, Hist. Jahrbuch 1949, S. 464 ff.; — sowie .Sprache und Sprachbetrachtung", S. 35 ff. 4 Aber er versteht unter .Form" sowohl Wortbildung (i. a. S.) wie Wortstellungl The System of Grammar, London-Copenhagen 1933, p. 8. 41

r a i s o n n é e (1660—1756) behauptet worden, daß jegliche Sprache umfasse: 1. Le vocabulaire (le dictionnaire) und 2. La sintaxe (les rapports des mots). Der erste Teil wäre also eine Wortlehre, der zweite eine Beziehungslehre. Es ist nur die Frage, wie die Wortlehre anzulegen und was unter der .Beziehungslehre" zu verstehen ist. Das kommt in der Grammaire générale nicht heraus. Klar unterscheiden zwischen Wortlehre und Satzlehre A. S e c h e h a y e (Bedeutungslehre — Beziehungslehre), J. V e n d r y e s (les idées des représentations — les rapports entre les idées), T. K a m e l (semanteme-words — morpheme-words) und besonders St. U11 m a n n (phonology, i. e. physical analysis — lexicology — syntax). „Lexicology and syntax fall each into two halves, one morphological, the other semantic"!)5. H. D e l a c r o i x , der wohl das Richtige sieht, d. h. die angemessene Abgrenzung der Bedeutungsträger von den Beziehungsträgern, kann sich jedoch von alten Uberlieferungen nicht frei machen. Im Gegensatz zu John Ries stößt F. H e e r d e g e n zu der umfassenden Gliederung durch: 1. Wortlehre und 2. Satzlehre. Die erstere enthält die Etymologie (Wortbildungslehre) und die Funktionslehre des Wortes für sich (Semasiologie), die letztere die Formenlehre (Flexionslehre) und die „Funktionslehre" des Wortes im Satz (Syntax). Allerdings behandelt seine Formenlehre der Syntax wesentlich nur die Flexion, nicht die gesamten Beziehungsmittel, und die Lautlehre ist zur Wortbildungslehre gezogen. Aber er weiß: Die Syntax umfaßt die Formenlehre und die Bedeutung (I) der Flexion. Ebenso O. B e h a g h e l : »Auch die Flexionslehre ist Syntax6." Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei hier ausdrücklich gesagt, daß ich den Terminus „ S a t z " (Satzlehre usw.) nicht im Sinne der formalen Grammatik gebrauche. Vielmehr verstehe ich unter „Satz" die wesentlich a b g e s c h l o s s e n e u n d g e g l i e d e r t e R e d e im einzelnen oder im ganzen; also nicht nur die im Indogermanischen geläufigen Satztypen. Sondern der Akzent liegt grundsätzlich auf dem Z u s a m m e n h a n g der Rede in Abhebung von dem vereinzelten Wort, 6

Audi H. Glinz, Die innere Form des Deutschen, Bern 1952, S. 461; vgl. S. 39 f. „Grammaire générale et raisonnée* (1769), p. 237; — A. Sechehaye, Essai sur la structure logique de la phrase, Paris 1926, p. 4; — J. Vendryes, „Langage", p. 86; — L. Bloomfield, „Language", p. 162 f.; — T. Kamel, „Preliminary Reports", p. 59; — S. Ulimann, „Principles", p. 30 f., 33 ff. und 39; ders., Précis de sémantique française, Bern 1952, p. 30 ff.; — H. Delacroix, „Le langage", p. 200, 207 f., 220 f.; — J. Ries, „Was ist Syntax?", S. 158; — Ferd. Heerdegen, Untersuchungen zur lateinischen Semasiologie I, Erlangen 1875, S. 47 ff.; — O. Behaghel, Literaturblatt f. germ. und roman. Philologie (VIII) 1887, S.201; — F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache HI, Leipzig 1923, S.201, bezeichnet als das eigentliche Feld der (landläufigen) Syntax: „die völlig tote, nur für die Augen vorhandene, unwirkliche Schriftsprache (in beschränktem Sinne)'. 4

42

das eigentlich nur eine Fiktion ist. In diesem Sinne ist Satzlehre (besser: Syntax) von Wortlehre zu scheiden. Mithin sind Gebilde wie Ausrufe (Feuert), Aussagen (Ja) und Fragen (So?) affektivisdie bzw. sachliche Einwort-,Sätze", genauer: Satzäquivalente. Auch Befehle (Marsch!) gehören hierher. Sind doch musikalischer und dynamischer Akzent bzw. ihr visueller Ersatz (.! ?) auch Mittel (Beziehungsmittel) syntaktischer Gliederung. Es fragt sich dann, ob man wie bisher, auch in der Linguistik, einer Geisteswissenschaft (I), more geometrico, d.h. von den Elementen ausgehen soll, oder analytisch vom Ganzen aus, sintemal wir die sprachlichen Gebilde, den gesprochenen Satz nicht mehr als eine Verbindung, sondern als Ausgliederung einer „Gesamtvorstellung" (W. Wundt) betrachten. Also wird auch die Darstellung der Sprache erst die Satzlehre, dann die Wort- und schließlich die Lautlehre behandeln, was im folgenden Schema durch die Klammern angedeutet werden soll. Nach den vorstehenden Ausführungen kann man dem synthetischen Weg unserer wissenschaftlichen und Schulgrammatiken, die grundsätzlich mit der Lautlehre beginnen, schwerlich beipflichten. überdies ist nicht zu übersehen, daß wohl zu unterscheiden ist zwischen der historisch gewordenen Sprache als einem Kulturprodukt (auf biologischer Grundlage) und dem Sprechakt der artikulierten Rede in einer gegebenen Gesprächssituation. Diese Unterscheidung habe ich bereits (1918—19) streng durchgeführt in einer Schrift: Die wissenschaftliche Forschung und der gelehrte Unterricht; sodann in meiner „Grundlegung" (1919). Ich möchte hoffen, daß die gegen F. de Saussure (Sonderung von langüe — parole; „Cours", p. 30 ff., 112 f.) erhobenen Einwände midi nicht treffen. Demnach wäre zu unterscheiden zwischen Sprachwissenschaft und Sprechwissenschaft. Natürlich greifen beide Seiten unlöslich ineinander: Sprachwissenschaft Sprechwissenschaft 1.

Satzlehre: 1. S a t z g l i e d e r u n g s l e h r e : a) Morphologie der Beziehungsa) Die Erlebnisse bei der Bilmittel dung der Beziehungsmittel b) Leistungen der Beziehungsmit b) Die Erlebnisse des Betel (Beziehungsbedeutungen) ziehungsbedeutens

2. W o r t l e h r e : a) Morphologie der Wortbildung b) Begriffsbedeutung und Stimmungsgehalt

2. W o r t s p r e c h l e h r e : a) Die Erlebnisse bei der Bildung der Begriffswörter b) Die Erlebnisse des Begriffsbedeutens (und der Stimmungen)

3. K l a n g l e h r e (Phonologie)

3. L a u t b i l d u n g s l e h r e (Phonetik) 43

Der Sprechakt in einer mehr oder weniger gegliederten Sprache setzt eben einen gewissen Umfang von Sprachmitteln voraus und, auf der anderen Seite, wird jede Sprache im Akt des Sprechens weiter ausgebildet. Es ergibt sich so die vorstehende Gliederung, die ich erst einmal vorausschicke, um daran einige wichtige Erläuterungen zu knüpfen. Sie kann als zweckmäßige Anweisung wohl den Anspruch erheben, alle Gesichtspunkte der Sprachwissenschaft zu berücksichtigen, und zwar in möglichst übersichtlicher Weise, auch für die praktische Behandlung der Einzelsprachen. C. Erläuterungen. I. zur Sonderung von Sprachwissenschaft und Sprachwissenschaft (vgl. meine Allgemeine Unterrichtslehre, S. 170 ff.). W. W u n d t s umfassendes Werk über die .Sprache" behandelt vornehmlich die Psychologie des Sprechaktes. Auf s y s t e m a t i s c h e Anordnung des gewaltigen Stoffes legt der Verfasser weniger Gewicht. Die Linguistik hat wesentlich das Studium der Sprachwissenschaft betrieben, deskriptiv und genetisch. Das volle Verständnis für Werke wie beispielsweise I a c . v a n G i n n e k e n , .Principes", eröffnet sich jedoch erst dann, sobald es vom Standpunkt der S p r e c h w i s s e n s c h a f t aus betrachtet wird. Das leuchtet ein, wenn man die folgende Einteilung des Werkes überschaut: I. Buch: Les représentations des mots et des choses. 2. Buch: L'intelligence et son adhésion. 3. Buch: Sentiment et appréciation. 4. Buch: Volonté et automatisme. Demgemäß lautet auch der Titel des Buches: Principes de linguistique psychologique 1 Die Eigenart des Aufsatzes von W. A z z a l i n o , Subjektive und objektive Beziehung in der Sprache, Neuphil. Ztsdir. IV (1952), Heft 2, S. 83 ff., besteht darin, daß hier die subjektiven Erlebnisse im Sprechakt analysiert werden. Der Schrift H. H o m e y e r s , Von der Sprache zu den Sprachen, Ölten (Schweiz) 1947, liegt wesentlich der Akt des Sprechens zugrunde (vgl. S. 89). Es darf wohl darauf hingewiesen werden, daß Grammatik und Syntax nicht dasselbe ist; daß die Phonetik auch zur Grammatik gehört (vgl. S. 56). II. zur Einteilung der Grammatik, Satz- und Wortlehre. a) Das Durcheinander der Gliederungen ist nur zu verstehen, wenn man auf ihren Ausgangspunkt zurückgreift. Ferdinand de Saussure gibt in seinen „Cours" zwei wesentlich verschiedene Betrachtungsweisen: Vom Standpunkt des Wertes (valeur), d. h. von der eigenartigen .Farbe" 7 eines Idioms, unterscheidet er signifiant und signifié, d.h. den 7 Vgl. W. Dilthey, .Der Aufbau" (VII, S. 239); — unter .valeur" versteht H. Lommel, der Ubersetzer des Saussureschen Werkes, .die Beziehung des Zei-

44

artikulierten Lautkörper und die Vorstellung bzw. die Bedeutung (als Oppositionen). Ich erläutere das von ihm Gemeinte in folgenden Aussprüchen: Le signe linguistique unit non une chose et un nom, mais un concept et une image acoustique (p. 98, 28). L'entité linguistique n'existe que par l'association du signifiant et du signifié (p. 144). Die linguistische Tatsache „Sprache" als Ganzes wird in einer Skizze anschaulich dargestellt (p. 156). Tout se passe entre l'image auditive et le concept, dans les limites du mot considéré comme un domaine fermé, existant pour lui-même (p. 158 f.). Und schließlich verallgemeinernd (p. 167): Tout le mécanisme (!) du langage . . . repose sur des oppositions de ce genre et sur les différences phoniques et conceptuelles qu'elles impliquent. Niemand wird bestreiten, daß dieses Schema außerordentlich vereinfachend, ja einseitig ist (vgl. o. S. 9). Vielleicht beruht darauf der Reiz, den es als Gliederungsprinzip in der Folge ausgeübt hat! Im nächsten Kapitel (V) dieses Teiles, der die synchronische Linguistik umreißt, begründet F. de Saussure ein wesentlich anderes Einteilungsprinzip, das zur Gegenüberstellung von „Struktur" („Text") und „System" geführt hat. Ferd. de Saussure stellt im Hinblick auf die Beziehungen im Satze die Frage (p. 170 f.): „Comment fonctionnent-ils?" Er antwortet: Les rapports et les différences entre termes linguistiques se déroulent dans deux sphères distinctes dont chacune est génératrice d'un certain ordre de valeurs: a) Einerseits beruht die Anreihung der Worte auf dem linearen Charakter der Sprache. Ceux-ci (d. h. die Worte) se rangent les uns à la suite des autres sur la chaîne de la parole. Ces combinaisons qui ont pour support l'étendue peuvent être appelées s y n t a g m e s 8 . Le syntagme se compose donc toujours de deux ou plusieurs unités consécutives (par exemple: re-lire; contre tous; la vie humaine; Dieu est bon; s'il fait beau temps, nous sortirons, etc.) . . . b) D'autre part, en dehors du discours, les mots offrant quelque chose de commun s'associent dans la mémoire, et il se forme ainsi des groupes au sein desquels régnent des rapports très divers. Ainsi le mot enseignement fera surgir inconsciemment devant l'esprit une foule d'autres mots (enseigner, renseigner, etc., ou bien armement, changement, etc., ou bien éducation, apprentissage); par un côté ou un autre, diens zu allen anderen Zeichen des Systems", Gött. Gel. Anzeiger 1921, No. 10 bis 12, S. 236. — F. de Saussure selbst sagt (p. 159 f.), daß der „Wert* durch die Umgebung (I) bestimmt sei; ähnlich S. Ulimann, Précis de sémantique française, Bern 1952, p. 26. — Anders W. Porzig, Idg. Forsch. 41, S. 159, Anm.: „Bedeutungsobertöne". 8 La s y n t a x e . . . n'est qu'une partie de l'étude des syntagmes (Bemerkung der Herausgeber); vgl. „Cours", p. 188.

45

tous ont quelque chose de commun entre e u x . . . Nous les appellerons rapports associatifs. Le rapport syntagmatique est i n p r a e s e n t i a . . . Au contraire le rapport associatif unit des termes i n a b s e n t i a dans une série mnémonique virtuelle. Ich habe diese Stelle in extenso hierher gesetzt wegen der weittragenden Folgen, die sie nach sich gezogen hat, und ich beschränke mich darauf, einige wichtige dieser Nachwirkungen in der wissenschaftlichen Welt aufzuweisen; zunächst aber einige kritische Bemerkungen zu F. de Saussures eigenartigen Theorien. 1. Unter Syntagmen wird recht Heterogenes verstanden: re-lire fällt in das Gebiet der Wortbildung, also der Wortlehre; die anderen Beispiele (z. B. la vie humaine) könnte man mit Marty als »Namen" bezeichnen; contre tous ist ein Satzstück, Dieu est bon ein ganzer Satz. Und damit kommen wir zur Hauptsache: Syntagmen sind wesenhafte S a t z G r u p p e n (Satzglieder oder ganze Sätze der Rede) vor jeder wissenschaftlichen Analyse („in praesentia!"); dann auch die Beziehungsmittel, die nicht einzelne Wörter betreffen (Flexion!), sondern gegliederte Ganzheiten des Satzes (Stimmodulation, Wortstellung!). Also kann später daraus „Text" werden. „Assoziative Beziehungen" sind die ersten Ansätze einer s y s t e m a t i s c h e n Bearbeitung, woraus dann später .System" wird. 2. Das Beispiel ie-liie ist nämlich eine Assoziation, armement — changement eine Reproduktion (fera surgir!), ähnlich éducation — apprentissageErstere ist lautlicher, letztere inhaltlicher Natur. 3. Welcher grundsätzliche Unterschied ist zwischen den beiden, von Saussure gesonderten Beispielen lire — relire und enseigner — renseigner? 4. Und dann die Psychologie! Von den „rapports associatifs" wird gesagt: par un côté ou un autre, tous ont quelque chose de commun entre e u x . . . leur (i. e. ces coordinations) siège est dans le cerveau I Und wo sind die Syntagmen beheimatet? Cf. pp. 172 ff., 178 f., 181 f. Was Wunder, wenn solche Unklarheiten, gläubig übernommen, zu großen Unklarheiten geführt haben. b) Und nun die Nachwirkungen der Saussureschen Theorien: 1. Was Ferd. de Saussures Opposition von signifiant — signifié betrifft, so unterscheidet L . B l o o m f i e l d : a) auch grundsätzlich zwischen form (linguistic, grammatical forms, form-classes etc.) und meaning (lexical, dictionary meanings, classmeanings etc.; vgl. „Language", p. 144 ff., 158 ff., 264ff.), wenn auch sein * Uber sprachliche Assoziation und Reproduktion siehe unten das Kapitel über den „Sprechakt".

46

besonderes Interesse den mechanistischen Theorien zugewendet ist (s. u. .Wortlehre"). b) Sehr interessant ist, was L.Bloomfield aus den bloßen „ u n i t é s c o n s é c u t i v e s " der „ c h a î n e d e l a p a r o l e " gemacht hat. Er definiert die Grammatik (a.a.O., p. 162 ff.) wohl im Sinne de Saussures als „the meaningful arrangement of forms (words)". Aber diese Syntagmen umfassen nicht nur im ursprünglichen, vorwissenschaftlichen Sinne der Rede die bloße Anordnung (order) in der Folge (succession) von Gruppen, sondern gerade darüber hinaus — was sich erst sekundär unter „arrangement" begreifen läßt — auch modulation, phonetic modification etc.; also systematisdi bearbeitete Beziehungsmittel, darunter auch Wortstellung und Flexion, aber unter den Rubriken „phonetic modification" und selection! 2. Die Kombination der beiden Entwicklungsprinzipien F. de Saussures tritt noch augenscheinlicher in L. H j e l m s l e v s Gliederungsversuchen in die Erscheinung. Mit Recht weist L. Hjelmslev die alte Einteilung zurück („Actes" VI, p. 478) : 1) Morphologie: Wortarten und Flexion als théorie des désignations; 2) Syntaxe: la théorie des relations mutuelles contractées par les signes permutables à l'intérieur du texte; 3) La Lexicographie (la sémantique): La description des mots par rapport à leurs désignés. Hatte doch L. Hjelmslev auch auf dem V. Internat. Linguistenkongreß die alte Gegenüberstellung von Morphologie und Syntax abgelehnt, von der auch V. Brendal ausgegangen war10. In den Principes de grammaire générale vom Jahre 1928 hatte sich L. Hjelmslev zu folgender Gliederung bekannt: 1) die Phoneme (Phonologie und Phonetik); 2) die Grammatik (als Theorie der Semanteme (?) und Morpheme sowie ihrer Kombinationen) ; 3) die Lexikologie und die Semantik (als Theorie der Worte). Diese Einteilung ist weithin zu billigen, insofern unter „Grammatik" die Syntax zu verstehen ist. Hjelmslev zeigte auch Verständnis für die von Ries und Fortunatov ausgehenden Anregungen, die Morphologie als 10 Vgl. dazu Viggo Brandal, „Essais", p. 8 ff.: Il faut nettement séparer Morphologie et Syntaxe. Die Morphologie wird definiert als „théorie des formes e t d e l e u r s e n s " ; die Syntax als „théorie de la phrase et de ses membres". Die Morphologie" studiert z. B. die Kasus, die Wörter (?), die Ableitung (cf. p. 32 f.). Die Morphologie zielt nicht auf die äußere Form, sondern ausschließlich auf die innere Form, den Sinn, die Funktion. Die Syntax beschäftigt sich ausschließlich mit den Sätzen (propositions), ihren Kombinationen und Analysen. Brandal schließt: Dans le domaine de la Syntaxe, théorie de la phrase, il ne faut pas faire entrer l'étude de la signification des mots et des formes!

47

science du mot durchzuführen und die Syntax als science des combinations de mots. Aber seine ablehnende Haltung gegenüber Delacroix und Sapir hält ihn von der ihm hier gewiesenen Richtung (mot — phrase) zurück. So verfällt er denn den von F. de Saussure oben aufgezeichneten Gliederungsversuchen, die er b e i d e zu. einer Einheit zu verschmelzen sucht, was natürlich mißraten muß. Ich beziehe mich auf drei seiner Arbeiten, um diese Irrwege aufzuweisen: Omkring Sprogteoriens Grundlaeggelse, „Actes" VI und Structural Analysis. Im letzteren Werk drängt er seine Erkenntnisse auf fünf Grundzüge zusammen, die ich schon wörtlich wiedergeben muß: ,(1) A language consists of a content and an expression. (2) A language consists of a succession, or a text, and a system. (3) Content and expression are bound up with each other through commutation. (4) There are certain definite relations within the succession and within the system. (5) There is not a one-to-one correspondence between content and expression, but the signs are decomposable in minor components. Such sign components are, e. g. the so-called phonemes, which I should prefer to call taxemes of expression, and which in themselves have no content, but which can build up units provided with a content, e. g. words." Es besteht kein Zweifel, daß alle angeführten Grundzüge auf die beiden oben (S. 42 f.) herausgestellten Betrachtungsweisen F. de Saussures zurückgehen, und zwar a) Punkt 1, 3 und 5 auf dessen Unterscheidung von „ s i g n i f i é " und « s i g n i f i a n t " ; über ihre nähere Beziehung („commutation") wird nichts weiter ausgesagt. Es ist ein Irrtum, daß die sogenannten Phoneme (Taxeme) keinen Gehalt haben; sie haben vielmehr eine Beziehungsbedeutung. Im übrigen betreffen die Bemerkungen einseitig die Flexion. b) Punkt 2 und 4 übernehmen F. de Saussures Unterscheidung von S y n t a g m e n und a s s o z i a t i v e n B e z i e h u n g e n , die nun als „ T e x t " und „ S y s t e m " erscheinen. Das Problem bleibt, welcher Art die Relationen sind11. In den beiden anderen Darlegungen (Omkring Sprogteoriens Grundlaeggelse sowie den Ausführungen auf dem VI. Internationalen Linguistenkongreß 1948) werden nun die beiden Gliederungsprinzipien, die im Werke F. de Saussures unverbunden nebeneinanderstehen, zu einer 11

Louis Hjelmslev, „Principes", p. 97 f., 93. Siehe dazu die eingehende Besprechung, welche dieses Werk seitens H. Dempes, Idg. Forschungen L, S. 240 ff., erfahren hat; Omkring Sprogteoriens Grundlaeggelse, Kopenhagen (1939) 1943; „Actes" VI, p. 423 ff.; „Structural Analysis*, p. 78.

48

Einheit verbunden, zur Theorie der beiden „Achsen" und det beiden „Pläne". L. Hjelmslev lehnt (Grundlaeggelse, p. 12 ff.) mit Recht die alte synthetische Methode ab, die Grammatik von den Lauten her aufzubauen, und tritt für den analysierenden Weg ein, d. h. für den Ausgang vom Ganzen eines Textes her (was jedo'ch mit Indüktion und Deduktion nichts zu tun hat). Nach den logisierenden Auseinandersetzungen über „Funktion" und deren Glieder („Funktive"), über „Größen" (Silben, Worte, Sätze usw.) und deren Abhängigkeitsverhältnisse, über Konstante und Variable als Funktive entwickelt L. Hjelmslev folgende Zusammenhänge, den Saussureschen Ansätzen entsprechend: 1) Korrelationen (Entweder-oder-Funktion) — System (Sprache) — Paradigmatik — Konstante; 2) Relation (Sowohl-als-auch-Funktion) — Verlauf (Textfolge) — Syntagmatik — Variable 12 . Auf Seite 27 gibt er dann eine schematische Übersicht. In den „Actes" VI (p. 423) werden diese Darlegungen über die beiden „Achsen" ergänzt durch folgende Ausführungen über die beiden „Pläne": 1) Le plan du c o n t e n u (du signifié): la différence entre catégories fonctionnelles et catégories sémantiques est en principe celle entre forme et substance, was wohl einleuchtet, nicht aber, wenn dieses Begriffspaar ersetzt wird durch langue et parole oder durch schéma — usage, und wenn erläuternd hinzugefügt wird: Le réseau de fonctions (relations et corrélations) entre les catégories linguistiques constitue le schéma; les significations et valeurs sémantiques relèvent de l'usage. 2) Le plan de l ' e x p r e s s i o n (du signifiant) bietet das entsprechende Begriffspaar: les faits purement fonctionnels, qui constituent le schéma de l'expression — les faits phoniques, graphiques et autres, qui en constituent l'usage. Ich muß leider gestehen, bei dieser Durchkreuzung logistischer und linguistischer Gesichtspunkte komme ich nicht mit, zumal auch die rechte Auffassung des dänischen Textes gewisse Schwierigkeiten in sich schließt Immerhin weist auch die Unterscheidung von den beiden Achsen und Plänen auf die angemessene Sonderung von Satzlehre und Wortlehre hin! 3. K n u d T o g e b y , Structure immanente de la langue française (Kopenhagen 1951) bekennt sich unmißverständlich zu F. de Saussure: „le grand pionnier de la linguistique de nos jours" (p. 7). Er knüpft in diesem Sinne an die Gedankengänge seines Lehrers L. Hjelmslev an und faßt seine Neuerungen in dem folgenden Schema zusammen: 11 Vgl. D. Hilbert und W. Ackermann, Grundzüge der theoretischen Logik, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1949, S. 3 ff. Wohin die Vermengung von Linguistik und Logistik führen kann, habe ich in der Prager Akademie-Abhandlung Wirklichkeit, Sprechen und Sprachsymbolik, Prag 1943, dargetan.

4 O t t o . Sprachwissenschaft

49

syntagmatique systématique (division) (classification) analyse morphologie fonctionnelle syntaxe fonctionnelle phonologie fonctionnelle fonctionnelle prosodie fonctionnelle analyse morphologie des signes syntaxe des signes des signes phonologie des signes prosodie des signes analyse syntaxe sémantique morphologie sémantique de la substance prosodie phonétique phonologie phonétique Das Schema weist die beiden Achsen Hjelmslevs auf (syntagmatique — systématique) und setzt auch dessen beide Pläne (l'expression — contenu) als Einteilungsprinzip voraus (p. 9, 25 ff., 44 ff., 89 ff., 138). Die „Analyse der Zeichen" steht in der Mitte z w i s c h e n den beiden anderen. Sehr lehrreich sind K. Togebys Auseinandersetzungen mit verwandten Theorien (p. 7 ff.). Er kritisiert die „inkonsequenten" Theorien der ü b e r l i e f e r t e n G r a m m a t i k (la grammaire traditionnelle), die sich bald an die „funktionelle Analyse", bald an die „Analyse der Zeichen", bald an die der „Substanz" haltel „II ressort de sa terminologie: substantif (analyse sémantique), préfixe (analyse des signes), participe (analyse fonctionnelle)." Dann folgt eine ebenso einseitige Kritik der neueren Linguistik und ihrer Vertreter, die wohl von großer Belesenheit zeugt und auch manchen wertvollen Gedanken enthält (p. 11 ff.). Das aufgewiesene System wird dann an die ausführliche Behandlung der französischen Sprache herangetragen, wobei wichtige, in der Sprache liegende Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Möglichkeiten der Sprach-Leistungen, die mir bedeutsam erscheinen, geopfert werden. Der wertvollste Teil ist m. E. die Syntax, und zwar wohl gerade die Abschnitte aus der überlieferten Grammatik (p. 121 ff.). Das System, Gliederung und Bezeichnung der Kategorien, ist überall die Hauptsache. Die einzelnen Spracherscheinungen tragen mehr den Charakter von Belegen, von Beispielen. Daher werden auch gelegentlich Belege aus anderen Sprachen herangezogen. 4. Auf dem VII. Internationalen Linguisten-Kongreß in London entwarf der Berichterstatter über die Grundprinzipien der Wortklassen, O t t o F u n k e , folgendes Schema: Word Morphology I. i s o l a t e d w o r d - form II. c o n t e x t u a l g r o u p - form (e. g. word-order, modulation)

50

Semantics III. word - s e n s e (lexical meaning) (situational sense) IV. s y n t a c t i c valence (e. g. S. — P. — O.)

O. Funke legte an dieser Übersicht die Entfaltung der Sprachwissenschaft in Vergangenheit und Gegenwart dar, und zwar vom Wort aus, nidit vom Satz, wie Punkt I., aber auch die Überschrift des Ganzen zeigt. Der Punkt II. c o n t e x t u a l g r o u p -form erinnert an F. de Saussures „Syntagmen" (groupes de mots) sowie an die Nachwirkungen, die dièse Theorie besonders in der englisch geschriebenen Literatur gehabt hat. Daher werden dort auch als Beispiel zunächst word-order und modulation genannt, nicht Flexion (vgl. L. Bloomfield, „Language", p. 163 f.). Die Gegenüberstellung Morphology — Semantics entspricht wesentlich F. de Saussures Opposition: signifiant—signifié. Unter Semantics ist daher sowohl Begriffsbedeutung (lexical meaning) als Beziehungsbedeutung zu verstehen. Auf situational sense ist in der „Wortlehre" (s. u.) zurückzukommen. Für Lautlehre (Phonetik bzw. Phonologie) ist in dem System keine Stelle. Es berührt außerordentlich sympathisch, daß sich O. Funke von jeglichen Spekulationen und Vermengungen der Linguistik mit mathematischer Logik fernhält. III. Nach diesen Bemerkungen zur Satz- und Wortlehre wenden wir uns der Unterscheidung von Begriffsbedeutung und Stimmungsgehalt zu. Beide Komponenten, die eng ineinandergreifen, wollen wohl beachtet sein. Wenn Karl Reuning, Joy and Freude (Swarthmore, Penn. 1941), gegen J.Triers logisch-begriffliche Betrachtungsweise in dessen Buch über den „deutschen Wortschatz" Einwendungen erhebt, so sind diese nur insofern berechtigt, als in der genetischen Betrachtungsweise der Einfluß des Stimmungsgehaltes nicht zu unterschätzen ist. Die Morphologie und Bedeutungen der Begriffswörter, auch unter der Berücksichtigung synonymer und homonymer Ausdrücke, werden in alphabetischen und Begriffswörterbüchern aufgewiesen. Daher sagt Hugo Schudiardt mit Recht, daß das Wörterbuch keinen anderen Stoff darstellt als die Grammatik. Es liefert die (alphabetische) Inhaltsangabe zu ihr. Es ist daher die Meinung Aug. Schleichers abzulehnen, der meint, daß das Wörterbuch im „Systeme der Wissenschaft keine Stelle" habe18. Wenn unsere Grammatiken der Wortbildung einen größeren Raum gewähren, so ist das wohl zu billigen. IV. Zur Phonologie und Phonetik. Die Phonologie erforscht die akustische Klangwirkung der historisch gewordenen Sprachen auf ihre Grundstruktur hin; die Phonetik untersucht die (motorische) Artikulation der Laute im Akt der Sprechhandlung. Wesentlich auch so S. Ullmann in seinen „Principles". Ich verweise auf die grundlegenden Arbeiten Nikolai S. Trubetzkoys, der auch nach Ansicht W. F. Twaddells grundu

Hugo-Schuchardt-Brevier, Halle 1928, S. 135; — Aug. Schleicher, Die deutsche Sprache, Stuttgart 1874, S. 125 f.



51

sätzlich mehr mit akustischen als artikulatorischen Kennzeichen operiert. N. S. Trubetzkoy möchte „eine saubere Scheidung von Phonologie und Phonetik" durchführen und sieht in der Phonetik mit Redit eine „Sprechaktlautlehre", in der Phonologie eine „Sprachgebildelaullehre", jedoch mit Einschluß „bestimmter Funktionen". Damit wird die parallele Gleichstellung von Phonetik und Phonologie entsprechend der von Wortlehre und Syntax vernichtet, zumal das Inhaltsmoment entweder als Begriffsbedeutung in die Wortlehre oder als Beziehungsbedeutung in die Syntax fällt. Vgl. dazu das von S. Ulimann gegebene Schema14. Zu einer Dreiteilung der Morphologie ist auch schon L. Hjelmslev gedrängt worden („Actes" V, 1939, p. 88 f.). D. Die Unterscheidung von Morphologie einerseits, von Bedeutung und Beziehungsbedeutung andererseits, wie sie in der schematischen Ubersicht (S. 43) aufgezeigt ist, ermöglicht noch eine klare Abgrenzung der sogenannten „Vergleichenden" und der „Allgemeinen Sprachwissenschaft". Wir haben oben (S. 40, Punkt 6 und 7) dargelegt, wie die morphologisch-genealogische Betrachtungsweise eines R a s k , B o p p , G r i m m usw. durch die sinngerichtete Forschung W i l h . v o n H u m b o l d t s eine inhaltliche Ergänzung gefunden hatte, d.h. zur Erfassung der „inneren Sprachform" jeglichen Idioms und damit der spezifischen „Weltansicht" der betreffenden Nation ausgeweitet war. In Anlehnung an Wilh. v. Humboldt betrachtet auch jüngst E. Lewy „den Bau der europäischen Sprachen" in dem u m f a s s e n d e n Rahmen der Kulturgeschichte. Wenn Humboldt die energeia dem ergon gegenüberstellte, so ist nicht zu übersehen, daß mit der energetischen Auffassung der Sprache auch die Besonderheit des aktuellen Sprechens, neben dem geschichtlichen Aspekt, anklingt. Keine dieser beiden Sichten, die morphologische (genealogische) wie die sinngerichtete, ist ein Irrweg. Denn wie der obige Aufriß (S. 43) zeigt, ist die eine die notwendige E r g ä n z u n g der anderen: Satzlehre wie Wortlehre umfassen sowohl eine morphologische wie eine sinnbezogene Seite (the inner meaning). Diese Einheit wechselseitiger Bezogenheit wird in dem nächsten Kapitel über die „Struktur von Satztypen" wieder aufzunehmen sein. Weitet sich doch einerseits Grimms erster Ansatz seiner „vergleichenden" Sprachforschung (die „Deutsche Grammatik", 4 Bände), von der Gestalt zum G e h a l t fortschreitend, zu den „Deutschen Rechtsaltertümern" von 1828 und zu der „Deutschen Mythologie" von 1835. " Fürst Nikolai S. Trubetzkoy, Travaux du Cercle Linguistique de Prague, Prag 1939, S. 15 ff.; — W. F. Twaddell (Univ. of Wisconsin), Acta Linguistica I (1939); — S. Ulimann, „Principles", p. 38 f.; — vgl. meinen Aufsatz Phonologie und Phonetik, Idg. Forschungen LV (1937), S. 17 ff. und J. Laziczius, Phonétique et phonologie, Lingua I (1948), p. 301.

52

Wer zudem geneigt ist, Jac. Grimm als einseitigen Vertreter der empirisch-historischen Richtung zu betrachten, und zwar auf Grund der Vorrede zur Deutschen Grammatik (1819), der übersehe nicht, wie ganz anders sich der ältere, gereifte Gelehrte in der Berliner Antrittsrede (1841) über ideale (philosophische) und reale Forschung ausgesprochen hat 15 . Andererseits hat sich W. v. Humboldt auch der M o r p h o l o g i e der Sprachen zugewandt und sein Interesse von den europäischen auf die außereuropäischen Sprachen im u n i v e r s a l i s c h e n Geiste ausgedehnt, was auch für seine Nachfolger H. Steinthal und E. Lewy gilt. Die .Sprachvergleichung" der Zukunft wird beide Gesichtspunkte vereinen müssen: also Morphologie der Wort- u n d der Satzlehre wie die inhaltbezogene Forschung der Semasiologie u n d der Beziehungslehre 16 . Mithin nicht Grimm oder Humboldt, sondern Grimm u n d Humboldt, und zwar in möglichster U n i v e r s a l i t ä t . Das Z i e l ist demnach, auf Grund morphologischer Tatsachen vorzustoßen zur i n n e r e n S p r a c h f o r m der Völker. Insofern hat Leo Weisgerber mit Recht die Forderung der .inhaltbezogenen" Forschung ausgesprochen (s. u. S. 58). Soweit stimme ich mit Leo Weisgerbers Intentionen völlig überein (.Die Wiedergeburt des vergleichenden Sprachstudiums", Lexis II/2, S. 3 ff.). Da aber a l l e wissenschaftliche Methodik mit der Feststellung von Tatsachen einsetzt und mittels der V e r g l e i c h u n g weiter fortschreitet, so scheint es nicht angebracht zu sein, eine ganze Wissenschaft nach der .vergleichenden" Methode zu nennen, wie sich auch die indogermanische Sprachwissenschaft mit vollem Recht nach dem G e g e n s t a n d ihrer Forschung bezeichnet. Dieser morphologisch-inhaltbezogenen Betrachtungsweise gegenüber ist das Verfahren der Allgemeinen Sprachwissenschaft, die in L. Weisgerbers Gedankengängen zurücktritt, etwas grundsätzlich anderes, wenn sie auch auf deren Ergebnissen beruht 17 . Sie ist nicht so sehr universal gerichtet, als daß sie auf die übernationalen, allgemein-menschlichen und notwendigen Sinngesetzlichkeiten vorstößt — auf die menschliche Sprache und den Menschen schlechthin, das Ziel der Humanitas — und 15

Die Vorrede ist abgedruckt in Vorreden, Zeitgeschichtliches und Persönliches, Gütersloh 1890, S. 29 ff. ¡ — Berliner Antrittsrede 1841, Kleinere Schriften 8, Göttingen 1890, S. 546. l " Auch K. F. Becker nennt diesen letzteren Teil die „Lehre von den Beziehungen", Vorrede zur l . A u f l . der „Ausführlichen deutschen Grammatik" I (1842). 17 Wirft man einen Rückblick auf die lange Reihe der bisherigen Internationalen Linguisten-Kongresse, so ergibt sich, daß die Probleme der Allgemeinen Sprachwissenschaft sich immer mehr in den Vordergrund schieben gegenüber denea der sogenannten Sprachvergleichung. Auf dem VI. Intern. LinguistenKongreß in Paris (1948) waren fast alle vier Hauptfragen der Allg. Sprachwissenschaft gewidmet; auf dem VII. Intern. Ling.-Kongr. in London (1952) der größte Teil der Plenarsitzungen sowie auch die Verhandlungen der 1. Sektion.

53

dies nicht nur deskriptiv, sondern auch genetisch, und zwar dann nicht nur den Wandel von Einzelerscheinungen herausarbeitet. Schreitet doch in jeder Forschung die Systematik weiter fort zur Beobachtung geschichtlicher Zusammenhänge. Wenn also auf dem Linguistenkongreß in Paris (1948) von dem Berichterstatter L. Hjelmslev hierfür die Bezeichnung „universal" in Vorschlag gebracht wurde, so würde dieser Fachausdruck vielmehr für die morphologisch-genealogische Wissenschaft angebracht sein: also U n i v e r s a l e S p r a c h w i s s e n s c h a f t statt Sprachvergleichung, und zwar als Ergänzung der weniger umfassenden germanischen, romanischen, slawischen usw. Sprachwissenschaften. Vgl. o. S. 2. Neben dieser Universalen und Allgemeinen Sprachwissenschaft tauchen auch die Benennungen Sprachphilosophie und Sprachpsychologie auf. S p r a c h p h i l o s o p h i e ist grundsätzlich Philosophie, Sprachwissenschaft, von Philosophen betrieben, nicht von den eigentlichen Fachmännern der Sprachforschung (z. B. A. Marty, E. Husserl, E. Cassirer) 18 . Diese Verbindung ist der Sprachwissenschaft außerordentlich zugute gekommen. Andererseits wird auch der Sprachler wesentlich gefördert werden, wenn er sich mit den Grundproblemen der Philosophie ernst auseinandersetzt — und umgekehrt. Darauf hat bereits G . v . d . G a b e l e n t z hingewiesen („Sprachwissenschaft", S. 10ff., 136ff.). Er fordert von dem Sprachphilosophen eine möglichst weitgehende sprachliche Schulung, um erkennen zu können, wie alles „mit allem notwendig zusammenhängt" — ein wichtiges Ziel der Allgemeinen Sprachwissenschaft (S. 486). Die S p r a c h p s y c h o l o g i e ist entsprechend grundsätzlich Psychologie und daher auch vorwiegend von Psychologen begründet worden unter Bevorzugung der S p r e c h Wissenschaft (z. B. Wilh. Wundt, K. Bühler, Fr. Kainz). Auch hier gilt die Forderung, daß der Sprachforscher mit den Grundproblemen der Psychologie vertraut sei. — Und wo liegen die Grenzen? Der Sprachwissenschaftler wird den von Edmund Husserl geäußerten Ansichten über die „reinlogische Grammatik" schwerlich folgen können; das ist wesentlich P h i l o s o p h i e . S. dazu o. S. 6 f. Auf der andern Seite, nach der Psychologie hin, setzt sich beispielsweise Anton Marty, der Philosoph der empirischen Psychologie, mit Wundts Lehre von dem regulären und singulären Bedeutungswandel auseinander („Untersuchungen I", S. 561 ff.). Otto Funke („Innere Sprachform", S. 41) faßt Martys Interpretation dieser genetischen Frage dahin zusammen, daß beim Bedeutungswandel es sich, meist um eine Bezeichnungsübertragung in dem Sinne handelt, daß sich nicht der Begriff wan18 Dieser s a c h l i c h e Unterschied ist mit Händen zu greifen, wenn man z.B. vergleicht, was G. v. d. Gabelentz (a.a.O.) und -was A. Marty über die „innere Sprachform" sagen.

54

delt, sondern daß, statt eines neuen Begriffs einer neuen Sache, mittels der figürlichen inneren Sprachform ein schon vorhandenes sprachliches Ausdrucksmittel verwendet wird. Ich lasse es dahingestellt, ob nicht psychologisch auch eine Veränderung der ursprünglichen Begriffsbedeutung vorliegt. Aber die abschließende Begründung des psychologischen Prozesses ist wesentlich P s y c h o l o g i e . Der Sprachler kann sich damit begnügen, einfach die historischen Zusammenhänge aufzuweisen, überdies die „Bedingungen" und „Wirkkräfte" zu sondern, um die Notwendigkeit des Wandels darzutun; s. dazu das VII. Kapitel. Sprachgeschichtlich ist der Gedanke wichtig, daß auch der Bedeutungswandel im größeren Zusammenhang der inneren Sprachform gesehen wird. Und auch Wundts Deutung ist Psychologie, allerdings eine ganz andere! Da sich die Arbeitsgebiete der Sprachwissenschaft und Philosophie bzw. Psychologie überschneiden, so ist es unmöglich, hier scharfe Grenzen ziehen zu wollen. E. Wir wenden uns nunmehr der Gliederung der Syntax im besonderen zu. Dieser dritte Fragenkreis betrifft das Problem, wie die Syntax in dem allgemeinen Rahmen der Sprachwissenschaft im einzelnen zu behanhandeln sei. Wenn die Syntax I. die Morphologie der Beziehungsmittel und II. deren Leistungen auf Grund der Beziehungsbedeutungen umfaßt, dann ergibt sich folgendes Verfahren: I. Morphologie der Beziehungsmittel: Sie hat in den positiven Grammatiken der einzelnen Sprachen die Beziehungsmittel zu beschreiben, soweit sie überhaupt Gestalt gewonnen haben (vgl. oben S. 22): 1. M u s i k a l i s c h e n u n d d y n a m i s c h e n A k z e n t , einschließlich Rhythmus, Tempo, Pause (bzw. Bindung) usw. 2. F l e x i o n , d. h. die Deklination der Nomina, die Steigerung usw., die Konjugation der Verba (Zeitstufen, Aspekte, Aktionsarten); also die sogenannte „Formenlehre". 3. W o r t s t e l l u n g : Spitzen-, Mittel- und Endstellung; lineare Anreihung, Anknüpfung und Satzverschlingung usw. 4. W o r t a r t e n , z. B. der Trotz (Artikel, Großschreibung) — trotzig — trotzen — trotz; Wortübergänge (substantivierte Adjektiva) usw. In die Syntax fallen aber nicht die Wortbildungen (Ableitungen) begrifflicher Art, z. B. Lindenbaum, hellrot usw. Das ist Angelegenheit der Wortlehre. II. Leistungen der Beziehungsmittel: Beziehungslehre im eigentlichen Sinne. a) Vom besonderen Standpunkt der i n d o g e r m a n i s c h e n S p r a c h e n wäre zunächst folgende Frage zu beantworten: Wie wird die Beziehung der Satzteile (Subjekt — Prädikat) durch die möglichen Be55

Ziehungsmittel (musikalischen und dynamischen Akzent, Flexion usw.) gekennzeichnet? b) Wie werden die sonstigen Beziehungen der Satzglieder gekennzeichnet? (Vgl. die Übersicht der Leistungen oben S. 29 ff.) Es kommen in der Allgemeinen Grammatik folgende Grundverhältnisse in Betracht19. Die Beispiele sind der deutschen Sprache entlehnt. 1. Leistungen i n n e n s y n t a k t i s c h . e r Art, und zwar Bestimmungen: a) der S u b s t a n t i v a , z. B. liebe Mutter, der Einband des Buches, der Weg zum Ziel, Fürst Bismarck; der Weg, der zum Ziel führt; ß) der A d j e k t i v a , z. B. eingedenk der Zeit, dir ähnlich; sehr vernünftig; er war glücklich, dich kennen zu lernen; y) der V e r b a , z. B. ich gebe dir das Buch, ich erinnere mich deines Geburtstags; ich wünsche, rechtzeitig zu kommen (daß du kommst); ich wünsche aufrichtig...; ô) der R e l a t i o n e n , z. B. nahe bei der Stadt. Man könnte Bestimmungen und (ganz machende) Ergänzungen unterscheiden; so ist ich gebe als Verb „ergänzungsbedürftig", mit Husserl zu sprechen, ebenso die Präpositionen ganz allgemein, da sie ja begrifflich (I) Verhältnisse zwischen vorgestellten oder gedachten Wirklichkeitszusammenhängen ausdrücken — der Grund, warum man sie als synkategorematisch betrachtet hat! Die näher bestimmten „Grundwörter" („Kernwörter") sind also nach den Kategorien der gegenständlichen Wirklichkeit orientiert, wenn sie bzw. ihre Bestimmungen auch nicht lautlich der Wortart nach, sondern durch andere Beziehungsmittel (Wortstellung usw.) gekennzeichnet sind. Dieser Tatbestand gründet in der Struktur des Satzes, insofern seine Baupläne ursprünglich der gegenständlichen Wirklichkeit nachgebildet sind (vgl. oben S.33f.) 20 . Nehme ich doch in der erlebten Wirklichkeit G e g e n s t ä n d e (Personen und Sachen) mit bestimmten E i g e n s c h a f t e n wahr, die etwas t u n (oder leiden), und zwar unter bestimmten V e r h ä l t n i s s e n (Relationen des Ortes, der Zeit, auch im übertragenen Sinne, z. B. ich freue mich über etwas). Diese Gegebenheiten erscheinen in der Sprache weitgehend in den fundamentalen Wortarten als Substantiva, Adjektiva, Verba und Relationswörter (Verhältnis-, Bindewörter) oder auch in den abgeleiteten Wortarten als Pronomina, Adverbia " Vgl. die ins einzelne gehenden Analysen einer E i n z e l s p r a c h e , z. B. des französischen Satzes: Knud Togeby, Structure immanente de la langue française, Kopenhagen 1951, S. 89 ff. (Syntax). 10 Das hat schon H. Pestalozzi bemerkt in mehreren Werken: Die Sprache als Fundament der Kultur, der Schwanengesang, Skizze zur Langenthaler Rede. Siehe mein Pestalozzibudi, Werk und Wollen, Berlin 1948, S. 60, 127 ff., 216 f., 269¡ — ebenso A. F. Bemhardi, „Sprachlehre" I, S. 296 ff., 346 f.: Die Sprache ist anfangs nur „die Darstellung der Anschauung", wobei sich die Wortarten in ihrer Vollständigkeit „auf die Urbegriffe des Verstandes" gründen.

56

usw., falls sich die Sprache überhaupt der Wortart bedient, z. B. a certainly not very cleverly worded remark (O. Jespersen, „Philosophy", p. 96 f), wo zunächst die Wortstellung entscheidend ist. 2. Leistungen a u ß e n s y n t a k t i s c h e r Art, d.h. Kennzeichnungen von Beziehungen, die auf die Außenwelt hinzielen, z. B. der Plural, Kasus wie der Lokativ (Ablativ), Steigerung der Adjektiva und Adverbia, Zeitstufen, Aktionsarten usw. 3. Kennzeichnung der e i g e n t l i c h e n M i t t e i l u n g im einfachen Satz bzw. der eigentlichen Mitteilungen in erweiterten Satzgefügen. 4. Kennzeichnung der S t e l l u n g n a h m e z u m S a c h v e r h a l t . F. Ausgang von der Lautform oder von den Beziehungen? Dieser Aufriß stellt das „ideale Gerüst" der menschlichen Sprache schlechthin dar, das man vor Augen haben muß, um sinnvoll und umfassend fragen zu können, in welchen Kategorien und mit welchen Mitteln diese oder jene Einzelsprache die verschiedenen Beziehungen sprachlich ausdrückt (s. oben S. 4). Daraus folgt, daß die wissenschaftlichen Grammatiken der Zukunft nicht vom „Stoff" ausgehen, sondern „von den auszudrückenden Beziehungen". Bisher legt man die „Formen" möglicher Beziehungsmittel zugrunde und zählt ihre Verwendungsmöglichkeiten auf, z. B. der Konjunktiv im Lateinischen, Französischen usw. „steht" dann und dann. Es folgt also die Aufzählung der einzelnen Fälle, in denen der Konjunktiv so oder so „gebraucht" wird. Aber schon K . F . B e c k e r bemerkt dazu: Die ältere Grammatik ist „von der Betrachtung des W o r t e s und der F o r m e n ausgegangen; und die Betrachtung der Bedeutung... war der Form untergeordnet". Sie setzte Buchstaben zu Silben, Wörtern und Sätzen zusammen ohne Verbindung aller Teile. Die neuere Grammatik macht, nach K. F. Becker, die „Bedeutung" zur eigentlichen Grundlage des ganzen Systems. Dann kann diese Grammatik auch „gewissermaßen die Grammatik aller Sprachen werden", insofern „die Verhältnisse des Gedankens und der Begriffe" „in allen Sprachen dieselben sind" — eine Grunderkenntnis der Allgemeinen Grammatik". Will doch K. F. Becker die Gesetze der Grammatik, im Sinne W. v. Humboldts, „von innen" her begründen, welcher Gedanke dann bei O. Jespersen wiederkehrt; wir möchten sagen, vom Sinn her, 11 Nachdem seit Ratichius und Comenius der Ruf nach Konzentration unseres B'ildungswesens erhoben und seitdem nicht mehr verhallt ist, hat man sich auf dem Gebiete der Fremdsprachen im besonderen der Idee der P a r a l l e l G r a m m a t i k e n verschrieben, um eine Vereinheitlichung des GrammatikUnterrichts durchzusetzen. Ich erinnere an die theoretischen bzw. praktischen Bestrebungen K. F. Beckers, Fr. Thierschs und G. T. A. KrügeTS, Havestadts, Seegers, Eichners, Hornemanns, Waldecks, Banner-Reinhardt-Roemers und Sonnenscheins. Vgl. dazu Reins Enzykl. Handbuch VI (1907), S. 553 ff. Die Versuche sind gescheitert. Eine Vereinheitlichung und Vertiefung des Sprachunterrichts kann nur vom übergeordneten Standpunkt einer Allgemeinen Grammatik erfolgen.

57

d. h. syntaktisch von den Beziehungsbedeutungen her. Leider bleibt vieles bei ihm in der Theorie stecken. Wenn in den Schriften L. W e i s g e r b e r s immer wieder eine Abkehr von der Lautbezogenheit zur Inhaltsbezogenheit gefordert wird, so meint L. Weisgerber im Grunde dasselbe, was ich mit der Wendung zur Beziehungsbedeutung und zur Beziehungslehre vertreten habe; desgleichen formuliert R. M ü n c h das Problem im Rahmen seiner »VorstellungsGrammatik" mit der Frage: Welche Ausdrucksmittel hat diese oder jene Sprache zur Mitteilung eines bestimmten Vorstellungs- oder Gedankengangs? Grundsätzlich gehen F . B r u n o t („La pensée et la langue") und Ch. B a 11 y (Stilystique et linguistique générale), unter Vermeidung der .formalen" Grammatik, vom Sinn der Rede aus22. Stellt man nunmehr die Frage, ob die ältere oder die neuere Sprachwissenschaft im Redit sei23, d. h. ob man in der Darstellung der Syntax vom Lautkörper oder vom Sinn auszugehen habe, so muß man sich erinnern, daß die Satzlehre — wie auch die Wortlehre — sowohl die Morphologie als auch die Beziehungslehre umfaßt. In der Darstellung der Morphologie, d. h. der Beziehungsmittel, wird man naturgemäß von der akustisch-motorischen Gestalt der geschichtlich gewordenen Beziehungsmittel, in der Beziehungslehre jedoch umgekehrt vom Sinn ausgehen. Man wird systematisch der Reihe nach die einschlägigen Fragen stellen, wie in der vorliegenden Sprache die innen- und außensyntaktischen Beziehungen im einfachen Satze und in den Satzgefügen ausgedrückt werden; wie die eigentlichen Mitteilungen, wie die Stellungnahmen zum Satzgedanken — kurz: wie die L e i s t u n g e n der Beziehungsmittel zum Ausdruck kommen. Dann werden unsere Grammatiken nicht mehr ein loses Bündel zusammenhangloser Einzelleistungen darstellen, sondern es wird aus dem systematischen Uberblick der eigenartige Aufbau und damit die innere Sprachform, auch von der syntaktischen Seite aus gesehen, die spezifische Struktur jeglicher Einzelsprache in die Erscheinung treten. Darauf ist im nächsten Kapitel zurückzukommen. Dann können wir mit vollem Recht von einer „Sprachwissenschaft" reden. 28 K. F. Becker, Vorrede zur ersten Auflage der „Ausführlichen deutschen Grammatik" I, S. VII ff., wie auch, etwas abgeändert, in der zweiten Auflage, I, S. IV ff.; — L. Weisgerber, z. B. Sprachwissenschaftliche Methodenlehre, Deutsche Philologie im Aufriß I, S. 3, 18; — R.Münch, Ztsdir. Unsere Schule VI (1951), S. 455; — vgl. meine Prager Abhandlung Wirklichkeit, Sprechen und Sprachsymbolik, S. 15 ff. (Brunot u. Bally). — Für K. Voßler, Ztsdir. f. Psydiol. 52 (1909), S. 305 ff., ist Grammatik „etwas Pädagogisches, ein nützliches Schema ..." M So heißt es z. B. bei L. Bloomfield, „Language", p. 162, ausdrücklich: „linguistlc study must always start from the phonetic form and not from the meaning". Natürlich geht das Studium einer fremden Sprache vom gegebenen Ilaute aus, wie uns die sogenannte „Sprachvergleichung" gezeigt hat, also auch die Ausdeutung exotischer (primitiver) Sprachen, z. B. K. W. Matthews, Characteristics of Micronesian, Lingua II (1949), p. 419 ff.; ganz anders jedoch die D a r s t e l l u n g des Systems.

58

Das alles scheint mir K a r l B r u g m a n n bereits gesehen zu haben* 4 . Gleich zu Anfang wirft er die Frage auf: „Welche Mittel der Satzgestaltung stehen oder standen einer Sprache zu Gebote, um die mannigfaltigen seelischen Grundfunktionen, die zum Sprechen drängen, zum Ausdrude zu bringen?" Er geht also aus von den verschiedenen „psychischen Grundstimmungen" und fragt nach der ihnen entsprechenden Sprachform. Mit Recht rügt er, daß man in unseren Grammatiken nicht alles „beisammen hat und überschaut", „was zu einem Satz oder dem üblich gewordenen Ausdrucksmittel einer bestimmten seelischen Grundfunktion gehört". „Was z. B. einen Satz charakterisiert, der einer Wunschregung entspringt, findet sich zerstreut in der Moduslehre, der Lehre vom Verbum infinitum, der Lehre von den Partikeln, Interjektionen, Konjunktionen, der Lehre von der Wortstellung und noch sonstwo. Am häufigsten noch wird in unsern Grammatiken dafür gesorgt, daß man in einem überschauen kann, was zum Ausdruck einer Frage gehört. Doch muß auch hier immer noch dieses oder jenes zur Vervollständigung aus anderen Kapiteln der Syntax, z. B. bei uns Deutschen aus dem über die Wortstellung, herbeigeholt werden. Manches aber, was für die Bestimmung der zugrunde liegenden Seelenstimmung wichtig ist, bleibt darum überhaupt unberührt, weil die Form, in der sich die betreffende seelische Stimmung ausdrückt, im allgemeinen dieselbe ist, die auch für andere Seelenregungen gilt, und die etwaige Besonderheit der Satzbetonung nicht in Betracht gezogen wird, z. B. die energische Versicherung einer Tatsache im Kleid der Frage, wie Bin ich etwa dein Sklave?, Wer kann wissen, wann er sterben wird?. Die mannigfaltigen seelischen Grundmotive des Sprechens haben von allem Anfang an die Satzgestaltung nicht nur beeinflußt, sondern die Verschiedenartigkeit der Satzformen beruht letzten Endes ganz aut ihnen. Müßte man also nicht erwarten, daß die entwicklungsgeschichtlich vorgehenden Grammatiker das Haupteinteilungsprinzip für die Satzlehre gerade von hier genommen hätten und nähmen? Aber wer tut das?" Da K. Biugmann seine Forderungen gerade auf die Syntax, und zwar auf die Beziehungslehre zuspitzt, die im Mittelpunkt dieses Kapitels steht, habe ich seine Anregungen als Ganzes hierhergesetzt. Sie gehen über die Darlegungen von Ph. Imme, Richard M. Meyer und G. v. d. Gabelentz, insofern sie eine psychologische Klassifizierung der Satzarten anbahnen, weit hinaus. Auf S. 55 habe ich dazu die verfügbaren Beziehungsmittel, auf S. 56 f. den Rahmen der Gliederung gegeben. Wir schließen dieses Kapitel mit einem Rückblick auf die Gliederungsversuche der Linguistik (Grammatik), im besonderen der Syntax, seit der Antike. Wie der Satz, so war auch der systematische Aufbau der u Verschiedenheiten der Satzgestaltung nach Maßgabe der seelischen Grundfunktionen in den indogermanischen Sprachen. Berichte üb. d. Verhandlungen der Sachs. Ges. der Wiss. zu Leipzig, phil.-hist. Klasse, 70. Band 1918, 6. Heft

59

Grammatik eine .Verbindung". Die Grammatik, wenn schon mit der Lautlehre beginnend, zerfiel in Morphologie (Formenlehre) und Syntax. In der ersteren wurden die »Formen" der Wort- und der Satzlehre — im wesentlichen die Flexion — abgehandelt. Was übrig blieb, rectio und convenientia, machten die Satzlehre aus. Auch hier entschied, neben der Anordnung nach Wortarten, der morphologische Gesichtspunkt. Im 19. Jahrhundert drängen K. R e i s i g und sein Schüler Fr. H a a s e eine Bedeutungslehre (Semasiologie) in das bisherige System ein. So bleibt es im wesentlichen aus Mangel an klarer Unterscheidung zwischen Begriffs- und Beziehungsbedeutung und der Erkenntnis von der Wortart, als Beziehungsmittel. Erst wenn man die Beziehungslehre von der Beziehungsbedeutung (der Beziehungsmittel) her aufbaut, — in der Wortlehre neben dem alphabetischen Wörterbuch auch den Gedanken des Begriffswörterbuches pflegt, d. h. vom Begriff ausgeht — kann auf Schule und Hochschule ein tieferer Einblick in das Wesen jeder Sprache und Sprachgemeinschaft erwartet werden. Aber wie weit wird man in Schulgrammatiken den rein praktischen Bedürfnissen entgegenkommen müssen? G. In diesen Rahmen fügen sich die Stellungnahmen führender Linguisten auf dem VI. I n t e r n a t i o n a l e n L i n g u i s t e n - K o n g r e ß (Paris 1948). Standen doch hier gerade die Grundfragen der Allgemeinen Grammatik und die der angemessenen Gliederung der Grammatik bzw. der Syntax zur Diskussion. 1. Frage: Existe-t-il des catégories qui soient communes á l'universalité des langues humaines? Dans quelle mesure peut-on asseoir sur l'étude des catégories une Classification strukturelle des langues? . . . 3. Frage: Peut-on poser une définition universellement valable des domaines respectifs de la morphologie et de la syntaxe? Die Aussprache (wie die schriftlichen Berichte) haben gezeigt, daß erst diese dritte Frage hätte behandelt werden sollen. Die zweite Frage, die Beziehungen zwischen phonischer und grammatischer (!) Sprachstruktur bzw. das morphologische Problem der vierten Frage, stehen für uns in zweiter Linie. Von den Fragen A—D geht uns überdies die terminologische (A) noch am meisten an, p. 41 ff., 349 ff. und 515 ff. j dazu wäre nicht zu übersehen p. 264 ff. (H. Bonnard/Paris), p. 353 ff. (G. Ivänescu/Iassy) und p. 368 ff. (S. Ullmann/Glasgow). Im besonderen hebe ich folgende Probleme heraus, was im Hinblick auf die babylonische Verwirrung der linguistischen Terminologie immerhin als ein gefährliches Unterfangen erscheinen mag. 1. Gegen die veraltete und unklare G e g e n ü b e r s t e l l u n g v o n M o r p h o l o g i e u n d S y n t a x haben die meisten Linguisten Einwendungen erhoben: H. Bonnard/Paris (p. 22), J. Cantineau/Algier (p. 20, 272 f.), A. Debrunner/Bem (p. 516 ff.), P. Diderichsen/Kopenhagen 60

(p. 276 ff.), H. Frei/Genf (p. 19, in Anlehnung an F. de Saussure), R. Godel/ Genf (p. 486), R. P. W. A. Grootaers/Peking (p. 25), M. Guthrie/London (p.24f.), L.Hjelmslev/Kopenhagen (p.420ff. u. ö.) u.a. 2. Die Opposition Morphologie — Syntax verschiebt sich zu der l e m o t — s y n t a g m e (bzw. Syntax). Vgl. oben S. 41. Ich nenne B. Van den Berg/Rotterdam (p. 20, 301), J. Cantineau/Algier (p. 20: vocabulaire — syntaxe, in Anlehnung an K. Bühler), A. Carnoy/Löwen (p. 495), zum Teil A.Martinet/New York (p. 23), A.E.Meeussen/Roeselare (p. 22) u.a. 3. Für die Untergliederung der S y n t a x in F o r m (Morphologie) und Beziehungsbedeutung (Funktion): E. Buyssens/Brüssel (p. 21)25, H. Frei/ Genf (p. 19: La morphologie . . . ne peut constituer une discipline distincte de la syntaxe), zum Teil G. Devoto/Florenz (p. 491), A. Sauvageot/Paris (p. 488), in gewissem Sinne K. Togeby/Kopenhagen (p. 479). Die auf V. Brandal zurückgehende Gegenüberstellung von Morpho-Syntaxe und syntaxe pur (p. 479 f.) würde eine angemessene Bezeichnung für das Französische abgeben im Sinne meiner Gliederung der Syntax in Morphologie und Beziehungslehre. 4. Die Scheidung von B e g r i f f s b e d e u t u n g (Begriffswort: Wortlehre) und B e z i e h u n g s b e d e u t u n g (Syntax) klingt an: P.Eringa/ Rotterdam (pp. 20, 279, 481: Bedeutung erster und zweiter Klasse), J. Larochette/Brüssel (pp. 287 f., 431 ff., 473: notion — fonction), A. E. Meeussen'Roeselare (p. 22: le sens — la fonction), A. Martinet/ New York (p. 23, 180: mots pleins — mots outils). 5. M o r p h o l o g i e als Teil der Wortlehre („Morpho-Lexikographie") wie auch der Syntax („Morpho-Syntax"): zum Teil H. Bonnard/Paris (p. 263 ff.), E. Buyssens/Brüssel (p. 21, 270 ff.; anders p. 484 f.). 6. G r a m m a t i k umfaßt in einem hierarchischen Gefüge (siehe das Schema auf S. 43) sowohl die Syntax wie die Wortlehre und die Lautlehre (Phonetik und Phonologie): Der Satz bzw. die Satzlehre ist die umfassende Einheit: J.Larochette Brüssel (p.287: la phrase . . . la seule entité autonome), B. Trnka/Prag (p. 26 f.: La phrase . . . représente une unité linguistique plus élevée . . . la suprématie de la phrase sur le mot; B. Trnka spricht hier auch von einer Hierarchie). " „Preliminary Reports", p. 57: La morphologie n'est qu'une partie de la syntaxe.

61

V. Die S t r u k t u r der

Sprachtypen

A. Die Problemlage In dem vorstehenden Kapitel war gezeigt worden, daß die beiden Gliederungsversuche F. de Saussures (signifiant — signifié und rapports syntagmatiques — rapports associatifs) von L. Hjelmslev zu einer einzigen Einteilung zusammengefaßt sind, zur umfassenden Theorie der .deux plans" (expression — contenu) und der „deux axes" (texte — système). Die Bezeichnung „texte" führt dann weiter zum Terminus „structure". Was besagt nun „structure" als Opposition zu „texte"? Zunächst sei bemerkt, daß diese Verschmelzung keineswegs den Intentionen F. d e S a u s s u r e s entspricht. Denn letzterer sagt ausdrücklich („Cours", p. 187f.): „Seule la distinction . . . entre les rapports syntagmatiques et les rapports associatifs suggère un mode de classement qui s'impose de lui-même, le seul qu'on puisse mettre à la base du système (!) grammatical." „Seule cette répartition montrerait ce qu'il faut changer aux cadres usuels de la linguistique synchronique." Die Unzulänglichkeiten dieser Klassifizierung werden noch überboten, wenn man einfach die beiden Pläne (expression — contenu) mit den beiden Achsen (texte — système) verschmilzt und für texte die Bezeichnung structure einführt Vielleicht hat der von F. de Saussure geprägte, vieldeutige Ausspruch: tout repose sur des rapports („Cours", p. 170) den Anlaß zu den vielen Widersprüchen gegeben, auf die wir bereits oben (S. 44 ff.) hingewiesen haben 1 . Audi L. H j e l m s l e v , „Structural Analysis", p. 69 ff., sagt in fast wörtlicher Anlehnung an F. de Saussure: „The main thing is not the sounds, characters, and meanings as such, but their mutual relations within the chain of speech and within the paradigms of grammar (!) These relations make up the system (!) of a language, . . . This is why the structural approach (!) to language, in the real sense of the word, conceived as a purely relational approach to the language pattern .. has not been taken up by philologists before the present day" (p. 73). L . H j e l m s l e v fügt hinzu, unter dem Einfluß der mathematischen Logik, daß auch er „Struktur" betrachte als „a purely formal and purely relational fact" (also auch die Beziehungsbedeutung?), d. h. „to be stated 1 So erklärt Karl von Ettmayer, Das Ganze der Sprache und seine logische Begründung, Jena u. Leipzig 1938, S. 1, 7, 12 f., 24 ff. etc., ganz allgemein: „Beziehungen" („Relationen") sind das Wesentliche und das Ziel der Sprachforschung.

62

in terms of relations, in terms of form and not of substance" (p. 75). Und dann, unvereinbar mit dem, das linguistische Zeichen umfaßt . 4 content and an expression" (vgl. oben S. 48). Und J. R. F i r t h , „General Linguistics", p. 82 ff., wahrt wohl seinen monistischen Standpunkt (der sprechende Mensch in der ganzheitlichen Gesprächssituation und unter bestimmten sozialen Bedingungen), stimmt aber L. Hjelmslev ganz zu: Die Hauptsache seien die wechselseitigen Beziehungen in der Kette der Rede und in den Paradigmen der Grammatik! Dabei ist sich J. R. Firth der Unzulänglichkeiten der einschlägigen Terminologie vollauf bewußt und auch gerade der Ausdrücke „System" und „Struktur". Wir sind daher jedem Sprachforscher sehr dankbar, der genauer definiert, was er mit diesen Fachausdrücken meint. So versteht H. W. d e G r o o t unter „System" „a functionally ordered collection of elements (!), i. e. a collection of elements among which there are relations which make them more suitable for a certain function, i. e. to be used for a certain purpose." Also schlichter: ein systematisch geordnetes Inventar von Beziehungsmitteln, — und zwar auf ihre Beziehungen (als Zweck) hin? Und wie verhält sich dazu Struktur? V. B r e n d a l bezieht sich auf die neuere Gestalt-Psychologie und erinnert an Edw. Sapirs Terminus „pattern"; aber auch an F. de Saussure („System"!) und Fürst Troubetzkoy („phonologisches System"!). Er gründet das Prinzip der Struktur auf Totalität und Einheit des Zusammenhangs. Das ist treffend. Aber es ist doch schwerlich vereinbar, wenn H j . L i n d r o t h statt Strukturalismus die Bezeichnung „Systemologie" vorschlägt und W. K. Matthews sagt: „paradigmatic or structural". In gewisser Hinsicht nähert sich A. R e i c h 1 i n g , in dem einführenden Aufsatz seiner mit H. W. de Groot herausgegebenen Zeitschrift Lingua, dem von V. Brondal umrissenen Standpunkt. Er erklärt: Die linguistischen Erscheinungen zeigen eine „Struktur", aus der die Systematik abgeleitet werden muß. Ganz rechtl Danach ist die Struktur das Primäre. Sie sei die Anordnung (arrangement: Bloomfield, a.a.O. p. 163) einet Spracherscheinung, insofern sie sich aus der Natur des Ganzen und ihrer wechselseitig bezogenen Teile (im Sprechakt?) ergibt. Also könne die Struktur nur beschrieben werden, nachdem die Natur des Ganzen und seiner Teile bestimmt ist. Damit wird also nun ein gewisser Einblick in das System vorausgesetzt. Mithin greifen Aufhellung der Struktur wie des Systems wechselseitig ineinander. Der gute Sinn dieser Auffassung ist dann der, daß „Struktur" bedeutet, wie wir bereits gesehen haben: a) ein vorliegendes Sprachgebilde (Satzglied oder Satz), das an sich (objektiv) strukturiert ist, d. h. v o r jeglicher wissenschaftlich-systematischen Analyse; b) die geklärte Einsicht in das Ganze und seine Anordnung (arrangement). 63

So kann denn A. Reichling hinzufügen, Strukturlinguistik ist eine Methode (: strukturelle Betrachtungsweise) und nicht eine Wissenschaft, also ein umfassender Name (collective name) für allgemeine Sprachforschung und grammatische Spracherklärung, besser: für die A r t der Spracherklärung 2 . „System" wäre dann die einheitlich aus Einzelforschungen aufgebaute und streng gegliederte Gesamtdarstellung der Grammatik, wie wir sie oben (S. 43) übersichtlich aufgezeigt haben. Insofern man in der Bedeutungslehre und in der Beziehungslehre dann von den Begriffsgehalten (Begriffswörterbuch!) bzw. von den Beziehungsbedeutungen ausgeht, also vom Inhalt aus, ermöglicht sich auch hier ein Einblick in die Struktur der betreffenden Einzelsprache (s. oben S. 58). V. Br0ndal sowohl wie A. Reichling betonen mit Recht, daß der Gedanke der Struktur aufs engste verbunden ist mit dem der Ganzheit und der W e c h s e l b e z o g e n h e i t a l l e r G l i e d e r e i n e s G a n z e n 3 . Diese Auffassung ist bereits vorgetragen von G. v. d. Gabelentz. Für ihn ist die Sprache ein ganzheitliches „System" (?), in dem alles in Wechselwirkung steht: „Jeder Sprache ist ein System, dessen sämtliche Teile organisch zusammenhängen und zusammenwirken. Man ahnt, keiner dieser Teile dürfte fehlen oder anders sein, ohne daß das Ganze verändert würde. Es scheint aber auch, als wären in der Sprachphysiognomie gewisse Züge entscheidender als andere. Diese Züge gälte es zu ermitteln; und dann müßte untersucht werden, welche andere Eigentümlichkeiten regelmäßig mit ihnen zusammentreffen 4 ." Die Übereinstimmung eines einzigen Falles im Vergleiche zweier Sprachen, ja der Aufweis einer vereinzelten Gesetzlichkeit im Wandel zweier Sprachen, besagt daher wenig für die Verwandtschaft dieser Sprachen. Denn „Verwandtschaft" beinhaltet nicht Ubereinstimmung von isolierten Einzelheiten, sondern Harmonie von Ganzheiten, und zwar in Gesetzlichkeiten der Sukzession wie der Koexistenz, wovon noch später zu handeln ist. Diese Verwandtschaft beruht nämlich zu guter Letzt auf der Gemeinsamkeit g e i s t i g e n Gleichgerichtetseins. Das hat N. S. Trubetzkoy übersehen, wenn er keinen zwingenden Grund sieht zur Annahme einer einheitlichen indogermanischen Ursprache®, wie auch 1 J. R. Firth, The Semantics of Linguistic Science, Lingua I (1948), p. 393 ff.; — H. W. de Groot, Structural Linguistics and Word Classes, ebd., p. 434 f., 489; — V. Brondal, Linguistique structurale, Acta Linguistica I (1939), p. 2 ff.; — Hj. Lindroth, Wie soll unsere Zeitschrift heißen, Acta Linguistica I, p. 80; — W. K. Matthews, „Preliminary Reports", p. 43; — A. Reichling, What is General Linguistics? Lingua I (1948), p. 22 ff. ' Ähnlich Eduard SprangeT, „Lebensformen", S. 18, 26 u. ö.; — G. v. d. Gabelentz, „Sprachwissenschaft", S. 84 ff., 481. 4 Das ist der Grundgedanke der Struktur, eines geschlossenen Gefüges notwendiger Abhängigkeiten. ' Vgl. dazu V. Brendal, Linguistique structurale, Acta Linguistica I (1939), p. 2 ff.; — N. S.Trubetzkoy, Gedanken über das Indogermanische, ebd., p. 81 f.

64

zur Annahme des Begriffs „ Sprachfamilie " im Sinne einer Abstammung mehrerer Sprachen von einer einzigen „Ursprache". Damit wird die auf dem VII. Internationalen Linguisten-Kongreß zu London (1952) gestellte Frage: Are there areas of affinité grammaticale as well as of affinité phonologique cutting across genetic language families? der .Klärung und Lösung näher geführt. Denn es handelt sich hier nicht um Grammatik (d. h. Syntax I) oder um Phonologie, ihre Durchkeuzungen bzw. ihre Eigenständigkeit. Wie die Aussprache bewiesen hat, gibt es wohl Verwandtschaft, d.h. U b e r e i n s t i m m u n g ohne genetische Abhängigkeit. „Affinité" ist dann, vom Standpunkt einer Typologie, eine strukturelle Sache der Ganzheit, wo nicht dieser oder jener gemeinsame Zug den Ausschlag gibt, sondern mehrere aufeinander abgestimmte Grundzüge, und zwar auf Grund g e i s t i g e r Verwurzeltheit. Inwiefern im übrigen Entlehnungen bzw. Angleichungen an nichtverwandte Sprachen stattgefunden haben, ist eine Frage zweiten Grades. Der Gedanke der Ganzheit gibt auch den Schlüssel an die Hand zu den Übertreibungen bzw. Unklarheiten, die mit dem Namen „Struktur" (und „Beziehung") verkettet sind. Historisch gesehen, sind es wesentlich zwei Motive, die den Gedanken der Struktur begünstigten: Dem Zuge der wissenschaftlichen Forschung zur ganzheitlichen Betrachtungsweise folgend, glaubte man, auch auf dem Gebiete der Linguistik entgegenkommen zu müssen, wie wir es oben (S. 63) bereits vermerkt haben. Das war e i n Anstoß. Eine andere Bewegung in dieser Richtung ging von der Einsicht aus, daß man in höchst einseitiger Weise die Flexion allein oder doch vorwiegend als Beziehungsmittel anerkannt hatte. Die Wortstellung war im System der Grammatik irgendwo, meist am Ende, bedacht worden; die Lehre vom Akzent war in der Wortlehre (Prosodie) untergebracht; die Wortart als Beziehungsmittel wurde nur hier und dort geahnt; desgleichen die „Leistungen" der Beziehungsmittel, vor allem außensyntaktische Beziehungen, Stellungnahmen zum Sachverhalt. Diese Vernachlässigungen drängten auf eine Korrektur hin, wenigstens was Wortstellung und Stimmodulation betrafen. Anstatt sie aber systematisch der Flexion gleichberechtigt an die Seite zu stellen, machte man sie zum tragenden Gedanken der Struktur. Das läßt sich historisch verfolgen. Bei F. d e S a u s s u r e sind sie immanent in der Idee der Syntagmen enthalten. InL. B l o o m f i e l d s „Language" (p. 163 ff.) tritt die Tatsache jedoch klar in Erscheinung: Unter der Rubrik „the meaningful arrangements of forms" (!) werden vier Wege der Anordnung linguistischer Formen aufgewiesen: Order — Modulation—Phonetic modification (z.B. do not — don t, run — ran) und Selection (z. B. exclamatory final pitchl Singular- und Pluralformen). Vgl. oben S. 46 f. Aber Name und Tatsache der „Flexion" treten zurück; der Umschlag ins GegenteilI Ähnlich 5 Otto. Sprachwissenschaft

65

L . H j e l m s l e v : „l'ordre des éléments" als „valeur générale" neben der Rektion8. Flexion eignete eben, wie man glaubte, dem System der Grammatik, jedoch Wortstellung und Stimmodulation der Struktur! Wir werden nunmehr versuchen, in einem geschichtlichen Rückblick auf die bisherige Forschung den Begriff der „ S t r u k t u r " in Abhebung von dem „ S y s t e m " der Grammatik weiter zu klären, wobei der Gedanke der Struktur immer im Hintergrund bestehen bleibt. B. Sprachtypen und Struktur Neben der Jahrhunderte alten Arbeit an der systematischen Erforschung der Einzelspradien und ihrer Darstellung im „System" der Grammatik, wesentlich für praktische Zwecke des wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Verkehrs, tritt in der Zeit um 1800 die neue „Sprachvergleichung" (s. oben S. 40, 52 f.: Universale Sprachwissenschaft) in die Erscheinung als eine wesentlich andere Sprachbetrachtung. Diese ist zunächst umfassend, universalistisch gerichtet; sie will die Gesamtheit der indogermanischen Sprachen erkunden, vom Studium des Vedischen und des Sanskrit ausgehend. Ja, sie will dann möglichst alle, auch die primitiven Sprachen, soweit bereits Einzelerkenntnisse vorliegen, in den Bannkreis ihrer Forschung einbeziehen und so umfassend wie irgend möglich sein. Der Ausgangspunkt des sammelnden und vergleichenden Studiums war die Morphologie der syntaktischen Formenlehre, d. h. der Flexion der Deklination und Konjugation; dazu der Vergleich auf dem Gebiete der Wortlehre, nach Form und Gehalt. Die Entzifferung und Ausdeutung der Texte drängte überdies zur Begründung einer umfassenden Lautlehre7. Die neue Wissenschaft ist von Anfang an g e n e t i s c h gerichtet. Der Aufweis verwandtschaftlicher Beziehungen, die Rückführung der einzelnen Sprachen auf eine gemeinsame Grundsprache, der verzweigten Stämme auf eine gemeinsame Wurzel, der differenzierten Konsonanten und Vokale auf die durch Vergleich erschlossenen Urlaute (Urgermanisch usw.) nimmt den breitesten Raum ein. Die genetische Auffassung weicht allmählich der Erforschung des T y p u s . Während man in den Naturwissenschaften von Gesetzen spricht, faßt man die empirischen Einzelfälle in den Geisteswissenschaften unter diesem und jenem „Typus" zusammen. Die verschiedenen Typen durch• L. Hjelmslev, „Principes*, p. 137; — E. Sapir, „Language", p. 123; — R. Jakobson, Travaux du Cercle Linguistique de Prague IV (1931), p. 165 (Betonung); — Knud Togeby, Structure immanente de la langue française, Kopenhagen 1951; table syntaxique, 2. ligne du contenu: phrases de modulation, 3. phrase de modulation: unité de modulation + phrase du contenu; und ganz zuletzt 12. mot: thème+ groupe de flexifs, und 14. groupe d'éléments: éléments (flexifs, racines). 7 Vgl. A. Meillet, Introduction à l'étude comparative des langues indo-européennes, Paris 1937, p. 453 ff. 66

kreuzen einander. Daraus folgt schon, daß es keine scharfen Grenzen zwischen ihnen gibt, sondern gleitende Ubergänge, im Gegensatz zu den physikalischen Gesetzen. Die Typen sind hypothetische Hilfskonstruktionen, haben also keine .Wirklichkeit": sie „existieren" nicht. Sprachtypen im besonderen sind keine Durchschnittstypen, auch keine Idealtypen im Sinne des Seinsollens, sondern W e s e n s t y p e n mit „zufälligen" Trübungen, von denen man absehen, die man „einklammern" kann. Die Wesenstypen sind Wellenbergen vergleichbar, mit verschiedenen Graden der Sättigung. Echte Wesenstypen haben einen g e i s t i g e n K e r n . Es sind also die charakteristischen Glieder der Wesenstypen nicht nur wechselseitig aufeinander bezogen, sondern auch auf den gemeinsamen Kern eines strukturierten Ganzen8. So drängt die morphologisch-genetische Betrachtungsweise einiger aufs Geratewohl zusammengeraffter Einzelzüge mehr und mehr zu einer auf das A l l g e m e i n - N o t w e n d i g e gerichteten Strukturforschung der Koexistenz und der Sukzession hin. Die universalistisch-vergleichende Wissenschaft wandelt sich zur A l l g e m e i n e n Sprachwissenschaft. Damit mündet die Aufstellung von Typen in eine Strukturforschung ein. Dieser Wandel ist an den folgenden geschichtlichen Beispielen, die ich möglichst übersichtlich darzustellen versuche, genauer und klarer einzusehen, die uns scheinbar vom Thema: System—Struktur abführen. Es wird sich jedoch im einzelnen erweisen, was unter der vom Ganzen ausgehenden „ S t r u k t u r - A n a l y s e " zu verstehen ist gegenüber der s y n t h e t i s c h vorgehenden und zum S y s t e m d e r G r a m m a t i k hinführenden Betrachtungsweise. Dann wird sich auch herausstellen, daß die Strukturforschung nicht von dem notwendigen Rückgriff auf die allgemein menschlichen sowie auch die besonderen Kategorien der menschlichen Sprache absehen kann, die Edm. Husserl (s. oben S. 4) als „ideales Gerüst" der menschlichen Sprache bezeichnet hat. I. „Genealogische Klassifikationen" der Sprachen a) F r . M ü l l e r (gest. 1898 in Wien) unterscheidet in seinem „Grundriß" folgende Klassifikationen der Sprachen: 1. M o r p h o l o g i s c h e K l a s s i f i k a t i o n , d.h. mit Rücksicht auf die „Form". Er gibt als Beispiel 8 Diesen Gedanken hat W. Dilthey im „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften", S. 138, folgendermaßen ausgedrückt, wo er vom Verständnis der geschichtlichen Welt spricht „als eines Wirkungszusammenhanges, der in sich selbst zentriert ist, indem jeder einzelne in ihm enthaltene Wirkungszusammenhang durch die Setzung von Werten und die Realisierung von Werten seinen Mittelpunkt in sich selber hat, alle aber strukturell zu einem Ganzen verbunden sind, in welchem aus der Bedeutsamkeit der einzelnen Teile der Sinn des Zusammenhanges der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt entspringt ..."

5'

67

a) August Schleidlers (1821—1868) überholte Einteilung in: 1) „ I s o l i e r e n d e Sprachen", die „aus ungegliederten, unveränderlichen Bedeutungslauten" bestehen, z. B. das Chinesische; 2) „ A g g l u t i n i e r e n d e Sprachen", d . h . zusammenfügende Sprachen, und zwar mittels „Beziehungslauten": Suffixen, Infixen oder Präfixen, die zur Wurzel gefügt werden, z. B. die finnischen, tatarischen Sprachen (die uralaltaischen Sprachen), außerdem das Baskische, die südafrikanischen oder Bantusprachen, d.h. „die meisten Sprachen". F. N. Finde erläutert die „Beziehungslaute" als „lose angefügte Bestimmungs- und Modifikationselemente", z. B. Türkisch dil (Zunge) — dil-im (Zunge mein); gei-mis (kommen gewesen = er ist gekommen); gelmis-tir-ler (kommen-gewesen-bleibend-e); 3a) D a s I n d o g e r m a n i s c h e ist s t a m m f l e k t i e r e n d , formelhaft ausgedrückt: R(radix)* (x = Ergänzung zum „Stamm") s (Suffix). 3b) D a s S e m i t i s c h e i s t formelhaft ausgedrückt: Rxs, p (Präfix) R x , R x i (Infix). Nach Finde ist das Arabische w u r z e l f l e k t i e r e n d (s. unten). Schon Humboldt hatte vor Schleicher die Bezeichnungen und Einteilungen: isolierend, agglutinierend, flektierend, einverleibend (s. unten). ß) Ähnlich F r i e d r i c h v o n S c h l e g e l , der zum Teil einer anderen Einteilung folgt. W i l h . v. S c h l e g e l unterscheidet wie sein Bruder s y n t h e t i s c h e Sprachen (z.B. Latein) und a n a l y t i s c h e Sprachen (z. B. Französisch). A u g u s t F r . P o t t (gest. 1887) fügt zu Schleichers Dreizahl noch 4) die einverleibenden Sprachen, in denen Wort und Satz nicht geschieden sind (Grönländisch). F r a n z B o p p (gest. 1867), ähnlich August Schleicher, sondert die semitischen Sprachen ab auf Grund der „inneren Modifikation der Wurzeln". M a x M ü 11 e r (Oxford, gest. 1900) bildet einen Ubergang zur genealogischen Klassifikation unter dem Gesichtspunkt des S t o f f e s (lexikalisch gesehen), statt der (syntaktischen) Form9. 2. G e n e a l o g i s c h e K l a s s i f i k a t i o n im Hinblick auf den Stoß (die Wurzel), und zwar auf Grund der Behaarung: Rassentypen. Soweit die Betrachtung der „Sprachen an und für sich". Und nun geht Friedrich Müller noch einen bedeutsamen Schritt vorwärts. Er schreitet fort zur Spradie als Ausdrude des Denkens: Psychologische Klassifikation, d. h. es wird das Verhältnis von „Stoff" und „Form", von Inhaltsbestimmungen und „Beziehungen" vom Satziiihalt aus gesehen. Nach • Umfassende Übersichten über die Sprachen der Erde geben W. Schmidt, Die Sprachfamilien und Sprachkreise der Erde, Heidelberg 1926, und E. Kieckers, Die Spxachstämme der Erde, Heidelberg 1931.

68

H. Steinthal unterschied W . v. Humboldt in diesem Sinne unvollkommenere und vollkommenere Sprachen. Doch damit greifen wir schon voraus 10 . Kritisch wäre zu dieser Klassifikation der Sprachen zu sagen: 1. Die Gegenüberstellung v o n m o r p h o l o g i s c h — g e n e a l o g i s c h ist verfehlt, insofern sich „morphologisch" auf die „Form" im syntaktischen Sinne bezieht, „ genealogisch" sich aber auf den Stoff, d. h. auf Wurzel bzw. Stamm und Begriffsbedeutung, auf die Gliederung der Bedeutungsfelder in den verschiedenen Sprachen, semasiologisch gesehen, beziehen soll. Es müßte also statt „genealogisch" heißen: .lexikalisch" bzw. .semantisch". Fr. Müller sagt zudem selbst (a.a.O., S. 82), .daß sowohl die morphologische als auch die psychologische Klassifikation in letzter I n s t a n z . . . auf die genealogische Klassifikation sich beziehen müssen". Denn der Gedanke der Genealogie steht überall im Hintergrund der „Klassifikation". Und diese „Verwandtschaft" ist und bleibt das große Problem 11 . Vgl. unten die Einteilung von Raoul de la Grasserie. Schließlich, wenn Fr. Müller „genealogisch" und „Stoff" zusammenstellt, so meint er eigentlich die ethnische Verwandtschaft von Sprachgemeinschaften, nicht „ Wesenstypen". Also hätte er hier besser nicht von „Stoff" sprechen sollen. 2. Im wesentlichen beachtet die klassische Einteilung der Sprachen nur ein einziges Beziehungsmittel: die an sich lautliche F l e x i o n , was sich aus der Herkunft der „Sprachvergleichung" im Rahmen der indogermanischen Sprachen erklärt. Unter „Form" wird also die Flexion verstanden. Hat doch W. v. Humboldt die Flexion „als das allein wahrhafte, reine Prinzip der Sprache" anerkannt. 3. Wenn Sprache als Ausdruck des D e n k e n s gesagt ist, so ist es wohl im Sinne der cogitatio Descartes' gemeint, also „Stoff" im lexikalisch-semantischen Sinne. Immerhin krankt diese Auffassung an einem gewissen Rationalismus der damaligen Psychologie. 4. Die B i l d u n g s w e i s e der Sprachmittel, z. B. die analytische Flexion der neueren Sprachen (frz. au père) gegenüber der synthetischen Form der klassischen (patri) können schwerlich zum Kriterium einer Einteilung erhoben werden; desgleichen die Unterscheidung: Suffixe, Infixe und Präfixe, insofern sie „Beziehungen und Inhalts-Bestimmungen" ausdrücken (H. Steinthal); wohl aber die Unterscheidung von „Stoff" und „Form" im üblichen Sinne, in der sich die angemessene Sonderung von Wort- und Satzlehre bereits abzeichnet. b) R a o u l d e l a G r a s s e r i e gibt folgende Gliederung, die ich in den Hauptpunkten wiedergebe. 1 0 Aug. Schleicher, Compendium der vergl. Grammatik der idg. Sprachen III (1876); — F . N . Finde, „Haupttypen", S.74. 11 Auch für A. Meillet, „Linguistique* I, p. 76 ff., 102 ff.; II, p. 53, 62, 64 f.

69

I. partie: classification des langues apparentées (IV, p. 377 ff.). Titre 1: classfications partielles et subjectives (in abstracto): langues ascendantes, fixes et descendantes — langues parentes, alliées et isolées — comme si elles n'étaient pas apparentées. Titre 2: classification totale, objective et généalogique des familles naturelles (I—XI). II. partie: classification des langues non-apparentées (V, p. 296 ff.). Titre 1: classification partielle et subjective: classification purement phonétique — psychologique — morphologique. Titre 2: classfication totale, naturelle et objective 12 . Raoul de la Grasserie wendet sich also mit gewissem Recht gegen die Einteilung: Sprachen mit und ohne Form als Hauptgesichtspunkt wie auch gegen die Unterscheidung: isolierende, agglutinierende und flektierende Sprachen als Ausgangsstellung, insofern als die letztere Einteilung allerdings die morphologische Betrachtungsweise, nicht aber die psychologische berücksichtigt. H. Steinthal habe nur den psychologischen, jedoch nicht den morphologischen Gesichtspunkt genügend beachtet, wenn er auch beispielsweise die Agglutination und die Flexion im Ansatz nicht übersehen habe. Die morphologische Einteilung berücksichtige wohl die mots vides (sinnentleerte, bzw. abgeschwächte Worte), sei aber zu eng. Was diese mots vides betrifft, so werden sie von den mots pleins (Begriffswörtern) unterschieden. Aber welches sind die mots vides? Präpositionen (z. B. dans!) gegenüber den mots de substance (z. B. inférieur/)? oder Partikeln (Gliedwörter, vgl. oben S. 18 ff.)? Wohl nicht die Flexionen synthetischer Art. Jedenfalls wird die Sonderung der mots de relation von den (konkreten, lokalen) Kasus nicht scharf durchgeführt (V.,p.315ff.). Eine größere Zahl der (sehr sparsamen) Beispiele, und zwar in den Originalsprachen, hätte viel zur Klärung beigetragen. Das System R. de la Grasseries wird gewissenhaft in allen Einzelheiten durchgeführt mit umfassendem Blick nach dem Stande der damaligen Forschung, legt also auch gerade die problematische Frage der Verwandtschaft zugrunde. c) E d w. S a p i r l s gibt unter Berûcksichtigùng der Begriffs- und Beziehungsbedeutungen eine neue Einteilung der Sprache, die ich den genealogischen anfügen möchte: 1. S i m p l e P u r e - r e l a t i o n a l l a n g u a g e s . Er erläutert diese Gruppe folgendermaßen: languages that keep the syntactic relations pure and that do not possess the power to modify the significance of their radical elements by means of affixes or internal changes, z. B. Chinesisch und Ewe. 2. C o m p l e x P u r e - r e l a t i o n a l l a n g u a g e s . Dazu gehören: languages that keep the syntactic relations pure and that also possess 1! Raoul de la Grasserie, »Classification*, bes. IV, S. 375f. 18

70

Edw. Sapir, „Language", p. 145 ff.

the power to modify the significance of their radical elements by means of affixes or internal changes, z. B. Polynesisch und Türkisch. 3. S i m p l e M i x e d - r e l a t i o n a l l a n g u a g e s , i.e. languages in which the syntactic relations are expressed in necessary connection with concepts that are not utterly devoid of concrete significance but that do not, apart from such mixture, possess the power to modify thé significance of their radical elements by means of affixes or internal changes, z. B. Bantu, (Französisch). 4. C o m p l e x M i x e d - r e l a t i o n a l l a n g u a g e s . Diese Gruppe wird gekennzeichnet: languages in which the syntactic relations are expressed in mixed f o r m . . . and that also possess the power to modify the significance of their radical elements by means of affixes or internal changes, z. B. Sanskrit, Englisch. Mit diesen vier Gruppen will Edw. Sapir die alten „technischen" Klassifikationen überbrücken (isolierend, agglutinierend und flektierend). Die hinzugefügten Anmerkungen zeigen, daß er sich der Vereinfachung seines Systems wohl bewußt ist. Wortstellung und Stimmodulation (am Einzelwort) werden wohl eingehend behandelt, aber nicht in die vier Gruppen einbezogen. IL Haupttypen Da sich E. L e w y sehr eng an die von F. N. F i n c k aufgestellten Haupttypen anschließt, stelle ich zunächst das beiden Gemeinsame in einem übersichtlichen Schema voraus und versuche, die wesentlichen Züge herauszuschälen, die zur Grundlegung echter Wesenstypen überleiten 14 . Geht es doch beiden Sprachforschern darum, die bestimmenden Grundlinien, die charakteristischen Einteilungsprinzipien wesentlicher Typen herauszuarbeiten. E. Lewy übt Kritik an H. Steinthals Weg, auf dem er zu seinen sechs Typen gekommen war. Misteli-Steinthal, „Charakteristik", sagen für unterordnend (das Uralaltaische): „ a g g l u t i n i e r e n d " und fassen das Semitische und Indogermanische als „ f l e k t i e r e n d " zusammen. Das Georgische als Typus fehlt. E. Lewy: F. N. Finck: —(wort)isolierend O Chinesisch —wurzelisolierend gleichordnend NO Grönländisch einverleibend einverleibend und SW Ssubija anreihend anreihend SO Türkisch unterordnend unterordnend Samoanisch Eurasiens pstammisolierend —überordnend W und Arabisch 4-wurzelflektierend SW Griechisch Lstammflektierend flektierend Georgisch Eurasiens gruppenflektierend

E

, 4 F. N. Finck, „Haupttypen"; — Ernst Lewy, Die Lehre von den Spraditypen, Studium Generale IV (1951), S. 415 ff.

71

Die edeigen Klammern weisen auf sprachliche Gemeinsamkeiten bzw. Gegenstücke zwischen verschiedenen Typen hin, die gerundeten Klammern auf sprachgeographische Zusammenhänge15. In seinem höchst lehrreichen Buch, .Der Bau der europäischen Sprachen", faßt E. Lewy seine Untersuchungen (S. 117) dahingehend zusammen, daß er fünf Gruppen von Sprachen unterscheidet, und zwar je nach der geographischen Lage, ohne Bezug auf genealogische Verwandtschaft. Es fragt sich nun, ob F. N. Finde bzw. E. Lewy mit der obigen Charakteristik 1. den tragenden Grundzug und damit den geistigen Kern der angegebenen Typen getroffen haben; 2. Welche charakteristischen Züge sonst noch mit dem Grundzug wesenhaft verbunden sein mögen, um die spezifische Eigenart eines strukturierten Typus zu konstituieren. Da es sich hier zunächst um die Gewinnnung umfassender E i n t e i l u n g s p r i n z i p i e n für die Typenforschung handelt, lasse ich es dahingestellt, inwiefern die Beobachtungen beider Sprachforscher im einzelnen treffend sind (z. B. F. N. Fincks Darlegungen über das Chinesische). Dazu sind folgende Schwierigkeiten nicht zu verkennen: Erstens sind die meisten der herangezogenen Sprachen noch nicht genügend erforscht, um ein einigermaßen sicheres Urteil fällen zu können, besonders auf dem Gebiet des musikalischen und dynamischen Akzents. Zweitens ist der mit der üblichen Terminologie erfaßte Tatbestand nicht eindeutig klargestellt, z. B. auf dem Gebiete der Wortart als Beziehungsmittel. So geht die übliche Meinung dahin, die Wortart an der Wortbildung, d. h. an einer lautlichen Kennzeichnung erkennen zu können, sonst aber das Vorhandensein von Wortarten zu leugnen (s. oben S. 27,33). Und wenn die Wortart an der Struktur des Satzes und zwar in der Nachbildung der vorgestellten Wirklichkeit zu erkennen ist, so deckt sich diese „Struktur" nicht mit dem Problem der Wortstellung. Drittens sind die von beiden Gelehrten aufgewiesenen Kennzeichnungen der Typen n i c h t e i n h e i t l i c h aus einem beherrschenden P r i n z i p abgeleitet und daher nicht nur willkürlich, sondern auch einseitig. Diese Kennzeichnungen betreffen nämlich: a) den G r a d d e r A u s g l i e d e r u n g des Satzgedankens, z. B. einverleibend für das Grönländische: Fisch—Werkzeug—Geeignetes—Er15 In einem bemerkenswerten Aufsatz, Uber das Verhältnis von Sprache, Rasse und Klima-Zone, Forsch, u. Fortschr. XIII (1937), S. 162 ff., hat Joh. Lohmann dargelegt, daß sich die Kerngebiete des P a s s i v i s m u s , wesentlich Baskisch und kaukasische Sprachen (z. B. von-der-Frau es-wird-getragen das-Kind) und des Gegenbildes davon, des aktivistisch-indogermanischen Typus, in einem breiten Gürtel von West—Nordwest nach Ost—Südost um die Mitte der eurasisch-afrikanischen Landmasse unserer Erdkugel herumziehen, wobei der aktivistische Typus über den passivistischen gesiegt hat.

72

langung—Suchung—meine = ich suche mir etwas zu einer Fischschnur Geeignetes zu verschaffen. Ich sehe hier von der Anhäufung unselbständiger, anschaulicher Suffixe ab. Das Ganze trägt gewissermaßen den Charakter eines Wortes. Das Gegenteil wäre das Indogermanische (Griechische), sowie auch die Bantu-(Ssubija-)Sprache; b) die W o r t s t e l l u n g als Beziehungsmittel. Sie ist entweder u n t e r o r d n e n d (besser: vorordnend) wie im Deutschen unser Vater; als Satzgliederung im Türkisdien (Ural-Altaisdien), z. B. morgen komm-end nachseh—end—mein = morgen komme ich und sehe ich nach (s. o. S. 23). Der ganze Satz ist also vom Verb her aufgebaut, von der Partizipialkonstruktion (bzw. vom Gerundium) her. Ähnlich das Japanisdie, wo man aber weder von einem Partizipium noch Gerundium, sondern von einer Subordinationsform (H. Zadiert) gesprochen hat. Wegen der unselbständigen Bestimmungs- und Modifikationselemente, die mit dem Stamm nicht unlöslich verbunden sind, wie es bei der Flexion der Fall ist, hatte man diesen Typus früher als agglutinierend bezeichnet. Oder die Wortstellung ist ü b e r o r d n e n d (nachordnend) wie das Deutsche Vater unser (pater noster) als Satzgliederung im Samoanischen (nach E. Lewy), z. B. 'ua tali oti = getan warten Tod, also Prädikat + Objekt. F. N. F i n c k sieht den Typus von einem anderen Kennzeichen her; er nennt ihn s t a m m i s o l i e r e n d , insofern einzelne Stammwörter .ohne Zeichen der Zugehörigkeit" — gemeint ist: Flexion! — nebeneinandergestellt sind. Demnach wäre E. L e w y s Charakterisierung »überordnend" treffender. Es scheint dem Wesen der Unterordnung bzw. Uberordnung zu widersprechen, wenn nach J. L o h m a n n (Lexis II, 1, S. 132 ff.) die unterordnenden Sprachen Suffix-Sprachen, die überordnenden Präfix-Sprachen (InfixSprachen) sind, wobei „zentralordnende" Sprachen wie das klassische Chinesisch als zwischen den Extremen stehend angegeben werden. c) Die F l e x i o n als Beziehungsmittel. E . L e w y faßt das Arabische (Semitische), Griechische (Indogermanische) und Georgische als „flektierende Sprachen" zusammen, während F. N. Finck im einzelnen Wurzel-, stamm- und gruppenflektierend unterscheiden möchte. Man könnte die lose angefügten Suffixe der Agglutination (Altaisch) neben die Flexion stellen. Wenn man von „isolierenden" Sprachen geredet hat, z. B. vom wurzelisolierenden Typ des Chinesischen oder vom stammisolierenden Typ des Samoanischen, so müßte das genauer heißen: „nicht flektierend"; denn es wäre näher zuzusehen, erstens, ob wirklich keine Flexion vorhanden ist, was z. B. für das Chinesische gar nicht zutrifft; zweitens wäre zu prüfen, mit welchen Mitteln diese beiden Sprachen arbeiten 18 : Wort" Siehe meine diesbezüglichen Ausführungen auf dem VII. Intern. LinguistenKongreB.

73

Stellung, Akzent bzw. Wortart. Diese Sprachen sind mithin nicht .formlos", da Wortstellung, Akzent und Wortart, neben Flexion, auch .Formen" sind im Sinne von „Beziehungsmitteln", deren keine Sprache schlechthin entraten kann. d) F. N. F i n c k (auch E. Le w y) hebt die kategoriale Einreihung von Gegenstandswörtern in eine Bedeutungs- oder Beziehungsklasse mit' Hilfe eines Präfixes als besonders charakteristisch für die als .anreihend" gekennzeichnete Ssubijasprache (Bantu) hervor, z. B. tsi-samo = DingBaum, in-zoka = Organismus (Tier, Pilanzej-Schlange, Sg.: mu-sisu = Person-Knabe, PL: ba-sisu — Personen-Knabe. J o h. L o h ma n n (Lexis II, 1, S. 114) hat eine Einteilung der .Sprachen mit Kasus" bzw. »Sprachen mit Klassen" gegeben. Doch wird die Einteilung dadurch beeinträchtigt, daß er behauptet, „es macht für die .Sache selbst' keinen Unterschied, ob der Dativ, wie in dem englischen Satze the iather sent his son a letter, bloß durch die Stellung (I) der Wörter ausgedrückt ist, oder durch eine .Präposition' (to his son) ..Vgl. oben S. 37. e) Auch die W o r t b i l d u n g , z. B. Präfix- und Suffixsprachen, die analytische bzw. synthetische Bildung der Kasus, sind als charakteristische Merkmale bestimmter Typen herangezogen worden 17 . So verweilt F. N. Finde ausführlich bei der Darstellung der sogenannten .Vokalharmonie", d. h. der Anpassung des Suffix-Vokals an den Stamm-Vokal im Falle der Pluralbildung, z. B. Türkisch kul-lar (Sklaven), ot-lar (Kräuter), aber ev-ler (Häuser), dil-ler (Zungen). Dies Kennzeichen ist wohl schwerlich als ein entscheidender Grundzug eines Typus anzusprechen. Zusammenfassend kann man sagen, daß die verschiedensten Gesichtspunkte, ohne ersichtliches Ableitungsprinzip, als ausschlaggebende Kennzeichnungen der verschiedenen Haupttypen herausgestellt sind: a) der Grad sprachlicher Ausgliederung des Satzgedankens; b) und c) die Verwendung von Beziehungsmitteln: Wortstellung und Flexion; d) Einreihung in eine Bedeutungs- oder Beziehungsklasse; e) Wortbildung. Hierbei ist von der Unterscheidung: Tattypus — Empfindungstypus (Bloomfield, a.a.O., p. 174: action-type — sensation-type) abgesehen worden, z. B. ich sehe — mir erscheint, ich höre — mir erklingt, ich töte ihn — er erstirbt mir. Wir sind im Deutschen an die Tatverben so gewöhnt, daß wir sie als „natürlich" auffassen — zumal uns die neuere Psychologie lehrt, daß auch der Akt der Wahrnehmung den Charakter der Spontaneität trägt. Ebenso sind wir nicht eingegangen auf die von F. N. Finck am Georgischen herausgestellten vier Satzgestaltungen: " W. W u n d t , „Die Sprache* II, S. 437: zwölf Gegensatzpaare. 74

1. Der-Vate r Ausgang 2. Von-dem-Vater

schreibt Tatverb (Präsens) er-sdirieb

Ausgang: Aktivus, Ergativus Tatverb Ausgang:Dativ 4. Von-seiten-desVaters

einem-Briefe | Ziel (Dativ) ein-Briei

Ziel: Nominativ ein-Brief

Empfindungsverb wird-gesdirieben

Ziel: Nominativ ein-Brief18

Ausgang: Genetiv Tatverb: Passiv

Ziel: Nominativ

(d. h. einen Brief) = der Vater schrieb einen Brief = der Vater hat einen Brief geschrieben = vom Vater wird ein Brief geschrieben

Wir haben von diesen beiden Fällen (Tat- bzw. Empfindungstyp und den vier Arten der Satzgestaltung) abgesehen, da hier eine verschiedene Art des D e n k e n s vorzuliegen scheint, wovon später zu handeln ist: inhaltliche Unterscheidung verschiedener „Denktypen"19. Bedenkt man nun, daß die erwähnten Arten von Beziehungsmitteln, Wortstellung und Flexion, wohl auf ihre i n n e n s y n t a k t i s c h e n Leistungen hin berücksichtigt sind, daß aber die vorstehende Einteilung der Haupttypen die anderen L e i s t u n g e n (die besondere Art der außensyntaktischen Leistung, die Kennzeichnung der eigentlichen Mitteilung sowie der Stellungnahme zum Satzgedanken) gar nicht beachtet und schließlich einzig und allein vom s y n t a k t i s c h e n Gesichtspunkt ausgeht, also die Art und Gliederung der Wortfelder, d. h. das weite Gebiet der Wortlehre, des „Stoffes" in keiner Weise berücksichtigt44, so ist es wohl klar, daß die Aufstellung von Typen im Sinne F. N. F i n c k s und E. L e w y recht einseitig ausgefallen ist: sie können noch nicht den Anspruch erheben, echte Wesenstypen zu sein, zumal auch die Charakteristika der verschiedenen Typen nicht aufeinander bezogen sind und die Beziehung auf einen geistigen Kern fehlt (vgl. S. 64). 18 Vgl. Joh. Lohmann, Uber das Verhältnis von Sprache, Rasse und Klimazone, Forsch. u. Forts dir. XIII (1937), S. 162: Anm. 15 oben auf S. 72. w Es handelt sich auch weniger um die sprachliche Ausformung als um den Grad der Ausgliederung von Gedanken, wenn in den Sudansprachen die einzelnen Phasen einer Handlung angegeben und nicht wie im Deutschen zusammengezogen werden; also nicht: Ich komme aus der Stadt, sondern: Ich gehe aus der Stadt, komme an. Nach C. Meinhof, „Ergebnisse", S. 192. Darüber gibt Marty, „Untersuchungen" I, S. 534 ff., lehrreiche Auskunft. 10 Dagegen beachten bereits Schleicher (s. oben S. 69) und Steinthal-Misteli (z.B. a.a.O., S.346f.) den „Stoff", d.h. den „Wortvorrat".

75

In einer Allgemeinen Sprachwissenschaft wäre noch hinzuweisen auf die bekannten Unterscheidungen O. Jespersens („Philosophy") zwischen „junction" (a iuriously barking dog) und „nexus" (the dog was barking Iuriously bzw. I heard the dog bark Iuriously), zugleich auf die Lehre von den „three ranks"; auch seien in diesem Zusammenhang nochmals erwähnt F. Brunot, .La pensée et la langue", sowie Ch. Bally, .Traité de stilistique française" neben „Linguistique générale". Fürst N. Trubetzkoy sondert drei Gruppen: déterminant et déterminé, sujet et prédicat und syntagmes sociatifs (deux sujets, deux prédicats bzw. deux déterminants). In dieser Richtung war bereits A. Sechehaye vorgestoßen*1. Dazu G. Gougenheims und J. Damourette/E. Pidions Einteilungsversuche; letzteres Werk mit sehr vielem Material sowie einer recht esoterischen Terminologie2* (siehe auch oben S. 55 ff., 59). III. Wesenstypen (Ubergang) Die Idee der genealogischen Sprachverwandtschaft sowie einer Herausarbeitung von „Haupttypen" auf Grund einiger rein syntaktischer Gemeinsamkeiten hat sich als unzureichend erwiesen. So bleibt uns noch die Möglichkeit, eine allgemeine Typik der menschlichen Rede aus der «Verschiedenheit des menschlichen Geistes" (F. N. Finde) abzuleiten, d. h. aus den sprachbildenden Kräften der verschiedenen Völker. Dieser Gedanke scheint auch W. v. Humboldt vorgeschwebt zu haben. Aber was ist das geistige Wesen eines Volkes? Welches sind die sprachbildenden Mächte? Was bedeutet die „innere Sprachform"2®, die „Weltansicht" eines Volkes24? 11

Fürst N. Trubetzkoy, Le rapport entTe le déterminé, le déterminant et le défini. Mélanges de linguistique offerts à Ch. Bally, Genf 1939; — Alb. Sechehaye, Essai sur la structure logique de la phrase, Paris 1926, Chap. II—IV; doch ist der Satz keine Verbindung (synthèse), sondern eine Ausgliederung. " G. Gougenheim, Système grammatical de la langue française, Paris 1938 (Dritter Teil, p. 101 ff.: structure du groupe verbal; structure du groupe nominal; ordre des éléments de la proposition; place des propositions subordinées); — J. Damourette/E. Pichon, Des mots à la pensée, Essai de grammaire de la langue française, Paris I (1911—1927), p. 67 ff., und besonders II (1911—1930), p. 7 ff. — Vgl. auch W. E. Collinson, Some Recent Developments of Syntactical Theory, „Transactions", London 1943, p.70ff. M über die „inneie Sprachform" ist viel gedacht und noch mehr geschrieben worden. Vgl. dazu A. Marty, „Untersuchungen" I, IV. Kap.; — W. Porzig, Der Begriff der inneren Sprachform, Idg. Forsch. 41 (1923), S. 156 ff., unterscheidet vier Auffassungen: die positivistische, die psychologische, die phänomenologische und die als Prinzip der „Auswahl des explizite Auszudrückenden". Er selbst versteht unter innerer Sprachform „die mit der äußeren Sprachform in Wechselwirkung stehenden eigentümlichen Apperzeptionsformen einer Sprachgemeinschaft", gewissermaßen den „Stil" einer Kultur und ihrer Erzeugnisse. Darauf ist in diesem Kapitel noch zurückzukommen.

76

a) F. N. F i n c k stellt die entscheidende Frage: »Was muß denn den Sprachbau unbedingt in entscheidender weise beeinflussen?" Und gibt zur Antwort, daß das P s y c h i s c h e das Wesentliche sei. Er knüpft daher an die alte Lehre der vier Temperamente an: das sanguinische, das cholerische, phlegmatische und melancholische Temperament. Von dem irischen Forscher James Byrne angeregt, ordnet er in einer großartigen Uberschau „die hinreichend bekannten Sprachen" unter zwei Spannungspaare: 1) Vorherrschen der V o r s t e l l u n g e n , bzw. Vorherrschen der Gefühle, 2) Geringe bzw. große R e i z b a r k e i t . Beide Male sind Ubergänge vorgesehen. Das Indogermanische hält beispielsweise die Mitte zwischen den Vorstellungen und Gefühlen, und ist von mittlerer Reizbarkeit. Im besonderen wird das Germanische (Schema auf S.48) durch Vorherrschen der Gefühle bei geringerer Reizbarkeit gekennzeichnet25. Daß F. N. Finde den engen Rahmen seiner Klassifikation der psychischen Phänomene selbst sprengt, bezeugt die von ihm gegebene Charakterisierung der deutschen Sprache: ein Zeugnis ungewöhnlicher Willensstärke und Geisteskraft! (vgl. a.a.O., S.93, 103). Demnach ist seine Charakterisierung vom Gesichtspunkt der „Geistigkeit" eines Volkes etwas karg. Ja, von sprachbildenden Kräften ist keine Rede: Vorstellungen usw. gehören den f u n k t i o n a l e n Phänomenen der Seele an. b) W. W u n d t knüpft an Humboldts Gedanken der inneren Sprachform an26 und glaubt, daß dieser Begriff — oder diese Idee einer idealen Form, der das formenreiche Griechisch sehr nahe komme — „durchaus an den der äußeren Sprachform gebunden" ist. Denn unter der inneren Sprachform könne man „nur die psychischen Motive verstehen, die diese äußere Sprachform als ihre Wirkung" hervorbringe. Jede Sprache sei daher „Ausdruck einer bestimmten geistigen Organisation" des Menschen 14

Wilhelm von Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, „Gesamm. Schriften" V, S. 384: „Es liegt in jeder Sprache eine eigentümliche Weltansicht.* u Ähnlich vergleicht W. v. Humboldt das Deutsche mit dem Griechischen und Lateinischen und sagt dazu: „Unsere Sprache hält eine gewisse Mitte." Man könnte sie die „menschlichste" heißen, insofern sie Ausdruck für den (philosophischen) Gedanken sowie des Herzens ist. So auch Jos. Weisweiler, Leitgedanken zu einer Geschichte der deutschen Sprache, Geistige Arbeit 10 (1943), Juliheft; er nimmt Humboldts Gedanken wieder auf: „Das Deutsche ist die S p r a c h e d e r M i t t e " zwischen den beiden klassischen Sprachen, zwischen dem Englischen und Französischen, zwischen den romanischen und slawischen Sprachen. M W. Wundt, „Die Sprache" II, S. 439 ff.; — Wilh. v. Humboldt, „Ges. Schriften" VI, S. 92 ff.; III, S. 241 ff.; VII, S. 42: „Die Sprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache." 77

(a.a.O., S. 441, 458)iT. In diesem Sinne unterscheidet Wundt drei komplexe Typen: a) Zusammenhang des spradilidien Denkens28. Dieser Gesichtspunkt birgt zwei Möglichkeiten in sich mit den schon bei F. N. Finde auftretenden Zwischenstufen (.Der deutsche Sprachbau", S. 21): 1. f r a g m e n t a r i s c h e s Denken, bei dem alle „verbindenden Partikeln" fehlen und nur die Hauptvorstellungen ausgedrückt sind, z. B. die Erzählung eines Buschmannes: Busches Mann - hier da gehend laufen zu Weißem, er Weißer gebend - hin Tabak, er da gehend rauchen etc. Sollte es wirklich auf die „verbindenden Partikeln" allein ankommen? 2. d i s k u r s i v e s Denken mit vollständigem (besser: vollständigerem) Ausdruck aller Bestandteile, also auch der verknüpfenden Sprachelemente. Dieser Typus umfaßt zwei Formen: Die synthetische Form, in der die Einheit der Gesamtvorstellung überwiegt; Satz und Wort sind entweder unvollkommen geschieden, oder das Wort zeichnet sich durch zusammengesetzte Formbildung aus (agglutinativer Bau). Die analytische Form, bei der die einzelnen Vorstellungsinhalte sdiärfer gesondert sind; die wechselseitigen Beziehungen sind relativ selbständig (isolierender Bau). ß) Richtungen (d. h. Auffassungsweisen) spradilidien Denkens29. Sie umfassen: 1. die g e g e n s t ä n d l i c h e , bzw. die z u s t ä n d l i c h e Art, z.B. seine Tränen bzw. er weint. So sind im Griechischen Verbum und Nomen scharf geschieden, während im Jakutischen die Nominalbildungen in die Verbalbildungen hinüberreichen. 2. das o b j e k t i v e , bzw. s u b j e k t i v e D e n k e n als Zwischenoder Unterstufen, je nachdem ob die betreffenden Gegenständlichkeiten und Zustände ohne Beziehung oder mit Beziehung zum denkenden oder handelnden Subjekt aufgefaßt werden. Im ersteren Falle begünstigt die Sprache attributive Wort- und Satzverbindungen, den Objektskasus etc.; im letzteren Falle prädikative Verbindungen, den Subjektskasus etc. y) Inhalte des spradilidien Denkens. Hier bewegen wir uns nicht mehr 17

So kann denn auch H. Liebrucks sagen: Sobald das Relationsgefüge unseres Daseins sich ändert, ändert sich auch immer die Gestalt der Sprache: Die .Struktur der Sprache muß (also) die gleiche sein wie die der gesamten Weltbegegnung des Menschen". 88 Wundt sagt also .Denken" im Sinne von .psychischen Motiven" und nicht, daß hinter der äußeren Sprachform eine .Sprachform" steht. Vgl. A. Marty, .Untersuchungen" I, S. 171 f. " Marianne Staub sucht die beiden Termini »Richtungsbegriff, Richtungsausdruck" (Bern 1949) durch Vergleich des Französischen und Deutschen zu klären und so einen tieferen Einblick in die Geistigkeit der beiden Völker zu gewinnen.

78

auf syntaktischem Gebiete, sondern wesentlich in dem der Wortlehre: es handelt sich um Vorstellungs- und Begriffsgehalte. 1. K o n k r e t e s Denken. Es ist charakterisiert durch den Mangel an zusammenfassenden Bezeichnungen. Es bevorzugt Worte von anschaulichen Vorstellungen, z. B. Hand statt fünf, besondere Ausdrücke für die stehende, sitzende bzw. gehende Person sowie zahlreiche Partikeln wie hier, dort etc. 2. A b s t r a k t e s Denken, im nicht streng logischen Sinne, z.B. Mensch als zusammenfassender Begriff statt Mann und Weib und Kind, der allgemeinere Plural statt des Dual und Trial etc. Besondere Formen des abstrakten Denkens sind: Das klassifizierende Denken, wie es in den Klassenpräfixen der Bantusprachen (s. oben S. 74) zum Ausdruck kommt. Das generalisierende Denken geht über das klassifizierende noch hinaus, indem die Sprache für den allgemeinen Begriff einen eigenen Ausdrude schafft — Unsere kritische Stellungnahme knüpft an A. M a r t y s Kritik an. Wundt selbst schränkt zunächst seine Behauptung ein, daß sein Nativismus auf einen „genauen" Parallelismus von Denken und Sprechen hinauslaufe. Denn er sagt ausdrücklich (a.a.O., S. 442), daß das Verhältnis der inneren zur äußeren Sprachform keineswegs so zu denken sei, daß jeder äußeren Eigenschaft der Wortbildung und Satzfügung auch eine innere gegenübergestellt werden könnte und daß eine Sprache ihre äußere Form festhalten könne, wenn die Sprachform längst darüber hinausgeschritten sei (S. 446, 450). Also könne die innere Sprachform dem in der Sprache geformten Stoff »im allgemeinen adäquat sein", da keine „eindeutigen" Zusammenhänge vorliegen' 0 . Wundt könnte also Martys Ausspruch, es bestehe „kein strenger und verläßlicher Parallelismus" zwischen Sprache und Denken („Ges. Schriften" II, 2; S. 62) wohl unterschreiben. Andererseits leugnet A. Marty nicht, daß das Denken der Völker in ihren verschiedenen Sprachen unter Umständen gewaltig verschieden sei, ja er glaubt auch, „die Summe der Bedeutungen unserer Namen und Aussagen repräsentieren wirklich die Weltanschauung des Volkes, das M Ähnlich E. Lewy, „Bau der europäischen Sprachen", S. 116; und Die Lehre von den Sprachtypen, S. 420: „Geistesart und Sprachgestaltung eines Volkes stehen eben nidit in genauer Verbindung, weil der Geist ringt, sich auszudrücken, und die Sprache Unausgedrücktes bewahrt, Erworbenes mitschleppt." — Auch Edw. Sapir, „Language", p. 221 ff., äußert Bedenken gegen die Annahme engerer Beziehungen zwischen Sprache, Rasse und Kultur. In seiner Rektoratsrede (Bern 1952, S. 25 ff.) wägt A. Debrunner vorsichtig die verschiedenen Stellungnahmen zum vorliegenden Problem ab. Vgl. auch die Aussprache über die Frage, ob und wieweit kulturelle und soziale Systeme der Vorzeit aus sprachlichen Tatsachen erschlossen werden können; „Preliminary Reports", p. 159 ff.

79

die Sprache r e d e t . . w o b e i Marty allerdings einen Unterschied zwischen „Denken" und „Auffassen" macht. Damit mindern sich die Gegensätze. Marty bestreitet nun, daß es verschiedene „Denkformen" seien, in denen dieser Unterschied bestehe, und daß solche verschiedenen „Denkformen" in dem verschiedenen Bau der Sprachen als ihre „Wirkung sich äußerten". Soweit er Wundt recht gibt, seien diese Unterschiede nicht solche der Form, sondern der M a t e r i e und kehren bei Menschen der verschiedensten Sprachen im wesentlichen wieder. Darüber hinaus beruhe aber Wundts Auffassung verschiedener Denkformen auf Verwechslungen81. Dazu wäre zu bemerken: 1. Wenn Marty („Uber Wert und Methode", S.59) auf dem Gebiete des V o r s t e l l e n s u n d d e s U r t e i l e n s (z. B. anerkennend — negierend, apodiktisch — assertorisch, etc.) feststellt, daß dabei Unterschiede wenig zu tun haben mit dem verschiedenen Bau der Sprachen, so hat er recht, trifft aber nicht Wundts sprachpsychologische Gesichtspunkte, denn „Denken" und „Denkformen" ist wieder im Sinne der cogitatio Descartes' gemeint. Hier liegt der Ansatzpunkt des (beiderseitigen) Mißverstehens. 2. Mit vollem Recht nimmt Marty Anstoß an Wundts Gegenüberstellung von k o n k r e t e m u n d a b s t r a k t e m D e n k e n , z.B. Hand statt iüni. Der Einwand wäre vermieden, wenn Wundt statt konkret: „vereinzelnd" (anschaulich) und statt abstrakt: „allgemeiner" gesagt hätte. Marty mildert auch seinen Widerspruch, indem er (ebd. S. 64 ff.) selbst „relativ konkret", bzw. „weniger allgemein" sagt, bzw. von „Graden" der Abstraktion spricht. Denn wenn auf primitiver Stufe mehrere Ausdrudesweisen vorliegen, je nachdem ob die Person steht oder sitzt, so liegt eben hier die Beachtung besonderer (anschaulicher) E i n z e l h e i t e n vor, die dem betreffenden Idiom ein eigenartiges Gepräge gibt. Soweit die Terminologie! Sachlich gibt Marty zu, daß Sprachen kulturell „tiefstehender Völker" weniger Namen mit sehr allgemeinen Begriffen aufweisen,was sich von vornherein erwarten läßt, z. T. weil kein Bedürfnis dafür besteht, was Wundt eben die „psychischen Motive" nennt, welche die „äußere Sprachform" als ihre Wirkung hervorbringt. 3. Auch können wohl Bedenken an Wundts Gegenüberstellung von Inhalt und Form auftauchen. Es wäre eben angemessener gewesen, „lexikalisch" (begrifflich), bzw. „syntaktisch" zu sagen. Denn beim abstrakten — konkreten Denken handelt es sich um semantische, in den beiden anderen Fällen um syntaktische Gesichtspunkte. " A. Marty, über Wert und Methode einer allgemeinen beschreibenden Bedeutungslehre, hrsg. von Otto Funke, Bern 1950, S. 59 ff.; vgl. „Untersuchungen* I, S. 169 ff. und „Gesammelte Schriften" II/2, S. 82 f.

80

4. Ich glaube wohl, daß Martys Behauptung, logisch gesehen, zu Recht besteht: Man kann den Begriff der Zwei- oder Dreizahl — Dual bzw. Trial — nicht haben, ohne zuvor den der Mehrheit zu haben. Es fragt sich aber, wie es sprachlich-entwiddungsgeschichtlich steht. Denn Wundt wie Marty vergleichen primitive Sprachstufen phylogenetischer Entwicklungen immer wieder mit denen der ontogenetischen Reifung. Und da ist es eine erwiesene Tatsache, daß Kinder wohl Mehrheiten hinweisend zählen: eine Kugel, zwei Kugeln etc., doch ohne anfangs den Allgemeinbegriff der Summe zu besitzen, d. h. es entwickeln sich sprachlich die Ordinalzahlen vor den Kardinalzahlen. Wie verhält sich dazu der Begriff der Mehrheit? 5. Marty sucht Wundts Darlegungen über das gegenständliche, bzw. zuständliche Denken — seine Träne bzw. er weint — dadurch zu entkräften, daß er auf seinen Begriff der figürlichen (bzw. konstruktiven) inneren Sprachform zurückgreift32. Unter der figürlichen inneren Sprachform versteht er gewisse „Begleitvorstellungen", deren „ursprünglicher Sinn noch durchschimmert", z. B. Kiel (statt Schiff), sich brüsten, Storchschnabel als Apparat, zur Vergrößerung bzw. Verkleinerung von Zeichnungen. Solche vermittelnden „Bilder" gehören nicht zum (ausgedrückten) Denken, sondern sind rein sprachlich nicht mehr der Bedeutung zugehörig. Aber damit wird die Fragestellung nur verschoben; denn diesen vermittelnden Begleitvorstellungen muß doch ursprünglich selbst ein mehr oder weniger bewußter Sinn eignen. Also wird man versucht weiterzufragen, welche besondere Art des Denkens, d. h. welche besonderen psychischen Motive diesen Ausdruck vermittelt haben. Und wenn Marty mit gewissem Recht (a.a.O., „Unters." I, S. 159 u. II/2, S. 83 f.) die Geltung von Humboldts Beispielen 83 ) mit dem Hinweis einschränkt, daß im Indischen „der Elefant bald der Zweizahnige, bald der Zweimaltrinkende, bald der mit einer Hand versehene heißt" und dann hinzufügt, daß hier in Wahrheit „nicht bloß derselbe Gegenstand, sondern auch derselbe Begriff bezeichnet" sei, so offenbart sich doch in den genannten Umschreibungen auch eine bestimmte Art der Anschauung, verschiedene Arten von Bildern, was Marty wohl auch gesehen hat. Und darum handelt es sich hier. 6. Schließlich drängt die deskriptive Betrachtungsweise auf die Ergänzung durch die g e n e t i s c h e hin, zumal beide Forscher immer wieder nach den Zusammenhängen der verschiedenen Ausdrucksweisen fragen, nach den psychischen Motiven des Sprechenden, die doch jeden Wandel hervorgebracht haben. Wenn das konkrete Auffassen, d. h. das 4 2 A. Marty, „Untersuchungen" I, S. 121 ff., 129 ff., 134 ff., 138 ff., 144 ff., 173 ff.; „Psyche und Spradistruktur", S. 89 ff., 92 ff.; — Otto Funke, „Innere Sprachform", III. u. V. Kap.; — vgl. A. Marty, „Ges. Schriften", 1/1, Einleitung S. 30 (O. Kraus). 3 3 W . v. Humboldt, „Ges. Schriften" VII, S. 89 f.

Schönheit, wie man umgekehrt von Substantiven andere Wortarten ableiten kann, z. B. der Trotz trotzig, trotzen, trotz. Diese Möglichkeit kategorialer Umwandlung im Rahmen der Satzstruktur gilt wechselseitig zwischen allen vier fundamentalen Wortarten und ihren weiteren Differenzierungen, z. B. glücklich- glücklicherweise. Das hat vielleicht John Locke auch gemeint, wenn er bemerkt, daß komplexe Vorstellungen (bzw. essences of mixed modes) der Bequemlichkeit zwecks Verständigung dienen 1 . II. Zwischen Bedeutung und Bedeuten scheidet man wohl tunlichst in dem oben angegebenen Sinne (S. 44), d. h. je nach (historisch gewordenem) Sprachgut bzw. Sprechakt2. Die „Bedeutung" eines Wortes umfaßt: a) die Begriffsbedeutung des geschichtlichen Sprachgutes3. Sie ist exakt (Dreieck, im wissenschaftlichen Sinne), z. T. geregelt (Leutnant) oder vage (Mensch); b) den Stimmungsgehalt, je nach Zeit und Ort (Sprachgemeinschaft) variierend, z. B. Monarchie*; > John Locke, An Bssay Conceming Human Understanding, Of Words, Works 1801 (1824), London, II. Band, 3. Buch, 5. Kap., § 7. 1 Der Gebrauch bei Marty scheint zu schwanken; vgl. .Untersuchungen" I, S. 195 ff., 280, 383 ff., 388, 433. — Die klassische Formulierung John Lockes, a.a.O., 3. Buch, Anfang des 2. Kapitels, bietet wichtige Ansätze: «The use then of words is to be sensible marks of ideas; and tbe ideas tbey stand for are their proper and immediate signification." * Vgl. A. Marty, «Untersuchungen* I, S. 497 ff., 501 £f.; — Edm. HusseTl, .Logische Untersuchungen" II/l, S. 80 ff. * Nach Torgny T. SegeTStedt, Die Macht des Wortes, Zürich 1947, ist die Sprache .eine Offenbarung des Natdonalgeistes" (S. 9), hat eine soziale Funktion (S. 104ff.) und weist vier .Sinn-Aspekte" auf (mit Richards gesprochen): Man spricht über einen Gegenstand (sense), in einer bestimmten Gefühlshaltung (feeling), nimmt seinen Zuhörern gegenüber eine bestimmte Haltung ein (tone), und zwar zu einem bestimmten Zweck, der unsere Sprache in diesem Sinne modifiziert (intention). Das geht über die linguistische Sphäre hinaus und betrifft bereits die philologische Seite (S. 91 f.). 7*

99

c) die durchschimmernde, mehr oder weniger lebendige Begleitvorstellung; Marty sagt dazu: „figürliche innere Sprachform", z.B. ich bin entsetzt. Hierher gehören audi die Übertragungen; d) etwaige assoziierte Nebenvorstellungen auf Grund der Lautung (z. B. Xantippe) oder des Gehaltes (z. B. Gott — Güte), also auch sich wandelnde Reproduktionen. Auf das „Bedeuten" im Sprechakt bezieht sich die Unterscheidung von „habituell" und „aktuell" der vagen Ausdrücke, insofern die „übliche Bedeutung", je nach Satzzusammenhang und „Beziehung" auf die Umwelt, variiert. „Habituell" ist die Bedeutung, die ein Ausdruck haben kann; „aktuell" ist das Bedeuten, das ein Ausdruck in der bestimmten Rede gerade hat (cf. A. Marty, „Untersuchungen" I, S. 498 f.). Solche Wörter wie Strauß (Blumen — Tier — Kampf) werden „äquivok" genannt (s. unten „Kontext"). J e nachdem, ob infolge der „Initiative eines Neuerers" (Marty) eine Bedeutungsverschiebung sich später durchsetzt oder verschwindet, wird man von „Bedeutung" bzw. „Bedeuten" sprechen. Hier bricht der Zusammenhang beider Termini auf. Ganz anders sind die „wesentlich subjektiven Ausdrücke" (ich, hier), die von Natur eine Funktion der sich äußernden Person bzw. der Umstände darstellen. III. Benennen und Nennen. Man „benennt" die Vorstellung einer Person oder einer Sache auf Grund ihrer Merkmale, indem man einem sprachlichen „Zeichen" eine Bedeutungsintention zuordnet, was auch mittels eines Bildes (figürliche innere Sprachform) geschehen kann. Hier liegt die Geburt des „Namens". Die Verschmelzung von Sprachkörper und Bedeutung kann naturhaft erfolgen wie im Falle der onomatopoetischen Wörter. Im Akte der Benennungen haben wir es aber zunächst mit mehr oder weniger bewußten bzw. unbewußten Zuordnungen, also äußeren Assoziationen zu tun. Im Laufe der Jahre, der Jahrhunderte durchdringen sich dann Physisches und Psychisches zu einer Einheit, den Gesetzlichkeiten des betreffenden Idioms gemäß, so daß es abwegig ist, hier von „Zeichen" zu sprechen. Sprachkörper und Bedeutung bilden dann vielmehr nur verschiedene Aspekte ein und derselben Sache5, wie man auch, nach Descartes' verhängnisvoller 5

Bei dieser Gelegenheit weise ich hin auf die wichtigen Arbeiten über die „Beziehungen" von Sprachkörper (Schallform) und Bedeutung: A. DebrunneT, Lautsymbolik in alter und neuester Zeit, GeTm.-Rom. Mon. 14 (1926), S. 321 ff.; — G. Ipsen und F. Karg, Schallanalytísche Versuche, Heidelberg 1928, S. 248; — G.Bünte, Zur Verskunst der deutschen Stanze, Halle 1928, S. 24 f. (SaTan); — Egon Fenz, Laut, Wort, Sprache und ihre Deutung, Wien 1940, S. 24: Die Bedeutung eines Wortes ist aus der „Lautungsgebärde" der gesprochenen Laute deutbar; — Felix Trojan, Der Ausdruck von Stimme und Sprache, Wien 1948, S. 9: „Lautstilistik" als Lehre von den Schallbildern; — Fr. Kainz, Die Sprache I (1949),

S. 101 ff.; — L. Bloomfield, „Language", p. 245 (snake, snail, sneak, snoop); —

K. Hermán, Die Anfänge der menschlichen Sprache, 1936; — L. Klages, „Die Sprache", S. 120 ff. — W. Porzig, „Das Wunder", I. Kapitel.

100

Trennung und den verschiedenen Theorien über das Wesen von Leib und Seele, beide nur als verschiedene Betrachtungsweisen desselben Gegenstandes eingesehen hat. Sprache als historisches Kulturprodukt „ist" eben nicht, sondern wandelt sich; sie .wird" in dem dauernden Fluß der Zeiten, einem unerreichbaren Ziel der Vergeistigung, der Vollendung zustrebend. Von dem Benennen zu unterscheiden wäre das „Nennen". Man „nennt" e i n O b j e k t , indem man die Begriffsbedeutung seines Namens unter einem bekannten Begriff subsumiert. Daher können zwei Ausdrücke wohl Verschiedenes aussagen, aber dasselbe „nennen", z. B. ein gleichseitiges Dreiedi — ein gleichwinkliges Dreieck. — Ausrufe „nennen" nicht, z. B. Hurra! Au! Wie das Benennen und das Nennen, so bezieht sich auch das Meinen auf den Sprechakt. Wir „meinen" in der Rede intentional Objekte der gegenständlichen, biologischen oder geistigen Wirklichkeit 8 . IV. Unter Bezeichnen sei der Akt zu verstehen, in dem einem Objekt b e g r i f f l i c h ein Name zuerkannt wird7. So entsteht eine „Bezeichnung". V. Bedeutung, Begriffsbedeutung und Sinn. Unter „ B e d e u t u n g " verstehe ich den historischen Gehalt, den ein Wort zu einer bestimmten Zeit hat: Begriffsbedeutung, Stimmungsgehalt usw. (s. oben unter II); unter „ B e g r i f f s b e d e u t u n g " den (mehr oder weniger) logischen Kern der sich wandelnden Worte; unter „ S i n n " (Sinnrichtung) die überzeitlichen wie die zeitlichen, kategorial gegliederten Gehalte des Geistes, einer Kultursphäre oder einer geistigen Objektivation bzw. Subjektivation. Uber „Geist" siehe oben S. 82ff. Der „Sinn" wird mittels der geisteswissenschaftlichen (philosophischen) Psychologie erschlossen, nicht mittels der funktionalen Psychologie (s. unten S. 119 f., 154). Man spricht wohl auch vom Sinn eines Satzes und dgl.j da aber eine Verwechslung nicht zu befürchten ist, bedarf es keiner neuen Terminologie. B. «Kontext" 8 . Während die klassische Grammatik vom akustisch• Vgl. E. Husserl, „Logische Untersuchungen" II, 1, S. 46 f.; — A. Marty, „Untersuchungen" II, 2, S. 84. — Nach L. Landgrebe, .Nennfunktion", S. 98, 109, 131, liegt das Wesen der Nennfunktion im rein theoretischen Verhalten, dem „Vorsatz", bestimmte Laute als Zeichen füT etwas zu gebrauchen. 7 Vgl. L. Weisgerber, Die Bedeutungslehre — ein Irrweg der Sprachwissenschaft? German.-Roman. Monatsschr. XV (1927), S. 181 f.; — B. Quadri, Aufgaben und Methoden der onomasiologdschen Forschung, Bern 1952, verzeichnet ein umfassendes Material. 8 Ogden-RichaTds verstehen unter context (a.a.O., p. 58) „a set of entities (things or events) related in a certain way; these entities have eadi a character such that other sets of entities occur having the same characters and related by the same relation; and these occux ,nearly uniformly'." Als Beispiel für die örtliche und zeitliche Berührung geben Ogden-RichaTds das Zusammentreffen von Anstreichen eines Zündholzes und dem Auftreten der Flamme. Vgl. dazu, was weiter unten von der Lehre der Mentalisten gesagt wird.

101

motorischen Lautkörper, der äußeren Spradiform, ausging und die ältere Bezeichnungslehre (Onomasiologie)9 auf das Objekt hinzielte, sucht die neuere Forschung die Wortbedeutung im natürlichen Zusammenhang der gesprochenen Rede zu ergründen, überzeugt, daß das einzelne Wort an sich keine selbständige Bedeutung habe. So auch schon L. Landgrebe (a.a.O., S. 72). B. Malinowski würde dem aus dem Zusammenhang gelösten Wort nur eine „symbolic relativity" zugestehen 10 . Ob es sich nun darum handelt, das gesprochene Wort angemessen zu verstehen oder in eine andere Sprache zu „übersetzen", so erschließt sich die genaue Bedeutung eines Wortes doch erst stufenweise aus folgenden Zusammenhängen: 1. Im Zusammenhang der gesprochenen Rede bzw. des „Textes*. B. Malinowski spricht in diesem Sinne von „context of sign". 2. Im Zusammenhang einer Handlung, einer Gesprächslage: „context of situation". Denn Sprache (besser: das Sprechen) ist nichts anderes als „a mode of action". 3. Im Zusammenhang der gesamten Kultur, dem ethnographic background. Diese Gesichtspunkte kamen auf dem VII. Intern. Linguisten-Kongreß ausführlich zur Sprache11. J. R. Firth, a.a.O., p. 118 ff., fügt zu den drei Zusammenhängen (contexts) noch drei Arten von „collocations": 1. deT üblichen Rede, z. B. a dark (silent) night, a tender love; 2. der poetischen Diktion, z. B. Alliterationen bei Swinburne, wie die Folge: straightening... streamers... straining; 3. der Briefe früherer Zeiten, z. B. bei Dr. Johnson, William Wilberforce. Ich glaube wohl, daß sich in bestimmten Verbindungen die Redeweisen der Poesie bzw. höherer Schichten infolge Schulbildung oder gediegener Familientradition bis heute erhalten haben können, auch in anderen Situationen. Vom Gedanken des Gesamtgefüges (context) ziehen sich Verbindungslinien zu der Theorie der „Struktur", die in dem vorstehenden Kapitel ausführlich dargelegt werden. Damit ergeben sich bestimmte „Beziehungen" zwischen „context" und „structure". • Siehe H. Schuchardt, Sachen und Wörter, Anthropos VII (1912), S. 827 fl. 10 B. Malinowski, „Meaning", p. 309 f. 11 „Prel. Reports", p. 5 ff.: J. R. Firth (London), Er. Buyssens (Brüssel), W.Haas (Cardiff), S. Ullmann (Glasgow) u. a. — Vgl. J. R. Firth, .General Linguistics". p.76; ders., Modes of Meaning, Essays and Studies IV (1951), collected by G. Tillotson, London, p. 118 ff.; — vgl. zudem Ogden-Ridiards, Meaning, und Br. Malinowski, ebd., p. 296 f.: „The utterance has no meaning except in the context of situation" (p. 306).

102

Wenn wir von Wortbedeutung sprechen, kann der Gegensatz von „Mentalisten" und „Medianisten" in der(englisch-)amerikanischen Literatur nicht übergangen werden 12 . Der von J o h n B . W a t s o n i n Amerika begründete Behaviorismus — wie auch die russische Reflexologie J. Pawlows — hatte mit Recht die Entartungen des Darwinismus bekämpft, der in seinen Auswüchsen die Erkenntnisse des Seelen- und Geisteslebens der Menschen kritiklos auf die tierische Psyche übertragen hatte, nun aber das Kind mit dem Bade ausschüttete und die Möglichkeit leugnete, die Bewußtseinsvorgänge im Akt des Bedeutens objektiv erfassen zu können. Es wurde die Umwelt als allein entscheidend gewertet für die Entwicklung menschlichen Bewußtseins, da man alle Unterschiede der Menschen als milieu-bedingt und das menschliche Verhalten selbst als reaktiv ansah. Die einschlägigen Experimente wollten demgemäß die Zusammenhänge von Reiz (stimulus) und Antwort (response) aufdecken. So hoffte man, o b j e k t i v e Einsichten in das Bewußtsein des Menschen wie auch in das Wesen des Bedeutens und der Bedeutung zu erlangen. Solche Erkenntnisse schienen allgemein nachprüfbar und damit o b j e k t i v g ü l t i g zu sein¡ für diese „mechanistische" Betrachtungsweise war mithin die Reaktion in einer bestimmten „Situation" entscheidend; das Bewußtsein, auch im Erlebnisakt des Bedeutens ward zur Privatangelegenheit gestempelt, zum Phantasiegebilde der Mentalisten. (Vielleicht erweist sich der Rückgang auf die apriorische Sinnstruktur als wissenschaftlicher.) So auch L e o n a r d B l o o m f i e l d i n seinem Werke: „Language" (New York 1933). In der Vorrede spricht sich der Verfasser gegen den spekulativen Mentalismus und für den wissenschaftlichen Mechanismus aus: „Mechanism is the necessary form of scientific discourse." Daher schiebt sich auch die deskriptive Grammatik in den Vordergrund, historische Kenntnisse und Erkenntnisse treten zunächst zurück. Das Ziel der induktiven Verallgemeinerung ist die Allgemeine Grammatik: „The general processes of change are the same in all languages and tend in the same direction." Jede Gesprächssituation ist mannigfaltig durchlagert von sachlichen Ereignissen einerseits und. sprachlichen Äußerungen (einschließlich der Gesten) andererseits, und zwar als Reize (Stimuli) und den entsprechenden Antworten (responses), z.B. (p. 22): Jack und Jill ergehen sich; Jill ist hungrig und gibt ihrem Verlangen angesichts eines Apfelbaumes irgendwie Ausdrude (Reiz). Jack klettert über den Zaun und übergibt seiner Begleiterin (schweigend oder sprechend) einen Apfel, den sie (als Antwort) ißt. Dann werden Mentalismus und mechanistisch-materialistische Theorie gegenübergestellt und die letztere als wissenschaftlich 18 Nähere Erläuterungen zum Thema: Mentalismus — Antimentalismus geben W. E. Collinson, Some recent Trends in Linguistic Theory with special Refexence to Syntactics, Lingua I (1948), p. 307 f., und Ch. Morris in seiner Schrift: Signs, Language and BehavioT, New York 1946.

103

anerkannt. Da wir die subjektiven Erlebnisse o b j e k t i v nicht erfassen können, muß man zu indirekten Methoden greifen, zum Experiment, einschließlich der Befragung der Versuchspersonen (Introspektion!), zur Beobachtung der Menschen in der Masse und ihrer Gebärden (p. 32 ff.). Audi Zeichnungen, Schriften und Drucksachen sind heranzuziehen. Diesem Verfahren widerspricht mit Recht J. R. F i r t h , „General Linguistics", p. 83: „You cannot e x c l u d e the fundamental urges, drives, needs and desires of our animal and social nature." H . J . P o s (The Foundation of Word-meanings. Different approaches, Lingua I [1948], p. 281) vermittelt zwischen beiden Wegen der Bedeutungserklärung: 1. dem subjektiven Weg — vom menschlichen Geist aus (activity of mind) — und 2. dem objektiven Weg von der Struktur der Wirklichkeit (social reality and the world) aus. Der innere und der äußere Faktor ergänzen einander. Und welcher ist der entscheidende hinsichtlich der Gewinnung objektiver Maßstäbe? C. Feldtheorien18. Die Bedeutungen sind noch in anderer Weise objektiv bestimmt. In seinem „Mikrokosmos" führt H. L o t z e aus, daß ein Gegenstand nur dann „mit Recht" existiert, wenn er Teil eines „gegliederten Systems der Dinge ist", das ganz unabhängig von unserem Gewahrwerden etwas für sich bedeutet. Auf dem Gebiet der Sprache, und zwar zunächst einmal auf dem der Einzelsprache, erwähnt A d o l f S t ö h r als erster, soweit ich sehe, das „Verhältnis der Begriffsfelder", Felder und Feldganzheiten. Unabhängig von ihm hat G. I p s e n gesehen, daß die „Eigenwörter" in einer Sprache nie allein stehen, sondern in „Bedeutungsgruppen" eingeordnet sind, deren gegenständlicher Sinngehalt mit anderen Sinngehalten verknüpft ist. In diesem Sinne spricht G. Ipsen von dem in sich gegliederten „Bedeutungsfeld", in dem die verwandten Wortbedeutungen in einer „Sinneinheit höherer Ordnung" aufgehen, also auch „strukturell" ausgezeichnet sind. Diese Betrachtungen werden von ihm auf die Lautung und auch auf die Syntax ausgedehnt und weisen hinüber zu W. v. Humboldts Begriff der inneren Sprachform und der ihr zugrunde liegenden Weltansicht. W. P o r z i g hat an die ersten Gedanken G. Ipsens angeknüpft und ihn weiter angeregt. L. W e i s g e r b e r unterscheidet ein- und mehrschichtige Felder (Zahlenreihe bzw. Farbfeld), die Fächerung der Wortfelder (z. B. das Wortgut im Bereiche „Verstoß"), Ableitungs" H. Lotze, Mikrokosmos, Leipzig 1923, V. Budi, S. 246 ff.; — Ad. Stöhr, Lehrbuch der Logik in psychologisierender Darstellung, Leipzig und Wien 1910, S. 44; — J. Trier, Sprachliche Felder, Deutsche Volkserziehung, 4. Heft, Beiträge zum neuen Deutschunterricht, S. 10 ff. — G. Ipsen, Streitberg-Festschrift, Heidelberg 1924, S. 225; — ders., Der neue Sprachbegriff, Zeitsdlr. f. Deutschkunde 46 (1932), S. 14 ff.; — W. Porzig, Indogermanisches'Jahrbuch 12 (1928), S. 1 ff., 13 ff.; — L. Welsgerber, .Deutsche Sprache", S. 61 ff.; — J.Trier, Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes I, Heidelberg 1931, S. 2, Anm. 20; — ders., „Bedeutungsforschung") S. 174 ff., 193.

104

typen (Wortbildung) und auch syntaktische Felder. Die Gliederung des Wortschatzes (Natur — Sachkultur — geistige Welt) weist schon hin auf das große Problem des .Begriffswörterbuches" (s. unten). Schließlich hat J. T r i e r praktisch die Zusammenhänge des Bedeutungswandels innerhalb eines Sprachfeldes aufgedeckt und kritisch zu G. Ipsens Theorie Stellung genommen. J.Trier wendet sich gegen dessen „wortstoffliche Betrachtungsweise", die von idg. Wörtern, nicht vom Zusammenhang des Inhalts ausgehe. In diesem Sinne stellt er seine „Sprachinhaltsforschung" („Gliederungsforschung"), die sich auf den Sinn des Sprachganzen gründe, der älteren Bedeutungsforschung Ipsens entgegen, die von der Bedeutung und dem Bedeutungswandel e i n z e l n e r Wörter ihren Ausgang nehme (s.unten S. 111 f.). Doch darf man darüber nichtvergessen, daß diese Forschungsrichtung G. Ipsen sehr wertvolle Anregungen verdankt. Nach J.Trier heißt die „Struktur" einer Feldaufteilung untersuchen: ein Stück innere Spradiform aufdecken, in der sich die „Weltanschauung einer Sprache, die wirkliche begriffliche Aufteilung der Welt" darstellt. So knüpfen diese Deutungen an die im vorstehenden Kapitel dargelegten Gedankengänge an. D. Die Wendung zum apriorischen Grundgefüge der Begriffsbedeutungen. Schon W. v. H u m b o l d t hatte sich dahingehend ausgesprochen, daß es in der „Grammatik" (d. h. der Syntax) wie im lexikalischen Teile manche Spracherscheinungen gäbe, die „ganz a priori bestimmt" und von allen Bedingungen einer besonderen Sprache getrennt werden können. Desgleichen hatte sich W. P o r z i g als Sprachwissenschaftler, in Anlehnung an E. Husserl, gegen die „Alleinherrschaft der psychologischen Methode" in der Linguistik gewandt. Es sei die Aufgabe der Logik (und Metaphysik), Wesen und Struktur der Bedeutungen darzustellen, ganz unabhängig davon, was und wie ihnen etwas „sachlich" entspreche (s. S. 140). Ebenso hatte L . W e i s g e r b e r auf Husserl hingewiesen: Sprachliche Erörterungen seien allerdings als Vorbereitung für den Aufbau der reinen Logik notwendig, da sich (logische) Urteile kaum ohne sprachlichen Ausdruck vollziehen lassen. Während jedoch auf dem Gebiete der Psychologie mit individuellen Trübungen zu rechnen sei, bleibe die Bedeutung einer Aussage in der Sphäre der idealen Einheiten dasselbe14 Und nun folgt eine kurzgefaßte Darstellung und Kritik der Husserlschen Bedeutungslehre (S. 33 ff.). Doch fragen wir E. H u s s e r l selbstl Wie wir oben (S.3ff.) bemerkt haben, ist es ihm, dem Phänomenologen, wesentlich darum getan. Apriorisches und Empirisches, Logik und Psychologie grundsätzlich zu 14

W. v. Humboldt, über das vergleichende Sprachstudium, „Ges. Sehr." IV, S. 22; — W. Porzig, Aufgaben der idg. Syntax, Streitberg-Festschrift, Heidelberg 1924, S. 128 ff.; — ders., Idg. Forschungen 44 (1927), S. 307 ff.; — L. Weisgerber. Sprachwissenschaft und Philosophie (zum Bedeutungsproblem), Blätter für deutsche Philosophie IV (1930), S. 17 ff. 105

sondern. Da wohl ein gewisser Parallelismus zwischen Denken und Sprechen besteht, insofern wir unsere Gedanken sprachlich zum Ausdruck bringen, ist das Logische uns zunächst in einer sprachlich unvollkommenen Gestalt gegeben15. Es ist mithin Aufgabe der Logik, die Begriffe erst einmal zu erkenntnistheoretischer Klarheit und Deutlichkeit zu bringen, d.h. also von dem vagen „Bedeuten" aus weiter vorzustoßen zu dem entsprechenden artikulierten, klaren, mit der Fülle exemplarischer Anschauung gesättigten und sich daran erfüllenden Bedeuten. Schreiten wir dann zu dem sinnverleihenden bzw. sinnerfüllenden Erlebnis fort und fragen, was „in" diesen Akten gegeben ist, so weicht die subjektive Betrachtung der o b j e k t i v e n , indem wir auf die .Sachen selbst" zurückgehen und mittels der ide'ierenden Abstraktion die „Bedeutungen" in ihrer unverrückbaren Identität zur Evidenz bringen. In dieser Sphäre der „idealen Einheiten" bleibt die „Bedeutung" einer (idealen) Aussage, d. h. der von aller Zufälligkeit der Urteilenden unabhängige, identische Bedeutungsgehalt von Begriffen und Sätzen, dasselbe, wer immer sie behauptend aussprechen mag und unter welchen Umständen und Zeiten immer dies geschehe. Ist die (reine) Logik mithin die Wissenschaft von der theoretischen Einheit überhaupt, so ist zugleich evident, daß die Logik die Wissenschaft von „Bedeutungen" als solchen sowie von den rein in ihnen gründenden (idealen) Gesetzen sein muß. Zu diesen Gesetzen gehören die reinen Denkgesetze, welche den apriorischen Zusammenhang der kategorialen Form der „ B e d e u t u n g e n " und ihrer G e g e n s t ä n d l i c h k e i t bzw. Wahrheit ausdrücken. Vgl. dazu o. S. 7 f. Für die Logik wie für die Grammatik entstehe nun die Aufgabe, die das Reich der „Bedeutungen" umspannende apriorische Verfassung herauszustellen und das apriorische System der formalen Struktur in einer „Formenlehre der Bedeutungen" zu erforschen, die also alle sachliche Besonderheit der Bedeutung offenläßt1*. Als Beispiel einer Modifikation nehme man die beiden Sätze: dieser Baum ist grün (prädikativ) •— dieser grüne Baum (attributiv). Abgesehen von seiner syntaktischen Funktion (d. h. den Arten der Beziehungsbedeutung), bleibt das Beispiel unge15 Auch M. Heidegger zieht einen Trennungsstrich zwischen Sprechen und Logik (und Psychologie). An und für sich sei jedes Sprechen alogisch. „Die Logik beginnt erst h i n t e r der Sprache oder mittels der Sprache, aber nicht vor ihr oder ohne sie." Der „sprachliche Gedanke" sei eine Sache für sich und wesentlich anderes als der logische Gedanke. Daher lehnt er auch das Zwitterwesen der „logischen Grammatik* ab. Der grammatische Sprachgebrauch läßt sich nicht aus der Logik ableiten. Aber die philosophische Reflexion kann von den Bedeutungen reduktiv zu den kategorialen Momenten zurückgreifen, und die logische Struktur des Geistes kann von der Logik der Sprache aus untersucht werden. M.Heidegger, „Kategorienlehre", S. 161 ff. " E.Husserl, „Log. Untersuchungen" II, 1; S. 5 f., 14, 42 f., 91 ff., 325 f.; — vgl. dazu A. Maity, „Untersuchungen" I, S. 56 ff. und E. Husserl, »Log. Untersuchungen" II, 1; S. 340 ff.

106

ändert; es hat einen identischen Kern, die Form der Umwandlung untersteht aber apriorischen Gesetzmäßigkeiten. Demnach hat die Sprache nicht nur ihre physiologischen, psychologischen und kulturhistorischen Fundamente, sondern auch ihre apriorischen Fundamente. Es ist die Aufgabe der apriorischen (beziehungsweise der Allgemeinen) Grammatik, solche Gesetzmäßigkeiten der Grundformen von Sätzen zu erforschen. Wie bereits oben (S. 4) dargelegt ist, kann dann auf Grund des „idealen Gerüstes" eine i n h a l t b e z o g e n e Bedeutungslehre (sowie Beziehungslehre) in Angriff genommen werden, die das gemeinsame Werk von Linguisten und — wohl zum größten Teil — von sprachwissenschaftlich geschulten Philosophen sein mag. E. Die sprachlichen Grundlagen. I. In H u m b o 1 d t s Schriften, z. B. sehr stark ausgeprägt in der Arbeit: über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung (»Ges. Schriften" IV, S. 19 ff.), drängt sich immer wieder der leitende Gedanke vor, daß jegliche Sprache ihrer „ V o l l e n d u n g " nachstrebe. Was heißt hier „Vollendung"? Weist diese Idee in die Richtung der „idealen" Bedeutungseinheit E. Husserls? Und welches ist diese Richtung im besonderen — und das Ziel? II. L. W e i s g e r b er 1 7 unterscheidet im Rahmen des „Menschheitsgesetzes" der Sprache drei Gesetze: das Gesetz der Sprachgemeinschaft (Sprachsoziologie), das Gesetz der Muttersprache (Sprachpsychologie) und das Gesetz des sprachbedingten Daseins (Sprachphilosophie). Das erstere, das Gesetz der Sprachgemeinschaft, betrifft wesentlich die Muttersprache als „geistschaffende Kraft", d. h. nicht etwa, daß die Muttersprache „den Geist" schlechthin schafft, sondern daß die Muttersprache selbst zunächst einmal geistgeschaffen ist und dazu geistig schaffend wirkt, indem sie aus dem Wesen des menschlichen Geistes die gedankliche Welt eines Volkes und des einzelnen ausformt. L. Weisgerber knüpft an Humboldts Wort an, daß jede Sprache ein Weg sei, um mit der ihr innewohnenden Kraft die Lebenswelt, d. h. die v o r g e f u n d e n e W i r k l i c h k e i t in das Eigentum des Geistes umzuschaffen. Als treffendes Beispiel kann man die verwandtschaftlichen Verhältnisse der Menschen aufgreifen 18 , die, objektiv betrachtet, für alle " L. Weisgerber, Das Gesetz der Spradie, Heidelberg 1951, S. 20 ff. — ders.. Von den Kräften der deutschen Sprache I, Die Spradie unter den Kräften des menschlichen Daseins, Düsseldorf 1949, S. 49¡ — L. Klages, „Die Spradie", S. 321; er sagt kennzeichnend, es liege die Weltanschauung zwischen der Wirklichkeit und der Spradie. 18 Wilhelm Schoof, Die deutschen Varwandtschaftsnamen, ZtschT. f. hochdeutsche Mundarten I (1900), S. 193 ff., untersucht an sehr reichem Material die Frage, welcher Mittel sich die Sprache bedient, um ererbte Bezeichnungen b e g r i f f l i c h und l a u t l i c h zu modifizieren und so neue Begriffe zu schaffen.

107

Menschen gleich sind. Die B e z e i c h n u n g e n für die obwaltenden Verwandtschaften sind jedoch in den verschiedenen Sprachen und ihren Mundarten recht verschieden und wechseln auch mit dem Wandel der Anschauungen im Rahmen der Zeit. So werden im Nhd. unter Onkel recht verschiedene Beziehungen zu einer gedanklichen Einheit zusammengefaßt: der Vaterbruder, der Mutterbruder, der Mann der Vaterschwester und der Mann der Mutterschwester. Die Gegebenheiten der biologischgeistigen Wirklichkeit sind mithin durch eine bestimmte Weltansicht auf einen sprachlichen Ausdruck, nämlich Onkel, gebracht. W. v. Humboldt, auf den L. Weisgerber auch verweist, drückt diese Zusammenhänge so aus: der sprachliche Besitz sei „eine wahre Welt, welche der Geist zwischen sich und die Gegenstände durch die innere Arbeit seiner Kraft setzen muß". Diese Ausdrudesweise schließt gewisse Schwierigkeiten in sich. Einmal ist die objektiv gegebene Welt selbst ein großes Problem, insofern wir auf die Leistung der Sinne angewiesen sind. Inwiefern können diese rassisch durch äußere Umstände abgewandelt sein? Sicher wird ihre „Richtung* durch seelisch-geistige Faktoren bestimmt. Dann bedeutet in dem Ausspruch Humboldts der Begriff „Geist" wohl den volkhaft noch nicht differenzierten Geist, abgesehen von jeglicher romantischen Spekulation; der sprachliche Besitz ( = sich) weist auf den in jeglicher Einzelsprache niedergeschlagenen „eigentümlichen Volksgeist" hin, den Humboldt als „Charakter der Nationen", als „Nationaleigentümlichkeit", die „durch die Sprache durchscheint", die verschiedene „Weltauffassung" etc. kennzeichnet19, d. h. dieser Geist ist in den verschiedensten Arten objektiviert (z. B. in den verschiedenen Sprachen) und subjektiviert (in sprechenden Menschen), um wirken zu können80. L. Weisgerber spricht im Hinblick auf die geistige Macht des sprachlichen Besitzes von einer „gedanklichen Zwischenwelt" (a.a.O., S. 24 f.). die das „Wesentliche an der Sprache" ausmacht*1. Alle Ausdrücke, also auch Tante, Vetter, Neffe etc., sind beheimatet in dieser gedanklichen Zwischenwelt, und zwar gliedhaft geordnet und eingefügt im Rahmen eines Begriffsfeldes, womit wir wieder auf den Gedanken der Feldtheorie stoßen. Desgleichen entstammen alle anderen Wörter 22 wie Unkraut, 19 W. v. Humboldt, über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues..., „Ges. Schriften" VII, S. 167, 174, 176 f., 186, 190. , 0 Vgl. Louis Lavelle, La parole et l'écriture, Paris 1942, Ztschr. f. philosoph. Forschung I (1946), S. 148, Übersetzung und Interpretation von H. Noack (Hamburg). 11 Vom Standpunkt der Bildung erklärt Fichte (4. Rede), daß „weit mehr die Menschen von der Sprache gebildet werden, denn die Sprache von den Menschen." B Fritz Stroh, Das Volk und seine Sprache. Deutsche Volkserziehung, 4. Heft, Frankfurt (Main) 1939, S. 2.

108

rot etc. der ordnenden Kraft des Geistes. Unkraut ist eine wertende Sicht des Menschen; die Farben, z. B. rot, schließen bereits eine geistige Verarbeitung eines bestimmten Sprachkreises in sich, einen bestimmten Ort in einer gegliederten Ordnung der Farbenwelt (des Farbfeldes), in die sich das heranwachsende Kind allmählich einlebt mit Hilfe des Sprachgutes. Und so ist es auch im Bereiche der abstrakten Wörter, z. B. Selbstgefälligkeit, Überheblichkeit, Eitelkeit, Dünkel etc. 23 . Auf die entsprechenden Erscheinungen im syntaktischen Bereiche, z. B. der einzelnen Beziehungsmittel, wie auch ganzer Satzbaupläne etc. sei hier, in der Wortlehre, nur andeutend hingewiesen. Was uns nun besonders angeht, ist der geschichtliche Wandel der in der Sprache niedergelegten „gedanklichen Zwischenwelt" und besonders die Richtung, in der sich die Umgestaltung vollzieht. Da sind es wiederum die Bezeichnungen der Verwandtschaftsverhältnisse, die uns weitgehende Förderung bieten. L. Weisgerber weist auf folgende Verschiebungen in dem Ubergang vom Mhd. zum Nhd. hin. Er stellt zunächst grundsätzlich die Tatsache heraus (a.a.O., S. 36), daß im Mhd. genauere Unterscheidungen und schärfere Abgrenzungen der Verwandtschaftsnamen vorliegen als in nhd. Zeit. Noch fehlen die späteren begrifflichen Zusammenfassungen, vielmehr sind im Mhd. die Einzelbeziehungen herausgehoben. So sind z.B. die Blutsverwandten von den angeheirateten mittels besonderer Namen deutlich geschieden und innerhalb der Blutsverwandten die väterliche Sippe von der mütterlichen. Dies offenbart eine spezifische Art des „Denkens" im Sinne W. Wundtsl Das Mhd. verfügt über keine Verwandtschaftswörter, die sich über die drei Bereiche väterlicher, mütterlicher und angeheirateter Verwandten zusammenfassend erstrecken. Um auf das obige Beispiel (nhd. Onkel) zurückzukommen, so finden wir statt der vier in diesem nhd. Ausdruck zusammengefaßten Beziehungen im Mhd.: 1. den vetere (Vaterbruder), 2. den öheim (Mutterbruder); die angeheirateten Onkel (und Tanten) werden nicht in unmittelbarer Beziehung gesehen. Ebenso ist der Bereich der nhd. Vettern und Kusinen differenziert in veternkinder, basenkinder, ohmenkinder und muhmenkinder. Also vier mhd. Bezeichnungen statt einer einzigen im Nhd. Desgleichen unsere nhd. Neffen und Nichten, Schwager und Schwägerin. Entsprechendes läßt sich für das Idg., als die ältere Schicht, anführen, ebenso auch für das Lateinische. In anderen Sprachstämmen werden, z. B. bei den Naturvölkern, noch andere Unterscheidungen durch besondere Bezeichnungen herausgehoben: der ältere, bzw. der jüngere, der lebende oder tote Verwandte. Auch soziologische, rechtliche und religiöse Gesichtspunkte können zu weiteren Differenzierungen der Namen " Ein treffendes Beispiel bietet auch die sprachliche Bearbeitung der Tierstimmen, L. Weisgerber, «Deutsche Sprache", S. 60.

109

führen, schließlich auch der Gesichtspunkt, wer der Sprechende ist und auf welche Person sich die verfügbaren Ausdrücke beziehen (z. B. im Uralalt aisdien)". Oft fehlt selbst ein zusammenfassender Name für Vater und Mutter, d. h. Eltern, z. B. im Malaiischen (bapa ibu)ss. O. J e s p e r s e n erwähnt in diesem Sinne, daß sich in der tscherkessischen Sprache statt eines (allgemeinen) Ausdrucks für waschen verschiedene Worte finden für ich wasche mich, ich wasche mir den Kopf, ich wasche eines andern Kopf (vgl.: ich wasche einem andern den Kopll), ich wasche mein Gesicht etc.46. P. K i r c h h o f f Verwandtschaftsbezeichnungen und Verwandtenheirat, hat vier Grundtypen für die möglichen Bezeichnungen von Verwandtschaftsbeziehungen der verschiedensten Sprachtypen gefunden. Uberali werden die Verwandtschaftsbeziehungen anders gesehen und demgemäß gesondert bezeichnet, gelegentlich werden nicht nur, unter Beachtung des Alters, ältere und jüngere Brüder gedanklich-sprachlich unterschieden, sondern auch jüngste Brüder, Schwestern, Cousins und Cousinen. Auf engem Raum wird hier ein umfassendes Material übersichtlich geboten 27 . Jedenfalls läßt sich, vom genetischen Standpunkt aus, eine gewisse Linie, eine Richtung in der Aufgliederungsordnung des Verwandtschaftsfeldes feststellen: Die Beachtung von Einzelbeziehungen und damit die spezialisierte Unterscheidung durch entsprechende Bezeichnungen weicht allgemeineren (und zugleich logisch klaren) Ausdrücken (vgl. oben S. 80 f.). Es offenbart sich in dieser Tatsache eine Tendenz zur Entlastung des Gedächtnisses, also einer Ökonomie, wie wir sie des öfteren auf syntaktischem Gebiete beim Ubergang von synthetischer zu analytischer Flexionsbildung bzw. zum Ersatz beider durch die Wortstellung (z. B. im Englischen und Chinesischen) feststellen konnten. Wenn außerdem die Verwandtschaftsnamen von .unsachlichen" Nebenbedeutungen (des Alters, des Standes etc.) befreit, auch logisch feiner durchgegliedert wurden, läßt sich ein Zug zur Klarheit, d. h. zu eindeutigen, klaren Bezeichnungsweisen nicht verkennen. Das für das Mhd. Gesagte gilt auch 14

Steinthal-Misteli, .Charakteristik", S.346f. — Vgl. oben S.79f. " In der Suaheli-Sprache gibt es wenige Adjektivbegriffe für Geschmacksempfindungen, nur bitter und süß. Also muß für salzig eine Umschreibung mit Salz herhalten; wie auch von Farbempfindungen nur schwarz, weiß und rot vorhanden sind, daher blau als Farbe des Himmels wiedergegeben ist. Vgl. R. Thumwald, Ethno-psychologisdie Studien an Südseevölkern auf dem Bismarck-Archipel und den Salomo-Inseln, Beiheft z. Ztschr. f. angewandte Psychol., Leipzig 1930, S. 90: Es fehlt ein Wort für blau im Buin. Umgekehrt steht es im Hottentottischen. ts O. Jespersen, Language, its Nature, Development, and Origin, London — New York 1923, p. 430. In Bantu- und Hamitensprachen werden Dinge, die nahe beim Redenden sind, von denen unterschieden, die weitab stehen. C. Meinhof, .Ergebnisse", S. 198. 17 P. Kirchhof!, Verwandtschaftsbezeichnungen und Verwandtenheirat, Ztschr. f. Ethnologie 64 (1932), S. 41 ff., 45 ff.

110

ganz allgemein von den Sprachen der Naturvölker, die je nach dem Stande ihrer Kultur, oftmals die kompliziertesten Vorgänge bzw. Gegenstände in den verschiedensten Situationen durch einen einzigen Ausdrude bezeichnen; oft auf der anderen Seite eine Lücke im Wortschatz aufweisen, ein logisches Manko. Leider ist uns die Geschichte ihrer Namen wenig oder gar nicht bekannt. H. Paul spricht in einem anderen Zusammenhang von einem .durch alle Völker und Zeiten durchgehenden Gesetz"; August Schleicher davon, daß „die Sprachen eine im wesentlichen übereinstimmende Geschichte haben", was .aus der Natur des menschlichen Wesens folgt"28. Dürften wir somit annehmen, daß sich in dem Streben nach Sparsamkeit, nach Wahrheit und Klarheit des Sprachwandels allgemeine Grundgesetzlichkeiten der menschlichen Sprachgeschichte kundtun? Vgl. dazu oben S. 89 f. III. J o s t T r i e r " kommt von einem anderen Ausgangspunkt her zu verwandten Fragestellungen. In einer aufschlußreichen Untersuchung ist er dem geschichtlichen Wandel des deutschen Wortschatzes im Sinnbezirk des Verstandes, also im Rahmen des diesbezüglichen .Feldes" nachgegangen. J. Trier zeigt, daß Vernunft in die Stelle hineinwächst, in der sin und witze in teilweiser Deckung vorher übereinanderlagen. Nach Bildung und Klasse sind kunst und wisheit sehr verschieden, gehören aber doch demselben Felde an. J. Trier führt im einzelnen aus, daß die spannungreichen Auseinandersetzungen (wie klug und gescheit gegenüber weise, kunst gegenüber ¡ist, einschließlich des Stimmungsgehaltes etc.) nicht von der besonderen ritterlich-höfischen Geisteshaltung seit der karolingischen Zeit abzulösen sind, sondern eine einmalige Konstellation und Lösung darstellen. So verschieben sich die Grenzen des gegliederten Begriffsfeldes in stetem Fluß, örtlich-regional und zeitlich mit individuellen Differenzierungen. Und nun unsere Fragestellung! Auch J. Trier weitet seine Einzelergebnisse ins Allgemeine. Er sucht, den geschichtlichen Wandel innerhalb des Feldes aus dem Willen einer Gemeinschaft zu begreifen, aus einem Ringen um Wahrheit und Ordnung, wobei schwer zu sagen ist, ob die letzten Schritte jeweils wirklich in der .Richtung" auf letzte Wahrheiten hinführen 80 . Es frage sich, wie sich diese immerfort in sich selbst wandelnden, von Sprache zu Sprache verschiedenen Begriffsgefüge •8 Herrn. Paul, .Prinzipien", S. 126; — Aug. Schleicher, Zur vergleichenden Sprachengeschichte, Bonn 1848, S. 4; — vgl. dazu H. Kunisch, Götze-Festschrift I, Berlin 1943, S. 218 ff., 235 f. („Eindeutigwerden"). " Jost Trier, Der deutsche Wortschatz im Sinnbezixk des Verstandes, Heidelberg 1931, S. 66 ff., 141 ff., 187 ff., 300 und die Tafeln S. 255 u. 298. — Vgl. Behaghel-Festsdirift, Heidelberg 1934, S. 181 f. In den „Preliminary Reports", p. 122, handelt A. Martinet von convergent evolution, von the vast chapter of linguistic convergence. Ähnlich Th. Litts Hinweis, .Bericht", S. 124 f.

111

verhalten zum letzten, wahren Sein, d. h. ob durch diese Auf- und Umgliederungen einigermaßen „richtige" Grenzen getroffen werden, ja ob die eine der verschiedenen Sprachen „richtiger" als eine andere vorgeschritten, d. h. echter sei; in der Richtung einer angestrebten .Vollendung" (im Sinne Humboldts) bzw. eines „idealen Gerüstes* der apriorischen Grammatik (im Sinne Husserls)? Konkreter gesprochen: in der Richtung des l o g i s c h e n K e r n s der (historischen) Bedeutung, d.h. der B e g r i f f s b e d e u t u n g auf den überzeitlichen „Sinn" der K a t e g o r i e n ? S. o. S. 85! Eigenartigerweise hat vor J.Trier schon W. v. H u m b o l d t fast ebenso gefragt 31 . Er entwirft zwei Gesetze im Rahmen der „Grundzüge" des allgemeinen Sprachtypus: das erste Gesetz „einer richtigen (I) Einteilung des Gedankenstoffes durch die Sprache" und das zweite Gesetz, »daß das Wort nicht zu viele . . . miteinander verknüpfte Bedeutungen in sich fasse", was wir als die Tendenz der Klarheit angesprochen haben. Die Idee einer „richtigen", d.h. o b j e k t i v a n g e m e s s e n e n , gültigen „Einteilung des Gedankenstoffes" hat uns im vorstehenden Kapitel auf das apriorische Strukturgefüge der Schichten und Kategorien hingeleitet, weitgehend geschöpft aus dem Einblick in die grundlegenden Beziehungen syntaktischer Art. Insofern fühle ich mich nun grundsätzlich in Ubereinstimmung mit M. Heideggers Auffassung: „Die Bedeutungskategorien sind die Gestaltideen der möglichen konkreten Bedeutungen. Diese Gestaltideen bestimmen auf Grund ihres eigenen Gehalts ihre gegenseitigen Beziehungen; es liegt in den Bedeutungsformen eine immanente Gesetzlichkeit, die a priori die möglichen Bedeutungszusammenhänge regelt; . . Was dann die R i c h t u n g des Sprachwandels betrifft, so wird man weiter gedrängt zu der Hypothese, daß auch die sprachlichen Ausprägungen der s y n t a k t i s c h e n Beziehungen einem unbekannten Ziel der „Vollendung" zustreben. So weist der Unterschied von der synthetischen zur analytischen Flexion (versus > le vers, versum > le vers; indignatio > l'indignation etc.); weiterhin von der Flexion zur Wortstellung und zum Akzent, ganz abgesehen von der Wortart, (lat. iacit indignatio versum > frz. l'indignation iail le vers, mit französischem Akzent gesprochen!) auf eine „nicht umkehrbare" Richtung des Sprachwandels hin, und zwar aus dem Verlangen nach Ökonomie der Kräfte; man könnte sie, trotz des Unterschiedes der Schichten, „irreversibel" nennen, um einen Fachausdruck der Physik zu gebrauchen. Es bleibt vor allem das grundlegende Problem, ob die aus der Sprache erschlossenen Kategorien, und zwar ganz besonders die Kategorien des 41 W. v. Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, „Ges. Sehr." V, S. 424. *s M.Heidegger, „Kategorienlehre", S. 145.

112

geistigen Lebens, wie sie sowohl der Sprachwandel wie das stilistisch angemessene Sprechen bestimmen — das Streben nach Klarheit und Ökonomie, nach verantwortungsvoller Leistung und nach Güte, nach demütiger Ausdrucksweise — richtig getroffen sind8*. Das ist nunmehr an der Idee eines „Begriffswörterbuches" noch weiter zu verfolgen. IV. Zuvor noch ein kurzes Wort über den Sinn des »Richtigen* im Wandel der Sprachen und Kulturen auf das Ziel der .Vollendung" hin, wie Wilh. v. Humboldt annahm. Haben wir Abendländer überhaupt ein Recht von „Natursprachen", von primitiven oder gar zurückgebliebenen Völkern zu reden? Wer sind die Zurückgebliebenen? Woher nehmen wir die Maßstäbe unseres Urteils über Natur- und Kulturspradien? a) Wenn die Sprache einen gewissen Rückschluß auf die W a h r n e h m u n g s - bzw. Beobaditungsfähigkeit zuläßt, so sehen die Naturvölker gewisse E i n z e l h e i t e n sehr genau und bringen sie in komplexen Bezeichnungen zum Ausdruck, wie wir gesehen haben 84 . Insofern sind sie uns überlegen. L. Lévy-Bruhls These von der participation mystique ist insofern nicht zu halten (vgl. La mentalité primitive, Paris 1925, p. 17 f., 42, 72 etc.). b) Ganz anders ihr b e z i e h e n d e s D e n k e n . Es ist belastet durch den Mangel an allgemeinen Ausdrücken. c) Noch schwerer fällt die geistige Seite der Intelligenz ins Gewicht, die S e h n s u c h t des Erkennen- und Verstehen-Wollens, was etwas wesentlich anderes ist als die psychischen Funktionen des Verstandes. Die großen Schöpfungen auf dem Gebiete der Wissenschaft und der Kunst wie der Technik sichern dem abendländischen Menschen den Vorrang vor allen andern Völkern der Erde. Auf die notwendige Unterscheidung zweier Arten von Psychologie ist weiter unten zurückzukommen. d) Was das p r a k t i s c h e S c h a f f e n - W o l l e n , die Weltbemächtigung des täglichen Lebens im Kampfe mit der Umwelt betrifft, so hat uns A. Gehlen gelehrt, daß die „primitiveren" Naturgeschöpfe, wie die Tiere, ihrer Umwelt mehr eingepaßt sind, infolge ihres spezialisierten Körperbaus, als der unspezialisierte homo faber, der sich seine Umwelt erst schaffen muß85. Er verwandelt die Natur in Kultur (Zivilisation) mit Hilfe der Technik. Die Richtung geschichtlicher Entwicklung geht also vom spezialisierten Körperbau der „niederen" Lebewesen zum unspezialisierten Menschen, der sich auf Grund seiner hohen Plastizität (und Weltoffenheit) durchsetzt. Der Naturmensch steht zwischen beiden Polen. e) Viel schwerer ist es, Maßstäbe e t h i s c h e r und gar r e l i g i ö s e r M Ich verweise auf H. Ammanns Ausführungen über Sprachgenossenschaft und Sprachgemeinschaft, Die menschliche Rede, Lahr i. Baden 1925, S. 15 ff. M Vgl. auch D. Brinkmann, Aufstieg und Niedergang unserer Kultur? Universités II (1947), S. 1291 ff. »• A. Gehlen, Dei Mensch, Berlin 1944, S. 31 ff.

8 Otto, Sprachwissenschaft

113

Beurteilung aufzuweisen, sintemal ës zwischen den Farbigen Nordamerikas, den Bantunegern, den Hottentotten und Eingeborenen Australiens keinen Vergleich gibt, ja Völker wie Indonesier und Chinesen einen Vergleich mit dem Abendländer ablehnen, — sofern man überhaupt von „dem" Abendländer sprechen darf. Wir haben keine, als allgemeingültig a n e r k a n n t e Rangordnung der Werte ; besonders getroffen ist die ältere formale Logik seit W. Diltheys herber Kritik und M. Schelers Untersuchungen. Die Kulturkritik seit Kirkegaard und Nietzsche hat uns die Augen geöffnet über unsere Sittlichkeit und Religiosität. Auch der Orient und die Naturvölker sind in den Strudel hineingerissen: Ihre Kultgebräuche und die feste Tradition geordneter Gesellschaftsverhältnisse, die ihren Niederschlag in der Sprache gefunden haben, gehen der Auflösung entgegen, nicht ohne unsere Schuld. Wenn wir das ethische Ziel, das sich aus unserer „Rangordnung der Werte" (s. oben S.89f.) ergibt—der v e r a n t w o r t u n g s b e w u ß t e , g ü t i g e Mensch, im d e m ü t i g e n Dienst am Mitmenschen und an der Gemeinschaft — zugrunde legen, auch dann ist es wahrlich recht schwer zu sagen, wo das „höhere" Menschentum zu finden ist. Denn der „höhere" Stand unserer Technik ist wohl nicht entscheidend für die Einschätzung sittlich-religiöser Menschen I Uber die S p r a c h e „primitiver" Menschen im besonderen können wir dazu sagen, daß sie allerdings ihrer Umwelt angepaßt ist, namentlich die Wortwahl, wie auch die Sprache der westlichen Kulturwelt, deren Wortschatz jedoch auf dem mechanischen, biologischen und geistigen Gebiete viel umfassender ist als derjenige der exotischen Völker, überdies geht der Sprachwandel naturhafter Völker viel langsamer vor sich, deren Lebensformen traditionell stark gebunden sind38. V. R u d o l f H a l l i g und W a l t h e r v. W a r t b u r g befürworten die Ausarbeitung eines übernationalen „Begriffssystems", wodurch eine Grundlage geschaffen würde, welche die Darstellung des „Wortschatzes als Gesamtgefüge" ermöglichen könnte, „unabhängig davon, welcher Sprache, welcher Mundart oder welcher Epoche dieses Wortgut angehört"®7. Dieses Schema wäre somit ein gegliedertes Ordnungsgefüge, das dem sprechenden Menschen schlechthin bzw. der „Welt" naturgegeben, d. h. o b j e k t i v zugrunde liegt. Unter diesem Gesichtspunkt Überblicken die Verfasser, im Sinne Wilh. M C. Meinhof, „Ergebnisse", S. 188 f., unterscheidet auf Grund überzeugenden Materials frühere (primitivere) Sprachstufen und ursprünglichere Spradunittel (z. B. Stimmführung) gegenüber höher entwickelten Spachformen. *7 R. Hallig/W. v. Wartburg, Begriffssystem als Grundlage für die Lexikographie, Berlin (Akademie-Verlag) 1952. Vgl. W. v. Wartburg, Betrachtungen über das Verhältnis von historischer und deskriptiver Sprachwissenschaft, Mélanges de Linguistique offerts à Charles Bally, Genf 1939, p. 10 ff.

114

v. Humboldts38, die bisher nach „Sachgruppen" angelegten Begriffswörterbücher von Peter Mark Roget, Th. Robertson, Daniel Sanders, A. Schlessing/H. Wehrle und ganz besonders das umfassende Werk F. Dornseiffs*9. Alle diese Werke ordnen die Bezeidinungsmittel einer bestimmten Einzelsprache, meist nur zu praktisdi-stilistisdien Zwecken. Die bisherigen Anordnungen des Wortschatzes könnten zudem nicht auf eine andere Sprache übertragen werden und würden vor allem nicht die angemessene Grundlage für die Erschließung anderer Sprachen ermöglichen. In neuester Zeit sind dazu die „analogischen" bzw. „ideologischen" Wörterbücher von E. G. Carillo und A. de Sola (Madrid 1925), Ch.Maquet (Paris 1936) und J. Casares (Barcelona 1942) erschienen. F. Mezger ergänzt seine rückblickende Ubersicht durch eine eigene Gliederung40. In einem Begriffswörterbuch wird man folgerichtig von den Begriffsbedeutungen zunächst einmal ausgehen, wie ich statt „logischen Allgemeinbegriffen" wohl besser sagen möchte. Das physisch-sinnliche Zeichen, der Lautkörper, steht hier dann nur „für etwas". Stimmungsgehalt, mögliche Begleit- und assoziierte Nebenvorstellungen treten zurück. R. Hallig und W. v. Wartburg erheben nun mit Recht folgende Forderungen hinsichtlich der Auswahl und Anordnung der (vorwissenschaftlichen) Begriffsbedeutungen: a) Unter den Vorbegriffen (H.Lipps: „Vorgriffen"), die uns von den verschiedenen Sprachen geboten werden, kann nur eine ökonomisch begrenzte Auswahl getroffen werden, jedoch so, daß in dem zu suchenden Ordnungsschema jeder Seinsbereich vertreten sein muß, gewissermaßen die Leitlinien eines „Gradnetzes", das über den „Globus des sprachlichen Weltbildes gespannt" erscheint. Begriffe, die für die Erschließung eines Bereiches unwesentlich sind, z. B. Gehsteig, brauchen also nicht verzeichnet zu werden. Hier ein fest umrissenes Maß anzugeben, ist wohl kaum möglich. Die Aufzählung wissenschaftlicher Fachausdrücke in Philosophie, den Einzelwissenschaften, Kunst, Technik, Industrie, Verwaltung usw. ist nicht möglich und nicht nötig. Ich möchte sagen, daß man sich in diesem Falle auf die Anführung veranschaulichender B e i s p i e l e zu beschränken hat, daß mithin auch gelehrte Terminologien tunlichst zu vermeiden sind. In den erwähnten Begriffswörterbüchern (D. Sanders, A. Schlessing und *8 Schon Wilh. v. Humboldt, „Ges. Schriften" V, S. 437, hatte Wörterbücher gefordert, die nach Kategorien geordnet sind. *» F. Dornseiff, Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen, Berlin u. Leipzig 1934 (3. Aufl. 1943, 4. Aufl. 1954), bespricht eine reiche Literatur. Dazu die Ergänzungen in den „Preliminary Reports", p. 79 f. In den (17) Klassenpräfixen der Bantu-Sprachen könnte man bereits eine (natürliche) Einteilung nach Sachgruppen erblicken. 40 F. Mezger, „Preliminary Reports", p. 84 f.; — vgl. H. Frei, Qu'est-ce qu'un Dictionnadre de phrases? Cahiers F. de Saussure 1, Genf 1941, p. 43 ff.

8*

115

H. Wehrle, P. M. Roget, F. Dornseiff) findet sich neben Begriffswörtern auch manches syntaktische Material. Insofern es hier jedoch um die Klassifizierung von Begriffsbedeutungen, also um eine Angelegenheit der W o r t l e h r e geht, spielen die syntaktischen Prägungen, also auch die Wortarten, keine Rolle, wenn nicht mit dem Wandel der Wortart zugleich ein wesentlicher Bedeutungswandel in begrifflicher Hinsicht verknüpft ist. Es hat sich ergeben, daß wir mit vier fundamentalen Wortarten zu rechnen haben. Wir werden also, wie auch der Entwurf R. Halligs und W. v. Wartburgs bestätigt, Substantiva, Adjektiva, Verba und Relationswörter (Präpositionen und Konjunktionen) im Begriffssystem nebeneinander finden, und zwar hat die „natürliche" Wortart (s. oben S. 26) den Vorrang vor den abgeleiteten Wortbildungen. Wenn demnach F. Dornseiff anführt (a.a.O., S. 217) Bewegung — beweglich neben bewegen, so sind Substantiv und Adjektiv überflüssig neben dem Verbum bewegen: Die drei Worte haben denselben Begriffskern, beziehen sich aber auf einen V o r g a n g in der gegenständlichen Wirklichkeit, was den Ausschlag gibt (vgl. Hallig v. Wartburg, S. XX). Anders steht es mit der Präposition trotz neben trotzen, Trotz, trotzig und mehr noch mit der Präposition dank neben danken, Dank, dankbar. Sie sind daher in einem anderen Zusammenhang aufzuführen. Das Kriterium für die Auswahl der Begriffsbedeutungen ist durch Sinn und Aufgabe des Begriffssystems gegeben: Es soll nach Möglichkeit die differenzierten a l l g e m e i n e n Begriffe der menschlichen Sprache schlechthin enthalten, nicht die spezifischen Begriffe einer bestimmten Sprache. Denn letztere sollen erst auf Grund des neutralen .Ordnungsschemas" in ihrer Besonderung als Ausdruck einer typischen Geistigkeit verstanden werden. Also nicht Reichtum neben reich im (allgemeinen) Begriffssystem, wohl aber im Begriffswörterbuch der Einzelsprachen, auch um die Bildungsfähigkeit (Ableitungsmöglichkeiten) der Einzelsprachen aufzuweisen; wenn nicht Reichtum, so ist aber doch ,Besitz" im Begriffssystem anzuführen, das einer anderen Sphäre (einem anderen Felde) angehört, jedoch nicht besitzen (= Besitz haben): die „natürliche" Wortart eignet dem Substantiv Besitz; G. v. d. Gabelentz spricht in diesem Sinne von der „Grundbedeutung" (s. oben S. 26). Wo hier die Grenze liegt, ist im einzelnen Falle nicht leicht zu sagen. Es bedarf dazu eingehender Beschäftigung mit den einschlägigen sprachwissenschaftlichen Fragen und vor allem des vertieften Einblicks in den Geist mehrerer Sprachen infolge Sprachkönnens. Von hier aus gesehen, ist es nicht gleichgültig, in welcher Sprache das Begriffswörterbuch abgefaßt ist; es wird gelegentlich auf den angemessenen Ausdrude dieser oder jener Sprache zurückgreifen müssen. Immerhin kann der von R. Hallig und W. v. Wartburg vorgelegte Entwurf, der au6 ihrer Berufstätigkeit erwachsen und daher in französischer Sprache niedergelegt ist, mit vollem 116

Recht als ein erster und zwar höchst bedeutender .Versuch" dieser großen Idee bezeichnet werden. Fassen wir diese Überlegungen zusammen, so ergeben sich folgende Grundsätze: Es ist sorgfältig zu unterscheiden zwischen den (früheren) »BegriffsWörterbüchern" der Einzelsprachen und dem (neuen) Gedanken eines allgemeinen Ordnungsschemas der menschlichen Sprache überhaupt (des Menschengeistes), das Hallig/v. Wartburg mit Recht als „Begriffssystem" kennzeichnen und das .nur" die .Grundlage für die Lexikographie" abgeben soll. N e g a t i v wäre zu sagen: In ein .Begriffssystem" gehören nicht die z.T. subjektiv-assoziierten Nebenvorstellungen, also auch nicht der Stimmungsgehalt der Wörter; auch nicht Metaphern (figürliche innere Sprachformen); auch nicht das aktuelle Bedeuten eines Wortes in einem bestimmten Kontext (s. oben S. 100); auch nicht die Aufzählung der einzelnen Glieder eines Sprachfeldes, z. B. Sonne, Mond, Sterne usw. Es fallen also Hunderte der von Hallig/v. Wartburg angeführten Begriffsbedeutungen (und der sich durchkreuzenden Hinweise) fort. Das alles gehört in die .Begriffswörterbücher" (conceptual dictionaries) der Einzelsprachen, also auch das aktuelle Bedeuten der vagen Ausdrücke, gegebenenfalls mit Angabe der betreffenden Stelle (Kontext) und Situation. P o s i t i v gesprochen, eignen dem „Begriffssystem" nur die Hinweise auf alle Einzelfelder, durch typische Beispiele illustriert, um .lediglich den Ort festzulegen", an dem wissenschaftliche und allgemeine Ausdrücke zu stehen hätten, während die eigenartigen Ausgliederungen eines Feldes (Lagerung, Abgrenzung, Fehlen und Reichtum der Begriffsbedeutungen) den .Begriffswörterbüchern" zu überlassen sind41, d. h. die „Begriffe" des Begriffssystems werden sich nicht an den geschichtlichen Begriffsbedeutungen (den mehr oder weniger logischen Kernen) der sich wandelnden Einzelsprachen orientieren, sondern zu den überzeitlichen Sinnrichtungen des kategorialen Systems hinneigen. Aus den obigen Darlegungen ergibt sich, daß Synonyma in dem gesuchten Begriffssystem keine Stelle haben. Es fragt sich zunächst, was unter synonymen Ausdrücken zu verstehen ist und ob es überhaupt solche Ausdrücke gibt. Die Ansichten über diese letztere Frage sind geteilt 48 . 41 Man prüfe daraufhin die von L.Weisgerber aufgewiesenen FeldeT, „Deutsche Sprache", S. 154 ff., sowie das von W. E. Collmson gesichtete Material, „TTansactions" 1939, p. 56 ff. 4 1 Vgl. A. Marty, .Gesammelte Schriften" II, 2, S. 83 f.: „streng synonyme Namen", und Fr. Kainz, .Sprache", S. 145: „verschiedene sprachliche Ausdrücke für den gleichen Gedankeninhalt"; andererseits B.v. Lindheim, Neue Wege der Bedeutungsforschung, Neuphilol. Ztschr. III, S. 106: „Zwei WoTte derselhen Sprache" lassen sich „bedeutungsmäßig" nicht zur Deckung bringen, und H. Paul, „Prinzipien", S. 251 f.: „Die Sprache ist allem Luxus abhold".

117

Die Antwort hängt davon ab, was man unter „synonym" versteht. Meint man die gesamte Bedeutung, einschließlich Stimmungsgehalt, Begleit- und Nebenvorstellung (s. oben S. 99 f.), so gibt es schwerlich edite Synonyme; denkt man jedoch nur an die Begriffsbedeutung (B. v. Lindheim: „Begriffszusammengehörigkeit"), so kann man eine beschränkte Möglichkeit von Synonymen (in den idg. Sprachen) nicht von der Hand weisen. Mit Recht halten R. Hallig und W. v. Wartburg dafür, daß Bedeutungsschattierungen (z. B. mit Hilfe der franz. Vorsilbe re-: renaître) sowie Gegenbegriffe (frz. dénouer neben nouer) in das Begriffssystem nicht aufzunehmen sind (a.a.O., S. XX). b) Bezüglich der A n o r d n u n g der Begriffsbedeutungen erheben R. Hallig und W. v. Wartburg folgende entscheidende Forderungen: Das System einer strukturellen Gliederung der Begriffe ist so einzurichten, daß sich alles zu einem gefügehaften Ganzen zusammenschließt. Das bis zu einem gewissen Grade „naturgegebene" Gerüst der Welt, in dem alle Begriffe gliedhaft zusammenhängen, wird dann die Einsicht in das Weltbild d e r Sprache ermöglichen und als Grundlage für die Ordnung des Wortschatzes einer bestimmten Einzelsprache dienen und somit zum Einblick in deren Struktur hinführen. Unter Anwendung der phänomenologischen Methode ergibt sich für R. Hallig und W. v. Wartburg die nachstehende Einteilung der Welt und die Ausgliederung ihrer verschiedenen Bereiche: 1. D a s W e l t a l l : Himmel, Erde, Pflanzen, Tiere. 2. D e r M e n s c h als physisches, seelisch-intellektuelles und soziales Wesen; die Organisationen der menschlichen Gesellschaft. 3. M e n s c h u n d W e l t a l l : Vorgegebene Grundbegriffe (Beziehungen) wie Sein, (Sinnes-) Qualitäten, Raum, Zeit, Kausalität etc.; Wissenschaft und Technik. Es seien mir einige kritische Bemerkungen zu diesem wohldurchdachten und mit peinlicher Sorgfalt durchgeführten System gestattet: Verglichen mit dem an der neueren Ontologie orientierten Aufriß von Schichten und ihren Kategorien (s. oben S. 87 ff.) wäre zunächst ganz allgemein zu sagen, daß sich beide Anordnungen sehr nahe stehen, zumal auch R. Hallig und W. v. Wartburg grundsätzlich davon überzeugt sind, daß das Selbst und die (gegenständliche) Welt in einem Korrelationsverhältnis stehen. Da die Relationen wie Raum, auch Zeit, Kausalität etc. „vorgegeben" (a priori) sind, „vor mir" waren und „nach mir" sein werden, auch „den Eindruck des vom Ich Abgelösten" machen48, sind sie im Sinne der neueren Ontologie dem Abschnitt 1. (Das Weltall) bzw. der medianlsdi-gegenständlichen Schicht einzuordnen. Die Autoren beziehen sich auf H. Freyers „Theorie des objektiven Geistes" und H. Volkelts „Versuch über Fühlen und Wollen". 118

Durch die Einführung und angemessene Abgrenzung der biologischen Schicht würden sich viele Ausdrücke, die sowohl dem Menschen wie dem Tier (und Pflanzen) gemeinsam sind, einheitlich zusammenfassen und unterbringen lassen (s. S. XVI). In dieser Richtung macht bereits F. Dornseiff (Abteilung 7) einen Vorstoß; F. Mezger, a.a.O. S. 84 f., schiebt sehr treffend zwischen der anorganischen Welt und der des Menschen die Organic world ein (einschließlich .man as part of nature"). Die Objektivationen der gesdiichtlidien Welt sowie die entsprechenden subjektiven Regungen verteilen R. Hallig und W. v. Wartburg auf die Rubriken 2. und 3. Sie fügen sich jedoch einheitlich dem Rahmen der „geistigen Welt" ein, gemäß den Strebungen der oben (s. S. 86) aufgewiesenen Übersicht: Theorie und Praxis, Leistung und Güte, das Absolute. Wenn man die oben (S. 88 f.) gegebenen Attribute des G e i s t i g e n nicht außer acht läßt, also nicht in die Funktionen des Verstandes, ins Formal-Rationale abgleitet; wenn man — vom Subjekt aus gesehen — unter T h e o r i e (einschließlich des Ä s t h e t i s c h e n ) 4 4 die Sehnsucht nach der Wahrheit versteht (vgl. Hallig/v. Wartburg S. XXX oben, XXXIII, XXXIV f.) und unter P r a x i s die Sehnsucht technischen Schaffens, und zwar mit relativ geringstem Kraftaufwand den möglichst größten Erfolg zu erzielen (ebd.: S. XXX ff.); weiterhin unter L e i s t u n g die Sehnsucht verantwortungsbewußten „Handelns" und unter Güte die Sehnsucht nach Hingabe und Opferbereitschaft (ebd.: an verschiedenen Stellen); schließlich unter R e l i g i o s i t ä t die Demut gläubigen Herzens (ebd.; S. XXVIII), dann ist die angemessene Einordnung der wesentlichen spezifischen „Tugenden" in die entsprechenden (objektiven) Kategorien nicht zu verfehlen 45 (siehe oben S. 89, Anm. 49, die Rangordnung der fundamentalen Kategorien bzw. Sinnsphären). Diese Bestimmungen des überzeitlichen Sinnes sind also material, keineswegs formal-sinnfrei unter Absehung „inhaltlicher Verschiedenheiten"; diese Verkennung des „Sinnes" hat zu den schwersten Irrtümern verführt, worauf später noch zurückzukommen ist48. " W. Dilthey: „Die Kunst versucht auszusprechen, was das Leben sei." 45 Ich darf bemerken, daß neben der Ethik auch die deutsche Existenzphilosophie {K. Jaspers, M. Heidegger; besonders auch H. Lipps und O. Fr. Bollnow) sowie der französische Existenzialismus (z. B. G. MaTcel, Homo Viator, 1949) viel zur Durchleuchtung geistigen Seins beigesteuert haben. 48 Um nicht dem „Psychologismus" zu verfallen, d. h. inhaltlich-historische Sinnerfüllungen in die „Idee" aufzunehmen, bestimmt P.Natorp in seiner „Sozialpädagogik" alle Tugenden formal-gesetzlich (als „rein objektiv", „unbedingtgesetzlich*, als „Regel der Regel" etc.); sie fließen daher ineinander. Wenn auch H. Rickert, System der Philosophie I, Tübingen 1921, S. 377, erklärt: „Vor allem haben wir darauf zu achten, daß unsere Begriffe von allen geschichtlichen Besonderheiten frei bleiben, um auf alle denkbaren historischen Erfüllungen bezogen werden zu können. Wir müssen also von allen inhaltlichen (!) Verschiedenheiten auch des Sinnes (!) der Wertungen absehen", so verwechselt er (historische) Bedeutung und überzeitlichen Sinn (s. oben S. 101).

119

Allerdings gibt es auch allgemeine Eigenschaften geistigen Gerichtetseins, die mehr oder weniger allen Sinnrichtungen zugrunde liegen, z. B. Maß und Tapferkeit (in N. Hartmanns Deutung: Beherrschung und Einsatzbereitschaft), Treue, Besonnenheit. Überdies sind R e c h t und K o n v e n t i o n als rationale Regelungen verantwortlicher Leistung bzw. gütiger Rücksichtnahme zu deuten (ebd.: S. XXXII unten). Das Gebiet der W i r t s c h a f t ist wohl zu sondern von ihrer Grundlage, der Technik, und fällt als g e s e l l s c h a f t l i c h e Funktion wesentlich in das Reich verantwortlichen Handelns 47 . Im gesellschaftlichen Bereiche sind die Urgebilde (Schicksalsgemeinschaften) Familie, Volk, Menschheit zu unterscheiden von den mehr rationalen Vergesellschaftungen wie Berufsverbänden, Staat, Kirche etc. (ebd.: S. XXIX unten, XXXII f.). — Uberblickt man die bisherigen „Begriffswörterbücher", zumal F. Dornseiffs Gruppen 6, 7, 13 bis 20, sowie ganz besonders die Anordnung F. Mezgers, so laufen sie wesentlich auf die Gliederung: anorganische — organische Natur — Geistesleben hinaus; im Grunde genommen auch das Begriffssystem R. Halligs und W. v. Wartburgs. Doch würde es sich nicht empfehlen, die subjektive von der objektiven Seite, d. h. die biologischen und geistigen Phänomene des Bewußtseins von den entsprechenden Sachbereichen zu trennen, zumal sie ja, wie angedeutet, Korrelationen bilden und sich wechselseitig bis ins letzte erhellen 48 , was namentlich für ein Begriffswörterbuch gilt. Es fragt sich jedoch, wie das vorliegende .Begriffssystem" R. Halligs und W. v. Wartburgs gewonnen ist. Wohl „an" der Sprache, zum guten Teil aber auch aus philosophischen (psychologischen) Quellen (a.a.O., S. XIV f.), worauf die Namen und Werke der herangezogenen Philosophen hinweisen (J. Stenzel, H. Freyer, J. Volkelt, E. Cassirer etc.). Kommt es mir doch in diesem Abschnitt ganz besonders darauf an, den vorläufigen Ansatz der Sdiiditen — und Kategorien — (s. oben S. 86) schließlich aus der Sprache zu rechtfertigen. Dieses in sich geschlossene System ist nicht an die Sprache herangetragen, sondern a u s ihrer immanenten Struktur abgelesen; m. a. W. „mit" der Erfahrung (a priori) zum Bewußtsein erhoben — nicht deduktiv aus einem obersten Prinzip abgeleitet — und zwar unter der Voraussetzung, daß eine „übergreifende" Ordnung die ganze Welt des Inneren und des Äußeren durchwaltet. Das ist der einzig 41

Vgl. dazu und besonders das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst (das Ästhetische), meine Allgemeine Erziehungslehre (1928) sowie Wert und Wirklichkeit (1941). Vgl. Martin Buber, Das Problem des Menschen, Heidelberg 1948, S. 125: „Die Frage, was der Mensch sei, kann nicht durch Betrachtung des Daseins oder des Selbstseins als solches beantwortet werden, sondern nur durch Betrachtung des Wesenszusammenhangs der menschlichen Person mit allem Sein und ihrer Beziehung zu allem Sein." . . . „Nur wenn wiT die menschliche Person in ihrer ganzen Situation, in ihren Beziehungsmöglichkeiten auch zu allem, was nicht sie ist, zu fassen versuchen, fassen wir den Menschen." Dazu S. 158.

120

mögliche „Beweis", die einzige aufweisbare Rechtfertigung der sich aufdrängenden Rangordnung der Seinsschichten. über den a p r i o r i s c h e n Charakter des von R. Hallig und W. v. Wartburg gesuchten Begriffssystems und seiner Schichten (Kategorien) läßt die Ausdrucksweise beider Autoren keinen Zweifel. Sie sprechen, wie wir bereits gesehen haben (S. 118), von .vorgegebenen' .Kategorien* („Leitlinien", „Bewußtseinsletztheiten") einer „strukturellen" Gliederung, von dem „naturgegebenen" Gerüst der Welt wie von dem „naturhaften" Weltbild, von der „Allgemeinverbindlichkeit* eines Schemas, auch wiederholt von dem „gefügehaften Ganzen", in dem sich „gemäß der dem Leben eigenen Logik" eines aus dem anderen ergeben müsse. So leuchtet auch hier, wie bei L. Weisgerber und J. Trier (s. oben S. 108 ff.), eine gewisse „Tendenz" des Sprachgeschehens auf, ein Gerichtetsein auf eine sachgemäße Struktur der Felder, auf das „Richtige" und „Echte" der Sprache, auf das „ideale Gerüst" der apriorischen Grammatik (Husserl), kurz: auf „Vollendung", die W. v. Humboldt als Ziel sprachlichen Wandels vorgeschwebt hat (s. oben S. 4 ff,, 105 ff., 112). Scheint doch im Wandel der Sprachen eine „Organisation" vom Zufälligen zum Notwendigen zu liegen, ein siegreiches Fortschreiten ordnender Prinzipien; sonst wäre die Sprache nicht das große Wunderwerk der Schöpfung4*! So schließt sich allmählich der Kreis um die Grundlegung einer Allgemeinen Wortlehre. Die weitere Aus- und Umgliederung der kategorialen Felder und Großfelder durch das Walten der geistigen Kräfte ist schließlich noch weiter unten („ Sprachwandel") ausführlich darzulegen. u

Aug. Schleicher, Ztschr. f. vergleichende Sprachforschung 43 (1910), S. 367.

121

VII

Sprechakt und

Sprachwandel

Die Auseinandersetzungen zwischen E. Bernheim und E, Meyer haben uns die Augen dafür geöffnet, daß es nicht nur Wandlungen (Entwicklungen) des geschichtlichen Lebens gibt (onto- und phylogenetischer Art), sondern auch .Handlungen" 1 . So ist z. B. der Siebenjährige Krieg selbst keine „Entwicklungs" -Erscheinung wie der Wandel der Völker und ihrer Kulturen, wenn er auch zu ihrer Entfaltung beigetragen hat, sondern die Verquickung mancherlei H a n d l u n g s w e i s e n unter bestimmten Voraussetzungen und als Auswirkung vielerlei Motive. So auch der SprechakL Auch hier gibt es allgemeine und notwendige Zusammenhänge, deren Erforschung Angelegenheit und Aufgabe der Allgemeinen Sprachwissenschaft ist2. Wer von dieser oder jener Sprache spricht, wird sich dessen bewußt sein, daß sich Sprache nur in Wörterbüchern und Grammatiken verzeichnet, auch in literarischen Erzeugnissen niedergeschlagen hat, eine Art fossilen Daseins fristet, daß aber die Wirklichkeit nur die S p r e c h h a n d l u n g ist, angefangen vom einsamen Selbstgespräch bis hin zur gesamten Gesprächslage im Ganzen des sinnenden, schaffenden und handelnden Menschen. Wie man in der älteren Heilkunde von den möglichen Krankheiten ausging, jetzt aber vom ganzen Menschen in seiner Arbeit und Muße, so jetzt die neuere Linguistik vom sprechenden Menschen, der sich in einer bestimmten Lage mitteilen und verständigen, sich auch von Affekten befreien will. Sprechakt und Sprachwandel sind innig miteinander verwoben. Vollzieht sich doch aller Sprachwandel als geschichtlicher Vorgang allein im Sprechakt. Das Verständnis des Sprachwandels setzt mithin einen gewissen Einblick, in die aktuellen Prozesse der Satz- und Wortbildung voraus. Wenn man von Gesetzen auf dem Gebiet der Sprache gesprochen hat, z. B. von „Lautgesetzen", so dachte man zunächst oder auch ausschließlich an die historischen Gesetzlichkeiten des Sprachwandels. Und doch gibt es 1 E. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode und der Gescbichtsphilosophie, Leipzig 1908, S. 128; — Ed. Meyer, Zur Theorie und Methodik der Geschichte, Halle (Saale) 1902, S. 6. 1 Vgl. E. Otto, .Grundlegung", S. 4 ff.; 45 ff.; 73 ff:; Allgemeine Unterrichtslehre, Berlin — Leipzig 1933, S. 170 ff.

122

auch Gesetzlichkeiten des „Handelns*; denn auch das Sprechen ist eine Art des Handelns, A. Der Sprechakt Wilh. Wundt bestimmt in seinen „Essays" die Sprechtätigkeit als Gedankenäußerung durch artikulierte Bewegung, also einschließlich der Taubstummensprache 3 . Wir haben mithin gemäß der oben (S. 43) aufgewiesenen Gliederung zu untersuchen: einerseits die p s y c h o p h y s i s c h e n , akustisch-motorischen Vorgänge der Reproduktion und Produktion der Beziehungsmittel bzw. der Begriffswörter; andererseits die p s y c h i s c h e n Erlebnisse des Beziehungs- bzw. des Begriffsbedeutens im Akte der Satzgliederung. Dies geschieht an Hand einer kritischen Stellungnahme zu der vorliegenden Literatur. I. Wirken und Ablauf des Beziehungsbedeutens. a) Auf dem Gebiete der Satzgliederung, der „Formen-" und auch der Wortbildung hatte sich die Linguistik damit abgefunden, von „ A n a l o g i e b i l d u n g e n " zu sprechen, nachdem H. P a u 1 seine verschiedenen Arten von (stofflich-lautlichen) „ P r o p o r t i o n s g l e i c h u n g e n " aufgestellt und erläutert hatte 4 . Die Schemata Tag : Tages : Tage = Fisch : Fisches : Fische, führen : Führer : Führung — erziehen : Erzieher : Erziehung und dann weiter (unstofflich, auf Grund des „Sprachgefühls"!) pater : mortuus = filia : pulchra = caput: magnum etc., wobei immer, sowohl in der Satzlehre wie in der Wortlehre, das vierte Glied der Proportionsgruppe zu ergänzen war, bleiben aber sehr an der Oberfläche infolge der Schwäche der damaligen Assoziationspsychologie, auch infolge der verfehlten Auffassung des Satzes als Verbindung (seit Aristoteles). Daher die Kritiken Misteiis, Wegeners, Dittrichs, Wundts, Delbrücks, Sütterlins u. a. Dem wäre noch hinzuzufügen, daß H. Paul zunächst wohl vom geschichtlichen Sprachwandel, dann von der aktuellen Sprechtätigkeit handelt, wesentlich jedoch die Flexion als Beziehungsmittel im Auge hat, trotz der späteren Unterscheidung der Beziehungsmittel (§ 86), wo die Präpositionen und Konjunktionen—neben den Hilfszeitwörtern— als „Verbindungswörter" (cf. syndesmoi) aufgeführt werden! b) In diesem Streit der Meinungen bedeutet W. W u n d t s Auffassung der Rede als G l i e d e r u n g einen großen Fortschritt. Wundt definiert den „Satz" als „den sprachlichen Ausdruck für die willkürliche Gliederung einer Gesamtvorstellung in ihre in logische Beziehungen zueinander gesetzten Bestandteile". Abgesehen von den Bestimmungen „willkürlich" und ,logische Beziehungen", wird man dieser Definition des Satzes (der 1

Wilh. Wundt, Essays, Leipzig 1906, S. 286. H.Paul, „Prinzipien", S. 107 ff. Vgl. dazu A. Debrunner, Lautgesetz u. Analogie. Idg. Forsch. 51 (1933), S. 271 ff. 4

123

Rede) die Zustimmung nicht versagen können 5 . Man kann dann kurz sagen: Die Rede ist die Gliederung einer Gesamtvorstellung; oder, w e n n man weiter ausholen will: die Gliederung einer Gesamtvorstellung mittels der in Beziehung gesetzten Begriffsworte 8 . Denn die Beziehung, und zwar in dem oben (III. Kap.) dargelegten Sinne, ist das Wesentliche. Angesehene Sprachforscher, wie B. Delbrück, Sütterlin, O. Dittrich W. Porzig, der Romanist J. Haas, legen Gewicht auf die Abgeschlossenheit des „Satzes". Auf die berühmte Frage J o h n Ries': W a s ist ein Satz? ist jedoch zu antworten: eine Abstraktion! Denn die ganze Wirklichkeit besteht nur in der s i t u a t i o n s g e b u n d e n e n R e d e ( s . oben S. 42 f.). Sonst kommen wir schließlich dahin, mit Th. Kalepky ein Kopfnicken als einen ebenso «vollwertigen Satz" wie Du darfst es tun zu betrachten 7 . Auf W. Wundts umfangreiche Unterscheidungen und Begründungen des Lautwandels recht verschiedener Arten einzugehen, ist hier nicht die Stelle, da er wesentlich g e s c h i c h t l i c h e Vorgänge im A u g e hat, auch hinsichtlich der »assoziativen Fernewirkungen", wodurch er die Lehre von den Proportionsgruppen (Analogiebildungen) ersetzt 8 . W . W u n d t s analytische Auffassung der Rede wird weitgehend b e stätigt durch O. N i e m e y e r s Experimente 9 . Denn der Satz ist keine Verbindung, vielmehr ist e r s t d a s G a n z e dem Bewußtsein gegenwärtig. Die Satzstruktur wird schon mit den ersten Worten, wenigstens in ihren Grundzügen, aufgefaßt, während die Namen erst dann verstanden werden können, wenn sie ausgesprochen sind. Der Begriff des Ganzen bezieht sich auf die formale Struktur des Satzes; denn es ist möglich, daß bei Beginn des Sprechens ein Begriff noch fehlt, z. B. wenn wir in dem Verlauf der Rede nach einem passenden Ausdruck suchen Entstehung des Satzbewußtseins", S. 81 ff.). O. Niemeyer will nicht den historischen Prozeß der Sprachschöpfung untersuchen, sondern den Akt, wie der Mensch die Beziehungsmittel sprachlicher Darstellung und Verständigung in der gegebenen Sprach• An anderer Stelle, „Sprachgeschichte und Sprachpsychologie", Leipzig 190t, S. 69 ff., erklärt Wundt, unter logisch: .Gedankenbeziehungen" im psychologischen Sinne zu verstehen. • Vgl. meine Methodik und Didaktik de« neusprachlichen Unterrichts, Bielefeld u. Leipzig 1925, S.308, und Grundfragen der Linguistik, Idg. Forsch. 52 (1934), S-181; will man die Rede als historisches Kulturprodukt beschreiben, so könnte man sagen: Sie ist die Gesamtheit der in Beziehung gesetzten Begriffsworte (Method. u. Didakt., S. 197). 7 Th. Kalepky, Neuaufbau der Grammatik, Berlin 1928, S. 9; — J. Ries, «Was ist ein Satz?". • Vgl. H. Pauls Kritik, «Prinzipien", S. 116, Anm. 1, und A. Thumb, Experimentelle Psychologie und Sprachwissenschaft, Germ.-Rom. Monatssdrr. III (1911), S. 7 ff. u. 65 ff. • O. Niemeyer, «Entstehung des Satzbewußtseins" und Methodisches und Tatsächliches zur Sprachpsychologie, Archiv f. d. ges. Psych. 97 (1936), S. 450 ff., 460 f. 124

gemeinsdiaft erfaßt Die Versuchsanordnung nähert sich mithin dem Prozeß des kindlichen Sprachverständnisses. 0 . Niemeyer legt daher Gewicht darauf, die Vorgänge des Denkens und Sprechens möglichst zu sondern. Infolgedessen wurde den Vpn. in einer ersten, zweigliedrigen Reihe die .Situation" geboten, z. B. zabet — zab; sodann in einer zweiten, dreigliedrigen Reihe die sprachliche Darstellung in Form eines einfachen Satzes: etlskälo •— wasmahu — koireda. Die Satzgliederung wird dabei durch die Vorsilben zum Ausdruck gebracht: etl-, wo- und ko-, also nicht durch Wortstellung, die vielmehr dauernd gewechselt wird. Die mit Präfixen gebildeten Worte wurden als verschiedene Wortarten aufgefaßt (vgl. oben S. 25) und als Kennzeichnung der Satzteile gedeutet (Prädikat — Subjekt — Objekt). Die Aufgabe bestand nunmehr darin, von links nach rechts lesend, mit Hilfe der unteren Reihe auszusagen, was in der oberen vorliegt Die Ergebnisse waren: 1. Das Wesen des Sprechens liegt in der n a c h t r ä g l i c h e n Aufgliederung des Situations- und Gedankenkomplexes. O. Niemeyer betont daher mit Recht die Bedeutsamkeit der „sukzessiven Attention" (d. h. Aufmerksamkeit bzw. Wundts Apperzeption). 2. Das Streben nach sprachlicher Richtigkeit führt zur Darstellung eines e i n h e i t l i c h e n G a n z e n auf Grund einer „Determination", die .erst das Ganze des Sachverhalts und dann seine Teile darstellen will* (s. unten N. Ach). O. Selz unterscheidet drei Möglichkeiten der Satzbildung, die phasenweise, die analytisch nachträgliche und die synthetisch nachträgliche Formulierung10. 3. Das schnelle V e r s t ä n d n i s des Satzes hält sich zunächst an seine formale Struktur, um so mehr als die Objekte der Gesprächssituation hier nur durch sinnlose Worte dargestellt sind. Gehen doch, wie auch oben des öfteren dargelegt ist, die Wortarten („Wortkategorien") auf die realen Verhältnisse unserer Umwelt zurück, weswegen ja die erste, zweigliedrige Reihe „die Situation" genannt werden konnte. 4. Während Wundt die Bildung der Lautformen sehr stark betont und O. Selz (s. unten) am logischen Prozeß des Denkens vor allem interessiert ist, hält sich O. Niemeyer wesentlich an das eigentlich Sprachpsychologische. Er legt daher großes Gewicht darauf, die F u s i o n s e i n h e i t des Sachverhalts der Situation und des gesamten Lautkomplexes der Rede klar herauszustellen. 5. Zum Thema S p r e c h e n u n d D e n k e n . Um das Beziehungserlebnis des Satzbewußtseins in der Eigenartigkeit der „Darstellungsfunktion" zu erfassen, sucht O. Niemeyer den begrifflichen Gehalt des Denkens möglichst auszuschalten. Er führt die sinnlosen Wörter auf 10 O. Selz, Zur Psychologie des produktiven Denkens und des Irrtums, Bonn 1022, S. 339 ff., 350 ff.

125

ihre abstrakten Bestandteile zurück (skälo > K K V K V), setzt auch Figuren O ) a n die Stelle der Wörter. Die Ablösung der Bpziehungsbedeutungen und ihrer syntaktischen Leistungen — die eig. Mitteil, ist nicht herangezogen — von den Begriffsbedeutungen ist indes nicht durchzuführen. Konnte doch O. Niemeyer nicht einmal absehen von den Begriffsbedeutungen der Prädikate (kürzen, umstellen, verlängern). Also ist eine ideale Lösung seiner Versuche, der Beziehungsmittel und ihrer Beziehungsbedeutungen (der »grammatischen Kategorien") im Rahmen der alltäglichen Rede rein an sich habhaft zu werden, ein unmögliches Unterfangen. O. Niemeyer ist so weit vorgestoßen, wie irgend möglich. Aber das Satzbewußtsein entfaltet sich nun einmal in der Wechselwirkung der sich gegenseitig erhellenden Begriffs- und Beziehungsbedeutungen. Damit ist das eigentliche Problem: Denken und Sprechen noch nicht angegangen. Die Fragestellung ist jedoch noch etwas weiter zu fassen. Dazu gehört zunächst einmal das Problem des Spradiverständnlsses, und zwar des gehörten wie des gelesenen Wortes, d. h. des von der akustischen wie von der optischen Komponente her betrachteten Eindrucks11. Dann das Problem des sinnvollen Sprediens i. e. S., und zwar des freien Sprechens, des Lesens schriftlich niedergelegter Texte wie des Schreibens spontaner Art (bis herab zum bloßen Kopieren). Jede dieser Betätigungen (Handlungen) schließt die verwickeltsten Prozesse in sich. Sie wären alle von linguistisch gründlichst durchgebildeten Psychologen zu untersuchen, und zwar erstens a 11 s e i t ig, d. h. unter Beachtung aller Beziehungsmittel und aller ihrer Leistungen, einschließlich der eigentlichen Mitteilung und der Stellungnahme zum Sachverhalt; überdies u m f a s s e n d ; also nicht als abstrakte Laboratoriumsversuche, sondern unter Beobachtung der jeweiligen, wirklichen Gesprächslage. Zu all diesem bedarf es noch der engen Zusammenarbeit von Psychologen und Linguisten. O. Niemeyers experimentelle Untersuchung kann bereits als ein sehr ernster Anfang gelten, doch ist er von Linguisten, soweit ich sehe, bisher nicht gewürdigt worden. Das Verhältnis von Sprechen und Denken im allgemeinen ist von Sprachwissenschaftlern und Psychologen von altersher wohl beachtet worden. Dabei schillert der Begriff des Denkens in den verschiedensten Farben. H. Steinthal hat bereits drei Stufen unterschieden: Auf der untersten bedarf das A n s c h a u e n von äußeren und inneren Bildern nicht des Wortes. Das Denken des a l l t ä g l i c h e n L e b e n s ist in der Regel an die Sprache gebunden. Auf einer h ö h e r e n S t u f e der Ausbildung sucht sich der Geist jedoch von der Last des Lautes zu befreien (s. oben S. 9 f.). Auf Grund eines umfassenden und sorgsam 11 Siehe dazu meine Andeutungen, „Grundlegung", S. 64 ff.; Allg. Unterrichtslehre, 1933, S. 173 f.

126

gesichteten Materials kommt Fr. Kainz zu Ergebnissen, die dem nicht widersprechen: Die sensorisdi-motorisdie Intelligenz des homo faber ist unabhängig von der sprachlich bedingten Intelligenz. Das eigentlich Schöpferische des Denkens ist übersprachlich; der durcharbeitende Verlauf des logischen Denkens vermag dagegen vom Sprachlichen her in bezug auf Folgerichtigkeit und Schritthaftigkeit wesentlich gefördert zu werden. Der Normalfall ist mithin der, daß Begriffserlebnisse gemeinsam mit Worterlebnissen vorkommen und daß das Bedeutungserlebnis an das Denken des muttersprachlichen Wortzeichens gebunden ist12. „Denken" bedeutet mithin recht Verschiedenes. c) Die Deutung des Sprechvorgangs führt von Pauls „Analogiebildungen" auf Grund von Proportionengruppen über Wundts „assoziative Fernewirkungen" und, wenn man den Blick nicht eng auf den historischen Wandel einzelner Laute beschränkt13, zu N. A c h s „ d e t e r m i n i e r e n d e n T e n d e n z e n" 14 . N. Ach hat durch Experimente nachgewiesen, daß unser Vorstellungsverlauf nicht nur unter Wirkung von assoziativen und perseverierenden Reproduktionstendenzen vor sich geht, sondern auch unter dem Einfluß von determinierenden Tendenzen. Darunter sind Wirkungen zu verstehen, die „von einem eigenartigen Vorstellungsinhalte der Z i e l v o r s t e l l u n g ausgehen und eine Determinierung im Sinne oder gemäß der Bedeutung dieser Zielvorstellung nach sich ziehen". Diejenige Vorstellung, auf welche sich die Absicht bezieht, z. B. die beim Experiment in einem Kartenwechsler erscheinende und mit Ziffern bedruckte Karte, heißt die „Bezugsvorstellung". Auf diese Weise kann man den Ablauf unserer Willensbetätigungen, auch der Suggestionen, deuten. .Hatte sich in den vorliegenden Experimenten die Vp. beispielsweise die Absicht „Addieren" vorgenommen, so realisierte sie diese Intention beim Erscheinen des Reizes 913 (d. h. der Bezugsvorstellung) auf Grund der durch den Vorsatz in Bereitschaft gesetzten Tendenzen mit der Antwort 12. War die Absicht „Dividieren", so erfolgte als Reaktion die Zahl 3. Es werden also durch den gleichen Reiz recht verschiedene Vorstellungen reproduziert! im einzelnen Fall wird dann jene Vorstellung überwertig, die dem Sinne der Absicht entspricht. So bestimmen die von den determinierenden Tendenzen ausgehenden Wirkungen den geordneten und zielbewußten Ablauf des seelischen Geschehens. Die Versuchsanordnung wurde überdies recht verschieden ab18 H. Ste&nthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissensdi. I (1881), S. 48 ff.; — F r . Kainz, „Sprache" I, S. 153, 166 ff.; — vgl. meine „Grundlegung", S. 45 ff. Zu ähnlichen Auffassungen ist der Philosophen-Kongreß in Edinburg, 1951, gekommen; s. d. Bericht Freedom, Languagé, and Reality, London 1951, XXV. Ergänzungsband deT Aristotelian Society, Referat von I. Murdoch (p. 26 ff.), A.C.Lloyd (p. 36 ff.), G. Ryle (p. 66 ff.). 14 Vgl. B.Delbrück, Grundfragen der Sprachforschung, Straßburg 1901, S. 111. 14 N. Ach, Uber die Willenstätigkeit und das Denken, Göttingen 1905, S. 173 ff., 187, 191 ff.

127

gewandelt; es wurde auch sprachliches Material geboten, sinnlose Silben, mit der Instruktion, einen sinnlosen Reim auf diese Reize zu bilden. Damit ist der Nachweis erbracht, daß mit Hilfe der determinierenden Tendenzen auch neue W o r t b i l d u n g e n ermöglicht werden. Diese Versuche legen den Gedanken nahe, das eigenartige Wirken der von einer Absicht ausgehenden determinierenden Tendenzen zur Aufhellung der höchst geheimnisvollen Abläufe des Sprechaktes heranzuziehen. Ist doch der Sprechvorgang selbst — wie der historische Sprachwandel — zielgerichtet, d.h. »determiniert"! Diesem Versuch hat N. Ach mir gegenüber persönlich zugestimmt. Befragen wir also die Sprache selbst auf diese Erscheinungen hin: Zu dem französischen Beispiel je désire que tu me le dises geben die Grammatiken folgende Regel: Der Konjunktiv steht im Nebensatz mit que als Ausdruck des Wunsches nach den Verben ..., die nunmehr (zum Auswendiglernen?) in verschiedener Reihenfolge aufgeführt werden. Soweit die äußere bzw. äußerliche Beschreibung. Der psychische Sachverhalt ist indes der, in Anlehnung an N.Ach: Von dem Prädikat des Hauptsatzes (je désire), das die „ZielVorstellung" ist, gehen .eigenartige Vorstellungsinhalte" aus, die sich am Prädikat des Nebensatzes (dises)* der »Bezugsvorstellung", auswirken. Dieser „eigenartige Vorstellungsinhalt" ist nichts anderes als das, was wir die Beziehungsbedeutung genannt habenl Und wenn H. Paul erklärt (a.a.O., S. 109), daß .das Gefühl für eine bestimmte Funktion" das Band sei, welches „die Proportionen zusammenhält", so ist dies „Gefühl" oder „Sprachgefühl", mit dem auch in anderen Schriften reichlich viel gearbeitet wird, wiederum nichts anderes als die Beziehungsbedeutung bzw. das Beziehungsbedeuten im Akt des Sprechens. Das Wort désirer enthält also zweierlei Arten von Bedeutung: !. die Begriffsbedeutung des Wünschens und 2. die von da ausstrahlende Beziehungsbedeutung, die als Konjunktiv im Nebensatz zum Ausdruck kommt. Das steht im vollen Einklang mit den obigen Darlegungen (S. 16 f.) und beweist außerdem, wie eng beide verquickt sind, also von additiver Zusammensetzung keine Rede sein kann. Wenn N. Ach immer wieder hervorhebt, daß die „Absicht" zunächst bewußt ist, sich nach einiger Übung aber ins Unbewußte verflüchtigt, so kann er (a.a.O., S. 228 f.) die abschließende Definition der determinierenden Tendenzen geben: „Diese im Unbewußten wirkenden, von der Bedeutung der Zielvorstellung ausgehenden, auf die kommende Bezugsvorstellung gerichteten Einstellungen14, welche ein spontanes Auftreten der determinierten Vor15 Der Terminus „Einstellung" wild auch von J. von KTies (Uber die Natur gewisser Gehirnzustände, Ztschr. f. Psych, u. Phys. 8 [1895], S. 6) verwendet; — K. Koffka, Bericht über den IV. Kongreß f. exp. Psych., S. 239 ff.; — doch darf man nicht Ausdrücke wie „Bekanntheitsqualität" (H. Höffding, Vierteljahresschr. f. wiss. Philos. XIII, S. 425) oder »Bewußtseinslage" (K. Marbe, Aug. Messer,

128

Stellung nach sich ziehen." Ein jeder Sprachler weiß, daß die in den syntaktischen „Regeln" ausgesprochenen Geltungsbereiche der „determinierenden Tendenzen" anfangs bewußt, dann unbewußt mit „Nachlassen der Aufmerksamkeitsspannung", also wie in der Muttersprache, beherrscht werden. Denn das ist das Wesen der syntaktischen Regel: die begriffliche Feststellung der Wirkart und des Wirkbereiches determinierender Tendenzen, einschließlich der Bildung der Beziehungsmittel („Formen"). Auf die Frage der „Ausnahmen" ist später zurückzukommen. Noch verwickelter erscheint das Zusammenwirken der determinierenden Tendenzen für Genera und Numeri in Beispielen (der convenientia) wie: £) e r Vater liebt seine Kinder Die Mutter liebt ihre Kinder Nun ist diese Auffassung der Determinierungen noch reichlich oberflächlich, wenn sie, wie hier und in den Grammatiken, immer nur auf einzelne Wörter bezogen wird. So steht beispielsweise, wie noch zu zeigen ist, im ersteren Falle (je désire que tu me le dises) der ganze Hauptsatz, besonders das Prädikat, unter dem Bestreben, erst einmal b e g r i f f l i c h einen Wunsch zum Ausdruck zu bringen und demgemäß in dem zuständigen Sprachfeld das passende Wort zu wählen (désirer). Dieses Streben beherrscht zudem den ganzen Nebensatz und tritt unter der Wirkung der determinierenden Beziehungsbedeutung als Konjunktiv am Prädikat in die Erscheinung. Es versteht sich, daß sich die Determinierungen nicht nur auf die Flexionen beziehen, sondern auch auf die anderen Beziehungsmittel (Wortart, Wortstellung, dynamischen und musikalischen Akzent), ja auf die Struktur ganzer Sätze, was besser im Anschluß an die Experimente O. Selz' zu zeigen ist. Die Methodik und Ergebnisse N.Achs sind wohl nachgeprüft bzw. kritisiert worden, von O. Selz, O. Külpe und O. Meßmer, da ja die eigentliche Willensbetätigung in Achs Experimenten erst nach der Wahrnehmung des Eindrucks einsetzt bzw. durch die Aufgabe v o r g e s c h r i e b e n ist. Doch ist dadurch an den Ergebnissen, die hier übernommen sind, nichts Wesentliches geändert worden. Die von A. Willwoll durchgeführten Wiederholungen der Achschen Hauptversuche beziehen sich auf seine Arbeit über „Begriffsbildung"1*. d) Nachdem wir das Wirken der Beziehungsbedeutungen näher eingesehen haben, haben wir zu prüfen, wie die Glieder des Satzgedankens Experim.-psydi. Untersuchungen über das Denken, Archiv f. d. ges. Psych. 8 {1906], S. 11 f.) ganz allgemein damit gleichsetzen, wozu N. Ach neigt (S. 236), da die letzteren Ausdrücke wesentlich auf das Sphärenbewußtsein b e g r i f f l i c h e r Bedeutungen gehen. " A. Michotte et N. Prüm, Etüde expérimentale sur le dioix volontaire et ses antécédents immédiats; Arch. de Psych. X (1910)¡ — A. Willwoll, Begriffsbildung, Leipzig 1926, S. 19 ff., 51 f., 58 f. £ Otto, Sprachwissenschaft

129

sich im Sprechakt auseinanderlegen und zu einem Ganzen zusammenschließen, übernommenen und bewährten Sprachgewohnheiten gemäß. Das kann an den Experimenten O. S e 1 z ' über den geordneten Vorstellungsverlauf eingesehen werden, was mir O. Selz persönlich bestätigt hat. Der Sprachwissenschaftler wird allerdings von Versuchen über den produktiven D e n k p r o z e ß nichts Endgültiges erwarten dürfen 17 . Die klassische Assoziationspsychologie sah im Ablauf unseres psychischen Geschehens ein System „diffuser Reproduktionen", insofern ein psychischer Vorgang, wenn er öfter wiederkehrt, immer neue Assoziationen mit diesem Vorgang eingeht. Die durch ein Reizwort ausgelösten Reproduktionstendenzen werden sich daher nach allen Richtungen zerstreuen und wechselseitig hemmen, wobei die stärkeren Reproduktionstendenzen die schwächeren zu verdrängen scheinen, aber nicht die r i c h t i g e n zu sein brauchen. Wieso jedoch gerade die „richtigen" zur Lösung einer Denkaufgabe beitragen, sucht die von G. E. Müller begründete Konstellationstheorie zu belegen. Danach verstärkt die gestellte Denkaufgabe diejenigen Reproduktionstendenzen, welche mit der Aufgabe gleichgerichtet sind. Die Aufgabe schafft mithin eine günstige Konstellation für die mit ihr gleichlaufenden Reproduktionstendenzen, weswegen man die Aufgabe auch „Richtungsvorstellung" genannt hat. Der Ordnungsfaktor der diffusen Reproduktionen liegt also in dem Geschehen wechselseitiger Förderung bzw. Hemmung isolierter Reproduktionstendenzen. O. Selz ersetzt nun das System diffuser Reproduktionen durch ein „System spezifischer Reaktionen". Wie beispielsweise verstärktes Licht automatisch die Verengung der Pupille nach sich zieht, so stellt die Biologie überall feste Zuordnungen (Reflexe) zwischen Reiz und Reaktionen fest, die sich als „konstante Ordnungsfaktoren" im Leben der Organismen bewähren. Solche Zuordnungen beherrschen auch unser psychisches Geschehen, besonders auf dem Gebiet des Denkens. Im Anschluß an die oben dargelegten Theorien N. Achs können wir die Determinierung unserer Willenshandlung zwecks Lösung einer Aufgabe als Reiz im Sinne O. Selz' betrachten, durch welche eine Reihe spezifischer Reaktionen („Operationen") ausgelöst werden. Diese Operationen sind sowohl intellektuelle Leistungen als auch Tätigkeiten (Bewegungen), z. B. des alltäglichen Lebens. Gelingen sie, so werden sie den auslösenden Reiz für weitere Teiloperationen bilden; im anderen Fall werden sie als Reiz für die Auslösung einer Ersatzoperation im „Probieren" auftreten. 17 O. Selz, Die Gesetze der produktiven Tätigkeit, Archiv f. d. ges. Psych. 27 (1913), S. 367 ff.; über die Gesetze des geordneten Denkveilaufs I, Stuttgart 1913; Zur Psychologie des produktiven Denkens und des Irrtums, Bonn 1922 und Uber die Gesetze der produktiven und reproduktiven Geistestätigkeit, Bonn 1924. Dazu A. Willwolls Stellungnahme, Begriffsbildung, Leipzig 1926, S. 135 f. und dessen eigene Versuche S. 60 ff.

130

So .lernen" wir auch im praktischen Leben. Mit diesen mehr oder weniger bewußten Lösungsmethoden ist eine strenge Ordnung des ganzen A b l a u f s unseres Verhaltens gesichert. Es ergibt sich, daß die Gesetze (besser wäre: die Gesetzlichkeiten) des geordneten Denkverlaufs, w i e die Gesetze der Reflex- und Willkürbewegungen, der Ausdruck für die konstanten Zuordnungen innerhalb eines Systems von spezifischen Reaktionen sind. Unter den möglichen Operationen geht uns hier besonders die intellektuelle Operation des „Besinnens" als gedächtnismäßiger Aufgabelösung an. Das ist an einem Beispiel zu veranschaulichen. Es sei die A u f g a b e gestellt, aus unserem Wissen um die Gewerbe der Naturvölker einen gleichgeordneten Begriff zu Jagd zu reproduzieren. Die Lösung Fischerei geschieht mit Hilfe eines Komplexes. Deren Glieder sind nicht so vorzustellen w i e eine eingeprägte R e i h e v o n Silben, deren Teile um so fester miteinander verknüpft sind, j e häufiger sie wiederholt sind. Die Eigenart eines Komplexes besteht vielmehr darin, daß er als ein G a n z e s eingeprägt und reproduziert wird. Falls nur ein Teil eines solchen Komplexes gegeben ist, wird nicht nur der nächstgelegene Teil des Ganzen reproduziert, sondern der ganze Komplex. Ist uns das Ganze, gleichsam in Umrissen, schematisch gegeben, so hat ein solches „antizipierendes Schema" die Tendenz, die Gesamtheit des zugehörigen Komplexes zu reproduzieren (s. unten). In unserem Beispiel erfolgt daher die Lösung der A u f g a b e durch A n g a b e des Wortes Fischerei nicht deshalb, weil die beiden Worte Jagd und Fischerei miteinander assoziiert sind, sondern vielmehr als Grund der Tatsache, daß sie Glieder desselben WissensKomplexes sind; sprachlich ausgedrückt: weil sie demselben (bekannten) Felde angehören! Man kann das Aufgabebewußtsein als ein den vollständigen Wissenskomplex antizipierendes Schema auffassen. Dann verhält sich dies Aufgabebewußtsein zu dem zu aktualisierenden Wissenskomplex w i e das Schema eines Komplexes zu dem ausgefüllten Komplex. Ausgangs- und Enderlebnis, Zielbewußtsein und Lösungsbewußtsein verhalten sich demgemäß beim „Besinnen" nicht w i e heterogene, beziehungslose Vorstellungen, sondern w i e das Schema eines zu reproduzierenden Komplexes zu dem vollständig aktualisierten Komplex. Der zu reproduzierende Komplex ist durch seine schematische Antizipation richtungsgemäß hinlänglich bestimmt, um im Prozeß der Komplexergänzung aktualisiert zu werden. Die schematische Antizipation des Zielerfolges ist mithin stets das Anfangs- und Ausgangserlebnis der zielgerichteten Operation. Solche Operationen der Komplexergänzung mit Hilfe der schematischen Antizipation mögen ursprünglich ganz unwillkürlich auftreten, z.B. in der erwähnten Aufgabe, einen nebengeordneten Begriff zu Jagd zu finden. 9'

131

Sie können dann aber auch w i l l k ü r l i c h , p] .»näßig bewußt ablaufen. So hatte J. Lindworsky, als er O. Selz' Versuche nachprüfte, seinen Versuchspersonen (Vpn.) die Aufgabe gestellt, einen Vergleich zu Bügeleisen zu finden. Die Vpn. können dann s y s t e m a t i s c h vorgehen und fragen: Was tut das Bügeleisen? Sie heben den Faktor des Glättens heraus und fragen dann weiter nach der Komplexergänzung im Rahmen eines antizipierenden Schemas: Was glättet auch? Antwort: sanfte Worte18. Das ist dann kein unbewußter Vorgang mehr und erinnert an den Gebrauch einer „Regel" bei der ersten Einübung, und zwar nach dem schematischen Vorbild eines P a r a d i g m a s . Dieser Versuch leitet bereits über zu der Möglichkeit, produktive Leistungen mittels der Komplexergänzung und des antizipierenden Schemas zu vollbringen. Eine solche geordnete produktive Geistestätigkeit liegt dann vor, wenn die dadurch entstehenden Neubildungen z. B. auf wissenschaftlichem, technischem, künstlerischem Gebiete sich zu einheitlichen Ganzen zusammenfügen. Also auch auf dem Gebiete der Sprache das Neubilden ganzer Sätze. Man kann wesentlich vier Arten unterscheiden, in denen durch Prozesse r e p r o d u k t i v e r Art p r o d u k t i v e geistige Leistungen zustande kommen19. W i r fragen nun, welchen Nutzen die Theorie des Sprechaktes aus 0 . Selz' Anregungen ziehen kann. Wenn O. Selz in seiner Arbeit „über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs" dartut, daß beim Besinnen auf einen gleichgeordneten Begriff zu Tod der Begriff Schlaf durch die schematische Antizipation eines Wissenskomplexes gefunden wird, in dem beide Begriffe in der Beziehung der Nebenordnung stehen, so wird die Lösung durch die Operation der Komplexergänzung vollzogen, nicht etwa ein bloßes Nebeneinander von Vorstellungen erregt, sondern ein B e z i e h u n g s g a n z e s , das Reizwort und Reaktionswort enthält. Ebenso können erworbene Sprachgewohnheiten, die ja auch als Ganzheiten eingeprägt sind, richtunggebende Schemata verschiedener Satzbauarten liefern, die, antizipiert, den Rahmen für die im Sprechakt zu aktualisierende Komplexergänzung abgeben. In der oben erwähnten Arbeit (S. 128) stellt O. Selz drei Gesetze der Komplexergänzung auf, die über die obigen Andeutungen noch hinausgehen: 1. „Ein gegebenes als einheitlich Ganzes wirkendes K o m p l e x s t ü c k hat die Tendenz, die Reproduktion des ganzen Komplexes herbeizuführen. 2. Ein einen Komplex seinem ganzen Bestände nach antizipierendes w

J. Lindworsky, Experimentelle Psychologie, München 1931, S. 164, 185.

Ich habe diese produktiven Leistungen in meiner Allgemeinen Unterrichtslehre im Rahmen einer Theorie des Denkens dargelegt; S. 130. 19

132

S c h e m a hat die Tendenz, die Reproduktion des ganzen Komplexes herbeizuführen. 3. D i e a u f d i e E r g ä n z u n g e i n e s s c h e m a t i s c h a n t i z i p i e r t e n K o m p l e x e s g e r i c h t e t e D e t e r m i n a t i o n begründet die Tendenz zur Reproduktion des ganzen Komplexes." Im Sprechakt wirken alle drei Gesetzlichkeiten zusammen, um die auf Grund unserer Spredigewohnheiten antizipierten Schemata als spezifische Reaktionen auf die gesuchte .Form" der Rede im Sinne eines Beziehungsganzen zu vervollständigen. Wollen wir z. B. eine Frage stellen, eine Forderung erheben oder eine Aussage machen, so gliedern wir den Satz nach den im Deutschen üblichen Schemata für die Stellungnahmen zum Sachverhalt und ergänzen den Komplex im Sinne der beabsichtigten Rede (s. oben S. 30 f.). Schon die Wahl des ersten Wortes kann richtunggebend für das folgende Beziehungsganze sein 20 . Ebenso liefern die eingewurzelten Sprechgewohnheiten als konstante Ordnungsfaktoren die Schemata, welche die angemessene Wahl der Beziehungsmittel zwecks Kennzeichnung der eigentlichen Mitteilung sowie, vielleicht an letzter Stelle, der inneren und äußeren syntaktischen Beziehungen richtunggebend auf dem Wege der Komplexergänzung determinieren. e) Doch darf man diesen Prozeß nicht als einen bloßen „Mechanismus" auffassen, vielmehr muß man den schöpferischen Kräften, die gerade dem Sprechvorgang eignen, Raum geben über das bloße .Denken" hinaus. Was die erwähnten schöpferischen Kräfte betrifft, so werden wir zwei recht verschiedene Arten ihrer Wirkungen und Betrachtungsweisen zu sondern haben, wie bereits oben (S. 122) angedeutet wurde, nämlich j e nachdem, ob wir den g e s c h i c h t l i c h e n W a n d e l sprachlicher Erscheinungen ins Auge fassen oder den a k t u e l l e n S p r e c h v o r g a n g . Dem ersteren werden wir uns später zuwenden (S. 141); der letztere ist Gegenstand der vorliegenden Betrachtung. In einer weit zurückliegenden Arbeit hatte ich auf die notwendige Sonderung von „Vorgang" (Betätigungen, Handlungen, Verrichtungen, Funktionen) einerseits und entwicklungsgeschichtlichem Erzeugnis (Evolutionen) andererseits bereits aufmerksam gemacht und diese Gliederung in den einzelnen Wissenschaften streng durchgeführt21. Beide Male wird das Geschehen durch „treibende Kräfte" bewirkt. Um aber beide Betrach10 Dieser Gedanke liegt doch wohl auch der „konstruktiven inneren Sprachform" A. Martys („Untersuchungen" I, S. 145) für das Verständnis der Rede zugrunde: „Aber wenn auch das einzelne Wort nicht alles zu sagen vermag, was durch die ganze Wortfolge gemeint ist, so erwecken doch auch schon diese aufeinander folgenden Teile des Satzes gewisse Vorstellungen und Erwartungen in bezug auf das, was durch das Ganze gemeint ist, und auch durch diese v o r l ä u f i g e n V o r s t e l l u n g e n wird . . . das Verständnis irgendwie vorbereitet und vermittelt." 11 Die wissenschaftliche Forschung und die Ausgestaltung des gelehrten Unterrichts, Bielefeld und Leipzig 1919, S. 11 ff.

133

tungsweisen auch terminologisch zu sondern, habe ich im Falle des Handelns von „Voraussetzungen", im Falle des historischen Wandels von „Bedingungen" (und weiterhin von „Umständen") gesprochen, auf welche nunmehr die treibenden Kräfte entscheidend einwirken. Zu den letzteren sind nicht nur die Richtkräfte des menschlichen Geistes, sondern auch die v i t a l e n T r i e b e der biologischen Sphäre zu rechnen, die z. B. von H. Heimsoeth ausführlich gewürdigt werden 22 . Insofern E. R o t h a c k e r unter den notwendigen Faktoren unseres Lebens auch die „Lage" und den „dynamischen Faktor der Lebendigkeit" versteht oder „Situation" („Welt") und „Einfall" („Antwort", „Stellungnahme"), auch „Medium" und „Tendenz" menschlichen Handelns (und der Haltungen) einander gegenüberstellt, so kommen diese Unterscheidungen immer nur auf den Wesensunterschied von Voraussetzungen (Bedingungen) und treibenden Kräften hinaus 28 . Auf den Sprechakt im besonderen bezogen, wird diese Klarstellung der schöpferischen Kräfte von einzigartiger Bedeutsamkeit (vgl. oben S. 82). Ist doch der Sprechakt nichts anderes als eine bestimmte Art des Handelns! Zunächst leuchtet ein, daß die leitenden M o t i v e stilgerechten Sprechens — die „formal" betrachtete Sprache unserer Schulgrammatiken ist eine kühne Abstraktion — nur dieselben sein können wie die oben (S. 86 ff.) aufgewiesenen Arten von Kategorien der objektiv geistigen Schicht. Die Motivationen des sprechenden Menschen unterstehen dem gleichen kategorialen „Ordnungssystem" wie die in Typen gegliederte Ordnung des objektiven Geistes (Dilthey, Ges. Sehr. VII, S. 213): Der Mensch strebt danach, nicht nur klar und bündig und gefällig zu reden, sondern er ist auch im Grunde ein sittliches und religiöses und demgemäß redendes Wesen. Diese „Kategorien" (Unterschichten) sind wohl auch allgemeine „Aussageweisen", darüber hinaus und im tiefsten Grunde, auch bei Kant, s p o n t a n e Tätigkeiten des Bewußtseins, Sinnrichtungen und Sinnsphären, Ideen im Sinne Piatos bis hin zu W. v. Humboldt und Gervinus, Ranke und Droysen, bis auf unsere Zeit — und so auch die Motive unseres Handelns und Sprechens. Und damit kommen wir wieder auf das Problem einer objektiven Ordnung der „Werte" zurück. Wilh. Dilthey räumt allerdings (im V. Band d. Ges. Sehr., S. 330) dem Verstehen geistiger Strukturen immer nur „relativen" Wert ein; es könne nie vollendet werden. Im VII. Bande taucht jedoch wiederholt die Forderung einer objektiven Erkenntnis historischen Wissens auf; immer " H. Heimsoeth, Gesdiiditsphilosophie, Stuttgart u. Berlin 1942, S.49if. Im Anschluß am M. Sdieler unterscheidet er die vitalen „Realfaktoren" von den sittlichen „Idealfaktoren". 4 > E. Rothacker, Gesdiiditsphilosophie, München und Berlin 1934, S. 36, 44, 60 ff., 64 ff., 82 ff., 143 f. 134

wieder wird gefragt, „wie" eine „objektive Erkenntnis" historischer Gebilde möglich ist (S. 121, 254; vgl. S. 262,289, 309, 313). Ist doch in jeder Wissenschaft als solcher „die Forderung der Allgemeingültigkeit" enthalten. Soll es also Geisteswissenschaften im „strengen Verstände von Wissenschaft" geben, so müssen sie dies Ziel immer bewußter und kritischer ins Auge fassen (S. 137)! Das setzt eben den Bestand einer objektiven „Tafel der Werte" voraus, auf die alle einzelnen „Tugenden", alle Forderungen und Ideen bezogen und auf ihre Angemessenheit hin geprüft werden können. Ehe wir diese allgemeingültigen Grundlagen und Maßstäbe nicht haben, kann von einer Geschichts- W i s s e n s c h a f t , also auch von einer S p r a c h - W i s s e n s c h a f t , im besonderen von einer Allgemeinen Sprach-Wissenschaft keine Rede sein 24 . Und diese allgemeinen Normen können am geeignetsten aus einer vertieften Einsicht in das Wesen und die Leistungen der menschlichen Sprache erkannt werden. Das ist ein wichtiges Ziel der vorliegenden Arbeit (s. oben S. 84 ff., S. 119 ff.)25. II. Die Reproduktion der Begriffswörter im Sprechakt der sich ausgliedernden Rede. Es fragt sich nämlich, wie der passende Ausdruck gefunden wird im Rahmen der Komplexergänzung. Seine Wahl ist sicherlich bedingt durch die Arten der syntaktischen Fügung, so daß Syntax und Wortlehre psychologisch nicht „scharf" voneinander zu sondern sind: alle Arten des Geistigen haben nur fließende Grenzen. Von großer Bedeutung ist daneben die V o r a u s s e t z u n g alles Sprechens, nämlich eine bestimmte G e s p r ä c h s s i t u a t i o n : die Außenwelt, d. h. zunächst die mechanisch-gegenständliche Umgebung, die vor allem optisch und akustisch auf den sprechenden Menschen einwirkt; weiterhin das Milieu, das uns, als biologische Wesen, geopsychisch beeinflußt; schließlich die Umwelt, m. a. W.: besonders die Mitwelt gesellschaftlicher Beziehungen, in die wir, spontan oder reaktiv mit unseren Mitmenschen handelnd und sprechend, eingebettet sind. Durch alle diese Faktoren wird auch unsere Stimmung in hohem Maße bestimmt, so daß wir neben dem b e g r i f f l i c h e n Sachgehalt der objektiven Rede auch den Stimmungsgehalt der Worte als Reproduktions- und Produktionsgrundlage in Betracht ziehen müssen. Allgemein gesprochen, sind wir in jeder Situation letzten Endes ein ganz anderer Mensch mit einer ver24 Nach J. Burckhardts berechtigter Überzeugung, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart 1935 (1938), S. 83, ist die Geschichte überhaupt „die unwissenschaftlichste aller Wissenschaften", nur daß sie viel Wissenswürdiges überliefert. ! 5 M. Schelers Versuch einer objektiven (absoluten) Rangordnung deT Werte („die apriorische Struktur des Wertreichs") ist wohl schwerlich zuzustimmen. Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Halle (Saale) 1921, S. 84 ff.; — s. auch E. Spranger, „Lebensformen", S. 312 ff.

135

schiedenen Haltung und Einstellung, die den Charakter der Rede durchgängig determiniert. Aus dem Rahmen dieser Gegebenheiten greife ich folgende Möglichkeiten heraus: a) Im Falle, daß der gesuchte Begriff mit einem anderen Worte des gesprochenen Satzgefüges oder gewohnheitsmäßig assoziiert ist — ich denke auch an die Fälle der Konsoziation (H. Sperber) und Collocation (J. R. Firth, s. oben S. 102) — erfolgt die Reproduktion des betreffenden Wortes auf a s s o z i a t i v e r G r u n d l a g e 2 4 . b) Liegt dieser Fall nicht vor, so kann der gesuchte Begriff in einer bestimmten Begriffssphäre auftaudien, und zwar auf Grund der vorliegenden Bedeutungsintention und gegebenenfalls der bereits anklingenden anderen Begriffsbedeutungen des Kontextes, die sich wechselseitig über die Schwelle des Bewußtseins heben. Stimmen doch die experimentellen Versuche darin überein, daß sehr häufig zunächst ein unanschauliches »Wissen um" die Bedeutung, eine „Bewußtheit" (N. Ach), eine „Bewußtseinslage" (K. Marbe, Aug. Messer), ein „Sphärenbewußtsein" (August Messer), vorhanden ist, bevor der passende Begriff klar erfaßt und, wohl zunächst von der akustischen Komponente des Wortes aus, artikuliert wird87. Die experimentelle Psychologie hat die spätere sprachwissenschaftliche Formulierung des „Feldes" („Sprachfeldes", Sinnbereiches) bereits vorausgedadit, wenn sie von „Platzbestimmtheiten" spricht oder von dem „ganzen Gebiet", von einem „Bereich von Gedanken", in den irgendein Wort gehört 28 (vgl. oben S. 9). Denn wenn auch die Experimente O. Selz' ganz bestimmte logische Operationen beschreiben und demgemäß von bestimmten Aufgabenstellungen ausgehen (auf ein sinnvolles Reizwort mit dem übergeordneten bzw. nebengeordneten Begriff zu reagieren, bald mit dem Ganzen, bald mit einem Teil), so wird doch die Beschreibung dieser vom Reizwort ausgehenden Determinierungen, wie sie beispielste Gewohnheitsmäßig sind assoziiert Wörter wie Vater — Mutter, Bruder — Schwester usw., w i e die experimentellen Untersuchungen zeigen; wohl auch. groß — klein, leicht — schwer, w o Adjektive von entgegengesetzter Bedeutung reproduziert werden. Vgl. Fr. Schmidt, Experim. Untersuch, zur Associationslehre, Ztschr. f. Psych. 28 (1902), S. 93 f. " N. Ach, Uber die Willenstätigkeit und das Denken, Göttingen 1905, S. 210, 215; — K. Marbe, Exper.-psydi. Unters, über d. Urteil, 1901, S. 11 f.; — Aug. Messer, Experim.-psych. Untersuchungen über das Denken, Archiv f. d. ges. Psych. VIII (1906), S. 175 ff.; 176, 190, 204; S. 69 (mit negativem Erfolg); — B. Erdmann, Logik, Halle 1907, S. 313, 318, spricht von „unbewußt erregten" Dispositionen von Vorstellungen; vgl. S. 270; — H. J. Watt, Exp. Beiträge zu einer Theorie des Denkens, Arch. f. d. ges. Ps. IV (1905), S. 289 ff.; — Fr. Kainz, „Sprache" I, S. 146 f. — Vgl. auch meine „Grundlegung", S. 54 ff. ,s K. Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvcrrgänge I (übeT Gedanken), Archiv f. d. ges. Psydi. IX (1907), S. 63, 357; — Aug.

Messer, a.a.O., S.77, 79, 109, 204. 136

weise AI. Willwoll gibt29, in gewisser Hinsicht auch auf den alltäglichen Sprechakt zutreffen: Von der Bedeutungsintention des gesuchten Begriffs wie vom Kontext der sich ausgliedernden Rede wie auch noch von anderen Faktoren (s. unten: Um- und Mitwelt) aus werden mehrere Felder (Sphären) determiniert, die vom Allgemeinen, Unbestimmt-Umrissenen .in einer Art intuitiven Erfassens" innerhalb des Komplexes auf das gesuchte Begriffswort zulaufen. Aber wer will im einzelnen diese Geheimnisse des Sprechens, die immer wieder anders gelagert sind, ergründen und beschreiben? c) Die Reproduktion gesuchter Begriffswörter innerhalb der Rede wird sodann durch die anschaulich erlebte bzw. vorgestellte Gesprächslage gefördert, die in hervorragender Weise die Ausfüllung der schematischen Antizipation des Komplexes unterstützen kann. Man vergegenwärtige sich, wie oft wir uns eines gesuchten Wortes durch die Wahrnehmung oder Vorstellung der gegenständlichen, biologischen oder geistigen Well, das einem „auf der Zunge" liegt, „erinnern"30. Durch die optischen oder akustischen Eindrücke wird die gesamte Sphäre aktualisiert, das Sprachfeld, aus dem sich reflexartig die angemessene Bezeichnung enger und enger herausdestilliert und zur motorischen Entladung drängt, wenn nicht gar Gegenstand und Bezeichnung unmittelbar assoziiert sind und das gesuchte Wort auf dieser assoziativen Basis reproduziert wird31. Der Vorstellungstyp des Sprechenden — ganz abgesehen von Alter, Bildung und momentaner Einstellung — kann den Prozeß im einzelnen mehr oder weniger abändern. Vielleicht perseveriert auch dieses oder jenes Wort im Bewußtsein des Sprechenden und stellt sich unvermittelt zur Verfügung, vielleicht als unpassendes Wort an unpassender Stelle. Die Protokolle der experimentellen Untersuchungen weisen gelegentlich auf die Einwirkung perseverierender Worte bzw. der Umgebung hin. Wie stark der Sprechakt von der gegenständlichen Außenwelt, von Milieu und Umwelt determiniert wird, beweist die Wahl der Sprache je nach der gesamten Gesprächslage. Der Kundige spricht Französisch in Frankreich, Englisch in England aus einer ganz bestimmten „Einstellung" heraus. Schließlich sei darauf hingewiesen, daß die Wahl des geeigneten Wortes auch aus einer persönlichen Stimmung oder dem Kolorit einer objektiven Situation heraus erfolgen kann, also vom Stimmungsgehalt der Worte her. Bilden doch beim stilgerechten Sprechen Begriffsinhalt und Stimmungsgehalt der Wörter eine unlösbare Einheit. So können die mannigfaltigsten Faktoren zusammenwirken, um das antizipierte Schema der aktuellen Rede in angemessener Weise zu ergänzen. M M 31

AI. Willwoll, Begriffsbildung, Leipzig 1926, S. 105. Z. B. O. Selz, Zur Psychologie des produkt. Denkens u. d. Irrtums, S. 309, 320. Z. B. H. J. Watt, a. a. O., S. 309 (Unterstützung durch Gesichtsvorstellungen).

137

III. O. Selz' Untersuchungen des Denkverlaufs haben weniger zu tun mit den wesentlich sprachlichen Prozessen produktiver Wortbildung. In diesem Bereiche verdanken wir H. Paul die Fragestellung und N. Ach die weitgehende Klärung der psychologischen Vorgänge, wie oben dargetan. Der Lautwandel wird von Wundt unter den Gesichtspunkten der regressiven und progressiven Kontaktwirkung bzw. Fernewirkung gesehen, und zwar vom h i s t o r i s c h e n Standpunkt. Er nennt diese Vorgänge lautlich-stofflicher Art: „Induktionen". Auch die Wortbildung wird historisch gesehen und psychologisch begründet82. Die Wortbildungen im Verlauf des Sprechaktes sind entweder begrifflicher oder syntaktischer Art. Beide können als Determinierungen im Sinne N. Achs betrachtet werden. a) Die Bildung neuer Begriffswörter während des Sprechaktes läßt sich im Fall der Kindersprache wohl beobachten, tritt aber bei Erwachsenen sehr zurück und bleibt den Künstlern überlassen, abgesehen von gelegentlichen Neubildungen mit (lebenden) S u f f i x e n nach der Art von Häuschen, Männlein, kindisch; mit Präfixen wie zerhauen, erzdämlich, uniein; auch neue Zusammensetzungen wie Mitwisser, übergroß mögen gelegentlich vorkommen. Auch von Neuschöpfungen im Sprechakt wird man wohl kaum reden können im Falle von Assimilationen der Fremdwörter und ihrer Ubersetzungen. Das sind gelehrte Neubildungen außerhalb des Sprechaktes, der geläufigen Rede. Im Normalfalle bedienen wir uns mithin des überlieferten Sprachschatzes. b) Anders liegen die Dinge im Bereiche der Syntax, auf dem Gebiete der „ F o r m e n"-Bildung, zumal wenn man nicht bloß an die Flexion denkt, sondern auch an die Bildung der anderen Beziehungsmittel, an Wortart, Wortstellung und Akzent. Die unübersehbare Fülle experimenteller Untersuchungen, allerdings zu anderen Zwecken, des Inlandes und besonders des Auslandes hat hier unsere Sicht wesentlich geweitet. 1. Die experimentellen Untersuchungen Fr. S c h m i d t s haben z.B. hinsichtlich der Flexionsbildungen ergeben, daß im allgemeinen auf zugerufene Verbalfonnen eines Verbums einerseits mehr mit Verbalformen desselben Verbums reagiert wurde; er hatte als Reizworte den Infinitiv, den Indikativ Präsentis und Imperfekti sowie das Partizipium Perfekti geboten. Andererseits hatten T h u m b u n d M a r b e festgestellt, wenn auf eine Verbalform mit einem anderen Verbum reagiert wurde, so war es die entsprechend gleiche Form (nach Person, Numerus, Tempus und Modus). Eine zweite Person Singularis Präsentis (du gibst) bevorzugte also die zweite Person Singularis Präsentis (du nimmst). Damit ist die Induktion von Flexionsformen nachgewiesen. Es fragt sich nur, wieweit solche Induktionen wirkliche Neubildungen (Produktionen) sind und nicht « W. Wundt, „Die Sprache" I, S. 419 ff., 441 ff., 541 ff., 652 ff. (Zusammensetzung).

138

bloße Reproduktionen soundso oft gehörter bzw. artikulierter Flexionsformen38. 2. Die experimentellen Untersuchungen haben auch erwiesen, daß die Wortarten als Induktionen im Sprechakt gebildet werden können. So hatte E. K r a e p e l i n festgestellt, daß auf 100 Substantive mit etwa 90 Substantiven reagiert wurde. Dieselbe Determinierung, wenn auch nicht mit ganz so hohen Prozentzahlen, wurde von G. A s c h a f f e n b u r g und H . M ü n s t e r b e r g bestätigt. Der letztere ermittelte auch einen hohen Prozentsatz von entsprechenden Reaktionen für Adjektiva. T h u m b und M a r b e fanden, daß Substantiva, Adjektiva, Pronomina und Orts- wie Zeitadverbien, auch Zahlen, vorwiegend Worte derselben Klasse (reproduzieren84. Wohl ist eine große Zahl dieser Induktionen als Reproduktionen auf assoziativer Grundlage anzusprechen. Die Wortarten sind jedoch bei diesen und anderen Experimenten in der einseitigen Art gesehen, insofern sie durch den Artikel (bei Substantiven) oder durch Suffixe (Hoünung, kindisch usw.) gekennzeichnet oder auch flektiert sind, wo man von der Flexion auf die Wortarten rückschließen kann (Nomina, Verba). Damit verfehlt man aber das eigentliche Wesen der Wortarten, die durch die S t r u k t u r der Rede charakterisiert sind (s. oben S. 25). Und gerade in dieser Hinsicht bieten O. Selz' Untersuchungen aufschlußreiche Ergänzungen. Aus der Fülle der erläuterten Protokolle, in denen die Ausfüllung der antizipierten Schemata mit sprachlichen Formulierungen aufgewiesen wird, greife ich folgende Fälle heraus: 1) Den Fall, wo zuerst das s p r a c h l i c h e S c h e m a auftritt, das dann nachträglich durch die formulierte Bezeichnung des (in der antizipierten Beziehung stehenden) Gegenstandes (!) ausgefüllt wird35. Beispiel: Definition von Hypothek. Eine erste Formulierung war: „Auf einem Grundstück liegendes Kapital." Diese Definition enthält die Bestimmung eines Gegenstandes („Kapital" als Gegenstandswortl), und zwar durch seine Wirksamkeit („belasten" als Vorgangswort!) auf ein Objekt („Grundstück" als Gegenstandswort!). Zwecks endgültiger Formulierung wird die Wortstellung (!) dann unter der s c h e m a t i s c h e n E i n w i r k u n g einer partizipialen Satzkonstruktion umgedreht: zuerst das frühere Objekt zur präpositionalen Bestimmung umgeprägt, dann der Vorgang zum attributiven Partizip (Zustand) geformt und schließlich der gegen3 5 Fr. Schmidt, Experim. Untersuchungen zur Associationslehre, Ztsdir. f. Psych. 28 (1902), S.65ff.¡ — Thumb und Marbe, Exp. Unters, über d. psych. Grundlagen d. sprachlichen Analogiebildungen, Leipzig 1901, S. 68. M E. Kraepelin, UbeT die Beeinflussung einfacher psych. Vorgänge durch einige Arzeneimittel, 1892; — G. Aschaffenburg, Experim. Studien über Assoz., Psychologische Arbeiten, hersg. v. E. Kraepelin, I (1894), S. 286 f.¡ — H. Münsterberg, Beiträge zur experim. Psych. 4 (1892), S. 32 f.; — Thumb und Marbe, a. a. O., S. 19 ff. ** O. Selz, Zur Psychologie d. produktiven Denkens u. d. Irrtums, Bonn 1922, S. 345 Anm., 325, 313¡ vgl. S.344f.

139

ständlich formulierte Kern: „auf einem Grundstüdc liegendes Kapital." Hier greifen Struktur des Schemas und Gestaltung der Wortart ineinander. 2) Der Fall phasenweiser Formulierung, in der erst die G e g e n s t a n d s b e z e i c h n u n g isoliert auftritt, die nachträglich, nach Klärung ihrer Satzbeziehung, dem sprachlichen Schema eingeordnet wird. Beispiel: Wiederum die Definition von Hypothek. Die phasenweise Formulierung beginnt hier mit der Gegenstandsbezeichnung (Substantiv) .Darlehen". Mit der Anerkennung dieser Bezeichnung als genus proximum ist das Schema des Existentialsatzes gegeben — wenn dieses Schema nicht bereits am Anfang gestanden hat. Die weitere sprachliche Formulierung als Attributiv ergab: „Hypothek ist ein Darlehen auf Grund einer Bürgschaft durch ein Grundstück." Sie hätte z. B. auch nach dem antizipierten Schema eines Relativsatzes ausgegliedert werden können. Rückblickend möchten wir feststellen, daß die Protokolle der experimentellen Untersuchungen uns zeigen können, wie die Wortart während des Sprechaktes durch die besondere S t r u k t u r der antizipierten Schemata auch mit Beziehung auf die betreffende Wirklichkeit im einzelnen Falle erst ausgewählt wird. 3) Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß auch die Bildungsweise der beiden Beziehungsmittel, der Wortstellung und des dynamisch-musikalischen Akzents, im Rahmen eines antizipierten Schemas durch Determinierung (Induktion) erfolgt. Die psychologischen Experimente, welche die Klärung wesentlich anderer Aufgaben im Auge haben, gehen kaum darauf ein, besonders nicht auf die schematische Antizipation des Akzents wegen seines rein klanglichen Charakters. — IV. Wie oben (S. 128 f.) angedeutet, müssen wir noch einmal auf den Begriff der „Regel" zurückkommen. Es war gesagt worden, daß jede syntaktische Regel die Wirkart und den Wirkbereidi der Beziehungsmittel und ihrer Leistungen beschreibt. Diese Leistungen erstrecken sich auf die Kennzeichnungen der innen- und außensyntaktischen Beziehungen, der eigentlichen Mitteilung und der Stellungnahme zum Sachverhalt der Rede. Die Untersuchungen N. Achs haben gezeigt, daß der Ablauf dieser Beziehungen wesentlich nicht auf Assoziationen (W. Wundt), auch nicht auf Perseverationen (Müller und Pilzecker) zurückzuführen ist, sondern auf die Wirkung von determinierenden Tendenzen. Ihr „eigenartiger Vorstellungsinhalt" (N. Ach) ist dasselbe, was wir B e z i e h u n g s b e d e u t u n g genannt haben. Diese Beziehungsbedeutungen determinieren mithin die psychischen Vorgänge der gegliederten Rede im Sprechakt. Wie überdies O. Selz' Versuche dargelegt haben, ergänzen sich diese Determinierungen im Rahmen schematisch antizipierter Komplexe. Es fragt sich dann, wie weit der Geltungsbereich dieser psychologischen Prozesse reicht, d. h. wo seine Grenzen liegen, was wir gemeinhin „Ausnahmen von der Regel" nennen. 140

Solche „Ausnahmen" treten dann ein: 1. wenn eine Regel nicht angemessen formuliert ist, d. h. wenn die Wirkung der vorliegenden Beziehungsbedeutung nicht erkannt ist, z. B. die Regel über den französischen Konjunktiv36. Eine verfehlte Formulierung liegt auch dann vor, wenn gesagt wird: Die französischen Substantive auf -age ( arriver (ankommen). ß) Der k o m p l i k a t i v e Wandel: 1. primärer Art, z. B. Wechsel des Sinnesgebietes (Tastempfindungen > Lichtempfindungen): warme Töne; 2. sekundärer Art, z. B. Ubergang der sinnlichen zur intellektuellen Sphäre: begreifen. y) G e f ü h l s a s s o z i a t i o n e n , z. B. elend, ursprünglich ahd. elilenti ( = heimatlos). d) A s s o z i a t i v e V e r d i c h t u n g , z.B. Gift (Gabe)**. Abgesehen von Rubrik y), ist diese systematische Klassifikation reichlich intellektualistisch, Wundts Auffassung von der Assoziation entsprechend. Aber sie ist lehrreich. Tiefer schöpft das Kapitel über die „Theorie des Bedeutungswandels" (I, S. 610). In allerdings etwas unbestimmt formulierter Weise scheidet Wundt die „maßgebenden Bedingungen" des Wandels in zwei Klassen, in die der „allgemeinen Bedingungen" und in die seiner „eigentlichen Ursachen". Für letztere — die M Vgl. das Schema B. Delbrücks, Grundfragen der Sprachforschung, Straßburg 1901, S. 173.

146

«wirkenden Ursachen"? — sagt Wundt auch „Motive" (des singulären Bedeutungswandels?). Diejenige Funktion, welche die zusammen*hängende Wirkung der elementaren Assoziationen erst möglich macht, nennt W . Wundt die Apperzeption, die Einheitsfunktion des Bewußtseins, womit er den Standpunkt der alten Assoziationstheorie schon überwindet. Die sehr feinen Unterscheidungen im einzelnen müssen aber fruchtlos bleiben, solange man den Standpunkt vertritt, daß eine „teleologische Interpretation überall scheitert" (S. 492), also das geistige Moment der „Gerichtetheit" aus der Bewegtheit der Sprache eliminiert wird. c) Wundts Theorie der Wortbildung trägt keinen einheitlichen Charakter. Ich greife zunächst verschiedene Arten von Bildungsweisen der Begriffswörter heraus, die Wundt im Schlußkapitel des I. Bandes sichtet und voneinander abgrenzt. Unter „ N e u b i l d u n g v o n W ö r t e r n " versteht er v o l k s t ü m l i c h e Neubildungen, Slang oder Jargon, für die wir im Deutschen keine einheitliche Bezeichnung haben, insofern auch der Name „Sondersprachen" nicht recht paßt. Diese Neubildungen bestimmter Gesellschaftskreise (Gauner- und Studenten-, Berufs- und Geselligkeitssprachen) haben ihren Wortschatz zum Teil aus anderen Sprachen (Hebräisch, Latein) übernommen. Als Motive der Sprachentstehung nennt Wundt mit Recht das Bestreben, sich nach außen abzuschließen, ja die Gegenstände der Unterhaltung zu verhüllen. Davon sind zu sondern Neubildungen, die einen ganz anderen Charakter tragen, z. B. baumeln, bammeln, bimmeln, bummeln etc. Eine gewisse onomatopoetische Grundlage ist unverkennbar, dazu wohl auch das Bestreben der Lautmalerei. Als g e l e h r t e Bildungen sind Ubersetzungen wie Gewissen < conscientia (Notker) anzusprechen. Es wäre hier hinzuzufügen, daß die planmäßige Bildung aus einem Bedürfnis nach klarer Ausdrucksweise zu deuten ist — wozu sich aber W . Wundt schwer verstanden haben würde. Größere Beachtung verdienen die bereits oben (S. 144) erwähnten Wortbildungen durch L a u t v e r d o p p e l u n g und durch Z u s a m m e n setzung. Die ersteren: Papa, Zickzack, chines. zit (Tag) — zit-zit (täglich), ital. alto alto, samoanisch taba (sprechen) — tabataba (schreien) verdanken ihre Entstehung wesentlich Naturnachahmungen und Gefühlserregungen; vgl. unser ins Babibett gehen. Die letzteren, die Wortzusammensetzungen, scheinen zum Teil unmittelbar (analytisch) aus einem syntaktischen Gefüge gelöst zu sein, zum Teil durch willkürliche Vereinigung ihrer Teile (synthetisch) entstanden zu sein, womit Wundts Anknüpfung an bereits erwähnte Terminologien gerechtfertigt erscheint: Kompositionen durch assoziative Kontakt-, Nahe- bzw. Fernewirkung, z. B. frz. pourboire — Trinkgeld, Dornstrauch, Hirschkäfer. Das erinnert stark an H. Paul. 10*

14?

d) Es könnte noch auf den Bedeutungswandel syntaktischer Gebilde hingewiesen werden, besonders der Wortformen, d. h. der Wortarten. Wundt sieht wohl den syntaktischen Charakter der Wortart: .daß es d i e F u n k t i o n d e s W o r t e s i m S a t z e ist", die für die „Wortform" die entscheidende Bedeutung hat (II, S. 5). So behandelt er denn die Wortarten einmal — in Verbindung mit den Partikeln! — als Einführung zur „Formenlehre" (Deklination und Konjugation), eingangs des II. BandesI Sodann im Rahmen der Satzfügung (S. 282 ff.). Beide Male aber ohne jede Verbindung mit den anderen Beziehungsmitteln, ihren Leistungsmöglichkeiten und geschichtlichen Durchkreuzungen. Dabei ergeben sich wohl psychologische Einblicke, aber kein sprachwissenschaftliches Verständnis, worauf wir das große Gewicht legen möchten45. Vergleiche oben das III. Kapitel. — Ziehen wir nunmehr das Fazit aus der grundlegenden systematischen Arbeit H. Pauls, des Sprachforschers, und W. Wundts, des Psychologen, und zwar: 1. auf eine umfassende G l i e d e r u n g u n d D a r s t e l l u n g eines allgemeinen Sprachwandels und 2. auf die vollständige m e t h o d o l o g i s c h e Behandlung dieses Problems hin. Zu 1.: In Ubereinstimmung mit der obigen Gliederung der Sprachwissenschaft (S. 43), sind folgende Gesichtspunkte eingehend zu behandeln: a) Satzlehre: Die M o r p h o l o g i e der Beziehungsmittel sowie die L e i s t u n g e n ihrer Beziehungsbedeutungen. Die M o r p h o l o g i e hat nicht nur den Wandel der Flexion zu beschreiben, sondern auch denjenigen der Wortstellung, den Ubergang der Wortarten sowie die historischen Veränderungen des dynamischen und musikalischen Akzents. Hier stehen noch sehr viele Fragen offen. Die L e i s t u n g e n der Beziehungsmittel beschränken sich nicht auf die Kennzeichnung der innensyntaktischen Beziehungen, Auch die außensyntaktischen Beziehungen, die Charakterisierung der eigentlichen Mitteilung und der Stellungnahme zum Satzgedanken, die hier und da wohl anhangsweise erwähnt oder eingeschoben werden, sind in ihrem gliedhaften Zusammenhang auch im folgenden zu berücksichtigen. Das Wesentliche ist jedoch in den vorstehenden Kapiteln bereits eingehend dargelegt worden. ß) Die Wortlehre ist das eigentliche Thema dieses Kapitels. Daher sind im folgenden ausführlich zunächst die M o r p h o l o g i e der Begriffsworte, ihre Bildungen, ihr Aufkommen, ihr »Leben" und ihr Untergang zu behandeln. Die S e m a s i o l o g i e ist zu begründen durch einen Einblick in die 45

148

Dazu A. Martys Kritik, „Untersudrungen" I, Anhang S. 543 ff.

Struktur der objektiv-sachlichen wie der subjektiv-persönlichen Welt. Denn es kann nicht anders sein, als daß in einem durchgegliederten Kosmos Mensch und Umwelt (Außenwelt, Milieu und Mitwelt) ordnungsmäßig aufeinander bezogen und abgestimmt sind. Dabei ist auch dem Gefühlswert der Worte Rechnung zu tragen. y) Der Lautlehre ist kein besonderes Kapitel gewidmet. Sie ist in der Satz- wie in der Wortlehre so weit wie nötig bedacht worden. Zu 2.: Methodologisch kann ein tieferer Einblick in den geschichtlichen Wandel nur durch Unterscheidung der B e d i n g u n g e n einerseits und der b i o l o g i s c h e n b z w . g e i s t i g e n A n t r i e b s k r ä f t e andererseits gewonnen werden, auf die schließlich aller Wandel zurückzuführen ist. Auf diesem W e g e klären sich die g e s e t z l i c h e n Zusammenhänge der beteiligten Faktoren (s. o. S. 82, 133 f.). III. Werfen wir jedoch zuvor einen Blick auf das umfassende und gründliche W e r k S. U l i m a n n s , Principles of Semantics. S. Ullmann klärt zunächst die Grundfragen der deskriptiven Bedeutungslehre 4 8 ! er gibt als «funktionale Definition": the relation between name and sense (Kap. II, 2); darauf handelt er von der Bedeutung als Konvention, von der Unbestimmtheit des .Sinnes" (sense), von den Gefühlsmomenten und der Vielfalt der Bedeutung (mit Rücksicht auf die Pathologie, Kap. II, 3 u. 4). Nach vorbereitenden Ausführungen (Kap. III) wendet er sich dem Hauptthema, der historischen Bedeutungslehre zu. Er verweilt ausführlich bei den möglichen Klassifikationen des Bedeutungswandels (p. 199 ff.) und sieht diese unter zwei Gesichtspunkten: logisch-rhetorische (Verengerung etc.) und genetische Einteilungen, und zwar solche kausaler bzw. funktionaler Art (Wundt, Schuchardt, Roudet, Gombocz), worauf er dann ein System funktionaler Übertragungen entwirft (p. 220 ff.). — Als letzte Ursachen (ultimate causes) werden allerdings recht verschiedene Faktoren genannt (p. 183 ff.), dann aber auch eine Sonderung von intents (purposes, forces) und conditions erwähnt 47 ; wie man auch in den beiden herangezogenen Werken von H. Paul und W. Wundt immer wieder auf ähnliche Bezeichnungen (Umstände, Bedingungen, Voraussetzungen bzw. Ursachen, Neigungen, Bedürfnisse etc.) stößt. Die Gesetze der Bedeutungsentwicklung, im besonderen die panchronistische Behandlung des Problems, gründet S. Ullmann schließlich auf die verschiedenen Arten von Synästhesien. IV. Da die Sprache wesentlich ein geistiges Faktum ist (s. oben S. 84 f.) und der Wandel nicht im luftleeren Raum vor sich geht, sondern auf realer Grundlage und vermittels tatsächlich lebendiger Motive, werden wir im folgenden zwischen den gegebenen Bedingungen und der Dynamik " Vgl. „Preliminary Reports" (1952), p. 15 f. " Vgl. dazu Ulimanns Précis de Sémantique française, Bibliotheca Romanica IX (1952), Bern, Kap. X: conditions générales, causes psychiques, und Kap. XII: tendances (causes, forces) françaises (p. 244) ! 149

der geistigen Akte zu unterscheiden haben und darauf alle Regelmäßigkeiten (Gesetzlichkeiten) zurückführen. Sprachforscher wie Ed. Hermann und W. Hävers, auch Fr. Stroh haben diese Theorie grundsätzlich anerkannt 48 . a) Die Bedingungen49. Diese liegen 1. in der vorgefundenen U m w e l t (Außenwelt, Milieu), wie sie der Mensch mit allen seinen Sinnen, vor allem sehend, hörend und tastend, auffaßt 50 . Denn jedes Gespräch ist an eine Situation gebunden oder wenigstens auf sie bezogen, sei dies die „Welt" schlechthin oder der »besprochene Gegenstand" im engsten Sinne oder alles, was zwischen diesen beiden Polen liegt, einschließlich des Gesprächspartners. Auf diesen Tatsachen beruht die Grundtendenz der von R. Meringer gegründeten Zeitschrift „Wörter und Sachen". Ein großes Problem ist, wie weit mechanisch-kausale Zusammenhänge, Klima, Bodenbeschaffenheit und damit die naturhaften Lebensbedingungen, auf den sprechenden Menschen, z. B. auch auf die Sprechorgane, eingewirkt haben. 2. in dem Charakter der L a u t s p r a c h e als eines akustisch-motorischen, sukzessiven Gebildes, einschließlich der Gebärde. Der Sprechakt ist seinem Wesen nach eine H a n d l u n g von Menschen, die sich zwecks Verständigung bedeutungshaltiger „Zeichen" bedienen, die, mehr oder weniger bestimmt, konventionell innerhalb der im Verkehr stehenden Gruppen festgelegt sind. Die Erörterungen über den Wandel der Sprache werden also den wirtschaftlichen, technischen, wissenschaftlich-künstlerischen und sittlich-religiösen Austausch der Völker zu beachten haben, soweit er s p r a c h l i c h , auch künstlich mittels der Schrift (i. w. S.) vor sich geht; dazu alle Wechselwirkungen in dem traditionell überkommenen Sprachgut, sei es im „Sinnbereich" der Bedeutungsarten oder in der wechselseitigen Einwirkung der Lautzeichen, wie sie innerhalb der Rede oder des einzelnen Wortes (Kontext) auftreten konnten und können. 3. Die dritte Bedingung liegt in der p s y c h o s o m a t i s c h e n A n l a g e der menschlichen Natur, angefangen von der Beschaffenheit der 48 Ed. Hermann, Berliner Philologische Wochenschrift 40 (1920), Sp. 990 f.; — W. Hävers, Handbuch der erklärenden Syntax, Heidelberg 1931, Vorwort, S. 1, 11, 144. — Fr. Stroh, Festschrift für O. Behaghel, 1934, S.248. — Auch der Positivismus kann sich diesen lebendigen Kräften und ihren Auswirkungen nicht ganz verschließen, was aus E. Troeltschs Vortrag, Die Dynamik der Geschichte nach der Geschichtsphilosophie des Positivismus, Berlin 1919, hervorgeht. " Siehe meine „Grundlegung", S. 8 ff. , 0 Also auch Umfang und soziale Schichtung der verschiedenen Gesellschaftsgruppen. Vgl. A. Meillet, „Linguistique" I, p. 230 ff.; denn „le langage est éminemment un fait social", p. 16 ff. Daneben stehen treffende Aussprüche wie: ce qui est essentiel, ce sont les forces qui déterminent les changements; auch wird von ähnlichen Entwicklungen unter ähnlichen Bedingungen gesprochen (p. 73 f.).

150

Sprachorgane, weiterhin der Sinne, der Vorstellungen und Gedanken, also in der gesamten Rezeptivität unserer seelischen Funktionen. Da die Artikulationsorgane, die Arten des Beobachtens, des Vorstellens und des beziehenden Denkens von Volk zu Volk — und weit hin bis zu differentiellen, z. B. landschaftlichen und individuellen Sonderheiten — verschieden sind, so variieren auch die psychophysischen Bedingungen des Sprechens von Volk zu Volk, von Landschaft zu Landschaft, ja von Individuum zu Individuum. Das ist an den nachstehenden Beispielen zu beachten, die keine Materialsammlungen sein sollen, sondern knappe Veranschaulichungen der systematischen Ubersicht51. 1) Die s e e l i s c h e r a r b e i t e t e U m w e l t aus innerem Erleben. Wenn wir reden, so sprechen wir aus unserer Wirklichkeit heraus, in dieser gegenständlichen, biologischen und kulturellen Wirklichkeit. Die Weltgeschichte „bedingt" daher die Sprachgeschichte, die Entstehung, das Leben und den Untergang der Begriffsworte, ihrer Bedeutungen, der (syntaktischen) Beziehungsmittel nebst ihren Leistungen, z.B. auf dem Gebiet des Bedeutungswandels: gegenständlicher Natur: der Fuß eines Beiges (metaphorisch); biologische Umwelt: coaxaie = quaken (onomatopoetisch); Zivilisation und Kultur: der Rücken, die Arme eines Sessels; lat. villa (Landhaus, Bauernhof) > Dorf, > Stadt (frz. la ville); Gewehr (Wehr) > Handfeuerwaffe; hostis (hospes), (Feind, Gast) > frz. hôte (Wirt und Gast). — Untergang: afrz. broigne, fautre (aus der Rittersprache) ; magische Furcht vor Namen (z. B. dem des Häuptlings)62; zwei Bedingungen liegen vor: faire la grève (Place de Grève und Tatsache des Streiks) ; mehrere Bedingungen: Juno Moneta > moneta = Münze = monnaie (Beiname, Standbild und Münzstätte). Wenn man versucht, aus dem überlieferten Sprachgut den Charakter früherer Kulturen zu erschließen, muß immerhin zu einiger Vorsicht gemahnt werden58. " Ich greife dabei auf Beispiele zurück, die idi wesentlich den bereits genannten oder noch zu nennenden Autoren verdanke, besonders Kr. Nyrop, Grammaire historique de la langue française IV, Kopenhagen 1913, S. Ullmann, „Principles", Fr. Kainz, „Sprache" und A. Waag, Bedeutungsentwidclung unseres Wortschatzes, Lahr i. B. 1908. Der Sprachwandel läßt sich am Französischen, dessen Entstehung und Wandel aus dem Lateinischen her, also auf eine Zeitdauer von über 2000 Jahren wissenschaftlich durchforscht ist, wohl am besten aufweisen. " Siehe Qgden/Richards, „Meaning", p. 24 ff., 251 ; — G. Stern unterscheidet sieben Klassen des Bedeutungswandels, von denen die erstere (Substitution) fiufiere Ursachen, z. B. den technischen Fortschritt, berücksichtigt, die übrigen sechs (Analogy, Shortening, Nomination, [Regulär] Transfer, Permutation, Adéquation) sprachliche Gründe umfassen; Meaning and Change of Meaning, in Götfeborgs Högskolas Ârsskrift, Göteborg 1932, p. 166 ff. 48 Vgl. „Preliminary Reports", p. 159 ff.

151

2) Die M i t w e l t . Die Sprachmischung setzt den Verkehr, nicht bloß die örtliche Nähe der Völker voraus. Auf diesem Wege hat das Französische lautlich und inhaltlich aus dem Deutschen übernommen la dissertation, le cercle (.Kreis"), le second (Sekundant); Lehnbedeutungen wie engl, to eut s. b. (ignorieren) > jemand schneiden. Sprachmischungen liegen nicht nur zwischen Nationalsprachen vor, sondern auch zwischen Gemeinsprache und Standessprache, auch der Kindersprache, z. B. Koseformen. N. S. Trubetzkoy leugnet sogar den Bestand einer einheitlichen idg. Ursprache zugunsten eines Lehnverkehrs zwischen benachbarten, unverwandten Sprachen. Danach kann die einzige Frage für ihn nur lauten: Wie und wo ist der idg. Sprachbau entstanden54? 3) Der Z u s a m m e n h a n g d e r R e d e (Kontext) bedingt die Wortbildung und die Bedeutung (Stimmungsgehalt) der Worte, über die okkasionelle Bedeutung hinaus, z. B. trotz ... dem > trotzdem; ob... gleich > obgleich; frz. tous jours > toujours. Siehe oben S. 102: Komposition, Konsoziation". Der Bedeutungsübergang von Zunge zu Sprache wird durch Zusammenhänge wie latina lingua loqui begünstigt; frz. vin de Champagne > le Champagne; classem appellere (heranbringen) > landen: Ellipsen; un bijou précieux ( maladie aigue); Sinnliches auf Seelisdies (ignorance profonde), Abstraktes auf Konkretes übertragen (lat. serviius > Sklavenschar) etc.74. Ein Sphärenwechsel liegt auch vor, wo temporale oder lokale Konjunktionen (Präpositionen, Adverbien) zu etwa kausalen Konjunktionen hinübergleiten, und zwar je mehr sich die schlichte Parataxe zur (kausalen, konzessiven, konditionalen usw.) Hypotaxe bzw. Syntaxe wandelt und es an angemessenen Ausdrucksmitteln gebricht. Dasselbe Streben nach Deutlichkeit begünstigt die Bildung analytischer Konstruktionen, unter Beihilfe der Emphase, zumal wenn die synthetischen Flexionen zu versagen beginnen oder unbequem werden, z. B. Cicero: unus ex Ulis hominibus, statt unus eorum-, oiaie ab aliquo schon einmal bei Vergil: veniamque oiemus ab ipso (cf. petere, iogare). Die nach Klarheit strebende Sprache nimmt keinen Anstoß an Fällen wie alte Jungfer, weekly journal, quarantaine de cinq jours (K. Schmidt). Die von W. Horn behandelte Problematik von lautlicher Veränderung und dem Wandel von Bedeutung, bzw. Beziehungsbedeutung (»Funktion"), wird meist nur unter dem Gesichtspunkt der B e d i n g u n g gesehen: 1. Werden Teile von Worten (Wortverbindungen) .funktionslos", so können sie abgeschwächt werden oder untergehen, 2. Werden sie „funktionsarm", so können sie abgeschwächt werden. 3. »Funktionswichtige" Laute können wider Erwarten erhalten bleiben. 4. Sprachkörper können verstärkt bzw. gedehnt werden, um ihre .Funktion" erfüllen zu können. 5. Uberlastete Spi;achkörper können zugrunde gehen. Aber W. Horn vertritt mit Recht die Anschauung (gegen Wundt), daß ein »Trieb" nach Klarheit und Deutlichkeit zur Erhaltung bedeutsamer Laute besteht77. ß) Die Neigung zu ästhetisch-anschaulicher Ausdrucksweise. Wir haben die ästhetische Sphäre verstanden (s. o. S. 88) als Schwester der wissenschaftlichen; denn beide haben das gleiche Ziel, die Richtung auf Wahrheit, erstreben es aber auf fundamental verschiedenen Wegen: die Wissenschaft mittels des abstrakten Zergliederns im beziehenden Denken; die Kunst in anschaulichen Symbolen, auch in der Sprache, durch die sinnlich-bildhafte Kraft von Laut und Klang, Alliteration und Reim, Tempo und Rhythmus. 7 4 H. Lehmann, Der Bedeutungswandel im Französischen, Erlangen 1884; — E. Gamillscheg, a. a. O., S. 61 ff., 65 f. " W. Horn, Sprachkörper und Sprachfunktion, Berlin 1923 (Pal. 135), S. 20 f., 135 ff.; ders., Neue Wege der Sprachforschung, Maiburg a. d. L. 1939, S. 1 ff.; — Der Grundgedanke ist schon ausgesprochen von K. F. Becker, „Ausführliche Deutsche Grammatik", Erste Abteilung, § 19, 155, 182 u. ö., wie auch L. Bloomfield, „Language", S. 387. — Geringer Lautbestand geht unter trotz wichtiger Bedeutung: lat. rem, os, aus, usw.

160

Hier liegen die Motivationen von Metaphern 78 (frz. cerf-volant, Papierdrache, trépasser — mourir), von Synästhesien (ein schwarzer Tag, ein glänzendes Angebot), kurz von allen bildlichen Ausdrudesweisen, auch des bloßen Klanges (s. o. S. 146 f.: baumeln, bammeln), von Kontaminationen (wie twirl < twist + whirl), von Kompositionen (hodgepodge, tit-bits), onomatopoetischen Neuschöpfungen (Töltöf), von Konsoziationen der verschiedensten Art (Ehestand — Wehestand) und Reduplikationen 79 . Unter diesem Gesichtspunkt sind auch die Arbeiten der Schallanalyse (Lautmalerei) von E. Fenz, F. Trojan, Saran-Bünte zu betrachten, desgleichen L. Bloomfields Hinweise (tlimmer, glimmer, simmer, shimmer) sowie H. Müllers experimentelle Arbeit über Lautsymbolik80. H. L. Koppelmann schreibt „der Vorliebe für bestimmte Klänge" ganz besonderen Einfluß auf den Sprachwandel zu, ja er nimmt ein „bewußtes Streben nach einem Klang" an. Der Mensch ahmt nach, was ihm „gefällt". Demnach scheint die Einwirkung der „Geschmacksrichtung" der verschiedenen Völker wie der Mode etwas überbetont zu sein, wie wir es ja auch bei K. Vossler bemerken können81. y) Das Hindrängen auf bequeme Ausdrucksweise. Nicht mit Unrecht behauptet G.v. d. Gabelentz, daß die Geschichte der Sprache sich in der Diagonale zweier Kräfte bewege: des Bequemlichkeitstriebes und des Deutlidikeitstriebes. Daher messen auch G. Gröber und Marty dem Drang nach Ökonomie des Ausdrucks besondere Bedeutung bei. Für J. Locke ist er „the chief end of language" 82 . So ist man geneigt zu sagen, daß das Streben nach Sparsamkeit sich überall da durchgesetzt hat, wo sich ihm nicht andere geistige Akte stärkeren Gewichts entgegenstemmten. Ich möchte die weittragende Wirkung der Bequemlichkeit unter folgenden Gesichtspunkten zusammenfassen, die sich z. T. durchkreuzen bzw. zusammenwirken: a) Der Drang nach A n g l e i c h u n g (i.w.Sinne), z.B. im Fall der bereits als Bedingung erwähnten Assimilation und Dissimilation, der Metathese und Ersatzdehnung (als Angleichung und Wahrung des Früheren!), die verschiedenen Arten des Umlautes, die Erscheinung des Sandhi und Ausspracheerleichterungen wie engl, the egg (neben the day), an aid (neben a light), die Aussprache des flexivischen-fejs nach Zisch'* Siehe das umfassende Material in Kr. Nyrop, Grammaire historique de la langue française IV, Kopenhagen 1913, p. 229. 74 Für die meisten der angegebenen Punkte bietet z. B. das Werk L. Spitzers, Die Umschreibungen des Begriffs „Hunger" im Italienischen, Halle a. S. 1921, reiche Belege. 89 L. Bloomfield, „Language", p. 245; — H. Müller, Exp. Beitr. z. Analyse d. Verhältn. v. Laut u. Sinn, Potsdam 1935. S. o. S. 100. 81 H. L. Koppelmann, Ursachen des Lautwandels, Leiden 1939, S. 3, 21 ff.; — K. Vossler, Sprachphilosophie, München 1923, S. 14, 35, 136 f., 149 f. 82 The Works of J. Locke I, London 1824, p. 466. 11 Otto, Sprachwissenschaft

161

lauten etc.; die Fälle der Bindung im Franz. und Einfügung von Gleitelauten; Anpassung an Naturlaute (Onomatopöie) ; Anpassung an fremde Sprachen (Aussprache, Wortbildung, Lehnwörter, Lehnbedeutungen, Lehnkonstruktionen), z. B. deutsdi-amerik. Sie weiden's enjoyen-, alle Arten der Analogie (im Sinne H. Pauls) ; Angleichung des Geschlechts in gladium (neben gladius) an ierrum. b) Die besondere Tendenz der V e r e i n f a c h u n g , z. B. Zurücktreten „unregelmäßiger" synthetisch gebildeter Formen in Deklination, Konjugation und Steigerung (foots statt teet); Ersatz der Flexion durch Wortstellung; Wegfall schwieriger Wortartikulation (knee), also jedenfalls auch alle Lautverschiebungen (z. B. der ersten gemeingermanischen und der zweiten hochdeutschen), zumal andere.Motivationen unwahrscheinlich sind. Auch wenn Wundt die „Ursache" des „unbedingten" (!) Lautwandels in der Beschleunigung des Redetempos sieht, so ist dies nur eine „Bedingung" gegenüber der „erstrebten" Ökonomie an Kraft und Zeit. Eine Kraftersparnis liegt auch vor, wo der Sprechende auf eine genauere Unterscheidung der Begriffe bei verwandten Vorstellungen noch Verzicht leistet, z.B. afrz. esclair (Glanz, Licht, Schein, Blitz), afrz. esioudie (Blitz und auch Gewitter), lat. irumentum (Weizen, dann aber Getreide). L. Spitzer spricht hier mit Recht von „Bequemlichkeit" 83 . Vgl. oben S. 145 ff. Bequemlichkeit äußert sich darin, wenn man z. B. faire als verbum vicarium, wie im Deutschen machen und volkstümlich tun, gebraucht, z. B. taire un discours (statt des genaueren rédiger, composer, prononcer), ähnlich das schlichte und übliche engl, to have (a cup of tea) etc. Die Ökonomie von Kraft und Zeit führt zu den sogenannten Ellipsen, z. B. frz. la (représentation) première. Das weist bereits zum nächsten Gesichtspunkt hinüber. c) Lautliche K ü r z u n g , z.B. Bus (bus)