Dichtung und Recht [1 ed.]
 9783428528769, 9783428128761

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Dichtung und Recht Von Michael Kloepfer

asdfghjk Duncker & Humblot

MICHAEL KLOEPFER

Dichtung und Recht

Dichtung und Recht Von Michael Kloepfer

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-12876-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Recht muss man achten – Dichtung kann man lieben. Passt das zusammen? Ich meine ja. Der Jurist bedarf angesichts der spezifischen Anforderungen seines Berufs der Ergänzung durch das Interesse für Kunst oder gar durch künstlerische Betätigung. Die Kunst kann ihm Dimensionen jenseits seiner beruflichen Fixierung erschließen. Im Idealfall kann er sogar aus der Kunst Anregungen und Deutungen für seinen Beruf gewinnen. Dies streben die drei hier zusammengefassten Beiträge an. Sie versuchen, bekannte Werke der deutschen Dichtung (ein Gedicht und zwei Dramen) vornehmlich unter rechtlichen Aspekten zu betrachten. Sie sind aus Liebe zur Dichtung und aus Engagement für das Recht geschrieben. Und damit sind wir bei einem Grundproblem der folgenden Beiträge. Sie sind nicht von einem Germanisten, d. h. nicht professionell geschrieben. Nicht berufliche Distanz, sondern Zuneigung zur Dichtung war die Triebfeder für diese Zeilen. Und dieses amare bzw. delectare könnte dann zu dem Vorwurf führen, hier habe ein Amateur und Dilettant der Germanistik geschrieben. Aber diesen Vorwurf muss man in Kauf nehmen, wenn man einen Weg über entfernte Disziplinen und hier vielleicht sogar über verschiedene Welten sucht. Die Beiträge, deren Originalfundstellen jeweils in der ersten Fußnote benannt werden, sind im Wesentlichen in der Originalfassung abgedruckt. Von einer Vereinheitlichung der jeweiligen Gliederungssystematik und sonstiger Formalien wurde abgesehen. Allen Verlagen, die ihre Nachdruckerlaubnis erteilt haben, danke ich hierfür. Mein besonderer Dank gilt aber Herrn Ver-

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Vorwort

leger Prof. Dr. h.c. Norbert Simon, der diese Schrift initiierte und ihr Erscheinen in seinem Haus ermöglicht hat. Ich würde mich freuen, wenn dieses Bändchen den einen oder anderen juristischen Leser dazu bewegen würde, wieder einmal in einen Gedichtband, in ein Drama oder vielleicht auch in ein Theater hineinzuschauen. Kunst und Recht brauchen einander. Berlin, im Juni 2008

Michael Kloepfer

Inhalt „Der Panther“ und der Jurist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verfassungsdenken in Schillers „Don Karlos“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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„Wilhelm Tell“ und das Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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„Der Panther“ und der Jurist* 1. Im Jahre 1902 ging Rilke – nach Abschluss seiner ersten wesentlichen Schaffensperiode – für mehrere Jahre nach Paris, vor allem um dort Rodin zu treffen und mit ihm zusammen zu arbeiten. In diesem, seinem ersten Jahr in Paris1, schrieb Rilke sein berühmtes Gedicht: Der Panther2, das später in seinen „Neuen Gedichten“ erschien.3 Der Panther Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille – und hört im Herzen auf zu sein.

Der damals 27-jährige Rilke hatte im Jardin des Plantes in der damaligen beengten Menageriehaltung wiederholt einen * Erstabdruck in: Jacobs u. a. (Hrsg.), Festschrift für Peter Raue, C. Heymanns Köln 2006, S. 139 – 144. 1 Die Datierung der Entstehung des Gedichts schwankt zwischen 1902 und 1903, siehe Bradley, R. M. Rilkes Neue Gedichte, 1967, S. 73. 2 Aus den sehr zahlreichen Interpretationen dieses Gedichts seien etwa erwähnt: Henning, Pädagogische Rundschau XVI (1962), S. 95 ff.; Blume, Mondern Language Notes LX (1945), S. 296 ff.; Böckmann, Wirkendes Wort XII (1962), S. 341 ff. 3 Es erschien erstmalig in einem „böhmischen Provinzblatt“, s. Leppmann in: Reich-Ranicki (Hrsg.), Rainer Maria Rilke. Und ist ein Fest geworden, 2. Aufl. 1997, S. 54.

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Panther beobachtet und das Verhalten der großen Raubkatze in der Gefangenschaft sehr genau beschrieben. Das ruhelose, häufig zwanghafte, sich immer wiederholende Herumschnüren eines Raubtiers in einem viel zu kleinen Käfig, der teilnahmslose, auf Außenreize nicht mehr reagierende stumpfe Blick des Tiers und der Moment, in dem die große Katze doch auf solche Außenreize einmal reagiert und dann – still stehend und mit wachen Augen – die Witterung entfernter Objekte aufzunehmen und diese zu fixieren versucht. Rilke hat mit diesem Gedicht, das auch zu seinen „DingGedichten“ gezählt wird4, wahrhaft gezeigt, dass er ein wesentliches Ziel seiner Pariser Jahre, das „sehen lernen“, bereits früh erreicht hatte. Die Faszination durch Rodin und seine Kunst5 wird deutlich spürbar. Rilke gelingt es meisterhaft, gewissermaßen mit sprachlichen Mitteln den gefangenen Panther zu modellieren.6 Doch Rilke geht es nicht nur um eine genaue Beschreibung von äußerlich Erkennbarem. Er sucht vielmehr nach Exemplarischem und nach dem zeitlosen Gleichnis. Das Betrachtete wandelt sich zu einem Sinnbild.7 Es kommt zum Umschlag der deskriptiven zur imaginativen Fiktion.8 Rilke ist es bei diesem Gedicht gewiss nicht entscheidend um Tierschutz9 und das Schicksal von Zootieren gegangen10, sondern eher um das Schicksal gefangener Lebewesen überhaupt und letztlich um den Menschen selbst. Das Gedicht gewinnt seine außerordentlich starke Wirkung erst dadurch, dass Bode, in R. Rilke, Gedichte, Nachwort, 1997, S. 301. Siehe dazu etwa Holthusen, Rilke, 2003, S. 67 ff. 6 Nachdenkenswert ist deshalb die Deutung von Behrendt, Rilkes Neue Gedichte, 1957, S. 113, der in dem Erlebnis der Tiger-Statuette von Rodin eine wesentliche Quelle zur Inspiration Rilkes für sein Gedicht sieht. 7 Prill, in: Jens (Hrsg.), Kindlers neues Literaturlexikon, Bd. 14, 1996, S. 146. 8 Stahl, Rilke-Kommentar, 1979, S. 55. 9 Holthusen, a. a. O., S. 89. 10 Auch wenn Leppmann, in: Reich-Ranicki (Hrsg.), Rainer Maria Rilke. Und ist ein Fest geworden, 2. Aufl. 1997, S. 54 f., diesen Aspekt nicht gering gewichtet. 4 5

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es den gefangenen Panther als Sinnbild der menschlichen Existenz versteht oder verstehen lässt. So ist dieses Gedicht als Symbol der Ausweglosigkeit des in seinem Schicksal gefangenen Menschen begriffen worden. In dieser Symbolik der menschlichen Existenz macht dieses Gedicht auch heute noch betroffen, auch wenn die außergewöhnliche Schönheit, wenn nicht Artistik der klangmalenden Sprache den Blick auf dieses existenzielle Thema der Eingeschlossenheit menschlicher Existenz bisweilen verstellt.11 2. Doch was hat dieses eher wehmütige Gedicht mit Juristen zu tun? Dies mag sich klären, wenn die „Stäbe“ des ersten Verses durch das Wort „Regeln“ ersetzt werden: Sein Blick ist vom Vorübergehn der (Regeln), so müd geworden, daß er nichts mehr hält.

Das kann den Juristen etwa am Beginn oder auch am Ende seiner Laufbahn meinen. Am Beginn, wenn er im Stress der Examensvorbereitung – fast schon erschöpft und ausgelaugt – versucht, sich in nächtlichen Stunden die neuesten BGH- oder BVerfG-Entscheidungen kurz vor den Klausurterminen einzuprägen. Der Kandidat liest und liest, aber stellt dann nach einer gewissen Zeit fest, dass er diese Entscheidungen in seinem Gedächtnis nicht mehr verankern kann, sie also nicht mehr (be)hält. Und Entsprechendes mag gelten, wenn der alt gewordene Jurist nach einem langen juristischen Leben die neuesten großen Reformen des aktuellen Gesetzgebers nicht mehr „speichern“ kann (oder will). 3. Weit über das Problem der körperlichen oder geistigen Erschöpfung von Juristen gehen die nächsten Zeilen hinaus: Ihm ist, als ob es tausend (Regeln) gäbe und hinter tausend (Regeln) keine Welt.

a) Dies kann zweierlei meinen: Zum einen den seiner Karriere ergebenen „Nur-Juristen“, der sich für nichts anderes als 11 Siehe auch Leppmann, a. a. O., S. 55, der treffend den Panther zu den Werken zählt, „denen ihre eigene Schönheit im Wege steht“.

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seinen Beruf interessiert und die Welt außerhalb der Jurisprudenz – beispielsweise die Welt der Kultur – vergessen hat. Wer aus der Juristen-Welt kennt ihn nicht, den erfolgreichen und hochrangigen Juristen, der nur für seinen Beruf lebt und seit Jahren kein schöngeistiges Buch mehr in die Hand genommen hat, geschweige denn im Theater war? b) Ein weiteres kommt hinzu. Der beruflich angespannte Jurist eilt von Fall zu Fall, von Akte zu Akte, von Telefonat zu Telefonat und verliert so die Fähigkeit, die Welt und die Probleme um ihn herum wahrzunehmen oder gar zu reflektieren. c) Entscheidender aber ist etwas anderes: Das Einmauern in eine nur juristische Welt als Risiko intensiver juristischer Tätigkeit. Die genannten Sätze des Gedichts könnten auch auf den berufsspezifischen Wirklichkeitsverlust von manchen Juristen zielen. Es gibt nicht wenige Juristen, die im Vollzug von Rechtsnormen einen Selbstzweck sehen. Dabei vergessen sie nicht selten, dass diese Regeln nur Hilfsmittel sind, um reale Probleme der Welt, Konflikte in der Lebenswirklichkeit zu lösen oder – besser noch – zu vermeiden. Hieran hat sich jede Norminterpretation auszurichten; eine weltfremde, wirklichkeitsblinde Normauslegung führt letztlich immer in die Irre. Das geht noch weiter: Der Normgeber, der die Wirklichkeit verkennt, kann schwerlich eine wirklich gerechte Norm schaffen. Besonders in Diktaturen – wie z. B. der DDR – ist eine solche Wirklichkeitsblindheit der Rechtsordnung (häufig wegen der Ideologieverhaftetheit) recht ausgeprägt. Auf diese Weise haben sich Diktaturen häufig recht wertlose und ineffektive Rechtsordnungen geschaffen und bauen deshalb letztlich weniger auf die Steuerung durch das Recht, als vielmehr auf ihren Repressionsapparat. Der Wirklichkeitsverlust ist dann nicht mehr nur das Defizit des Denkens und Handelns einzelner Juristen, sondern ein Defizit des Systems selbst, das damit nicht selten den Keim zu seinem eigenen Untergang legt, wie gerade das Beispiel der DDR zeigt.

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Für den Juristen kann alles dies nur bedeuten, dass er bei der Anwendung und dem Erlass von Rechtsnormen stets die „Wirklichkeit“ im Auge behalten muss – denn hinter tausend Regeln gibt es eine Welt. Das Regelwerk der Juristen stellt diese Welt nicht dar. 4. Der Jurist – häufig der besonders erfolgreiche – der im Wesentlichen nur noch in seinem Beruf und seinem juristischen Spezialfeld lebt, gibt Anlass, den zweiten Vers des Gedichts zu interpretieren. Wer erlebt hat, wie aus sinnenfrohen, kulturell interessierten (und politisch engagierten) Kommilitonen im Zenith ihrer Laufbahn arrivierte Spezialanwälte, Richter oder Ministerialbeamte etc. geworden sind, deren ganzes Trachten sich nur noch um wenige Spezialgesetze (oder sogar nur noch Teile hiervon) dreht und deren übrige – aus der Studienzeit noch bekannten – Anlagen und Fähigkeiten brach liegen, der wird an diesen Vers gemahnt: Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht.

Letztlich hat der beschriebene erfolgreiche Jurist sich selbst in den Käfig seines eigenen Spezialgebiets eingeschlossen, wo er – trotz seiner in ihm angelegten größeren individuellen Möglichkeiten – geistig sich nur noch im allerkleinsten Kreise eines eigenen engen Spezialgebiets dreht. Und in dieser – dem beruflichen Erfolg geschuldeten – Selbstisolierung durch extreme Spezialisierung erscheint die eng eingegrenzte Tätigkeit aus der Sicht des ehemaligen Studienfreundes in der Tat wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der ein – durch das eigene Karriere- und Erwerbsstreben – „betäubter“ großer Wille steht. Dieser Jurist hat weit mehr menschliche und fachliche Potentiale als dies seine derzeit so erfolgreiche Tätigkeit als juristischer Spezialist zeigt bzw. erlaubt. Er hat sich eben durch sein Spezialistentum und sein Nur-Juristen-Dasein selbst gefangen und so letztlich um einen großen Teil seiner Möglichkeiten gebracht.

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5. Allerdings endet das Gedicht von Rilke – in hiesigem thematischem Zusammenhang – doch mit einer Spur Zuversicht:12 Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille – und hört im Herzen auf zu sein.

a) Rilke setzt an dem Augenblick an, in der die Raubkatze ihren ebenso ruhe- wie teilnahmslosen Gang durch den Käfig unterbricht und still steht, weil sie etwas außerhalb des Käfigs wahrgenommen hat. Dies lässt sich auf den in seiner Karriere und seinem Spezialistentum eingesperrten Juristen übertragen. Es gibt Momente, in denen er auch andere Dinge als seine Spezialfragen wahrnimmt und diese so automatisch zu relativieren beginnt. Es stimmt ein wenig zuversichtlich, wenn der hoch spezialisierte und engagierte Jurist gleichwohl die Fähigkeit bewahrt hat, ein Bild in sich hineinzulassen, d. h. die Welt von außen, hinter den Regeln, doch noch wahrzunehmen und auf sich einwirken lassen zu können. Diese Fähigkeit zur Durchbrechung der eigenen fachlichen Abgeschlossenheit ist jedem, gerade dem erfolgreichen, weil insoweit besonders gefährdeten Juristen zu wünschen. b) Dabei ist nun freilich noch mehr zu wünschen: natürlich die Fähigkeit, die Welt bis an das eigene Herz herankommen zu lassen. Es geht Rilke auch darum, dass die Überwindung von Selbstisolierung nicht nur die Wahrnehmung der Außenwelt voraussetzt, sondern die empfindungsmäßige Aufnahme und Verinnerlichung voraussetzt.13 Dies lässt sich – mit Vorsicht – auch auf die Welt der Juristen übertragen: Und letztlich unterscheidet dies den großen Juristen vom „nur“ erfolgreichen Juristen: die Gabe, das Herz als Korrektiv juristischen Sachverstands nicht zu vergessen und so der Gefahr der Unbarmherzigkeit von Recht im Einzelfall zu ent12 In der Germanistik finden sich freilich auch ganz resignative Interpretationen. 13 Siehe Bradley, a. a. O., S. 75.

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gehen. Dabei geht es freilich nur um äußerste Grenzen juristischen Handelns und darf nicht generell dazu führen, die Rechtsordnung insgesamt zum Spielball individueller Rechtsgefühle zu machen. Es geht um äußerste, immanente Grenzen von Jurisprudenz. In diesem Sinne ist jedenfalls für den erfahrenen Juristen eines sicher: Auch juristisches Handeln bedarf der Gegenprobe durch das Gefühl, genauer: das Gerechtigkeitsgefühl. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit kommt weniger aus dem Verstand als vielmehr aus dem Herzen. Und deshalb müssen die Außenwahrnehmungen von Juristen stets auch das Herz erreichen. Der Jurist muss sich bei einer beruflichen Tätigkeit – dies sagt uns „der Panther“ – stets die Fähigkeit erhalten, die Welt hinter den Regeln nicht zu vergessen und sie – im Einzelfall – bis an das Herz an sich herankommen zu lassen. Mit dem Herzen zu denken kann eben auch einmal eine juristische Tugend sein.

Verfassungsdenken in Schillers „Don Karlos“* I. Familiendrama oder Staatstragödie? Nahezu endlos in der germanistischen Literatur ist die Diskussion, welches nun eigentlich das zentrale Thema des „Don Karlos“ sei.1 Die einen sehen den Schwerpunkt des Stückes vornehmlich in den „privaten“ Aspekten, den um Familienund Intimbeziehungen kreisenden Handlungsteilen, und beurteilen den Text somit primär als Familien2-, Liebes- oder auch „Freundesdrama“3. Die anderen betonen im Gegenzug * Erstabdruck in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2006, S. 560 – 565. Ich danke meinem früheren Mitarbeiter, Herrn Julian von Lucius, für seine aufopferungsreiche, wertvolle Hilfe. Das Werk ist erstmalig 1787 bei Göschen unter dem Titel „Dom Karlos. Infant von Spanien“ veröffentlicht worden (s. Abdruck des originalen Titelblattes in Pörnbacher, Friedrich Schiller, Don Karlos – Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart, 2002, S. 157). Damit knüpft Schiller an die historische (portugiesische) Schreibweise an. Später bevorzugt er (insbes. in seinen „Briefen über Don Carlos“) die Schreibweise „Don Carlos“. Inzwischen scheint die Germanistik teilweise wieder zu „Don Karlos“ umzuschwenken. 1 Zum Diskussions- bzw. Forschungsstand etwa Koopmann, Don Carlos, in: Hinderer (Hrsg.), Schillers Dramen, Stuttgart, 1992, S. 159 ff.; sowie Bohnen, Politik im Drama – Anmerkungen zu Schillers „Don Carlos“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 24. Jhrg., Stuttgart, 1980, S. 15 ff. (S. 23). 2 Schiller selber hatte das Drama als „Familiengemählde in einem fürstlichem Hauße“ beschrieben (Brief an Dalberg vom 7. Juni 1784, abgedruckt bei Pörnbacher, Friedrich Schiller, Don Karlos – Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart, 2002, S. 137 f.). Gleichwohl wird wiederholt darauf hingewiesen, Schiller habe damit wohl weniger eine inhaltliche Ausrichtung als vielmehr eine formale Anlage benennen wollen: namentlich das von Diderot in seiner Schrift „De la poésie dramatique“ (1758) begründete Prinzip des „Tableau“ (Lessing hat dies mit Gemälde übersetzt), in der jede Szene als geschlossene Sinneinheit, als eigenständiges Bild aus-

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den nicht zu übersehenden Anteil staats- und freiheitstheoretischer Reflexion und sehen den eigentlichen Charakter des Stückes in seiner Rolle als politisches, Staats- oder gar „Ideendrama“4. Wie dem auch sei, die Heterogenität des „Don Karlos“ ist ebenso wenig zu leugnen, wie die thematische Fülle des Stückes. Diese Tatsache hat dem Drama – übrigens später auch vom Dichter selbst – den Vorwurf eingetragen, „überladen“ zu sein, und schlägt sich darüber hinaus in Feststellungen „tragischer Vielschichtigkeit“5 nieder. Aber vermutlich liegt gerade in dieser „schwungvollen Mischung“6 von Freundes- und sexueller Liebe, Generationenkonflikt, Macht, Intrige, politischer Freiheits- und Gleichheitsforderung, von „revolutionärem Pathos und psychologischer Porträtkunst“7 die enorme Anziehungskraft des Dramas, in dem – mit Th. Manns Tonio Kröger gesprochen – „Stellen darin [sind], dass es gleichsam knallt“8. Die literaturwissenschaftlichen Stellungnahmen in diesem Spannungsfeld sind Legion. Neben nicht fehlenden Versuchen, die Einheit des Dramas etwa unter der Folie von Schillers dramentheoretischen Abhandlungen zu rekonstruieren9 oder Politisches und Privates des Stückes inhaltlich zusammenzudenken10, hat sich weithin der Befund einer thematischen Verschiebung während der Entstehung des Dramas zugestalten ist (vgl. Alt, Schiller, Leben – Werk – Zeit, Bd. I, München, 2000, S. 441; kritisch: Koopmann (Fn. 1), S. 163 f.). 3 Gerhard, Das Leitziel – Der „Ästhetische Staat“, in: dies., Schiller, Bern, 1950. 4 Weißenfels nach Koopmann (Fn. 1), S. 159. 5 v. Wiese, Die Dramen Schillers. Politik und Tragödie, Leipzig, 1938. 6 Alt (Fn. 2), S. 433. 7 Ebd. 8 Th. Mann, Tonio Kröger, in: Sämtliche Erzählungen, Bd. 1, 8. Aufl., Frankfurt a. M., 2002, S. 271. 9 Koopmann (Fn. 1). 10 So unter dem Inzestmotiv: Böckmann, Schillers „Don Karlos“ – Die politische Idee unter dem Vorzeichen des Inzestmotivs, in: Wittkowski (Hrsg.), Friedrich Schiller – Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung, Tübingen, 1982, S. 33 ff.

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durchgesetzt. Schiller wurde 1782 auf den Stoff aufmerksam gemacht und begann seine Arbeit 1783.11 Er beendet die Arbeit am „Don Karlos“ – nach verschiedenen Teilveröffentlichungen12 – im Jahre 1787 mit mehreren Fassungen und einer umjubelten Uraufführung in Hamburg. Bis zu seinem Tod im Jahre 1805 ließ Schiller viele weitere gekürzte Fassungen folgen. Während der langjährigen Auseinandersetzung des Dichters mit dem Stoff hat sich das Interesse Schillers offenbar gewandelt. Wie im Spielverlauf der emotionale, liebende und leidende „Sturm und Drang“-Held Karlos allmählich vom rational handelnden (gleichwohl zuweilen auch schwärmerisch auftretenden) und idealistisch denkenden Aufklärungstypus Posa als Zentralfigur des Geschehens verdrängt wird – und den Titel des Dramas heute eher erklärungsbedürftig macht –, so wandelt sich das Drama „vom Familienstück zur Tragödie der Macht“13. Dieser Diskussion in der Germanistik ist wohl kaum mehr etwas hinzuzufügen, schon gar nicht von fachfremder Seite. Im Übrigen beschreibt das Familienstück im „Don Karlos“ nicht nur private Angelegenheiten und Gefühle, sondern illustriert letztlich wohl auch schon – ganz modern – die Gefährdung oder gar das Scheitern der Institution Familie.14 Das alles kann hier nicht nachgezeichnet werden. Es geht im Folgenden um eine von juristischem bzw. verfassungspolitischem Interesse geleitete Interpretation von Kernpassagen des Werkes. Das bedingt von vorneherein einen nur partikularen, wissentlich ausschnitthaften Zugriff auf den Text. Was sonst noch in diesem großen Drama enthalten ist, muss deshalb hier dahin stehen, ohne es zu leugnen oder gar zu übersehen. 11 Der Arbeitsbeginn wird uneinheitlich datiert: vgl. z. B. v. Wiese, Der Weg zum „Don Karlos“, in: ders., Friedrich Schiller, Stuttgart, 1959 / 64, S. 220 oder Buchwald, Schiller, Bd. II: Der Weg zur Vollendung, Wiesbaden, 1954, S. 39. 12 Insbesondere in der von ihm herausgegebenen Theaterzeitschrift „Rheinische Thalia“ (daher Thalia-Fragment genannt). 13 Alt (Fn. 2), S. 433. 14 So wohl auch Koopmann (Fn. 1), S. 193 ff.

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Hauptfigur für eine verfassungspolitische Interpretation des „Don Karlos“ ist sicherlich der Marquis von Posa, zu der der Dichter eine ganz besondere Nähe entwickelt hat.15 Obwohl dieser Figur ersichtlich die Sympathie Schillers gehört, ist der Dichter jedoch klug genug, diese Figur nicht nur einseitig positiv anzulegen, weil sie so – im Hell und Dunkel – glaubhafter, interessanter und psychologisch auch überzeugender wird.16 Posa ist nicht nur Idealist und begnadeter Pädagoge; er neigt darüber hinaus zur Taktik, aber eben auch zur Täuschung sowie zur politischen Instrumentalisierung von Menschen und deren Freundschaft. Er ist idealistisch und machthungrig zugleich. Im Grunde legt Schiller hier die selbe dramatische Technik der charakterlichen Differenzierung an wie bei der Figur des Königs, der vielleicht bewegendsten Figur des Dramas (dort erhält die prinzipiell negativ angelegte Figur des Philipp positive Züge, hier erhält der positive Held des Posa negative Seiten). Der König wird nicht als Monstrum, sondern als tragische, einsame Figur auf der Suche nach einem vertrauenswürdigen (Mit-)Menschen dargestellt. Er ist zwar ein Despot, kann aber auch weinen (4465)17. Er schickt seinen Sohn in den Tod, zeigt aber auch (insbesondere gegenüber Posa) menschliche Größe.18 Es gehört zur theatralischen Raffinesse des Stückes, dass Posa diese menschliche Sehnsucht des Monarchen ebenso wie seine Freundschaft zu Karlos politisch ausnutzt und im nachhinein 15 Treffend Heine: „Schiller selbst ist dieser Marquis Posa“, zitiert nach Burschell, Schiller, Reinbek bei Hamburg, 1968, S. 206. Von Heine stammt auch die schöne Formulierung, der Ethos Posas beruhe auf dessen „Liebe für die Zukunft“. 16 Zur negativen Seite Posas z. B. Alt (Fn. 2), S. 453 ff. und Burschell (Fn. 15), S. 204. Negativ ist insbesondere die Instrumentalisierung seines Freundes Karlos. 17 Als Versnummern werden durchweg die der Reclam-Textausgabe (Stuttgart, 2001) zitiert; diese entspricht der letzten Buchausgabe von 1805 gemäß der Edition der Nationalausgabe, Bd. 7, Teil I, Weimar, 1974. 18 Seidlin hält Philipp für die „bewegendste Figur des Stückes“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 27. Jhrg., Stuttgart, 1985, S. 477 ff. (S. 483). Auch in Th. Manns Tonio Kröger (Fn. 8) wird diese Einschätzung geteilt.

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so gewissermaßen seinen hehren Idealismus konkludent dementiert. Die einschlägige Schlüsselszene des Dramas als Staats- oder Ideendrama stellt der Disput Posas mit dem König (III, 10) dar.19 In ihr entfaltet Schiller in gebündelter und programmatischer Form das aufklärerische staatspolitische Denken des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Den in dieser Hinsicht zentralen, verfassungspolitischen Themen, die auch in anderen Szenen zur Sprache kommen, soll im Folgenden (ohne strenge Rücksicht auf die Reihenfolge der Belegstellen) unter einer teils thematischen, teils begrifflichen Ordnung nachgegangen werden. Dabei kann hier keine vollständige Darstellung aller verfassungspolitischen Gedanken im „Don Karlos“ angestrebt werden. Insbesondere die häufig anzutreffende Behauptung, Schiller strebe mit dem „Don Karlos“ nach dem „ästhetischen Staat“20, soll im Folgenden unerörtert bleiben, weil damit keine (verfassungs-)politische Position i. e. S. beschrieben wird. Desgleichen soll der offenkundig antikatholische Affekt des Stückes außer Betracht bleiben, der vor allem im Auftritt des Großinquisitors am Schluss des Stückes (V, 10) deutlich wird. In dieser theatralisch meisterhaft gestalteten Szene wird nicht nur das inhumane Böse der Inquisition dargestellt, sondern letztlich die Wertewelt des Dramas selbst in Frage gestellt: Posa war schon seit längerem von den Spitzeln der Inquisition entdeckt, die ihn aber noch gewähren ließen, um ihn dann verbrennen zu lassen („Durch uns zu sterben war er da“, 5180). Posa wird somit im nachhinein zu einer nur noch scheinbar 19 Zu dieser Szene etwa v. Wiese (Fn. 11), S. 260. Trotz ihrer ideenpolitischen Bedeutung, enthält diese Szene allerdings zugleich auch eine bemerkenswerte, wenn nicht anrührende menschliche Situation. Philipp meint, als einsamer Herrscher endlich in Posa einen eigenständigen Menschen gefunden zu haben, dem er vertrauen kann. Der Leser, der insoweit (über die Beziehungen Posas zu Karlos) mehr weiß als der König zu diesem Zeitpunkt, ahnt, dass diese Sehnsucht des Königs nach einem Menschen enttäuscht werden wird. 20 Siehe etwa Gerhard (Fn. 3), S. 240 ff.

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autonom handelnden Figur („Das Seil, an dem / Er flatterte war lang doch unzerreißbar“, 5158 / 59). Und auch der scheinbar allmächtige Philipp erweist sich als Trugbild. Er wird von der Allmacht der Kirche allemal übertrumpft, die ihn deshalb auch strafen darf (5243). Die im Drama entwickelten Werte werden so zwar nicht aufgehoben, aber der Dichter baut hierdurch eine darstellende Distanz zum Geschehen und zu den Grundpositionen des Werkes auf. Verfassungsbezogen mag man diese Szene als politische Absage an eine Vormacht der Kirche im Staat deuten, Schiller geht es aber wohl vor allem um den antifreiheitlichen Aspekt des historischen spanischen Katholizismus der Gegenreformation.21 Weiter soll auch der die Werkentstehung zeitlich teilweise begleitende sog. „Illuminatenstreit“ außer Betracht bleiben, der Schiller in späteren Jahren in eine gewisse weitere Distanz zur Figur des Marquis Posa geraten ließ.22 Und schließlich werden auch die für Schiller wichtigen Vorstellungen universeller naturgegebener Glückseligkeitsvorstellungen der damaligen Zeit nicht erörtert werden, weil auch sie schwerlich als Verfassungsdenken i. e. S. zu verstehen sind. Nicht näher untersucht werden können an dieser Stelle schließlich auch die geistigen Quellen der Schillerschen Ideen. Unzweifelhaft ist jedenfalls, dass insbesondere die Lehren Rousseaus und – in einem nicht ganz spannungsfreien Verhältnis hierzu – vor allem das Denken Montesquieus23 die verfassungspolitischen Ideen in Schillers „Don Karlos“ entscheidend geprägt haben. Die geistige Begegnung Schillers mit den Werken Kants erfolgt hingegen erst nach Fertigstellung des „Don Karlos“.

„Der Verwesung lieber, als / Der Freiheit,“ (5279). Siehe dazu Alt (Fn. 2), S. 457 ff. 23 Siehe dazu etwa Alt (Fn. 2), S. 476; Reinhardt, Don Karlos, in: Helmut Koopmann (Hrsg.), Schiller-Handbuch, Stuttgart, 1998, S. 388; insbesondere die Vorstellung Montesquieus zur republikanischen „Tugend“ ist im „Don Karlos“ wichtig, wie man z. B. am Ausspruch Posas: „Mir hat die Tugend eignen Wert“ (3030) sieht. 21 22

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Verfassungsdenken in Schillers „Don Karlos“

II. Gesetzesherrschaft und Bürgerautonomie Gleich eingangs des zentralen Gespräches Posas mit dem König (III, 10) trifft man auf eine für die Entfaltung verfassungsstaatlicher Gehalte zentrale Stelle: KÖNIG. Ich bin nicht gesonnen In meiner Diener Schuld zu stehen – Erbittet Euch eine Gnade. MARQUIS.

Ich genieße die Gesetze.

KÖNIG. Dies Recht hat auch der Mörder. MARQUIS. Wie viel mehr Der gute Bürger! – Sire, ich bin zufrieden. KÖNIG. (vor sich). Viel Selbstgefühl und kühner Mut, bei Gott! Doch das war zu erwarten – Stolz will ich Den Spanier. [ . . . ] (2983 – 2990)

In ihrer fast etwas versteckten Formulierung springt die verfassungspolitische Brisanz dieser Passage (zumindest dem heutigen Leser) vielleicht zunächst nicht unmittelbar ins Auge. Posa formuliert hier jedoch in durchaus deutlichen und – in damaligen Zeiten – auch gewagten Worten einen Anspruch privater, bürgerlicher Autonomie gegenüber dem König. Dieser bietet ihm wegen seiner Verdienste als Malteserritter für das Königreich Spanien die Erfüllung eines Wunsches an; eine Gnade, die Posa geradeheraus ausschlägt. Er hat von seiner individuellen Erfüllung, seinem Glück andere Vorstellungen. Dieses soll von ihm selbst geschaffen sein, ausgestaltet nach seinen eigenen Präferenzen von richtig und falsch. Ein glückliches Leben als Vergünstigung, eine „Glückseligkeit, / Die Sie uns prägen“ (3062 / 3063) kommt dem erstrebten „Menschenglück“ (3046) nicht nahe, die gönnerhafte Geste des Monarchen anzunehmen, daher nicht in Betracht. Der Herrscher wird auf seinen Platz verwiesen, indem Posa ihn darauf hinweist, was er von ihm bereits erhält und lediglich anzunehmen bereit ist: den Genuss der Gesetze. Dass

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Posa gerade mit dem Hinweis auf die Herrschaft der Gesetze seine Forderung nach autonomer, herrschaftsferner Persönlichkeitsentfaltung einleitet, ist bemerkenswert. Die Gesetze des Königs und ihre Geltung werden dabei noch nicht grundsätzlich angezweifelt (wird die Legitimität seiner Herrschaft auch später in Bezug auf die besetzten Niederlande in Frage gestellt, s. u.), vielmehr wird der Schutz durch diese vom „gute[n] Bürger“ durchaus geschätzt. Der König soll sich dabei aber nicht anmaßen, jenseits dieser „formalen“ Herrscherstellung das Wohlergehen der Einzelnen in seiner – in Form von Milde oder Gunst möglicherweise auch wohlmeinenden – Willkür zu gestalten, also „Glückseligkeit [ . . . ] auszustreun“ (3062 / 3063), als „Stempel auszugeben“ (3064), die Bürger also wie Münzen zu prägen. Die Absage an den wohlfahrtsstaatlichen, paternalistischen Gehalt des Absolutismus wird evident. An die Stelle heteronomer Steuerung durch den Monarchen tritt die moderne Leitidee der autonomen Steuerung des Menschen durch sich selbst. Indem Posa so ansetzt, „dem König seine republikanische Gesinnung [zu] enthüll[en]“24, tritt er in gewissem Sinn als Vertreter des Rechtsstaatsgedankens avant la lettre auf. Er formuliert diesen natürlich noch nicht annähernd in seinem konkreten dogmatischen Gehalt, den ihm erst die Staats- und Verwaltungsrechtslehre (der zweiten Hälfte) des 19. Jahrhunderts als Vorbehalt und Vorrang eines (parlamentarischen oder parlamentarisch legitimierten) Rechtssatzes geben sollte. Immerhin wird die rechtsstaatliche Grundidee einer gesetzlich begrenzten staatlichen Herrschaft deutlich. Die rechtsstaatliche Leitidee der Mäßigung staatlicher Macht verbietet es dem König oder Staat, das von selbstgesetzten Maximen gesteuerte Glücksstreben der Einzelnen zu lenken. Und der Staat ist in dieser Utopie für den Bürger da, nicht umgekehrt: „Der Bürgernm / Sei wiederum, [ . . . ] / Der Krone 24 Kindlers neues Literaturlexikon, hrsg. von Walter Jens, Bd. 14, München, 2001, Don Karlos (Eintrag der Redaktion), S. 925.

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Zweck“ (3243 – 3245)24a. Der Mensch soll also immer der Zweck staatlichen Handelns und dem Staat nicht einfach nur unterworfen sein. Posa scheint nahezu angewidert, wenn ein Mensch sich freiwillig auf die „niedre Stufe“ (3098) des Untertan begibt, denn dieser verliere damit – so Posa – seinen natürlichen Adel und erleide eine „traurige Verstümmlung“ (3107). Über sein Glück soll der freie Bürger selbst und nicht der König bzw. der Staat entscheiden. III. Freiheit Der Raum der privaten Gestaltung und Glückserfüllung des Bürgers will freilich von Grundfreiheiten bewehrt sein. Gleich mehrfach fordert der Marquis die Gewährung solcher Grundfreiheiten. Und er tut dies, da er sie naturrechtlich25 verankert sieht („Geben Sie, / Was Sie uns nahmen, wieder“, 3199 / 3200), mit entsprechendem Selbstbewusstsein. Als fester Bestandteil des deutschen Zitatenschatzes bekannt ist davon etwa: Gehen Sie Europens Königen voran. Ein Federzug von dieser Hand, und neu Erschaffen wird die Erde. Geben Sie Gedankenfreiheit. – (3213 – 3215)

Die politische Kraft dieses Dichterwortes wird etwa dadurch deutlich, dass es in den deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts nicht selten als unaufführbar galt und seine Zitierung in Theateraufführungen schlicht verboten oder verhindert wurde.26 Während des Nationalsozialismus soll bei24a Vgl. etwa auch Art. 1 Abs. 1 GG im Entwurf von Herrenchiemsee: „Der Staat ist um des Menschen Willen da, nicht der Mensch um des Staates Willen“; vgl. JöR n.F. 1 (1951), S. 48. 25 „Sehen sie sich um / In seiner herrlichen Natur! Auf Freiheit / Ist sie gegründet –“ (3218). 26 Vgl. hierzu und zum Folgenden Seidlin (Fn. 18), S. 481. Von einem „Beifallsorkan“ zur „Gedankenfreiheit“ in einer „Don Karlos“-Premiere von Hilpert 1937 in Berlin (in Anwesenheit von Goebbels) wird berichtet

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spielsweise 1935 in Hamburg bei der Aufführung der vollen Fassung des „Don Karlos“ die Forderung nach Gedankenfreiheit stets zu lautem Applaus aus dem dunklen Zuschauerraum geführt haben. Als der Satz daraufhin von der Zensur gestrichen wurde, klatschte das unerschrockene hanseatische Publikum immer besonders stark bei dieser Lücke. Das Stück wurde daraufhin abgesetzt. Das Postulat Posas zur Gewährung von Gedankenfreiheit an den König ist der Sache nach die Forderung nach Respekt und Toleranz gegenüber den unterschiedlichen moralischen oder weltanschaulichen Positionen der Bürger. Auf diese Weise wird die Kritik am absolutistischen Monarchentum zur konkreten Forderung nach Menschenrechten. Marquis Posa, den Schiller als den „belesenen Intellektuellen“27, der er selber war, auftreten lässt, wird so zum Agenten der politischen Philosophie seiner Zeit. Die Verwirklichung dieser menschenrechtlichen Freiheit bedeutet dem Utopisten Posa nicht weniger als ein neues Zeitalter, den Beginn eines „allgemeinen Frühling[s], / der die Gestalt der Welt verjüngt“ (3165 / 3166) und erst lebenswert macht: In den Ländern des Königs möge zwar „unbewölkte[r] Frieden“ (3160) und „Ruhe“ (3161) herrschen, wie Philipp dem Posa erklärt, verwundert darüber, was der Marquis denn an seiner königlichen Herrschaft auszusetzen habe. Doch das sei, wie der Marquis ausruft, nichts als „Die Ruhe eines Kirchhofs!“ (3162). Mit der Garantie innerer Sicherheit allein als in: Zeller (Hrsg.), Klassiker in finsteren Zeiten (Ausstellungskatalog), Bd. I, Marbach am Neckar, 1983, S. 412. Vgl. dazu auch Th. Mann, Tagebücher 1937 – 39, Frankfurt a. M., 1980, S. 863, der solche politischen Kundgebungen „rührend“ fand, „weil hier ein Volk ein Dichterwort benutzt, um gewissermaßen vor der Welt seine geistige Ehre zu retten und kundzutun, dass es nicht Sklave sein will“. Die Schiller-Rezeption in NS-Deutschland macht teilweise noch heute frösteln. Die Nationalsozialisten versuchten Schiller im Jahr 1934 – zum 175jährigen Geburtstag des Dichters – als Vorläufer der nationalen Revolution von 1933 darzustellen (s. Zeller, a. a. O., S. 164 ff.). Teile der seriösen Germanistik haben dieser Deutung allerdings widerstanden. 27 Alt (Fn. 2), S. 445

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Dreh- und Angelpunkt des Staates gibt sich Posa eben nicht mehr zufrieden, sie reicht für die freie Entfaltung der Person nicht mehr hin. Diese Position gibt, so interpretiert Alt28, einen zentralen Kritikpunkt des aufklärerischen Staatsdenkens an dem älteren des 17. Jahrhunderts wieder, namentlich die Kritik Rousseaus am Hobbesschen „Leviathan“, die er in seiner Schrift „Du contrat social“ von 1763 (Schiller bekannt in Christoph Friedrich Geigers Übersetzung des Folgejahres) formuliert hat. Die individuelle Freiheit wird hier zur „Grundlage des Staatsrechts“29. Die Ausrichtung des Staates auf die wohlfahrtsstaatliche, letztlich bevormundende Sicherung des Bürgers tritt hinter die Respektierung der Freiheit seiner Bürger zurück. IV. Insbesondere: Gedankenfreiheit In eben diesem gedanklichen Umfeld nimmt die geforderte „Gedankenfreiheit“ eine überaus prominente Stellung ein. Sie wird von Schiller in besondere Nähe zur „Menschenwürde“ gebracht30, wobei Posa dem König – in anderem Zusammenhang – vorwirft, „niedrig [ . . . ] von Menschenwürde [zu] denken“ (3092). Für Schiller ist die Gedankenfreiheit vielleicht das Freiheitsrecht überhaupt, nicht lediglich eines aus dem heute geläufigen vielfältigen Katalog der Grundrechte. Noch weiter gehende Deutungen sehen in der Gedankenfreiheit die Ermöglichung der Selbstbestimmung des Menschen (durch eigenes Denken) als Grundlage der Menschenwürde.31 Ihre Behandlung zieht sich entsprechend durch die politischphilosophische Literatur des 18. Jahrhunderts. Dies geht von John Locke mit seinem „Letter concerning toleration“, in der er die liberty of conscience als „natural right“ bezeichnet, und dessen Rezeption in Anthony Collins „Discourse of FreeThinking“ von 1713 über Voltaires „Dictionnaire philosophi28 29 30 31

(Fn. 2), S. 448 f. Böckmann (Fn. 10), S. 41. Böckmann (Fn. 10), S. 39. Böckmann (Fn. 10), S. 38.

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que“ und d’Alembert und Diderots „Encyclopédie“ (beide aus dem Jahr 1765), die gleichermaßen ein Stichwort „Liberté de penser“ verzeichnen, bis hin zu Johann Gottfried Fichtes ihrerseits bereits auf Schiller rekurrierender Schrift „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens“ von 179332. Als philosophische Quelle bleiben für Schiller neben all diesen Quellen die Gedanken von Rousseau zentral. Bestimmend muss für ihn v. a. die Lektüre der „Denkwürdigkeiten von Johann Jakob Rousseau“ gewesen sein, einer Art „Rousseau-Reader“ aus dem Jahre 1779 von Peter Helferich Sturz: berief er sich doch auf diese Schrift schon 1782 in seiner Selbstanzeige für „Die Räuber“, in dem Jahr also, in dem er sich mit dem „Don Karlos“-Stoff zu beschäftigen begann.33 Der Begriff der Gedankenfreiheit umfasst als Freiheit vom „Gewissenszwang“ (dieses Wort verwendet Schiller in seiner Geschichte des Malteserordens) nicht lediglich die politische Meinungs- bzw. Meinungsäußerungsfreiheit, sondern herkömmlicherweise auch die für die Aufklärung so entscheidende Religions- und Glaubensfreiheit34 bzw. die spiegelbildliche religiöse Toleranz (paradigmatisch formuliert z. B. in Lessings35 „Nathan der Weise“ von 1779, auf den im Zusammenhang mit dem „Don Karlos“ immer wieder hingewiesen wird36). Posa (der ja danach strebt, die Niederlande von der Herrschaft des katholischen Spaniens zu befreien) befindet sich daher auch, wie Schiller selbst vermerkt, auf einer „Reformantenbahn“37. Es verwundert daher nicht, dass er, wie Vgl. Alt (Fn. 2), S. 448 f.; Böckmann (Fn. 10), S. 3 ff. Böckmann hat Ähnlichkeiten, Parallelen und Übereinstimmung der Formulierungen Posas mit Stellen des Textes von Sturz akribisch und detailliert nachgewiesen, vgl. dort (Fn. 10). 34 Siehe auch Koopmann (Fn. 1), S. 198. 35 Zur Nähe des „Don Karlos“ zu den Werken Lessings (z. B. auch „Emilia Galotti“): Bohnen (Fn. 1), S. 171; Reinhardt (Fn. 23), S. 387; Buchwald (Fn. 11), S. 68 f. 36 Etwa Reinhardt (Fn. 23), S. 379. 37 So im Neunten seiner „Briefe über Don Carlos“, die er im Wesentlichen als Verteidigung der Figur des Posa 1788 in Wielands „Teutschem 32 33

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Karlos, den Argwohn des erz-konservativen königlichen Beichtvaters Domingo auf sich zieht, der in der Brust von Karlos und der Königin alarmiert „Das Gift der Neuerer“ (2042) Raum gewinnen sieht. V. Gleichheit Noch vor dem Ruf nach Gedankenfreiheit konfrontiert Posa den König mit der revolutionären égalité. Für Philip ist es wohl die noch krassere Provokation, wenn der Marquis fordert: „Werden Sie / Von Millionen Königen ein König“ (3200 / 3201). Mit größter Eindringlichkeit, sprachlicher Kraft und doch exemplarischer Schlichtheit ist damit eine anti-ständische Gesinnung formuliert, welche die Einebnung feudaler Privilegien und Hierarchien postuliert. Eine solche Forderung geht – wie eben auch die der französischen Revolution – erheblich weiter als das rechtliche Gleichbehandlungsgebot des heutigen deutschen Verfassungsrechts, das sich letztlich mit einem bloßen Willkürverbot begnügt und nur die sachliche Rechtfertigung rechtlicher Ungleichbehandlung verlangt. Die Forderung Posas ist im eigentlichen Sinne egalitär, als sie sich nicht lediglich gegen sachlich ungerechtfertigte Differenzierung wendet, sondern die Herstellung tatsächlicher, vor allem politischer, Gleichstellung fordert. Es ist letztlich die umstürzende, gleichmachende Gleichheit der Revolution, denn wer von Millionen Königen ein König ist, der ist kein König mehr. VI. Brüderlichkeit Mit der Gleichheit hat die Brüderlichkeit als politische Forderung enge Bezüge. Die „Bruderliebe“ (3059) beschwören sowohl Posa als auch Karlos mit Vorliebe: so stellt Karlos dem Marquis die Frage: „Sind wir nicht Brüder?“ (I, 9 – 930 / 931). Bei Schiller mag hier das beglückende Erlebnis einer lebensMerkur“ veröffentlichte; auszugsweise, ohne die zitierte Textstelle, abgedruckt bei Pörnbacher (Fn. 2), S. 208 ff.

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langen Freundschaft mit Körner impulsgebend gewesen sein. Gemeint ist im „Don Karlos“ mit der Brüderlichkeit aber vor allem eine politische Idee. Es geht dem Dichter um die Zusammengehörigkeit gleichberechtigter Menschen, die ohne das „Possenspiel des Ranges“ (930) auskommen. Mit der Brüderlichkeit als politisch-philosophischem Gedanken38 ist die quasi als natürlich empfundene Solidarität unter denen gemeint, die sich als in ihrer Freiheit Gleiche betrachten. Schiller hat sie auch in seiner Ode „An die Freude“ (1785) bemüht („Alle Menschen werden Brüder“). Mit dieser fraternité wäre mithin im politischen Konzept des Marquis Posa die Trias der revolutionären valeurs républicaines komplett. Diese politische Brüderlichkeit hat allerdings noch nichts mit der sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausbildenden Forderung nach sozialer Solidarität und nach Umverteilung zu tun. Posa ist eben kein Sozialist.

VII. Internationale Solidarität Sehr wohl aber ist er ein Internationalist. Die Brüderlichkeit taucht im Stück nicht zuletzt als Motiv auf, den Befreiungskampf der „Flamänder“, also der Niederländer, zu unterstützen. Diese niederländische Revolution, der sich Schiller später wissenschaftlich zuwenden wird39, hat für Posa (und Karlos) wohl gerade auch stellvertretenden Charakter – wie ja auch heute die Identifikation mit einem emanzipatorischen Politikverständnis sich gerne durch die Solidarität mit dem Kampf weit entfernter Völker entzündet.40 Eigentlich geht es Posa nicht so sehr um das Volk der Niederländer als vielmehr um „die Menschheit“ insgesamt. Siehe dazu Werner, in: Recht und Gericht in unserer Zeit, 1971, S. 78 ff. Dem Thema widmet Schiller später ein eigenständiges historisches Werk, die „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“, erschienen 1788 in Leipzig. 40 Für viele ist es leichter, Solidarität mit Völkern auf der südlichen Welthalbkugel zu empfinden als mit den Obdachlosen um die Ecke. 38 39

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Dementsprechend ist auch umstritten, welche historischen Personen Vorbilder für die Figur des Marquis Posa gewesen sein könnten. So wird Posa teilweise ganz geradlinig als alter ego Wilhelm von Oraniens gelesen.41 Andererseits wird der Marquis aber auch als Verweis auf die – im Gegensatz zur französischen ja damals bereits erfolgte – amerikanische Revolution mit Benjamin Franklin verstanden42 oder (wohl naheliegender) mit dem Marquis de Lafayette in Verbindung gebracht43, welcher sich als eben mal 19jähriger nach Nordamerika aufgemacht hatte, um den dortigen Unabhängigkeitskampf zu unterstützen. Interessanterweise taucht dieser Gedanke der internationalen Solidarität inzwischen auch im Primärrecht der Europäischen Gemeinschaften44 auf. VIII. Volkssouveränität Interessant für die nationale Verfassung ist das Bekenntnis zur Internationalen Solidarität vor allem deshalb, weil Posa damit konkret den zentralen Gedanken der Volkssouveränität anspricht. Zu deren Verwirklichung ist der nationale Befreiungskampf, den er unterstützt, notwendige Voraussetzung. Die Herrschaft der Spanier in den Niederlanden gilt es zu beseitigen, da sie dort den freien Bürgern ihr Recht auf Selbstbestimmung despotisch vorenthält und sie zu Untertanen macht. Dass sie zudem Fremdherrschaft ist, scheint freilich eher ein zweitrangiges Problem zu sein. Posa zielt insgesamt nicht auf ein freies Land, sondern auf eine freie Welt, eine Welt der Freiheit. Falls der König selbst 41 Malsch, Moral und Politik in Schillers „Don Karlos“, in: Wittkowski (Hrsg.), Utopie und Verantwortung – Zur Literatur der Goethezeit, Tübingen, 1988, S. 207 ff. (S. 208 f.). 42 Ebenfalls bei Malsch (Fn. 41), S. 209. 43 So Pörnbacher (Fn. 2), S. 121, im Anschluss an Nordau. 44 Gussone, Das Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union und seine Grenzen, Berlin 2006.

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die Bürger wieder in ihre rechtmäßige Stellung als Freie und Gleiche einsetzte und so „der Menschheit / Verlornen Adel“ (3242) wieder herstellte, habe er – Philipp – sogar, so der Marquis, die „Pflicht, die Welt zu unterwerfen“ (3252). Dabei sind aber wohl weniger militärische Feldzüge für die Freiheit als vielmehr die Pflicht zur universellen geistigen Verbreitung von Freiheit gemeint. Malsch sieht darin „die Vision einer Art konstitutioneller Weltmonarchie“, die das „republikanische Ideal universal“45 verwirklicht. Das republikanische Ideal wird mit einer monarchischen Staatsform jedoch nicht wirklich in Einklang zu bringen sein. Und Schillers an Rousseau geschulte Staatsidee ist wohl auch etwas radikaler republikanisch, als Malsch es formuliert. Bei der Forderung nach einer monarchischen Kampagne für die Freiheit spricht sicher auch der geschickte Taktiker Posa, der den König – in der konkreten historischen Situation, aus der heraus er handelt – ja letztlich auf seine Seite ziehen will. Gleichwohl weiß der Marquis, dass sein eigentliches Programm geeignet ist, „[d]ie Majestät erzittern“ (3050) zu lassen. Das macht Posa letztlich wohl doch schon zum Republikaner und gipfelt in dem nun wahrhaft revolutionären Satz des Marquis: „Ich kann nicht Fürstendiener sein“ (3064), was ihm den – damals nur zu leicht tödlichen – Vorwurf Philipps einträgt, er – Posa – sei „Ein Protestant“ (3065), was dieser im Übrigen sofort verneint.

IX. Gesamtwürdigung und Fazit Mit dem leidenschaftlichen Appell Posas führt Schiller das revolutionäre Pathos seiner Jugendstücke (insbesondere „Die Räuber“ und „Kabale und Liebe“) fort. Der Dichter, in der Epoche einer großen Zeitenwende lebend, hält an diesem im Prinzip bis zu seinem Tode fest. Trotz der jahrelangen Arbeiten am „Don Karlos“ mit immer wieder neuen Fassungen fällt die einschlägige Prinzipien45

(Fn. 41), S. 214.

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treue, die republikanische Freiheitsliebe, des Dichters auf, die er vor, während und nach der Französischen Revolution durchhält. Natürlich ist nicht auszuschließen, sondern sogar wahrscheinlich, dass der reife Schiller – nicht zuletzt als Zeitzeuge insbesondere der französischen Revolution mit ihrem Schrecken und Scheitern einerseits, der sich damals ausbildenden Erscheinungsformen des aufgeklärten Absolutismus andererseits – manche inhaltliche Position anders sah als am fast noch jugendlichen Beginn. Spätere Äußerungen des Dichters scheinen dies zu belegen.46 Indessen kündigen die vielen späteren Änderungen des Dramas in der Sache eher von dramaturgischen, aufführungsbezogenen Erwägungen des Dichters denn von inhaltlichen oder politischen Umorientierungen Schillers. Auch wenn Schiller von dem tatsächlichen Verlauf der Französischen Revolution irritiert und sogar erschüttert ist, bleibt er dem Gedanken lebenslang verbunden, das – damals – alte Europa mit seinen feudalistisch-monarchischen vor allem aber unfreien Strukturen zu überwinden: Mit großer dichterischer Freiheit und in evidenter historischer Ungleichzeitigkeit lässt er in seinem Drama den König als historischen Führer der Gegenreformation des 16. Jahrhunderts auf Posa treffen, der für die Gedanken der Aufklärung und eben auch der Revolution des ausgehenden 18. Jahrhunderts steht.47 Insoweit hat der „Don Karlos“ durchaus den Charakter einer historischen Collage. Dies ist nicht historisch „falsch“, sondern dramatisch furios. In der Figur des Posa fasst Schiller den Gedanken des geistig-politischen Aufbruchs seiner Zeit zusammen. Damit hilft das Drama bei der geistigen Grundlegung späterer Verfassungen in Deutschland. Für die Entwicklung Schillers selbst 46 Vgl. „Briefe über Don Carlos“ (Pörnbacher (Fn. 2), S. 208 ff.) sowie den Brief an Körner vom 4. September 1794 (ebd., S. 189). 47 Schiller ist sich dieser Ungleichzeitigkeit bewusst und lässt Posa den Satz sagen, er sei „Ein Bürger derer, welche kommen werden“ (3080), siehe dazu v. Wiese (Fn. 11), S. 260.

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illustriert der „Don Karlos“ beispielhaft die Hinwendung des Dichters zu den „großen Gegenständen“ der Menschheit. Dazu zählt eben auch die Frage nach dem Sinn und den Grenzen staatlicher Macht. Auf diese große Frage gibt der „Don Karlos“ bis heute bleibende Antworten. Diese wurzeln letztlich in der Vorstellung naturgegebener Freiheit: Sehen Sie sich um In seiner herrlichen Natur! Auf Freiheit Ist sie gegründet – und wie reich ist sie Durch Freiheit! (3216 – 3220)

Dieser Gedanke erfasst gerade auch die Freiheit des Bürgers: Es geht um den Reichtum des menschlichen Lebens durch Freiheit. Wie könnte man besser das bis heute gültige Schlüsselanliegen unseres Verfassungsdenkens beschreiben?

„Wilhelm Tell“ und das Recht* I. Einleitung 1. „Wilhelm Tell“ als Ideendrama Staat und Macht, Politik und Recht sind wichtige und bewegende Themen im dramatischen (wie auch im sonstigen) Werk Friedrich Schillers. Und dieses hat daher auch von jeher zur politischen, historischen und immer wieder auch zur juristischen – insbesondere auch: staatsrechtlichen – Diskussion seiner Stoffe und Themen herausgefordert. In manchem seiner Stücke ist das Gesellschaftliche stark verwoben mit dem persönlichen oder familiären Drama der Protagonisten (so etwa in „Die Räuber“ oder in „Kabale und Liebe“), in anderen verbleibt es, wenn auch in das Geschehen eingebettet, eher Gegenstand der theoretischen Erörterung (so vor allem im „Don Karlos“)1. In dem von Schiller – nach nur zweijähriger Bearbeitungszeit und gut einem Jahr vor seinem Tod fertiggestellten – „Wilhelm Tell“ jedenfalls muss man die staatspolitische Thematik nicht erst frei legen; sie steht hier ganz deutlich im Mittelpunkt, wenngleich sie immer wieder auch rückgebunden wird an die Entwicklung und Verteidigung der familiären Sphäre Tells. Es handelt sich maßgeblich um ein Ideendrama, das insbesondere politisches (aber damit auch verbunden: pri* Erstabdruck in: F. Kirchhof u. a., Rechtsstaat und Grundrechte, Festschrift für Detlef Merten, C. F. Müller Heidelberg 2007, S. 331 – 349. Für seine wertvolle Mitarbeit danke ich meinem ehemaligen Mitarbeiter, Herrn Julian von Lucius, Berlin. Als Versnummern des Dramas werden im folgenden durchweg die der Reclam-Textausgabe, Stuttgart 2000, zitiert; diese folgt der Nationalausgabe, Bd. 10, Weimar, 1980. 1 Dazu aus rechtlicher Sicht: S. 16 ff. in diesem Band.

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vates) Handeln zu seinem Gegenstand macht. Das im Jahr 1308 spielende historisierende, aber keinesfalls auf die reale Geschichtsschilderung zielende – und auf frühere Quellen2 zurückgreifende – Drama gipfelt mit der Tötung des Reichsvogts Hermann Geßler durch den Titelhelden in einer höchst brisanten (privaten wie) politischen Tat. Es geht hier also nicht mehr nur um Motivationen, Ziele und Ideale, nicht mehr nur um die Vorstellungen vom Richtigen im Staat. Auf dem dramatischen Höhepunkt seines Dramas lässt Schiller seinen Protagonisten zur ebenso radikalen wie umstrittenen, zur gefürchteten wie ebenso gern glorifizierten Form politischen Handelns greifen: der gewaltsamen Beseitigung von unerträglich gewordener politischer Herrschaft. Dies stellt eine ungemeine Herausforderung für jede Rezeption des Stückes dar, zumal wenn man bemüht sein sollte, aus dem Stück moralische Direktiven, politische Maximen, rechtliche Verhaltensmaßstäbe oder gar eine Anleitung zum erlaubten politischen „Tyrannenmord“ herausarbeiten zu wollen. 2. Zur Beurteilung der Figur des Tell durch Juristen Da ist es doch erstaunlich, wie einhellig positiv oder zumindest milde ausgerechnet viele Juristen über den Tell geurteilt haben, der doch zunächst einmal mit allem Recht zu brechen scheint: schließlich tötet er einen Menschen, noch dazu aus dem Hinterhalt, noch dazu den Inhaber der Staatsgewalt! Doch dieses Handeln Tells wird, soweit ersichtlich, von juristischer Seite weitgehend mit Zustimmung kom2 Dazu etwa Josef Schmidt, Friedrich Schiller, Wilhelm Tell. Erläuterungen und Dokumente 1969, S. 44 ff.; die wichtigsten von Schiller benutzten Quellen sind: Ägidi Tschudi, Chronicon Helveticum, 1739; Johannes von Müller, Die Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft, 1786. Der Stoff (inbes. der Apfelschuss) greift einen germanischen (norwegischen, dänischen, isländischen) Sagenstoff auf. Der Überlieferung nach soll Goethe, der sich selbst mit dem Tell befasst hat, diesen Stoff an Schiller „abgetreten“ haben (vgl. Josef Schmidt, a. a. O., S. 66 ff.).

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mentiert. Günter Spendel 3 beispielsweise unterzieht das Handeln Tells einer eingehenden strafrechtsdogmatischen Untersuchung. Der Apfelschuss gilt ihm als gerechtfertigt, wohingegen der Tötung Geßlers der Makel des Rechtsbruchs bleibe, für die Tell gleichwohl nicht zur Verantwortung gezogen werden könne: Ein Widerstandsrecht möchte Günter Spendel zwar nicht annehmen, Tell befinde sich aber jedenfalls in einem entschuldigenden Notstand.4 Für eben ein solches Widerstandsrecht bzw. für dessen gewissermaßen mustergültige Ausführung wird der Tell dagegen von anderen Autoren herangezogen. Heribert Waider5 sieht in dem Drama gar die Grundlagen und Voraussetzungen eines Widerstandsrechts so exemplarisch aufgeführt, dass dies schon beinahe zu Lehrzwecken dienen könne. Waider benennt sie der Reihe nach: ein „außerordentlicher Mißbrauch staatlicher Gewalt“6, das Scheitern aller legalen Mittel7, Anwendung von Gewalt nur insoweit „unbedingt erforderlich“8. Es fußt im Naturrecht9 und sein Träger ist „das Volk“10. Auch Peter Schneider gibt dem Tell in seiner staatstheoretischen Untersuchung des Dramas im Sinne eines Widerstandsrechts in vollem Umfang Recht.11

3 Günter Spendel, Schillers „Wilhelm Tell“ und das Recht, in: ZStrR 1990, 154. 4 Günter Spendel, ZStrR 1990, 154 165 f.). 5 Heribert Waider, Zur Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes nach Schillers „Wilhelm Tell“, in: ZStW 1968, 389 (409), der außerdem äußerst detailliert über die rechtshistorischen Umstände des eidgenössischen Aufstandes informiert. 6 Heribert Waider, ZStW 1968, 389 (396). 7 Heribert Waider, ZStW 1968, 389 (399). 8 Heribert Waider, ZStW 1968, 389 (399). 9 Heribert Waider, ZStW 1968, 389 (400 ff.). 10 Heribert Waider, ZStW 1968, 389 (395). 11 Peter Schneider, Die Staatstheorie in Friedrich Schillers Wilhelm Tell, in: Häfelin / Haller / Schindler (Hrsg.), Menschenrechte, Föderalismus, Demokratie. Festschrift zum 70. Geburtstag von Werner Kägi, Zürich 1979, S. 315 ff. (S. 366 ff.).

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3. Allgemeine Beurteilung der Figur des Tell Dass Juristen die Legalität von Tells Handeln regelmäßig bejahen, ist umso erstaunlicher, als die Beurteilung der Figur des Tell andernorts von jeher zutiefst kontrovers ausfällt und das bezüglich aller Ebenen der Figur: hinsichtlich ihrer Moral, ihres Charakters und ihrer Politik. Die positiven Beurteilungen sind zahlreich: Als ein redlicher Widerstandskämpfer, der maßvoll und besonnen zögernd, erst beim Äußersten zum letzten Mittel greift, ein Held des Kampfes für die Freiheit und die nationale Selbstbestimmung, ein sorgender Familienvater und entschlossener und mutiger Mann der Tat, verlässlich, geradlinig, stark.12 In seiner großen Duldsamkeit und seinem gerechten Zorn dem Erlöser nah – so erscheint der Tell den einen - doch bei Leibe nicht allen. Negative Beurteilungen der Figur des Tell sind nicht selten: ein Spießer13 sei er, nur am eigenen Privaten hängend, unfähig sich am Kampf ums Allgemeine zu beteiligen, außerdem feige, duckmäuserisch vor der Staatsmacht, aber zu Hause ein Patriarch und in seinen Taten (die er überdies durch selbstgerechte Rabulistik moralisch überhöhe14) mal verantwortungslos (beim Apfelschuss) und mal hinterhältig (bei der Tötung Geßlers); ein Meuchel12 „Tell ist der Redliche, der Bürger, der Hausvater, der ohne jedes Verschulden in eine tragische Brandung hineingerät und trotz aller Gefährdung am Ende unversehrt und gerechtfertigt aus ihr hervorgeht.“, Benno v. Wiese, Friedrich Schiller, 3. Aufl. Stuttgart 1963, S. 770. 13 Einen „große[n] Philister“ nennt ihn bereits 1829 Ludwig Börne in seiner berühmten Rezension „Über den Charakter des Wilhelm Tell in Schillers Drama“, in: Mayer (Hrsg.), Meisterwerke deutscher Literaturkritik, Bd. II, 1. Teil, Berlin 1956, S. 198 ff. 14 Eine solch kritische Haltung gegenüber dem Tell ist interessanterweise in der angelsächsischen Germanistik verbreitet, die nach Hans-Jörg Knobloch Schiller nicht so bereitwillig gefolgt ist, wie die deutschen Germanisten (für diese wohl lange repräsentativ das Zitat von Benno v. Wiese in Fn. 10); ders., Wilhelm Tell, in: Koopmann, Schiller-Handbuch, Stuttgart 1998, S. 486 ff. (S. 498 f.). In der englischsprachigen Forschungsliteratur wird danach immer wieder darauf hingewiesen, dass der Freiheitsgedanke des Stücks durch die Mordtat „zutiefst gestört werde“ und Tell darin tragisch den moralischen Tod nehme (vgl. ebd.).

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mörder und Aufwiegler15, ja ein Terrorist16 mit faschistischer Tendenz. Unvereinbarer könnten die Einschätzungen, die die Figur des Tells hervorgerufen hat – sie reichen tatsächlich vom SA-Mann17 bis zu Jesus Christus18,19 – gar nicht sein. Diese großen Spannungen in der Beurteilung der Figur des Tell lassen sich wahrscheinlich nicht einseitig lösen. Es gehört zu den Raffinessen der Dichtung Schillers, dass er auch seinen Helden einige negative Eigenschaften gibt, weil erst das Nebeneinander von Hell und Dunkel die Charaktere in seinen Dramen plastisch erscheinen lässt.20 15 Eine solche Bewertung des Tell formuliert pointiert Otto v. Bismarck: er habe den Tell schon zu Schulzeiten für einen „Rebell und Mörder“ gehalten, ders., Gedanken und Erinnerungen, Berlin 1998, S. 19. 16 Max Frisch spricht in seiner Tell-Persiflage „Wilhelm Tell für die Schule“ von den Methoden eines palästinensischen Attentäters (die damals auf ein israelisches Flugzeug geschossen hatten). Der Schweizer Theaterregisseur Samuel Schwarz hat später in einer Inszenierung des Tell von 2006 in St. Gallen Tell mit einem Amokläufer und dem islamistischen Terroristen Mohammed Atta verglichen. Vgl. Tages-Anzeiger, 30. 09. 2006, S. 11. 17 Der junge Marcel Reich-Ranicki soll dies im privaten Gespräch geäußert haben, berichtet von Iring Fetscher, Philister, Terrorist oder Reaktionär? – Schillers Tell und seine linken Kritiker, in: ders., Die Wirksamkeit der Träume. Literarische Skizzen eines Sozialwissenschaftlers, Frankfurt am Main 1987, S. 141 ff.; s. a. in: Ferdinand Piedmont (Hrsg.), Schiller spielen: Stimmen der Theaterkritik 1946 – 1985. Eine Dokumentation, Darmstadt 1990, S. 8 f. 18 Vgl. Peter-Andrè Alt, Wilhelm Tell, in: Schiller: Leben – Werk – Zeit, Bd. II, München 2000, S. 581, der diesen Bezug im Text selbst ausmacht, wenn Stauffacher am Schluss ausruft: „Das Größte / Hat er getan, Das Härteste erduldet, / Kommt alle, nach seinem Hause zu wallen, / Und rufet Heil dem Retter von uns allen.“, 3084 – 87. 19 Diese beiden – eher geschmacklosen – Kennzeichnungen können wohl nur als völlig überzogene Ausdrücke von Sympathie und Missfallen denn als Beschreibung von Eigenschaften des Tell gelesen werden. In der Sache ist der ersteren – auch wenn man den Tell für seine Tat nicht schätzen wollte – rein gar nichts abzugewinnen: in jedem Fall ist Tell doch ein Einzelgänger, und wenn er auch tötet, so sicherlich nicht als Teil eines Mordkommandos. Für einen Jesus Christus ist Tell zu diesseitig, ihm fehlt es dafür jedenfalls am Sendungsbewusstsein. 20 Man denke etwa an das Intrigenhafte des Marquis Posa im Don Karlos, dazu S. 16 ff. (19) in diesem Band.

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II. Zur Rezeption des Dramas Die Rezeption des Stückes im Laufe der Geschichte ist ganz von diesen Spannungen geprägt. Sie ist – und das überrascht nicht – auch eine Geschichte der Vereinnahmung und Verbannung. Das kann im Folgenden nur exemplarisch nachgezeichnet werden. 1. „Wilhelm Tell“ im 19. Jahrhundert Schon die ersten Aufführungen des Stückes bieten Zündstoff. Die umjubelte Weimarer Uraufführung am 17. März 1804 freilich war sogleich ein großer Erfolg.21 Schon in einer der darauffolgenden Aufführungen muss allerdings aus politischer Rücksichtnahme gestrichen werden: Da man der russische Großfürstin Maria Pawlowna (Tochter des ermordeten Zaren Pauls I.) die Erwähnung des Kaisermordes im 5. Akt nicht zumuten wollte, wurde dieser Akt fast vollständig herausgenommen. Größere Bedenken hat man aber v. a. im Vorfeld der ersten Berliner Aufführungen, die unter der Leitung Ifflands (mit ihm selbst in der Titelrolle) bereits im Sommer des selben Jahres stattfinden. Iffland spricht von der „politischen Bedencklichkeit“ des Stückes, fürchtet die preußische Zensur (wenngleich diese als relativ liberal gilt22), sowie das als politisiert geltende Berliner Publikum und fordert von Schiller abschwächende Korrekturen, ein Verlangen, dem der Dichter teilweise nachgibt, um schließlich aber deutlich zu werden: „Können die Stellen, wie sie jetzt lauten, auf einem Theater nicht gesprochen werden, so kann auf diesem Theater der Tell überhaupt nicht gespielt werden, denn seine ganze Tendenz, so unschuldig und redlich sie auch ist, müßte Anstoß 21 Peter-André Alt (Fn. 18), S. 570; die Uraufführung dauerte damals über 5 Stunden. 22 Georg-Michael Schulz, Wilhelm Tell, in: Luserke-Jaqui / Dommes (Hrsg.), Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2005, S. 225.

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nehmen.“23 Das ist der Schiller, wie wir ihn lieben: prinzipientreu und unverbiegbar. Aber – wie wir gesehen haben – hat auch das Genie durchaus Kompromisse gemacht, freilich nur begrenzte. Das Stück wird nach seinen ersten Aufführungen schlagartig – trotz Fehlens beispielsweise einer wirklich tragenden Frauenrolle24 oder einer prägenden Liebesgeschichte25 – zu einem außerordentlichen Publikumserfolg (die literarische Kritik ist etwas zurückhaltender) und ist noch im selben Jahr auf den Bühnen in Mannheim, Breslau, Hamburg, Bremen, Magdeburg und Braunschweig zu sehen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – insbesondere in den Jahren nach den Befreiungskriegen (1813 / 15) – avanciert das Stück schnell zum Liebling der bürgerlichen, demokratisch-national bewegten Kreise. Der „Wilhelm Tell“ wird gewissermaßen das Bühnenstück des Vormärzes und steht mit zahllosen Festspiel- und Freiluftaufführungen – und nicht selten mit ausgedehnten Musikeinlagen26 – gewissermaßen 23 Brief an Iffland vom 14. April 1804, abgedruckt bei F. Suppanz, Friedrich Schiller. Wilhelm Tell. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 2005, S. 109. 24 So bereits die erste Besprechung des Tell vom 24. 11. 1804: „Kein Weib von erheblicher Bedeutung“; s. Oellers, Schiller. Elend der Geschichte, Glanz der Kunst, 2005, S. 297. 25 Die von der Politik überschattete Beziehung zwischen Bertha und Rudenz ist schwerlich als dramenbestimmende Liebesgeschichte zu betrachten. 26 Georg-Michael Schulz (Fn. 20), S. 233. „Wilhelm Tell“ enthält somit auch Elemente eines „Musik“-Theaters. Am Anfang und Ende des Tell sieht Schiller Musik vor. Der Dichter beginnt und endet die Szenen gerne musikalisch und zwar in den Anfängen mit Gesängen und an den Schlüssen mit Orchestermusik. Gesangseinlagen sind jeweils vorgesehen am Anfang des Stücks (Gesang des Fischerknaben sowie Gesänge der Hirten und des Alpenjägers mit der Melodie bzw. Variationen des „Kuhreihens“) und am Beginn der 3. Szene des 2. Aufzugs mit dem Gesang Walters. Beim Ende des 2. Aufzugs der zweiten Szene und am Ende des Stücks überhaupt ordnet Schiller (Orchester)Musik an („Indem die Musik von neuem rasch einfällt, fällt der Vorhang“). Möglicherweise verdeutlicht dies Schillers Neigung zur Kunstform der Oper auch wegen ihrer großen Wirkung aufgrund des Zusammenwirkens optischer und musikalischer Effekte. Die Regieanweisung Schillers am Ende des 2. Aufzugs der zwei-

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im Mittelpunkt eines immer allgemeiner werdenden SchillerKultes27. Die Begeisterung hält auch noch nach der gescheiterten Revolution von 1848 an: So wird etwa berichtet, dass beispielsweise Franz Liszt, Georg Herwegh und Richard Wagner gemeinsam auf den Rütli-Felsen gingen, um ihre Freundschaft zu bekräftigen28; in dieser Zeit, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist das Stück dann bereits zum „Klassiker“ kanonisiert und wird dabei zugleich das, was es bis heute (auch) ist: Schullektüre.29 Das „Volkstümliche“, das Schiller an dem Stoff reizte30 (und ihn gerade hier zum Meister der Schöpfer geflügelter Worte werden ließ31), wird zum Erfolgsten Szene zeigen den Sinn Schillers für theatralische, auch optische und musikalische Effekte: „Indem [die Landleute] in größter Ruhe abgehen, fällt das Orchester mit einem prachtvollen Schwung ein, die leere Szene bleibt noch eine Zeitlang offen und zeigt das Schauspiel der aufgehende Sonne über der Gebirgsregion.“ Erkennbar symbolisiert hier die aufgehende Sonne den Beginn einer Nation. Die (abgebildete) Natur wird selbst zum „Schauspiel“. Gioachino Rossini hat mit seiner letzten, im Jahre 1829 aufgeführten Oper „Guillaume Tell“ dessen Libretto vor allem nach der Vorstellung von Schillers Tell entstand, die Transformation in eine – freilich nicht sonderlich erfolgreiche – Oper realisiert, siehe dazu http: // de.wikipedia.org / wiki / Guillaume_Tell. 27 Vgl. Alt (Fn. 18), S. 566. 28 Georg-Michael Schulz (Fn. 22), S. 226. 29 Georg-Michael Schulz (Fn. 22), S. 227; in einigen Bundesländern gehört allerdings „Wilhelm Tell“ inzwischen bedauerlicherweise nicht mehr zur Pflichtlektüre im Deutschunterricht. 30 Siehe dazu Norbert Oellers, (Fn 22), S. 295, 287. 31 Als kleine Auswahl etwa: – Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt. [139] – Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst. [435] – Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an. [922] – Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern. [1448] – Die Axt im Haus erspart den Zimmermann. [1514] – Wer gar zu viel bedenkt, wird wenig leisten. [1532] – Und allzu straff gespannt, zerspringt der Bogen. [1996] – Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen. [2426] – Durch diese hohle Gasse muss er kommen. [2561]

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rezept seines Stückes. Angesichts des Sujets ist es auch nicht verwunderlich, dass „Wilhelm Tell“ so etwas wie ein Nationaldrama der Schweiz wurde. Verwunderlich ist eher – oder vielleicht (für den Spötter) auch nicht –, dass dies Schiller gelang, ohne jemals die Schweiz gesehen zu haben. Steht in der politischen Begeisterung für den „Wilhelm Tell“ im 19. Jahrhundert zunächst der – eben auch provokante und nicht selten die Zensur auf den Plan rufende – Freiheitsgedanke des Stückes im Vordergrund, so verschiebt sich der Akzent später deutlich hin zum Epos der Nationengründung („Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern“, 1448). Damit spiegelt die Aufführungs- und Deutungsgeschichte des Dramas die großen politischen Entwicklungslinien der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts: Der Gedanke der Befreiung steht am Anfang im Vordergrund, die Idee des Nationalstaats tritt dann verstärkend zu ihm hinzu, um den Freiheitsgedanken schließlich in den Hintergrund zu drängen. Es gehört allerdings zur Ironie dieser Konstellation, dass die Schweiz gerade nicht zum Nationalstaat, sondern zu einem vielsprachigen Staat wurde. 2. „Wilhelm Tell“ in NS-Deutschland Die Zeitgebundenheit der Wirkungsgeschichte von Dramen wie dem „Wilhelm Tell“ wird gerade im sog. Dritten Reich deutlich32: Bis 1941 wird „Wilhelm Tell“ von den Nationalsozialisten keineswegs lediglich geduldet, sondern sogar – als Stück nationaler Erhebung, aber auch wegen der vorbild– Es lebt ein Gott zu strafen und zu rächen. [2597] – Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt. [2683] Das hat nichts Triviales. Schiller hat es vielmehr vermocht, „Maximen und Reflexionen in poetischer Form so zu bündeln, dass sie den Hörern gar nicht als Erfindungen erscheinen, sondern als exakte Pointierungen menschlicher Erfahrungen, Einsichten und Urteile.“ (Oellers, Fn. 22, S. 298). 32 Zur Aufführungsgeschichte des „Wilhelm Tell“ im „Dritten Reich“ vgl. etwa: Fetscher, Die Wirksamkeit der Träume, 1987, S. 152 f.

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lichen, in ihrer Rollenverteilung so gesunden Tell-Familie – geschätzt: Das Drama gehörte zwischen 1933 und 1941 zu den meistgespielten Stücken auf deutschen Bühnen, in ihm manifestiere sich die „Sehnsucht nach einem starken und freien deutschen Volk“33 und in ihm trete „Schiller, der Klassiker, [ . . . ] als völkischer Dichter der Gegenwart unter uns“34. Noch 1938 wird der Tell zum „Führergeburtstag“ als Festaufführung gegeben.35 Dennoch wird das Stück wenige Jahre später recht plötzlich verboten: Reichsleiter Martin Bormann veranlasst auf persönlichen Wunsch Hitlers mit einem (streng vertraulichen) Schreiben aus dem Führerhauptquartier an den Reichsminister Dr. Lammers vom 3. Juni 1941, dass das Stück aus allen Schulbüchern genommen und nicht mehr aufgeführt wird.36 Dies löste einen intensiven Briefwechsel zwischen Reichsministern und führenden Parteimitgliedern dazu aus. Ganz aufgeklärt sind die Gründe für diesen eklatanten kulturpolitischen Wechsel der braunen Machthaber nicht. Fürchteten sie 1941 nationale Erhebungen in den damals von deutschen Truppen besetzten Gebieten – wurde nicht im Tell der Separatismus, der „Abfall“ eines deutschen Stammes vom Reich, gefeiert? – oder die Gleichsetzung von Geßler und Hitler mit der Gefahr eines Attentats?37 Mit einem Mal war 33 Max Vanselow, in: Zeitschrift für Deutschkunde, 48. Jhrg. (1934), S. 531 f., zitiert nach: Zeller (Hrsg.), Klassiker in finsteren Zeiten. Ausstellungskatalog, Marbach 1983, S. 414. 34 Völkischer Beobachter zu einer Dresdner Aufführung vom 2. Juni 1934, zitiert nach: Zeller (Fn. 33), S. 414. 35 Ebenfalls beispielhaft ist die Programmfolge zur „Sonderveranstaltung der NSDAP“ am 20. April 1933 im Landes-Theater zu Braunschweig, bei der auf das Horst-Wessel-Lied zunächst die Rütli-Szene aus Wilhelm Tell und sodann das Deutschlandlied folgten. Vgl. Georg Ruppelt, Schiller im nationalsozialistischen Deutschland. Der Versuch einer Gleichschaltung, Stuttgart, 1979, S. 40 f. Allgemein zur Rolle der Dramen Schillers auf den Bühnen des Deutschen Reiches ebda., S. 103 ff. 36 Vgl. Zeller (Fn. 33), S. 420 f. Der Text heißt: „Der Führer wünscht, dass Schillers Schauspiel ,Wilhelm Tell‘ nicht mehr aufgeführt wird und in der Schule nicht mehr behandelt wird.“ 37 Schiller soll Tell als „Schweizerischen Heckenschützen“ bezeichnet haben.

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aus der Sicht des NS-Regimes der Tell nicht mehr der Held der nationalen Erhebung, sondern meuchlerischer Rebell, Separatist, Staatsfeind. Die Aufführungsgeschichte des „Wilhelm Tell“ wirkt insgesamt wie ein Spiegel, in dem insbesondere der Wandel im politischen Klima in NS-Deutschland sehr deutlich wird. Jedenfalls findet die allgemeine Zwiespältigkeit der Bewertung der Figur des Tell in dieser erstaunlichen Kehrtwende in der nationalsozialistischen Rezeption des Stückes ihre ganz spezifische Ausprägung. 3. „Wilhelm Tell“ in der Zeit der deutschen Teilung Nach 1945 erlangt das Schillersche Drama seinen angestammten Platz auf den Bühnen und in den Deutschstunden wieder (bevor es dann nach 1970 im Theater, aber auch in den Schulen seltener wird). Nach dem Krieg wird das Stück wiederum zum Zielobjekt eines sich dezidiert politisch verstehenden Theaters, im Osten wie im Westen. Zwei Inszenierungen, beide aus den frühen 60er Jahren, markieren eindrucksvoll die Möglichkeiten und Widerstände, die dieser Text unter den spezifischen politischen Umständen der beiden deutschen Staaten jeweils bot: einmal – östlich – Wolfgang Langhoffs Inszenierung an dem von ihm geleiteten Deutschen Theater in (Ost-)Berlin (1962) und dann – westlich – die berühmtberüchtigte (Anti-)Tell-Inszenierung, mit der Hans-Günther Heyme 1964 weit über Wiesbaden hinaus für Aufsehen sorgt. Die Aufführungen liegen in der Hand von zwei „linken“ Regisseuren, der eine, „seinem“ sozialistischen Staat treu, der andere, als – zusammen mit Zadek, Peymann, Grüber u. a. – einer der Protagonisten des neuen westdeutschen Theaters der 60er und 70er Jahre. Dieses war eher den damaligen neuen systemkritischen politischen Kräften verpflichtet, welche die Bundesrepublik Deutschland alsbald in Bewegung bringen und teilweise auch erschüttern sollten. Beide kommen zu Ergebnissen, die unterschiedlicher kaum sein können: Langhoff feiert den Tell als antiimperialistischen Freiheitshelden und

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Stauffacher wird zum beispielhaften Revolutionsorganisator (und, so sieht es der Rezensent der F.A.Z.38, zur eigentlichen Hauptfigur). Im Programmheft reklamiert Langhoff das Theaterstück „Wilhelm Tell“ denn auch – in überdies erstaunlich nationalen, aber eben auch bornierten Tönen – exklusiv für die DDR: „Uns, den Erbauern des Sozialismus [ . . . ] gehört es, weil wir die Sachwalter der ganzen deutschen Nation sind! Nicht eine Zeile, nicht ein Vers gehört denen, die in der Westzone heute noch an der Macht sind und die die wahren Interessen ihres Volkes an den amerikanischen Imperialismus verraten“, und das „Neue Deutschland“ springt bei, indem es festhält, das Stück habe „bei uns [sc. in der DDR] seine Heimat, nicht drüben, bei den Gesslers unserer Tage.“39 Und eben dort drüben wird nun gerade nicht mit einer reziproken Vereinnahmung durch den „Westen“, sondern mit einer kulturellen Provokation und damit letztlich mit der kreativen Kraft eines offenen politischen Systems reagiert. Heyme verwirft den Widerständler Tell vollständig; lässt ihn als brutalen und rasenden Primitivling auftreten, zeigt Stauffacher als Quasi-Goebbels in der Rütli-Szene wie in einer Sportpalastrede, in der Parolen skandiert werden und die Eidesformel „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern“ in einer dem Horst-Wessel-Lied angepassten Melodie angestimmt wird.40 38 Dieter Hildebrandt, Schiller aus der Mauerschau, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 21 3. 1962, in: Piedmont (Hrsg.), Schiller spielen: Stimmen der Theaterkritik 1946 – 1985. Eine Dokumentation, Darmstadt 1990, S. 259 ff. 39 Beide Zitate nach Dieter Hildebrandt (Fn. 38). Diese Form der gegen den Westen gerichteten Lesart Schillers in der DDR, die die humanistischen Ideale des Dichters ganz für die sozialistische Gesellschaftserneuerung in Anspruch nahm, hatte zu diesem Zeitpunkt schon Tradition: als Mitstreiter ihrer Sache hatte die SED ihn offiziell erklärt und in den beiden Schillerjahren 1955 und 1959 gefeiert, vgl. dazu: Rossmann, Kalenderdenken als Rezeptionsmuster. Zu Tradition und Praxis der Schillerehrungen in der DDR, in: Piedmont (Fn. 16), S. 283 ff. 40 Als „konsequent, genialisch, aber widerlich“ kritisiert Henning Rieschbieter das in Theater heute, Schiller jedenfalls sei hier nicht aufgeführt worden; Helmuth Karasek verteidigt Heyme im selben Heft: darum,

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Über diese unterschiedlichen Deutungen in beiden deutschen Staaten mag man lange nachdenken und vielleicht auch empört sein. Diese Deutungen sind jedenfalls auch aus den unterschiedlichen Freiheitsstandards in der DDR einerseits und in der Bundesrepublik Deutschland andererseits erklärbar. Im „real existierenden Sozialismus“ mit seinen diktatorischen Strukturen hätte eine Deutung wie die von Heyme nicht die Spur einer Chance gehabt, die faktisch bestehende Theaterzensur in der DDR zu überwinden. War denn seinerzeit in der DDR überhaupt eine tendenziell andere Deutung des Tell als die von Langhoff möglich? Erst unmittelbar vor der Wende ändern sich die Gesamtumstände in der DDR so stark, dass das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin 1989 in der Berliner Volksbühne eine Inszenierung aufführen konnte, die mehr oder minder offen zur Revolution aufrief.41 4. Lehren aus der Aufführungsgeschichte Jedenfalls erweist sich der „Wilhelm Tell“ so trotz aller Brüche der deutschen Geschichte für die Nation als dauerhaft interessant. Das Stück findet über zwei Jahrhunderte immer wieder sein Publikum, es begleitet die Nation durch alle Höhen und Tiefen ihrer Geschichte. Das Drama und seine Aufführungsgeschichte werden so zur Projektionsfläche für die unterschiedlichen Kräfte und Tendenzen der deutschen Geschichte. (Soweit ersichtlich, steht die naheliegende Interpretation des „Wilhelm Tell“ vor den Erfahrungen und Handden Tell zu inszenieren, sei es Heyme auch nicht bestellt gewesen, sondern um ein (bewusst überzogenes) „Gegenbild“ zu dem Nationalmonument, welches das Drama leider geworden sei. Beide Rezensionen in: Piedmont (Fn. 16), S. 262 ff. bzw. 265 f. 41 Die staatlichen Ehrengäste sollen daraufhin die Aufführung türenschlagend verlassen haben; http: // de.wikipedia.org / wiki / Wilhelm_Tell. Näher zu politischem Gehalt und Wirkung der Aufführung etwa Die Tageszeitung, 23. 10. 1989, S. 12; Der Spiegel, 04. 12. 1989, S. 230; sowie Die Zeit, 17. 07. 1992, S. 44.

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lungsstrukturen der Wende und der Wiedervereinigung noch aus, obwohl der Satz „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern“ für die Jahre 1989 / 1990 wie angegossen zu passen scheint, post-Wiedervereinigungs-Frustrationen freilich nicht eingeschlossen.) Insgesamt bleibt die Weite, wenn nicht sogar Beliebigkeit der Interpretationen und vielleicht auch Interpretierbarkeit des „Wilhelm Tell“ festzuhalten, die jedenfalls in ihren Auswüchsen wohl nicht den Intentionen Schillers entsprechen dürfte. Diese weite Interpretierbarkeit muss aber nicht notwendig als Schwäche des Stücks, sondern kann – langfristig – auch als seine Stärke und als Möglichkeit seiner steten Modernisierbarkeit verstanden werden. Und vor Verkürzungen des „Wilhelm Tell“ durch modernes Regietheater schützt ja bekannterweise ohnehin der Bundespräsident.42

III. „Wilhelm Tell“ als Zusammenspiel öffentlicher und privater Angelegenheiten 1. Grundsätzliches Über den „Wilhelm Tell“ scheint man sich insgesamt nicht einig werden zu können. Der Grund dafür, dass die Meinungen zur Figur des Tell und seiner Tat so unterschiedlich ausfallen können, muss in der Anlage des Stückes selbst seinen Grund haben, maßgeblich in den unterschiedlichen Schichten, die sich in dem Schillerschen Text übereinander legen. Man kann daher nur damit beginnen, diese unterschiedlichen Schichten freizulegen: 42 Horst Köhler, Grußwort des Bundespräsidenten anlässlich der Schillermatinee im Berliner Ensemble am 17. 4. 2005, abgedruckt in: Bundespräsident Horst Köhler, Reden und Interviews, Band 1, Berlin 2005, S. 189 ff. „Ein ganzer Tell, ein ganzer Carlos. Das ist doch was!“ Die immer noch fortgesetzte Bestreben, die Klassiker zu entstauben und zu problematisieren, sei ihrerseits ein „Ausweis einer neuen arroganten Spießigkeit“. Dazu sehr kritisch: Carl Hegemann und Christoph Schlingensief, Die Zeit vom 21. 4. 2005, S. 46.

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Für das staatspolitische und staatsrechtliche Interesse steht, wie eingangs bereits festgehalten, – erstens – die individuelle „Widerstandshandlung“ des Tell – die Tötung Geßlers – im Mittelpunkt43 und daneben – zweitens – der kollektive Gang des eidgenössischen Aufstandes mit seinen Zentralgestalten Werner Stauffacher, Walther Fürst und Arnold vom Melchthal. Und hinzu kommt – vielleicht entscheidenderweise – die Frage, ob und wie diese beiden Handlungsstränge – die individuelle Tat des Tell und die kollektive Bewegung der Schweizer – miteinander zusammenhängen. Denn zunächst einmal laufen diese beiden Stränge wie nebeneinander her, und konvergieren nach verbreiteter Auffassung praktisch erst im Attentat Tells auf den Vogt in der hohlen Gasse bei Küßnacht. So hat es offenbar auch der Dichter selbst gesehen, wenn er an den mit der Berliner Aufführung des Stückes befassten Iffland schreibt, Tell stünde doch „ziemlich für sich selbst in dem Stück, seine Sache [sei] eine Privatsache, und bleib[e] es, bis sie am Schluss mit der öffentlichen Sache zusammengreift“.44 Dieses Nebeneinander der beiden Handlungen (dieser Befund ist natürlich Bestandteil nahezu jeder Tell-Erörterung45) bleibt höchst irritierend – vor allem, wenn man sich auf das 43 Wenn auch der Apfelschuss (zusammen mit der vorangegangenen Weigerung den Geßler-Hut zu grüßen) die bekannteste Szene des Tell, vielleicht die Szene des Tell überhaupt ist – und auch sie lässt kontroverse Wertungen zu: handelt der Tell aus Mut oder Wagemut, in Ausweg- oder Verantwortungslosigkeit und ist der Sohn Walther ein tapferer Bursche oder nur ein prahlerischer Bengel? 44 Brief vom 5. Dezember 1803, abgedruckt bei Schmidt (Fn. 21), S. 75 f.; einer Einschätzung, der die Interpretatoren sich meist angeschlossen haben: etwa Benno v. Wiese (Fn. 11): „Aber so sehr auch Tells Handeln gegen Geßler durchaus privaten und familien-rechtlichen Antrieben entspringt, es wird dennoch zur Rettung für das Land und zum Fanal des Volksaufstands“. (S. 773) und „indem er in eigener Sache handelt, handelt er doch zugleich für alle.“ (S. 774); ganz pointiert in diese Richtung auch Peter Schneider (Fn. 10), 370. 45 Vgl. etwa Benno v. Wiese (FN. 11), S. 770 ff.; Georg-Michael Schulz (Fn. 20), S. 231 ff.; Hans-Jörg Knobloch, Fn. 13, S. 496 ff.; Peter-André Alt, (Fn. 17), S. 580 ff.

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Staatsrechtliche, das Staatspolitische im „Wilhelm Tell“ konzentriert. Überspitzt gesagt, scheint es in den ersten Teilen des Dramas tatsächlich zunächst einmal so, als habe Tell einem Ideendrama zwar seinen Namen gegeben, nicht aber seine Handlungsstruktur und seinen Sinn. 2. Die Sache des Tell a) Die Privatsache des Tell Tell scheint sich für Vieles zu interessieren, bloß nicht für das Staatsrechtliche, das Staatspolitische. Tell ist nicht mit dabei auf dem Rütli. Er schwört den Eid nicht mit, der die Vertreter aus den Kantonen Uri, Schwyz und Unterwalden zu einem neuem / altem Bund vereint. Er ist – wie man weiß – sich selbst genug: „Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst“ (435) sagt er dem Stauffacher (eben hat Tell einen Schiffbrüchigen gerettet, möchte nun aber schnell nach Hause), als dieser ihn zur Verbindung der Eidgenossen gewinnen möchte. Und dabei handelt er konsequent. Er macht nicht mit bei der „großen Politik“, seine soziale Welt bleibt die der Familie, ansonsten ist er Einzelgänger, der tatsächlich „peinlich darum bemüht ist, sich von der öffentlichen Sache fernzuhalten“.46 Was ihn antreibt, ist das persönliche Leid, das ihm und seiner Familie angetan wird, v. a. die ungeheuerliche Zumutung Geßlers an Tell, das Leben seines eigenen Sohnes auf das Spiel setzen zu müssen, nachdem er – mehr aus Unachtsamkeit denn aus Rebellion47 – den Geßler-Hut nicht gegrüßt hat. Danach geht die Handlung schnell voran: Es folgt die Festnahme (noch in III, 3), dann der rettende Sprung auf die Felsenplatte (IV, 1) und schließlich das Attentat in der Hohlen Gasse bei Küßnacht (VI, 3), so schnell also, dass für einen echten SinnesHans-Jörg Knobloch (Fn. 13), S. 500. In der Szenenanweisung heißt es „Sie [sc. Tell und Walther] gehen an dem Hut vorbei [ . . . ] ohne darauf zu achten“ (nach 1770); und Tell entschuldigt sich dann ja auch ganz untertänig bei Geßler: „Verzeiht mir lieber Herr! Aus Unbedacht, / Nicht aus Verachtung ist’s geschehen“ (1870 f.). 46 47

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wandel des Tell – bezüglich der Beteiligung an der eidgenössischen Sache – eigentlich kein Raum bleibt.48 b) Die Privatsache Tells und der Eidgenössische Aufstand Tell hilft also zunächst einmal sich selbst und seiner Familie, nicht aber der gemeinsamen Unternehmung seiner Landsleute. Doch dadurch entsteht eine recht merkwürdige Konstellation: Die Tat des Tell – privat und nicht politisch motiviert – kommt dem eidgenössischen Aufstand ganz objektiv zugute: Geßler ist der Gegner der Tellschen Privatsache, zugleich aber vor allem der Gegner der sich abzeichnenden politischen Auflehnung der Eidgenossen, die mit der Nachricht vom gewaltsamen Tod des Vogts erst wirklich ausbricht; so ist das Zusammengreifen, von dem der Dichter selbst spricht, auf der Ebene des Handlungsablaufes zwar nicht zu leugnen – dramaturgisch greift im „Wilhelm Tell“, wie kaum ein anderes Drama Schillers wie aus einem Guss49, ohnehin fast alles kunstvoll – und nur vereinzelt: künstlich – zusammen. Aber die letzte Überzeugungskraft fehlt hier dem Drama vielleicht eben dann doch. Der reife Schiller hat insgesamt mit dem „Wilhelm Tell“ ein Drama geschaffen, das nicht nur von der hohen Kunst seines Autors, sondern auch von der Professionalität (vereinzelt vielleicht aber auch von der Routine) seiner Dramenarchitektur kündet. Aber schließt diese – für den einen: geschickte – oder – für den anderen: etwas konstruiert wirkende – Verknüpfung der beiden Handlungsstränge durch den Anschlag auf Geßler auch inhaltlich die Lücke zwischen Tell, dem Mann der Tat, und den ratschlagenden, theoretisierenden Eidgenossen um Stauffacher? Diese Konstruktion wird oft als gezielte Strategie Hans-Jörg Knobloch (Fn. 13), S. 501. Bedingt vielleicht durch die für Schiller ganz ungewöhnlich knappe Arbeitsphase: laut seiner eigenen Tagebucheinträge dauerte diese bloß von August 1803 bis zum Februar des darauffolgenden Jahres. 48 49

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Schillers gedeutet: Gerade indem es der eigentlich unpolitische und zudem friedfertige Tell ist, der den politischen Mord begeht, und keiner aus den Reihen der „Verschwörer“, dränge sich der Schluss auf, dass es objektiv gar keine andere Wahl gab als die Tötung des Reichsvogts, wenn selbst einer wie Tell „zu einer Gewalttat getrieben wird“.50 Dass die Mordtat also unbedingt erforderlich gewesen sei, die Rechtfertigung der Widerstandstat als letztes Mittel, werde so geschickt vermittelt. Und gleichzeitig bleibe die Tat damit in gewissem Sinn „rein“; unverdächtig, von „politischen Nebenabsichten“ getragen zu sein.51 Ähnlich formuliert Peter-André Alt: „Das Attentat wird auf diese Weise von politischen Motiven freigehalten, die Verschwörung wiederum moralisch entlastet.“52 Man könnte allerdings auch versucht sein, dies gerade anders herum zu sehen, so dass der eidgenössische Aufstand eigentlich zahnlos und auf mehr oder minder zufällige Hilfe angewiesen bleibt, auf der anderen Seite der Tellschen Tat aber der legitimierende Zusammenhang, die politische und philosophische Begründung fehlt. Man ist in der Tat versucht, dem Tell das vorzuhalten, was Stauffacher den Seinen am Schluss der Rütliszene (II, 2) mit auf den Weg gibt: „Bezähme jeder die gerechte Wut, Und spare für das Ganze seine Rache, Den Raub begeht am allgemeinen Gut, Wer selbst sich hilft in seiner eignen Sache.“ (1462 – 65).53

Sicher kann man die Freiheit von Ideologie an Tell loben. Doch kann man ihn dann wirklich noch als Vorbild für den Widerstand gegen ungerechte, ja, unerträgliche politische Herrschaft heranziehen, wo er doch über derartiges nicht einmal nachdenken und sich schon gar nicht entsprechend enga50 51 52 53

Hans-Jörg Knobloch (Fn. 13), S. 501. Ebd. (Fn. 17), S. 583. Vgl. dazu Hans-Jörg Knobloch (Fn. 13), S. 496.

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gieren mag54? Vielleicht ist dies eine, aber die entscheidende Ambivalenz, welche die Figur des Tell so umstritten macht.55 3. Die Sache der Eidgenossen Auch der Aufstand der Schweizer gegen die Despotie der Reichsvögte ist für sich genommen ambivalent genug. Zwei ganz unterschiedliche gedankliche Bewegungen sind hier erkennbar – gedankliche Bewegungen, die zwar miteinander verwoben sind, aber wohl doch nicht so ganz ineinander aufzugehen vermögen. Deshalb kann es nicht verwundern, dass dieses politische Drama von gänzlich unterschiedlicher politischer Seite (zuweilen eben auch von ein und derselben, sowohl als auch:) bejubelt und kritisch beäugt werden konnte. a) Das naturrechtliche Widerstandsrecht Da steht im Mittelpunkt (in der insoweit zentralen Rütliszene, II, 2) die flammende Rede des Stauffacher, mit der er die aus den drei Urkantonen zusammengekommenen Schweizer zum aktiven Widerstand und zum Bundesschluss bewegt: Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht, Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich wird die Last – greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel, Und holt herunter seine ew’gen Rechte, 54 Jedenfalls nicht bis zu seinem letzten großen Monolog vor der Tat, in dem der einzelgängerische Jäger ganz überraschend redselig wird. 55 Schiller kannte freilich noch nicht die totalitären Staaten des 20. (und 21.) Jahrhunderts mit ihrem grenzenlosen Herrschaftsanspruch auch auf die Privatsphäre der Bürger. Die für den Tell so wichtige Gegenüberstellung von privatem und öffentlichem, von familiärem und politischem Handeln ist in solchen durchorganisierten Diktaturen mindestens teilweise überholt. Die Untrennbarkeit des Privaten gegenüber dem Politischen ist ein typisches Merkmal totalitärer Herrschaft. So gesehen könnte das auf die Verteidigung der Privatsphäre gerichtete Handeln Tells in einem totalitären Staat von vornherein nicht unpolitisch sein, schon gar nicht, weil es sich gegen einen Träger der Staatsgewalt richtete.

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Die droben hangen unveräusserlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst – Der alte Urstand der Natur kehrt wieder, Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht – Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben – Der Güter höchstes dürfen wir verteid’gen Gegen Gewalt – Wir stehn vor unser Land, Wir stehn vor unsre Weiber, unsre Kinder! (1275 – 1288)

Damit bekennt sich Schiller – in deutlicher Abgrenzung zu Kant56 – ausdrücklich zur Idee des naturrechtlich begründeten Widerstandsrecht. Diese Idee entstammt insbesondere der rechtsphilosophischen Diskussion des ausgehenden 18. Jahrhunderts57 (wobei ältere Begründungsversuche für das Widerstandsrecht gewiss nicht übersehen werden sollen). Heute hat in Deutschland die Frage der Ableitbarkeit des Widerstandsrechts aus überpositivem Recht freilich keine unmittelbare rechtliche Relevanz mehr, weil das positive Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland seit 1968 mit Art. 20 Abs. 4 GG das Widerstandsrecht ausdrücklich anerkannt hat. Freilich kann diese Positivierung dem Überpositiven nicht den Rang besonderer politischer Bedeutsamkeit nehmen. Bemerkenswert am „Wilhelm Tell“ ist dabei bis heute die von Schiller verfochtene dezidierte Bindung und Begrenzung des Widerstandsrechts an den strengen Gedanken der Erforderlichkeit. Die Ausübung des Widerstandsrechts unter Gewaltanwendung bleibt ultima ratio. Dieses Element ist für die Eidgenossen von höchster Wichtigkeit; Walther Fürst spricht es noch einmal aus: Was sein muss, das geschehe, doch nicht drüber. Die Vögte wollen wir mit ihren Knechten Verjagen und die festen Schlösser brechen, Doch wenn es sein mag, ohne Blut. (1366 – 69) 56 57

Hierzu etwa Peter-André Alt (Fn. 17), S. 577 ff. Vgl. dazu ausführlich Peter-André Alt (Fn. 17), S. 572 ff.

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Mit Besonnenheit soll man handeln; erst „die Rechnung der Tyrannen / Anwachsen“ (1459) lassen, bis es nicht mehr geht; nur zu dem Mittel greifen, das die Lage erforderlich macht – ein Widerstandsrecht also unter strengem Maßstab der Verhältnismäßigkeit. Das Grundgesetz nimmt mit seiner Verfassungsänderung von 1968 – über 160 Jahre später – diesen Gedanken auf und lässt in Art. 20 Abs. 4 GG das Recht zum Widerstand nur zu, „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Dieser im „Wilhelm Tell“ vertretene Gedanke der ultima ratio und des strengen Maßstabs bei der Anwendung von politischer Gewalt kann – jedenfalls auch – als persönliche Abrechnung Schillers mit der Französischen Revolution verstanden werden. Sein Glauben an die Ideale der Französischen Revolution war an den Blutgerüsten der Revolutionäre zwar nicht zerschellt, aber dem reifen Dichter war längst klar geworden, dass mit der massenhaften Ermordung politischer Gegner der Menschheit Glück gewiss nicht zu befördern war. b) Die Wiederherstellung alten Rechts Neben dem Widerstandsrecht spielt im „Wilhelm Tell“ die Verteidigung des alten Rechts für die Sache der Eidgenossen eine zentrale Rolle. Schon die ersten Worte von Walther Fürst, nachdem man sich um das Feuer versammelt hat, zeigen die Richtung an: „So müssen wir auf unserm eigenen Erb’ / Und väterlichem Boden uns verstohlen / Zusammenschleichen [ . . . ] unser gutes Recht Uns holen“ (1098 – 1104); vom väterlichen Boden und vom guten Recht also ist die Rede und an diese möchte man anschließen: „nach den alten Bräuchen / Des Lands“ (1111) soll getagt werden, „sind auch die alten Bücher nicht zur Hand“ (1121), und Stauffacher betont, bevor er dann sehr ausführlich die Geschichte der Kantone erzählt: „Wir stiften keinen neuen Bund, es ist / Ein uralt Bündnis nur von Väter Zeit, / Das wir erneuern!“ (1155). Es werden dann von Stauffacher die Anfänge der Besiedelung und die Formung der schweizerischen Stämme beschrieben, ihr gemein-

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samer Ursprung mehrfach beschworen („Ja, wir sind eines Herzens, eines Bluts!“, 1203), vor allem aber auch die rechtlichen Umstände, unter denen die Schweizer leben, erläutert. Rösselmann bemerkt: „Frei wählten wir des Reiches Schutz und Schirm, / So steht’s bemerkt in Kaiser Friedrichs Brief“ (1214 / 15). Die Rede ist von den Freiheitsbriefen Friedrich II., die einzelnen schweizerischen Gebieten den (privilegierten) Status der Reichsunmittelbarkeit sicherte, unter dem man dem Reich zwar zins- und wehrpflichtig war, ansonsten aber eine relativ weitgehende Autonomie besaß.58 Dieser alten Verfassung von Autonomie soll nun neue Geltung verschafft werden, gegen die – in der anmaßenden Herrschaft der Vögte sich konkretisierenden – Begehrlichkeiten Österreichs, in der Schweiz eigene Landeshoheit auszubauen und die schweizerischen Kantone lehenspflichtig zu machen.59 Es geht mithin im Kern um die Wiederherstellung des alten Rechtszustands, um die Bewahrung der „alten Rechte, wie wir sie ererbt / Von unsern Vätern“ (1354 / 55). (Peter-André Alt nennt diese eidgenössische Rebellion – treffender lässt sie sich wohl nicht auf den Begriff bringen – : eine „konservative Revolution mit progressiven Zügen“60). Der Aufstand ist eben kein eigentlich revolutionärer, sondern er ist insoweit entscheidenderweise – auch die deutschnationalen wie die sozialistischen Liebhaber des Stücks der vergangenen Jahrhunderte haben dies großzügig zu übersehen vermocht – restituierend, er ist eine – die alte Ordnung wiederherstellende – Reaktion auf eine Rechtsverletzung seitens der Obrigkeit.

Vgl. Peter-André Alt (Fn. 17), S. 574. Die Grafen von Habsburg hatten in diesen Gebieten bereits einzelne grundherrliche Rechte erworben; der Wunsch, sich diese Gebiete aber gänzlich einzuverleiben, entstand unter der besonderen Situation, dass Albrecht I. von Österreich (unter dessen Herrschaft Schillers Tell spielt) 1289 deutscher Kaiser geworden war; vgl. zu dieser historischen Situation sowie zu hinzutretenden strategischen Gründen: Heribert Waider, ZStW 1968, 389 (391 ff.). 60 Peter-André Alt (Fn. 17), S. 574; so auch: Hans-Jörg Knobloch (Fn. 13), S. 496. 58 59

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c) Die Verteidigung des alten Rechts und das Widerstandsrecht Der Aufstand der Eidgenossen lässt sich nach Auffassung Schillers also zweifach rechtfertigen: durch den Gedanken der Verteidigung alten Rechts und durch den damals vordrängenden modernen Gedanken eines naturrechtlichen Widerstandsrechts, das uns heute – schon wegen Art. 20 Abs. 4 GG – näher erscheint. In der Konzeption des Dichters ist das Band des Gesellschaftsvertrages, das dem Einzelnen den Griff zur Gewalt eigentlich verbietet, bereits zerrissen durch die unrechtmäßige und zudem willkürliche Gewaltausübung seitens der Herrscher selbst. Dieser Rechtsbruch führt so in den Naturzustand zurück – wie Stauffacher ausführt –, in dem der Mensch sich dann seine ursprünglichen und unveräußerlichen Rechte zurückholt und auch ausüben kann – im allerletzten Fall auch in Form gewaltsamen aktiven Widerstands. d) Die Tötung Geßlers als Rechtsverteidigung im Privaten wie im Öffentlichen In der rechtsverteidigenden Struktur gleicht der Weg Tells zur Tötung Geßlers dem kollektiven Aufstand der Eidgenossen. Auch Tells Tat hat bewahrenden, rechtsverteidigenden Charakter. Während die Eidgenossen die Reichsunmittelbarkeit der schweizerischen Gebiete als „alte Rechte“ zurückfordern, so stellt auch Tell in seiner eigenen Sache wieder her, was ihm widerrechtlich genommen wurde: die Ruhe und die Selbstzufriedenheit seines bisher eher einzelgängerischen und zurückgezogenen Lebens und v.a. die Sicherheit seiner Familie und ihrer Mitglieder, deren Leben zu riskieren die Willkür des Vogtes ihn gezwungen hatte. Folgerichtig beschreibt Tell sein eigenes Handeln als „gerechte Notwehr eines Vaters“ (3177). Indem Tell so gewissermaßen im Kleinen nachvollzieht, was im Großen geplant wird, entsteht aus dem Nebeneinander der beiden Handlungsstränge sogar eine Art Parallelität. Benno v. Wiese sieht darin sogar die oben ausgemachte Kluft zwi-

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schen der „Privatsache“ und der „öffentlichen Sache“ gänzlich überwunden, denn „das Einstehen für die Familie [habe] in Schillers Gedankenwelt niemals rein privaten, sondern stets zugleich auch politisch-öffentlichen Charakter. Des ,Herdes Heiligtum‘, das [sei] auch der unzerstörbare Grund, auf dem die Schweizer das Haus ihrer Freiheit aufgebaut hätten.“61 Die Eidgenossen wie Tell machen in diesem Sinne (gewiss auf unterschiedlichen Ebenen) ein „Hausrecht“ geltend.62 Ganz aus diesem Umstand heraus begründet Tell in einer langen (dem Charakter vielleicht doch etwas aufgepfropft wirkenden) Rede sein Handeln; aus der Störung, dem Eindringen des Vogtes in seinen ureigensten Rechtskreis seines privaten und familiären Lebens: Ich lebte still und harmlos – [ . . . ] Du hast aus meinem Frieden mich herausGeschreckt, in gärend Drachengift hast du Die Milch der frommen Denkart mir verwandelt (2569 – 2574)

Und schließlich – auch darin trifft er sich mit dem Aufstand der Eidgenossen – greift Tell nur als letzte Möglichkeit zur Tötungshandlung, nachdem er lange gewartet und geduldet hat; auch er handelt besonnen, d. h. im Rechtssinne maßvoll. e) Tell und der Kaisermörder Parricida Und in all diesen Punkten unterscheidet er sich dann markant vom Kaisermörder Parricida, den ihm Schiller in der letzten Szene seines Dramas noch gegenüberstellt. Diese – etwas hinzukonstruiert wirkende – Szene ist für den Dichter unentbehrlich, um die Grenzen des durch Widerstandsrecht und Rechtsverteidigung gerechtfertigten Tyrannenmords zu verdeutliBenno v. Wiese (Fn. 11), S. 774. Auf dieses „Hausrecht“ beruft sich schon in der Einigungsszene Konrad Baumgarten (82), der den kaiserlichen Burgvogt Wolfenschießen erschlug, weil dieser von der Frau Baumgartens unsittliches Handeln verlangt hatte (82). 61 62

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chen.63 Auch Parricidas Tat – die Ermordung Albrechts I.64 – kommt dem schweizerischen Freiheitskampf an sich objektiv genauso entgegen wie die des Tell! Aber zwischen der Tat des Tell und der des Parricida stehen Welten. Stauffacher freilich spricht das Unvereinbare aus: „Den Mördern bringt die Untat nicht Gewinn, / Wir aber brechen mit der reinen Hand / Des blut’gen Frevels segenvolle Frucht“ (3016 – 18). Der Kaisermord durch Parricida kann mit der eidgenössischen Sache nicht „zusammengreifen“. Denn er geschieht aus reinem Eigennutz (des Erbes wegen) und ohne Not. Die Ermordung Albrechts I. diente dazu, sich an die Stelle des rechtmäßigen Herrschers zu setzen, nicht aber dazu, Despotie und Willkür zu beenden. Der Mord durch Parricida entbehrt alle Elemente, welche die Tellsche Tat vielen Juristen wohl grundsätzlich so sympathisch macht: ihre rechtsbewahrende Zielrichtung65, ihre rechtsphilosophische Fundierung und ihre (Eigen-)Bindung an das Rechtsprinzip der Verhältnismäßigkeit. IV. Fazit Tell ist ein Stück Weltliteratur, das Privates und Politisches zwar akzentuiert voneinander unterscheidet, beides aber im Prinzipiellen miteinander verbinden will: Der Schutz des Landes und der Schutz der Frauen wie der Kinder legitimiert im äußersten Falle die Anwendung von Gewalt. Nach dem Konzept Schillers bildet sich die Universalität einer naturrechtlich 63 Siehe auch: P. Schneider, Kägi-Festschrift, 1979, S. 380 mit dem Hinweis darauf, dass Schiller so der Ablehnung des Widerstandsrechts durch Kant begegnen wollte. Nicht auszuschließen ist, dass der Dichter so auch potentiellen Einwänden der Zensur bzw. von Theaterintendanten ausweichen wollte. 64 Die Ermordung Albrecht I. von Habsburg erfolgte 1308 durch seinen Neffen Johann, Herzog von Schwaben, der nach dem Mord den Namen Johannes Parricida annahm. 65 Lüderssen, „. . .dass nicht der Nutzen des Staates Euch als Gerechtigkeit erscheine“, Schiller und das Recht, 2005, S. 133 f., meint, dass es Schiller im Tell gelungen ist, ein Bild der Überlegenheit des Rechts – trotz schwierigster Ausgangslage – im Kampf um die Macht zu zeichnen.

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begründeten Weltordnung sowohl im Kleinen – Ehe und Familie – wie zugleich im Großen – im Staat – ab. Das Stück verspricht sich die Befreiung eines Landes und seiner Menschen von einer Rückwendung zu einem quasi natürlichen Urzustand. Historisch ist dieses wertesuchende „Zurück zur Natur“ zwar überwiegend unrealistisch. Gleichwohl entwirft Schiller mit seinem Drama am Beginn des 19. Jahrhunderts insgesamt ein anspruchsvolles und humanes Wertekonzept über das Zusammenleben von Menschen in einem Staat. Auch wenn in Deutschland die Geschichte später andere, teilweise wahrhaft verhängnisvolle Wege gegangen ist, gibt der Tell bleibendes Zeugnis politischer Kultur und rechtlicher Wertefundierung in der deutschen Dichtung.