Dichtung - Gelehrsamkeit - Disputationskultur: Festschrift für Hanspeter Marti zum 65. Geburtstag 9783412215675, 9783412208769

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Dichtung - Gelehrsamkeit - Disputationskultur: Festschrift für Hanspeter Marti zum 65. Geburtstag
 9783412215675, 9783412208769

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Dichtung – Gelehrsamkeit – Disputationskultur Festschrift für Hanspeter Marti zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Reimund B. Sdzuj, Robert Seidel und Bernd Zegowitz

2012

BÖHL­AU VER­L AG WIEN KÖLN WEI­M AR

Der Druck dieser Publikation wurde von der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Engi, unterstützt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: „Diskutierende Gelehrte“ Kupferstich aus der Offizin von Crispijn van de Passe. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Signatur: A: C Geom. 2˚ (228).

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Balto Print, Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Lithuania ISBN 978-3-412-20876-9

Tabula Gratulatoria Eric Achermann, Münster Michael Albrecht, Trier Pater Alberich Martin Altermatt, Eschenbach Frieder von Ammon, München Joachim Bahlcke, Stuttgart Heidi und Thomas Bally, Giffers Adelheid Baumgartner, Sool Hanni Baumgartner, Engi Jan-Andrea Bernhard, Castrisch Verena Bider, Wangen bei Olten Verena und Hanspeter Blaas, Urnäsch Pater Thomas Blättler, Engelberg Dietrich Blaufuß, Erlangen Pankraz Blesi, Zürich Eliane Blumer, Bern Johanna und Leonhard Blumer-Kipfer, Wattwil Thomas Bodmer, Salzburg Ralf Georg Bogner, Saarbrücken Helga Brandes, Bad Zwischenahn Reinhard Breymayer, Ofterdingen Ursula Caflisch-Schnetzler, Zürich Margrit und Charles Christen, Engelberg Matthias Christen, Bayreuth Hans-Heinrich Decker, Wuppertal Rudolf Dellsperger, Köniz Cornel Dora, Sankt Gallen Stephanie Dreyfürst, Frankfurt a. M. Gregor Eigensatz, Feldbach Heidi Eisenhut, Rehetobel Claudia Engler, Bern Veronika Käser Erne und Emil Erne, Bern Carsten Fecker, Hamburg Schwester Lutgard Feierabend, Eschenbach

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Tabula Gratulatoria

Donald Felipe, Chico Veronika und Andreas Feller-Vest, Glarus Joseph S. Freedman, Montgomery Marian Füssel, Göttingen Klaus Garber, Osnabrück Martin Germann, Zürich Seraina Gilly, Hettlingen Marion Gindhart, Mainz Frank Grunert, Halle a. d. Saale Thomas und Birgit Habel, Göttingen Susanne Harder-Sdzuj, Greifswald, und Reimund B. Sdzuj, Frankfurt a. M./Greifswald Stefan Hartmann, Berlin Ursula und Siegfried Hassler, Dresden Marie-Luise und Dieter Heckmann, Werder Wiebke Hemmerling, Boldekow/Göttingen Klaus-Dieter Herbst, Jena Christopher Herrmann, Allenstein (Olsztyn) Schwester Paula Herzog, Eschenbach Alex Höchli jun., Engelberg Lucie und Alexander Hoechli-Délèze, Engelberg Christine Holliger, Chur Schwester Christa Ineichen, Eschenbach Mirjam und Urs Infanger-Christen, Emmenbrücke Ralf Jacober, Goldau Bernhart und Janna Jähnig, Berlin Herbert Jaumann, Neunburg vorm Wald Peter Kamber, Luzern Andrea Kaufmann, Goldau Ene Kelder, Hettlingen Susanne und Hans Keller, Schwanden Johannes Klaus Kipf, München Claudia Kock Marti, Engi Cyril Koller, Zürich Manfred Komorowski, Duisburg Stefan Kratochwil, Jena Wilhelm Kühlmann, Heidelberg



Tabula Gratulatoria

Ursula Kundert, Kiel Odo Lang, Einsiedel Schwester Judith Lautenschlager, Seedorf Ulrich G. Leinsle, Regensburg Susanne und Hans Lenz, Näfels Urs Leu, Zürich Harald S. Liehr, Weimar Jan Loop, London Marianne Luginbühl, Frauenfeld Anett Lütteken, Zürich Wolfgang Mährle, Stuttgart Gisela Mandl, Netstal Veronika Marschall, Frankfurt a. M. Thomas Marti, Engi Franz Mauelshagen, Essen Fridolin und Rosmarie Meier, Engi Paul Michel, Zürich Antje Mißfeldt, Kiel Kurt Mühlberger, Wien Günter Mühlpfordt, Halle a. d. Saale Clemens Müller, St. Gallen Martin Mulsow, Erfurt Lothar Mundt, Berlin Cecilia Muratori, München Guido Naschert, Gotha Rüdiger Otto, Leipzig Ursula Paintner, Berlin Ralf Päsler, Marburg Michael Philipp, Augsburg Dorette und Frowin Pirovino, Hombrechtikon Riccardo Pozzo, Rom Ulrich Rasche, Wien Cornelia Rémi, München Jesko Reiling, Bern Fritz Rigendinger, Glarus Alexander Roediger, Zürich

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Tabula Gratulatoria

August Rohr, Diesbach Udo Roth, München Jean-Luc Rouiller, Lausanne Martin Schmeisser, München Pater Oktavian Schmucki, Luzern Karl Schmuki, St. Gallen Klaus Schreiber, Stuttgart Christian Schweizer, Luzern Rainer C. Schwinges, Bern Sigrid und Gustav Adolf Seeck, Kiel Robert Seidel, Frankfurt a. M. Birgit und Daniel Seidenberg, Märwil Joasch Seidenberg, Kreuzlingen Gideon Stiening, München Rolf Stöckli, Engi Hans-Christoph Surkau, Greven Anette Syndikus, München Arvo Tering, Tartu Francesco Tomasoni, Roncadelle Ernst Tremp, Sankt Gallen Maria Tuggener, Uster Markus Völkel, Rostock Friedrich Vollhardt, München Doris und Peter Walser-Wilhelm, Dietikon Axel E. Walter, Klaipeda André Weibel, Erlenbach Schwester Margaritha Weiss, Schwyz Trautel Weissenbach, Märwil Reinhard Wenzel, Celle Dirk Werle, Leipzig Helmut Zedelmeier, München Bernd Zegowitz, Frankfurt a. M. Stadtbibliothek Schaffhausen Stiftsarchiv Engelberg Stiftsbibliothek Engelberg

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII I. Dichtung und Gelehrsamkeit Kurt Mühlberger Universitätsgründung und Landesfürstentum am Beispiel der Alma Mater . Rudolfina Vindobonensis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Martin Schmeisser und Gideon Stiening Positive oder negative Utopie? Das ambivalente Bild der femina docta in Erasmus’ Colloquium Abbatis et Eruditae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Anette Syndikus: Gespräch und Erkenntnis – Frauenfiguren in den Dialogen des Erasmus . von Rotterdam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Urs B. Leu Die Privatbibliothek des Theologen und Hebraisten Konrad Pellikan (1478–1556) 58 Jesko Reiling Vom Exemplum der Treue zum Skandalon. Der Graf von Gleichen-Stoff . in der Literatur vom 16. bis 19. Jahrhundert (J. Manlius, A. Hondorff, . Chr. Hoffmann von Hoffmannswaldau, P. Bayle, J. W. v. Goethe, J. K. A. Musäus, L. Bechstein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 P. Oktavian Schmucki Die Urbibliothek im Kapuzinerkloster Luzern – Gestiftet 1585 von Ritter . Kaspar Pfyffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Cecilia Muratori Sutores ultra crepidam. Die Debatte über Schwärmerei und Schusterei im Anschluss an Jakob Böhme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Dietrich Blaufuß Philipp Jacob Spener – Elias Veiel. Ein Postskriptum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

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Inhalt

Wolfgang Mährle Casa Sveva. Pietro Giannones Bewertung der Kaiser und Könige aus dem Haus Hohenstaufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Bernd Zegowitz Pietismus light – Abraham Kyburz’ Lehrgedicht Theologia naturalis et experimentalis (1754) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Reinhard Breymayer Friedrich Christoph Steinhofer – ein pietistischer Theologe zwischen Oetinger, Zinzendorf und Goethe. Mit der Lösung eines quellenkritischen Problems bei . Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Christian Schweizer Der Schulpräfekt Apollinaris Morel. Vom Jesuitenschüler zum Kapuzinergelehrten 231 Ursula Caflisch-Schnetzler Die Beziehung Johann Caspar Lavaters zum Fürstenhof in Dessau, festgehalten in Anekdoten, Tagebüchern und Briefen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Klaus Garber Bibliotheksreisen durch den alten deutschen Sprachraum, das Handbuch Historischer Buchbestände in der Schweiz und Perspektiven eines Forschungsprojekts zum reformierten oberrheinischen Kulturraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 II. Disputationskultur Clemens Müller Disputationstexte der medizinischen Fakultät Wien aus dem frühen . 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Joseph S. Freedman Philosophy Instruction, the Philosophy Concept, and Philosophy Disputations Published at the University of Ingolstadt, c. 1550–c. 1650 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Riccardo Pozzo Helmstedter Disputationen im Umkreis von Johannes Caselius . . . . . . . . . . . . . . . 363 Wilhelm Kühlmann Zu einer Tübinger Brot- und Butterdisputation. Der Theologe, Schulmeister und Dichter Ulrich Bollinger (1568–1612) über die menschliche Seele (1594) . . . . . . . 372

Inhalt

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Manfred Komorowski Die Universität Orléans im 17. Jahrhundert: ihre Bedeutung für Juristen aus dem deutschsprachigen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Bernhart Jähnig Disputationen als Quelle für den Schülerkreis des Universitätsgelehrten . Johannes Gisenius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Ursula Paintner Zum Nutzen der akademischen Jugend – Zwei antijesuitische Gymnasial- . disputationen von Johann Matthäus Meyfart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 Donald Felipe Notes On Some Early Disputation Handbooks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 Arvo Tering Zur frühen Rezeption von Harveys Theorie des Blutkreislaufs im deutschen . Sprachraum. Eine apologetische Disputation in Königsberg aus dem Jahre 1651 . . 461 Marion Gindhart Erhard Weigels pro-loco-Disputation in Jena über den Kometen von 1652. . Ein Paradigma für die Polyfunktionalität frühneuzeitlicher Disputationen . . . . . . . 482 Jan-Andrea Bernhard Ungarische Studenten disputieren über die Confessio Helvetica posterior (1566) im Vorfeld der Formula consensus (1675). Ein theologie- und kommunikationsgeschichtlicher Beitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Michael Philipp Gescheiterte ratio status. Wilhelm von Schröters Dissertatio academica von 1663 . . . 540 Robert Seidel Frühneuzeitliche Parodiedebatten im Medium akademischer Disputationen – . Das Exercitium philologicum de parodia (Leipzig 1671), die Disputatio de parodia (Uppsala 1776) und das theoriegeschichtliche Umfeld . . . . . . . . . . . . . . 563 Herbert Jaumann Jakob Thomasius, ein protestantischer Späthumanist. Seine Dissertationes und Programmata zur Philosophiegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587

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Inhalt

Reimund B. Sdzuj Tulliopolis – Das Projekt einer Civitas latina im Spiegel des akademischen Kleinschrifttums um 1700 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604 Frank Grunert De philosophia sutoria – Die „Böhme-Dissertation“ von Christian Thomasius und ihr Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621 Wiebke Hemmerling Das akademische Journal. Zum Nachrichtenwert von Dissertationen in den . Periodika des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 Ulrich G. Leinsle „impune disceptant theologi“. Der Wandel der Disputation in der Spätzeit des Hausstudiums der Prämonstratenserabtei Speinshart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650 Ulrich Rasche Cui bono? Doktorpromotionen ungarländischer Studenten in Jena 1789–1819 . . . . 672 Dirk Werle Lyriktheorie ‚um 1800‘ an der Universität Greifswald: . Benjamin Lundelius’ Dissertation De poesi lyrica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702 Hanspeter Marti: Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716 Register der Personennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736

Vorwort Am 8. Juni 2012 wird Hanspeter Marti 65 Jahre alt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die auf eine erfolgreiche Laufbahn zurückblicken, sich durch herausragende fachliche Leistungen – in der Tiefe wie in der Breite – auszeichnen und für eine Anzahl von Schülern und Weggefährten maßgebliche Anregungen zu eigener wissenschaftlicher Tätigkeit geben, pflegen aus Anlass eines solchen Jahrestages mit Festschriften geehrt zu werden. Im Rahmen einer längst überfälligen Enthierarchisierung des Forschungsbetriebs verfestigt sich in den letzten Jahren die Tendenz, diese Ehre nicht nur etablierten Professorinnen und Professoren zuteil werden zu lassen, sondern ohne Ansehen der akademischen Stellung nur das wissenschaftliche Renommee einer Person und die Originalität ihrer Forschungsbeiträge als Kriterien für die Herausgabe einer Festschrift anzusetzen. Hanspeter Marti ist ein würdiger Jubilar. Er hat sein ganzes bisheriges Leben der Wissenschaft gewidmet, teilweise unter schwierigen äußeren Bedingungen, meist aber unter dem Dach angesehener Forschungseinrichtungen, die ebenso auf seine Kompetenz angewiesen waren, wie sie ihm Freiräume für seine besonderen, vom akademischen mainstream zuweilen abweichenden Aktivitäten schufen. Als Germanist mit weit über das Fach hinausreichenden Kompetenzen, die als ‚Zusatzqualifikationen‘ abzutun eine unverzeihliche Untertreibung wäre, überblickt er die gesamte Frühe Neuzeit in allen ihren kulturellen Formationen bis weit in das 18. Jahrhundert hinein. Mit der interdisziplinären Erschließung von Thesendrucken (dissertationes), die als Grundlage zu akademischen Disputationen in den später als Geisteswissenschaften bezeichneten Fächern dienten, hat er über drei Jahrzehnte praktisch im Alleingang ein höchst ergiebiges Forschungsfeld von außerordentlicher wissenschaftshistorischer Relevanz etabliert, das im Jahre 2010 durch die Einrichtung einer DFG-Arbeitsstelle gewissermaßen forschungspolitisch geadelt wurde. Es gibt heute keine wissenschaftliche Tagung, keine Sammelpublikation zum Bereich des frühneuzeitlichen Universitätswesens, die nicht von Hanspeter Marti durch einen Beitrag zur Disputationskultur bereichert würde. In diesem Zusammenhang steht auch die katalysatorische Funktion von Martis Studien, haben sich doch, angeregt durch seine beeindruckenden Auftritte bei Konferenzen und seine grundlegenden, materialreichen Arbeiten, zahlreiche Forscherinnen und Forscher auch aus der jüngeren Generation für diesen zentralen Gegenstand frühneuzeitlicher Kulturgeschichte begeistert und mit eigenen Arbeiten Martis Studien ergänzt und fortgeführt. 35 Beiträgerinnen und Beiträger aus Italien, Estland, Österreich, der Schweiz, den USA und Deutschland sowie zahllose Gratulanten, deren Namen in der Tabula Gratulatoria zu lesen sind, erweisen in dieser Festschrift dem Forscher, Anreger und Freund Hanspeter Marti ihre Reverenz. Bevor wir das Konzept des Bandes kurz vorstellen, soll die wissenschaftliche Biographie des Jubilars in aller Kürze rekapituliert werden. Hanspeter Marti wurde am 8. Juni 1947 in Glarus geboren und wuchs in dem zum gleichnamigen

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Vorwort

Schweizer Gebirgskanton gehörenden Dorf Engi auf. Seine Eltern waren dort Posthalter, und bis heute ist die imposante „Alte Post“ in Engi für ihn idyllischer Rückzugsraum, Standort einer ausgezeichnet sortierten Spezialbibliothek und Sitz der von ihm und seiner Frau Karin Marti-Weissenbach begründeten Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen. Marti studierte ab 1968 Germanistik, Romanistik und Geschichte an den Universitäten Basel und Genf, 1975 legte er in Basel unter Karl Pestalozzi das Lizentiatenexamen ab und verfasste dafür eine Studie mit dem Titel Schiller als Literaturkritiker in der Abhandlung ‚Über naive und sentimentalische Dichtung‘. Nach einem einjährigen Aufenthalt in Montpellier, während dem sich Marti vorwiegend mit lateinischen Dissertationen zu den Nachwirkungen der Querelle des anciens et des modernes beschäftigt hatte, entschied er sich, diese Textgattung besser zugänglich zu machen. Daraus entstand, wiederum bei Karl Pestalozzi, seine bis heute viel genutzte Dissertation Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660–1750, die 1980 eingereicht wurde. Kurz vor dem Abschluss dieser Arbeit trat er eine Stelle als Lehrer für Deutsch, Französisch, Geschichte und Mathematik am Gymnasium in Engelberg (Kanton Obwalden) an, die er bis 1990 innehatte. Seit 1985 arbeitete Hanspeter Marti an verschiedenen wissenschaftlichen Großprojekten mit, die teils vom Schweizerischen Nationalfonds, teils von ausländischen Förderinstitutionen finanziert wurden und durchweg in umfangreiche Publikationen mündeten. Sie finden sich zusammen mit allen übrigen Arbeiten des Jubilars im umfangreichen Schriftenverzeichnis am Ende des vorliegenden Bandes aufgeführt. Herauszuheben sind unter Martis vielfältigen Forschungsaktivitäten die – teilweise federführende – Mitwirkung am Projekt Index der Deutschschweizer Zeitschriften, am Historischen Lexikon der Schweiz (Themenbereiche Wissenschaftsgeschichte 16.–18. Jahrhundert und Aufklärung), am trilateralen, Deutschland, Österreich und die Schweiz umfassenden Unternehmen Kulturelle Ausgleichsprozesse im Spiegel der gelehrten Bibliotheken der deutschsprachigen katholischen Länder 1750–1800, am Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds Klosterkultur und Aufklärung in der Benediktinerabtei St. Gallen und am ebenfalls vom Nationalfonds geförderten Handbuch der historischen Buchbestände in der Schweiz (als Koordinator für die gesamte Deutschschweiz). Derzeit ist er an einem Projekt zur Erschließung frühneuzeitlicher Dissertationen (Thesendrucke) zur Rhetorik, Poetik und Ästhetik an den Universi- . täten des Alten Reiches beschäftigt. Hanspeter Martis wissenschaftliche Tätigkeit fand große Anerkennung, was sich in Auszeichnungen und Stipendien manifestiert. Schon 1976 erhielt er für seine Lizentiatsarbeit die Jacob Burckhardt-Auszeichnung der Johann Wolfgang von Goethe-Stiftung in Basel. Es folgten ein 1991 gewährtes Jahresstipendium des Basler Fonds zur Förderung von Lehre und Forschung für Studien über den radikalen Pietisten Gottfried Arnold sowie die 1999 verliehene Ehrengabe der Martin Bodmer-Stiftung für einen Gottfried KellerPreis, Zürich, die ihm für seine wissenschaftlichen und kulturellen Aktivitäten zuteil wurde. Das Erscheinen des von ihm mitherausgegebenen dreibändigen Handbuchs der historischen Buchbestände in der Schweiz, das am 8. Dezember 2011 unter reger öffentlicher Anteilnahme in Bern gefeiert wurde, setzt einen vorläufigen Schlussstein unter Martis

Vorwort

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jahrzehntelanges Engagement um eine Erschließung der vielfältigen buchgeschichtlichen Überlieferung in der Schweiz. Einen besonderen Schwerpunkt in Martis Forschungsaktivitäten bildet die Universitätsgeschichte. In ebenso anregenden wie hochspezialisierten Konferenzen, die die von ihm aufgebaute Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen im landschaftlich reizvollen Ambiente der Glarner Bergwelt ausrichtete, wurde im vergangenen Jahrzehnt die frühneuzeitliche Geschichte der Universitäten und Hohen Schulen in Leipzig (2001), Königsberg (2006), Zürich (2009) und Altdorf (2011) systematisch untersucht. Alle Tagungsreferate wurden bzw. werden in hervorragend redigierten Bänden durch die von Marti geleitete Arbeitsstelle publiziert. Als Hanspeter Martis eigentliches ‚Lebenswerk‘ wird man allerdings zweifellos die Bemühungen um die Erschließung der frühneuzeitlichen Disputationskultur, vor allem ihrer materiellen Hinterlassenschaft, bezeichnen können. Schon Ende der 1970er Jahre begann er mit der systematischen bibliographischen Erfassung sogenannter ‚philosophischer Dissertationen‘, also jener Disputationsdrucke, deren Thesen an den ArtesFakultäten deutscher Universitäten zwischen 1660 und 1750 verteidigt wurden. Nach dem Erscheinen seiner Dissertationenbibliographie 1982 führte er die textsortenbezogene Quellenrecherche fort, machte in verschiedenen Arbeiten auf die Besonderheiten (z. B. Verfasserschaft, Lateinsprachigkeit) und die Bedeutung der alten Dissertationen etwa für die Rhetorikgeschichte und für den akademischen Unterricht aufmerksam, edierte einzelne Stücke zu spezifischen Themen (z. B. Pietismusgeschichte, Poetologie) oder analysierte sie im Hinblick auf die darin verhandelten Wissensbestände. In Artikeln für das Historische Wörterbuch der Rhetorik dokumentierte und reflektierte er den aktuellen Forschungsstand. In den letzten zehn Jahren verlagerten sich die einschlägigen Untersuchungen auf die Rolle der frühneuzeitlichen Dissertation innerhalb einzelner Hoher Schulen (Zürich: Carolinum) und Universitäten (Leipzig, Halle, Königsberg, Duisburg). Zusammen mit Manfred Komorowski baute Marti eine Datenbank auf, die detaillierte bibliographische Nachweise zu rund 5000 Königsberger Dissertationen von der Gründungszeit der Albertina bis zum Jahr 1885 enthält und auf der website seiner Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen allgemein zugänglich ist. War Marti zuvor bestrebt, das alte Hochschulschrifttum in Form von Überblicksdarstellungen oder durch detaillierte Analysen ausgewählter Einzeltexte der wissenschaftshistorischen Forschung bekannt zu machen, so weitet die genannte Datenbank die gezielte inhaltliche Analyse auf umfangreiche Quellencorpora aus und kombiniert bio-bibliographische Aspekte mit institutions- und wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellungen. Noch einen Schritt weiter geht das von ihm mitinitiierte Forschungsprojekt Wissenschaftshistorische Erschließung frühneuzeitlicher Dissertationen zur Rhetorik, Poetik und Ästhetik an den Universitäten des Alten Reiches, das die systematische Aufarbeitung einschlägiger Thesendrucke in Form eines Repertoriums zum Gegenstand hat. Hier werden Anlass, Struktur, Argumentation und gelehrtengeschichtliches Umfeld ausgewählter Drucke analysiert. Mit diesen Forschungen kehrt Hanspeter Marti auch zu

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Vorwort

seinen literaturwissenschaftlichen Anfängen zurück, denn ein nicht unbedeutender Aspekt der Projektarbeit zielt auf die Dokumentation einer ‚Germanistik‘ avant la lettre, also auf die Erforschung der Vorgeschichte dieser erst seit dem 19. Jahrhundert als solcher etablierten Disziplin. Der Titel des Bandes Dichtung, Gelehrsamkeit, Disputationskultur veranschaulicht stichpunktartig die vorrangigen Interessen des Jubilars. Dabei markiert ‚Dichtung‘ den literaturwissenschaftlichen Ausgangspunkt von Hanspeter Martis Forschungen, während ‚Gelehrsamkeit‘ die interdisziplinäre wissenschaftsgeschichtliche Ausrichtung und ‚Disputationskultur‘ die originäre Schwerpunktbildung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit beschreibt. Den Herausgebern war daran gelegen, die katalysatorische Wirkung zu dokumentieren, die Marti mit seinen Studien zum Disputationswesen auslöste, und deshalb ermutigten sie die Beiträgerinnen und Beiträger, nach Möglichkeit etwas aus diesem Bereich zur Verfügung zu stellen. Dass mehr als die Hälfte der Autorinnen und Autoren diesem Wunsch gefolgt sind und teils Fallstudien, teils übergreifende Untersuchungen zu Disputationen aus dem Zeitraum vom frühen 16. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert zur Verfügung gestellt haben, ist umso erstaunlicher, als ja nicht nur ausgewiesene Spezialisten, sondern Personen auch aus dem weiteren wissenschaftlichen Umfeld des Geehrten zur Mitarbeit eingeladen wurden. Dass sich so viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland heute kompetent mit den alten Dissertationen des deutschen Kulturbereichs beschäftigen, ist nicht zum Geringsten eben das Verdienst des Jubilars. Unter ‚Dichtung und Gelehrsamkeit‘ sind alle diejenigen Beiträge versammelt, die sich nicht oder nicht vorrangig mit Disputationen beschäftigen. Auch sie formen ein relativ homogenes Corpus, da sie einerseits – cum grano salis – allesamt Themen aus dem Bereich der Frühen Neuzeit behandeln, andererseits einen starken Akzent auf die Buch- und Gelehrtengeschichte legen. Wenn die Herausgeber den Terminus ‚Dichtung‘ gleichberechtigt neben den beiden anderen Schlagwörtern positionieren, so ist damit vor allem der Appell an die Leser verbunden, den herkömmlichen Literaturbegriff kritisch zu überdenken und damit erneut dem Jubilar ein Stück auf seinem intellektuellen Lebensweg zu folgen. Für Hanspeter Marti, der vor sechzehn Jahren eine allen modischen Konjunkturen trotzende Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen gegründet und sie allmählich zu einer international anerkannten Institution ausgebaut hat, verbindet sich mit dem Terminus ‚Kulturwissenschaft‘ ein Paradigma, das das Zusammenspiel der institutionellen Verankerung, medialen Kommunikation und materiellen Tradierung von Wissensbeständen analytisch erfasst. Dass sich in diesen Überlieferungszusammenhängen das literarische Element nicht im Sinne kanonischer Höhenkammdichtung fassen lässt, dürfte kaum verwundern. – In beiden Sektionen des Bandes werden die Beiträge gemäß der ungefähren Chronologie ihrer Gegenstände präsentiert. Die Herausgeber überreichen – zugleich im Namen aller Beiträgerinnen und Beiträger – dem Jubilar diese Festschrift als Anerkennung für seine wissenschaftlichen Leistungen, für sein Engagement in vielfältigen Bereichen gerade auch der außerakademischen For-

Vorwort

XVII

schung und für seine unermüdliche Unterstützung zahlloser Einzelprojekte, zu deren Erfolg er mit konzeptionellem Rat ebenso wie mit Hinweisen auf entlegene Quellen und Forschungsliteratur maßgeblich beigetragen hat. Wir wünschen Hanspeter Marti viel Glück, Gesundheit und Erfolg bei seiner Forschungstätigkeit in den Glarner Bergen und anderswo. Frankfurt am Main, im Frühjahr 2012 Reimund B. Sdzuj Robert Seidel Bernd Zegowitz

Kurt Mühlberger (Wien)

Universitätsgründung und Landesfürstentum am Beispiel der Alma Mater Rudolfina Vindobonensis I. Länder, Dynastien, Universitäten Um die Mitte des 14. Jahrhunderts bestanden etwa 30 Universitäten in Europa, die im Wesentlichen seit etwa 1200 ohne formalen Stiftungsakt durch spontane Initiativen der Lehrer, der Scholaren oder auch beider Gruppen zumeist in der Nachfolge von Dom- und Klosterschulen nach und nach entstanden sind (universitates ex consuetudine). Paris galt als das ‚Mekka‘ der Theologen und Artisten, Bologna besonders als Zentrum der Rechtsgelehrten. Wir sprechen von der ‚universalen Phase‘ der älteren Universitätsgeschichte, in der die treibenden Kräfte vor allem die Akteure des Studiums selbst waren. Das Bedürfnis nach gelehrtem Wissen und Schutz der Person in einem zumeist städtischen, oft fremden Umfeld führte zur Bildung der frühen universitären Personenverbände.1 Ähnliches hat sich in Mittel- und Osteuropa nicht eigenständig entwickelt. Hier bedurfte es der ‚großen Dynastien‘, welche den Wert der gelehrten Bildung erkannten und die Etablierung der hohen Schulen in der Rechtsform der älteren west- und südeuropäischen universitates gegen regionale Widerstände durchzusetzen vermochten.2 Schon im letzten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts gab es den ersten Anlauf, diesen Mangel im Wege einer fürstlichen Stiftung zu beheben. Es war der Versuch zur Errichtung einer Universität in Prag unter König Wenzel II. (1278–1305), welcher jedoch am Widerspruch des Landesadels, der eine deutliche Stärkung des klerikalen Einflusses im Lande befürchtete, scheiterte. In diesem Zusammenhang scheint seitens des böhmischen Königs bereits der modern anmutende Gedanke der „landesherrlichen Durchdringung seines eigenen Territoriums“ mit Hilfe universitär gebildeter Kräfte eine Rolle gespielt haben.3 Wir befinden uns am Übergang vom ursprünglich ‚gewachsenen‘ Universitätstypus zur ersten Phase der Stiftungsuniversitäten (universitas ex privilegio) im ‚regional-nationalen Zeitalter‘, in dem 1 Vgl. Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa. Bd. 1: Mittelalter. München 1993. 2 Vgl. Peter Moraw: Die Universität Prag im Mittelalter. Grundzüge ihrer Geschichte im europäischen Zusammenhang. In: Die Universität zu Prag. München 1986 (Schriften der Sudentendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste 7), S. 9–134, bes. S. 22–26. 3 Frank Rexroth: Deutsche Universitätsstiftungen von Prag bis Köln. Die Intentionen des Stifters und die Wege und Chancen ihrer Verwirklichung im spätmittelalterlichen deutschen Territorialstaat. Köln u. a. 1992 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 34), S. 83.

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Kurt Mühlberger

ein dichteres Universitätsnetz geknüpft wurde und eine stärkere Regionalisierung bzw. Verengung der Einzugsbereiche erfolgte. „Beziehungen zu Fürstenhof und Residenz, Einzugsgebiet der Universität und fürstliches Territorium bewegten sich aufeinander zu und gelangten zunehmend zur Deckung.“4 Die Initiativen zur Einrichtung hoher Schulen übernahmen nunmehr nicht Magistri und Scholaren selbst, sondern Landesfürsten und Kommunen. Mit der Gründung der Universität Prag 1347/48 hatte der ‚erste gelehrte Monarch‘, König Karl IV. (ab 1355 römisch-deutscher Kaiser), schließlich ein Generalstudium mit vier Fakultäten nördlich der Alpen geschaffen. Prag, die alte Bischofsstadt mit langer schulischer Tradition, war Zentrum der luxemburgischen Herrschaft. Neben der politischen und kirchlichen Zentralfunktion wurde ihre Stellung als überregionale Bildungsmetropole untermauert. Damit war ein wichtiger Schritt zur Nahversorgung des von den westeuropäischen Bildungszentren weit entfernten Raumes erfolgt. Gleichzeitig wurde bislang bildungsfernen Kreisen der Zugang zu wissenschaftlicher Bildung erleichtert und die Formierung künftiger politischer Eliten, die nicht bloß durch ihre adelige Herkunft für hohe Ämter prädestiniert sein würden, begünstigt. An der Herausbildung des Landesfürstentums und des sich in der Folge allmählich „formierenden institutionellen Territorialstaates“ waren universitär gebildete Sekretäre, Diplomaten und Juristen führend beteiligt.5 Die Prager Gründung war eine Erfolgsgeschichte, auch wenn sie in den ersten Dezennien bloß in bescheidenem Rahmen realisiert wurde und heute nicht mehr als „die Mutter“ der deutschen Universitäten, sondern bestenfalls als ihre „Stiefmutter“ (Moraw) charakterisiert wird. Trotzdem hatte sie grundsätzliche Bedeutung für Mittel- und Osteuropa und war gleichsam der Startschuss bzw. Katalysator für die nachfolgenden regen Stiftungsbemühungen in den Territorien des Reiches und darüber hinaus, wenn sie auch zum Teil im ersten Anlauf an den Rahmenbedingungen scheiterten oder ähnlich wie Prag vorerst bloß eine bescheidene Existenz fristeten. Der in Mitteleuropa bald vorherrschende Typus der Vierfakultäten-Universität wurde von hier bzw. seinem Pariser Vorbild übernommen und den jeweiligen regionalen Bedürfnissen angepasst.6 4 Wolfgang E. Wagner: Von der „Natio“ zur Nation? Die nationes – Konflikte in den Kollegien der mittelalterlichen Universitäten Prag und Wien im Vergleich. In: Mensch – Wissenschaft – Magie. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 20 (2000), S. 141–162, hier S. 162; mit Bezug auf Peter Moraw: Die Prager Universitäten des Mittelalters. Perspektiven von gestern und heute. In: Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für František Graus. Hg. von Susanna Burghartz. Sigmaringen 1992, S. 109–123, bes. S. 123. 5 Wagner (wie Anm. 4), S. 145f. 6 Vgl. dazu Frank Rexroth: „... damit die ganze Schule Ruf und Ruhm gewinne“. Vom umstrittenen Transfer des Pariser Universitätsmodells nach Deutschland. In: Deutschland und der Westen Europas im Mittelalter. Hg. von Joachim Ehlers. Stuttgart 2002, S. 507–532; Moraw (wie Anm. 2), . S. 9–134; ders.: Die Prager Universitäten des Mittelalters im europäischen Zusammenhang. In: Vorträge und Abhandlungen aus geisteswissenschaftlichen Bereichen. München 1999 (Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste 20), S. 97–129.

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Führende europäische Dynastien eiferten dem Luxemburgischen Kaiser Karl IV. nach, so die Jagiellonen (Kasimir der Große, 1364 Krakau), die Habsburger (Rudolf IV., 1365 Wien), die Anjou (Ludwig der Große, 1367 Pécs / Fünfkirchen ), die Wittelsbacher (Ruprecht I. von der Pfalz, 1386 Heidelberg) und neuerlich die Luxemburger (Sigismund, 1395 Buda/Altofen). Aber auch Kommunen setzten Initiativen zu Universitätsgründungen wie die Städte Erfurt (1379) und Köln (1388).7 Neben der luxemburgischen gab es eine habsburgische Erfolgsgeschichte im Bildungsbereich, die für die politische und kulturelle Entwicklung des Donauraumes Bedeutung hatte. Das ehemalige Grafengeschlecht aus dem Aargau hatte reiche Allodial- und Lehengüter sowie Kirchenvogteien besessen. Es beherrschte aber lange Zeit kein geschlossenes Territorium. Mit der Wahl Rudolfs von Habsburg zum König im Jahre 1273 und der siegreichen Schlacht bei Dürnkrut nahe der Marchgrenze gegen seinen Widersacher König Ottokar II. Przemysl von Böhmen (1253–1278) gelangte der habsburgische König im Jahre 1278 in den Besitz der Herzogtümer Österreich, Steiermark, Kärnten und Krain. Als römisch-deutscher König übernahm er diese Herzogtümer für das Reich, belehnte damit aber seine Söhne Albrecht I. und Rudolf II. Damit begann die Ausdehnung der habsburgischen Herrschaft in den Ostalpen- und Donauraum, welche die Grundlage ihrer künftigen Hausmachtpolitik wurde.8 Mit dieser Politik standen die Habsburger in Konkurrenz zu anderen Dynastien, insbesondere zu den Wittelsbachern und den Luxemburgern. In der „Goldenen Bulle“ von 1356, jenem Grundgesetz, das die Königswahl im Reich ordnete, waren die Habsburger unberücksichtig geblieben.9 Kaiser Karl IV. hatte damit nicht nur das Wahlverfahren geregelt, sondern auch das Kurfürstenkolleg festgelegt. Als gravierendste Änderung erscheint die Einschränkung des Wahlrechtes auf sieben Kurfürsten: die Erzbischöfe von Köln, Mainz und Trier, den Pfalzgrafen bei Rhein, den Herzog von Sachsen, den Markgrafen von Brandenburg und den König von Böhmen. Wittelsbacher und Habsburger wurden ausgeschlossen. Der spätere Wiener Universitätsstifter, Herzog Rudolf IV., hatte dies – damals im Alter von 17 Jahren – als schmerzhafte Herabsetzung seiner ehemals königlichen Dynastie empfunden. Er war in der Folge bestrebt, diesen Mangel mit allen Mitteln zu beseitigen oder zumindest auszugleichen. Als Zwanzigjähriger trat der junge Fürst die Herrschaft in Österreich an (1358). Sie sollte zwar bloß sieben Jahre dauern, hinterließ aber unübersehbare Spuren in der politischen und kulturellen Landschaft. Herzog Rudolf IV. von Habsburg, später genannt ‚der Stifter‘, gilt als einer der begabtesten, merk-

7 Vgl. Rüegg (wie Anm. 1). 8 Vgl. Alois Niederstätter: Die Herrschaft Österreich. Fürst und Land im Spätmittelalter. Wien 2001 (Österreichische Geschichte), S. 63–104. 9 Vgl. Erich Zöllner: Geschichte Österreichs. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wien / München 81990, S. 128–136, bes. S. 131.

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würdigsten, vielfach umstrittenen, aber auch erfolgreichsten österreichischen Landesfürsten des Spätmittelalters.10

II. Herzog Rudolf IV., der Stifter Der kaiserliche Schwiegersohn gilt als höchst ehrgeizig, eitel und prunksüchtig sowie als betont zielstrebig. Seine politischen Ziele verfolgte er rücksichtslos unter Ausschöpfung aller denkbaren Möglichkeiten. In dieses Bild fügt sich durchaus konsequent der von ihm hervorgebrachte Komplex der sogenannten „österreichischen Freiheitsbriefe“.11 Dieser bestand aus fünf Urkundenfälschungen, die in der herzoglichen Kanzlei hergestellt wurden. In einem Kaiser Heinrich IV. zugeschriebenen Diplom waren angeblich von Julius Caesar und Nero verliehene Privilegien zugunsten Österreichs inseriert. Francesco Petrarca hat die Urkunde als Fälschung entlarvt. Hingegen diente ein echtes Barbarossa-Privileg von 1156 (Privilegium minus) als Grundlage für ein wesentlich inhaltsreicheres Falsifikat, das als Privilegium maius den österreichischen Herzogen große Vorrechte einräumte. Dieses Diplom erlangte schließlich 1453 unter Kaiser Friedrich III. mit Zustimmung der Kurfürsten reichsrechtliche Anerkennung. Der jugendliche Herzog Rudolf hatte mit dieser ‚Selbsthilfe‘ den Versuch unternommen, dem ehemals königlichen Rang seiner Dynastie Geltung zu verschaffen und seine Herrschaft vom Reich weitgehend zu emanzipieren. Während seiner Regierung gelangen bedeutende Gebietserwerbungen – wie z. B. Tirols im Jahr 1363 – oder zumindest deren Anbahnung. Angestrebt wurde unter anderem eine territoriale Verbindung zwischen den ‚Vorlanden‘, den althabsburgischen Besitzungen, und den Erblanden im Südosten. Schließlich träumte er von einem österreichischen Königtum, in welchem Wien die Rolle des geistlichen, geistigen und politischen Zentrums zugedacht war.12 Für die Realisierung der Gründung eines Generalstudiums gab es durchaus günstige Voraussetzungen in Wien. Dazu gehörten die verkehrsgünstige Lage der Stadt und die erfolgreiche alte Schultradition bei Sankt Stefan. Die ehemalige Pfarrschule hatte längst den Charakter eines Partikularstudiums erlangt, an dem namhafte Persönlichkeiten gelehrt hatten. Außerdem gab es öffentliche Latein- bzw. Pfarr- und Klosterschulen bei St. Michael, im Bürgerspital und im Schottenkloster neben den Hausstudien der Bettelorden 10 Zur Biographie vgl. Alfons Huber: Geschichte des Herzogs Rudolf IV. von Oesterreich. Innsbruck 1865; Ernst Karl Winter: Rudolf IV. von Österreich. 2 Bde. Wien 1934–35; Alphons Lhotsky: Die Problematik der geschichtlichen Erscheinung Rudolfs IV. In: Aufsätze und Vorträge 5 (1976) . S. 127–142; Wilhelm Baum: Rudolf IV. der Stifter. Seine Welt und seine Zeit. Graz u. a. 1996; Eine Übersicht zur Ära Rudolfs IV. (1358–1365) vgl. Peter Csendes und Ferdinand Opll: Geschichte Wiens im Mittelalter. In: Wien. Geschichte einer Stadt. Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Ersten Türkenbelagerung (1529). Hg. von dens. Wien u. a. 2001, S. 95–198, bes. S. 125–149. 11 Niederstätter (wie Anm. 8), S. 146–151. 12 Vgl. ebd., S. 149; Zöllner (wie Anm. 9), S. 128–136.

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(Augustiner Eremiten, Dominikaner, Franziskaner und Karmeliten) und den internen Schulen der Frauenklöster (St. Niklaskloster, St. Maria Magdalena vor dem Schottentor, St. Jakob auf der Hülben).13 Hingegen bestand ein nicht unwesentlicher Mangel durch das Fehlen eines Bischofsitzes am Ort. Der zuständige Diözesanbischof residierte in Passau. Dort war das Bildungszentrum für den österreichischen Klerus. Rudolf griff aus diesem Grund den alten Plan einer Wiener Bistumsgründung auf, der letztlich erst ein Jahrhundert später realisiert werden sollte.14 Zumindest wurde der Bau einer Königskathedrale (der späteren Domkirche St. Stefan) in seiner Regierungszeit begonnen und das Kollegiatkapitel bei Sankt Stefan gestiftet. Schließlich hat Rudolf nach dem Prager Vorbild seines Schwiegervaters, Kaiser Karls IV., in Wien ein studium generale nach dem organisatorischen Modell von Paris begründet, dessen Verfassung für Wien jedoch im Detail angepasst wurde.15 Diese Unternehmungen zeugen von enormem politischen Ehrgeiz und persönlicher Durchsetzungskraft. Zweifellos sollten diese Stiftungen nicht zuletzt der ‚Memoria‘, dem ‚Gedächtnis‘ seiner Person und dem Ansehen seiner Dynastie dienen. Sie waren jedoch kostspielig. Das nötige Geld floss aus zum Teil neu eingeführten Steuern (besonders unbeliebt war das zehnprozentige „Ungelt“, eine Wein- und Getränkesteuer). Selbst der Klerus blieb nicht verschont, was dem Herzog den Ruf eines persecutor ecclesiae einbrachte.16 Die enge Einbeziehung des Klerus, des Landesadels und der Wiener Bürgerschaft in das Stiftungs- und Reformgeschehen bot die beste Garantie für die Realisierung landesfürstlicher Ziele. Es sollten der dauernde Bestand der „Personengemeinschaft der Lehrenden und Lernenden“ und zugleich die „Fortdauer des Gedenkens an den Stifter“ gesichert werden. Für diese Zielsetzungen war es von besonderer Bedeutung, „die Stiftung in einem

13 Vgl. Kurt Mühlberger: Schule und Unterricht. In: Wien. Geschichte einer Stadt. Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Ersten Türkenbelagerung (1529). Hg. von Peter Csendes und Ferdinand Opll. Wien u. a. 2001, S. 291–318, bes. S. 296–311. 14 Die Realisierung des alten Bistumsplanes in Wien erfolgte unter Friedrich III. im Jahre 1469. Gleichzeitig wurde auch in Wiener Neustadt ein Bischofssitz errichtet, davor schon 1461 in Laibach. Vgl. Zöllner (wie Anm. 9), S. 149; Niederstätter (wie Anm. 8), S. 349–352. Zur Funktion der Stefanskirche als capella regia Austriaca vgl. Wolfgang Eric Wagner: Universitätsstift und Kollegium in Prag, Wien und Heidelberg. Eine vergleichende Untersuchung spätmittelalterlicher Stiftungen im Spannungsfeld von Herrschaft und Genossenschaft. Berlin 1999 (Europa im Mittelalter 2), S. 91– 96 (mit weiterer Literatur). 15 Vgl. Rudolf Kink: Die kaiserliche Universität zu Wien. Bd. 1/1. Wien 1856, S. 1–18. Der Stiftbrief ebd., Bd. 2, S. 1–24, Nr. 1. Formal müssen Rudolf IV. sowie seine Brüder Albrecht III. und Leopold III. gemeinsam als Stifter der Universität wie auch des Allerheiligenkapitels gesehen werden, da sie gemeinsam Aussteller und Siegler der Gründungsurkunden waren. Vgl. Rexroth (wie Anm. 3), bes. S. 108–146. 16 Vgl. Adolf Bruder: Studien über die Finanzpolitik Herzog Rudolfs IV. von Österreich, 1358–1365. Innsbruck 1886.

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wohlwollenden sozialen Umfeld zu verankern“.17 Auch die landesfürstliche Stadt Wien wurde verpflichtet, bei der Errichtung der Universität einen sichtbaren Beitrag zu leisten. Der Plan war, einen beachtlichen Teil von Wiens Stadtzentrum unmittelbar neben dem fürstlichen Palast als exemtes Territorium aus der Stadt auszugliedern und mit Mauern abzutrennen. Dieser im herzoglichen Stiftbrief sehr genau beschriebene ‚Universitätscampus‘ wurde im Hinblick auf seine künftigen Bewohner als „phaffenstatt“ („locus [...] interclusus“) bezeichnet. Es zeichnete sich ein erheblicher Eingriff in die innerstädtische Siedlungsstruktur und in die Grundechte der Bürger ab. Vier Tage nach der Universitätsgründung unterfertigte der Herzog am 16. März 1365 einen weiteren Stiftbrief für die Errichtung des Kollegiatkapitels zu Sankt Stefan. Aus dem Text dieser Urkunde gehen seine religionspolitischen Motive und der Wunsch nach enger Verknüpfung der beiden Stiftungen hervor. Es heißt dort, der Fürst habe den göttlichen Auftrag, der Christenheit zwei Stiftungen zu errichten: und zwar das Kollegiatstift bei St. Stefan zum Zwecke des Gotteslobes „und die Universität, wo der christliche Glaube gemehret werden soll“.18 Die beiden Stiftungen sollen miteinander dauerhaft verbunden sein. Die Verflechtung mit dem Kollegiatkapitel sowie mit der städtischen Lateinschule (der Bürgerschule zu Sankt Stefan) konnte der Universität die nötige wirtschaftliche Basis und ihren langfristigen Bestand gewährleisten. Im Kapitel wurden acht günstig dotierte Domherrnstellen für die Artisten reserviert. Ehe diese Pläne in die Tat umgesetzt werden konnten, verstarb der ehrgeizige Landesfürst im Alter von nur 25 Jahren, viereinhalb Monate nach Unterzeichnung der Stiftungsurkunden. Das Wiener Studium konnte zwar einen bescheidenen Betrieb auf der Basis des bestehenden Partikularstudiums bei Sankt Stefan aufnehmen, die Realisierung der im Stiftbrief beschriebenen „phaffenstatt“ war jedoch ‚gestorben‘.19

17 Wolfgang Eric Wagner: Landesfürsten und Professoren als Universitätsstifter. Verwendung und Aussagekraft des Fundator-Titels am Beispiel der Universität Wien im Mittelalter, Wien 2002 (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 5), S. 269–294, bes. S. 275–288. 18 Zitiert nach Paul Uiblein: Die österreichischen Landesfürsten und die Wiener Universität im Mittelalter. In: Ders.: Die Universität Wien im Mittelalter, Wien 1999 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs 11), S. 45–74, bes. S. 45–47; Erstdruck in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 72 (1964), S. 382–408, bes. S. 383f., Anm. 7; vgl. auch Kink, Bd. 2 (wie Anm. 15), S. 24f., Nr. 2. 19 Vgl. dazu zuletzt Karl Ubl: Die Universität als Pfaffenstadt. Über ein gescheitertes Projekt Rudolfs IV. In: Die Universität Wien im Konzert europäischer Bildungszentren, 14.–16. Jahrhundert. Hg. von Kurt Mühlberger und Meta Niederkorn-Bruck. Wien / München 2010 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 56), S. 17–26.

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III. Zu den Motiven der Universitätsgründung Der spätmittelalterliche Landesfürst hat die aufwendige Gründung einer Universität vermutlich nicht bloß aus einer singulären Erwägung heraus vorgenommen, vielmehr wird die Initiative auf ein Bündel an Motiven zurückzuführen sein. Hat die ältere Forschung stets die politischen Beweggründe des Herzogs in den Vordergrund gestellt, sein Machtstreben und die Konkurrenz zum kaiserlichen Schwiegervater, so wird in jüngerer Zeit die Idee des „frommen Werkes“, der „Seelgerätstiftung“ und die Sicherung der „Memoria“ stärker betont. Eine innovative Abkehr erfolgte aber auch von der älteren Vorstellung einer einsamen Leistung des Fürsten. Man spricht von einem „interaktivem Prozess“ zwischen dem Stifter und weiteren Interessensgruppen, deren Vertreter sogar mit dem Ehrentitel fundator ausgezeichnet werden konnten.20 Durch die Betonung der politischen Ziele und die stärkere Hervorhebung religiöser Motive könnte man meinen, die Sache selbst, das Studium, der in der älteren Literatur besonders für die frühen Anfänge der Universität beschworene amor scientie, habe – wenn überhaupt – keine Rolle gespielt. In Zeiten gebildeter Fürsten mochte dieser Aspekt vielleicht aber doch Konjunktur erlangt haben. Daneben werden persönliche Interessen des Gründers, seiner Dynastie, aber auch gelehrter Förderer aus seinem Umkreis ins Treffen geführt.21 Im Falle des Wiener Generalstudiums finden wir konkrete Aussagen über die herzoglichen Motive in der Arenga des Rudolfinischen Stiftbriefes.22 Der Fürst fühlt sich aufgrund seiner göttlichen Sendung verpflichtet,

20 Ubl (wie Anm. 19), S. 19; vgl. Wagner (wie Anm. 17) S. 269–294, bes. S. 272. Wagner unterstreicht die große Bedeutung der Professoren im Stiftungsgeschehen (wie etwa Langenstein), die neben den Fürsten als fundatores universitatis gerühmt werden konnten. Vgl. auch Rexroth (wie Anm. 3), S. 5. In Wien wurde diese Ehre jenen beiden Kapazitäten zuteil, die nach Ausbruch des Großen Schismas (1378) von Paris nach Wien berufen werden konnten: Heinrich Heimbuche von Langenstein und Heinrich Totting von Oyta. Sie gelten als Träger der Wiener Reform von 1384. Beide wurden übrigens jüngst mit einer Gedenktafel in St. Stefan für ihre Mitwirkung bei der Gründung der Theologischen Fakultät gewürdigt. 21 Vgl. dagegen Gerda Koller: Princeps in ecclesia. Untersuchungen zur Kirchenpolitik Herzog Albrechts V. von Österreich. Wien 1964 (Archiv für Österreichische Geschichte 124), S. 76: „Denn der Wunsch der Fürsten nach einer Universität im eigenen Lande war kaum identisch mit dem, die Gelehrsamkeit zu fördern, vielmehr stand neben dem wirtschaftlichen Vorteile das Interesse Pate, den splendor des Herrscherhauses zu heben. Wie Karl IV. [1362] unumwunden zugegeben hatte, quod per sapientium eminenciam honor augetur regibus, sacri eciam dyadema imperii potissime decoratur, weshalb er bestrebt sei, numerum sapietium nostris augeri temporibus.“ 22 Die deutsche und die lateinische Fassung ist ediert u. a. bei Paul Uiblein: 600 Jahre Universität Wien. Erinnerungsgabe des Bundesministeriums für Unterricht [...] . Wien / München 1965. Vgl. auch Helmut Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Bd. 1: Von den Anfängen bis in die Zeit des Humanismus. Wien 1982, S. 402–419 (lat.-dt.).

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aufzesetzen und ze stiften solich wesen ordenung und lere in unsern landen, damitte dez ersten unser kristenlicher geloube in aller welt geweitet und gemeret werde, darnach damit gemain guot, rechte gerichte, menschlioch vernunft und beschaidenhait aufneme und wachse, und das durchscheinende liecht goetlicher weishait nach dem influzze des heiligen geistes erleuchte und befruchte aller leute hertzen in solicher mazze, daz ein yeglich weiser mensch vernuenftiger, und ain unweiser zuo menschlicher vernunft in rechte erkantnuosse mit goetlicher lerung bracht und getzogten werde.

An erster Stelle steht also die missionarische Verbreitung des christlichen Glaubens. Damit war wohl eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen des ganzen Unternehmens angesprochen, das von der päpstlichen Zustimmung abhängig war. Gleichwohl wollen wir nicht vergessen: Fürstliche Macht ruhte auf kirchlichen Fundamenten. In der Reihe der landesfürstlichen Gründungsmotive folgt im Text der Gründungsurkunde die Sorge des Herzogs um das Allgemeinwohl der Landeskinder, ja der ganzen Christenheit, das durch eine ordentliche Rechtsprechung bzw. Administration, menschliche Bildung und wissenschaftliche Erkenntnis sichergestellt werden würde. Unter dem Einfluss des Heiligen Geistes sollten die Menschen zur rechten Erkenntnis gelangen. Danach widmet sich der Text des Stiftbriefes den politischen Zielen des Gründers, die konkret angesprochen werden. Der Herzog errichtet eine „hohe, gemaine, wirdige und gefreyete schuole“, und zwar „zu besunder wirdigkait und erhoehung des egenanten unsers landes ze Oesterreich und unser stat ze Wienne“. Die privilegierte Hochschule diene letztlich der Hebung von Würde und Ansehen des Herzogtums Österreich und seiner (landesfürstlichen) Hauptstadt Wien. Freilich war damit die Hebung des Ansehens und des politischen Status der Dynastie verbunden, bekanntlich ein ganz zentrales Anliegen des Stifters. Zu diesem Zwecke garantierte er den Universitätsbesuchern den besonderen landesfürstlichen Schutz und ein abgesondertes ‚quartier latin‘ („phaffenstatt“) direkt angrenzend an die herzogliche Burg. Erwartet wurden „erber studenten, schuoler und junger von froemden und haymischen landen“, die von „waisen meistern“ in aller Ruhe gelehrt und in christlicher Tugend erzogen werden sollten. Das landesfürstliche Angebot richtete sich also auch an Studierende und Schüler aus fremden Ländern, sodass die hohe Schule im traditionellen Sinn zumindest vom Anspruch her noch universal, nicht bloß als eine Landesuniversität verstanden wurde. Freilich sollte die Gründung nicht zuletzt den Scholaren und Studenten aus den habsburgischen Ländern zugute kommen, denen eine teure peregrinatio academica nach Möglichkeit erspart werden sollte. Das starke Abwandern studierwilliger Landeskinder konnte bei den Artesstudenten eingedämmt werden, während besonders Standesstudenten sich zum Studium der Rechte oder der Medizin vorzugsweise nach Italien wandten. Gleichzeitig konnte man auch auf die Zuwanderung gelehrter Köpfe hoffen. Die Heranbildung einer gelehrten Elite auf christlicher Basis unter der Ägide des Landesfürsten konnte ein reales politisches Ziel sein, benötigte aber langfristige Reifungsphasen. Letztlich gingen Landesausbau, Herrschaftsverdichtung und Elitenbildung Hand in Hand mit dem allmählichen Wirksamwerden universitärer Bildung

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und der steigenden Professionalisierung des Rätewesens an fürstlichen Höfen und landesfürstlichen Kanzleien.23 Ob man schon in der Gründerzeit mit Weitblick daran gedacht hätte, mit Hilfe der Universität professionell geschultes und loyales Personal heranzubilden, um für den künftigen Ausbau einer Landesverwaltung Vorsorge zu treffen, ist fraglich. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts war der Rat der österreichischen Herzoge „noch wesentlich adelig geprägt“.24 Fast alle nachweisbaren Räte gehörten dem Adel an, sie kamen vorwiegend aus dem landsässigen Herren- und Ritterstand der österreichischen Länder. Unter den Mitgliedern der herzoglichen Kanzlei waren mehrheitlich geistliche Räte, darunter mehrere Bischöfe aus den traditionellen Einflussgebieten der Habsburger (Brixen, Freising, Bamberg, Augsburg, Konstanz, Chur). Kanzler und Protonotare zählten zum engsten Kreis der Ratgeber. Jedoch wurden in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts noch keine Universitätsprofessoren der landesfürstlichen Universität Wien als Juristen oder im Bereich der Landesverwaltung beschäftigt.25 Die Teilnahme am Universitätsstudium war für den österreichischen Landesadel, der vornehmlich die politischen Führungsebenen besetzte, während des Spätmittelalters noch die Ausnahme. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts machte der Anteil immatrikulierter adeliger Studenten in Wien bloß 0,1 % bis maximial 0,4 % aus, insgesamt wird für das Spätmittelalter ein Anteil von 1,3 % angegeben.26 Bemerkenswert sind diese Zahlen auch deshalb, weil adelige Studenten ihren Status innerhalb der Universität durchaus zur Geltung bringen konnten und mancherlei Privilegien genossen (Präzedenz, Lozierung), falls sie bereit waren, die höheren Matrikeltaxen ihrem Stand entsprechend zu zahlen. Der Aufbau einer neuen, professionellen Verwaltungselite mit Universitätsstudium kam vereinzelt erst ab der Zeit Friedrichs III. und Maximilians I. zum Tragen. Die Kombination Adel und Studium konnte dabei im landesfürstlichen Hof- und Verwaltungsdienst karrierefördernd sein, wenngleich die Adelsqualität sich noch weiterhin als die wichtigere „Qualifikation“ erweist.27 23 Vgl. dazu Heinz Noflatscher: Räte und Herrscher. Politische Eliten an den Habsburgerhöfen der österreichischen Länder 1480–1530. Mainz 1999 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 161), S. 291–310. 24 Christian Lackner: Hof und Herrschaft. Rat, Kanzlei und Regierung der österreichischen Herzoge (1365–1406). Wien / München 2002 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 41), S. 133. 25 Ebd., S. 146f. Auch Heidelberg (3,4 %), Köln (2,3  %) und Erfurt (2 %) weisen z. B. niedrige Adelsfrequenzen auf. Für die spätere Entwicklung vgl. Noflatscher (wie Anm. 23), S. 291–310. 26 Vgl. Christian Lackner: Adel und Studium. Adelige Studenten aus den habsburgischen Ländern an der Universität Wien im 15. Jahrhundert. In: Festschrift Heide Dienst zum 65. Geburtstag. Hg. von Anton Eggendorfer. St. Pölten 2004 (Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich 30), S. 71–92, bes. S. 73. Vgl. auch Rainer Christoph Schwinges: Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Stuttgart 1986 (Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches 6), S. 381. 27 Lackner (wie Anm. 26), S. 73.

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IV. Anmerkungen zur Universitätsreform Albrechts III., 1384 Ähnlich wie die Prager Karlsuniversität konnte die Wiener Rudolphina in ihren ersten beiden Dezennien bloß eine kümmerliche Existenz entfalten, ja man befürchtete sogar, dass die „schul zu Wienn und die universitet dermazz abnehm, das kain sublector da wer“.28 Immerhin gibt es einige Zeugnisse dafür, dass es in den Jahren nach der Gründung Vorlesungen und vereinzelte Graduierungen gegeben hat, Pfarreinkünfte zugewiesen wurden (Pfarre Laa an der Thaya), ein Pedellenstatut erlassen, die erste Nationeneinteilung beschlossen und ein Studentenhaus gestiftet wurde. Ein deutliches Lebenszeichen der Wiener Universität finden wir zum Jahre 1377, als Johannes de Randekk um den 24. Juni das Rektorat antrat und während seiner Amtszeit den ersten Band der Wiener Universitätsmatrikel anlegen ließ. Zunächst wurde eine Liste von 291 Scholaren (darunter neun Magister) eingetragen, die allem Anschein nach schon vor diesem Zeitpunkt supposita der Universität gewesen waren. In den nächsten Studienjahren wurden bis zu 110 Immatrikulationen jährlich eingetragen, was sich im Aufwind der Albertinischen Universitätsreform von 1384 auf eine Jahresfrequenz von mehr als 160 Neuzugängen steigerte.29 Im Gefolge des Großen Abendländischen Schismas (1378) hatten sich Möglichkeiten ergeben, erstrangige Professoren nach Wien zu berufen, und zwar Pariser Kapazitäten, die sich für die Obödienz des ‚römischen‘ Papstes Urban VI. (1378– 1389) und gegen den in Avignon residierenden ‚französischen‘ Papst Clemens VII. (1378– 1394) entschieden hatten. Sie konnten ihre an der Sorbonne gewonnenen Erfahrungen hinsichtlich Studienorganisation und Lehre ihrer neuen Wirkungsstätte zur Verfügung stellen. Die große Reform von 1384 und der sogenannte zweite Wiener Stiftbrief Herzog Albrechts III., die Bestätigung und Erweiterung der Rudolfinischen Universitätsstiftung, waren vor allem Heinrich von Langenstein zu verdanken.30 War es 1365 eine prunkvolle Gründungsversammlung gewesen – 163 namhafte Potentaten waren als Zeugen geladen –, so führt uns auch die Albertinische Konfirmationsurkunde von 1384 schon mit ihrer reichen Besiegelung die Einbindung verschiedener Gruppen eindrucksvoll vor Augen. Sie trägt als Beglaubigungsmittel neben den Reitersiegeln der beiden habsburgischen Herzoge . . . 28 Kurt Mühlberger: Die Gemeinde der Lehrer und Schüler – Alma Mater Rudolphina. In: Wien. Geschichte einer Stadt. Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Ersten Türkenbelagerung (1529). Hg. von Peter Csendes und Ferdinand Opll. Wien u. a. 2001, S. 319–410, bes. S. 325–332. 29 Vgl. Die Matrikel der Universität Wien. Bd. 1: 1377–1450. Bearb. von Franz Gall u. a. Graz / Köln 1956 (Publikationen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung). 30 Zur Entstehung des Albertinums von 1384 s. Christian Lackner: Diplomatische Bemerkungen zum Privileg Herzog Albrechts III. für die Universität Wien vom Jahre 1384. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 105 (1997), S. 114–129, bes. S. 124–125.

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Albrecht und Leopold die Siegeln von 16 Herren und Rittern Österreichs. Alle führenden Landherrn sowie die Inhaber der Landesämter sind vertreten. Den Abschluss bildet das große Siegel der Stadt Wien.31

31 Vgl. ebd., S. 117–120; vgl. auch Rexroth (wie Anm. 3), S. 121; Gustav Sommerfeldt: Aus der Zeit der Begründung der Universität Wien. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 29 (1908) S. 291–322, bes. S. 306f.

Martin Schmeisser / Gideon Stiening (München)

Positive oder negative Utopie? Das ambivalente Bild der femina docta in Erasmus’ Colloquium Abbatis et Eruditae Neque vero mulierum genus usque adeo stultum arbitror, ut eam ob rem mihi succenseant, quod illis et ipsa mulier, et STULTITIA stultitiam attribuam. . Erasmus, Laus stultitiae

1. Einleitung Die Colloquia familiaria des Erasmus von Rotterdam, die seit ihrer Erstausgabe 1518 mehrere, ständig erweiterte Auflagen erfuhren,1 waren schon zu Lebzeiten des Autors und verstärkt nach seinem Tode Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen. Cornelis Augustijn zählt in seiner Monographie zu Leben und Werk des Erasmus die Colloquia neben dem εγκώμιον μωρίας und der Schrift De esu carnium zu dessen „verrufensten Werken“.2 Kritisiert wurden zumeist die an Lukian gemahnende „freventliche Gottlosigkeit und frivole Schmähsucht“.3 Die Sorbonne erließ 1531 eine Verurteilung vieler bekannter Stellen der Colloquia.4 Auch Luther drohte, als im Jahre 1533 die Einführung der als Schullektüre beliebten Colloquia des Erasmus bevorstand, in einem Tischgespräch: Wenn ich sterbe, will ich verbieten meinen Kindern daß sie seine Colloquia nicht sollen lesen, denn er redet und lehret in denselbigen viel gottlos Ding unter fremden erdichteten Namen und Personen, fürsetzlich die Kirch und den christlichen Glauben anzufechten.5

Auch wenn im Hintergrund dieser scharfen Abkanzelung der erst einige Jahre zurückliegende Streit um den freien Willen steht, den Erasmus in der akademischen Welt deutlich 1 Zu dieser Publikationsgeschichte vgl. Margaret Mann Phillips: Erasmus and the Northern Renaissance. Suffolk 1981, S. 76–89. 2 Martha Heep: Die Colloquia Familiaria des Erasmus und Lukian. Halle 1927, S. 6. Vgl. dazu: Alfred Bömer: Aus dem Kampfe gegen die Colloquia familiaria des Erasmus. In: Archiv für Kulturgeschichte 9 (1913), S. 1ff. 3 Heep: Die Colloquia Familiaria (wie Anm. 2), S. 6. 4 Cornelis Augustijn: Art. Erasmus. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Müller, Horst Balz, Gerhard Krause. Berlin 1976–2004, Bd. 10 (1982), S. 1–18. spez. S. 7. 5 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden 1. Bd., Weimar 1912, S. 397.

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für sich entschieden hatte,6 trifft Luther den Nerv der Zeit; Erasmus’ Colloquia wurden ebensoviel gelesen wie verurteilt. Selbst der Erasmus nahe stehende Dominikaner Ambrosius Pelargus konnte sich einer Kritik nicht enthalten: Ich bin nicht gegen dein Vorhaben, aber ich bedaure das Ergebnis, wenn es denn wahr ist, was viele heilig versichern, daß ein Gutteil der Jugend durch deine Colloquia viel schlechter geworden ist. [...] Man hätte wahrhaft eine andere und viel geschicktere Handlungsweise bedenken können, um die Jugend zu üben und die Sprachkenntnisse der Jüngeren zu fördern. Vor allem ein maßgeblicher Theologe sollte sich nicht auf ungebührliche Possenreißerei einlassen.7

Anstoß nahm man vor allem daran, dass auch Personen niederer Stände oder Frauen Teilnehmer der Gespräche waren, die aktuelle gesellschaftliche oder kirchenpolitische Themen in gelehrter Form behandelten. Besondere Beispiele hierfür sind Das Fischessen (Ιχθυοφαγία), in dem ein Metzger und ein Fischhändler theologische Erörterungen auf höchstem Niveau bestreiten, oder aber die Colloquia Senatulus (Der Frauensenat) sowie das im folgenden im Zentrum der Betrachtung stehende Abbatis et Eruditae, in denen nicht nur wichtige, sondern im Gespräch obsiegende Positionen von Frauen vertreten werden. So sehr das hier entworfene Bild der gelehrten Frau auch einer idealisierten Vorstellung höfischer Provenienz entstammte,8 blieb es für viele namhafte Zeitgenossen offenbar anstößig.9 Dass Erasmus in seinen Colloquia zeitgenössische Fragestellungen thematisierte, ist allein schon dadurch sinnfällig, dass er viele Figuren der Gespräche nach realen Vorbildern zeichnete. So soll in dem genannten Dialog Abbatis et Eruditae die Figur der Magdalia ihr Vorbild in der ältesten Tochter des Erasmus-Freundes Thomas Morus, Margarete, gehabt haben.10 Dem Abt aber – wie P. Smith nachweisen konnte – soll „Henry Standish, bishop of St. Asaph, or, as the humanist called him, ‚a sancto Asino‘“ Pate gestanden haben.11 Weil Erasmus darüber hinaus zumeist aktuelle Streitfragen der politischen oder sozialen 6 Vgl. hierzu die Darstellung bei Kurt Flasch: Menschenwürde oder Allmachtstheologie. In: ders.: Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire. Frankfurt am Main 2008, S. 243–273. 7 Zitiert nach Cornelis Augustijn: Erasmus von Rotterdam. Leben – Werk – Wirkung. München 1986, S. 143. 8 Vgl. hierzu Helen Watanabe-O’Kelly: Höfisches Schrifttum im 15. und 16. Jahrhundert. In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hg. von Werner Röcke und Martina Münkler. München 2004, S. 362–393, speziell S. 369ff. 9 Vgl. dazu: Werner Welzig: Einleitung. In: Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften, lateinisch und deutsch. Hg. von Werner Welzig. 8 Bde. Darmstadt 1967–80. Bd. VI. Colloquia Familiaria / Vertraute Gespräche [1967], S.VII–XXVII. 10 Zum Frauenbild des Humanismus vgl. u. a. Martine Sonnet: Mädchenerziehung. In: Geschichte der Frauen. Frühe Neuzeit. Hg. von Arlette Farge und Natalie Zemon Davis. Frankfurt am Main 1994, S. 119–150. 11 Preserved Smith: A Key To The Colloquies of Erasmus. New York 1969, S. 27.

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Lebenswelt in seinen Dialogen zum Thema machte, gelten seine Colloquia zu Recht als kulturgeschichtliche „Chronik einer Epoche“,12 und damit als Reflexion auf den „Transformationsprozess, der die europäische Gesellschaft im 16. Jahrhundert erfasste“.13 Obgleich sich die Positionen, aus denen die Colloquia des Erasmus beanstandet oder auch begrüßt wurden, sowie die Intensität der Kritik verschoben und abmilderten, lebt der Streit gerade um die „Gespräche“ in der neueren Forschungsliteratur fort. Insbesondere die Kontroversen um die Bewertung der Erasmischen Ansichten zur Bildung und Emanzipation der Frau scheinen die Jahrhunderte überdauert zu haben, obwohl nahezu gleichlautend der Rang der Colloquia als paradigmatisch für das gesamte Werk des Erasmus betont wird: Of all the works of Erasmus the one in which his own nature and style appeared to the best advantage, that which surpassed all others in originality, in wit, in gentle irony, in exquisitly tempered phrase, and in maturity of thought on religious and social problems, was written as a textbook of Latin style. The Familiar Colloquies [...].14

Bei aller Einigkeit über den literar- und kulturhistorischen Rang ist man sich jedoch über den Gehalt durchaus uneins: Beispielhaft für die Schwierigkeiten einer genauen Positionsbestimmung des Erasmus bzw. des Aussagegehaltes der Texte, die schon Zeitgenossen zu unterschiedlichsten Interpretationen veranlassten, ist die Bandbreite der Auslegungen des Dialogs Abbatis et Eruditae.15 So stimmen Elisabeth Schneider16 und Elsbeth Gutmann17 darin überein, dass die Funktion der Tatsache, dass der Abt von einer Frau der Unbildung nicht nur bezichtigt, sondern auch überführt wird, darin läge, die „Dummheit“ des kirchlichen Würdenträgers so scharf wie möglich zu konturieren: Dem Abt wird ein weiblicher Partner gegenübergestellt mit dem deutlichen Zweck, die Niederlage umso schmählicher zu gestalten.18

Die Bildung der Frau hätte in diesem Dialog somit vor allem eine argumentationstaktische Funktion in Bezug auf eine Anklage der Bildungsfeindlichkeit kirchlicher Würdenträger. Dagegen sieht Ursula Hess in ihrer Betrachtung des Dialogs eher den Abt in heuristischer Funktion für die Entfaltung „des Ideals einer emanzipierten humanistischen

12 Léon Halkin: Erasmus von Rotterdam. Eine Biographie. Zürich 1989, S. 209ff. 13 Wilhelm Ribhegge: Erasmus von Rotterdam. Darmstadt 2010, S. 125. 14 Preserved Smith: Erasmus. A Study of His Life, Ideal and Place in History. New York, London 1923, S. 286. 15 Die Schriften des Erasmus werden im Folgenden zitiert nach: Erasmus von Rotterdam. Ausgewählte Schriften (wie Anm. 9). Abgekürzt: (AS Band, Seitenzahl). 16 Elisabeth Schneider: Das Bild der Frau im Werke des Erasmus von Rotterdam. Basel 1955. 17 Elsbeth Gutmann: Die Colloquia Familiaria des Erasmus von Rotterdam. Basel, Stuttgart 1968. 18 Schneider: Das Bild der Frau (wie Anm. 16), S. 68.

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Frau und Gesprächspartnerin“,19 die den „hohe[n] exklusive[n] Bildungsanspruch der Humanisten“ als „Frau für Frauen“ einfordere.20 Ist die Bildung der Frau, die der Dialog unbestreitbar darstellt, also Mittel oder Zweck seines Gehaltes? Einzig in der Bewertung der intellektuellen Unterlegenheit des Abtes scheinen die Auslegungen einig zu sein. Seine „bildungsfeindliche, theologisch reaktionäre“ Position21 verteidige der Genießer und Höfling Antronius auf eine Art, die seine „krasse Unwissenheit“ dokumentiere.22 Cornelis Augustijn geht sogar so weit, den Abt als „personifizierte Dummheit“23 zu bezeichnen, als „Freund der Jagd, des höfischen Lebens, des Trinkens, der groben Belustigung des Geldes und der Ehre“, dessen Gespräch mit der gebildeten und kultivierten Frau zu „einem einzigen Mißverständnis“ werde.24 Damit aber konstituieren die Interpreten – allen voran Augustijn – eine Gesprächskonstellation, die durch die Dimensionen der intellektuellen Differenz zwischen Magdalia und dem Abt leicht absurde Züge erhält; auf subtile Art wird so die argumentative Leistung der Erudita geschmälert. Beide Auslegungslinien – sowohl jene in Bezug auf die intellektuelle Depravation des Abtes als auch diejenige, die sich auf die Bildung der Frau konzentriert – scheinen allerdings die Dimensionen der Positionsbestimmungen beider Dialogpartner und deren Argumentationsbewegungen nicht angemessen wiederzugeben. Ist der Abt wirklich dumm oder nur Vertreter eines Anti-Intellektualismus? Führt die Bildung der Frau tatsächlich zum Postulat ihrer Emanzipation oder gar Gleichberechtigung, wie es die feministische Lektüre des 20. Jahrhunderts behauptete? Welche Rolle spielt die teils subtile, teils drastische Ironie der Erudita gegenüber dem kirchlichen Würdenträger? Im Folgenden soll diesen Fragen, die auch in den neusten Betrachtungen des Colloquium ausgespart bleiben,25 nachgegangen werden. Dabei lässt sich zeigen, dass in dem kurzen Gespräch zwei präzise bestimmte und sich im Dialog bestimmende Positionen aufeinander treffen, wobei zwei sich überlagernde, gegenseitig erklärende Themen abgehandelt werden. Zum einen sucht das Gespräch nach Antworten auf die Frage zu Wert und

19 Ursula Hess: Lateinischer Dialog und gelehrte Partnerschaft. Frauen als humanistische Leitbilder in Deutschland (1500–1550). In: Deutsche Literatur von Frauen. Hg. von Gisela Brinker-Gabler. Erster Band: Vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. München 1988, S. 113–148; hier . S. 115. 20 Ebd., S. 116; vgl. auch das ähnliche Urteil bei Erich Kleinschmidt: Gelehrte Frauenbildung und frühneuzeitliche Mentalität. In: Res publica litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Hg. von Sebastian Neumeister und Conrad Wiedemann. 2 Bde. Wiesbaden 1987. Bd. 2, S. 549–557. 21 Hess: Lateinischer Dialog (wie Anm. 19), S. 115. 22 Schneider: Das Bild der Frau (wie Anm. 16), S. 68. 23 Augustijn: Erasmus von Rotterdam (wie Anm. 7), S. 147. 24 Ebd. 25 Ribhegge: Erasmus von Rotterdam (wie Anm. 13), S. 128f.

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Funktion der eruditio im allgemeinen;26 dabei erweist sich der Abt als strenger Bildungsgegner, Magdalia hingegen als Apologetin einer umfassenden humanistischen Bildung – beide Positionen, das ist zu betonen, werden begründet. Zum anderen wird aus der jeweils entwickelten Position zur Bildung überhaupt die Frage nach Wert und Funktion der Bildung der Frau erörtert. Zur Rekonstruktion dieser dialogisch entwickelten Themen sollen die Positionen Magdalias sowie die Argumente des Antronius rekonstruiert werden, um sowohl die Erasmischen Stellung zur Bildung der Frau zu erörtern als auch die These von einer ‚Dummheit‘ und prinzipiellen Bildungsfeindlichkeit des Abtes genauer zu überprüfen. Dies geschieht in zwei Abschnitten, von denen der erste die Argumente des Abtes und der gelehrten Frau möglichst genau entlang des Gespräches rekonstruiert und zu einem jeweiligen Ganzen zusammenfügt. Der zweite Abschnitt beleuchtet einige andere Texte des Erasmus zu den Themen ‚Bildung‘ bzw. ‚Frauenbildung‘, um auf der Grundlage dieser Kontexte genauere Bestimmungen der einzelnen Argumente leisten zu können.

2. Der Dialog Abbatis et Eruditae – oder Anthropologie der Bildung versus Politik der Bildungsfeindlichkeit? Das Gespräch wird durch eine Frage des Abtes eröffnet, die seine Verwunderung über die Einrichtung des Zimmers zum Ausdruck bringen soll, in dem er die Unterhaltung mit Magdalia führt. Es ist dies, wie im weiteren Verlauf des Gesprächs deutlich wird, die Bibliothek, in der „alles voll von Büchern ist“.27 Schon dieses Entree ist bemerkenswert, da, wie Ursula Hess ausgeführt hat, die Bibliothek zu dieser Zeit noch immer „ein exklusiver Raum des Mannes“28 war, dessen Eroberung den Frauen des beginnenden 16. Jahrhunderts erst allmählich gelang, den sie allerdings – trotz namhafter Widerreden29 – schon im Laufe des 16. Jahrhunderts für lange Zeit wieder verloren. Dass es sich bei diesem Zimmer um die Bibliothek eines Privathauses handelt, wird daran deutlich, dass vor allem griechische und lateinische Bücher die Wände zieren. Ebendies stört den Abt Antronius, weil für sein Empfinden – und noch geht es dem Würdenträger nur um das decorum – einer hoch26 Zum humanistischen Bildungsbegriff und der prägenden Stellung des Erasmus in dieser Debatte vgl. den Überblick bei Wilhelm Kühlmann: Pädagogische Konzeptionen. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe. Hg. von Notker Hammerstein. München 1996, S. 151–196. 27 AS VI, S. 252. 28 Hess: Lateinischer Dialog (wie Anm. 19), S. 117. 29 Vgl. hierzu die Darstellung der radikalen Kritik an der Männerherrschaft, die im Thomasius-Kreis entwickelt wurde, bei Hanspeter Marti: Philosophie aus aufklärerischer Männersicht. Geschlechterspezifische Ausbildung aus dem Blickwinkel und im Einflussbereich von Christian Thomasius. In: Frauen, Philosophie und Bildung im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Sabine Knobloch. Berlin 2010, S. 37–83.

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gestellten Frau einzig die Beschäftigung mit französischsprachiger, d. h. unterhaltender Lektüre angemessen sei. Schon an Magdalias darauf folgender rhetorischer Frage zeigt sich die grundsätzliche Differenz beider Gesprächspartner. Ziel ihrer Lektüre ist nämlich die „sapientia“, die Weisheit bzw. Bildung, die die Erudita nicht aus französischen Büchern zu erlangen erwartet. Um „sapientia“ aber kann es nach Ansicht des Abtes lesenden Frauen nicht gehen, sondern einzig um Unterhaltung. Dabei soll das „delectare“ nicht nur ein Bedürfnis der hochgestellten Frau sein; es darf ihre einzige Aufgabe sein, denn „non est muliebre sapere“.30 Magdalia beantwortet diese Dichotomisierung von „sapientia“ und „suaviter vivere“ bei gleichzeitiger Eingrenzung der „sapientia“ auf die Männerwelt mit einer Ausweitung der Fragestellung: Im folgenden wird das geschlechtsspezifisch indifferente Verhältnis von angenehmem und gutem Leben zum Gegenstand des Gespräches, und dabei besonders die Bestimmung der Funktion der Bildung oder Gelehrsamkeit innerhalb dieser Korrelation. So ergibt sich zunächst die schon erwähnte Unvereinbarkeit beider Ansätze: Für die Erudita lebt man in platonischer wie aristotelisch-scholastischer Tradition genau dann angenehm, wenn man gut lebt: Qui potest autem suaviter vivere, qui non vivat bene?31

Für den Abt, der unübersehbar in lukianischer Tradition spricht,32 ist das Leben dagegen dann gut, wenn man angenehm lebt: Arbitror illos bene vivere, qui vivunt suaviter. 33

Entscheidend wird jedoch in der Folge Magdalias Nachfrage, was genau Antronius unter dem Begriff des Angenehmen verstünde. Denn zustimmen könnte sie dieser Identitätsbehauptung von angenehmem und gutem Leben, wenn es sich um „innere Güter“, „res ex animo“, d. h. um Weisheit und Glaube, handelte, die durch Bildung zu erlangen sind. Eben dies aber sind dem Abt gerade nicht die näheren Bestimmungen des Angenehmen, sondern Somno, conviviis, libertate faciendi quae velis, pecunia, honoribus.34 30 AS VI, S. 252. 31 Ebd.; zu den Platonischen Quellen dieser Auffassung vgl: Platon, Gorgias 494c4–495b9, sowie Platon, Protagoras 351b4 ff. 32 Allein dieser Kontext muss aufhorchen lassen; denn Erasmus war bekanntermaßen ein Verehrer Lukians, den er für sein Lob der Torheit produktiv rezipierte; warum sollte er eine Figur wie den Abt mit solchen Attributen ausstatten, wenn sie ausschließlich negative Züge tragen sollte? Vgl. hierzu Manuel Baumbach: Lukian in Deutschland. Eine forschungs- und rezeptionsgeschichtliche Analyse vom Humanismus bis zur Gegenwart. München 2002. 33 AS VI, S. 252. 34 Ebd., S. 254; ein Moment dieser Bestimmungen des Angenehmen durch den Abt bereitet erneut erhebliche Schwierigkeiten: Das „libertas faciendi quae velis“, Freiheit zu tun, was man will, wurde denn auch von nahezu allen Interpreten bei entsprechenden Aufzählungen ausgelassen (vgl. Augus-

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Magdalia entgegnet diesem sinnenfreudigen, weltlichen Bekenntnis des kirchlichen Würdenträgers mit zwei Argumenten, die sich offenkundig – und für den weiteren Verlauf des Gesprächs folgenreich – widersprechen. Zunächst bestimmt sie die Weisheit als Vervollkommnung eben des Angenehmen, das der Abt angepriesen hatte: Verum, si istis rebus Deus addiderit sapientiam, num vives suaviter? 35

Auf die Nachfrage des Abtes, der sich im übrigen nicht nur den Inhalten, sondern auch den Formen der Gesprächsführung durch die gelehrte Frau durchaus gewachsen zeigt, was genau sie unter Bildung bzw. Weisheit verstünde, bestimmt Magdalia die „sapientia“ – entgegen ihrer ersten Argumentation – als Erkenntnis davon, dass die von Antronius genannten äußeren Dinge nicht glücklich oder besser machten, sondern einzig die „Güter der Seele“: [...], si intelligeres hominem non esse felicem, nisi bonis animi; 36

Nachdem sie somit die „sapientia“ in der ersten Aussage als Erweiterung der äußeren Güter bezeichnet hatte, wird sie im zweiten Argument zur Negation derselben. An dieser Stelle des Dialogs wird jene zentrale Ambivalenz in der Argumentation Magdalias nicht aufgelöst. Eine ihrer späteren Aussagen scheint jedoch zunächst die Negationsbestimmung zu erhärten, wenn sie – vom Abt provoziert – ausruft: Quanto plures videmus, quibus immodica potatio, et intempestiva convivia, […] quibus impotentes affectus perpererunt insaniam!37

Dagegen scheint die offensive Schlussvision, die eine Übernahme der kirchlichen Ämter durch gelehrte Frauen – bei anhaltender Unbildung der männlichen Amtsinhaber – ankündigt, anzuzeigen, dass Magdalia nichts weniger als die Position einer weltabgewandten Innerlichkeit vertritt, galten doch – wie der Abt bezeugt – diese Ämter als durchaus weltlich. Wenn die gelehrte Frau jedoch zur Übernahme kirchenpolitischer Ämter bereit ist, um sie in ‚gebildeter Form‘ auszuüben, dann können die „äußeren Dinge“ (als deren Realisationen jene Ämter zu gelten haben) nicht grundsätzlich jeder Bildung widersprechen. Besonders für die Erörterung der Funktion dieser Schlussvision der gelehrten Frau soll im zweiten Abschnitt Erasmus’ Position zum Verhältnis zwischen „eruditio“ und äußeren tijn, Erasmus von Rotterdam, wie Anm. 7, S. 144). Problematisch ist diese Wendung insofern, als libertas für Erasmus spätestens im Streit mit Luther zu den Grundlegungen echter Frömmigkeit zu zählen ist, mithin eine positive Bestimmung in der Lehre des Rotterdamers ausmacht. Es fragt sich somit, ob schon in dieser Aufzählung eine Doppeldeutigkeit in der Figur des Abtes aufleuchtet oder aber diese Freiheit eher im Sinne der Willkür des Herrschenden gemeint ist, die schon dem Erasmus bestimmte Negation der wahren Freiheit war. Letzte Klärungen lassen sich aus dieser Textstelle jedoch nicht erbringen. 35 AS VI, S. 254; Hervorhebung von uns. 36 Ebd. 37 AS VI, S. 260.

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Gütern betrachtet werden, um nähere Aufschlüsse zumindest der intendierten Ansicht Magdalias zu gewinnen. Auf das im Gesprächsverlauf noch eindeutige Negationsverhältnis von „sapientia“ und „res extrariae“ entgegnet der Abt erwartungsgemäß mit schroffer Ablehnung: Valeat ista quidem sapientia!38

Zunächst begründet er diese Zurückweisung, nachdem Magdalia nochmals versichert hat, dass sie die Lektüre eines Buches zur Förderung ihrer „eruditio“ als unmittelbare Annehmlichkeit empfinde, mit der Beteuerung, so nicht leben zu können, d. h. solche Formen des Angenehmen weder erlebt zu haben noch glaubt erfahren zu können. Magdalia wendet ihre Argumentation an dieser Stelle jedoch offensiv in normative Dimensionen: Non quaero, quid tibi sit suavissimum, sed quid deberet esse suave.39

Magdalia gründet also ihre Apologie der „sapientia“ auf eine praktische Anthropologie, innerhalb deren Bildung zu einer Kernbestimmung des Menschen gehört. In seiner Antwort entwickelt der kirchliche Würdenträger nunmehr einige über die persönlichen Neigungen und subjektiven Vorstellungen hinausgehende Gründe seiner Bildungsfeindlichkeit. Bei allem scheinbaren Hedonismus ist er also durchaus bereit und in der Lage, Magdalias Wendung ins Normative mitzuvollziehen und kritisch zu kontern. Dabei argumentiert er weniger anthropologisch als politisch: Denn als Abt eines Klosters, d. h. als Amtsinhaber innerhalb eines religionspolitischen Sozialgefüges, weiß er um die – zumindest möglichen – subversiven Potenzen der Bildung; daher will er nicht, dass seine Mönche ständig über den Büchern sitzen, Quoniam experior illos minus morigeros: responsant ex Decretis, ex Decretalibus, ex Petro, ex Paulo.40

Dieses klösterliche Herrschaftsgefüge ist dadurch gekennzeichnet, dass ihm sein ideeller Zweck, die Ausübung strenger Religiosität, nebensächlich geworden ist; die biblischen Lehren des Paulus und Petrus sind dem Abt offenbar unbekannt. Es geht ihm vielmehr um eine – dem religiösen Kontext gegenüber indifferente – Macht- bzw. Herrschaftstechnik, denn den Gehalt der Schriften, die die Mönche ihrem Beherrscher entgegenhalten könnten, sind auch ihm unbekannt. Strenger Gehorsam und uneingeschränkte Herrschaftsgewalt kennzeichnen die vom Abt für erforderlich gehaltenen Verhältnisse: [S]ed tamen non amo monachum responsatorem: neque velim quenquam meorum plus sapere, quam ego sapiam.41

38 39 40 41

AS VI, S. 254. Ebd. Ebd. Ebd.

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Bildung ist dem Abt mithin ein potentielles Instrument im steten Kampf um das Herrschaftsgefälle in Sozialgefügen; im Hinblick auf diese politische Problemlage hat er zur religiösen wie zu jeder anderen Bildung ein ausschließlich instrumentelles Verhältnis. Mit der Figur des mehr bildungsfeindlichen als ungebildeten Abtes führt Erasmus also auch eine Auseinandersetzung mit der um 1500 sich ausbildenden rein formalen und säkularen Herrschaftstheorie des Machiavellismus.42 Magdalias Entgegnung, er müsse doch nur gelehrter sein als seine Mönche, ist vor diesem Hintergrund ein hilfloser Rat, denn der Abt will prinzipiell keine Antworten, geschweige denn Dispute selbst religiöser Art, da sie das strenge, d. h. uneingeschränkte Herrschaftsgefüge lockern würden. Wiederum werden grundsätzliche Differenzen der Gesprächspartner sichtbar: Die Erudita meint – auch dies wird sich im Folgenden als entscheidend erweisen –, dass Bildung bestehende Herrschaftsgefüge nicht notwendig unterminieren müsse, sobald sie nur proportional zur Machtfülle steigend vorhanden sei – im Hintergrund steht eine erneut platonische Vorstellung, die nämlich des Philosophenkönigs. Dagegen ist der Abt davon überzeugt, dass Bildung jedes Herrschaftsgebilde tendenziell destabilisiert. Daher tritt dieser Kirchenpolitiker als prinzipieller Bildungsgegner auf, dem zudem – bedingt durch seine administrativen Aufgaben wie lange Gebete, Sorgen um den Haushalt, Jagd, Pferde und Hofdienst – keine Zeit für Bildung bliebe. Politik und Bildung schließen sich für den Abt sowohl apriori wie aposteriori aus. Doch allein durch die im ersten Teil des Dialogs sich deutlich zeigende Befähigung des Abtes zur mäeutischen Fragekunst sowie weitere rhetorische Fähigkeiten muss diese Aussage unter Vorbehalt betrachtet werden. Denn die vom Abt benannten Tätigkeiten gehören sämtlich zu feudalen Herrschaftstechniken, innerhalb deren Bildung nicht erforderlich war bzw. die durch Bildung, d. h. Erkenntnisfähigkeit der Untergebenen, offenbar in Frage gestellt werden konnte, weil die Wahrheit einer Aussage gegenüber dem sozialen Stand des Aussagenden indifferent ist. Diese vor allem politisch motivierten Äußerungen des Kirchenpolitikers Antronius besagen also wenig über seine eigentliche Auffassung bezüglich des Nutzens der Bildung für den Einzelnen. Ob also seine als Kirchenpolitiker vorgetragene Bildungsfeindlichkeit einer privaten Überzeugung entspricht, muss vorerst fraglich bleiben. Zugleich wirft eine Äußerung Magdalias, die am Schluss dieser Passage die vermeintliche Inhumanität jener Herrschaftsform, die Antronius vertritt, durch ihre Analogien zur Tierwelt zu entlarven sucht, ein stärkeres Licht auf ihre Position: Auf des Abtes Aussage, er wolle nicht, dass seine Mönche ständig über den Büchern säßen, entgegnet sie: At meus maritus hoc maxime probat.43

42 Zur Machiavelli-Rezeption im frühen 16. Jahrhundert vgl. Cornel Zwíerlein: Machiavellismus / Antimachiavellismus. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hg. von Herbert Jaumann. Berlin, New York 2011, S. 903–951. 43 AS VI, S. 254.

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Damit setzt sich die gelehrte Frau selbst in genau das Verhältnis zu ihrem Mann, in dem die Mönche zum Abt stehen, nämlich in die Position einer auch formal Untergebenen, was in rechtlicher, moralischer und konventioneller Hinsicht den Tatsachen der Zeit entsprach. Als solcher ‚Untertan‘ ist ihr allerdings die Lektüre, d. h. die Aneignung von Bildung erlaubt, ohne dass dadurch das Herrschaftsverhältnis der Geschlechter in Frage gestellt würde. Was sich hier andeutet, verdichtet sich im Verlaufe des Gespräches, das nach den Tieranalogien bei der Einrichtung des Zimmers erneut zum Thema der Frauenbildung kommt. Denn nachdem der Abt „fusus et colus“ als Waffen der Frau bezeichnet hatte, um nochmals die Einrichtung durch Bücher zu bemängeln,44 entwirft die Erudita das Bild einer spezifisch sozialen Funktion weiblicher Bildung. Die Aufgabe der „uxor docta“ bestehe vor allem darin, „den Haushalt zu führen und Kinder zu erziehen“. Zur Ausbildung dieser Fähigkeit, so Magdalia, dienen ihr die Bücher.45 Somit ist ihre Bildung als Frau weder Selbstzweck noch einzig Medium zur Ausbildung wahrer Frömmigkeit noch gar Ausdruck einer Emanzipation in der Ehe, sondern eingebettet in ihre Funktion in der Familie als Ehefrau und Mutter. Eine weitere Aussage Magdalias erhärtet diese Einbettung der Bildungsfrage in die Institution der Ehe und damit die Abhängigkeit der um Bildung bemühten Frau vom Wohlwollen ihres Mannes: At ego mihi gratulor, cui contigerit maritus tui dissimilis.46

Bei dieser eindeutigen Funktionalisierung der Bildung für das Herrschaftsgefüge der humanistischen Ehe stellt sich die Frage, ob – wie Elisabeth Schneider und Elsbeth Gutmann meinten – der Erudita als Gegnerin des Abtes ausschließlich die Rolle zukommt, dessen intellektuelle Depraviertheit zu pointieren. Zugleich wirft diese ‚Emanzipation‘, die immer abhängig von dem Großmut des Ehemannes bleibt, die Frage nach der genauen Positions- und Funktionsbestimmung der „eruditio“ einer Frau im Rahmen der Erasmischen Bildungs- und Geschlechtertheorie auf. Inwiefern dient die humanistische Bildung der Erziehung der Kinder? Welche Funktion hat diese Bildung der Frau in der humanistischen Ehe? Vor allem jedoch: Welche Bedeutung kommt der Bildung nach Ansicht des Erasmus im Rahmen weiterer, über die Institution der Ehe hinausgehender Sozialsysteme zu? Denn Magdalias moralische Supe44 Dies ist ein Sprachtopos, der nach Ursula Hess „wie kaum ein anderer im 15. und 16. Jahrhundert zur Metapher weiblicher Lebensbestimmung wurde“; vgl. Hess: Lateinischer Dialog (wie Anm. 19), S. 115. 45 Bezeichnend für ihre auf eine positive Utopie der Emanzipation der Frau ausgerichtete Interpretation des Erasmischen Dialogs, die sich in dieser Form als unhaltbar erweisen wird, ist die Tatsache, dass Ursula Hess die von Magdalia als Frage formulierte Bestimmung der Aufgabe der gelehrten Frau in Haushalt und Erziehung dem Abt in den Mund legt: „Nach Antronius, dem Sprachrohr kirchlicher und gesellschaftlicher Reaktion, ist es ausschließlich Aufgabe der Frau, den Haushalt zu führen und Kinder zu erziehen (‚matronae est administrare rem domesticam, erudire liberos‘)“. Eben dieses Zitat aber steht Magdalia zu, für die diese Bestimmung ebenfalls gilt. Vgl. ebd., S. 113. 46 AS VI, S. 260

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riorität legitimiert in der Schlussvision mehr als die Berechtigung der Frauenbildung innerhalb der Ehe. Nachdem Magdalia mit der Funktionszuweisung ihrer Bildung in Eheund Haushaltsgeschäfte dem Abt die Notwendigkeit der Bildung für die Frau erwiesen hat, zieht sich dieser nochmals auf eine Unterscheidung französischer und lateinischer Lektüre zurück. Dabei dient seine neuerliche Begründung zu einer mehrfachen Entlarvung seiner Position. War seine „weltlich“ orientierte Einstellung schon zuvor moralisch und religiös disqualifiziert worden, so vollzieht sich an dieser Stelle eine weiter reichende Destruktion. Denn sein Argument dafür, dass Frauen des Lateinischen gerade nicht kundig sein dürfen, besagt: Tutiores sunt a sacerdotibus, si nesciant Latine.47

Ihre Keuschheit also schützen Frauen besser vor lüsternen Priestern. Damit aber entblößt Antronius nicht nur seinen gesamten Stand vor der moralischen Position der Erudita, er wirft mit dieser Aussage auch auf die aktuelle Gesprächssituation und damit . auf seine Ambitionen eine Zwielichtigkeit, die dem Dialog für Momente eine erotische Komponente verleiht, bedenkt man, dass der Abt das Gespräch – und zwar auf . Latein – begann. Nicht nur dient daher diese Aussage des Abtes dazu, seine moralische Depravation, die seine Standes und damit des gesamten kirchlichen Herrschaftsgefüges zu dokumentieren, sondern auch dazu, durch solch versteckte, gleichwohl komplexe Selbstbezüglichkeit die raffinierte Klugheit dieses kirchlichen Würdenträgers aufzuweisen. Spätestens an dieser Stelle müssen auch des Abtes Aussagen zu seiner Bildungseinstellung neu bedacht werden. Neben seiner schon erwähnten Befähigung zur Mäeutik offenbart die Tatsache, dass er das Gespräch nicht nur auf Latein begann, sondern auch mit sprachlichen Fertigkeiten, die denen Magdalias in nichts nachstehen, weiterzuführen versteht, eine Bildung, die seinen Angaben über die Entwicklung seiner Wissensaneignung widersprechen. Einzig seine inhaltliche Argumentation zeigt eine spezifische ‚Dummheit‘ besonders in den folgenden Weiterführungen des Gespräches. Aber ist der Abt wirklich dumm, oder verstellt er sich in konsequenter Anwendung seiner politisch motivierten bildungsfeindlichen Position? Im Folgenden zieht er sich, nachdem Magdalia diesem letzten Keuschheitsargument auf resolut-ironische Art begegnete, die eher ihre moralische Integrität und ihren Witz zum Ausdruck bringt als eine prinzipielle Widerlegung des Abtes, auf Sentenzen der communis opinio zurück. Diese vertritt er dabei nicht nur über Inhalte, sondern auch in der Form entsprechen seine Gesprächsbeiträge in diesem zweiten Teil des Dialogs konventionellen Vorstellungen. Der Gesprächspart des Abtes entwickelt sich daher nicht mehr argumentativ, sondern in einer Aneinanderreihung von Sentenzen und Sprichwörtern, um damit seine Bildungsfeindlichkeit ebenso theoretisch zu verteidigen wie praktisch zu demonstrieren. Magdalia dagegen entwickelt entscheidende Momente ihrer humanistischen Position, so ihren Nachweis für die Notwendigkeit eines Quellenstudiums, das ihr das 47 AS VI, S. 258.

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Leben in der respublica litteraria allererst ermögliche. Auf der Grundlage ihrer Sprachkenntnisse aber wird der Erudita die Bildung in den Studien antiker Autoren zu dem „Wertvollsten des Menschen“ und damit explizit zu einem Anthropologicum.48 Darüber hinaus begründet sie ihre Überzeugung von einer Veränderungskraft der „eruditio“ gegen die Macht bestehender konventioneller Werte: Optimis assuescendum: ita fiet solitum quod erat insolitum: et suave fiet, quod erat insuave; fiet decorum quod videbatur indecorum.49

Zum Schluss des Gespräches scheint ihre Argumentation jedoch eine neue Wendung zu nehmen, die die schlimmsten Befürchtungen des Abtes bestätigt. Nachdem die Erudita bis zu diesem Zeitpunkt des Gespräches die Position des Abtes vor allem religiös und moralisch kritisiert hat, begibt sie sich zum Schluss auf eben die vom Abt bezogene Ebene politischer Realien. Sobald dieser mit einem Vergleich aus der Tierwelt Magdalias Polemik kontert, entwirft sie im Gegenzug das Panorama einer schon erfolgten Bildung der europäischen Frauenwelt, entgegen den Prämissen des Abtes, der dies für prinzipiell unmöglich erklärt hatte. Mit den Namen Morus, Pirckheimer und Blarer benennt sie zudem konkrete Beispiele dieser Realität. Dann aber geht sie einen entscheidenden Schritt weiter: Nicht nur, dass die Bildung der Frau möglich und notwendig ist, hat sie dem Abt bewiesen; nicht nur die moralische, religiöse und soziale Superiorität dieser ihrer Position hat sie zu belegen versucht; mit Hilfe der Bildung werden die Frauen nach Ansicht und Hoffnung Magdalias bei anhaltender Bildungsfeindlichkeit der Männer auch die Ämter der Kirche übernehmen und damit eine politische Problemlage lösen: Quod nisi caveritis vos, res eo tandem evadet, ut nos praesideamus in scholis theologicis, ut concionemur in templis; occupabimus mitras vestras.50

Also auch politisch scheint für Magdalia die Bildung jeder Bildungsfeindlichkeit überlegen zu sein. Wie ernst aber meint es die Erudita mit dieser Ankündigung? Hatte sie doch zu Beginn des Gespräches die äußeren Güter, zu denen – wie erwähnt – auch die politischen Ämter der Kirche zu zählen sind, als der Bildung abträglich bezeichnet. Erste Aufschlüsse über die genaue Position Magdalias zu den äußeren Dingen gibt ihre letzte systematische Äußerung in diesem Zusammenhang: Videtis iam inverti mundi scenam: aut deponenda est persona, aut agendae sunt cuique partes.51

48 49 50 51

Ebd., S. 260. Ebd., S. 258. Ebd., S. 262–264. Ebd., S. 264.

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Diese Passage verweist jedoch über den Text hinaus, da die Theater-Metapher immanent keine nähere Erläuterung erfährt. Aber auch die Schlussvision als ganze, die von Ursula Hess als „Zeitstimmung dieser Generation [...] in einer Epoche des geistigen und geistlichen Umbruchs auch für Frauen“ und damit als „prägnantester literarischer Beitrag seiner Zeit zur Emanzipation von Frau und Mann“52 interpretiert wurde, scheint eher im Widerspruch zur zuvor entwickelten Position ‚relativer Emanzipation‘ gelesen werden zu müssen und somit auch methodisch über den Text hinauszuweisen. Es muss daher im Folgenden überprüft werden, was Erasmus in anderen Schriften zur Emanzipation der Frau sagte, um dadurch die Funktion der Schlussvision Magdalias für den gesamten Text genauer erfassen zu können. Ist die Ankündigung der Machtübernahme die wirklich intendierte positive Konstruktion des Erasmus oder eher eine Schreckensvision, mit der der Gelehrte die Würdenträger der Kirche zu mehr Bildung anhalten wollte?

3. Zur Stellung der femina docta bei Erasmus – oder zwischen gelehrter Kindererziehung und Gattenverehrung Ein erster Durchgang durch den Text des Dialoges hat ergeben, dass einige Fragen durch Widersprüchlichkeiten und Verweise offen geblieben waren, die durch einen Blick auf weitere Schriften des Erasmus aufgeklärt werden sollen. Insbesondere stellt sich die Frage nach der Auffassung des genauen Verhältnisses von äußeren Dingen und inneren Werten, das Magdalia in scheinbar widersprüchlicher Weise bestimmte. Die Begriffe der „mundi scena“ und der „persona“ bieten dabei die Möglichkeit einer näheren Klärung: Denn schon in dem berühmten εγκώμιον μωρίας wird die Metapher der „Weltbühne“ nahezu wort- und begriffsidentisch verwendet: Porro mortalium vita omnis quid aliud est, quam fabula quaepiam, in qua alii aliis obtecti personis procedunt, aguntque suas quisque partes, donec choragus educat e proscenio? Qui saepe tamen eumdem diverso cultu prodire iubet, ut qui modo Regem purpuratum egerat, nunc servulum pannosum gerat. Adumbrata quidem omnia, sed haec fabula non aliter agitur. [...] Ut nihil est stultius praepostera sapientia, ita perversa prudentia nihil imprudentius. Siquidem persverse facit, qui sese non accommodet rebus praesentibus, foroque nolit uti, nec saltem legis illius convivialis meminerit ή πιθι ή άπθι, postuletque ut fabula iam non sit fabula. Contra, vere prudentis est, cum sis mortalis, nihil ultra sortem sapere velle, cumque universa hominum multitudine vel connivere libenter, vel comiter errare. At istud ipsum, inquiunt, stultitiae est. Haud equidem inficias iverim, modo fateantur illi vicissim hoc esse, vitae fabulam agere.53

Das ganze Leben ist ein Theater, ist Schein; der Bühnencharakter des irdischen Lebens erhält gleichsam ontologischen Status. Auch schon im Enchiridion von 1503 hatte Erasmus die Welt der äußeren Dinge zugunsten der inneren Werte des gläubigen Gewissens 52 Hess: Lateinischer Dialog (wie Anm. 19), S. 117. 53 AS II, S. 62–64.

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abgewertet, allerdings hier wie dort diese grundsätzliche Minderbewertung des Scheins als zwar substanziell unabänderlich, doch durchaus modifizierbar gefasst. In eben dieser Weise betrachtet auch Magdalia die Welt der äußeren Dinge: Zum einen werden die inneren Werte den Äußerlichkeiten des Welttheaters in ihrer Bedeutung für den Christen übergeordnet. Zugleich aber liegt der äußeren Welt in ihrem ‚theatralistischen‘ Status einerseits eine Notwendigkeit, d. h. hier Unabänderlichkeit zugrunde; andererseits soll der „mundi scena“ eine graduelle Veränderbarkeit insofern zukommen, als für den Christen wahrer Frömmigkeit die Möglichkeit und Aufgabe darin besteht, seine inneren Güter in die Welt zu tragen und in ihr wirksam zu machen. Magdalias Androhung der Machtübernahme ist somit aus ihrer Perspektive als durchaus ernst gemeint zu betrachten. Ihre Verwendung der Welttheater-Metapher macht dies deutlich.54 Aufgrund dieser Ernsthaftigkeit auf der Ebene des Gespräches muss vor dem Hintergrund einige Momente der Erasmischen Philosophie diese Ankündigung eher als Schreckensvision denn als positive Utopie beurteilt werden. Denn es sind in dieser Wendung des Schlusses drei Aspekte zu unterscheiden, die drei grundlegenden Momenten der Ansichten des Erasmus entsprechen: 1. Zum einen enthält sie die Vision einer Machtübernahme der gebildeten Frauen. Dies muss im Rahmen der Erasmischen Aussagen zur Stellung der feminae doctae in der Gesellschaft überprüft werden. 2. Weiterhin dokumentiert diese Ankündigung den Glauben an die wirklichkeitsverändernde Kraft von Bildung überhaupt, unabhängig vom Geschlechterthema. Dies bedarf eines kurzen Vergleiches mit der Bildungstheorie des Erasmus. 3. Letztlich impliziert Magdalias Schlussaussage eine bestimmte Form von Wirklichkeitsveränderung: die Machtübernahme unter Absetzung der vorherigen Herrschaftsinhaber. Auch dies soll mit der Auffassung des Erasmus zum Thema des Modus sozialer Veränderungen in anderen Schriften verglichen werden. Alle drei Aspekte werden den überwiegenden, aber nicht ausschließlichen Charakter der Schlusswendung als Schreckensvision erweisen und damit deren Komplexität und Mehrdeutigkeit. Zum ersten Themenkomplex, der Bildung der Frau und deren gesellschaftlicher Situierung, lassen sich mehrere Schriften des Erasmus anführen. An herausragender Stelle steht hierbei die Christiani matrimonii institutio, in der das Idealbild einer christlichen Ehe entworfen wird. Den Hintergrund dieser Ehe-Schrift bildet die öffentliche Auseinandersetzung um den Grad und die Differenz an Frömmigkeit zwischen einer Klosterund einer Ehefrau.55 Erasmus tritt in diesem Zusammenhang als entschiedener Verfechter der Frömmigkeit der Ehefrau auf, die der religiösen Integrität einer Nonne in nichts nachstehe. In diesem Rahmen entwickelt Erasmus eine Theorie der Rechte und Pflichten der christlichen Ehefrau. Eine dieser Pflichten besteht in der Einsicht in die Not-

54 Zum Thema ‚Weltbühne‘ vgl. auch Gutmann: Die Colloquia Familiaria (wie Anm. 17), S. 91. 55 Hess: Lateinischer Dialog (wie Anm. 19), S. 140f.

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wendigkeit der größtmöglichen Unterordnung unter ihre Ehemänner und deren Umsetzung: Bona mulier parendo apud virum imperat.56

Als argumentative Grundlage dient hierfür die aristotelische, von der Scholatik an die Neuzeit übermittelte Ansicht, wonach der Mann ein aktives, die Frau dagegen ein passives Prinzip vertrete.57 Dabei ist zu beachten, dass Erasmus keineswegs einem Herrschaftsverhältnis das Wort redet, das den Auffassungen des Abtes Antronius aus unserem Dialog entspräche. Im Gegenteil soll vor allem Bildung der Frau die Möglichkeit eröffnen, sich den intellektuellen Befähigungen des Mannes anzugleichen, um in einer Art religiöser Gemeinschaft den humanistischen Liebesbegriff (ingeniorum caritas) ausbilden zu können. Zugleich aber besteht die wichtigste Funktion der Bildung der Frau darin, den Kindern dieser Ehe das humanistische Gedankengut zu vermitteln. Diese Bedeutung stellt Erasmus immer wieder in den Vordergrund, um die Gelehrsamkeit der Ehefrau zu begründen und anzuregen. Insofern kann Magdalia ihre Lektüre mit der Aufgabe der Erziehung der Kinder solide legitimieren. Insbesondere diese Einbettung der Frage zur Bildung der Frau in die übergeordnete Erziehungsthematik ist an vielen Schriften des Erasmus nachweisbar.58 Magdalias und damit also Erasmus’ Auffassung der humanistischen Ehe entspricht den Überzeugungen der Humanisten in Deutschland zu Beginn des 16. Jahrhunderts.59 Ursula Hess hat auf einige Beispiele und deren Motive und Strukturen zur Ausbildung solcher Ehen im Geiste der Gelehrsamkeit hingewiesen.60 Dabei zeigt sich für das Geschlechterverhältnis besonders am Beispiel der Familie Peutinger, dass die grundsätzliche Rollenverteilung von Mann und Frau beim ‚Entree‘ in die respublica litteraria [...] noch deutlich traditionell [ist], die Dominanz des vir doctus bei der Eröffnung des gelehrten Dialogs unübersehbar. Erfahren in der Gelehrten-Hierarchie und in den Spielregeln humanistischer Selbstdarstellung, tritt er als Regisseur und Vermittler der Frau auf der literarischen Bühne auf.61 56 Desiderii Erasmi Rotterodami Opera omnia emendatiora et auctoria. 10 Bde., Lugduni Batavorum 1703–1706, Bd. V, S. 688. 57 Vgl. dazu: Aristoteles: Politik. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Eugen Rolfes. Hamburg 1981, S. 26: „[...] so steht es dem Vater und Gatten zu, über das Weib wie über die Kinder zu herrschen, und zwar beide als freie, jedoch nicht nach derselben Weise der Herrschaft, sondern über das Weib nach Art des Hauptes eines Freistaates und über die Kinder nach Art eines Königs. Denn das Männliche ist von Natur mehr zur Leitung und Führung geeignet als das Weibliche, wenn es nicht etwa widernatürlich veranlagt ist.“ 58 Vgl. hierzu Christine Christ-von Wedel: Erasmus von Rotterdam: Anwalt eines neuzeitlichen Christentums. Münster 2003, S. 226–242. 59 Vgl. hierzu auch Maja Eib: Der Humanismus und sein Einfluss auf das Eheverständnis im 15. Jahrhundert. Eine philosophisch-moraltheologische Untersuchung. Münster 2001. 60 Vgl. Hess: Lateinischer Dialog (wie Anm. 19), S. 138ff. 61 Ebd., S. 130.

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Die Initiative zur Bildung der Frau ergreifen mithin deren Ehemänner und deren Dominanz soll weiterhin bestehen bleiben. Dabei liegt das Motiv nicht nur in der pragmatischen Grundlage der für die humanistische Erziehung der Kinder notwendig gewordenen Bildung der Frau, sondern auch in der Tatsache, dass zum Erscheinungsbild des italienischen, spanischen, aber auch des englischen Humanismus die feminae doctae gehörten, so dass auch die deutschen Humanisten sich genötigt sahen, gezielt die Bildung ihrer Frauen und Töchter zu betreiben, um ihr „ehrgeiziges Kulturprogramm“, den Humanismus nach Deutschland zu bringen, in die Tat umzusetzen.62 Als weiteres Beispiel dieser Form von Emanzipationsverständnis mag das Colloquium Uxor μεμψίγαμος, sive Coniugium des Erasmus dienen. In diesem Gespräch treffen zwei Frauen, Eulalia und Xantippe, aufeinander, wobei Eulalia als gutmütig erfahrene Ehefrau der Xantippe, die sich über ihre noch junge Ehe bitter beklagt, erklärt, dass nicht ihr Ehemann, sondern sie selbst, Xantippe, für diesen Zustand verantwortlich sei: Sed tamen ubi res in eum statum devenit, ut alteri cedendum sit, aequum est uxorem marito cedere.63

Der Grund für dieses Diktum liegt laut Eulalia in Folgendem: At Paulus docet, uxores oportere subditas esse viris cum omni reverentia. Et Petrus nobis exemplum pro- ponit Sarae, quae maritum suum Abraham dominum appellabat.64

Die Vorzüge des Geistes – d. h. die Bildung – werden dabei als „matronarum ornatus“ bezeichnet.65 Doch dieser Schmuck, als der die Bildung der Frau fungieren soll, ist nicht deren einzige Bestimmung. Denn Eulalia setzt Xantippe dezidiert auseinander, dass es der Frau nicht einmal nütze, in Auseinandersetzungen mit dem Ehemann im Recht zu sein, dass sie vielmehr danach trachten müsse, ihrem Mann und sich selbst die Ehe möglichst angenehm zu gestalten. Dazu habe sie viel Klugheit und Takt nötig: His animadversis, attemperabam me illi, cavens ne quid offensae nasceretur.66

Die als positive Figur in diesem Dialog entworfene Eulalia benutzt also ihre Klugheit und Bildung dafür, ihrem Mann den größtmöglichen Eindruck ihrer Anpassung zu bezeugen. Ihr Konzept ist dabei so ausdifferenziert, dass Xantippe ausruft: Philosopham esse oportet, quae ista praestet.67

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Ebd., S. 135. AS VI, S. 148. Ebd. Ebd., S. 144. Ebd., S. 154. Ebd., S. 158.

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Dieser Dialog zeigt mit allem Nachdruck, dass Erasmus die Bildung der Frau keines- . wegs als Medium und Instrument einer auf Gleichheit abzielenden Emanzipation interpretierte – wie Ursula Hess dies meinte. Vielmehr kann ihre Intellektualität zum Instrument einer konfliktfreien Unterwerfung dienen und – da Eulalia keineswegs negativ dargestellt wird – soll sie es auch. Schon diese wenigen Beispiele aus dem Werk des Erasmus,68 aber auch andere zeitgenössische Entwürfe zur Frage einer Bildung der Frau belegen, dass Magdalias Androhung der Machtübernahme durch gebildete Frauen keineswegs eine positive Utopie darstellt. In keinem der genannten Texte und auch bei keinem anderen Autor – Ausnahmen besonderer Art bilden hier Agrippa von Nettesheim69 oder auch Guillaume Postel70 – wird die Bildung der Frau als Legitimation für die Möglichkeit politischer Partizipation ins Auge gefasst.71 Als notwendige Voraussetzung des humanistischen Ehebegriffs bleibt sie ausschließlich auf die Aufgaben der Ehefrau und Mutter bezogen.72 Dagegen entspricht der zweite Aspekt der Aussage Magdalias, die Bildung werde sich auch machtpolitisch der Bildungsfeindlichkeit überlegen zeigen, der auch unabhängig von der Tatsache, dass Magdalia als Frau ihn vertritt, gelesen werden kann, den Grundüberzeugungen des Erasmus.73 Sowohl unter religiösen als auch unter moralischen oder politischen Gesichtspunkten bedeuteten Bildung und Gelehrsamkeit das entscheidende Medi-

68 Weitere Schriften des Erasmus, in denen ähnliche Argumentationsbewegungen nachgewiesen werden können, sind: de vidua christiani sowie Convivium religiosum. 69 Siehe Agrippa von Nettesheim: Declamatio de nobilitate et praecellentia foeminei sexus. Antwerpen 1529; vgl. hierzu auch Susanne Gramatzki: Was Frau wissen darf – Bildungskonzepte und Geschlechterentwürfe im Quattro- und Cinquecento. In: Geschlechtervariationen. Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit. Hg. von Judith Klinger und Susanne Thiemann. Potsdam 2006, S. 21– 45. 70 Siehe hierzu Marc Angenot: Les champions des femmes. Examen du discours sur la supériorité des femmes (1400–1800). Québec 1977, S. 37ff. 71 Vgl. hierzu auch die Darstellung expliziter Misogynie bei Magdalena Drexl: Die ‚Disputatio nova contra mulieres, Qua probatur eas Homines non esse‘ und ihre Gegner. „Querelle des Femmes“ in der konfessionellen Polemik um 1600. In: Geschlechterstreit am Beginn der europäischen Moderne. Hg. von Gisela Engel u. a. Königstein/Taunus 2004, S. 122–135. 72 Die einzige herausragende Ausnahme bildet hierbei das Colloquium Senatulus, das Erasmus in enger Anlehnung an die Aristophanische Lysistrate konzipierte. Dieser auch politische Aufstand der Frauen verfällt allerdings in vielen Momenten eher einer starken Kritik am weiblichen Geschlecht, als dass hierbei positive Utopien, wie noch bei Aristophanes, entworfen würden. Folgerichtig hat denn schon Erasmus in einer Vorrede zu den Colloquia erklärt, er habe im Senatulus vor allem auf einige Frauenschwächen aufmerksam machen wollen. Vgl. dazu Schneider: Das Bild der Frau (wie Anm. 16), . S. 69–72. 73 Dass Bildung hier vor allem im Hinblick auf eine religiöse Erziehung und Politik erfolgt, zeigte jüngst Kerstin Schmitz-Stuhlträger: Das Recht auf christliche Erziehung im Kontext der Katholischen Schule. Münster 2009, S. 178ff.

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um zur Ausbildung wahrer Frömmigkeit und einer humanen – und d. h. für Erasmus christlichen – Gesellschaft.74 Schon in einer seiner ersten Publikationen, den Antibarbari, verknüpft Erasmus seine Bildungstheorie mit seinen Ansätzen zur Frömmigkeits- und Gesellschaftslehre. Dabei war der Humanist – wie späterhin der ihm nahe stehende Philipp Melanchthon – der festen Überzeugung, dass der „eruditio“ eine Wirkmacht innewohne, die soziale Ordnungen und deren Institutionen prägen könnte.75 Diesen humanistischen Optimismus vertritt in unserem Gespräch ausschließlich und kontrovers Magdalia. Insofern also kann ihre Ankündigung der Ämterübernahme nicht nur als Schreckensvision betrachtet werden, bedenkt man, dass sie nicht nur als Vertreterin der Frauenbildung, sondern auch der humanistischen Bildungsauffassung überhaupt auftritt und im Gespräch mit dem Abt obsiegt. Der dritte Aspekt allerdings, unter dem ihre Aussage betrachtet werden kann, verstärkt wiederum den negativen Argumentationscharakter. Es gehört zu den Einsichten schon des Erasmus selbst sowie der Erasmus-Forschung, dass der Rotterdamer Gelehrte in der Auseinandersetzung mit Luther die genauere Form seiner Herrschaftskritik und seiner Vorstellungen von ‚Reformation‘ strictu sensu ausgebildet hat.76 Wie aus vielen Briefen zu ersehen, störte ihn an Luther – bei großer Übereinstimmung in den Inhalten der Kritik des Wittenbergers an der Kirche – vor allem dessen Radikalität der konkreten politischen Forderungen. Bei aller Kritik sprach Erasmus sich nämlich niemals offen gegen die katholische Kirche aus, sondern er hat sie als notwendige Form religiöser Autorität akzeptiert. Von Luther im Streit um den freien Willen bedrängt, rang er sich in einer Schutzschrift zu einem deutlichen Bekenntnis durch: Ab Ecclesia Catholica nunquam defeci. Tuae Ecclesiae adeo nunquam fuit animus dare nomen, ut homo plurimis alioqui nominibus infelicissimus, hoc certe nomine videar mihi felix, quod constanter a vestro foedere abstinuerim. Scio in hac Ecclesia, quam vos Papisticam vocatis, esse multos qui mihi displicent: sed tales video et in tua Ecclesia. Levius autem feruntur mala quibus assueveris. Fero igitur hanc Ecclesiam donec video meliorem: et eadem me ferre cogiture, donec ipse fiam melior.77

Der Weg des Erasmus zu Veränderungen besteht daher nicht in der Infragestellung der kirchlichen oder weltlichen Autorität als solcher, geschweige denn ihrer je aktuellen Machthaber, wohl aber einer Kritik der bestimmten Formen ihrer Machtausübung, die sich in rituellen Äußerlichkeiten und mechanischen Glaubenshandlungen erschöpfte und damit der wahren Frömmigkeit des Erasmischen Glaubensbegriffs entgegenstand. Als humanistischer Gelehrter setzte er auf die Möglichkeit der Überzeugung seiner besseren Ar74 75 76 77

Vgl. hierzu Ribhegge: Erasmus von Rotterdam (wie Anm. 13), S. 103ff. Anton J. Gail: Erasmus von Rotterdam. Hamburg 1974, S. 82. Vgl. hierzu u. a. Flasch: Menschenwürde oder Allmachtstheologie (wie Anm. 6). AS IV, S. 248.

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gumente, ohne die jeweilige Herrschaftsinstanz in ihrer Funktion zu bedrohen. Sinnfällig wird dies an dem großen pädagogischen Werk des Erasmus, das sich in herausragenden Exponenten zur Erziehung von Herrschern äußerte.78 Daher überschreitet Magdalia mit ihrer Androhung der Machtübernahme bei weitem den Programmrahmen der Erasmischen ‚Politik‘.79 Niemals hat er solch revolutionäre Formen politischer Veränderung positiv ins Auge gefasst. Unter diesem Aspekt muss die Intention des Erasmus, Magdalia eine solche Aussage in den Mund zu legen, als Argument ex negativo, somit sein Inhalt als Schreckensvision betrachtet werden. Im Ganzen ergibt sich hieraus der überwiegend negative, d. h. grundlegenden Auffassungen des Erasmus zuwiderlaufende Charakter der Schlussaussage Magdalias. Weder die Partizipation am politischen Geschehen oder kirchlichen Ämtern durch Frauen noch solche Form politischer Veränderung durch Machtübernahme gehören zum intendierten Kanon der Erasmischen Lehre. Zugleich kann die Ambivalenz noch dieser Aussage zum Ausgang des Gespräches nicht deutlich genug betont werden, da Magdalia als Vertreterin humanistischer Bildung grundlegende Ansichten des Erasmus vertritt. Die Ambivalenz der Figur Magdalias, die durch die Ermittlung des überwiegend negativen Charakters ihrer Schlussaussage deutlich hervortritt und damit ein tief sitzendes Ressentiment des Erasmus gegenüber Frauen realisiert, die erst Thomas Morus über Gespräche und das Vorbild seiner Familie relativierte,80 muss in ihrer Komplexität anerkannt werden. Die mehrfache Widersprüchlichkeit in Magdalias Aussagen, zum einen der Widerspruch zwischen Haupttext und Schlussaussage, zum anderen die Ambivalenz der Schlussvision selbst, die den ersten Gegensatz relativiert, verdeutlicht die durchaus zwiespältige Haltung des Erasmus zur „Frauenfrage“ seiner Zeit. Eben hier hat die bisweilen subtile, bisweilen derbe Ironie der Argumentation Magdalias ihren Ort: Tendieren die Vergleiche des Abtes und seiner Saufbrüder mit Schweinen noch zum Sarkasmus, so kann die Androhung der Machtübernahme durch Frauen nur als humorvolle Androhung negativer Konsequenzen anhaltender Bildungsfeindlichkeit gelesen werden; weder Magdalia noch ihr Autor meinen diese Vision tatsächlich ernst. Die zweite offene Frage, ob der Abt ungebildet oder nur ein intelligenter Vertreter der Bildungsfeindlichkeit aus politischen Gründen ist, lässt sich aus Kontexten nicht näher erschließen. Der Rotterdamer Gelehrte hat gegen beide Formen der Bildungsnegierung angekämpft, sowohl gegen wirkliche Unbildung als auch – wie im Falle Luthers – gegen

78 Vgl. hierzu u. a. Erasmus von Rotterdam: Institutio Principis Christiani. In: AS V, S. 111ff. 79 Zu Erasmus’ Verständnis von ‚Politik‘ vgl. u. a. Wim Blockmans: Die politische Theorie des Erasmus und die Praxis seiner Zeit. In: Jan Sperna Wieland, Wim Pieter Blockmans, Willem Frijdhoff (Hg.): Erasmus von Rotterdam. Die Aktualität seines Denkens. Hamburg 1988, S. 57–72. 80 Vgl. dazu: Robert Stupperich: Erasmus von Rotterdam und seine Welt. Berlin, New York 1977, S. 87.

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dessen intelligent vorgetragenes Misstrauen gegenüber der Philosophie.81 So scheint der Abt Sinnbild beider Positionen zu sein, was sich in der Zweiteilung des Dialogs andeutet. Im ersten scheint der kirchliche Würdenträger seine Ansichten geschickt und gelehrt zu begründen, wogegen er im zweiten Teil nur noch in Sentenzen sich ergeht; beides verfällt in seiner jeweiligen Ausprägung der vehementen Kritik.

4. Gelehrte Frauen des Humanismus – oder über die Grenzen . der Emanzipation Das Ziel der vorstehenden skizzenhaften Überlegungen lag darin, über eine Rekonstruktion der Argumentationsbewegung des Colloquiums Abbatis et Eruditae des Erasmus von Rotterdam Position zur Frage der Frauenbildung im frühen 16. Jahrhundert zu bestimmen. Dabei ergab sich, dass weder die Versuche einer weitgehenden Negation der Emanzipation der Frau durch die Interpretation einer ausschließlich heuristischen Funktion der Erudita für eine Akzentuierung der Kritik an der Kirche (Schneider, Gutmann) noch die Bemühung, den Text als herausragendes Dokument erfolgreicher Emanzipation der Frau im Rahmen der gesellschaftlichen Umwälzungen des frühen 16. Jahrhunderts zu lesen (Hess, Kleinschmidt), zu stimmigen Ergebnissen führten. Die Einsicht in die Grenzen des Erasmischen Emanzipationsbegriffs eröffnet den Blick auf die historische Dimension der Schrift und damit die genaue Kontur der Position des humanistischen Gelehrten. Bei allem Fortschritt der Einsichten des Humanisten Erasmus im Hinblick auf die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft sollte erst das späte 18. Jahrhundert zu einem rechtlich fundierten und sozial abgezweckten Prinzip der Gleichheit der Geschlechter vordringen.

81 Vgl. Gail: Erasmus von Rotterdam (wie Anm. 75), S. 88; Augustijn: Erasmus von Rotterdam (wie Anm. 7), 108ff. und Ribhegge: Erasmus von Rotterdam (wie Anm. 13), S. 103ff.

Anette Syndikus (München)

Gespräch und Erkenntnis Frauenfiguren in den Dialogen des Erasmus von Rotterdam Perpulcre vero mecum agitur, . si mihi praestandum erit, . quicquid sub quacunque persona joco seriove dicitur in Colloquiis.

Erasmus selbst war sich des – modern gesprochen – fiktionalen Charakters seiner Colloquia familiaria sehr wohl bewußt: „Man geht ja schön mit mir um, wenn man mich für all das verantwortlich macht, was in den Colloquia scherzhaft oder im Ernst, in welcher Rolle auch immer, gesagt wird“.1 Den Erasmus-Monographien ist es demgegenüber weniger um die Colloquia als literarische Texte zu tun. Sie suchen vor allem – hinter dem Blick in die Lebenswelt im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts – nach seinen „wichtigsten Themen“, nach den „tiefgründigsten Gedanken des Erasmus, unbequeme[n] Gedanken, die an große, aktuelle Probleme rühren.“2 Die Gestaltung als solche – „wenn er verschiedene Aspekte einer Frage von verschiedenen Personen beleuchten läßt“ – würdigen etwa Cornelis Augustijn oder Léon E. Halkin durchaus,3 daß aber gerade darin zusätzliche Reflexionsmöglichkeiten für den Leser enthalten sind, nehmen sie nicht in den Blick. 1 Zitiert nach Cornelis Augustijn: Erasmus von Rotterdam. Leben – Werk – Wirkung. Aus dem Holländischen übersetzt von Marga E. Baumer. München 1986, S. 145. Augustijn bezieht sich auf die von Jean LeClerc herausgegebenen Opera omnia des Erasmus (10 Bde. Leiden 1703–1706. Reprint Hildesheim 1961–1962; Sigle: LB, hier Bd. IX, Sp. 1069 C, aus der Apologia adversus articulos aliquot, Sp. 1015 C–1094 A). 2 Léon E. Halkin: Erasmus von Rotterdam. Eine Biographie. Aus dem Französischen von Enrico Heinemann. [Zuerst 1987.] Zürich 1989, S. 232; vgl. ebd., S. 215: „Mit spielerischer Leichtigkeit stellt er anhand kleiner Alltagskonflikte die großen Probleme der Bildung, der Moral und der Religion dar [...]. Die Colloquia unterhalten die Leser, aber mit Realität, nicht mit Fiktion.“ 3 Augustijn: Erasmus (wie Anm. 1), S. 145, vgl. Halkin: Erasmus (wie Anm. 2), S. 232: „In der Form der Wechselrede kann er die Themen nach Für und Wider erörtern“. Die neue Erasmus-Biographie des Historikers Wilhelm Ribhegge (Darmstadt 2010) ist vor allem an geschichtlichen Ereignissen und ihrer Reflexion in den Briefen des Erasmus und seiner Briefpartner orientiert. Im kurzen Abschnitt zu den Colloquia (S. 125–129), in denen es „um gelebtes Leben und um verschiedene Arten der Lebensgestaltung“ geht, bemerkt er zu einem (m. E. bisher zu wenig beachteten) Aspekt der Darstellung (S. 126): „Diese [sc. Lebensformen] werden gelobt, kritisiert, ironisiert und manchmal

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Um den Besonderheiten der erasmischen Dialoge näher zu kommen, hilft ein Blick auf die Gattungstheorie des Dialogs in historischer Perspektive. Klaus W. Hempfer und seine Forschergruppe haben sich vor allem mit Renaissancedialogen und Dialogtheoretikern des italienischen Cinquecento beschäftigt;4 ihre Ergebnisse sind insofern nur bedingt übertragbar. Aber sie machen darauf aufmerksam, wie wichtig es ist, zwischen Anliegen des Humanisten Erasmus und denen der Dialogpartner zu unterscheiden, auch wird eine allzu enge Anbindung an die – zweifellos modellbildenden – satirischen Dialoge des Lukian vermieden, deren Übersetzung5 Erasmus zusammen mit Thomas Morus 1517 veröffentlicht hat. In Renaissancedialogen werde, so Hempfer, „im Anschluß an das antike Dialogmodell“ die „aufgebaute Wirklichkeitsillusion zeitgenössisch nicht nur als Fiktion durchschaut, sondern dichtungslogisch notwendig als solche verstanden [...], so daß die Mündlichkeit des schriftlichen Dialogs immer schon als eine fingierte Mündlichkeit gelesen wurde“.6 Anders als im Drama werden nicht Tun und Lassen in der Welt nachgeahmt, nicht Handlungen, sondern Argumente und Erkenntnisgewinnung.7 Freilich gibt es auch Bezüge zur Komödie, wenn Unschönes oder Abstoßendes zur Sprache kommt oder wenn bei Erasmus – so wäre Hempfer zu ergänzen – derbe, obszöne Worte zum Eindruck von Lebensnähe beitragen.8

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scharf verurteilt und satirisch bloßgestellt. Erasmus [...] predigt nicht, stellt keine Prinzipien auf und trägt keine Sprüche vor“. Klaus W. Hempfer: Die Poetik des Dialogs im Cinquecento und die neuere Dialogtheorie. Zum historischen Fundament aktueller Theorie. In: Poetik des Dialogs. Aktuelle Theorie und rinascimentales Selbstverständnis. Hg. von dems. Stuttgart 2004 (Text und Kontext 21), S. 67–96. Vgl. auch Hempfers Vorwort zu diesem Band (S. 7–12) sowie die Vorworte zu zwei weiteren von Hempfer herausgegebenen Bänden seines Berliner Sonderforschungsprojekts: (1) Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien. Ebd. 2002 (Text und Kontext 15), S. VII–XV; (2) Grenzen und Entgrenzungen des Renaissancedialogs. Ebd. 2006 (Text und Kontext 24), S. 7–11. Vgl. dazu Werner Welzigs ,Einleitung‘ zu: Erasmus von Rotterdam. Ausgewählte Schriften, lateinisch und deutsch. Hg. von dems. Bd. 6: Colloquia Familiaria. Vertraute Gespräche. Darmstadt 1967, S. XVIII; Welzigs Ausführungen zur literarischen Form der erasmischen Dialoge (S. XIV– XXII) sind allerdings teilweise veraltet. Hempfer: Vorwort 2004 (wie Anm. 4), S. 9; vgl. ders.: Die Poetik des Dialogs (wie Anm. 4), S. 80f. Ebd., S. 9, bzw. S. 82–86, besonders S. 85. Hempfer bezieht sich auf Torquato Tasso: Dell’ arte del dialogo (1586). Vom Fehlen einer Handlung als Unterscheidungskriterium gegenüber dem Drama gehen auch Thomas Fries und Klaus Weimar aus; [Art.] Dialog 2. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Hg. von Klaus Weimar u. a. Berlin / New York 1997, S. 354a–356b, hier S. 354a. Auch Welzigs Bemerkungen über die „Ortslosigkeit vieler Dialoge“ sind in diesem Zusammenhang aufschlußreich (Einleitung, wie Anm. 5, S. XXf.). Hempfer (wie Anm. 4), S. 84f., mit Bezug auf Sperone Speroni: Apologia dei dialoghi (1574). – Die lebendige Gesprächsführung in den Colloquia und die lebensecht erscheinenden Personen führten immer wieder zu einer Verwischung der Grenze zwischen Dialog und Drama: „Mit Sinn für dramaturgische Effekte entwirft er komische Einakter“ (Halkin: Erasmus, wie Anm. 2, S. 232); so auch Welzig: Einleitung (wie Anm. 5), S. XVIf., sowie Kurt Steinmann: Vorwort. In: Erasmus von Rot-

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Daraus ergeben sich weitreichende Folgen für die Erkenntnis, die auch der Leser eines Dialogs zusammen mit den Figuren mitvollziehen kann. Je nachdem, wie gegenwärtig die Konzeption eines Traktats ist, kann sich eine der vertretenen Meinungen als richtig erweisen, oder aber es stehen unterschiedliche ,Wahrheiten‘ nebeneinander. Dann „kann sich im freien Wechsel von Rede und Gegenrede eine Erkenntnis vollziehen, die [...] von Differenzen lebt, so daß keine einzelne der im Gespräch formulierten Positionen in einem privilegierten Verhältnis zur unformulierten des Autors steht.“9 So weit geht Erasmus in seinen Colloquia kaum, doch bleibt immer wieder manches in der Schwebe. Beispielsweise haben Teilaspekte der vier Lebensentwürfe im ,Altmännergespräch‘ (Gerontologia sive Ochema), die u. a. auf einem ausschweifenden und einem pragmatisch-vernünftigen Epikureismus beruhen, ihre Berechtigung, andere Aspekte stellen die übrigen betagten Männer in Frage, aber keiner von ihnen könnte einem jungen Mann uneingeschränkt als Vorbild dienen. Viel klarer ist eine beurteilende Position etwa hinter den Dialogen ,Soldatenbeichte‘ (Confessio Militis) oder ,Das Wallfahren‘ (Peregrinatio religionis ergo) zu erkennen, wenngleich der zu Belehrende jeweils uneinsichtig bleibt. Wieder anders enden die drei im folgenden vorzustellenden Dialoge: Im Gespräch über ,Die Ehe‘ (Uxor μεμψίγαμος, sive Coniugium) und im Gespräch zwischen ,Jüngling und Hure‘ (Adolescentis et Scorti) wird der Rat schließlich angenommen, vorausgegangen ist jeweils ein veritables Streitgespräch. Unsicherheiten über eine zugrundeliegende Stimme des Autors werden im ersten Beispiel, dem ,Frauensenat‘ (Senatulus sive γυναικοσυνέδριον), offenkundig werden; hier ist eine ,Wahrheit‘ als „Ergebnis gemeinschaftlicher Anstrengung“ innerhalb des Dialogs10 nicht erkennbar. Um so interessanter ist die Frage nach möglichen Haltungen in ,Frauensachen‘, die sich in erster Linie aus dem Text selbst ergeben.11 terdam: Vertrauliche Gespräche. Aus dem Lateinischen übersetzt, hg. [...] von dems. Zürich 2000, S. 7–30, hier S. 27. Zu dieser verdienstvollen Auswahlübersetzung s. u. Anm. 11 und 21. 9 Fries und Weimar: [Art.] Dialog 2 (wie Anm. 7), S. 354a; ähnlich Hempfer: Vorwort 2004 (wie Anm. 4), S. 9: „Dieses [sc. inszenierte] Argumentationsspiel kann [...] vom Versuch, eine ,opinio‘ als die Wahrheit auszuweisen, bis zum komplett paradoxen Gegeneinanderausspielen unterschiedlichster ,Wahrheiten‘ reichen,“ vgl. S. 67f., 73f., 87f. 10 Fries und Weimar: [Art.] Dialog 2 (wie Anm. 7), S. 355a. Vgl. dazu auch unter III. im folgenden. 11 Zitiert werden die Colloquia nach der ,Amsterdamer Ausgabe‘ mit der Sigle ASD (Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami recognita et adnotatione critica instructa notisque illustrata. Amsterdam 1969ff., hier Bd. I.3: Colloquia. Hg. von Léon E. Halkin, Franz Bierlaire und René Hoven. Amsterdam 1972. Die Schreibung von u und v habe ich normalisiert, da die Textaussage davon nicht berührt ist. Zu beachten ist der editionsphilologische Hinweis von Cornelijs Augustin: Erasmus (wie Anm. 1, S. 178), daß hier die ersten von Erasmus autorisierten Ausgaben als Basistext dienen, während die Leidener Ausgabe (LB, 1703–1706, wie Anm. 1) den letzten zu Erasmus’ Lebzeiten erschienenen Druck zugrundelegt (vgl. die neunbändige Ausgabe, Basel 1538–1540). – In der Auswahlausgabe von Welzig (wie Anm. 5) fehlen Senatulus sowie weitere Dialoge mit Frauenfiguren, Proci et Puellae, Virgo poenitens, Virgo μισόγαμος (alle 1523), Puerpera (1526), Ἄγαμος γάμος, sive Coniugium impar (1529). Steinmanns Übersetzung (wie Anm. 8) enthält immerhin ,Die ungleiche Ehe‘ sowie ,Der Frauensenat‘.

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I. Der Dialog Senatulus (erstmals gedruckt 1529) weckt zu Beginn große Erwartungen. Cornelia, die Hauptrednerin in der Frauenversammlung, stellt ihren Zuhörerinnen deren Situation und Stellung in der Gesellschaft pointiert vor Augen: Während ihre Ehemänner täglich zusammenkommen, um Geschäfte zu betreiben, sind Frauen auf ,Spinnrocken und Webstuhl‘ – auf ihr Hauswesen – beschränkt.12 Dabei stehen ihr Ansehen und ihre Unversehrtheit, ja sogar ihre Würde als Mensch auf dem Spiel, denn – so spitzt Cornelia ihren Aufruf zu – Frauen seien für Männer in erster Linie ,Vergnügen‘: „ut [...] viri nos pene pro delectamentis habeant, vixque hominis vocabulo dignentur.“13 Als Handlungsoption bleibt die weibliche Solidarisierung („reipublicae disciplina“, Z. 9), die Zusammenkunft soll dem ,Gemeinwesen der Frauen‘ dienen („reipublicae foeminae“, Z. 3f.). Für heutige Leser scheint Cornelias Diagnose weit vorauszuweisen. Noch im Jahrhundert der Aufklärung waren „Nehen, stricken, sticken“ der weithin unhinterfragte Handlungsraum der Frauen, wie es etwa Luise Adelgunde Victorie Gottsched, die Frau des Leipziger Literaturpapstes, nahelegt: In ihrer Komödie Die Pietisterey im Fischbein-Rocke (1736) wird diese selbstverständlich erscheinende Einschränkung Herrn Wackermann zugeschrieben, der wenig später – ganz im Sinn der Aufklärung – die Angesprochene, seine Schwägerin Frau Glaubeleichtin, zum Selbstdenken, zum Hinterfragen von Autoritäten ermuntert.14 Das Rechtsprinzip der Menschenwürde wird in der Virginia Declaration of Rights (1776), in der Déclaration des Droits de L’Homme (August 1789) und in den französischen Verfassungen von 1791 bis 1799 nicht genannt – dort geht es um Menschen- und Bürgerrechte, deren Ausdehnung auf Frauen von den französischen Revolutionären 1791

12 ASD I.3, S. 629, Z. 7f.: „[...] quum viri quotidianis conventibus suum agant negocium, nos colo telaeque assidentes causam nostram deserimus.“ Zu diesem Topos vgl. im folgenden Anm. 14 sowie den Beitrag von Gideon Stiening in diesem Band, besonders bei Anm. 44f. – Die Amsterdamer Ausgabe bietet eine fortlaufende Zeilenzählung, so daß im folgenden bei Zitaten im fortlaufenden Text auf die Seitenangabe (Senatulus S. 629–634) verzichtet werden kann. 13 Ebd., Z. 9f., Hervorhebung A. S. – Ziel der Versammlung ist, „quae ad communem omnium et dignitatem et utilitatem pertinent“ (ebd., Z. 5f.). Daß die Übersetzung von dignitas mit ,Ansehen‘ (so Steinmann, wie Anm. 8, S. 250) hier zu kurz greift, zeigt der der Aussage zugrundeliegende Befund in Z. 9f. (s. o. im Text). Vgl. Z. 12f.: „ut dignitatem nostram negligamus, certe incolumitas debet esse curae.“ 14 Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke. Komödie [Zuerst anonym 1736]. Hg. von Wolfgang Martens. Stuttgart 1968. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe 1976 u. ö., Erste Handlung, sechster Auftritt: „Sie wissen alles, was sie wissen sollen: Nehen, stricken, sticken, und viele andere Sachen, die ihrem Geschlechte zukommen. Sie haben auch Verstand; [...] Aber von der Theologie wissen sie nichts.“ (S. 34) „[...] Aber woher wissen sie, daß das, was sie behaupten, wahr oder falsch sey? Denn darauf kömmts an. [...] Gut! wenn aber eure Herren die Stellen übel auslegen?“ (S. 35)

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ausdrücklich abgelehnt wurde.15 Cornelias Aufruf zur Solidarität schließlich setzen u. a. die englischen Suffragetten erst am Ende des 19. Jahrhunderts in konkretes politisches Handeln um. Erasmus’ Text selbst läßt – zumindest im weiteren Fortgang des Dialogs – derartige weit ausgreifende Ausblicke fragwürdig erscheinen. Zwar fordert Cornelia zunächst in bester Humanistenmanier dazu auf, das antike Vorbild unter Kaiser Heliogabal, das jahrhundertelang unbeachtet geblieben war, wieder zu erneuern – „vetus exemplum revocamus“ (Z. 20f.) –, zwar stellt sie den Defiziten im politischen Handeln der Herrscher, Theologen, Priester und Bischöfe (Z. 44f.) eine Verbesserung der sozialen Beziehungen unter weiblicher Führung gegenüber – „Si nobis essent traditae rerum habenae, aliquanto, ni fallor, tolerabilius haberent res humanae“ (Z. 47f.). Die kämpferischen Anliegen werden jedoch von Cornelia selbst als prooemium relativiert und später nur noch einmal kurz wiederaufgenommen;16 der Rest des Dialogs, der gegenüber der ,Vorrede‘ (51 Zeilen) mehr als den doppelten Umfang einnimmt (113 Zeilen), ist Fragen der Geschäftsordnung gewidmet: den einzubeziehenden Teilnehmerinnen (Z. 52–67), der Sitzordnung (Z. 81– 98), den Auszählungsmodalitäten (Z. 99–111), schließlich den zu verhandelnden Themen (Z. 111–158). Auch hier geht es um die dignitas der Frauen,17 doch wird diese Würde jetzt in erster Linie auf Kleidung und Umgangsformen bezogen (ist also zum Teil mit ,würdevolle Stellung‘ zu übersetzen), die dem Stand und den Lebensformen entsprechen sollten. Handlungsbedarf bestehe vor allem bei den Exzessen der immer schneller wechselnden Moden, wenn einfache Bürgersfrauen (plebeiae) stets aufs neue mit Höherstehenden wetteifern. Der veränderten Akzentsetzung entspricht die Darstellung. Während Kleider, Schmuck, Hüte, Schminke etc. in vielen Details beschrieben werden, verweist Cornelia nur kursorisch auf allgemeine Folgen eines solchen Verhaltens: „Nunc geminum est malum, et res familiaris extenuatur et ordo, qui dignitatis est custos, confunditur.“ (Z. 121f.)18 So sie 15 Vgl. Frühe Neuzeit. Oldenburg Geschichte Lehrbuch. Hg. von Anette Völker-Rasor. München 2000, S. 62–66, besonders S. 63, rechte Spalte, zu Frauen in der Französischen Revolution (Verf. Wolfgang Schmale), S. 107–109, zum amerikanischen Gesellschaftsvertrag (Verf. Thomas M. Fröschl). 16 ASD I.3, S. 630f., Z. 51–53: „Sed ne vos longiore morer prooemio, uti singula gerantur, [...] primo loco tractandum erit.“ Zur Wiederaufnahme am Schluß (S. 633, Z. 151–158) siehe im folgenden. – Craig R. Thompson bemerkt in Anm. 21 zu seiner Übersetzung, daß die gesamte abschließende Rede (Z. 109–164) in den autorisierten Ausgaben Catarina zugeschrieben werde, in der Basler und Leidener Ausgabe (s. o. Anm. 11 bzw. 1) jedoch Cornelia – „a correction required by coherence and artistic unity, for Cornelia is convenor of this assembly of women and obviously the originator of its concerns.“ (Collected Works of Erasmus. Colloquies translated and annotated by Craig R. Thompson. 2 Bde. Toronto, Buffalo / London 1997, hier Bd. 40, S. 912.). 17 ASD I.3, S. 631–633, Z. 73, 112, 122, 142, 148, 152. 18 Elsbeth Gutmann extrapoliert aus solchen Äußerungen den Standpunkt des Erasmus, ohne den Stellenwert innerhalb des Dialogs zu beachten: In der Unterscheidung der Kleidung sehe Erasmus

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überhaupt genannt wird, ist die dignitas mit dem neuen Thema, Beispielen für die Verkehrung der gesellschaftlichen Ordnung, verbunden: „Ne in coniugiis quidem habetur ulla dignitatis ratio. Patriciae nubunt plebeiis, plebeiae patriciis“ (Z. 141f.). Wenn Cornelia abschließend diejenigen Fragen anschneidet, die über reine Frauenangelegenheiten hinaus mit den Männern auszuhandeln seien (Z. 151–158), Mitspracherechte und vielleicht sogar wechselnde Ämterübernahme auf kommunaler Ebene (Z. 156–158), dann nimmt sie die anklagende Diagnose des Beginns, die Ungleichbehandlung der Frauen, wieder auf, bezieht sie aber nunmehr auf Standesfragen.19 Unvermittelt bricht Cornelia die Frauenversammlung ab mit einem Verweis auf die morgige Sitzung. Das wenig ausgewogene Verhältnis zwischen dem ersten und den beiden nachfolgenden Teilen – zuerst der feministisch anmutende Aufruf, der grundlegende Fragen weiblicher Existenz berührt, dann (nach dem Intermezzo über Verfahrensfragen) die Klage über mangelndes Bewußtsein der Standesunterschiede – ist der Erasmusforschung (soweit ich sehe) nicht aufgefallen. Sofern man auf Cornelias prooemium eingeht, wird es als Rückgriff auf Aristophanes’ Komödien20 Lysistrata und Ekklesiazusai verstanden, worauf letztlich „feministische Ideen des Erasmus“ zurückzuführen seien.21 In Kommentaren und Anmerkungen zu den Colloquia überwiegen bei weitem die Erläuterungen zu den Realia des

„die sichtbare Ordnung verwirklicht. [...]. Die Gleichheit aller Menschen ist für ihn eine innere, absolute; nach aussen erscheinen die Christen in der von Gott gewollten Rangordnung.“ (Die Colloquia Familiaria des Erasmus von Rotterdam. Basel 1968 [Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 111], S. 98, vgl. S. 97.). 19 Daß die adlige Herkunft der Ehefrau im Wappen nicht angemessen berücksichtigt wird (ASD I.3, S. 633, Z. 154f.), folgt unmittelbar auf die scharf kritisierte Ungleichbehandlung (Z. 151–154): „Est autem et quod cum viris agamus, qui nos summovent ab omni dignitate, ac tantum non pro lotricibus et cocis habent, ipsi res omnes pro suo gerunt arbitratu. Concedemus igitur illis magistratus publicos ac bellicae rei curam.“ Steinmanns Übersetzung (wie Anm. 8, S. 259), „die uns von allen Ämtern und Ehrenstellen ausschließen“ (Hervorhebungen A. S.), ist sprachlich möglich und entspricht dem Kontext, läßt aber die Verbindung zum Anfang verschwinden. 20 Allerdings agieren und agitieren Aristophanes’ Frauen – sehr viel deutlicher als im Senatulus – auf einer politischen Ebene. 21 Elisabeth Schneider: Das Bild der Frau im Werk des Erasmus von Rotterdam. Basel 1955 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 55), S. 71, so auch S. 72, zu Aristophanes S. 38–41, zu De nobilitate et praecellentia foeminei sexus des Cornelius Agrippa von Nettesheim (1529) S. 80–85, Textgegenüberstellung mit dem Senatulus S. 83f. Schneider argumentiert umsichtig (vgl. ebd., S. 70f.), verweist darauf, daß die Versammlungsleiterin keineswegs als lächerliche Figur dargestellt sei, und konstatiert als Darstellungsziel „einerseits“ Belustigung über Frauenschwächen, „andererseits“ eine Feststellung des Rechtes auf eine gewisse Teilhabe (S. 71). – In der Einleitung zu seiner ansprechenden Auswahlübersetzung, die sich an ein breiteres Lesepublikum wendet, geht Kurt Steinmann (wie Anm. 8) mit Bezug auf den Senatulus ausschließlich auf Gleichstellungsfragen der Frauen ein, die „aus unseren Tagen stammen“ könnten (S. 28f.).

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Hauptteils,22 und dementsprechend ist es die modische Exzentrik der unteren Stände, die Craig R. Thompson zum Ausgangspunkt nimmt für seine Einschätzung der Darstellungsziele des Senatulus: To make fun of female foibles was long the assumed the prerogative of every male satirist. By allowing women to legislate – a motif as old as the Ecclesiazusae of Aristophanes – Erasmus is having a gentleman’s joke. [...] This dialogue is an entertainment, not a contribution to social philosophy. Nevertheless it contains the germ of an idea, engagingly treated, about social and therefore [!] political status or privilege. Like ,Courtship‘, ,Marriage‘ and ,The Abbot and the Learned Lady‘, it pleases by comedy but at the same time invites reflection on social institutions.

Damit greift Thompson einen – häufig zitierten – Satz aus Erasmus’ Rechtfertigung De utilitate Colloquiorum auf, mit der dieser 1529 (in einer Erweiterung der Ausgabe von 1526) auf Kritik und zahlreiche Angriffe reagiert hatte: „In Senatulo traducturus eram vitia quaedam mulierum, sed civiliter, ne quis expectet tale quippiam quale habet Juvenalis.“23 – Besteht die Erkenntnis, die der Leser aus der Lektüre des Dialogs gewinnen kann, tatsächlich nur in „reflection on social institutions“, wie Thompson seine Einschätzung des Dialogs als Amüsement des Lesers erweitert und wie sie auch Gutmann24 nahegelegt hat? Es gilt, die Perspektive zu wechseln. Äußerungen aus einer Apologie sind nicht wie selbstverständlich mit möglichen Autorintentionen gleichzusetzen, und eine geäußerte Autorintention muß nicht in jedem Punkt mit Aussagen eines literarischen Textes übereinstimmen. Betrachtet man das Colloquium Senatulus als einen literarischen Text, der der Gattung ,Dialog‘ zuzuordnen ist, so sind zunächst vor allem Abweichungen von Darstellungsmöglichkeiten zu konstatieren, wie sie in den meisten Colloquia umgesetzt sind. Die vier Frauen, zu denen Cornelia spricht, sind eher Stichwortgeber als Gesprächspartnerinnen. Die ersten beiden ,Zwischenrufe‘ („Nondum interloquendi tempus est“, Z. 19) nehmen einzelne Worte aus der ernstgemeinten Rede Cornelias auf und ziehen die Aussage punktuell ins Lächerliche25 – erheiternde ,Unterbrechungen‘, die aber letztlich die Ernsthaftigkeit von Cornelias Anliegen unterstreichen. „Rursus interpellor“, weist Corne22 In Thompsons Anmerkungen zu seiner Übersetzung (Colloquies, wie Anm. 16), S. 912–915, bezieht sich nur S. 912 auf den ersten Teil des Senatulus. Das Zitat im folgenden ist seiner Einleitung (S. 905) entnommen. 23 Erasmus: De utilitate Colloquiorum (1526, mit Erweiterungen 1529). In: ASD I.3, S. 741–752, hier S. 748, Z. 268f. Schneider: Das Bild der Frau (wie Anm. 21), S. 71, weist zu Recht darauf hin, Erasmus müsse es nach zahlreichen Anfeindungen darum zu tun gewesen sein, „die Angriffsflächen möglichst zu verringern.“ 24 Siehe Anm. 18. 25 ASD I.3, S. 629f., Z. 17–20: „Cornelia. [...] Solae omnium animantium mulieres nunquam coimus. Margareta. Saepius quam decet. Cornelia. Nondum interloquendi tempus est. Sinite me perorare, dabitur singulis dicendi locus [...].“

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lia Perotta zurecht, um dann ihrerseits die Absurdität des Einwurfs mit einer ebenso absurden Annahme zu entlarven (Z. 21–27): Cornelia. [...] ������������������������������������������������������������������������������� Siquidem ante annos mille tricentos, ni fallor, Heliogabalus Caesar laudatissimus ... Perotta. Qui laudatissimus, quem unco tractum in cloacam proiectum esse constat? Cornelia. ���������������������������������������������������������������������������� Rursus interpellor. Si quem hac ratione probamus aut improbamus, malum dicemus Christum, quod in crucem suffixus sit, pium Domitium, quod domi sit mortuus.

Nach Julias Fragen zu den Zuzulassenden26 – darunter auch heikle Fragen nach Huren, Konkubinen und den Frauen von Priestern oder Mönchen – ist es einzig Catarina, die Cornelia widerspricht, doch mit ihrem Verweis auf die eigenen Bettgeschichten, die ihr Mann ausplaudere (Z. 71f.), bestätigt sie ungewollt Cornelias Gebot, nicht zu freimütig über den Ehegatten zu sprechen (Z. 68f.). Immerhin wird durch diese vereinzelten Unterbrechungen mit komischen Effekten der Eindruck einer lebendigen Aussprache – als fingierte Mündlichkeit – hergestellt, doch von einer Argumentation in utramque partem kann nicht gesprochen werden. Damit ist den Gesprächsteilnehmerinnen im Text die Möglichkeit vorenthalten, im Verlauf der Unterredung Einsichten oder Erkenntnisse zu gewinnen: Alle haben das gleiche Ziel, eine Versammlung zu Frauenfragen zu konstituieren, wie es durch das von Cornelia genannte historische Exempel des römischen Frauensenats festgelegt ist. Eine Betrachtung des Themas aus unterschiedlichen Perspektiven ist – mit diesen Vorgaben des Textes – ausgeschlossen. Wenngleich der Leser in diesem Dialog keine Veränderung von Ansichten oder Haltungen mitvollziehen kann, so hat er dennoch keinen Traktat, keine Predigt vor sich, deren Argumente er bestätigen oder ablehnen müßte. Um den Unterschied klarer fassen zu können, ist noch einmal an die thematische Zweiteilung zu erinnern. Sicherlich kann sich der Leser mit Craig R. Thompson über weibliche Überspanntheiten in Sachen Aussehen amüsieren, sicherlich kann er die „vitia quaedam mulierum“, auf die Erasmus hinweist,27 mit dem Überschreiten der Standesgrenzen identifizieren – Cornelia kritisiert sie deutlich genug. Auf einer zweiten Ebene könnten auch die unqualifizierten Zwischenreden, also die Art des Sprechens, als möglicherweise kritikwürdig verstanden werden. Aber sind die Diagnosen zum Geschlechterverhältnis im prooemium, auf die Cornelia am Ende – den Text abrundend – noch einmal zurückkommt, zu diesen vitia zu rechnen? Wohl kaum,

26 Ebd., S. 631, Z. 57–66. Die Selbstverständlichkeit, mit der Jungfrauen ausgeschlossen werden, läßt – aus heutiger Perspektive – darauf schließen, daß nach den Wertvorstellungen des Textes nur verheiratete Frauen als vollgültige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt wurden; vgl. Z. 59–62: „Cornelia. [..] At nuptas tantum recipiendas censeo. Iulia. Et inter nuptas virgines sunt, quae maritos habent eunuchos. Cornelia. Sed tribuatur hoc honoris coniugio, ut nuptae pro mulieribus habeantur.“ 27 Siehe oben Anm. 23.

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denn dann stünde auch Cornelias präziser (wenngleich nicht fehlerfreier)28 Rückgriff auf das antike Vorbild in Frage. „Neque novum est quod facimus, vetus exemplum revocamus.“29 So wie sie hier ein Grundanliegen der Humanisten aufgreift, so zeigt ihre Zurückweisung des bekannten Pauluszitats, Frauen mögen in der Versammlung schweigen (1 Cor 14), daß sie philologische Grundsätze im Umgang mit Texten kennt.30 Sie kennt und thematisiert die beiden Bedeutungen des griechischen Wortes ἐκκλησία, und sie berücksichtigt den Kontext, hier Paulus’ Bezug auf Zusammenkünfte von Männern. Sein Verbot könne nicht auf eine Frauenversammlung angewendet werden: „Nec ullam moveat quod Paulus apostolus vetat mulierem loqui in coetu, quam ille vocat ecclesiam: de coetu virorum loquitur, hic coetus est muliebris.“ (Z. 35f.) Weitere Indizien im Text bestätigen die Vermutung, daß ein ,Rest‘ verbleibt, der vorschnellen Bewertungen entzogen ist. Die Frauen, vor allem erkennbar bei Perotta, Catarina und Iulia, tragen italienische Namen und sind somit deutlicher auf eine konkrete Lebenswelt zu beziehen als Figuren mit erfundenen antikisierenden Namen, die – wie sonst oft in den Colloquia – nur innerhalb eines Textes als auktoriale Charakterisierungen zusätzliche Deutungsangebote vermitteln. Diese Besonderheit verbindet Senatulus auf erstaunliche Weise mit Gesprächen, die unter dem einfachen Volk Mitteleuropas oder Englands zu verorten sind, etwa zwischen Antonius und Adolphus in Naufragium oder Bertulphus und Guilielmus (Wilhelm) in Diversoria. Zu erklären ist der Verweis auf Italien wohl damit, daß die intellektuelle Unabhängigkeit von Frauen dort früher und umfassender zu beobachten war als nördlich der Alpen.31 Zugleich unterstreicht dieser mögliche

28 Vgl. Thompson: Colloquies (wie Anm. 16), S. 911, Anm. 5: „The emperor Severus Alexander (not Heliogabalus) is said to have kept statues of Christ and Abraham (not Moses)“. 29 ASD I.3, S. 630, Z. 20f. Mit ganz ähnlichen Worten beschreibt Erasmus sein eigenes Vorgehen im Dialog zwischen Abt und gelehrter Frau: „In Erudita puella simul et Paulae, Eustochii, Marcellae vetus exemplum renovo, quae cum integritate morum coniunxerunt studia literarum.“ (De utilitate colloquiorum, wie Anm. 23, S. 746, Z. 188f.) Paula, Eustochium und Marcella waren Briefpartnerinnen des Kirchenvaters Hieronymus, dessen Briefe erhalten sind; vgl. Thompsons Anm. 28 zu seiner Übersetzung von Abbatis et Eruditae (Colloquies, wie Anm. 16, hier Bd. 39, S. 512). 30 Zu Erasmus’ Bibelphilologie vgl. im folgenden Anm. 46f. und 69. 31 Anders Schneider: Das Bild der Frau (wie Anm. 21), S. 72. Willkürlich herausgegriffene Beispiele aus dem 15. Jahrhundert reichen von den Humanistinnen Cassandra Fedele (1469–1558), die als junge Frau u. a. vor dem venezianischen Senat über Frauenbildung sprach, und Laureta Cereta (1469–1499), die einen thematisch vielfältigen Briefwechsel mit Gelehrten führte, bis zu Angela Merici (1470/74?–1540), der Gründerin des Ordens der Ursulinen. Zu den erstgenannten vgl. www. uni-mannheim.de/mateo/desbillons/cereta.html (bzw. fedele.html) sowie – allerdings mit Betonung der Einschränkungen – Susanne Gramatzki: Was Frau wissen darf. Bildungskonzepte und Geschlechterentwürfe im Quattro- und Cinquecento. In: Geschlechtervariationen. Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit. Hg. von Judith Klinger und Susanne Thiemann. Potsdam 2006 (Potsdamer Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung N. F. 1), S. 21–45, hier S. 28–31.

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Realitätsbezug, daß den Diagnosen der Geschlechterbeziehungen größeres Gewicht beizumessen ist, als es die Reduktion des Dialogs auf „a gentleman’s joke“32 vermuten läßt. Mit deutlicherem Bezug auf die Unterschiede zwischen den Geschlechtern thematisiert Cornelia die zeitgenössische Wirklichkeit, wenn sie die Bibel zitiert, was nur im ersten Teil der Fall ist. Im expliziten Rückgriff auf ,den weisesten König‘, auf die Proverbia Salomons, hebt Cornelia an zwei Stellen die Beratung als Voraussetzung für das Gelingen einer Versammlung hervor,33 und das zweite Salomonzitat kennzeichnet sie sogar mit einer genauen Quellenangabe. Die sapientia, die dann bestimmend wäre, wird abgegrenzt von der Gegenwart, von Krieg, Uneinigkeit und Zwietracht zwischen den Herrschenden bzw. zwischen den Kirchenvertretern und dem Volk (Z. 43–47): Videmus monarchas tot iam annis nihil aliud quam belligerari; inter theologos, sacerdotes, episcopos et populum nihil convenire; quot homines tot sententiae, et in his ipsis plusquam muliebris est inconstantia. Nec civitati cum civitate, nec vicino cum vicino concordia est.

Nicht von ungefähr mündet diese im Vergleich zum Schlußteil umfassendere Zeitkritik in die bereits erwähnte Vertauschung der Führungsfunktionen (Z. 47–51): Si nobis essent traditae rerum habenae, aliquanto, ni fallor, tolerabilius haberent res humanae. [...] fas est, opinor, recitare, quod scripsit Solomon Proverbiorum capitulo 13: Inter superbos semper iurgia sunt, qui autem agunt cum consilio, reguntur sapientia.

Cornelia beruft sich auf die nicht zu bezweifelnde Autorität des Alten Testaments, um ihrem Anliegen Gewicht zu verleihen. In ihrer Argumentation erscheint demgegenüber das Vorbild eines römischen Kaisers, der seiner Mutter gewisse Versammlungsrechte zugestand, als zweitrangig. Beschränkt man sich auf die Betrachtung des Textes, wie ihn ein zeitgenössischer Leser verstanden haben mag, stehen sich mit dem Eingangs- und dem Schlußteil zwei thematisch gegensätzliche Teile gegenüber. Cornelias Wunschvorstellung, die im Irrealis verbleibt (Z. 47f.), wird unmittelbar vor der Aufhebung der Versammlung noch einmal aufgenommen: Teilhabe an öffentlichen Ämtern erscheint ihr nunmehr – bei pragmatischer Betrachtung – als mögliches Verhandlungsziel (Z. 156–158). Unterschiedlich sind jedoch die Stoßrichtungen der beiden Teile – sie lassen sich kaum vereinbaren.34 Es bleibt dem 32 Thompson: Colloquies (wie Anm. 16), S. 905. 33 Das erste Zitat ASD I.3, S. 629, Z. 13f.: „At sapientissimus ille rex scriptum reliquit: Ibi demum esse salutem, ubi multa consilia“; vgl. Prv 11, 14. Das zweite Zitat (S. 630, Z. 49–51) ist im folgenden im Text angeführt. 34 Anders Gutmann: Die Colloquia (wie Anm. 18), S. 98; sie versteht Krieg und Zwietracht unter den politischen Protagonisten (die Cornelia in ihrer Zeitkritik zu Beginn beklagt) als Ursache (!) der „vitia mulierum“, deren Verspottung Erasmus in seiner Apologie als Darstellungsziel beschreibt (De utilitate Colloquiorum, wie Anm. 23) – eine unzulässige Verquickung der Aussageebenen: „Diese Fehler erscheinen ihm [sc. Erasmus] als eine Folge der gefährlichen Entwicklung der Zeit, wie er Cornelia ausführen läßt.“

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Leser überlassen, welche Erkenntnisse er aus der Lektüre gewinnt. Ging dieser Leser – anders als die meisten Männer des 16. Jahrhunderts – nicht von vornherein davon aus, daß Frauen als Zweitgeschaffene über geringere geistige Fähigkeiten verfügen,35 konnte er den Eingangsworten Cornelias eine gewisse Anerkennung nicht versagen. War dieser Leser gar eine gebildete Frau und kannte sie andere Schriften des Erasmus, dürfte sie sich über manche ihr schon bekannten Gedanken gefreut haben. In der Mahnrede Querela Pacis, mit der Erasmus 1517 auf die aktuelle politische Situation reagiert und die nicht im Verdacht steht, zur Frauenfrage Stellung zu nehmen, finden sich Gedanken, die wie eine Grundlage für Cornelias Diagnose erscheinen. Die personifizierte Pax weist darauf hin, daß Zwietracht und Krieg mit dem Christentum nicht vereinbar sind; Christus gegenüber sind alle – auch Männer und Frauen – zur Eintracht aufgerufen:36 „neque servus est quisquam neque liber neque Barbarus neque Graecus neque vir neque foemina, sed omnes idem in Christo sunt, qui omnia redigit in concordiam.“ An mehreren Stellen, besonders aber im Schlußappell an Herrscher, Priester, Theologen und Bischöfe – von ihnen sprach auch Cornelia in ihrer Zeitkritik –, greift Erasmus diesen Gedanken noch einmal auf, wenn Pax sich abschließend an alle Christen wendet: Vos appello principes, [...]. Appello vos sacerdotes, [...]. Vos appello promiscue, quicumque Christiano nomine censemini: consentientibus animis in hoc conspirate. Hic ostendite quantum valeat adversus potentum tyrannidem multitudinis concordia. Huc pariter omnes omnia sua conferant consilia. ���������������������������������������������������������������������� Iungat aeterna concordia, quos tam multis rebus coniunxit natura, pluribus Christus. ������������������������������������������������������������������������ Communibus studiis agant omnes, quod ad omnium ex aequo felicitatem pertinet.

Dem Aufruf zur Eintracht angesichts ununterbrochener Kriege entspricht Cornelias Anliegen, das ihren weiblichen Alternativentwurf begründet. Eine gebildete Frau war Maria von Ungarn (1505–1558), an die Erasmus sein ,Witwenbuch‘ Vidua Christiana 1529 richtet, – diskutiert er doch voraussetzungsreich und wie

35 Eine weitverbreitete Vorstellung, die sich auf den zweiten Schöpfungsbericht (Gn 2, 21–23) bezieht; vgl. etwa Eutrapelus im Dialog Puerpera (1526, ASD I.3, S. 455, Z. 84–86): „Eutrapelus. Imo prior creatus est masculus. Fabulla. Prior conditus est Adam quam Christus. Et solent artifices in posterioribus seipsos vincere.“ (Zur Fortsetzung s. u. Anm. 58.) Der Replik Fabullas entspricht in Inhalt und Stoßrichtung die Widerlegung des ,Vorurteils‘ bei Agrippa von Nettesheim, angeführt von Schneider: Das Bild der Frau, S. 80f. (beide wie Anm. 21), oder bei Lucretia Marinella: Le Nobilità et Eccellenze delle Donne et i Difetti e Mancamenti de gli Huomini (1600), in Teilübersetzung in der Textsammlung: Eva, Gottes Meisterwerk. Hg. von Elisabeth Gössmann. München 1985. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2000 (Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung 2), hier S. 26f. – Gramatzki: Bildungskonzepte (wie Anm. 29), S. 23, verweist nicht auf das AT, sondern lediglich auf Aristoteles. 36 Erasmus: Querela Pacis. In: ASD IV.2, S. 76, Z. 368–370, das folgende Zitat im Text: ebd., S. 98, Z. 872, 876f., 883ff.

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selbstverständlich über die Verdienste der antiken Stoiker,37 die im Vergleich zur „Philosophia Christiana“ freilich wenig über einen wahrhaft Weisen zu sagen hätten.38 Als Regentin von Ungarn, später der Niederlande, war Maria aber auch eine Frau, die sich politisch engagierte und sich für Reformen im Sinne des Erasmus einsetzte.39 Und gerade ihr gegenüber beklagt sich Erasmus über diejenigen, die Herrscher und – im gleichen Atemzug – Frauen, besonders die an Regierungsgeschäften beteiligten, von dieser ,christlichen Philosophie‘ fernhalten:40 Proinde nequaquam audiendi sunt, qui ab hac Philosophia submovent Principes aliosque Rempublicam administrantes, submovent foeminas, praesertim in Regum aulis versantes, [...]. Istos vero qui negant Evangelicam doctrinam utilem ad gerendum Principatum aut Rempublicam administrandam, olim confutavit D. Augustinus, nos quoque nonnihil attulimus in Panegyrico, quem olim patri tuo Philippo; rursus in Christiano Principe, quem Caroli fratri, etiamnum adolescenti & recens Principatui inaugurato, tradidimus.

Maria, die hier direkt angesprochen wird, dürfte mit Schriften des Erasmus vertraut gewesen sein: Er erinnert sie daran, daß er den Panegyricus (1504) ihrem Vater Philipp ,dem Schönen‘, d. h. Philipp I. von Kastilien, und die Institutio principis Christiani (1516) ihrem Bruder Karl, seit 1519 Kaiser Karl V., gewidmet hatte – und daß er darin ebenfalls die christliche Lehre als Fundament des Regierens verteidigt hatte. Dementsprechend ruft er sie am Ende der Schrift auf, sich in diesem Sinn weiterhin in der politischen Öffentlichkeit zu engagieren: „Perge igitur, Mulier Clarissima, signum pietatis omnibus Viduis, omnibus Magnatibus extollere, & laudatissimarum foeminarum vestigiis ingressa, Principum

37 Erasmus: Vidua Christiana. In: LB V (wie Anm. 1), Sp. 723–766, hier Sp. 728 A: „Non hic repetam quae Stoici magno quidem ingenio verbisque magnificis de Sapientis animo disputant, [... B]. Si quaeras ab illis quid est Deus, respondent qui minime desipiunt, anima mundi, aut totum hoc quod vides & non vides. [... C] Valeat igitur illa lusciosa pariter ac superciliosa sapientia, quae tamen multas habet sententias multaque exempla, [...].“ Christen dächten über die wahre felicitas jedoch nur selten nach, obwohl dabei weder Dialektik noch jahrelanges Studium nötig seien (D). Zur Fortsetzung des Gedankens s. u. Anm. 40. 38 Wie im Senatulus und in der Querela pacis schließt dies Kriegführen im Grunde genommen aus: „Siquidem imbutus Philosophia Christiana Princeps, omnia tentabit ne ad bellum veniatur, [...]“ (ebd., Sp. 718 E/F). 39 Christine Christ-von Wedel: Erasmus von Rotterdam – Anwalt eines neuzeitlichen Christentums. Münster 2003 (Historia profana et ecclesiastica 5), S. 238–242, hier S. 241 mit Anm. 4, einem Verweis auf Katherine Walsh und Alfred A. Strnad: Eine Erasmianerin im Hause Habsburg. Die Königin Maria von Ungarn (1505–1558) und die Anfänge der Evangelischen Bewegung. In: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft 118 (1998), S. 40 ff., besonders S. 82. 40 LB V, Sp. 728 D/E. Vorangeht eine Charakterisierung der ,christlichen Philosophie‘, die wie in der Querela Pacis alle – auch Männer und Frauen – einschließt: „Christus certissimus auctor, sic in compendium redactam Philosophiam coelestem nobis explanaverit, ut nulla aetas, nullus sexus, nullum ingenium hominis non hujus docile sit, modo mentem adferat“ (Sp. 728 D).

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aulis esto Magistra, simul & exemplar Evangelicae sinceritatis.“41 – Kaum vorstellbar ist es, daß Erasmus im gleichen Jahr einen Dialog veröffentlicht hätte, in dem er den Wunsch von Frauen, in der Verwaltung der eigenen Stadt mitreden zu dürfen, als eine zu belächelnde Schwäche dargestellt hätte.

II. Im Senatulus kann der Leser zu eigenen Erkenntnissen kommen, wenn er sich mit den ernsthaft vorgetragenen Anliegen auseinandersetzt; in den Dialogen ,Die Ehe‘ (Uxor μεμψίγαμος, sive Coniugium) und ,Jüngling und Hure‘ (Adolescentis et Scorti) kann er mitverfolgen,42 wie jeweils eine der beiden Gesprächspartnerinnen zu einer grundsätzlichen Haltungsänderung findet. Im folgenden wird es nicht um die Einstellungen als solche gehen,43 viel aufschlußreicher für unsere Frage nach der ,Erkenntnis‘ ist die Art und Weise, wie sich aus zunächst nur punktuellen Einwürfen der Ratgeberin (Coniugium) oder aus der Ablehnung eines Alternativmodells eines Lebensentwurfs (Adolescentis et Scorti) heraus die Haltung der zu Belehrenden nach und nach verändert. Die Ausgangssituation, in der sich die Ehefrau Xanthippe bzw. das Freudenmädchen Lucretia zu Beginn befinden, droht die Grenzen des gesellschaftlich Tolerierten zu sprengen bzw. hat diese Grenze schon überschritten, beide vertreten ihre Position jedoch dezidiert und sehr selbstbewußt, im Brustton der Überzeugung. Ins Gespräch eingeführt wird auf unterschiedliche Weise, aber wie auch in anderen Dialogen psychologisch geschickt und unmittelbar nachvollziehbar, hier jeweils in einem gewissen Kontrast zum Hauptthema des Gesprächs.44 Eulalia tritt zu Beginn des Hauptteils vor allem als Fragende auf, so daß anhand konkreter ,Szenen einer Ehe‘ offenkundig wird, wie heillos zerrüttet das Verhältnis zwischen

41 Ebd., Sp. 766 C/D. 42 Erasmus: Uxor μεμψίγαμος, sive Coniugium. In: ASD I.3, S. 301–313. Adolescentis et Scorti. In: ebd., S. 339–343. 43 Schneider: Das Bild der Frau (wie Anm. 21), S. 64f. (die ,ideale Ehefrau‘), und Gutmann: Die Colloquia (wie Anm. 18), S. 41f., legen den Schwerpunkt vor allem darauf. Thompson: Colloquies (wie Anm. 17) verzeichnet in seinen Anmerkungen zum Coniugium (S. 321–327) vor allem Entsprechungen mit Plutarchs Coniugalia praecepta (in dessen Moralia) und Erasmus’ Institutio Christiani matrimonii (1526). In der Einleitung zum Dialog Adolescentis et Scorti verfolgt Thompson die verschiedenen Versionen der „Thaïs legend“ von den Vitae patrum über die Legenda aurea bis zu Hrotsvits von Gandersheim Drama Paphnutius, betont darüber hinaus aber zu Recht, „Erasmus’ artistic modernizing has claims to originality“ (ebd., S. 381). 44 Dies würde eine eigene Untersuchung verdienen, gehört aber nicht zur Frage nach der Erkenntnisfindung. Vgl. ASD I.3, S. 301, Z. 3–14, bzw. S. 339f., Z. 3–23. Hinweise zur inhaltlichen Gestaltung der Gesprächsaufnahme in den Colloquia finden sich bei Welzig: Einleitung (wie Anm. 5), S. XIVf.

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Xanthippe und ihrem Nicolaus wohl sein muß. Selbst Eulalias Verweis auf ein Gebot der Apostel Paulus und Petrus führt nicht zur Einsicht, im Gegenteil (Z. 53–60): Xanthippe. Quid decet? Si ille me non habet pro uxore, nec illum habitura sum pro marito. Eulalia. At Paulus docet uxores oportere subditas esse viris cum omni reverentia. Et Petrus nobis exemplum proponit Sarae, quae maritum suum Abraham dominum appellabat. Xanthippe. Audivi ista. Sed idem Paulus docet, ut viri diligant uxores suas, sicut Christus dilexit sponsam suam Ecclesiam. Meminerit ille officii sui, ego meminero mei.

Nicht nur Eulalia, auch der Leser ist aufgefordert, sich den Wortlaut der Apostelbriefe ins Gedächtnis zu rufen.45 Dann kann ihm Xanthippes Position in einem etwas besseren Licht erscheinen, wendet sie doch – der Stelle durchaus angemessen – einen der Grundsätze von Erasmus’ Bibelphilologie an, einen einzelnen Satz nicht aus dem Zusammenhang herauszulösen.46 Daß theologische Laien, Frauen sogar, mit der Bibel argumentieren, eine Stelle mit einer anderen widerlegen und die ,heilige Schrift‘ damit wie jeden literarischen Text behandeln, zeugt nicht nur von humanistischer Bildung, vielmehr mußte es Zeitgenossen in mehrfacher Hinsicht anstößig erscheinen: Konnte ein solches Vorgehen doch „nur einen Verfall der kirchlichen Autorität und der traditionellen Theologie zur Folge haben.“47 45 Vgl. Eph 5, 22–24, zu Eulalias Verweis: „Mulieres viris suis sicut Domino, quoniam vir caput est mulieris, [...]. Sed ut ecclesia subiecta est Christo, ita et mulieres viris in omnibus.“ 1 Pe 3, 5f.: „Sic enim aliquando et sanctae mulieres [...] ornabant se subiectae propriis viris, sicut Sara oboediebat Abrahae dominum eum vocans“. – Zu Xanthippes Verweis vgl. Eph 5, 25, 28: „Viri, diligite uxores, sicut et Christus dilexit ecclesiam et seipsum tradidit pro ea, [...]. Ita et viri debent diligere uxores suas ut corpora sua. Qui suam uxorem diligit, seipsum diligit;“ so auch Eph 5, 33. Zitiert nach: Nova Vulgata. Bibliorum sacrorum editio [...]. Libreria Editrice Vaticana 1979, 21986. 46 Erasmus’ Grundsätze im Umgang mit Texten haben ihre Gültigkeit bis heute nicht verloren. Vgl. die Methodus, eine der Einleitungsschriften zu Erasmus’ Novum Testamentum: „[...] non sat habeat quattuor aut quinque decerpsisse verbula, circumspiciat, unde natum sit quod dicitur, a quo dicatur, cui dicatur, quo tempore, qua occasione, quibus verbis, quid praecesserit, quid consequatur. Quandoquidem ex hisce rebus expensis collectisque deprehenditur, quid sibi velit quod dictum est.“ So wie der unmittelbare Textzusammenhang zu berücksichtigen ist (Hervorhebung A. S.), so gilt es auch, sich mit dem historischen Kontext vertraut zu machen: „Iam si gentium, apud quas res gesta narratur sive ad quas scribunt apostoli, non situm modo verum etiam originem, mores, instituta, cultum, ingenium ex historicorum litteris didicerimus, dictu mirum quantum lucis et ut ita dicam vitae sit accessurum lectioni, [...].“ – Auf diese Stellen hingewiesen hat Christ-von Wedel: Erasmus (wie Anm. 39), S. 85f. Zitiert wird nach der Ausgabe von 1516 (mit dem ursprünglichen Titel Novum Instrumentum), die in den von Hajo und Anneliese Holborn herausgegebenen Ausgewählten Werken zugänglich ist (München 1933. Reprint ebd. 1964), S. 151–162, hier S. 158, Z. 22–27, bzw. S. 153f., Z. 31– 35, 1f. Die Methodus wurde 1518 erweitert und erschien auch als selbständige Schrift unter dem Titel Ratio seu compendium verae theologiae; LeClerc legte die nochmals erweiterte Fassung von 1522 zugrunde (in LB V, wie Anm. 1). Zur Druckgeschichte vgl. Holborn, S. XIV–XVII. 47 Augustijn: Erasmus (wie Anm. 1), S. 85, aus dem für Erasmus’ Bibelphilologie aufschlußreichen Kapitel ,Bibel und Kirchenväter‘ (S. 82–97); vgl. dazu im biographischen Zusammenhang S. 38, 168f., zusammenfassend S. 96: Erasmus wollte „die im Humanismus entwickelten philologischen

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Im Zusammenhang des Dialogs widerspricht Xanthippe mit ihrem Zitat zugleich der gängigen Auffassung von der völligen Unterordnung der Ehefrau, wie es übrigens auch Erasmus selbst getan hat.48 Eulalia geht darauf nicht weiter ein, sie bleibt realistisch und kehrt zu Xanthippes verfahrener Lage zurück, für die es eine Lösung zu finden gilt – angesichts von Xanthippes auch danach fortdauernden Klagen49 eine zweifellos schwierige Aufgabe (Z. 61–63). „Eulalia. Sed tamen ubi res in eum statum devenit, ut alteri cedendum sit, aequum est uxorem marito cedere. Xanthippe. Si modo ille maritus est appellendus, qui me habet pro ancilla.“ Nach einer einfühlsamen Nachfrage, mit der das Einvernehmen als Grundlage des weiteren Gesprächs hergestellt ist (Z. 74–78), leitet Eulalia über zur Betrachtung des Problems aus einer anderen Perspektive. Es gibt kein Recht, den Ehemann ,auszuwechseln‘: „Qualis qualis est tuus maritus, illud cogita, non esse ius permutandi“ (Z. 79). Von der Art der Argumentation aus betrachtet, ist es jetzt Eulalia, die ein unumstößlich scheinendes christliches Gebot hinterfragt: „Olim immedicabilibus dissidiis remedium extremum erat divortium. Nunc hoc in totum ademptum est“ (Z. 80f.). Mit der Feststellung, daß Scheidung einst durchaus ein Lösungsweg war, verweist sie auf die römische Antike.50 Damals hatten auch Frauen die rechtliche Möglichkeit einer Scheidung, und zwar ohne Verlust des Vermögens, das sie in die Ehe mitgebracht hatten.51 Praktiziert wurde ein di-

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Methoden in den Dienst der Bibelwissenschaft und der Theologie im allgemeinen stellen“. Zu Erasmus’ Bezug auf Lorenzo Valla vgl. Christ-von Wedel: Erasmus (wie Anm. 39), S. 63–66, 81, mit Verweisen auf Jerry H. Bentley: Humanists and the Holy Writ. New Testament Scholarship in the Renaissance. Princeton 1983. In seiner ,Eheschrift‘ Institutio Christiani matrimonii (1526) gesteht Erasmus der Ehefrau ein Widerstandsrecht zu, wenn die Befehle des Gatten gegen die guten Sitten oder Gottes Gebote verstoßen; dies ist zugleich ein Appell an das selbständige Urteilsvermögen der Frau: „Si tantum molestum est quod imperat Maritus, obtempera, non illius merita cogitans, sed Domini praeceptum. Sin imperat, quod adversatur pietati seu bonis moribus, blande recusetur obsequium, & si urget, scito magis oboediendum Deo quam hominibus. Etenim qui obsequitur impia jubenti, non obsequitur Deo in marito, sed Satanae in membro ipsius.“ LB V (wie Anm. 1), S. 704 B f.; vgl. Christ-von Wedel: Erasmus (wie Anm. 39), S. 230–235, mit weiteren Belegstellen. Siehe auch ASD I.3, S. 303, Z. 69–73. Das folgende Zitat (Z. 61–63) schließt an das obige Zitat im Text (Z. 53–60) an. In Kommentaren und Anmerkungen zu den Colloquia wird dies – soweit mir bekannt – befremdlicherweise mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen erläutert etwa Thompson: Colloquies (wie Anm. 16) ausführlich die Ehescheidung nach mittelalterlichem Kirchenrecht sowie Erasmus’ Stellungnahmen (S. 321–323, Anm. 16). Siehe Joachim Marquardt: Das Privatleben der Römer. Erster Teil. Leipzig 21886. Reprint Darmstadt 1964 (Handbuch der römischen Altertümer VII), zu den cautiones rei uxoriae: S. 70 mit Anm. 5, 6 (Belege von Plautus bis zu den Digesten des Gaius), S. 71 mit Anm. 1 (Gellius); auch Frauen konnten sich scheiden lassen und eine neue Ehe eingehen (ebd., S. 71, Anm 3, 5: Belege aus Plautus, Cicero, Seneca, S. 77, Anm. 2: aus Rechtsquellen bis zum Codex Iustinianus). Zum Zwölftafelgesetz vgl. Dieter Flach: Die Gesetze der frühen römischen Republik. Text und Kommentar. In Zusamm-

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vortium immer wieder, Sulla, Pompeius, Caesar, Marcus Antonius und Cicero sind Beispiele, die jedem in der römischen Geschichte Bewanderten geläufig waren. Aus der Perspektive Eulalias und Xanthippes handelt es sich also um nichts weniger als um eine grundlegende Veränderung der rechtlichen Verhältnisse. Eulalia bleibt allerdings auch hier pragmatisch: In einer scharfen Antithese (olim – nunc) stellt sie Vergangenheit und Gegenwart einander gegenüber und bedeutet Xanthippe unmißverständlich, sie müsse sich mit ihrem Gatten abfinden: „Nunc hoc in totum ademptum est. Usque ad extremum vitae diem ille tuus sit maritus oportet, et tu illius uxor“ (Z. 81f.). Ihrer Freundin hat Eulalia damit jedoch ein Stichwort gegeben, das bestehende Recht und damit auch die Gebote Christi noch grundsätzlicher als zuvor in Frage zu stellen (Z. 83–87): „Xanthippe. Superi male faxint, qui ius hoc nobis ademerunt. Eulalia. Bona verba. Sic visum est Christo. Xanthippe. Vix credo. Eulalia. Sic habet. Nunc nihil superest, nisi ut uterque [...] concordiae studeatis.“ Der Anspruch, der dahintersteht – nämlich zu versuchen, sich im Rückgriff auf die Antike über das bestehende Kirchenrecht hinwegzusetzen –, erscheint maßlos und auch unrealistisch. Wieder stehen zwei extreme Auffassungen einander gegenüber – eine Möglichkeit, Xanthippes Einstellung zu ändern, scheint in weite Ferne gerückt. Es hätte nahegelegen, nun auch Eulalia mit entgegengesetzten Argumenten kontern zu lassen, das Thema war ja brisant genug. Solche Gegenargumente werden gegen Ende des Dialogs tatsächlich angeführt, nachdem Xanthippe empfänglicher geworden ist (Z. 378–381): „Eulalia. [...] Iam non est tibi cogitandum de divortio. Xanthippe. At frequenter cogitavi. Eulalia. Verum, ea cogitatio si quando tibi inciderit in mentem, primum reputa tecum, quam nihili res sit foemina divulsa a viro. [...].“ Die Gründe, die gegen eine Auflösung der Ehe sprechen, sind neben dem gesellschaftlichen Abstieg und der gottgewollten Abhängigkeit der Frau – „Ita voluit Deus, ut mulier tota pendeat a viro“ (Z. 382f.) – vor allem menschliche Gründe, der Verlust des Kindes für einen von beiden.52 Mit derartigen weiterreichenden Argumenten hätte Eulalia in der Auseinandersetzung um das geltende Recht bei Xanthippe wohl wenig Gehör gefunden. Stattdessen ist es Eulalias Verweis auf die gegenwärtige Sachlage und vor allem auf Christus als Urheber des Gebots, der sie zur Ratgeberin werden läßt, und Xanthippe – in Umkehrung des bisherigen Gesprächsverlaufs – zur Fragenden: „Eulalia. Sic habet. Nunc nihil superest, nisi ut uterque [...] concordiae studeatis. Xanthippe. An ego possum illum refingere?“ (Z. 86–88) Dieser Wendepunkt in der Argumentationsbewegung liegt innerhalb von Eulalias Antwort. Erasmus wendet den literarischen Kunstgriff häufig an, um menarbeit mit Stefan von der Lahr. Darmstadt 1994, S. 132f. mit Anm. 129, zu historischen Beispielen Marquardt, S. 72 mit Anm. 2–9. – Für diese Hinweise danke ich meinem Vater, Dr. Hans Peter Syndikus. 52 Wie heute in einer systemischen Gesprächstherapie hatte Eulalia zuvor nach angenehmen Erlebnissen des noch unverheirateten Paares gefragt, und Xanthippe erzählte ihr sehr anschaulich von der Zeugung des Kindes (ASD I.3, S. 311, Z. 349–357).

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Übergänge zu verwischen und so mittels fingierter Mündlichkeit ein tatsächliches Gespräch nachzuahmen. Eulalias zweiter Ratschlag, „Non minimum momenti est in uxoribus, quales sint mariti“ (Z. 89), liegt vielen nachfolgenden Ratschlägen53 und auch den Beispielgeschichten aus vertrauten Lebenszusammenhängen zugrunde. Bis auf das erste exemplum, einem ,mit ihr befreundeten Adeligen‘, hinter dem mit Sicherheit Thomas Morus steht,54 sind es die Ehefrauen, die ihren Mann nachsichtig und ,mit diplomatischem Geschick‘ behandeln.55 Am Ende des Dialogs nimmt Eulalia den Rat, das Verhalten des Ehemannes liege in den Händen der Frau, zusammen mit konkreten Handlungsanweisungen noch einmal auf (Z. 398–400): „Et piget operam sumere in fingendo marito, quicum perpetuo suaviter degas aetatem? [...] et nos pigebit adlaborare, ut maritis utamur commodioribus?“ Betrachtet man die zugrundeliegende gedankliche Struktur des Dialogs, zeigt sich in diesen Worten, vor allem aber im Ausblick auf das Vorhaben am nächsten Tag – „Interim et maritum tuum aggrediar. Admonebo et illum sui officii“ (Z. 415f.) –, daß sich auch Eulalias Einschätzung geändert hat. Sie besteht nicht mehr nur auf der Unterwürfigkeit der Frau,56 darüber hinaus hat sie sich Xanthippes Vervollständigung des Pauluszitats zu eigen gemacht: Auch der Ehemann hat seiner Frau gegenüber Pflichten.57 Eulalia wird, 53 Explizit z. B. nach Xanthippes Bericht, daß andere gut von Nicolaus reden: „Et ista mihi bonam spem faciunt illum fore qualem volumus“ (S. 311, Z. 373), oder verbunden mit der Feststellung, sich mit dem Ehemann abfinden zu müssen: „Tuus, velis nolis, sit oportet. Quo meliorem eum reddideris, hoc magis consulueris tibi.“ (S. 310, Z. 330f.) Auch Xanthippe selbst hatte in diesem Sinn nach Eulalias Verhalten in deren Ehe gefragt: „Sed narra nobis, obsecro, quibus artibus pertraxeris maritum ad tuos mores.“ (S. 304, Z. 107f.; sämtliche Hervorhebungen A. S.). 54 Thompson: Colloquies (wie Anm. 16), S. 324, Anm. 31, mit Verweis auf P. S. Allen, Times Literary Supplement 26 (1918), S. 654. Daß auch vom richtigen Verhalten eines Mannes erzählt wird, deutet auf wechselseitige Pflichten der Eheleute hin, die Eulalia bereits erwähnt hatte; s. u. Anm. 57. 55 Steinmanns Übersetzung von civilitas (wie Anm. 8), S. 57. In diesem Sinn leitet Eulalia über zum ersten „exemplum“ (ASD I.3, S. 306, Z. 182): „Praestabilius igitur est ferre [...] paulo commodiorem factum nostra civilitate [...]. Quid si proferam maritos, qui simili civilitate correxerunt sponsas suas?“ (Z. 178–180). In den vier exempla verweist Eulalia stets auf ihre persönliche Vertrautheit mit den Personen: (1) „Est mihi familiaritas cum homine quodam nobili“ (S. 306, Z. 183); (2) „referam tibi quiddam de marito commoditate uxoris correcto, quod nuper accidit in hac ipsa civitate“ (S. 307, Z. 230f.); (3) „Scio tibi notum esse Gilbertum Batavum“ (S. 308, Z. 255); (4) „Unum adiiciam; atque ita discedam ab exemplis. Hic vicinus noster, vir probus et integer, [...] quodam die pulsaverat uxorem suam“ (S. 309, Z. 274–276). 56 So zuletzt noch in der zweiten Ablehnung einer Scheidung; siehe das Zitat (S. 311, Z. 382f.) oben im Text vor Anm. 52. 57 Den Gedanken der Gegenseitigkeit hat Eulalia beim ersten Exempel, ihrem eigenen Eheleben (S. 304, Z. 93 bis S. 306, Z. 168), am Ende einfließen lassen – dort standen Anpassung und Gehorsam in Zentrum. „Xanthippe. Infelix vero uxorum conditio, si iratis, ebriis, et quicquid libet patrantibus maritis, tantum obsequentur. Eulalia. Quasi vero hoc non sit mutuum obsequium. Coguntur et illi multa ferre in moribus nostris.“ (S. 305, Z. 151–154).

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um Xanthippe den Weg zu ebnen, ihrerseits auf Nicolaus einwirken, um ihn Xanthippe ,umgänglicher‘ zurückzugeben (Z. 421): „Et, ut spero, tradam eum tibi commodiorem.“ Dies bedeutet zugleich, insgeheim das Heft in die Hand zu nehmen und Nicolaus auf den richtigen Weg zu führen. Eulalia wird nun ihrerseits so handeln, wie sie es Xanthippe immer wieder empfohlen hat, womit allerdings auch eine Notlüge verbunden ist – „De te per occasionem mentiar, quam amanter de illo sis locuta“ (Z. 421f.). Xanthippe hat in jedem Fall dazugelernt, ihre anfängliche Lust am Widerwort und Widerstand hat sie hinter sich gelassen (Z. 423): „Christus bene fortunet quod agimus.“ Mit dieser Abrundung durch die indirekte Wiederaufnahme des Pauluszitats (Z. 415f.) ist es Erasmus gelungen, zwei unterschiedliche Aspekte des weiblichen Ehelebens in ein und derselben Figur zu vereinen, ohne sie gegeneinander auszuspielen – Gehorsam und Anpassung einerseits und einen verborgenen Führungsanspruch andererseits.58 Die Akzentverschiebungen in Eulalias Einschätzungen und Ratschlägen entsprechen dem Gesprächsverlauf, denn ohne die Gegenfigur59 der Xanthippe wäre eher ein Traktat über ,Nachteile und Vorteile des Lebens einer Ehefrau‘ entstanden. Die Möglichkeiten der Gattung ,Dialog‘ gehen also über eine bloße Verteilung der Argumente auf zwei Gesprächspartner weit hinaus. Im Gespräch über ,Die Ehe‘ gelangt Xanthippe erst nach und nach zur Erkenntnis, denn sie erinnert sich immer wieder an ihr eigenes Aufbrausen oder an die Unzugänglichkeit ihres Ehemannes. Der eigentliche Wendepunkt, an dem Xanthippe erstmals Beratungsbedarf und damit den Willen zur Umkehr signalisiert hat, gerät dadurch immer wieder in Vergessenheit. Lucretia hingegen findet am Ende des Gesprächs mit dem jungen Mann Sophronius (Adulescentis et Scorti) sehr unvermittelt zu der Einsicht, ihr bisheriges Leben als Prostituierte aufgeben zu wollen. Sie konstatiert, ihren früheren Freier Sophronius verloren zu haben, sie fragt ihn, der sich als aufrichtiger Freund erweisen will, um Rat, und sie stimmt seinem Plan, sich unverzüglich aus dem Freudenhaus davonzumachen – „ut

58 Beide Aspekte verbindet Eulalia bezeichnenderweise, nachdem sie die Reihe der exempla abgeschlossen hat – ihr Rat gewinnt dadurch die Qualität eines Resumées: „Primum mussanda est tibi omnis iniuria mariti, et animus illius officiis, comitate, mansuetudine, paulatim est conciliandus. Aut vinces tandem, aut certe multo commodiore uteris, quam nunc uteris.“ (S. 309, Z. 286–290); zum zweiten Aspekt vgl. die in Anm. 53 und 55 zitierten Stellen. – Im Dialog Puerpera (1526) vertritt Fabulla den verborgenen Führungsanspruch der Frau sehr viel dezidierter (ASD I.3, S. 455, Z. 87–91): „Eutrapelus. At Deus mulierem viro subiecit. Fabulla. Non statim melior est qui imperat; [...] Ac rursus nuptam ita subiicit, ut cum utrique sit potestas alterius, mulierem tantum velit viro morem gerere, non ut praestantiori, sed ut ferociori. Dic, Eutrapele: uter infirmior, qui cedit alteri, an cui ceditur?“ (Zum Vorangehenden s. o. Anm. 35.) 59 Der Begriff ,Antagonist‘ aus der Dramentheorie (mit Bezug auf einen ἀγωνισθής, ,Schauspieler‘) wäre hier unpassend, da es nicht um Handlungen, sondern um deren Begründungen geht.

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quam primum te subducas ab ista vita“ (Z. 132) –, bereitwillig, ja rückhaltlos zu.60 Anders als in der Unterredung zwischen den beiden Ehefrauen bleibt die genauere Ausgestaltung des künftigen Lebens im ungefähren, sei es als Ehefrau, sei es als Schutzsuchende in einer frommen Gemeinschaft oder Familie. Die Umkehr als solche glaubwürdig darzustellen, kann nicht das Ziel des Dialogs sein, und das fällt um so mehr auf, als die lakonischen, eher kleinmütigen Antworten Lucretias am Ende in scharfem Kontrast zur Gewißheit des Beginns stehen. Darin liegt ein bezeichnender Unterschied zum ,Einakter‘, also zum dramatischen genus.61 Stattdessen richtet sich die Aufmerksamkeit des reflektierenden Lesers auf das vorangehende Gespräch, er fragt sich, wie es überhaupt zu einer derart grundlegenden Haltungsänderung kommen kann. Was veranlaßt Lucretias Sinneswandel? Nach einem lockeren Gesprächsbeginn, der auch der ,Geschäftsanbahnung‘ dienen könnte, erkennt Lucretia in Sophronius’ Frage nach dem alles durchdringenden Auge Gottes eine neue Art zu sprechen (Z. 25): „venisti huc concionaturus?“ Obwohl sie einer ,Predigt‘ nicht zuhören will (und obwohl Sophronius damit zunächst tatsächlich keinen Erfolg hat),62 läßt er sich vom eigentlichen Zweck seines Besuchs nicht abbringen: „[...] si te queam ab isto vitae genere revocare, non solum turpissimo, sed etiam miserrimo“ (Z. 27f.). Dazu bedient er sich unterschiedlicher Strategien, die mit denen Eulalias entweder in der Taktik oder aber als Movens der Umkehr übereinstimmen.63 Zunächst fordert er Lucretia dazu auf, zusammen mit ihm die Sachlage selbst zu betrachten, und das heißt deutlicher als im Coniugium: aus einer anderen Perspektive. „Optarim, mea Lucretia, ut [...] rem ipsam mecum consideres“.64 Während Lucretia Prostitution als Gelderwerb und Handwerk betrachtet („victus alicunde parandus est. Sua quemque alit ars, hoc est nostrum opificium“, Z. 29f.), welche ihr herzliche Beziehungen („affectus“, Z. 56) in größerer Zahl verschafft habe als früher die Familie, bewertet Sophronius diesen Erwerb nicht 60 ASD I.3, S. 343, Z. 128, 131, 137, 142, 147: „Lucretia. Ergo ut video, perdidi meum Sophronium. [...] Quid igitur suades, mi Sophroni? [...] Amabo te, mi Sophroni: circumspicito, sequar tuum consilium. [...] Quo me vertam? [...] Age mi Sophroni, trado me totam in tuam fidem.“ 61 Anders Thompson: Colloquies (wie Anm. 16), S. 381 (Einleitung): „As a dramatic scene his dialogue is wholly and sucessfully contemporary in tone and setting.“ Zu diesem Mißverständnis (Hervorhebung A. S.) siehe auch oben Anm. 8. 62 Vgl. ASD I.3, S. 340, Z. 33f.: „Serva concionem tuam in aliud tempus. Nunc vivamus, mi Sophroni“ oder (nach Sophronius’ längerer ,Predigt‘) S. 341, Z. 71: „Unde nobis hic concionator novus?“ 63 In der Taktik stimmt die Erinnerung an persönliche Feindinnen überein, denen Xanthippe bzw. Lucretia mit einer künftigen Scheidung (ebd., S. 312, Z. 386–393) bzw. mit dem gegenwärtigen Hurendasein (S. 340, Z. 39–46) den größten Gefallen täten. 64 Ebd., S. 340, Z. 31f.; ähnlich im folgenden (S. 341, Z. 58): „Mitte iocos, ac rem ipsam, ut habet, expende serio.“ Im Coniugium zeigt sich diese pragmatische Haltung in Eulalias Verweisen auf die gegenwärtige Sachlage, auf die Notwendigkeit, sich mit dem derzeitigen Ehemann abzufinden: „Qualis qualis est tuus maritus, illud cogita, non esse ius permutandi“ (S. 303, Z. 79) „Tuus, velis nolis, sit oportet.“ (S. 310, Z. 330f.).

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nur als schändlich, entehrend und erbärmlich, er malt auch die Kehrseiten dieses Lebens mit drastischen Worten aus, die Körperausscheidungen als Ausgangspunkt nehmen (Z. 59–64): „qui ad te commeant, non habent te pro amicam, sed pro matula potius. [...] tu te facis cloacam publicam, ad quam commeant quilibet sordidi, impuri, scabiosi, suamque spurciciem in te repurgant.“ Vor bzw. nach dieser ,Predigt‘ stellt er Lucretias Leben, das sie aus einer freien Entscheidung heraus gewählt hat, in Bezüge zu ihrem besseren früheren und zu ihrem künftigen, noch erbärmlicheren Leben.65 Solche Einschätzungen, die den entgegengesetzten Standpunkt in aller Deutlichkeit hervortreten lassen, sind Xanthippe gegenüber allenfalls mit Blick auf eine Scheidung nötig,66 kennt sie selbst die Misere ihres Ehelebens doch nur zu gut. Bei allen Unterschieden, die sich aus den unterschiedlichen Lebenssituationen ergeben, ist die Art und Weise, wie Xanthippe bzw. Lucretia schließlich zur Einsicht und Umkehr geführt werden, durchaus vergleichbar: Es sind Geschichten aus dem gelebten Leben, vorbildhaftes Verhalten, vom jeweiligen Gesprächspartner angeführt im Dienst des zu erreichenden Ziels. Eulalia hebt – in ihrem ersten exemplum – das Bemühen um Harmonie in ihrem eigenen Eheleben hervor, Sophronius seine eigene conversio, nach der ihn Lucretia im Wissen um ihre trüben Zukunftsaussichten fragt (Z. 77): „unde tibi ista nova sanctimonia, qui soleas esse nugator omnium nugacissimus?“ Das Beispiel für das zentrale Thema des Dialogs Adulescentis et Scorti, die Umkehr, wird wie in einem wirklichen Gespräch über Umwege, über Sophronius’ Romreise, eingeführt,67 und Lucretia kommt darauf aus nachvollziehbaren Motiven zu sprechen – sie ist neugierig und möchte wohl auch von der Moralpredigt ablenken. Um diesen Eindruck des Lesers aufrechtzuerhalten, wird Sophronius’ Bekehrungsgeschichte unterbrochen durch ein eher amüsantes ,Zwischenspiel‘, mit dessen Ironie und Wortwitz indirekt – aber deutlich erkennbar – auf dreifache Weise Kritik an heuchlerischen, letztlich nur triebgesteuerten Bettelmönchen geübt wird.68 Ausgangs- und Abschlußpunkt des geistreichen und schnellen Wortwechsels ist die Bibelübersetzung des Erasmus, den ausgerechnet diese Bettelmönche für einen ,anderthalbfachen Häretiker‘ halten.69 Sophronius hatte sie in seinem Reisegepäck. 65 Ebd., S. 340f., Z. 53–55, 67–70 (zum früheren Leben) bzw. S. 341, Z. 72–75 (zum künftigen Leben). Zur freien Entscheidung vgl. Z. 50–53: „hoc tu tibi tuapte sponte sumpsisti. [...] An non sponte renuntiasti omnibus affectibus, patri, matri, [...]?“ 66 Siehe oben im Text vor Anm. 52. 67 ASD I.3, S. 341, Z. 78–82: „Lucretia. [...] Nemo te uno frequentius [...] huc commeabat. Audio te fuisse Romae. Sophronius. Fui. Lucretia. Atqui inde solent redire deteriores. Quo pacto tibi diversum accidit?“ 68 Statt mit der üblichen Bezeichnung mendicantes werden sie mendici, ,Bettler‘, genannt (ebd., S. 342, Z. 102, 104), aber jeder Zeitgenosse erkennt den Bezugspunkt, weil Lucretia sie zunächst als viri reverendi bezeichnet (Z. 93), die ihre besten Kunden seien (vgl. Z. 97f., 104) und die laut Sophronius dabei die Spenden anständiger Frauen verschwenden (Z. 105). 69 Ebd., S. 341, Z. 86f.: „Sophronius. [...] libellum mecum attuli, Novum Testamentum ab Erasmo versum. Lucretia. Ab Erasmo? Aiunt illum esse sesquihaereticum.“ – Zu historischen Beispielen für

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Die Bibel, genauer der Apostel Paulus, sind es aber auch, die die Umkehr des Sophronius initiiert haben. Die Warnung davor, daß keiner, der mit Hurerei zu tun hat, das ,Erbe des himmlischen Reiches‘ antreten werde, übertrug Sophronius, so erzählt er, zuerst auf sein eigenes Leben:70 Gegen eine Enterbung durch den leiblichen Vater gebe es rechtlichen Einspruch, gegenüber dem himmlischen Vater nicht. Vollendet wurde seine conversio im sündigen71 Rom, wo Sophronius seinerseits mit einem lebendigen exemplum konfrontiert wurde: Ein von Krankheit – offensichtlich von Syphilis72 – gezeichneter Priester führte ihm nach der Beichte die sichtbaren körperlichen Folgen eines Lebens vor Augen, wie Sophronius es bisher geführt hatte, und belehrt ihn zugleich über den wahren Sinn der Beichte, der in Reue und Umkehr besteht (Z. 123–126): Fili, inquit, si vere poenitet, si vitam commutas, nihil moror poenam. Sin perges, ipsa libido tandem abs te plus satis poenarum exiget, etiam si sacerdos non indicat. Me vide, lippum, tremulum, incurvum. At olim talis eram, qualem te hactenus fuisse praedicas.

In seiner längeren ,Predigt‘ hatte Sophronius Lucretia ebenfalls vor Ansteckung mit einem Aussatz gewarnt, „quam vocant scabiem Hispanicam“ (Z. 64f.), dort hatte er – kontrastierend zu Lucretias Lebenswandel – auf Christus hingewiesen, der ihr als Erlöser die Teilhabe an ,der himmlischen Erbschaft‘ zugesichert habe (Z. 61f.). Mit solchen belehrenden Worten hatte Sophronius keinen Erfolg, auf seine Umkehrgeschichte jedoch, die ihrerseits eine weitere Umkehrgeschichte enthält, folgt unmittelbar Lucretias eigene Lebensänderung. Was für die Beispielgeschichten in Dialogen wie Adulescentis et Scorti oder Coniugium gilt, das kann auch auf das Verhältnis zwischen den fiktionalen Gesprächen und ihren Lesern übertragen werden: Eine das Leben verändernde Erkenntnis, so wäre zu verallgemeinern, stellt sich um so eher ein, je lebensnäher der Text gestaltet ist, der Erkenntnisprozesse initiieren will. Die ,Lebensnähe‘ darf jedoch nicht zu groß sein, denn der Text muß gleichzeitig auch Reflexionen über die Art der Gesprächsführung nahelegen.73 Es geht also nicht nur um Argumente, sondern auch um die Art und Weise, wie sie präsentiert werden, um das Gewicht, das ihnen in der Gestaltung des Gesprächs beigelegt wird. In diesem Grenzbereich zwischen Nähe und Distanznahme liegt ein besonderes Potential der Fiktion.

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Kritik an Erasmus’ Novum Testamentum, seiner Übersetzung aus dem Griechischen, vgl. Augustijn: Erasmus (wie Anm. 1), S. 84–86, z. B. S. 84: „Prediger warnten von der Kanzel vor einem Mann, der das ,Vater unser‘ und das ,Magnificat‘ zu verändern wagte“. Das ,Zwischenspiel‘ endet mit Lucretias Aufforderung „Sed perge de libro.“ (ASD I.3, S. 342, Z. 106). Ebd., Z. 107–114. Siehe das Zitat in Anm. 67 (Lucretia); auch S. 341, Z. 83–85 (Sophronius). Zur Syphilis vgl. Thompson: Colloquies (wie Anm. 16), S. 342f., Anm. 45, zum Dialog Militis et Cartusiani. Anlaß zu Reflexionen des Lesers bietet oftmals auch das Verhältnis der Dialogpartner zueinander oder ihr Umgang miteinander.

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III. Aus historischer Perspektive betrachtet, enthalten die Colloquia vieles, was wie eine Predigt oder (mit einem Begriff des 18. Jahrhunderts) wie eine ,Anstands‘-Lehre rezipiert werden konnte. Gerade das Coniugium, das schon ein Jahr nach dem Erstdruck (August 1523) ins Deutsche (1524), danach in andere europäische Sprachen übersetzt wurde,74 mag vielen Eheleuten, besonders Frauen vor ihrer Verheiratung, als Ratgeber gedient haben. Auch der Dialog Adolescentis et Scorti war sicherlich weniger für Freudenmädchen, eher für jüngere und ältere Männer, für Bordellbesucher, bestimmt. Wie selbstverständlich eine käufliche Dame für viele zum Leben dazugehört(e), zeigen die beiläufigen Andeutungen Xanthippes zu Gewohnheiten ihres Mannes, die nicht weiter kommentiert werden: „strenue prodigit dotem [...] vino, scortis, alea“.75 Und doch sind neben allen diesen Ratschlägen immer wieder Ansatzpunkte erkennbar, die zum eigenen Weiterdenken, zum ,Selbstdenken‘ anregen können, in Xanthippes ,kritischem‘ Umgang mit dem Text der Bibel etwa, in Eulalias Betrachtung des Scheidungsrechts in geschichtlichem Kontext – oder in Lucretias Anspielungen auf Erasmus, dessen Name ,bei ihnen‘ der bekannteste sei, den sie aber noch nie gesehen hat.76 Im Senatulus schließlich gelingt die Reflexion des Lesers nur dann, wenn er die damals gängigen Meinungen (aus heutiger Sicht ,Vorurteile‘) über die intellektuelle Schwäche der Frauen in Frage gestellt hat: Nur dann wird er zusammen mit Cornelia über das unterschiedliche Sozialverhalten von Männern und Frauen nachdenken, nur dann wird er Cornelias Kritik an den fortdauernden Kriegen der Herrschenden im Sinn der Querela Pacis des Erasmus bedenken. Nicht von ungefähr ergeben sich aus den Stichworten ,Selbstdenken‘ und ,Vorurteilskritik‘ Verbindungen zwischen dem Zeitalter der Humanisten und dem der Aufklärer: Gerade die literarische Gattung des Dialogs gelangte im 18. Jahrhundert in ganz Europa zu neuem Ansehen.77 Jedem Kenner des 18. Jahrhunderts werden sich bei genauer Lektüre der Colloquia immer wieder Entsprechungen in manchen grundlegenden Anliegen geradezu aufdrängen, und gewisse innere Übereinstimmungen könnte man bei Christoph 74 Steinmann: Vertrauliche Gespräche (wie Anm. 8), S. 321; vgl. S. 351: „bis 1550 wurde es nicht weniger als elfmal auf deutsch gedruckt“. 75 ASD I.3, S. 302, Z. 26–29. Auch Eulalia läßt kurz zuvor (Z. 24f.) den Vergleich zwischen Huren und Ehefrauen wie selbstverständlich einfließen: „Meretrices coluntur oculis multorum. Nos satis cultae sumus, si placeamus uno.“ Dies gilt auch beim Verweis auf eine Haltungsänderung des Nicolaus, die Eulalia gegen Ende in Aussicht stellt (S. 312f., Z. 410–412): „Sic enim ille cogitabit tandem: Nae ego insanio, qui foris magna rei famaeque iactura victitem cum scorto, quum domi habeam uxorem multo lepidiorem, meique amantiorem [...]?“ 76 Ebd., S. 341f., Z. 88–91: „Sophronius. Num et huc pervenit illius viri nomen? Lucretia. Nullum celebrius apud nos. Sophronius. Vidistin’ hominem? Lucretia. Nunquam, sed optarim vidisse, de quo tam multa audivi mala.“ 77 Fries und Weimar: [Art.] Dialog 2 (wie Anm. 7), S. 355b, nennen zahlreiche Beispiele für diese im 18. Jahrhundert „bevorzugte und variable Textsorte“.

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Martin Wieland vielleicht am besten aufzeigen.78 Thomas Fries und Klaus Weimar nutzen solche Querverbindungen in ihrem ,Dialog‘-Artikel des Reallexikons, um inhaltliche Besonderheiten der Gattung klarer zu akzentuieren: Seit der Renaissance gewinnt der Dialog außergewöhnliche Bedeutung [...] in denjenigen literaturgeschichtlichen Epochen, in denen mindestens eine der folgenden drei Voraussetzungen gegeben ist: (1) die Ansetzung von ,Wahrheit‘ nicht als dogmatisch vorgegeben oder als aus Prinzipien deduzierbar, sondern als Ergebnis gemeinschaftlicher Anstrengung auch von unterschiedlichen Standpunkten aus; (2) die Einschätzung des Miteinander-Redens als der Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung; (3) das Interesse an der Auslösung von Erkenntnisprozessen, die den zu Belehrenden als aktiven Partner einbeziehen.79

Die dritte Voraussetzung ist sicherlich in besonderem Maße in Erasmus’ Colloquia familiaria verwirklicht. Gerade diese Voraussetzung bringen Fries und Weimar jedoch nur für die Reformationszeit in Anschlag, während in Humanismus und Aufklärung die ersten beiden Voraussetzungen verwirklicht seien. So wenig die Einschätzung der Colloquia als „der jeweiligen sachlichen Erörterung“ dienend einleuchtet,80 so wichtig ist der Hinweis des Lexikonartikels auf eine innere Zusammengehörigkeit beider Epochen für unsere Überlegungen: Anhand von Frauenfiguren in Erasmus’ Dialogen wurde nach ,Erkenntnissen‘ gefragt, die sich aus ,Gesprächen‘ ergeben können. Ein unkonventionelles Beispiel für solche Formen der Erkenntnisgewinnung hat Hans- . peter Marti in der universitären Praxis des ausgehenden 17. Jahrhunderts gefunden und eingehend analysiert.81 Ein Hauptthema der von Christian Thomasius als Präses geleiteten Disputation (1692) ist die alte Frage nach der Bildungsfähigkeit der Frau, die vom Respondenten schließlich auf sehr fortschrittliche Weise bejaht wird. Doch indem Thomasius einen weiteren (anonym bleibenden) Sprecher einführt, verbirgt er seine eigene Einschätzung – ganz wie Erasmus im Senatulus. Die Entsprechungen reichen aber noch weiter. Den lateinischen Theses vorgeschaltet ist ein Briefwechsel zwischen Respondent und Präses in französischer Sprache, in dem der Präses wiederum keinen eigenen Standpunkt zu erkennen gibt. Damit verstößt er mehrfach gegen die Usancen der Disputatio. Welche Absichten könnten sich hinter diesem experimentierenden Vorgehen verbergen? Thomasius möchte, so folgert Hanspeter Marti, „den offenen Meinungsstreit in der mündlichen Dis78 Welzig verweist in der Einleitung zu seiner Auswahlübersetzung (wie Anm. 5, S. XX) auf „die bis heute wohl unübertroffene Würdigung des Erasmus von Wieland [...], jenem anderen ,Aufklärer‘, der im 18. Jahrhundert darum bemüht war, Lukian den Deutschen bekannt zu machen.“ Als Quelle nennt Welzig allerdings nur Friedrich Sengle: Wieland. Stuttgart 1949, S. 397ff. 79 Fries und Weimar: [Art.] Dialog 2 (wie Anm. 7), S. 355a f. 80 Ebd., S. 355b. 81 Hanspeter Marti: Philosophie aus aufklärerischer Männersicht. Geschlechterspezifische Ausbildung aus dem Blickwinkel und im Einflussbereich von Christian Thomasius. In: Frauen, Philosophie und Bildung im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Sabine Koloch. Berlin 2010, S. 37–83, hier besonders S. 48–53.

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putation erst wirklich austragen lassen“ und somit „zur Aufwertung des mündlichen Erkenntnisprozederes beitragen“.82 Das Potential, das Erasmus in der Dialogform angelegt fand und je nach Gesprächssituation in seinen fiktiven Gesprächen auf unterschiedliche Weise ausgeschöpft hat, das mußte Thomasius aus den starren Formen der Disputa- . tionspraxis heraus neu entwerfen: „An die Stelle der öffentlichen disputatio [...] trete, so lautet die Textaussage, das akademische Gespräch unter Freunden, das von Vertrauen und affektiver Zuneigung, von der vernünftigen Liebe, geprägt und geleitet sei.“83

82 Ebd., S. 50. 83 Ebd., S. 49.

Urs B. Leu (Zürich)

Die Privatbibliothek des Theologen und Hebraisten Konrad Pellikan (1478–1556) Der im elsässischen Rufach geborene Humanist Konrad Kürschner bzw. Pellikan gilt als Verfasser der ersten hebräischen Grammatik im deutschsprachigen Raum.1 Sie erschien 1504 als Anhang zu der bei Johannes Grüninger gedruckten Margarita philosophica von Gregor Reisch. Neben verschiedenen weiteren Publikationen und editorischen Tätigkeiten verdienen seine Mitarbeit an der Zürcher Bibelübersetzung sowie sein siebenbändiger Kommentar zur Bibel Beachtung, der 1532 bis 1539 in erster Auflage bei Christoph . Froschauer d. Ä. in Zürich erscheinen konnte und noch im 16. Jahrhundert zwei weitere Auflagen erlebte. Der Franziskaner Pellikan kam 1518 mit Schriften Luthers in Kontakt und gesellte sich in den folgenden Jahren immer mehr der neuen Bewegung der Reformation zu. 1526 erreichte ihn schließlich der Ruf als Professor für Griechisch, Hebräisch und Altes Testament an die von Huldrych Zwingli gegründete Hohe Schule in Zürich, wo er bis zu seinem Tod lehrte.2 Pellikan machte sich seit 1541 autobiographische Notizen und begann diese ab 1544 in einer Hauschronik niederzuschreiben und fortzuführen.3 Aus dieser in mancherlei Hinsicht wichtigen Quelle für die Geistesgeschichte des 16. Jahrhunderts geht hervor, dass er sich schon früh für die hebräische und die orientalischen Sprachen interessierte. Er erhielt vermutlich 1499 vom konvertierten Juden Paul Pfedersheimer seinen ersten hebräischen 1 Beate Ego und Dorothea Betz: Konrad Pellican und die Anfänge der wissenschaftlichen christlichen Hebraistik im Zeitalter von Humanismus und Reformation. In: Humanismus und Reformation. Historische, theologische und pädagogische Beiträge zu deren Wechselwirkung. Hg. von Reinhold Mokrosch und Helmut Merkel. Münster u. a. 2001 (Arbeiten zur Historischen und Systematischen Theologie 3), S. 73–84, hier S. 73. 2 Weitere Aspekte seines Lebens und seiner publizistischen Tätigkeit werden beschrieben in: Christoph Zürcher: Konrad Pellikans Wirken in Zürich 1526–1556. Zürich 1975 (Zürcher Beiträge zur Reformationsgeschichte 4); Christine Christ-von Wedel: Erasmus und die Zürcher Reformatoren. Huldrich Zwingli, Leo Jud, Konrad Pellikan, Heinrich Bullinger und Theodor Bibliander. In: Erasmus in Zürich. Hg. von Christine Christ-von Wedel und Urs B. Leu. Zürich 2007, S. 77–165. 3 Vgl. Konrad Pellikan: Hauschronik. Ein Lebensbild aus der Reformationszeit. Deutsch von Theodor Vulpinus. Straßburg 1892, S. 144. Wir zitieren im folgenden der besseren Verständlichkeit zuliebe aus dieser deutschen Übersetzung von Vulpinus. Die lateinische Ausgabe des Textes erschien bereits 1877. Eine kritische Edition steht noch aus. Das Autograph befindet sich in der Zentralbibliothek Zürich (Ms A 138).

Die Privatbibliothek Konrad Pellikans (1478–1556)

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Codex.4 Pellikan, der der jüdischen Tradition und Theologie kritisch gegenüberstand, verfolgte mit seinen Hebräischstudien von Anfang an zwei Ziele: „Er ging einmal von der richtigen Ansicht aus, daß man das jüdische Schrifttum kennen müße, um die Lehre des Judentums erfolgreich bekämpfen zu können, daß aber auch andererseits die Schriftauslegung der Rabbiner manches Beachtenswerte enthalte und daher Allgemeingut der Theologen werden müße.“5 Die erwähnte Hauschronik ist auch für den Buchhistoriker eine Fundgrube, gibt sie doch etwa Auskunft über die Auflagestärken einzelner Titel6 oder gewährt Blicke hinter die Kulissen des Buchmarktes. So erwähnt Pellikan nicht nur wiederholt seine persönlichen guten Kontakte zu den Druckern Johannes Amerbach, Johannes Froben, Johannes Oporin oder Jakob von Pforzheim in Basel, Johannes Schott in Straßburg, Christoph Froschauer d. Ä. in Zürich oder Robert Stephanus in Genf, die ihm zur Entlöhnung nicht selten Bücher schenkten, sondern zeigt auch auf, dass einzelne berühmte Autoren Einfluss auf die Produktion einer Offizin genommen haben. Niemand geringerer als Erasmus von Rotterdam wirkte wiederholt auf Froben ein, mit dem Druck von Luther-Schriften aufzuhören, was dann Petri sehr zugute kam, der das lukrative Segment gerne übernahm. Andererseits wurde Froben vom Schlettstätter Humanisten Beatus Rhenanus gedrängt, die Werke des mittelalterlichen Papstkritikers Marsilius von Padua zu drucken.7 Laut Pellikan scheinen sich hebräische Drucke einer nur geringen Käuferschaft erfreut zu haben, weshalb die von verschiedenen Gelehrten mühsam erarbeiteten Konkordanzen liegen blieben und nicht publiziert wurden.8 Pellikans Hauschronik gibt auch Auskunft über seine bibliophile Ader, ordnete er doch die Klosterbibliothek Rufach9 und verwaltete die Stiftsbibliothek am Zürcher Großmünster.10 Zudem nennt er zahlreiche Autoren, deren Werke er gelesen, abgeschrieben, übersetzt, erworben oder geschenkt erhalten hat. Dabei ist nicht immer klar, ob er die von ihm gelesenen Werke auch selber besessen hat oder ob er sie aus der Stiftsbibliothek oder 4 Pellikan, Hauschronik (wie Anm. 3), S. 17f. 5 Emil Silberstein: Conrad Pellicanus. Ein Beitrag zur Geschichte des Studiums der hebräischen Sprache in der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts. Berlin 1900, S. 90. 6 Die Auflage der Opera Augustins (Basel 1503) betrug 2200 Stück, die 1521 geplante Ausgabe der lateinischen Auslegung der Psalmen von Pommeranus sollte in 1600 Exemplaren erscheinen und von seiner eigenen Auslegung des Büchleins Ruth wurden 800 gedruckt. Vgl. Pellikan, Hauschronik (wie Anm. 3), S. 29, 76 und 117. 7 Pellikan, Hauschronik (wie Anm. 3), S. 76 und 79. 8 Pellikan, Hauschronik (wie Anm. 3), S. 129. 9 Pellikan, Hauschronik (wie Anm. 3), S. 75. 10 Der autographe Bibliothekskatalog wird in der Zentralbibliothek Zürich unter der Signatur Ms Car XII 4 aufbewahrt: Martin Germann: Die reformierte Stiftsbibliothek am Großmünster Zürich im 16. Jahrhundert und die Anfänge der neuzeitlichen Bibliographie. Rekonstruktion des Buchbestandes und seiner Herkunft, der Bücheraufstellung und des Bibliotheksraumes. Mit Edition des Inventars von 1532/1551 von Conrad Pellikan. Wiesbaden 1994 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 34).

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von einem Kollegen ausgeliehen hatte. Als zweifelsfrei in seinem Besitz befindliche Handschriften und Drucke nennt er in chronologischer Reihenfolge des Erwerbs oder Geschenks (ohne Berücksichtigung selbst getätigter Abschriften): eine hebräische Bibel oder Bibelteile mit Masora, eine hebräische Bibel aus Pesaro, alle Werke von Faber Stapulensis, einen äthiopischen Psalter, die Tore des Lichtes von Rabbi Jose von Kastillien, Über die kabbalistischen Geheimnisse von Paulus de Heredia, einen hebräischen Pentateuch (Venedig 1515), Kommentare der Rabbiner Salomo ben Isaak (Raschi) und David Kimchi (eventuell Nr. 48) sowie anderer, eine hebräische Bibel mit Kommentaren, ein hebräisches Wörterbuch, ein in Konstantinopel gedrucktes Michlol (philologische Abhandlung), einen kleinen zweisprachigen Psalter mit Sprüchen und Hohelied, das chaldäische Wörterbuch von Sante Pagnini, eine Talmudabschrift, alle Werke von Erasmus von Rotterdam, Luthers Genesiskommentar, eine lateinische Bibel von Robert Stephanus (vgl. Nr. 14), die gegenüber Judentum und Kabbala kritischen Itinera deserti von Gerhard Veltwyck von Ravenstein (vgl. Nr. 53), den Thesaurus und Kommentare von Guillaume Budé.11 Der größte Teil der eben genannten Schriften aus Pellikans Besitz ist verloren. Dies trifft leider auch auf weitere Teile seiner Privatbibliothek zu, die eine tiefere dreistellige Zahl von Titeln vereint haben muss. Pellikan besaß nicht nur die eben erwähnten und unten verzeichneten Werke, sondern kaufte seinem Schwager, dem Philologen Johannes Fries, für 110 Gulden jüdische Bücher ab,12 die dieser 1545 aus Italien mitgebracht hatte.13 Pellikan legte davon wie auch von seiner Privatbibliothek Verzeichnisse an, die leider verloren sind.14 Er schrieb dazu: „Außer den Aufzeichnungen, die ich schon seit 1541 in ein Tagebuch eintrug […] habe ich auch ein Verzeichnis aller meiner Bücher angelegt und die Werke, gebunden wie ungebunden, mit Ziffern versehen, in erster Reihe die im größ11 Pellikan, Hauschronik (wie Anm. 3), S. 19, 22, 37, 46, 53, 55, 110, 129, 139, 157, 162 und 165. Rütiner erwähnt, dass Pellikan das Wörterbuch von Pagnini für vier Gulden gekauft habe. Johannes Rütiner: Diarium 1529–1539. Textband I,2. Diarium I, Abschnitt 613–978. Hg. von Ernst Gerhard Rüsch. St. Gallen 1996, S. 489f. Diesen Hinweis verdanke ich PD Dr. Reinhard Bodenmann, Bullinger-Briefwechsel-Edition, Zürich. 12 110 Gulden war ein stattliche Summe, betrug das vereinbarte Jahresgehalt bei seiner Berufung doch 70 bis 80 Gulden, und für sein Haus bezahlte er 200 Gulden. Vgl. Pellikan, Hauschronik (wie Anm. 3), S. 101 und 143. Zu Preisen von Büchern und Bibliotheken im 16. Jahrhundert in Zürich vgl. Urs B. Leu und Sandra Weidmann: Heinrich Bullingers Privatbibliothek. Heinrich Bullinger Werke, Abt. 1: Bibliographie, Bd. 3. Zürich 2004, S. 22–28. Zu Pellikans hebräischer Bibliothek vgl. auch: Zürcher (wie Anm. 2), S. 232–236. 13 Fries hatte auf dieser Reise auch Werke für sich gekauft. Vgl. Urs B. Leu: Die Privatbibliothek von Johannes Fries (1505–1565). In: Strenarum lanx. Beiträge zur Philologie und Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Festgabe für Peter Stotz zum 40-jährigen Jubiläum des Mittellateinischen Seminars der Universität Zürich. Zug 2003, S. 311–329, hier S. 321f. Zu Pellikans sonstigen Vermittlern von hebräischen Büchern gehörten der Basler Kaufmann Damian Irmi, Paul Fagius und die Buchhändler von Isny sowie Robert Stephanus bzw. dessen Gehilfe Thomas Courteau. Vgl. Pellikan, Hauschronik (wie Anm. 3), S. 164; Zürcher (wie Anm. 2), S. 232–236. 14 Pellikan, Hauschronik (wie Anm. 3), S. 144, 158, 160 und 162.

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ten Format, dann die in Folio, hierauf die von mittlerer Größe und in Quart, und zuletzt auch die noch nicht gebundenen, große und kleine zusammen, damit nicht so leicht etwas unbemerkt verloren gehen könne. Die Bücher, die Samuel hat,15 sind nicht dabei; er soll sie aber auch in ähnlicher Weise bezeichnen.“16 Pellikans Testament sah vor, dass seine Büchersammlung an seinen Sohn Samuel fallen sollte,17 der 1565 an der Pest starb. Über das weitere Schicksal von Pellikans Bibliothek ist nichts bekannt. Der handschriftliche Nachlass wird heute zum größten Teil in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt, einzelne Dokumente finden sich auch in der Universitätsbibliothek Basel, in verschiedenen Schweizer Archiven und der Kroch Library der Cornell University im Bundesstaat New York.18 Die noch auffindbaren Exemplare seiner Bibliothek gehören heute zu den Beständen der Aargauer Kantonsbibliothek, der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, der Stadtbibliothek Schaffhausen, der Zentralbibliothek Zürich und der Kroch Library der Cornell University. Im nachfolgenden Verzeichnis sind Werke aufgenommen, welche Pellikan selber besessen hat oder die er in der Stiftsbibliothek am Großmünster nachweislich benutzt hat (Nr. 1, 5, 6, 35, 41, 49–52). Darüber hinaus enthält es die Titel, die sein Schüler Konrad Gessner in seinem Exemplar der von ihm verfassten Bibliotheca universalis von 1545 von Hand als im Besitz Pellikans befindlich vermerkt hat. Von diesen sechs Titeln (Nr. 21, 22, 32, 39, 43, 54) ist nur noch einer (Nr. 32) physisch nachweisbar.19 1. Adam (Magister): Summula [mit Kommentar und Interlinearglosse]. Köln: [„Retro Minores“ für] Heinrich Quentell, 18. Juli 1500. – 4°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ink K 3427 15 Aus der Bibliothek von Samuel Pellikan werden in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt: Biblia (lat.), Zürich 1539 (Signatur: Bibl 60: l); Lucanus: Pharsalia, Venedig 1493 (Signatur: 4.4131); Martial: Epigrammata, Venedig 1485 (Signatur: 4.4132); Christophorus Mylaeus: De scribenda universitatis rerum historia, Basel 1551 (Signatur: Gal Tz 60). 16 Pellikan, Hauschronik (wie Anm. 3), S. 144. 17 Pellikan, Hauschronik (wie Anm. 3), S. 145. 18 Vgl. zum Briefwechsel das Verzeichnis in: Zürcher (wie Anm. 2), S. 285–304. An Handschriften aus seinem Besitz sind in der Zentralbibliothek Zürich nebst den von Zürcher verzeichneten ein lateinisch-deutsches NT (Signatur: Ms C 13–14) sowie ein Teil einer Psalmenübersetzung (Signatur: Ms F 57) vorhanden. In der Cornell University Library (Kroch Library Rare and Manuscripts) findet sich unter der Signatur “Archives 4600 Bd. Ms. 54“ ein Manuskript mit Loci communes von Johann Wintzler, Guardian des Franziskaner Konvents in Lenzfried bei Kempten, mit Auszügen aus Johannes Gersons theologischen Abhandlungen. Auf den Blättern 110–115 finden sich auch Notizen von Konrad Pellikan. Vgl. George L. Burr: A New Fragment on Luther’s Death. With Other Gleanings From the Age of the Reformation, in: American Historical Review 16/4 (1911), S. 723–735, hier S. 733. 19 Bei der Beschreibung der Inkunabeln folgten wir den Katalogisaten von: Christian Scheidegger: Inkunabelkatalog der Zentralbibliothek Zürich. Baden-Baden 2008/09 (Bibliotheca Bibliographica Aureliana CCXX, CCXXIII).

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Annotationen von Petrus Numagen und Konrad Pellikan. Bestand der Stiftsbibliothek am Großmünster. 2. Albertus Magnus: Summa dicta de mirabili scientia Dei. Basel: J. Wolff, 1507. – 2°, 2 Bde. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: IV S 20–21 Gehörte zu den Büchern, die Pellikan um 1540 der Stiftsbibliothek schenkte.20 3. Alexander Halensis: Opera. Lyon: A. Koberger, 1515/1516. – 2°, 4 Bde. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: IV S 10–13 Gehörte zu den Büchern, die Pellikan um 1540 der Stiftsbibliothek schenkte.21 4. Alphonsus de Espina: Fortalitium fidei. Nürnberg: Anton Koberger, 1485. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ink K 332 Handschriftliche Notizen Pellikans auf Bl. 7, 105 und 124–147. 5. Alvarus Pelagius: De planctu ecclesiae. Ulm: Johann Zainer, 1474. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ink K 105 Handschriftliche Notizen Pellikans auf Bl. 2r. Seit spätestens 1537 in der Stiftsbibliothek am Großmünster.22 6. Andreae, Antonius: Quaestiones super XII libros Metaphysicae Aristotelis [Hg. von Lucas de Subereto]. [Poitiers: Jean Bouyer et Guillaume Bouchet], 1495. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ink K 2113 Handschriftliche Notizen von Pellikan. Bestand der Stiftsbibliothek am Großmünster. 7. Augustinus, Aurelius: De civitate Dei. Basel: [Johannes Froben], 1522. – 2°. Stadtbibliothek Schaffhausen, Signatur: Z 63 Handschriftliche Widmung des Druckers Froben an Pellikan: „Conradi Pellicani Dono Io. Frobenij Anno 1524“. 8. Baltherus Seckinganus: Vita S. Fridolini [beigedruckt: Venantius Fortunatus: Vita S. Hilarii]. [Basel: Peter Kollicker, um 1483/84]. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ink K 233 a2 Gehörte zu den Büchern, die Pellikan um 1540 der Stiftsbibliothek schenkte.23

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Germann (wie Anm. 10), S. 294. Germann (wie Anm. 10), S. 293. Scheidegger (wie Anm. 19), Nr. 63. Germann (wie Anm. 10), S. 294.

Die Privatbibliothek Konrad Pellikans (1478–1556)

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Abb. 1: Titelblatt der Biblia Hebraica, 1494 (Bibliographie Nr. 10).

9. Baptista Mantuanus: Fastorum libri duodecim. Straßburg: Matthias Hupfuff, 1520. – 4°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: 4.2114 Zusammengebunden mit Nr. 27, 32, 33 und 42 in einem zeitgenössischen Einband. 10. Biblia Hebraica = ‫תורה נביאים וכתובים‬. Brescia: Gēršōm Ben-Mōše Soncino, 24.–31. Mai 1494. – 8°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ink K 359 Handschriftliche Widmung auf Bl. 585v: „Conradi Pellicani dono Iodoci Galli Rubeaquensis Avunculi“. Mit verschiedenen handschriftlichen Notizen Pellikans.

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11. [Biblia Hebraica]. [Pesaro]: [Gēršōm Soncino], [1511–1517]. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: III B 21 Handschriftliche Widmung auf dem Vorsatzblatt an Pellikan: „Optimo viro D. Conrado Pellicano in perpetuum amicitiae pignus haec sacra Biblia d d Gerardus zum Camph24 Embdensis Phrysius dominus concedat ut diu his fruatur ad gloriam nominis sui ecclesiaeque suae aedificationem suamque salutem amen“. Ab 1585 im Besitz von Konrad Pellikan d. J. (1552–1586). 12. Biblia Hebraica (Psalmen) = ‫תהלים‬. Venedig: s.n., 1537. – 16°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: V Z 609 Durchschossenes Exemplar mit der von Pellikan handschriftlich kopierten lateinischen Psalmenübersetzung Huldrych Zwinglis. Buchpreis im Vorderdeckel: 20 Batzen 13. Biblia (lat): cum postillis Nicolai de Lyra [...] Basel: Johannes Froben für Johannes Petri und Johann Amerbach, 1502. – 2°; 6 Teile in 5 Bänden. Aargauer Kantonsbibliothek, Signatur: RarF 40: 1–5/6 Handschriftliche Widmung des Druckers Froben an Pellikan auf dem Titelblatt: „Conradi Pellicani Dono Frobenij 1520“. 14. Biblia (lat.). Paris: Robertus Stephanus, 1540. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Bibl 2425 Handschriftlicher Besitzvermerk auf dem Titelblatt: „Sum Pellicanorum“. Mit den „Pellicani“ sind Konrad Pellikan und sein Sohn Samuel Pellikan (1527–1565) gemeint. Dass er seine Privatbibliothek nicht zuletzt mit Blick auf den Nutzen für den Sohn anlegte, geht aus seiner Autobiographie hervor, wo er schrieb: „In einen Pariser hebräischen Druck trug ich für mich und meinen Sohn die lateinische Uebersetzung Biblianders oder Leo Judäs ein zu Jesaias, Jeremias und den 12 kleinen Propheten.“26 15. Biel, Gabriel: Sacri canonis missae expositio. [Reutlingen]: Johann Otmar, 1488. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ink K 218

24 Gerhard zum Camph war einer der Lieblingsschüler Pellikans und weilte 1544/45 zehn Monate zu Gast bei ihm. Vgl. Zürcher (wie Anm. 2), S. 72f. 25 Vgl. Pellikan, Hauschronik (wie Anm. 3), S. 162: „Im März [1547] las ich die Werke Tertullians, sorgfältiger als früher, hierauf die Gedichte des Prudentius und verglich die Uebersetzungen der Kirchenväter Augustinus, Tertullianus und Cyprianus mit der Vulgata. Meine Anmerkungen dabei machte ich in die grosse Pariser Ausgabe Robert Stephans.“ 26 Pellikan, Hauschronik (wie Anm. 3), S. 128.

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Abb. 2: Erste Textseite aus der Biblia Hebraica, 1537 (Bibliographie Nr. 12).

Handschriftliche Notiz von Pellikan im hinteren Spiegel: „Ad fr[atr]es minores Basilee“. Nach Rückgabe an Pellikan um 1540 Schenkung an Stiftsbibliothek am Großmünster.27 16. Biel, Gabriel: Collectorium super quatuor partes sententiarum. [Tübingen: Johann Otmar für Friedrich Meynberger, nach 1500]. – 2°; 4 Teile in 2 Bdn. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: IV S 61–62 Gehörte zu den Büchern, die Pellikan um 1540 der Stiftsbibliothek schenkte.28

27 Germann (wie Anm. 10), S. 294. 28 Germann (wie Anm. 10), S. 294.

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17. Blondus, Flavius: De Roma triumphante libri decem, priscorum scriptorum lectoribus utilissimi, ad totiusque Romanae antiquitatis cognitionem pernecessarii; Romae instauratae libri III; Italia illustrata; Historiarum ab inclinato Rom[anorum] Imperio Decades III [...] Basel: Hieronymus Froben, Johannes Herwagen und Nicolaus Episcopius, 1531. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: IV H 11 Handschriftlicher Besitzvermerk auf dem Titelblatt: „Pellicani“. Mit den „Pellicani“ sind Konrad Pellikan und sein Sohn Samuel Pellikan (1527–1565) gemeint (vgl. Kommentar zu Nr. 14). 18. Blondus, Flavius: Historia Romana. Basel: Hieronymus Froben, Johannes Herwagen und Nicolaus Episcopius, 1531. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: IV H 12 Zusammengebunden mit Nr. 17. Zeitgenössischer Einband aus der Werkstatt des Zürcher Buchbinders Balthasar Mahler d. Ä.29 19. Bonaventura: Opuscula [beigedruckt u. a.: Octavianus de Martinis: Oratio in vitam et merita Sancti Bonaventurae]. Straßburg: [Georg Husner], 1495. – 2°; 2 Teile. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ink K 203–204 Handschriftliche Notiz auf Bl. 2 vermutlich von Konrad Pellikan. Gehörte zu den Büchern, die Pellikan um 1540 der Stiftsbibliothek schenkte.30 20. Bucer, Martin: Enarrationes perpetuae, in sacra quatuor Evangelia: recognitae nuper et locis compluribus auctae: in quibus praeterea habes syncerioris theologiae locos communes supra centum, ad scripturarum fidem simpliciter et nullius cum insectatione tractatos per Martinum Bucerum; epistola eiusdem nuncupatoria ad Academiam Marpurgensem de seruanda unitate Ecclesiae, in qua excutiuntur et articuli conuentus Marpurgi Hessorum celebrati. Straßburg: Georg Ulrich Andlanus, 1530. – 2°. Cornell University Library (Kroch Library Rare and Manuscripts): BR350.035 A4 1536 ++ Zusammengebunden mit Nr. 45. 21. Bugenhagen, Johannes: Annotationes ab ipso iam emissae: In Deuteronomium; In Samuelem prophetam, id est, duos libros Regum; ab eodem praeterea conciliata ex Evangelistis historia passi Christi et glorificati, cum annotationibus [...] Basel: Adam Petri, 1524. – 8°.

29 Judith Steinmann: Züricher Einbände aus dem 16. Jahrhundert. In: Einbandforschung 6 (2000), S. 10–18, hier S. 17f. 30 Vgl. Germann (wie Anm. 10), S. 294. Pellikan las bereits 1494 das Centiloquium von Bonaventura, vgl. Pellikan, Hauschronik (wie Anm. 3), S. 13.

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Konrad Gessner notierte an den Rand seines Handexemplars der von ihm verfassten Bibliotheca universalis (Zürich 1545, f. 394r), das in der Zentralbibliothek Zürich unter der Signatur Dr M 3 aufgestellt ist, dass Pellikan dieses Werk besessen habe. 22. Bugenhagen, Johannes: Annotationes in epistolas Pauli ad Galatas, Ephesios, Philippenses, Colossenses, Thessalonicenses primam et secundam, Timotheum primam et secundam, Titum, Philemonem, Hebraeos. Basel: Adam Petri, 1525. – 8°. Konrad Gessner notierte an den Rand seines Handexemplars der von ihm verfassten Bibliotheca universalis (Zürich 1545, f. 394r), das in der Zentralbibliothek Zürich unter der Signatur Dr M 3 aufgestellt ist, dass Pellikan dieses Werk besessen habe. 23. Bullinger, Heinrich: In acta apostolorum [...] commentariorum libri VI. Zürich: Christoph Froschauer, 1535. – 2°. Cornell University Library (Kroch Library Rare and Manuscripts): BR346.A2 1545 v.4 ++ Auf f. A4r (Beginn des Sachregisters), finden sich die Initialen „C[onradus] P[ellicanus] R[ubiacensis]“. Zusammengebunden mit dem vierten Teil von Nr. 55.31 24. Cranmer, Thomas: Artickel, deren sich die Bischoff und Gleerten des Künigreychs Engelland in einem Synodo, im Jar des Herrn M. D. LII. zuo London gehalten, vereiniget habend, auch die, damit Zwitracht und Irrthumm abgethon, Frid und Einigkeit in waren Glauben und Gottsdienst gepflantzet unnd gevestnet wurde [...] Zürich: Andreas Gessner d. J., [1553]. – 8°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ms S 79,187a (Dr 1b) Handschriftliche Widmung von Johannes Wolf an Pellikan: „D. C. Pellicano Ioan. Vuolphius D.D.“. 25. Durantis, Guilelmus: Rationale divinorum officiorum. Nürnberg: Anton Koberger, 1481. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ink K 2141 Handschriftliche Notizen auf dem Titelblatt vermutlich von Pellikan. 26. Fidati, Simon: De religione christiana [...] Basel: Adam Petri, 1517. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: IV S 54 Gehörte zu den Büchern, die Pellikan um 1540 der Stiftsbibliothek schenkte.32 27. Franck, Sebastian: Das Kriegbüchlin des frides. Ein krieg des frides, wider alle lermen, auffruor und unsinnigkait zu kriegen, mit gründlicher anzaigung, auß wichtigen eehafften ursachen, auß gründtlichen argumenten der Hailigen Schrifft, alten Leeren, Concilien, 31 Burr (wie Anm. 18), S. 733. 32 Vgl. Germann (wie Anm. 10), S. 294.

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Decreten, der Hayden schrifft unnd vernunfft, das der krieg nicht allein in das Reich Christi nit gehöre, sonder auch nicht sey dann ein Teuflisch, vihisch unchristenlich, unmenschlich ding, ein erschröckliche grewliche plag, ein landschad und lautere unsinnigkait, die mit gulden netzen vischet, ein zerstörung des frids, aller freundschafft und leutseligkait, ein zerrüttung und fal aller policey, erbarkeit, und guoter sitten, ein offne thür aller laster gewalts und frevels [...] [Augsburg]: Heinrich Stayner, 1539. – 4°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: 4.2113 Zusammengebunden mit Nr. 9, 32, 33 und 42 in einem zeitgenössischen Einband. 28. Gessner, Konrad: Bibliotheca universalis, sive catalogus omnium scriptorum locupletissimus, in tribus linguis, Latina, Graeca, et Hebraica [...] Zürich: Christoph Froschauer d. Ä., 1545. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: IV O 2 Handschriftliche Annotationen Pellikans. 29. Gessner, Konrad: Pandectarum sive partitionum universalium [...] libri XXI. Zürich: Christoph Froschauer d. Ä., 1548. – 2°. Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Signatur: KB A.64a.fol.1 Handschriftliche Widmung von Gessner an Pellikan auf dem Titelblatt: „D. Chuonrado Pellicano praeceptori colendo, suo tanquam patri C. Gesnerus.“33 30. Gessner, Konrad: Partitiones theologicae: pandectarum universalium [...] liber ultimus. Zürich: Christoph Froschauer d. Ä., 1549. – 2°. Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Signatur: KB A.64a.fol.2 Zusammengebunden mit Nr. 29 in einem Einband der Zeit. 31. Gessner, Konrad: Historiae animalium Lib. I. de quadrupedibus viviparis […] Zürich: Christoph Froschauer d. Ä., 1551. – 2°. Stadtbibliothek Schaffhausen, Signatur: S*40 Handschriftliche Widmung von Gessner an Pellikan auf dem Titelblatt: „Clarissimo viro D. Conrado Pellicano suo tanquam patri et praeceptori colendissimo et Samueli filio suo tanquam fratri colendissimo Con. Gesnerus d.d.“ Diese Widmung berücksichtigt beide „Pellicani“ (Vater und Sohn), vgl. Nr. 14 und 17. 32. Góis, Damião de: Commentarii rerum gestarum in India citra Gangem a Lusitanis anno 1538. Louvain: Rutgerus Rescius, 1539. – 4°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: 4.2111 Handschriftliche Widmung des Autors an Pellikan: „Conrardo [sic!] Pelicano Damianus A. Goes D. M.“ Zusammengebunden mit Nr. 9, 27, 33 und 42 in einem zeitgenössischen 33 Die Hinweise auf die Nummern 29, 30 und 44 verdanke ich lic. phil. Peter Kamber, ZHB Luzern.

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Abb. 3: Titelblatt von Damião de Góis: Fides, religio, moresque Aethiopum, 1540 (Bibliographie Nr. 33).

Einband. Konrad Gessner notierte zudem an den Rand seines Handexemplars der von ihm verfassten Bibliotheca universalis (Zürich 1545, f. 192v), das in der Zentralbibliothek Zürich unter der Signatur Dr M 3 aufgestellt ist, dass Pellikan dieses Werk besessen habe. 33. Góis, Damião de: Fides, religio, moresque Aethiopum sub Imperio Preciosi Ioannis (quem vulgo Presbyterum Ioannem vocant) degentium, una cum enarratione confoederationis ac amicitie inter ipsos Aethiopum Imperatores, & Reges Lusitaniae initae, [...] Louvain: Rutgerus Rescius, 1540. – 4°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: 4.2112 Handschriftliche Widmung des Autors an Pellikan: „Conrardo Pelicano Damianus A. Goes. D. M.“34 Zusammengebunden mit Nr. 9, 27, 32 und 42 in einem zeitgenössischen Einband. 34 Damião de Góis schenkte das Werk auch dem Basler Juristen Bonifacius Amerbach (1495–1562). Der Band wird in der Universitätsbibliothek Basel aufbewahrt (Signatur: EW VI 58:1). Vgl. auch:

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34. Hieronymus, Sophronius Eusebius: Opera. Basel: Johannes Froben, 1516. – 2°; 9 Bde. gebunden in vier. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: III ZZ 120–123 Auf dem Titelblatt handschriftliche Widmung der Familie Amerbach und Johannes Frobens an das Barfüßerkloster Basel: „Bruno Basilius Bonifacius Amerbachij35 et Johannes Frobenius Conventuj huic fratrum Minorum In Basilea hec clarissima divj Hieronimj opera dono [...]“; gemäß einem weiteren Eintrag schenkte der Rat von Basel dieses Exemplar Konrad Pellikan,36 von dem es Heinrich Bullinger 1532 für 8 Goldgulden abkaufte: Paul Wilhelm Genrich: Damião de Góis. In: Archiv für Reformationsgeschichte 39 (1942), S. 197– 220; Siegbert Uhlig und Gernot Bühring: Damian de Góis’ Schrift über Glaube und Sitten der Äthiopier. Wiesbaden 1994 (Aethiopistische Forschungen 39). 35 Die drei Söhne des Basler Druckers Johannes Amerbach (1440–1513) in der Reihenfolge ihres Alters (Bruno: geb. 1485; Basilius: 1488; Bonifacius: 1495). Vgl. Holger-Jacob Friesen, Beat R. Jenny und Christian Müller: Bonifacius Amerbach 1495–1562. Zum 500. Geburtstag des Basler Juristen und Erben des Erasmus von Rotterdam. Basel 1995, S. 10. Nach dem Weggang von Erasmus aus Basel im Mai/Juni 1516 lag die Vollendung der Hieronymus-Ausgabe vor allem in den Händen der Brüder Bruno (und Basilius) Amerbach und deren Helfern wie z. B. Beatus Rhenanus oder Konrad Pellikan. Bonifacius studierte in Freiburg und hielt sich nur gelegentlich in Basel auf. Auf der Rückseite der Titelblätter zum sechsten Band und zur Appendix des achten Bands der vorliegenden HieronymusAusgabe wird Pellikan als Mitarbeiter genannt. Zur Bestandserweiterung der Bibliothek der Basler Kartause durch Johannes Amerbach vgl. Beat R. Jenny: Die Beziehungen der Familie Amerbach zur Basler Kartause und die Amerbachsche Grabkapelle daselbst. In: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 58 (2001), S. 267–278. 36 Vgl. Rudolf Wackernagel: Geschichte des Barfüsserklosters zu Basel. In: Festbuch zur Eröffnung des historischen Museums. Basel 1894, S. 159–211, hier S. 207f.: „Des Konrad Pellicans Beziehungen zu den hauptsächlichen Basler Buchdruckern seiner Zeit, namentlich zu Amerbach und Froben, hatten die Folge, dass diese Drucker Exemplare ihrer Erzeugnisse an Pellican schenkten, welcher dieselben in der Klosterbibliothek niederlegte. Hiedurch kam die Bibliothek zu wertvollen Büchern und erlangte einen beträchtlichen Umfang; der Klosterbruder Peter Fleck, ein treuer Anhänger Pellicans, war dabei als Buchbinder beschäftigt. Aber nach der Aufhebung des Klosters 1529 kam Pellican von Zürich nach Basel, um die s. Z. ihm geschenkten und noch in der Klosterbibliothek befindlichen Bücher als sein Eigentum anzusprechen; der Rat willfahrte ihm, und er führte ein grosses von solchen Büchern gefülltes Fass mit sich fort nach Zürich.“ Pellikan schildert dies in seiner Hauschronik (wie Anm. 3), S. 113f., mit den Worten: „Damals hörte ich, das Minoritenkloster in Basel sei nun völlig geräumt. Ich musste befürchten, dass meine Bücher, die ich mir dort für viele langwierige Arbeiten bei den Druckern verdient hatte, in fremde Hände zerstreut würden, und liess mir deshalb vom Zürcher Rat einen Empfehlungsbrief an den Basler Rat ausfertigen, man möge doch alle Bücher der Klosterbibliothek, die ich als mein mühevoll erworbenes Eigentum und als nur meinetwegen dorthin gekommen nachweisen könne, mir aushändigen lassen, namentlich die Basler Drucke. Mit diesem Briefe reiste ich am 4. Mai nach Basel und schickte nach meiner Ankunft einen Boten zu meiner Schwester nach Rufach, dass sie zu mir nach Basel käme. Am 8. Mai traf sie auch wirklich ein, zu Fuss, und herbergte im Zirkel. Sie brachte 7 Goldgulden, die ihr noch die Mutter für mich gegeben hatte, und eine Krone. Die Bücher erhielt ich und zwar zahlreicher und in besserem Zustand, als ich erwartet hatte, und sandte sie, eine stattliche Kiste voll, nach Zürich.“

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„At clariss[imus] Basileien[sis] Senatus, eadem, Conrado Pellicano, dono dedit, a quo Hein: bullingerus emi aur. 8, anno 1532“; letztgenannter Eintrag nur mit UV-Lampe vollständig lesbar; Buchpreise für alle neun Bände (gebunden in vier Bänden): 8 aur. 35. Hrabanus Maurus: De institutione clericorum […] Eiusdem epistola ad Humbertum episcopum […] De septem signis nativitatis domini. De ortu, vita et moribus Antichristi. Pforzheim: Thomas Anselm, 1505. – 4°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ink K 3382 Handschriftliche Notizen Pellikans, damals im Bestand der Stiftsbibliothek am Großmünster. 36. Hunain Ibn-Ishaq: Isagoge ad artem parvam Galeni [aus dem Arabischen übersetzt von Constantinus Africanus]. [Padua: Nicolaus Petri, um 1476]. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ink K 111 Handschriftliche Notizen von Pellikan auf dem Vorsatzblatt. 37. [Leo X., Papst]: Bulla nova in Cena Domini. Rom: Stephanus Guilliretus, 1517. – 4°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Dr M 864 Handschriftliche Notizen Pellikans auf dem Titelblatt. 38. Livius, Titus: Historiae Romanae decades. Venedig: [Matteo Capcasa], 1491. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ink K 285 Gemäß handschriftlicher Notiz auf f. 1r von der Stiftsbibliothek am Großmünster als Triplette gegen 16 Bände Pellikans getauscht: „Liber Conradi Pellicani qui cum ter haberetur in bibliotheca mihi vendicavi datis pro eo voluminibus multis, numero xvj [...]“. 39. Longinus, Dionysius: Opuscula de magnitudine orationis. o.O., o.J. Konrad Gessner notierte an den Rand seines Handexemplars der von ihm verfassten Bibliotheca universalis (Zürich 1545, f. 212v), das in der Zentralbibliothek Zürich unter der Signatur Dr M 3 aufgestellt ist, dass Pellikan dieses Werk besessen habe. 40. Marsilius de Ingen: Questiones Marsilij super quattuor libros sententiarum. [Straßburg]: Martin Flach d. J., 1501. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ink K 233 Gehörte zu den Büchern, die Pellikan um 1540 der Stiftsbibliothek schenkte.37

37 Germann (wie Anm. 10), S. 294.

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41. Missale secundum ordinem sancti Ambrosii. Mailand: Zanotus de Castellione für Nicolaus Gorgonzola, 1515. – 4°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: V Z 300 Der Band gehörte dem ehemaligen Zuger Priester Werner Steiner,38 der 1542 starb und dessen Bibliothek vom Zürcher Philologen Johannes Fries übernommen wurde.39 Aus finanziellen Gründen veräußerte dieser verschiedene Titel, andere gelangten wie der vorliegende Band in die Stiftsbibliothek am Großmünster. Fries notierte auf dem Titelblatt: „Bibliothecae publicae Tigurinae“. Pellikan sah den Band dort ein und brachte auf der Rückseite des letzten Blattes eine Notiz an, dass dieses Buch zukünftigen Generationen zur Erinnerung an den alten Aberglauben der katholischen Kirche dienen werde. 42. Montanus, Jacobus: Divi Pauli Apostoli vita, carmine heroico foelicissime descripta. Köln: Eucharius Cervicornus, 1518. – 4°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: 4.2115 Zusammengebunden mit Nr. 9, 27, 32 und 33 in einem zeitgenössischen Einband. 43. Nestor, Dionysius: Vocabula suis locis et secundum alphabeti ordinem collocata. Straßburg: Johann Prüss d. Ä., 1507. – 2°. Konrad Gessner notierte an den Rand seines Handexemplars der von ihm verfassten Bibliotheca universalis (Zürich 1545, f. 212v), das in der Zentralbibliothek Zürich unter der Signatur Dr M 3 aufgestellt ist, dass Pellikan dieses Werk besessen habe. 44. Occhino, Bernardino: Dialogus: das ist ein Gespräch von dem Fägfheür, in welchem der Bäpstleren torechtigen und falschen Gründ, das Fägfheür zeerhalten, widerlegt werdend […] Zürich: Andreas und Jakob Gessner, 1555. – 8°. Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Signatur: BB H.14‘746.8° 38 Steiner kaufte den Band 1519 und notierte im Innendeckel Bemerkungen zur Schlacht bei Marignano von 1515. Vgl. Jean-Pierre Bodmer: Werner Steiner und die Schlacht bei Marignano. In: Zwingliana 12 (1965), S. 240–247. 39 Urs B. Leu (wie Anm. 13), S. 311–329. Das Missale wie auch zahlreiche andere Werke aus Steiners Besitz wurden in die letztgenannte Publikation nicht aufgenommen, weil sich Fries bald wieder davon trennte und Germann (wie Anm. 10), S. 302–305, diese Titel bereits aufgelistet hatte. Zwischenzeitlich sind folgende weitere Titel aus der Privatbibliothek von Johannes Fries entdeckt worden: Heinrich Glarean: Descriptio de situ Helvetiae. Basel 1519 (auf dem Titelblatt handschriftliche Widmung von Oswald Myconius an Fries, Zentralbibliothek Solothurn: Rar 940); Rudolf Gwalther: De syllabarum et carminum ratione. Zürich: Christoph Froschauer d. Ä., 1542 (auf dem Titelblatt handschriftliche Widmung von Gwalther an Fries, Zentralbibliothek Zürich: Ms S 5186a); Lucius Annaeus Seneca: Les Tragedies tres eloquentes du grand Philosophe Seneque [...] [Paris?]: s.n., 1536 (auf dem Titelblatt handschriftlicher Besitzvermerk: „Sum Frisij Ioannis 1536“; das Werk wurde an der Auktion der Moirandat Company AG in Basel vom 23./24. Februar 2006 angeboten, der heutige Standort ist unbekannt).

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Geschenk von Huldrych Zwingli (1528–1571), der das Werk aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzte: „Viro doctissimo & vere pietatis amico D. Conrado Pellicano patri suo venerando H. Zuinglius“. 45. Oekolampad, Johannes und Zwingli, Huldrych: DD. Ioannis Oecolampadii et Huldrichi Zuingli Epistolarum libri quatuor: praecipua cum religionis a Christo nobis traditae capita, tum Ecclesiasticae administrationis officia, nostro maxime seculo, tot hactenus erroribus perturbato, conuenientia, ad amussim exprimentes [...] Basel: Thomas Platter und Balthasar Lasius, 1536. – 2°. Cornell University Library (Kroch Library Rare and Manuscripts): BR350.035 A4 1536 ++ Auf den letzten vier Seiten findet sich eine Abschrift der von Martin Bucer verfassten Resolutio fidei M. Bucer[i] ad D. Iosephum Macarium Ungarum von der Hand Konrad Pellikans.40 Zusammengebunden mit Nr. 20. 46. Perotti, Niccolò: Cornucopiae seu Latinae linguae commentarii [...] Basel: Valentin Curio, 1526. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: V S 5c Mit wenigen handschriftlichen Annotationen von Pellikan. 47. Pirckheimer, Willibald: De vera Christi carne et vero eius sanguine, ad Ioan. Oecolampadium responsio. Nürnberg: Johann Petreius, 1526. – 8°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: III O 2106 Auf dem Titelblatt handschriftliche Widmung von Oekolampad an Huldrych Zwingli und Konrad Pellikan: „Pellicano et Zwinglio Oecolampadius“. Der aus acht Schriften bestehende Sammelband enthält eine weitere Schrift mit einer Widmung an Zwingli auf dem letzten Blatt verso (III O 2102), weshalb davon auszugehen ist, dass Pellikan diese Responsio von Pirckheimer der Privatbibliothek des Zürcher Reformators überlassen hat. Je eine Schrift darin datiert von 1535 und 1538. Sie erschienen also erst nach Zwinglis Tod im Jahre 1531. Möglicherweise hat einer seiner Nachkommen diese kleineren Schriften zusammen mit den zwei neueren nach 1538 zu einem Sammelband binden lassen. Grundsätzlich gelangte Zwinglis Bibliothek nach seinem Tod in die Stiftsbibliothek am Großmünster. 40 Reinhard Bodenmann: Martin Bucer und der adlige Ungar Joseph Macarius. In: Schweizer Kirchengeschichte neu reflektiert. Festschrift für Rudolf Dellsperger zum 65. Geburtstag. Hg. von Ulrich Gäbler u. a. Bern u. a. 2011 (Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie 73), S. 153–160. Während Bodenmann sich bei der Zuschreibung der Handschrift in diesem Aufsatz noch unsicher war (S. 156), zeigten weitere Vergleiche seinerseits, dass sie eindeutig von Konrad Pellikan stammt (freundliche Mitteilung vom 10. November 2011). Damit ist der Befund von George L. Burr bestätigt worden, den er bereits 1911 veröffentlicht hatte (wie Anm. 18, S. 731f.).

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48. Qimhi, Dawid: Šorāšīm vĕ-hū’ ḥeleq šēnī: mē-ham-miklōl [...] Venedig: David Bomberg, 1529. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: V L 3q Im vorderen Innendeckel findet sich eine handschriftliche Notiz des Bibliothekars der Stiftsbibliothek am Großmünster Johann Jakob Fries. Demnach ist der Band 1589 der Familie Pellikan zuhanden der Stiftsbibliothek abgekauft worden: „Hic codex preciosissimus emtus [sic!] est ex bibliotheca Pelicanorum. Post natum Christi anno 1589. Jo. Jacobo Frisio bibliothecario.“ 49. Summenhart, Conrad: Tractatus bipartitus de Deo homine facto. [Tübingen: Johann Otmar, um 1498]. – 4°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ink K 3362 Handschriftliche Notizen von Pellikan. Bestand der Stiftsbibliothek am Großmünster.41 50. Tartaretus, Petrus: Expositio super textu logices Aristotelis. [Paris: André Bocard, um 1494]. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ink K 2111 Handschriftliche Notizen von Pellikan. Bestand der Stiftsbibliothek am Großmünster. 51. Tartaretus, Petrus: Quaestiones super philosophia naturali et metaphisica Aristotelis. Paris: André Bocard für Jacob Beçanceau, 1494. – 2°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ink K 2112 Handschriftliche Notizen von Pellikan. Bestand der Stiftsbibliothek am Großmünster. 52. Tractatus de vino et eius proprietate. [Rom: Johann Besicken und Sigismund Mayer, um 1495]. – 4°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ink K 34312 Handschriftliche Notizen von Pellikan. Bestand der Stiftsbibliothek am Großmünster. 53. Veltwyck, Gerhard: [...] ‫שבׂילי תהו‬. Itinera deserti. De Iudaicis disciplinis et earum vanitate. Addita etiam nonnulla quae ex illorum libris eruta cum fide christiana consentiunt. Venedig: Daniel Bomberg, 1539. – 4°. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ms Car I 10242

41 Pellikan traf Summenhart, Rektor der Universität Tübingen, anfangs September 1499. Vgl. Pellikan, Hauschronik (wie Anm. 3), S. 19. 42 Fries brachte den Band aus Venedig mit. Pellikan, Hauschronik (wie Anm. 3), S. 162: „Ich machte mich sogleich der Uebung halber an die Uebersetzung eines Buches von Gerhard Ravenstein und zweier Bücher in gebundener und ungebundener Rede talmudischen Stils, betitelt ‚Wüstenreisen‘ [Itinera deserti].“

Die Privatbibliothek Konrad Pellikans (1478–1556)

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Durchschossenes Exemplar mit Pellikans handschriftlicher lateinischer Übersetzung des gedruckten hebräischen Textes.43 54. Vlierden, Daniel: Artium ac medicinae doctoris epistola, non minus theologica quam medica: ostendens medicum non corpori solum, verum etiam animae suppetias dare [...] [Basel]: Hieronymus Froben und Nicolaus Episcopius, 1544. – 8°. Konrad Gessner notierte an den Rand seines Handexemplars der von ihm verfassten Bibliotheca universalis (Zürich 1545, f. 193r), das in der Zentralbibliothek Zürich unter der Signatur Dr M 3 aufgestellt ist, dass Pellikan dieses Werk besessen habe. 55. Zwingli, Huldrych: Opera. [Zürich: Christoph Froschauer d. Ä., 1544/45]. – 2°; 4 Teile, wobei hier der vierte Teil Zwinglis „In evangelicam historiam de Domino nostro Iesu Christo, per Matthaeum, Marcum, Lucam et Ioannem conscriptam, epistolasque aliquot Pauli [...]“ von 1539 ausmacht, der 1544 nahezu unverändert nachgedruckt worden ist. Cornell University Library (Kroch Library Rare and Manuscripts): BR346.A2 1545 ++44 Im Band 4, f. AA4v (Beginn des Sachregisters) findet sich folgender Besitzvermerk: „Con. Pell. R.“ [Conradus Pellicanus Rubiacensis]. Zusammengebunden mit Nr. 23.45

43 Die gleiche Ausgabe besaß auch der französische Philologe und Hebraist Isaac Casaubon (1559– 1614). Vgl. Anthony Grafton und Joanna Weinberg: „I have always loved the Holy Tongue“. Isaac Casaubon, the Jews, and a Forgotten Chapter in Renaissance Scholarship. Cambridge (Mass.) and London 2011, S. 331. Vgl. zu Veltwyck: Encyclopaedia Judaica, Bd. 16, Jerusalem 1971, Sp. 89; Bart Severi: ‚Denari in loco delle terre …‘ Imperial Envoy Gerard Veltwijck and Habsburg Policy towards the Ottoman Empire, 1545–1547. In: Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hungaricae 54 (2001), S. 211–256. 44 Im März 1545 las Pellikan Band 1 der Werke Zwinglis. Pellikan, Hauschronik (wie Anm. 3), S. 146: „Dieser Tage las ich den ersten Band der Werke Zwinglis; ich legte auch für dieses Heiligtum ein umfangreiches, aber zweckmäßiges Inhaltsverzeichnis an.“ Wenige Seiten später schreibt er (S. 154): „Um jene Zeit habe ich auch das Verzeichnis der wichtigsten Stoffe zum 2. Band der Werke Zwinglis angelegt.“ 45 Burr (wie Anm. 18), S. 733 und 735.

Jesko Reiling (Bern)

Vom Exemplum der Treue zum Skandalon Der Graf von Gleichen-Stoff in der Literatur vom . 16. bis 19. Jahrhundert (J. Manlius, A. Hondorff, Chr. Hoffmann . von Hoffmannswaldau, P. Bayle, J. W. v. Goethe, J. K. A. Musäus, L. Bechstein)

Ludwig Bechstein, der neben den Brüdern Grimm bis heute bekannteste Märchen- und Sagensammler des 19. Jahrhunderts, charakterisierte 1837 die Sage des Grafen von Gleichen und ihre Überlieferung in aufschlussreich paradoxer Art und Weise. Sie sei, so hebt seine kurze historische Einführung an, eine „einfache, allbekannte Sage“, die „schon hundertmal schriftlich, und viele tausendmal mündlich erzählt, geglaubt, bezweifelt, bestritten, durchforscht und durchgrübelt“ worden und „bei allen Verwandlungen, die Phantasie und Laune, Forschung und Wißbegier mit ihr vornahmen“, „immer dieselbe geblieben“ sei.1 Die „Doppel-Ehe“ sei bereits den „schlichten, sittenreinen Vorfahren so einzig und beispiellos“ vorgekommen, dass aus dem „einfachen Kern einer halb zweifelhaften Thatsache [...] Krystallstrahlen der Poesie“ emporgewachsen seien, wodurch ein „schöne[r] Sagenstern“ entstand sei, der als „Kleinod aller thüringischen Sagen“ zu gelten habe.2 Aus der Geschichte des thüringischen Grafen, der durch eine Moslemin aus mehrjähriger Gefangenschaft befreit wird, sie deshalb heiratet und mit ihr zu seiner ersten Frau in die Heimat zurückkehrt, wo sie in harmonischer Menage à trois ihren Lebensabend verbringen, leuchte einem „deutsches Heldenthum, deutsche Biederkeit und Treue, glühende, aufopfernde Liebe und zarte fromme Weiblichkeit“ entgegen.3 Die verschiedenen Gegensatzpaare, die Bechstein in seiner Beschreibung anführt, Tradition und Innovation, Konstanz und Varianz, Exzeptionalität und Exemplarität, Vergangenheit und Gegenwart, mündliches Erzählen und wissenschaftliche (schriftliche) Argumentation, beleuchten nicht nur die Sage und ihre Überlieferung, sondern sind auch für die Theorie des Exempel, um die es im Folgenden ebenfalls geht, relevante Aspekte. Dass Sage und Exempel bei 1 Ludwig Bechstein: Sagenkreis der drei Gleichen. In: Der Sagenschatz und die Sagenkreise des Thüringerlandes. Dritter Theil: Die Sagen aus Thüringens Vorzeit, von den drei Gleichen, dem Schneekopf und dem thüringischen Henneberg. Nebst einer Abhandlung über den ethischen Werth der deutschen Volkssagen. Hg. von dems. Meiningen / Hildburghausen 1837, S. 101–142, hier S.103. 2 Ebd. 3 Ebd.

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Bechstein in solch enger Korrelation stehen, kommt nicht von ungefähr, da Bechstein seiner Sagensammlung eine Abhandlung über den ethischen Wert der deutschen Volkssagen vorausschickt, in der er deren moralpädagogische Funktion bestimmt. Die Sage, die Bechstein wie die Brüder Grimm als „unverbürgte Kunde von etwas Geschehenem“ versteht, unterrichte das Volk durch die „Macht des Beispiels“.4 Sie führe „abschreckende oder nachahmungswerthe Beispiele“5 von laster- oder tugendhaftem Verhalten vor und sei deshalb eine „Sittenlehre für das Volk“,6 darüber hinaus befördere sie aber auch den christlichen Glauben und die Frömmigkeit, da „Gottesläugner und Gotteslästerer“ in den Sagen stets bestraft, Unschuld und fromme Tugend jedoch belohnt würden.7 Da die Sitten- und Moralexempla von konstitutiver Bedeutung für die Textgattung der Sage sind, charakterisiert Bechstein die Wirkungsweise der Sage analog zur Textsorte der Exempel: Die Sage gehe „unbewußt aus dem Volke“ hervor und werde diesem ebenso unbewusst „zur gedeihlichen Frucht“.8 Den Vorteil der Exempel, unmittelbar durch ihre große Anschaulichkeit affektiv zur imitatio anzuregen, hatten schon die Römer erkannt – verba docent, exempla trahunt – und er war vor allem im 18. Jahrhundert ein wichtiges Argument, um den moralischen Nutzen der Poesie und Geschichtsschreibung (historia magistra vitae) zu erweisen.9 Bis heute spricht man den Exempeln einen „Aufforderungscharakter“ zu;10 an eine solch direkte, ‚anstachelnde‘ Wirkung kommt eine rationale Argumentation, die zunächst den Verstand zu überzeugen sucht und dadurch auf den Willen (zum rechten Verhalten) wirkt, nicht heran.11 Als Exemplum wurde die Erzählung vom Graf von Gleichen erstmals 1563 von Johannes Manlius (ca. 1534–1605) in dessen Exempelsammlung Locorum communium collectanea verschriftlicht. Dort diente sie jedoch nicht in erster Linie, wie es Bechstein rund 300 Jahre später verstand, zur Illustration des deutschen Nationalcharakters, sondern galt als positives Beispiel für die Tugenden der treuen Ehefrau. Bechsteins bis heute

4 Bechstein: Ueber den Werth der deutschen Volkssagen. In: Sagenschatz (wie Anm. 1), S. 1–30, hier S. 7. 5 Ebd., S. 26. 6 Ebd., S. 7. 7 Ebd., S. 27. 8 Ebd., S. 7. 9 Vgl. nach wie vor Rüdiger Landfester: Historia magistra vitae. Untersuchungen zur humanistischen Geschichtstheorie des 14. bis 16. Jahrhunderts. Genf 1972 (Travaux d’Humanisme et Renaissance 123). 10 Wolfgang Scheibe: Beispiel. In: Pädagogisches Lexikon in zwei Bänden, Bd. 1. Hg. von Walter Horney u. a. Gütersloh 1970, Sp. 276–277, hier Sp. 276. 11 So die gängige Ansicht im 18. Jahrhundert; vgl. hierzu mit Blick auf die zeitgenössische Poetik etwa Jesko Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698–1783). Berlin / New York 2010 (Frühe Neuzeit 145), S. 63–80.

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gültige literarische Einordnung der Erzählung als Sage – hierin folgt er den Brüdern Grimm –12 ist also keineswegs so zeitlos oder ahistorisch, wie es seine Ausführungen nahe legen könnten. Sie gibt vielmehr gerade in diachroner Perspektive den Blick auf einen Sachverhalt frei, dem die (wenigen und weit zurückliegenden) motivgeschichtlichen Studien zum Gleichen-Stoff bislang nur am Rande Rechnung trugen.13 Die Lesart der Erzählung des Grafen von Gleichen hängt stets auch von der Gattung ab, in der das Exempel präsentiert wird. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts modellierten ganz unterschiedliche Autoren wie etwa Johann Jakob Bodmer, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Leopold von Stolberg, Johann Karl August Musäus oder Achim von Arnim den GleichenStoff zu empfindsamen Freundschafts-, Liebes- und Ehekonzepten und stellten diese in unterschiedlichen literarischen Gattungen auf den Prüfstand. Einzig Goethes dramatische Behandlung in seiner Stella von 1776 war für die Zeitgenossen ein Skandalon, die restlichen Darstellungen der Menage à trois erregten die Gemüter jedoch nicht. Im Folgenden soll deshalb der Frage nachgegangen werden, ob die divergierenden Rezeptionsweisen insbesondere der literarischen Form, in welcher das Exempel dargeboten wurde, geschuldet waren. Aus der Fülle der literarischen Bearbeitungen werden im Folgenden nur diejenigen Texte ausgewählt, in denen der Gleichen-Stoff als Exempel vorkommt oder als solches behandelt wird, also als kleinere Texteinheit erscheint, die in einen größeren Text eingelagert und auf diesen bezogen ist.14 12 Deutsche Sagen. Hg. von den Brüdern Grimm. Ausgabe auf der Grundlage der ersten Auflage [1816–18] ediert und kommentiert von Heinz Rölleke. Frankfurt am Main 1994, S. 680f. 13 Alexander von Weiler: Der Graf von Gleichen in deutscher Dichtung und Sage. In: Zeitschrift für Allgemeine Geschichte, Kultur-, Litteratur- und Kunstgeschichte 2 (1885), S. 442–462; Eberhard Sauer: Die Sage vom Grafen von Gleichen in der deutschen Literatur. (Diss.) Straßburg 1911; Conrad Höfer: Die Gestaltung der Sage vom Grafen von Gleichen in der deutschen Dichtung. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 50 (1935), S. 151–186; John J. Weisert: Graf von Gleichen ‚redivivus‘. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 40/8 (1948), S. 465–470. Auf diesen Studien baut der Lexikonartikel von Elisabeth Frenzel: Gleichen, Graf von. In: Dies.: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 102005, S. 299–302, auf. 14 Damit wird ein Großteil der literarischen Bearbeitungen außer Acht gelassen, welche ‚lediglich‘ die Leerstellen des Geschehens ausfüllen und das ursprüngliche Exempel erzählerisch ausschmücken. Johann Jakob Bodmer etwa dehnt das Exempel zu zwei kleinen Epen aus (Die Gräfinn von Gleichen, 1771, Adelbert von Gleichen, 1778), die den Geist des von ihm hoch geschätzten Mittelalters atmen: Er schildert die Heimkehr des Grafen und das treue Warten der Gräfin in Anlehnung an Odysseus’ Heimkehr und bringt damit seine geschichtsphilosophische Auffassung der epochalen Zyklen zum Ausdruck, wonach Mittelalter und Antike vergleichbare kulturelle Blütezeiten waren; vgl. neben Reiling (wie Anm. 10), S. 43ff., auch Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin / New York 2007 (Spectrum Literaturwissenschaft 11), S. 59–67, und Annegret Pfalzgraf: Eine Deutsche Ilias? Homer und das ‚Nibelungenlied‘ bei Johann Jakob Bodmer. Zu den Anfängen der nationalen Nibelungenrezeption im 18. Jahrhundert. Marburg 2003, S. 68–84. Ganz ähnlich, jedoch mit gesteigertem

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Die von Bechstein festgestellte Konstanz des Stoffes zeigt sich daran, dass die Figurenkonstellationen und die grundlegende Handlungsführung in allen literarischen Bearbeitungen weitgehend kongruent sind. Heute geht man davon aus, dass die Sage vom „zweibeweibten Grafen von Gleichen“15 ihren lokalhistorischen Ursprung in der heute im Erfurter Mariendom zu besichtigenden Grabplatte aus dem 12. bzw. 13. Jahrhundert nimmt, die in der Mitte einen Mann zeigt und rechts und links von ihm je eine Frau. Es ist bis heute nicht ganz geklärt, wessen Grab damit geschmückt war, ob dasjenige von Erwin von Gleichen (?–1193), des Stifters der neuen Petersklosterkirche, wo der Grabstein bis 1803 aufbewahrt wurde, oder das Grab von dessen Sohn Ernst IV. (?–1267/77).16 Eine der Frauen stellt die Ehefrau des Grafen dar, bei der zweiten Frau könnte es sich um die Mutter, die Schwester oder um die zweite Frau handeln, die der Graf nach dem Tode der ersten Frau geheiratet hat. Bis ins 19. Jahrhundert war man jedoch vielfach der Ansicht, dass hier der außergewöhnliche Fall einer Doppelehe festgehalten wurde, was vor allem die Phantasie der Männer lebhaft beschäftigte. Die stoffliche Varianz, auf die Bechstein anspielt, zeigt sich somit bereits am Anfang der Überlieferung; bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde in historiographischen Arbeiten versucht, den historischen Kern der Erzählung zu eruieren, ohne aber ein für alle befriedigendes Ergebnis zu finden.17 Entsprechend patriotischem Pathos, das sich gegen das lasterhafte und verweichlichte Frankreich richtet, entwirft auch Friedrich Leopold von Stolberg seine im Deutschen Museum 1782 (2. Stück, Februar 1782, S. 99–109) veröffentlichte Ballade über den Grafen. Achim von Arnim geht freier mit dem Stoff um und formt ihn zu einer familiären Schicksalstragödie (Die Gleichen, 1819). Auch der anonyme Verfasser des empfindsamen Briefromans Elika, Gräfin von Gleichen. Eine wahre Geschichte aus den Zeiten der Kreuzzüge aus dem Jahre 1789 behandelt den Stoff mit großer dichterischer Freiheit und lotet vor allem die Gefühlslage der Gräfin aus. Vgl. zu all diesen Bearbeitungen, für die das ursprüngliche Exempel als Inhaltsangabe gelten kann, auch die oben angeführten Motivstudien. 15 Anonym: Der zweibeweibte Graf von Gleichen und seine Gemahlinnen. In: Curiositäten der physisch-literarisch-artistisch-historischen Vor- und Mitwelt; zur angenehmen Unterhaltung für gebildete Leser. Bd. 3. Weimar 1813, S. 6–17, hier S. 6. 16 Vgl. zuletzt Helga Wäß: Form und Wahrnehmung mitteldeutscher Gedächtnisskulptur im 14. Jahrhundert, Bd. 2: Katalog ausgewählter Objekte vom Hohen Mittelalter bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts. Berlin 2006, S. 166. 17 Aus der Masse an Forschungsbeiträgen seien neben dem anonymen Aufsatz Der zweibeweibte Graf (Anm. 15) nur noch zwei genannt, die sich auch mit Erkenntnissen der Zeitgenossen kritisch auseinandersetzen und wichtige Forschungsbeiträge aufzählen: Johann Christian Hellbach: Historische Nachrichten von den Thüringischen Bergschlössern, Gleichen, Mühlberg und Wachsenburg ihren Besitzern u. Bewohnern nebst einer Erzählung der Sagen u. Begebenheiten des zweyweibigen Grafen von Gleichen [...]. Erfurt 1802, insbes. S. 77–177, und W. J. A. Freiherr von Tettau: Über die Quellen, die ursprüngliche Gestalt und die allmählige Umbildung der Erzählung von der Doppelehe eines Grafen von Gleichen. Ein kritischer Versuch. In: Mittheilungen des Vereins für die Geschichte und Alterthumskunde von Erfurt 3 (1867) S. 1–145, auch als Separatdruck erschienen. Bereits in Zedlers Universallexikon hieß es: „Einige [Historiker] zweiffeln an der gantzen Sache, weil bey keinem alten Historico hiervon Nachricht zu finden.“ Johann Heinrich Zedlers Großes vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissenschafften und Künste [...], Bd. 10. Halle / Leipzig 1735, Sp. 1628.

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heißt der Graf in einigen Darstellungen Ernst, in anderen Ludwig, einmal wird er auf den Kreuzzügen gefangen genommen, ein anderes Mal kämpft er gegen das türkische Heer.18

I. Die Exempelsammlungen von Johannes Manlius (1563) und . Andreas Hondorff (1568) Große Popularität weit über die Landesgrenzen hinaus gewann die Erzählung um die Mitte des 16. Jahrhunderts als der hessische Landgraf Philipp der Großmütige (1504– 1567) neben seiner seit 1523 bestehenden Ehe mit Christina von Sachsen 1540 eine weitere Ehe mit Margarethe von der Saale (1522–1566) einging. Um seine zweite Eheschließung zu legitimieren, suchte der Landgraf nach biblischen und historischen Vorläufern und stieß dabei auf die Geschichte vom Grafen von Gleichen.19 Martin Bucer gelang es, Martin Luther und Philipp Melanchthon die Zustimmung zur zweiten Vermählung abzugewinnen.20 Es war der Melanchthon-Schüler Manlius, der 1563 in den Locorum communium collectanea die Geschichte des „zweibeweibten“ Grafen zum ersten Mal abdruckte und sie so einer größeren Öffentlichkeit bekannt machte.21 Er versteht die abenteuerliche Geschichte des Grafen als Exempel der ehelichen Treue: Der Graf wird auf einem Kriegszug in der Türkei gefangen genommen und gerät für Jahre in Gefangenschaft. Eine türkische Sultanstochter verliebt sich in ihn und befreit ihn unter der Bedingung, dass er sie heirate. Nach der erfolgreichen Flucht erhält der Graf den päpstlichen Segen für seine zweite Eheschließung. Mit seiner zweiten Frau kehrt er in die thüringische Heimat zurück, wo das Paar von der ersten Ehefrau herzlich aufgenommen wird. Obwohl diese in der Handlung kaum vorkommt, geht es Manlius in seiner Erzählung um die Tugenden der geduldig auf ihren Mann wartenden Gemahlin; er bietet die Erzählung als Illustration 18 Vgl. Frenzel (wie Anm. 13), S. 299f., und auch Hellbach, der konstatierte, dass die Geschichte schon „oft, zuweilen schlecht, zuweilen sehr gut, in Prosa, und in Versen, meistentheils ziemlich unübereinstimmend erzählt“ worden sei. Hellbach (wie Anm. 17), S. 77. 19 Vgl. William Walter Rockwell: Die Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen. Marburg 1904, S. 211ff. und 224. 20 Vgl. hierzu Stephan Buchholz: Rechtsgeschichte und Literatur. Die Doppelehe Philipps des Großmütigen. In: Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen und seine Residenz Kassel. Ergebnisse des interdisziplinären Symposiums der Universität Kassel zum 500. Geburtstag des Landgrafen Philipp von Hessen (7. bis 18. Juni 2004). Hg. von Berthold Hinz u. a. Marburg 2004 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 24,8), S. 57–73; ders.: Der Landgraf und sein Professor: Bigamie in Hessen. In: Wirkungen europäischer Rechtskultur. Festschrift für Karl Kroeschell. München 1997, S. 39–63; Paul Mikat: Die Polygamiefrage in der frühen Neuzeit. Opladen 1988 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften G 294), insbes. . S. 15–16. 21 Da allein bis 1624 15 lateinische und drei deutsche Ausgaben nachgewiesen sind, spricht Heinz Scheible zu Recht von einem „Erfolgsbuch“. Heinz Scheible: Manlius, Johannes. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 9. Hg. von Hermann Bausinger u. a. Berlin 1999, Sp. 142.

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für das sechste Gebot.22 Manlius versucht also, das Augenmerk weg vom „zweibeweibten“ Mann hin zur treu gebliebenen (ersten) Ehefrau zu lenken, und scheint damit zu beabsichtigen, allfällige Erinnerungen an die kurz zuvor erbittert geführten theologischen und politischen Kontroversen, die nach dem Bekanntwerden der Doppelehe von Philipp aufgekommen waren,23 möglichst zu vermeiden bzw. anders zu perspektivieren. Eingereiht ist das Exempel des Grafen von Gleichen unter dem sechsten Gebot, es steht aber in der Exempelabfolge etwas quer. Nachdem Manlius zunächst beide Ehepartner zu den Tugenden der „zucht und keuschheit“ ermahnt hat,24 wendet er sich den Frauen zu, die stets „Glauben/ Lieb/ Keuschheit unnd Zucht/ in geberden unnd worten der tugende“ an den Tag legen sollen, und weist ihnen die „Haußhaltung“ als Tätigkeitsbereich zu.25 In sechs Beispielen wird anschließend gezeigt, wie sich die weiblichen Tugenden in konkreten historischen Situationen in der Antike und Neuzeit manifestierten. Die Ehefrauen werden in all diesen Beispielen in Extremsituationen gezeigt, in denen sie mit List und großer Opferbereitschaft ihre Männer aus dem Gefängnis befreien. Während in der lateinischen Ausgabe all diese Beispiele (auch dasjenige des Grafen von Gleichen) unter dem Titel „Casus aliquot ubi quidam beneficio mulierum ex summis periculis tuto evaserunt“ angeführt sind,26 wurden in der deutschen Ausgabe mehrere Titel eingefügt27 und so die ursprüngliche Subsumierung in ein Kapitel etwas gelockert und Differenzierungen zwischen den verschiedenen Fällen vorgenommen. Die deutsche Ausgabe trägt damit der Tatsache Rechnung, dass das Gleichen-Exempel als sechstes und zugleich längstes Beispiel nur bedingt in die Reihe passt. Der Graf wird zwar von der türkischen Königstochter aus der Gefangenschaft gerettet, die ist aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit 22 In der Vorrede des zweiten Teils, in dem die zehn Gebote präsentiert werden, wird der Topos von der Geschichte als magistra vitae angeführt: Man solle „die exempel der historien auff unsere gegenwertige zeit ziehen/ rath unnd hülff wissen/ wie man durch gute mittel und weg/ grosser gefahr entgieng/ und schwere hendel zu glückseligen außgengen bringe/ und darvon entlediget werde“. Manlius: Locorum Communium, Der Ander Theil. Herrliche schöne/ und mancherley adelische geschichten/ historien/ hendel und andere sachen/ die nach der zehen Gebott Tittelen seind auß geteilet. Franckfurt am Mayn 1565, unpag. [Vorrede]. Zum Aufbau von Manlius’ Exempelsammlung vgl. Burghart Wachinger: Der Dekalog als Ordnungsschema für Exempelsammlungen. Der ‚Große Seelentrost‘, das ‚Promptuarium exemplorum‘ des Andreas Hondorff und die ‚Locorum communium collectanea‘ des Johannes Manlius. In: Exempel und Exempelsammlungen. Hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 2), S. 239–263; vgl. auch Ernst Heinrich Rehermann: Das Predigtexempel bei protestantischen Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts. Göttingen 1977 (Schriften zur niederdeutschen Volkskunde 8), S. 176–180. 23 Vgl. Rockwell (wie Anm. 19), S. 49–136, insbes. S. 101–136. 24 Manlius (wie Anm. 22), S. 248. 25 Ebd., S. 249r. 26 Manlius: Locorum Communium Collectanea. Frankfurt 1568 [Lat. Ausgabe], S. 312. 27 „Das etliche Mönner durch wolthat trewer Weiber/ aus grossen geferligkeiten entgangen/ folgen felle“, „Wie grosse Potentaten/ von Weibern erlediget“, „Wie ein Graff von Gleichen/ von einer Türckin erledigt.“ Manlius (wie Anm. 22), S. 250f.

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dem Grafen verheiratet. Sie vollbringt somit gar nicht die heroische Tat einer Ehegattin. Auf die Gleichen-Erzählung folgt das Exemplum von Dorothea von Dänemark, die in „Gottsförchtigkeit und gedult“ zehn Jahre lang ihren geisteskranken Mann gepflegt haben soll.28 Hiermit wird also nahtlos an das Ende des Gleichen-Exempels angeschlossen, an dem die Reaktion der ersten Ehefrau geschildert wird; es folgen mehrere Beispiele von lasterhaftem Ehebetragen und häuslicher Gewalt sowie Ausführungen zu „Ehebruch/ Hurerey/ allerley unzucht/ und schreckliche derselbigen straff“.29 Dem Gleichen-Exempel kommt bei Manlius also eine Scharnierfunktion zu. Indem es den Fokus von den tatkräftigen Ehefrauen, die ihrem eigenen Leben zugunsten ihres Ehemannes entsagen, zu denjenigen lenkt, die geduldig im Hause dienen, stellt es den erzählerischen Zusammenhang her zwischen den Beispielen. Dabei wird freilich ausgeblendet, dass das Verhalten der türkischen Prinzessin nicht in die eigentlich intendierte Reihe der Ehefrauen passt. Der Bedeutungsüberschuss des Exempels wird jedoch durch den Kotext verdeckt bzw. soll durch diesen verdeckt werden. Auch die 1568 erstmals erschienene, in der Folge weit verbreitete Exempelsammlung von Andreas Hondorff (um 1530–1572), das Promptuarium exemplorum,30 muss Strategien der Leserlenkung einsetzen, um die intendierte Lesart der Gleichen-Erzählung abzusichern. Hondorff stattet sie mit einer Überschrift aus, die nicht mehr nur auf die Ehefrau abzielt. Für ihn ist die Gleichen-Episode ein „Exempel von trewe / liebe und freundschafft frommer Eheleute“,31 das er am Ende einer langen Reihe von Beispielen anführt, in der – entgegen des Kapiteltitels – vorwiegend die treue, bedingungslose Liebe und die aus ihr entspringenden guten Taten der Ehefrauen illustriert werden. Im Inhaltsverzeichnis der deutschen Ausgabe von 1584 verweist Hondorff mit dem zusätzlichen lateinischen Titel „de amore coniugali“ auf diesen Aspekt, während es im vorangegangenen Kapitel um das Verhalten von keuschen Jung- und Ehefrauen („de castitate virginum et uxorum“) ging, dem wiederum ein Kapitel mit Beispielen von keuschen Ehemänner vorgeschaltet ist. Hondorffs Ausführungen zum sechsten Gebot beginnen mit einer Zusammenstellung der einschlägigen Bibelstellen zum Thema und enden nach positiven Beispielen mit negativen (Gewalt, Ehebruch).

28 Ebd., S. 252r. 29 Ebd., S. 257. 30 Vgl. hierzu die Arbeiten von Heidemarie Schade: Hondorff, Andreas. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 6. Hg. von Hermann Bausinger u. a. Berlin 1990, Sp. 1229–1233; dies.: Andreas Hondorffs Promptuarium Exemplorum. In: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Hg. von Wolfgang Brückner. Berlin 1974, S. 647–704; dies.: Das Promptuarium exemplorum des Andreas Hondorff. Volkskundliche Studien zum protestantischen Predigtexempel im 16. Jahrhundert. (Diss.) Frankfurt am Main 1966; Rehermann (wie Anm. 22), S. 180–197. 31 Andreas Hondorff: Promptuarium exemplorum, Erster Theil. Das ist: Historien und Exempelbuch […]. Franckfurt am Mayn 1584, S. 248 (Hervorhebung durch J.R.).

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Das Gleichen-Exempel, das Hondorff von Manlius kannte, wie sein expliziter Hinweis am Ende des Exempels belegt, ist eines der wenigen des entsprechenden Kapitels, das auch tatsächlich zum angegebenen Thema passt. Durch die Titelgebung hebt Hondorff die Handlungsmotive des Grafen etwas mehr hervor, auch wenn der Wortlaut von Manlius nur geringfügig verändert wird.32 Aufgrund der durch den Titel veranlassten Fokussierung auf die beiden Eheleute gerät die Türkin für den Leser etwas aus dem Blick und wird nach der Heimkehr des Grafen zur Hintergrundfigur. Auch wenn ihr alle gewogen bleiben, hat sie für die weiteren Generationen der Familie keine Bedeutung: „Gott aber machte die Gräffin fruchtbar/ daß sie viele Kinder gebar/ aber die [türkische] Königin unfruchtbar/ sie hat aber der Gräffin Kinder sehr lieb gehabt/ und ihr fleissig gewartet.“33 Der Kindersegen symbolisiert Gottes Gnade und Wohlgefallen an diesem Paar und verdeutlicht damit die Tugendhaftigkeit beider thüringischer Eheleute. Es dürfte somit auch kein Zufall sein, dass das darauffolgende Beispiel die partnerschaftlichen, wechselseitigen Voraussetzungen für eine gute Ehe illustriert und auch das vorausgehende Beispiel von Sophonisbe und Massinissa ganz ähnlich gelagert ist: Um sie vor Übergriffen durch ihre Feinde zu schützen, schickt er ihr „mit hertzlichem trawren“ einen Gifttrank, den sie „von der Liebe wegen“ bereitwillig trinkt.34 Beide Sammlungen lassen also erkennen, dass die moralische Nutzanwendung des Exempels keineswegs in diesem selbst enthalten ist und die bloße Wiedergabe des Handlungsverlaufs die Moral des Exempels so klar und eindeutig zum Ausdruck bringt, wie es eigentlich wünschenswert wäre. Diese muss von den Autoren zuvor dogmatisch festgelegt und durch den Ko- bzw. Kontext gesichert werden. Dem Leser erschließt sich die intendierte Lesart aufgrund der paratextuellen Hinweise wie Buchtitel und Kapitelüberschriften sofort und folglich rezipiert er das Exempel als normatives, handlungsanleitendes Beispiel.35 Beide Autoren schränken also das Bedeutungspotential des Exempels ein, was sich bei beiden markant manifestiert: Während die türkische Prinzessin bei Manlius unter der Hand zur Ehefrau wird, blendet Hondorff sie in seiner intendierten Ausdeutung weitgehend aus, hebt dafür aber die Handlungsmotive des Grafen stärker hervor.

32 Vgl. etwa: Der Graf habe nicht aus „leichtfertigkeit oder geilheit“ in die Heirat mit der Türkin eingewilligt, sondern um seine Freiheit zu erlangen. Ebd., S. 251r; bei Manlius heißt es: „frecheit [sic] oder geilheit“. Manlius (wie Anm. 22), S. 251r. 33 Hondorff (wie Anm. 31), S. 251r. 34 Ebd., S. 251. 35 Vgl. hierzu Nicolas Pethes u. a.: Zur Systematik des Beispiels. In: Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Hg. von dens. Berlin 2007, S. 7–60, hier S. 40–55.

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II. Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: Helden-Briefe (1679) Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616–1679) wählte für seine Behandlung des Stoffes die Form der von Ovid begründeten Heroiden, in denen dieser sehnsüchtige Klagen einzelner verzweifelt liebender Frauen dargestellt hatte. In seinen insgesamt zwölf Helden-Briefen von 1679 lässt Hoffmannswaldau jedoch nicht nur die Frau, sondern auch den Mann zu Wort kommen, womit er die Perspektive von Hondorff, den er wohl als Quelle benutzt hat,36 fortführt; beide Partner schreiben sich jeweils einen genau hundert Alexandriner langen Brief. Diesem geht stets eine Einleitung in Prosa voraus, in der aus neutraler Erzählerperspektive die historische Lage der Liebenden geschildert wird. Während ansonsten in den Briefen stets ein Liebespaar vorgeführt wird, das im Titel mit Namen erwähnt wird, passt die Gleichen-Episode als vierter Heldenbrief nicht in dieses Muster. Sie trägt den Titel Liebe zwischen Graf Ludwigen von Gleichen und einer Mahometanin. Letztere tritt aber – entgegen dem üblichen Verfahren – gar nicht als Briefschreiberin auf. Es schreiben sich nur der Graf und die Gräfin, dafür aber wird im ProsaVorspann der Fokus auf die türkische Sultanstochter gerichtet und erzählt, wie sie zunächst angezogen von der körperlichen Attraktivität des Grafen mit diesem bekannt wird, wie sich aus ihrem anfänglichen Mitleid mit dem eingesperrten Grafen allmählich eine „inbrünstige Liebe“ entwickelt und wie sie ihm schließlich zur Flucht verhilft und mit ihm in seine Heimat reist.37 In den Exempelsammlungen von Manlius und Hondorff fehlt diese breit ausgemalte psychologische Perspektive auf die Türkin, der bei Hoffmannswaldau jedoch eine wichtige Bedeutung zukommt. Sie lenkt den Blick auf die affektiven und psychischen Voraussetzungen, die zum Gelingen der Doppelehe notwendig sind. Auch wenn, wie Sarah Colvin herausgestellt hat, die „Mahometanin“ im Sinne der damaligen Klimatheorie die Sinnlichkeit und Leidenschaftlichkeit der Orientalen besitzt, wird sie deswegen nicht verurteilt, sondern vielmehr gelobt.38 Ihre Liebe gerät nicht außer Kontrolle und führt auch nicht zur Lethargie, die gemäß den damaligen Vorstellungen ebenfalls als charakteristisch für die südlichen Länder galt, sondern wird zur Kraftquelle, Entbehrungen und Mühsal auf sich zu nehmen. Der Graf hebt in seinem Brief in einer auffälligen Nomina-Reihung hervor:

36 Vgl. Sarah Colvin: The Benefits of Bigamy: a Reconsoderation of Hoffmann von Hoffmannswaldau’s ‚Liebe Zwischen Graf Ludwigen von Gleichen und einer Mahometanin‘. In: Oxford German Studies 25 (1996), S. 165–177, hier S. 170; Veronique Helmridge-Marsillian: The heroism of love in Hoffmannswaldau’s ‚Heldenbriefe‘. Tübingen 1991 (Studien zur deutschen Literatur 113), S. 187. 37 Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: Liebe zwischen Graf Ludwigen von Gleichen und einer Mahometanin. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. I/2: Deutsche Übersetzungen und Getichte. Hg. von Franz Heiduk. Hildesheim u. a. 1984, S. 61. 38 Colvin (wie Anm. 36), S. 173ff.

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Die Rauigkeit der Luft/ Stein/ Wasser/ Berg und Hecken Wild/ Regen/ Nebel/ Schnee/ Wind/ Hagel/ Eiß und Frost Durst/ Hunger/ Finsternuß/ Sand/ Wüste/ Furcht und Schrecken Trieben ihren Fürsatz nicht aus der getreuen Brust.39

Die orientalische Liebe wird von Hoffmannswaldau nicht als „negative Affektverfallenheit“ dargestellt,40 sondern als Bedingung der glücklichen Rettung des Grafen. Darüber hinaus müssen sich aber auch die Eheleute Gleichen als tugendhaft erweisen: Ihre Liebe muss „recht gegründet“ und als „wahre Freundschafft“ oder „getreue Liebe“ frei von niederen Trieben wie Eifersucht sein.41 Wenn sie beide „vernünfftig“ seien, so der Graf, müssten sie die „Mahometanin“ aus Dankbarkeit für die Befreiung lieben. Das Antwortschreiben der Gräfin bezeugt diese Gesinnung und Gefühlsdisposition mit Nachdruck.42 Indem Hoffmannswaldau das Dreiecksverhältnis auf die dreiteilige Struktur des Helden-Briefes appliziert, verteilt er die Perspektive im Vergleich zu seinen Vorgängern einigermaßen gleichmäßig auf alle Beteiligten, wobei die beide (christlichen) Briefschreiber durchaus mehr Raum und Gewicht erhalten. Im Kontext seiner Helden-Briefe erscheint das Gleichen-Exempel als historischer Einzelfall, wie schon die Entstehungsgeschichte anzudeuten vermag. Dieses Exempel musste als Ersatz für eine andere, ursprünglich geplante Geschichte dienen, die Hoffmannswaldau aber wegen „ein[es] Bedencken[s]“ und der „richtgierige[n] Zeit“ unterdrückte;43 offenbar war die ursprünglich geplante anstößiger als die Gleichen-Erzählung. Dieser vierte Heldenbrief ragt heraus, weil hier die Doppelehe als ungewöhnliches, da problemfreies Beispiel für eine tugendhafte Liebesbeziehung erscheint, während sich in den übrigen Briefen die Liebenden in Leidenschaften verzehren oder in Konflikt mit den herrschenden gesellschaftlichen Konventionen geraten.44 Während die (ungewollte) Bigamie ein glückliches Zusammenleben ermöglicht, erweisen sich die ansonsten von den Protagonisten angestrebten monogamischen Paarbeziehungen als zu komplex, um Liebesglück zu erlangen. Gleichwohl geht die Gleichen-Erzählung sehr wohl mit den anderen Briefen konform, wenn man sie nicht so sehr als Modell einer Lebensform liest, sondern die verschiedenen Liebesmodelle fokussiert, die von den beiden im Titel genannten Personen verkörpert werden: Auch hier geht es darum, wie man die leidenschaftliche Liebe (der „Mahometanin“) mit den gesellschaftlichen Traditionen (des 39 40 41 42 43 44

Hoffmannswaldau (wie Anm. 37), S. 65f. Colvin (wie Anm. 36), S. 176. Hoffmannswaldau (wie Anm. 37), S. 63; vgl. auch ebd., S. 65. „Ob die ErlösungsArth mir auch verdrießlich fällt? Wie solt ich nicht die Hand zu tausendmahlen küssen/ So mir mein Bette füllt/ und dich in Freyheit stellt? […] Ich will sie ungescheut stets einen Engel nennen“ (ebd., S. 69). Ebd., S. 59. Vgl. Lothar Noack: Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616–1679). Leben und Werk. Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit 51), insbes. S. 361ff. 

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Grafen) in Übereinstimmung bringen kann. Hoffmannswaldaus Lösung ist in diesem Fall aus moralischer Perspektive so einfach wie modern und weist auf Goethes Stella voraus: Entscheidend für das gemeinsame Glück ist die (tugendhafte) Gesinnung aller Beteiligten. Der Einzelfall des Grafen von Gleichen vermag zwar die allgemeinen Bedingungen für „Einigkeit und Seegen“ in der Liebe zu entdecken, erweist sich dem Leser gegenüber jedoch zugleich als utopischer, weil eben singulärer Entwurf, da in allen anderen von Hoffmannswaldau unterbreiteten Fällen – wie auch (meist) im realen Leben – stets gesellschaftliche Konventionen oder Konstellationen die „Liebe“ behindern oder gar verun- . möglichen.45

III. Pierre Bayle: Dictionaire historique et critique (1697/1742) Als Einzelfall – als „une Avanture bien singuliere“ –46 betrachtete auch Pierre Bayle (1647–1706) die Erlebnisse des Grafen von Gleichen, deren historische Wahrhaftigkeit er sehr bezweifelte. In seinem Lexikonartikel, den Johann Christoph Gottsched 1742 ins Deutsche übertrug, schildert Bayle den Handlungsverlauf im Rückgriff auf Hondorffs Exempelsammlung in der Ausgabe von 1633 und ergänzt diesen mit quellenkritischen Überlegungen, die sich auf neuere, unkritische Darstellungen des Stoffes beziehen, wie etwa Pierre Duvals (1619–1683) Description de l’Italie et de l’Allemagne von 1668 oder auf den Briefwechsel des Comte Roger de Bussy-Rabutin (1618–1693) von 1697. Bayle und in der Folge auch sein Übersetzer Gottsched haben jedoch in erster Linie Hondorff im Blick, dem sie vorwerfen, keine „Briefe des Pabsts, oder das Zeugniß eines um dieselbe Zeit gelebten Schriftstellers“ anzuführen, welche die angebliche päpstliche Einwilligung zur Doppelehe belegen könnte.47 Damit habe er es versäumt, den „Glaubensverbesserer[n]“, d. h. den Reformatoren, nachträglich für deren Erlaubnis zur Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen Sukkurs zu bieten. Weil diese Quellenzeugnisse fehlen, sei es den Katholiken ein Leichtes, Hondorffs Bericht als „höchst fabelhafte Erzählungen“, die sich nur auf das „Hörensagen“ und auf „gewisse Mährchen“ stützen würden, zu diffamieren48 – und auch, so ist zu ergänzen, nachträglich das Verhalten der Reformatoren anzuprangern. Auch der Hinweis auf die historische Grabplat-

45 Hoffmannswaldau (wie Anm. 37), S. 62. 46 Pierre Bayle: Gleichen. In: Ders.: Dictionaire historique et critique. Tome second C-J. Cinquième édition de 1740, revue, corrigée et augmentée. Genf 1995 (Slatkine Reprints), S. 555f., hier S. 555; die deutsche Übersetzung: Historisches und Critisches Wörterbuch, nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt [...] von Johann Christoph Gottscheden. Zweiter Theil C-J. Leipzig 1742, S. 592–594, hier S. 592. 47 Gottsched (wie Anm. 46), S. 592. 48 Ebd.

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te, den Hondorff wie Manlius am Ende der Erzählung angeführt hatten, sei kein Beweis für die historische Wahrheit.49 Bayle interessiert sich dementsprechend auch nicht sonderlich für die moralischen Eigenschaften des Ehepaars, sondern nimmt, wie schon Hoffmannswaldau, den Bayle aber nicht kannte, der aber von Gottsched in der Übersetzung angeführt wird, das Geschehen als Einzelfall wahr und konzentriert sich so vor allem auf das in seinen Augen Außergewöhnliche: die türkische Sultanstocher und ihr Schicksal. Gleichwohl verharrt er nicht bei einer isolationistischen Betrachtungsweise, sondern versteht die Geschichte auch aus einer allgemeinen Perspektive. Er fasst sie jedoch nicht als Beleg für die eheliche Treue und Liebe, sondern – wiederum ähnlich wie Hoffmannswaldau – als Illustration der Macht der Liebe und vergleicht die Sultanstochter mit einer Reihe antiker Königstöchter, die sich wie die Türkin in den militärischen und politischen Feind ihrer Väter verliebt hatten.50 Während diese wegen ihrer Liebe zum Feind die eigenen Väter ermordeten, jedoch durch diese Tat gleichwohl nicht den erwünschten Bräutigam für sich gewinnen konnten, sei die Handlungsweise der Türkin überhaupt nicht verwerflich, sondern vielmehr bewunderungswürdig. Sie habe nicht nur ihrem Stande und ihrer Herkunft entsagt, sondern sich zudem in große „Gefährlichkeiten“ begeben, die sie aber mit Erfolg gemeistert habe.51 Die türkische Prinzessin sei deshalb nicht wie ihre

49 Die historische Glaubwürdigkeit wird auch in anderen Lexika der Zeit bezweifelt. Wie der Eintrag in Zedlers Universallexikon von 1735 (vgl. oben), so weist auch das Brockhaus Conversations-Lexikon von 1809 auf die unsichere Überlieferungslage hin. Vgl. Brockhaus Conversations-Lexikon. Bd. 2. Amsterdam 1809, S. 107f. Der anonyme Verfasser des Briefromans Elika, Gräfin von Gleichen nimmt Bayles Lexikonartikel, der als Vorbericht zum Roman in Französisch und Deutsch abgedruckt wird, als Legitimation, den Stoff dichterisch frei zu gestalten. Bodmer bezieht sich zwar nicht explizit auf Bayles Artikel, verneint aber ebenfalls im historischen Vorbericht zu seinem Gedicht über die Gräfin von Gleichen den Wahrheitsgehalt entschieden: „So viel ist gewiß, daß man von dieser ausserordentlichen Begebenheit bey keinem alten Geschichtschreiber eine Nachricht findet, daher viele an die ganze Erzählung keinen Glauben haben. […] So sehr sieht die ganze Geschichte einem Mährlein gleich.“ Bodmer: Historischer Vorbericht zur Gräfin von Gleichen. Carlsruhe 1771, S. 4. Noch im 19. Jahrhundert galt Bayles Text als wichtiger Forschungsbeitrag; vgl. Anonym (wie Anm. 15), S. 11f. und Heinrich Döring: Der Graf von Gleichen. Romantische Volkssage. Gotha, Erfurt 1836, S. 48. 50 Bayle verweist auf das Schicksal von Comätho, die aus Liebe zu Amphitryon ihren eigenen Vater Pterelaus tötete und damit Amphitryon den militärischen Sieg verschaffte, über den sich dieser aber nicht freuen konnte. Er nahm deshalb Comätho auch nicht mit sich, sondern tötete sie. Bayle erwähnt auch die in Minos verliebte Tochter des Nisus, die ihren Vater tötete, damit Minos Attica einnehmen konnte. Minos tötete jedoch aus Entsetzen die Vatermörderin. Das dritte Beispiel ist Ariadne, die aus Liebe Theseus half, ihren Halbbruder Minotaurus umzubringen. Vgl. Gottsched (wie Anm. 46), S. 593. 51 Ebd., S. 592.

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antiken Vorgängerinnen als „Schlachtopfer der Liebe“ anzusehen, sondern als ein exzeptioneller „Triumph der Liebe“.52 Bayle belässt es aber nicht bei dieser historisierenden Ausdeutung, sondern setzt seine Lesart auch explizit mit der eigenen Gegenwart in Bezug. Dem kritischen Anspruch seines Lexikons folgend, verweist er auf den jedem Leser verfügbaren Erfahrungsschatz, der entgegen dem Beispiel eigentlich lehre, dass es „gewißlich viel mehr Männer“ gebe, die ihre „Mägde heirathen, als Frauen, die ihre Diener heirathen“.53 Grell beleuchtet Bayle mit dieser kurzen Bemerkung die Promiskuität des zeitgenössischen männlichen Adels: Während die Männer meist zwei oder gar noch weitere Frauen gleichzeitig haben, will die türkische Prinzessin nur einen Mann, der zudem auch gar nicht von niederem Stand ist. Ihre Liebe würde sich – wenn sie denn historisch wahr wäre – dadurch als weitaus tugendhafter und angemessener erweisen als diejenige der Männer. Dem Gleichen-Exempel kommt bei Bayle somit kein „Aufforderungscharakter“ zu, sondern wird aufgrund seiner philosophisch-kritischen Perspektive zur Gesellschaftskritik.

IV. Johann Wolfgang von Goethe: Stella (1776) So wie Bayle den Stoff des Grafen von Gleichen nicht nur als historischen Fall verstand, sondern ihn auch mit der eigenen Gegenwart in Beziehung setzte, so aktualisierte auch Goethe explizit den Stoff. Die Erstfassung des Schauspiels Stella von 1776, das durch die Erwähnung des korsischen Freiheitskampfes von 1768/69 in der unmittelbaren Gegenwart verortet wird,54 sticht aus der Überlieferungstradition hervor, weil sie – das ist hinlänglich bekannt – für großes Aufsehen sorgte und entrüstete Moralkritiker sowie begeisterte Anhänger auf den Plan rief. Bereits mehrfach wurden von der Forschung die im Stück thematisierten empfindsamen Liebesmodelle und Moralvorstellung erörtert, wodurch die erregten Debatten nachgezeichnet werden konnten.55 Ergänzend soll hier im Rückgriff auf die von Jens Ruchatz, Stefan Willer und Nicolas Pethes erarbeitete Systematik des Beispiels die Sonderstellung von Goethes Behandlung des Gleichen-Stoffes erörtert werden.56 In den Exempelsammlungen fungiert die Gleichen-Erzählung, wie gesehen, als 52 Ebd., S. S. 593. Weil ihm der Stoff für einen historisch-galanten Roman passend schien (und er Hoffmannswaldaus Helden-Briefe nicht kannte), wünschte sich Bayle die literarische Behandlung des Stoffes durch die galante Romandichterin Marie-Catherine de Villedieu (1640–1683). 53 Ebd. 54 Johann Wolfgang von Goethe: Stella. In: Der junge Goethe in seiner Zeit. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Schriften bis 1775. Bd. 1. Hg. von Karl Eibl u. a. Frankfurt am Main / Leipzig 1998, S. 467. 55 Vgl. als Überblick Georg-Michael Schulz: Stella. In: Goethe-Handbuch, Bd. 2: Dramen. Hg. von Theo Buck. Stuttgart u. a. 1997, S. 123–141. 56 Vgl. zum Folgenden Pethes (wie Anm. 35), S. 7–59. Die Verfasser bieten durch die Fokussierung auf die „Epistemologie des Exemplarischen“ allgemeine systematische Betrachtungen des Exempels.

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normatives, handlungsanleitendes Beispiel, das hierbei den Charakter eines Belegs hat. Als historischer Einzelfall verkörpert es das ideale Verhalten der Ehefrau und soll als Illustration des dem Leser/Hörer schon Bekannten zur Nachahmung anstacheln. Bei Goethe fungiert es zwar auch als normatives Beispiel, es kommt ihm hierbei jedoch der Status eines Ausgangsbeispiels zu, das vom Besonderen aus das Allgemeine zu erkennen gibt, das vom historischen Einzelfall zum allgemeinen Modell werden soll. Hiermit erhellt sich schlaglichtartig das erregende Moment von Goethes Exempelverwendung: Nicht die allgemein gültige Moral ist (wie bis dahin üblich) sein Ausgangspunkt für die Ausdeutung des Beispiels, sondern das Beispiel selbst dient im Stück als Maßstab für die Modellierung der Liebesbeziehungen. Darüber hinaus erlaubt sich Goethe weitere Freiheiten, die seine Behandlungsweise des Stoffes außergewöhnlich machen. Das Exempel wird im Drama nicht nur inhaltlich modifiziert, sondern es wechselt auch die Erzähler- bzw. Sprecherrolle. Erstmals erzählt mit Cezilie, der ersten Ehefrau Fernandos, eine Frau das Exempel. Ihre Version weist eine, der Logik des Stücks entsprechende, der Überlieferungstradition aber widersprechende Veränderung auf. In ihrer Darstellung ist es die wartende Ehefrau des Grafen, die aus freien Stücken den Entschluss zur Menage à trois fasst und sich nicht aus ehelichem Gehorsam der bereits zuvor geschlossenen und vom Papst legitimierten Ehe eingliedert;57 zudem ist auch nicht die Rede davon, dass die Haftbefreiung mit einem Eheversprechen gegenüber der Befreierin ‚erkauft‘ werden musste. Cezilie wertet damit die Rolle der Gräfin im Vergleich zur Überlieferungstradition markant auf und präsentiert sie als eine aktiv und selbstbestimmt handelnde Frau. Sie scheint sich selbst mit der Gräfin zu identifizieren: Wie in ihrer Erzählung die Gräfin den Vorschlag zur Doppelehe macht, so ist es Cezilie, die Fernando gegenüber durch die Erzählung selbiges wiederholt. Indem sie zudem in der Erzählung mehrfach betont, dass der Graf in kriegerische Ereignisse verwickelt war und nun mit seinen „Ritter[n]“ große „Beute“ mit nach Hause zurückgeführt habe,58 führt sie dem soeben aus militärischen Diensten entlassenen Fernando die Parallelen zum Grafen äußerst plastisch vor Augen. Fernando erweist sich in der Folge als mustergültiger Exempelrezipient: Er ist emotional gerührt, weil er intuitiv erfasst hat, was Cezilie mitteilen wollte. Dass er sich im intendierten Sinne verhalten und mit beiden Frauen zusammenleben wird, zeigt das Stück zwar nicht mehr, ist aber aufgrund des harmonischen Endes (in der Erstfassung) nur allzu deutlich. Ebd., S. 8. Während Mirjam Schaub: Das Singuläre und das Exemplarische. Zu Logik und Praxis der Beispiele in Philosophie und Ästhetik. Zürich 2010, aus erkenntnistheoretischer Perspektive ‚lediglich‘ den Umgang der Philosophie mit Beispielen reflektiert. Pethes u. a. versuchen hingegen, von den konkreten Verwendungszusammenhängen der Beispiele in verschiedenen Fachdisziplinen abzusehen, wodurch ihre Systematik wiederum auch allgemein (und erkenntnissteigernd) angewandt werden kann. 57 Den Segen des Papstes erhält die ungewöhnliche Ehe folglich nicht wie in den anderen Erzählungen vor der Heimkunft des Grafen, sondern erst danach. 58 Goethe (wie Anm. 54), S. 478.

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Wenn damit das Beispiel durchaus im traditionellen Sinne (wie in den Exempelsammlungen) eingesetzt wird und auch dementsprechend wirkt, so unterscheidet es sich doch insofern von der Überlieferung, als es nicht die allgemeine bürgerliche Moral, sondern lediglich diejenige von Cezilie zum Ausdruck bringt. Während einige von Goethes Zeitgenossen in dem skandalösen Bekenntnis zur Doppelehe den schlagendsten Beweis für die (vermeintliche) Amoralität der Figuren erkannten, geben und sehen sich diese im Stück jedoch selbst ganz anders. Die drei Hauptfiguren sind sich ihrer Tugendhaftigkeit sicher und haben bereits demonstriert, dass sie die empfindsamen Liebes- und Freundschaftskonzepte verinnerlicht haben und sich wechselseitig affektiv zugeneigt sind sowie den aufrichtigen und ehrlichen Umgang miteinander schätzen, zu dem sich auch Fernando am Ende durchringen kann.59 Cezilie braucht deshalb auch in ihrer Erzählung die Tugenden der Partner nicht explizit zu erwähnen – wie es etwa noch Hoffmannswaldau tat –, weil sie sich an Fernando richtet, mit dem sie sich einig weiß. Auf der Basis der als tugendhaft verstandenen, gegenseitig empfundenen Liebe entwirft Cezilie mit Hilfe des GleichenBeispiels die Bigamie als zeitgenössische Lebensform für ihre Freundschaft; bereits Hoffmannswaldau hatte die Dreierbeziehung auf diese Art und Weise ausgedeutet. Fernandos Rezeptionsweise folgt der von Cezilie intendierten Lesart. Er appliziert die Erzählung auf seine eigene Situation und versteht sie somit als modellgebend für seine Beziehung zu Cezilie und Stella.60 Für den Zuschauer oder Leser freilich wurde durch die Tatsache, dass nicht mehr wie in den Exempelsammlungen die Tugenden eines Ehepartners, sondern die Art der Beziehung von Graf und Gräfin bzw. von Fernando und Cezilie im Vordergrund stand, das Exempel des Ehepaars von Gleichen zum Sozialmodell für die eigene Gegenwart.61 Das setzte eine ganz bestimmte Rezeptionsdisposition voraus, die die Gattung vorgab. Als Leser oder Zuschauer nahm man gemäß den damaligen poetologischen Konventionen 59 Das zeigt sich z. B. darin, dass er Stella, anders als beim ersten Mal, nach seinem erneuten Zusammentreffen mit ihr eröffnet, dass er sie verlassen will. Vgl. ebd., S. 472. 60 Diese Verwendungsweise der Exempla hat Gunter Niggl auch für den Werther-Roman herausgearbeitet; als „Erzählspiegel“ sind die Exempla für Goethes gesamtes Romanschaffen von großer Bedeutung. Vgl. Günter Niggl: Erzählspiegel in Goethes ‚Werther‘. In: Exempla. Studien zur Bedeutung und Funktion exemplarischen Erzählens. Hg. von Bernd Engler und Kurt Müller. Berlin 1995 (Schriften zur Literaturwissenschaft 10), S. 199–215. 61 Liest man, wie hier vorgeschlagen, das Exempel des Grafen von Gleichen im Stück als sozialen Entwurf, entgeht man den Schwierigkeiten, welche die Rezipienten seit dem 18. Jahrhundert mit dem Beispiel haben. Bereits der anonyme Rezensent im Beytrag zum Reich-Postreuter hielt 1776 fest, dass Goethe das Exempel „nicht gut zu benutzen gewußt“ habe. Zitiert nach: Der junge Goethe, BegleitCD-ROM. Texte und Kontexte; auch die heutige Forschung meint, dass es kein „applizierbare[s] Exempel“ abgebe, weil es kein „moralisches Verhaltensmodell“ liefere. Marianne Willems: Stella. Ein Schauspiel für Liebende. Über den Zusammenhang von Liebe, Individualität und Kunstautonomie. In: Aufklärung 9/2 (1996), S. 39–76, hier S. 73 (dort auch die Hinweise auf ähnliche Lesarten). Einhellig stieß man sich an den unterschiedlichen Charakteren: Der Graf sei nie ein solch „unbeständiger Flattergeist“ gewesen wie Fernando (Beytrag zum Reich-Postreuter).

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des bürgerlichen Trauerspiels oder Rührstücks eine affektiv-identifikatorische Rezeptionshaltung ein, die das Stück, ein Schauspiel für Liebende (so Goethes Untertitel für die Erstfassung), geschickt manipulativ zu nutzen weiß: Nachdem der Zuschauer im Verlauf der Handlung Sympathien für die Charaktere – und wohl vor allem für Cezilie – entwickelt hat, wird am Ende versucht, mit Hilfe des auch metapoetologisch lesbaren Exempels, das die gewünschten Reaktionsweisen auf das Theaterstück vorgibt, die Bigamie als wünschenswerte Beziehungsform ‚einzuimpfen‘. Die strategisch suggestive Platzierung des Beispiels am Ende der Handlung macht es dem Publikum aufgrund der geweckten Sympathien schwer, sich dieser Darlegung zu entziehen. Ihm, dem Publikum, wird das Stück selbst zum verallgemeinerbaren Exempel,62 das – so ließe es sich aus Perspektive der Kritiker formulieren – die Bigamie als zeitgenössische Lebensform propagiert.63

V. Johann Karl August Musäus: Melechsala (1786) Johann Karl August Musäus (1735–1787) schrieb mit seinen zwischen 1782 und 1786 erstmals erschienenen Volksmärchen gegen die von Goethe und vielen anderen Autoren literarisch praktizierte „leidige Sentimentalsucht“,64 gegen das „weinerliche Adagio der Empfindsamkeit“65 oder – um eine weitere Wendung Musäus’ zu zitieren – gegen das „empfindsame Gewinsel“ an.66 Im Vorbericht seiner Volksmärchen verwirft er die ange62 Das wird unterstützt durch wörtliche Wiederholungen: So wie die Gräfin in Cezilies Erzählung zu ihrer Nebenbuhlerin sagt: „Nimm die Helfte des, der ganz dein gehört“, und am Hals des Grafen ausruft: „Wir sind dein!“, so verwendet auch Cezilie selbst diese Wendungen gegenüber Stella. Vgl. Goethe (wie Anm. 54), S. 478. – Verallgemeinerbar war es den Zuschauern aber auch aufgrund ihres Wissens um die (jedoch nicht so harmonische) Dreiecksbeziehung des englischen Autors Jonathan Swift, der einer seiner Geliebten den Namen Stella gab. Vgl. Dieter Borchmeyer: Kommentar. In: Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abt. 1, Bd. 4: Dramen 1765–1775. Hg. von dems. München 1985, S. 984f. 63 Die Reaktion des Hamburger Hauptpastors Johann Melchior Goeze, der in dem Stück „Hurerey“ und „Ehebruch“ erkannte, bezeugt diese Lesart sehr deutlich. Zitiert nach: Der junge Goethe (wie Anm. 61). Nicht nur orthodoxe Geistliche, sondern auch ‚empfindsamere‘ Zeitgenossen hielten am traditionellen Ehemodell fest. Christian Fürchtegott Gellert etwa setzte Ehe und Freundschaft, ebenso wie Cezilie, weitgehend gleich, betonte dabei aber auch stets, dass man die freundschaftliche Ehe nur mit einer Person eingehen könne. Vgl. Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, Band VI: Moralische Vorlesungen. Hg. von Sibylle Späth. Berlin / New York 1992, S. 258. Gellert betont das nicht nur in seinen Moralischen Vorlesungen, auch in seiner Erzählung Das Leben der Schwedischen Gräfin von G... wird die Monogamie als einzige Form des Zusammenlebens gezeigt. 64 Johann Karl August Musäus: Vorbericht. In: Ders.: Volksmärchen der Deutschen. Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Norbert Miller. München 1977, S. 5–13, hier S. 6. 65 Ebd., S. 7. 66 Ebd., S. 8.

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strengte Affekthascherei der sentimentalen Autoren des Sturm und Drang, die bloß Empfindungen beim Leser wecken wollen. Stattdessen propagiert er die geistreiche und galante, bisweilen auch frivole Unterhaltung im Stile des Rokoko, die sich durch die Darstellung des Wunderbaren einstelle. Dieser Programmatik entsprechend lenkt er (wie Bayle) mit dem Märchentitel Melechsala den Blick auf das Fremde und Exotische, auf die Sultanstochter, die dem Grafen zur Flucht verhilft. In seinem Volksmärchen führt Musäus neben dem Ehepaar Gleichen weitere Paarbeziehungen vor und beleuchtet so das gräfliche Ehepaar kontrastiv. Er lockt den Leser zunächst auf eine falsche Fährte, wenn er das Ehepaar vermeintlich so schildert, wie es der Leser aus der Überlieferung kennt. Es wird die außergewöhnliche Stellung des Ehepaars markiert: Während alle anderen Ehefrauen, deren Männer auf Kreuzzügen sind, nach einigen Jahren des vergeblichen Wartens erneut heiraten,67 versagt sich einzig Gräfin Ottilia von Gleichen diesen Schritt. Zudem erweist sich das gewöhnliche Eheleben auch als gar nicht so harmonisch und tugendhaft, wie es bei den Gleichen der Fall ist bzw. war: Der Landgraf Ludwig unterdrückt seine Frau, die heilige Elisabeth;68 das Eheleben des Sultans, bei dem der Graf in Gefangenschaft ist, besteht nur in der „Propagation seines Geschlechtes“,69 also dem Fortpflanzungstrieb. In dem Moment, als der Graf mit der türkischen Prinzessin nach Hause zurückkehrt, dekonstruiert Musäus jedoch die vermeintliche Vorbildhaftigkeit des Ehepaars von Gleichen: Die Gräfin weigert sich zunächst, die Nebenbuhlerin zu akzeptieren,70 ordnet sich dann aber ganz dem Willen ihres Gatten unter und erweist sich damit als das „rechte Muster einer frommen Gattin“.71 Diese männliche Perspektive wird vom Erzähler sogleich 67 Vgl. die Volkssage von Herzog Heinrich dem Löwen (Musäus: Melechsala. In: Ders. (wie Anm. 64), S. 675–678) und die Geschichte des „flinken Kurt“, des gräflichen Knappens (ebd., S. 740–743), die sehr an eine Erzählung aus der anonym überlieferten Satire Les Quinze joies de mariage (15. Jh.) erinnert, die bereits Bayle in seinem Lexikonartikel (und Gottsched in der Übersetzung) ausführlicher erwähnte. Vgl. Bayle (wie Anm. 46), S. 555; Gottsched (wie Anm. 46), S. 593. – Norbert Miller wies bereits darauf hin, dass Musäus die Geschichte des Grafen mit der Legende der heiligen Elisabeth und der Erzählung von Heinrich dem Löwen verbinde, mithin also eine neue Exempelreihe entwirft. Vgl. Miller: Kommentar. In: Musäus: Melechsala (wie Anm. 64), S. 867–868, hier S. 867. 68 Vgl. Musäus (wie Anm. 67), S. 664ff. 69 Ebd., S. 690. 70 „Die Intoleranz der Gräfin in Ansehung dieses Punktes [der „geteilte[n] Liebe“], war wenigstens ein redender Beweis ihrer ungefärbten Liebe. ‚Ach, der verderbliche Kreuzzug!‘ rief sie aus, ‚ist die einzige Ursach all dieses Unheils! Ich hab der heiligen Kirche ein Brot geliehen, von welchem die Heiden gezehret haben, und empfange nun ein Bröcklein davon wieder.‘“ Ebd., S. 102f. Bei Hoffmannswaldau hatte der Graf seine Ehefrau mit folgenden Worten, die Musäus aufzugreifen scheint, zur Doppelehe überredet: „Dir beleibet doch der Kern/ sie sättigt sich mit Schalen/ ¦ Du hast das beste Brodt/ sie nimt die Brocken an.“ Hoffmannswaldau (wie Anm. 37), S. 65. 71 Musäus (wie Anm. 67), S. 737. Das ganze Zitat lautet: „Frau Ottilia war ein rechtes Muster einer frommen Gattin, die dem Ehegebot, daß ihr Wille des Mannes Willen sollte unterworfen sein, ohne Auslegung gehorchte. Wenn’s ja in ihrem Herzen zuweilen einen kleinen Aufruhr gab, zog sie nicht flugs die Sturmglocke, sondern tat Tür und Fenster zu, daß kein sterblich Auge hineinschauen und

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entlarvt und als scheinheilige Charakterisierung diffamiert. Die Gräfin erweise zwar ihrem Mann eine „exemplarische Gefälligkeit“,72 die andere Männern noch lange als Vorbild aller Ehefrauen preisen werden, in Wahrheit sei das jedoch falsch verstandener Ehegehorsam. Die „Matrimonialanomalie“73 am Hofe der Gleichens wird somit als männlich dominierter, platonischen Liebeskonzepten fernstehender „Wonnentaumel“ denunziert.74 In der Tradition der französischen Feenmärchen stehend, erlaubt die Gattung des Volksmärchens eine ironische Behandlung des Stoffes: Der scheinbar außergewöhnliche Fall des „zweibeweibten“ Grafen wird, ähnlich wie es sich schon bei Bayle andeutete, als männliches, libidinöses Verhalten gedeutet und gerät zu einer Abrechnung mit der Empfindsamkeit. Sentimentale Freundschaftskonzepte, wie sie etwa Goethes Cezilie vorgestellt hatte oder wie es eben auch das Beispiel der Gleichens verdeutlichen sollte, erscheinen Musäus als manipulativ einsetzbare Worthülsen, die vermeintlich von Tugenden sprechen, aber etwas ganz anderes meinen. Der Form der heuchlerischen Liebe scheint Musäus in seinem Märchen eine natürliche Form der Liebe entgegensetzen zu wollen, die Melechsala verkörpert. Sie folgt – und diese Passagen sind entgegen der Absicht von Musäus durchaus empfindsam gehalten – einzig und allein ihrer Liebe, die jedoch nicht als Leidenschaft beschrieben werden, sondern als maßvolle Sympathie.75 Manipulier- und unterdrückbar durch vermeintlich empfindsame, gesellschaftliche Tugenden ist sie – anders als die Gräfin – nicht. Dieses Liebeskonzept deutet sich aber nur vage in der Erzählung an, die damit auch gleichzeitig zu erkennen gibt, warum das 18. Jahrhundert dem „zweibeweibten“ Grafen so viel Interesse zukommen ließ: An ihm konnten die Autoren literarisch ausprobieren, wie sich individuelle Liebe und gesellschaftliche Ansprüche und Normen vereinen ließen. Die hier näher beleuchtete Rezeptionsgeschichte des Gleichen-Exempels zeigt auf, welch großen Einfluß der Ko- und Kontext des Exempels auf dieses ausüben. Während über alle Gattungen hinweg die rhetorische Behandlungsweise identisch blieb, indem die Autoren das Beispiel stets in eine Reihe mit weiteren Beispielen einfügten, so veränderte sich der semantische Gehalt des Exempels durch die neu konzipierten Kotexte maßgeblich. Das zeigt sich im Übrigen auch bei Bechstein, der die Erzählung in den Verbund mit anderen Sagen stellte, die sich allesamt durch ihren geographischen Bezugspunkt (Thüringen) vereinigen und so als Artikulationen der regionalen Vergangenheit verstanden werden können. Das für die Gattung des Exempels stets prekäre Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem zeigte sich auch hier, insbesondere bei Goethe. Er verwendete das Exem-

72 73 74 75

sehen konnte, was drinnen vorging, dann lud sie die empörte Leidenschaft vor den Richterstuhl der Vernunft, nahm sie unter den Gehorsam der Klugheit gefangen, und legte sich eine freiwillige Buße auf.“ Ebd. Ebd., S. 738. Ebd., S. 732. Ebd., S. 740. Vgl. ebd., S. 706–710.

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Jesko Reiling

pel nicht nur in der damals hinsichtlich der Gefühlsaktivierung beim Rezipienten wirksamsten Gattung, dem Schauspiel, sondern auch in einer Weise, die der ansonsten praktizierten Überlieferung entgegenstand. Nicht als Beleg für eine zuvor durch die Gesellschaft oder auch durch den Autor gesetzte Norm fungierte das Gleichen-Exempel, sondern als Ausgangsbeispiel, von dem sich allgemeine Einsichten und Erkenntnisse erst ableiten. Da es zudem im Text als einziges Beispiel auftritt, konnte seine Aussage auch nicht wie in den anderen hier behandelten Texten durch weitere Beispiele ‚korrigiert‘ werden. Als isoliertes Exempel kommt somit bei Goethe zum Ausdruck, was in den anderen Texten durch paratextuelle Zurüstungen, Kotexte oder innerliterarisch durch Erzählerkommentare gemäß der vom Autor intendierten Lesart perspektiviert werden muss.

P. Oktavian Schmucki (Luzern)

Die Urbibliothek im Kapuzinerkloster Luzern – Gestiftet 1585 von Ritter Kaspar Pfyffer Unter den alten Bibliotheken in Kapuzinerklöstern Europas ist meines Wissens jene von Luzern die einzige, in der die vom Klostererbauer gestiftete Urbibliothek [= UB] zum überwiegenden Teil erhalten geblieben ist.1 Es war der verdiente Provinzarchivar Beda Mayer (1893–1983), welcher in einem Kurzartikel das vom Gründer persönlich erstellte Verzeichnis der von ihm erworbenen und dem Kloster geschenkten Bücher herausgab.2 Diese Liste trägt den Titel: Catalogus [= Catalogus] oder Rodel der Büchern so J. Caspar pfyffer den Herrn Cappucinern zu Ihres Closters handen In die Libery erkaufft hatt.3

Leider beschränkt sich der Catalogus auf 96 in kürzester Form benannte Buchtitel, welche zwar für ihre Identifizierung wertvolle Anhaltspunkte bieten, die jedoch in einzelnen Fäl1 Dabei ist immerhin zu berücksichtigen, dass, z. B. in Italien, die Klöster im 19. Jahrhundert gleich zweimal aufgehoben und deren Bücherbestand den öffentlichen Bibliotheken einverleibt wurden, indes die Kapuzinerbibliothek Luzerns – zumindest in ihrem Grundbestand – vollständig erhalten blieb. Es sei mir der Hinweis auf meine allgemeine und darum ergänzungsbedürftige Studie gestattet, O. Schmucki: Le biblioteche dei conventi cappuccini. In: Per la storia dei conventi. Atti del 2° convegno di studi cappuccini. Roma 28–29–30 dicembre 1986. A cura di Mariano d’Alatri. Roma 1987, S. 41–66, auch in: Italia Francescana 62 (1987), S. 153–178. Vgl. überdies Vincenzo Criscuolo: Cultura e biblioteche nell’Ordine cappuccino. Aspetti storici. In: Biblioteca Provinciale dei Cappuccini di Messina (ed.): Tra biblioteca e pulpito. Itinerari culturali dei Frati Minori Cappuccini. Messina [1997], S. 79–100; Stanislao da Campagnola: Oratoria Sacra. Teologie, ideologie, biblioteche nell’Italia dei secoli XVI–XIX. Roma 2003; Leonhard Lehmann: Kapuzinerbibliotheken zwischen Ablehnung und päpstlichem Schutz. In: Frömmigkeit & Wissen: Rheinisch-Westfälische Kapuzinerbibliotheken vor der Säkularisation. Hg. von Reinhard Feldmann, Reimund Haas und Eckehard Krahl. Münster 2003, S. 26–37; Christian Schweizer: Kapuziner-Bibliotheken in der Deutschschweiz und Romandie – Bibliothekslandschaften eines Reform-Bettelordens seit dem 16. Jahrhundert in der Schweiz nördlich der Alpen. In: Helvetia Franciscana 30 (2001), S. 63–78; Manfred Massani: Multikulturelle Vielfalt und Standardisierung im Bibliothekswesen. Internationaler Katalog für franziskanisches Schrifttum und das Projekt Authority File als Spiegelbild kapuzinischer Ordensrealität. [Saarbrücken 2010]. 2 Beda Mayer: Der Grundstock der Bibliothek des Klosters Wesemlin. In: Helvetia Franciscana 7 (1957–58), S. 189–192. 3 Luzern, Staatsarchiv, Schachtel 1071. Darin findet sich nach Mayer: Der Grundstock (wie Anm. 2), S. 189, eine Abschrift; ebenso in Luzern, Bibliothek OFMCap, ein Foto. Nach ihr überprüften und verbesserten wir die Edition von B. Mayer.

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P. Oktavian Schmucki

len weder leicht noch sicher Autoren und Werke bestimmen lassen. Ebenso interessant wie kennzeichnend erscheint der buchhalterisch festgehaltene Preis jeder erworbenen Schrift. Diese Tatsache bestätigt eine gewisse – auch anderswo durchscheinende – perfektionistische Veranlagung des Stifters. Sozial- wie wirtschaftsgeschichtlich bemerkenswert sind die Beträge, die K. Pfyffer für die einzelnen Werke – entsprechend der damals kursierenden Währung – bezahlt hat. Dem heutigen Leser erscheint nicht leicht nachvollziehbar, auf welche Weise genau der Verfasser beim Addieren der in verschiedenen Währungen aufgeführten Einzelbeträge zur Gesamtsumme 304 Gulden / Schilling gelangte. Beda Mayer bemerkt dazu: „Wenn Kaspar Pfyffer 304 Gulden für die Bibliothek auslegte, so beachte man die damalige Kaufkraft des Geldes: z. B. im Anfang des 16. Jahrhunderts galt ein Haus in der Weggisgasse, Luzern, zweihundert Gulden.“4 Mir möchte scheinen, dass der Käufer für jedes Buch mindestens ebenso viel bezahlen musste, wie der Verkäufer selber dafür ausgelegt hatte. Für den vom Klosterstifter bezahlten Betrag hätte man somit in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts ein sehr schönes Haus mit Umgebung erwerben können. In einem persönlichen Eintrag im Baubuch verrät Kaspar Pfyffer einige nicht unbedeutende Einzelheiten: So han ich jnnen [den Kapuzinern auf dem Wesemlin] geben die bücher so min sun hans von dem apostat lienhart ryssi jm 85 jar worden die hand costet. ff 304 han ich min sun hans darum bezalt luth mines inkouff buchs am 143 blat dut luths uszugs in bryeffen 85 ff 304.5

Der Bücherverkäufer: Leonhard Risi In der mir bekannten Literatur erfährt man nur wenig über Leben und Wirken Risis. Seit 1582 war er Pfarrer der Stadt Willisau (LU), der – wie seine an K. Pfyffer verkaufte Bibliothek ausweist – ein Humanist und wohl von Hause her wohlhabend war. Anderseits erhellt aus zeitgenössischen Quellen der Grund, warum er seinen Bücherbesitz6 veräußer4 Mayer: Der Grundstock (wie Anm. 2), S. 189. Für die Geldmünzen, die zur Lebenszeit des Stifters in Luzern im Umlauf waren: Batzen, Gulden, Kreuzer, Kronen, Schilling, vgl. Sebastian Grüter: Geschichte des Kantons Luzern im 16. und 17. Jahrhundert. Luzern 1945, S. 507f.: „Zu Beginn des 16. Jahrhunderts galt als Rechnungseinheit der Luzerner Gulden [...]. Der Gulden hatte die Kaufkraft von vierzig Schilling [...]. Da aber die Prägung des Luzerner Guldens sich verschlechterte, wurde 1504 der Wert des rheinischen Guldens auf fünfundvierzig Schilling festgelegt. Neben dem Schilling gab es noch höherwertige Münzen, wie den Plappart, der eineinviertel Schilling galt; dieser verschwand im 16. Jahrhundert und machte dem Batzen Platz, der soviel wie drei Schilling wert war“ (S. 507). Interessant ist Abb. 87: Luzerner Münzen des 16. und 17. Jahrhunderts (S. 508). Vgl. auch Jürg Richter und Ruedi Kunzmann: Die Münzen der Schweiz und Liechtensteins: 15./16. Jahrhundert bis Gegenwart. (Neuer HMZ-Katalog, Bd. 2). Regenstauf 2006. 5 Baubuch von Kaspar Pfyffer: Luzern, Klosterarchiv OFMCap., Schachtel 1506, S. 34a. 6 Aus der Bücherliste ist nicht zu erkennen, ob die verkauften Werke Risis gesamte Bibliothek umfassten oder nicht.

Die Urbibliothek im Kapuzinerkloster Luzern

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te. Das Motiv, warum er nicht in seinem Amt und in der katholischen Kirche verbleiben wollte, war nicht die Frage des Zölibates. Viele zeitgenössische Priester wirkten damals in ihren Pfarreien weiter, obwohl sie sich nicht an das kirchliche Zölibatsgesetz hielten. Beim Stadtpfarrer lag der Fall speziell: Er war nach einem erotischen Kontakt mit einer neugläubigen Frau in Zürich ihr verbunden, was sein Verbleiben im Amt unmöglich machte. So verzichtete er 1585 auf seine seelsorgerliche Aufgabe und auf die Übung seines katholischen Glaubens und setzte sich mit seiner Geliebten nach Bern ab.7 „Sein Wegzug hatte die Gemüter so sehr erregt, dass selbst die Tagung der V Orte in Luzern am 19. Oktober 1587 sich mit ihm beschäftigte.“8 In Bern heiratete er die mit Namen nicht bekannte Frau, lebte dort in so großer Armut, dass er nach Luzern zurückzukehren gedachte und 1587 den apostolischen Nuntius um Absolution wegen seines Glaubensabfalls und der illegitimen Heirat ersuchte. Sie wurde ihm tatsächlich im Wallfahrtsort Einsiedeln gewährt, doch die Fünf Orte konnten sich mit der Begnadigung nicht abfinden; sie hätten Risi ins Gefängnis geworfen, wenn ihn der baldige Tod nicht vor dieser Demütigung bewahrt hätte. Wann und wo genau er starb, verschweigen die Quellen. Als sicher kann so viel gelten, dass die Konversion zum reformierten Glauben nicht aus innerer Überzeugung, sondern allein aus opportunistischen Beweggründen, wegen seiner geplanten Heirat, erfolgte. Für die Übersiedlung nach Bern und sein künftiges Familienleben musste er sich Geld verschaffen. Dies war ohne Zweifel das entscheidende Motiv, warum er sich von seiner Bibliothek trennte. Eine vertiefte Studie zur Büchersammlung müsste aufzeigen, welche Themen Leonhard Risi besonders am Herzen lagen.9 Er war wohl von Hause aus recht begütert, um sich so zahlreiche, teilweise recht teure Werke erwerben zu können. Wenn man diese überblickt, muss man ihm ein breites theologisches Interesse zuerkennen.

7 Vgl. Theodor von Liebenau: Geschichte der Stadt Willisau. In: Der Geschichtsfreund. Mitteilungen des historischen Vereins der fünf Orte (Stans) 58 (1903), S. 1–176, hier S. 109. 8 Vgl. Willy Brändly: Geschichte des Protestantismus in Stadt und Land Luzern. Luzern 1956, S. 130. Auf diese Forschung gehen die anschließend angeführten Elemente zurück. – Leider erst kurz vor Empfang der Druckbogen wurde uns bekannt: Dominik Sieber: Jesuitische Missionierung, priesterliche Liebe, sakramentale Magie. Volkskulturen in Luzern 1563–1614. Basel 2005 (Luzerner Historische Veröffentlichungen, Bd. 40. Hg. vom Staatsarchiv des Kantons Luzern und vom Stadtarchiv Luzern. Redaktion Gregor Egloff). Der Verf. handelt über Leonhard Risi (merkwürdigerweise schreibt der Verf. „Rissi“) auf S. 89–95 und veröffentlicht über ihn erstmals Dokumente (S. 216– 221), die zeigen, dass Risi schon vor Antreten der Pfarrei in Willisau mit der Luzerner Obrigkeit in Konflikt trat. Zudem zeugte er mit seiner Konkubine 4 Kinder und zeigte sich in der Seelsorge selber nachlässig. 9 Dies hier zu versuchen, schließt der Umfang einer Studie für eine Festschrift aus.

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P. Oktavian Schmucki

Der Käufer der Risi-Bibliothek: Ritter Kaspar Pfyffer In viel klarerem Licht der Geschichte als Risi steht der Stifter des Kapuzinerklosters und seiner Bibliothek. Beda Mayer schreibt über ihn: „Junker Kaspar Pfyffer (1524–1616) entstammte einer der vornehmsten Familien Luzerns, die sich im In- und Ausland eines grossen Ansehens erfreute.“10 Von seinem Vater Johann Pfyffer (1438–1540) übernahm er die erste Posthalterei Luzerns, und daneben widmete er sich dem Tuchhandel. Er lebte mit Frau Katharina von Fleckenstein († 1607) in glücklicher Ehe und zeugte mit ihr die erstaunliche Zahl von 17 Kindern, von denen freilich 7 das Kindesalter nicht überlebten.11 Wegen seiner sozial wie ökonomisch herausragenden Stellung erstaunt nicht, dass K. Pfyffer bereits früh zu politisch bedeutsamen Aufgaben in der eigenen Stadt aufstieg.12 So nahm er „sechzig Mal, als hochgeachteter Gesandter des Standes Luzern, an den Tagsatzungen und Konferenzen“ teil.13 Auch in Frankreich wusste er zwei Mal die Anliegen des Landes zu vertreten. Vom französischen König wurde ihm 1559 ein Adelsbrief ausgestellt.14 Im Jahr 1584 erklärte sich K. Pfyffer bereit, den Kapuzinern in seinem Landgut auf dem Wesemlin ein Kloster zu bauen, „falls die Obrigkeit Stein, Kalk und Ziegel hergebe, auch durch einen Vorschuss von 2000 Gulden in bar, der später durch eine Sammlung gedeckt würde.“15 Über die zum Teil dramatische Baugeschichte ist in unserem Zusammenhang nicht zu berichten. Hingegen sei eigens darauf hingewiesen, dass er ungewöhnlich hochherzig nicht nur aus seinem Besitz Baugelände zur Verfügung stellte, sondern überdies zum größten Teil den Bau von Kirche und Kloster finanzierte und der Brüdergemeinschaft eine Büchersammlung von 96 kleineren und größeren Werken schenkte. Nicht erstaunen darf, dass die in der Frühzeit unter geringen Einkünften leidende Provinz dem Guardian des

10 Beda Mayer: Die Erscheinung auf dem Wesemlin 1531. Eine Untersuchung im Lichte der Geschichte. In: Helvetia Franciscana 8 (1959/60), S. 45–48, hier S. 45; gute schwarzweiße Abbildung des Ölgemäldes K. Pfyffers im Refektorium des Kapuzinerklosters Luzern siehe bei Beda Mayer: Das Kapuzinerkloster Wesemlin Luzern. Luzern 1963, S. 80f.: Tafel. Vgl. auch unten Anm. 15. 11 An der Vorderwand der Empore in der Kapuzinerkirche befindet sich das Relief Christoffel Hubers (1589), das die ganze Familie Pfyffer darstellt. Auf ihm kennzeichnet ein Kreuz über den Köpfen die 1589 nicht mehr lebenden Kinder, vgl. Mayer: Das Kapuzinerkloster Wesemlin (wie Anm. 10), S. 80f.: Bild, bzw. S. 59: Text. Vgl. auch: Vierhundert Jahre Kapuziner auf dem Wesemlin 1588–1988. Ausstellung im Historischen Museum Luzern 16. September bis 13. November 1988. Luzern 1988, S. 49, Abb. 4.14. 12 Vgl. Mayer: Die Erscheinung (wie Anm. 10), S. 46f. 13 Ebd., S. 47. 14 Ebd., S. 47f. 15 Grüter: Geschichte des Kantons Luzern (wie Anm. 4), S. 182; siehe auch ebd., S. 183 die Abb. eines Portraits von Pfyffer als „Herr von Mauensee“.

Die Urbibliothek im Kapuzinerkloster Luzern

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Klosters Luzern auferlegte, aus der reichen Urbibliothek Bücher an die Klöster Altdorf (1581) und Stans (1583) auszuleihen. Ein großes Verdienst des Mitbruders Klementin Sidler (1905–1998), Regionalbibliothekar, war es, die UB – soweit ihm dies möglich war – zu rekonstruieren.16 Leider waren vom ursprünglichen Bestand einige Bände nicht mehr auffindbar, zum Teil wohl, weil sie beim Dorf- und Klosterbrand Altdorfs am 5. April 1799 mit der ganzen damaligen Bibliothek verbrannt waren.17 Andere mögen durch Unkenntnis und mangelnde Sorgfalt der Bibliothekare oder anderer Mitbrüder verloren gegangen sein. „Catalogus der Bücher“ oder die Urbibliothek des Klosters18 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Biblia Thüdtsch Bernhardi opera Divi Hieronymi Divi Gregorij Divi Augustini Bibliotheca Sixti Senensis Biblia recognita a Doctore Pari Opera Tertulliani Titi Livij ... (Grl)

7 fl. [Gulden] 5 [kr] Kreuzer 12 Kreuzer 5 Kreuzer 20 Kreuzer 5 fl 4 Kreuzer 7 fl 4 fl

16 Vgl. Engelbert Ming: Klementin Sidler. In: Fidelis (Luzern/Provinzzeitschrift) 83 (1998), S. 120– 122; siehe von K. Sidler selber: Unsere Kloster-Bibliotheken. In: ebd., 65 (1978), S. 215–218, worin er – leider nur sehr kurz – über die „Reorganisation unserer Bibliotheken“, „Dubletten-Bibliothek Sursee“, „Zentral-Bibliothek Sursee“ und „Zentral-Katalog Luzern“ berichtet, nicht jedoch über die Urbibliothek. Der Schreibende – als sein Nachfolger – bedauert sehr, dass sein Vorgänger, soweit er wenigstens weiß, über seine einzigartigen bibliothekarischen Initiativen keine Berichte hinterlassen hat. Dies wäre gerade hinsichtlich der Zusammenführung der UB unerlässlich gewesen. 17 Vgl. Seraphin Arnold: Kapuzinerkloster Altdorf 1581–1981. Luzern [1981], S. 62, ohne die aus der UB stammenden Werke zu erwähnen, auch weil von der damaligen Bibliothek kein Katalog erhalten geblieben ist. 18 Hier wird das von Mayer: Der Grundstock (wie Anm. 2), S. 189–192, erstmals veröffentliche Verzeichnis wiedergegeben. Die zum Teil merkwürdige Schreibweise des Originals wird beibehalten. Die Nummerierung wurde der leichteren Zitationsweise wegen hinzugefügt. – Zur Klosterbibliothek sei verwiesen auf folgende Studien: Alexander Schmid: Die Incunabeln der Capuciner-Bibliothek in Lucern (1466–1500). Einsiedeln 1875 (Abdruck aus dem Geschichtsfreunde, Bd. XXX); Emil Major: Frühdrucke von Holz- und Metallplatten aus den Bibliotheken des Barfüßerklosters in Freiburg i. S. und des Kapuzinerklosters in Luzern. Straßburg 1911; Schweiz. Im Auftrag der Vereinigung schweizerischer Bibliotheken bearb. von Felix Burckhardt (Minerva-Handbücher. 1. Abt. Bibliotheken, 3). Berlin / Leipzig 1934, S. 98; Hildegard Kronenberger: Das Kapuzinerkloster Wesemlin in Luzern und seine Bibliothek. Mit 10 Illustrationen. In: Librarium 9 (1966), S. 2–19, hier S. 6, wo die Verfasserin sehr kurz über die UB handelt; Klementin Sidler: Verzeichnis der Wiegendrucke aus den Kapuzinerklöstern der deutschen Schweiz. 2., verbesserte und ergänzte Auflage. Luzern 1986 (fotokopiertes Typoskript); Hanspeter Marti: Die Kapuziner und das Licht der Aufklä-

100 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36.



P. Oktavian Schmucki Plutarchi opera Hilarij opera Hagiologium Wicelij Cronica Nauclery Josephi opera Anselmi opera Dictionaria Frisij Stellarium Divae Virginis Damasceni Theologia Duae partes Wiceliy Friderici Epi Vien. Epi Encomia Bibliorum Dionisius Carthusianus Homiliae Doctorum Ecclesiae Confessio Hosij Historia Ecclesiastica Chorus SS. Wicelij Platina Loci communes Klingij Opera Cypriani Alphonsus a Castro Concordantiae maiores Opera Basilij magni Albertus Magnus de D. Virgine Ambrosius Calepinus Chrysostomj opera Ambrosij opera

4 fl 2½ fl 2 Kreuzer 3 Kreuzer 3 Kreuzer 2 Kreuzer 2 Kreuzer 1½ fl 1½ fl 5 fl 1 Kreuzer 2 Kreuzer 5 fl 3 Kreuzer 2 K Kreuzer 3 fl 2 Kreuzer 3 fl 5 fl 5 fl 2 Kreuzer 5 fl 1 Kreuzer 3 fl 2 Kreuzer 7 Kreuzer 2 fl

rung. Ein internationales Forschungsprojekt über kulturelle Ausgleichsprozesse in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Das Beispiel der Kapuzinerbibliothek Luzern. In: Helvetia Franciscana 23 (1994), S. 18–40; ders.: Kulturelle Ausgleichsprozesse in der Schweiz 1750–1840. Das Beispiel der Kapuzinerbibliothek Luzern. In: Die Aufklärung in deutschsprachigen katholischen Ländern 1750– 1800. Kulturelle Ausgleichsprozesse im Spiegel von Bibliotheken in Luzern, Eichstätt und Klosterneuburg. Hg. von Dieter Breuer. Paderborn u. a. 2001, S. 49–195; ders. und Verena Blaas: Bibliothek des Kapuzinerklosters Wesemlin, Luzern. In: Handbuch der historischen Buchbestände in der Schweiz. Répertoire des fonds imprimés anciens de Suisse. Repertorio dei fondi antichi a stampa della Svizzera. Hg. von der Zentralbibliothek Zürich. Bearb. von Urs B. Leu, Hanspeter Marti und Jean-Luc Rouiller. Bd. 2: Kantone Luzern bis Thurgau. Hildesheim u. a. 2011, S. 22–36: bleibt für weitere Studien grundlegend; Edgar Lehmann: Die Bibliotheksräume der deutschen Klöster in der Zeit des Barock. Berlin 1996, S. 91, 138, 266; hinzuweisen verbleibt besonders auf Clemens St. Marti: Revisionsprotokoll. Bibliothek OFMCap. Luzern 2002–2003 (Typoskript und z. T. Ms.: Luzern, Bibliothek Kloster Wesemlin). Eigens hingewiesen sei auf: ders.: Bericht über die Urbibliothek „Leonardús Rissÿ“ sowie weitere Inkunabeln und Atlanten in der Klosterbibliothek bei Luzern. Luzern 2003 (Typoskript), S. 54–60.

Die Urbibliothek im Kapuzinerkloster Luzern 37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65. 66. 67. 68. 69. 70. 71. 72. 73. 74. 75.

Theologia thütsch Vitae Patrum Decretales Gregorij Bonaventurae Homiliae Joannis Marbergerj. Martiny Ysengrinj. Passionale novum Evangelica Inquisitio Edej Manuale Curatorum Sermones Leonhardi Utinj 39 Predigten Fenchlij Nachdruck Caspari Franck vom Catholischen Namen Caspari Frankes Orationes funebres Staphili Gründliche Widerlegung M. Thome wider Bibrach Vom letzten A[b]fal Staphilj Vom rechten Weg Johannis Fabrj [?] Legendae Sanctorum et historia langobardica In utriusque Libros Topiarij homiliae Confessiones Stanislaj Hosij Jud. Clithovaej duae partes Marcj Eremitae opuscula Historia Passionis D. Ferj Hieronymus Osorius Postilla Ferj Alardi praeparationes as sumendam Eucharistiam Loci communes Joh. Badrej Elucidatorium ecclesiasticum Concilium Nicenum Homiliae Eckij Nicolai Salicelj antidotarium animae Dionysij carthusianj de arcta via Salutis Damnatorum Speculum Summa doctrinae christianae Petri Canisii Loci communes Hoffmeysterj Thesaurus christianarum precationum Alberti Hungery Nauseae Homiliae parvae19 De nova [?] Christi Ecclesia Wilhelmi Lindanj

101

2 Kreuzer 1½ fl 1 Kreuzer 1½ fl 8 Schilling 1½ fl 5 [bz] Batzen 1 fl 10 Batzen 11 Batzen 1½ fl 9 Batzen 8 Batzen 5 Batzen 10 Batzen 8 Batzen 8 Batzen 12 Batzen 4 Batzen 3 fl 1 Kreuzer 3 fl 1 fl 10 1 Krone 1 fl 1 fl 1 Kreuzer 1 Kreuzer 1 fl 1 Thaler 1 fl 1 fl 1 fl 10 Batzen 7 Batzen 10 Batzen 9 Batzen 5 Batzen

19

19 Beda Mayer ist dieser Eintrag entgangen. Weitere kleinere Versehen in seiner Abschrift suchte ich stillschweigend nach dem zum Teil schwer lesbaren Ms. zu verbessern.

102 76. 77. 78. 79. 80. 81. 82. 83. 84. 85. 86. 87. 88. 89. 90. 91. 92. 93. 94. Nota: 95. 96. 97.

P. Oktavian Schmucki Precationum piarum Enchiridion Methodus Confessionis De formandis sacris Concionibus Fridericj Nauseae cathecismus Flores omnium Doctorum Summa mysteriorum Titelmarj Methodus cathecismi Catholici Canonis missae expositio Gabrielis Biel Diurnale Romanum Isagoge Gropperj Precationes contra tempestates Loci communes Antonij monaci Rationale Divinorum Beletj Tractatus Titelmannj de expositione missae Expositio verborum D. Augustini meditationes et soliloquia Psalterium in pergament Enchiridion Sacerdotum Sermones Jacobi gandensis super Pater noster et Ave M. Diese Bücher sind nit im Catalogo verzeichnet: Martyrologium Canisij Decretale Gratiani Constantiensis diocesis Breviaria duo Summa

1 fl 8 Batzen 8 Batzen 1 fl 10 Schilling 10 Batzen 6 Batzen 6 Batzen 10 Batzen 10 Batzen 3 Batzen 6 Batzen 7 Batzen 1 fl 7 Batzen 8 Batzen 1 fl. 8 Batzen 10 Schilling 1 Kreuzer 2 Kreuzer 3 fl fl 304 Sh (Schilling)

Der Umfang des Verzeichnisses erlaubt leider nicht, den gesamten Bestand von Werken hier einzeln zu bestimmen und bibliographisch Werk für Werk zu beschreiben. Nach Clemens Marti umfasst die hinter Glasvitrinen der Luzerner Kapuzinerbibliothek erhaltene UB, welche – wie er voll zu Recht bemerkt – „für das Kapuzinerkloster Wesemlin und seine Geschichte von unschätzbarem Wert“ ist, 67 Signaturen, 87 Werke und 76 physische Bandeinheiten.20 Der Revisor stellt nach vertiefter Einsicht des ganzen Bestandes fest: „Der Zustand der UB kann als sehr gut bis teilweise hervorragend bezeichnet werden.“21 Befremdend erscheint, dass der sonst so verantwortungsbewusste Bibliothekar Klementin Sidler von dieser so zentralen Büchersammlung wohl einen Autoren-, nicht jedoch einen Standortkatalog erstellt hat.22

20 Zur UB vgl. Mayer: Das Kapuzinerkloster (wie Anm. 10), S. 49–51. Einen besonderen Hinweis verdient Marti: Bericht (wie Anm. 18), hier S. 1. 21 Marti: Bericht (wie Anm. 18), S. 1. 22 Ebd., S. 2.

Die Urbibliothek im Kapuzinerkloster Luzern

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„Biblia Thüdtsch“ und andere biblische Werke 1. Sehr zu bedauern ist, dass die „Biblia“ in der UB nicht erhalten geblieben ist. Es liegt nahe zu vermuten, diese frühneuhochdeutsche Bibelübersetzung sei der Bibliothek des Altdorfer Kapuzinerklosters ausgeliehen worden und sei dort 1799 beim Dorf- und Klosterbrand verbrannt. Die Klosterbibliothek Luzerns besitzt immerhin mehrere frühneuhochdeutsche Bibelübertragungen,23 die leider zum Teil nicht vollständig erhalten sind. Es kann hier nicht darum gehen, deren Liste einzeln vorzulegen, um – rein auf dem Weg der Vermutung – jene Ausgabe herauszufinden, die Kaspar Pfyffer für 7 Gulden kaufte und dem Kapuzinerkloster in Luzern geschenkt hat. a) Vom Titel her möchte man zunächst denken an: Bibel Teutsch [: Lettern ornamental geschmückt. Darüber (durchstrichen) der Name eines Vorbesitzers: R. Bougat] / Der vrsprünglichen Hebreischen / vnd Griechischen warheit nach, auffs / treüwlichest verdolmetschet. / Was über die nächst außgegangenen edition / weyters hinzu kommen sye, wirt in nachfuolgen= / der Vorred genügsam begriffenn [Handschriftlicher Name eines weiteren Vorbesitzers, der nicht leicht lesbar ist. Verlagssignet: Baum mit Frosch. Daneben findet sich der Bibliotheksstempel: Biblioth. / PP. Capuc. / Dornaci]. // Getruckt zu Zürich bey Christoffel Fro= / schouer, im Jahr als man zalt / [Trennstrich] / M. D. XXXIIII (1534). [Weiterer Vorbesitzer; unlesbar] 19,7 x 14 cm., CCLXXXVI ff.24

Der protestantische Ursprung dieser berühmten durch Zürcher Prädikanten besorgten Übertragung schließt wohl aus, dass sie Leonhard Risi besaß.25 Zudem hätte sie das Kapuzinerkloster nur mit spezieller kirchlicher Erlaubnis übernehmen und verwenden dürfen. b) Eher denke ich an eine Ausgabe der Grüninger-Bibel; so jene von 1485: Biblia, deutsch. Straßburg [Johann Grüninger] 2. Mai 1485. 2° – II–CCCCLVII ff. (mit Fehlern), 88 handkolorierte Holzschnitte.

23 Vgl. Sidler: Verzeichnis (wie Anm. 18), fol. 25v–26v. Man müsste selbstverständlich über die Wände unserer Klosterbibliothek hinausschauen. Vgl. Jean-Pierre Delville: Histoire de l’exégèse aux temps modernes. In: Revue d’Histoire Ecclésiastique 105 (2010), S. 757–766, hier S. 765: „[...] on reste impressioné par les quatorze Bibles allemandes différentes publiées entre 1466 et 1522, avant celle de Luther“. 24 Der Band, versehen mit einzelnen Holzstichen, stammt aus dem 1991 aufgehobenen Kapuzinerkloster in Dornach, ging jedoch bei dessen Aufhebung über an die Bibliothek Luzerns. Deren Stempel findet sich auf der Innenseite des vorderen Buchdeckels. Zum Verlag vgl. Froschauer, Christoph (ca. 1490–1564). In: Schweizer Lexikon 91. Bd. 2. Luzern 1992, S. 770f. (Lit.). – Leider fehlen in dieser wertvollen Ausgabe die zwei Metallschließen. 25 Vgl. dazu Waldtraut Ingeborg Sauer-Geppert: Mittelalterliche und reformationszeitliche Bibelübersetzungen. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 6. Berlin u. a. 1980, S. 227–246, hier S. 243.

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Deren Explizit auf fol. CCCCLXIIIb lautet: Disz durchleuch[-] / tigest werck der gantzen heyligen ge[-] / schrift genant die bibel zů teütsch ge[-] / trukt. lauter. clar. vnd war. [...] Vnd mit schönen / figuren dy hystorien bedeutende. des nüwen gesetzs. hat hie ein ende. Ge- / druckt in der löblichen keyserlichen / freystatt Straßburg. Nach der ge- / burt cristi des gesetzes der genaden. / viertzehenhundert vnd in dem fünff- / vndachtzigsten iar vff montag der / zweyt des mondes May [...].26

In der Ausgabe der Klosterbibliothek handelt es sich nur um den in sehr schönen Lettern gedruckten umfangreichen 2. Band, bei dem der Einband ausgebessert wurde, an dem Wurmschäden sichtbar sind und in dem die zwei Metallschließen leider fehlen. Dieses unvollständige Exemplar frühneuhochdeutscher Bibelübersetzung ist im Grundbestand bestens erhalten und darf allein wegen der handkolorierten Illuminierungen im Buch der Offb als sehr wertvoll eingeschätzt werden. Immerhin ist es wohl nicht dasjenige, das K. Pfyffer von L. Risi erworben hat; denn in ihm sucht man umsonst sowohl den für den Ex-Priester typischen Besitzervermerk auf dem Titelblatt wie auch den für den Besitzer ebenso kennzeichnenden Kurztitel auf der Vorderseite des Bandes. Andererseits weist die Innenseite des hinteren Buchdeckels des 2. Bandes mehrere handschriftliche Einträge auf, wobei einer auf 1573 datierte mich an die Handschrift Risis erinnert. Diese Inschriften verlangen für ihre Deutung die Kompetenz eines erfahrenen Paläographen. c) Der Mitbruder Kl. Sidler fügte unter der Signatur-Nr. W 66 eine deutsche Bibel ein, die er anscheinend für das von Risi um 7 fl. verkaufte und von Pfyffer dem Kloster geschenkte Exemplar hielt oder dies zumindest vermutete, wiewohl weder auf dem Einband noch auf der Schutzblattseite ein entsprechender Besitzvermerk steht. Vielleicht war er sich des nicht ursprünglichen Charakters dieses Bandes durchaus bewusst, wollte jedoch eine vor dem Ankauf durch K. Pfyffer erschienene Bibelübersetzung aus dem Bücherbestand der Luzerner oder anderen Kapuzinerbibliotheken als Ersatz der Bücherreihe der UB hinzufü26 Vgl. Sidler: Verzeichnis (wie Anm. 18), S. 26, mit Verweis auf Hain und Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Bd. 4. Leipzig 1930, Sp. 171f., Nr. 4304. Zum Buchdrucker Joh. Grüninger (1483–1529) vgl. u. a.: Brockhaus Enzyklopädie. Bd. 7 (1969), S. 740 (Lit.). Es ist hier nicht der Ort, um auf weitere buchtechnische und kunstgeschichtliche Momente hinzuweisen. Bedeutsam sind die Ausführungen von Sauer-Geppert (wie Anm. 25), S. 236f., die betont, dass die Forschung zu den frühneuhochdeutschen Übersetzungen noch nicht abgeschlossen ist. „Es ist eine als Verallgemeinerung unzutreffende Meinung, für die mittelalterliche Kirche habe die Heilige Schrift eine geringe Rolle gespielt“ (S. 237). Vgl. ebenso Otto B. Knoch und Klaus Scholtissek: Bibel. 3. Mittelalterliche, neuzeitliche und moderne europäische Übersetzungen. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 2. Freiburg/Br. u. a. 31994, S. 388–396, hier S. 388: „In Süddeutschland entsteht um 1350–80 eine Gesamtbibel-Übersetzung, die dann J. Mentelin dem 1. deutschen Bibel-Druck zugrunde legt, obwohl sie sprachlich veraltet war. Diese wurde erst für die 4. deutsche Druck-Bibel von G. Zainer (Augsburg 1475) anhand der Vulgata gründlich überarbeitet“. Vgl. auch oben Anm. 23.

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gen. Auch wenn diesem Band der Charakter der Ursprünglichkeit abgeht, sei trotzdem das Titelblatt wiedergegeben: Bibell [: in roter Zierschrift] / Das ist, / Alle buecher Alts vnd News Te= [: Rotschrift] stamentes, nach alter in Christlicher Kyrchen gehabter / Translation, mit Auslegung etlicher dunckeler ort, / vnd besserung vieler verruckter wort vnd sprueche, / Durch Doctor Johan Dieten= [: Rotdruck] / berger, fleissig, trewlich vnd Christlich corrigiert / vnd gebessert in seinem leben. / Mit Biblischen (wie man sie nent) Concordantzen / von newem vberaus reichlich gemehret. / zu Cöln durch die Erben des acht= [: Rotdruck] / baren [ebenso:] Johan Quentels, [wieder in Schwarzdruck:] im jar nach / Christi geburt 1556. [Loci Capuccinorum Tugij: Zug durchstrichen! / Mit Keiserlicher Gnad vnd Freiheit [: Rotdruck. – Darunter: Loci Capucinorum Tugij]. // 30,1 x 19,4 cm.

Das Titelblatt ist von 9 Holzschnitten biblischer Szenen eingerahmt. Auch die Bibel selber, gedruckt auf nicht gutem Papier, zieren viele Holzschnitte. Das Buch weist Schäden häufiger Benützung auf. Gewisse Seiten mussten sogar „sanft“ restauriert werden. Auch der Ledereinband ist leicht beschädigt. Von den zwei Metallschließen ist nur eine erhalten geblieben. Johannes Dietenberger (1475–1537) stammte aus dem Orden der Dominikaner, war Kontroverstheologe und hat die Übertragung des Neuen Testamentes von Hieronymus Emser (1478–1527) in seinen Text übernommen. Er versuchte die Übersetzungen von Reformatoren der Vulgata anzupassen und zögerte nicht, von Luthers Bibel Passagen einfach zu übernehmen, ohne deren Ursprung zu kennzeichnen.27 Diese Bibelübersetzung erlebte im katholischen Raum eine weite Verbreitung und eine hohe Zahl von Auflagen. 2. Biblischen Charakters ist sodann eine Bibel-Konkordanz, die nach einer Inschrift 1577 zweifellos Leonhard Risi gehörte.28 Der Titel lautet: SACRORVM VTRI- / usque Testamenti librorum ab- / solutissimus Index, quas [zwischen den Zeilen handschriftlicher Besitzvermerk: Leonhard Risis 1577, 3 fl. Kaufpreis] / CONCORDANTIAS MAIORES / VOCANT: TV VEL MAXIMAS / appelles, licet. / [Verlagssignet]29 / BASILEAE, EX OFFI= / CINA HERVAGIANA / M.D.LXVIII. [1568] //. 33 x 21,5 cm., ohne Foliierung oder Paginierung. – Dem Band ist nach 2 leeren Doppelseiten

27 Vgl. Josef Steinruck: Emser, Hieronymus. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 9. Berlin u. a. 1982, S. 576–580, hier S. 579; Peter Fabisch: Dietenberger, Johannes. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 3. Freiburg/Br. u. a. 31995, S. 220f. (Lit.), und Heribert Smolensky: Emser, Hieronymus. In: ebd., S. 637 (Lit.); Albrecht Beutel: Dietenberger, Johannes. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2. Tübingen 41999, S. 847a. Zur kölnischen Druckerfamilie vgl. Quentel, Heinrich. In: Brockhaus Enzyklopädie. Bd. 15. Wiesbaden 1972, S. 320a (Lit.). 28 Die Inschrift findet sich auf dem Titelblatt zwischen der 3. und 4. Zeile des Titels. 29 Neben dem Verlagssignet hat ein Bibliothekar – aus Unkenntnis der Herkunft des Werkes – in sehr schöner Handschrift eingetragen: Loci Fratrum Minorum / Capucinorum Lucernae / Ex Dono D. Leonardi Risij 1577 / Lucernensis. Darunter: Bibliotheksstempel des Klosters Luzern.

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beigebunden: PARTIVM, SIVE DI- / ctionum indeclinabilium, utriusque / Testamenti, absolutissi- / mus Index. / Basileae, M. D. LXVIII. [1568] // wie im 1. Bd. ohne Seitenzahl.30

Die ohne Angabe eines Verfassers in Basel 1566/1567 erschienene Bibelkonkordanz31 ist ein imponierendes Werk, das Mitbrüdern Luzerns, welche mit der Predigterlaubnis des Generalministers ausgestattet waren, sicher ausgezeichnete Dienste erwiesen hat. Nach dem Vorwort des Druckers Johannes Herwagen (S. [2]) scheint der Verlag selber die Erstellung der biblischen Verbalkonkordanz besorgt zu haben. Es kann für sicher gelten, dass er sich dabei auf vorausgehende Versuche stützte. Auf 2 Seiten (Innenseite des Vorderdeckels und auf einer eingeklebten Seite r/v) findet sich ein handschriftlicher Kommentar Risis zum Werk, dem ein Fachmann eine nähere Untersuchung widmen sollte. Während einzelne Seiten des Buches leicht ausgefranst sind, ist sonst sein Erhaltungszustand sehr gut. Der schöne, leider leicht beschädigte Einband weist Blindpressung auf und ist ohne Metallschließen. 3. Biblischer Charakter kommt überdies einem umfangreichen Werk von Georg Eder (1523–1587)32 zu, das den Titel trägt: OECONOMIA / BIBLIORVM, / SIVE / PARTITIONVM THE = / OLOLOGICARVM LIBRI QVINQVE: QVIBVS / SACRAE SCRIPTVRAE DISPOSITIO, SEV ARTIFICIUM ET VIS / atque ratio, in tabulis, velut ad viuum exprimitur, & ità ob oculos / ponitur, vt non modò absolutissimam complectantur vniuer= / sae Theologiae SVMMAM atque Methodum, sed Com= / mentarij etiàm vice haberi queant. / OPVS MAGNO STVDIO ET LABORE CONGESTVM ET SO= / lidam Diuinarum literarum cognitionem, artemque caelestis philosophiae recte per= / discendam accommodatißimum: Quod non iniuria quis vel auream Ca- / tenam, vel Clauem dicat totius doctrinae Christianae. / AVTHORE / D. GEORGIO EDERO I.C. FRISING. DIVORVM IMPER. FERDINANDI AVGV- / stissimae memoriae I. & nunc Caesaris Maximiliani II. Consiliario Aulico Imperiali. / [handschriftlicher Besitzvermerk Leonhard Risis von 1570 – Titelkupfer; Kosten: 5 fl. „in auro“] / HIS ADIECIMVS ETIAM, CVM PROPTER ARGVMENTI SIMILITVIDINEM, / tum ut studiosus Lector, quis sacrae scripturae sit vsus, viuum habeat exemplar, Partitiones / CATECHISMI Catholici Tridentini, eodem D. GEORGIO EDERO authore. / COLONIAE AGRIPPINAE / Apud Geruuinum Calenium, & haeredes Iohannis Quentelin, Anno M. D. LXVIII. [1568] / Cum gratia & Priuilegio Imperiali in decennium. // [Links und rechts vom Titelkupfer: Stempel der Bibliothek OFMCap. Luzern

30 Signatur: W 16; Marti: Bericht (wie Anm. 18), S. 56; Catalogus (wie Anm. 3), Nr. 31. Vgl. Historisch-Bibliographisches Lexikon der Schweiz. Bd. 4. Neuenburg 1927, S. 203a, zum Buchdrucker Johannes Herwagen (1507–1568), der „die Froben’sche Offizin weiterführte“. 31 Zur Geschichte dieses biblischen Findinstrumentes vgl. den ausgezeichneten Überblick von Josef Schmid: Bibelkonkordanz. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 2. Freiburg 21958, S. 360– 363. Merkwürdigerweise erscheint dieser Begriff in der 3. Auflage nicht mehr! 32 B. Heurtebize: Eder, Georges. In: Dictionnaire de théologie catholique. Bd. 4. Paris 1939, Sp. 2101f. (Lit.); C. Jellouschek: Eder, Georg. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 3. Freiburg 21959, S. 657f. (Lit.).

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und jener von Stans. Nach der letzten Druckzeile: Loci Capucinorum [durchstrichen:] Lucernae – Stantij]. 31 x 20 cm., [XXXII], 715 + 120 S.33

Ob dieses weitschweifige Werk unter den Mitbrüdern von Luzern und Stans, denen es ausgelehnt war, sich starken Zuspruchs erfreute, möchte ich sehr bezweifeln. Auf jeden Fall fehlen im Doppelband, der sehr schön mit Blindpressung verziert ist, Benutzerspuren! Zudem haben sich die zwei Metallschließen erhalten. Werke franziskanischer Autoren 4. Es verwundert, dass sich in der privaten Bibliothek eines Weltpriesters 11 Schriften befanden, die von Franziskanern als Verfassern stammen.34 Der Catalogus der Privatbibliothek Leonhard Risis enthält folgenden Kurztitel: Bonaventurae Homiliae (Catalogus, Nr. 40). Leider findet sich dieser Band in der UB nicht mehr vor. In der Klosterbibliothek Luzern wird in der Sammlung der Wiegendrucke folgendes Werk aufbewahrt, das für das leider verloren gegangene stehen kann: Seraphici doctoris sancti / Bonaventure / Sermones / de tempore et sanctis cum / Comuni sanctorum.35 Hagenau – [Heinrich Gran], V. Id. Ian. [9. Januar] 1496. 4°.

Vor dem Registrum alpha[-] / betico ordine collectum liest man das Explicit: Non nobis domine non nobis, sed nomini / tuo da gloriam quod hos tam pretiosos tamque fi- / deli populo fructuosos sermones reue- / rendissimi quondam cardinalis seraphi[-] / ci ac sancti doctoris Bonauenture tam / sollerter te donante in imperiali ciuitate / Haganaw finiuimus. Anno domini M / CCCC.XCVJ. (1496), quinto Idus Januarij. //36 33 Signatur: W 20; Marti: Bericht (wie Anm. 18), S. 56; Catalogus (wie Anm. 3), Nr. 21. 34 Nicht berücksichtigt wurde das Werk des als Jude getauften Sixtus von Siena (1520–1569), der hernach in den Orden der Konventualen/Minoriten eintrat, jedoch wegen häretischer Anschauungen von der Inquisition zum Tode verurteilt wurde. Nach dem Widerruf 1551 trat er in den Dominikanerorden über, vgl. Joseph Molitor in: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 9. Freiburg 21964, S. 812. Leonhard Risi besaß dessen Bibliotheca Sancta. Frankfurt, Ex officina Typographica Nicolai Bassaei, 21575: Signatur: W 7; Catalogus (wie Anm. 3), Nr. 6; vgl. Marti: Bericht (wie Anm. 18), S. 56. – Die franziskanischen Autoren werden hier in der Reihenfolge der Signaturen ihrer Werke in der UB angeführt. 35 Der mit Lettern des 15. Jahrhunderts gesetzte Titel ist mit einem Zettel auf der Schutzseite aufgeklebt. 36 Vgl. Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Bd. 4 (wie Anm. 26), S. 484f., Nr. 4815, wo auch eine längere Liste von Aufbewahrungsorten dieser Inkunabel verzeichnet ist. Die Aufführung unter „Pseudo-Bonaventura“ ist in dieser ausschließlichen Form nicht angemessen. Es sei verwiesen auf Balduinus Distelbrink: Bonaventurae scripta, authentica, dubia vel spuria, critice recensita. Roma 1975 (Subsidia scientifica franciscalia, 5), S. 64–78, wo die Kategorien „Sermones de Sanctis“ und „Sermones de Tempore“ einzeln vorgestellt werden. – Der Drucker war Heinrich Gran, vgl. Oktavian Schmucki: Fidelis von Sigmaringen (1578–1622). Bibliographie. Kommentierter Literaturbericht bis 2000. Roma 2004, S. 406, Nr. 1239.

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Die Bonaventura-Inkunabel befand sich ursprünglich im Kapuzinerkloster Solothurn (Locj Capuc.: Solodorj: fol. a2) und war zuvor im Besitz eines D. Conradi Burj (ebd.). Der Band weist Wurmlöcher auf, und sein Einband scheint ursprünglich mit Motiven von Blindpressung verziert gewesen zu sein, musste jedoch später repariert werden. Erhalten geblieben ist eine der beiden Metallschließen. Der Erhaltungszustand des Textes, in dem keine handschriftlichen Einträge zu sehen sind, ist gut. Die Präsenz der Predigtsammlung des Seraphischen Lehrers in der Bibliothek eines Kapuzinerklosters musste umso willkommener sein, als die Verkündigung seine herausragende Aufgabe war und Bonaventura in der philosophisch-theologischen Ausbildung der Kleriker die Vorrangstellung einnahm.37 5. In der Signaturenreihe (W 17; Catalogus, Nr. 28) erscheint als erstes Werk eines franziskanischen Verfassers das des Franziskaner Observanten Konrad Klinge/Clinge (1483/1484–1556),38 der an der Erfurter Universität den Doktortitel in Theologie erlangte und Kustos der Observanten in Thüringen bzw. Guardian in Erfurt wurde. Großen Einfluss übte er als Stadtprediger aus. Beim Ausbruch der Reformation Luthers nahm Klinge eine versöhnliche Haltung ein, vertrat in der Frage der Rechtfertigung eine Auffassung, die sich jener Luthers annäherte, doch blieb er überzeugter Katholik, wurde darum von Luther heftig angegriffen und blieb Führer der Gruppe von Christen, die in Erfurt dem katholischen Glauben treu blieben. a) LOCI COM= / MVNES THEOLOGICI / REVERENDI VIRI D. CONRADI / KLINGII FRANCISCANI, ECCLESIASTAE ERFVR- / diensis, ex ipsius autoris monumentis dupla accessione / supra priorem editionem locupletati, & in Li- / bros quinque digesti, quorum capita se- /quentes paginae indicabunt. / [handschriftlich: Besitzvermerk39] / OPVUS ORDINE, MATERIA ET VARIETA- / TE LONGÈ VTILISSIMUM, SVMMAM CATHOLICAE DO/ ctrinae de omnium ferè dogmatum Christiana Religi- / one controuersijs, vnà cum Haereticorum argumen- / tis & eorundem Catholicis resolutio- / bus continens. / [...] [Titelkupfer des Verlags – links: Capucinorum Lucernae; rechts deren roter Bibliotheksstempel – Eintrag (Schrift L. Risis). – Loci Capuc. Lucernae. – Unter dem Titelkupfer: LORG]. / Coloniae apud Haeredes Arnoldi Birckmanni, Anno M. D. LXII [1562]. / Cum Gratia & Pruil. Caesareae Maiest. Ad 37 Vgl. Camille Bérubé: Les Capucins à l’école de saint Bonaventure. In: Collectanea Franciscana 44 (1974), S. 275–330. 38 Nikolaus Paulus in: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 2. Freiburg 21958, Sp. 1235; vgl. weitere Literatur in: Collectanea Franciscana. Bibliographia Franciscana. Index. Curavit Claudius van de Laar. Roma [1972], S. 342 (Klinge, Lit.); Ernst Pulsfort: Klinge, Konrad. In: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 4. Herzberg 1992, S. 60f. (Lit.); Barbara Henze: Clinge (Klinge, Cling), Conrad OFM [!, statt: OFMObs.]. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 2. Freiburg/ Br. u. a. 31994, 1233 (Lit.). Über die theologischen Auffassungen des Mitbruders ist vorab einzusehen Hans-Christian Rickauer: Rechtfertigung und Heil. Die Vermittlung von Glaube und Heilshandeln in der Auseinandersetzung mit der reformatorischen Lehre des Konrad Klinge. Leipzig 1986 (Erfurter Theologische Studien, 53); vgl. die Besprechung von Bernardino de Armellada in: Collectanea Franciscana 57 (1987), S. 362–364. 39 Leonardus Risy Lucernensis proposita me summo Jure tenebit – cost. 5 batzen.

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Decennium. // [Aufgeklebter Zettel: Bibliothecae FF. Capucinorum Lucernae]. // 31,6 x . 19 cm., [LII]-567 S.40

An den Seitenrändern liest man relativ seltene handschriftliche Kommentare. Der Erhaltungszustand des auf ziemlich dünnem und bräunlichem Papier gedruckten Bandes ist gut. Zusammengebunden mit dem Werk Loci communes ist: b) DN. CONRADI CLIN- / GII THEOLOGI ET ECCLESIASTAE CELEBER- / rimi (dum vixit) apud Erphordiam Thuringiae, / CATECHISMVS CATHOLICVS, / summam Christianae institututionis IIII. libris succinctim complectens. / ITEM AVTORIS EIVSDEM ALIVD INSIGNE VOLVMEN, INSCRIPTVM / SVMMA THEOLOGICA / HOC EST, EPITOME SEV COMPENDIVM / DOCTRINAE CHRISTIANAE CATHOLICAE: [... längere Inhaltsangabe, die ich hier übergehe]. / [Titelkupfer] / I Corin. 2,[2], Nihil iudicavi me scire inter vos, nisi IESVM CHRISTVM, & hunc crucifixum, quem denunciaui vobis, non in sublimita- / te sermonis aut sapientiae, sed in simplicitate spiritûs, vt fides nostra non sit in sapientia hominum, sed in virtute Dei. / COLONIAE / Apud Haeredes Arnoldi Byrcmanni [!]41, Anno CHRISTI nati M. D. LXII. (1562). / Cum Gratia & Privilegio D. FERDINANDI Imperatoris semper Augusti, in Decennium. // 31,6 x 19 cm., [XVI]-223 S.

Die Initialen sind vor jedem Buch mit Holzschnitten ausgeschmückt. Der Erhaltungszustand ist ebenfalls recht gut. Soweit ich sehe, fehlen im Text handschriftliche Einträge, mit Ausnahme von S. 118f. Ein drittes Werk desselben Minderbruders schließt dieses einzigartige Konvolut ab: c) SVMMA / DOCTRINAE CHRI= / STIANAE CATHOLI- / CAE, AVTHORE / DN. CONRADO CLINGIO, ECCLESIA- / STE APVD ERPHORIDAM (DVM VIXIT) CELEBERRI- / mo, & Minoritarum illic tum temporis agentium / Guardiano, concinnata. / Opus insigne, & hodiernarum tempestatum ventilationi / maximè accommodum. / CUM INDICE ARGVMENTORVM IN SINGVLOS, / quibus distributum est, Titulos / loculentissimo. / I. Cor. 12[, 28]. / Posuit Deus in Ecclesia primùm Apostolos, secundò / Prophetas, tertiò Doctores &c. / [Handschriftlicher Eintrag eines IORG] / COLONIAE / Apud Haeredes Arnoldi Birckmani,42 Anno 1562. / Cum gratia & privilegio D. FERDINANDI Ce- / saris in Decennium. //. 31,6 x 19 cm., [VIII]-259 S.

Holzschnitt-Initialen vor jedem „Titulus“ wie bei Buch b). S. 58 handschriftlicher Eintrag; S. 109/110 und 147/148: Einriss ohne Textverlust. Auf der eingeklebten Innenseite 40 Auf die Wiedergabe 5 weiterer Zeilen des unverhältnismäßig langen Titels verzichte ich. Wichtig ist anzumerken, dass das Schmutzblatt vor dem Titelblatt sehr unschön herausgeschnitten ist. Vermutlich enthielt es einen handschriftlichen Kommentar Risis zum Werk. Die Initialen der 5 Bücher sind zu einem Holzschnitt ausgeweitet. Auf den dieser Schrift vorausgehenden Seiten, die mit dem aus Handschriften bekannten System der Buchstabenfolge – jedoch nicht vollständig – ausgestattet sind, sind Einführungen, teilweise sogar in deutscher Sprache, und Register enthalten. – Zum Verleger vgl. Schmucki: Fidelis von Sigmaringen (wie Anm. 36), S. 422, Nr. 1267. 41 Zum Verlag Birckmann vgl. in Anm. 40. 42 Zum Verlag vgl. in Anm. 40.

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des Hinterdeckels steht ein handschriftlicher Eintrag Risis. Der Erhaltungszustand ist ebenfalls recht gut. Auf der Vorderseite des Buchblocks, dem Leser zugewandt, steht Risis Inschrift: „Conradus Clingius / Loci Communes T1 / Catechismus / Et / Summa doctrinae christianae“. Der Band wird durch zwei längere Metallschließen zusammengehalten. Der Einband selber weist eine sehr schöne Blindpressung auf. Die Signatur des Konvoluts in der UB ist: W 17; Catalogus, Nr. 28. 6. Der Hofprediger und Konzilstheologe während des Tridentinums, Alfons de Castro aus Zaragoza (um 1495–1558), Franziskanerobservant, der kurz nach seiner Ernennung zum Bischof am 3. Februar 1588 in Brüssel starb,43 hat sich mehr denn einmal, besonders unter strafrechtlicher Rücksicht, mit dem Phänomen der Häretiker befasst. Wie die persönliche Inschrift beweist, erwarb sich Leonhard Risi 1573 entweder vom Verleger oder von einem Vorbesitzer folgendes Werk: Alfonsi à Castro, Zamorensis, / Ordinis Minorum regularis Obseruan- / tiae, Prouinciae sancti Iacôbi, aduersus omnes / Haereses Libri XIIII. / OPVS HOC NVNC POSTREMO AB / AVTORE RECOGNITVM ET TAM / multis ab eo locis supra omnes priores additiones auctum atque / locupletatum est, vt meritò novum opus censeri poßit, / prout Auctor ipse in Epistola Nuncupatoria / apertè demonstrat, quae addita sunt, / pagina septima per breuem / epistolam reperies. / [handschriftlicher Besitzvermerk Risis44 – Titelkupfer: Königskrone und -wappen – auf beiden Seiten: Loci pp. / capucinorum Lucernae]. / ANTVERPIAE, In aedibus Ioannis Steelsij. Anno, / M. D. LVI (1556). // 33 x 20,5 cm, [LXIV] p. + 262 ff. + 196 ff.

Vor dem Schmutzblatt – wohl eingeklebt – 3 Blätter nach dem Vorderdeckel und auf einem weiteren Blatt auf der doppelten Seite: handschriftliche Texte von Risi; fol. 196r (2. Folienreihe): ANTVERPIAE / Typis Ioanni Latii. / 1556; fol. 196v: Verlagssignet des Verlegers Johannes Steelsius.45 Darauf folgen 3 unbeschriebene Schmutzblätter. Auf der aufgeklebten Rückseite des Einbandes befindet sich wiederum ein handschriftlicher Eintrag (in sehr kleinen Lettern), der jedenfalls auf den Vorbesitzer zurückgeht. Der Doppelband weist nur wenige Gebrauchsspuren auf. Auf gewissen Seiten finden sich an den Rändern handschriftliche Einträge in Tinte. Auf der Vorderseite des Buchblocks steht der 43 ‚Alphonse de Castro‘. In: Dictionnaire de théologie catholique. Tables générales. Bd. 1. Paris 1951, S. 103f. (Lit.); Fray Alfonso de Castro, teólogo y jurista. Estudio sobre su figura y su ciencia teológica y jurídica. IV centenario de su muerte 1558 3 de febrero – 1958. Santiago de Compostela 1958 (Bibliographia Franciscana XII, n. 2191); Johannes Beumer: Häresie und kirchliche Gliedschaft nach Alfonso de Castro, OFM [!]. In: Franziskanische Studien 45 (1963), S. 243–256; Fernando Domínguez: ‚Castro, Alfonso‘. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 2. Freiburg/Br. u. a. 31994, Sp. 974; Josef Bordat: Castro, Alfonso de (Alphonsus a Castro). In: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 30. Nordhausen 2009, S. 190f. (Lit.). 44 Der Eintrag lautet: Leonardus Risy pspter [presbyter] Katholicus [!] me summo Jure tenebit – Anno Domini 1573. 45 Die Signatur der UB ist: W 27; Catalogus (wie Anm. 3), Nr. 30. Zum Drucker sei verwiesen auf mein Werk: Fidelis von Sigmaringen (wie Anm. 36), S. 431, Nr. 1279.

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Autorname: Alfonsus zwei Mal: in größerer und kleiner Tintenschrift. Der Einband weist eine sehr schöne Blindprägung und 2 gut erhaltene Metallschließen auf. 7. Erstaunlich ist, dass L. Risi in seiner Privatbibliothek das heute relativ sehr seltene Werk – nach Auskunft des Internets befindet es sich in der Schweiz nur noch in Lugano46 – besaß: Speculum / uite beati / Fran[-] / cisci / et Sociorum eius. // Explizit fol. 240r: Venetijs (expensis domini Jordani de Dinslaken) / per Simonem de Luere.47 30 Januarij, / 1504. // 15,8 x 10,7 cm., 240 ff.

Diese Sammlung hagiographischer Berichte über Franziskus und seine Gefährten hat . vermutlich Fr. Fabian von Igal, Provinzialminister der Ungarischen Minoritenprovinz (OFMConv.) zwischen 1452–1474 gesammelt. Dieses Speculum hat jedoch auf die neuere Franziskusforschung kaum eingewirkt.48 Wichtig ist hier festzustellen, dass das kleine Werk im Catalogus fehlt. Die Präsenz in der UB (Signatur: W 34) rechtfertigt sich aus dem eindeutigen Besitzervermerk: Am Kopf des Titelblattes liest man (durchstrichen) Leonardus Risy Lucernensis / 1581. Auf diesem selber befinden sich mehrere weitere handschriftliche Einträge; zu unterst: Loci pp. Cappucinorum [!] Lucernae. Im Text des Speculum sind die Initialen der einzelnen Gefährtenberichte besonders hervorgehoben. Der Band befindet sich in ausgezeichneten Erhaltungszustand. Auf fol. 236r–237r: Liste der Generalkapitel des Franziskaner Ordens seit seinem Stifter Franziskus bis 1500. Auf fol. 237v–238v: Namen der Provinzialminister der Ungarischen Minoritenprovinz; u. a. fol. 238v: Fr. Fabianus de igal [!], der 1452 zum Provinzial gewählt wurde und 1474 starb. Auf fol. 139r–240r: Liste der Kapitel der Ungarischen Ordensprovinz. Auf fol. 240r: Explicit. Auf der Vorderseite des Schutzblattes vor dem Hinterdeckel: vidi P. Ubaldus [de] Alençon, OFMCap., Franziskusforscher (1872–1927).49 8.–9. In zwei relativ kleinen Büchern befinden sich Schriften des berühmten Autors Franziskus Tittelmans, auf den eine imponierende Zahl philosophischer, theologischer, bibli46 Biblioteca „Salita dei Frati“, Convento dei Cappuccini, Salita dei Frati 4, 8900 Lugano. 47 Der Drucker veröffentlichte Bücher zwischen 1501–1529, vgl. http://213.0.4.19/FichaAutor. html?Ref=20242, abgerufen am 08.04.2011. Vom Stifter der Drucklegung Jordan de Dinslaken konnte ich keine weiteren Lebensumstände ermitteln. 48 Vgl. Paul Sabatier: Description du Speculum vitae beati Francisci et Sociorum eius. Paris 1903 (Opuscules de critique historique, 1), S. 299–395; Sophronius Clasen: Legenda antiqua S. Francisci. Untersuchung über die nachbonaventurianischen Franziskusquellen, Legenda trium sociorum, Speculum perfectionis, Actus B. Francisci et sociorum eius und verwandtes Schrifttum. Leiden 1967 (Studia et documenta franciscana, 5), S. 36f., 149f. (Lit.). 49 Über ihn vgl. Lexicon Capuccinum. Promptuarium historico-bibliographicum Ordinis Fratrum Minorum Capuccinorum (1525–1950). Roma 1951, S. 1757f. (Lit.); Collectanea Franciscana. Bibliographia Franciscana. Index (wie Anm. 38), S. 593 (Lit.). Ein solcher Eintrag des Mitbruders (in Tintenschrift!) in einem Frühdruck war schon zu seiner Lebenszeit alles andere als vorbildlich!

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scher und spiritueller Werke zurückgeht. Er wurde um 1502 in Hasselt geboren. An der Universität von Löwen erlangte er 1521 die akademischen Grade und trat 1523 in den franziskanischen Orden der Observanz ein. In ihm nahm er nicht nur die Aufgaben eines Lektors in Philosophie und Theologie (mit besonderem Augenmerk auf die biblische Wissenschaft) wahr, sondern trat publizistisch auffallend stark hervor. Trotz seines hohen Grades an Bekanntheit – wohl nach einer spirituellen Identitätskrise – reiste er 1535/1536 nach Rom und wechselte dort überraschend zur Kapuzinerreform über. Im Reformorden pflegte er zunächst hingebend Kranke, wurde aber zum Provinzial der Römischen Provinz gewählt; er starb bereits am 12. September 1537 in Anticoli.50 Von ihm hatte sich L. Risi für seine Bibliothek zwei seiner kleineren Schriften erworben, nämlich: a) SVMMA / MYSTERIO- / RVM CHRISTIA – / NAE FIDEI. / Ex authoritate diuinarum scripturarum / Veteris & Noui Testamenti, conge- / sta, atque in pias Contemplationum / formulas commodè digesta. / F. FRANCISCO Titelmano Hasselen- / se, ordinis fratrum Minorum, authore. / [Titelkupfer; links und rechts, handschriftlich: Capucinorum / Lucernae und roter Bibliotheksstempel] / LVGDVNI, Apud Haered. Iacobi Iunctae51 / [Querstrich] / 1567. // 12 x 7,5 cm., [XX]-544 + [5] Register; auf der Innenseite des Hinterdeckels: ungezeichneter Holzstich des hl. Ulrich.

Leicht beschädigter Ledereinband ohne Schließen. Der Verleger in Lyon bildete eine sehr aktive Zweigfirma der venezianischen Druckerei des Gründers. – Signatur der UB: W 43; Catalogus, Nr. 81. b) TRACTATUS / DE EXPOSITIONE / mysteriorum Missae, / SACRI CANONIS MISSAE, duplex expositio. / TRACTATVS SANCTA- / rum meditationum pro cordis in / Deo constabilitione.52 / EXPOSITIO OFFICII, QUOD / de superbenedicta Trinitate, in ipsius / solennitate, Romana cantat / Ecclesia. Per Fratrem Franciscum Titelmanum / Hassellensem Ordinis fratrum 50 Émile Amann: Titelmans, François. In: Dictionnaire de théologie catholique. Bd. 15/1. Paris 1946, Sp. 1144–1146 (richtige Schreibweise ist: Tittelmans); Lexicon Capuccinum (wie Anm. 49), S. 638f. (Lit.); Benjamin De Troeyer: Bio-bibliographia franciscana neerlandica saeculi XVI. Niewkoop 1969–1970, Bd. 1, S. 87–100; Bd. 2, S. 178–365; Servus Gieben: Franziskanische Literatur des XVI. Jahrhunderts in den Niederlanden. In: Collectanea Franciscana 41 (1971), S. 172–184, 176f. (ausführliche Besprechung); Collectanea Franciscana. Bibliographia Franciscana. Index (wie Anm. 38), S. 587b (reiche Lit.); J. Vanpaemel: De dynamica van de Middeleeuwen. Franciscus Tittelmans en de dynamica aan de Leuvense Universiteit. Leuven 1979, vgl. dazu die Rezension in: Franciscana 35 (1980), S. 179f.; Costanzo Cargnoni (Hg): „Trattato delle sante meditazioni“ di Francesco Tittelmans di Hasselt. In: ders.: I frati cappuccini. Bd. 3/1. Perugia 1991, S. 249–264; J. Lucas Rodríguez: La espiritualidad de Francisco Tittelmans, OFMCap. In: Estudios Franciscanos 96 (1995), S. 229– 234; Stephan Meier-Oeser: Tittelmans, Frans. In: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 12. Herzberg 1997, S. 190–192 (Schriften u. Lit.); Mathijs Lamberigts: Titelmans [!], Frans. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 10. Freiburg/Br. u. a. 32001, Sp. 56 (Lit.). 51 Zum Verleger vgl. Schmucki: Fidelis von Sigmaringen (wie Anm. 36), S. 402, Nr. 1233, und ausführlicher bei Bonaventura Danza: Codici, Incunaboli, Cinquecentine. Roma 2010, S. 413f. 52 Sinn dieses eher seltenen Begriffs ist „spirituelle Festigkeit“; „raffermissement“ nach Albert Blaise und Henri Chirat: Dictionnaire Latin-Français des auteurs chrétiens. Turnhout 1954, S. 208b.

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Mino- / rum, sanctarum scripturarum apud Lo- / uanienses Praelectorem. / LVGDNI / Apud Theobaldum Paganum / 1550. // 11,6 x 7,5 cm, 296 + [8] (Index) + [63] S. (das Trinitäts-Offizium weist leichten Brandschaden auf ).

Auf dem Titelblatt: handschriftlicher Eintrag eines Vorbesitzers (Claudius Maillitur [?] / 1583). Am Fuß des Titelblattes: Loci Cappucinorum [!] Lucernae und roter Bibliotheksstempel bzw. aufgeklebter Zettel am rechten Rand: Biblioteca FF. Capucinorum Lucernae. – Das schmale Buch ist in Pergament ohne Bändel eingebunden. Hinweise auf L. Risi fehlen in ihm wie auch im ersten Bändchen. Man wird annehmen dürfen, dass Klementin Sidler sie aus dem späteren Bibliotheksbestand der Klosterbibliothek in Luzern ergänzt hat. Signatur in der UB: W 44; Catalogus, Nr. 89. Für den außerordentlichen Erfolg seiner Werke (sicher 197 Drucke im 16. Jahrhundert) weist De Troeyer auf drei erklärende Faktoren hin: 1) die systematische, enzyklopädische und klare Darlegung der theologischen Wissenschaften, die sich auf dem Stand der damaligen Forschung hielt; 2) der erhabene religiöse Geist, von dem seine Schriften durchdrungen sind; 3) seine Stellungnahme zum exegetischen Werk des Erasmus. Um jedoch ein Werturteil über das Gesamtwerk von Tittelmans aussprechen zu können, fehlen uns bislang noch fachmännische Einzeluntersuchungen.53

10. Ein Konvolut mit Frühdrucken, in dem nach dem Manuale curatorum des Johann Ulrich Surgant, Professor und Rektor an der Universität in Basel (um 1450–1503), Veröffentlichungen von Theologen vereint sind, welche die erste Phase des Armutsstreits54 betreffen. In der Sammlung befindet sich u. a. ein sehr wahrscheinlich unechter Brief des hl. Bonaventura. Eine dem Konvolut der Frühdrucke interne Sammelschrift trägt den Titel: GVILHERMVS EPISCOPVS / Parisiensis De collationibus / & pluralitate ecclesiasti- / corum benefi- / ciorum. / Albertus magnus De adherendo soli deo. / Sanctus Bonauentura ad fratres men[-] /dicantes, quales esse debeant erga pre- / latos & ecclesiarum rectores. //

Das Explicit lässt sowohl den Drucker Johannes Knobloch55 wie das Erscheinungsjahr 1507 erkennen: Habes hic dulcissime lector Guilhermum / Parisien. de beneficijs ecclesiasticis. Alber- / tum magnum: de adherendo deo. Et Bona- / uenturam. Ex primo doceberis auariciam: / et congeriem superfluam patrimonij christi / abijcere. Ex secundo mundum mundanis re- / linquere. Ex tertio: docentur religiosi pau- / pertatis professores suis contenti esse, & pa[-] / cem iuraque parochialium sacerdotum nequaquam / violare. Prodierunt haec foeliciter ad dei lau[-] / dem ex

53 Gieben: Franziskanische Literatur (wie Anm. 50), S. 176f. 54 Vgl. zum Hauptwerk A. M. Burg: Surgant, Johann Ulrich. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 9. Freiburg 21964, Sp. 1192; zum Armutsstreit vgl. Johannes Schlageter: Armut und Armenfürsorge. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 1. München u. a. 1980, Sp. 984–988, 987f. (Lit.); ders.: Armutsstreit. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 1. Freiburg/Br. u. a. 31993, Sp. 1014f. (Lit.). 55 Vgl. zu diesem Drucker Charles Schmidt: Zur Geschichte der ältesten Bibliotheken und ersten Buchdrucker zu Strassburg. Straßburg 1882, S. 126–129, 162.

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officina Ioannis Knoblouchi. An[-] / no salutis nostrae. M. D. vij [1507] kalen. Iulias. // Signatur in der UB: W 55; im Catalogus fehlt das Konvolut.

a) Im Zusammenhang franziskanischer Autoren interessieren hier direkt allein die vier Seiten des dem Seraphischen Lehrer sicher zu Unrecht zugeschriebenen Briefes: Incipit epistola sancti Bonauenture ad fratres / mendicantes, quales esse debeant erga prae- / latos & ecclesiarum rectores (Hiiij ff.) mit dem Incipit: In christo sibi charissimo fratri B. Iaucello [?] pro[-] uinciae ministro.56

Das Konvolut erschien beim Straßburger Drucker Johannes Knobloch dem Älteren (1472–1553). Wichtig ist sodann, dass Leonhard Risi dieses Konvolut zweifellos besaß, wie er auf dem Titelblatt des Manuale Curatorum anmerkt: Leonardus risy possidet librum 1571. Zudem kommentiert er auf dem Schutzblatt r und v die hier zusammengebundenen Texte mit seiner unverkennbaren Handschrift. b) Indirekt betrifft die Spannungen zwischen Weltklerus und den Mendikantenorden, mit besonderem Blick auf die Minoriten, die angebundene Schrift von nur 18 Seiten: Concordia curatorum: / et fratrum mendicantium / Carmen elegiacum deplangens discordiam & dis-/ sensionem christianorum cuiuscumque status dig[-] / nitatis aut professionis. //

Der Verfasser, Jakob Wimpfeling (1470–1528), verrät seinen Namen in der übertrieben unterwürfigen Widmung seiner Schrift an den Basler Bischof Christoph von Utenheim (1502–1527), in dessen Dienst er zeitweise stand,57 auf fol. aII: Reverendo mansuetissimoque in Christo / patri domino Cristofero Basiliensis eccle- / siae Antistiti domino clementi & vnice ob[-] / seruando Iacobus wympehlingius Sacrae / paginae licentiatus.

Die Schrift, der meines Wissens noch nie eine eigene Untersuchung gewidmet wurde, erschien nach dem Explicit in Köln 1506, „Septimo Jdus Agustij [!]“, beim Drucker Johannes Quentel.58 Der Einband, der anscheinend in früherer Zeit restauriert wurde, weist Wurmlöcher auf und hat die einzige Metallschließe verloren.

56 Distelbrink: Bonaventurae scripta (wie Anm. 36), dessen Sammlung sehr umfassend ist und die vorausgehende Forschung berücksichtigt, kennt diese Epistola nicht. Auch vom Provinzialminister „Jaucellus“ fand ich in den mir zur Verfügung stehenden Quellen keinen Beleg. 57 Vgl. zum Bischof in: Helvetia Sacra. Bd. 1. Bern 1972, S. 199f. (Quellen und Lit.); zum Verfasser: Dieter Mertens: Wimpfeling, Jakob. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 10. Freiburg/Br. u. a. 32001, Sp. 1220f. (Lit.). 58 Zum Drucker vgl. in meinem: Fidelis von Sigmaringen (wie Anm. 36), S. 406, Nr. 1239.

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11. Von Pelbartus Ladislai von Temesvár, OFMObs., besaß L. Risi zwei Werke, die an die UB in Luzern übergegangen sind, jedoch von Luzern an die Kapuzinerklöster Schwyz und Zug ausgeliehen waren. Über Leben und Wirksamkeit des ungarischen Franziskaners hat Gabriel Adriányi den meines Wissens gründlichsten Lexikonartikel veröffentlicht.59 Pelbartus, Sohn des Ladislaus, wurde um 1435 im südungarischen Temesvár (heute Timişoara in Rumänien) geboren. „Am 17. Dezember 1463 erlangte Pelbárt in Krakau den Titel eines theologischen Baccalaureus.“60 Wo er nach weiteren Studien zum „magister sacrae theologiae“ promovierte, ist nicht bekannt. Zwischen 1480–1483 weilte er im Observantenkloster Buda, wo er am dort gegründeten Generalstudium theologische Fächer dozierte. Als er während der Pestepidemie 1479–1481 schwer erkrankte, gelobte er, im Falle der Genesung zu Ehren der Gottesmutter ein Predigtwerk zu verfassen, was er in drei Jahren (1480–1483) vollendete. Weil in Ungarn keine Druckerei imstande war, die riesige Predigtsammlung zu drucken, hat der Augsburger Verleger Johannes Ryman das Werk in Hagenau bei Heinrich Gran 1498 drucken lassen.61 Pelbartus starb 1504 in seinem Kloster von Buda. a) Stellarium Corone benedicte / Marie virginis in laudes eius / pro singulis predicationibus / elegantissime coaptatum. // [handschriftlich: Leonardus Rissy Lucernensis possessor / Anno salutis nostrae 1579. Bibliotheksstempel: Biblioth. Cap. / Suitii. – Handschriftlich: Loci capucinorum (durchstrichen: Lucern.) Suitij. Signatur im Bibliotheksbestand von Schwyz in der Form eines Stempels: Bibliothecae Conv. / Lit. Q Form. Fol. / No. 22a / FF. Min. Cap. C]. – Explicit: Opus perutile in laudem gloriosissime virgi- / nis Marie pro singulis eius praedicationibus ele- / gantissime coaptatum. Stellarium corone eius- / dem virginis intitulatum: Impensis sumptibusque / prouidi viri Johannis Ryman: in imperiali op- / pido Hagnaw: per industrium Heinricum Gran / inibi incolam diligentissime impressum ac emenda- / tum. Finit feliciter Anno salutis notre Mille- / simo quingentesimo primo. Viij kl. Aprilis (1501). // Keine Foliierung. Eine spätere Hand schrieb 1–160 ff.

Hervorragender Erhaltungszustand von Einband und Buch, dem die Metallschließen erhalten geblieben sind. Sehr schön ist der Einband mit Blindpressung. Auf dem Titelblatt (rechts oben in der Schrift Risis): Cost: 10 Kro[nen]. – Signatur in der UB: W 63; Catalogus, Nr. 17. b) Pomerium Sermonum / Fratris Pelbarti de / Themeswar ordinis [: Rotdruck, mit Ausnahme des P als Initiale] / Minorum de observantia: sacreque pagi[-] / ne professoris dignissimi: opus vti- / lissimum, verbaque dei seminan[-] tibus materiam per anni / circulum copiosis- / sime mini- / strans. [Rechts und links der vorletzten Zeile: Leonardus Risij (durchstrichen) / 1578. le cal. Jun.] / Has quattuor partes continet. [handschriftlich zwischen dieser und der folgenden Zeile: Loci Capucinorum Suitij] / [Rotdruck:] De Tempore dominicales / [Schwarzdruck:]: De 59 Gabriel Adriányi: Pelbárt von Temesvár. In: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 7. Herzberg 1994, S. 174–178 (Lit.). 60 Ebd., S. 174. 61 Er war tätig zwischen 1489–1527.

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Sanctis / [Rotdr.:] Quadragesimale triplex. / [Schwarzdr.:] Stellarium beate virginis. / [Rotdr.:] Unicuique parti suus index adhibitus. [handschriftlich Name des Vorbesitzers: Jodoc. Huobschmid 1572 und weitere handschriftliche Einträge]. // Der Band erschien nach dem Explicit im Oktober 1515 und weist eine dreifache Foliierung (kleine, große und kleine Buchstaben des Alphabets) auf. 27,8 x 20,2 cm., 5 + [2] ff. und Buchstabenfolge.

Signatur: W 62; im Catalogus fehlt dieser Band. Der Buchtitel ist von einer ornamentalen Schmuckleiste aus Holzschnitten mit Engeln und zwei Wappen eingerahmt. Oberhalb des Leistens ist ein weiterer schwer zu lesender Name eines Vorbesitzers von 1553 handschriftlich eingetragen. Unten ist ein Blattstreifen: Loci FF. Capucinorum Tugij (Zug) aufgeklebt. Links davon: Bibliotheksstempel von Luzern. Vor dem Titelblatt ist als Schmutzblatt ein gedrucktes Blatt mit philosophischem Text umgekehrt eingeklebt. Der Einband weist Wurmlöcher auf und ist auf der Seite des Titelblattes vom Buchblock gelockert. Ähnlich fehlen die Metallschließen. Der Band, der viele Benützerspuren – einzelne Blätter sind ausgefranst – und handschriftliche Anmerkungen mit schwarzer oder roter Tinte aufweist, müsste restauriert werden. Mit der Drucklegung dieser für die damalige Zeit sehr bedeutenden Werke wurde Pelbárt mit einem Schlag international bekannt und galt nunmehr über drei Generationen hindurch in ganz Europa als Klassiker der Predigtliteratur, zumal seine Werke über hundert Jahre auch in Venedig, Straßburg und Paris immer wieder verlegt wurden und die unglaubliche Auflage von rund 114 [!] erreichten. Allein in Hagenau wurden sie innerhalb von sechs Jahren (1498–1504) einundzwanzigmal gedruckt.62

12. Es verbleiben noch drei weitere Werke des Predigers und Exegeten Johannes Wild zu besprechen, der ebenfalls zur Ordensfamilie der Observanten gehörte wie Fr. Pelbartus. Es handelt sich um Bände, die sicher zur UB zählen.63 Der in Mainz 1495 geborene FerusWild offenbarte sich schon früh als einer besten Prediger seiner Zeit. Seit 1537 gehörte er einer theologischen Kommission zur Vorbereitung des Konzils von Trient an. Er war auch von Protestanten wegen seiner geistigen Offenheit und Versöhnlichkeit geschätzt. Als Prediger legte er fast das ganze Neue Testament und – vom Alten Testament – die Psalmen und die historischen Bücher aus.64 Die Drucklegung seiner Schriften führte jedoch zu Zensuren durch die Pariser Universität Sorbonne (1551, 1559), besonders wegen seines als protestantisierend beurteilten Rechtfertigungsbegriffs. Johannes Wild starb in Mainz 62 Adriányi: Pelbárt (wie Anm. 59), S. 175f. Für die in deutschsprachigen Kapuziner-Bibliotheken aufbewahrten Inkunabeln vgl. Sidler: Verzeichnis (wie Anm. 18), fol. 87r–88v. 63 Vgl. den ebenso ausführlichen wie ausgezeichneten Artikel von Heinz-Meinolf Stamm: Wild (Jean; Ferus, frère mineur, 1495–1554). In: Dictionnaire de spiritualité, ascétique et mystique. Bd. 16, Sp. 1435–1441. Frühere Literatur kann eingesehen werden in: Collectanea Franciscana. Bibliographia Franciscana. Index (wie Anm. 38), S. 616. 64 Bei Stamm (wie Anm. 63), Sp. 1439–1441, sind seine Schriften und Sp. 1441 die neuere Literatur aufgelistet.

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am 8. September 1554. Eine 1562 purgierte Neuausgabe des Johannes-Kommentars verhinderte leider nicht, dass alle Werke auf den Index der verbotenen Bücher kamen und es bis 1900 („usque ad emendationem“) blieben. Seine Schriften zeichnen sich durch eine tiefe Spiritualität im Bereich von Predigt, Rechtfertigung, Kirche und christlichem Leben aus. a) POSTILLAE SIVE CONCIONES / REVERENDI PA- / TRIS D. IOANNIS FERI METRO- / POLITANAE MOGVNTI- / NAE CONCIONATORIS ABSOLVTISSIMI: / Euangelicae veritati atque Catholicae religioni con- / sonam doctrinam continentes, in / Epistolas & Euangelia quae ab Aduentu ad Pascha / vsque in Ecclesia Christi legi / consueuerunt. / [handschriftliche, aber durchstrichene Angabe eines Vorbesitzers] / Ad singulas dominicas decem Sermones peculiares attributi, & / vt in aede Moguntina predicati, sic nunc in istum or- / dinem redacti, & iam primùm Lati- / nitate donati: per / M. IOANNEM GVNTHERVM.65 / Cum noua ipsius Autoris commendatoria ad Lectorem praefatione, / qua vnicam hanc translationem legitimam, veram, ac / genuinam & agnoscit & commendat. / I. CORINTH. III. / Tanquam paruulis in Christo, lac vobis potum dedi, / non escam. / IBIDEM: / Fundamentum posui, alius superaedificet. / Cum privilegio Caes. Maiest. ad octennium. / COLONIAE / Apud haeredes Arnoldi Birckmanni, / Anno M. D. LVIII (1558). // 29,8 x 19,8 cm, [15] S. + 297 ff. (in arabischen Ziffern), schöne Holzschnitte und Initialen.

Im Band sind öfter handschriftliche Einträge von Lesern in schwarzer Tinte zu sehen. Der Erhaltungszustand des Einbands in Pergament und des Buches selber ist gut. Dieser Band – wie übrigens die anderen zwei auch – öffnen und schließen sich mit schmalen leinenen Bänder. Wichtig anzumerken ist, dass in diesem und in den zwei noch anzuzeigenden Bänden der Besitzervermerk L. Risis fehlt. Ich nehme an, dass Klementin Sidler diese Werke aus dem späteren Luzerner Bibliotheksbestand der UB hinzugefügt hat, weil sich die ursprünglichen Exemplare leider nicht erhalten haben. Zur Druckerfamilie Birckmann sei verwiesen auf mein Fidelis-Buch.66 Signatur in der UB ist: W 65; Catalogus, Nr. 62. b) POSTILLAE SIVE CONCIONVM / REVERENDI PATRIS / D. IOANNIS FERI, METROPO- / LITANAE MOGVNTINAE CONCIONA- / TORIS ABSOLVTISSIMI. / SECVNDA PARS, / Euangelicae veritati, atque Catholicae religioni conso- / nam doctrinam continens,67 in Epistolas & Euan- / gelia, quae à Pascha vsque ad Aduentum, / Dominicis diebus in Ecclesia Chri- / sti recitantur / [rechts von Chri- und nach recitantur getilgter und unlesbarer Besitzervermerk] / IAM PRIMVM LATINITATI DONATA PER M. / Ioannem Guntherum. / HEBR. V. / Facti estis ij. quibus lacte opus sit, & non solido cibo. / PSALM. XXXIII. / Venite filij, audite me, timorem Domini docebo vos. / Cum Gratia & Priuilegio Caes. Maiest. Ad octennium, & 65 Leider ist es mir nicht gelungen, die Lebensdaten des Latinisten Johannes Günther zu bestimmen. Nach dem Widmungsbrief in Bd. 2 (= b), S. [7], war er 1557 in der Kirche der heiligen Petrus und Alexander in Aschaffenburg Prediger. 66 Schmucki: Fidelis von Sigmaringen (wie Anm. 36), S. 420, Nr. 1262. 67 Hier spürt man eine gewisse Besorgnis des Verfassers, dass seine Schrift von Lesern als nicht voll katholisch verstanden werden könnte.

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Henrici Chri- / stianiß. Gallorum Regis ad annos novem. / COLONIAE AGRIPPINAE, / Apud haeredes Arnoldi Birckmanni.68 / Anno M. D. LVIII (1558). // 29,5 x 19,5 cm, [11 S.] + 381 ff. (in arabischen Ziffern), S. [11]: nicht gezeichnete Darstellung des Gekreuzigten.

Im Band finden sich Initialen mit Holzschnitten und persönliche Anmerkungen von Lesern an Buchrändern in roter und schwarzer Tintenschrift. Am mit Pergament eingebundenen Buchende, auf der Rückseite des 1. Schmutzblattes: handschriftlicher Eintrag des früheren Besitzers. Am Buchrücken des Pergamenteinbandes stellt man leichtere Schäden fest. c) POSTILLA DE SANCTIS / IN FESTIS SANCTO- / RVM, QVORVM AB ADVEN- / TV VSQVE AD PASCHAE FESTVM / IN CATHOLICA ECCLESIA CELEBRA- / TVR MEMORIA. / Ad simplicis Christiani populi commodum, vsum & / consolationem, in Metropolitana Moguntina per / Reuverendum D. Ioannem Ferum Concio- / natorem pronunciata, & in hanc / formam redacta: / [rechts und unter redacta: durchstrichene Vorbesitzer] DEINDE PER D. IOANNEM A VIA69 SS. THEOLOGIAE / studiosum Christianae Reip. bono Latina facta. / DEVT. XXXII. / Memento dierum antiquorum, cogita generationes singulas. Interroga pa- / trem tuum, & annunciabit tibi: maiores tuos, & dicent tibi. / HEBR. V. / Facti estis ij, quibus lacte opus sit, & non solido cibo. / PSAL. XXXIII. / Venite paruuli, audite me, timorem Domini docebo vos. / Cum priuilegio Caes. Maiest. ad octennium. / MOGVNTIAE, / Apud Franciscum Behem,70 / Anno M. D. LX (1560). // 29,9 x 19,9 cm, [III] Seiten Schmutzblätter; auf S. [Ir], Zeichnung und Inschrift), [8] S. + 64 ff. + (in dem – mit demselben Titelbl. – angebundenen 2. Bd.): [7] S., + 113 ff, [III] unbedruckte Schmutzblätter. – Auf S. [I] Schmutzbl.: Zeichnung mit Inschrift: „Deus dat verbum euangelizantibus / virtute multa“.

Auf fol. 1v: Wappen des Stifters der Drucklegung: Fürsterzbischof Sebastian von Heusenstamm (1545–1555), dem auf fol. 2r/v der Verfasser 1554 einen Widmungsbrief schreibt. Im angebundenen Band S. [7]: schönes Bild des Gekreuzigten mit Maria und Johannes. Der Einband aus Pergament erlitt vom anscheinend häufigen Gebrauch nicht unbedeutende Schäden und müsste dringend restauriert werden. Die zwei Predigtbände weisen viele handschriftliche Einträge von Benützern auf. ******** Weil der vorausgehende Beitrag nur einen Ausschnitt der UB zum Gegenstand bibliographischer Beschreibung hat, sind keine definitiven Folgerungen möglich.

68 Zum Drucker vgl. oben Anm. 66. 69 Vgl. A. Franzen: Johannes a Via (zum Wege), Kontroversist. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 5. Freiburg 21960, Sp. 1094f.: um 1520–1582 (?). 70 Zum Verleger Behem in Mainz vgl. Christoph Reske: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzig. Wiesbaden 2007, S. 593.

Die Urbibliothek im Kapuzinerkloster Luzern

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1. Die Kapuzinerbibliothek Wesemlin in Luzern besitzt meines Wissens unter allen Bibliotheken des Ordens allein eine Urbibliothek: einen ansehnlichen Teil der 96 Bände, die der Klosterstifter Ritter Kaspar Pfyffer 1585 vom Vorbesitzer Leonhard Risi, Willisau, gekauft und der Ordensgemeinschaft geschenkt hat. 2. Leider hat der verdiente Mitbruder und Bibliothekar Klementin Sidler meines Wissens keinen Bericht hinterlassen, nach welchen Grundsätzen er die UB zu rekonstruieren versucht hat. 3. Bei einer umfassenden Beschreibung aller in Vitrinen der neueren oder modernen Klosterbibliothek aufbewahrten Bände dürfte ein Vergleich mit dem von Beda Mayer edierten Catalogus ergeben, wie weit es dem Provinzbibliothekar von damals gelungen ist: a) die Anzahl der mit dem eigenhändigen Besitzvermerk Leonhard Risis versehenen Bände aufzufinden; b) auf jene Bücher hinzuweisen, die zwar mit Angaben des Catalogus übereinstimmen, jedoch nicht als ursprüngliche Exemplare angesehen werden dürfen. c) Es ist vorauszusehen, dass einige Werke aus dem Catalogus fehlen, weil sie verloren gingen, zum Beispiel beim Dorf- und Klosterbrand von Altdorf 1799, oder im Bücherbestand der deutschsprachigen Kapuziner-Bibliotheken der Schweiz nicht aufgefunden werden konnten. 4. Beim Themenkreis, den ich für meinen Beitrag auswählte, ist sehr zu bedauern, dass das Exemplar Biblia Thüdtsch: Catalogus, Nr. 1, nicht erhalten geblieben ist. Mein Versuch, dasselbe zu identifizieren, bleibt im Bereich einer gewissen Annäherung. 5. Der Umfang ausschließlich biblischer Werke in der UB mag auf den ersten Blick als ziemlich bescheiden erscheinen. Immerhin sei nicht übersehen, dass sich vorherrschend biblisch ausgerichtete Bücher auch in der Rubrik über Werke franziskanischer Verfasser vorfinden. Leider scheint Klementin Sidler entgangen zu sein, dass der Catalogus von einer Biblia recognita a Doctore Pari spricht (Nr. 7). Was der Klosterstifter Kaspar Pfyffer genau darunter verstand, konnte ich leider nicht herausfinden. Meine Vermutung geht dahin, dass es sich dabei um eine durch einen Philologen oder Exegeten mit Namen Pari verbesserte Ausgabe der Vulgata handelt. Ebenfalls konnte begreiflicherweise das Psalterium in pergament (Nr. 92) nicht eruiert werden. 6. Die relativ hohe Anzahl von Schriften, die auf franziskanische Verfasser zurückgehen, lässt vermuten, dass Leonhard Risi gute Beziehungen mit dem Minoritenkloster (OFMConv.) in Luzern unterhielt. Dies erscheint mir aus dem Besitz der sympathischen Sammlung: Speculum beati Francisci et sociorum eius (UB, Signatur: W 34) besonders klar hervorzugehen. Es stellt sich die Frage, ob Risi im Franziskanerkloster Luzerns einen Minoriten als Freund hatte, der ihm dieses Buch aus Italien vermittelte. War er vielleicht zuvor sogar Kandidat oder Novize der Minoriten? 7. Die weiteren Werke franziskanischer Autoren weisen darauf hin, dass Risi an der Auseinandersetzung mit den Reformatoren, besonders mit Martin Luther, interessiert war. Immerhin handelt es sich immer um Schriften, die sich zwar theologisch klar auf katholischem Boden bewegen, aber im Ton moderat sind. So fehlen in seiner Bibliothek – soweit

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P. Oktavian Schmucki

ich in meiner bisherigen Nachforschung feststellen konnte – Schriften des Minoriten und harten Polemikers Thomas Murner (1475–1537). 8. Schon aus den vorausgehenden Andeutungen dürfte der herausragende Wert der Büchersammlung in der UB hervorgehen, handelt es sich doch um Postinkunabeln („Cinquecentine“) und in einzelnen Fällen gar um Inkunabeln. Ebenso klar ergibt sich, dass die UB künftig in einem Schutzraum gesondert dieb-, feuchtigkeits- und feuersicher aufbewahrt werden müsste, zumal sie im Kapuzinerorden meines Wissens einzig dasteht. 9. Ein Desiderat an die kommende Forschung lautet, dass die handschriftlichen, teilweise längeren Kommentare des Vorbesitzers einzelner Werke, Leonhard Risi, näher untersucht werden. Dies würde dazu beitragen, seinen Bildungsstand und seine humanistisch-theologische Ausrichtung deutlicher zu umschreiben. Aus Gründen der Gerechtigkeit darf das Urteil des Historikers über sein Leben nicht allein von seinem wenig eifrigen Einsatz in der Seelsorge, seinem Zusammenleben mit einer Konkubine, seiner Heirat und dem nicht sehr überzeugten Übertritt in die reformierte Konfession bestimmt bleiben!

Cecilia Muratori (München)

Sutores ultra crepidam Die Debatte über Schwärmerei und Schusterei im Anschluss . an Jakob Böhme*

Einleitung . „nim einen Schuh in die Hand / und nicht die Feder“ Im März 1624 erschien „auf einem Bogen Papier“ eine kurze Schrift auf Latein, in der der Primarius Gregorius Richter seine volle Ablehnung der „fanatischen Bücher“ des „enthusiastischen Schusters“ Jakob Böhme ausdrückte.1 Im Zentrum des Angriffs von Seiten * Die ursprüngliche Idee, aus der dieser Aufsatz entwickelt wurde, ist in einigen Gesprächen mit Hanspeter Marti entstanden, für die ich ihm dankbar bin. 1 Siehe die Nota vor Böhmes Apologia contra Gregorium Richter in der Ausgabe 1715 der Theosophia revelata: Jakob Böhme: Theosophia Revelata. Das ist: Alle Göttliche Schriften des Gottseligen und Hocherleuchteten Deutschen Theosophi Jacob Böhmens [...]. 2 Bde. [Hamburg] 1715, Bd. 1, S. 2093–2132, hier S. 2093–2094. Weitere Details zu Richters Schrift, die aus drei kurzen Texten in Versen besteht, enthält die Nota vor Böhmes Apologia contra Gregorium Richter in der Ausgabe 1730 der Theosophia revelata: ders.: Apologia contra Gregorium Richter, oder Schutz-Rede wieder Gregorium Richter, Ober-Pfarrer zu Görlitz [...]. In: ders.: Sämtliche Schriften. 11 Bde. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730. Neu hg. von Will-Erich Peuckert. Stuttgart 1942–1961, hier Bd. 5, S. 347. Vgl. auch Böhmes Interpretation von Richters Angriff in einem Brief an Martin Mosern: „Das Geschrey, welches zu euch kommen ist, ist nichts als nur eine Pharisäische Schmähung, mit einem Ehren rührischen, lügenhaften Pasquille in lateinischer Sprache gewesen, auf einem Bogen Papier; darinnen der Satan hat das Pharisäische Hertze entblösset, welches durch Gottes Zulassung also ist geschehen, daß die Leute sollen den Gift dieses Pharisäischen Hertzens lernen kennen und fliehen“ (Epistolæ Theosophicæ, oder Theosophische Send-Briefe [...]. In: ders.: Sämtliche Schriften, Bd. 9, S. 208). Hier verwendet Böhme die gleiche Argumentation, die er auch als Erklärung der Tatsache angewandt hatte, dass seine erste Schrift, Morgenröte im Aufgang, nicht, wie geplant, ein Memorial für sich selbst blieb, sondern auf Interesse von Seiten eines Publikums von Lesern stieß: In dieser Hinsicht dienten die Hinderungen letztendlich dem Erfolg seiner Schriften, vgl z. B. Theosophische Send-Briefe, S. 30; siehe auch ebd., S. 209: „Aber wisset dieses zur Nachricht, daß seine Schmähung und Lügen nur mein Büchlein ( = „von der Buß und wahrer Gelassenheit“ [Der Weg zu Christo], ebd.) hat publiciret und offenbart, daß es ietzo fast iedermann, Adel und Gelehrten, auch einfältige Leute, begehren zu lesen und sehr lieb haben; welches Büchlein in kurzer Zeit ist fast durch gantz Europa erschollen und kommen, und sehr geliebet wird […]“. Zu Böhmes Auseinandersetzung mit Richter siehe Alexander Koyré: La philosophie de Jacob Boehme. Paris 1929, S. 52–59.

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Richters steht die Vorstellung, dass ein Schuster nicht schreiben, sondern eben Schuhe machen soll: Die Schrift endet deswegen mit der Warnung, dass ein Schuster einen Schuh in der Hand, aber keine Feder zum Schreiben halten soll („Calceus in manibus sit tibi, non calamus“2). Der Beruf, den Böhme einige Jahre seines Lebens ausübte,3 spielt in diesem Kontext eine entscheidende Rolle, da er laut Richter am klarsten die fehlende Eignung des Autors verdeutlicht, sich mit göttlichen Dingen zu beschäftigen. Andere ähnliche Berufe werden in der polemischen Schrift auch erwähnt, da Richter schreibt, dass Gott nicht ertragen wird, dass unter anderen Schuster, Gerber und Schneider4 ihm seine Ehre und Ewigkeit rauben. Die Betonung liegt aber eindeutig auf dem Schuster und dessen Utensilien, die Richter im Rahmen seines rhetorischen Diskurses als Merkmale des Schmutzes verwendet, der metaphorisch auf den Inhalt der Bücher des Schusters übertragen wird. So ist das blasphemische Buch des Schusters („liber sutorius“5: die Rede ist insbesondere von Der Weg zu Christo, eine Sammlung kurzer Schriften, die 1624 erschienen war)6 vom „Schuster-Pech“ besudelt, da es das Produkt einer schmutzigen Schuster-Werkstatt ist. In dieser Hinsicht erscheint als besonders wichtig, dass der Autor dieses Büchleins im Laufe der Schrift nie mit seinem Namen erwähnt wird: Er ist einfach „der Schuster“. Der Schus-

2 Gregorius Richter: Judicium Gregorii Richteri Gorlicii, Ministri Ecclesiæ patriæ primarii, de Fanaticis Sutoris Enthusiastici Libris: quorum tituli sunt: 1. Morgen Röthe im Auffgange. 2. Der Weg zu Christo. 3. Von wahrer Busse, ad avertendas sinistras de Ministerio Gorlicensi suspiciones. Görlitz 1624, S. 5 (unpaginiert). 3 Vgl. Koyré: La philosophie de Jacob Boehme (wie Anm. 1), S. 12, 51. Siehe auch Andrew Weeks: Boehme: An Intellectual Biography of the Seventeenth-Century Philosopher and Mystic. Albany 1991, S. 42. 4 Es ist besonders interessant, dass auch Frauen in dieser Gruppe aufgelistet werden: Richter: Judicium (wie Anm. 2), S. 1 (unpag.): „Nam vindicabit gloriam suam Deus / Miraculosè: æternitatem nec sibi / Suam eripi patietur à fanaticis / Sutoribus, cerdonibus, sartoribus, / Uxoribus, Pastoribus, Doctoribus.“ 5 Richter: Judicium (wie Anm. 2), S. 1 (unpag.): „Quot continentur lineæ: blasphemiæ / Tot continentur in libro Sutorio: / Qui nil, nisi picem redolet Sutoriam, / Atrum & colorem, quem vocant Sutorium. / Pfuy, pfuy. teter sit fœtor à nobis procul.“ Die deutsche Übersetzung, die nicht von Richter angefertigt wurde, ist der 1715er Ausgabe von Böhmes Werken hinzugefügt, vgl. ders.: Theosophia revelata (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 2094; sie lautet: „So viel Zeit sind / so viel sind GottesLästerungen in des Schusters Büchern zu finden; welche nach nichts als nach Schuster-Pech / und nach der garstigen so genannten Schu-Schwärze stinken: Pfuy / pfuy / dieser greuliche Gestank sey ferne von uns.“ 6 Siehe dazu auch das Memorialbuch der Stadt Görlitz, 23. März 1624: „Wegen des hiesigen Schusters, Jochen Boehmens genandt ist dedicirt das wegen vielfältigen Klagens der bösen angeblichen Lehr halber, er möchte vorm Rath gefordert und ihm sein Stab fürder zu setzen auferlegt worden.“ Dazu ebd., 26. März 1624: „Jochen Boehme der Schuster vndt verwirrte Enthusiast oder Phantast spricht, er habe das Buch zum ewigen Leben angefertigt aber solches nicht trucken lassen […]“, zitiert nach: Koyré: La philosophie de Jacob Boehme (wie Anm. 1), S. 1.

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ter ist der Antichrist7 und soll aus der Stadt Görlitz vertrieben werden, da er schmutzige Schuster-Bücher voll von Gotteslästerungen schreibt und man sich vor ihm und seinen Schülern hüten soll.8 Mit anderen Worten, der Beruf Jakob Böhmes und seine Bücher scheinen in der Schrift Richters nicht mehr trennbar zu sein: Der eine spiegelt sich in den anderen wider, und damit wird eine tiefe Verbundenheit erstellt, die zu dem Schluss führt, dass der Schuster mit Schuhen und nicht mit Schreibutensilien arbeiten soll. Auf den folgenden Seiten soll gezeigt werden, dass ebendiese Verbindung zwischen dem Beruf des Schusters und seiner literarischen Produktion letztendlich zur Entwicklung einer standardisierten Figur des schwärmerischen Schusters führt, in der die Biografie des Autors oder der exakte Inhalt der Bücher keine bedeutende Rolle spielen. Aus der Identifikation des schwärmerischen Autors mit seinem spezifischen Beruf ergibt sich somit eine komplette Trennung: Dieser Beruf, und kein anderer, drückt aus, was man von dem Inhalt der Reden oder Schriften eines Schusters erwarten soll. Der Zusammenhang der Schusterei mit der Schwärmerei tritt somit ins Zentrum des Diskurses, und darüber hinaus kristallisieren sich gewisse Merkmale heraus, die die Schuster als Kategorie gemeinsam haben. Jakob Böhme ist in diesem Kontext ein exemplarisches Beispiel, aber sicher nicht das einzige.9 Im Fall des mystischen Schusters aus Görlitz kann man aber besonders deutlich beobachten, wie im Laufe des siebzehnten bis zum Beginn des achtzehnten Jahrhunderts dieses Detail aus seinem Leben immer mehr an Wichtigkeit gewann. Ebendieses Detail vergrößert sich in der englischen Rezeption Jakob Böhmes wie unter einer Lupe. In der Tat erschien im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts eine große Vielzahl von oft anonymen Schriften, die die Figur des schwärmerischen Schusters zum Gegenstand haben und in denen häufig jegliche Relation zur Biografie eines besonderen Schusters verloren gegangen ist. Während im ersten Teil dieses Aufsatzes rekonstruiert wird, welche Bedeutung Böhme und seine Widersacher (insbesondere Richter) dem Beruf des Schusters zuschreiben, wird im zweiten Teil untersucht, wie die standardisierte Figur des enthusiastischen, gefährlichen Schusters entsteht und durch welche Eigenschaften genau sich diese profiliert. Darüber hinaus wird darauf aufmerksam gemacht, in welcher Hinsicht die Geschichte Jakob Böhmes im Hintergrund einiger exemplarischer englischsprachiger Schriften des siebzehnten Jahrhunderts steht und inwieweit diese Schriften sich vom Lebenslauf des berühmten Schusters aus Görlitz verabschiedet haben. So wird zum Beispiel durch die Re7 Vgl. Richter: Judicium (wie Anm. 2), S. 2 (unpag.). Dazu siehe auch Weeks (wie Anm. 3), S. 211: „Richter denounced his opponent as the ‚shoemaker Antichrist‘, as a purveyor of the poisonous Arian heresy that had caused the Near East to turn away from Christianity. The accusation played on popular fears of the Turks and heresies, of magic and sorcery, all of Near Eastern origin.“ 8 Vgl. Richter: Judicium (wie Anm. 2), S. 4 (unpag.): „Discipulumque ejus, quisquis sit, Nobilis, aut sit / Doctor, seu Sartor, Vir Muliervé, cave.“ 9 Ein weiteres, wichtiges Beispiel ist natürlich Hans Sachs, den ich aber in diesem Aufsatz nur am Rande erwähne.

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zeption Böhmes im Kontext der quäkerischen Bewegung die Aufmerksamkeit auf den Beruf des Schusters gelenkt, da betont wird, dass auch George Fox als Schusterjunge gearbeitet hatte. Indem die englische Rezeption Böhmes aus dieser spezifischen (und selbstverständlich sehr begrenzten) Perspektive in Betracht gezogen wird, wird es auch möglich zu verstehen, warum Jakob Böhme und George Fox häufig nebeneinander gestellt werden, nicht nur in englischen, sondern auch in deutschsprachigen Hochschulschriften aus der Zeit des späten siebzehnten bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, unter anderem in einer Exercitatio historico-moralis de sutoribus fanaticis (1730), die eine Anzahl an Details zur Figur des schwärmerischen Schusters enthält.10 Durch die englische Rezeption und Überarbeitung des Schustermodells war nämlich die Definition des schwärmerischen Schusters verstärkt in den Vordergrund getreten. Die Leitfragen, die die Rekonstruktion der Entstehung dieses Modells, von Deutschland nach England und zurück, begleiten, sind deshalb die folgenden: Wofür steht, im Anschluss an die Geschichte Böhmes, die Schusterei? Mit anderen Worten, was ist so Besonderes nicht nur an dem Schuster Jakob Böhme, sondern an allen Schustern, dass sie dazu tendieren, gewisse Merkmale aufzuzeigen und insbesondere diejenigen, die Gregorius Richter dem Schuster aus Görlitz vorgeworfen hatte, nämlich dass er sich nicht mit seiner Arbeit begnügte, sondern über die Produktion von Schuhen hinaus gehen wollte?

I. Die Larve der Schusterei In seiner Apologia, oder Schutz-Rede wider Gregorium Richter versucht Jakob Böhme Schritt für Schritt, Zeile für Zeile, auf Richters polemische Anklagen zu antworten. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Schusterei in Böhmes Schrift keine zentrale Rolle zu spielen scheint: Offensichtlich zeigt Böhme kein besonderes Interesse daran, sich als Schuster zu portraitieren, und versteht Richters Betonung dieses Berufs lediglich als rhetorisches Spiel. Auf Richters Ermahnung („nim einen Schuh in die Hand / und nicht die Feder“)11 erwidert Böhme zum Beispiel folgenderweise: „Christus spricht: Wenn sie euch fluchen, so segnet ihr, so seyd ihr Kinder des Höchsten Gottes“.12 Statt sich direkt über die spezifische Aufforderung zu äußern, argumentiert Böhme auf einem anderen Niveau und versteht Richters Angriff einfach als Fluch, dem, nach Christus’ Beispiel, mit dem Segnen zu antworten sei. Die Begründung dieser Vorgehensweise hatte Böhme schon früher im Text erläutert, als er sich gegen Richters Vorwurf zu schützen versucht hatte, dass der Schuster, 10 Jeremias Friderici (Präses) / Adam Sigismund Bürger (Respondent): Exercitatio historico-moralis de sutoribus fanaticis [...]. Leipzig 1730. 11 Zitat nach der deutschen Übersetzung von Richters Judicium, in: Böhme: Theosophia revelata, 1715 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 2098. 12 Böhme: Apologia contra Gregorium Richter. In: ders.: Sämtliche Schriften (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 392.

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im Gegensatz zu Christus, sich „an seinen Titeln erfreue“ und letztendlich, dass er „einen Doctor und neuen Propheten heissen“ wolle.13 Böhmes Antwort ist im Kontext dieser Untersuchung zur Rolle des Schusters höchst bedeutend: Er schreibt, dass man es nicht glauben soll, [...] wenn der Herr Primarius dem Schuster Titel gibt, und heist ihn einen Ketzer, Schwärmer, Narren, Phantasten, Enthusiasten, losen Mann, einen meineidigen Schuster, und dergleichen mehr; es sind nur solche angestrichene Namen, gleich einer Larve, die ihm der Teufel anstreicht, daß er mit ihm im Streit stehet: Es ist nicht gut alles glauben, und ob es gleich der Hohe-Priester sagt, man wird betrogen, denn grosse Leute fehlen auch.14

Die Anklage, dass er ein „meineidiger Schuster“ sei, stellt Böhme auf die gleiche Ebene wie andere seiner Meinung nach ebenso sinnlose Vorwürfe, nämlich dass er ein Ketzer, Schwärmer, Narr, Enthusiast und loser Mann sei. Es handelt sich in allen Fällen um leere ‚Titel‘, oder Namen, die laut Böhme keinen Bezug zur Realität haben, wie eine Larve, „die ihm der Teufel anstreicht.“ Ironisch fährt Böhme dann fort, dass der Grund für diese Aggressivität möglicherweise in der folgenden Erfahrung liegt: [...] der gute Herr ist irgent einmal bey einem Schuster gewesen, welcher etwan hat die Schwärtze gerühret, die ihn angestuncken hat, davon hat er sich also sehr entzürnet, daß er meinet, dieser Schuster rieche noch immer nach derselben Farbe, deswegen ist er dem Schuster-Titel also gram: vielleicht ist ihm auch irgend einmal Schuster-Pech blieben an seinen Händen hangen, das ihm hat verdrossen, deswegen gibt er dem Schuster solche greuliche Namen, daß er noch darüber zornig ist [...].15

Hier spielt Böhme mit der Assoziation zwischen der Arbeit als Schuster und dem Schmutz, der laut Richter seine Schriften charakterisiert. In Wahrheit aber – so kann man Böhmes Antwort lesen – sind auch die Vorwürfe, die auf der Schusterei basieren, nicht mehr als bedeutungslose Namen ohne Inhalt. Der Bezeichnung ‚Schuster‘ darf deswegen keine besondere Rolle zugeschrieben werden; und in der Tat fordert Böhme seine Leser auf, über diese und ähnliche willkürliche Definitionen hinaus zu schauen, indem er das folgende Beispiel verwendet: [...] so man also von einem Hause ins andere gehet, so sagen die Leute, da kommt ein Narr herein, und dörfte mancher noch wol sagen, es wäre der Teufel. Aber es ist nicht alles wahr, die

13 Richter: Judicium (wie Anm. 2), S: 3 (unpag.): „Non voluit Christus sibi sumere Regis honorem: / Sutor, si posset, Rex foret atque deus. / Non cupiit titulos & inania nomina Christus: / At Sutor titulis gaudet ovatque suis. / Nomine contentus Christus fuit ipse Magistri: / Hic Doctor dici vultque Propheta novus“. 14 Böhme: Apologia contra Gregorium Richter (wie Anm. 1), S. 385. 15 Ebd.

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Leute geben ihm nur solche Titel, weil sie solche Bildnisse annehmen, hernach werden sie wieder Menschen, wenn sie die Larve wegthun [...].16

Die Larve abschaffen, heißt dann, sich von solchen Bezeichnungen zu verabschieden, da sie nichts Substantielles ausdrücken. Die Erklärung Böhmes ist letztendlich sehr einfach: Man soll nicht alles glauben, was die Leute sagen. Die Titel, die Gregorius Richter ihm zuschreibt – unter anderem, dass er ein „meineidiger Schuster“ sei, der nicht bei seiner Arbeit geblieben ist – sind in dieser Hinsicht nicht als ernste Kritik anzunehmen, weil sie nur an die Hülle, und nicht an den Inhalt, gerichtet sind.17 In der Tat bleibt die Tendenz, sich nicht in die „Larve“ des Schusters einsperren zu wollen, auch in anderen Schriften Böhmes erhalten, so dass man behaupten kann, dass das Portrait Böhmes als Schuster, das auch ikonografisch erfolgreich war,18 hauptsächlich aus anderen Quellen als aus Böhmes Schriften entstand. Eine Quelle wurde gerade erwähnt, nämlich Richters polemischer Angriff, in dem die Schusterei der rote Faden der Argumentation ist. Eine andere Hauptquelle ist der Bericht über Böhmes Leben, dargestellt von Abraham von Franckenberg, in dem wundervolle Geschichten erzählt werden, die in der Werkstatt des Schusters stattgefunden hätten.19 In Franckenbergs Bericht wird dadurch eine Verbindung hergestellt zwischen den wundervollen Ereignissen in Böhmes Leben und dem Ort, an dem er seinen Beruf praktizierte. In beiden Fällen handelt es sich aber um Interpretationen der Figur des Schusters, die nicht direkt auf Böhmes Selbstportrait beruhen, das aus seinen Schriften hervorgeht. Wie auch in der Schutz-Rede gegen Richter insistiert Böhme stattdessen auf den Parallelen zwischen der eigenen Verfolgung und der Verfolgung Christi: In dieser Verbindung, und nicht im Beruf des Schusters, liegt für Böhme eine wichtige Begründung seiner Identität. Über den Beruf, den man für den Lebensunterhalt ausübt, schreibt Böhme sehr deutlich in den Vierzig Fragen von der Seelen: „Du bist in der Welt: hast du einen redlichen 16 Ebd. 17 Dazu vgl. auch den folgenden Brief an Tobias Kober, in dem Böhme sich nochmals mit Richters Schuster-Bezeichnung befasst: „Ich hoffe noch, es wird bald die Zeit der grossen Reformation kommen, da man sie auch wird reformiren, und heissen Christum, und nicht Schuster-Pech und Schwärtze, lehren, und Christi Kinder lästern. Er komme nur zu Dreßden in Buchladen, er wird die neue Reformation genug sehen […]“, Böhme: Theosophische Send-Briefe (wie Anm. 1), S. 242. Böhme schreibt diesen Brief, während er sich in Dresden aufhält, wo er „von vornehmen Leuten am Churfürstlichen Hofe [...] auf ein Gespräche erbeten worden“ war, wie er an Friedrich Krausen schreibt (vgl. ebd., S. 230). 18 Siehe z. B. Weeks: Boehme: An Intellectual Biography (wie Anm. 3), S. 12f. 19 Die Rolle von Franckenbergs Biografie im Rahmen der Entstehung des Schustermodells wird im Folgenden nicht untersucht, weil sie eine parallele Geschichte zu derjenigen ist, die in diesem Aufsatz rekonstruiert wird. Siehe darüber Cecilia Muratori: „Tanta verborum confusione“. Die Rezeption von Franckenbergs Bericht durch Arnold und Mosheim. In: Offenbarung und Episteme. Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Friedrich Vollhardt und Wilhelm Kühlmann. Berlin / New York 2012, S. 435–449.

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Beruff ohne Falschheit, bleibe darinnen, wercke, arbeite, wirbe alsdann, als es die Nothdurft erfordert [...]“.20 Im Rahmen der Antwort auf die Frage „Wie der Seelen Erleuchtung sey?“21 erklärt nämlich Böhme, dass die Seele in dieser Welt und zugleich in Gott sei22 und dass es deswegen wichtig sei, im Leben einen einfältigen Beruf auszuüben, durch den man sich nicht mehr als das Nötige verschafft.23 Dem Beruf des Schusters kommt natürlich in diesem Kontext keine besondere Funktion hinzu, sondern jeder Beruf ist geeignet, um in dieser Welt Demut vor Gott zu praktizieren.24 Ähnlich hatte Luther in der Weihnachtspostille in Bezug auf den Brief des Paulus an die Galater, 3, 23–29, argumentiert. Nicht nur hatte Luther hier behauptet, dass nur der Glaube an Christus, und kein spezifischer, menschlicher Beruf, es ermöglicht, selig zu werden, sondern er hatte sogar das Beispiel des Schusters verwendet: Nimm ein grob Gleichniß: Wenn ein junger Knabe ein Schusterhandwerk lernete, und überkäme einen solchen Narren oder Schalk zu einem Meister, der ihn lehrete, wie das Handwerk wäre ein Weg fromm und selig zu werden, und der Knabe glaubte ihm, und triebe das Schusterhandwerk der Meinung, daß er dadurch müßte selig werden, und möchte ohne solch Schuhmachen nicht selig werden, ließe darüber alle andere Wege, Glauben und Liebe; was wolltest du hier thun? Sollte dich nicht des Knabens erbarmen? Solltest du nicht dem Meister feind seyn [...]? Willst du sagen: Lieber Sohn, Schusterhandwerk thut es nicht, es gibt nicht Schuster in Himmel, du mußt ein Schneider werden; so führest du ihn aus einer Hölle in die andere [...]. Sondern also mußt du ihm helfen: Lieber Sohn, es ist weder Schuster noch Schneider; sondern du mußt an Christum glauben und darnach deinem Nächsten thun, wie du glaubest, daß dir Christus gethan hat: darnach bleib ein Schuster, oder werde ein Schneider, wie du willst.25 20 Jakob Böhme: Vierzig Fragen von der Seelen. In: ders.: Sämtliche Schriften (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 86. 21 Vgl. ebd., S. 83. 22 Vgl. ebd., S. 88: „Also, mein geliebter Herr und Bruder, geben wir euch auf diese Frage zur Antwort, daß die Seele gar nicht kann anderst erleuchtet werden, dann also: Also ist ihre Erleuchtung, sie ist in dieser Welt und auch in Gott, sie ist alhier in diesem Leben ein Knecht der Wunder Gottes, die soll sie mit dem einen Auge eröffnen, und mit dem andern in Anfang vor Gott führen, alle ihr Wesen in Gottes Willen stellen, und mit nichten sagen von etwas in dieser Welt, das ist mein, ich bin Herr darüber [...]“. 23 Vgl. ebd., S. 87: „Gib der Vernunft keinen Raum, daß sie sage, das ist mein Schatz, er ist mein, ich habe genug, ich will viel samlen, daß ich in der Welt zu Ehren komme, und meinen Kindern viel lasse“. Das Thema der Einfältigkeit ist sehr präsent in Böhmes Schriften: Als bedeutendes Beispiel siehe einen Brief an Martin Moser, in dem Richters Angriff gegen den Schuster im Zentrum steht: „[...] dieweil ich meine Wissenschaft nicht von Lernen in Schulen und Büchern habe empfangen, sondern von dem grossen Buche aller Wesen […]“, Böhme: Theosophische Send-Briefe (wie Anm. 1), S. 207. 24 Über den Beruf als Berufung siehe Drittes Register. In: Böhme: Sämtliche Schriften (wie Anm. 1), Bd. 11, sub voce Beruff. 25 Epistel am Neujahrstage (Gal. 3, 23–29), hier in: Martin Luther: Sämmtliche Werke. Bd. 7: Homiletische und katechetische Schriften. Hg. von Johann Georg Plochmann. Erlangen 1827, S. 316f. Siehe auch ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 10, 1. Abt., 1. Hälfte. Hg. von Walther

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Nach diesem Gleichnis kann der Beruf an sich (sei es der des Schusters oder der des Schneiders) kein Weg zum Himmel sein. Mit anderen Worten: Der spezifische Beruf und das Seelenheil stehen in keinerlei Beziehung. Aus der Perspektive des Primarius Richter scheint dagegen der Beruf des Schusters eine schwerwiegende metaphorische Bedeutung zu haben – allerdings eine negative, die teuflische statt himmlische Charakteristika zu symbolisieren scheint. In Richters Schrift tritt, wie schon angedeutet wurde, der Beruf des Schusters dem Charakter Jakob Böhmes als perfekt angepasst hinzu. Nicht nur sind die Bücher „schmutzig“ in dem Sinne, dass der Schmutz der Schuster-Werkstatt auf den Inhalt seiner Schriften metaphorisch übertragbar ist:26 Böhme verkörpert genau den Typ des gefährlichen Enthusiasten, der über seine Grenze hinaus gehen will, der davon träumt, sich mit höheren Dingen als mit seinem Beruf zu beschäftigen, und insofern an den Spruch „ne sutor ultra crepidam“ erinnert. In Richters Worten: Der Schuster soll nur Schuhe in seinen Händen haben. Der Spruch, der den Schuster warnen soll, bei den Schuhen zu bleiben, ist im siebzehnten Jahrhundert sehr verbreitet, und in dieser Hinsicht schließt sich Gregorius Richter einer langen Tradition an. Originell ist aber die Wirkung, die das Applizieren dieses Spruchs auf den Fall Böhmes erzeugt, besonders im Hinblick auf die Rezeption. Jene Warnung befindet sich bekanntlich in der Naturalis Historia von Plinius dem Älteren, dort, wo beschrieben wird, wie der Maler Apelles seine Werke dem Publikum zeigte und sich hinter dem Gemälde versteckte, um die Kritiken der Passanten zu hören. Als ein Schuster bemerkte, dass der Maler einen Fehler beim Abmalen eines Schuhs gemacht hatte, korrigierte Apelles diesen; aber am nächsten Tag kritisierte dann der Schuster ein weiteres Detail. Deshalb warnte ihn der Künstler, dass ein Schuster bei seinem Werk

Köhler. Weimar 1910, S. 491f. Dieses ist selbstverständlich nicht die einzige Stelle, in der das Beispiel des Schusters auftaucht; siehe z. B. ders.: Epistel am Tag der heiligen drei Könige. In: ebd., . S. 535f. 26 Interessant erscheint in dieser Perspektive ein Possenspiel zum Thema: Die seltzame Metamorphosis, der Sutorischen / in eine Magistrale, Person, das 1673 veröffentlicht wurde. Aus den Worten des „Schulmeisterisch Reformirten“ Jan gegen den Schuster (der als Hans Sachs identifiziert wird) strahlt nämlich der Angriff Richters gegen Böhme: Genau so wie Richter gegen das Schuster-Pech polemisiert hatte, das man in Böhmes Büchern sogar riechen könne, drückt Jan seine Ablehnung des Schmutzes aus, den das Schusterpech symbolisiert (vgl: Anon.: Die seltzame Metamorphosis, der Sutorischen / in eine Magistrale, Person / lustig / In einem singenden Possen-Spiel. In: Anon.: Der Pedantische Irrthum Des überwitzigen doch sehr betrogenen Schulfuchses / Durch die Satyram / in einem Nutz und Lustreichen Schauspiele / als in einem Spiegel abgebildet / auch der curiosität / der Neu und kurzweil begierigen Welt / fürgestellet: Samt Angehencktem singendem Possen-Spiele / die Sutorio Magistrale seltzame Metamorphosis, genannt. Rappersweil 1673. Vgl. z. B. S. 272: „Pfuy Schuster / Pech / pfuy Fisterey / Pfuy! Flikken / Lappen / Pletzen. Pfuy Stanck und Drekk / Bernhäuterey).“

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bleiben soll, nämlich bei den Schuhen, und sich nicht erlauben soll, Kritik an Dingen zu üben, von denen er nichts versteht.27 Die Geschichte ist sehr berühmt und wird häufig wiederholt. Ein bedeutendes Beispiel ist in den Tabulae naufragii des Franziskaners Philippe Bosquier enthalten: In dieser Predigtsammlung erwähnt der Autor nicht nur Apelles’ Geschichte, sondern er analysiert sehr sorgfältig, auch mit der Hilfe von Tabellen, alle Aspekte, die man mit dem Beruf des Schusters assoziiert.28 An erster Stelle sei die Schusterei ein einfältiger Beruf, der deshalb die Christen zum Einüben der Demut einlädt, eine Erklärung, die an Böhmes Worte über die redlichen Berufe erinnert. Die extreme Einfältigkeit (humilitas) grenzt aber an das Abscheuliche (vilitas): Der Schuster arbeitet mit Pech und anderen schmutzigen Sachen, vor allem aber mit der Haut von toten Tieren. Bosquier scheint diese Spannung innerhalb der christlichen Tradition selbst zu erkennen, in der der Beruf des Schusters in vielen Hinsichten eine wichtige Rolle spielt (nicht zuletzt, weil die Schuhe es ermöglichen, dass man reist und evangelisiert).29 Eben diese Spannung zwischen der Einfältigkeit und dem Schmutz war der Anlass für viele Sprüche, die Bosquier auflistet, unter anderen „ne sutor ultra crepidam.“ Die Tatsache, dass dieser Spruch im siebzehnten Jahrhundert verbreitet war und häufig verwendet wurde, beweist auch eine 1686 erschienene, kurze Schrift, die dem Ursprung dieses Spruchs gewidmet ist.30 Bemerkenswert ist in diesem Fall der Umstand, dass der Autor dieser Schrift, Andreas Stein, aus Apelles’ Ermahnung einen generellen Schluss zieht, nämlich, dass die Schuster arrogant und heimtückisch seien.31 Er erwähnt keine Namen, und in der Tat scheint die Behauptung allgemein auf alle Schuster bezogen zu sein, als ob diese bösartigen Kennzeichen des Charakters irgendwie in der innerlichen Natur des Schusters eingebettet seien. Die Stellung der Schusterei ist hier so in den Vordergrund getreten, dass sie eigentlich den ganzen Schauplatz übernommen hat: Es besteht keine direkte Verbindung zu den Lebensläufen einzelner Schuster, sondern eine spezifische Bedeutung wird dem Beruf selbst zugeschrieben. Die Schusterei an sich ist mit bestimmten, und in diesem Fall negativen, Charakteristika assoziiert. Die Überlegungen Böhmes zur Stellung seines Berufs (auch in der Auseinandersetzung mit Richter) bilden in dieser Hinsicht einen wichtigen Hintergrund, um diese Entwicklung zu verstehen, weil Böhme 27 Vgl. Plinius der Ältere: Naturalis Historia / Naturkunde. Buch xxxv (Farben, Malerei, Plastik). Hg. u. übers. von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler. Düsseldorf / Zürich 21997, S. 68–71. 28 Vgl. Philippe Bosquier: Tabulae Naufragii: Seu echo concionum aliquot, quae blattarum inclementiam evasere, de festis ac dominicis. 4 Bde. Köln 1614–1618, Bd. 3, S. 368ff. Der Anlass dieser Analyse ist der Tag, der den Heiligen Crispinus und Crispianus („patroni artis sutoriae“) gewidmet ist. 29 Ebd., S. 385. 30 Andreas Stein: Proverbii ne sutor ultra crepidam, origo et significatio [...]. Weimar 1686. 31 Ebd., S. 2: „Si angustia paginae permitteret, haberem, quæ hic de Sutorum arrogantia, petulantia atque malitia probe moneam.“

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direkt über die Gefahr reflektiert, dass dieser Beruf eine „Larve“ werden könnte, die zuviel an selbstständiger Bedeutung gewinnen würde. In der Tat werden die von Andreas Stein erwähnten Eigenschaften im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts immer häufiger mit der Ausübung des Schusterberufs verbunden, während die positiven und negativen Aspekte, die Bosquier in seinem Werk klar darstellt, im Hintergrund der Debatte zur Stellung der Schusterei erkennbar sind und zu verstehen erlauben, was die Basis für die Schilderung des Charakters des Schusters ist. Auf alle Fälle kann man beobachten, dass die eigentümlichen Merkmale der Larve der Schusterei – trotz Böhmes Warnung und seiner Kritik an Richters grober Argumentation – sich Schritt für Schritt präzisiert haben und dass sich somit eine neue Figur profiliert hat: die des schwärmerischen Schusters. Im Rahmen dieser Entstehungsgeschichte bildet die Tatsache, dass der Spruch „ne sutor ultra crepidam“ die Tendenz ausdrückt, über die eigenen Grenzen hinauszugehen, einen starken Kontaktpunkt zum Lebenslauf Jakob Böhmes, wenigstens nach der Meinung seiner Gegner, die sich häufig auf Richter berufen. Dies ist zum Beispiel der Fall in einer Hochschulschrift, die 1697 veröffentlicht wurde und eine oratio enthält, die zu Pfingsten an der Universität Leipzig gehalten wurde. Der Text behandelt das Thema „de fanaticismo Boehmiano“ und enthält lange Zitate aus Gregorius Richters Schrift gegen den Schuster, unter anderem auch die Zeilen über das Schuster-Buch, das nach SchusterPech stinkt. Richters Betonung des Berufs von Böhme erscheint in diesem Text sogar verstärkt, indem schon in der ersten Seite Jakob Böhme als der „Schuster aus Görlitz“ unter direkter Bezugnahme des berühmten Spruchs präsentiert wird: Böhmes Wissen war „ultra crepidam“, und insofern war seine Lehre Schwärmerei („fanaticismus Böhmianus“32). Alles in allem sind die Akademie und die Schusterei voneinander genauso unterschieden wie Plato von Böhme.33 Jakob Böhmes Werke werden dadurch zu einem Hauptbeispiel desjenigen Wissens, das „über den Schuh hinaus geht“, nämlich über die Grenzen, die die Ausübung des Berufs normalerweise bestimmen und an die man sich auch halten soll. Es ist aber wichtig zu bemerken, dass sowohl Gegner als auch Anhänger Böhmes dazu tendieren, Böhmes Wissen durch Apelles’ Spruch zu definieren: In der Leipziger Hochschulschrift ist die Überwindung der Grenzen ein gefährliches, schwärmerisches Charakteristikum Böhmes. Dem Spruch „ne sutor ultra crepidam“ kann aber im Fall Böhmes auch eine positive Bedeutung zugeschrieben werden. So argumentiert zum Beispiel der anonyme Autor einer Gründliche[n] Untersuchung derer von Herr M. Johann Fricken [...] Dem Görlitzischen Schuster Jacob Böhmen Angedichteter Irrthümer:

32 Anon.: Rector academiae lipsiensis ad audiendam pentecostalem in templo academico orationem, utriusque reip. proceres civesque academicos decenter invitat. Leipzig 1697, S. 1 (unpag.). Im Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek findet man eine aufschlussreiche handschriftliche Erläuterung des Titels: „De fanaticismo Boehmiano“ (BSB München, Signatur: 4 Diss. 458, Beibd. 57). 33 Ebd., S. 3: „Quantum enim differt Academia à Sutrina, tantum distat Plato à Böhmio“.

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Hierbey ist nun zu erinnern erstlich / daß J. Böhm der Schuster / Bücher zu schreiben von Gott erweckt worden / nicht zu dem Ende / daß er die Leute solte lehren Gold machen / sondern fürnemlich darum / daß die Gelehrten der Irrthümer und zänckischen Streitigkeiten möchten einmahl entlediget werden / und derentwegen hunc sutorem ultra crepidam sapere oportuit.34

Der Spruch wird hier verwendet, um die Spannung zwischen der Einfältigkeit des Berufs und dem Wert der göttlichen Lehre, die Böhme in seinen Büchern zum Ausdruck gebracht hat, zu erklären. In dieser Hinsicht hat Böhme selbstverständlich diejenige Grenze überwunden, die der Schuh symbolisiert. Dies ist aber kein Beweis der typischen Arroganz des Schusters (wie Andreas Stein sagen würde), sondern vielmehr der Macht Gottes über den einfältigen Mann Jakob Böhme. „Über den Schuh“ hinaus zu gehen, bedeutet in diesem Kontext, den Rahmen des Natürlichen zu verlassen und sich dem Übernatürlichen, dem Göttlichen, zu überlassen: Die Unbildung des Schusters ist der Beweis, dass die Weisheit Böhmes von Gott kommen muss. An dieser Stelle wird Böhmes Anhänger Johann Theodor von Tschesch zitiert: „Es sind so hohe / tieffe / und geistliche Dinge / welche warlich von einem Layen nicht ohne sonderbahre Gnade und Offenbahrung Gottes / und keines weges von dem Geiste dieser Welt können geschrieben werden [...]“.35 Obwohl die Betonung bei Tschesch nicht auf dem Beruf des Schusters liegt, wird hier diese Argumentation als Erklärung der Fähigkeit des einfältigen Schusters verwendet, Gottes Geheimnisse zu verstehen.36 34 Anon.: Gründliche Untersuchung Derer von Herr M. Johann Fricken sel: Weyland Predigern im Münster zu Ulm [...] Dem Görlitzischen Schuster Jacob Böhmen Angedichteter Irrthümer / Nicht zwar vor dieses mahl aller / sondern nur der jenigen / Welche Herr D. Elias Veiel [...] in seiner Vorrede angeführet / So Daß die Aufflage der erdichteten Irrthümer auß Böhmen Worten / welche Herr Fricke selbst meistlich gesetzet / widerleget / und zugleich / daß Herr Fricke selbst ein irriger Mann gewesen / und nicht gewust / was Irrthümer seyn / gezeiget wird / Von Einem Liebhaber Böhmischer Schrifften. o. O. 1699, S. 4 der Vorrede. Über das „Gold machen“ siehe ebd., Vorrede, S. 3: „Gelegenheit dieses Buch zu schreiben / soll er [Frick] bekommen haben durch einen Medicum zu Ulm / der [...] um der Chymischen Geheimnüssen oder des Goldmachens wegen die Böhmischen Schrifften Tag und Nacht sehr fleißig gelesen [...]“. 35 Ebd., S. 10. Vgl. auch ebd.: „Aber ob gleich Herr Fricke Böhmen seine Worte verdrehet und verkehret und nicht glauben will / daß ein ohngelehrter Schuster ohne menschliche Weißheit / Kunst und Geschickligkeit / allein auß Göttlicher Offenbahrung und Erleuchtung des Heiligen Geistes von übernatürlichen Dingen und Glaubens-Articel schreiben könne / so ists doch wahr / und hat Herr Joh. Theod. von Tschesch von Böhmens Schrifften gar recht also geschrieben: ‚Es sind so hohe / tieffe / und geistliche Dinge / welche warlich von einem Layen nicht ohne sonderbahre Gnade und Offenbahrung Gottes / und keines weges von dem Geite dieser Welt können geschrieben werden [...]‘“. 36 Darüber siehe auch: Johann Theodor von Tschesch / Friedrich Christoph Oetinger: Aufmunternde Gründe zu Lesung der Schrifften Jacob Boehmens, bestehend in Joh. Theod. von Tschesch Schreiben an Henr. Brunnium und ejusd. Kurtzer Entwerffung der Tage Adams im Paradiese, wie auch Halatophili Jrenæi Vorstellung wie viel J. B. Schrifften zur lebendigen Erkänntniß beytragen, Wider die scheinbaren Einwendungen aus gründlich heraus gesuchter Schrifft und Natur Aehnlichkeit verthei-

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Der Autor dieses Texts polemisiert eigentlich gegen eine andere Schrift, die 1697 veröffentlicht wurde, nämlich Johann Fricks Gründliche Undersuchung Jacob Böhmens vornehmster Irrthümer. Es wird hier deutlich, dass Apelles’ Spruch in dieser Debatte über die Schwärmerei Böhmes in den letzten Jahren des siebzehnten Jahrhunderts dazu verwendet wird, die Beziehung zwischen der Einfältigkeit des Mystikers und der von ihm erlebten göttlichen Erleuchtung zu stigmatisieren. Besonders deutlich wird diese Verbindung im Titel einer Schrift, die als Ausgangspunkt die Auseinandersetzung mit Johann Theodor von Tscheschs Verteidigung Böhmes nimmt: Novi Apellis, ne sutor ultra crepidam. Sive novi sutoris Jacobi Bohemi Pseudotheosophia.37 Böhmes Beruf, in direkter Verbindung mit Apelles’ Spruch, hat nun sogar die zentrale Stellung genommen: Dieser fasst den ganzen Inhalt der Kritik des Autors an Böhme und Tschesch zusammen – und wer Böhme widerlegen möchte, soll letztendlich wie Apelles mit dem Schuster vorgehen und ein „neuer Apelles“ sein, indem er jenem zeigt, welche Grenzen er nicht überschreiten soll. Die Frage, ob ein einfacher Schuster sich mit solchen hohen Sachen beschäftigen soll, die sonst nur Salomon geoffenbart wurden, taucht schon am Anfang der Schrift auf, und der Autor antwortet in der Tat mit Apelles’ Worten.38 Die Gefahr, über den Meißel und den Schuh („ultra subulam & crepidam“) hinauszugehen, ist somit der rote Faden in dieser Schrift, in der die „ars sutoria“ mehrmals ins Spiel kommt.39 Neben der Kritik an Böhmes gewagten Spekulationen ergibt sich deshalb durch diese Schrift und die anderen schon erwähnten Publikationen auch ein paralleles Resultat: Der Beruf des Schusters tritt mehr und mehr in den Mittelpunkt des Diskurses. Nicht nur wird darüber diskutiert, ob es positiv oder negativ sei, dass der Schuster Böhme „ultra crepidam“ gegangen sei; es ergibt sich dadurch auch eine indirekte Frage, nämlich: Warum tendieren Schuster dazu, sich mit höheren diget und mit vielen Anmerckungen erläutert, nebst Joh. Theodori von Tschesch Leben. Frankfurt / Leipzig 1731. Auf S. 97 (Schreiben an Brunnium) wird Böhme wie folgt bezeichnet: „ein Gottesgelehrter, welcher sein Erkänntniß nicht von Menschen, sondern aus der Schulen Gottes, und in der Gabe seines Geistes erlernet“. 37 Gerardus Antognossi: Novi Apellis, ne Sutor ultra crepidam, sive novi sutoris Jacobi Bohemi Pseudo theosophia, et pro eodem Joan. Theodori Tschesch futilis apologia. Frankfurt 1686. Zu dieser Schrift siehe Siegfried Wollgast: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung, 1550– 1650. Berlin 21993, S. 774: „Von Gerhard Antognossus kam eine Schrift gegen Böhme und Tschesch heraus, die in Mainz am 12. 3. 1686 das Imprimatur erhielt, also aus dem katholischen Bereich stammt. In 79 Sätzen werden beider Lehren ‚widerlegt‘. Die in lateinischer Sprache abgefaßte Schrift des offenbar pseudonymen Autors ist eine Replik auf Tscheschs Böhme-Apologie gegen D. Guilbertus. G. Antognossus druckt wesentliche Teile der deutschen Ausgabe von Tscheschs Apologie nach und versieht sie mit einer lateinischen Widerlegung. Darin sucht er nachzuweisen, daß Böhme die Auffassung der Manichäer und Gnostiker teilte. Das Theologische hat dabei vor dem Philosophischen den Vorrang.“ 38 Antognossi: Novi Apellis (wie Anm. 37), S. 24: „Et quidni verò insolitum cùm Laicus simplex et sutor sim, nec studiis unquam vacaverim? Eho res magna est & quae praeterquam Salomoni ne prophetis quidem obtigerit.“ 39 Vgl. ebd. S. 31, dazu S. 100f.

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Sachen als den Schuhen zu beschäftigen? Mit anderen Worten, es handelt sich nicht nur um einen Schuster, der die Feder statt Schusterutensilien in die Hand genommen hat: Es handelt sich nun um eine Typologie des Enthusiasten, den Böhme perfekt verkörpert. Die Entstehung eines Hauptcharakteristikums des schwärmerischen Schusters wurde schon erläutert, nämlich die gefährliche Neigung, den begrenzten Bereich des eigenen Berufs zu verlassen, um einer höheren Berufung zu folgen. Im nächsten Teil des Aufsatzes wird nun näher untersucht, welche anderen, teils sehr spezifischen Eigenschaften die Figur des Schusters annimmt, insbesondere in englischsprachigen Publikationen. Der Schuster als selbstständige, definierte Figur steht nun im Zentrum – und das ist eben ein wichtiges Zeichen einer gewissen Entwicklung.

II. The Preaching Cobbler: Die Entstehung einer radikalen Figur Laut Richter ist „der Schuster“ in vielen Hinsichten das Gegenteil von Christus: Nicht nur freut er sich über die „Titel“, die ihm gegeben werden – wie schon bemerkt wurde –, sondern er hat auch andere sehr verwerfliche Gewohnheiten. Zum Beispiel liebt er den Genuss „ausländischer Weine“ und sogar von Spirituosen, und alles in allem will er sich nur mit unwichtigen statt mit ernsten Sachen beschäftigen.40 Der Vorwurf der Leichtsinnigkeit ist allerdings nicht der Anschuldigung entgegengesetzt, dass der Schuster ständig mit höheren Dingen als nur mit Schuhen arbeiten will, sondern von Richter als logischer Schluss gedacht, da der Schuster letztendlich lügt. Auch wenn er den Eindruck vermitteln will, seine Aufmerksamkeit nach oben, zu Gott, statt nach unten, zu den Schuhen, richten zu wollen, ist er in Wahrheit nur an prosaischen Aktivitäten wie Essen und Trinken interessiert. 1670 erschien in London eine Schrift, die nach dem Titel eine Biografie des Schusters aus Gloucester, Ralph Wallis, der einige nonkonformistische Pamphlete geschrieben hatte, zu sein versprach.41 In der Tat kann man sie aber als eine anekdotische Erzählung lesen, die wenig mit dem Lebenslauf Wallis’ zu tun hat und mehr die Darstellung des Protagonisten als eines sonderbaren und letztendlich verwerflichen Schusters ist. Als erstes ist es interessant zu bemerken, dass der Autor Wallis als „den Schuster“ („the Cobler“) bezeichnet, statt ihn mit seinem Namen zu nennen. Der Schuster Wallis weist einige Charakteristika auf, die an die Debatte über Schusterei und Schwärmerei im Anschluss an Böhme 40 Vgl. Richter: Judicium (wie Anm. 2), S. 3 (unpag.): „Seria tractavit Christus: sed ludicra Sutor. / [...] Christus aquam vitæ sitienti præbuit ori: / At Sutor mortis manè frequentat aquam. / Et vinum simplex Christus bibit atque salubre: / Extera Sutori vinaque adusta placent.“ Siehe auch Böhmes Antwort auf diese Anklage: Apologia contra Gregorium Richter (wie Anm. 1), S. 380. 41 Zu Ralph Wallis’ Leben siehe: Stephen K. Roberts: Wallis, Ralph (d. 1669). In: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004 (online verfügbar: http://www.oxforddnb.com/view/article/28576, accessed 26 Oct 2011).

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erinnern. Schon auf der ersten Seite liest man: „the obscure Cobler began to conceive high thoughts“.42 Dass der Schusterei in dieser Erzählung eine besondere Rolle zukommt, zeigt die folgende Passage: The Cobler was scarce able to read the Scripture, but he took upon him the Interpretation of it; for finding it written, that Paul wrought with his own hands, he thought he might probably be a Cobler; nay this Cordwainer would undertake to enter in the most intricate Labyrinth of Scripture, and come out again the right way, by the Cord or Clew of his own imagination.43

Es ist wichtig zu bemerken, wie die Argumentation über die Verbindung zwischen Schusterei und Bibelinterpretation erfolgt: Mit einer gewissen Ironie schreibt nämlich der anonyme Autor der Biografie Wallis den Gedanken zu, dass der Apostel Paulus möglicherweise Schuster war, genau wie er selber, da er auch mit seinen Händen arbeitete. Von allen Berufen, die mit den Händen ausgeübt werden, wird ausgerechnet die Schusterei gewählt, weil die prophetische Rolle ein Hauptcharakteristikum der Schuster sei, das Wallis und Paulus nebeneinander stellt. Die Hypothese über den Beruf des Paulus hat deshalb im speziellen Verhältnis zwischen der Einfältigkeit dieses Berufs und der prophetischen Konnotation ihre Begründung. Darüber hinaus werden auch in diesem Fall, wie in Richters Text gegen Böhme, den Utensilien des Schusters eine symbolische Funktion zugeschrieben: Die Kordel, mit denen die Schuhe zugeschnürt werden, repräsentiert die Imagination des Schusters, die die einzige Basis seiner Bibelinterpretation zu sein schein, da der Schuster kaum in der Lage war, die Heilige Schrift zu lesen.44 Trotz seiner Unwissenheit predigt der Schuster und schreibt „scandalous Pamphlets“.45 Im Lauf der Biografie wird mehr und mehr deutlich, dass der Autor eigentlich eine allgemeine Figur des Schusters als falschen Propheten skizziert und dass in dieser Hinsicht das Leben Wallis’ nur ein Deckmantel zu sein scheint. In der Tat geht der Autor wie Richter vor, und nachdem er die sonderbare Relation zwischen der Unbildung und der prophetischen Tendenz des Schusters erläutert hat, fügt er einige Details zum Lebensstil des „Cobler“ hinzu. Über die Nahrung des Schusters erfährt man zum Beispiel Folgendes: I proceed to his Diet, wherein a man would judge he was very temperate, considering how little it cost him; but the truth is, he eat much, and paid little, feeding for the most part of publick entertainments; [...] he was a great frequenter of private Christnings, Clandestine Marriages, Night-burials of Non Conformists [...]. He had also many other invitations by Non-conformists, which he never refused; and if at any time he was invited to two places at once to dinner [...]

42 Anon.: The Life and Death of Ralph Wallis the Cobler of Glocester: Together with some Inquiring into the Mystery of Conventicleism. London 1670, S. 1. 43 Ebd., S. 3. 44 Zum Wort cordwainer siehe: Oxford English Dictionary, sub voce (online version September 2011. http://www.oed.com/view/Entry/41483; accessed 25 October 2011). 45 Vgl. The Life and Death of Ralph Wallis (wie Anm. 42), S. 15, 3.

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the Cobler would both dine and sup at each place. [...] He generally lov’d all Meats that were good, but especially his appetite was most set upon Bacon [...].46

Die Betonung liegt offensichtlich auf dem Umstand, dass der Schuster in Kontakt mit verschiedenen nonkonformistischen Gruppen stand. Die Überschreitung der Grenzen des „Konformen“ zeigt sich auch in den Speisen, die der Schuster wählt (vor allem Fleisch), und in deren unangemessener Quantität. Dass der Schuster an den erwähnten nonkonformistischen Veranstaltungen teilgenommen hat, erklärt der Autor durch den Hinweis, dass jener in solchen Situationen eine große Hilfe sein könne – eine Erklärung, die nochmals deutlich werden lässt, dass hier weniger von einem Schuster die Rede ist als von einer ganzen Kategorie.47 In der Tat gewinnt man am Ende der Biografie den Eindruck, dass es eine tiefe Verwandtschaft zwischen der Natur des Schusters und den nonkonformistischen Bewegungen gibt, mit denen er in Verbindung stand, nämlich: „Independents, Anabaptists, Quakers and Presbyterians“.48 Der Schuster wird damit zur Verkörperung des gefährlichen Außenseiters, aus politischer und religiöser Perspektive. Dies ist der Punkt, an dem die Analyse der Entstehung der Figur des Schusters breitere Themen berührt, die hier nur begrenzt in Betracht gezogen werden können. Das erste wichtige Thema ist die Interpretation der Spannung zwischen Unwissenheit und Gelehrsamkeit in „nonkonformistischen“ Schriften in der Zeit der englischen Revolution.49 Das zweite ist die Rezeption Jakob Böhmes in diesem Kontext. Die Schilderung des Schusters als Enthusiasten, die in Ralph Wallis’ Biografie und in anderen kurzen Schriften, die im Folgenden erwähnt werden, ans Licht kommt, zeigt deutlich, dass man eine neue Perspektive für diese Themen gewinnen kann, wenn man die Aufmerksamkeit auf die Figur des „cobbler“ lenkt. In dieser Hinsicht ist es ein Hauptziel dieser Analyse, den Blick auf ein Detail – die Besonderheit der Schusterei – zu fokussieren und gleichzeitig auf mögliche Anschlüsse an breitere Diskurse hinzuweisen, über die ausführlichere Studien schon vorliegen. Nicholas McDowell zum Beispiel hat deutlich hervorgehoben, dass die Rhetorik der Verbindung zwischen Unwissenheit und prophetischem Enthusiasmus nicht unbedingt im Rahmen des „cultural disempowerment“ verstanden werden muss, das die radikalen Bewegungen in der Zeit zwischen 1630 und 1660 charakterisiert haben soll. Die Betonung der handwerklichen Berufe, die viele „radical writers“ dieser Zeit ausgeübt haben, kann nämlich auch als bewusste Satire verstanden werden, die, im Anschluss an Erasmus, an die Tradition der Narrheit erin-

46 Ebd., S. 21f. Auch in der Wahl der Kleidung ist der Schuster „Non-conformist to the Mode“ (vgl. ebd., S. 20). 47 Ebd., S. 21. 48 Ebd., S. 26. 49 Siehe Thomas N. Corns: Radical Pamphleteering. In: The Cambridge Companion to Writing of the English Revolution. Hg. von Neil H. Keeble. Cambridge 2001, S. 71–86.

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nert.50 Die Art und Weise, wie die Schuster-Figur sich herauskristallisiert – als Handwerker mit einer fast komischen Tendenz zur Prophetie und mit einem besonderen Lebensstil, der häufig detailliert dargestellt wird –, scheint in der Tat ein Beweis für McDowells Interpretation zu sein. Darüber hinaus ist die erste Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts auch für die Rezeption Böhmes in England besonders wichtig. Es ist bekannt, dass die Werke Böhmes, dank der Übersetzungen John Sparrows, schon kaum fünfundzwanzig Jahre nach dem Tod des Autors begonnen hatten, im Druck zu zirkulieren, während die erste Gesamtausgabe in Deutschland erst 1715 veröffentlicht wurde.51 Die Bände wurden von Giles Calvert veröffentlicht, der in Verbindung mit nonkonformistischen Bewegungen wie den Ranters stand und der Werke von Coppe und Clarkson sowie quäkerische Schriften veröffentlichte.52 Die Präsenz Böhmes im vielfältigen Milieu radikaler Denker wurde schon von Christo50 Nicholas McDowell: The English Radical Imagination: Culture, Religion and Revolution, 1630– 1660. Oxford 2003, S. 12f. Siehe auch ebd., S. 19: „The rhetoric of enthusiasm as manifest in the prophetic texts discussed in this book emerges less as a discursive escape from educational and cultural disempowerment than a complex, allusive, and exuberant satirical mode which has affinities with the ludic ‚folly‘ tradition of Erasmian humanism. [...] More confusingly, the claim of ignorance is combined with the display of learning.“ 51 Sparrows erste Übersetzung aus Böhmes Werken (XL Questions Concerning the Soule) wurde 1647 in London veröffentlicht; dazu siehe Margaret Lewis Bailey: Milton and Boehme: A Study of German Mysticism in Seventeenth-Century England. New York u. a. 1914, S. 60. Die Übersetzung von Böhmes Schutz-Rede wider Gregorium Richter erschien 1661: An Apologie or Defence for the requisite Refuting of the shamefull, disgracefull, Writings and horrible Libell, against the Book of True Repentance and of True Resignation which Gregory Rickter Primate of Goerlits hath spread abroad against it, in Open Print, Answered in the year of Christ, 1624. 10. Aprill by Jacob Behme. Böhmes Biografie von Durant Hotham, die auf Franckenbergs Bericht basiert, wurde schon 1644 veröffentlicht: The Life of one Jacob Boehmen: Who although he were a Very Meane man, yet wrote the most Wonderfull deepe knowledge in Naturall and Divine things. That any hath been knowne to doe since the Apostles Times, and yet never read them, or learned them from any other man, as may be seene in that which followeth. Wherein is contained a perfect Catalogue of his Workes. London 1644. 52 Siehe vor allem die Studie von Mario Caricchio: Religione, politica e commercio di libri nella rivoluzione inglese. Gli autori di Giles Calvert 1645–1653. Genova 2003 (zur Veröffentlichung der Werke Böhmes siehe S. 40). Vgl. auch Ariel Hessayon: Calvert, Giles (bap. 1612, d. 1663). In: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004 (http://www.oxforddnb.com/view/article/39669, accessed 20 Oct 2011). Siehe auch Christopher Hill: The World Turned Upside Down: Radical Ideas during the English Revolution. London 1972 (Reprint 1975), S. 373. Ein bedeutendes Beispiel ist John Pains A Discovery of the Priests (1655), eine Schrift, die bei Calvert erschien und in der der Autor häufig auf die Idee der Einfältigkeit der Anhänger Christi rekurriert; siehe John Pain: A Discovery of the Priests, That say they are sent off by the Lord, but upon trial are found out of the commands of Christ, the Prophets, and Apostles, and to be those that are not sent of the Lord, but to be such that the sent ones of the Lord did cry wo against, and to be such that are false Apostles, deceitful, wicked, transforming themselves into the Apostles of Christ. London 1655, z. B. S. 6 und 18.

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pher Hill betont.53 Im Hinblick auf die Funktion der Schusterei ergab sich eine sonderbare Parallelität mit George Fox, der – wie in seinem Journal behauptet wird – als Lehrjunge bei einem Schuster gearbeitet hatte (diese Parallelität wird am Schluss dieses Aufsatzes näher untersucht). In anderen Schriften, wie Wallis’ Biografie, sind keine direkten Bezugnahmen auf die Debatte über Böhmes Schusterei sichtbar,54 aber Böhmes Werke zirkulierten in den radikalen Kreisen, in denen diese Schriften entstanden sind. Unter den „conventicle Leaders“55 findet man in der Tat mehrere Schuster, denen die Eigenschaften zugeschrieben wurden, die schon profiliert wurden: Enthusiasmus und Ignoranz, Tendenz zur politischen und religiösen Reformation, Mäßigkeit, die aber das Überschreiten aller Grenzen enthüllt.56 „Cobbler“ wurde somit zu einem Label, das auf Seiten der Kritiker der radikalen Bewegungen verwendet wurde (genau wie es schon bei Böhme der Fall war)57 und das sich aus einem gewissen Hintergrund herauskristallisiert hatte – und zu diesem Hintergrund gehörte auch Jakob Böhme. Der Autor von Wallis’ Biografie definiert die nonkonformistischen Bewegungen, mit denen „der Schuster“ in Verbindung war, als ein „Amsterdam in England“.58 Eine andere, 1647 erschienene anonyme Schrift lässt sogar die zwei Städte Amsterdam und London ein Gespräch über die drastischen Veränderungen der politischen und religiösen Situation führen. Auf dem Titelblatt wird der Inhalt mit den folgenden Sätzen zusammengefasst, die den Städten in den Mund gelegt werden:

53 Siehe Hill: The World Turned Upside Down (wie Anm. 52), S. 176, 192. Über die Quellen von Samuel Fishers Love Without Dissimulation (1666) schreibt zum Beispiel McDowell: The English Radical Imagination (wie Anm. 50), S. 172: „In Love Without Dissimulation (1666) he provides an exstensive list of his reading in honor of ‚the Spirits of certain Friends to the Bridegroom, who longed to see this day of the Son in Man‘. This includes, as expected, the ‚innocent and patient‘ James Nayler and John Perrot. Also named are ‚dear‘ John Saltmarsch, ‚honest‘ William Erbery, William ‚Doomesday‘ Sedwick, ‚Divine‘ John Webster, ‚Noble‘ Sir Henry Vane, John Warr, Richard Coppin, Giles Calvert, and Samuel How, the Continental mystics Nicholas of Cusa, Hendrick Niclaes, and Jacob Boehme, translators of these spiritualist works such as John Everard, Giles Randall, and John Pordage, the selfproclaimed ‚King of the Jews‘ Thomas Tany and the Ranters Abiezer Coppe and Joseph Salmon. It is a comprehensive reading list of the radical speculation of the English revolution.“ 54 Siehe aber die Verwendung des alchemischen Wortschatzes: Anon.: The Life and Death of Ralph Wallis (wie Anm. 42), S. 11. 55 Der Autor von The Life and Death of Ralph Wallis verwendet häufig diese Bezeichnung, z. B. S. 29. 56 Siehe dazu ebd., S. 21, wo der Autor behauptet, dass der Schuster einen Magen so groß wie sein Gewissen habe („bringing a stomach with him as large as his conscience“). 57 Mehrere „preaching cobblers“ kommen auch in Thomas Edwards’ Gangræna vor (ders.: The First and Second Part of Gangræna [...]. London 1646, Teil II, S. 84. Ders: The third Part of Gangræna. Or, a new and higher Discovery of the Errors, Heresies, Blasphemies, and insolent Proceedings of the Sectaries of these times; with some Animadversions by way of Confutation upon many of the Errors and Heresies named [...]. London 1646, S. 50, 80). 58 Anon.: The Life and Death of Ralph Wallis (wie Anm. 42), S. 6.

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Amsterdam. In me both Jewes and Gentiles licenc’d be, For to adore a severall Deitie. London. Coblers preach here, as ’twere in Amsterdam, Scorning, Nè Sutor ultra crepidam.59

Eine Stadt, in der weder politische noch religiöse Ordnung mehr herrscht und in der Sekten sich verbreiten, ist als ein Ort stigmatisiert, wo Schuster predigen. „all my inhabitants are the supporters of Anarchie, Indepentents“60 – fährt die Stadt Amsterdam fort, und im Folgenden werden die Anabaptisten und die Familisten namentlich erwähnt. Die Tatsache, dass der Spruch des Apelles zitiert wird, zeigt, dass der Schuster-Prediger das Umkippen aller Werte symbolisiert: In England haben nun die Schuster begonnen, Predigten zu halten, genau wie es schon seit einer langen Zeit in Amsterdam geschieht.61 Was passieren kann, wenn Schuster zu predigen beginnen, zeigt ein „närrisches Pamphlet“, betitelt New Orders New, Agreed upon by a Parliament of Round-Heads.62 Der predigende Schuster spielt auch in diesem Fall eine zentrale Rolle, da er sogar „Speaker of the House“ ist und in der Ordnung der Round-Heads geschrieben steht, dass ein Schuster einmal im Jahr eine sechsstündige Predigt halten soll. In den zweiundzwanzig Artikeln der Ordnung wird unter anderem erklärt, dass jede Hierarchie abzuschaffen sei und dass Heirat, Taufe und Beten bei einer Beerdigung unnötig seien. Ein weiteres Beispiel, das die 59 Anon.: London Metamorphosis: or, A Dialogue between London & Amsterdam. Discoursing compendiously of the change of Government, alteration of Manners, and the Escapes of Sectaries. [London] 1647. 60 Ebd., S. 2. 61 Ebd., S. 4: „Amsterdam. [...] but I am thy elder in evill, thou art but a young sinner, if compar’d with me“. Vgl. auch Thomas Edwards: Gangræna: Or A Catalogue and Discovery of many of the Errours, Heresies, Blasphemies and pernicious Practices of the Sectaries of this time, vented and acted in England in these four last years [...]. London 1646 (erste Ausgabe), S. 120 (in der dritten Sektion der Schrift): „This Land is become already in many places a Chaos, a Babel, another Amsterdam, yea, worse“. Vgl. ebd., S. 183 (in der dritten Sektion), wo die folgende „erroneous Doctrine“ wiedergegeben wird: „That in Holland, an Anabaptist, a Brownist, an Independent, a Papist, could live all quietly together, and why should they not here?“ Siehe auch ders.: The First and Second Part of Gangræna (wie Anm. 57), Teil II, S. 136. Zur Paginierung in den verschiedenen Ausgaben siehe Ann Hughes: Gangraena and the Struggle for the English Revolution. Oxford 2004, S. 231ff. 62 Ananias Dulman (Pseudonym): New Orders New, Agreed upon by a Parliament of Round-heads. Confirmed by the Brethren of the New Separation Assembled at Round-heads-Hall without CrippleGate. With the great discretion of Master Long-Breath an upright new inspired Cobler Speaker of the House. London 1642. Siehe die folgende ironische Antwort auf dieses Pamphlet: Nicholas Periwig: A witty Answer, And Vindication to a foolish Pamphlet, intituled New Orders New, Agreed upon by a Parliament of Round-heads. Or, Old Orders old, newly vampt By a Parliament of Rattle-Heads [...]. London 1642.

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gefährliche Verbindung zwischen der religiösen Verwirrung und der Änderung der Ordnung von Seiten des Parlaments anspricht, ist The Coblers End or his (Last) Sermon, veröffentlicht im Jahr 1641. Auch in diesem Fall wird die Bedenklichkeit der Situation durch die Figur des Schusters zum Ausdruck gebracht, der vorschlägt, dass jeder, so wie die Schuster, predigen soll.63 Der Schuster behauptet, göttlich inspiriert zu sein: ein Hauptcharakteristikum, das immer wieder in den Schriften über die „preaching cobblers“ vorkommt.64 Dies zeigt The Coblers End besonders deutlich: Der Schuster in der Erzählung ist mit dem Prediger Humfrey Vincent zu identifizieren, der in seiner Antwort auf diese Schrift behauptet, zwar die Predigt gehalten zu haben, aber eigentlich kein Schuster zu sein.65 Offensichtlich wurde die Charakterisierung als Schuster, die im Text eine solche zentrale Rolle spielt, hinzugefügt, um den Inhalt der Predigt zu stigmatisieren: Wer solche Thesen predigt, muss auch ein Schuster sein. In der Tat – erklärt Vincent – hatte seine Predigt keine Beziehung zum Text, der veröffentlicht und dem Schuster zugeschrieben wurde. Ein berühmter predigender Schuster war Samuel How, dessen Schrift The Sufficiencie of the Spirits Teaching, Without Humane-Learning 1640 erschienen war.66 Die zentrale Forderung der Predigt lautet, dass die freie Interpretation der Heiligen Schrift durch Gottes Geist stattfinden kann und daß deswegen auch die Schuster predigen können:

63 Anon.: The Coblers End, Or His (Last) Sermon, Being a true Relation of that Sermon, Which was preached in St. Georges Church in Southwark By a Cobler last Sabbath day, being the 12. of December, 1641. who most impudently and insolently stept up into the Pulpit and broached his Brownisticall and Erroneous Opinions to his Auditors. London 1641, S. 2 (unpag.). 64 Ebd., S. 4–6 (unpag.). 65 Humfrey Vincent: The Coblers Sermon Cryed downe, as a Cruell Cupshot Counterfeit: Or, The Summe of Mr. Humfrey Vincents Sermon, as it was Preached and Penned by his owne mouth and hand. Confuting the Matter and confounding the Author of that base-blasphemous Pamphlet called The Coblers Sermon. Mr. Vincent who hath been a Preacher these five and twenty yeeres, preached these two Sermons at Saint Geroges Church in Southwarke in the yeere 1641 [...]. London 1641. Vgl. z. B. S. iii: „After two Sermons preached there [...] a pack of wicked, wilfull worldings inhabiting within that place or Parish, gave out in Print, that I was a Cobler [...] calling them the Coblers Sermon [...]. Now as I who then preached a Sermon there, am no Cobler, nor ever was so, nor of any other Trade mechanicall; so I did not preach in that Sermon any thing at all for matter or manner, that hath any correspondence or coherence with that more then pestilent Pamphlet [...]“. 66 Über Samuel How siehe John Coffey: John Goodwin and the Puritan Revolution: Religion and Intellectual Change in 17th-Century England. Woodbridge 2006, S. 60: „Having once been part of Henry Jacob’s semi-separatist church, How became leader of the separatist congregation founded by John Canne in 1633, and attracted many admirers including John Lilburne and William Kiffin.“ Zur Veröffentlichung von Hows The Sufficiency of the Spirits Teaching in Amsterdam siehe ebd., S. 61. How wird auch erwähnt in: Hughes: Gangraena and the Struggle for the English Revolution (wie Anm. 61), S. 122f.

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[...] Peter tells us, that no Scripture is of any private interpretation [...] and declares that [...] Men, though indued with great learning, having not the Spirit of God can give but a private interpretation according to the Apostles intent [...]: whereas if a Man have the Spirit of God, though he be a Pedler, Tinker, Chimney-Sweeper, or cobler, he may be the helpe of Gods Spirit, give a more publique interpretation [...].67

Die Relevanz der Rolle des Schusters wird – wie schon in den anderen behandelten Fällen – in der Rezeption dieser Schrift stärker betont, und Apelles’ Spruch kommt erneut ins Spiel. So fasst eine kurze Publikation, die im selben Jahr wie Hows Predigt veröffentlicht wurde, die Thesen des Schusters so zusammen: „And thus the unlearned Cobler his zeale having made him out-run his Last concluded. Let the man of God fly Human learning“. Der anonyme Autor68 lenkt damit die Aufmerksamkeit auf das Überschreiten der Grenzen des eigenen Berufs durch den Schuster (obwohl der Spruch in diesem Fall nicht negativ konnotiert ist) und fügt noch hinzu, dass der Geist Gottes nun „in a Coblers Shop“ lehre.69 Der Leser wird am Ende in einem Gedicht gewarnt, dass die Lehre des Geistes nicht von seiner „Schreibfeder abfließt“ und dass er deswegen den Weg des Schusters gehen soll: „Lay down thy Art, then try this Coblers end, / And see if it be by the Spirit pend“. Auch eine andere kurze Veröffentlichung aus dem Jahr 1640 bezeichnet How als einen Schuster, der „über seine Last“ hinausgegangen sei: Wie es aber schon in einigen der erwähnten Schriften gegen Jakob Böhme der Fall war, drückt hier Apelles’ Spruch die Unangemessenheit des Schusters in der Funktion des Predigers aus: It is an ancient and worthy custome to weep for the deceased; but How? not for this Samuel How, who being a Cobler, took upon him beyond his Last, the mending of soules, and in a Sermon preached to above an hundred persons in the Nags-head Taverne neere Colemanstreet, delivered many absurd Doctrines & Vses, against humane Learning: and afterward published and entitled his Sermon, The sufficiencie of the Spirits teaching without humane Learning, for the light and information of the ignorant: wherein he published his owne folly, it being a knowne truth, that Learning is no essentiall immediate cause of grace, but an instrumentall cause, . whereby the knowledge of the Scriptures are gained; and humane learning doth prepare the soule, and enlarge it to receive divine mysteries, and by judgement assisted by Gods Spirit, to finde out hidden truth, and to defend fundamentall Principles.70 67 Samuel How: The Sufficiencie of the Spirits Teaching, Without Humane-Learning: Or A Treatise, Tending to Proue Humane-Learning to be no Help to the Spirituall understanding of the Word of God [...]. [Amsterdam] 1640. 68 Über die Identität des Autors des Haupttextes und des Gedichts am Ende siehe Coffey: John Goodwin and the Puritan Revolution (wie Anm. 66), S. 61. 69 Anon.: The Vindication of the Cobler, Being a Briefe Publication of his Doctrine, or, Certaine Tenents collected out of the Sermon of Samuel How, a Cobler in Long Ally in Morefields which Sermon he Preacht in the Nags-head Tavern neare Coleman-Street, in the presence of aboue a hundred people [...]. London 1640. 70 Anon.: The Coblers threed is cut, or, The Coblers Monument wherein to the everlasting memory of the folly of Samuel How, his doctrines are detected, and his life and death described, together with an Epitaph [...]. [London] 1640 (Einblattdruck).

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Die Rhetorik der Überschreitung der vom eigenen Beruf bestimmten Grenzen wird hier übernommen, indem behauptet wird, dass der Schuster, statt die Seelen „reparieren“ zu wollen, seine Fähigkeiten lieber in der Reparatur von Schuhen einsetzen soll.71 Der Tod Hows wird als der Moment bezeichnet, in dem „the Coblers threed is cut“ (und dies ist auch der Titel der Publikation). Der Faden, der zerschnitten wurde, scheint aber ein zweifacher gewesen zu sein: Es handelte sich nicht nur um den Faden, der den Schuster mit dem Publikum seiner Predigt verband und den Erfolg seiner närrischen Theorien ermöglichte, sondern auch um den Faden, der eine sehr unangemessene Verbindung zu Stande brachte, nämlich diejenige zwischen Schusterei und Prophezeiung. Durch den Tod ist nun – laut dem Autor der Schrift – der Faden des Schusters Hows zerschnitten worden: Die symbolische Wirkung des predigenden Schusters ist aber dadurch nicht erloschen, sondern nochmals verstärkt. Das Potenzial dieser Figur als Repräsentation der politischen und religiösen Subversion kann durch die Tatsache erläutert werden, dass die Darstellung des inspirierten Schusters im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts zu einem commonplace wurde. Dies erscheint besonders deutlich in einer kurzen dialogischen Schrift, deren Titel Apelles’ Warnung beinhaltet: Hewson reduc’d, or, The shoomaker return’d to his trade being a show, wherein is represented the honesty, inoffensiveness, and ingenuity of that profession, when ’tis kept within its own bounds, and goes not beyond the last / written by a true friend to the gentle craft.72 Paradoxerweise steht auch in diesem Fall die Rolle des Schusters als eines gefährlichen Subversiven im Zentrum des Diskurses, da der Autor im Dialog zu zeigen beabsichtigt, dass der Beruf des Schusters wieder als ungefährlich, ehrlich und beruhigenderweise naiv verstanden werden kann. Im Rahmen der Debatten über die schon erwähnten nonkonformistischen Bewegungen (Ranters, Levellers, Familists, Quakers) profiliert sich aber die Figur des predigenden Schusters als alles andere als ungefährlich.73 Mit anderen Worten: Der Autor der anonymen Publikation versucht den Faden zwischen Schusterei und Schwärmerei zu zerschneiden, damit der Schuster wieder der Handwerker werden kann, der einfach Schuhe repariert und sich keine höheren Ziele – wie die Veränderung 71 Über das Verhältnis zwischen Beruf und Studium der Bibel bei How siehe John Coffey: Goodwin and the Puritan Revolution (wie Anm. 66), S. 60: „How had acquired a formidable knowledge of the Bible by reading it while he mended shoes. As Roger Williams wrote many years later, ‚by searching the holy Scriptures, [How] grew so excellent a Textuary or Scripture learned man, that few of thos high Rabbies that scorn to mend or make a Shoe, could aptly and readily from the holy Scripture, outgo him.‘“ 72 Anon.: Hewson Reduc’d: Or, The Shoomaker Return’d to his Trade. Being a Show, Wherein is represented the Honesty, Inoffensiveness, and Ingenuity of that Profession, when ’tis kept within its own Bounds, and goes not beyond the Last. Written by a true Friend to the gentle Craft. London 1661. 73 Der Schuster wird auch in der folgenden Publikation unter den gefährlichen Handwerkern aufgelistet, die häretische Thesen verbreiten: Anon.: These Trades-men are Preachers in and about the City of London. Or A Discovery of the Most Dangerous and Damnable Tenets that have been spread within this few yeares: By Many Erronious, Heriticall and Mechannick spirits. By which the very foundation of Christian knowledge and practise is endeavoured to be overturned. London 1647.

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der politischen Ordnung und die Heilung der Seelen – setzt. Nicht nur rückt damit jene Verbindung in den Mittelpunkt; sie wird auch noch deutlicher gemacht, indem als ein charakteristisches Merkmal des Schusters das Folgende angesehen wird: seine Grenze zu überschreiten und dadurch die Ordnung der ganzen Welt zu erschüttern.

Schluss . Zwei Schuster kehren nach Deutschland zurück: . Jakob Böhme und George Fox Es wurde schon erwähnt, dass Giles Calvert, der Sparrows Übersetzungen von Böhmes Werken veröffentlichte, auch die Publikation einer großen Anzahl von quäkerischen Schriften ermöglichte und sogar mit George Fox in Verbindung stand.74 In der Tat wurde die vielfältige Rezeption Böhmes durch die quäkerische Bewegung in mehreren Studien belegt, und bekanntlich schrieb Lodowick Muggleton in A looking-Glass for George Fox the Quaker: „[...] I suppose Jacob Behmont’s Books were the chief Books that the Quakers bought, for there is the Principle of Foundation of their Religion; for they cannot go beyond that, but there they build [...]“.75 Der Kontext dieses Satzes ist kritisch gegen Fox und die Quäker gerichtet, so dass man die Behauptung mit Vorsicht abwägen muss; es bleibt aber trotzdem richtig, dass die Werke Böhmes eine wichtige Quelle für viele Quäker-Inspirierte waren.76 In diesen Schlussbemerkungen soll nicht diese Rezeption unter74 Hessayon: Calvert, Giles (wie Anm. 52): „In 1653 Calvert began publishing Quaker writings including works by Christopher Atkinson, Samuel Buttivant, Richard Farnworth, George Fox, and James Nayler. Of the fifty-two known new titles issued or sold by Calvert that year, fourteen were by Quaker authors. In 1654 Calvert issued or sold thirty-eight known new titles. Of these, thirty were by Quaker authors, representing 47 per cent of all known Quaker publications that year. By the end of 1654 several Quakers had also entrusted Calvert with forwarding their letters. [...] On 4 July that year [1655] Calvert came to a London Quaker meeting with George Fox.“ Vgl. auch Caricchio: Religione, politica e commercio di libri (wie Anm. 52), S. 49–57. 75 Darüber siehe auch Bailey: Milton and Jakob Böhme (wie Anm. 51), S. 99. 76 Siehe auch Ariel Hessayon: ‚Gold tried in the Fire‘: The Prophet Theaurau John Tany and the English Revolution. Aldershot 2007, S. 317. Siehe darüber auch einen Brief von Hilarius Prache an Martin John, 9. Oktober 1676, veröffentlicht in: Unschuldige Nachrichten von Alten und Neuen Theologischen Sachen / Büchern / Uhrkunden / Controversien / Veränderungen / Anmerckungen / Vorschlägen u.d.g. Zur geheiligten Ubung in gewissen Ordnungen verfertiget von Einigen Dienern des Göttlichen Wortes. Auf das Jahr 1706. Begründet von Valentin Ernst Löscher. Leipzig 1708, S. 432–441, hier S. 437: „Das ist die Sache: Sehr viel Freunde haben Jacob Böhmens Schrifften gelesen und geliebet / da sie noch unter andern Secten / unter den Papisten (so werden hier die Mennisten genennet) Independenten / Presbyterianern &c. gelebet / sind auch dadurch in ihrer Religion stutzig worden / haben darauff die Quäcker Meetingen besuchet oder Ihre Schrifften gelesen / und sind solcher gestalt der Wahrheit convinciret worden / und zu uns getreten. Alle solchen erkennen noch die Gabe

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sucht werden, sondern auf ein sonderbares Detail aufmerksam gemacht werden, das Böhme und Fox verbindet und das in einigen deutschsprachigen Texten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts stark betont wird, nämlich den Beruf des Schusters. In der Hervorhebung dieses Aspekts kann man in der Tat die Rolle der Geschichte erkennen, die in diesem Aufsatz rekonstruiert wurde und die zur Entstehung einer standardisierten Figur des Schusters geführt hat. Die Assoziation zwischen Böhme und Fox im Zeichen der Schusterei erscheint als besonders relevant für diese Rekonstruktion, weil auch im Journal des Quäker-Leaders, so wie schon in Böhmes Schriften, diesem Beruf keine besondere oder symbolische Rolle zugeschrieben wird. Sie wird stattdessen der Schusterei im Nachhinein hinzugefügt, so dass die Tatsache, dass Fox als Lehrjunge bei einem Schuster gearbeitet hatte, immer mehr an Wichtigkeit gewinnt und dadurch eine direkte Verbindung zu Jakob Böhme hergestellt wird. Die Macht dieser Vorstellung der Schusterei ist deshalb in diesem Fall deutlich sichtbar. Im Journal von Fox findet man das folgende biografische Detail: Afterwards, as I grew up, my relations thought to have me a priest, but others persuaded to the contrary; whereupon I was put to a man, a shoemaker by trade, and that dealt in wool, and used grazing, and sold cattle; and a great deal went through my hands. While I was with him he was blessed; but after I left him he broke, and came to nothing. I never wronged man or woman in all that time, for the Lord’s power was with me and over me, to preserve me.77

Obwohl Fox’ Anwesenheit beim Schuster einen positiven Effekt auf das Geschäft zu haben scheint, wird weder hier noch im Rest des Journal die besondere Rolle der Schusterei als solche profiliert: Fox’ Lehrjahren in einer Schusterwerkstatt kommen aber in der Rezeption eine zentrale Stellung zu, die nur mit der spezifischen Bedeutung der Schusterei in ihrer Verbindung mit der Schwärmerei und dem sowohl religiösen als auch politischen Nonkonformismus erklärbar wird. Genau in diese Richtung weist eine Publikation, die die sonderbare Neigung der Schuster zur Schwärmerei zum Gegenstand hat, nämlich Adam Sigismund Bürgers Exercitatio Historico-Moralis de Sutoribus Fanaticis (1730).78 Hier wird behauptet, dass man des Geistes in Jacob Böhmens Schrifften / und halten ihn für einen erleuchteten Mann Gottes / der sonderlich von dem aus Norden kommenden Volcke propheceyet; richten sich aber gar nicht mehr nach seinen Schrifften [...]“. Prache erklärt, dass die „Freunde“ deshalb Böhmes Schriften gut kennen, aber letztendlich behauptet er: „Ich weiß hier in gantz Londen unter allen Freunden / derer doch viel 1000 seyn / keinen eintzigen / der an Jacob Böhmens Schrifften hange / und solche der Freunde Schrifften vorziehe [...]“ (ebd., S. 436f.). Der Schluss lautet (ebd., S. 438): „Gewiß / der ist kein Quäcker der ein Bohemist ist.“ Zum Briefwechsel zwischen Hilarius Prache und Martin John siehe Horst Weigelt: Spiritualistische Tradition im Protestantismus. Das Schwenckfeldertum in Schlesien. Berlin 1973, S. 228–230. 77 George Fox: Journal. Überarbeitete Ausgabe hg. von John L. Nickalls. Philadelphia 2005, S. 2. 78 Friderici / Bürger: Exercitatio historico-moralis de sutoribus fanaticis (wie Anm. 10). Dazu siehe auch meinen Aufsatz: „Tanta verborum confusione“ (wie Anm. 19).

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den in England sehr berühmten Schuster George Fox dem „philosophus teutonicus“ nicht unterordnen dürfe.79 Jakob Böhme wird natürlich eine Schlüsselrolle in dieser kurzen Geschichte der schwärmerischen Schuster eingeräumt: Er ist „famosissimus ille Goerlicensium sutor“. Im Laufe seiner Darstellung erwähnt Bürger eine wichtige Quelle für das Verständnis der Verwandtschaft Böhmes mit Fox, nämlich einen Brief von Hilarius Prachius an Martin John.80 Zedlers Universal Lexicon stellt Prachius als einen Fanaticus dar, der, einige Jahre vor seinem Tod 1677, nach London ausgewandert war,81 sich dort intensiv mit quäkerischer Literatur beschäftigt und „auch einige fanatische Bücher in Deutscher Sprache“ ediert hatte.82 In einer in der Exercitatio zitierten Passage schreibt Prachius, dass er seinem Sohn empfohlen hatte, Schuster zu werden, und gibt dafür die folgende Begründung: [...] weil Jacob Böhm ein Schuster gewesen / und George Pop [sic] der Erste unter unsern Freunden, / dem Gott den Mund geöffnet / und der zu erste die silent meetings oder stillen Versammlungen / angegeben / durch den Ruff Gottes ein solcher ist / und sonsten unterschiedene Sprecher / und hochbegabte Gottes Männer bey unserem Ministerio Schuster seyn [...].83 79 Friderici / Bürger: Exercitatio historico-moralis de sutoribus fanaticis (wie Anm. 10), § XII, S. 27: „Hoc Philosopho, quem vocant, Teutonico non inferior censendus est sutor ille per omnem Angliam longe notissimus, georgius fox, qui ineunte superiori seculo & doctrina & scriptis luculentissima novaturientis animi, quo ad Fanaticismum mire propendebat, documenta manifesto prodidisse scribitur.“ 80 Zu Praches Beschäftigung mit der Kabbala und seiner Verbindung zu Abraham von Franckenberg siehe Wilhelm Schmidt-Biggemann: Abraham von Franckenberg als christlicher Kabbalist. In: Realität als Herausforderung: Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. Festschrift für Wilhelm Kühlmann zum 65. Geb. Hg. von Ralf Bogner, Ralf Georg Czapla, Robert Seidel und Christian von Zimmermann. Berlin 2011, S. 233–248, hier S. 236. 81 Horst Weigelt: Von Schlesien nach Amerika: die Geschichte des Schwenckfeldertums. Köln 2007, S. 141. 82 Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste [...]. Halle / Leipzig 1732–1754 (online verfügbar: http://www.zedler-lexikon.de), sub voce: „Prachius (Hilarius) ein Fanaticus [...] und in der Hebräischen Sprache überaus wohl erfahren; verwaltete anfänglich das Amt eines Pfarrers zu Dirschdorf im Herzogthum Brieg, ward nachgehends Pastor und Decanus zu Goldberg, danckete aber 1669 wegen seines schwachen Gedächtnisses ab, begab sich hierauf nach Engelland mit seiner Familie, hielt sich zu den Quackern in Londen, übersetzte Rabbinische und Deutsche Bücher ins Latein und Englische, corrigirte die Quacker-Bücher, so gedruckt wurden, edirte auch einige fanatische Bücher in Deutscher Sprache, und starb um 1677.“ Siehe auch den schon zitierten Brief Praches an Martin John (wie Anm. 76), S. 433f.: „[...] so berichte ich / daß Ich schon über Fünfft Viertel Jahr meine Verrichtung habe in der Freunde Druckerey mit der Correctur der heraus kommenden Freunde Bücher / habende dafür Jährlich 10. Pfund [...] und translatire zuweilen Calvinische oder Holländische Schrifften in die hochdeutsche Sprache / wie ich denn auch neulich des Sebastian Franckens Buch vom Baum des Erkänntniß gutes und böses außm Deutschen ins Englische versetzen muste / damit es die Freunde / weil es mit ihrem Grunde übereinstimmet / möchten zu lesen bekommen.“ 83 Brief Praches an Martin John (wie Anm. 76), S. 434f.; siehe auch S. 434: „Meinen Sohn Ephraim aber / [...] haben nun die Freunde herein genommen nach Londen / und lassen ihn das Schuster

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Dass beide, Böhme und Fox,84 als Schuster gearbeitet hatten, ist in dieser Hinsicht kein unwichtiges biografisches Detail mehr, sondern ein entscheidendes Charakteristikum: Die Schusterei ist so tief mit dem Geist der religiösen Reformation verbunden, dass es von großer Bedeutung ist, Schuster zu sein, um sich nämlich durch diesen Beruf einer ganzen Tradition anzuschließen. Die Schuster scheinen ein vorrangiges Verhältnis zur göttlichen Inspiration zu genießen – und das ist ein guter Grund, um Schuster zu werden. Mit anderen Worten: Wenn einige berühmte Schuster inspiriert waren, so könnte die Schusterei selbst der eigentliche Weg zur Offenbarung von Gottes Geheimnissen sein. Schon in den Supplementa, Illustrationes und Emendationes zur Verbesserung der Kirchen-Historie, herausgegeben von Gottfried Arnold, wurde in einem Beitrag argumentiert, dass es kein Zufall war, dass Jakob Böhme ein Schuster war, so wie viele andere, denen Gott seine Geheimnisse geoffenbart hatte.85 Die Verbindung von Fox und Böhme in der Exercitatio historico-moralis de sutoribus fanaticis betont die spezifische Bedeutung des Schusterberufs in englischen nonkonformistischen Bewegungen; sie erlaubt zugleich zu verstehen, warum dem Schuster Jakob Böhme eine so zentrale Stelle zukommt. Der Beruf wird somit zum deutlichsten Zeichen der inhaltlichen Verbindung zwischen Böhmes und Fox’ Lehren (seien diese positiv oder negativ beurteilt). Dies beweist auch eine Schrift mit dem Titel De sutoribus eruditis, die Georg Heinrich Götze 1709 veröffentlichte und in der das Detail aus Fox’ Lebenslauf bezüglich der Schusterei wiederholt wird: Der Engeländer George Fox gehöret auch noch zur Schuster-Zunft, der aus der Kirche der Reformirten zu den Tremulanten übergetreten, und so wohl in der ersten Jugend als da er schon erwachsen war sich zwar dem Schuhmachen gewidmet, aber da es ihm nicht mehr anstund, sich eine gantz besondere Erkentnüß in geistlichen Dingen beygemessen, und sich beredet, daß er an Verständnüß andern weit überlegen sey.86 Handwerck lernen“. Der Text wird mit leichten Veränderungen in Friderici / Bürger (wie Anm. 10; vgl. S. 41) zitiert. 84 „Der erste unter unsern Freunden“ ist offensichtlich Fox. Noch auf derselben Seite wird eine Stelle aus Gerardus Croeses Historia quakeriana (Amsterdam 1695, S. 20) zitiert, in der Fox’ Beschäftigung als Schuster erwähnt wird; vgl. Friderici / Bürger (wie Anm. 10), S. 41. 85 Anon.: Aufrichtige Anmerkungen uber die bißher erregte Strittigkeiten / Wegen der Kirchen= und Ketzer=Historie des Herrn Arnolds. In: Supplementa, Illustrationes und Emendationes zur Verbesserung der Kirchen-Historie herausgegeben von Gottfried Arnold. Frankfurt 1703, S. 321–555, hier S. 524f. 86 Ich zitiere nach der 1728 veröffentlichten deutschen Übersetzung: Georg Heinrich Götze: Vermischte Anmerckungen von gelehrten Schustern Beym Examine des Gymnasii zu Lübeck In einer Lateinischen Rede vorgetragen. Aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt. Jena 1728, S. 35. Zum Schuster Hans Sachs siehe ebd., S. 26, 30. Originaltext: Georg Heinrich Götze: De sutoribus eruditis, vel gelehrten Schustern: observationes miscellaneae, in examine autumnali scholae Lubecensis A. 1708 propositae. Lübeck 1709, S. 17. Darüber hinaus ist die folgende Frage wichtig, die Götze in seiner Schrift stellt, nämlich: „Allein was ist nun von denen zu halten, welche das studiren mit Handwercken, und in sonderheit mit dem Schuhe-Machen verknüpffen?“ (S. 44 der deutschen Ausga-

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In der lateinischen Originalversion der Schrift steht, dass der Schuster Fox „non contentus“ war: Dies scheint in der Tat das Hauptcharakteristikum von Fox und anderen Schustern, vor allem Jakob Böhme, zu sein, nämlich die Unzufriedenheit, die sie dazu treibt, den Bereich der handwerklichen Arbeit zu verlassen und die göttliche Berufung jenseits der Grenzen des eigenen Berufs zu suchen. Aus dieser Perspektive erscheinen Fox und Böhme als zwei zentrale Beispiele dieses nonkonformistischen Verhaltens, und der beiden gemeinsame Schusterberuf wird zum symbolischen Zeichen. Ein an sich ganz unwichtiges Detail aus dem Leben von Fox und Böhme, die Schusterei, hatte erhebliche Bedeutung gewonnen; es wurde auch hier stark betont, um die tiefe Verbindung zwischen den beiden sichtbar zu machen. Im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts hat sich die Schusterei als ein besonderer Beruf profiliert: ein Beruf, dem auf der einen Seite ein enges Verhältnis zur religiösen Reformation zugeschrieben wird und der auf der anderen mit politischer Subversion, sozialer Agitation und dem Bedürfnis nach Erneuerung der Lebensverhältnisse verbunden ist. In der Vorstellung, die unter anderem im Anschluss an Böhme erzeugt wird, spielen die Schuster – mehr als alle anderen Handwerker – eine wichtige Rolle, wenn die ganze Welt auf den Kopf gestellt wird („the world turned upside down“), aus religiöser, politischer, sozialer Sicht. Erst in diesem Kontext wird es möglich, den vielschichtigen Sinngehalt der Parallelität zwischen Böhme und Fox zu verstehen und auch die Rolle des Spruchs neu zu interpretieren, der sowohl in Götzes De sutoribus eruditis als auch in der Exercitatio historicomoralis de sutoribus fanaticis erwähnt wird: „Ne sutor ultra crepidam“ oder „Ey Schuster! bleib du bey deinem Leisten“.87 Trotz dieser Warnung wird und kann der Schuster nicht bei seinem Leisten bleiben, weil die Überschreitung aller Grenzen diejenige Eigenschaft ist, die die standardisierte Figur des Schusters zutiefst definiert, die Jakob Böhme und George Fox verkörpern – zwei Schuster, die über den Schuh hinaus gegangen sind.

be; Hervorhebung C. M.). Vom selben Autor siehe auch: De Mercatoribus Eruditis, Vel Gelehrten Kauffleuten [...]. Lübeck 1705; Kēpophilos, seu de eruditis hortorum cultoribus, von gelehrten Gärtnern. Lübeck 1726. 87 Götze: Vermischte Anmerckungen von gelehrten Schustern (wie Anm. 86), S. 44.

Dietrich Blaufuß (Erlangen)

Philipp Jacob Spener – Elias Veiel Ein Postskriptum*

1. Unter diversen Vorstudien zum Briefwechsel Philipp Jacob Speners – auch im Blick auf die wissenschaftliche Edition desselben – erfuhr der Ulmer Theologe Elias Veiel (1635– 1706) Beachtung. Die gute Überlieferungslage bei den Briefen Speners an Veiel zeigte gleichermaßen Möglichkeiten und Grenzen der Erschließung und Rekonstruktion dieser Korrespondenz. Sie war ehedem für den Zeitraum von 1667 (und eher) bis 1699 in 65 (67) Nummern zu überblicken. Original-Handschriften bzw. Abfertigungen und Abschriften von Briefen Speners aus seiner Korrespondenz mit Veiel liegen in Berlin, Frankfurt am Main, Krakau, London, Philadelphia und Tübingen. In der 1709 erschienenen Sammlung lateinischer Consilia Speners ließ sich eine ganze Reihe von dort nur anonymisiert gedruckten Schreiben wieder ihrem Empfänger Veiel zuordnen. Solche Forschungsergebnisse gingen und gehen selbstverständlich (stillschweigend und auch ausdrücklich1) in die seit 1985 erarbeitete Spener-Briefausgabe ein. Hier wird mit erfreulich umfangrei*

Der Jubilar möge ein Postskriptum aus meiner Feder mit Nachsicht hinnehmen. Kein noch so großer Aufsatz wäre unserer Weggenossenschaft angemessen. Seit über 25 Jahren schlägt sie sich auch in Veröffentlichungen nieder („Pietismus – Forschungen“ 1986; Veit Ludwig von Seckendorf 1996; Leipzig 2003; Königsberg 2008; Zürich 2012). Thema unseres Gemeinschaftsprojektes 2011 war Gottfried Arnold. Der kurze Blick auf den ArnoldKritiker Elias Veiel ist auch nur ein kleines Postskriptum zur großen, seit 1985 laufenden SpenerBriefedition; Hanspeter Marti hat sie  verschiedentlich gewürdigt. Schließlich ist dieser Gruß an Hanspeter Marti ein Postskriptum unter des Verfasssers vielfältige Studien zu Philipp Jacob Spener, gerade auch zu dessen Korrespondenz. 1 SBrF 1, S. 27, Anm. 1; SBrF 5, S. 196, Anm. 1. – Die Kürzel „SBrF“ bzw. „SBrD“ stehen im Folgenden jeweils für die bislang erschienenen Bände der von Johannes Wallmann hg. Spener-Briefedition: SBrF 1 Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666–1686. Band 1: 1666–1674. Hg. von Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Udo Sträter und Markus Matthias. Tübingen 1992. SBrF 2 Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666–1686. Band 2: 1675–1676. Hg. […] mit Markus Matthias und Martin Friedrich. Ebd. 1996. SBrF 3 Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666–1686. Band 3: 1677–1678. Hg. […] mit Martin Friedrich und Markus Matthias. Ebd. 2000.

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Dietrich Blaufuß

chem Personal- und Finanzeinsatz das noch vorhandene epistolographische Material Philipp Jacob Speners z.  T. neu ermittelt, erforscht und in der seit 1992 veröffentlichten Edition „Philipp Jakob Spener: Briefe“ herausgegeben. Sieben Bände in einem Umfang von insgesamt 6.089 Seiten wurden innerhalb von 20 Jahren bis 2011 vorgelegt. Erschienen sind die Schreiben für den Zeitraum von 1666 (21. September) bis 1681 und 1686 (12. Juli) bis 1688. 1.306 Briefe Speners aus dem Zeitraum von knapp 16 Jahren sind in rund 30 Arbeitsjahren2 veröffentlicht. Die Briefe aus 20 Jahren harren noch der Veröffentlichung.3 Die Schreiben Speners an Elias Veiel bieten Einblicke in einen relativ kontinuierlichen Briefwechsel – wobei im 18. Jahrhundert Briefe Veiels im Besitz Friedrich Gedickes (1718–1762) von diesem, entgegen seiner Ankündigung eines einschlägigen ‚größeren Werkes‘ im Jahr 1745, nicht publiziert wurden und bis heute unauffindbar geblieben sind4 – vielleicht auch eine Spätfolge der wohl verworrenen Nachlassverwaltung Speners nach dessen Tod 1705.5 Die Themen sind vielfältig. Speners Wandel von seiner Überzeugung, für die Kirche seien bessere Zeiten nicht mehr zu erhoffen, hin zu seiner ‚berühmten‘ Behauptung einer Hoffnung besserer Zeiten für die Kirche ist deutlich.6 Viele Einzelthemen werden verhandelt. Literarischer Austausch und gegenseitige Vermittlung eigener Werke spielen eine Rolle. Fragen des Verhältnisses zu den Reformierten und das Problem der Integration von Konvertiten vom Katholizismus zur lutherischen Kirche be 2

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SBrF 4 Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666–1686. Band 4: 1679–1680. Hg. […] mit Martin Friedrich und Peter Blastenbrei. Ebd. 2005. SBrF 5 Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666–1686. Band 5: 1681. Hg. […] mit Klaus vom Orde. Ebd. 2010. SBrD 1 Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Dresdner Zeit 1686–1691. Band 1: 1686–1687. Hg. […] mit Martin Friedrich, Klaus vom Orde und Peter Blastenbrei. Ebd. 2003. SBrD 2 Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Dresdner Zeit 1686–1691. Band Band 2: 1688. Hg. […] mit Klaus vom Orde. Ebd. 2009. 30 Arbeitsjahre deshalb, weil zeitweise zwei wissenschaftliche Mitarbeiter tätig sein konnten. Statistischen Rechnungen (pro Jahr knapp 44 Briefe – d. i. 0,85 Briefe pro Kalenderwoche) möge man nicht nachgeben! Übergangen sind hier ‚Sonderfälle‘ wie der enorm umfangreiche Briefwechsel Pilipp Jacob Spener – Adam Rechenberg oder der bereits vorliegende Briefwechsel Philipp Jacob Spener – August Hermann Francke. Anhänge verschiedener Art und Briefe an Spener enthalten die Bände SBrF 2 (drei Anhänge), SBrF 3 (vier Briefe an Spener, drei Quellen), SBrF 4 (2 Briefe an Spener, 2 Quellen); SBrD 2 (1 Anhang, aus Brief an Hermann v. d. Hardt). Siehe unten mit Anm. 19. Friedrich Gedicke: Epistolarum selectissimarum […] Decas […] eruta, prodromum maioris operis sistens […]. Berlin: J. J. Schütz 1745. [VD18 1031850X. – Digitalisat s. zvdd Zentralverzeichnis digitaler Drucke]. Aus ‚Vorläufer‘ macht Gedicke in seinem Vorwort dann verkleinernd ‚Vorspeise‘ („promulsis“; ebd., S. 3, Z. 9 v.u.). Siehe unten Anm. 16. SBrF 1, S. XXIV = SBrD 1, S. XXIV. Am eingehendsten hat sich dazu geäußert Peter Schicketanz: Carl Hildebrand von Cansteins Beziehungen zu Philipp Jacob Spener. Witten 1967 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 1). SBrF 1, Nr. 5 und SBrF 2, Nr. 2.

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wegen die beiden Briefpartner.7 Selbstredend wird Veiel in das Gespräch über die Pia Desideria intensiv einbezogen bzw. beteiligt er sich auch literarisch daran.8 Das hier geführte Gespräch ist gut dokumentiert und auch dargestellt.9 Kurz: die ‚Längsschnittlektüre‘ von Speners Briefen an Veiel erlaubt schon in den späteren sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts für den ‚Vater des Pietismus‘ gute Einblicke in Denken, Handeln und Austausch auch mit bedeutenden Theologen im kirchenleitenden Amt. Zugleich wird die Aktualität der schon sehr lange angemahnten weiteren Erforschung Veiels10 deutlich. Dieser fast 45 Jahre, 1662–1706 in Ulm auch in leitender Stellung wirkende Theologe hat ein umfangreiches, gut erschlossenes Werk hinterlassen.11 Es reicht von Bibel-Ausgaben und Katechismus-Schriften über Zeugnisse intensiven Lutherstudiums für ein Andachtswerk bis hin zu wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Aus seiner praktischen Amtstätigkeit sind die katechetischen Bemühungen und seine Tätigkeit bei Visitationen 1665/66 und 1699 ebenso zu würdigen wie sein kompromissloses Eintreten für die Unabhängigkeit der Predigt oder sein Widerstand gegen Zensur: hier große Eindeutigkeit gegenüber dem Rat der Stadt zeigend, den er doch als Helfer bei der Durchsetzung öffentlicher Kirchenbuße gewinnen wollte! Darin unterschied er sich ein weiteres Mal von Spener, wie auch in der Beurteilung von Kometenerscheinungen als „Realprediger“ der Warnung vor göttlichen Strafen. In die Debatte um einen ‚Atheismus‘ schaltete sich Veiel 1669 relativ früh ein. Das Verhältnis Veiels zum Pietismus ist schwer auf einen 7 SBrF 3, Nr. 197; SBrF 5, Nr. 45; SBrD 2, Nr. 32 zu Konvertiten. SBrD 1, Nr. 118 zum Verhältnis lutherisch – reformiert, u. a. zu Johann Heinrich Heideggers einschlägiger Schrift Manuductio von 1687. Zu letzterem s. Dietrich Blaufuß: Das Carolinum als Stätte des innerprotestantischen Konsenses? Johann Heinrich Heidegger und sein Vorschlag. In: Reformierte Orthodoxie und Aufklärung. Die Zürcher Hohe Schule im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Hanspeter Marti und Karin MartiWeissenbach. Weimar [voraussichtlich 2012]. 8 SBrF 2, Nr. 11 (Postillenvorrede Speners zu Johann Arndt) und Nr. 56 sowie SBrF 3, Nr. 139 und 197. An Ahasver Fritsch meldet Spener am 9. April 1678 Veiels partielle Kritik an den Pia Desideria (SBrF 3, Nr. 153, Z. 47–48). 9 SBrF 2, Nr. 56 und SBrF 3, Nr. 197, hier bes. S. 914–928 (Z. 93–472). Dietrich Blaufuß: SpenerArbeiten. Quellenstudien und Untersuchungen zu Philipp Jacob Spener und zur frühen Wirkung des lutherischen Pietismus. Bern u. a. ²1980 (Europäische Hochschulschriften XXIII,46), S. 123– 127, 228–230. Norbert Haag: Predigt und Gesellschaft. Die lutherische Orthodoxie in Ulm 1640– 1740. Mainz 1992 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung Religionsgeschichte 145), S. 366. 10 Zu Martin Leubes (1952) und implizit schon Paul Schattenmanns (1921) entsprechenden Hinweisen s. Blaufuß: Spener-Arbeiten (wie Anm. 9), S. 101 mit Anm. 1 (S. 219). Selbstredend ist inzwischen eine Reihe von weiterführenden Studien erschienen. Ich nenne nur: Haag: Predigt und Gesellschaft (wie Anm. 9) und Gößner: Terministischer Streit (wie Anm. 13), Register. – Für das Bio-Bibliographische Kirchenlexikon wird ein Artikel zu Veiel vorbereitet. 11 Siehe Bernhard Appenzeller: Die Münsterprediger bis zum Übergang Ulms an Württemberg 1810. Kurzbiographien und vollständiges Verzeichnis ihrer Schriften. Weißenhorn 1990 (Veröffentlichungen der Stadtbibliothek Ulm 13), sub verbo ‚Veiel‘. VD 17 (193 Treffer; Zugriff 31.12.2011).

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Nenner zu bringen (bekannt ist sein Einspruch gegen Gottfried Arnolds berühmt-berüchtigte Unparteiische Kirchen- und Ketzterhistorie)12 und muss aus weiteren Quellen, nicht nur seiner Verbindung mit Spener, erhoben werden. Helfen wird dazu die in einer äußerst gründlichen, umfassenden Studie behandelte Beteiligung Veiels am „Terministischen Streit“ um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert13 – ein Streit, der auch das Augsburger Kirchen-Ministerium gutachtend mit einbezog, offenbar dort nicht aktenkundig wurde, wohl aber im Briefwechsel Veiels mit dem Unterzeichner des Augsburger Gutachtens, Senior Johann Jacob Müller, Spuren hinterlassen hat.14

2. Die Anfang 1985 beginnende institutionalisierte Erforschung des Spener-Briefwechsels mit dem Ziel der Publikation der hieraus stammenden Briefe Speners wandte sich selbstredend intensiv der Korrespondenz Speners mit Veiel zu. Der Anteil von 13 Briefen Speners an Veiel im ersten, 1992 erschienenen Band von Spener-Briefen mit 216 Schreiben für die Zeit von 1666 bis 1674 wurde für keinen der weiteren sechs vorgelegten Bände mehr erreicht. 1980 und 1989 waren Studien zur Erschießung der noch greifbaren Korrespondenz Spener – Veiel vorgelegt.15 12 Haag: Predigt und Gesellschaft (wie Anm. 9), S. 107–112 (Visitationen), 183 (Freiheit des Predigt), 191 (öffentliche Kirchenbuße), 196 (Zensur), 355 (katechetisches Bemühen), 365ff. (Pietismus), 374 mit Anm. 8 (Kometen, „Realprediger“), 380 (Atheismus). 13 Andreas Gößner: Der terministische Streit. Vorgeschichte, Verlauf und Bedeutung eines theologischen Konflikts an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Tübingen 2011 (Beiträge zur historischen Theologie 159), S. 167ff. und Register s. v. ‚Veiel, Elias‘. 14 Ebd., S. 213f. mit Anm. 78. E. Veiel an [J. J. Müller], 1.4.1701: Thomas Ittig schreibt über den noch nicht beendeten Streit zur Frage des Zeitpunktes der endgültig versäumten Gnade, erbittet vom Ulmer Ministerium ein Gutachten, „[...] Addit vero in litteris suis haec verba: Animus mihi est, in Rev.[erendum] Ministerium Augustanum compellare, quod t[ame]n. anteq[uam]. faciam, tuum prius consilium req[ui]rere volui. Quamobrem magnop[er]e oro, ut q[ui]d mihi faciendum censeas, p[ro]pediem rescribas. Tu ig[it]ur, viror.[um] et amicor.[um] aestimatiss[im]e, haud gravaberis, mentem Tuam patefacere, an consultum judices, ut tale q[ui]d a vob.[is] postulet Ittigius. Nos calculum non denegabimus.“ Kirchenbibliothek St. Mang Kempten, M.33 (Faulhabers Briefbuch), S. 588–589, hier S. 588. – Das Ulmer Gutachten datiert vom 28.6.1701, das Augsburger Gutachten vom 25.8.1701 (Gößner: Terministischer Streit [wie Anm. 13], S. 204–207 bzw. S. 213–216). Müller scheint mit einer Antwort gezögert zu haben, wie Veiels nachfassendes Schreiben vom 11. April 1701 zeigt (Kirchenbibliothek St. Mang Kempten, M.33, S. 594). 15 Dies geschah einrseits v. a. mit Hilfe der lange bekannten Tübinger Abschriften und andererseits erst 1956 nach Frankfurt ins Freie Deutsche Hochstift gelangter Originale. Paul Grünberg: Philipp Jakob Spener. Bd. 3. Göttingen 1906 [= Hildesheim 1988], S. 264–268 in der Zusammenstellung der Anfang des 20. Jahrhunderts bekannten Spener-Handschriften S. 267, Nr. 338a die Tübinger Ab-

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Natürlich ergaben die editorischen Arbeiten diverse weitere Einsichten, Korrekturen und Ergänzungen zu dem 1980 und 1989 vorgelegten16 Kenntnisstand. So wurden weitere fünf anonymisierte, gedruckte Schreiben Speners im dritten Teil seiner Consilia wieder Veiel zugewiesen.17 Wichtig ist die unter die „Briefe“ aufgenommene Kommentierung Speners zu Veiels durchaus differenziertem, gedrucktem Votum über die Pia Desideria, das – nun als solches erkannt – dem Begleitbrief zugeordnet wurde.18 Dies ist eines von mehreren Beispielen der auf pragmatische Weise erfolgten Revision einer ursprünglich wohl zu puristisch nur auf Spener-Briefe im engeren Sinn abzielenden Konzeption der Spener-Briefausgabe.19 – Bedauerlicherweise ist von den zu erschließenden über 30 Schreiben Veiels an Spener bisher keines gefunden. Die lapidare Feststellung von 1992 gilt: „Briefe Veiels [sc. an Spener] sind nicht überliefert.“20 Nun weiß man um den Fleiß des Briefschreibers Veiel. Unter den rund 250 Briefpartnern des Augsburger Geistlichen Gottlieb Spizel (1639–1691)

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schriften verzeichnet. Blaufuß: Spener-Arbeiten (wie Anm. 9), S. 108–109, 222, v. a. Anm. 33, 34a und 39 (zu Grünbergs Empfängeridentifizierungen im Jahr 1904). Freies Deutsches Hochstift: Katalog der Handschriften, bearbeitet von Jürgen Behrens u. a. Tübingen 1982, S. 505 (die SpenerBriefe an Elias Veiel; s. u. mit Anm. 29). Damals wurde, ausgehend von F. Gedickes Nachricht über seine Sammlung von Briefen an Spener (s. o. Anm. 4) in dreifacher Richtung gefragt: (1) nach dem Kreis von Speners Korrespondenten (Blaufuß: Spener-Arbeiten [wie Anm. 9], S. 65– 100), (2) nach der Möglichkeit der Renymisierung anonymisierter Adressaten – im dritten Teil von Speners Consilia (ebd., S. 133–140; auch ders.: Einleitung. Speners „Consilia et Iudicia theologica latina […] ex eiusdem litteris“ 1709. Bedeutung – Chronologie – Empfänger. In: Philipp Jakob Spener: Schriften. Hg. von Erich Beyreuther. Bd. XVI (= Consilia theologica latina I-III. Frankfurt/M. 1709) Teilbd. 1 (= Consilia I.II). Hildesheim 1989, S. 9*–90*, hier S.  34–80 nicht nur Beispiele aus Consilia III, wie schon Grünberg 1904; s. vorige Anmerkung) und (3) nach dem detaillierten Verlauf einer konkreten Korrespondenz, eben der von Spener – Veiel (Blaufuß: Spener-Arbeiten [wie Anm. 9], S. 101–131). SBrF 1, Nr. 141 und 161; SBrF 2, Nr. 108; SBrF 3, Nr. 74; SBrF 4, Nr. 25, in Consilia III [s. Anm. 16] an [Elias Veiel] gerichtet. SBrF 3, Nr. 197, hier die Beilage Z. 92–472, hier auch die Bezugsstellen aus Veiels Schrift jeweils herangezogen; bei Blaufuß: Spener-Arbeiten (wie Anm. 9), S. 117, Nr. 39 (und S. 137 zu 3,193– 194) nicht genannt. Dietrich Blaufuß: Der Briefwechsel Philipp Jacob Speners (1635–1705). Zur Revision editorischer Konzeptionen. In: ders.: Korrespondierender Pietismus. Ausgewählte Beiträge. Hg. von Wolfgang Sommer und Gerhard Philipp Wolf. Leipzig 2003, S. 387–411, hier die Einzelheiten zur Debatte über die Konzeption der Spener-Briefe-Edition 1986/1991. SBrF 1, S. 27, Anm. 1. – Die nur genannten gut 30 Schreiben Veiels sind für den Zeitraum von vor 1667 bis zum ersten Drittel 1699 ermittelt. Für 1666 bis 1681 und 1686 bis 1688, für welche Jahre die Spener-Briefe kritisch ediert vorliegen, handelt es sich um 22 bzw. drei Nummern.

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liegt Veiel mit ca. 210 Schreiben nach Augsburg weit an der Spitze,21 schon ab 1657 mit dem seit 1674 eng mit Spizel an St. Jakob bzw. der Barfüßerkirche in Augsburg zusammenarbeitenden Johann Jacob Müller korrespondierend. Dass man durch den Verlust der Briefe aus Ulm an Spener nur auf die eine Seite der Korrespondenz zugreifen kann, ist zu beklagen. Eine Zusammenführung der handschriftlich noch erhaltenen Veielschen Briefschaften22 indes würde über viele Bibliotheken, von bekannten bis zu nichtstaatlichen, führen. Und die Auswertung der vorhandenen Briefe Veiels würde sein KorrespondenzNetzwerk mehr und mehr deutlich werden lassen.23 Die erfreulichste Korrektur und Ergänzung im Zusammenhang der Erarbeitung der Spener-Briefausgabe bis 2010 ist natürlich die Ermittlung und Präsentation neuer, bisher z. T. ganz, z. T. hinsichtlich ihres Textes unbekannter oder unvollständig bekannter Stücke. So sind der 1980 möglich gewesenen Zusammenstellung von Briefen Speners an Veiel jetzt fünf Briefe hinzuzufügen. Sie liegen heute in Berlin,24 Krakau,25 Philadelphia26 und London27 und ermöglichen auch die Identifizierung von Teildrucken aus der Masse der ohne Empfängerangabe veröffentlichten Schreiben. 21 Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 2° Cod. Aug. 410: fol. 286–510. Vgl. Dietrich Blaufuß: Reichsstadt und Pietismus – Philipp Jacob Spener und Gottlieb Spizel aus Augsburg. Neustadt a. d. Aisch 1977 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 53), Register. 22 An gedruckten Briefen Veiels weist das große „Verzeichnis der gedruckten Briefe deutscher Autoren“ (1992 f., 2002) ganze sieben Stücke nach. Von Interesse sind die Schreiben Veiels an Johann Conrad Dannhauer von 1663–1664 (mit 1 Schreiben in SUB Hamburg: sup. ep. 89,1), wo u. a. Veiels Auseinandersetzung mit Leo Allatius, J. Duraeus und einer „factio syncretistarum“ in Brandenburg thematisiert werden. J. Hermann ab Elswich: Epistolae familiares […]. Leipzig / Frankfurt am Main 1718, S. 124–144, 176–184. 23 Nichtstaatliche Bibliothek: z.  B. die Kirchenbibliothek St. Mang in Kempten (M.33, Faulhabers Briefbuch, S. 499–595) enthält abschriftlich 71 von 1657 bis 1706 reichende Briefe (43–113) El. Veiels an Johann Jacob Müller (1639–1706). Aus Schreiben Veiels an G. Spizel zwischen dem 30. Januar 1673 und 6./16. Oktober 1680 wiederum lassen sich mindestens 15 Briefpartner ermitteln. Siehe weiter – auch zu Zürich, Kopenhagen und Hamburg – Blaufuß: Spener-Arbeiten (wie Anm. 9), S. 104–105, 220–221. 24 SBrF 1, Nr. 121 (d. i. Blaufuß: Spener-Arbeiten [wie Anm. 9], S. 116 Nr. 16 [Datum zu korrigieren!]) und Nr. 127 (ebd., nach Nr. 16). 25 SBrF 1, Nr. 161, der schon 1906 ‚bekannte‘, 1992 – aufgrund der Kriegsereignisse noch – in Krakau liegende Brief vom 29.7.1673. Vgl. Grünberg 3 (wie Anm.  15), S.  265, Nr.  326, wäre Blaufuß: Spener-Arbeiten (wie Anm. 9), S. 117, als Nr. 22a zu listen; vgl. S. 119. 26 SBrF 1, Nr. 45. Die hier etwas komplizierte Textüberlieferung s. ebd., Anm. 2 – Hinweis auf diesen Brief bei Christoph E. Schweitzer: Deutsche Dichterhandschriften in der Historical Society of Pennsylvania. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 8 (1964), S. 344–377, hier S. 372. 27 SBrD 2, Nr. 32. Der diesen Brief enthaltende Band Eg. 2,407 kam 1877 als Egerton Manuscripts zu einem Zeitpunkt nach London, als eine Privatsammlung von Handschriften in Deutschland aufgelöst wurde. Siehe zu den Details Blaufuß: Spener-Arbeiten (wie Anm. 9), S. 108–109. Catalogue of Additions to the Manuscripts in the British Museum in the years MDCCCLXXVI.–MDCCCLXXXI. London 1882, S. 578 (hier E. „Uniel“ für Veiel).

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Der Text eines weiteren Schreibens kann als sechster, ‚neuer‘ Brief den genannten fünf hinzugefügt werden. Bekannt war dieser Brief nach seinem Datum und dem Inhalt nur aus einem knappen Regest in der Tübinger Abschrift. Die 1992 erfolgte Einschätzung des Briefes als ein Postskriptum zum vorhergehenden Schreiben bestätigt sich aber nicht.28 Das Manuskript gelangte aus dem Antiquariatshandel in Privatbesitz. Es stammt aus der schon genannten, zum größeren Teil heute im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt am Main befindlichen Sammlung von Spener-Briefen an Elias Veiel.29 Inhaltlich fügt es sich dem vorangehenden Brief Speners an Veiel vom 26. Juni 1669 an. Die Spener schon beschäftigenden Probleme um den nicht nur in Frankfurt umtriebig auffallenden Baron Benedikt Skytta (1614–1683) ließen den Frankfurter Senior weniger als eine Woche nach einem Schreiben mit einschlägiger Schilderung zur Feder greifen. – (Die folgende Wiedergabe des ungeduckten Briefes erfolgt formal in Anlehnung an die in Anmerkung 1 genannte Spener-Briefausgabe.)

28 Blaufuß: Spener-Arbeiten (wie Anm. 9), S. 115, Brief Nr. 8. – SBrF 1, Nr. 37, Z. 117–125, hier aber mit der (dem missverständlichen Tübinger Regest verdankten) Vermutung, es handle sich „nicht um einen selbständigen Brief“ (Z. 119f.). 29 Dorthin sollte dieses Einzelmanuskript auch wieder ‚zurückkehren‘; vgl. Anm. 15.

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3. . Philipp Jacob Spener an Elias Veiel Frankfurt am Main, 1. Juli 1669 Inhalt Vermutet die Informationen [zu Skytta] des vorigen Briefes in Veiels Händen. Skytta agiert gewaltig gegen uns. Ärgernisse und ketzerische Ansichten. Kann sich in Frankfurt nicht halten. Drohungen vor allem gegen Spener. Skytta verharmlost lästerliche Reden als nur zum Schein (zur Wahrheitsfindung) geführt. Seine Zukunft. Frühe Unterrichtung ist Gewissenssache. Überlieferung

Abfertigung: Privatbesitz D. B.

A JESU nostro omnia bona! Vir Admodum Reverende, Amplissime et Excellentissime, domine, amice et in CHRISTO Frater Venerande. Quas superiori Septimana30 ad Te dedi, obtigisse credo: nunc alias ob hanc causam mitto: ut significem Baronem SKytte,31 c[ui]us in prioribus feci mentionem,32 multa nunc contra nos moliri.33 Urbe excedendum ei fuit,34 ob scandala, quae ipsius sermonibus impijs et dogmata, quae nuper significavi,35 complexis data […]36 ad 30 Spener an Elias Veiel, 26. Juni 1669; SBrF 1, Nr. 37. 31 Baron Benedikt Skytta (1614–1683), vielfältig in schwedischen Diensten, seit 1666 in Deutschland für ein außerordentliches Universitätsprojekt (beim Großen Kurfürsten zunächst mit Erfolg) werbend; s. Biogramm SBrF 1, S. 145, Anm. 15. Blaufuß: Reichsstadt und Pietismus (wie Anm. 21), S. 293 f., Anm. 51 (Literatur). 32 SBrF 1, Nr. 37, Z. 68–109. 33 Spener an Gottlieb Spizel, 22.7.1669, P.S.; SBrF 1, Nr. 38, Z. 141. Spener an NN, o. D. [1669/70]; SBrF 1, Nr. 39, Z. 67–72: Spener handelte pflicht- und wahrheitsgemäß im Auftrag des Ministeriums. 34 Drei Wochen später: „Monitus vero urbe ipse excessit.“ SBrF 1, Nr. 38, Z. 141. Schließlich: „[…] iterum hic vixit, sed non nisi publico hospitio, quod nemini negari solet.“ SBrF 1, Nr. 39, Z. 65–66. Siehe auch SBrF 1, Nr. 39, Z. 58–60 zum Magistratsbeschluss über Skytta. 35 SBrF 1, Nr. 37, Z. 81–88. Ausführlicher in SBrF 1, Nr. 38, Z. 123–136. In Frankfurt habe Skytta sich weniger krass als in Hanau geäußert und manches verschwiegen. Z.  137, vgl. Z.  127–129; SBrF 1, Nr. 37, Z. 77–78, 91–92. 36 Ein Wort gestrichen.

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Inclytum nostrum Magistratum detulimus.37 Nunc ergo nos, me vero inprimis, adoritur, et plurimis minis tanq.[uam] injuriam sibi factam ultum [?] terrere studet.38 Audio sermones blasphemos ita excusat, quod exercitij et veritatis eliciendae ca[us]a eos habuerit.39 Sed vel hac ra[ti]o[n]e scandalo nocuit nostris, et qui circumstantias probe ponderat, ne hoc quidem illi credit. Quid acturus sit, et qua ra[ti]o[n]e nos petiturus [sit], DEO et tempori committimus: haec v.[ero] maturius scribere volui, ut quae hic gererentur scires, et ut circumspectis agas circa ea, quae significavi, ne dum hic ipsocum nobis res est, fraudi esse possit, de eius impietate à me alibi etiam amicos esse monitos, quod t[ame]n. ut facerem et posthac faciam conscientia ipsa jubet. Vale in DOMINO. Francof.[urti] ad Moen.[um] Cal.[endis] Jul.[ii] 1669 Adm.[odum] Rev.[erentiae] T.[uae] Excell.[entissimae] ad preces et obsequia obstrictissimus observantissimus Philippus Jacobus Spenerus, D M[anu] p[ro]pria Viro Admodum Reverendo, Amplissimo, Excellentissimo, D[omi]no Eliae Veielio, SS. Theologiae Doctori Celeberrimo, Ecclesiastae et Professori in illustri Ulmensi, dignissimo, optime merenti. Domino, Fautori, amico et in CHRISTO Fratri suo Venerando. Ulmam. [von anderer Hand:] Ph. J. Spener ad Veielium 1669. Cal. Julii

37 Am 26. Juni 1669 drückt Veiel noch seine Hoffnung aus, dass sich der Magistrat der Sache annehmen werde. SBrF 1, Nr. 37, Z. 93–95. 38 SBrF 1, Nr. 39, Z. 67–68: „Multa mihi minatus est [sc. Skytta], sed minas facile spernere potui optimae causae confisus.“ 39 So auch SBrF 1, Nr. 38, Z. 142–146 , wo dies als Schutzbehauptung gewertet wird (Z. 144f.).

Wolfgang Mährle (Stuttgart)

Casa Sveva Pietro Giannones Bewertung der Kaiser und Könige aus . dem Haus Hohenstaufen 1. Das staufische Imperium und die politisch-historischen Debatten . in Neapel um 1700 In Süditalien stellten die Jahrzehnte um 1700 eine Zäsur in der Bewertung der staufischen Herrschaft dar.1 Die Wahrnehmung des 12. und 13. Jahrhunderts veränderte sich nicht in erster Linie durch neue geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse; entscheidende Bedeutung erlangte vielmehr die Verknüpfung der historischen Diskurse mit den zeitgenössischen politischen Debatten. Vor allem die intensiven Diskussionen, die im zeitlichen Umfeld des Spanischen Erbfolgekriegs um die Zukunft des Königreichs Neapel geführt wurden, strahlten auf die Historiografie aus und führten zu einer Infragestellung bisher kanonisierter oder zumindest allgemein akzeptierter Bewertungen.2 Die Modifikation tra1 Zur Dynastie der Staufer vgl. besonders Hans Martin Schaller: Stauferzeit. Ausgewählte Aufsätze. Hannover 1993; Die Staufer im Süden. Sizilien und das Reich. Hg. von Theo Kölzer. Sigmaringen 1996; Knut Görich: Die Staufer. Herrscher und Reich. München 2006; Hansmartin Schwarzmaier: Die Welt der Staufer. Wegstationen einer schwäbischen Königsdynastie. Leinfelden-Echterdingen 2009; Staufer & Welfen. Zwei rivalisierende Dynastien im Hochmittelalter. Hg. von Werner Hechberger und Florian Schuller. Regensburg 2009; Odilo Engels: Die Staufer. Mit Literaturnachträgen von Gerhard Lubich. Stuttgart u. a. 92010; Michael Prinz von Preußen: Die Staufer. Herrscher einer glanzvollen Epoche. Köln 2010; Die Staufer und Italien. Drei Innovationsregionen im mittelalterlichen Europa. Bd 1: Essays; Bd. 2: Objekte. Katalog zur Ausstellung der Länder Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen. Hg. von Alfried Wieczorek, Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter. Darmstadt 2010; Hartmut Ellrich: Die Staufer. Herrscherdynastie im hohen Mittelalter. Petersberg 2011. – Zum Stauferbild: Mythos Staufer. In memoriam Dankwart Leistikow. Akten der 5. Landauer Staufertagung 1.–3. Juli 2005. Hg. von Volker Herzner und Jürgen Krüger. Speyer 2010. 2 Die Verknüpfung von Politik und Geschichte zeigt sich außerhalb Süditaliens auch im Frühwerk Ludovico Antonio Muratoris; vgl. Sergio Bertelli: Erudizione e storia in Ludovico Antonio Muratori. Napoli 1960. Eine zusammenfassende Darstellung der politischen Debatten um 1700 für Italien fehlt. Für den neapolitanischen Kontext vgl. besonders Imma Ascione: „Le virtù e i pregi dell’imperator Federico“. F. D’Andrea e la nascita del partito austriaco a Napoli (1682–1698). In: Archivio storico per le provincie Napoletane 111 (1993), S. 131–211; dies.: La Francia di Luigi XIV nella coscienza politica napoletana. In: Spagna e Mezzogiorno d’Italia nell’età della transizione. Clas-

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ditioneller Bilder der Vergangenheit betraf nicht nur die Stauferzeit, sondern auch andere Epochen der antiken und mittelalterlichen Geschichte Italiens. Das wichtigste historische Werk, das im Königreich Neapel im frühen 18. Jahrhundert entstand, stellte die 1723 publizierte Istoria civile del Regno di Napoli von Pietro Giannone (1676–1748) dar.3 Giannone, von Beruf Advokat, beschrieb in seiner über 2.500 Druckseiten starken Studie die Geschichte Süditaliens von der Zeit der Unterwerfung des antiken Neapel unter die römische Herrschaft bis in seine eigene Gegenwart.4 Er wertete hierzu si sociali e fermenti culturali (1650–1760). Hg. von Luigi De Rosa und Luis Miguel Inciso Recio. Napoli 1997, S. 103–138; Angelantonio Spagnoletti: Il dibattito politico a Napoli sulla Successione di Spagna. In: Famiglie, nazioni e Monarchia. Il sistema europeo durante la Guerra di Successione spagnola. Hg. von Antonio Álvarez-Ossorio Alvariño. Roma 2004, S. 267–310. 3 Pietro Giannone: Dell’Istoria civile del Regno di Napoli libri XL. 4 Bde. Napoli 1723. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert. Orthografie und Interpunktion wurden beibehalten. Zur italienischen Historiografie des frühen 18. Jahrhunderts vgl. besonders Bertelli (wie Anm. 2); Carlo Ghisalberti: Gian Vincenzo Gravina. Giurista e storico. Milano 1962; Giuseppe Giarrizzo: Alle origini della medievistica moderna (Vico, Giannone, Muratori). In: Bullettino dell’Istituto storico italiano per il Medio Evo 74 (1962), S. 1–41 (wiederabgedruckt in: ders.: Vico, la politica e la storia. Napoli 1981, S. 9–51); Fausto Nicolini: Vico storico. Hg. von Fulvio Tessitore. Napoli 1967; Giuseppe Ricuperati: Cesare Baronio, la Storia Ecclesiastica, la Storia ‚Civile‘ e gli scrittori giurisdizionalisti della prima metà del XVIII secolo. In: Baronio storico e la controriforma. Hg. von Romeo De Maio, Luigi Gulia und Aldo Mazzacane. Sora 1982, S. 755–814; ders.: Alle origini della storiografia illuministica. Storia sacra e storia profana nell’età della crisi della coscienza europea. In: Il ruolo della storia e degli storici nelle civiltà. Hg. von Giuseppe Buttà. Messina 1982, S. 274–386; Carlo Borghero: La certezza e la storia. Cartesianismo, pirronismo e conoscenza storica. Milano 1983; Alfredo Cottignoli: Alla luce del vero. Studi sul Muratori storico. Bologna 1994; Marino Capucci: L’erudizione storica e Lodovico Antonio Muratori. Critica e storiografia letteraria. In: Storia della letteratura italiana. Hg. von Enrico Malato. Bd. 7: Il Settecento. Roma 1998, S. 369–440; Gian Paolo Romagnani: „Sotto la bandiera dell’istoria“. Eruditi e uomini di lettere nell’Italia del Settecento: Maffei, Muratori, Tartarotti. Sommacampagna 1999; Giuseppe Ricuperati: Comparatismo, storia universale, storia delle civiltà. Il mutamento dei paradigmi dalla „crisi della coscienza europea“ all’Illuminismo. In: Le passioni dello storico. Studi in onore di Giuseppe Giarrizzo. Hg. von Antonio Coco. Catania 1999, S. 511–580. 4 Zusammenfassend zur Biografie und zum Werk Giannones vgl. besonders Sergio Bertelli: Introduzione. In: Pietro Giannone: Opere. Hg. von S. Bertelli und Giuseppe Ricuperati. Milano / Napoli 1971, S. XI–XXVI; Pietro Giannone e il suo tempo. Hg. von Raffaele Ajello. 2 Bde. Napoli 1980; Gustavo Costa: Preilluminismo meridionale: Giannone e Vico. In: Storia della letteratura italiana. Hg. von Enrico Malato. Bd. 7: Il Settecento. Roma 1998, S. 313–368, hier S. 322–334; Andrea Merlotti: Giannone, Pietro. In: Dizionario biografico degli Italiani. Bd. 54. Roma 2000, S. 511–518; Giuseppe Ricuperati: Pietro Giannone da Napoli a Vienna, alle prigioni piemontesi: per una rilettura critica. In: Legge, poesia e mito. Giannone, Metastasio e Vico fra „tradizione“ e „trasgressione“ nella Napoli degli anni venti del Settecento. Hg. von Mario Valente. Roma 2001, S. 31–78; Gisela Schlüter: Pietro Giannone, Historiker Neapels und europäischer Aufklärer. In: Neapel. Sechs Jahrhunderte Kulturgeschichte. Hg. von Salvatore Pisani und Katharina Siebenmorgen. Berlin 2009, S. 431–438. Zur Jugend Giannones vgl. Ciro Cannarozzi: Pietro Giannone nei primi diciotto anni di vita. o. O. [Firenze] 1950.

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zahlreiche Primärquellen, in großem Umfang jedoch auch historiografische Sekundärquellen aus. Das Ziel der Darstellung war nicht allein ein geschichtswissenschaftliches, sondern wesentlich ein politisches: Im Sinne des giurisdizionalismo versuchte Giannone, die historische Illegitimität kirchlicher Machtansprüche in Süditalien nachzuweisen.5 Die Arbeit ist im Kontext der Reformpolitik zu sehen, die während der Zeit der österreichischen Herrschaft über das Königreich Neapel (1707–1734) von Kaiser Karl VI. praktiziert wurde.6 Giannones

Zur Flucht aus Neapel: Gisela Schlüter: San Gennaro oder die Ohnmacht der Vernunft. Zum Fall Pietro Giannone. In: Romanische Forschungen 108 (1996), S. 50–88. Neuere Quelleneditionen zur Biografie: Giannoniana. Autografi, manoscritti e documenti della fortuna di Pietro Giannone. Hg. von Sergio Bertelli. Milano / Napoli 1968; Pietro Giannone: Epistolario. Hg. von Pantaleo Minervini. Fasano di Brindisi 1983; Pietro Giannone: Lettere autografe. Hg. von Pantaleo Minervini. Fasano di Brindisi 1990; Pietro Giannone. 3 Bde. Hg. von Giulio De Martini. Napoli 1998. Zu den Editionsprojekten vgl. u. a. Giuseppe Ricuperati: Dopo la Giannoniana: problemi di edizione, nuovi reperimenti di fonti e l’introduzione perduta del Triregno. In: L’Europa fra Illuminismo e Restaurazione. Scritti in onore di Furio Diaz. Hg. von Paolo Alatri. Roma 1993, S. 47–88. Zum Verhältnis zu Vico vgl. u. a. Gisela Schlüter: Giannone und Vico. Eine Bestandsaufnahme nebst einer Detailfrage. In: Gelehrsamkeit in Deutschland und Italien im 18. Jahrhundert. Letterati, erudizione e società scientifiche negli spazi italiani e tedeschi del ’700. Hg. von Giorgio Cusatelli, Maria Lieber, Heinz Thoma und Eduardo Tortarolo.Tübingen 1999, S. 26–40. Zum Kontext des Werks Giannones vgl. daneben besonders Giuseppe Ricuperati: La città terrena di Pietro Giannone. Un itinerario tra „Crisi della coscienza europea“ e Illuminismo radicale. Firenze 2001; ders.: Nella costellazione del „Triregno“. Testi e contesti giannoniani. Hg. von Duccio Canestri. San Marco in Lamis 2004. 5 Zur Verortung der Istoria civile innerhalb des neapolitanischen giurisdizionalismo vgl. besonders Lino Marini: Pietro Giannone e il giannonismo a Napoli nel Settecento. Lo svolgimento della coscienza politica del ceto intellettuale del regno. Bari 1950; Agostino Lauro: Il giurisdizionalismo pre-giannoniano nel regno di Napoli. Problema e bibliografia (1563–1723). Roma 1974. Giannones Werk wird oft als Höhepunkt des giurisdizionalismo in Neapel begriffen; vgl. z. B. Dino Carpanetto und Giuseppe Ricuperati: L’Italia del Settecento. Crisi, trasformazioni, lumi. Roma / Bari 1986, S. 136. 6 Zur Geschichte des Königreichs Neapel unter der habsburgischen Herrschaft vgl. besonders Heinrich Benedikt: Das Königreich Neapel unter Kaiser Karl VI. Eine Darstellung auf Grund bisher unbekannter Dokumente aus den österreichischen Archiven. Wien / Leipzig 1927; ders.: Kaiseradler über dem Apennin. Die Österreicher in Italien 1700 bis 1866. Wien / München 1964; Antonio Di Vittorio: Gli Austriaci e il Regno di Napoli 1707–1734. 2 Bde. Napoli 1969–1973; Giuseppe Ricuperati: Napoli e i Viceré austriaci 1707–1734. In: Storia di Napoli. Storia politica ed economica. Bd. 4. Napoli 1976, S. 349–443; Giuseppe Giarrizzo: Un „Regno governato in provincia“: Napoli tra Austria e Spagna (1690–1740). In: Paolo Maria Doria fra rinnovamento e tradizione. Galatina 1985, S. 311–325; Elisabeth Garms-Cornides: Il regno di Napoli e la monarchia austriaca. In: Settecento napoletano. Sulle ali dell’aquila imperiale 1707–1734. Napoli 1994, S. 17–34; Franz Pesendorfer: Österreich – Großmacht im Mittelmeer? Das Königreich Neapel-Sizilien unter Kaiser Karl VI. (1707/20–1734/35). Wien u. a. 1998; Antonio Cirillo: Napoli ai tempi di Gianbattista Vico. Napoli 2000; Giuseppe Galasso: Il Regno di Napoli. Il Mezzogiorno spagnolo e austriaco (1622–1734). Torino 2006.

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Istoria civile wurde nicht nur in Italien rezipiert, sondern bis 1770 auch in das Englische, in das Französische und in das Deutsche übersetzt.7 Im vorliegenden Aufsatz analysiere ich die Darstellung der Kaiser und Könige aus dem Haus Hohenstaufen im Geschichtswerk Giannones. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Aussagen über die Herrscher aus dem schwäbischen Geschlecht und ihr politisches Handeln Giannone trifft und welche Bewertungen er vornimmt. In diesem Zusammenhang sollen auch die erzählerischen Kontexte in den Blick genommen werden, innerhalb derer der Neapolitaner die Herrscherporträts der Staufer in der Istoria civile entwickelt. Daneben skizziere ich, wie die im Werk Giannones vermittelten Geschichtsbilder in der historiografischen Tradition über das Königreich Neapel verortet werden können. Andere Problemstellungen, deren Diskussion ebenfalls von großem wissenschaftlichem Interesse wäre, können im Rahmen dieses Beitrags allenfalls punktuell berührt werden: so etwa die wichtige Frage nach der Textentstehung, d. h. der historischen Methode Giannones, aber auch Fragen nach der Darstellungstechnik des Süditalieners. Außerhalb des Erkenntnisinteresses dieses Aufsatzes bleibt zudem das Problem, wie plausibel die historiografischen Positionen Giannones aus der Sicht der modernen Geschichtswissenschaft sind. Die Untersuchung konzentriert sich im Folgenden auf diejenigen Kaiser bzw. Könige, die eine größere Bedeutung für die historische Entwicklung Süditaliens erlangten und deren Profil Giannone daher in der Istoria civile detaillierter entwickelt hat: die Kaiser Friedrich I. Barbarossa, Heinrich VI. und Friedrich II. sowie die Könige Konrad IV., Manfred und Konradin. Andere Angehörige der Casa Sveva, wie z. B. die Könige Konrad III., Philipp von Schwaben, Heinrich (VII.) und Enzio, werden im Text Giannones nicht oder nur am Rande erwähnt. Sie finden in diesem Aufsatz keine Berücksichtigung. Die Darstellung der staufischen Herrscherpersönlichkeiten durch den Neapolitaner Historiker wurde in der vorhandenen, insgesamt reichen Literatur zur Istoria civile noch nicht systematisch analysiert.8 Die bisherigen Untersuchungen zu Giannones Ge7 Übersetzungen der Istoria civile: Pietro Giannone: The Civil history of the kingdom of Naples. Übers. von James Ogilvie. London 1729–1731; Pierre [Pietro] Giannone: Histoire civile du royaume de Naples. [Übers. von Jean Bedevolle oder Desmonceaux de Villeneuve]. La Haye [Genève] 1742; Peter [Pietro] Giannone: Bürgerliche Geschichte des Königreichs Neapel. Übers. und hg. von Christian Otto von Lohenschiold [sic!] (Bde. 1–2) und Johann Friderich le Bret (Bde. 3–4). Ulm u. a. 1758–1770. Zur Rezeption in Europa vgl. besonders Georges Bonnant: Pietro Giannone à Genève et la publication de ses oeuvres en Suisse au XVIIIème et XIXème siècles. In: Annali della scuola speciale per archivisti e bibliotecari dell’Università di Roma 3 (1963), S. 119–138; Hugh Trevor-Roper: Pietro Giannone and Great Britain. In: The Historical Journal 39 (1996), S. 657–675; John Robertson: Gibbon and Giannone. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 355 (1997), S. 3–19. 8 Vgl. besonders Fausto Nicolini: Le teorie politiche di Pietro Giannone. Napoli 1915; Antonio Corsano: Il pensiero religioso italiano dall’umanesimo al giurisdizionalismo. Bari 1937, S. 130–178; Carmelo Caristia: Pietro Giannone, „giureconsulto“ e „politico“. Contributo alla storia del giurisdizionalismo italiano. Milano 1947; Marini (wie Anm. 5), besonders S. 69–92; Carmelo Caristia:

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schichtswerk galten insbesondere den politischen Implikationen des Werks, den Fragen der historischen Methodik (Vorwurf des Plagiarismus) sowie einzelnen inhaltlichen Aussagen, die sich zum Teil auch auf die Epoche des schwäbischen Herrscherhauses, vor allem auf die Regierungszeit Kaiser Friedrichs II., bezogen.

2. Das Bild der staufischen Kaiser und Könige in der Istoria civile del Regno di Napoli von Pietro Giannone a) Das Scheitern der imperialen Politik: Friedrich I. Barbarossa Die Regierung Kaiser Friedrichs I. kommt in der Istoria civile nur selektiv in den Blick.9 Interessant aus der neapolitanischen Perspektive Giannones ist vor allem die Italienpolitik Barbarossas, daneben – mit Abstrichen – seine Rolle als Vorkämpfer der Christenheit, besonders im 1189 begonnenen Dritten Kreuzzug. Andere Aspekte des Kaisertums Friedrichs I., so beispielsweise dessen mitteleuropäische Herrschaftsgrundlagen sowie die PoliPietro Giannone, l’Istoria civile e altri scritti giannoniani. Milano 1955; Brunello Vigezzi: Pietro Giannone riformatore e storico. Milano 1961, S. 101–209; Fiorenza Fiorentino: Le fonti dell’‚Istoria civile‘ di Pietro Giannone. In: Belfagor. Rassegna di varia umanità 19 (1964), S. 141–153, 397–410, 517–553; Giuseppe Ricuperati: L’esperienza civile e religiosa di Pietro Giannone. Milano / Napoli 1970, S. 143–229; Sergio Bertelli: Istoria civile del Regno di Napoli. Nota introduttiva. In: Giannone (wie Anm. 4), S. 349–364; Raffaele Ajello: Pietro Giannone fra Libertini e Illuministi. In: Rivista storica italiana 87 (1975), S. 104–131; ders.: Arcana juris. Diritto e politica nel Settecento italiano. Napoli 1976, S. 229–272; ders.: Stato e società nell’‚Istoria civile‘. In: Pietro Giannone e il suo tempo. 2 Bde. Napoli 1980. Bd. 1, S. 343–366; Giuseppe Galasso: „La filosofia in soccorso de’ governi“. La cultura napoletana del Settecento. Napoli 1989, S. 323–334; Giulio Firpo: L’Italia Romana nell’‚Istoria civile‘ di Giannone. In: Rivista storica italiana 117 (2005), S. 423–447. 9 Zu Kaiser Friedrich I. vgl. besonders Heinrich Appelt: Friedrich Barbarossa (1152–1190). In: Kaisergestalten des Mittelalters. Hg. von Helmut Beumann. München 21985, S. 177–198; Franco Cardini: Il Barbarossa: Vita, trionfi e illusioni di Federico I imperatore. Milano 1985; Stefan Weinfurter: Stauferreich im Wandel. Ordnungsvorstellungen und Politik in der Zeit Friedrich Barbarossas. Stuttgart 2002; Joachim Ehlers: Friedrich I. Barbarossa (1152–1190). In: Die deutschen Herrscher des Mittelalters. Historische Portraits von Heinrich I. bis Maximilian I. (919–1519). Hg. von Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter. München 2003, S. 232–257, 579–581; Federico Barbarossa. Hg. von Mario Barboni. Siena 2008; Johannes Laudage: Friedrich Barbarossa (1152–1190). Eine Biografie. Hg. von Lars Hageneier und Matthias Schrör. Regensburg 2009; Ferdinand Opll: Friedrich Barbarossa. Darmstadt 42009 (11990); Pierre Racine: Frédéric Barberousse (1152–1190). Paris 2009; Knut Görich: Friedrich Barbarossa: Eine Biographie. München 2011. – Speziell zum Barbarossa-Bild im Mittelalter und in der Neuzeit: Federico Barbarossa nel dibattito storiografico in Italia e in Germania. Hg. von Raoul Manselli und Josef Riedmann. Bologna 1982; Barbarossa. Historie – Mythos – Marketing. Ausstellung im Theodor-Zink-Museum Kaiserslautern 26. Juni bis 26. September 2010. Kaiserslautern 2010.

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tik, die der Staufer nördlich der Alpen verfolgte, werden von Giannone kaum thematisiert. Die Persönlichkeit Kaiser Friedrichs I. ist in der Istoria civile nicht stimmig dargestellt. Barbarossa wird in verschiedenen Textpassagen, insbesondere in der abschließenden Würdigung im 2. Kapitel des 13. Buches, als positive Figur gezeichnet. Giannone charakterisiert den staufischen Kaiser unter anderem als mutig und klug10 sowie als Liebhaber der Gelehrsamkeit.11 Auch zeigt er, dass Friedrich I. in schwierigen Verhandlungen, wie etwa denjenigen mit Papst Alexander III. im Jahr 1177 zu taktischem Verhalten fähig gewesen ist.12 Diesen positiven Konnotationen stehen jedoch zahlreiche negative gegenüber. So erscheint der Stauferkaiser verschiedentlich als impulsiver, ja hitzköpfiger Akteur. Übertriebene Ehrsucht, anmaßender Stolz, Überheblichkeit sowie Empfänglichkeit für Schmeicheleien waren nach Giannone weitere negative Eigenschaften Friedrichs I.13 Zwiespältig, im Ganzen jedoch eher negativ ist Giannones Beurteilung der politischen Leistung Kaiser Friedrichs I. Der Neapolitaner Historiker bezeichnet Barbarossa zwar in seiner abschließenden Bewertung im Buch 13 als „glorioso Principe“ [ruhmreichen Fürsten] bzw. als „grande, e valorosissimo Principe“ [großen und sehr tapferen Fürsten].14 Diese geradezu überschwänglichen Einschätzungen des politischen Lebenswerks Kaiser Friedrichs I. stehen jedoch in eklatantem Widerspruch zu den konkreten Ergebnissen von Giannones historischer Analyse. Der Süditaliener bewertet in der Istoria civile lediglich einige wenige politische Initiativen Barbarossas positiv, so etwa sein Kreuzzugsunternehmen sowie seinen Einsatz für die Rechtsgelehrsamkeit in Italien.15 Dominant ist eine Sichtweise, in welcher der erste staufische Kaiser als überzeugter Verfechter einer imperialen Programmatik wahrgenommen wird, die auf eine Oberherrschaft über alle abendländischen Monarchien abzielte. Derartige kaiserliche Machtansprüche weist Giannone vehement zurück. Bereits in der ersten Textpassage seines Geschichtswerks, in der Giannone das Herrschaftsprogramm und die Politik Friedrichs I. bespricht, bringt er seine Ablehnung der politischen Agenda Barbarossas offen zum Ausdruck.16 Das angebliche Bestreben des Stauferkaisers, sich zum „Signore di tutto il Mondo“ [Herren der ganzen Welt] aufzuschwingen, war nach Meinung des neapolitanischen Gelehrten ohne rechtliche und politische Basis, sondern vielmehr eine bloße „pretensione“ [Anspruch] bzw. eine „fantasia“ [fantastische Idee]. Giannone vergleicht die Ansprüche Friedrichs I. auf eine Lehnsoberherrschaft über die europäischen Königreiche mit den gleichzeitigen päpstlichen Versu10 11 12 13 14 15 16

Giannone (wie Anm. 3), Buch 11, Kapitel 7, Abschnitt 1. Ebd., Buch 13, Kapitel 2. Ebd., Buch 12, Kapitel 2; Buch 13, Kapitel 1. Ebd., Buch 12, Kapitel 1. Ebd., Buch 13, Kapitel 2, Abschnitt 1. Ebd., Buch 11, Einleitung. Zum Folgenden vgl. ebd., Buch 11, Einleitung (vgl. auch Buch 12, Einleitung, Abschnitt 1).

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chen, sich bisher souveräne Monarchien lehnsabhängig zu machen. Im Hinblick auf die Juristen des 12. Jahrhunderts, welche die ambitionierten kaiserlichen oder päpstlichen Herrschaftsansprüche rechtfertigten, bemerkt er: Ma se bene erano fra lor divisi in sostenere le pretensioni, o dell’uno, o dell’altro [des Papstes bzw. des Kaisers, W. M.]: furono però d’accordo in dire, che tutte le Sovranità del Mondo Cristiano dipendessero, o dal Papa, o dall’Imperadore. Proposizione quanto falsa, altrettanto repugnante al buon senso, ed a quel che osserviamo negli altri Regni, e Monarchie; poichè la Sovranità non procede altronde, che o dalla conquista, o dalla sommessione de’ Popoli [...].17 [Aber obwohl sie untereinander uneins darüber waren, ob sie die Ansprüche des Papstes oder des Kaisers unterstützen sollten, stimmten sie überein zu behaupten, dass die gesamte Hoheit über die christliche Welt einem von beiden gebühren müsse. Eine völlig falsche Ansicht, die ebenso dem gesunden Menschenverstand entgegensteht, wie dem, was wir in den anderen Königreichen und Monarchien beobachten; denn die Souveränität geht auf nichts anderes zurück als auf die Eroberung oder die Einwilligung der Völker.]

Auf Ablehnung Giannones stoßen auch die historischen Versuche Barbarossas, seine Herrschaftsansprüche unter Berufung auf das Imperium Karls des Großen zu legitimieren. Der Neapolitaner weist in der Istoria civile darauf hin, dass „molti Regni, e molte Province“ [viele Königreiche und viele Provinzen], die der karolingische Kaiser unter seiner Regierung vereint habe, nachher vom Reich abgefallen seien und, so Giannones Schlussfolgerung, daher ihre ursprüngliche Souveränität wieder erlangt hätten. Ansprüche, die in späterer Zeit, so auch von Friedrich I., auf Oberherrschaft über diese Gebiete geltend gemacht worden seien, entbehrten jeder Grundlage. Noch weniger besäßen die Kaiser ein Herrschaftsrecht über diejenigen Territorien, die bereits zur Zeit Karls des Großen nicht zum Reich gehört hatten, wie etwa den größten Teil Süditaliens. Im Übrigen konstatiert Giannone, dass die imperialen Konzeptionen, die Barbarossa vertreten habe, bereits im Hochmittelalter keinesfalls unumstritten gewesen seien. So habe der französische Hof im Unterschied zu Friedrich I. den Kaisertitel als zur französischen Monarchie gehörig betrachtet. Insgesamt seien die Herrschaftsrechte Barbarossas denjenigen anderer ‚souveräner‘ Könige vergleichbar. Das kaiserliche Amt des Staufers habe im 12. Jahrhundert keine Oberherrschaft über das gesamte Abendland begründet, sondern sei „ristretto nell’Alemagna“ [auf Deutschland beschränkt] gewesen. Giannone betont in der Istoria civile, dass die imperiale Politik Barbarossas gescheitert sei. Die Italienpolitik Friedrichs I., die er in diesem Zusammenhang sieht, hat sich nach Meinung des Neapolitaners als völliger Fehlschlag erwiesen: Die dauerhafte Kontrolle der lombardischen Städte sei misslungen, Barbarossa habe sich nach der Niederlage von Legnano mit dem Papst 1177 in Venedig unter für ihn demütigen Umständen vergleichen müssen. Gegen König Wilhelm I. von Sizilien habe er seine Herrschaftsansprüche eben-

17 Ebd., Buch 11, Einleitung.

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falls nicht durchsetzen können.18 Auch in Mitteleuropa sei die imperiale Politik Barbarossas gescheitert: Giannone behauptet, der Staufer habe aufgrund seines kaiserlichen Selbstverständnisses Königstitel an Peter von Dänemark und die Herzöge von Österreich und Böhmen verliehen. Der Versuch, diese Herrscher durch Statuserhöhungen an sich zu binden, sei jedoch misslungen. Während der König von Dänemark den Erwerb des Königstitels dazu missbraucht habe, um sich der Oberherrschaft des Kaisers sukzessive zu entziehen, wurde dem „Duca d’Austria“ [Herzog von Österreich] der königliche Status angeblich nach einiger Zeit wieder aberkannt.19 Vor diesem Hintergrund bewertet Giannone die von ihm erwähnte „terribile lettera“ [schrecklicher Brief ] Barbarossas an Sultan Saladin, in dem er in der Nachfolge des römischen Kaisertums Gebiete in Asien für sich reklamiert habe, als unerträgliche Anmaßung.20 Die Charakterisierung Friedrichs I. Barbarossa als eines überheblichen, in der historischen Realität gescheiterten Herrschers wird in der Istoria civile erzähltechnisch dadurch verstärkt, dass der Neapolitaner dem Stauferkaiser eine strahlende Gegenfigur entgegenstellt. Es handelt sich um den Normannenkönig Roger II., der Giannone zufolge nahezu alle positiven Herrscherattribute auf sich vereinigen konnte.21 Roger habe jedoch nicht nur durch seine Persönlichkeit überzeugt, sondern ihm sei es – allen bestehenden Widrigkeiten zum Trotz – gelungen, seine Macht im Königreich Sizilien zu befestigen und auszubauen. Giannones Bild Kaiser Friedrichs I. knüpft an die Diskussionen an, die bereits im 12. Jahrhundert geführt wurden und die sich in den überlieferten Quellen widerspiegeln.22 Dies gilt insbesondere für die in der Istoria civile zentrale Frage nach der Stellung des Kaisertums im Abendland, deren Beantwortung im Hochmittelalter umstritten war. Von einer bemerkenswerten Konsequenz ist indes die Art und Weise, wie Giannone die Informationen seiner Quellen zu einem Porträt des Stauferherrschers verarbeitet, das den Problemhorizont des Hochmittelalters weitestgehend durch die Fragestellungen des frühen 18. Jahrhunderts ersetzt. So löst Giannone die politisch-historiografischen Diskurse des 12. Jahrhunderts vollständig aus ihrem heilsgeschichtlichen Bezugsrahmen und bettet sie in den Problemhorizont seiner Gegenwart ein. Prägend ist bei Giannone der Gegensatz zwischen einer imperialen und einer ‚nationalen‘ Staatskonzeption; er bestimmt wesentlich das insgesamt negative Urteil über den ersten Kaiser aus der Casa Sveva. Durch seine spezifische, gegenwartsbezogene Konzeption des Porträts Barbarossas hebt sich Giannones Darstellung notwendigerweise ab von wichtigen Werken der älteren Geschichtsschreibung über das Königreich Neapel (z. B. Pandolfo Collenuccio: Compendio de le istorie del 18 19 20 21 22

Ebd., Buch 12, Einleitung, Abschnitt 1. Ebd., Buch 11, Einleitung. Ebd., Buch 12, Einleitung, Abschnitt 1. Vgl. besonders ebd., Buch 11, Kapitel 7. Odilo Engels: Federico Barbarossa nel giudizio dei suoi contemporanei. In: Manselli und Riedmann (wie Anm. 9), S. 45–81.

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Regno di Napoli, ca. 1500, publiziert posthum 1539; Giovanni Antonio Summonte: Dell’Historia della città, e regno di Napoli, 1601).23

b) Ein grausamer Despot: Heinrich VI. Obwohl Kaiser Heinrich VI. der erste Staufer war, der auch über Süditalien herrschte, wird ihm in der Istoria civile nur eine untergeordnete Rolle zuteil.24 Giannone zeichnet im 14. Buch seines Geschichtswerks ein überaus negatives Bild von der Persönlichkeit Heinrichs. Er fasst zusammen: Fù Errico, secondo che scrive Goffredo da Viterbo, di vago, e signoril sembiante, ma per quel che dalle sue laide opere si vede, di costumi oltre modo biasmevoli, e crudeli, spergiuro, e senza fede, ed avidissimo di moneta, e sopra tutto nemico de’ Romani Pontefici [...].25 [Heinrich hatte, nach der Darstellung Gottfrieds von Viterbo, ein anmutiges und vornehmes Antlitz, aber wie seine unanständigen Handlungen erkennen lassen, zeichnete er sich durch überaus tadelswerte und grausame Gewohnheiten aus, war eidbrüchig und ohne Glaube, sehr geldgierig und insbesondere ein Feind der römischen Päpste.]

Die politischen Ziele des Stauferkaisers thematisiert Giannone kaum. Er beschränkt sich stattdessen darauf, die Herrschaftsmethoden Heinrichs VI. herauszustellen und diesen als Repräsentanten eines von unerbittlicher Strenge und Grausamkeit geprägten Regierungsstils zu charakterisieren. Mit seiner Beurteilung steht der Neapolitaner Gelehrte in einer wirkungsmächtigen historiografischen Tradition, die an die zeitgenössischen Gegner des Stauferherrschers anknüpfte.26 Er folgt den Kritikern Heinrichs VI. auch darin, dass er – wie in obigem Zitat erkennbar – versucht, die Politik des Kaisers aus dessen Charakter abzuleiten. Giannone veranschaulicht die seiner Meinung nach gewaltbestimmte Politik Heinrichs VI. in der Istoria civile mit zahlreichen Beispielen.27 So habe der Staufer etwa, als er 23 Pandolfo Collenuccio: Compendio de le istorie del Regno di Napoli. Hg. von Alfredo Saviotti. Bari 1929, S. 53–55; zu Collenuccio vgl. Eduardo Melfi: Collenuccio (Coldonese, da Coldenose), Pandolfo. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Bd. 27. Roma 1982, S. 1–5; Giovanni Antonio Summonte: Dell’Historia della città, e regno di Napoli. Napoli 21675, Buch 2, Kapitel 3 und 4. 24 Zu Kaiser Heinrich VI. vgl. besonders Peter Csendes: Heinrich VI. Darmstadt 1993; Hartmut Jericke: Imperator Romanorum et Rex Siciliae – Kaiser Heinrich VI. und sein Ringen um das normannisch-sizilische Königreich. Frankfurt am Main 1997; Kaiser Heinrich VI. Ein mittelalterlicher Herrscher und seine Zeit. Hg. von der Gesellschaft für staufische Geschichte. Göppingen 1998; Joachim Ehlers: Heinrich VI. (1190–1197). In: Schneidmüller und Weinfurter (wie Anm. 9), S. 258– 271, 582f.; Hartmut Jericke: Kaiser Heinrich VI. – Der unbekannte Staufer. Gleichen / Zürich 2008; Gerd Althoff: Kaiser Heinrich VI. In: Hechberger und Schuller (wie Anm. 1), S. 142–155. 25 Giannone (wie Anm. 3), Buch 14, Kapitel 1. 26 Explizite Kritik an dieser Sichtweise zuletzt von Jericke (wie Anm. 24), S. 133. 27 Giannone (wie Anm. 3), Buch 14, Einleitung und Kapitel 1.

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im Jahr 1191 die Belagerung Neapels abbrechen musste, die Gegend um die Stadt vollständig verheert. In seinem Kampf um die sizilische Krone habe er des Weiteren die letzten Angehörigen des normannischen Königshauses und ihre Anhänger erbarmungslos verfolgt und zum Teil auf fürchterliche Weise ums Leben gebracht. Grausamkeit und Rachsucht Heinrichs VI. haben laut Giannone sogar vor den Toten nicht Halt gemacht. So habe der Kaiser aus niedrigen Motiven die Leichname des Königs Tankred sowie seines Sohnes Roger ausgraben lassen, um ihnen die königlichen Kronen abzunehmen, mit denen sie bestattet wurden. Giannone greift zudem in der Istoria civile eine nicht gesicherte Überlieferung auf, der zufolge die Grausamkeit Heinrichs auch seiner Frau Konstanze zu weit gegangen sei; sie habe sich daher gegen ihren Ehemann verschworen. Die von Giannone unterstellte Gewaltstrategie Heinrichs VI. hat den Analysen des Neapolitaner Gelehrten zufolge zwar temporäre Erfolge gezeitigt, eine dauerhafte Befriedung Süditaliens sei jedoch auf diese Weise nicht gelungen. Nichtsdestotrotz habe der Staufer an seiner kompromisslosen Vorgehensweise festgehalten. Alle Mahnungen zur Mäßigung, auch von päpstlicher Seite, seien bei Heinrich VI. auf taube Ohren gestoßen. Erst kurz vor seinem Tod habe der Kaiser sein Handeln aufrichtig bereut und ein gottgefälliges Testament aufsetzen lassen, in dem er frühere Gegner, unter anderem auch den englischen König Richard Löwenherz, schadlos gestellt habe. Die Reue Heinrichs VI. vor seinem Tod erscheint in der Istoria civile als einziger positiver Aspekt in einem ansonsten von unbändiger und sinnloser Gewalt geprägten kaiserlichen Leben.

c) Ein vorbildlicher Herrscher und Staatsmann: Friedrich II. Friedrich II. war in der europäischen Historiografie stets der umstrittenste der drei Kaiser aus dem Haus Hohenstaufen.28 Die langjährigen Konflikte Friedrichs mit den römischen Päpsten führten bereits zu seinen Lebzeiten zu einer Polarisierung der politischen Meinung. Nach dem Tod des Kaisers blieb vor allem in Italien eine kritische Beurteilung sei-

28 Zu Kaiser Friedrich II. vgl. besonders Ernst Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite. Berlin 1927 (zahlreiche Neuauflagen und Nachdrucke); Stupor mundi. Zur Geschichte Friedrichs II. von Hohenstaufen. Hg. von Gunther Wolf. Darmstadt 21982; David Abulafia: Herrscher zwischen den Kulturen. Friedrich II. von Hohenstaufen. Berlin 1991; Friedrich II. Tagung des Deutschen Historischen Instituts in Rom im Gedenkjahr 1994. Hg. von Arnold Esch und Norbert Kamp. Tübingen 1996; Klaus van Eickels: Friedrich II. (1212–1250). Mit Heinrich (VII.) (1222–1235). In: Schneidmüller und Weinfurter (wie Anm. 9), S. 293–314, 585f.; Hannes Möhring: König der Könige. Königstein 2004; Federico II. Enciclopedia Fridericiana. Hg. vom Istituto dell’Enciclopedia Italiana. 3 Bde. Roma 2005–2008; Hubert Houben: Kaiser Friedrich II. (1194–1250). Herrscher, Mensch, Mythos. Stuttgart u. a. 2008; Kaiser Friedrich II. (1194–1250). Welt und Kultur des Mittelmeerraums. Hg. von Mamoun Fansa und Karen Ermete. Mainz 2008; Wolfgang Stürner: Friedrich II. 1194–1250. Darmstadt 32009; Olaf B. Rader: Friedrich der Zweite. Der Sizilianer auf dem Kaiserthron. München 2010.

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nes Regierungshandelns während mehrerer Jahrhunderte vorherrschend.29 Eine für den Neapolitaner Kontext wichtige Ausnahme stellte der aus Pesaro stammende Historiker Pandolfo Collenuccio (1444–1504) dar, der um 1500 ein Compendio de le istorie del Regno di Napoli verfasste (postum publiziert, 1539).30 Doch war trotz dieses Werks Collenuccios noch im 17. Jahrhundert eine positive Würdigung Kaiser Friedrichs II. vielerorts eine Art Tabu. Einen wichtigen Anteil an der Revision des negativen Bildes von Friedrich II. in Neapel hatte der bedeutende Jurist, Philosoph und Politiker Francesco D’Andrea (1625– 1698).31 D’Andrea wies im Jahr 1682 in einem unveröffentlichten Memorandum auf die Illegitimität der Exkommunikation und Absetzung Kaiser Friedrichs II. durch die Päpste Gregor IX. und Innozenz IV. hin. Gleichzeitig stellte er die Leistungen des Staufers für das mittelalterliche Königreich Sizilien heraus. D’Andreas Meinung erlangte im politischen Diskurs in Neapel bald eine bestimmende Bedeutung. Friedrich II. wurde mehr und mehr zu einer Symbolfigur für eine engagierte staatliche Reformpolitik. Das Ansehen des Staufers pflegten vor allem diejenigen Vertreter der neapolitanischen Oberschicht, die im Vorfeld des zu erwartenden spanischen Erbfalls einer Einverleibung Süditaliens in die französische Monarchie skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden und stattdessen eine österreichische Erbfolge, idealerweise jedoch die Wiederbegründung einer ‚nationalen‘ Monarchie in Neapel befürworteten. Pietro Giannone steht in dieser Tradition. Sein Porträt Friedrichs II. in der Istoria civile kann in gewissem Sinn als Abschluss der historiografischen Umdeutung des Stauferkaisers begriffen werden, die sich in den Jahrzehnten um 1700 in weiten Teilen der neapolitanischen Elite vollzog. In seiner Darstellung knüpfte Giannone unter anderem an Collenuccios Würdigung im Compendio an. Die Persönlichkeit Friedrichs II. skizziert Giannone in der Istoria civile insbesondere in einer zusammenfassenden Würdigung dieses Herrschers im 4. Kapitel des 17. Buches. Der Neapolitaner Historiker misst dem Kaiser zahlreiche positive Attribute bei. Friedrich sei 29 Zur Rezeption Kaiser Friedrichs II. vgl. besonders Bruno Gloger: Kaiser, Gott und Teufel. Friedrich II. von Hohenstaufen in Geschichte und Sage. Berlin 81982, S. 163–205; Cosimo Damiano Fonseca: Federico II nella storiografia italiana. In: Potere, società e popolo nell’età sveva (1210–1266). Hg. vom Centro di studi nomanno-svevi / Università degli Studi di Bari. Bari 1985, S. 9–24; Marcus Thomsen: „Ein feuriger Herr des Anfangs ... “. Kaiser Friedrich II. in der Auffassung der Nachwelt. Stuttgart 2005; Hannes Obermair: Der Staufer Friedrich II. und die Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Concilium Medii Aevi 11 (2008), S. 79–100; Houben (wie Anm. 28), S. 175–224; Roberto Delle Donne: Der Vater des ghibellinischen Vaterlands. Friedrich II. in der modernen Geschichtsschreibung und Kultur Italiens. In: Herrschaftsräume, Herrschaftspraxis und Kommunikation zur Zeit Kaiser Friedrichs II. Hg. von Knut Görich, Jan Kaupp und Theo Broekmann. München 2008, S. 41–60. 30 Collenuccio (wie Anm. 23), besonders S. 78–79. 31 Ascione (wie Anm. 2). Zu D’Andrea vgl. zusammenfassend Aldo Mazzacane: D’Andrea, Francesco. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Bd. 32. Roma 1986, S. 529–536; Imma Asione: Il governo della prassi. L’esperienza ministeriale di Francesco D’Andrea. Napoli 1994.

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„un savio, ed avveduto Signore“ [ein kluger und besonnener Herr] gewesen, „valoroso, e prode di sua persona, e di nobile, e signoril presenza: fù liberale, e magnanimo, perchè premiò ampiamente coloro, che l’aveano servito così nell’opere di pace, come nella guerra“ [mutig und tapfer und von edlem und majestätischem Aussehen; er war freigebig und großmütig, denn er belohnte diejenigen reichlich, die ihm im Frieden und im Krieg gedient hatten].32 Der Staufer habe sich stets durch Mäßigung nach Siegen sowie durch Standhaftigkeit im Unglück ausgezeichnet.33 Abwegig sei es, Friedrich II. als Atheisten und Epikuräer zu bezeichnen, der nicht an die Unsterblichkeit der Seele geglaubt habe. Selbstverständlich sei er ein gläubiger, auch zur Reue fähiger Christ gewesen, der sich allerdings an der Urkirche orientiert und die zeitgenössischen Missstände im Klerus und vor allem an der Kurie angeprangert habe.34 Kennzeichnend für Friedrichs Persönlichkeit sei ferner ein breites kulturelles und wissenschaftliches Interesse gewesen. So habe sich der Kaiser beispielsweise sehr für die Dichtkunst begeistert und zahlreiche Sprachen beherrscht (Latein, Griechisch, Deutsch, Italienisch, Französisch, Arabisch). In einer Zeit, in der die Wissenschaften darnieder lagen, sei er als Verfasser einer gelehrten Schrift mit dem Titel De natura et cura animalium hervorgetreten.35 Auch ein großer Realitätssinn könne dem Kaiser zugebilligt werden.36 Ratschlüsse habe der Staufer mit der notwendigen Vorsicht und nach entsprechender Abwägung getroffen.37 Nichtsdestotrotz sei er sowohl zu taktischem Verhalten als auch zu großer politischer Härte fähig gewesen.38 Insgesamt kommt Giannone bei seiner Charakterisierung der Persönlichkeit Friedrichs II. zu einem überschwänglichen Urteil. Der Staufer sei ein Fürst gewesen, „in cui di pari gareggiavano la giustizia, la magnificenza, e la dottrina“ [in dessen Person die Gerechtigkeit, die Großmut und die Gelehrsamkeit gleichermaßen um den Vorzug stritten].39 Ungeachtet dieser sehr positiven Werturteile und zum Teil sogar in Widerspruch zu ihnen benennt Giannone in der Istoria civile auch einige negative Charaktereigenschaften Kaiser Friedrichs II. Eine Schwäche des Staufers sei sein bisweilen erkennbarer Hang zur Maßlosigkeit gewesen. Dieser werde etwa in seinen Konflikten mit der Kirche deutlich, 32 Giannone (wie Anm. 3), Buch 17, Kapitel 4. 33 Ebd., Buch 17, Kapitel 4. 34 Zum Glauben Friedrichs II. vgl. Giannone (wie Anm. 3), Buch 17, Kapitel 1 und 4. Zur Reue Friedrichs II. wegen der Behandlung seines Sohnes Heinrich (VII.) vgl. ebd., Buch 17, Kapitel 2; Bereuung der Sünden im Angesicht des Todes vgl. ebd., Kapitel 4. 35 Giannone (wie Anm. 3), Buch 17, Kapitel 4. Der Titel ist nicht korrekt. Die beiden tatsächlich von Friedrich II. bzw. unter Mitwirkung des Kaisers entstandenen Bücher Moamin und De arte venandi cum avibus erwähnt Giannone nicht. 36 Den Kaiser zu betrügen, gelang allerdings dem Sultan al-Kamil: Giannone (wie Anm. 3), Buch 16, Kapitel 7. Nichtsdestotrotz konnte Friedrich einen für sich vorteilhaften Frieden abschließen. 37 Giannone (wie Anm. 3), Buch 17, Kapitel 4. 38 Ebd., Buch 16, Kapitel 7 (Umgang mit Sultan al-Kamil); Buch 17, Kapitel 4 (z. B. Umgang mit den Geistlichen in Süditalien). 39 Ebd., Buch 17, Kapitel 4.

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aber auch im Umgang mit religiös Heterodoxen, die Friedrich II. als erster weltlicher Herrscher sogar mit der Todesstrafe bedroht habe.40 Ähnlich negativ zu werten sei eine Neigung des Kaisers zu Grausamkeit und übertriebenem Zorn.41 Inwieweit der Staufer, wie etwa Dante Alighieri dies tat, mit Recht als wollüstig bezeichnet werden kann, etwa weil er an seinem Hof eine größere Zahl von (zum Teil sarazenischen) Mätressen unterhalten habe, möchte Giannone nicht entscheiden.42 Das persönliche Profil Friedrichs II. von Hohenstaufen, das Giannone in der Istoria civile entwirft, unterscheidet sich aufgrund seiner größeren Differenziertheit deutlich von den Porträts, die der Neapolitaner Gelehrte von Friedrich I. und Heinrichs VI. zeichnet. Während die Charakterisierung der ersten beiden Kaiser aus dem Haus Hohenstaufen, die als Repräsentanten einer politischen Ideologie bzw. einer Herrschaftsmethode vorgestellt werden, holzschnittartig bleibt, lässt die Schilderung Friedrichs II. durch Giannone eine deutlich komplexere Persönlichkeit erkennen. Die politische Leistung Kaiser Friedrichs II. bewertet Giannone ebenso wie die Person des Staufers zwar nicht uneingeschränkt, jedoch zum ganz überwiegenden Teil positiv. Friedrich sei ein „principe magnificentissimo“ [sehr prächtiger Fürst] gewesen, der zu repräsentieren verstanden und sich auf zahlreichen Feldern Verdienste erworben habe.43 Hervorzuheben seien seine überragenden Fähigkeiten als Feldherr und als Gesetzgeber. Daneben habe der Stauferkaiser auch als Verwaltungsreformer (Provinzialgliederung), als Förderer von Wirtschaft und Handel (z. B. Messen) sowie durch seine Städtegründungen (z. B. Augusta, L’Aquila) bedeutende politische Leistungen vollbracht.44 Friedrich habe des Weiteren im großen Stil die Wissenschaften gefördert; etwa durch die Gründung bzw. Unterstützung von Universitäten und Hohen Schulen (Neapel, Salerno, Padua), aber auch dadurch, dass er die Übersetzung von klassischen Texten aus dem Griechischen und dem Arabischen (z. B. von Ptolemaios und Aristoteles) angeregt und wissenschaftliche Arbeiten im Bereich der Astronomie / Astrologie, der Medizin und der Philosophie gefördert habe. Ferner habe sich Friedrich auch um Sprache und Dichtkunst Verdienste erworben. Hervorzuheben sei schließlich, dass während der Regierungszeit Kaiser Friedrichs II. sowohl durch dessen Universitätsgründung als auch durch zahlreiche Aufenthalte des Herrschers in Neapel die Grundlagen zum späteren Aufstieg dieser Kommune zur Residenzstadt gelegt worden seien.45

40 Ebd., Buch 14, Kapitel 3; Buch 17, Kapitel 4. 41 Vgl. besonders ebd., Buch 16, Kapitel 5; Buch 17, Kapitel 1 (Auseinandersetzung mit den lombardischen Städten). Vgl. daneben Buch 17, Kapitel 3, Abschnitt 1 (Konzil von Lyon). 42 Ebd., Buch 17, Kapitel 4. 43 Ebd. 44 Vgl. hierzu und zum Folgenden besonders ebd., Buch 17, Kapitel 4–6; zur Gesetzgebung auch Buch 16, Kapitel 8; zur Hochschulpolitik auch Buch 16, Kapitel 3. 45 Vgl. auch ebd., Buch 16, Kapitel 3.

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Ausführlich setzt sich Giannone mit der Kirchenpolitik Kaiser Friedrichs II. auseinander, dem sowohl in der zeitgenössischen wie in der historiografischen Diskussion umstrittensten Feld.46 Giannone hebt hervor, dass die antikuriale, bisweilen antikirchliche Politik des Staufers gerade im Hinblick auf den italienischen Süden legitim gewesen sei. Friedrich II. habe sich um das Königreich Sizilien bzw. das spätere Königreich Neapel verdient gemacht, indem er seinen Staat konsequent geschützt und die Herrschaftsansprüche der Kurie in Süditalien vehement und im Großen und Ganzen erfolgreich zurückgewiesen habe. Auch die von Friedrich II. durchgesetzte Erhebung von Steuern auf kirchlichen Besitz bzw. Einkünfte ist laut Giannone statthaft gewesen. Allerdings räumt der Neapolitaner Historiker ein, dass es im Zuge der antikurialen Politik Friedrichs II. bisweilen zu Übertreibungen und Fehlentwicklungen gekommen sei. So habe der Stauferkaiser etwa sein Bestätigungsrecht für die Besetzung von Bischofsstühlen im Königreich Sizilien politisch missbraucht, wodurch offene Stellen lange vakant geblieben seien und die Betreuung der Gläubigen Schaden genommen habe. Ferner sei die von Friedrich II. initiierte Ketzerbekämpfung zwar im Grundsatz richtig angelegt gewesen, indem die Zuständigkeit bei weltlichen Gerichten angesiedelt worden sei. Zu kritisieren sei jedoch, dass die Vorgehensweise des Kaisers überhart gewesen sei, da – wie bereits erwähnt – für Glaubensdelikte sogar die Todesstrafe verhängt wurde (Konstitution Inconsutilem). Schließlich habe der Staufer im Zuge seiner antikurialen Politik einzelne Geistliche und Gemeinden in nicht gerechtfertigter Weise geschädigt. Hierbei sei jedoch zu bedenken, dass Friedrichs II. Handeln zumeist eine Reaktion auf illegitimes Vorgehen der Kirche dargestellt habe. Dem Kaiser sei zudem zu Gute zu halten, dass er sich in seinem Testament bemüht habe, entstandene Schäden so weit als möglich zu beheben. Insgesamt zeichnet Giannone von Kaiser Friedrich II. das Bild eines vorbildlichen, wenngleich keineswegs fehlerfreien Regenten. Aufgrund seiner beeindruckenden Persönlichkeit und seiner zielgerichteten Politik sei es dem Staufer ungeachtet aller Hindernisse, die ihm vor allem von Seiten der Kurie in den Weg gelegt worden seien, gelungen, das Königreich Sizilien grundlegend zu reformieren und zu modernisieren. Die Politik Friedrichs II. habe dazu geführt, den machtpolitischen Ambitionen der Kirche zumindest zeitweise Einhalt zu gebieten sowie die Versuche der päpstlichen Kurie zu unterbinden, Süditalien durch vielfache Einmischung (Krieg, Ketzerbekämpfung) zu zerrütten. Dass eine solche Politik nach dem Tod Kaiser Friedrichs II. nicht fortgesetzt werden konnte, war nach Giannone der Grund für die Instabilität des Königreichs Sizilien nach 1250: Ecco come questo savissimo Principe [Friedrich II., W. M.] pose in miglior ordine lo stato di queste nostre Province, alla di cui providenza, e saviezza molto debbono; e sè non fosse stato nel meglio de’ suoi progressi tolto a’ mortali, di molte altre provide leggi, e di molti altri pregi, ed utilità avrebbele fornito; ma la sua morte, pur troppo immatura, troncò il corso della sua felicità, ed in istato pur troppo lagrimevole dapoi si videro, quando per l’ambizione di dominare

46 Vgl. hierzu besonders ebd., Buch 14, Kapitel 3; Buch 15, Kapitel 4; Buch 17, Kapitel 4.

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furono da più invasori combattute, e perturbate, e miseramente afflitte, insino che estinta la Regal stirpe degli Svevi, ad altra Gente non fossero trasferite [...].47 [So brachte dieser überaus kluge Fürst diese unsere Provinzen in einen besseren Zustand; seiner Voraussicht und Klugheit schulden sie viel. Und wenn er nicht inmitten seiner besten Fortschritte von dieser Erde abberufen worden wäre, hätte er sie mit vielen anderen klugen Gesetzen und vielen anderen Vorzügen und Nützlichkeiten ausgestattet. Aber sein leider zu frühzeitiger Tod schnitt den Lauf ihres Glücks ab, und sie fanden sich daraufhin leider in einem beklagenswerten Zustand wieder, als sie aus Gründen des Herrschaftsstrebens mehrerer Invasoren bekämpft, in Unordnung gebracht und elendiglich in Mitleidenschaft gezogen wurden, bis sie, nachdem das königliche Geschlecht der Staufer vernichtet war, anderen Personen übertragen wurden.]

Unschwer zu erkennen und – wie bereits angedeutet – im Neapolitaner Kontext der Zeit um 1700 wenig überraschend ist, dass Pietro Giannones Darstellung Kaiser Friedrichs II. wie sein Porträt Friedrichs I. einen vergleichsweise starken Gegenwartsbezug aufweist. Die Abwehr kurialer Machtansprüche in Süditalien sowie die Umsetzung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Reformen, die der neapolitanische Gelehrte als wichtige Programmpunkte der Politik des Stauferherrschers identifizieren zu können glaubte, stellten zentrale Ziele der österreichischen Politik in der Zeit nach 1707 dar. Das Regierungshandeln Kaiser Friedrichs II., wie Giannone es interpretierte, konnte somit für die gesamte führende Klasse in Neapel die Funktion eines historischen Modells erlangen.

d) Ein unfähiger, gewalttätiger Erbe: Konrad IV. Nach Pietro Giannone begann mit dem Herrschaftsantritt von Kaiser Friedrichs II. Sohn Konrad der Niedergang des Königreichs Sizilien.48 Der Neapolitaner Historiker zeichnet im 18. Buch der Istoria civile von dem letzten Römischen König aus dem Haus Hohenstaufen in knappen Worten ein in jeder Hinsicht ungünstiges Bild. Konrad IV., der die positiven Eigenschaften seines Vaters nicht besessen habe, sei aufgrund seiner legitimen Geburt bei der Erbfolge der Vorzug vor dem weit fähigeren Manfred eingeräumt worden.49 Von Natur aus grausam, rachsüchtig und verschlagen, von strengem und hartem Gemüt habe Konrad IV. in Regierungsgeschäften wie als Feldherr gleichermaßen versagt. Seine Herrschaft, deren Ziele und Hintergründe in der Istoria civile nicht beleuchtet werden, sei im Königreich Sizilien unbeliebt und für seine Untertanen bedrückend und hart 47 Ebd., Buch 17, Kapitel 6. 48 Zu Konrad IV. vgl. Hans Martin Schaller: Konrad IV. In: Neue Deutsche Biographie (NDB), Bd. 12 (1979), S. 500–501; Peter Thorau: Konrad IV. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 5. München / Zürich 1991, Sp. 1340f.; Martin Kaufhold: Die Könige des Interregnum: Konrad IV., Heinrich Raspe, Wilhelm, Alfons, Richard (1245–1273). In: Schneidmüller und Weinfurter (wie Anm. 9), S. 315– 339, 586f.; Walter Koller: Corrado IV. In: Federico II. Enciclopedia Fridericiana (wie Anm. 28), . Bd. 1, S. 381–384. 49 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Giannone (wie Anm. 3), Buch 18, Kapitel 1 und 2.

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gewesen. Bei der Belagerung und Eroberung Neapels (1253) beispielsweise sei es zu Akten besonderer Grausamkeit gekommen, die auf den Zorn des Königs zurückzuführen gewesen seien: „La Città fù messa a sacco, nè si tralasciò atto alcuno di crudeltà, e di rigore dall’irato Re.“ [Die Stadt wurde geplündert, es gab keine Grausamkeit und keine Härte des erzürnten Königs, der sie nicht ausgesetzt war.] Die Strenge und Verschlagenheit Konrads IV. habe sich jedoch nicht nur gegen seine Untertanen, sondern auch gegen die eigene Familie gerichtet. Um sich in Süditalien durchzusetzen, habe der staufische König versucht, den ihm überlegenen Manfred auf jede nur erdenkliche Weise zu demütigen. Manfred sollte unpopuläre Entscheidungen ausführen, er wurde seines Besitzes und seiner Herrschaftsrechte beraubt. Schließlich habe Konrad IV. Angehörige der Familie seines Widersachers aus dem Königreich vertrieben. Einen Tiefpunkt der Regierungszeit Konrads IV. stellte nach Giannone die Ermordung seines Bruders Heinrich (Carlotus) dar. König Konrad IV. wird in der Istoria civile in ähnlicher Weise wie Kaiser Heinrich VI. als grausamer, gewalttätiger Herrscher gezeichnet. Zudem erscheint er – deutlicher als sein Großvater – als unfähiger Regent. Die politische Strategie des Sohns Friedrichs II. hat nach Giannone keine greifbaren Ergebnisse gezeitigt. Im erzählerischen Kontext der Istoria civile ist Konrad IV. als negative Gegenfigur sowohl zu seinem Vater Friedrich II. als auch zu seinem Halbbruder Manfred konzipiert. Interessant ist, dass die negative Bewertung, die Giannone der politischen Persönlichkeit Konrads IV. zuteil werden lässt, auch in der Konzeption des 18. Buches, in dem Konrads IV. Italienzug behandelt wird, ihren Niederschlag findet. In diesem Buch rückt der Neapolitaner Historiker nicht das Handeln des Königs ins Zentrum, sondern die Verhaltensweisen, die der spätere König Manfred als Reaktion auf das angebliche Versagen seines Halbbruders und die ihm zugefügten Demütigungen zeigt. Im Kontext der neapolitanischen Landesgeschichtsschreibung ist Giannones Porträt König Konrads IV. insgesamt nicht originell. Giannone vertritt Urteile über den Stauferkönig, die bereits von Pandolfo Collenuccio in dessen bereits erwähntem Compendio de le istorie del Regno di Napoli, aber auch von Angelo Di Costanzo in dessen 1572 erstmals publizierter Istoria del Regno di Napoli sowie von Giovanni Antonio Summonte in dessen Dell’Historia della città, e regno di Napoli aus dem Jahr 1601 gefällt wurden.50 Aus dem Werk Di Costanzos übernahm Giannone in seiner kurzen Beschreibung der Regierungszeit Konrads IV. sogar ganze Textpassagen wörtlich oder formulierte in enger Anlehnung an die Vorlage.51 Trotz dieser Anleihen setzt Giannone eigene Akzente: Insbesondere hebt 50 Collenuccio (wie Anm. 23), S. 80–82; Angelo Di Costanzo: Istoria del Regno di Napoli. Milano 1805, S. 8–12. Zu Di Costanzo vgl. einführend Paola Farenga: Di Costanzo, Angelo. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Bd. 39. Roma 1991, S. 742–747; Summonte (wie Anm. 23), Buch 2, Kapitel 9. 51 So beispielsweise die oben zitierte Textpassage, die bei Di Costanzo (wie Anm. 50), S. 11 lautet: „La Città fu messa a sacco, nè si lasciò atto alcuno di empietà, d’avarizia, di crudeltà e di libidine [...]“; vgl. auch Summonte (wie Anm. 23), Buch 2, Kapitel 9, S. 115.

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er den Gegensatz zwischen Konrad IV. auf der einen und seinem Vater Friedrich II. . und seinem Halbbruder Manfred auf der anderen Seite weit stärker als die älteren Darstellungen hervor und macht ihn geradezu zu einem Leitkonzept seiner historischen Erzählung.52

e) Der verratene Virtuose der Macht: Manfred Die Herrschaft Kaiser Friedrichs II. fand nach Meinung Giannones in der Regierung seines Sohnes Manfred eine würdige Nachfolge.53 Die Betonung von Gemeinsamkeiten zwischen Friedrich II. und Manfred geht bereits auf zeitgenössische Beobachter zurück. Sie spielt insbesondere in einer anonymen Chronik aus dem Umfeld Manfreds (dem sog. „Pseudo-Jamsilla“) eine wichtige Rolle, die eine der wichtigsten Quellen für die Regierungszeit des sizilianischen Königs bis zum Jahr 1258 darstellt.54 Giannone nimmt auf die entsprechenden Passagen des Anonymus Bezug: Manfredi fù un Principe, in cui s’univano tutte le doti, e virtù paterne, e lo Scrittor Anonimo delle sue gesta, dice esser stato chiamato Manfredi, perch’egli era la mano e la mente di Federico. [Hervorhebungen im Original; W. M.]55 [Manfred war ein Fürst, in dem sich alle väterlichen Gaben und Tugenden vereinten; und der anonyme Chronist seiner Taten sagt, er sei deswegen Manfred genannt worden, weil er die Hand und der Geist Friedrichs gewesen sei.]

Anschließend heißt es: Narra adunque questo Scrittore, che gli andamenti e le virtù di Manfredi furono cotanto conformi a quelle del padre, che ancorchè la morte de’ Principi soglia negli stati sovente esser cagione di gravissimi turbamenti, nulladimanco per la prudenza di Manfredi non fù veduto interrompimento alcuno, e come sè un medesimo spirito governasse: non si vide nè alla Corte, nè tra gli Ufficiali mutazione alcuna [...].56 [Dieser Chronist berichtet daher, dass die Entwicklung und die Tugenden Manfreds so vollständig identisch mit denjenigen des Vaters gewesen seien, dass aufgrund der politischen Klugheit Manfreds keine Unterbrechung der Regierungsgeschäfte wahrgenommen wurde, obgleich 52 Vgl. auch Di Costanzo (wie Anm. 50), S. 20; Summonte (wie Anm. 23), Buch 2, Kapitel 10, S. 145. 53 Zu Manfred vgl. Pier Fausto Palumbo: Contributi alla storia dell’età di Manfredi. Roma 1959; Herbert Zielinski: Manfred. In: NDB, Bd. 16 (1990), S. 24–26; Franco Cardini: Manfred. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 6. München / Zürich 1993, Sp. 192; Walter Koller: Manfredi, Re di Sicilia. In: Federico II. Enciclopedia Fridericiana (wie Anm. 28), Bd. 2, S. 265–274. 54 Vgl. Matthias Thumser: Der König und sein Chronist. Manfred von Sizilien in der Chronik des sogenannten Nikolaus von Jamsilla. In: Die Reichskleinoden: Herrschaftszeichen des Heiligen Römischen Reiches. Göppingen 1997, S. 222–242; Enrico Pispisa: Nicolo Jamsilla. In: Federico II. Enciclopedia Fridericiana (wie Anm. 28), Bd. 2, S. 292–394. 55 Giannone (wie Anm. 3), Buch 18, Einleitung. 56 Ebd.

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der Tod eines Fürsten in den Staaten häufig der Grund schwerster Verwirrungen ist; und als ob derselbe Geist regierte, stellte man weder am Hof noch unter den Beamten Veränderungen fest [...].

Giannone sieht in Manfred im Unterschied zu anderen Historikern keinen ehelichen, sondern einen natürlichen Sohn Kaiser Friedrichs II.57 Das vergleichsweise detaillierte persönliche und politische Profil, das der Neapolitaner Gelehrte vom sizilischen König entwickelt, unterscheidet sich ungeachtet der oben erwähnten Bezugnahme auf den Text des „Pseudo-Jamsilla“ von demjenigen, das er zuvor von dessen kaiserlichem Vater entworfen hatte. Im Vergleich zu Friedrich II. treten bei der Beschreibung der Regierungszeit Manfreds die staatspolitischen Leistungen in den Hintergrund. Eine dominante Stellung gewinnen dagegen die Bemühungen des Staufers um Erwerb und Erhalt der Macht im Kampf gegen die römische Kurie. Manfred wird von Giannone als Machtstratege, als geradezu „machiavellistischer“ Fürst des 13. Jahrhunderts dargestellt. Der Neapolitaner Gelehrte betont, dass Manfred, dessen sizilisches Königtum in der historischen Realität keine Legitimität besessen hatte, über alle Eigenschaften verfügt habe, die einen König auszeichnen.58 Wiederholt benennt Giannone in den Büchern 18 und 19 die Qualitäten der überragenden Herrscherpersönlichkeit Manfreds.59 Der Staufer habe ein anziehendes Äußeres gehabt, sei tapfer und edel gewesen und habe hohe geistige Gaben besessen. Wie sein Vater habe er über wissenschaftliche Interessen verfügt und sei vermutlich auch als Verfasser eines Buches über die Jagd hervorgetreten. Zu seinen positiven Eigenschaften hätten darüber hinaus rhetorische Begabung, Fleiß, Großmut und Verhandlungsgeschick genauso wie Kaltblütigkeit und – sofern notwendig – Gewaltbereitschaft gezählt. Vor allem jedoch habe Manfred eine „ambizione [...] di dominare“ [Ehrgeiz zu herrschen] bzw. sogar eine „soverchia ambizion di regnare“ [übertriebener Ehrgeiz, als König zu regieren] ausgezeichnet.60 Er habe die Fähigkeit besessen, den eigenen politischen Willen auch in schwierigsten Situationen, denen er sich oft ausgesetzt sah, zur Geltung zu bringen. Ein häufig von dem Staufer angewandtes Mittel sei dabei die Dissimulation gewesen. Durch Manfreds List und Verstellung seien die Intrigen seines Halbbruders Konrad IV. sowie die päpstliche Politik ein ums andere Mal ins Leere gelaufen.61 Doch habe Manfred auch verstanden, ein prächtiges Leben, wie es einem Fürsten gezieme, zu führen und durch Repräsentation und Gunsterweise die Unterstützung des süditalienischen Adels und Volkes zu gewinnen. Manfred sei schließlich auch ein Fürst mit großen militärischen Gaben gewesen. Giannone nennt den Stauferkönig einen „invit57 Ebd., Buch 17, Kapitel 4 und 6; Buch 18, Einleitung. 58 Giannone (1723), Buch 19, Einleitung. 59 Zum Folgenden vgl. ebd., Buch 18, Einleitung, Kapitel 1 und 4; Buch 19, Einleitung und Kapitel 3. 60 Zitate: ebd., Buch 19, Einleitung bzw. Kapitel 3. 61 Vgl. besonders ebd., Buch 18, Einleitung, Kapitel 2 (Überlistung Konrads IV.) und 3 (Täuschung des Papstes Innozenz IV.).

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to, e valoroso Eroe, Principe [...] da paragonarsi a’ più famosi Capitani de’ secoli vetusti“ [unbesiegten und tapferen Helden, einen Fürsten, der mit den berühmtesten Hauptleuten der vergangenen Jahrhunderte verglichen werden kann].62 Die staatspolitischen Leistungen Manfreds erwähnt Giannone eher beiläufig. Er bemerkt, dass sie im Vergleich zu seinem Vater Kaiser Friedrich II. nicht so bedeutend gewesen seien. Manfred sei zwar als Förderer der Wissenschaften in die Fußstapfen seines Vor-Vorgängers getreten und habe darüber hinaus den Handel unterstützt (Hafen von Salerno) sowie eine Stadt (Manfredonia) gegründet.63 Doch hätten die kontinuierliche Gefährdung seiner Herrschaft durch die Machtansprüche der Päpste und die daraus resultierenden diplomatischen und militärischen Verwicklungen dazu geführt, dass Manfred als Staatsmann nicht im selben Umfang wie sein Vater habe reüssieren können. Giannone schreibt: E sè i continui travagli sofferti per difendere il Regno dalle invasioni di quattro Romani Pontefici, gli avessero dato campo di poter più attendere alle cose della pace, di più magnifiche sue opere, e di altri più nobili istituti avrebbe egli fornito questo Reame.64 [Und wenn die fortwährenden Anstrengungen, das Reich gegen die Invasionen von vier römischen Päpsten zu verteidigen, ihm mehr Raum gegebenen hätten, seine Aufmerksamkeit auf die Werke des Friedens zu richten, hätte er dem Königreich mehr großartige Werke zuteil werden lassen und es mit weiteren edlen Einrichtungen ausgestattet.]

Trotz dieses Befunds habe Manfred die von ihm regierten Länder „in istato sempre florido, ed abbondante“ [in einem stets blühenden und wohlhabenden Zustand] erhalten.65 Giannone zufolge war es jedoch in erster Linie ein bleibendes Verdienst des Staufers, in der Nachfolge seines Vaters der Kurie die Stirn geboten und auf diese Weise die Unabhängigkeit des Königreichs Sizilien geschützt zu haben. Manfred sei aufgrund seiner antikurialen Politik in Italien als Führer der ghibellinischen Partei, aber darüber hinaus in ganz Europa als fähiger Staatsmann anerkannt worden: Intanto Manfredi stabilito ora più che mai nel Regno, avendo abbassate le forze del Pontefice, e de’ Guelfi in Italia, s’era reso formidabile a tutta Italia, ed avea esteso, oltre quella, la sua fama, e grido pertutte le altre nazioni d’Europa per lo suo coraggio, munificenza, e splendidezza, e per tutte le altre virtù, che adornavano la sua persona, veramente Regie.66 [Nachdem er die Kräfte des Papstes und der Guelfen in Italien geschwächt und sich dadurch besser denn je im Königreich etabliert hatte, erlangte Manfred in ganz Italien Ansehen und verbreitete darüber hinaus auch in den anderen Nationen Europas seinen Ruhm und seinen Ruf wegen seines Mutes, seiner Freigebigkeit und seines Glanzes sowie wegen aller seiner anderen Tugenden, die seine wahrhaft königliche Person schmückten.] 62 63 64 65 66

Ebd., Buch 19, Kapitel 3. Ebd., Buch 16, Kapitel 3; Buch 19, Kapitel 3. Ebd., Buch 19, Kapitel 3. Ebd. Ebd., Buch 19, Einleitung. Vgl. die sinngleiche Stelle bei Di Costanzo (wie Anm. 50), S. 22.

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Giannone zeichnet indes in der Istoria civile von Manfred, wie von seinem Vater Kaiser Friedrich II., kein einseitig wohlwollendes, sondern ein differenziertes Bild. Neben positiven Aspekten benennt er auch verschiedene Defizite dieses Königs. Sie lassen sich nach Giannone zum einen aus dem bereits erwähnten starken Machtwillen Manfreds ableiten. So hält der Neapolitaner Gelehrte die auf den Florentiner Chronisten Giovanni Villani zurückgehende historiografische Tradition, die Manfred der Ermordung seines kranken Vaters beschuldigt, für durchaus glaubhaft.67 Bei der Schilderung der Königserhebung Manfreds im Jahr 1258 wendet er sich gegen die ghibellinische Überlieferung (z. B. des „Pseudo-Jamsilla“), gemäß der dem Reichsverweser aufgrund falscher Gerüchte über den Tod Konradins die Krone von den Großen des Reichs angetragen worden sei. „Più verisimile“ [Wahrscheinlicher] erscheint ihm hingegen angesichts des Machtstrebens Manfreds die Version, nach der der Statthalter König Konradins die Nachrichten über dessen angeblichen Tod bewusst selbst gestreut und auf diese Weise mit List auf den Thron gelangt sei.68 Zum anderen seien auch Manfred Fehleinschätzungen bzw. Fehler unterlaufen. So habe sich seine Hoffnung nicht erfüllt, dass nach dem Tod Papst Urbans IV. im Jahr 1264 ein ihm wohl gesonnenes Kirchenoberhaupt gewählt würde.69 Vor allem jedoch habe Manfred vor und während des Feldzugs gegen Karl von Anjou im Jahr 1266 seinen Rückhalt im süditalienischen Adel überschätzt.70 Dass es Karl gelungen sei, einen Teil der Untertanen Manfreds durch Bestechung für sich zu gewinnen, habe die Schlacht bei Benevent entschieden, in welcher der sizilische König, von einem apulischen Korps verraten, den Tod fand. Wie bereits bei seiner Darstellung der Regierungszeit König Konrads IV. stützt sich Giannone bei seiner Schilderung des Königtums Manfreds stark auf die ältere neapolitanische Landesgeschichtsschreibung. Mehrfach übernimmt er ganze Passagen aus Angelo Di Costanzos Istoria del Regno di Napoli wörtlich oder arbeitet seinen Text in enger Anlehnung an das ältere Werk aus. Auch die Werturteile, die Giannone trifft, sind in den früheren landeshistorischen Publikationen angelegt. Dennoch hat Giannones Porträt Manfreds eine eigene Qualität, die es über die früheren Darstellungen hinaushebt. Drei Punkte scheinen dabei grundlegend: In der Istoria civile werden erstens sowohl die persönlichen Eigenschaften des sizilischen Königs als auch seine politischen Leistungen klarer und unter Berücksichtigung der politikwissenschaftlichen Literatur der Neuzeit (v. a. Machiavelli) herausgearbeitet. Giannone berücksichtigt zweitens bei der Auseinandersetzung mit der historiografischen Tradition die hochmittelalterlichen Quellen (v. a. die Chronik des „Pseudo-Jamsilla“) stärker. Drittens gelangt er insgesamt zu einem positiveren Bild des Königs Manfred als die ältere neapolitanische Historiografie.

67 68 69 70

Giannone (wie Anm. 3), Buch 17, Kapitel 4. Ebd., Buch 19, Einleitung. Ebd., Buch 19, Kapitel 2. Ebd., Buch 19, Kapitel 3.

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f ) Ein unerschrockener junger König: Konradin Der Zug Konradins, des letzten männlichen Repräsentanten des Staufergeschlechts, nach Italien in den Jahren 1267/68 bildet den Epilog der Herrschaft der Casa Sveva im Königreich Sizilien.71 Giannone schildert in der Istoria civile die anfänglichen Erfolge Konradins, die verheerende Niederlage des von ihm geführten Heeres bei Tagliacozzo sowie die anschließende Flucht, Gefangennahme und Hinrichtung des Deutschen und seiner Getreuen.72 Ein persönliches bzw. politisches Profil Konradins wird nur in Ansätzen erkennbar. Entsprechende Wertungen der älteren neapolitanischen Landesgeschichtsschreibung stärker akzentuierend, stellt Giannone vor allem eine Eigenschaft des Staufers heraus: seine Unerschrockenheit gegenüber den Drohungen des Papstes Clemens IV., aber auch gegenüber den Truppen Karls von Anjou. Sie verlieh dem jungen Thronprätendenten nach Giannone eine eigene Aura und nährte die Hoffnungen der Ghibellinen auf eine Restitution des staufischen Imperiums. Doch habe sich Konradin als zu unerfahren erwiesen, um das Erbe seiner Vorfahren tatsächlich antreten zu können. Giannone zufolge wird dies in der Schlacht von Tagliacozzo deutlich, als der Staufer und seine Soldaten einer Kriegslist des erfahrenen Feldherrn Alardo di S. Valerí (Erard de Valéry) zum Opfer fallen.73 Die Schilderung des Italienzugs Konradins ist in der Istoria civile in gewisser Weise funktionalisiert. Sie dient Giannone vor allem dazu, die Unfähigkeit und moralische Ver71 Zu Konradin vgl. besonders Kurt Pfister: Konradin. Der Untergang der Hohenstaufen. München 1941; Karl Hampe: Geschichte Konradins von Hohenstaufen. Leipzig 31942; Ferdinand Geldner: Konradin, das Opfer eines großen Traumes. Größe, Schuld und Tragik der Hohenstaufen. Bamberg 1970; Klaus Schreiner: Die Staufer in Sage, Legende und Prophetie. In: Die Zeit der Staufer. Geschichte, Kunst, Kultur. Hg. von Reiner Hausherr. Bd. 3: Aufsätze. Stuttgart 1977, S. 249–262; Walter Migge: Die Staufer in der deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert. In: ebd., S. 275– 290; Eugen Thurnher: Konradin als Dichter. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 34 (1978), S. 551–560; Hans Martin Schaller: Konradin. In: NDB, Bd. 12 (1980), S. 557–559; Josef Mühlberger: Konradin von Hohenstaufen. Der Letzte eines großen Geschlechts. Esslingen 1982; Peter Herde: Konradin (Konrad). In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 5 (wie Anm. 48), Sp. 1368; Hans Schlosser: Corradino sfortunato? Opfer der Machtpolitik? Zu Verurteilung und Hinrichtung des letzten Hohenstaufen. In: Panta rei. Studi dedicati a Manlio Bellomo. Hg. von Orazio Condorelli. Bd. 4. Roma 2004, S. 111–131; Hans U. Ullrich: Konradin von Hohenstaufen. Die Tragödie von Neapel. München 2004; Peter Herde: Corradino di Svevia. In: Federico II. Enciclopedia Fridericiana (wie Anm. 28), Bd. 1, S. 375–379; Romedio Schmitz-Esser: Italienzug Konradins, 1267/68: In: Historisches Lexikon Bayerns (URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_45752); Günther Schweikle: König Konrad der Junge. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 5. Berlin / New York 1985, S. 210–214. 72 Zur Darstellung Konradins in der Istoria civile vgl. Giannone (wie Anm. 3), Buch 19, Kapitel 4. 73 Vgl. hierzu besonders Peter Herde: Die Schlacht bei Tagliacozzo. Eine historisch-topographische Studie. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 25 (1962), S. 679–744; Hartmut Jericke: Konradins Marsch von Rom zur Palentinischen Ebene im August 1268. In: Römische Historische Mitteilungen 44 (2002), S. 150–192.

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werflichkeit des Gegenspielers der staufischen Partei, des von der römischen Kurie unterstützten Karl von Anjou, herauszustreichen. So war der militärische Sieg bei Tagliacozzo nach Giannone, der in diesem Punkt unter anderem Giovanni Villani folgt, ausdrücklich nicht Karl zuzuschreiben, der angeblich während der Gefechte die Nerven verloren hatte, sondern seinem Feldherrn Alardo. Schließlich zeigt die Hinrichtung des jungen Staufers Konradin nach Auffassung Giannones sowohl die ethische Fragwürdigkeit der Kurie als auch die Abhängigkeit Karls von Anjou von den Päpsten, die dem Franzosen das Königreich Sizilien übertragen hatten. Ausführlich diskutiert der Neapolitaner Historiker, ob der angebliche Ausspruch Papst Clemens’ IV. „Vita Conradini, mors Caroli; mors Conradini, vita Caroli“ eine bösartige Unterstellung oder in der historischen Realität so gefallen sei.

3. Die staufischen Herrscherporträts im Kontext der Historiografie Pietro Giannones Die persönlichen und politischen Profile, die Pietro Giannone in der Istoria civile von den staufischen Kaisern und Königen entwirft, reflektieren in vieler Hinsicht das Erkenntnisinteresse, die Methode sowie die darstellerischen Möglichkeiten des neapolitanischen Historikers. Die Bezüge zwischen den Stauferporträts und dem Gesamtwerk Giannones sind insgesamt vielschichtig und komplex; sie können im Kontext dieses Aufsatzes nur angedeutet werden. Konstitutiv für die Sicht der staufischen Kaiser und Könige ist zunächst, dass Pietro Giannone Persönlichkeit und Wirken dieser Herrscher aus einer süditalienischen Sicht beschreibt.74 Die Themenstellung der Istoria civile hat Konsequenzen für die Gewichtung, welche die einzelnen Regenten aus der Casa Sveva innerhalb des Textes erfahren, aber auch für die inhaltlichen Schwerpunkte, die Giannone bei der Behandlung ihrer jeweiligen Regierungszeit setzt. So schildert der neapolitanische Historiker persönliche Qualitäten und politisches Wirken der staufischen Herrscher des 13. Jahrhunderts (v. a. Friedrichs II., Manfreds) relativ ausführlich, während die biografischen Skizzen der Kaiser Friedrich I. und Heinrich VI. ephemer bleiben und wohl auch aus diesem Grund einen holzschnittartigen Charakter aufweisen. Im Mittelpunkt der Darstellung Giannones stehen jeweils die Leistungen der Staufer für Süditalien, andere politische Projekte finden hingegen keine oder zumindest keine ausführliche Würdigung. Die Profile der Kaiser und Könige aus dem Haus Hohenstaufen, die in der Istoria civile entwickelt werden, lassen keine Gruppenidentität der Casa Sveva erkennen. Zwar wiesen nach Giannone einzelne Persönlichkeiten aus dem staufischen Herrscherhaus vergleichbare Eigenschaften auf und zeigten ähnliche politische Handlungsmuster: so etwa Kaiser Friedrich II. und König Manfred, die von Giannone beide als fähige Fürsten cha74 Zur süditalienischen Perspektive vgl. zuletzt Rader (wie Anm. 28), S. 27–32.

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rakterisiert werden; so im negativen Sinn auch Kaiser Heinrich VI. und König Konrad IV., deren politische Methode nach Meinung des Neapolitaner Historikers im Wesentlichen in der Anwendung rabiater Gewalt bestanden hat. Ungeachtet dieser Gemeinsamkeiten, die in der Istoria civile verschiedenen staufischen Herrscherpersönlichkeiten zugeschrieben werden, würdigt Giannone die Kaiser und Könige grundsätzlich individuell. Ähnliche Verfahrensweisen zeigen sich bei der Beschreibung anderer, in Süditalien regierender Dynastien, z. B. des normannischen Königshauses.75 Bei der Darstellung der einzelnen staufischen Herrscher und ihres Regierungshandelns fällt auf, dass Giannone seine Schilderung jeweils auf ein seiner Auffassung nach besonders auffälliges Charakteristikum fokussiert, das ihm als Leitmotiv seiner historischen Erzählung dient. Im Fall Friedrichs I. Barbarossa stellt der Neapolitaner dessen Herrschaftsideologie in den Mittelpunkt und leitet die Politik des Staufers weitestgehend aus ihr ab. Bei Kaiser Heinrich VI. sowie den Königen Konrad IV. und Manfred zentriert er seine Schilderung um die spezifischen Methoden des Erwerbs, der Erhaltung bzw. der Ausübung von Macht. Kaiser Friedrich II. exemplifiziert in der Istoria civile den zwar nicht perfekten, aber doch vorbildlichen Staatsmann. Selbst bei der eher kurzen Schilderung des Italienzugs Konradins rückt Giannone ein persönliches Attribut des Staufers ins Zentrum seiner Darstellung: dessen angebliche Unerschrockenheit. Die spezifische Erzähltechnik des Süditalieners zeigt Ansätze einer Typologisierung, doch bleiben bei allen Porträts individuelle Züge der Herrscher gewahrt. Welche Bedeutung der Definition und Abgrenzung von Fürsten-Typen im Gesamtkontext der Istoria civile zukommt, bedarf noch der näheren Untersuchung. Die biografischen Profile der staufischen Kaiser und Könige in der Istoria civile werden jeweils stark durch die erzählerischen Kontexte geprägt, in denen sie verortet sind. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass Giannone des Öfteren historische Persönlichkeiten explizit oder implizit gegeneinander stellt, um auf diese Weise seine Sichtweise der Herrscher zu markieren. Es wurde bereits auf mehrere dieser Verknüpfungen hingewiesen. So bildet innerhalb der staufischen Dynastie der als unfähig dargestellte König Konrad IV. eine Gegenfigur sowohl zu seinem Vater Kaiser Friedrich II. als auch zu seinem Halbbruder Manfred. Im 12. Jahrhundert sieht Giannone in Kaiser Friedrich I. Barbarossa und König Roger II. von Sizilien Repräsentanten verschiedener politischer Konzeptionen. Der Staufer verkörpert für den Neapolitaner Gelehrten das imperiale Herrschaftsprogramm, das seiner Meinung nach in Europa historisch gescheitert ist, der Normannenkönig hingegen fungiert als erfolgreicher Vertreter eines ‚nationalen‘ süditalienischen Königtums. Auch der naiv-jugendliche Konradin und der verschlagen-rücksichtslose Karl von Anjou sind in der Istoria civile als antagonistische Gestalten konzipiert. Dies gilt ebenso für Manfred und Karl von Anjou: Während der Staufer als machtbewusster Herrscher präsentiert wird, der sich seine Regentschaft unter schwierigsten Umständen durch Leistung erkämpft

75 Giannone (wie Anm. 3), Bücher 9–14.

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hat, erscheint Karl als zunächst zögerlicher, von seiner Frau Beatrice beeinflusster, dann gewalttätiger Exekutor des päpstlichen Willens. Die von Giannone in der Istoria civile präsentierten biografischen Profile der Stauferherrscher sind nicht in jedem Punkt stimmig, sondern weisen vereinzelt Brüche und Unklarheiten auf. Eine inhaltliche Spannung besteht insbesondere bei der Darstellung Kaiser Friedrichs I. Während Charakter, Herrschaftsprogramm und konkrete Politik des Stauferkaisers vom neapolitanischen Gelehrten durchgehend kritisiert werden, findet sich in einer resümierenden Würdigung im 2. Kapitel des 13. Buches eine sehr positive Einschätzung Barbarossas. Anders sind die Probleme bei der Darstellung König Manfreds gelagert. Hier stellt Giannone die positiven und negativen Seiten des Machtstrebens sowie der vom Staufer praktizierten Regierungstechniken schroff gegeneinander. Während Manfred insgesamt wie sein Vater Friedrich II. über alle Qualitäten eines vorbildlichen Herrschers verfügt habe, sei seine faktische Selbsterhebung zum König im Jahr 1258 zu tadeln, daneben auch die von Giovanni Villani und anderen berichteten und von Giannone nicht zurückgewiesenen angeblichen Mordanschläge gegen Kaiser Friedrich II. und König Konradin. Die Persönlichkeit des Staufers erscheint durch die unvermittelte Gegenüberstellung von positiven und negativen Charakteristika in der Darstellung Giannones geradezu als gespalten. Die historiografische Bewertung der Stauferherrscher durch Giannone wird in der Istoria civile durch mehrere, nicht vollständig kompatible Kriterien bestimmt. Gemessen werden die mittelalterlichen Herrscher zum einen an den Doktrinen der klassischen absolutistischen Staatslehre. Giannone sieht – wie etwa bereits Jean Bodin – die vorrangige Pflicht des Fürsten in der Wahrung der Souveränitätsrechte des Staates und in der Gewährleistung der inneren Sicherheit.76 Nach Darstellung des neapolitanischen Historikers haben sich in dieser Hinsicht von den Herrschern der Casa Sveva besonders Kaiser Friedrich II. und König Manfred Verdienste um das mittelalterliche Königreich Sizilien erworben. Zum anderen beleuchtet Giannone die staufischen Kaiser und Könige aus der Perspektive der absolutistischen Regierungspraktiken des frühen 18. Jahrhunderts. Er ist in seinem Urteil von der österreichischen Reformpolitik im Königreich Neapel nach 1707 beeinflusst. So verweist Giannone auf die Notwendigkeit staatlicher Initiativen auf den Gebieten der Wirtschaft, der Rechtspflege, der Wissenschaften und der Kultur.77 Dementsprechend beurteilt er diejenigen Herrscher des Hauses Hohenstaufen, deren Regierungszeit aus seiner Sicht primär durch militärische Aktionen geprägt war (z. B. Friedrich I., Heinrich VI., Konrad IV.), durchweg negativ, während er das Regierungshandeln Kaiser Friedrichs II. vor allem aufgrund dessen staatspolitischer Leistungen für das Königreich Sizilien positiv einschätzt. In den Kapiteln über Manfred stellt Giannone heraus, dass die fortwährende Notwendigkeit der Kriegführung zu Defiziten bei der sonstigen Regierungstätigkeit geführt habe. 76 Jean Bodin: Les six livres de la République. Paris 1583, besonders Buch 1, Kapitel 8–10. 77 Vgl. Anm. 6.

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Obwohl Giannone die Politik der staufischen Kaiser und Könige an den Erfordernissen einer absolutistischen Regierungspraxis misst, spielen funktional-erfolgsbezogene Kriterien, etwa im Sinne der Lehren Machiavellis, bei seiner historiografischen Bewertung lediglich eine untergeordnete Rolle. Hingegen werden in der Istoria civile über die genannten Aspekte hinaus ältere argumentative Traditionslinien erkennbar. Besonders in den zusammenfassenden Würdigungen der Staufer, aber nicht nur dort rekurriert Giannone auf die klassischen, aus der antiken Philosophie und der christlichen Lehre abgeleiteten normativen Herrschertugenden: Gottesfurcht, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Großmut, Freigebigkeit, Weisheit, Standhaftigkeit, Mäßigung usw.78 Auffallend ist, dass Giannone diese im philosophisch-christlichen Sinn positiven Eigenschaften den staufischen Kaisern und Königen, wenn überhaupt, sehr häufig ohne nähere Begründung bzw. ohne engeren Zusammenhang mit seinen historischen Analysen zubilligt. Auch eine Vermittlung der klassischen Herrschertugenden mit den von der absolutistischen Staatslehre geforderten fürstlichen Eigenschaften findet sich in der Istoria civile allenfalls in Ansätzen. Da die verschiedenen Beurteilungskriterien Giannones nicht ohne Weiteres vereinbar sind, führt dies dazu, dass die politisch-historische Aussage seines Geschichtswerks insgesamt verunklart wird. So hat beispielsweise die Widersprüchlichkeit bei der Einschätzung Kaiser Friedrichs I. Barbarossa ihre Ursache wesentlich in der Inkompatibilität der an diese Figur angelegten Beurteilungskriterien. Zentrale Ergebnisse der hier vorgelegten Analyse staufischer Herrscherporträts, vor allem die Feststellung von Brüchen und Inkonsequenzen in der Konturierung der mittelalterlichen Persönlichkeiten sowie der Befund partiell inkompatibler historischer Bewertungskriterien, verweisen auf eine für die Interpretation der Istoria civile wichtige Frage, die im Kontext dieses Aufsatzes nur gestreift werden konnte: diejenige nach der historischen Methode Giannones. Das Problem des Umgangs des neapolitanischen Gelehrten mit den ihm zur Verfügung stehenden Quellen, insbesondere die Frage, inwieweit sein Text von historiografischen Sekundärquellen abhängig ist, stellte einen Schwerpunkt der älteren Forschung über die Istoria civile dar.79 Während Giannone bereits zu Lebzeiten und noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts des Plagiarismus beschuldigt wurde, fanden derartige Einschätzungen in neueren wissenschaftlichen Untersuchungen keine Bestätigung. Als communis opinio gilt heute, dass der Neapolitaner sich zwar vielfach – bis zur wörtlichen Übernahme – an seine Quellen angelehnt habe, ihm jedoch zugebilligt werden müsse, die Geschichte Süditaliens insgesamt in einen anderen Interpretationsrahmen ge78 Es sind dies die Herrschertugenden, die üblicherweise in den mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Fürstenspiegeln im Mittelpunkt stehen. Vgl. hierzu besonders Fürstenspiegel der Frühen Neuzeit. Hg. von Hans-Otto Mühleisen, Theo Stammen und Michael Philipp. Frankfurt am Main 1997; Specula principum. Hg. von Angela De Benedictis. Frankfurt am Main 1999; zusammenfassend: Wolfgang E. J. Weber: Fürstenspiegel. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. von Friedrich Jaeger. Bd. 4. Stuttgart / Weimar 2006, Sp. 114–117. 79 Vgl. Anm. 8.

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stellt und dementsprechend die historischen Aussagen und Werturteile seiner Quellen modifiziert zu haben.80 Aus der Perspektive des vorliegenden Aufsatzes kann diese Bewertung mit Einschränkungen bestätigt werden. In der Tat lässt sich in allen Porträts der staufischen Kaiser und Könige das Bemühen Giannones erkennen, sich von tradierten Paradigmen der neapolitanischen Historiografie zu lösen und die Gegebenheiten der Vergangenheit, vielfach unter Rückgriff auf zeitgenössische politische Problemlagen, neu zu interpretieren.81 Die Revision älterer Geschichtsbilder war dabei in einigen Fällen eher gering (z. B. bei der Präsentation Kaiser Heinrichs VI. und König Konrads IV.), zumeist jedoch tief greifend. Doch wird am Beispiel der Stauferporträts auch deutlich, dass Giannone bei der von ihm angestrebten Neuinterpretation süditalienischer Geschichte offensichtlich auf nicht unerhebliche praktische Schwierigkeiten stieß. Die in diesem Aufsatz festgestellten erzählerischen und gedanklichen Defizite bei der Darstellung der staufischen Epoche zeugen von diesen Problemen, die in der Forschung häufig unterschätzt bzw. – zu Unrecht – marginalisiert werden.82 Giannone hat in der Istoria civile seine historiografischen Ziele zweifellos nur zum Teil erreicht.

80 Vgl. besonders Vigezzi (wie Anm. 8), besonders S. 305–316 (Auseinandersetzung mit der Bewertung Giannones durch Carmelo Carestia); Fiorentino (wie Anm. 8); Ricuperati (wie Anm. 8), S. 143– 229. 81 Vgl. Giannone (wie Anm. 3), Einleitung: „Sarà quest’Istoria tutta civile, e perciò, se io non sono errato, tutta nouva [...]“. [Diese Geschichtsdarstellung wird völlig politisch, und deshalb, wenn ich mich nicht täusche, völlig neu sein.]. 82 Vgl. z. B. Giovanni Gentile: Pietro Giannone, plagiario e grand’uomo per equivoco. In: Critica. Rivista di Letteratura, Storia e Filosofia 2 (1904), S. 216–252.

Bernd Zegowitz (Frankfurt am Main)

Pietismus light Abraham Kyburz’ Lehrgedicht Theologia naturalis et experimentalis (1754)1 Man muss es wohl so deutlich sagen: Abraham Kyburz hat plagiiert. In einem Brief vom Januar 1754 fragt der „schuldwilligste Diener“ beim „hochgeehrten“ Albrecht von Haller an, ob er ihm einige „carmina“ zueignen dürfe. Er berichtet ausführlich von der Scheu, den Geschätzten überhaupt anzuschreiben, von freundschaftlichen Ermutigungen, aber auch Vorbehalten, das „Haupt aller gekrönten Poeten“ zu belästigen. Umständlich rechtfertigt Kyburz, warum er es schließlich doch gewagt habe, dem „wohledelgebohrenen Herrn“ sein „Tractätli“ zu „dediciren“. Immerhin weist er in seinem Brief auch darauf hin, dass er in Hallers „Gedichte von den Alpen“ regelrecht „verliebet“ sei und es „zu imitiren“ sich bemühet habe: mit schlechtem Erfolg, wie er noch gesteht.2 Das Plagiat nun besteht darin, dass er in sein überaus umfangreiches Lehrgedicht mit dem Titel Theologia naturalis et experimentalis zahlreiche Passagen aus Hallers Alpen, insgesamt ca. 175 Verse, mehr oder weniger wörtlich übernommen hat, ohne deren Herkunft zu kennzeichnen.3 Haller scheint ihm das verziehen zu haben. Im März 1754 wandte sich Kyburz nämlich ein weiteres Mal an den Bewunderten, dankte ihm für seine bisherigen Bemühungen und bat um Unterstützung in einem Streit mit der Zensurbehörde. Haller hatte dem Bittsteller, das

1 Den Hinweis auf Abraham Kyburz und seine Theologia naturalis et experimentalis verdanke ich Hanspeter Marti. 2 Abraham Kyburz an Albrecht von Haller (16. Januar 1754), zitiert nach Rudolf Ischer: Abraham Kyburz. In: Sammlung bernischer Biographien. Hg. von dem Historischen Verein des Kantons Bern. Bd. 4. Bern 1902, S. 84–101, hier S. 96ff. 3 Der gesamte Titel des Lehrgedichts lautet: Theologia naturalis et experimentalis. Eingerichtet auf die Verrichtungen, Geschäfte und Handlungen der Einwohneren des Hohen und Niederen Schweitzerischen Gebirgs, um sie dadurch zu Gott ihrem obersten Gutthäter zu führen. Zur Vermehrung der Erkanntnis, der Liebe und des Lobs Gottes unter diesem Volck. [Bern 1754]. Die mir zugängliche Fassung des Lehrgedichts ist aller Wahrscheinlichkeit nach bereits die zweite Auflage. Kyburz selbst spricht in der Dedikation von der „zweyten Edition“ und auch dem Schweizer Literaturhistoriker Jakob Baechtold muss der Text in einer anderen Version vorgelegen haben, wobei Kyburz für die Neuauflage wohl die Reihenfolge der Hauptabschnitte geändert hat. Vgl. Jakob Baechtold: Geschichte der Deutschen Literatur in der Schweiz. Frauenfeld 1892, S. 517.

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geht aus dem zweiten Brief hervor, auf den ersten geantwortet und sein Schreiben mit einer „silbernen piece chargirt“.4 So großmütig war die schweizerische Literaturgeschichtsschreibung nicht: Jakob Baechtold bezichtigt Kyburz im Jahr 1892 der „unverschämte[n] Freibeuterei“ und bezeichnet dessen Gedicht als „Machwerk“.5 In der zweibändigen Geschichte der schweizerischen Literatur von Ernst Jenny und Virgile Rossel beschuldigen ihn die Verfasser „ordinärster Nachäfferei“.6 Späteren Literaturgeschichten ist Kyburz nicht einmal mehr eine Fußnote wert. Das mag nicht nur daran liegen, dass ihm als Plagiator kein gebührender Platz zufällt, sondern auch darauf zurückzuführen sein, dass Kyburz in der Mitte des 18. Jahrhunderts die gewohnten Bahnen physikotheologischer Lehrdichtung nicht verlässt. Mit seinen Beschreibungen der Nützlichkeit und Schönheit einzelner Pflanzen und Mineralien, dem Lobpreis des Schöpfers, der alles den Menschen zum Wohl nach einer klaren Gesetzmäßigkeit geschaffen hat, steht er näher an Barthold Hinrich Brockes, Johann Jakob Scheuchzer oder Samuel Lutz als an Haller. Was Kyburz im Sinn hatte, war wohl so etwas wie ein popularisiertes Lehrgedicht, ein Haller für Hirten sozusagen.

I Den Gedanken der Volksaufklärung verfolgte der Pfarrer Kyburz sein Leben lang gerade in seinen dezidiert theologischen Schriften. Um 1704 in Heimberg bei Thun geboren, studierte Kyburz Theologie und erhielt 1728 interimistisch eine erste Vikariatsstelle in Biglen.7 Nur zwei Jahre später wurde ihm wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem zuständigen Konvent und der Verbreitung des Nürnberger Kalenders die Erlaubnis zu predigen entzogen. Er verließ den Kanton Bern, ging nach Zürich und zog mit einem zehnjährigen Mädchen, von dem er behauptete, es sei inspiriert, durch die dortige Gegend. Dass er die Äußerungen dieses Mädchens drucken lassen wollte, erregte zusätzlich den Unmut der Züricher Geistlichkeit, die sich beim Berner Kirchenrat über Kyburz beschwerte.8 Im Juni 1735 erhielt er dann seine zweite Vikariatsstelle, diesmal in Kirchberg, 4 Abraham Kyburz an Albrecht von Haller (15. März 1754), zitiert nach Ischer (wie Anm. 2), S. 100. 5 Baechtold (wie Anm. 3), S. 516. Wenig freundlich fasst Baechtold auf S. 517 zusammen: „Platter, törichter ist die Ansicht von der Zweckmäßigkeit alles durch die Natur Geschaffenen nie ausgesprochen worden.“ 6 Ernst Jenny / Virgile Rossel: Geschichte der schweizerischen Literatur. Bd. 1. Bern / Lausanne 1910, S. 174. 7 Zum Folgenden vgl. Ischer (wie Anm. 2), S. 84ff. 8 Die Kantone Bern und Zürich waren wohl deshalb die bevorzugten Wirkungsbereiche von Kyburz, weil sich gerade dort Zentren der pietistischen Bewegung hielten. Vgl. Rudolf Dellsperger: Der Pietismus in der Schweiz. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht und Klaus Deppermann. Göttingen 1995, S. 588–616, hier S. 589.

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doch kam es bereits im Oktober erneut zu Auseinandersetzungen. Begründet lagen diese zum einen wohl im streitbaren Charakter des Pfarrers, zum anderen aber auch immer wieder in der Vernachlässigung seines Amtes bzw. der Verbreitung pietistischen Gedankengutes. In Kirchberg versuchte Kyburz nämlich, die sogenannte Berleburger Bibel bekannt zu machen – unter den radikalpietistischen Bibelausgaben die bedeutendste. Das achtbändige Werk bietet eine Neuübersetzung des Grundtextes, führt in Vorreden in die jeweiligen Bücher ein und kommentiert einzelne Verse und Kapitel. Als Sammelbecken heterogener, ja heterodoxer Traditionen forderte sie die orthodoxe Kritik geradezu heraus. Da in der Schweiz im 18. Jahrhundert staatskirchliche Tendenzen vorherrschten und das Kirchenwesen der zentralistischen Führung durch die Magistrate unterstand, geriet Kyburz wiederholt in Konflikt mit den Kirchenoberen.9 In Bümpliz trat Kyburz im Jahr 1737 seine erste Pfarrstelle an, auf der er acht Jahre blieb. Um sein Einkommen zu verbessern, verfasste er in dieser Zeit immer wieder erbaulich-katechetische Schriften, u. a. einen Heidelbergischen Katechismus in einem kurzen Begriff, eine Catechetische Kinder-Bibel sowie die seiner Zeit erfolgreiche Historien- KinderBet- und Bilder-Bibel. Wie in anderen katechetischen Schriften der Zeit auch setzt sich Kyburz in seiner 1744 publizierten Catechetischen Kinder-Bibel kritisch mit der Praxis des Katechismusunterrichts auseinander. Die im vollständigen Titel angeführten „Rand-Fragen“ und „Gottseligen Betrachtungen“ weisen darauf hin, dass der Umgang mit dem Katechismus über das bloße Memorieren hinaus geht und in besonderem Maße den kindlichen Bedürfnissen und Fassungsvermögen entgegen kommt.10 Damit reiht sich dieser Kinderkatechismus in eine Folge anderer in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstandener Schriften zur religiösen Erziehung und Erbauung ein wie etwa Johann Georg Francks Poetische Kinder-Bibel oder Johann Bernhard Basedows Methodischer Unterricht.11 Neben dem Katechismus war die Bibel eines der wichtigsten Mittel einer protestantisch geprägten religiösen Erziehung. Die 1737 erscheinende Historien- Kinder- Bet- und Bilder-Bibel sollte ursprünglich nicht mehr als eine Neubearbeitung der im frühen 18. Jahrhundert überaus populären Zweymal zwey und fünfzig auserlesenen Biblischen Historien aus dem Alten und Neuen Testament von Johann Hübner werden. Diese Sammlung ausge 9 Zur Berleburger Bibel vgl. Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht und Klaus Deppermann. Göttingen 1995, S. 107–197, hier S. 160ff. 10 Der vollständige Titel lautet: Catechetische Kinder-Bibel, Oder heilige Kirchen- und Bibel-Historien in eim ordentlichen Zusammenhang, nebst einfaltigen Rand-Fragen, reichlichen Lehren und Gottseligen Betrachtungen sonderlich zum Dienst und Nutzen der lieben Jugend. Bernstadt 1744. 11 Vgl. Jürgen Viering: „Die Arbeit ist schwer, sie ist wichtig, und hat die grössten Folgen auf das ganze Leben.“ Schriften zur religiösen Erziehung und Erbauung. In: Nützliches Vergnügen. Kinder- und Jugendbücher der Aufklärungszeit aus dem Bestand der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen und der Vordemann-Sammlung. Ausstellungskatalog. Hg. von Elmar Mittler und Wolfgang Wangerin. Göttingen 2004 (Göttinger Bibliotheksschriften 29), S. 133–156, hier S. 133ff.

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wählter biblischer Geschichten war als eine Art Ergänzung bzw. Verstehenshilfe für den Katechismusunterricht gedacht, die den Kindern helfen sollte, sich die Geschichten einzuprägen und Lehren aus ihnen zu ziehen.12 Im Unterschied zu Hübner setzte Kyburz seinen Akzent nicht mehr auf die Gedächtnisleistung der Kinder, sondern darauf, die Geschichten als „Exempel“ zu begreifen und „Nutz-Anwendungen“ daraus zu ziehen.13 Es sei eben auch Aufgabe des Erzählers, „eine deutliche Erklärung und heilsame Erläuterung“ zu liefern.14 Die beigefügten Illustrationen dienen der Unterhaltung, denn die Kinder sollten „mit Lust“ bei der Sache sein.15 1746 wechselte Kyburz auf die Pfarrstelle in Schwarzenegg, deren er im September 1750 allerdings wieder enthoben wurde. Immer wieder kam es zu Klagen von Seiten der Pfarrgemeinde, die u. a. die Vernachlässigung seiner seelsorgerischen Pflichten beanstandete und auf massive Streitigkeiten innerhalb der Familie des Pfarrers hinwies. Dass er sich in dieser Zeit verstärkt als Autor von Ratgeberliteratur versuchte, so schrieb er etwa einen Klugen Hauß-Vatter, der auch Regeln für die Ehe, die Familie und die Kindererziehung enthielt, schien die Gemeinde von seinen Fähigkeiten als Familienvater nicht gerade überzeugen zu können. Nach seiner Entlassung, die mit einem Predigtverbot verbunden war, zog Kyburz nach Bern, wo er sich und seine Familie allein mit schriftstellerischen Arbeiten durchzubringen versuchte. Nach einem sechsmonatigen Zwischenspiel als Landhelfer in Saanen wurde er 1756 erneut abgesetzt. Er verlor seinen „Pastoral-Charakter“ und unterlag einer strengen persönlichen Zensur.16 Daraufhin verließ er die Schweiz, diente während des Siebenjährigen Krieges in Deutschland als Feldprediger, geriet in preußische Gefangenschaft und kehrte 1760 nach Bern zurück. Erst 1764 erhielt er die Wahlfähigkeit wieder und wurde als „Helfer“ nach Thun gewählt.17 Dort starb Kyburz am 8. Dezember 1765.

II In drei große Abschnitte unterteilt Kyburz seine Theologia naturalis et experimentalis: Den Anfang machen die Schweitzerischen Berg- und Hirtenlieder. In diesen schildert ein Sprecher die Vorzüge der Alpenlandschaft, die verschiedenen Arbeiten ihrer Bewohner sowie deren Umgang mit den landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Es folgt das Schweitzerische 12 13 14 15

Vgl. ebd., S. 136. Zitiert nach ebd., S. 137. Zitiert nach ebd. Zitiert nach ebd. Zur Kinderbibel von Kyburz vgl. auch Ruth B. Bottigheimer: Gott in Kinderbibeln. Der veränderliche Charakter Gottes. In: Kinder- und Schulbibeln. Probleme ihrer Erforschung. Hg. von Gottfried Adam und Rainer Lachmann. Göttingen 1999, S. 90–102. 16 Ischer (wie Anm. 2), S. 91. 17 Ebd., S. 93.

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Artzney- und Kräuter Büchlein, das die Alpenflora überaus detailreich beschreibt und dabei sowohl die Schönheit als auch den Nutzen der einzelnen Kräuter hervorhebt. Die freymüthgen Gedanken über die Niederer gelegene Schweitzerische Gebirge, in denen die Witterungsverhältnisse als die den Jahreszeiten-Rhythmus bestimmende Macht in den Blick genommen werden, beschließen das Lehrgedicht. Diese drei Teile sind wiederum in jeweils vier Liedgruppen gegliedert, die thematisch eigene Schwerpunkte setzen und aus meist 20 vierzeiligen, paargereimten Strophen bestehen. Für diese verwendet Kyburz den Alexandriner, den seit Gottsched bevorzugten Vers aufklärerischer Lehrgedichte. Das erste der Berg- und Hirtenlieder handelt von der Bergen Höhe, Schutzwehr und reichen Wasser-Quellen. Es vergegenwärtigt das Leben der Menschen in den hochalpinen Regionen, verweist auf die Schutzfunktion der Berge und die vielfältigen Möglichkeiten der Nutzbarkeit des Wassers, das in Form von Seen, Flüssen und Bächen sowohl dem Fischfang als auch dem Transport dient. Das zweite Lied handelt von Dem fünfferley Nutzen Der Bergen und beschreibt die Milchproduktion bzw. -verarbeitung. Von den Handlungen und Verrichtungen eines getreuen Hirten berichtet das dritte und wendet sich dem Alltag eines Hirten samt sommerlichen Freizeitvergnügungen zu. Das letzte Lied Von den unterirrdischen Grüchten der Bergen behandelt die Vorkommen der Mineralien in der Alpenwelt und deren Nutzanwendung für den Menschen. In den vier Liedern des zweiten Abschnitts geht es nahezu ausschließlich um die verschiedenen Kräuter, Blumen und Wurzeln, die in den Bergen vorkommen und als Medikament, aber auch zur „schönen Augen-Weid“ dienen können.18 Hallers Alpen vergleichbar wird gerade in diesem Abschnitt damit der Rahmen umrissen, in dem sich Kyburz bewegt, nämlich zwischen der ästhetischen Idealisierung der Bergwelt und ihrer Funktion als ökonomischer Ressource. Im dritten Abschnitt widmet sich Kyburz den Regionen des Schweizerischen Mittellandes, dem Emmental etwa, und auch Kantonen wie Appenzell, Zürich, Basel und Schaffhausen. Ohne sich topographisch festzulegen, schildert der Sprecher das Leben der Bauern im Rhythmus der Jahreszeiten. Frühling und Sommer beherrschen das erste, der Herbst das zweite und der Winter das dritte Lied. Im letzten fasst er dann schließlich die „geistlichen und leiblichen Vortheile“,19 die das Leben in den Bergen insgesamt bietet, noch einmal zusammen. Die einzelnen Lieder haben eine vergleichbare strophische Dramaturgie, die auch als emblematische Struktur bezeichnet werden kann. Zwar hat die erste Strophe oftmals auch ein- bzw. überleitende Funktion, doch wird in ihr meist eine Erkenntnis komprimiert zusammengefasst, bevor in den folgenden Strophen das in der ersten Angedeutete ausgeführt bzw. dargestellt wird. Die abschließenden Strophen decken dann Bedeutungen auf, stellen Sinnbezüge her und verweisen somit darauf, dass hinter allem Sichtbaren ein höherer, innerer, ja prinzipieller Sinn der Weltordnung steht. 18 Kyburz (wie Anm. 3), Schweitzerisches Artzney- und Kräuter Büchlein, S. 1. 19 Ebd., Freymüthige Gedanken, S. 37.

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Das vierte Lied des ersten Teils etwa handelt von den „Mineralien, Metallen, Steinen, Saltzquellen“ usw.20 Die erste Strophe bildet eine Art Überleitung und knüpft an das zweite Lied an, in dessen Zentrum die Produktion und optimale Nutzung der Milch stand: Der Bergen Früchte fünff Wir vor betrachtet haben; Wir sind noch nicht zu End, Dann wann wir tiefer graben, Und forschen ernstlich nach, Findt man der Früchten mehr, Ja von Berg-Schätzen wohl Ein unergründlich Meer.21

Der lyrische Sprecher weist anfänglich also darauf hin, dass es nach der Schilderung des Hirtenlebens im dritten Lied nun wieder um die natürlichen Ressourcen der Alpenwelt geht, und zwar um diejenigen, die im Erdinneren zu finden sind (Strophen 2–15). Nicht nur deren ökonomischer Nutzen wird hervorgehoben, sondern auch der ästhetische. Die Aare führt „goldne Körner“ mit sich, die mit bloßem Auge vom Ufer aus betrachtet werden, die aber auch verkauft oder zu „Schreib-Sand“ verarbeitet werden können.22 Das Antimonium hilft dem Melancholiker, das Quecksilber dem Geschlechtskranken. In den Grüften, in die kein Sonnenstrahl dringt, finden sich „Cristall[e]“,23 die wie Diamanten funkeln und als Luxusgüter verkauft werden können. Sie werden zu Schmuck verarbeitet oder dienen als Dekoration. Anderes wird aufgelistet: „Schwefel“, „Vitriol“, „Kupfer“, „Zinn“ und „Bley“.24 Heilsame „Cur-Wasser“ entspringen in den Bergen, aus den „SaltzQuell[en]“ wird Küchensalz gewonnen, das sowohl dem Menschen als auch dem Vieh zu Gute kommt.25 Eisen dient zur Blutbildung, kann aber auch zu Stahlwerkzeug verarbeitet werden. Topographische Hinweise auf diejenigen Gegenden, in denen die Rohstoffgewinnung vorbildlich betrieben wird, fügt Kyburz in umfangreichen Fußnoten an, sodass der wissenschaftlich interessierte Mineraloge bzw. Geologe die Angaben nachprüfen kann. Der Einschnitt erfolgt dann in Strophe 16:

20 Ebd., Berg- und Hirten-Lieder, S. 37. 21 Ebd., S. 39. 22 Die unterschiedliche Intention von Haller und Kyburz kommt gerade in den thematisch vergleichbaren Strophen zum Ausdruck. Während Hallers Hirten das Gold der Aare ruhig und selbstgenügsam vom Ufer aus betrachten, weist Kyburz in einer Fußnote zusätzlich auf die Nützlichkeit des Metalls hin. 23 Kyburz (wie Anm. 3), Berg- und Hirten-Lieder, S. 41. 24 Ebd., S. 42. 25 Ebd., S. 43f.

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O Gott! welch grosse Ding Sind in der Bergen Hölen! Ihr sind zu viel, daß man Sie alle könte zehlen. Ermuntre mich dadurch Zu einem ernsten Fleiß, Zu leben, daß es dien Zu deinem Lob und Preiß.26

Die Vielfältigkeit des Berginneren ist so umfangreich, dass der Mensch sie (wissenschaftlich) nicht (er)fassen kann. Diese Unmöglichkeit soll aber gleichzeitig ein Ansporn sein, Gott unermüdlich zu dienen: Wenn der Mensch schon nicht in der Lage ist, Gottes Schöpfung entsprechend zu würdigen, soll er seine Demut zumindest durch ein gottgefälliges Leben zu erkennen geben. Wie Brockes beschreibt Kyburz zwar die Schönheit, Regel- und Zweckmäßigkeit der Schöpfung, die auch auf die Güte, Allmacht und Fürsorge Gottes verweisen, doch geht es ihm nicht allein um einen physikotheologischen Gottesbeweis. Während sich Brockes . einer „ausgefeilten Beobachtungstechnik“ bedient, „um die unermessliche Differenzierung der natürlichen Ordnung in immer neuen Details zu konstatieren“,27 wählt Kyburz exemplarisch aus, beschreibt weniger differenziert und anspruchsvoll. In den Schlussstrophen findet dann eine Transferierung von der empirischen Welt auf die Leitdogmen des Christentums statt: Schenck uns des Glaubens Gold, Das Silber reiner Liebe; Lösch aus nach dem Schein-Gold Die blind und eitle Triebe! Laß unsre Augen seyn So lauter als Crystall, Und unsre Absicht rein Wie Adams vor dem Fall.28

Die Reichhaltigkeit und Üppigkeit der Bergwelt allein ist jedoch nichts ohne den Glauben an Gott. Erst dieser sichert die vollständige Wirksamkeit der aus natürlichen Rohstoffen gewonnen Medikamente: 26 Ebd., S. 47. 27 Rainer Baasner: Einführung in die Literatur der Aufklärung. Darmstadt 2006 (Einführungen Germanistik), S. 130. Zu Brockes vgl. einführend auch die von Hans-Georg Kemper herausgegebene Ausgabe des Irdischen Vergnügens in Gott aus dem Jahr 1999, die mit einem umfangreichen Nachwort und ausführlichen Literaturhinweisen versehen ist. Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott. Naturlyrik und Lehrdichtung. Ausgewählt und hg. von Hans-Georg Kemper. Stuttgart 1999 (Universal-Bibliothek 2015). 28 Kyburz (wie Anm. 3), Berg- und Hirten-Lieder, S. 47.

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Gut sind die Mineral, Doch soll ich nicht d’rauf trauen, Noch auf den Menschen-Artzt Wie König Asa bauen. Ohn Gottes Segen ist Die Artzney ohne Krafft, Gott ist es, der allein Dadurch die Heilung schafft.29

Wie die meisten Lehrgedichte ist auch Kyburz’ Theologia mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat in der Form von Fußnoten versehen, die unterschiedliche Funktionen aufweisen. Größtenteils handelt es sich um Erläuterungen, in denen die aufgeführten Exempla kommentiert bzw. verifiziert werden, sei es durch topographisch genaue Verortung oder kurze naturwissenschaftliche Analysen, sei es durch Hinweise des Autors, das Beschriebene mit eigenen Augen gesehen zu haben, oder (seltener) durch Sprichwörter und historische Beispielgeschichten.30 Durch die genaue Lokalisierung wird Kyburz’ Lehrgedicht zwar nicht zum ‚Reiseführer‘ durch die Schweizer Bergwelt, doch verstärken diese Angaben die Glaubwürdigkeit seiner Ausführungen und weisen ihn als Kenner der Schweiz aus. Einige der Fußnoten verweisen aber auch auf biblische Belegstellen, die aufgelistet werden, wenn im Haupttext auf entsprechende Ereignisse, Namen etc. Bezug genommen wird. Und schließlich fungieren die Fußnoten als Erläuterungen wissenschaftlicher Art, die gerade im zweiten Abschnitt verstärkt eingesetzt werden, immer dann, wenn es um die medizinische Wirkung der angeführten Pflanzen geht. Geschuldet sind diese Bemerkungen wohl denjenigen, denen Kyburz sein Lehrgedicht gewidmet hat, und zwar den namentlich in der Dedikation genannten „der Artzney-Kunst beflißenen, in der Chirurgie und derselben zukommenden Operationen, berühmten und glücklichen Practicis und vortreflichen Botanicis“.31 Damit knüpft Kyburz an die Tradition der fachwissenschaftlichen Lehrgedichte an.32 Der Dedikation vorgeschaltet ist das zweigeteilte Titelblatt: Dessen linke Hälfte zeigt ein Emblem mit einem Motto, einem Kupferstich, auf dem der Almauftrieb im Frühjahr dargestellt ist, und einer erklärenden subscriptio, während in der rechten der vollständige Titel steht. Auf das Titelblatt folgen die Widmung an sieben Berner Ärzte („Practicis“ und „Botanicis“) sowie eine achtseitige Epistola Dedicatoria, in der Kyburz seine Vorgehensweise erläutert, Poetologisches und Biographisches andeutet und Bezüge zwischen Theologie und Medizin, also zwischen „Seelen-Aertzte[n]“ und „Chirurgis“ herstellt.33 Die Anrede

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Ebd., S. 48. Kyburz nutzt die Fußnoten allerdings auch, um auf eigene Werke hinzuweisen. Kyburz (wie Anm. 3), Widmung, o. S. Vgl. Christoph Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung. Stuttgart 1974, S. 140. Kyburz (wie Anm. 3), Epistola Dedicatoria, o. S.

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An alle Schweitzerische Berg- und Land-Leute, in der sich Kyburz an seine Adressaten wendet, beschließt die einleitenden Paratexte.34

III Auch wenn Kyburz über 170 Verse Hallers übernimmt und zwischen beiden Texten enge thematische Bezüge herzustellen sind, unterscheiden diese sich doch hinsichtlich ihrer Funktion, ihres Stils und der behandelten Gegenstände. Hallers zwanzig Jahre vor der Theologia entstandene Alpen stehen in der Tradition des säkular-unterrichtenden Lehrgedichts, sind kulturkritische Naturbetrachtung, erheben „Anspruch auf wissenschaftliche Erhellung von Zusammenhängen im Bereich der Natur und der Gesellschaft“.35 Während er Zivilisationskritik mit der Beschreibung des alpinen Landlebens und einer Schilderung der Hochgebirgslandschaft verbindet, geht es Kyburz weniger um die Darstellung einer den Menschen ausschließenden Natur oder um den Nachweis der Härte der Lebensbedingungen, sondern um eine exemplarische Aufzählung der Reichhaltigkeit der natürlichen Gegebenheiten, die Selbstvergewisserung, dass die Schweiz ein irdisches Abbild des himmlischen Paradieses ist, ein zweites Arkadien, in dem die Menschen in einem Goldenen Zeitalter leben, wobei Kyburz wie Haller Arbeit, Fleiß und Tugendhaftigkeit als Ideale propagiert.36 Die Theologia dient der Erbauung, ist religiös motiviert und steht deutlich unter dem Einfluss des Pietismus bzw. der Physikotheologie. Die Lektüre zielt auf Bestätigung des bereits Bekannten, stärkt die Tradition und festigt den Glauben. Sie ist abgestimmt auf einen engen Leserkreis, der direkt angesprochen wird. Gegenstände und Themen der Dichtung entstammen den Lebensbereichen der Adressaten. Diese nennt Kyburz explizit in seiner Anrede An alle Schweizerische Berg- und Land-Leute. Darin erläutert er sein didaktisches Konzept, das darauf ausgerichtet ist, den Bauern, der „grosse und hohe Dinge zu fassen nicht fähig“ sei, durch das zu belehren, „womit er täglich umgeht“.37 Und da Kyburz als Landpfarrer die ‚Lernvoraussetzungen‘ seines Lesepublikums kennt, sind die Inhalte entsprechend auf dieses abgestimmt. In seinen eigenen Worten heißt das: „Einge-

34 Ein abschließendes, alphabetisch geordnetes Sachregister, in dem die wichtigsten Begriffe von „Abraham“ bis „Ziger“, also Kräuterkäse, aufgelistet sind, ist dem Haupttext angehängt. 35 Baasner (wie Anm. 27), S. 88. Vgl. dazu etwa die Strophen 37 bis 40, in denen es scheint, als ob sich die Pflanzen an einem (gesellschaftlichen) Rangstreit beteiligen, aus dem der Enzian als Sieger hervorgeht, weil er die „Pöbel-Kräuter“ überragt und „ein ganzes Blumen-Volk“ unter „seiner Fahne“ dient. Albrecht von Haller: Gedichte. Hg. u. eingeleitet von Ludwig Hirzel. Frauenfeld 1882, S. 37. 36 Damit grenzt sich auch Kyburz von der anakreontischen Schäferdichtung ab, die Liebe, Freundschaft, Geselligkeit und heiteren Lebensgenuss preist. 37 Kyburz (wie Anm. 3), Anrede, o. S.

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richtet auf die Verrichtungen, Geschäfte und Handlungen der Einwohneren des Hohen und Niederen Schweitzerischen Gebirgs“.38 Das Gedicht ist sprachlich und thematisch zwar schlicht – Kyburz nennt es „einfältig und ländlich geschrieben“39 – doch ist zu vermuten, dass die Lektüre kein privater Akt sein sollte, sondern eine Art Gruppenlektüre: Einer (der Großbauer) liest bzw. singt vor, die anderen (die Familie, das Gesinde) hören zu. Vom empfindsamen geselligen Umgang mit Literatur ist das weit entfernt. Erich Schön spricht von einer „autoritativen Vorlesesituation“.40 Da im Pietismus die religiöse Erbauung meist in kleinem Kreise in sogenannten Erbauungsstunden oder religiösen Privatversammlungen praktiziert wurde, ist aber auch vorstellbar, dass die Gedichte gemeinsam gesungen wurden. Dafür spricht, dass Kyburz bei jedem einzelnen Lied die Melodie angibt – teilweise mit Alternativmelodien–,mit welcher der jeweilige Text unterlegt werden sollte. Es handelt sich dabei um die Musik so bekannter Kirchenlieder wie Nun danket alle Gott oder O Gott, du frommer Gott. Doch ist die Theologia keine Erbauungsliteratur im herkömmlichen Sinne. Zwar übernimmt sie seelsorgerische Funktion und beansprucht auch, zu einem praktizierenden Christentum zu führen – dieses Ziel wird zumindest auf dem Titelblatt formuliert –, doch verkündet sie Zufriedenheit statt Weltverachtung und eine gewisse Lust an weltlichen Dingen. Wenn Kyburz etwa im dritten Lied des ersten Teils das Leben bzw. den Tagesablauf der Hirten beschreibt, thematisiert er eben auch die „Lustbarkeiten“,41 also die gemeinsamen Spiele und sportlichen Veranstaltungen, und verlässt damit die Basis spiritueller Naturbetrachtung. Der lateinische Haupttitel des Lehrgedichts, der nicht recht zu den volksaufklärerischen Intentionen des Autors zu passen scheint, weist Kyburz als Physikotheologen aus, der damit dann wiederum nicht in der Tradition Hallers steht. Denn über ein Weiterleben nach dem Tod bzw. über Gott findet sich in den Alpen nichts: „Neben innerem und äußerem Zuchtmeister scheint die Natur als Schicksal auch noch die Rolle Gottes zu besetzen, und sie spielt sie genauso streng wie der ernste, zornige und gerechte Gott des Calvinismus.“42 Kyburz’ Intention ist es dagegen, wie oben bereits erwähnt, die Schweizer an Gott heranzuführen. Und damit verfolgt er die in der natürlichen Theologie, der theologia naturalis, liegenden pädagogischen Zwecke und bezieht das Schöpferlob „auf die Durchsichtigkeit der Weltmaschine für die Vernunft und ihre Zweckmäßigkeit für den

38 Ebd., Titelblatt, o. S. 39 Ebd. Epistola Dedicatoria, o. S. 40 Erich Schön: Vorlesen. Literatur und Autorität im 18. Jahrhundert. Zum Wandel von Interaktionsstrukturen im Umgang mit Literatur. In: Histoires du livre. Nouvelles orientations. Sous la direction de Hans Erich Bödeker. Paris 1995, S. 199–224, hier S. 206. Der ländlichen Bevölkerung das Lesen überhaupt beizubringen ist ein Gedanke der Spätaufklärung. 41 Kyburz (wie Anm. 3), Berg- und Hirten-Lieder, S. 32. 42 Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/2: Frühaufklärung. Tübingen 1991, S. 143.

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Menschen“.43 Dafür werden die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschungen funktional oder teleologisch überhöht, sodass Kyburz über dem Beweis der Nützlichkeit den Blick für das Leiden und Bedrohende in der Schöpfung verliert. Mit dem zweiten Teil des Haupttitels stellt sich Kyburz in die Tradition der pietistischen Erfahrungstheologie. Dass er sich explizit an der Theologia experimentalis Gottfried Arnolds orientierte, dem letzten Werk des Pietisten, das in seinem Todesjahr 1714 erschienen war, kann nur vermutet werden: Kyburz liefert im Paratext keine Hinweise auf Arnold. Die Pietismusforschung der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts hat wiederholt auf die Bedeutung der Erfahrung im Pietismus hingewiesen und etwa die Theologie Philipp Jacob Speners als Erfahrungswissenschaft oder den Pietismus generell als Erfahrungstheologie bezeichnet.44 Bei Kyburz ist Theologie eine lebendige Erfahrung und Übung, deshalb ist sie, die Theologia experimentalis, „eingerichtet auf die Verrichtungen, Geschäfte und Handlungen“ der Schweizer,45 und die wahre Erkenntnis Gottes entspringt eben aus der Erfahrung. Plastisch wird der Erfahrungsbegriff aus den Aufzählungen, den Beschreibungen der täglichen Arbeiten und der alpinen Natur, in denen Gottes Wirken sichtbar wird. Richtet sich Hallers Zivilisationskritik auch gegen die Korruption und den Sittenverfall in den Städten – er wurde bei mehreren Bewerbungen um öffentliche Ämter in seiner Heimatstadt Bern übergangen – , sind seine Alpen demnach „keineswegs mit der Schweiz ineins[zu]setzen“.46 Kyburz meint dagegen die gesamte Schweiz, wenn er von den Gebirgen spricht. Gleich in der vierten Strophe des ersten der Berg- und Hirtenlieder beschreibt er „das Schweitzerland“ als von Bergen umgebenes Gebiet,47 das dadurch über eine natürliche Abwehr gegen äußere Gefahren verfüge. Im dritten Teil seines Lehrgedichts zählt er die Kantone auf, in denen sich „niedere Berge“ befinden,48 diese reichen von Appenzell im Osten über Basel bis nach Freiburg im Westen. Zählt man die in Haupt- und Nebentext genannten Kantone, Regionen, Städte hinzu, ist die Schweiz topographisch nahezu komplett abgedeckt. Den aus der bukolischen Literatur bekannten Stadt-Land-Gegensatz deutet Kyburz nur an wenigen Stellen an. In seiner Dedikation etwa, aus der hervorgeht, dass die Widmungsträger wohl (Land)Ärzte waren, die selber über eigenen Grund und Boden verfügten und auch Bauernhöfe bewirtschaften ließen, verweist er etwa auf Antonio de Guevera

43 Walter Sparn: Natürliche Theologie. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Müller. Bd. 24. Berlin / New York 1994, S. 85–98, hier S. 89. 44 Vgl. Volker Keding: Theologia experimentalis. Die Erfahrungstheologie beim späten Gottfried Arnold. Münster u. a. 2001 (Theologie 37), S. 28ff. 45 Kyburz (wie Anm. 3), Titelblatt. 46 Kemper (wie Anm. 42), S.141. 47 Kyburz (wie Anm. 3), Berg- und Hirten-Lieder, S. 4. 48 Ebd., Bericht an den geneigten Leser, o. S.

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und dessen Lobpreisungen des ländlichen Lebens.49 Kyburz übernimmt zwar einige der zivilisationskritischen Verse, in denen Haller die Prunksucht und Verderbtheit der Städter anprangert, doch nicht, um diese Laster in Kontrast zum einfachen und tugendhaften Leben der Bauern zu setzen, sondern um auf die Gefährdung der Bauern hinzuweisen, die immer stärker dem Einfluss der Städte ausgesetzt seien, denn auch auf den Bergen gebe es „Leut, / Die auf der Laster-Bahn Einhergeh’n ungescheut“.50 Das beschworene Ideal ist das einer vergangenen Epoche der Schweizer Geschichte, in der Stadt und Land noch keinen Gegensatz bildeten: Vor Altem wußt man nichts Von argen Tück und Possen, Als noch die Redlichkeit War eigen den Eydgnossen. Sie lebten insgesammt In solchem Unschulds-Stand, Daß grosser Ruhm davon Gieng aus in alle Land.51

Hallers Ideal entwickelt sich in konsequenter Opposition zur städtisch-höfischen Zivilisation, wohingegen Kyburz Trennendes zwar benennt, doch mit der Absicht, dieses unter Berufung auf verschiedene (biblische, historische) Vorbilder aufzuheben. Während bei Haller allerdings die Erinnerung an die „güldne Zeit“ nicht durch den paradiesischen Überfluss evoziert wird,52 sondern gerade durch die Kargheit und die Härte der Lebensbedingungen („Der Elemente Neid hat euer Glück vergrößert“),53 betont Kyburz die Reichhaltigkeit und Üppigkeit der Bergwelt. Und so zahlreich dieser auch Verse Hallers übernimmt, lassen sich die unterschiedlichen Intentionen beider Autoren gerade an den Stellen nachweisen, an denen beide mit mythologischen Verweisen arbeiten. Haller beklagt zwar den Verlust der „güldene[n] Zeit“,54 erläutert aber ausführlich, welche Motive seiner Klage zugrunde liegen, und diese sind eben nicht die üblichen: Beglückte güldne Zeit, Geschenk der ersten Güte, Oh, daß der Himmel dich so zeitig weggerückt! Nicht, weil die junge Welt in stätem Frühling blühte Und nie ein scharfer Nord die Blumen abgepflückt; Nicht, weil freiwillig Korn die falben Felder deckte Und Honig mit der Milch in dicken Strömen lief; 49 Gueveras Mißbrauch deß Hofflebens und Lob des Landt-Lebens wurde sogar noch 1716 in der Übersetzung von Aegidius Albertinus in Frankfurt a. M. neu aufgelegt. 50 Kyburz (wie Anm. 3), Freymüthige Gedanken, S. 21. 51 Ebd., S. 21f. 52 Haller (wie Anm. 35), S. 21. 53 Ebd., S. 22. 54 Ebd., S. 21.

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Nicht, weil kein kühner Löw die schwachen Hürden schreckte Und ein verirrtes Lamm bei Wölfen sicher schlief; Nein, weil der Mensch zum Glück den Ueberfluß nicht zählte, Ihm Nothdurft Reichtum war und Gold zum sorgen fehlte!55

Nicht nur in der Schilderung des Goldenen Zeitalters bezieht sich Haller immer wieder auf die antike Mythologie,56 um das Leben der Schweizer einerseits in die Tradition des antiken Landlebens zu stellen, andererseits aber, um es genau davon wieder abgrenzen zu können, weil es diesem Ideal letztlich doch nicht entspricht; denn es sei, so Eric Achermann, „eine stiefmütterliche Natur, die den Älplern ihre Lehre erteilt“.57 Kyburz verzichtet nahezu komplett auf antik-mythologische Bezüge. Sein Lehrgedicht steht in einer Tradition, in der die Schweizer Alpen seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts nicht mehr als ein Ort des Schreckens angesehen werden, sondern als von Gott besonders üppig ausgestattete Landschaft, als zweites Kanaan, in dem Milch und Honig fließen.58 Bei ihm überwiegen, wiederum abgestimmt auf die Lektüren seiner potentiellen Leser, christlich-mythologische Verweise, die teils im Haupttext ausgeführt sind, teils im Paratext erläutert werden.

IV So sehr Kyburz Haller auch verehrt haben mag, seine Theologia naturalis et experimentalis unterscheidet sich doch fundamental von den Alpen. Geht es jenem um einen kosmologischen Gottesbeweis, den er antritt, indem er Aussehen und Verwendungszweck alpiner Kräuter beschreibt und diese zu sicht-, schmeck- und riechbaren, also sinnlich erfahrbaren Beweisen von Gottes Wirken in und durch die Natur erklärt, versucht dieser „,einige merkwürdige Eigenschaften des Krautes‘ annäherungs- und gleichnisweise“ zu erahnen, „um das,

55 Ebd. 56 Im Falle des Mythos der Weltzeitalter greift Haller wohl auf Hesiod bzw. Ovid zurück. 57 Eric Achermann: Dichtung. In: Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche. Hg. von Hubert Steinke u. a. Göttingen 2008, S. 121–155, hier S. 133. Uwe Hentschel hat nachgewiesen, dass Hallers Darstellung weniger aus eigener Anschauung resultiert als vielmehr aus der Lektüre der antiken Landlebendichtung. Vgl. Uwe Hentschel: Albrecht von Hallers Alpen-Dichtung und ihre zeitgenössische Rezeption. In: Wirkendes Wort 48 (1998), S. 183–191. 58 Kyburz bezeichnet die Schweiz im ersten Lied des dritten Abschnitts als „ein Canaan [...] / Da Milch und Honig fliesset“. Kyburz (wie Anm. 3), Freymüthige Gedanken, S. 9. In einer Fußnote verweist er an genau dieser Stelle auf das umfangreiche Lehrgedicht des pietistischen Pfarrers Samuel Lutz, dessen vollständiger Titel lautet: Das Schweitzerische Von Milch und Honig fliessende Canaan, Und hoch-erhabene Berg-Land; Mit seinen himmlischen Vortheilen, auch irrdischen Segen mit Bequemlichkeiten beschrieben; Und wie diese sichtbare Sachen und leibliche Geschäffte nur Schatten-Bilder seyen geistlicher Verrichtungen / Paradiesischer Vorrechten und ewiger Güter. Bern 1731.

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was ‚inwendig‘ in der Pflanzennatur liegt und nicht visuell zu erfassen ist“, anzudeuten.59 Haller schließt von der äußeren Gestalt auf das Wesen. Kyburz sucht in der sichtbaren Gestalt immer nur den einen, den „obersten Gutthäter“,60 zu dem er seine Schweizer führen möchte. Das ist sein Anspruch, an dem er gemessen werden muss.

59 Barbara Mahlmann-Bauer: „Die Alpen“ Albrecht von Hallers – Landschaftsgemälde, wissenschaftliche Hypothesenbildung und verborgene Theologie. In: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern 66 (2009), S. 9–27, hier S. 15. 60 Kyburz (wie Anm. 3), Titelblatt.

Reinhard Breymayer (Ofterdingen)

Friedrich Christoph Steinhofer – ein pietistischer Theologe zwischen Oetinger, Zinzendorf und Goethe Mit der Lösung eines quellenkritischen Problems bei Karl Barth

Der bedeutende pietistische Theologe Magister Friedrich Christoph Steinhofer wurde am 16. Januar 1706 in Owen unter Teck als Sohn des dortigen Stadtpfarrers Ludwig Christoph Steinhofer (1677–1759) geboren und wirkte u. a. als Pfarrer in Dettingen an der Erms, später als Stadtpfarrer in Zavelstein mit der Filiale Teinach und dann in Eningen unter Achalm. Er starb am 11. Februar 1761 als Spezialsuperintendent (Dekan) und Stadtpfarrer in Weinsberg; beerdigt wurde er am 14. Februar.

I. Zum Charakter Steinhofers Um es vorweg zu sagen: Steinhofer war jemand, mit dem man ‚gut Kirschen essen konnte‘1 – ein ‚friedreicher‘, friedlicher Mensch, ein Mann des Ausgleichs und der Versöhnung, kein Choleriker mit kurzer Zündschnur und auch kein Phlegmatiker mit langer Leitung, sondern ein geistig beweglicher Diplomat, ein blitzgescheiter Meister der Vermittlung und Anpassung an wechselnde und vor allem an widrige Umstände – sein Freund Friedrich Christoph Oetinger hat gar von einem Chamäleons-Charakter Steinhofers gesprochen.2 Bei aller Wandelbarkeit war er jedoch nicht labil, sondern hat innere Stabilität bewiesen und Standfestigkeit in Glaubensfragen, was Spannungen mit Andersdenkenden nicht ausschloß. Immer wollte Steinhofer ein rechter Christophorus sein, ein Christusträger, ein Friedensbote des himmlischen Königs. 1 Owen und Dettingen an der Erms sind bis heute für ihre vielen Kirschbäume bekannt, während der früher dort betriebene Weinbau in Abgang gekommen ist. 2 Vgl. Friedrich Christoph Oetingers Leben und Briefe, als urkundlicher Commentar zu dessen Schriften. Hg. von Karl Chr[istian] Eberh[ard] Ehmann. Stuttgart 1859, S. 505, Anm.*. In einem Brief von Oetinger an Steinhofer (September 1736) heißt es dort: „Unam speciem cave, chameleontis. [...] Illa tibi species valde ingruit versicoloritatis, sed jam ita in animo tuo versutus es et nimia determinatione, nimia generalitate idearum.“ In der Übersetzung von Ehmann (S. 505): „Eines ist, davor Du Dich zu hüten hast: die Gestalt des Chamäleons. [...] Jene Gestalt der Veränderlichkeit kommt Dich gar zu leicht an. Aber Du bist in Deinem Gemüth schon so leicht herumzudrehen aus allzu großer Bestimmtheit, allzu großer Allgemeinheit der Ideen.“

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Versöhnen statt spalten, Brücken bauen, das waren seine Stärken. Er war bescheiden, konnte sich selbst zurücknehmen, in das Ganze einordnen, sich ‚durchschmiegen‘, wie er es nannte. Intellektueller Hochmut und Arroganz waren ihm fremd, so daß er vermittelnd auftreten konnte. Und er wurde auch in Krisenzeiten als Nothelfer eingesetzt, dann, wenn es in einer Gemeinde ‚brannte‘, so in Eningen unter Achalm, wo sein Jahrgangsgenosse, Mitsttiftler und Vorgänger als Pfarrer, Johann Friedrich Gentner (1706–1767), sich in den Jahren seiner Eninger Amtszeit (1738–1755) seiner Gemeinde, dieser Vielzahl von Wanderkrämern und ‚Hausierern‘, gegenüber allzu gesetzlich verhalten hatte.3 Steinhofer sah in den Händlern mit der Kiepe auf dem Buckel kein asoziales ‚fahrendes Volk‘, sondern die Mühseligen und Beladenen. Als Retter stellte sich Steinhofer dann vor allem in Weinsberg zur Verfügung, wo er seinem älteren Freund Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782), der mit Steinhofers Cousine zweiten Grades, Christiane Dorothea, geb. Linsenmann, verheiratet war, als Dekan nachfolgte. Der Pietist Oetinger hatte zwar mit seinen Weinsberger Predigten Großes geschaffen, war aber durch die Verleumdungen eines gegen die geistliche Schulaufsicht ‚aufmuckenden‘ Lehrers in die unglückseligen sogenannten Weinsberger Wirren verstrickt worden.4 Bei solchen Konfrontationen zwischen unten und oben, Jung und Alt, Lehrer und Pfarrer konnte ein Mann wie Steinhofer die Wogen glätten, und auch sein jüngerer Freund und Schüler Johann Ludwig Fricker (1729–1766)5 hatte hier eine glücklichere Hand als Oetinger in Weinsberg. In Hülben, dem damaligen Dettinger Filialort, gelang der Ausgleich zwischen Pfarr- und Schulhaus: Fricker konnte unter Hinweis auf den Römerbrief die Hülbener Schulmeistersgattin Anna Katharina Kullen, verwitwete Schill, geb. Buck (1722–1783), und ihre Familie in wenigen Worten für den Pietismus gewinnen, was bis heute eine beträchtliche Wirkung für den Altpietismus nach sich gezogen hat.6 Ein Sohn 3 Vgl. Albert Knapp: Einiges aus dem Leben des M[agisters]. Friedrich Christoph Steinhofer, weil[and]. Dekan und Stadtpfarrers in Weinsberg. In: Christoterpe 5 [1836], S. 332–365, hier S. 348 f. 4 [Christian Gottlob] Hönes: Zur Geschichte Oetingers. Mitgeteilt von Dekan Hönes in Neuenstadt. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 8 (1893), S. 1–4, 9–12, hier S. 9–12. 5 Vgl. Herbert Henck: Vom Monochord zur vierten Dimension. Johann Ludwig Frickers irdische und himmlische Musik. In: Neue Zeitschrift für Musik 162 (2001), S. 48–51; ders.: Fricker, Johann Ludwig. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Personenteil. Bd. 7. Hg. von Ludwig Finscher. 2., neubearb. Ausg. Kassel u. a. 2002, Sp. 110–113. 6 Vgl. W[ilhelm] Claus: Württembergische Väter. Bd. 2: Von Brastberger bis Dann. Bilder aus dem christlichen Leben Württembergs. 2. durchgesehene Aufl. Calw / Stuttgart 1905; vgl. dort zu Steinhofers Anhänger Christoph Handel und zu Johann Ludwig Fricker (S. 51–73); zur Verbindung Frickers mit den Stiftsrepetenten Karl Heinrich Rieger und Magnus Friedrich Roos sowie mit Oetinger und später mit Steinhofer in Dettingen (S. 67); zu Frickers Anweisung: „Frau Schulmeisterin, lese sie die Römerepistel!“ (S. 67); „Fricker pflegte auch mit gleichgesinnten Amtsgenossen, z. B. K[arl]. H[einrich]. Rieger, [Eberhard Friedrich] Hellwag, [Ludwig Christoph] Huzelin, M[agnus]. F[riedrich]. Roos, [Eberhard Ludwig] Denk brüderliche Verbindung.“ (S. 68); zu Johann Jakob

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der Lehrersgattin, der Schulmeister Jakob Friedrich Kullen (1758–1818), hat dann bei der Erbauungsliteratur Steinhofer den Vorzug vor dem Theosophen Oetinger gegeben. Der aus Eningen stammende Geistliche Johann Jakob Eytel (auch: Eitel; 1742–1788) war hier wichtig geworden. Steinhofer hatte Eytel in Eningen einst in Fächern wie Logik und Rhetorik unterrichtet. Als dieser Pfarrer in Neubulach geworden war, empfahl er Kullen die aus Neubulach stammende Barbara, geb. Nestlin (auch: Nestle; 1754–1824), als Ehefrau. Diese zeigte nun zwar zunächst eine Vorliebe für Frickers älteren Freund Oetinger, in der Tradition des Hülbener Hauses Kullen hat sich aber die nichtspekulative Richtung von Steinhofer, Magnus Friedrich Roos u. a. durchgesetzt. Diese ‚nüchterne‘ Ausrichtung ist bis zu dem bekannten Evangelisten Pfarrer Wilhelm Busch (1897–1966) in Essen an der Ruhr und darüber hinaus wirkungsvoll geblieben.

II. Steinhofers Lebensweg Steinhofer war seit 1712 Schüler der berühmten Lateinschule in Kirchheim unter Teck, dann seit 1720 der evangelischen Klosterschule Blaubeuren und seit 1722 derjenigen in Bebenhausen. 1725 begann er als Stipendiat des Tübinger Stifts an der dortigen Universität zunächst das Magisterstudium. Seine Arbeit für die Magisterprüfung im Februar 1728 galt dem Unterschied zwischen einem mathematischen und einem physischen Körper.7 Er ging darin auf das Problem der drei Dimensionen ein, aber noch nicht auf das der vierten Dimension, das später Johann Ludwig Fricker und selbst Albert Einstein beschäftigen sollte. 1728 nahm Steinhofer das Studium der Theologie auf, das er 1731 wieder sehr gut abschloß. Schon als Theologiestudent war Steinhofer 1729 für ein halbes Jahr Vikar in Biberach an der Riß, kam also auch früh mit der Gemeindearbeit in Berührung. Sein Vikarsvater war der Mittags- und Abendprediger Johann Jakob Gutermann (1670–1754), dessen Sohn Christoph Jakob (1700–1755), damals Biberacher Siechenprediger, 1725 in Owen Steinhofers Schwester Sophia Margaretha geheiratet hatte – hier erwies sich also die Verwandtschaft als hilfreich.8 1731 reiste Steinhofer nach Bayreuth, den einstigen WirkungsEytel (S. 221–232); zur Familie Kullen (S. 297–318); vgl. auch Samuel Kullen: Lebenslauf. In: Johannes Kullen. Fünf und fünzig Erbauungsstunden samt seinem Lebensabriß und Anderem aus seinem Nachlaß. Hg. von Samuel Kullen. 3Stuttgart 1860, S. I–CL, hier S. XII f.; sowie Rolf Scheffbuch: Das Kullen-Schulhaus in Hülben. Hg. von Siegfried Kullen. Hülben 2011. 7 Vgl. Friedrich Christoph Steinhofer [Verf. und Respondent] / Johann Conrad Creiling [Praeses]: De differentia corporis mathematici et physici, [...] praeside, Johanne Conrado Creilingio […] disputabit auct[or]. et resp[ondens]. Fridericus Christophorus Steinhofer [...]. Tubingae [1728]. 8 Eine weitläufige Verwandte von Steinhofers Schwager war Christoph Martin Wielands einstige Verlobte Maria Sophia (geborene Gutermann), seit 1741 Edle von Gutershofen (1730–1807), die als Sophia (von) La Roche literarischen Ruhm erlangte. Ihre Tochter Maximiliane („Maxe“) La Roche, nachmals (1774) verehelichte Brentano, becircte in der Wertherzeit den jungen Goethe. Sophias

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ort seines Großvaters Johann Jakob Steinhofer (1640–1692),9 der von 1679 an Oberhofprediger des Markgrafen Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth (1644–1712), eines der fränkischen Hohenzollern, gewesen war. Über diesen Großvater war die Gewandtheit im Umgang mit dem Adel in die Familie Steinhofer gekommen, die Höflichkeit, die Diplomatie und die Fähigkeit, sich einzuordnen (‚durchzuschmiegen‘) und uneitel der Sache zu dienen. Seine Standhaftigkeit in Glaubensfragen schloß freilich einzelne Spannungen mit seinen Freunden Oetinger und Zinzendorf nicht aus. Zu einem Zerwürfnis mit dem streitbaren Ebersdorfer Hofprediger Johann Peter Sigmund Winkler (1702– 1780), einem strukturkonservativen, amtskirchlich ausgerichteten hallischen Pietisten, kam es im Jahr 1734. Winkler wechselte danach ins herrnhutfeindliche Wernigerode. Wie Frieder Vollprecht in seiner wichtigen Abhandlung Von der Schloßekklesiola zur Ortsgemeinde. Ein Beitrag zum Enstehungsprozeß der Brüdergemeine Ebersdorf gezeigt hat, trug zu diesem Streit hauptsächlich der Unterschied zwischen Winklers und Steinhofers Kirchenverständnis bei: Der Vision einer ‚Kirche von unten‘ stellte Winkler eine ‚von oben‘ geleitete Amtskirche gegenüber. Steinhofers Weg führte 1731 ins thüringische Jena und nach Sachsen, vor allem zu Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf nach Herrnhut. Steinhofer war von der Dynamik des Grafen beeindruckt, der in den vielfach erstarrten und verschlafenen Landeskirchen eine Aufbruchstimmung zu erzeugen vermochte. Steinhofers Kontakt zu Zinzendorf vertiefte sich, als sich dieser 1733 in Württemberg aufhielt, wo er – freilich vergeblich – ein Amt als Prälat anstrebte. Der in diesem Jahr zum Stiftsrepetenten ernannte Steinhofer machte nun mit Hilfe Zinzendorfs Karriere, wenn auch wegen Spannungen in der Ebersdorfer dogmatischen Gemengelage zwischen amtskirchlich-lutherischer Ordnung, spenerischer und hallischer Tradition und herrnhutischer Neuerung nicht ungebremst: Bei einem Schwager Zinzendorfs, dem Reichsgrafen Heinrich XXIX. Reuß zu Ebersdorf (1699–1747), erhielt er 1734 zunächst die bescheidene Stelle eines Hofkaplans an der 1696 im Geiste Speners gegründeten, seit 1711 vom hallischen Pietismus und seit 1730 auch zunehmend von dem damit konkurrierenden Herrnhutertum beeinflußten Hofgemeine (der ‚Schloßekklesiola‘). Aus deren ‚erwecktem‘ Teil hatte sich die von der ‚reußischen‘ Dorfgemeinde zu unterscheidende ‚steinhoferisch‘-brüderische Ortsgemeine faktisch spätestens bereits 1734 abgespalten. Vater, Georg Friedrich Gutermann, seit 1741 Edler von Gutershofen (1705–1784), stammte aus Biberach an der Riß und war Arzt in Kaufbeuren und Augsburg. 9 Vgl. Bayreuthisches Pfarrerbuch. Die evangelisch-lutherische Geistlichkeit des Fürstentums Kulmbach-Bayreuth (1528/29–1810). Bearb. von Matthias Simon. München 1930 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 12); vgl. auch Thüringer Pfarrerbuch. Bd. 4: Die reußischen Herrschaften. Hg. von der Gesellschaft für Thüringische Kirchengeschichte. Leipzig 2004; zu den personen- und amtsgeschichtlichen Daten vgl. weiterhin Hans-Walter Erbe: Zinzendorf und der fromme hohe Adel seiner Zeit. (Diss.) Leipzig 1928 [Reprint: Hildesheim / New York 1975]; vgl. auch Frieder Vollprecht: Von der Schloßekklesiola zur Ortsgemeinde. Ein Beitrag zum Entstehungsprozeß der Brüdergemeine Ebersdorf. In: Unitas Fratrum 39 (1996), S. 7–51.

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Deren Seelsorge sollte der Hofkaplan übernehmen. 1738 wurde Steinhofer Hofprediger in dem zum ‚reußischen Vogtland‘ gehörenden und kirchenrechtlich dem Gemeinschaftlichen Konsistorium der gnesiolutherischen, flacianisch ausgerichteten Kirche von Reuß’ jüngerer Linie in Gera unterstehenden Residenzdorf Ebersdorf in Thüringen, dem heutigen Ortsteil der Stadt Saalburg-Ebersdorf. Da Steinhofer die gnesiolutherische, flacianisch ausgerichtete, also strikt lutherisch-orthodox geprägte Reußisch-Schönburgische Konfession (Confessio Ruthenea) von 1567 abgelehnt hatte, verweigerte das Gemeinschaftliche Konsistorium in Gera seine Ordination. Diese nahm deshalb in Württemberg der Abt des evangelischen Klosters Hirsau, Prälat Philipp Heinrich Weißensee (1673–1767), Steinhofers und Oetingers einstiger Blaubeurer Klosterpräzeptor, am 15. Juni 1738 zusammen mit Oetingers Ordination zum „Pfarrer im Kloster Hirsau“ vor. Der Graf von Reuß, der gerade einen Kuraufenthalt im nahen Badeort Teinach durchführte, war bei der Zeremonie anwesend. Steinhofer trat sein Hofpredigeramt im August 1738 an. 1739 wurde er auch Direktor des Waisenhauses Ebersdorf und 1745, nach dem freiwilligen Rücktritt von seinem Amt als Hofprediger, Direktor der Ebersdorfer Anstalten. Auf der Synode, die vom 11. Mai bis 21. Juni 1746 in Zeist stattfand, wurde er Mitbischof des lutherischen Tropus der Brüder-Unität. Die Ortsgemeine Ebersdorf kam sogar in den Genuß eines eigenen, von Steinhofer 1742 und 1745 herausgegebenen Gesangbuchs. Dieses Ebersdorfer Gesangbuch war in Goethes Elternhaus bekannt, wie wir noch sehen werden. Die Ebersdorfer Ortsgemeine schloß sich am 15. Dezember 1746 an die Herrnhuter Brüdergemeine an, wurde aber erst am 24. August 1751 durch den neuen Landesherrn Heinrich XXIV. (1724–1779) – Heinrich XXIX. war in Herrnhaag am 22. Mai 1747 verstorben – aus der reußischen Landeskirche ausgeschlossen und der Brüder-Unität unterstellt. Steinhofer hatte in Ebersdorf für eine größere Selbständigkeit der Herrnhuter Gruppe gesorgt und konnte sich nun auch auswärts als Helfer betätigen. In der Wetterau durchlitten die Herrnhuter von 1743 bis 1749 die sogenannte Sichtungszeit, die von schwärmerischen, ‚charismatischen‘ Gefühlsregungen gekennzeichnet war. Der nüchternere Schwabe Steinhofer wirkte hier beruhigend. 1746 wurde er Leiter des Theologischen Seminars der Brüder-Unität im reichsritterschaftlichen Ort Lindheim (Oberhessen) in der Wetterau.10 Am 3. Februar 1747 trat Steinhofer in Herrnhut in den Stand der Ehe: Seine Frau, die fast vierzigjährige Ebersdorfer Waisenhauslehrerin Dorothea Wilhelmine von Molsberg (1708–1790?), die bereits vierzehn Jahre lehrend tätig gewesen war, wurde ihm durch das Los zugewiesen.

10 Erbherren von Lindheim waren die Herren von Schrautenbach. Unter ihnen wurde später der zeitweilige Herrnhuter Ludwig Carl Freiherr von Schrautenbach (1724–1783) durch seine Freundschaft mit Goethes Freund Johann Heinrich Merck besonders bekannt; durch seine Heirat mit einer Tochter von Heinrich XXIX., Reichsgraf Reuß zu Ebersdorf, wurde er 1748 auch ein Neffe von Zinzendorfs erster Ehefrau Erdmuthe Dorothea (geb. Reichsgräfin Reuß zu Ebersdorf ).

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Am 11. Februar 1749 legte Steinhofer seine Ämter nieder und löste sich am 12. März 1749 von Zinzendorf, dessen Eigenarten er nicht mehr mittragen konnte: Er sah bei dem Graf religiöse Eskapaden, Einseitigkeit, Eigenwilligkeit und Eigenmächtigkeit etwa bei der Auslegung der biblischen Schriften, denen Zinzendorf als „Wegbereiter des historischen Denkens“11 Irrtumslosigkeit nicht mehr zubilligte. Noch 1749 wurde Steinhofer in Dettingen an der Erms Pfarrer und entfaltete in der recht kurzen Zeit, bis er 1753 Stadtpfarrer in Zavelstein wurde, eine segensreiche Wirkung. Er hat den Dettinger Pietismus und über seinen Freund Johann Ludwig Fricker (1729–1766) und die Nachkommen des Bäckers Christoph Handel (1720–1800)12 aus der Familie Kullen dann auch den Pietismus im einstigen Dettinger Filialort Hülben nachhaltig beeinflußt. 1756 wurde Steinhofer, wie schon erwähnt, als Nothelfer in die verwaiste Kirchengemeinde Eningen unter Achalm geholt. Wegen der Nähe zu Tübingen pilgerten nun wieder wie offenbar schon in Dettingen viele Theologiestudenten aus der Universitätsstadt zu ihm hin und lauschten seinen Reden. Steinhofer kam auch selbst nach Tübingen, wo die Studenten seine Reden eifrig mitschrieben. Eningen beherbergte für kurze Zeit eine Art evangelische Akademie, wie wir aus einem kurz nach Steinhofers Tod verfaßten Brief des Weinsberger Vikars Johann Georg Bauder13 an seinen Freund Eberhard Ludwig Denk (1729–1807), den Tübinger Stiftsrepetenten und späteren Dekan in Nürtingen, wissen. Hier zeigt sich der Rang Steinhofers, und es ist nicht leicht zu ermessen, wie viel ihm das geistige und geistliche Leben verdankt: Steinhofer ist nicht mehr da; er ist heimgegangen. […] Laßt euch noch einmal erzählen, was wir an ihm gehabt: er war unser Professor; Ehningen [Eningen unter Achalm bei Reutlingen] war die Brüder-Akademie; sein Tisch war unsre Communität. Im Sommer schlug er den Katheder im Gartenhäuschen auf; wir saßen um ihn herum; öfters begaben wir uns unter seinen großen Nußbaum. Im Winter lehrte er uns in der Stube, rückwärts am Ofen stehend. Die geliebte Mutter [Steinhofers Mutter Sibylla Dorothea Steinhofer, geb. Andler, oder Steinhofers kinderlose Ehegattin Dorothea Wilhelmine Steinhofer, geb. von Molsberg] sah die Gierigkeit der jungen Brüder, und lächelte nach ihrer Art heimlich darüber. Wir gingen mit unsrer Beute munter nach Tübingen zurück, — die Brüder kamen uns häufig entgegen. ‚Was hat er Alles gesagt ?!‘ war ihre erste Rede; wir mussten’s ihnen gleich auf dem Felde erzählen. Das war eine Brüderlust! Kam der Lehrer selbst nach Tübingen, so war ihm unser Besuch nicht zu gering; die Brüder kamen zusammen, er stellte sich in unsre Mitte hinein; wir zogen nur Ein Register, so

11 Vgl. Peter Baumgart: Zinzendorf als Wegbereiter des historischen Denkens. Lübeck / Hamburg 1960 (Historische Studien 381). 12 Zu Handels Nachkommen zählen Barths einstiger Assistent und Biograph Eberhard Busch, ehemaliger Inhaber des Karl-Barth-Lehrstuhls in Göttingen, sowie der Vf. der vorliegenden Studie, dessen religiöse Sozialisation wesentlich von Steinhoferischer Tradition mitbestimmt worden ist, während ihn später der dem russischem Adel entstammende ukrainische Slawist Dmitrij Iwanowitsch Tschižewskij als Gastprofessor in Köln nachdrücklich auf Oetinger aufmerksam gemacht hat. 13 Zu Bauder vgl. Claus (1905), S. 207–221.

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hatten wir den Ton. Etliche schrieben seine Reden nach, und wir trugen sie in unsre Excerpte ein. Das war uns Steinhofer; aber nun ist er nimmer da.14

Der Brief Bauders hilft nun aber auch, ein altes Rätsel der theologischen Forschung ein Stück weit zu lösen. Er zeigt eben, daß Steinhofer mit vielen jüngeren Theologen in Verbindung stand, und erinnert daran, daß neben Autographen oder gedruckten Veröffentlichungen der Autoren selbst auch Mitschriften mündlicher Vorträge und Abschriften solcher Mitschriften oder gedruckter Veröffentlichungen in pietistischen Kreisen kursieren konnten. Der berühmte Theologe Karl Barth schreibt im Vorwort zur zweiten Auflage seines epochalen Buches Der Römerbrief aus dem Jahre 1922: Richtig zu stellen ist, daß die in der ersten Auflage erwähnte Römerbrieferklärung von Carl Heinrich Rieger (1726–1791) in seinen Betrachtungen über das Neue Testament 1828 merkwürdigerweise vom dritten Kapitel an wörtlich übereinstimmt mit der 1851 edierten Erklärung von Friedrich Christoph Steinhofer (1706–1761). Das Plagiat kann jedenfalls nicht zu Lasten des würdigen Rieger selbst fallen. Vielleicht vermag ein württembergischer Spezialist Licht in diese dunkle Sache zu bringen.15

Karl Barth vertraut unkritisch darauf, daß der Theologieprofessor Johann Tobias Beck (1804–1874), bei dem sein Vater Fritz Barth studiert hatte, zu Recht alle fünf Manuskriptteile der von ihm selbst edierten Römerbrieferklärung Steinhofer zugeschrieben habe. Dann aber geht er davon aus, die gleichlautenden Manuskriptteile in den 1828 unter Riegers Namen postum veröffentlichten Betrachtungen seien in Wirklichkeit Steinhofer zuzuschreiben und damit also Pseudepigraphe. Gibt es vielleicht eine Brücke, eine persönliche Verbindung zwischen Rieger und Steinhofer? Karl Heinrich Rieger schreibt in seinem eigenhändigen Lebenslauf, daß er schon als Theologiestudent „über die Christfeiertage“ des Jahres 1746 „nach Ehningen, Pfullinger Amts, geschickt wurde, dem dortigen Herrn Pfarrer Johann Friedrich Gentner in seiner Kirchenarbeit zu assistiren“.16 In den Jahren von 1750 bis 1753, also während Steinhofers Dettinger Zeit, war Rieger Stiftsrepetent in Tübingen und kam vielleicht schon damals mit dem ehemaligen dortigen Stiftsrepetenten Steinhofer in Verbindung. Es wäre also möglich gewesen, daß Steinhofer sich eine Römerbrieferklärung Riegers auszugsweise notiert hätte. Im 19. Jahrhundert hätte Beck dann diese Abschrift in Steinhofers Nachlaß vorgefunden und sie zusammen mit kürzeren Erläuterungen Steinhofers 14 Vgl. Knapp (1836), S. 361 f. 15 Karl Barth: Der Römerbrief. 2. Aufl. in neuer Bearbeitung [1. Abdruck = 2. Aufl.]. München 1922, S. XVI; vgl. auch Karl Barth: Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922. Hg. von Cornelis van der Kooi und Katja Tolstaja. Zürich 2010 (Karl-Barth-Gesamtausgabe 47); vgl. dort das Vorwort zur zweiten Auflage (S. 5–24) mit dem folgenden Eintrag auf S. 24: „Safenwil, September 1921 |XIX|“; zum „Plagiat“ [eines Anonymus] aus Friedrich Steinhofer bei Carl Heinrich Rieger (S. 23); zu Rieger und Steinhofer vgl. auch S. 216, 477, 554, 681, 713. 16 Carl Heinrich Rieger: Betrachtungen über das Neue Testament, zum Wachsthum in der Gnade und Erkenntniß unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi. Teil 1. Mit einem Lebens-Abrisse des Verfassers. 5. Aufl. Stuttgart 1875, S. XI.

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in die Ausgabe von dessen Römerbriefkommentar eingefügt, weil er nicht erkannt hätte, daß Steinhofer diese Textstellen nicht selbst verfaßt, sondern nur abgeschrieben hätte. Aber die Möglichkeit, daß Rieger noch zu Lebzeiten Steinhofers die erst 1828 postum veröffentlichte Römerbrieferklärung verfaßt hat, wirkt wenig wahrscheinlich, wenngleich Rieger im Gegensatz zu Steinhofer für fehlenden publizistischen Ehrgeiz bekannt ist. Sollte Beck Teilstücke von Römerbrieferklärungen verschiedener Provenienz in einer einheitlichen Handschrift vorgefunden haben, wäre es möglich, daß nur eine einzige Person diese Textstücke geschrieben (nicht unbedingt verfaßt) hat. Angesichts des begrenzten zur Verfügung stehenden Raums können wir nicht alle Möglichkeiten durchspielen und auf Grund der Quellenarmut zumindest vorerst noch keine endgültige Lösung bieten. Wir vermögen jedoch, die Dinge durch das fermentum cognitionis, den ‚Gärstoff der Erkenntnis‘, in Bewegung zu bringen und die entscheidende Richtung vorzugeben: Im Falle einer von einer Hand stammenden Vorlage hätte eine einzige Person, der Steinhofers und Riegers Ausführungen zur Verfügung standen, die Abschriften der Textstücke angefertigt. In Frage käme z. B. Steinhofers einstiger Weinsberger Vikar Johann Georg Bauder, der nicht nur durch sein Amt frühzeitig Verbindung zur Familie Steinhofer hatte, sondern auch durch die Heirat seines Sohnes Gottlieb Heinrich Rieger mit Friederike Veronika, geb. Bauder (1765–1789), zum ‚Gegenschwieger‘ von Karl Heinrich Rieger geworden war. Auch Gottlieb Heinrich kommt durch seine genealogische ‚Scharnierfunktion‘ als ein möglicher Kompilator in Frage. Zu beachten ist auch die erwähnte Tatsache, daß der frühverstorbene, mit dem Römerbrief besonders vertraute Johann Ludwig Fricker nachweislich nicht nur mit Friedrich Christoph Steinhofer, sondern auch mit Karl Heinrich Rieger und dessen Freund Magnus Friedrich Roos in Verbindung stand. 1759 sprang Steinhofer für den scheidenden Dekan Friedrich Christoph Oetinger als Nachfolger in Weinsberg ein. Leider war ihm nur noch ein kurzes Dasein vergönnt. Schon am 11. Februar 1761 starb er in der Stadt unter der Burgruine Weibertreu.

III. Drei Beispiele für Steinhofers Predigttätigkeit Beispiel 1: In der Predigt Am Fest der Beschneidung Christi, oder am Neujahrsfeste,17 die Steinhofer 1750 noch vor dem Antritt des Dettinger Amts in Owen als Gehilfe seines Vaters gehalten hat, bezieht er sich auf Hebräer 13, 8: „Jesus Christus, gestern und heute Ebenderselbe, und so in Ewigkeit!“ Er sagt:

17 Vgl. Friedrich Christoph Steinhofer: Neue Predigten über die sonn- fest- und feiertäglichen Evangelien und andere Texte, zum ersten Mal aus seinen Original-Hss. herausgegeben. Mit einem Vorwort von Albert Knapp. Tübingen 1846, S. 70–77.

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Wir haben seit gestern auf heute einen wichtigen Schritt gethan, ein neues Jahr angefangen, und damit hat die Zahl unserer Tage und Jahre eine neue Abänderung bekommen. [...] Selig, wer einen gewissen Halt, der nicht wanket, einen dauerhaften Grund, der nicht hinfällt, und einen gewissen Anker der Hoffnung mitten unter den vergänglichen Dingen und Zeiten hat! Und Wer hat d e n, als wer Jesum hat? Er verändert sich nicht mit der Zeit: Er ist gestern und heute Ebenderselbige. Man trifft Ihn immer in einerlei Sinn Seines treuen Herzens, in einerlei Gnade Seines ewigen Bundes, ohne Wechsel und Aenderung an, gestern wie heute, heute wie morgen und so in die Ewigkeiten hinein.18

Steinhofer faßt zusammen: „ [...] Jesus ist der Fels der Ewigkeit“.19 Beispiel 2: Die Dettinger Herbstpredigt Am Feiertag Simonis und Judä 171520 handelt von der Erkenntnis Gottes. Nach Steinhofer belehrt uns GOtt von Seiner Erkenntniß auf zweifache Weise. Erstlich durch die Werke der Natur, und durch Alles, was Er schafft und tut, beides im Himmel, auf Erden, im Meere und in allen Tiefen. Zweitens durch Sein Wort und die heilige Bibel, darin Er uns Seinen heiligen Willen zu unserer Seligkeit hat vornähmlich bekannt gemacht. Aus diesen zwei Quellen fließt alle Erkenntniß von GOtt, die wir Menschen in dieser Zeit haben können. Das ist gleichsam ein doppeltes Buch, darin wir fleißig lesen und lernen sollen, was GOtt sey; und wie Er insbesondere gegen uns sey und seyn wolle. Nun, ihr Lieben! Wir sind noch in unserm gesegneten Herbst begriffen. Der liebe GOtt hat uns heuer unsere Weinberge und unsere Keltern zu einem Buche gemacht. So viele Traubenbeere, so viele Buchstaben, daran wir GOtt sollen erkennen lernen.21

Steinhofer schließt damit an die traditionellen Überlegungen zur Zwei-Bücher-Lehre an, die zeigen, daß er Einfühlungsvermögen in die Arbeit der Dettinger Weingärtner und in ihre Sorge um eine gute Ernte hat. Er sagt: „Es hängt die Nahrung so vieler armen Leute an dem Wein.“22 Dann rühmt er, „wie gut GOtt ist, ein Versorger der Armen. [...] Nun könnet ihr es mit Händen greifen.“23 Man sieht die prallen Traubenbeeren geradezu vor sich. Hier wird seine Predigt plastisch, auch dort, wo er gerade fachmännisch die anspruchsvolle Arbeit der Weingärtner schildert: „Nun, der Weinberg ist eine rechte Schule GOttes.“24

18 Ebd., S. 70 f. 19 Ebd., S. 71. 20 Vgl. ebd., S. 572–576; vgl. auch den Register-Untertitel (S. XXXVII): „Die Erkenntniß Gottes,“ sowie (S. 573): „Die Erkenntniß GOttes.“ 21 Ebd., S. 572 f. 22 Ebd., S. 575. 23 Ebd. 24 Ebd. – Zur Zwei-Bücher-Lehre vgl. Hermann Geyer: Verborgene Weisheit. Johann Arndts „Vier Bücher vom Wahrem Christentum als Programm einer spiritualistisch-hermetischen Theologie“. Berlin / New York 2001 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 80). Steinhofer ist nachweisbar von Johann Arndt beeinflußt.

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Beispiel 3: Eine besonders originelle Betrachtung Steinhofers findet sich in dem Band Tägliche Nahrung des Glaubens [...] aus dem Leben und Wandel Jesu auf Erden [...]. Frankfurt und Leipzig (1764). In der 40. Rede: Wie Jesus bei allem Werk, auch bei dem größten Leiden des Todes, sehr eilfertig und munter gewesen. Ps. 19 v. 5. 6,25 sagt Steinhofer über Jesus: „Er war wie e i n H e l d, getrost, rüstig, munter und fertig, seine Sache zustande zu bringen.“26 Auf das Markusevangelium bezieht sich Steinhofer, wenn es heißt: „Und alsbald, und alsbald. Damit wird anzeigt, daß er es munter angegriffen.“27 „Wenn das, was verrichtet werden sollte, geschehen war, [...] ging er wieder auf etwas anders, und nahm was anders vor. [...] Darum sollten wir munter frisch an unsere Sache gehen.“28 Auch als Arzt hielt Jesus das nötige Tempo bei, man könnte fast sagen, er verfuhr nach dem Motto heutiger Ärzte: Der Nächste bitte! Steinhofer sagt es so: „Wenn Jesus einen Kranken gesund gemachet hatte, so trieb er ihn also bald von sich, damit auch einem andern herbei zu kommen verstattet werden konnte.“29 Steinhofer hat hier eine Eigenart der christlichen Botschaft bemerkt, die weltgeschichtlich entscheidend geworden ist: Durch die christlich-teleologische Auffassung der Geschichte als einer Heilsgeschichte, die auf ein Ziel und damit auf ein Ende zustrebt, entsteht eine Verknappung der Zeit und damit eine Beschleunigung (Akzeleration), wie sie etwa im Wettlauf der Jünger zum Grab Christi30 deutlich wird. „Ich muß wirken, solange es Tag ist“,31 sagt Jesus. „Kaufet die Zeit aus!“,32 befiehlt der Autor des Epheserbriefs. Diese Zielgerichtetheit und Beschleunigung haben zusammen mit dem Missionsbefehl „Gehet hinaus in alle Welt!“ und der daran anschließenden schon mit dem Apostel Paulus beginnenden ,christlichen Seefahrt‘ die globale Ausbreitung und Dominanz des Christentums begründet. Der Kirchenhistoriker Ernst Benz hat diesen Gedanken in seiner Abhandlung über die Akzeleration der Zeit als geschichtliches und heilsgeschichtliches Problem33 ausgeführt. Er hätte sich auch auf Steinhofer berufen können.

25 Vgl. Friedrich Christoph Steinhofer: Tägliche Nahrung des Glaubens [...]. Franckfurt und Leipzig [...] 1764, S. 312 f. 26 Ebd., S. 313. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 314. 29 Ebd. 30 Vgl. Joh. 20, 2–10. 31 Joh. 9, 4. 32 Eph. 5, 16. 33 Ernst Benz: Akzeleration der Zeit als geschichtliches und heilsgeschichtliches Problem. Mainz / Wiesbaden 1977 (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 2).

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IV. Steinhofer und Goethe Durch seine Ebersdorfer und Lindheimer Zeit ist Steinhofer für den Frankfurter Umkreis der Familie Goethe wichtig geworden. Gerade durch Steinhofers Schriften wurde herrnhutischer Einfluß auf Goethes Mutter und deren Freundin Susanne Catharina Freiin von Klettenberg wirksam. Der in Ebersdorf wohnende württembergische Jurist Friedrich Carl (Freiherr von) Moser, der „Philo“ in Goethes Bekenntnissen einer schönen Seele, kam nach Frankfurt am Main und gewann dort die Freundschaft von Klettenbergs; durch Moser wurde sie mit Steinhofers Werken bekannt. Der Germanist Paul Raabe schreibt, daß Steinhofers Schriften „ihre Wandlung zu einer Pietistin herrnhutischer Richtung 1757 herbeiführten“ und daß sie mit ihm „in brieflichen Kontakt“ trat.34 Raabe verweist auf einen Brief des jungen Goethe an seinen Leipziger Freund Ernst Theodor Langer, in dem jener über die herrnhutisch beeinflusste, aber eigenständige kleine religiöse Gesellschaft, der sich seine Mutter angeschlossen hat, berichtet: „Das Ebersd[orfer]. Ges[ang]. B[uch]. ist bey dieser Gemeine in grossem Ansehen, meine M[utter]. weiß sogar daß es Herrenhuterlieder sind. Demohngeachtet dencken sie sehr weit von dieser Gemeine zu differiren.“35 Goethes Mutter sah sich zum Pietismus und zum Herrnhutertum hingezogen, während Goethes Vater diesen Neigungen gegenüber liberal bzw. tolerant war.36 Der junge Goethe schreibt in dem erwähnten Brief: Meine M[utter]. ist offentlich declarirt für die Gesellschafft mein Vater weiß es und ist damit zufrieden; meine Sch[wester]. ist mit in den Erbauungsstunden gewesen die sie bey dem Vorgänger Ihres Freundes halten, ich werde wohl auch hinkommen, bewahren Sie nur meine Briefe wohl, ich will Ihnen alles schreiben.37

Am 15. Januar 1769 fand die „Versammlung“ (Stunde) sogar in Goethes Vaterhaus statt, wie der junge Dichter in einem Brief an Langer zwei Tage später berichtet: Ehegestern war so gar Versammlung in unserm / Hause [...]; es war alles in floribus, ordentlich eingerichtet wie eine Gesellschafft, Wein und Würste und Milchbrodt auf einem Seitentische,

34 Paul Raabe: Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande. Ausstellung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle vom 9. Mai bis 3. Oktober 1999. Halle 1999, S. 104. In dem Katalog ist auch das von einem unbekannten Künstler gefertigte farbige Ölporträt Steinhofers nach einem Foto von Klaus E. Göltz (Halle) wiedergegeben. 35 Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausg. Bd. 1/1. Hg. von Elke Richter und Georg Kurscheidt. Berlin 2008, S. 131; vgl. das Zitat bei Raabe (1999), S. 58. Die eckigen Klammern in den Goethe-Zitaten sind vom Vf. eingefügt worden. 36 Der weite Horizont des Vaters erwies sich für Goethes geistige Entwicklung noch förderlicher, als der Dichter zugestehen mochte. 37 Goethe, Briefe (2008), S. 131; vgl. das Zitat bei Raabe (1999), S. 58.

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die Frauenzimm[er]. an einem Tische mit Ebersd[orfer]. Ges[ang]. Büchern. Einer am Flügel sitzend der die Melodien spielte, zwey mit Flöten die accompagnirten, und wir übrigen sangen.38

Über der Täglichen Nahrung des Glaubens, wie ein Dettinger Predigtbuch Steinhofers von 1751 heißt, wurde das ‚Konferenzbrot‘,39 das von den Pietisten in dem einst zu Steinhofers Parochie Dettingen an der Erms gehörigen Dorf Hülben noch heute mit Milch zubereitet wird, nicht vergessen. Ein von mir selbst im Jahre 1999 gefundener und dann im Reutlinger und Metzinger General-Anzeiger besprochener frappierender, bisher von der Forschung aber nicht beachteter Anklang an das von Steinhofer herausgegebene Ebersdorfer Gesangbuch von 1745 findet sich bei Goethe in der berühmten Anfangszeile von Wandrers Nachtlied („Der du von dem Himmel bist“):40 Steinhofer hat in seine Liedersammlung die dichterische Umgestaltung des Vaterunsers aufgenommen, die Zinzendorf unter dem Datum des 8. Oktobers 1742 in Madame Montours indianischem Dorf Otstonwakin (auch Otstuagy ) in Pennsylvania im heutigen Lycoming County an der Einmündung des Loyalsock Creek in den West Branch Susquehanna River gedichtet hat. Der Erstdruck von Zinzendorfs zweichörigem Wechselgesang im 11. Anhang zum Herrnhuter Gesangbuch, an den sich Steinhofer 1745 anlehnte, hatte 1743 gelautet: DER du in dem Himmel bist, GOTT der HERR, ihr Bruder ist, […].41

Seit dein Sohn der Eine, Vater der Gemeine!

38 Goethe: Briefe (2008), S. 155; vgl. das Zitat bei Raabe (1999), S. 61. Goethe hat in den Bekenntnissen einer schönen Seele aus seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre der schönen Seele eine zu von Klettenberg passende Würdigung des Ebersdorfer Gesangbuchs in den Mund gelegt. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Hg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 82), S. 768 f. 39 Überregional bekannt sind die öffentliche pietistische Kirchweihmontagkonferenz am Montag nach dem dritten Sonntag im Oktober und die Silvesterkonferenz am 31. Dezember in Hülben. 40 Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1756–1799. Hg. von Karl Eibl. Frankfurt a. M. 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker 18), S. 229. Das 1780 im Erstdruck als Um Friede, 1789 in leicht veränderter Fassung als Wandrers Nachtlied betitelte Gedicht trägt im Autograph die Unterschrift: „Am Hang des Ettersberg | d. 12. Febr. 1776 | .G.“ Wandrer ist wie Pilger eine Selbstbezeichnung Goethes aus der Frankfurter Zeit. 41 Nikolaus Ludwig Reichgraf von Zinzendorf: DER du in dem Himmel bist. In: Anhang | als ein | zweyter Theil [umfassend Anhang I–XII, erschienen 1737–1743] | zu dem | Gesang-Buche | der Evangelischen | Brüder-Gemeinen [Anhang I–VIII, erschienen 1737–1739 zur 2. Aufl. von 1737; Anhang IX–XII, erschienen 1741–1743 zur 3. Aufl. von 1743] [Herrnhut und andere Evangelische Brüdergemeinen 1743], [Anhang] XI. [erschienen 1743], S. 1713f. 8 Strophen, daraus S. 1713 als Strophe [1]. – [Wiederabdruck in der 2. Aufl. des Ebersdorfer Gesangbuchs:] Evangelisches | Gesang-Buch, | In einem hinlänglichen | Auszug | der Alten, Neuern und Neuesten | Lieder, | Der | Gemeine in Ebersdorf | Zu öffentlichem und besonderm | Gebrauch | gewidmet. [Hg. von Friedrich Christoph Steinhofer.] | [Vignette] || Die zweyte und vermehrte Auflage. || || Ebersdorf [im Vogt-

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Der kirchenliedartige Charakter hat sogar dazu geführt, daß Goethes Gedicht bis 1866 im Gesangbuch der Bremer Gemeinde zu finden war42 – das Ebersdorfer Gesangbuch des späteren Dettinger Pfarrers Steinhofer aber hat den Lyriker Goethe inspiriert. Gewiß war die sozusagen pietistische Phase in der Krankheitsperiode des jungen Goethe in den Jahren 1768 und 1769, als ihn „der Heiland [...] bey den Haaren“ zu fassen bekam,43 nur vorübergehender Natur, und doch ist es beachtlich, daß hier der Einfluß Steinhofers wirksam wurde. Wie Raabe zeigt, „wirkte“ Steinhofer „auch durch einen seiner Ebersdorfer Anhänger auf das geistliche Leben Frankfurts ein, nämlich durch den radikalen Pietisten Gottschalk Friedrich von Bülow (1711–1792), der 1737 seine Erweckung in Wetzlar erlebt hatte, seit 1744 in Ebersdorf als Vorsteher der ledigen Brüder tätig war, dann in der Herrnhuter Kolonie Herrnhaag in der Wetterau wirkte, ehe er 1755 nach Frankfurt übersiedelte. Dort leitete er sonntägliche Versammlungen der Frommen, zu denen auch Susanna von Klettenberg gehörte.“44 In der Ausstellung Goethe und die Stillen im Lande in Halle waren im Goethejahr 1999 geradezu sensationelle Schaustücke zu sehen: handschriftliche Aufzeichnungen geistlicher Reden aus dem Nachlaß von Susanne Catharina von Klettenberg mit dem Titel: Evangelische Zeugnüße von JESU CHRISTO, dem gecreutzigten, Vorgetragen durch M[agister]. Friederich Christoph Steinhofer.45 Neben der Handschrift Klettenbergs sind nach Rolf Christian Zimmermann mehrere Handschriften zu erkennen, die vielleicht auf die Mitar-

42

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land], | Zu finden im Waysen-Haus. | 1745. ([Kolophon:] Hieselbst gedruckt | mit Reinheckelischen Schriften [Druck von Christian Lebrecht Reinheckel]), S. 742. Zu Goethe im Gesangbuch vgl. Götz Eberhard Hübner: Kirchenliedrezeption und Rezeptionswegforschung. Zum überlieferungskritischen Verständnis einiger Gedichte von Bürger, Goethe, Claudius. Tübingen 1969 (Studien zur deutschen Literatur 17); [Wilhelm Bode:] Goethe im Gesangbuche. In: Stunden mit Goethe. Für die Freunde seiner Kunst und Weisheit 8 (1912), S. 307–312; Wilhelm Bettermann: Das Ebersdorfer Gesangbuch. In: Zeitschrift für Brüdergeschichte 10 (1916), S. 145–151; Gustav Pfannmüller: Goethe und das Kirchenlied. Ein Beitrag zum Streit um Goethes „Joseph“. Hamburg 1924, S. 6, 8–57, 58–73; Franz Götting: Die Bibliothek von Goethes Vater. In: Nassauische Annalen 64 (1953), S. 23–69; Hermann Kurzke: Kirchenlied und Kultur. Tübingen 2010 (Mainzer Hymnologische Studien 24). Johann Wolfgang Goethe an Ernst Theodor Langer (17. Jan. 1769); vgl. Raabe (1999), S. 60f. Raabe (1999), S. 101. Gedrucktes Titelblatt; dazu hs. Konvolut mit 25 geistlichen Reden; hs. Einträge durch Susanne Catharina von Klettenberg auf zwischen den Reden freigebliebenen Stellen. Raabe (1999) schreibt dazu auf S. 104: „Quartband mit gedrucktem Titel und 210 Seiten, wovon 195 beschrieben, sowie einem nach S. 10 eingeklebten Blättchen in Quer-Kl.-8° mit einem gedruckten Psalm.“ Standort: Goethe-Museum Düsseldorf, Signatur: KK 4306. Vgl. auch Rolf Christian Zimmermann: Die mystisch-pietistischen Vervollkommnungsvorstellungen beim jungen Goethe. (Diss.) Heidelberg 1958; ders.: Das Predigten-Manuskript aus dem Nachlaß des Fräuleins von Klettenberg. In: Goethe N.F. 22 (1960), S. 277–282; Burkhard Dohm: Radikalpietistin und ‚schöne Seele‘. Susanna Katharina von Klettenberg. In: Goethe und der Pietismus. Hg. von Hans-Georg Kemper und Hans Schneider. Tübingen 2001 (Hallesche Forschungen 6), S. 111–134.

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beit von Friedrich Carl von Moser oder Gottschalk Friedrich von Bülow zurückgehen. Nach dem Wechsel im Schriftduktus sind nach Zimmermann mehrere Reden (3/6/6/9/1) zu unterscheiden. Er stellt dazu fest: „Wir wissen nicht, ob es Vorträge oder Predigten sind, wir wissen auch nicht, ob das Manuskript die Predigten niedergeschrieben oder abgeschrieben hat.“46 Zumindest ein Teil der Reden wurde in Steinhofers Amtszeit vorgetragen; die erste Rede datiert vom 6. März 1746, die siebte vom 7. April 1746, die zehnte vom 3. Januar 1745; die übrigen Reden sind nicht datiert.47 In diesem Konvolut geistlicher Reden, das Goethes Mutter 1808/1809 Johann Friedrich („Fritz“) Heinrich Schlosser (1780–1851), dem Neffen von Goethes Schwager Johann Georg Schlosser, schenkte und das dann später über die Familie Bernus in das Goethemuseum Düsseldorf kam, sind „die frühesten sechs geistlichen Lieder und Gedichte der Klettenbergin in ihrer Handschrift überliefert. Sie sind offensichtlich unter dem Eindruck der Predigten Steinhofers entstanden und bringen den Gleichklang der Seelen zum Ausdruck.“48 Im Jahre 1758, also noch zu Steinhofers Eninger Amtszeit, beginnt der Briefwechsel Klettenbergs mit Steinhofer. Es wäre möglich, daß Nachschriften von Vorträgen Steinhofers an der Eninger Brüder-Akademie nach Frankfurt an Klettenberg gelangt sind. Umgekehrt könnten sogar aus Fritz Schlossers Besitz noch im Jahre 1851 oder schon vorher Manuskripte von Vorträgen Steinhofers etwa an den Tübinger Theologieprofessor und Steinhofer-Editor Johann Tobias Beck gelangt sein, wenngleich das unwahrscheinlich klingt. Entscheidend ist die Tatsache, daß Steinhofers Auftreten Wirkung zeitigte. Die Vielzahl der Rezeptionszeugnisse spricht für die damalige Attraktivität Steinhofers. Zwei Beispiele mögen Steinhofers Eigenart verdeutlichen: 1. Ein bereits erwähntes Predigtbuch, das vor allem Ebersdorfer Predigten Steinhofers aus dem Jahre 1744 enthält, aber erst während Steinhofers Dettinger Zeit veröffentlicht wurde: 46 Zimmermann (1960), S. 278. Die „Liste sämtlicher Predigt-Überschriften“ siehe ebd., S. 279. Vielleicht lassen sich auch noch bisher nicht zeitlich genau einzuordnende der im Konvolut versammelten Reden datieren, falls sie aus Steinhofers Ebersdorfer Jahren 1735 bis 1746/47 stammen. Vgl. dazu Hans-Walther Erbe (1928), S. [173], Anm. 3: „Anfang 1735 beginnt das Tagebuch des Grafen [Heinrich XXIX. von Reuß zu Ebersdorf ] (D. h. 29.), in dem bis kurz vor seinem Tode 1747 für jeden Tag alle Ereignisse innerhalb der Gemeine chronikartig niedergelegt sind, in dem außerdem alle von Steinhofer gehaltenen Reden und Versammlungen protokollarisch ausgearbeitet wiedergegeben sind.“ Dieser Hinweis wurde bisher von der Forschung zu Steinhofer und zu Klettenberg nicht beachtet! 47 Die bevorzugten Themen der 25 Reden sind das Blut Jesu sowie das Abendmahl. Vgl. die fünf Reden (S. 48–127) über Stellen aus dem ersten, dritten und fünften Kapitel des Römerbriefs: Rede 10, S. 48: Von Jesu nach dem Fleisch und nach dem Geist (Röm 1, 3 f.), 3. Jan. 1745; Rede 11, S. 64: Wie der Mensch zum Sünder werde (Röm 3, 9); Rede 12, S. 76: Wie wir wieder zu der Herrlichkeit Gottes gelangen (Röm 3, 24); Rede 13, S. 89: Wie wir bei dem Kreuze Jesu den Ernst Gottes gegen die Sünde erkennen lernen (Röm 3, 25); Rede 14, S. 101: Wie uns Jesus in seinem Blut zum Gnadenstuhl vorgestellet sei (Röm 3, 25). 48 Raabe (1999), S. 105.

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Tägliche Nahrung | des | Glaubens | Aus der | Erkenntniß JEsu, | Nach den lehrhaften Zeugnissen | der Epistel an die Colosser, || || In einem || vollständigen Auszug || der darüber gehaltenen || öffentlichen Reden, || zum gemeinsamen Nutzen || vorgelegt, || Von || Friederich Christoph Steinhofer, || dermaligen Pfarrer zu Dettingen || [an der Erms] unter Urach [Württemberg]. || || Franckfurt [am Main] und Leipzig [wahrer Verlagsort: Saalburg], | bey Johann Nathanael Lumscher. 1751.49

In Steinhofers Ausführungen über die Vergebung finden sich Sätze, die auch heute noch zu Herzen gehen: Der so lang gepreßte Geist krigt Luft und eine große Freiheit; Es fließt ein neues Leben ins Hertz. Ja man ist zum offenen Born wider alle Ungerechtigkeit, zum Bronnen des Lebens, der aus den Wunden JEsu fleußt, gekommen. Da wascht und labt man sich; da reinigt, nährt, und erquickt man sich auf seinen vorigen Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit und nach Freyheit [...]. Da dankt mans noch einmal dem Creutze, und erkennet erst recht, daß es die Scheidung (ich möchte sagen, die Weg-Scheide) war, durch welche der Uebertritt aus der Macht der Sünde und des Todes, ins Reich des Lichts und Lebens; der selige Durchbruch aus der Sclaverey in die Freiheit vorgegangen.50

Steinhofer sucht offensichtlich zwischen den ursprünglich (seit 1696) vom spenerischen und seit 1711 allmählich auch vom hallischen Pietismus geprägten älteren Gemeindegliedern in Ebersdorf und den seit 1730 hinzugekommenen Herrnhutern zu vermitteln. Das Wort „Durchbruch“ erinnert an Gottfried Arnolds Gedicht Babels Grablied („O Durchbrecher aller Bande“), den Bußkampf und „Gnadendurchbruch“, der den Halleschen Pietisten wich-

49 Es handelt sich um einen 450 Seiten umfassenden Oktavbd. Steinhofer sieht sich in der Vorrede von 1751 offensichtlich genötigt, seine lutherische Rechtgläubigkeit zu betonen. Vgl. Bl. )( 2 a – [)( 4] b: „Vorrede“; hier Bl. [)( 4] b: „Also kan ich auch, bey dieser Gelegenheit, mit desto getrosterer Freymüthigkeit bezeugen, daß mein Sinn in der Evangelischen Lehre lauter und unvermischt, dem theuren Kleinod unserer Augsburgischen Confession, und dem darauf gebauten Bekenntniß Unserer lieben Evangelisch-Würtembergischen Kirche von Hertzen ergeben / und durch GOttes Gnade gantz zuversichtlich seye [...].“ Goethes Vertraute Susanne Catharina von Klettenberg besaß dieses Buch. Vgl. R[udolph] Jung: Aus dem Nachlasse des Fräuleins Susanne Katharina von Klettenberg. In: Berichte des Freien Deutschen Hochstiftes zu Frankfurt am Main. Neue Folge 7 (1891), S. 55– 68; zu sechs Büchern Oetingers (S. 62 f.), „F. C. Oettinger, Die Philosophie der Alten wiederkomend in der güldenen Zeit“ (S. 63), zu zwei Büchern Steinhofers (S. 61 f.), zu drei Briefzitaten aus Steinhofers Korrespondenz mit Klettenberg (S. 67); vgl. ebd., S. 61, Anm. 15: „Steinhofer geistliche Reden“ (d. h. Vorträge oder Predigten, der genaue Bezug ist unklar, R.B.); S. 62: „Tägliche Nahrung des Glaubens und der Erkenntnis Jesu.“ Dieses Buch ist von Jung nicht als Steinhofersches Werk identifiziert worden. Es handelt sich wohl um die oben genannte Ausgabe: Tägliche Nahrung | des | Glaubens | Aus der | Erkenntniß JEsu, | Nach den lehrhaften Zeugnissen | der Epistel an die Colosser, || [...] || Von || Friederich Christoph Steinhofer, [...]. 1751. In dieser Ausgabe steht der Name des Verfassers nicht am Anfang und ist wohl deshalb bei der Aufnahme des Kurztitels weggelassen worden. 50 Ebd., S. 87.

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tig war;51 der Blick auf die „Wunden JEsu“ war besonders ein Anliegen der Herrnhuter, die bekanntlich geradezu einen Blut- und Wunden-Kult mit der Verehrung des „Seitenhöhlchens“ Jesu, der Wunde, die durch den Lanzenstich hervorgerufen worden war, betrieben. Nun kommt eine etwas kühne Hypothese: Sollte Goethe selbst Steinhofers Predigtbuch gelesen haben, könnte ihn das eindrucksvolle Bild, nämlich daß die Vergebung dem Sünder Luft zum Atmen bringt, zu einem Umkehrschluß veranlaßt haben: Wem nicht vergeben ist, der erstickt, weil er keine Luft mehr bekommt. Das vom bösen Geist als Sünderin gebrandmarkte Gretchen ruft, bevor es in Ohnmacht fällt: Mir wird so eng Die Mauern Pfeiler Befangen mich Das Gewölbe Drängt mich! – Lufft52

Mir wird so eng’! Die Mauern. Pfeiler Befangen mich! Das Gewölbe Drängt mich! – Luft!53

Der böse Geist setzt dem entgegen: Verbirgst du dich! Blieben verborgen Dein Sünd und Schand! Lufft! Licht! Weh dir!54

Verbirg’ dich! Sünd’ und Schande Bleibt nicht verboorgen. Luft? Licht? Weh dir!55

2. Gerhard Gläser teilt in einem Beitrag im Dettinger Heimatbuch ein Lied Steinhofers aus dem Ebersdorfer Gesangbuch mit, an dem wir deutlich den herrnhutischen Einfluß sehen können. Es heißt darin über den himmlischen König Jesus Christus:

[...] Du bist Haupt, und wir sind glieder, ja du willt in gleichem gehn: dürfen wir doch als wie brüder bey dem Erstgebohrnen stehn. [...] 51 August Hermann Francke selbst ist auch von Gottfried Arnold beeinflusst. Vgl. zu seiner Privatbibliothek Reinhard Breymayer: Zum Schicksal der Privatbibliothek August Hermann Franckes. Über den wiedergefundenen Auktionskatalog der Privatbibliothek seines Sohnes Gotthilf August Francke. Ein Xenion zum I. Internationalen Kongreß für Pietismusforschung Halle (Saale), 28. August bis 1. September 2001. 3., verb. Aufl. Tübingen 2002. 52 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Frühe Fassung nach der Handschrift des Hoffräuleins Luise von Göchhausen. In: Ders.: Faust. Texte. Hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 114) S. 467–539, hier S. 529. 53 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: Ebd., S. 9–464, hier S. 165. 54 Ebd., S. 529. 55 Ebd., S. 165.

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Darum halten wir am bunde, den dein blut uns aufgericht’t; und auf diesem felsen-grunde steht das herz bey seiner pflicht.56

Der im Zeichen des Steinbocks geborene Steinhofer war kein starrer, sturer, versteinerter Theologe, sondern auch ein Suchender. Und doch ist er kein wankelmütiger Opportunist gewesen, sondern ein treuer, verläßlicher Diener, ein lebendiger Stein57 bzw. ein Edelstein. Auch wenn er kein Choleriker wie der Apostel Petrus war, wurde er doch Teil des Felsengrundes, auf den die Kirche bauen konnte, ob in Biberach an der Riß, Ebersdorf im Vogtland, Dettingen an der Erms, Zavelstein, Eningen unter Achalm oder Weinsberg. Als Friedensbote des himmlischen Königs, als lebendiger Stein hat Friedrich Christoph Steinhofer seinen Zuhörern den Weg zum „Eckstein“58 Jesus Christus gewiesen.

V. Quellenkritischer Anhang Der vorliegende Beitrag ehrt Hanspeter Marti, den bedeutenden Pietismusforscher und herausragenden Kenner des Radikalpietisten Gottfried Arnold, für den Goethe bekanntlich Sympathien hegte. Die Beziehung zu Zinzendorf würdigt auch die verehrte Gattin des Jubilars, Karin Marti-Weissenbach, eine exzellente Kennerin des Grafen. Der Blick auf den Schweizer Theologen Karl Barth ist zugleich eine Hommage an das Vaterland des Glarner Forscherpaars. Meine Verwandtschaft mit Karl Barths letztem Assistenten und weltbekanntem Biographen Eberhard Busch (Göttingen) und die Freundschaft mit dem international renommierten japanischen Barth-Experten Tomiyasu Kakegawa (Hitachi/Tokio; Japan) haben bei mir einiges Interesse an Barth geweckt. Durch die Examensarbeit meines Bruders Hans Frieder Breymayer über Johann Tobias Beck kam ich frühzeitig auch mit dem Werk des von Barth zeitweilig sehr geschätzten württembergischen Biblizisten und Oetinger-Kenners in Berührung. Schon in den Jahren 1974 und 1975 diente ein Forschungsaufenthalt in Herrnhut der Aufgeschlossenheit für Leben und Werk Zinzendorfs und des Brüderbischofs Gottfried Polycarp Müller (1684–1747), die durch die über dreißig Jahre währende Mitgliedschaft in dem 1978 gegründeten Verein Unitas Fratrum bewahrt wurde. Ein weiterer Impuls kam von Hans-Anton Drewes, von

56 Wir zitieren hier nach dem Erstdruck im Ebersdorfer Gesangbuch: [Friedrich Christoph Steinhofer:] König Sieh auf deinen saamen, der vor deinem thron sich beugt [...]. In: Evangelisches Gesang-Buch [...]. Ebersdorf 1742, S. 515–516, hier S. 516; vgl. Gerhard Gläser: Friedrich Christoph Steinhofer (1706–1761). In: Dettingen am der Erms. Hg. von Fritz Kalmbach. Dettingen/Erms (1992), S. 257–272. 57 Vgl. I Petr. 2, 4; ferner Ps. 118, 22; Mt. 21, 42; „lebendige Steine“: I Petr. 2, 5. 58 Eph. 2, 20; vgl. Jes. 28, 16; Mt. 16, 18; I Petr. 2, 6.

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1999 bis 2012 Leiter des Karl-Barth-Archivs in Basel. In seinem Aufsatz Karl Barth und die württembergische Theologie bemerkt er: In seltsamer Weise anwesend ist übrigens auch noch Friedrich Christoph Steinhofer – ich benutze gerne die Gelegenheit, die Frage nach dem Modus seiner Anwesenheit hier den Spezialisten vorzulegen: sozusagen im Namen Barths, der im Vorwort zur 2. Auflage um Aufklärung bat, nachdem er entdeckt hatte, daß die von ihm in der 1. Auflage ‚als mir besonders wertvoll‘ bezeichnete und fleißig zitierte Römerbriefauslegung Carl Heinrich Riegers (1828 herausgegeben) vom 3. Kapitel an wörtlich mit der 1851 edierten Erklärung von Friedrich Christoph Steinhofer übereinstimmt. Bisher hat, soviel ich weiß, noch niemand Licht in dieses Problem gebracht. Jedoch: ob nun eine größere Zahl der Rieger-Zitate im Römerbrief Steinhofer zuzuschreiben sind, wie Barth es im zweiten Römerbrief vorsorglich getan hat, oder ob sie dem ‚würdigen Rieger‘, wie Barth ihn nennt, bleiben – klar ist, daß Barths anti-religiöser und darin anti-pietistischer erster Römerbrief Wesentliches dem schwäbischen Pietismus bzw. der württembergischen Theologie verdankt.59

Drewes erwähnt den Einfluß von Johann Christoph Blumhardt und Christoph Blumhardt (S. 54 f.), Johann Tobias Beck (S. 55 f.) und Johann Albrecht Bengel (S. 56) auf Barths erste Römerbrieferklärung, im Falle von Bengel auch über den ‚Abschluß‘ dieser Erklärung hinaus.60

VI. Zur Verflechtung der Familien Steinhofer und Rieger Durch den Brief des Vikars Johann Georg Bauder haben wir eine entscheidende Erkenntnis gewonnen: Die Pietisten waren durch ein Beziehungsnetz miteinander verbunden. Durch die Analyse dieses Netzwerks gelingt es, mehr Licht in den Gang der Kommunikation zu bringen, während die der Genieästhetik verpflichtete ‚monolithische‘ Betrachtungsweise immer wieder auf Aporien stößt. Wir geben im folgenden eine Übersicht über die genealogische Verbindung der Familien Steinhofer und Rieger, die durch die gemeinsame Sympathie für die ‚nüchterne‘ Bibelexegese Johann Albrecht Bengels gefördert wurde: Über die Familie Burk wurde dafür neben der ideellen eine familiäre Verbindung zwischen den Familien Steinhofer und Bengel geschaffen. Die dienstliche Verbindung von Johann Georg Bauder mit seinem Weinsberger Vikarsvater Friedrich Christoph Steinhofer förderte, wie bereits erwähnt, ebenfalls die Nähe der Familien Rieger und Steinhofer. Carl Heinrich Riegers Sohn, Gott59 Hans-Anton Drewes: Karl Barth und die württembergische Theologie. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 105 (2005), S. 51–63; zu Carl Heinrich Rieger (S. 53 f.), zu Steinhofer (S. 52), zu Johann Tobias Beck (S. 53–56). 60 Ergänzend wäre auf eine grundlegende Darstellung zu verweisen: Eberhard Busch: Karl Barth und die Pietisten. Die Pietismuskritik des jungen Karl Barth und ihre Erwiderung. München 1978 (Beiträge zur evangelischen Theologie 82). Busch lehnt zu Recht die Plagiatsthese Karl Barths ab.

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lieb Heinrich Rieger, wurde durch seine erste Heirat mit Friederike Veronika, geb. Bauder (1765–1789), Schwiegersohn Johann Georg Bauders. Es ist z. B. möglich, daß Texte Friedrich Christoph Steinhofers an seinen einstigen Vikar Johann Georg Bauder gelangt sind und durch dessen Schwiegersohn Gottlob Heinrich Rieger mit Texten von dessen Vater, Carl Heinrich Rieger, kombiniert worden sind. Friedrich Christoph Steinhofer der Ältere Großvater väterlicherseits: D. theol. Johann Jacob Steinhofer, geb. Marbach am Neckar 22. Jan. 1640, gest. Bayreuth 2. Jan. 1692; Magister 1659; Stiftsrepetent 1661; Stadtpfarrverweser Kirchheim unter Teck 1661–1661; Stadtvikar in Stuttgart; 2. Diakonus in Göppingen 1665; 1668–1672 1. Diakonus; Lic. theol. um 1672; Konsitorialrat und Hofprediger in Bayreuth 1672; D. theol. (Tübingen) 1677; Oberhofprediger in Bayreuth 1679; Generalsuperintendent des Markgraftums Bayreuth und Direktor des Christian-Kollegiums in Erlangen 1687 – 2. Ehefrau (Hochzeit: Leonberg 25. Febr. 1671): Maria Margaretha (geborene Bauder), geb. Leonberg 9. Juli 1659, gest. Owen unter Teck 6. April 1727; mit Steinhofers Vikar Johann Georg Bauder nicht verwandt. Vater: Ludwig Christoph Steinhofer der Ältere, geb. Bayreuth 17. Juli 1677, gest. Owen unter Teck 7. Januar 1759; in Owen unter Teck Diakonus 1702; Stadtpfarrer 1710 – Mutter: (Hochzeit: Tübingen 6. Febr. 1703) Sibylla Dorothea (geborene Andler), geb. Hohenacker 23. Oktober 1686, gest. 1766; Tochter des Derendinger Pfarrers und Amtsdekans der Amtsdiözese Tübingen. Friedrich Christoph Steinhofer der Ältere: geb. Owen unter Teck 16. Januar 1706, gest. Weinsberg 11. Februar 1761; Schüler der evangelischen Klosterschule Blaubeuren / Bebenhausen; Universität Tübingen als Stipendiat des Stifts: Studium der Artes liberales; Magister 1728; Studium der Theologie 1728–1730; zwischendurch Vikar in Biberach an der Riß; Konsistorialexamen in Stuttgart 1730; Reise nach Bayreuth und Herrnhut 1731 (dort Bekanntschaft mit Zinzendorf ); Substitut in Berthelsdorf in der Lausitz; Hofkaplan in Ebersdorf im Vogtland 12. April 1734 (Berufung) bis 15. Juni 1738 (Aufgaben: Seelsorge bei den Herrnhutern in Ebersdorf, öffentlicher Gottesdienst und Sakramentsdienst nur im höchsten Notfall); Zerwürfnis mit dem am 30. Juli 1732 in Gera ordinierten, bis 1734 amtierenden Hofprediger Magister Johann Peter Sigmund Winkler (1702–1780); Colloquium ohne Eid und Ordination (Examen theologicum kurz vorher in Stuttgart) 10. Mai 1734; Hofprediger in Ebersdorf 1738–1745; die Ordination zu diesem Amt war von dem seit 1604 bestehenden gemeinschaftlichen Konsistorium der Kirche von Reuß’ jüngerer Linie in Gera verweigert worden, da Steinhofer die gnesiolutherisch-flacianisch geprägte Confessio Rutheniana von 1567 abgelehnt hatte; Ordination am 15. Juni 1738 im Kloster Hirsau (Württemberg) durch Abt P. H. Weißensee (die Dorfgemeinde Ebersdorf war bis 1745 Filial der Pfarrei Friesau, deren Pfarrer 1705–1747 Johann Caspar

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Jahn); Direktor des Waisenhauses in Ebersdorf 1739; Direktor der Ebersdorfer Anstalten 1745; Mitbischof des lutherischen Tropus der Brüder-Unität 1746; Ernennung zum Direktor des Theologischen Seminars der Brüdergemeine in Lindheim (Oberhessen) in der Wetterau bei Büdingen 1746; 1749 Pfarrer in Dettingen an der Erms; 1753 Stadtpfarrer in Zavelstein; 1756 Pfarrer in Eningen unter Achalm (bei Reutlingen); 1759 Spezialsuperintendent (Dekan) und Stadtpfarrer in Weinsberg. Ehefrau (Hochzeit: Herrnhut 3. Februar 1747): Dorothea Wilhelmine (geborene v. Molsberg), geb. Oppenheim am Rhein 1708, gest. Oberstenfeld 1791(?) kinderlos als Stiftsdame des freien reichsunmittelbaren adeligen evangelischen Reichs-Fräulein-Stifts (DamenStifts) Oberstenfeld. Steinhofers Ehefrau war Tochter von Philipp Adam v. Molsberg und von Magdalene Louise (geborene v. Seckendorff-Aberdar zu Sugenheim); sie war an sich Haupterbin des Nachlasses ihres Ehemannes; vielleicht schon vor ihrem Tod, spätestens aber nach ihrem Ableben im Jahre 1791(?) könnte der Nachlaß an ihren Adoptivsohn Ludwig Christoph Steinhofer (1747–1821) gelangt sein. Bruder: Johann Ulrich Steinhofer, geb. Owen unter Teck 1709, gest. Maulbronn 1757; ao. Professor der Philosophie in Tübingen 1736; 2. Klosterpräzeptor und -prediger in Maulbronn 1747–1757; Klosterprofessor 1752 – Ehefrau: Catharina Christina (geborene Georgii) aus Ravensburg. Neffe (und Adoptivsohn): Ludwig Christoph Steinhofer der Jüngere, geb. als Sohn von Johann Ulrich Steinhofer Maulbronn 25. Juli 1747, gest. 23. März 1821; nach dem Tod des Vaters von seinem Onkel väterlicherseits adoptiert; Pfarrer in Mundelsheim 1773, in Bitzfeld 1784, in Rudersberg 1793, in Welzheim 1801 – Ehefrau (Hochzeit: [Waldenstein?] 5. Oktober 1773): Christina Justina (geborene Riecke). Großnichte (dazu Tochter des Neffen und Adoptivsohns Ludwig Christoph Steinhofer des Jüngeren): Dorothea Luise Burk (geborene Steinhofer), geb. Mundelsheim 1774, gest. 1855; seit 1795 zweite Ehefrau von Johann Albrecht Bengels Enkel (Christian) David Burk (1768–1829), einem theologisch gebildeten Kaufmann in Stuttgart. Großneffe (dazu Sohn des Adoptivsohns Ludwig Christoph Steinhofer des Jüngeren): Friedrich Christoph Steinhofer der Jüngere, geb. Bitzfeld 30. Mai 1786, gest. 18. April 1835; Examen Oktober 1808; Vikar in Welzheim 1808–1812, in Steinenberg 1812–1813; Pfarrer in Wangen (Dekanat Göppingen) 1813, in Schafhausen 1820, in Jesingen 1825, in Neidlingen 1834. Großneffe (dazu Sohn des Adoptivsohns Ludwig Christoph Steinhofer des Jüngeren): Johann August Steinhofer, geb. Bitzfeld 1789, gest. 1824; Vikar in Westheim bis 1819, Pfarrer in Königsbronn 1819 – Ehefrau: Friederike Charlotte Steinhofer (geborene Weiß),

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nachmals verehelichte Hornberger (2. Ehemann: Pfarrer Johann Christian Hornberger); Tochter von Christian Weiß, Posthalter in Heidenheim an der Brenz, und Katharine (geborene Widemann).61 Urgroßneffe (dazu Enkel des Adoptivsohns Ludwig Christoph Steinhofer des Jüngeren und Urenkel Johann Albrecht Bengels): Johann Christian Friedrich Burk, geb. Stuttgart 7. März 1800, gest. Lichtenstern 23. November 1880; Pfarrverweser in Gönningen 1823; Diakonus in Liebenzell 1823; Pfarrer in Tailfingen im Gäu 1826–1835; Redakteur der Zeitschrift Der Christenbote 1830–1869; Stadtpfarrer in Großbottwar 1835; 1. Diakonus an St. Leonhard in Stuttgart 1849–1860; Pfarrer in Echterdingen 1860–1875; Pensionierung 1875 – Vater: (Christian) David Burk, Sohn von Bengels Schwiegersohn Philipp David Burk (1714–1770) und Bengels Tochter Maria Barbara Burk (geborene Bengel), dazu Patensohn von Carl Heinrich Riegers angeheirateter Tante Magdalena Sibylla Rieger (geborene Weißensee) – Mutter: David Burks zweite Ehefrau, Dorothea Luise Burk (geborene Steinhofer), eine Tochter von Ludwig Steinhofer dem Jüngeren (1747–1821) und dessen Ehefrau (Hochzeit 1773). Carl Heinrich Rieger der Ältere Vater: Georg Cunrad [Konrad] Rieger, geb. Cannstatt 7. März 1687, gest. Stuttgart 16. April 1743; Stadtpfarrer an St. Leonhard in Stuttgart 1733; Dekan und Hospitalprediger dort 1742; Bruder von Immanuel Rieger. Mutter: Regine Dorothea Rieger (geborene Scheinemann), geb. 1693, gest. 1750. Onkel: Immanuel Rieger, geb. 1699, gest. 1758; Vogt erst in Blaubeuren, dann 1730 in Calw; Expeditionsrat und Amtsvogt in Stuttgart 1731; Stadtvogt und Regierungsrat in Stuttgart; – Ehefrau (Hochzeit: 1723): Magdalena Sibylla Rieger (geborene Weißensee), geb. Maulbronn 29. Dezember 1707, gest. Stuttgart 31. Dezember 1786; Tochter von Friedrich Steinhofers einstigem Blaubeurer Lehrer und väterlichem Freund Philipp Heinrich Weißensee. Schwiegervater von Carl Heinrich Riegers Onkel und Lehrer Friedrich Steinhofers: Philipp Heinrich Weißensee, geb. in Vichberg (heute „Fichtenberg“) 6. Februar 1673, gest. Denkendorf (Württ.) 5. Januar 1767; 2. Klosterpräzeptor und Prediger in Maulbronn 1703 61 Der Nachlaß Friedrich Christoph Steinhofers des Älteren dürfte von Ludwig Christoph Steinhofer dem Jüngeren an zumindest einen seiner beiden Söhne gegangen sein, letztlich – nach dem Tod von Johann August Steinhofer – an Friedrich Christoph Steinhofer den Jüngeren und dann nach dessen Tod an dessen Neffen (Johann) Christian (Friedrich) Burk, der Hs.en der Römerbrieferklärung dann möglicherweise Professor Johann Tobias Beck zur Verfügung stellte.

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oder 1704; 2. Klosterpräzeptor in Blaubeuren 1708, 1. Klosterpräzeptor im Jahr 1716, Abt und zugleich Landschaftsassessor 1722; Abt in Hirsau 1727–1740; Konsistorialrat in Stuttgart 1727–1739; Propst und Generalsuperintendent in Denkendorf 1740–1767. Carl Heinrich Rieger der Ältere: geb. Stuttgart 18. Juni 1726, gest. Stuttgart 15. Januar 1791; Magister 4. November 1744; Stiftsrepetent 1750–1753; 2. Diakonus in Ludwigsburg 1754; Hofkaplan in Stuttgart 1757, Hofprediger 1779, Stiftsprediger und Konsistorialrat 1783 – Ehefrau (Hochzeit: November 1754): Maria Sophia Beata (geborene Bischof ); Tochter des Stadtapothekers Gottlieb Jakob Bischof in Ludwigsburg. Sohn: Gottlieb Heinrich Rieger, geb. Ludwigsburg 6. Oktober 1755, gest. Stuttgart 19. Oktober 1814; Schüler des Gymnasium Illustre in Stuttgart, 1768 der Klosterschule Denkendorf, 1770 der Klosterschule Maulbronn; seit 1772 Student in Tübingen; Magister 1774; Vikar in Lustnau 1777; Stiftsrepetent 1779; Stadtvikar in Stuttgart; Diakonus in Leonberg 1784; Hofkaplan in Stuttgart 1793; Dekan und Hospitalprediger in Stuttgart 1804 – Ehefrau I (Hochzeit: Stuttgart 23. Juni 1785): Friederike Veronika (geborene Bauder), getauft Sulz am Neckar 7. Dezember 1765, gest. Stuttgart 30. März 1789; Tochter von Dekan Johann Georg Bauder – Ehefrau II (Hochzeit: Stuttgart 5. Februar 1790): Eberhardine Dorothea (geborene v. Georgii), geb. Stuttgart 13. Februar 1766; Tochter von Christian Eberhard v. Georgii (1724–1796) und Heinrike („Henriette“) Dorothea v. Georgii (geborene Mauchart); Gottlieb Heinrich Riegers zweiter Schwiegervater, Christian Eberhard v. Georgii, war ein Vetter von Catharina Christina Steinhofer, der Ehefrau von Johann Ulrich Steinhofer; Gottlieb Heinrich Riegers zweite Ehefrau, Eberhardine Dorothea (geborene v. Georgii) war als Nichte zweiten Grades mit Catharina Christine Steinhofer (geborene v. Georgii) verwandt. Carl Heinrich Rieger der Ältere war durch seine zweite Schwiegertochter also selbst mit Friedrich Christoph Steinhofer verschwägert. Enkel (dazu Stiefenkel von Friedrich Christoph Steinhofers einstigem Weinsberger Vikar Johann Georg (v.) Bauder): Eberhard Heinrich Rieger, geb. Leonberg 31. Dezember 1790, gest. Oberlenningen 19. Oktober 1851; Pfarrer in Meimsheim 1821, in Oberlenningen 1842 – Ehefrau I (Hochzeit: 1821): Christiane Elisabeth Frederike (geborene Fischer), gest. 31. Januar 1832; Tochter von Pfarrer Benjamin Gottlob Fischer (1769–1846) und Justine Dorothea Fischer (geborene Breunlin) – Ehefrau II (Hochzeit: 1833): Christiane Ludowike (geborene Schreiber), geb. 1812 oder 1813, gest. Ellwangen 1. Februar 1891; Tochter von Georg Ludwig Schreiber. Urenkel (und zugleich Stiefurenkel von Johann Georg (v.) Bauder): Karl Heinrich Rieger der Jüngere, geb. in Meimsheim 19. Februar 1824, gest. auf dem Salon bei Ludwigsburg 21. Februar 1898; 1846–1848 Hauslehrer in Frankreich; Stiftsrepetent 1849–1851; Dia-

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konus in Calw 1854; 2. Diakonus an St. Leonhard in Stuttgart 1863, 1. Diakonus 1869– 1881 (Titel 2. Stadtpfarrer seit 1874), 1. Stadtpfarrer 1881–1893.62 Sohn: Christian Friedrich Rieger, geb. Ludwigsburg 7. Januar 1757, gest. 6. März 1823; Magister 1775; Pfarrer in Neustadt an der Rems 1789, in Wangen am Neckar 1795–1804; Dekanatsexamen 1801; Dekan in Ludwigsburg 1804. Tochter: Friederike Beate Abel, verwitwete Köstlin (geborene Rieger) – Ehemann I (Hochzeit: 1791): Diakonus Gotthilf Köstlin in Esslingen am Neckar – Ehemann II (Hochzeit: 1810): Jakob Friedrich Abel, Friedrich Schillers einstiger Lehrer an der Karlsschule. Johann Georg (v.) Bauder Johann Georg (v.) Bauder, getauft in Waiblingen 1. Jan. 1733, gest. Sulz am Neckar 25. Oktober 1814: Magister 1755, Stiftsrepetent 1761–1764; Diakonus in Sulz am Neckar 1764; Dekan und Stadtpfarrer in Hornberg im Schwarzwald 1782, in Sulz am Neckar 1793–1814; Ritter des Königlichen Zivilverdienstordens 1808 (dadurch persönlicher Adel) – Ehefrau I (Hochzeit: Tübingen 8. Januar 1765): Johanna Veronica Susanna Bauder (geborene Gmelin), getauft Tübingen 14. Juli 1741, gest. Sulz am Neckar 3. August 1769; Tochter von Dr. med. Johann Konrad Gmelin (1707–1759), Apotheker in Tübingen und seiner Ehefrau, der Uracher Apothekerstochter Maria Veronica (geborene Erhardt)63 – Ehefrau II (Hochzeit: Sulz am Neckar 9. Oktober 1770): Maria Agnes Bauder, verwitwete Weißer (geborene Müller), getauft Backnang 25. Juni 1742, gest. Sulz am Neckar 22. April 1817; Tochter von Johann Georg Müller und Agnes Maria Müller (geborene Beck) in Backnang; von den sechs Kindern Johann Georg (v.) Bauders (vier aus erster, zwei aus zweiter Ehe) sei das erste Kind namentlich genannt: Friederike Veronika Rieger (geborene Bauder), getauft Sulz am Neckar 7. Dezember 1765, gest. Stuttgart 30. März 1789; erste Ehefrau (Hochzeit: Stuttgart 23. Juni 1785) von Gottlieb Heinrich Rieger; – ein Freund Johann Georg Bauders und zugleich Gottlieb Heinrich Riegers war Eberhard Ludwig Denk (1729–1807): Stiftsrepetent in Tübingen 1757; Diakonus in Winnenden 1761; Dekan in Neuenstadt 1779, in Nürtingen 1793.

62 Der Tübinger Stiftsrepetent Karl Heinrich Rieger hat vielleicht die Verbindung zum Tübinger Professor Johann Tobias Beck hergestellt. 63 Eine Schwester von Johann Georg Bauders Ehefrau war mit Johann Albrecht Bengels Sohn Ernst (1735–1793) verheiratet.

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Christian Adam Dann Christian Adam Dann: geb. Tübingen 24. Dezember 1758, gest. Stuttgart 19. März 1837; 1777 Stiftler in Tübingen; Magister 1779; Präzeptoratsvikar in Bebenhausen; Stiftsrepetent 1788–1793; 2. Diakonus in Göppingen 1793; Diakonus an St. Leonhard in Stuttgart 1794, an der dortigen Hospitalkirche 1800–1812; 1812 wegen einer kritischen Leichenrede strafversetzt; Pfarrer in Öschingen 1812, in Mössingen 1819–1824; 1. Diakonus an der Stiftskirche in Stuttgart 1824; Stadtpfarrer an St. Leonhard in Stuttgart 1825; seit 1821 Tierschutzpionier; Freund Albert Knapps. Albert Knapp Albert Knapp der Ältere: geb. 1798, gest. 1864; Diakonus in Sulz am Neckar 1825–1831; Diakonus in Kirchheim unter Teck 1831, 1836 an der Hospitalkirche in Stuttgart; 1. Diakonus an der Stiftskirche in Stuttgart 1737; Stadtpfarrer an St. Leonhard in Stuttgart 1845/1846; 1837 Gründer des ersten Tierschutzvereins Deutschlands. Johann Tobias Beck Johann Tobias Beck: geb. 1804, gest. 1878; Pfarrer in Waldtann 1827; Stadtpfarrer und Oberpräzeptor in Mergentheim 1829–1836; ao. Prof. der Theologie in Basel 1836; D. theol. 1842; 3. o. Prof. der Theologie und Frühprediger in Tübingen 1842/1843, 2. 1852, 1. 1860–1878. Paul Steudel Paul Gottlob Steudel: geb.1825, gest. 1901; Pfarrer in Linsenhofen 1871, in Hessigheim 1878, in Bempflingen 1885–1895 – Ehefrau (Hochzeit: 1863): Wilhelmine (geborene Roos), Urenkelin des mit Steinhofer befreundeten Prälaten Magnus Friedrich Roos (1727–1803); Steudel war Ururenkel Johann Albrecht Bengels; dazu war er auch entfernt mit Steinhofer verschwägert. Sein Großonkel väterlicherseits Christian David Burk (1768–1829) hatte als 2. Ehefrau Steinhofers Großnichte Dorothea Luise (geborene Steinhofer) – Eltern: Professor Johann Christian Friedrich Steudel (1779–1837) und dessen 2. Ehefrau Luise (geborene Liesching).

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VII. Zum Problem des angeblichen Bengel-Zitats bei Karl Barth Drewes bringt noch ein fesselndes quellenkritisches Problem aufs Tapet: Schließlich ist nachdrücklich Bengel zu nennen: Barth hat ihn offenbar, wie Calvins Kommentar und Luther (vor allem in der Zusammenstellung der einschlägigen Texte durch [Christoph Georg] Eberle), durchgehend benutzt. Bengels Einfluß hat dann anders als der Becks auch nach Abschluß des ersten Römerbriefs nicht nachgelassen. Im Gegenteil: Barth hat sich in späteren Schriften mehrfach auf ein Schlüsselwort Bengels über die Evangelien („spirant resurrectionem“) bezogen. Leider hat es sich bisher in den Texten Bengels jedoch nicht nachweisen lassen. Wer der Barth-Forschung hier weiterhelfen könnte, würde mehr als eine Packung von Barths Maryland-Tabak verdienen!64

Hier kann geholfen werden. Zunächst einmal muß der fragliche Bezug auf Bengel bei Barth nachgewiesen werden. In seiner programmatischen Rede Der Christ in der Gesellschaft sagt Barth 1919: Und die in Jesus enthüllte Lebensbewegung ist keine neue Frömmigkeit. Darum nehmen Paulus und Johannes kein Interesse am persönlichen Leben des sogenannten historischen Jesus, sondern allein an seiner Auferstehung. Darum sind auch die synoptischen Mitteilungen über Jesus schlechthin unverständlich ohne die Bengelsche Einsicht in ihre Absicht: spirant resurrectionem. Das katholische Mittelalter und die Reformation haben das noch einigermaßen verstanden. Dem Pietismus, Schleiermacher und dem neuzeitlichen Christentum blieb es vorbehalten, das neutestamentliche Kerygma mit Bewußtsein rückwärts zu lesen.65

Im Jahr 2011 kommentierte Bruce McCormack die englische Übersetzung von Barths Feststellung (“It is for that reason that the Synoptic reports about Jesus are completely incomprehensible without Bengel’s insight into their intention: spirant resurrectionem [‘they breathe of the resurrection‘]“66) mit den Worten: “This phrase has often been cited and constantly attributed to Johann Albrecht Bengel without supporting evidence, especially by Barth himself. According to several specialists in the works of Bengel, it is not to be found in there. Its origin must remain unknown for now.“67

64 Drewes (2005), S. 56. 65 Karl Barth: Der Christ in der Gesellschaft. Eine Tambacher Rede. Mit einem Geleitwort von Hans Ehrenberg. Würzburg 1920, S. 18. Das angebliche Zitat findet sich in Zeile 8. – [Wiederabdruck] Karl Barth: Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge. München 1924, S. 33–69, hier S. 42. Das angebliche Bengel-Zitat „spirant resurrectionem“ findet sich in Zeile 6. – [Wiederabdruck] Karl Barth: Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 1: Karl Barth. Heinrich Barth. Emil Brunner. Hg. von Jürgen Moltmann. München 1962 (Theologische Bücherei 17), S. 3–37, hier S. 11. 66 Karl Barth: The Word of God and Theology. Edited by Bruce McCormack. Translated by Amy [E.] Marga. London / New York 2011, S. 44. 67 Ebd., Anm. 40 [von McCormack].

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Im Unterricht in der christlichen Religion von 1925 greift Barth bei der Lehre von der Versöhnung wiederum auf das angebliche Wort Bengels zurück: Wie die exinanitio sich grundsätzlich über das ganze Leben Jesu erstreckt, so grundsätzlich auch die exaltatio. Wie die exinanitio sozusagen akut wird im Leiden und Sterben Christi, so die exaltatio in den Ereignissen nach seinem Leiden und Sterben. Sie wird aber nicht da erst wirklich. Sie tritt nicht einmal da erst in die Erscheinung. An das Wort Bengels über die Evangelien ist hier zu erinnern; ‚spirant resurrectionem‘, nämlich von Anfang an, nicht erst da, wo sie die Auferstehung als einzelnes ausgezeichnetes Faktum bezeugen.68

Hinrich Stoevesandt bemerkt dazu: „Dieses – besonders von Barth selbst – oft zitierte und stets (ohne Fundortsangabe) Bengel zugeschriebene Wort ist nach Auskunft mehrerer Kenner in den Werken Johann Albrecht Bengels nirgends nachzuweisen. Seine Herkunft muß anscheinend bis auf weiteres als ungeklärt gelten.“69 Innerhalb seiner Kirchlichen Dogmatik bezieht sich Barth im Jahre 1955 bei der Lehre von der Versöhnung wieder irrtümlich auf „das bekannte Wort B e n g e l s“:70 Eine Tradition echt v o r österlichen Charakters wird man aus den Evangelien wohl immer nur mit Hilfe sehr zweifelhafter Operationen herausschälen können. Es weist eigentlich alles darauf hin, daß es n i e eine solche Tradition, gegeben hat, daß das bekannte Wort B e n g e l s nicht nur im Blick auf die Evangelien, sondern auch im Blick auf deren mutmaßliche literarische Vorlagen gültig ist: spirant resurrectionem.71

Die Lösung: Das Zitat findet sich bei Bengels und Steinhofers Freund Friedrich Christoph Oetinger. Der Nachweis des angeblichen Bengel-Zitats ist 92 Jahre lang ausgeblieben. Zum einen hat hier die große Autorität Karl Barths nachgewirkt, dem man einen Irrtum nicht so leicht zugetraut hat. Hemmend haben hier aber auch starre Vorstellungen der ‚Barthianer‘ von einem grundsätzlich antipietistisch eingestellten Barth gewirkt. Barths zeitweilige, wenn auch nur partiell wirksame Aufgeschlossenheit speziell für die schwäbisch-württembergische Ausprägung des Pietismus, wie sie besonders Eberhard Busch erforscht hat, ist von vielen zu wenig beachtet worden. Die Lösung des Rätsels ergibt sich dann, wenn man sich den Möglichkeiten der Textüberlieferung gegenüber flexibler zeigt. Ich spreche hier von der nötigen Periskopé, d. h. Umsicht, zu der das ‚Querdenken‘ (‚lateral thinking‘) beiträgt. Schaut man sich Karl 68 Karl Barth: Unterricht in der christlichen Religion. Bd. 3. Die Lehre von der Versöhnung / Die Lehre von der Erlösung 1925/1926. Hg. von Hinrich Stoevesandt. Zürich 2003, S. 184. 69 Ebd., S. 184, Anm. 213 [von Stoevesandt]. 70 Karl Barth: Die Kirchliche Dogmatik. Bd. 4: Die Lehre von der Versöhnung. Teil 2. Zollikon-Zürich 1955, S. 148. 71 Ebd. – Erwähnungen von Johann Albrecht Bengel jeweils auf S. 148, 177, 197, 288, 307, 937 ff., 945 und 951; Friedrich Christoph Oetinger wird nicht erwähnt; Erwähnung der Auferstehung Jesu Christi jeweils auf S. 18, 111, 118, 147 ff., 156 ff., 169 f., 252, 277, 324, 332 ff., 342, 346 f., 355 ff., 420, 427 und 448 f.

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Barths Der Christ in der Gesellschaft näher an, stößt man auf zwei auffallende Sympathiebekundungen für Friedrich Christoph Oetinger, der lange Zeit Johann Albrecht Bengel hoch geschätzt hat, wenn er sich später auch von dessen Dischiliasmus, der ‚postmillenaristischen‘ Verschiebung der persönlichen Wiederkunft Christi um mindestens 2000 Jahre nach der Zeitenwende von 1836, abgekehrt hat.72 Barth rühmt in seiner Tambacher Rede vom September 1919 „[d]ie köstliche göttliche Weisheit des von Oetinger so dringend empfohlenen sensus communis der Sprüche und des Predigers Salomo“.73 Im folgenden erwähnt er ein Lieblingszitat des schwäbischen Theosophen: „Und wie es dann weiter heißt in des trefflichen Oetingers Lieblingsstelle, wenn die Septuaginta den Urtext richtig wiedergeben: ‚Gott tut alles fein zu seiner Zeit und hat dem Menschen die Ewigkeit ins Herz gegeben [...]‘ (Pred. 3, 1–11).“74 Wer hier die starre Fixierung an ein Bengel-Zitat lockert und zu dem Herrenberger Dekan Oetinger überschwenkt, wird mit Finderglück belohnt. So ging es dem Verfasser, der sich seit 43 Jahren mit Oetinger editorisch und bibliographisch befaßt. Das Zitat findet sich in einem Werk Oetingers, das der Vf. im Lexikon der theologischen Werke beschrieben hat. Es ist bei dem aus Halle an der Saale stammenden Verlagsbuchhändler August Lebrecht Stettin (1725–1779) in der freien Reichsstadt Ulm erschienen: Theologia | ex | idea vitae | deducta | in sex locos | redacta, | quarum quilibet I. [primo] secundum sensum communem, | II. [secundo] secundum mysteria scripturae, III. [tertio] secundum formulas theticas, | nova et experimentali | nethodo pertractatur. | auctore | M[agistro]. Frid[erico]. Christ[ophoro]. Oetinger, | suoerintend[ente]. Et pastore primario | ecclesiae et dioeceseos | Herrenbergensis ||| Francofurti [ad Moenum] et Lipsiae [Messeorte; tatsächlicher Erscheinungsort: Ulm an der Donau], | apud Aug[ustum]. Lebr[echtum]. Stettin. 1765.75

72 Der ungeduldige Prälat war eher auf die Naherwartung einer ersten Wiederkunft Christi eingestellt und geriet durch seine spekulative Theosophie in Distanz zu ‚nüchternen‘ Bengel-Anhängern wie Magnus Friedrich Roos. 73 Karl Barth (1920), S. 37. 74 Ebd., S. 50 f. 75 Die deutsche Übersetzung erschien 1852: Die Theologie aus der Idee des Lebens abgeleitet und auf sechs Hauptstücke zurückgeführt, deren jedes nach dem Sensus communis, dann nach den. Geheimnissen der Schrift, endlich nach dogmatischen Formeln, auf eine neue und erfahrungsgemäße Weise abgehandelt wird. Verfaßt von M[agister]. Friedrich Christoph Oetinger, Superintendenten und ersten Pfarrer der Kirche und Diöcese Herrenberg. In deutscher Uebersetzung, und mit den nothwendigen Erläuterungen versehen, herausgegeben von Dr. Julius Hamberger, Professor der Religions- und Sittenlehre am königlich bayerischen Cadetten-Corps. Stuttgart, 1852. Druck und Verlag von J[ohann]. F[riedrich]. Steinkopf. – Vgl. Reinhard Breymayer: Theologia ex idea vitae deducta [...], Friedrich Christoph Oetinger […]. In: Lexikon der theologischen Werke. Hg. von Michael Eckert u. a. Stuttgart 2003, S. 717 f.

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In dem Abschnitt Resurrectio, der die Paragraphen 27 und 28 umfaßt, vermerkt Oetinger: „Brevibus: Omnia Apostolorum verba spirant sensum resurrectionis.“76 Für Oetinger ist die Paulinische Lehre von der leiblichen Auferstehung der Toten (1. Kor. 15) wichtig geworden. Sein berühmtes Melissenexperiment77 versinnbildlichte für ihn am Beispiel der Palingenesie (Wiederherstellung) der Pflanzen den Vorgang der Wiedergewinnung unzerstörlicher Geistleiblichkeit. An der Oberfläche der von ihm hergestellten Melissen-Essenz bildete sich in geheimnisvoller Weise die Form der aus dem Sud längst entfernten Melissenblätter wieder ab: ihr unzerstörlicher Geist hat wieder sichtbaren Leib gewonnen. Das ist für ihn, typologischer Denkweise entsprechend, ein ‚Vorbild‘ seines berühmten Lehrsatzes: „Leiblichkeit ist das Ende der Werke GOttes [...].“78 Während Oetinger sonst vielfach unsystematisch-assoziativ verfährt, bemüht er sich, seine Theologia ex idea vitae deducta herkömmlichen Darstellungsformen der Dogmatik anzupassen. So finden sich auch Thesen, die bei Karl Barth auftauchen, so diejenige vom Status exinanitionis (Entäußerung nach Phil. 2, 7; S. 206–208) und vom Status Exaltationis (Erhöhung, S. 208 f.). Barth mag sich hier an entsprechende eigene oder aus zweiter Hand stammende Oetinger-Lektüren erinnert haben. Der Verleger von Oetingers Biblischem und Emblematischem Wörterbuch, der Heilbronner Kaufmann Johann Adam Zobel (1698–1784), ist persönlich und durch seine mit Heilbronn und Weinsberg verbundene Familie in überraschender Weise für die Vermittlung von Ideen für Kleists Dresdner Umfeld,79 aber auch für den Frankfurter Umkreis des jungen Goethe wichtig geworden. Zobel hatte 1760 in vierter Ehe eine Kusine zweiten Grades Friedrich Christoph Oetingers geheiratet und war nun für diesen ‚Vetter‘, Freund und Mäzen zugleich. 76 Friedrich Christoph Oetinger: Theologia ex idea vitae deducta. Teil 1: Text. Hg. von Konrad Ohly. Berlin / New York 1979 (Texte zur Geschichte des Pietismus 7/2), S. 212, Z. 33. – Vgl. auch die Marginalie links: „Verba Apo- | stolorum | sensu vitae | sunt affecta.“ 77 Vgl. Ernst Benz: Urbild und Abbild. Der Mensch und die mythische Welt. Gesammelte EranosBeiträge. Leiden 1974, S. 69–129. 78 [Friedrich Christoph Oetinger:] Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, dem [Wilhelm Abraham] Tellerischen Wörterbuch und Anderer falschen Schrifterklärungen entgegen gesezt. [Heilbronn am Neckar: Johann Adam Zobel] 1776, S. 407; vgl. dazu auch die ausgezeichnete Darstellung von Guntram Spindler: Realität und Leiblichkeit. Oetingers Auseinandersetzung mit der Schulphilosophie seiner Zeit im „Biblischen und Emblematischen Wörterbuch“. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 91 (1971), S. 7–125, und von Tonino Griffero: Il corpo spirituale. Ontologie „sottili“ da Paolo di Tarso a Friedrich Christoph Oetinger. Milano 2006. 79 Heinrich August Zobels Tochter Charlotte Elisabeth Zobel ist nach der Feststellung Christhard Schrenks von Heinrich von Kleists Dresdner Freund Gotthilf Heinrich Schubert besonders beachtet worden, ist also sozusagen in die Rolle eines möglichen ‚Ur-Käthchens‘ geschlüpft. Vgl. dazu Reinhard Breymayer: Zwischen Prinzessin Antonia von Württemberg und Kleists Käthchen von Heilbronn. Neues zum Magnet- und Spannungsfeld des Prälaten Friedrich Christoph Oetinger. Dußlingen 2010, S. 8–10, 14–17, 34, 47 f., 55, 59 f., 60, 62, 67, 69–71, 76, 81, 84 f., 226 f. Vgl. dort die einzelnen Nachweise.

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Der Sohn aus erster Ehe, Heinrich August Zobel (1727–1796), betrieb von 1775 bis 1796 zusammen mit dem pietistischen Kaufmann Johann Georg Schmidgall (1743– 1825) eine Bleicherei am Bleichsee auf dem Kirschenfeld bei Löwenstein. Eine von der Oetinger- und Goethe-Forschung bisher nicht beachtete Annahmestelle für Zobels und Schmidgalls Tuche wurde in Frankfurt am Main von einem gemeinsamen Bekannten Oetingers und Goethes unterhalten, dem aus Tübingen stammenden Buchbinder und Papierhändler Franciscus (Franz) Christian Metz: Das beweist eine Anzeige in einem Frankfurter Anzeigenblatt: Auf die von dem Herrn Heinrich August Zobel von Heilbronn und dem Herrn Amts-Pfleger [Johann Georg] Schmidegall [Schmidgall] in Löwenstein angelegte und in bestem Stande stehende Tuch- und Garnbleiche offerirt Franciscus Christian Metz in Franckfurt im Gläsern Hof wohnhaft, seine bereitwillige Dienste, und nehmen sowohl Tücher als Garn zur Bleiche an besagten Ort an.80

Der Vater Johann Friedrich Metz d. Ä. war Bäcker und Universitätskastenknecht in Tübingen, trat aber vor allem als Alchemist auf, was Oetinger bereits 1728 faszinierte und zu uneinbringlichen Krediten an den Alchemisten verleitete. Der Sohn Johann Friedrich Metz d. J. (1721–1782)81 war Goethes Arzt in der vom Pietismus beeinflußten Frankfurter Krankheitsphase. In Goethes Sturm und Drang-Zeit lieferte der Buchbinder Franciscus Christian Metz, ein Bruder des Arztes, das Papier für den zum Teil in Heilbronn spielenden Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Am Ende möge jenes Schlußwort des sterbenden Götz stehen, das ganz unterschiedlich auch für Friedrich Christoph Oetinger und seinen jüngeren Freund und Weinsberger Amtsnachfolger wichtig geworden ist: „Freiheit!“ Oetinger hat als Devise den Spruch Deo servire libertas82 gewählt, der auf Seneca zurückgeht: „In regno nati sumus: Deo parere libertas est.“83 Steinhofer hat in seiner Erklärung des Kolosserbriefs ausdrücklich die befreiende Kraft des Kreuzes Christi hervorgehoben: 80 [Franciscus Christian Metz:] [Avertissement.] In: Ordentliche wochentliche Franckfurter Frag- und Anzeigungs-Nachrichten [...]. N[umer]o. XX. [Frankfurt a. M.:] Johann David Jung seel[ig]. Erben. Dienstags, den 11. Mertz 1777, S. [V]–[VIII]. 81 Vgl. Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Bd. 1: Elemente und Fundamente. München 1969, S. 172–184. 82 Friedrich Christoph Oetinger: Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes-Gelehrten. Eine Selbstbiographie. Hg. von Dieter Ising. Leipzig 2010 (Edition Pietismustexte 1), S. 48 mit Anm. 164; vgl. auch [Oetinger] (1776). Auf S. 220 f. heißt es dort: „Freiheit Elevtheria.“ 83 Lucius Annaeus Seneca: De vita beata 15, 7. – Vgl. dazu Seneca: Ad Lucilium epistolae morales 8, 7: „[...] philosophiae servire libertas est.“ Diese paradoxe Verbindung von servitudo und libertas in bezug auf die Philosophie findet sich bereits bei Senecas Gewährsmann Epikur von Samos. Vgl. das ausführlichere Zitat bei L[ucii]. Annaei Senecae [minoris] ad Lvcilivm epistvulae morales recognovit et adnotatione critica instrvxit L. D. Reynolds. Tomvs I, libri I – XIII. Oxonii MCM LXV (Scriptorvm classicorvm bibliotheca Oxioniensis) , S. 15 f.: 8, 7, hier „[...] adhuc Epicurum compilamus,

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Da dankt mans noch einmal dem Creutze, und erkennet erst recht, daß es die Scheidung (ich möchte sagen, die Weg-Scheide) war, durch welche der Uebertritt aus der Macht der Sünde und des Todes, ins Reich des Lichts und Lebens; der selige Durchbruch aus der Sclaverey in die Freiheit vorgegangen.84

Goethe war kein Pietist. Der Weimarer Dichter der Xenien hat das Kreuz Christi ebenso verabscheut wie den Tabakgenuß. Das bezeugt ein Distichon aus den Venezianischen Epigrammen: Vieles kann ich ertragen! die meisten beschwerlichen Dinge Duld ich mit ruhigem Mut; wie es ein Gott mir gebeut; Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider, Viere, Rauch des Tobaks, Wanzen und Knoblauch und †85

Tabak hat er im Einklang mit jenem Klosterpräzeptor aus Denkendorf perhorresziert und unterschied sich dadurch von den Tabakfreunden Zinzendorf, Hölderlin und Karl Barth. Trotz seiner Distanz zum entschiedenen Christentum sind Sprache und Denkformen des Pietismus vor allem in Goethes Jugendzeit wichtig gewesen, auch durch das von Steinhofer herausgegebene Ebersdorfer Gesangbuch und den Umgang mit Susanne Catharina von Klettenberg, jener Kennerin von Werken Oetingers und Steinhofers.

Literaturverzeichnis Handschriftliche Quellen Rieger, Eberhard Heinrich: 3 Briefe an Christian Adam Dann (1758–1837). [o. O.] 1808–1814. Standort: WLB Stuttgart; Cod. hist. quart. Nr. 518 c. Rieger, Gottlieb Heinrich: Brief an Christian David Burk (1768–1829). [o. O. o. D.] Standort: WLB Stuttgart; Cod. hist. fol. 874, Faszikel VII. – 134 Briefe an Christian Adam Dann. [o. O.] 1784–1814. Standort: WLB Stuttgart; Cod. hist. quart. Nr. 518 a. cuius hanc vocem hodierno legi: ,philosophiae servias oportet, ut tibi contingat vera libertas.‘ Non differtur in diem qui se illi subiecit et tradidit: statim circumagitur; hoc enim ipsum philosophiae servire libertas est.“ – Die Herkunft von Oetingers Devise ist von der Pietismusforschung bisher nicht voll geklärt worden. 84 Vgl. Steinhofer (1751), S. 87. 85 Goethe (1987), S. 457. Karl Eibl schreibt im Kommentar auf S. 1140 f.: „Goethe respektierte in Jesus den großen Menschen [...]. Die Lehren von der Erbsünde und vom Kreuzesopfer hingegen lehnte er ab.“

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Steinhofer, Dorothea Wilhelmine: Eigenhändiger kurzer Lebenslauf der Witwe von Friedrich Christoph Steinhofer. Standort: WLB Stuttgart; Cod. hist. fol. 874. II. Nr. 2. Steinhofer, Friedrich Christoph: Evangelische Zeugnüße von Jesu Christo, dem gecreutzigten, Vorgetragen durch M[agister]. Friedrich Christoph Steinhofer. [Handschriftliches Predigtbuch aus dem Besitz von Susanne Catharina Reichsfreiin von Klettenberg und mit ihrem Exlibris versehen; in dem Buch sind die frühesten sechs geistlichen Lieder und Gedichte der Freiin in ihrer Hs. überliefert.] Standort: Goethe-Museum Düsseldorf, Signatur: KK 4306.

Gedruckte Quellen Evangelisches | Gesang-Buch, | In einem hinlänglichen | Auszug | der Alten, Neuern und Neuesten | Lieder, | Der | Gemeine in Ebersdorf [im Vogtland] | Zu öffentlichem und besonderm Gebrauch | gewidmet. [Hg. von Friedrich Christoph Steinhofer.] | [Vignette] | Ebersdorf [im Vogtland], | Zu finden im Waysen-Haus. | 1742. ([Kolophon:] Hieselbst gedruckt | mit Fiedlerischen Schriften. ([Druck von Fiedler]) [Vignette.]. Standort: Bayerische Staatsbibliothek München: Liturg. 1362 u. Evangelisches | Gesang-Buch, | In einem hinlänglichen | Auszug | der Alten, Neuern und Neuesten | Lieder, | Der | Gemeine in Ebersdorf | Zu öffentlichem und besonderm | Gebrauch | gewidmet. [Hg. von Friedrich Christoph Steinhofer.] | [Vignette] || Die zweyte und vermehrte Auflage. || || Ebersdorf [im Vogtland], | Zu finden im Waysen-Haus. | 1745. ([Kolophon:] Hieselbst gedruckt | mit Reinheckelischen Schriften [Druck von Christian Lebrecht Reinheckel]). Goethe, Johann Wolfgang: Gedichte 1756–1799. Hg. von Karl Eibl. Frankfurt a. M. 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker 18). – Faust. Texte. Hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 114). – Wilhelm Meisters Theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Hg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Frankfurt am Main 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 82). – Briefe. Historisch-kritische Ausg. Bd. 1 u. 2. Hg. von Elke Richter und Georg Kurscheidt. Berlin 2008 f. Kullen, Samuel: Lebenslauf. In: Johannes Kullen. Fünf und fünzig Erbauungsstunden samt seinem Lebensabriß und Anderem aus seinem Nachlaß. Hg. von Samuel Kullen. 3Stuttgart 1860, S. I–CL. [Metz, Franciscus Christian:] [Avertissement.] In: Ordentliche wochentliche Franckfurter Fragund Anzeigungs-Nachrichten […]. N[umer]o. XX. [Frankfurt a. M.:] Johann David Jung seel[ig]. Erben. Dienstags, den 11. Mertz 1777, S. [V]–[VIII]. Oetinger, Friedrich Christoph: Theologia | ex | idea vitae | deducta | in sex locos | redacta,| quarum quilibet I. [primo] secundum sensum communem, | II. [secundo] secundum mysteria scripturae, III. [tertio] secundum formulas theticas, | nova et experimentali | nethodo pertractatur. | auctore | M[agistro]. Frid[erico]. Christ[ophoro]. Oetinger, | suoerintend[ente]. Et pastore primario | ecclesiae et dioeceseos | Herrenbergensis. ||| Francofurti [ad Moenum] et Lipsiae [Messeorte; tatsächlicher Erscheinungsort: Ulm an der Donau], | apud Aug[ustum]. Lebr[echtum]. Stettin. 1765. – Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, dem [Wilhelm Abraham] Tellerischen Wörterbuch und Anderer falschen Schrifterklärungen entgegen gesezt. [Heilbronn am Neckar; Johann Adam Zobel] 1776.

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– Die Theologie aus der Idee des Lebens abgeleitet und auf sechs Hauptstücke zurückgeführt, deren jedes nach dem Sensus communis, dann nach den. Geheimnissen der Schrift, endlich nach dogmatischen Formeln, auf eine neue und erfahrungsgemäße Weise abgehandelt wird. Verfaßt von M[agister]. Friedrich Christoph Oetinger, Superintendenten und ersten Pfarrer der Kirche und Diöcese Herrenberg. In deutscher Uebersetzung, und mit den nothwendigen Erläuterungen versehen, herausgegeben von Dr. Julius Hamberger, Professor der Religions- und Sittenlehre am königlich bayerischen Cadetten-Corps. Stuttgart, 1852. Druck und Verlag von J[ohann]. F[riedrich]. Steinkopf. – Leben und Briefe, als urkundlicher Commentar zu dessen Schriften. Hg. von Karl Chr[istian] Eberh[ard] Ehmann. Mit Oetingers Bildniß. Stuttgart 1859. – Theologia ex idea vitae deducta. Teil 1: Text. Hg. von Konrad Ohly. Berlin / New York 1979 (Texte zur Geschichte des Pietismus 7/2). – Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes-Gelehrten. Eine Selbstbiographie. Hg. von Dieter Ising. Leipzig 2010 (Edition Pietismustexte 1). Rieger, Carl Heinrich: Betrachtungen über das Neue Testament, zum Wachsthum in der Gnade und Erkenntniß unsers Herrn und Heilandes JEsu Christi, von Carl Heinrich Rieger, Consistorial-Rath und Stiftsprediger zu Stuttgart. Zweiter Theil, enthaltend der Apostel Geschichten, die Briefe Pauli an die Römer und Corinther. Nach seinem Tode herausgegeben. ([Vorredner:] C[hristian]. A[dam]. D[ann].) Tübingen 1828. – Betrachtungen über das Neue Testament, zum Wachtsthum in der Gnade und Erkenntniß unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, Teil 1. Mit einem Lebens-Abrisse des Verfassers. 5. Aufl. Stuttgart 1875. Steinhofer, Friedrich Christoph [Verf. und Respondent] / Johann Conrad Creiling [Praeses]: De differentia corporis mathematici et physici, […] praeside, Johanne Conrado Creilingio […] disputabit auct(or). et resp(ondens}. Fridericus Christophorus Steinhofer […]. Tubingae [1728]. – Tägliche Nahrung | des | Glaubens | Aus der | Erkenntniß JEsu, | Nach den lehrhaften Zeugnissen | der Epistel an die Colosser, || || In einem || vollständigen Auszug || der darüber gehaltenen || öffentlichen Reden, || zum gemeinsamen Nutzen || vorgelegt, || Von || Friederich Christoph Steinhofer, || dermaligen Pfarrer zu Dettingen || [an der Erms] unter Urach [Württemberg]. || || Franckfurt [am Main] und Leipzig [wahrer Verlagsort: Saalburg], | bey Johann Nathanael Lumscher. 1751. Standort: UB Tübingen: Ge 1365 d. – M[agistri]. Friedr[ich] Steinhofers | gewesenen Stadt- Pfarrers und Special-Super| intendenten in Weinsperg [Weinsberg] | Tägliche Nahrung | des | Glaubens | aus der Erkenntniß JEsu Christi | nach einigen wichtigen Schrift-Stellen | aus dem | Leben und Wandel Jesu | auf Erden | vormals Anno 1740. und 1741. | in den gewöhnlichen Abend-Stunden | zu Ebersdorf [im Vogtland] | vorgelegt | und nach seinem Tode auf Verlangen | mit einer Vorrede [bearb. und] herausgegeben | von | Johann Rudolph Jäneke | Hochgräfll[ich]. Reuß-Pl[auischem]. Hof-Prediger zur Burgk [in Burgk, heute Saale-Orla-Kreis, bei Schleiz] | und Pastor in Möschli[t]z. || Franckfurt [Frankfurt am Main] und Leipzig [wahrer Verlagsort: Saalburg] | verlegt von Johann Nathanael Lumscher (1764). Standort: UB Tübingen: Ge 1365 e. – Rarum. – Neue Predigten über die sonn- fest- und feiertäglichen Evangelien und andere Texte, zum ersten Mal aus seinen Original-Hss. herausgegeben. Mit einem Vorwort von Albert Knapp. Tübingen 1846. – [Zuschreibung; Mitvf.]; [Carl Heinrich Rieger und gegebenenfalls andere (Mitvf.):] Erklärung der Epistel Pauli an die Römer. Von M[agister]. Friedrich Christoph Steinhofer, weil[and]. Dekan und Stadtpfarrer in Weinsberg. Mit einem Vorwort von Dr. J[ohann].. T[obias]. Beck, Professor

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der Theologie in Tübingen. Tübingen 1851; bzw. [TitelAufl.] Stuttgart 1851. [Die Edition beruht auf der Zusammenstellung der Textstücke aus fünf Manuskripten (A bis D), deren Wiedergabe sich auf folgende Druckseiten verteilt (bei A, C, D, E werden nur die erste und letzte einschlägige Seite genannt): A: S. (4) … 94; B (Rieger): S. 8–10. 12. 18. 23 f. 28–34. 36–44. 50–58. 67–79. 80–82. 83–85. 87–91. 92–94. 94–100; C: 169 … 238; D: 108 … 227; E: (100) … 216. – E enthält offenbar mindestens eine tatsächlich von Steinhofer stammende Predigt; denn [J. T. Beck] bemerkt: S. 186, Anm. *): zum Text von S. 186, Z. 1, bis S. 188, Z. 11, über Röm. 8, 23: „Wir haben hier eine Wochenpredigt vor uns, die Steinhofer den 28. Novbr. in Weinsberg hielt.“] – Christliche Reden über den Gnadenstand der Glaubigen nach den Zeugnissen des Briefs Pauli an die Römer. Neu gesammelt und hg. ([Vorredner:] P[aul] [Gotttlob] St[eudel]., [Pfarrer in L[insenhofen]). Stuttgart 1871. Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Reichgraf von: DER du in dem Himmel bist. In: Anhang | als ein | zweyter Theil | zu dem | Gesang-Buche | der Evangelischen | Brüder-Gemeinen. [Herrnhut und andere Evangelische Brüdergemeinen 1743.], S. 1713 f.

Literatur Barth, Karl: Der Christ in der Gesellschaft. Eine Tambacher Rede. Mit einem Geleitwort von Hans Ehrenberg. Würzburg 1920. – Der Römerbrief. 2. Aufl. in neuer Bearbeitung [1. Abdruck = 2. Aufl.]. München 1922. – Der Christ in der Gesellschaft. In: Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge. München 1924, S. 33–69. – Die Kirchliche Dogmatik. Bd. 4: Die Lehre von der Versöhnung. Teil 2. Zollikon-Zürich 1955 (21964, 31978). – Der Christ in der Gesellschaft. In: Anfänge der dialektischen Theologie. Teil 1: Karl Barth. Heinrich Barth. Emil Brunner. Hg. von Jürgen Moltmann. München 1962 (Theologische Bücherei 17), S. 3–37. – Unterricht in der christlichen Religion. Bd. 3: Die Lehre von der Versöhnung / Die Lehre von der Erlösung 1925/1926. Hg. von Hinrich Stoevesandt. Zürich 2003. – Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922. Hg. von Cornelis van der Kooi und Katja Tolstaja. Zürich 2010 (Karl-Barth-Gesamtausgabe 47). – The Word of God and Theology. Edited by Bruce McCormack. Translated by Amy [E.] Marga. London / New York 2011. Baumgart, Peter: Zinzendorf als Wegbereiter historischen Denkens. Lübeck / Hamburg 1960 (Historische Studien 381). Bayreuthisches Pfarrerbuch. Die Evangelisch-Lutherische Geistlichkeit des Fürstentums KulmbachBayreuth (1528/29–1810). Bearb. von Matthias Simon. München 1930 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 12). Benz, Ernst: Urbild und Abbild. Der Mensch und die mythische Welt. Gesammelte Eranos-Beiträge. Leiden 1974. – Akzeleration der Zeit als geschichtliches und heilsgeschichtliches Problem. Mainz / Wiesbaden 1977 (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 2). Bettermann, Wilhelm: Das Ebersdorfer Gesangbuch. In: Zeitschrift für Brüdergeschichte 10 (1916), S. 145–151.

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Reinhard Breymayer

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Vollprecht, Frieder: Von der Schloßekklesiola zur Ortsgemeinde. Ein Beitrag zum Entstehungsprozeß der Brüdergemeine Ebersdorf. In: Unitas Fratrum 39 (1996), S. 7–51.

Zimmermann, Rolf Christian: Die mystisch-pietistischen Vervollkommnungsvorstellungen beim jungen Goethe. (Diss.) Heidelberg 1958. – Das Predigten-Manuskript aus dem Nachlaß des Fräuleins von Klettenberg. In: Goethe. N. F. 22 (1960), S. 277–282. – Das Weltbild des jungen Goethe. Bd. 1: Elemente und Fundamente. München 1969 (32002).

Christian Schweizer (Luzern)

Der Schulpräfekt Apollinaris Morel Vom Jesuitenschüler zum Kapuzinergelehrten

Der Schweizer Kapuziner Apollinaris Morel, „die schönste Blüte unserer Ordensprovinz im 18. Jahrhundert“,1 so die Beurteilung des Kapuziners Arnold Nußbaumer im Jahr 1964, war ein Gelehrter französischer Zunge aus dem gemischtsprachigen Kanton Freiburg / Canton du Fribourg. Darauf deutet bereits der Familiename Morel hin.2 Der 1739 in der Pfarrkirche Prez auf Jean Jacques getaufte Sohn des Sattlers Jean Baptiste Morel und der Hebamme Marie-Elisabeth, geborene Maître, erhielt das Bürgerrecht seines Vaters, nämlich dasjenige der Gemeinde Posat. Der Provinzarchivar der Schweizer Kapuziner, Moritz Stadler von Beromünster, ein Ordensmitbruder, überliefert in der ersten Biographie über Apollinaris Morel das Bild einer katholischen Familienidylle.3 Andere Quellen berichten vom spurlosen Verschwinden des Vaters, der eine hochschwangere Frau und zwei Kinder im Stich ließ. Die Mutter musste daher ihre Kinder den Verwandten überlassen und sich wieder ihrem Beruf in Freiburg widmen, um den Unterhalt der verarmten Familie sicher zu stellen. Sie verstarb am 2. September 1783. Genau auf den Tag neun Jahre später erlitt ihr Sohn als Kapuziner im revolutionären Paris in einem Blutbad zusammen mit über 150 Priestern und Ordensleuten im Garten des Karmeliterklosters das Mar1 Arnold Nußbaumer OFMCap: Auf den Spuren des hl. Franz. In: Fidelis 51 (1964), S. 195–209, hier S. 195. Zu Arnold Nußbaumer (1886–1967), einst Provinzialminister der Schweizer Kapuziner, vgl. Christian Schweizer: Arnold Nußbaumer. In: Historisches Lexikon der Schweiz. Hg. von der Stiftung Historisches Lexikon der Schweiz. Bd. 9. Basel 2010, S. 299. 2 Vgl. Beda Mayer OFMCap: Die Familie des sel. Apollinaris. Chronologische Zeittafel. In: Fidelis 51 (1964), S. 190–194, hier S. 190. 3 Das Manuskript von P. Moritz Stadler liegt im Provinzarchiv Schweizer Kapuziner Luzern Sch 2251.12: Kurzer Lebensbegriff des am 2.ten Herbstmonat 1792 für den wahren Glauben heldenmütig gestorbenen P. Apollinaris des Seraphischen Capuziner Ordens der Schweizer Provinz (18 pp.). Am Schluss der Biographie steht der Name des Autors: Fr. Mauritius. Zu Moritz Stadler (1739– 1810), Provinzarchivar und Historiograph der Schweizer Kapuziner 1788–1810, vgl. Christian Schweizer: Tradition und Dokumentation. Das Provinzarchiv der Schweizer Kapuziner in Luzern. In: Helvetia Franciscana 36 (2007), S. 13–93, hier S. 40f., 84. Der Jesuitenschüler verfasste danach als Kapuziner Lehrbücher über die Physica generalis und Physica particularis; dazu vgl. Hanspeter Marti: Das geistliche Arsenal. Die Konventbibliothek des Kapuzinerklosters Sursee. In: Helvetia Franciscana 35 (2006), S. 55–100, hier S. 90f. u. Abb. 10. Die Apollinaris-Biographie von Moritz Stadler ist beschrieben, eingeleitet und ediert von Beda Mayer OFMCap: Wie Gold im Feuer. Die erste Biographie des seligen Apollinaris Morel. In: Helvetia Franciscana 7 (1957–1958), S. 105–132.

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Christian Schweizer

tyrium, weil er wie viele Kleriker sich geweigert hatte, den Eid auf die Zivilkonstitution zu leisten. Die Eidesleistung hätte für Kleriker eine Loslösung von Rom bedeutet. Ein bewegtes, aber gegenüber Franziskusregel und Ordenskonstitutionen treues Kapuzinerleben im ausgehenden 18. Jahrhundert inmitten von Umwälzungen ist nicht der Vergessenheit anheim gefallen. Am 17. Oktober 1926 wurden die Opfer des Massakers von Papst Pius XI. in die Schar der Seligen aufgenommen. Nicht das Martyrium war ausschlaggebend, Apollinaris Morel in das seit 2002 erscheinende dreisprachige Historische Lexikon der Schweiz aufzunehmen, sondern seine Tätigkeit in der Bildung und deren Folgen.4 Die römisch-katholische Kirche und die Ordensprovinz der Schweizer Kapuziner gedenken dieses Ordensmannes jeweils am 2. September.5

I. Jesuiten und Kapuziner Die Kindheit Morels war ab dem fünften Lebensjahr klerikal geprägt. Francois Joseph Morel, Onkel und Firmpate, Vikar in Prez, später Pfarrer in Belfaux, nahm sich der Erziehung und Ausbildung seines talentierten Neffen an. Dessen Weg führte ihn im 16. Lebensjahr nach Freiburg ans Kollegium St. Michael, das 1681 vom Jesuiten Petrus Canisius gegründet worden war. Dort oblag der wissbegierige junge Mann unter der strengen jesuitischen Erziehungsmethode und Lehrordnung (ratio studiorum) den Gymnasial- und Lyzealstudien, die nämlich Geistes- und Naturwissenschaften zugleich umfassten; diese schloss er 1762 mit dem Prädikat Insigni prorsus cum laude glanzvoll ab.6 Die JesuitenPatres hätten ihn allzu gerne in ihrem Orden gesehen. Aber der zielstrebige Jesuitenschüler entschied sich für den Kapuzinerorden. „Viele andre würden es sich zur Ehre und zum Glück gerechnet haben, in eine Gesellschaft eintreten zu können, die dazumal noch an fast allen großen Höfen im höchsten Ansehen stand“, meint Moritz Stadler;7 er schrieb diese Zeilen an der Wende des 18. Jahrhunderts, als der Jesuitenorden mit dem Segen des 4 Vgl. Christian Schweizer: Morel Apollinaris. In: Historisches Lexikon der Schweiz. Hg. von der Stiftung Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Bd. 9. Basel 2010, S. 718; ders.: Morel Apollinaris. In: Dictionnaire historique de la Suisse. Publ. par la Fondation Dictionnaire historique de la Suisse (DHS). Bd. 8, Hauterive 2009, S. 690; ders.: Morel Apollinaris. In: Dizionario storico della Svizzera. A cura della Fondazione Dizionario storico della Svizzera (DSS). Bd. 8. Locarno 2009, S. 621. 5 Vgl.: Martyrologium Romanum ex decreto Sacrosancti Œcumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Ioanni Pauli PP. II promulgatum, Typis Vaticanis 2001, die 2 septembris, No 14, 466– 467. Schweizer Kapuzinerprovinz Region Deutschschweiz 2010/2011 Direktorium A, Luzern 2010, S. 21: „September 2 Fr G Apollinaris von Posat Ordensbr Kap unserer Provinz, Mart PO rot.“ Province suisse des Capucins Region romande 2011 Calendrier liturgique Année A, Lausanne 2010, S. 20: „Septembre 2 rouge – Bx Apollinaire Morel, prêtre et martyr, capucin de la Province – mémoire.“ 6 Vgl. Nußbaumer (wie Anm. 1), S. 199 u. 201. 7 Mayer (wie Anm. 3), S. 113.

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Minoritenpapstes Clemens XIV. 1773 auf Druck der Bourbonenhöfe zwangsweise weltweit (Russland ausgenommen) aufgehoben war.8 Im Heimatkanton des jungen Morel waren die Kapuziner wegen ihrer Klöster Freiburg, Romont und Bulle sehr bekannt, sei es auf Kanzeln, in der Aushilfsseelsorge und wegen der Bettelgänge in den Dörfern und Weilern. Die Minderbrüder führten im Kloster Freiburg eine eigene theologische Fakultät für den Nachwuchs.9 St. Michael in Freiburg diente wie die anderen Jesuitenkollegien in der Schweiz zur Rekrutierung der geistigen und geistlichen Elite in den katholischen Landstrichen der Alten Eidgenossenschaft und zur Nachwuchsförderung des eigenen Ordens.10 Die Jesuitenkollegien gereichten auch zum Segen für den akademischen Nachwuchs des Kapuzinerordens in der Schweiz. Jesuiten und Kapuziner sind jene Orden, die im Auftrag des Tridentinischen Konzils seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert die katholische Kirche erneuerten: Die Jesuiten ignatianischer Dynamik waren verantwortlich für die intellektuelle Elite, für Fürstenhöfe und Standesregierungen, die Kapuziner als Reformorden franziskanischer Provenienz und Spiritualität zuerst für das einfache Volk, später auch für die Elite in den katholischen Kantonen der Schweiz. Vor und zu Zeiten des jungen Morel traten in der Schweiz nicht wenige Jesuitenschüler in den Kapuzinerorden ein. Sein späterer Biograph Moritz Stadler war z. B. ein Absolvent der Luzerner Jesuitenschule, bevor er 1759 das Kapuzinernoviziat begann.11 Der außerordentlich hohe Bildungsgrad der Kapuziner sowie ihr Engagement bei der Alphabetisierung der ärmeren Landschaftskantone und im gymnasialen Schulwesen von 1778 bis 1999/2001 wurzelt auch in den jesuitischen Kapuzinergenerationen des 18. Jahrhunderts und in den tradierten jesuitischen Lehrmethoden.12 Zudem arbeiteten im 17. und 18. Jahrhundert Jesuiten und Kapuziner bei den Volksmissionen in der Schweiz Hand in Hand. So vermerkt das Schweizer Jesuitenlexikon: „Das Verhältnis zwischen den beiden Reformorden war bis zur Aufhebung des 8 Ferdinand Strobel SJ: Clemens XIV. In: Ders.: Schweizer Jesuitenlexikon. Zürich 1986 (Manuskriptausgabe), S. 126; Niccolò Del Re: Clemens XIV. In: Ders.: Vatikan Lexikon, Augsburg 1998, S. 143. Ludwig Koch SJ: Jesuiten-Lexikon. Paderborn 1934, S. 120–134 (Aufhebung der GJ) sowie S. 1574–1578 (Russland). 9 Vgl. Helvetia Sacra. Hg. vom Kuratorium der Helvetia Sacra. Abt 5. Bd.2: Der Franziskusorden: Die Kapuziner und Kapuzinerinnen in der Schweiz, Bern 1974, S. 226–240 [Bulle], S. 304–331 [Freiburg] und S. 504–515 [Romont]. 10 Zu den Kollegien der Jesuiten in der Schweiz vgl. Helvetia Sacra (wie Anm. 9) Abt 7: Die Regularkleriker: Die Gesellschaft Jesu in der Schweiz. Bern 1976, S. 114–472. Zum Luzerner Beispiel der Kapuziner als Jesuitenschulabsolventen im 17. Jahrhundert siehe Fritz Glauser: Das Schülerverzeichnis des Luzerner Jesuitenkollegiums 1574–1669. Luzern / München 1976, S. 275–276. Das Thema der jesuitischen Schulprovenienz der Schweizer Kapuziner harrt noch der Aufarbeitung. 11 Vgl. die Eintragungen der Eintritte in die Schweizer Kapuzinerprovinz in Provinzarchiv Schweizer Kapuziner Luzern Ms 150 Protocollum maius I. 12 Vgl. Christian Schweizer: Die Schweizer Kapuzinerschulen für die studierende Jugend. Würdigung einer vergangenen Ära in der Provinzgeschichte. In: Helvetia Franciscana 28 (1999), S. 165–183.

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Jesuitenordens 1773 meist ein ungetrübtes.“13 Die Volksmissionen waren zunächst die Domäne der Jesuiten vorwiegend in den Kantonen Uri, Nidwalden, Schwyz, Luzern und Zug, wo Kapuziner bereits in Klöstern lebten; doch die Jesuiten bedurften an ihren Volksmissionen aufgrund beschränkter Personalverfügbarkeit der Assistenz der Kapuziner für das Beichthören und Übersetzen jesuitischer Predigten in eine einfache Sprache, die das Volk zu verstehen vermochte.14 Nicht von ungefähr übernahmen die Kapuziner in der Schweiz von den Jesuiten kurz vor der Mitte des 19. Jahrhunderts die Volksmissionen, um sie flächendeckend im ganzen Land bis in die evangelisch-reformierten Konfessionsgebiete hinein durchzuführen, und wurden deswegen beim Kulturkampf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von radikalen Liberalen als „Jesuiten fürs ganz gemeine Volk“ fast spöttisch oder neidisch tituliert.15 Auch in den Konventbibliotheken der Schweizer Kapuziner zählen historische Bestände von Jesuiten viele Bände.

II. Der Kapuziner Apollinaris Morel Seit seinem Eintritt in den Orden im Jahr 1762 durchlief Apollinaris Morel den normalen klerikalen Ausbildungsweg eines jungen Kapuziners. Auf dieser Wegstrecke bewegte er sich in noch intakten katholischen Landschaften der Alten Eidgenossenschaft. Nach dem Noviziat gehörte er 1764 als Professbruder dem Konvent Mels an, erhielt in Chur, wo die Kapuziner in der Kathedrale für die Stadtpfarrei beauftragt waren und in einem eigenen Hospiz wohnten, Stufe um Stufe innerhalb von zwei Tagen vom Abt des dortigen Prämonstratenserklosters St. Luzius Tonsur und niedere Weihen und dann vom Churer Diözesanbischof die ersten höheren Weihen (Subdiakon und Diakon). Daraufhin lebte er im Kloster Bulle. Der Bischof von Lausanne, residierend in Freiburg, weihte 1765 in der Kapelle seiner Sommerresidenz Russy den 25-jährigen Diakon zum Priester. Der Neupriester widmete sich an den provinzeigenen Fakultäten der Klöster Luzern und Sitten den theologischen und philosophischen Studien. Er bestand sie in einer öffentlichen Disputation vor dem Bischof von Sitten und der Walliser Regierung erfolgreich.16 Das im Provinzarchiv geführte Protocollum maius, in dem alle Lebensstationen eines jeden Kapuziners auch heute lateinisch vermerkt werden, nennt als pastorale Wirkungsstätten des zum Beichtvater und Prediger avancierten Paters die Klöster Sitten, Pruntrut, Bulle und 13 Strobel: Kapuziner und die Schweizerjesuiten. In: Ders (wie Anm. 8), S. 287 f. 14 Vgl. Christian Schweizer: Auf Mission gehen. In: Kapuziner in Nidwalden 1582–2004. Hg. von dem Historischen Verein Nidwalden (HVN). Stans 2004, S. 49–83, hier S. 77. 15 Zitiert nach Christian Schweizer: Missionsstation Sursee. Das Seelsorgegebiet der Kapuziner in und um Sursee. In: Helvetia Franciscana 35 (2006), S. 7–54, hier S. 52. Zur flächendeckenden Ausbreitung der Volksmissionen am Beispiel des Bistums Basel siehe ders.: „Kapuziner wie Jesuiten des Volkes“. Volksmissionen der Schweizer Kapuziner im reorganisierten Bistum Basel. In: Helvetia Franciscana 32 (2003), S. 107–148. 16 Vgl. Nußbaumer (wie Anm. 1), S. 206–209.

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Romont. Als Ordenslektor (Lehrer) der Philosophie und Theologie in Freiburg führte er mit seinen Schülern öffentliche Disputationen durch. In Bulle war er bei begüterten Privatleuten ein gefragter Lehrer. Von 1783 bis 1784 war die Stationierung im Konvent zu Altdorf, dem Hauptort des Kantons Uri mit dem ersten und ältesten Kapuzinerklosters nördlich der Alpen, ein ruhiges Intermezzo, bevor die weiteren Stationen Stans, Luzern und Paris hießen.17

III. Präfekt und Theaterregisseur in Stans Im geographisch fast abgeschlossenen Kanton Nidwalden zwischen dem Vierwaldstättersee und dem Engelberger Hochtal mit dessen Benediktinerabtei waren die Minderbrüder Kapuziner seit 1582 schließlich in dem vom Nidwaldner Landammann und Heiliggrabritter Johann Melchior Lussy 1584 im Hauptort Stans erbauten Kloster ansässig geworden. Der zuständige Diözesanklerus des Bistums Konstanz hatte an Bildungsnotstand und Nachwuchsmangel gelitten. Dem sollten die Kapuziner mit Hilfe des Mailänder Kardinals Karl Borromäus beikommen. In Stans bewohnten zu Lebzeiten des Apollinaris Morel die Kapuziner ein Kloster, dessen zweiter Bau 1683/1684 vom Staat finanziert worden war. Es war Kompetenzzentrum für Aushilfsseelsorge in den Pfarreien und Kaplaneien Nidwaldens und in Engelberg und zuständig für die Kranken- und Randständigenseelsorge.18 Die Konventbibliothek des Klosters, deren Ursprünge auf den Stifter des ersten Klosterbaus von 1582/1583 zurückgehen, ist die erste systematisch geordnete Büchersammlung in Nidwalden überhaupt. Die vertiefenden Kenntnisse über Umfang, Gehalt und Wert dieser Bibliothek ist der sorgfältigen und umsichtigen Erforschung von Hanspeter Marti zu verdanken.19 Die Konventbibliothek diente auch der im Kloster eingerichteten philosophischen Fakultät zur Ausbildung des Klerikernachwuchses der Schweizer Kapuzinerprovinz.20 Das Kloster wurde zudem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch zur Stätte höherer Bildung für die Jugend. Die in Stans 1749 gegründete Lateinschule der Pfarrkirche war verwaist. So übernahmen nach Jahrzehnten auf Anfragen und Bitten der Nidwaldner Regierung die Kapuziner die höhere Schulbildung und stellten in ihrem Kloster Räumlichkeiten für ein Externen-Gymnasium zur Verfügung. Die prachtvolle barocke

17 Provinzarchiv Schweizer Kapuziner Luzern Ms 150 Prot. mai. I, 220 M. 18 Vgl. Schweizer (wie Anm. 14), S. 56–61, 67–68, 70, 72. 19 Vgl. Hanspeter Marti: Bibliothek des ehemaligen Kapuzinerklosters Stans. In: Handbuch der historischen Buchbestände in der Schweiz. Hg. von der Zentralbibliothek Zürich. Bd. 2: Kantone Luzern bis Thurgau. Hildesheim u. a. 2011, S. 168–173. 20 Vgl. Helvetia Sacra (wie Anm. 9), S. 654 f.

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Kapuzinerkirche wurde zugleich Gymnasialkirche und feierlicher Versammlungsort bei akademischen Anlässen.21 Der Nidwaldner Kapuziner Guardian Venantius von Matt aus Stans (1714–1786) war der erste Präfekt22 der 1778 eröffneten Klosterschule. Nidwalden verfügte somit über ein staatliches Externen-Gymnasium, zu dessen Führung die Kapuziner beauftragt wurden. Dabei hatten sie sich auf Bestimmung des Regierungsrates nach dem Programm des staatlichen Gymnasiums in Luzern zu richten.23 Das Schulprogramm wurde umso mehr jesuitisch, als auf den 71-jährigen Venantius von Matt im Schuljahr 1784/85 Apollinaris Morel folgte. Der ehemalige Jesuitenschüler nahm die Zügel der Schulleitung fest in die Hand, nachdem die Jesuitenschulen wegen Ordensverbot schon längst zu existieren aufgehört hatten. Aufgrund seiner hohen Bildung, seiner pädagogischen Erfahrungen und seines Scharfsinns gelang es ihm, das Gymnasium in Stans außerhalb Nidwaldens zu höherem Ansehen zu verhelfen. Schüler aus Luzern, deren Eltern die Jesuiten nach dem Niedergang des Luzerner Kollegiums vermissten, kamen per Schiff nach Nidwalden, hatten bei Nidwaldner Familien Kost und Logis und genossen bei den Kapuzinern in Stans dann jene solide Ausbildung, die einst das Markenzeichen der Jesuitenschulen war. Die Schule trug auch dann noch zu erquicklichem Nachwuchs bei, als andernorts Ordensberufungen am Vorabend der Französischen Revolution längst rückläufig waren.24 Das Kloster in Nidwalden stand in dieser Zeit spirituell, kulturell und gesellschaftlich in seiner Blüte.25 Wie sehr Apollinaris Morel die Schule prägte, zeigt ein zeitgenössisches Ölbild des Obwaldner Malers Alois Jakober26 aus Sarnen: Der Kapuzinergelehrte hält dort ein Buch über das tridentinische Konzil in der Hand – der dargestellte Buchrücken ist bezeichnet mit Concilium Trident – und notiert mit der Feder eine Textstelle aus dem MatthäusEvangelium 19,14: „Sinite parvulos, et nolite eos prohibere ad me venire: talium est enim

21 Zur Geschichte, Ausstattung und Funktion des Konventbaus und der Kapuzinerkirche Stans siehe Hansjakob Achermann: Gebaute Armut. Die Stanser Klosteranlage. In: Kapuziner in Nidwalden (wie Anm. 14), S. 135–150. Auch heute benutzt das Kantonsgymnasium die Kapuzinerkirche als feierlichen Versammlungsort. 22 Diesen Titel trugen die Schulleiter am nachmaligen separaten gymnasialen Kapuziner-Kollegium St. Fidelis bis ins Jahr 1907. 23 Erst ab 1883 übernahmen die Kapuziner das Gymnasium als Eigentum und in völliger Eigenregie mit gleichzeitiger Einführung eines Internats auch als Pflanzstätte für den Ordensnachwuchs. 24 Vgl. Niklaus Kuster OFMCap: Die Klostergemeinschaft von Stans. In: Kapuziner in Nidwalden (wie Anm. 14), S. 13–48, hier S. 17–19. 25 Zur historischen Bilanz der Nidwaldner Kapuziner in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts siehe Christian Schweizer: Die Kapuziner und der 9. September 1798. In: Nidwalden 1798. Geschichte und Überlieferung. Hg. von dem Historischen Verein Nidwalden (HVN). Stans 1998, S. 196–201. 26 Die Lebensdaten sind unbekannt.

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regnum caelorum.“27 Im Hintergrund ist eine Bibliothek zu sehen. Das Porträt dokumentiert die kompromisslose tridentinische Gesinnung Apollinaris Morels. Sein MatthäusZitat mag als Leitmotiv für das Gymnasium gegolten haben. Die Aufschrift unter der Szene – Actm V.P. Apollinaris De Frÿburgo, Quondam Lector Phÿlosophiæ, Et S.S. Theologiæ: Nunc Praefectus Et Professor Studiosorum Subsÿlvan jæ – führt zur völlig berechtigten Annahme, dass das Bild zwischen 1786 und 1788 entstanden ist und in den Räumlichkeiten der Klosterschule aufgehängt war. Die Titulierung „Präfekt und Professor der Studenten Nidwaldens“ verweist darauf, dass Apollinaris Morel nicht nur das Gymnasium leitete, sondern auch alle anderen Lateinschulen Nidwaldens, um die es nicht sonderlich gut bestellt war, unter seiner Aufsicht standen. Somit hatte Apollinaris Morel in Nidwalden gewissermaßen die Funktion eines Inspektors des höheren Schulwesens inne. Zu den begeisterten Schülern Apollinaris Morels gehörte ein Johann Melchior Josef Gut von Stans (1768–1814), der spätere Kapuzinerprediger Venantius. Von diesem ist ein handgeschriebenes Schulbuch aus der Ära der Präfektur Morels erhalten, das den folgenden Titel trägt: Rhetorica a Plurimum R. P. Apollinare Professore Stantij Dignissimo Renovata, ad usum Rhetorum Discipulorum Suorum Apptissima.28 Auf der Titelseite hat sich 1786 auch der Schüler verewigt: Hic Liber Spectat ad me Joannem Melchiorem Josephum Gut Tempore Studiosum Stantij Sub Disciplina R. P. Appollinaris professoris et quidem Doctissimi Anno humanæ salutis 1786. Im ersten Teil des Buches finden sich auf 74 Seiten die von Gut in lateinischer Sprache aufgeschriebenen InsTituTiones RheToricæ. Den Überfall der Franzosen auf Nidwalden am 9. September 1798 überstand das Buch unbeschadet in den Händen von Franz Joseph Melchior Gut, dem Bruder Johann Melchior Josefs. Von ihm stammen dann Teil zwei und drei, bestehend aus einem Schuldenbuch, so dem gnoßenschreiber Franz Joseph M.r Gut gehören, angefangen Ao 1801, und aus Berichten über den Überfall.29 Das Buch bezeugt zugleich die Geschehnisse, die dem Kapuzinerprofessor und Präfekten in Stans am Vorabend des Untergangs der Alten Eidgenossenschaft widerfahren waren: Üble Verleumdungen hatten ihn nämlich zum Wegzug von dort bewogen. So stehen auf der vorderen Innenseite des Buchdeckels folgende Anspielungen:30 – nil Curo, an Laudent, an Carpant, dicta Maligni. Laus est magna, malis displicuisse viris. Beschnarcht man’s, lobt man es? – wie wenig mich das quält? Schon lob genug für mich; wenn’s bösen nicht gefällt. F.G. [= Franz Gut]. – Conscia mens recti famæ mendacia ridet – ein gutes gewüssen lächelt über die ausgebreiteten Lügen.

27 Wörtlich übersetzt: Lasset die Kleinen und hindert sie nicht, zu mir zu kommen; denn für solche ist das Himmelreich. 28 Provinzarchiv Schweizer Kapuziner Luzern Sch 2255. 29 Zur Geschichte und Bedeutung dieses Manuskripts siehe Edwin Sträßle OFMCap: Ein neuer Apollinaris-Fund. In: Helvetia Franciscana 5 (1945–1951), S. 128. [Der Beitrag umfasst nur eine Seite.] 30 Provinzarchiv Schweizer Kapuziner Luzern Sch 2255.

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Abb.: Der Kapuzinergelehrte Apollinaris Morel, Präfekt und Professor in Stans/Nidwalden (Ölporträt, gemalt von Alois Jakober, Sarnen. © Provinz Schweizer Kapuziner. Heute in Kapuzinerkriche Stans)

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Sie erinnern an unschöne Begebenheiten in Nidwalden im ausgehenden 18. Jahrhundert, die sich zum Beispiel an P. Apollinaris Morel entluden. Der talentierte und kommunikative Kapuziner hatte viele Neider, denn er war sowohl zeitkritisch als auch loyal gegenüber Kirche und Orden. Das Schultheater nach dem Muster der Jesuiten fand an der Stanser Klosterschule unter seiner Regie vermehrt Förderung, Beachtung und Entfaltung und erfährt weiterhin eine kontinuierliche Fortsetzung am heutigen Kantonsgymnasium Kollegium St. Fidelis. Zum Abschluss des Schuljahres 1785 spielten die Studenten die Komödie Der Kranke in der Einbildung, ein zeitkritisches Stück nach dem Vorbild Molières. Die Aufführung fand bis nach Luzern Resonanz und führte zum beleidigenden Verriss im Luzerner Wochenblatt, das von Vertretern der Aufklärung herausgegeben wurde. Der viel beschäftigte Präfekt nahm sich zudem Zeit, der wenig begüterten Bevölkerung des Kapellsprengels Büren am Fuße des Buochserhorns, welche bis dahin für Taufen und Messen den langen Marsch in die Pfarrkirche Stans auf sich genommen hatte, mit Katechese und Sonntagschristenlehre Fortbildung zu ermöglichen. Freidenker bezichtigten ihn daraufhin der Ketzerei. Ostern 1788 wurde dem Ordensmann der schwerste Schlag versetzt: Man bezichtigte ihn eines Sittlichkeitsverbrechens an einer Kapuzinerin des Terziarinnenkonventes St. Klara in Stans. Die Anschuldigungen konnten allerdings zur Gänze widerlegt werden. Das Bürer Kapellvolk, die Studenten der Klosterschule und der Landammann von Nidwalden standen weiterhin hinter Apollinaris Morel. Dieser war dennoch vom Rufmord gezeichnet und verließ am 16. April 1788 Nidwalden, meldete sich im Provinzialkloster Wesemlin in Luzern zur Mission nach Syrien an, reiste nach Paris, um Syrisch, Türkisch und Arabisch zu lernen, und wurde an der Eglise Saint Sulpice Pfarrer für ca. 5000 deutschsprachige Bewohner. In den Sog der französischen Revolutionswirren hineingezogen, kam er darin gewaltsam ums Leben.31

IV. Pendente Aufarbeitung der Geisteshaltung Morels Nochmals möge die gewichtige Büchersammlung auf dem Bildnis des Apollinaris Morel betrachtet werden: Der Maler wollte damit auch auf die Belesenheit des Kapuzinerpräfekten der Stanser Klosterschule hinweisen. Auf diese umfangreiche Büchersammlung (ad usum fr. Apollinaris friburg, capuc.) macht auch ein 1967 publizierter Beitrag des westschweizerischen Kapuzinerpaters Ildephonse Ayer aufmerksam.32 Gemäß der publizierten Liste enthält die Büchersammlung 50 Titel, gegliedert in Theologie allgemein (8), Moral (5), Kirchen- und Zivilrecht (4), Philosophie (7), Homiletik (16), Aszese (3) und Vermischtes (7). 15 Titel davon sind der Jesuitenautorenschaft zugeordnet. Die Sammlung 31 Vgl. Peter Lussy: Zwischenstation Stans – auf dem Weg zur Seligkeit. Wirken und Nachwirken des seligen Apollinaris Morel. In: Kapuziner in Nidwalden (wie Anm. 14), S. 85–91. 32 Vgl. Ildephonse Ayer OFMCap: La bibliothèque d’un Bienheureux. In: Fidelis 54 (1967), S. 291– 297.

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zählt 118 Bücher. Die meisten stammen aus den 60er- und 70er-Jahren des 18. Jahrhunderts. Der größte Teil der Sammlung war im Kapuzinerkloster Bulle bis zu dessen Aufhebung 2003 deponiert, fünf im Kapuzinerkloster Fribourg, eines im Kapuzinerkloster Sursee und zwei auf dem Wesemlin in Luzern. Seit 2003 befindet sich die Büchersammlung von Bulle als Sondergut im Provinzarchiv der Schweizer Kapuziner in Luzern. Sie harrt einer notwendig wissenschaftlichen Aufarbeitung. Die überlieferte Büchersammlung Morels zählt zusammen mit dem Stanser Schulbüchlein zu den bedeutendsten historischen Buchbeständen der Schweiz des ausgehenden 18. Jahrhunderts: gewinnbringend für neue Erkenntnisse über die theologische und philosophische Bildungsvermittlung eines Ordensmannes im Zeitalter der Aufklärung und der Revolution.

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Die Beziehung Johann Caspar Lavaters zum Fürstenhof in Dessau, festgehalten in Anekdoten, Tagebüchern und Briefen Fürstin Louise Wilhelmine Henriette von Anhalt-Dessau (1750–1811) war die zweite Tochter des Markgrafen Heinrich Friedrich von Brandenburg-Schwedt (1709–1788) und dessen Gemahlin Leopoldine Marie (1716–1782), Prinzessin von Anhalt. Sie wurde mit fünfzehn Jahren ihrem späteren Gemahl Fürst Leopold III. Friedrich Franz von AnhaltDessau (1740–1817) auf Geheiß des preußischen Königs vorgestellt und heiratete zwei Jahre später im Charlottenburger Schloss zu Berlin den um zehn Jahre älteren Fürsten.1 Gemeinsam ließen sie ab 1769 das Wörlitzer Schloss und ab 1774 auf dem nahe Dessau gelegenen Landsitz Vogelherd das Luisium erbauen. Sie reisten viel und gerne, verwirklichten pädagogische Projekte und zogen Künstler und Gelehrte an den Hof nach Dessau. Trotz gemeinsamer Interessen und des 1769 geborenen Erbprinzen Friedrich (1769–1814) fanden sich die beiden jedoch nie recht zusammen: Fürst Franz widmete sich der Verbesserung seines Fürstentums, indem er zahlreiche Reformprojekte bildungspolitischer, ökonomischer, sozialer, gesundheitsfördernder und ästhetischer Art durchführte und in seinen neu geschaffenen, für das Publikum offenen Parkanlagen das Nützliche mit dem Schönen zu verbinden suchte. Aber er lebte auch in verschiedenen morganatischen Beziehungen, aus denen insgesamt neun weitere, nicht erbberechtigte Kinder hervorgingen, die ebenfalls am Hof erzogen wurden und von denen sieben das Erwachsenenalter erreichten. Louise ihrerseits kümmerte sich um eine verbesserte Bildung v. a. der ärmeren weiblichen Bevölkerung in Dessau, las und schrieb sehr viel, half auch dem Fürsten bei seinen Amtsgeschäften und seiner Bautätigkeit, verließ aber aus gesundheitlichen Gründen lange und gerne das feuchte Klima in Dessau, um nach Meran zur Traubenkur, nach Stuttgart oder aber besonders gerne in die Schweiz oder nach Italien zu reisen. Sie repräsentierte zwar am Hof, wenn es das Protokoll und der Fürst verlangten, zog sich in Dessau aber lieber ins Luisium, später ins Graue Haus zurück oder hielt sich in den neugeschaffenen englischen Parkanlagen des Schlosses auf. Ihr Leben, Denken und Fühlen findet sich mehr oder weniger offen in ihren Briefen und Tagebüchern, in welchen sie auch immer wieder vermerkt, 1 Vgl. Anette Froesch: Kurzbiographie Luise von Anhalt-Dessau. In: Hof – Geschlecht – Kultur. Luise von Anhalt-Dessau (1750–1811) und die Fürstinnen ihrer Zeit. Zusammengestellt von Wilhelm Haefs und Holger Zaunstöck. Hg. im Auftrag des Vorstandes vom Sekretariat der Gesellschaft (Das achtzehnte Jahrhundert 28/2). Göttingen 2004, S. 179–180.

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wie oft und wie schwer sie krank gewesen sei und wie sehr sie unter der ehelichen Zerrüttung gelitten habe. Ende Juli 1783 reiste das Fürstenpaar zum zweiten Mal gemeinsam in die Schweiz, um im nahe Zürich gelegenen Städtchen Baden eine wiederum benötigte Kur anzutreten. Eigentliches Ziel war aber die persönliche Bekanntschaft mit dem in Zürich wirkenden berühmten Pfarrer, Schriftsteller, Physiognomiker und Philosophen Johann Caspar Lavater (1741–1801). Während dreier Monate wohnte die Fürstin auf einem Landsitz bei Zürich,2 besuchte den Pfarrer und Freund regelmässig in seiner Amtswohnung in der „Reblaube“ zu Gesprächen, lernte dessen Freundes- und Bekanntenkreis kennen und korrespondierte nach ihrer Abreise mit ihm über eine längere Zeit täglich.3 Der Fürst seinerseits besuchte mit seiner Reisegesellschaft allein oder zusammen mit seiner Gemahlin und Lavater neben den üblichen Reisezielen in der Schweiz v. a. die Gründungsstätten in der Innerschweiz rund um den Vierwaldstättersee, zudem die Habsburg, Königsfelden, die Klöster Wettingen und Einsiedeln. Auch interessierte er sich für die Hinterlassenschaft der alten Eidgenossenschaft insofern, dass er mittelalterliche oder aus der Renaissance stammende Schweizer Glasfenster sammelte. So wurde jenes von Josias Murer mit dem Schwur der drei Eidgenossen seines Motivs wegen in das Schlafzimmer des Fürsten im Gotischen Haus in Wörlitz gehängt.4 Anhand der verschiedenen Zeitzeugnisse wie den Tagebuchaufzeichnungen der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau5, den Anekdoten aus Lavaters Leben von Anna Barbara von Muralt (1727–1805)6 sowie dem bis heute nicht erschlossenen Briefwechsel7 soll im Folgenden die enge Beziehung Johann Caspar Lavaters zum Fürstenhof von Dessau gezeigt werden. Nicht nur, dass man sich über eine längere Zeit hinweg täglich gesehen hatte und nun in kurzen Zeitabständen Briefe wechselte; man ließ sich auch über enge Vertraute beraten und zog einen weiteren Kreis an Personen mit ein. Zum einen wird dies durch die 2 Vgl. Der Alltag der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau. Ihre Tagebuchaufzeichnungen 1756–1805 zusammengefasst von Friedrich Matthisson. Hg. von der Kulturstiftung DessauWörlitz. Berlin / München 2010, S. 56 [27. August 1783]: „Wir hatten den Auftrag vom Fürsten daselbst eine Campagne zu miethen.“ 3 Vgl. Alltag der Fürstin (wie Anm. 2), S. 58: „14.–20. [Januar 1784] In Wörliz. Es kamen jeden Posttag Briefe von Lavater und gingen welche an ihn ab.“ 4 Vgl. Fürst und Föderalist. Tagebücher einer Reise von Dessau in die Schweiz 1783 und der Bund der Eidgenossen als Modell im Alten Reich. Hg. und kommentiert von Anna Franziska von Schweinitz unter Mitarbeit von Conrad Ulrich. Zürich 2004, S. 18. 5 Vgl. Fürst und Föderalist (wie Anm. 4); Alltag der Fürstin (wie Anm. 2). 6 Johann Caspar Lavater. Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe. Ergänzungsband: Anna Barbara von Muralt (1727–1805). Anekdoten aus Lavaters Leben. Hg. von Ursula Caflisch-Schnetzler und Conrad Ulrich. 2 Bde. Zürich 2011. 7 Vgl. Zentralbibliothek Zürich (ZBZ) FA Lav Ms 519: Louise von Anhalt-Dessau an Johann Caspar Lavater (Exzerpte: FA Lav Ms 594.13); FA Lav Ms 572: Johann Caspar Lavater an Louise von Anhalt-Dessau (Exzerpte: FA Lav Ms 592.15).

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Berufung von Lavaters Zögling Johann Caspar Häfeli als Hofkaplan nach Wörlitz und Bremen deutlich; zum anderen durch jene von Johann Jacob Stolz als Pfarrer nach Offenbach und später Bremen. Dass Lavater als Seelsorger und Vermittler auch die Ehe des Fürstenpaares verbessern helfen sollte, zeigen der Briefwechsel mit der Fürstin sowie zahlreiche Briefexzerpte, welche sich heute noch in der Zentralbibliothek Zürich befinden. Was zur späteren Trennung zwischen Lavater und Fürstin Louise geführt hat, kann hier nur angedeutet werden. Die zitierten Textstellen geben aber einen ersten wichtigen Aufschluss darüber. Wichtige weitere Zeugnisse der Beziehung Lavaters zum Hof in Dessau (welche sich ebenfalls in der Zentralbibliothek Zürich befinden) wären einerseits die Korrespondenz zwischen Lavater und Fürst Franz,8 andererseits diejenige zwischen dem Zürcher Pfarrer und seinen Zöglingen Häfeli9 und Stolz.10 Diese ebenfalls noch nicht erschlossenen Zeitdokumente in diesen Beitrag mit aufzunehmen hätte jedoch den hier gesetzten Rahmen bei weitem gesprengt. Im Jahr ihrer ersten Begegnung 1783 stand Johann Caspar Lavater auf dem Zenit seines Ruhms. Die wichtigsten seiner zahlreichen Werke waren geschrieben,11 er selbst war zum Diakon an die Stadtkirche St. Peter gewählt worden. So gingen denn täglich unzählige Freunde, Bekannte und Fremde, Adlige und Gelehrte in der „Reblaube“ ein und aus,12

8 Vgl. ZBZ FA Lav Ms 518: Leopold Friedrich Franz von Anhalt Dessau an Johann Caspar Lavater (Exzerpte: FA Lav Ms 594.13); FA Lav Ms 572: Johann Caspar Lavater an Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau (Exzerpte: FA Lav Ms 592.14). 9 Vgl. ZBZ FA Lav Ms 510: Johann Caspar Häfeli an Johann Caspar Lavater (Exzerpte: FA Lav Ms 593.54); FA Lav Ms 563: Johann Caspar Lavater an Johann Caspar Häfeli. Vgl. auch FA Lav Ms 27–28. 10 Vgl. ZBZ FA Lav Ms 528: Johann Jacob Stolz an Johann Caspar Lavater (Exzerpte: FA Lav Ms 592.41); FA Lav Ms 583: Johann Caspar Lavater an Johann Jacob Stolz. 11 In Europa bekannt wurde Lavater erstmals mit seinem vierbändigen utopischen Werk Aussichten in die Ewigkeit, welches er 1768 begonnen und mit dem Revisionsband 1778 abgeschlossen hatte. Berühmt wurde Lavater aber auch mit seinen beiden Tagebüchern, mit den Schweizerliedern, mit seinen Briefen über das Basedowsche Elementarwerk und seinen veröffentlichten Predigten, besonders aber mit seinem vierbändigen Werk, den Physiognomischen Fragmenten. Vgl. dazu Johann Caspar Lavater: Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe. Bd. 1/1 und 1/2: Jugendschriften. Hg. von Bettina Volz-Tobler. Zürich 2008/2009; Bd. 2: Aussichten in die Ewigkeit (1768–1773/78). Hg. von Ursula Caflisch-Schnetzler. Zürich 2001; Bd. 3: Werke 1769–1771. Hg. von Martin Ernst Hirzel. Zürich 2002; Bd. 4: Werke 1771–1773. Hg. von Ursula Caflisch-Schnetzler. Zürich 2009; Ergänzungsband: Bibliographie der Werke Lavaters. Verzeichnis der zu seinen Lebzeiten im Druck erschienenen Schriften. Hg. von Horst Weigelt / Niklaus Landolt. Zürich 2001. 1783 arbeitete Lavater v. a. an dem vierbändigen Werk Pontius Pilatus. Oder die Bibel im Kleinen und Der Mensch im Großen; Bd. 6/1. Hg. von Christina Reuter [in Vorbereitung]. 12 Von 1784 bis Anfang Dezember 1800 führte Lavater ein Fremdenbuch, in welches sich die Besucher und Besucherinnen seines Hauses mit Namen, zumeist Datum und weiteren Zusätzen eintrugen.

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und auch der Bote brachte immer dichter werdende Postsendungen aus ganz Europa.13 Lavater selbst schätzte und genoss in manch einem Moment seine Popularität als Prediger und Schriftsteller, als Seelsorger und Gelehrter, oft jedoch stöhnte er über seine beinahe nicht mehr zu ertragende Belastung und veranlasste auch, dass keine weiteren Korrespondenzen dazukamen.14 Unter seinem ständig wachsenden Arbeitsdruck leidend, schreibt er am 4. Februar 1783 an seine Cousine Anna Barbara von Muralt: „Ich muß alle meine Freünde bitten, flehen – nicht nur Geduld mit mir zuhaben – bitten, flehen muß ich sie, für mich zubethen u: zuflehen, daß ich nicht erliege. Jedes Gran zu meinen Lästen drückt mich.“15 In einem anderen Brief beschreibt er bildlich, wie unendlich viel er täglich schriftlich zu erledigen hat: „Ich kann sagen, daß mir das Blut zu den Fingern ausspritzt.“16 Gleichzeitig plagte ihn 1783 auch sein schon lang anhaltender und immer wiederkehrender Husten, dem er mit Kuren, besonders aber mit Ruhe begegnen will: „Izt geh’ ich auf Oberried – dann auf Richtersweil, um so Gott will, meinen unerträglich werdenden Husten zuvertrinken.“17 Dennoch begab sich Lavater auch in diesem Jahr auf Reisen18 und erwartete mit Freuden den Besuch verschiedenster Fremder,19 besonders aber jenen des Fürstenpaares aus Dessau. Dem Fürstenpaar selbst hatte Lavater bereits 1778 den letzten Band seiner vierbändigen Physiognomischen Fragmente gewidmet.20 Die erste Begegnung mit Fürstin Louise fand am 4. August 1783 in Baden statt, wohin Lavater zu Besuch kam: „Der Fürst brachte Lavatern zum Mittagessen und dies war meine erste Bekanntschaft mit ihm.“21 Fürstin

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Vgl. Johann Caspar Lavater: J.C Lavaters Fremdenbücher. Faksimile-Ausgabe der Fremdenbücher & Kommentarband. Hg. von Anton Pestalozzi. 8 Bde. Mainz 2000. Lavater (wie Anm. 6), Ergänzungsband: Johann Caspar Lavater (1741–1801). Verzeichnisse der Korrespondenz und des Nachlasses in der Zentralbibliothek Zürich. Hg. von Christoph Eggenberger und Marlis Stähli. Zürich 2007. Ulrich Hegner schreibt in seiner Biographie, dass „doch immer zwischen 400–600 unbeantwortete Briefe vor ihm [Lavater]“ lagen. Ulrich Hegner: Lebensbeschreibung, 1752–1798. Stadtbibliothek Winterthur. BUH 62 (Handschrift), S. 173. Vgl. dazu Lavater: Unveränderte Fragmente. In: Ders. (wie Anm. 11), Bd. 4, S. 745–1051, hier S. 774, Anm. 78. Lavater (wie Anm. 6), Bd. 2, S. 478, Brief Nr. 152. Ebd., S. 479, Brief Nr. 157. Ebd., S. 480, Brief Nr. 166. Vgl. ZBZ, FA Lav Ms 16.5a: Urkunden zu meiner Lebensgeschichte. 1783. Reise von Zürich nach Offenbach vom 10ten bis zum 23.ten Brachmonats [Juni] bis zum Abschied von [Sohn] Heinrich, sowie Reise von Frankfurt bis Langensteinbach. Vgl. auch FA Lav Ms 21: Reise nach Süddeutschland, 1783. Vgl. Lavater (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 185–218. Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, von Johann Caspar Lavater. 4 Bde. Leipzig und Winterthur 1775–1778. Vierter Versuch. Mit vielen Kupfern. Leipzig und Winterthur, 1778: „An den Fürsten und die Fürstinn zu Dessau.“ Alltag der Fürstin (wie Anm. 2), S. 55; vgl. auch Fürst und Föderalist (wie Anm. 4), S. 80.

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Louise hatte sich aber schon einige Jahre früher ausführlich mit Lavaters Schriften auseinandergesetzt22 und auch erste Briefe gingen nachweislich bereits früher in Dessau ein.23 Das Fürstentum Dessau, zwischen Berlin, Magdeburg und Leipzig an den Flüssen Mulde und Elbe gelegen, war mit nicht einmal ganz vierzigtausend Einwohnern eines der kleinsten der über dreihundert Fürstentümer im Alten Reich. Da der Adel jedoch weitgehend fehlte, konnte Fürst Franz mehr oder weniger frei seine der Aufklärung verpflichtete philosophische Anthropologie auf den verschiedensten Gebieten durchführen. Als Bauherrn zog er Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff (1736–1800) an seinen Hof. Für eine pädagogische Neuorientierung im Fürstentum sorgte Johann Bernhard Basedow (1724– 1790),24 welcher mit seinen konkreten pädagogisch-didaktischen Vorschlägen 1774 zusammen mit Christian Heinrich Wolke (1741–1825) das Philanthropin in Dessau eröffnete, in welchem auch Erbprinz Friedrich erzogen wurde.25 Der Basler Ratsschreiber und gelehrte Publizist Isaac Iselin (1728–1782) und Johann Caspar Lavater unterstützten von der Schweiz aus sowohl ideell als auch materiell das Schul- und Publikationsprojekt Basedows26 und gaben 1771 Einige Briefe über das Basedowsche Elementarwerk in Zürich heraus.27 Lavater lernte den Reformpädagogen auch persönlich kennen, der ihm äußerlich

22 Vgl. Alltag der Fürstin (wie Anm. 2), S. 50 [3. April 1781]: „Meine Lektüre bestand meistens in Taulers, Oberreits, Hahns, Lavaters u. a. dergl. Schriften.“ S. 51 [14. November 1781]: „Meine Lectüre war jetzt Pfenningers Magazin, Lavaters Gedichte und über die Wundergaben, welche schon seit einigen Jahren abwechselnd mich angenehm unterhalten hatten.“ S. 52 [3. April 1782]: „Meine gewöhnliche Lektüre waren immer noch Lavaters und Hahns Schriften und die Mesiade.“ Vgl. ZBZ FA Lav Ms 594.13: „[…] Hier size ich nun u. schreibe dem mir schon lange Bekanten, doch vor Monaten erst sehbar gewordnen Freünd, […].“ 23 Vgl. Alltag der Fürstin (wie Anm. 2), S. 52 [13. Juli 1782]: „Ich erhielt vom Fürsten einen sehr frohen Brief aus Zürich, nebst zwei Zeilen Einlage von Lavater.“ 24 Auch Fürstin Louise trug mit eigenem Kapital zur Finanzierung des Philanthropins bei. Vgl. Alltag der Fürstin (wie Anm. 2), S. 31 [8. September 1771]: „Der Cammerrath Dietz brachte mir von meinem Vater die noch rückständigen 15 000 Rthl. meiner Mitgift, von welcher Summe, wie ich denn schon beim ersten Projekt der Basedowschen Schulanstalt meine Mitgift dazu angeboten, mir der Fürst 12 000 Rthl. sogleich überließ, um diese zum Besten besagter Anstalt zu verwenden.“ 25 Vgl. Alltag der Fürstin (wie Anm. 2), S. 47 [27. Dezember 1779]: „Der Geburtstag meines Sohns ward durch ein großes Diner und Abends mit einigen Gespielen aus dem Philanthropin gefeiert.“ 26 Johann Bernhard Basedow: Anfang der Arbeit am Elementarbuche zur Verbesserung des Schulwesens. Berlin 1769; ders.: Des Elementarbuchs für die Jugend und für ihre Lehrer und Freunde in gesitteten Ständen erstes, zweites und drittes Stück. Altona 1770; ders. Des Elementarwerks erster, zweiter, dritter, vierter Band. Ein geordneter Vorrat aller nötigen Erkenntnis zum Unterrichte der Jugend, von Anfang, bis ins academische Alter, zur Belehrung der Eltern, Schullehrer, Hofmeister, zum Nutzen eines jeden Lesers die Erkenntniß zu vervollkommnen. In Verbindung mit einer Sammlung von Kupferstichen, und mit französischer und lateinischer Uebersetzung dieses Werks. Dessau 1774. 27 Vgl. Lavater (wie Anm. 11), Bd. 3, S. 355–428.

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zwar sehr unähnlich,28 in seinen Vorstellungen zur Verbesserung des Schulwesens und der Erziehung der Kinder jedoch sehr nahe kam. Auch den Leipziger Aufklärungstheologen Georg Joachim Zollikofer (1730–1788), immer wieder Gast am Dessauer Hof,29 kannte Lavater bereits seit Anfang der 1770er Jahre. Zollikofer, der als Kern seines Menschenverständnisses das Streben nach Glückseligkeit und Vollkommenheit vertrat, hatte Lavater schon früh als Mentor gefördert und mehrere von Lavaters Schriften in Deutschland publiziert.30 Nicht nur über diese gemeinsamen Bekannten wird Lavater am Hof von Dessau schon in den siebziger Jahren bekannt und publizistisch eingeführt gewesen sein, sondern auch wegen der Belesenheit des Fürstenpaars, besonders von Fürstin Louise, die sich selbst sehr genau über die neueste Literatur informierte.31 Louise gehörte neben Königin Sophia Charlotta von England und Zarin Katharina II. von Russland auch zum Kreis der Förderinnen um die von Sophie von La Roche publizierte Frauenzeitschrift Pomona,32 pflegte nicht nur den vertrauten Umgang mit Gelehrten, Literaten, Musikern und Malern, sondern führte selbst eine Bibliothek, in welcher v. a. französische und deutsche Neuerscheinungen und viel Reiseliteratur zu finden waren.33 In ihren zahlreich verfassten Briefen spricht sie aber nicht nur über Literatur, Geschäftliches, ihren Alltag und ihre Lektüre, sondern ganz konkret auch über ihre eigene Befindlichkeit. Aus den Antwortbriefen Johann Georg Zimmermanns (1728–1795) an Louise (Zimmermann war gemeinsam mit dem Musiker Johann Friedrich Reichardt (1752–1814) und Lavater einer der engsten Freunde der Fürstin) wissen wir von der außerordentlichen Bedeutung ihrer schriftlichen Korrespondenz, die, mit den Worten des

28 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit. Hg. von Walter Hettche. Stuttgart 1998, S. 660–661: „Aber ich sollte so bald nicht zur Ruhe kommen: denn Basedow traf ein, berührte und ergriff mich von einer andern Seite. Einen entschiedneren Kontrast konnte man nicht sehen als diese beiden Männer. Schon der Anblick Basedows deutete auf das Gegenteil. Wenn Lavaters Gesichtszüge sich dem Beschauenden frei hergaben, so waren die Basedowischen zusammengepackt und wie nach innen gezogen. Lavaters Auge war klar und fromm, unter sehr breiten Augenlidern, Basedows aber tief im Kopfe, klein, schwarz, scharf, unter struppigen Augenbrauen hervorblinkend, dahingegen Lavaters Stirnknochen von den sanftesten braunen Haarbogen eingefaßt erschien.“ 29 Vgl. Alltag der Fürstin, S. 31 [21. August 1771]: „Ich machte auch jetzt die Bekanntschaft des redlichen Zollikofers, reformirten Predigers in Leipzig, der nach Dessau gekomen war.“ S. 55 [4. August 1783]: „Zollikofer, der gerade durchreiste, besuchte uns auch.“ 30 So veröffentlichte Zollikofer u. a. 1771 Lavaters Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst und 1773 dessen Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst. Vgl. Lavater (wie Anm. 11), Bd. 4. 31 Vgl. Alltag der Fürstin (wie Anm. 2). 32 Pomona für Teutschlands Töchter. Hg. von Sophie von La Roche. Speyer 1783–1784. 33 Vgl. York-Gothart Mix: Literatur als Lebensgefühl. Die literaturbegeisterte Frau am Hofe zwischen sozialem Distinktionsbedürfnis und empfindsamem Eskapismus. In: Hof – Geschlecht – Kultur (wie Anm. 1), S. 181–189, hier S. 182; vgl. Bärbel Raschke: Privatbibliothek und Lektüre der Fürstin Luise von Anhalt-Dessau. In: Ebd., S. 206–217, hier S. 211–212.

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Schweizer Arztes und Aufklärers, „beynahe den persönlichen Umgang“ ersetzte.34 So finden sich in den noch erhaltenen Briefen35 von und an Lavater zahlreiche Beschreibungen von und Fragen zu Louises Befinden. Auch in den Tagebuchaufzeichnungen sind Bemerkungen zu ihrem physischen und psychischen Zustand verzeichnet. 1798 hatte Fürstin Louise beschlossen, einen „trockenen Auszug aus meinen Tagebüchern zu machen“ und wandte dazu nun täglich „3 bis 4 Vormittagsstunden an“.36 Abgeschrieben wurden diese Auszüge von dem Dichter Friedrich Matthisson (1761–1831), welcher seit 1786 als Sekretär und Reisemarschall in ihren Diensten stand. Die einzelnen Tagebucheinträge der Fürstin sind zumeist kurz und sachlich. Einzig, was ihren Sohn, ihre spätere Schwiegertochter Christiane Amalia, geb. Hessen-Homburg (1774–1846), und ihre Enkelkinder anbelangt, spürt man in den niedergeschriebenen Zeilen eine tiefere Zuwendung. Was den Fürsten betrifft, so werden mehr oder weniger jede Begegnung und die zumeist für sie daraus resultierenden Folgen notiert. So frei sich die Fürstin in Dessau bewegen konnte, so musste sie dennoch für viele persönliche Anliegen die Erlaubnis des Fürsten einholen. Zum einen entschied der Fürst über ihre Apanage und ihre gesellschaftliche Umgebung37 und bestimmte zudem, ob sie das erwartete zweite Kind stillen dürfe;38 auf der andern Seite nahm die Fürstin ohne Nachfrage ein Findelkind auf, um es am Hof in Dessau zu erziehen.39 Die meisten Einträge im Tagebuch handeln jedoch von ihrer Befindlichkeit, ihren körperlichen und seelischen Schmerzen. Die Fürstin war Tage und Wochen lang krank, litt an ihren Zähnen, die ihr einzeln und bis zu ihrem fünfzigsten Lebensjahr vollständig gezogen wurden,40 und an der Unfä34 Wilhelm Haefs und Holger Zaunstöck: Vorbemerkung. In: Ebd., S. 166. 35 Fürstin Louise war sich der Bedeutung ihres Nachlasses sehr bewusst. So verbrannte sie immer wieder Dokumente, die ihr nicht für fremde Augen geeignet schienen. Vgl. Alltag der Fürstin (wie Anm. 2), S. 107: „2. [Juni 1802] Ich hielt, mit Hilfe der Gen. Raumer eine Generalverbrennung von Papieren und Briefen, worunter die ihrigen sich auch befanden.“ Es ist anzunehmen, dass Louise sowohl die Briefe Lavaters als auch ihre zurückgeforderten eigenen Briefe verbrannt hat. Glücklicherweise wurden in Zürich Exzerpte gemacht, auf welche man sich heute stützen kann. 36 Alltag der Fürstin (wie Anm. 2), S. 93 [19. Dezember 1798]. Die Quellschrift befindet sich im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Dessau unter der Signatur: Abt. Dessau A 9e Nr. 15 (19). Vgl. Alltag der Fürstin (wie Anm. 2), S. 7. 37 Vgl. ebd., S. 49 [7. Januar 1781]. 38 Vgl. ebd., S. 45 [26. August 1778]: „[…] Ich fing an die Glaspumpe anzusetzen, weil der Fürst mir diesmal erlaubt hatte das Kind selbst zu säugen.“ 39 Vgl. ebd., S. 46: „31. [Oktober 1778] Ich fuhr mit der Albert nach Tornau, um ein kleines Kind zu sehen, das im vorigen Jahr, in einer Schachtel, neugeboren um Weihnachten auf der Landstraße vor gefunden worden. Man hatte ihm in der Taufe den Namen Christine beigelegt. Ich beschloß die Erziehung des armen Fündlings zu übernehmen und nannte sie, wegen ihrer glücklichen Lebenserhaltung Glücken.“ 40 Vgl. ebd., S. 99 [3. Juni 1800]: […] Die Pein im Munde ward immer heftiger und ich musste die letzten schmerzhaften Zähne herausreissen. Da ich fürchtete nachher nicht mehr deutlich reden zu

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higkeit der Ärzte, die u. a. für eine bis dahin diagnostizierte Schwangerschaft eine erfahrene Hebamme hinzuziehen mussten, um die Symptome als Krankheit zu erkennen,41 der Fürstin aber dauernd schmerzhafte und unangenehme Therapien verschrieben.42 Einzig die Wasser- und Traubenkuren und die damit verbundene Abwesenheit aus Dessau halfen ihr, sich immer wieder von ihren Leiden zu erholen. So nahm sie schwierige und komplizierte Reisewege in Kauf und scheute die schlechten Straßen und die immer wieder brechenden Wagenachsen und Unfälle nicht, um in angenehmere Klimazonen zu gelangen. Zudem freute sie sich auf Begegnungen mit Bekannten und Freunden, auf neue Landschaften und eine Zeit ohne bedrückende Gespräche, denn physisch und psychisch belasteten die Fürstin schon früh vor allem die Auseinandersetzungen mit dem Fürsten.43 Auf dessen Vorschlag reisten sie beide 1783 in die Schweiz zu Lavater, um wohl einen letzten Versuch zu unternehmen, ihre bereits zerrüttete Ehe wieder in Ordnung zu bringen.44 Diese für alle glücklich verlaufenden drei Monate hielten nicht nur die Eheleute in ihren jeweiligen Aufzeichnungen fest, sondern auch der uneheliche Sohn des Fürsten, Franz von Waldersee (1764–1824), sowie Anna Barbara von Muralt und Anna Barbara Schulthess (1765–1792), die älteste Tochter von Bäbe Schulthess, geb. Wolf (1755–1818), aus dem „Schönenhof“ in Zürich, wo die Fürstin häufig und gern gesehen war.45 Vergleicht man die vier Aufzeichnungen miteinander, so fällt auf, dass sich der Fürst und die Fürstin wie auch von Muralt sach- und personenorientiert jeweils auf Begebenheiten konzentrieren und diese festzuhalten suchen, während die junge Tagebuchschreiberin Barbara Schulthess ihren Gefühlen freien Lauf lässt. Findet man bei Franz von Waldersee z. B. am 5. Oktober 1783 die sachliche Bemerkung, dass man nach Häfelis Predigt in den „Schönenhof“ zum Essen gegangen sei, danach „wie üblich in Lavaters Predigt“ und den Abend „in der Reblaube verbracht“ habe, so schreibt die Fürstin dasselbe in wenigen Wor-

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können, auch sehr durch diesen Verlust entstellt zu werden, so ging ich mit Schmerz und Schaudern an diese nächtliche Operation.“ Vgl. ebd., S. 45 [10. Oktober 1778]: „Ich fuhr mit der Albert und der Scheifler nach dem Vogelheerd, wohin Kretschmar [Louises Leibarzt] eine geschickte und erfahrene Hebamme aus Zerbst hatte kommen lassen. Diese erklärte nach angestellter Untersuchung meine Schwangerschaft für falsch. Es war also Krankheit und diese Vorstellung machte mich sehr traurig.“ Vgl. ebd., S. 66 [24. Oktober 1787]: „Ich mußte eine Arznei, von Schnecken gemacht einnehmen, befand mich aber nicht wohl darnach.“ Vgl. ebd., S. 95 [22. Mai 1799]: „Über mich hatte das äskulapische Concilium beschlossen, daß ich zur Ader lassen müsse; hierauf solle ich nach Eger gehen und da meine weiteren Maßregeln, den Zeitläufen gemäß, nehmen.“ Vgl. auch ebd., S. 11. Ende 1785 erlitt die Fürstin nach einer Besprechung mit dem Fürsten, in der es um ihre Zukunft und diejenige ihres Sohnes ging, einen Gehörsturz, von dem sie sich nie mehr recht erholen sollte. Vgl. ebd., S. 62–63, 3. Dezember 1785 bis 15. März 1786. Vgl. auch ebd., S. 62: „11. [November 1785] Der Fürst kam wieder. Es begannen nun für mich besonders schlimme Tage.“ Vgl. ebd., S. 53: „1. [Mai 1783] Nach einer langen, aus des Herzens Tiefen quillenden Unterredung mit dem Fürsten, zu welcher er Anlaß gab durch den Vorschlag mit mir zu Lavater zu reisen […].“ Vgl. Fürst und Föderalist (wie Anm. 4); Lavater (wie Anm. 6), Bd. 1.

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ten und auch von Muralt hält den gleichen Sachverhalt in nur drei Zeilen fest.46 Die junge Tagebuchschreiberin Barbara Schulthess jauchzt dagegen vor Freude über Häfeli, der „herrlich predigte“. Sie vermerkt, dass die ganze Gesellschaft mit der „Engelsfürstin“ später noch zu ihnen in den „Schönenhof“ zum „mittageßen“ kam, man zusammen musiziert habe und sie aus den „lieben Händen“ der lieben Fürstin einen Fächer geschenkt bekam, welchen diese „lange getragen“ und sie sich deshalb darüber so „innigst freute“. Und Barbara Schulthess fährt fort: „Ich blieb den Abend bey der Reblaub bis ich mit Ihnen heimfahren durfte – u: der liebsten [Fürstin] ihre Hand m[ir] noch ein wenig zu theil ward – Ich weiß nicht wie mir die[sen] Abend war – alle Augenblike hätte ich anfangen können zu wein[en] mußte immer denken – das die lieben beyden – u: die beste – mir unsausprechlich liebe fürstinn vielleicht bald weg müßen wie weh wird’s mir thun. –“47 Nach täglichen gemeinsamen Stunden mit Lavater und mehreren Unterredungen zu dritt mit dem Fürsten48 reiste die Gesellschaft getrennt am 4. November 1783 über Schaffhausen, Straßburg, Karlsruhe, Heidelberg, Offenbach, Weimar und Leipzig nach Dessau zurück. Man vereinbarte, sich regelmäßig zu schreiben, um die Freundschaft und Vertrautheit weiterhin über den Briefkontakt zu pflegen. Zahlreiche Briefe müssen in den folgenden Jahren zwischen dem Fürstenhof in Dessau und Zürich verschickt worden sein. Die wenigen sich heute noch im Nachlass Lavaters in der Zentralbibliothek Zürich befindenden Briefdokumente zeugen von dieser tiefen und vertrauten Freundschaft und sollen daher hier zum ersten Mal publiziert werden.49 Lavater an Fürstin Luise von Anhalt Dessau: FA Lav Ms 572, Brief Nr. 182 [Abschrift] Anhalt Deßau Luise 18.VIII. 1783. Hier, meine fürstliche Freundinn, etwas Gerippe u: Gefäß, von der gestern, über den mir vorgeschlagnen Text, gehaltnen Predigt. Hier abgeschrieben, der, den 15. Aug: mit Bleystift geschriebenen, Angst u: Glaubensausguß meines Herzens; er hat nicht die mindeste Beziehung auf die Unterredung. Gestern sonntags gieng viel, 46 Vgl. Fürst und Föderalist (wie Anm. 4), S. 154; Lavater (wie Anm. 6) Bd. 1, S. 210. 47 Vgl. Fürst und Föderalist (wie Anm. 4), S. 154. 48 Vgl. Alltag der Fürstin (wie Anm. 2), S. 57 [26. Oktober 1783]: „Abends in Lavaters Predigt und nachher eine lange Unterredung mit ihm und dem Fürsten.“ 49 Die Transkriptionen erfolgten diplomatisch getreu. Lediglich die Groß- und Kleinschreibung wurde der heutigen Regelung angepasst. Die von den Verfassern hervorgehobenen Stellen wurden kursiv gesetzt, gebräuchliche Kürzel ausgeschrieben, individuell abgekürzte Formen jedoch belassen. Verdoppelungszeichen wurden durch Doppelschreibung wiedergegeben, eindeutige Ligaturen aufgelöst. Unleserliche Stellen wurden mit einem x in spitzige Klammern gesetzt . Bei Verwendung von lateinischen Buchstaben werden diese im Druck durch eine andere Schrifttype hervorgehoben. Alle von der Herausgeberin gemachten Zusätze stehen in eckigen [ ] Klammern. – Ganz herzlichen Dank an Frau Ruth Häusler und Frau Marlis Stähli von der Handschriftenabteilung der ZBZ für die Hilfe beim Entziffern schwieriger Textstellen.

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keinem Menschen Bemerkbares, in mir vor – ehe u: da der Fürst allein bey mir war. Große Leiden u: Freüden scheinen mir nahe zu seyn. Ich halte mich am ersten nächsten Momente. Die Predigt kommt spätestens am Donnstag zurük – wo ich mit Euch, ihr immer Lieben, ach nicht ganz Glücklichen, einen friedlichen halben Tag zuzubringen hoffe. Nahe dich uns nicht, Geist des Zwanges u: mißtrauischer Berechnung . . Geist der frohen, reinen Liebe, u: des furchtlosesten Wesens sey mit uns! Franzens Edelsinn wiederscheine vor Deinem angstfreyen Angesichte, nicht genug gekannte Luise! – und Dein freyerer, unbewölkterer Blik erkenne in ihm den aufrichtigsten aller Sterblichen, den Lavater lieben müßte, wäre möglich, was unmöglich ist, daß die arglose Luise für den arglosen Franz keinen Sinn hätte. … Rinnt Dir eine Zähre vom Aug – so lege sie auf Franzens Wangen nieder, u: sage … „bald wird unsre Stunde kommen“ – Amen! Ja! Amen! Z. den 18 Aug[st]en 1783. L. FA Lav Ms 572, Brief Nr. 183 An Fürstin v. Dessau. 28. VIII. 1783. Das hätt ich wohl nicht gedacht, daß ich und meine Frau im August 1783 der Fürstinn von Dessau eine Haushaltung einzurichten bestimmt wären. Das Unvorhergesehenste geschieht immer – dennoch gieng im Teinach einmahl eine Ahndung dieser Art ganz direkt durch meine Seele . . Wir befinden uns, wie in einer Apotheke. Das Eine erliest Caffée – das Andere stößt Zukker. Es ist recht possierlich anzusehen – Hier ein Briefchen an Franz. Die Innlage an den ErbPrinz muß der Page selbst übergeben. Viel kann ich nicht schreiben. Ich mußte die Nacht zweymahl zu Kranken und heute noch zu manchem. Allso kein Wort weiter, als: „Friederich werde von der beßten Mutter herzlich von mir, d. i. in meinem Namen und an meinerstatt geküßt und geseegnet“ – Blutet die Wunde noch? …. Nun einige Tropfen Balsams warten auf Sie morgen Abend allso … werd ich Sie, so Gott will, in Empfang nehmen. Gott seegne jeden Moment, den Sie in unserer Gegend zubringen werden. Den 28 Augsten 1783. JCL. FA Lav Ms 572, Brief Nr. 184 [Abschrift] Auf den hohen und freüdenvollen Gebuhrts Tag Ihro Hochfürstlich Durchlaucht von Anhalt Deßau Louisa Henrietta Wilhelmina Hohe Gemahlin Ihro Fürstlich Durchlaucht Leopold Friedrichs von Anhalt Deßau Den 24 Sept. 1783 Gesegnet sey der frohe Tag! Dem jeder Jubel singen mag. Daran gefeyret wird das Fest Der Hoh’n Gebuhrt aufs allerbest, In Stille und Gottseligkeit, Darzu nur Gottes Freünd bereit. Der Tag, der seye voller Glanz An dem die Freüd soll werden ganz. Der Tag sey auch voll Lust und Wonne, Stets schein ob Deßaus Haus die Sonne.

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In diesem hohen Fürsten Haus Weich Gottes Segen nie heraus Die hohe Dam sey höchst beglükt In allem dem, was Gott zuschikt. Ihr Fürsten Herz wird immer vester Von dem, der heißet Allerbester. Sie leb mit dero Ehgemahl Der Jahren eine große Zahl Zum Nutzen Segen allezeit Den Prinzen und dem Land bereit. Ihr jauchzt man zu mit tausend Freüden! Daß Gott ob Ihnen walte Beyden! Mit seiner theürsten Huld und Gnad, Im höchsten und vollkomnen Grad, Es freü sich Zürichs unsre Stadt Die solch ein Glük erlanget hat: Daß innert deßen Wäll und Mauren, Der Aufenthalt so lang mögt dauren! Bis daß der hohen Fürstinn Sinn Dring stark auf all Bewohner hin, Und sich der Segen weit verbreite, Des Gottes, der ihr gab Geleite. Geleite auf der ganzen Reiß Zu seines Namens Lob und Preis. FA Lav Ms 572, Brief Nr. 185 Anhalt | Deßau | Fürstin | 18. An J. D. h. die Fürstin v. Dessau, im Falle, daß Sie meinen Sohn so glüklich macht, ihn in Frankfurth oder Offenbach zu sehen. Allso hat mein Sohn, mein einziger, die Freude, Ihnen unvergeßliche Luise, diese Zeile zu überreichen. Ich weiß, wie Sie sich dabey benehmen. Ich seh’ in diesem Moment in Ihr Innerstes. Mit einer schönen Trähne fällt ein kräfftiger Seegen auf den, der meine Hoffnung und meines Alters Stüze ist. d. 18 Oct. 1783 JCL. FA Lav Ms 572, Brief Nr. 186 [Abschrift] Für Luise durch Franz. Jeder Tag, der niedersteiget Von des Lichtes reinerm Quell, Leüchte, bis er hin sich neiget, Dir, als Bote Gottes, hell! Jede schwere, lange, trübe Stunde mache kurz und leicht

Anhalt Deßau Luise. 1.1.1784.

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Auf den Neüjahrstag 1784.

Exzerpte: FA Lav Ms 592.15 [Heft 1] An Louise v Anhalt Deßau 1781. Ein guter Mensch bittet mich, l. Fürstin, um eine Zeile an Sie – Ehe Sie diese Zeilen haben, sehen wir uns vermuthlich in unsern zweischeneinlaufenden [dazwischen einlaufenden] Briefen – wann! Wann – niemal’ von Angesicht zu Angesicht? – Behalten Sie mich in gutem Andenken – u. glauben Sie daß ich von Herzen sey Ihr [L] 1783. Hier m. fürstliche Freundinn etwas Gerippe u. Gefäß, von der gestern über den mir vorgeschlagenen Text gehaltnen Predigt. Hier abgeschrieben, der, den 15. Augst mit Bleystift geschriebnen, Angst u. Glaubens Ausguß m. Herzens; er hat nicht die mindeste Beziehung auf die Unterredung. Gestern Sonntags gieng viel keinem Menschen Bemerkbares in mir vor – ehe u. da der Fürst allein bey mir war. Große Leiden u. große Freuden scheinen mir mehr zu seyn. Ich halte mich am ersten nächsten Momente. Die Predigt komt spätestens am Daistag [Donnerstag] zurük – wo ich mit Eüch ihr immer Lieben, ach nicht ganz Glüklichen, einen friedlichen halben Tag zuzubringen hoffe. Nahe dich uns nicht Geist des Zwangs u. mißtrauischer Berechnung – Geist der frohen, reinen Liebe, u. des furchtlosesten Wesens sey mit uns. Franzens Edelsinn wiederscheine von Deinem angstfreyen Angesichte nicht genug gekannte Louise! u. Dein freyer, unbewölkter Blick erkenne in ihm den Aufrichtigsten aller Sterblichen, den Lavater lieben müßte, wäre möglich, was unmöglich ist, daß die arglose Louise für den arglosen Franz keinen Sinn hätte. Rinnt Dir eine Zähre vom Auge – so lege sie auf Franzens Wangen nieder, u. sage – „bald wird unsere Stunde kommen.“ – Amen! Ja! Amen! Du bist also nicht mehr da, Lieb! Ferner bist Du, als je, u. dennoch naher, als je – weniger u. dennoch mehr da als je. || Wenn dem Gegenwärtigen das Herz klopft, so klopft es dem Abwesenden noch viel mehr. Unser Herz ist zum Glauben noch mehr gebildet, als zum Lieben. Der Glaube stammt u. zielt zum u. aus dem Reiche des Unsichtbaren u. Ewigen. Jetzt Liebe, ist Donnerstag Nachmittags 1. Uhr – vor 8 Tagen stiegen wir in [den] Wagen, um nach Schlieren zu gehen. Gott wollte noch, daß Du den Knaben sahest, für deßen Gehör ich heiß flehte. Jetzt bist Du bey Schloßern, der mich m. Schweigens wegen schilt. Ihr – werdet ihn beruhigt haben. Tage des Schweigens u. des Fastens werden auch für Dich kommen – Du edle „Lieberinn“ – Ich hoffe m. Zeilen hie u da haben Dir wohlgethan. Hoffe, daß m. Sohn Dir dies überreichen wird. Hoffe, daß Du ein unsterbliches Wort in s. Seele legen wirst. Hoffe, daß Du größer als je dulden handeln; heißer als je um Liebe zu dem Nächsten flehen wirst. Deines Odems bist Du nicht gewißer, als m. unwandelbaren glaubensvollen Liebe u. Treue – Deine Thränen u. Deine Freüden sollen ewig die meinigen seyn. – – –

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O glücklich m. Sohn, der Dir dieses zu übergeben die Freüde haben wird. Eine Thräne wird ihm u. Dir entstürzen – O Gott! Ich behte an u. hoffe Wiedersehen, wo keine Thräne mehr geweint wird. Amen. Donnerstags abends um 6 Uhr in der obern Stuben – 3. Deiner Porträte vor mir, aber Du nicht. Ach Du nicht! Meine Thränen rinnen. So hab ich nie geliebt! Mehr wird’ ich nie lieben! Aber fürchte keine Verliebtheit. Ich bin wahrlich nicht sinnlich . . Jezt denk’ ich hinaus auf Grab u. Tod u. Wiedersehen, u. danke dem „wunderbaren Führer“ daß er uns wie wir oft sagten, so unglaublich zusammen brachte – Ach! jezt denkst Du gewiß bange u. herzlich an mich – denn m. Augen übergehen mir, u. ich sehe Dich auf Deinen Knieen. Gestern erhielt ich Deinen Brief v. Schaffhausen – Deines Herzens würdig. Alles, was Du thust, ist Dir gleich Dank für alles. Heüt saß ich Longaßen [Longastre]. Es beßert immer; dennoch finds Pf: [Pfenninger] daß vieles fehlt – Du wirst viel u. wenig darin finden. – Ich schreibe Dir viel u. wenig – alles u. nichts. Du bist eine Krone meiner künftigen Seeligkeit. Gehe mir vor u. nach. – – – Soeben hab ich Dein Porträt aufgehängt, an den Pfeiler wo Cölla u. die von der Borch hiengen – daß es gerade vor dem Seßel an der Commode überhängt – gegenüber kommt dann m. Frau Bild. Meines gefalt m. Freünden der Stellung u. Fadheit wegen, nicht ganz – allen scheint es aüßerst kenntlich – aber es dauert noch lange, bis es in Deßau, oder Luisium hängt. Gute Nacht! Engel! Guten Tag! Engel! Sonntags Morgen unmittelbar vor dem Zusammenleüten, welches mich Dich u. Franzen heüt u. Jahre nicht mehr bringt. O Erzliebe – keine Stunde vergeht, daß ich nicht an Dich denke. Kein Tag, daß ich nicht eine Zeile in Dein Büchelgen schreibe. – Das Du aber, wenn ich auch sehr fleißig bin – vor einem Jahr kaum erhalten wirst – Wie geht’s Dir, Liebe? Wie dem Lieben? der Dich mehr lieben, Dir mehr glauben wird, als noch nie – den Du mehr lieben, dem Du mehr Freüde machen wirst, als noch ein Adieu nach der Predigt. Ach: Liebe wie wenig kann ich Dir von m. innerlichen Leiden sagen! Ach wehe ich wäre wie ich seyn sollte – wie gern wollt ich alles für Wahrheit u. Tugend leiden – aber, um seiner selbst willen leiden ist für Herz u: Eigenliebe peinlich. Ich weiß nicht, ob Du dies noch in Frankfurt oder in Weymar erhalten wirst, wo Du seyn wirst, wird Gott mit Dir seyn. Wo Du seyn wirst, wirst Du lieben, u. geliebt seyn. Wo Du seyn wirst, wirst Du an den denken der Dich mehr liebt, als alle Liebenden, u. den Du beßer kennst, als all die mich kennen. Vor 8. Tagen aßest Du noch mit uns – saß ich mit Dir in Deiner Pekesche an Deines u. Franzens Seite. Jezt denk ich Dich in Strasburg bey der persönlichen Güte – Dich, persönliche Liebe! und mich zwischen Eüch beyden. Oder Du bist in Carlsruh u. kleidest Dich jetzt hofmäßig an – u. niemand denkt, welche eingesogne Liebe Deine Brillanten verbergen – aber ein thränenvoller Blick, wenn Du mit mir betetest, ist doch schöner, als alle Brillanten von Deßau und Baden zusammengenommen – u. Duldung der Schwachen noch schöner, als dieser schöne Blick. Ad: Diesen Abend erhielt ich Deine Billiets von Neüstadt. Dank Du mir täglich, stündlich nahe! Wir sprachen immer von Dir u. dem schweigenden fernen Nahen der uns jeden Moment unentbehrli-

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cher wird. – Du weißest, wenn ich meyne! – Habt Ihr mich lieb, so liebt Eüch m. Seele hängt an Eüch. O laßt mich doch bäldigst wißen, wie’s Euch geht – glaubt doch an m. unveränderliche Liebe, wenn ich Eüch auch eine Zeitlang kein Wort schreibe. Alles hier spricht gut u. lieb von Eüch. O daß ich sähe, wie m. Sohn ist, wen er Eüch sieht – wie Eüch ist, wenn Ihr seht! O sagt ihm doch viel Gutes. Franz soll ihm Ordnung, Stetigkeit, in allem, besonders im Schreiben empfehlen. 1000 Grüße von den Meinigen. Darf ich Deinen zurükgelaßnen Baadrok m. Frau schenken? Nicht kälter u. nicht wärmer kann ich Dir jetzt schreiben – den[n] es ist Nacht – u. vor Morgen 9 Uhr hab ich noch unglaüblich viel zu spedieren. Sage doch Franzen: Er soll mir ehestens mit einem Worte schreiben – „Liebster Lavater. Louise u. ich verstehen uns beßer als noch nie.“ Noch Eins – Engel! Schweige nicht! u. weyne nicht – Sondern sprich u. lächle wenn der böse Geist üble Laune überkommt; ihn den Erzehrlichen! Liebe! Liebe! Nämlich ich bitte Dich! Sey Männinn, Heldin, Christin – Gottin! Adieu. Noch einen guten Tag Eüch die m. Herz nie verlaßen kann – o wenn Ihr nicht fühlet, wie ich Eüch liebe – Ihr seyt mir dennoch lieb. Louise gieb das Franzen mit einem Kuß von mir. Diesen Abend erwart’ ich etwas von Deiner Engelhand. Ich will ruhig warten u. denken was mir werden muß, das wird mir werden. Alle Worte u. Sylben, die Du mir schreiben wirst, sind bestimmt. Die Pulsschläge der Liebe sind jedem Liebenden u. Geliebten zugemeßen. Alles ist gezählt u. gewogen. Nichts ist unser – alles ist Gott. – Heüt ist die lezte Seßion bey Longaster gehalten worden. Dein Geschenk an den Fürsten ist belohnt. Aber ich laß es nicht fort, bis ich eine recht gute Copie habe. Bilder von mir hast Du mehr, als genug – bis zum Schamroth werden viel. Ich bitte Dich, sie so geheim, wie möglich zu halten, u. uns an die vertrautesten Stellen zupflanzen, oder zu verhellen. Wer nun Dein Bild sieht, hat Freüde, u: ist in Versuchung den Besitzer zu beneiden. Zollikofer schrieb mir – „Was Sie mir von der Fürstin v: Deßau schreiben, freüt mich sehr, u. ich danke Gott u. Ihnen dafür. Der Fürst hat mich besucht sah aber nicht so gesund aus, als in der Schweiz. Mit Ihnen u. s. Aufenthalt in Ihrer Gegend war er sehr zufrieden. Nur eine Anmerkung, die gleichsam das Resultat s. Reisebeobachtungen seyn sollte gefiel mir nicht: Nun hab’ ich doch, sagte er, ‚auch auf dieser Reise keinen ganz zufriednen, wirklich glückseligen Menschen, gefunden. Ich berief mich auf Sie u. Ihre Werke zum Beweise des Gegentheils – u. nante mich selbst. Wiedersprechen wollte er eben nicht; aber auch von unser aller Zufriedenheit schien er nicht überzeügt zu seyn.“ O Liebe! Mögtet Ihr bald ein Beyspiel glüklicher Menschen seyn – wie man es nämlich auf Erden seyn kann. Mann soll nicht ganz glüklich seyn. Der Appetit nach jener Welt soll immer durch unbefriedigte Bedürfniße in der gegenwärtigen Welt unterhalten werden[.] Adieu. – – – Wo seyt Ihr, daß ich nicht mit Euch bin? Wo kommt Ihr hin, daß ich nicht Eüch nahzusehnen genöthigt werde! Wohl sey Eüch, wo Ihr hinkomt – u. Gutes folg Eüch nach, was Ihr gewesen seyt – Kein Tag Eüres Lebens sey ungeseegnet – Jeder Tag seyt Eüch näher u. Gott näher! Noch ein Wort des Dankes an Eüch im lezten Moment, da Ihr von m. Sohn Eüch trennt – Für jeden Blik der Liebe – jedes Wort der Ermunterung u. Warnung, jeden Händedruck der Ermunterung dankt Euch m. brüderliches väterliches Herz in m. u. seinem Namen. O mögt ich Eürem

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Sohne vergelten können, was Ihr dem meinigen thatet. Freünde, Mutter u. Vater u. Gatte u. Freündes Freüde sollen Eüch aller Orten neü segnend erwarten. – Meine Liebe geht mit Eüch! m. Seegen begleitet Eüch. M. Gedanken verlaßen Eüch selten. Ich weiß auch, daß Ihr oft Gutes an mich an m. Herz denken werdet, das Eürem Herzen näher ist als zehentausend nahe. Laßt uns immer einander berühren, erweken, beleben. – – – Guten Tag, Ihr Lieben niemals Fernen! Ach wie erquikte mich das Wort von Franz! Nur eins! Ihr Guten. Denkt an die erstaunliche Freüde u. den entsezlichen Schmerz, der für mich den Ihr so sehr liebt, in Eüer Hand liegt. Nun GottLob! G.L! daß der Liebe Liebe zu Handen ist. Liebe Louise! bleibe, in dem was Du gelernt hast – u. vergiß m. Räthe, m. Bitten, u. m. Thränen nicht! – Branconi ist sehr froh, Eüch gesehen zu haben, obgleich sie der erzehlichen Gleichmüthigkeit wohl merkte. Sie mag immer noch etwas vom alten Menschen an sich haben – wie ich leider noch sehr viel davon habe – ich denke doch, Franz stimmt mit Goethe ein: „Sie ist ein braves Wesen“ – Man kann doch, denk’ ich, brav seyn, ohne gerade so gut zu seyn, wie Luise, u. so erzehrlich, wie Franz von Deßau. Wenn Ihr dies habt, so seyt Ihr in Weymar – ich bitt’ Eüch, diese Zeilen an die Herzogin zu übergeben, u. ihr nichts „Schönes“, aber alles Herzliche von mir zu sagen. Ich bitt’ Eüch Erzliebe – haltet, ihre scheinbare Kälte, u. Uninsinuanz ungeachtet viel auf ihr! Es ist gewiß was an dem Weib, was man selten findet. Etwas Menschliches muß allenthalben mit unterlaufen. Ohne Kupfer ist das feinste Silber nicht so haltbar. Habt offne Augen für alles Probhältige – u. seyt zufrieden, wenn’s die gehörige Haltung nach dem allgemeinen Conventionssfuß hat. Auch Goethe grüßt mir, u. sagt ihm, er soll mir um m. Nase Willen verzeihn, daß ich bis ins ewige Leben hin pilatisiere. Häfeli u. wer nicht! erinnert sich Eüer mit der ehrerbietigsten Liebe. – Ad: am lezten Tag m. 42. Jahrs. Wo, wo m. Liebe wird dies Dir in Deine wohlthätigen Engelshände übergeben werden? Ach! Liebe! Wo es geschehen mag, da bitte Gott ausrücklich für mich, daß er mich zum Ziele führe. Ohne ihn vermag ich nichts – wenn Du nicht für mich bittest; wer soll für mich bitten? Wenn Du mir keinen Geist erflehen kannst, wer soll mir erflehen können? Liebste Seele! Du bist zur tröstlichsten Fürbitte darum für mich berufen – so wie ich zum kräftigsten Fürbitter für Dich. Gestern kam kein Brf. von m. Lieben, so sehr ich darauf spannte doch kann ich nicht klagen. Ich erhielt ja drey Tage nach einander, u. Morgen eh dies Blättchen abgeht, hab ich gewis wieder ein gut Wort von Dir in Händen. – Jezt kann ich wieder ein Wort der Freüde, aber nur ein sehr kurzes schreiben – Eüre herzerquikenden Brfe. Ach wie soll ich Gott dafür danken! hab ich erhalten. O Ihr Erzlieben, Herzguten. Wenn [Wem] soll der Himmel gut seyn, wenn Eüch nicht. Ach daß ich Eüch mehr schreiben könnte. – Ich bitte, flehe beschwöre Dich in Deinem Christenthum zu verfassen – mit zur Freüd u. Ehre an jenem Tag. Die allmächtige Gnade sey mit Dir, u. Deinem schwachen aber liebensvollen ewig treüen Bruder Seegen, Seegne, wie keiner Eüch kann, beym Eintritt in Deßau Eüch, Ihr ewig Lieben! Eüch jauchze Friedrich entgegen. Eüch schlagen 1000 Herzen! Eüch fliegen alle guten Geister zu! Wie muß es Eüch gereüen, so lange entfernt gewesen zu seyn.

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Ihr müßt zehnfach finden, was Ihr so lange mißt. Nun Louise sey ganz Louise! Nun meine Ehre u. Franzens Himmel auf Erden. – – – Mein Herz ist Eüch nie ferne. Ich zähle Stunden, bis Franz mir schreibt – „Ich bin glücklich bey Louise – glücklicher Louise bey mir!“ – – – Dem lieben lieben Liebenden zu überbringen von der willenlosen Guten. Lieber Franz, Lav: Geist u. m. Geist – vereinigen sich Dich mit Thränen zuerflehen – sey Deiner Louise gut, u. erheitere Deine Seele durch ein frohes liebevolles Angesicht. Gieß Deinen Kummer aus u. bete mit mir Lieber! – – – Ich schreibe Dir m. Ewigliebe im Bett, wegen Unbehaglichkeit u. Husten – Ach! Du jetzt neben mir – Doch das steht schon in m. l. Büchlein, das Du vor 205 Tagen || ich rechne eine Seite auf jeden Tag – erhalten wirst. – – –. Sie sind endlich gekommen, die erschmachteten Briefe aber haben mir nicht genug gethan. Ihr seyt zu kurz gewesen. Habt Eüch nicht genug in m. Lage versezt. – Wie viele nicht angenehme Gedanken wechselten ab in m. Geiste der eher alles als Ungewißheit zu tragen vermag. Also habt Ihr Eüre mühevolle Wallfarth [!] vollendet. Nun also wieder etwas an das Kapitel dunkler trüber Regentage abbezahlt – Auch diese kommen nicht mehr. Gott Lob daß alles so gut gieng. Von Dahlberg hätt’ ich doch auch ein Wort zu lesen gewünscht. Meiner Brf: u. Billets wird ich auch wenigsten auch mit einer Zeile gedacht werden. Es beunruhigt jede Ungewißheit. Und die Weiber, diese Vergeßerinnen der Pünktlichkeit im Schreiben können nicht genug erinnert werden. Merk es l: Seele, u. nim[m] dem ewigen Prediger keine predigerliche Zeile übel. Ich bin im Bette. Aber fürchte Dich nicht! Es hat nicht Gefahr; obgleich freylich jeder brustdehnende Stoß ein Schlag an die m. leimernen Hütte ist. Gestern Abend waren Häfeli u. Pf: bey mir. Nur Louise fehlte. Wir sprachen vom einzigen Größten, wo, von [wovon] man nie genug sprechen kann – vom größten Mann! L. Louise – Ach! grüß mir Franzen, so herzlich Du kannst. Engel Gottes, lebe u. liebe, wie Du leben u. lieben kannst – u. Dein Wille sey schnelle wortlose Willenlosigkeit. Diesmal, edle Liebe mir immer gegenwärtig, von m. Herzen immer begleitet, nur ein Wort. – Gottlob daß das Zahnweh am Ziel ist. Der Entschluß war der Louise würdig. Goethe schrieb mir: „Unsere Herzogin kann der Fürstin nie etwas werden, noch umgekehrt.“ Ferner – „Lebe wohl u. liebe mich, Du alles erfahrner Kluger, verständiger menschenfreündlicher Thätiger, der es, wenn’s die Noth erfordert nicht für einen Raub halt [hält] zu quaksalben.“ – Liebe Du bist nun in Deinen Herrlichkeiten, u. hast Bilder von mir – stark meiner. Ich aber bin doch, obgleich Du mich nicht siehst – u. bin Dir sehr nahe obgleich ich Dir fern bin. Ich denke ich empfinde mich ganz in Deine Lage hinein. Sey stark, sey Louise! Du hast viel Stärke vom Himmel empfangen! Erweke sie! Sey! Wirke! Werde jedem der Dich sieht, höhrt, denkt, liebt, haßt, mit jedem Tage respektabler! [Heft 2] An Louise v. Anhalt Deßau 1783. Soll ich wieder anfangen Dir erste m. anständischen Schwestern zu schreiben. Fast dachte ich mich alles Schreibens zu enthalten, bis ich Dir das große Freüdenwort schreiben kann. Nichts in der Welt

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dacht’ ich, würde mich mehr zum Ziele sporen, als dies geistige Fasten der Liebe. Aber ich fürchte nicht stark genug zu seyn, es aushalten zu können. Vielleicht müßt ich Jahre lang, vielleicht nie mehr Dir schreiben. Du möchtest es vielleicht so wenig ertragen als ich. Aber eben dies nicht ertragen mögen würde mich vielleicht Dich u. mich aufs Aüserste treiben. Für nichts m. Liebe dank ich Dir, wie für 2 Worte. Franz ist zufrieden – u. ich bete für Dich. Branconi trägt nie auf sie in Deine Liebe zuempfehlen. Sie liebt Dich sehr u. hochachtet Franzen. Am Weynachtstage fieng ich an Dein weißes Schnupftuch zu brauchen. – – – Daß ich unbeweglich an Deine unvergleichbare Liebe glaube weißt Du. – – – Ach Liebe! alle m. Hoffnungen Übertreffende! Bleibe doch auch in Hinsicht auf Franzen m. tägliche Freüde. Ich kann nichts mehr sagen, als ich liebe Eüch mehr. Als ihr von andern Sterblichen geliebt werdet. [17]84. Nichts als gute Nacht! Am Neüjahrstag Abend 10 Uhr. Auch dieser erste Tag ist vorbey. O wie oft dacht ich heüt an Dich! Sah’ Dich mit dem Büchelgen in der Tasche im Zirkel glänzender Welt. O Liebe! Wie lieb bist Du mir! Ach! Ohn Ihn – ist auch dieser Tag vorbey – Ach! Engel! Wie sind wir noch nichts. Schon der Zweyte. Diese Nacht hast Du Liebe wenig geschlafen – lange sasest Du, u. legtest das Büchlein unter Dein Samptküßen, u. lasest wieder frühe darinn. Ach! so hab’ ich noch nie geliebt, so rein u. so innig, ach! We[r]den wir am Ende dieses Jahres noch da seyn, wo wir jezo sind? Ach gedenke doch täglich des Beladensten aller Beladnen, den niemanden entlasten u. erlösen kann als die Allmacht. Der fast Erliegende schreibt Dir auch heüte noch eine Zeile. Die Post brachte mir nichts von Deiner Engelshand. Dagegen ein l.[ieber] gefühlvoller Brf: von m. Sohn. Ich bin aber ruhig u. erwarte nun am Dienstag neüe Versicherungen Deiner Wolfart u: Deiner Liebe. Eh’ ich von Ob[er]ried weggehe, auch noch ein Herzenswort an m. Erzengel in Deßau. Vom Dienstag Nachmittag bis Freytags Abends lebt’ ich hier so einsam still, so arbeitend u. ruhend, wie selten – vollendete, so weit ohne die lezten Bogen möglich war, mit dieser Feder, die Du haben sollst, die Revision des Pilatus, die manche scharfe u. wichtige Stelle geschrieben hat. Zugleich hab’ ich damit auch die Dedikation an Dich korigiert, u. noch ein paar kleine Worte verändert. Sie sey also Dein, mit der Hand, die sie führte, mit dem Herzen, das sie beseelte. Behalte sie als ein Denkmal m. unbegränzten Liebe – u. glaube aufs Neüe ewig an mich. Liebe Seele! Gewöhne Dich nach u. nach an den Gedanken, daß ich anfange zu kränkeln u. nach u. nach wegzusterben. Ich will mich auch immer mehr mit diesem sehr ernsten Gedanken bekannt machen. – ich bitte Dich, denk weiter kräftig an mich, das ist an Dein Herz. – – – Alle Augenblike l: Louise erwarte ich Nachrich[t] von dem Tode des Pfarrers zu Oberried – bey dem ich m. Heiligthums wegen, mehr verliere als kein Mensch denken kann. Doch m. l: treüe, theilnehmende Herzens Freündin will jetzt nur wißen, wies um mich steht. Ich huste etwas seltner, muß eh aber husten, so klopft m. Herz nach jedem Anfall wohl eine ganze Stunde. Immer aber brennt’s u. liegt’s mir schwer auf der Brust. – Die gestrige Post l: Louise erquikte mich. Mich erquikt alles was Louise erquikt. – Dies Jahr ist keine einzige neüe Bekanntschaft aus der Fremde nach Zürich gekommen, die der Louise zu vergleichen wäre –

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Auch durch Häfelins Hand empfangt Louise gern eine Zeile von mir, u. wenn diese Zeile nichts sagen als was man nicht sagen kann. Ich bin immer mit Häfelin bey Eüch – reis’ Eüch mit ihm entgegen, u. bleibe doch stets in Zürich. O Gottes allem segnendes Gelingen machender Blick sey über allen Amen. [17]85. Sey auch dies Jahr, königliche Louise Franzens täglicher Seegen, seine Freüde, seine Ehre, s: Ruhe – Gott geb’ ihm mehr durch Dich als durch alle andern Sterblichen! Leichtere ihm jede Last – mit Gebeth, mit Liebe, mit frohmachendem Blick u. Wort – Sey seines Lebens Leben! Seiner Freüden Freüde, seiner Leiden Trost! Seine Morgen u Abendlust Amen! [17]86. Schier ohnmächtig ward ich heüte, da mir Stolz schrieb, daß im Ernste, von mir in Bremen gesprochen werde. Wenn Du dies hast, war’s möglich, daß ich Pfarrer in Br: wäre. Ich darf u. mag nicht auf denken – Nur bitt ich Dich so hoch ich kann – Du wirst es von mir wißen – für mich, wenn je in Dir Leben, schwesterlich zu bitten – daß Gott mir Übergewicht gebe zum ja oder nein! Ach schon begleitete ich m. Sohn in Gedanken nach Strasburg – schon war ich halb in Offenbach – schon träumte ich, aber gewiß bescheiden – einen Rendesvous, Eüch, Ewigliebe wieder zu sehen – nun seh ich nichts mehr. – Branconi ist hier, immer dieselbe. Alles nur nicht Louise. – Gute Nach[t]! Treüe! Immergleiche! Ewigliebe! Sage doch Franzen, so herzlich als Du ihm sagen kannst, daß ich ihn herzlich liebe, u. ihm unter seinen edeln Geschäften Gottes augenscheinlichsten Seegen wünsche. [17]87. Ach! Louise Du bist weit? Ich so fern von Dir? Liebe! Ich leide – viel mit Dir. Um Deinetwillen, meinetwillen, andernwillen. Biester war gestern bey mir. Ich anerbot ihm Satisfaction, wenn er beleidigt worden von mir, u. sandt’ ihm, nach einem gelaßnen Wortwechsel, eine Zeile wovon er Gebrauch machen kann auf Bern nach. Er ist fester als ich. U. wenigstens so froh daß ich Punktum gemacht – sonst ist des Männchens Character auffallend. Ich bin doch noch froh Lav. zu seyn. So honet, wie möglich, bin ich ihm begegnet. Ich glaube doch, er wird künftig etwas bescheidner seyn. Wo nicht – tant pis pour lui. Morgen predige ich über Martha u. Maria, oder die verschiedenen Aüßerungen derselben Religion. Ach! daß ich wieder einmal vor Dir predigte! Mein Leben ist so gedrängt, daß ich auch keinen halben Tag aufs Land kommen kann. O Liebe! Erflehe mir mehr Ruhe. – – – Unter [Gerhard] Edelinks für Louise Wenn dies sich öffnet; wenn es in irgend einer dunklen Stunde Dir erscheint, so erhebe Dich mit Engelsschwingen zu dem der Dir näher angehört, als allen Engeln – u. dem Du näher angehörst als alle Engel – u. jeder Blick darauf lehre Dich froher seyn, bey der liebevollsten Willenlosigkeit.

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Unter Lavaters Porträt Ach, Bilder! Bilder nur von mir – Einst kommt die Zeit wo der Bilder Urbild wies jezo ist, Dir viel unerträglicher seyn würde, in Vergleichung mit dem was ich seyn werde – als diese Bilder in Vergleichung mit dem, was ich jezo bin. – – – An Henriette v: Anhalt geb. Gräfin zur Lippe Hinten an einen Brief der Fürstin von Deßau. Ich kann Zeit Mangels nichts hinzuthun – als ich liebe Louise, wie ich wenig gute Menschen liebe – ich kann ihr sagen, was ich wenigen sagen kann – ich kann mit ihr bethen, wie ich mit wenigen bethen kann – Was Sie ihr sagen liebe Bekannte Unbekannte ist so wahr, so wahr. Ich bin höchstens, wenn ich je etwas bin, ein leitender Stab seiner Hand – Jezt bin ich das noch nicht, hoff es aber zu werden – hoffe daß er meine Hoffnung nicht wird zu Schanden werden laßen. [Wahrscheinlich Fürst Franz an seine Gemahlin Louise] L[avater]. ist der reinste edelste offenste göttlichste menschlichste Mensch unter der Sonne. Unsere Seelen erfasten sich ganz. Wir sind Brüder auf ewig: Er weiß alle Geheimniße m. Herzens ich die seinigen: er liebt uns innig u. ist streng für uns. O daß Du bald solche Tage mit ihm lebtest wie ich seit 8. Tagen. Bestes einziges Weib sorge für Deine Gesundheit – o das ängstet mich über alles. In 8. Tagen geh ich mit Lav: nach Zürich, u. dan[n] nach Italien. Ends Octob: holl ich m. Jung aus Deßau ab. O daß ich dann wieder Fülle zur Gesundheit u. Heiterkeit der Seele in Deinem ganzen schönen Wesen sehe liebes trautes Weib. [17]87. Sage mir doch, Ewigliebe, deren Gesundheit u. Serenität ich so herzlich wünsche – durch Häfelin was ich Dir noch an Meßiaden schuldig bin. – Du denkst heüte gewiß auch an mich. So wie ich der beschwerlichen Umständen m. Frau, u. der Ströme von Fremden ungeachtet an Dich denke – Kann ich, so versetz ich mich an Eüere Seite u. spreche kein Wort u. laße Thränen rinnen, die Eüch nicht mißverstehbar sein können, wenn ihr je Thränen vergoßen habt. O Gott wie viel lern ich alle Tage, u. wie theüer bezahl’ ich gewisse Lektionen! – – – Hier ein Büchelgen für den Fürsten, welches ich durch Arme zum Besten Armer, besonders fremder Durchreisender schreiben laße, u. vertrauenswürdig gebe, oder sende, daß Du mir in eine mir täglich unentbehrlicher gewordne Armen laße – einen Thaler dafür geben. Der Fürst legt mir also einen neüen Thaler dafür auf die Seite – u. Du Liebe, schreibst mir gelegentlich – wie viel ich Dir Exemplare – die Du verschenken mochtest senden dürfe. Ich will Dich beladen, nicht sehr beladen; aber mich dünkt, – Du schenkest gern Eins an F[ra]nz, an Häfelin, an Bernstorf – u. nehmest 1. für Dich – u. werdest mir noch dafür danken. Du bist so gut, mir die Namen derer dennen [!] Du sie schenken mögtest, zu geben, daß ich sie eigenhändig einschreibe – u. einschreibe in mein Buch darüber. So oft ich l: Louise – ich gestern u. heüte u. lebenslang ebenderselbe den Schreibtisch, den ich Dir zu danken habe ansehe werd ich sagen – Louise hat dich geliebt, u. wird dich lieben –

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Ich habe an die Schublade vor m. Auge geschrieben Wahr u. klar, sanft u. fest. Gott muß mich sehr lieb haben, daß er mich unaufhörlich durch Feinde wie durch Satane u durch Freünde wie durch B – unverhörter u. unverschuldeter weise scharfrichten läßt. Ich mag bald nicht mehr warten, der Herr erbarme sich unser – Ich bitte so sehr ich bitten kann schreibt mir nicht mehr, ich bin des Zuchtlebens müde, Todesangst zu haben, wenn ein Freünd allenfalls eines Freündes Brief zu sehen bekäme. Ich bin Sclave genug ich will allem was Freünd heißt schreiben, schreibt mir nicht mehr! Urtheilt wie ihr wollt! Thränen rinnen mir aus den Augen! Der Herr erbarme sich unser. Fürstin Louise von Anhalt-Dessau an Lavater: FA Lav Ms 519, Brief Nr. 123 Donnerstag 8 Uhr zu Dessau den 22ten Jenner 1784 Vorgestern Abend kamen wir aus Wörlitz wieder hier zurük, wir besuchten gleich meinen Schwager und die Abende wie auch gestern sezten wir die beyliegende Geschichte fort – F: ist wohler als er den einen Tag in Wörlitz war da war seine Gesichtsfarbe wirklich so schlimm und ich befürchtete eine Magenverdärbniß. Er läßt Dich herzlich grüßen und ich soll Dir sagen das kommenden Post-Tag er den förmlichen Ruf an H[äfeli]: wird abgehen laßen zuförderst soll ich aber Dir hier seine künftige hiesige Situation schildern. 1/ Da keine Stelle vacant ist, und wann auch sich für die innländische Geistlichkeit sich wohl in Acht zu nehmen hatt so wird F: eine neue Stelle setzen und ihn zum HofCapellan berufen. 2/ Diese Stelle einige Zeit zu bekleiden wird ihm gar nicht hinderlich sein sodann (solt’ er’s wünschen) eine Vacanz zu bekommen. 3/ auf das er auch in weiter keine Collision und Abhänglichkeit hier kommen soll will ihm F. ein jährlich Gehalt von 500 Reichsthalern bestimmen die aus seiner eignen Casse ihm gezahlt werden sollen, und diese Summe eben keiner von die Pfarrern zu erfahren braucht, weil nur die zwey oder drey ersten Stellen außgenommen keiner so viel hatt. 4/ Seine Behausung würde er aber wohl auf dem Lande in Wörllitz bekommen und würde dann in der Stadt und auf dem Lande predigen wo und wann F: wolle 5./ würde er sich auch mit Religiosenunterricht der Jugend abgeben müßen, auch mit Rath und That oft etwas sich wann F: will sich in den Schulanstalten mischen 6./ Was nun aber Leute zu H eigentlichem Umgang und Gesellschaft im Seelen Gennuß anbelangt – die so in den Sinn hier wären – wüste ich nicht einen; doch eben da der lichtvolle rechtschaffene H lieber gutmüthige wiewohl schwache – als spitzfindige Weise zu seinem Umgang haben wird, so ist sein Aufenthalt in Wörllitz auch darum vorzüglich, denn da ist unser Probst Coeler ein erzguter rechtschaffner Mann der gewiß zum lautern Christus sein der empfänglichste Geistliche ist den wir hier haben; er hatt die Tochter vom hiesigen Suprentent zur Frau, hatt 11. lebendige Kinder mit ihr und lebt genau aber glücklich. 7./ Siehet H F und mich nur zum meisten wann wir in Wörlitz sein. Hier in der Stadt bringt’s zwar seine geistliche Würde mit sich das er auch zuweilen mit uns ißet allein an eine Tafel von 20 bis 30 Personen – kann man nur am meisten jeder mit seinem Magen reden. F: wollte wiederkommen dieses zu lesen doch die Zeit der Post ist schon fast da; ich muß zumachen aber es ihm doch wo er ist heimschiken Lieber; hier füge ich noch ein Schattenriß bey – Adieu Gedenke und bethe für F: und L:

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FA Lav Ms 519, Brief Nr. 124 Donnerstag 9 Uhr a 22 u Jenner 1784 Wegen Deiner angeführten erzahlten Annécdoten an F: schreibt er Dir hierbey selbst. Wegen des Soldaten Frieß meint F: würde schon Antwort kommen nur noch Geduld. Welche Frau Schwieger wollte ich fragen ist’s bey der Du am Krankenbette sizest? Hier nennt man die Brudersweiber so allein bey Euch bedeutet’s wohl Schwieger Mutter. Aber was Dein Gefühl der Ohnmacht bey Sterbebetten anbelangt, meinest Du wohl nur in Betracht auf Dich selbst – denn in dem lezten entscheidenden Moment ist sich der Sterbende nicht allein alles? Und wie so wenig kann ihm dann in der Hauptsache ein Mensch sein? Heute werde ich wieder einen Unterricht an Frieden [Sohn Friedrich] geben – aber es gehet nur langsam ich muß lang warten auf seine Gedanken und Antworten und muß also auch oft wiederholen. Mit die ersten Tage des Hornungs fangen meine Mädchenschulen in Wörlitz an, ich muste solche in zwey theilen nehmlich die erste für die Großen wo sie gut lesen und mit Verstand lesen[,] schreiben und sprechen lernen so viel als für eine jede Haußhaltung als Diensten sie bedürfen oder als Wärterinn und Unterstützerinn ihrer alten armen unwißenden Verwandten; und dann die zweyte für die kleinen Mädchen wo sie blos striken spinnen und nähen lernen. Beydes war hier auf dem Lande herum höchst nöthig denn die unwißende Grobheit des Landmädchens hielte bisher die Städter und Vornehmen ab selbige zu Diensten und Gesinde zu nehmen – zogen also lieber fremde Mädchen her die meistens Huren sind, und daher noch mehr die Sitten verderben und dann doch wohl am Ende fortlaufen; belehrt und unterrichtet man aber erst das Volk auf dem Lande so kann F: befehlen das keine fremde Dienste gar nicht sollen angenommen werden und so wird wahrer Nutzen für d[as] Land gestiftet werden. Gott wird mich gewiß besonders beystehen, und das wird mich wenig auf aller Gespötte achten machen das vielleicht daher über mich ergehen wird. Schike mir doch bald (alles auf meine Rechnung versteht sich) eine ganze Menge Deiner Verse des Christlichen Glaubens – und noch einige Bücher die ich zu meinen weiblichen Schulen brauchen kann. Die Zeit ist verstrichen – Gott wie sie eilt – und wir gehen mit[.] Ach kämen wir doch auch weiter im Verhältniß der Geschwindigkeit[.] Gott sey uns immer spührbare. Amen Herzliche Grüße an Mama L FA Lav Ms 519, Brief Nr. 125 D: am 29ten Märtz 1784 früh 8 Uhr Liebe threuste Seele! Da liegen sie Deine zwey lezten Briefe vom 12ten und 16ten die ich beyde gestern bekam, die uns sehr wohl thaten, wie jede Zeile von Dir – aber welche uns auch des angekündigten Brechmittels wegen in Unruhe sezten. F: deßen Befinden nicht recht gut ist ritte auf einen Augenblik eben aus, und sagte mir noch Dir unter der Zeit zu schreiben und er werde vielleicht noch ein paar Worte hinzufügen; Lienhard und Gertrud IIten Theil werd ich noch heute hohlen und bestellen laßen. Die Affaire zu Stein ist doch für euch freyhes Volk höchst unangenehm. Gern wollte ich den Herrn Prof: Usteri Nachrichten über meine Töchterschule geben – allein jetzt da nur erst seit 4 Wochen sie entstanden, und ich schon von Lehrerinn habe endren müßen, und die Wohnung jetz wieder einrichten laße also das noch die Oster Freyertage erst wieder von neuen

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angefangen werden kann – so ist’s mir nicht möglich was davon zu sagen. – Das es aber gut werden soll hoffe ich gewiß. Wegen des Gemses Transport und bisherige Anstalten dazu, ist F: sehr zufrieden. Friede [Friedrich] ist erfreuet über Deinen Gruß, aber Waldersee ist in Berlin, und wird von da nach Schlesien um dort in seinen Comenwal Studien es weiter zu bringen. Gewiß bey der bloßen Anmerkung des Päbstlichen Nuntius hast Du gelächelt und an Luisen gedacht. Ja ja es ist was Herrliches um der Zurükerinnerung aber auch was Herzzersprengendes! Seit vohrgestern haben wir wieder Schnee, und Gott wolle in Deiner Gegend beßer und gelinder Wetter schiken, sonst müßen’s die Cörpers besonders die Kranken sehr fühlen. Die 4 lieben Leute die sich F: und meiner so liebreich erinnern unsre herzlichen dankbahren Grüße – besonders meiner lieben lieben Mama küß auf Mund und Arm. Und der kraftfollen Brendlit Seele den ich nie vergeßen kann meinen Gruß. Wie erfreulich gar gute Nachricht und Hoffnung zur Hoffnung unseres Lieben für mich ist brauche ich nicht zu sagen, Gott wolle meine Wünsche erfüllen. Der Herzog von Weimar hat seine Tochter sehr plötzlich verloren, er schüttete, einen Theil seiner Bekümmernis durch einen gestern erhaltenen Brief an meine Freundschaft aus, dieses tath mir wohl weil es mich ein untrügliches Zeichen seiner Liebe gab. Gleiches wird er schon wie er wolte nach Zürich gethan habe[n], Ruhe wird es uns geben wenn wir zu seinem Troste beytragen können. [Unterschrift, nicht im Kürzel] Luise von Weimar hat wie der Herzog an F: schreibt, nicht einmal die lezten Momente des sterbenden Kindes genoßen, man hatte sie nicht in der Nacht aufweken wollen; weiter habe ich nichts von ihr gehört. Ich muß schließen – das die liebsten Minuten immer zu kurz sein – Adieu bethe auch für L: FA Lav Ms 519, Brief Nr. 127 Worlitzen den 3ten October 1785 Liebe Seele So lange Dir nicht geschrieben zu haben Bester währe unverzeilich wen mich nicht eine durch die schlimen Wege höchst beschwerliche Reise der kurze Aufenthalt an jedem Orte und die Versicherung meines Mannes das er schreiben wolle endschuldigte, jezo bin ich seit 8 Tagen wieder hier, und war ganz alleine da mein Mann der sich Dir bestens empfiehlt verreiset. Ich habe meinen Brief mit Willen darauf erspahrt um doch wenigsten ein Mahl mich des vertraulichen Du bedienen zu dürfen welches wen er hier ist ganz ohnmöglich, wie oft ich Dich schon hergewunschen habe da ich so ganz alleine[.] Könten wir doch einmahl uns ungestöhrt sehen, und des sichern unumschrenkten Vertrauens genießen. Doch dies Glück wahr mir nicht beschert und ich weine nicht. –. Wen ich mir Deines Andenkens gewis bin. Ich gestehe es ich bin ganz Weib in der unentlichen Sorge von meinen Lieben vergeßen zu werden. Was Du von denen Umstenden Deiner lieben Frau (die hier tausend zärtliche Grüße und Dank für ihren lieben Brief den ich beantworden werde wen mein Mann an Dich schreibet, findet) geschrieben hat mich sehr interessirt. Gott gebe seinen Seegen zu der Cur. Die mich ganz überzeüget. So viele Zweifel man mir auch wider das Magnetisme im Kopfe gesezt: meine Gesundheit ist auch nicht die beste seit ich Zuhause bin, wen das Magnetisme so anschlägt wie ich hoffe, so währe das ein guter Vorwand wieder nach Zürich zu komen doch ich pflege stille das Gute was mir beschehret erwarten, und nicht mit aengstlicher Ungedult herbey wünschen. Wir haben uns 14 Tage in Francfort aufgehalten die auser-ordentliche Menge der Fremden die das Blanches Experiment aus

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allen Gegenden Teüdschlandes herbeigezogen, machten den Aufenthalt interesant. Oft habe ich mir Deinen scharfen durch die aüsere Hülle durchscheinenden Blik gewünsch[t]. Ohne den müste ich mich begnügen die Verschiedenheit der Menschen Gefühlen zu bewundern und über die Mengen die darunter wahren die zu zielen . . Nun lebe wohl Liebster Bester. Wen ich Dich nicht so von ganzer Seele liebte so hätte es meine Philisterei nicht zugelaßen das so ein Gewäsche in Deine Hände käme. Aber über den liebe[-] und nachsichtsvollen Freund vergeße ich in diesem Augenblik das Genie: Hast so viele Geduldt mit meinem Herzen gehabt wirst sie auch bis auf meine ganz daraus gutlosen Briefe haben. Wen gleich alle Deine Correspondendinnen beßer schreiben, so lie[b]t Dich doch keine zärtlicher und unverendeter als Deine treue Luise. Deiner besten Frau und lieben Kinder tausend Schönes[.] Carolie küßet ihr liebes Luisgen. FA Lav Ms 519, Brief Nr. 128 Wörlitz 19ten Aprill 1786 Liebe Seele! Hier einliegend bekömst Du die Contribution Postgeld wie du’s nennest; F: deßen Gesundheit jezt ziemlich gut ist und Dich herzlich grüßet, laßet Dir sagen wegen den Lieferschen Unfug wäre seine Meynung die, daß Du gar nicht schreiben sollest, wie auch überhaupt gegen und an alle Deine Wiedersacher nichts; denn so freyllig ich glaube auch daß gar nichts dabey herauskömt, Leuten denen es um nichts weniger als der Wahrhreit zu thun ist überzeugen zu wollen: Schweigen, und fest stehen, ist dünkt mich das beste; was wahr ist, wird die ganze Rotten Schaar der Philistern, Deisten, und Christen, nicht umstoßen und wegraisonnieren können. Nichts kann solchen Leuten beßer auß dem Sattel heben als schweigen und über sie lächeln. Nun ist Ostern vorbey. Ich bekam Deine lezte Zeilen vom 8ten am Ostermontag eben als ich hier mit F: und Bernhorst vor unserm Hause stand und auß Häfelis Predigt kamen und eben uns unsere Zufriedenheit darüber mittheilten; dieser Liebe läst herzlich grüßen. Heute zu Mittag aß der Fürst von Coethen bey uns er kam ganz unvermuthet, es ist ein klein[es] Männchen einen halben Kopf größer als mein F: und noch zwey mal so dik und stark. Es scheint als ob doch der Hauch des Frühling das dahin verloschende Fünkchen meiner Gesundheit wieder anfachen wolle; mit den [!] Gehör gehets aber noch nicht beßer, Adieu liebe liebe Seele da ruft man die Gelegenheit geht ab. Jesus Christus sey mit uns Amen L: FA Lav Ms 519, Brief Nr. 129 Schierstein am 24. Oct: 1786 Liebe Seele! Gestern bekam ich Deine Zeilen vom 18ten dieses und hätte Dir schon vorige Woche auf Deine Zettel vom 11ten und 14ten die ich bekam, geantwortet, wenn ich minder beschäftigt gewesen wäre mit Schreiben an den Fürsten, da bei solchen Briefen die natürlich aufgesezt und abgeschrieben werden müßen, ich mich ziemlich angreife – so hatte ich wirklich keinen Kopf für andere Briefe; bis jezt ist noch nichts entschieden – der Herr mache es mit mir wie es ihm wohlgefält, ihm habe ich alles anheim gestelt noch 14 Tage und ich werde mein künftiges Schiksal wohl entdeken. Der kluge H[äfeli]: wie Du ihn nennest grüßet Dich herzlich, und ist der Meynung Du sollest gar nichts zu Deiner Vertheidigung gegen solche verkehrte Zänkereien geschrieben haben, noch mehr schreiben, wenn Du aber dieses Dein leztes Manuscript dem Publikum noch zeigen wolltest, wäre

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es wohl zum besten am 2ten Blatte Deiner Rechenschaft es anzufügen. (welches wir auch noch mit kein[em] Auge gesehen haben). Nun hoffe ich zu Ende dieser Woche den guten Stolz wieder hier zu sehen, denn sein Vorsatz war nur 14 Tage in Zürich zu bleiben. Aber liebe Kinder sagt mir doch was mit Pf[enningers]: Ruf nach Bremen ist vorgegangen? Du schreibst mir lezthin nur, Nicht Pf: Petri ist nach Bremen gekommen und weiter nicht warum? Der Bremer ihre Meynung muste es also doch nicht so ganz gewiß gewesen sein, sonst hätten sie solche ja unmöglich können so plötzlich ohne besondere Ursachen abendern; es thut mir Leid um Pf: in manchen Betracht, hättet ihr nur nicht so früh laut und bestimt davon gesprochen, weil es doch nur noch so sehr ungewiß war. So bald ich von der Bery Antwort bekommen werde, will ich’s Dir schreiben, allein ich wuste wirklich nicht daß es eine eingerichtete Gefolgschaft wäre denen Du die Abschriften der Briefe im Creise so herumschikest, ich selbst glaubte daß die, von vorigen Jahren ich nur allein zu lesen bekommen hätte, und diese jetzt die F: mir schikte, sehe ich als eine besondere Außnahme an – Diese Tage jezt wird wohl F: bei den [!] König von Preußen sein, er schreibt mir mit den von Weimar die Manoeuvres bei Magdeburg besucht zu haben, auch Friede ist recht wohl und hatt schon 3 Parforce Jagden mit geritten. Ich brauche noch standhaft meine Trauben Cur hier fort, Morgen sind es 3 Wochen daß ich ohne auszusetzen täglich nüchtern eine große Menge eße, unter allen Curen bekömt mir diese noch zum Besten, ich glaube daß das Holtz sägen mir dennoch dabei die ersprießlichsten Dienste leistet. Adieu liebe Seele – du dauerst mich, Christus lehre Dich schweigen und sprechen beides zu rechter Zeit – Gott weiß es wird mir oft bange wenn ich so alles bedenke wie Dir sein muß in manchen Augenblicken – doch der Herr kann helfen, und wird auch helfen und mein Gebeth erhören. Amen L: FA Lav Ms 519, Brief Nr. 130 Hannover am 29. Nov: 1786 Liebe Seele! Seit den 23ten bin ich hier, wohne im Wirthshause unter den Namen einer Frau von Loen sehe niemand als Zimmermann und deßen Frau bei denen ich jeden Abend in ihrer Wohnung 3 Stunden wohl zubringe, und die beide mit Glüke und Freundschaft meinem Herzen wohl thun. Du wirst doch wie ich hoffe meinen lezten Brief aus Schienstein und auch den ich Dir aus Göttingen schrieb überkommen haben. Hierbei sende ich Dir einen Brief von F: und einen Zettel seines Bruders den ich erst gestern über Frankfort zurük hier erhielt, und endlich auch die schon lange entgegengesehnte Antwort meines schweren Schiksahls betreffend; unklar und unbestimt ist leider noch vieles die Hauptpunkte aber sind, daß ich in Wörlitz wohnhaft bleibe, meine bisherige Appanage Gelder behalte, (aber zu keiner Reise und zu nichts in der Welt Zuschuß oder Unterstützung zu erwarten oder mir zu versprechen habe) auch übrigens die von mir erbethene oder vielmehr vorgeschlagene Freiheit genießen solle; allein man hatt sich abermals nicht Geduld genung genommen um Article vor Article genau zu bestimmen und durchaus zu erwegen sondern man eilt nur auf meine Rükkehr; froh ist mein Herz nicht dabei dennoch sehe ich keinen andern Außweg für mich, und ich muß es also für Gottes Wille halten – es sey also dan geschehn – Übermorgen denke ich von hier abzureisen, und Du wirst mir fernhin wie gewöhnlich Deine Briefe an mir nach Dessau addréssieren. Mit meinem Gehör ist’s leider noch ebenso, auch hier ließ Zimmermann mir wieder das Einsprützen versuchen aber ohne weiteren Erfolg. Ob ich doch noch vielleicht hier Marccarel sehe, und

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sprechen werde den jungen Spalding der gestern hier angekommen ist werden die 48 Stunden mir lohnen, die ich noch hier verleben werde. Adieu lieber Comb: d H: grüßen herzlich. Die Gnahde unsers Herrn sei mit uns Amen L: FA Lav Ms 594.13: Exzerpte Luise von Deßau 1783 Sobald als die Lesung des Büchleins zu Ende war, schrib Franz dies Blatt u. giebt es mir um nun weiter zu schreiben – Was aber? Was kann ich Dir von mir sagen daß Du nicht schon als Vertrauter m. Herzens nicht schon nachgestehet erkant, u. vorgeahndet hättest? Ich danke Gott von ganzer Seele, daß durch Dich Franzen Zufriedenheit mit mir bewirkt worden ist, er fühlt sich so glücklich jezt mit mir, daß es wie er sagt zuviel für ihn sey, u. er in diesem Zustand ohne wiedrige Zufalle wohl nicht lenger bleiben könne – Dieses macht mich die Augen niederschlagen weil ich solch Lob nicht verdiene, u. die Wehmuthsthränen immer still im Gefühl meines Nichts u. meines Danks herab, denn gewiß ich empfinde mit voller Wahrheit ganz überzeugend m. Ohnmacht, m. Unzulän[g] lichkeit durch mich selbst allein andere glücklich zu machen, u. daraus eben sehe ich klar, daß es Wirkung höherer Kräfte – Wirkung der Erhörung deines Gebets für uns ist. Ach wäre das meinige für Dich doch auch so fruchtbringend. | An dringender Innigkeit gebricht es nicht. Seit gestern sind wir wieder in unserm geliebtesten Aufenthalt, so rauh u. kalt das Wetter auch war, besuchte ich doch mit Vergnügen jede Verenderung in Bau u. Gärten die F. seit m. Abwesenheit hat machen laßen, u. ich finde alles sehr gut! – Hier size ich nun u. schreibe dem mir schon lange Bekanten, doch vor Monaten erst sehbar gewordnen Freünd, möchte so gerne alles jenes auf diesem Papier ihm darstellen, aber das Schreiben so gut so freüdebringend es auch ist so entsprichts doch in Nichts ganz! Jezt denke ich dich mit Muterlin u. den Kindern u Hausgenoßen an dem l. großen Tisch das Mittagsmahl halten wo ihr mich oft freundlich bewirtet habt – ja l: Mama es schmekt mir noch gut. Wieder 24 Stunden hin – u. dem Ziele näher seit ich auf diesem Blatt Dir schrieb – Gottlob sie sind ruhig u. nicht ganz ohne anwendbaren Nuzen für die Zukunft verfloßen –

„Wahr u. klar, sanft und fest“ schrieb sich Lavater auf die Schublade des ihm von Fürstin Louise geschenkten Schreibtischs und hängte ihr Bild gut sichtbar gegenüber jenem seiner Frau. Die Briefdokumente Lavaters zeigen das innige Verhältnis des Zürcher Pfarrers zu Fürstin Louise. Nicht nur, dass sie während der drei Monate in Zürich täglich mehrere Stunden gemeinsam verbracht hatten, Lavater der „liebsten Fürstin“ Verse der Messiade diktierte50 und er ihr und sie ihm Geschenke zukommen ließ. Als Seelsorger wollte Lavater v. a. ihre Ehe mit Fürst Franz wieder in Ordnung bringen und über Freundschaft und Zuneigung ihr Vertrauen gewinnen. In zahllosen Gesprächen und Briefen versuchte Lavater, seiner Herzensfreundin, seinem „Erzengel“51 den „bösen Geist“, die „üble Laune“ zu vertreiben, ruft sie auf, „Männin, Heldin, Christin“ zu sein und als glücklicher Mensch „den Appetit nach jener Welt immer durch unbefriedigte Bedürfniße in der gegenwärti50 Vgl. Fürst und Föderalist (wie Anm. 4), S. 136 [Tagebuch Franz Waldersee, 19. September 1783]: „In der Zwischenzeit arbeitete Lavater an der Messiade und diktierte der Frau Fürstin die Verse.“ 51 Vgl. ZBZ, o.D., 1784, Exzerpt 2.

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gen Welt [zu] unterhalten“.52 Er fordert sie auf, „sey stark, sey Louise“,53 finde zu dir selbst, jedoch immer mit der Einschränkung, dass ihr Wille „schnelle wortlose“54 oder „liebevollste Willenlosigkeit“55 werde. Lavater widmet und schenkt der Fürstin seine Werke und seine Feder, mit welcher er die Revision des Pontius Pilatus geschrieben und die Dedikation an sie korrigiert hatte. Sie soll diese als „Denkmal“ seiner „unbegränzten Liebe“56 behalten und immer an den Freund in Zürich denken. Und so versteht Lavater dann nicht, warum die willensstarke und freiheitsliebende Fürstin es nicht dulden kann, dass diese innige und vertraute Freundschaft durch eine mögliche Indiskretion von seiner Seite zerstört wird, und versucht, mit „nicht mißverstehbaren“57 Tränen wieder zu kitten, was nicht mehr zusammenzubringen ist. Am 14. August notiert die Fürstin in ihr Tagebuch: „Ich schrieb noch einmal ausführlich an die Schultheß nach Zürich, weil ich förmlich an Lavater zu schreiben, aufgehört hatte.“58 Ihre Briefe an Lavater sind wesentlich nüchterner geschrieben, obgleich auch hier deutlich der emotionale Bezug vorhanden ist. Neben Auskunft über ihr eigenes und das Befinden des Fürsten und des Erbprinzen informiert Fürstin Louise Lavater besonders über sachliche Dinge. So zählt sie im Brief vom 22. Januar 1784 die Bedingungen auf, unter welchen der neue Hofkaplan Häfeli59 eingestellt werden soll. Sie beschreibt ihre neuen Schulen und wie sie gedenkt, diese zu führen, schreibt von ihren Reisen und Kuraufenthalten und entschuldigt sich, wenn ein Brief nicht sorgfältig genug abgefasst ist, da sie „über den Liebe und nachsichtsvollen Freund in diesem Augenblick das Genie“ vergessen habe.60 Im letzten noch erhaltenen Brief vom 29. November 1787 informiert sie Lavater über den Verlauf der schriftlichen Abmachungen mit dem Fürsten nach ihrer Trennung. Sie wohnte in dieser Zeit inkognito in einem Wirtshaus in Hannover, verbrachte aber viele Stunden bei ihrem neuen Leibarzt Johann Georg Zimmermann, den sie seit 1786 hinzugezogen hatte und den Lavater als Mentor und Freund bestens kannte.61 Bei der Vereinbarung zwischen ihr und dem Fürsten, ihr „schweres Schiksahls betreffend“, 52 53 54 55 56 57 58

Vgl. ZBZ, o.D., 1783, Exzerpt 5. Vgl. ZBZ, o.D., 1783, Exzerpt 10. Vgl. ZBZ, o.D., 1783, Exzerpt 9. Vgl. ZBZ, o.D., 1787, Exzerpt 1. Vgl. ZBZ, o.D., 1784, Exzerpt 2. Vgl. ZBZ, o.D., 1787, Exzerpt 5. Vgl. Alltag der Fürstin (wie Anm. 2), S. 65. Bereits im Brief vom 24. Oktober 1786 schrieb sie an Lavater: „Christus lehre Dich schweigen und sprechen beides zu rechter Zeit.“ Vgl. ZBZ, FA Lav Ms 519, Brief Nr. 129. 59 Zur Berufung von Johann Caspar Häfeli als Hofkaplan nach Dessau und Bremen vgl. Alltag der Fürstin (wie Anm. 2), S. 56, 57, 59, 67, 76, 77, 80. 60 Vgl. ZBZ, FA Lav Ms 519, Brief Nr. 127. 61 In den vierbändigen Aussichten in die Ewigkeit richtet sich Lavater in Briefen an Johann Georg Zimmermann. Dieser gab 1772 Lavaters Studie Von der Physiognomik erstmals im Hannoverischen Magazin heraus. Vgl. Lavater (wie Anm. 11), Bd. 4.

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in welcher manche Punkte noch unklar, andere aber bereits durch den Fürsten festgelegt waren, bedauert Fürstin Louise besonders, dass man nicht klar auf die von ihr aufgeführten „Article“ eingegangen sei, ist aber froh darüber, dass sie die bisherige Apanage behalten dürfe und die „erbethene oder vielmehr vorgeschlagene Freiheit genießen solle“.62 Obwohl Louise nach Dessau an den Hof zurückkehren musste, um die dortigen Pflichten weiterhin zu übernehmen, hatte sie als Fürstin nun jene Freiheiten, die sie zwar teuer bezahlte, ihr aber auch in Zukunft erlaubten, Reisen zumeist ohne die Erlaubnis des Fürsten zu unternehmen. Ihr Freiheitsbedürfnis und die implizierte Kritik höfischer Konventionen63 könnten die strittigen Punkte zwischen dem Fürsten und der Fürstin gewesen sein. Wie stark der Fürst der Fürstin jedoch im Grunde vertraute und sie daher auch später an seiner Seite wissen wollte, zeigt der Tagebucheintrag der Fürstin vom 16. April 1799: „Ich sezte mich zu ihm [dem Fürsten] und fuhr wohl über eine Stunde mit ihm, worauf er mich wieder zu meinem Wagen brachte. Er glaubte dem Tode nahe gewesen zu seyn und sagte, daß er in diesem Falle mich würde gebeten haben zu ihm zukommen, um mir seine [unehelichen] Kinder zu empfehlen.“64 Die Fürstin war nicht willenlos, sondern sanft und sie war klar und fest in ihren Grundsätzen und Überzeugungen. Der Fürst und Lavater erkannten und schätzten diese Stärken der Fürstin und verehrten sie daher auch hoch, gestanden ihr jedoch nicht jene innere Freiheit zu, die sie gebraucht hätte, um das ihr wichtige Glücksverlangen zu erreichen, sondern sahen in ihrer Bestimmung den Nutzen als Ehefrau, Mutter und Landesfürstin.65 So vollzog sich denn der Bruch von Seiten der Fürstin sowohl mit dem Fürsten selbst als auch in der Freundschaft mit Lavater. Ob die Belesenheit von Fürstin Louise und ihre Freude am Schreiben als eine Therapie zur Selbstdiagnostik und Selbstfindung66 gesehen werden kann, wie es die empfindsame Literatur der Zeit vorgibt, soll hier nicht abschließend beantwortet werden, denn je mehr Zeugnisse man heranzieht, um so komplizierter wird ihr Bild.67 Ihre Tagebücher und Briefe und ihre Beziehung zu Lavater zeigen aber deutlich, dass sich Fürstin Louise bewusst beobachtet und versucht hat, ihrem Leben im neuen anthropologischen Verständnis selbst eine Bestimmung zu geben. Anna Barbara von Muralt hält in ihren Anekdoten fest:

62 Vgl. ZBZ, FA Lav Ms 519, Brief Nr. 130. 63 Johanna Geyer-Kordesch: Luise von Anhalt-Dessau: Liberty, Senisbility, and Nature. In: Hof – Geschlecht – Kultur (wie Anm. 1), S. 232–247, hier S. 232. 64 Vgl. Alltag der Fürstin (wie Anm. 2), S. 94. 65 Vgl. ZBZ FA Lav Ms 572. Brief Nr. 184 [Gedicht Lavaters an die Fürstin]: „[…] Zum Nutzen Segen allezeit | Den Prinzen und dem Land bereit.“ 66 Vgl. Wilhelm Haefs und Holger Zaunstöck: Hof, Geschlecht und Kultur – Luise von Anhalt-Dessau und die Fürstinnen ihrer Zeit. Ein Forschungsbericht. In: Hof – Geschlecht – Kultur (wie Anm. 2), S. 158–178, hier S. 167. 67 Vgl. ebd., S. 173.

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NB Kein jahr habe Er [Lavater] Vielleicht noch so Viel gelidten, aber auch noch kein jahr so viel Freüden gehabt, auf reisen zu hause, von Freünden u. Feinden aus allen ständen – u. caracter – hohe u. nidre – Fürsten u. armen! Er warr wennig krank – immer schien Er ruhig u. Munder – gewiß hat Er mit der Erhabnen Fürstin von Dessau – Eine Freündschafft errichtet di bis in Ewigkeit dauren wird – amen – amen68

Die innige Freundschaft zwischen Lavater und Fürstin Louise dauerte nicht ewig, sondern zerbrach bereits nach vier Jahren; jene zwischen dem Zürcher Pfarrer und Fürst Franz erhielt sich jedoch beinahe ein Leben lang. Die noch erhaltenen Anekdoten, Tagebücher und Briefe dieser Zeit sind Zeugnisse einer intensiven Auseinandersetzung um die neu entdeckte anthropologische Bestimmung und um die Bedeutung des Freundschaftskultes innerhalb dieses Prozesses. So ließ der Fürst „an Lavaters Geburtstage, die Büste desselben69 in einer dazu gemauerten Nische im Neumarkischen Garten am 15. November 1784 aufstellen“70 als Zeichen der Freundschaft und der engen Beziehung zwischen dem Fürstenhof in Dessau und Johann Caspar Lavater.

68 Lavater (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 218. 69 Martin Gottlieb Klauer: Büste von Johann Caspar Lavater, 1784; vgl. Alltag der Fürstin (wie Anm. 2), S. 55. 70 Alltag der Fürstin (wie Anm. 2), S. 61.

Klaus Garber (Osnabrück)

Bibliotheksreisen durch den alten deutschen Sprachraum, das Handbuch Historischer Buchbestände in der Schweiz und Perspektiven eines Forschungsprojekts zum reformierten oberrheinischen Kulturraum I. In der DDR und Polen Mehr als dreißig Jahre ist es her, daß der Verfasser der folgenden Zeilen erstmals in die DDR und nach Polen aufbrach, um sich einen Überblick zu verschaffen über die Bibliotheksbestände an älterer deutscher Literatur unter besonderer Berücksichtigung der Schäferdichtung und vermittelt über sie des Kleinschrifttums in Gestalt von Gelegenheitsgedichten und angrenzenden kleinen Formen. In der DDR führte die Reise nach Gotha und Erfurt, Weimar und Jena, Halle, Dresden und Zwickau. Schon vorher war immer wieder mit einem für einen Tag ausgefertigten Passierschein in der Deutschen Staatsbibliothek zu Berlin (Unter den Linden) geforscht worden. Auf polnischem Boden wurde während eines sprichwörtlichen bilderbuchartigen polnischen Herbstes im Jahr 1979 im Anschluß an die DDR in Breslau und Danzig, in Warschau und Thorn sowie in Posen und Stettin bibliothekarische Station gemacht.1 Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hatte die Reise finanziert, an der in der DDR meine Frau helfend teilnahm, bevor die kleinen Kinder sie nach Göttingen zurückriefen. Der DFG war selbstverständlich Bericht zu erstatten. Dieser barst förmlich vor Entdeckungen. Auf einen Schlag war es gelungen, teilweise seit Jahrhunderten gesuchte Texte etwa von Simon Dach erstmals aufzutun und der Internationalen Forschergemeinschaft davon Kenntnis zu geben.2 Doch nicht darum geht es hier. Der Bericht hielt Überlegun1 Vgl. Klaus Garber: Kleine Barockreise durch die DDR und Polen. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 7 (1980), S. 2–10, S. 50–62. Wiederabgedruckt in ders.: Das alte Buch im alten Europa. Auf Spurensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents. München 2006, S. 97–123. 2 Der vielleicht spektakulärste Fund: Die Entdeckung eines bis dato unbekannten Erstdrucks des bukolisch-allegorischen Dramas Cleomedes von Simon Dach aus dem Jahr 1635, das sich in der Akademiebibliothek zu Danzig in einem mächtigen Sammelband fand.

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gen fest, wie es gelingen könnte, der unendlich fern gerückten und doch in den Zentren des alten deutschen Sprachraums Mitteleuropas gepflegten Textwelt habhaft werden zu können, auf daß sie zurückkehre in den Kreislauf lebendiger Überlieferung. Der Reisende hatte in Breslau und Danzig in einer schier unerschöpflichen Flut von Sammelbänden Zehntausende von Gedichten aus der Frühen Neuzeit des 16. bis 18. Jahrhunderts in zumeist lateinischer und deutscher Sprache in der Hand gehabt, gespickt mit Texten der Größten des Jahrhunderts, bei Opitz angefangen, von denen man wähnen durfte, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil von ihnen unbekannt sei. An anderer Stelle, in der Nationalbibliothek in Warschau sowie der Universitätsbibliothek der jungen Universität Thorn, traten völlig überraschend zahlreiche Sammelbände, aber auch einzelne Texte ans Tageslicht, die aus Königsberger Bibliotheken, der alten Stadtbibliothek sowie der Staats- und Universitätsbibliothek, herrührten. Sie bargen wiederum Dichtungen der Größten, bei Simon Dach angefangen, und wiederum Vieles mit Gewißheit bis dato unbekannt.

Auf dem Weg in die Sowjetunion Was war zu tun? Dem eben auf die junge Osnabrücker Universität berufenen Hochschullehrer war klar, daß es einer großen forscherlichen Initiative bedürfte, um das kostbare Quellengut zu heben, zu erschließen und zumindest zu verfilmen und derart auch im Westen wieder zugänglich zu machen. Aber daran knüpften sich weitere Überlegungen. Über Polen hinaus mußte vorgestoßen werden in die Weiten der Sowjetunion.3 Königsberg lag unzugänglich daselbst. Und in der Nachbarschaft erstreckten sich die baltischen Staaten mit Riga und Mitau, Reval und Dorpat als literarischen Zentren, in denen überall ein von Deutschen geprägtes literarisches Leben geherrscht hatte. Inzwischen aber verdichteten sich Ende der siebziger Jahre die Gerüchte, daß große Teile von Buchbeständen aus ehemaligen deutschen Bibliotheken und keineswegs nur aus Königsberg nach dem Krieg in die Sowjetunion gelangt seien. Also waren Vorbereitungen zu treffen, in das gänzlich unbekannte Großreich aufzubrechen, ohne freilich nur ein Wort Russisch zu sprechen. Das ist seit den frühen achtziger Jahren immer wieder geschehen. Die Berichte darüber liegen bei der DFG, denn sie unterstützte alle Reisen, gingen inzwischen aber auch in Bücher ein, die teils erschienen sind,

3 Auch darüber ist wiederholt eingehender berichtet worden. Vgl. etwa Klaus Garber: Königsberger Bücher in Polen, Litauen und Rußland. In: Nordost-Archiv 4 (1995), S. 29–61. Erweitert in: Festschrift für Erich Trunz zum 90. Geburtstag. Vierzehn Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. Hg. von Dietrich Jöns und Dieter Lohmeier. Neumünster 1998 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 19), S. 223–255. Zum Kontext vgl. Königsberger Buch- und Bibliotheksgeschichte. Hg. von Axel E. Walter. Köln u. a. 2004 (Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas 1).

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teils in Kürze erscheinen werden.4 Aufgaben von schier übermenschlicher Größe taten sich vor dem Reisenden auf. Wo beginnen, wie Akzente setzen, wen forschungsfördernd gewinnen? Das waren die Fragen, die den Einzelkämpfer neben dem Tagesgeschäft an der heimatlichen alma mater umtrieben.

Ein kultureller Auftrag in Gestalt von Bibliotheks-Politik Da erschien im Jahr 1983 ein Buch, das den Germanisten und bibliothekarisch-buchkundlichen Amateur im Nebenfach sprichwörtlich vom Sessel riß: Bernhard Fabians Buch, Bibliothek und geisteswissenschaftliche Forschung.5 Hier sprach ein mit der Geschichte wie mit den Problemen des deutschen Bibliothekswesens bestens vertrauter Fachmann. Und hier war systematisch und in weit ausgreifender Weise entwickelt, was diffus und mehr ahnend als bereits erkennend, durch den eigenen Kopf gegangen war. Zwei Schwerpunkte zeichneten sich ab. Zum einen galt es, einen Überblick über die vorhandenen historischen Buchbestände in den deutschen Bibliotheken zu gewinnen. Zum anderen mußte es das Bestreben sein, diese Buchbestände selbst, sofern auf dem Markt auftauchend, durch gezielte dezentrale Anschaffungspolitik in das öffentliche Bibliothekswesen zu überführen, um die schmerzlichen Kriegsverluste nach Maßgabe des Möglichen zu lindern. Fabian sprach als Anglist. Er kannte die Bibliothek des Britischen Museums, die nachmalige British Library bestens. In ihr war die nationale gedruckte Überlieferung des Landes de facto vollständig dokumentiert. Eine vergleichbare Bibliothek hatte es auf deutschem Boden aufgrund der dezentralen Verfaßtheit des Deutschen Reichs nie gegeben. Die Preußische Staatsbibliothek in Berlin setzte im späten 19. Jahrhundert zu einem grandiosen Aufholspurt an. Aber vieles und vor allem regionales Schrifttum war nicht mehr zu beschaffen. Die bibliothekarische Überlieferung des deutschen Schrifttums im Sinne der nationalbibliographischen Regularien war dezentral strukturiert und die Idee eines Gesamtkatalogs der Bestände zunächst in den preußischen, sodann in den deutschen Bibliotheken die einzig sinnvolle Antwort darauf. Es ist bekannt, daß dieses grandiose Unternehmen nach 14 voluminösen Bänden beim Buchstaben ‚B‘ und dem Ordnungswort ‚Bethordnung‘ infolge des Zweiten Weltkriegs stecken geblieben ist.6 Das Fabiansche 4 Zu verweisen ist neben dem in Anm. 1 genannten Werk auf Klaus Garber: Schatzhäuser des Geistes. Alte Bibliotheken und Büchersammlungen im Baltikum. Köln u. a. 2007 (Aus Bibliotheken, Archiven und Museen Mittel- und Osteuropas 3); Klaus Garber: Martin Opitz – Paul Fleming – Simon Dach. Drei Dichter des 17. Jahrhunderts in Bibliotheken Mittel- und Osteuropas. Köln u. a. 2012 (Aus Bibliotheken, Archiven und Museen Mittel- und Osteuropas 4). 5 Vgl. Bernhard Fabian: Buch, Bibliothek und geisteswissenschaftliche Forschung. Zu Problemen der Literaturversorgung und der Literaturproduktion in der Bundesrepublik Deutschland. Göttingen 1983 (Schriftenreihe der Stiftung Volkswagen 24). 6 Vgl. Gesamtkatalog der preußischen Bibliotheken mit Nachweis des identischen Besitzes der Bayerischen Staatsbibliothek und der Nationalbibliothek Wien. Hg. von der Preußischen Staatsbiblio-

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Buch und die aus ihm resultierenden praktischen Vorschläge sind auch als eine Antwort auf diesen Torso zu lesen. Das Weitere ist bekannt. Zum Ersatz einer den Deutschen fehlenden Nationalbibliothek wurden fünf herausragende Bibliotheken mit qualifizierten Altbeständen nominiert und mit Mitteln aus der VolkswagenStiftung und den jeweiligen Bundesländern ausgestattet, um systematisch Rückergänzungen zu tätigen: München für das 15. und 16., Wolfenbüttel für das 17., Göttingen für das 18., Frankfurt für das kurze 19. Jahrhundert und Berlin für den Zeitraum von der zweiten Reichsgründung bis zum Ende des Wilhelminischen Reiches.7 Die Aktion dauert an und zeitigt immer wieder spektakuläre Ergebnisse, auch wenn sich anderseits Probleme der finanziellen Ressourcen störend gelten machen. Lücken schließen sich partiell. Eine auch nur annähernd komplette Dokumentation der historischen deutschen Druckproduktion in den angegebenen zeitlichen Margen ist selbstverständlich nicht zu erreichen. Das andere greifbare Resultat war die Schaffung des Handbuchs der deutschen historischen Buchbestände, das sich mit dem Namen Bernhard Fabians dauerhaft verbinden wird. Es wurde mit der Erschließung der Bibliotheken in der Bundesrepublik eröffnet, fortgeführt mit der Hineinnahme der Bibliotheken in der DDR und nach 1989/90 in einem nationalen Vorhaben zusammengeführt. Kennern aber war von vornherein bewußt, daß ein Ausgriff auf Europa vonnöten sei, um der immensen Bestände an deutscher Literatur im Sinne der nationalbibliographischen Nomenklatur außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland habhaft zu werden. Ganz Europa mußte ins Auge gefaßt werden. Aber die geschichtlichen wie die aktuellen politischen Verhältnisse brachten es mit sich, daß der Schwerpunkt im Osten zu suchen sein würde: in Polen, der Tschechoslowakei, der Ukraine, in Ungarn und Rumänien sowie selbstverständlich in Rußland. In einem organisatorischen und logistischen Unterfangen weitesten Ausmaßes und mit Unterstützung der zu dem Vorhaben stehenden VolkswagenStiftung ist es gelungen, eine reiche Ernte einzufahren, ohne daß hier der Ort wäre, ins Einzelne zu gehen. Dreizehn Bände zu den alten Ländern der Bundesrepublik, zwei zu Berlin und sieben zu den neuen der Bundesrepublik Deutschland nebst Registern liegen vor, drei zu Österreich und zehn zu den Ländern außerhalb des deutschsprachigen Raums wiederum nebst Regis-

thek. Bd. 1–8. Berlin 1931–1935. [Fortgeführt unter dem Titel:] Deutscher Gesamtkatalog. Hg. von der Preußischen Staatsbibliothek. Bd. 9–14. Berlin 1936–1941. 7 Vgl. dazu 20 Jahre Sammlung Deutscher Drucke. Hg. von der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt a. M. Frankfurt a. M. 2009. Vgl. die auch von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel herausgegeben und der Bedeutung des Unternehmens Rechnung tragenden Ausstellungsführer bzw. Sammelbände: Petra Feuerstein-Herz: Dasein als verzaubertes Chaos. 20 Jahre Sammlung Deutscher Drucke 1601–1700 auf den Spuren von Herzog August d.J. (1579– 1666). Wiesbaden 2009 (Wolfenbütteler Hefte 25); 20 Jahre Sammlung Deutscher Drucke 1601– 1700. Fallstudien zu einem Erwerbungs- und Erschließungsprogramm der deutschen Barockliteratur. Wiesbaden 2010.

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tern.8 Wie viel wäre zu ihnen zu sagen. So reich versorgt wie nie zuvor in der Geschichte des Buches sieht sich der Forscher und Liebhaber mit Informationen zum historischen Buchaufkommen, zur zeitlichen Segmentierung, zur disziplinären Schwerpunktsetzung, zum numerischen Aufkommen, zur prozentualen Verteilung auf die verwendeten Sprachen etc. Hinzu treten mehr oder weniger ausführliche Porträts von Hunderten von Bibliotheken einschließlich entsprechender Quellen und Referenzliteratur. In buch- und bibliothekshistorischer Hinsicht wie in nationalbibliographischer Perspektivierung ist ein Durchbruch erfolgt. Fragen, Wünsche, Einwände treten demgegenüber allemal in den Hintergrund. Das eine oder andere Problem wird uns sogleich noch beschäftigen. Nun aber endlich zu dem schlechthinnigen europäischen Sonderfall. Er ist nicht in Frankreich oder in Italien, den Niederlanden oder Belgien, Norwegen oder Schweden zu suchen – Länder, die leider in dem Handbuch nicht vertreten sind und wohl auch zukünftig nicht vertreten sein werden, was sehr schmerzlich bleibt. Vielmehr verbirgt er sich, wie leicht zu vermuten, an anderer Stelle.

II. Bibliotheksreisen in die Schweiz In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre gewährte die VolkswagenStiftung dem Schreiber dieser Zeilen ein einjähriges Akademie-Stipendium. Es war für eine Geschichte der europäischen Arkadien-Utopie bestimmt, wurde dann jedoch in vorbereitender Absicht umfunktioniert. Noch einmal ging es um die Ermittlung von Kleinschrifttum in Gestalt vor allem wiederum von personalem Gelegenheitsschrifttum. Nach den Regionen Mittelund Ostdeutschlands und den Anrainerstaaten im Osten sollten nun die Bibliotheken in Nord-, West- und Süddeutschland sowie im Elsaß und der Schweiz besucht werden. Die Reise wurde angetreten und ein größeres bislang unpubliziertes Manuskript verfaßt, das vor Entdeckungen wieder nur so strotzte und auch durch das inzwischen vorliegende Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland nicht überholt ist. Vielfach wurden die Bibliotheken überhaupt erst durch den von außen hereinschneienden Besucher mit dem Problem konfrontiert, was sich denn wohl in ihren Häusern an der besonders gesuchten ‚grauen‘ Literatur befand. Die Bibliothekare gingen vielfach selbst mit auf Suche und mancher diesbezügliche Eintrag im Handbuch ist eben dieser zu später Stunde einsetzenden Recherche geschuldet. 8 Handbuch der Historischen Buchbestände. Hg. von Bernhard Fabian. Hildesheim u. a. Es liegen drei Folgen vor: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Bd. 1–22 (1992–2000); Handbuch der historischen Buchbestände in Österreich. Hg. von der Österreichischen Nationalbibliothek unter Leitung von Helmut J. Lang. Bd. 1–3 (1994–1997); Handbuch deutscher historischer Buchbestände in Europa. Bd. 1–10 (1997–2001). Hinzu treten die jeweiligen Registerbände.

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Von Straßburg nach Basel Wieder wäre viel, sehr viel zu erzählen. Ich belasse es aus gegebenem Anlaß bei einem Fall. Von Straßburg kommend, wo die Trauer um den Verlust der alten Stadtbibliothek tagtäglich genährt wurde, denn sie war das bibliothekarische Herz der Stadt und der elsässischen Landschaft gewesen, ging es auf dem gewohnten Weg hinein in die Schweiz und also zunächst nach Basel.9 Ich lernte den Grandseigneur für die Handschriften und alten Drucke Martin Steinmann kennen, begegnete auch noch Max Burckhardt und trug mein Anliegen vor. Ja, so bekam ich da zu hören, wir sind reich an dieser Literatur, aber sie ist zumeist noch gar nicht katalogisiert. Sie müssen sich selbst umschauen. Und dann wurde ich wie selbstverständlich in mächtige Räume unter dem Dach des Hauses, wenn ich recht erinnere, geführt und mit mir allein gelassen.10 Und dort oben standen Hunderte von alten Sammelbänden, angefüllt mit Dissertationen und sonstigem akademischem Schrifttum, mit Flugschriften und eben auch Gelegenheitsgedichten, lateinischen zumeist, aber natürlich auch deutschen.11 Ich weiß nicht mehr, wie viele Tage ich da oben verbrachte, jedenfalls kam ich mit einem Berg von Notizen und vielen, vielen Funden jeweils am Abend in das Hotel „Rochat“ in unmittelbarer Nachbarschaft der Bibliothek.12 9 Der Bericht über Straßburg konnte im Anschluß an ausgedehnte weitere Reisen nach Straßburg publiziert werden: Klaus Garber: Elegie auf die alte Straßburger Stadtbibliothek. In: Literatur und Kultur im deutschen Südwesten zwischen Renaissance und Aufklärung. Festschrift Walter E. Schäfer. Hg. von Wilhelm Kühlmann. Amsterdam / Atlanta 1995 (Chloe 22), S. 13–73; Eingegangen in ders.: Das alte Buch im alten Europa (wie Anm. 1), S. 185–236. 10 Den besten Eindruck der reichen Basler Sammlungen vermittelt bislang der Zettelkatalog der Basler Buchdrucker und Verleger, der kontinuierlich fortgesetzt und ins Netz überführt wird. Desgleichen existiert ein Zettelkatalog zu den Nekrologen auf Basler Persönlichkeiten. Wie reizvoll ein Projekt zu einer kommentierten Präsentation Basler Drucke sein kann, zeigt eindrucksvoll das Projekt Opera poetica Basiliensia, das unter der Leitung von Henriette Harich-Schwarzbauer, Okivier Millet und Hannes Hug von Mitgliedern des Romanischen Seminars und des Seminars für Klassische Philologie im Zusammenwirken mit der Universitätsbibliothek Basel durchgeführt wurde. Die Druckauswahl, die bibliographischen Beschreibungen sowie die ausführlichen und sehr hilfreichen Kommentare besorgten Andreas Bigger, Luigi Collarile und Seraina Plotke (http://www.ub.unibas.ch/spez/poeba/). 11 Die Basler Dissertationen werden zur Zeit digital erfaßt – ein Auftakt zur sukzessiven systematischen katalogischen und digitalen Erfassung des Kleinschrifttums. Vgl. aus der insgesamt noch spärlichen Literatur auch Wolfgang Rother: Katalog der gedruckten Basler Disputationsthesen 1600–1700. (Diss.) Zürich 1981. Als einschlägige Spezialbeiträge: Fritz Husner: Verzeichnis der Basler medizinischen Universitätsschriften von 1575–1829. In: Festschrift für Jacques Brodbeck-Sandreuter zu seinem 60. Geburtstag. Hg. von Karl Reucker. Basel 1942, S. 137–269; Karl Mommsen: Katalog der Basler juristischen Disputationen 1558–1818. Aus dem Nachlaß hg. von Werner Kundert. Frankfurt a. M.1978 (Ius Commune. Sonderhefte 9). 12 Unterwegs war der seit über fünfzig Jahren in der Sache tätige Bibliograph der Bukolik des 17. Jahrhunderts. Er wurde auch in Basel belohnt durch reiche Funde. Basel wird überraschenderweise als

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Stillstehende Zeit Was mochte den Reisenden bei diesem ersten forscherlichen Besuch einer großen Schweizer Bibliothek an Erkenntnis und Erfahrung über den speziellen Forschungsgegenstand hinaus bewegen? Um es mit einem Wort zu sagen: Die Zeit schien still gestanden zu haben. Die Bücher reihten sich wie seit eh und je in einer vor langer Zeit gefundenen Ordnung aneinander, die Zeit hatte keine Macht über ihr stilles Dasein besessen, und wenn denn ein Gast sich umzutun begehrte, so wurden ihm die Tore zu diesem bibliophilen Paradies geöffnet und ganz offenkundig umstandslos das Vertrauen in ihn gesetzt, daß er wisse, wie man sich in einem historischen Buchquartier zu verhalten habe. Das war eine Erfahrung, die einem aus Deutschland Anreisenden zu sprachlosem Erstaunen führen mochte. Es gab so gut wie keine Bibliothek im Nachkriegsdeutschland, die ihre historisch gewachsenen Strukturen bewahrt hätte. Die meisten waren schwer versehrt oder mehr oder weniger komplett zerstört. Die Bibliothek in der Heimatstadt Hamburg war in einer Nacht im Feuersturm des heißen Julimonats 1943 untergegangen, 850.000 Bände auf einen Schlag vernichtet, die Hamburgensien-Sammlung, Zehntausende von Unikaten bergend, nicht ausgelagert worden und auf immer ausgelöscht.13 Und so ein Zentrum schäferlicher Literatur präsentiert werden können. Die entsprechenden Texte entstammen zumeist dem Kirchen-Archiv, und zwar der Abteilung H, welche nach Ausweis des alten Katalogs Predigten, Dissertationen und Reden enthält. Hier folgt nach den Abteilungen III und IV mit Disputationes & Dissertationes theol. – darunter (ein wenig systemwidrig) Ki.Ar.H.III.63 Carmina gratulatoria Basil. 1615–1724 – und der Abteilung V mit Dissertationes philos. med. et juris. eine Abteilung VI mit Orationes, Carmina et vota gratulatoria. Sie birgt eine Reihe von Sammelbänden und Kapselschriften, prall gefüllt vor allem mit Gelegenheitsgedichten, darunter zahlreichen bukolischen Casualia, insbesondere Epithalamia. Ich notiere beispielshalber ein reizvolles kleines Epithalamium: Ecloge oder Hirtengedicht/ Auff deß belobten Hirten Philisidis Und der Keuschen Schäfferin Thalisien Liebreiche Verehlichung: gehalten den 22. Jenner deß 1655. Jahrs. Getrukt zu Basel/ bey Jacob Bertsche. (Ki.Ar.H VI.8 (19)). Gleich mehrere Prosaeklogen traten ebenfalls unversehens hervor. Wiederum nur ein Beispiel: Schäfferisches Gedicht under dem Nammen Amynthas vnd Svavien vorgestellet/ Bey dem freudigen Hochzeits-Tage/ Deß Ehren- und Noth-vesten Herren Hauptmann Emmanuel Socin/ So dann/ Der viel Ehr-Zucht und Tugend-begabten Jungfrauen Susanna Witzin/ Von jhrem Dienst-ergebenen Thyrsis gunst-nemmend übergeben. Den 4. Febr. 1656. Gedruckt zu Basel bey Georg Decker. (Ki.Ar.H.VI.9 (14)). Selbst noch ein zweisprachiges deutsch-französisches Hirten=Gespräch auf die Hochzeit des Pfarrers der reformierten Kirche in Straßburg Alexander Wolleber mit Salome Schönauer aus Basel fand sich (Ki.Ar.H.VI.9 (32)). Für die Arkadiendarstellung und speziell die regionale Literaturgeschichte der Ekloge, wie sie derzeit abgefaßt wird, ist also auch im Blick auf Basel einschlägiges Material in Genüge verfügbar. Blickt man in die unmittelbare Nachbarschaft des historisch-politischen Lieds, immer noch im Schatten von Flugblatt und Flugschrift verharrend, so reicht es, einen einzigen Titel zu notieren, um die Ergiebigkeit eines Vorstoßes auch in diese Region anzudeuten: Raach= und Wehe-schreyendes Elsas/ Uber Seine zwey/ so viel Unheil stifftende Töchtere/ Colmar/ und Straßburg. (Ki.Ar.H.VI.8 (2)). 13 Vgl. Klaus Garber: Der Untergang der alten Hamburger Stadtbibliothek im Zweiten Weltkrieg. Auf immer verlorene Barock- und Hamburgensien-Schätze nebst einer Rekonstruktion der Sammlungen

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in ungezählten anderen Städten mit historischen Bibliotheken. Die größte kulturelle Katastrophe seit Menschengedenken hatte das Land heimgesucht, von dem das schwerste Verbrechen seit Menschengedenken ausgegangen war. Wohin man blickte waren die Grundlagen der geschichtlichen Überlieferung zerstört, die als Memorialstätten konzipierten Häuser ihres Auftrags gar nicht mehr oder nur noch unzulänglich gewachsen, da umgepflügt und entwurzelt.14 Der Schweiz, die um Haaresbreite dem von Hitler angezettelten Weltkrieg entging, ist diese grausame Erfahrung erspart geblieben. Ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß dieser Umstand bis heute einem jeden sensiblen Beobachter auf Schritt und Tritt gegenwärtig ist. Eine Gastprofessur im vergangenen Jahr in Basel hat mich in dieser Erfahrung bestärkt. Hier aber geht es immer noch um die Lösung eines Rätsels, welches den Leitfaden unserer kleinen Betrachtung abgibt. Europa, so zeigten wir, beteiligte sich, von Ausnahmen abgesehen, an der Schaffung eines Handbuchs der deutschen historischen Buchbestände, wie sie verstreut über den ganzen Kontinent eine bibliothekarische Bleibe haben. Die Schweiz, zu großen Teilen deutschsprachig und also selbstverständlich dem historischen alten deutschen Sprachraum zugehörig, sollte sich dem Unternehmen verweigert und keinen Anlaß gesehen haben, ihr Wort in dieser gewichtigen kulturpolitischen Mission in die Wagschale zu werfen?

Hamburger Gelegenheitsgedichte. In: Festschrift Horst Gronemeyer. Hg. von Harald Weigel. Herzberg 1993 (bibliothemata 10), S. 801–859. Eingegangen in ders.: Das alte Buch im alten Europa (wie Anm. 1), S. 237–283. Dazu Hermann Tiemann: Der Wiederaufbau der Staats- und Universitätsbibliothek. 1. Jahresbericht: Bis zum Ende des Jahres 1945. Hamburg 1946. 14 Dazu nach wie unüberholt Georg Leyh: Die deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken nach dem Krieg. Tübingen 1947. Vgl. von Leyh auch: Die Lage der deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken nach dem Kriege. In: Kultur-Archiv 1 (1946), 4./5. Folge, S. 234–240. Hier heißt es einleitend: „Zwölf Jahre haben für eine verantwortungslose Staatsführung ausgereicht, um Deutschland als politische Macht, ja als einheitlichen Staat auszulöschen. Der totale Krieg, aus Prinzip hartnäckig weitergeführt, obwohl er längst verloren war, mußte in der totalen Vernichtung des Staates, der Wirtschaft, aber auch der Wissenschaft enden. Älteste deutsche Städte wurden in Schutthaufen verwandelt, zahllose Kulturdenkmäler, Zeugnisse einer tausendjährigen reichen Vergangenheit, wurden zerschlagen. Die Mehrzahl der wissenschaftlichen Bibliotheken sind aufs schwerste getroffen. Viele Gebäude sind in Trümmer gelegt, andere auf Jahre und Jahrzehnte kaum benutzbar. Millionen von Bänden, darunter Tausende von Handschriften und seltenen Drucken, sind verbrannt, zerfetzt, verschollen, viele Hunderttausende verlagerter Bände warten seit Jahr und Tag auf die Rückkehr und Wiederaufstellung in ihren alten Gebäuden, unersetzliche Kataloge sind ganz oder zu Teilen vernichtet. Nur einige wenige größere Bibliotheken sind in vollem Umfang arbeitsfähig geblieben. [...] Es ist eine Kulturkatastrophe, die in der Geschichte der Bibliotheken und in der Geschichte der Wissenschaft keinen Vergleich hat.“ Es ist nicht zu sehen, daß dieser Sachverhalt im öffentlichen Bewußtsein Deutschlands nachhaltige Spuren hinterlassen hätte. Eine substantielle Beunruhigung scheint von ihm nicht auszugehen. Dazu Klaus Garber: Nation – Literatur – Politische Mentalität. Beiträge zur Erinnerungskultur in Deutschland. Essays, Reden, Interventionen. München 2004.

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Ich kann nur einen einzigen Grund für diesen doch des Staunens und Aufmerkens hinlänglichen Anlaß bietenden Sachverhalt erkennen. Die Schweiz kannte keine Krise ihrer geistigen Überlieferung, sofern und in dem Maße, wie sie mit den Geschicken von Bibliotheken verbunden war. Ihre der Magazinierung von Wissen und der Handreichung von Bausteinen einer lebendigen Vergangenheit gewidmeten Häuser waren keiner Zerreißprobe ausgesetzt gewesen. Es gab entsprechend auch keine vordringliche Veranlassung, Revision zu halten, Übersicht über das anderwärts häufig nur zufällig Erhaltene zu gewinnen, Verluste zu bilanzieren, durchgreifend eine Inspektion vorzunehmen, wie es allfällige Aufgabe in Häusern war, in denen häufig kein Stein auf dem anderen geblieben war. Es war mit anderen Worten offensichtlich kein dringlicher Handlungsbedarf gegeben wie anderorts in Deutschland, aber auch in anderen vom Krieg heimgesuchten Ländern Europas.

Erkundungen in Zürich Und eben hier setzt unser Beitrag an zu jenem Werk, um das es an dieser Stelle geht. Unsere Reise im Sommer 1988 führte weiter nach Zürich und nach Bern. In beiden Städten wiederholte sich ein aus Basel vertrautes Erlebnis. In der Zentralbibliothek Zürich stieß der Besucher auf die Spuren eines Projekts des verehrten Kollegen Rolf Tarot. Denn hier lag ein zweibändiger Computerauszug über die literarischen Verhältnisse der Stadt Zürich im 17. Jahrhundert vor, in dem einschlägiges Material zu einem gleichlautenden Forschungsvorhaben präsentiert wurde. Auf einem Vorsatzblatt zu dem Katalog waren die Zielsetzungen des Projekts nominiert. Sie kreisten, wie kaum anders zu erwarten, um das Problem der regionalen Erschließung des Casualschrifttums: 1. die Erhebung der heute vorhandenen Drucke (und z. T. Handschriften) des 17. Jh. aus Zürich als Basis für die in einem 2. Schritt geplanten Detailanalysen. Um die tatsächliche Bedeutung der Casualliteratur im 17. Jh. abschätzen zu können, fehlen einstweilen exemplarische Analysen überschaubarer Literaturplätze. Die Einschränkung auf einen Ort ergibt sich aus den Distributionsbedingungen im 17. Jh.: Gelegenheitsschriften haben größtenteils regionalen Charakter.15

Eben diesem Schrifttum galt unsere besondere Aufmerksamkeit. Sogleich aber zeigte sich, daß die in Zürich versammelte druckgeschichtliche Überlieferung an ein und derselben Stelle weit darüber hinaus führte. Gleich am Beginn der Recherchen stieß ich auf eine Böhmen in den entscheidenden zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts gewidmete neunbändige Kollektion, ihrerseits Bestandteil einer mächtigen Sammlung politischen Schrift15 Eine gedruckte Äußerung Tarots zu dem Projekt liegt m.W. nicht vor. Man vergleiche jedoch: Rolf Tarot: Einführendes Referat zum Rahmenthema: Stadt und Literatur im 17. Jahrhundert. In: Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Hg. von Albrecht Schöne. München 1976, S. 3–9.

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tums aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Nicht weniger als 24 dickleibige Sammelbände gingen durch meine Hände. Sie standen in einer Abteilung Gal XVIII der alten Zürcher Stadtbibliothek, die Libri miscellanei et tractatus varii sec. 16 et 17 vereinigte und sich rasch als entscheidende Fundgrube erwies.16 Da finden sich unter der Ordnungsnummer 27 neulateinische Trauergedichte, darunter Opitzens Funeralschrift für Ulrich von Holstein (Nr. 12), unter der Nummer 61 sind weitere neulateinische Epicedien aus dem frühen 17. Jahrhundert vereinigt, unter Nummer 88 Epithalamia, darunter ein Berner Hirtengespräch aus dem Jahr 1653 (Nr. 5). Mit der Nummer 214 beginnen die Helvetica. Und hier erweist sich die Nummer 227 als einschlägige Quelle: Specimina Poesiae Helv. Tigurinae. Sammlung von allerhand Zürichenscher Hochzeit=Gedichten nach dem Geschmack verschiedener Zeitaltern. Collegit Johannes Leo Helv. Tunic.17 Der Band steht im Zeichen des späten 17. Jahrhunderts und bietet eine hervorragende Perspektive auf die theologisch inspirierte Deutung der Ehe; zahlreiche Hochzeitsgedichte entstammen der Feder von Geistlichen. So ist es symptomatisch, daß in einer der vergleichsweise wenigen bukolischen Epithalamia ein geistliches Hirten-Lob angestimmt wird (Nr. 33). Stößt dann der Suchende in unmittelbarer Nachbarschaft (XXVIII, 228) auf einen weiteren Sammelband Varia Turica Gratulationes Carmina Tom. II, der möglicherweise das Komplement zu dem neugebundenen Vorgänger darstellt, so weiß sich der auf die literarischen Verhältnisse in der städtischen Gemeinschaft erpichte Literaturhistoriker insbesondere für das 17. Jahrhundert auch für Zürich hinreichend versorgt.18

16 Eine nähere Beschreibung dieser für den Literaturwissenschaftler besonders wichtigen Quellengruppe in der heutigen Zürcher Zentralbibliothek liegt bislang m.W. nicht vor. Der erwähnten Flugschriften-Sammlung hat der Leiter der Abteilung für Handschriften und wertvolle alte Drucke Urs B. Leu eine eingehende Untersuchung gewidmet: „Nuhu trit herfur o pfaltzischer Lew“. Eine unbekannte Flugschriftensammlung zum Dreissigjährigen Krieg in der Zentralbibliothek Zürich. In: Gutenberg-Jahrbuch 84 (2009), S. 289–306. 17 Aus dem erwähnten Zürcher Projekt Rolf Tarots hervorgegangen ist die Studie von Ruth Ledermann-Weibel: Zürcher Hochzeitsgedichte im 17. Jahrhundert. Untersuchungen zur barocken Gelegenheitsdichtung. Zürich / München 1984 (Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte 58). Die Arbeit ist mit einem ausführlichen Quellenverzeichnis zu den Zürcher Hochzeitsgedichten zwischen 1600 und 1700 ausgestattet, die sich in der Zürcher Zentralbibliothek befinden. 18 Zum Gratulationsschrifttum Zürcher Provenienz vgl. die weit ausholende Untersuchung von Regula Weber-Steiner: Glückwünschende Ruhm- und Ehrengedichte. Casualcarmina zu Zürcher Bürgermeisterwahlen des 17. Jahrhunderts. Bern 2006 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 43). Auch diese Arbeit verfügt über eine Beschreibung der einschlägigen Sammelschriften und Einzeldrucke; eine Reihe von Texten wird exemplarisch in vollem Wortlaut dokumentiert. Der Zugang zu zwei wichtigen Quellengruppen ist also in Zürich über die beiden vorliegenden Arbeiten gewährleistet.

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Im Herzen der Reformierten: Die Sammlung Bongars in Bern Anders stellte sich die Situation auf der letzten Station dieser ersten bibliothekarischen Reise in die Schweiz der späten achtziger Jahre dar. Sie galt der Burgerbibliothek zu Bern. Hier erfolgte die Begegnung mit der Bibliothek des Jacques Bongars und damit der Person ihres zeitweiligen Betreuers Georg Michael Lingelsheim.19 Die Augen konnten einem nur übergehen. Während die Heidelberger Bibliothek, die Palatina, nach dem Sturz des Winterkönigs und der Eroberung der Pfalz den Weg in die Emigration zu dem Erzwidersacher nach München und zur päpstlichen Kurie in Rom angetreten hatte, war in der Bibliothek 19 Die Bibliothek Bongars – gleichermaßen eine Handschriften und Drucke umfassende mächtige Kollektion – ist schon im 19. Jahrhundert hervorragend erschlossen worden: Catalogus Codicum Bernensium (Bibliotheca Bongarsiana). Edidit et praefatus est Hermannus Hagen. Bern 1875. Dieses Verzeichnis enthält S. 515 ff. eine Appendix librorum impressorum quibus notae marginales ascriptae sunt conspectus. In der Praefatio zum Werk eine Biographie Bongars (p. XIV ss.). Eine solche auch sehr viel ausführlicher in Hermann Hagen: Zur Geschichte der Philologie und zur romanischen Litteratur. Vier Abhandlungen. Berlin 1879. Abh. 2: Jakobus Bongarsius. Ein Beitrag zur Geschichte der gelehrten Studien des 16. und 17. Jahrhunderts, S. 53–216. Diese Abhandlung enthält zahlreiche Briefe von und an Bongars im Anhang. Weitere findet man – herrührend vor allem aus der Uffenbach-Wolfschen Sammlung der Hamburger Stadtbibliothek – in der wiederum grundlegenden Abhandlung von Carl Schultess: Aus dem Briefwechsel des französischen Philologen und Diplomaten Jacques Bongars (1554–1612). In: Beiträge zur Gelehrtengeschichte des siebzehnten Jahrhunderts. Festschrift zur Begrüssung der 48. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner zu Hamburg im Jahre 1905. Dargebracht von Edmund Kelter u. a. Hamburg 1905 (Wilhelm-Gymnasium zu Hamburg), S. 103–197. Hier wiederum S. 105–152 eine eingehende Biographie, darin Kapitel 9, S. 146–151: Literarischer Nachlaß und Briefwechsel. Desgleichen eine Charakteristik der zeitgenössischen Briefeditionen, vornehmlich der Briefe von Bongars an Joachim II. Camerarius (1646) und seines Briefwechsels mit Georg Michael Lingelsheim nebst weiterer Beigaben (1660). Zeitgleich mit der Arbeit erschien eine weitere von Raphel Breuer, die erstmals vor allem den politischen Horizont des Wirkens vor Bongars ausleuchtet. Vgl. Raphael Breuer: Der Berner Codex 149b. Beiträge zur Biographie des Jacques Bongars und zur Geschichte seiner diplomatischen Tätigkeit in Deutschland (1589–1606). (Diss.) Heidelberg 1905. Die jüngste Arbeit stammt von Ruth Kohlndorfer-Fries: Diplomatie und Gelehrtenrepublik. Die Kontakte des französischen Gesandten Jacques Bongars (1654–1612). Tübingen 2009 (Frühe Neuzeit 137). Auch hier gibt es ein einschlägiges Kapitel: Zur Praxis der Gelehrsamkeit – Sammeln, Tauschen, Edieren von Büchern und das Verfassen eigener Schriften, S. 86–105. Die Drucke der Bibliothek Bongars sind inzwischen katalogisiert: Bongarsiana. Die Druckschriften in der Stadt- und Universitätsbibliothek Bern. Erläuterungen von Margaret Eschler anlässlich der Neubearbeitung und Katalogisierung der Bongarsiana. Leiden 1994. Zu dem Stifter der Bibliothek vgl. Hermann Hagen: Jakob von Gravisset, der Donator der Bongarsischen Bibliothek. In: Berner Taschenbuch 28 (1879), S. 156–206. Schließlich mag der Verweis auf eine Ausstellung willkommen sein: Christoph von Steiger: „Ein herrliches Präsent“. Die BongarsBibliothek seit 300 Jahren in Bern. Handschriften und Drucke aus 1000 Jahren. Bern 1983. Inzwischen ist eine Trennung der Bestände vorgenommen worden. Die Handschriften der Bongars-Bibliothek werden in der Burger-Bibliothek verwahrt, die Drucke in der Stadt- und Universitätsbibliothek.

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Bongars das reformierte Gelehrtentum Europas um 1600 mit Heidelberg im Zentrum in wunderbarer Geschlossenheit beisammen.20 Wie sonst vielleicht nur in der Bibliothek der Dupuys zu Paris gewann der Betrachter mit einem Schlag eine Ahnung von dem weitgeknüpften politisch-kulturellen Netz der calvinistischen nobilitas literaria in ihrer Hochzeit um 1600 vor der Böhmischen Katastrophe.21 Wegweiser für den wie stets nur wenige Tage verweilenden Reisenden blieb neben dem Hagenschen Katalog ein in einer Prachthandschrift vorliegender Clavis Bibliothecae Bongarsianae. Anno MDCXXXIIII. In ihm gibt es an sechster Position eine Classis Poëtae. Ars Poetica. Es reichte, sich an dieser Stelle ein wenig umzutun, um die Bedeutung der Bibliothek Bongars auch für die in den Mittelpunkt gerückte Gattung des Gelegenheitsgedichts zu erkennen. Wir blicken in unsere – freilich spärlichen – Notizen aus dem Jahr 1987. Sogleich traten uns Sammelschriften mit den Epicedien zum Tode von Lipsius und den Epithalamia zur Hochzeit von Gruter entgegen. Verharren wir für einen Moment bei dem letzteren: Jn nuptias Jani Gruteri et Catharinae Stockeliae. Vota gratulationesque amicorum. Celebrantur XII. Maii. 1601. So der Titel der Sammelschrift. An erster Position steht selbstverständlich Melissus Schede mit einem Melos. Ihm folgen Marquard Freher, Cunrad Rittershusius, Bernhard Praetorius, Isaac Memmius, Laurentius Frisaeus, Michael Piccartus, Johannes Adamus, Christopherus Donauerus und Johann Philipp Pareus.22 Angebunden an die Gruter-Ehrung ist die Hochzeitsschrift für Lingelsheim: In nuptias Georgii Michaelis Lingelshemii IC. Consiliarii Pal. et Agnetis Loefeniae Michaelis Loefenii IC. Consil. Palat. F. Vota bona amicor. Heidelberg 1596. Wieder beginnt Melissus Schede. Es folgen Hippolyt à Collibus, Volrad von Plessen, Marquard Freher, Janus Gruter, Ludwig Camerarius, Ludwig Olevian, Alexander Becker, Jacob Sidericus und Johann Caspar Grynaeus.23 20 Zu Heidelberg um 1600 sowie dem Weggefährten von Bongars und zeitweiligen Verwalter seiner Bibliothek grundlegend Axel E. Walter: Späthumanismus und Konfessionspolitik. Die europäische Gelehrtenrepublik um 1600 im Spiegel der Korrespondenzen Georg Michael Lingelsheims. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 95). Hier S. 389–398 zur Biographie von Bongars und zu seinem Briefwechsel mit Lingelsheim. Vgl. auch den gehaltreichen Sammelband Späthumanismus und reformierte Konfession. Theologie, Jurisprudenz und Philosophie in Heidelberg an der Wende zum 17. Jahrhundert. Hg. von Joseph S. Freedman u. a. Tübingen 2006 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 31). 21 Dazu Klaus Garber: Paris, die Hauptstadt des europäischen Späthumanismus. Jacques Auguste de Thou und das Cabinet Dupuy. In: Res publica litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Hg. von Sebastian Neumeister und Conrad Wiedemann. Wiesbaden 1987 (Wolfenbüttler Arbeiten zur Barockforschung 14), S. 71–92. In überarbeiteter Fassung eingegangen in ders.: Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit. Gesammelte Studien. München 2009, S. 419–442. 22 Eine genauere Analyse des Epithalamiums für Gruter liegt m.W. bislang nicht vor; sie bleibt ein Desiderat. 23 Das Epithalamium für Lingelsheim und Agnes Loefen ist inzwischen von Axel E. Walter in seiner oben (Anm. 20) zitierten Untersuchung ediert und hinsichtlich der Beiträger im einzelnen aufge-

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Es ist dies im Blick auf die bekannten Namen genau jene Gruppe, die auch in den von Rittershusius herausgegebenen Sacra Strena, einer Psalmen-Paraphrase, hervortritt. Strena Altdorfina à Rittersh[usio] edita aus dem Jahr 1602 gelangten zu Bongars. Einschlägig bleibt in der Bongars-Bibliothek für das poetische Kleinschrifttum die VI. Class. Miscellanei, Carmina variae nuptial. & funebria enthaltend. Hier finden sich Beiträge von und über Michel L’Hopital, Philipp de Marnix, Johannes Passeratus, Nathanus Chytraeus, Hippolyt à Collibus, Nicolaus Pithaeus, Cunrad Rittershusius, Cornelius Mylius, Hugo Grotius, Jakob van Heemskercken, Barlaeus (mit einem Planctus Corydonis ad Phoebum) etc. Wie ein Brückenschlag nach Paris will es erscheinen, daß noch die ganz seltene Grabschrift für Claude Dupuy aus dem Jahr 1607 unter Nr. 23 Eingang in die Sammlung gefunden hat.24 Der Bukolikforscher aber weiß, warum auch ein Werk wie Sidneys Arcadia das Interesse von Bongars fand, erhielt es doch politische Schlüsselbotschaften des großen Dichters und Politikers in Fülle.

III. Das Projekt Stadt und Literatur und die kulturwissenschaftliche Forschungsstelle in Engi Wir brechen ab und müssen es bei diesen ersten und durchaus vorläufigen Hinweisen belassen. Warum aber die Erinnerung an Bibliotheksreisen, die im Herbst 1987 nach einem ertragreichen Forschungsfreijahr mit jenen in die Schweiz zu einem vorläufigen Abschluß gelangten? Weil sie den letzten Anstoß gaben zu einem Projekt, das nun direkt hinführt zu einer mit ihm wie mit dem Schweizer Handbuch dauerhaft verbundenen Person. Von Kiel bis Bern, von Breslau bis Straßburg und wohin man blickte, waren bedeutende Sammlungen in den Kommunen des alten deutschen Sprachraums mit einschlägigem Kleinschrifttum aus dem 16. bis 18. Jahrhundert ans Tageslicht getreten. Sie verlangten nach Aushebung und Inventarisierung, nach Beschreibung und Auswertung. Das Projekt der Gründung eines Arbeitskreises Stadt und Literatur zeichnete sich vor dem geistigen Auge ab. Drei Jahre später, im Herbst des Jahres 1990 wurde es Wirklichkeit. Eben waren die politischen Schranken gefallen, da folgten die Gäste aus Ost und West, Nord und Süd einer Einladung nach Osnabrück und widmeten sich einige Tage den schlüsselt worden. Vgl. die entsprechenden Passagen (S. 181–188) sowie die Edition im Anhang selbst (S. 546–563). Auf S. 181 heißt es: „Der Gelegenheitsdruck ist mir nur in einem, bisher von der Forschung nicht beachteten Exemplar in der Stadt- und Universitätsbibliothek Bern bekannt, wo er sich in der Borgarsiana befindet. Er stammt also aus dem Besitz Jacques Bongars’.“ So geht’s dem Bibliotheksreisenden, der nur selten Gelegenheit findet, seine Funde auch zügig bekannt zu machen. 24 Vgl. V. Amplissimi Clavdii Pvteani Tvmvlvs. Paris 1607.

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Fragen einer um die Stadt gruppierten Philologie und Soziologie von Texten, deren vornehmster Lebens- und Wirkungsraum die in dieser Form nur in den Städten anzutreffenden Institutionen und die in ihnen wirkenden Personen waren: Schulen und Gymnasien, gelegentlich Universitäten, Kirchen und Konsistorien, Ratsstuben und Kanzleien, Bibliotheken und Archive etc. Eine zweibändige voluminöse Kongreß-Dokumentation gab Kunde von dem in Osnabrück Verhandelten.25 Unter den Anwesenden waren selbstverständlich auch Gäste aus der Schweiz, darunter einer aus Engi. Wir haben uns in Osnabrück überhaupt erst kennen gelernt, wenn ich recht erinnere, Hanspeter Marti aber hat später einmal erzählt, daß die Osnabrücker Veranstaltung und die Bekanntschaft mit der Osnabrücker Forschungsstelle zur Literatur der Frühen Neuzeit den Anstoß gegeben hätte für die Gründung der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen in Engi, die Hanspeter Marti mit seiner lieben Frau begründet hat und für deren Wirken wir tief dankbar sind.26 Seither verbindet uns ein freundschaftlicher Kontakt und seither wurden immer mal wieder Pläne geschmiedet, wissen wir uns doch getragen von der gemeinsamen Überzeugung, daß es unsere Aufgabe als Geisteswissenschaftler ist, Sorge zu tragen dafür, daß die geistige Überlieferung nicht abreißt und also vor allem auch den weniger beachteten Textgruppen und Schriftstellern die nötige Zuwendung zuteil wird. Darüber sogleich noch ein wenig mehr.

Ein erster Blick in das Handbuch Historischer Buchbestände in der Schweiz Recht bald trat ein Projekt in unseren Gesichtskreis, das uns fortan stets wieder beschäftigte. Je weiter nämlich das Handbuch der deutschen historischen Buchbestände fortschritt und sich über ganz Europa ausdehnte, um so weniger ließ sich die Frage unterdrücken, wie es denn wohl um die Schweiz bestellt sei. Die eben erwähnten Reisen hatten ein so eindrucksvolles Bild von dem Quellenreichtum in Schweizer Bibliotheken vermittelt, daß es schlechterdings unvorstellbar erschien, daß das bibliothekarisch gesegnete Land in dem europäischen Konzert nicht vernehmbar sein sollte. Das Nachbarland Österreich war vor geraumer Zeit vorangegangen; es durfte nur eine Frage der Zeit sein, wann die Schweiz folgen würde. Nun, so weit ich weiß, war es ein langer und keineswegs immer leichter Weg, der zu beschreiten war, um dem gewünschten Ziel näher und schließlich dann doch auch an sein 25 Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Bd. 1–2. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 1998 (Frühe Neuzeit 39). 26 Verwiesen werden darf auf Hanspeter Marti: Frühneuzeit- und Aufklärungsforschung aus privater Initiative und in eigener Verantwortung. Die Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen in Engi GL. In: Pro Saeculo XVIIIo. Societas Helvetica. Bulletin Nr. 34, Juni 1909, S. 8–12. Vgl. auch ders.: Programm und Exempel. Zur Gründung der ‚Stiftung für kulturwissenschaftliche Forschungen‘ mit Sitz in Engi (Kanton Glarus, Schweiz). In: Programm und Exempel. Tartu 1996 (Texte und Studien der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen 1), S. 2–5.

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Ende zu kommen. Darüber wissen andere Personen entschieden mehr als der aus der Ferne gelegentlich herüberblickende Beobachter. Daß aber das Handbuch der historischen Buchbestände in der Schweiz zu einem glücklichen Abschluß gekommen ist, kann außer den unmittelbar beteiligten Bearbeitern, den Förderern sowie dem Verleger niemanden mehr freuen als denjenigen, der sich über Jahre innigst gewünscht hatte, diesen Schlußstein des gewaltigen Baus gesetzt zu sehen. Ergreift er also das Wort im Moment des Erscheinens, so doch nur, um als Erster auszusprechen, was zukünftig viele dankbare Benutzer so oder ähnlich artikulieren werden. Daß ihm dabei das Glück zustatten kommt, einem der drei Promotoren des Werkes freundschaftlich verbunden zu sein und darüber hinaus mit einem andersgearteten und doch vergleichbaren Unterfangen bei eben jenem Verleger, der auch das nun vorliegende Werk betreut hat, ein publizistisches Zuhause gefunden zu haben, so ist dies eine mit Freude und Behagen wahrgenommene Koinzidenz.

Sonderstellung unter den Ländern Europas Werfen wir also einen knappen ersten Blick in dieses nun vorliegende dreibändige Werk, so ist sofort evident, daß eigene Wege beschritten worden sind. Nicht mehr nur geht es um das Aufkommen deutscher historischer Buchbestände in einem Land jenseits der Bundesrepublik, sondern um die historischen Buchbestände eines Landes insgesamt. Nur in Österreich war außerhalb Deutschlands bislang so verfahren worden. Damit aber kommt die deutsch- und die französisch-, die italienisch- und die rätoromanisch-sprachige Schweiz gleichermaßen zum Zug. Diese Entscheidung ist uneingeschränkt zu begrüßen. Und mit ihr ist zugleich sichergestellt, daß das Schweizer Handbuch zusammen mit dem Österreich gewidmeten eben aufgrund dieses Merkmals eine Sonderstellung zukommt. Ja, mehr als das. Es könnte den Auftakt bilden zu vergleichbaren Unternehmungen in anderen Ländern Europas, ihr historisches Buchaufkommen als ganzes, sofern magaziniert in Bibliotheken, gleichfalls zu beschreiben und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Kein Online-Katalog kann die sachliche Erschließung und porträtierende Charakteristik von Buchsammlungen ersetzen. Insbesondere Länder, die sich am Handbuch der deutschen historischen Buchbestände in Europa bislang nicht beteiligt haben, könnten sich aufgerufen fühlen, dem Schweizer Beispiel zu folgen. Die gewisse Verspätung im Blick auf die Präsentation der deutschen historischen Buchbestände wäre dann mehr als ausgeglichen durch die im Verbund mit Österreich gewonnene Pionierfunktion im Blick auf ein alternatives und höchst attraktives Modell.

Bibliothekarischer Mikroorganismus Doch zurück zu dem Werk selbst. Es reicht ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der drei Bände, um staunend zu verharren. Da figurieren natürlich die großen Bibliotheken des Landes, die erwähnten in Basel, Zürich und Bern, die anderweitigen bekannten Universi-

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tätsbibliotheken, die bibliothekarische Zimelie in St. Gallen und so fort. Keine Phantasie aber hätte hingereicht, um die Vielfalt der über Stadt und Land sich erstreckenden dichten bibliothekarischen Infrastruktur zu imaginieren. Auch die Schweiz ist reich an Stadt- und Kantons- sowie an Kirchen- und Klosterbibliotheken, Bibliotheken von Ordensgemeinschaften und Glaubensbekenntnissen etc. Was jedoch ins Auge fällt, ist die ungemein differenzierte Besetzung mit Spezialbibliotheken, einer Person, einem Fachgebiet oder einer musealen Einrichtung gewidmet. Man braucht gar nicht in die Artikel selbst hereingeschaut zu haben, um zu bemerken, daß ein lebhaftes Bedürfnis vorhanden ist, sich vor Ort und an bestimmten Lokalitäten der herrschenden Bräuche und Überlieferungen zu versichern und ihnen eine bibliothekarisch-museale Bleibe zu verschaffen. Das Land lebt, ohne daß der Betrachter sich unstatthafter Glorifizierung schuldig machen möchte, in engem Kontakt mit seiner Geschichte, und diese reicht bis in die sozialen Mikroeinheiten hinab. Nichts, so möchte es scheinen, daß nicht wert wäre, in Schrift überführt und sodann der Gemeinschaft öffentlich zugänglich gemacht zu werden. Buchkultur, so erweist sich, trägt maßgeblich bei zu bürgerschaftlichem Bewußtsein, und das Handbuch flektiert diesen bewundernswerten Sachverhalt möglicherweise zum ersten Mal eindrucksvoll.

Gesegnete Bibliothekslandschaft Das Handbuch hat den Aufbau der Vorgänger weitgehend bewahrt und damit gewiß richtig getan. In der Schweiz aber tritt damit ein Problem so gut wie nicht zutage, das in den den deutschen Buchbeständen gewidmeten Bänden unverkennbar ist. Aufgabe eines Handbuchs der historischen Buchbestände in Deutschland wäre es gewesen, nicht nur über Vorhandenes mehr oder weniger ausführlich zu berichten, sondern auch den Verlusten historiographisch Rechnung zu tragen. Erst beides zusammen genommen hätte ein authentisches Bild vermittelt. Und wann und wo wäre dazu mehr Veranlassung gewesen als nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, der eben bibliothekarisch auf deutschem Boden selbst die verheerendsten Folgen zeitigte. Das große Buch über den Untergang der deutschen Bibliotheken bleibt zu schreiben, und der Verfasser dieser Zeilen hat Vorkehrungen dafür getroffen.27 Mit diesem Problem aber ist die Schweiz so gut wie gar nicht konfrontiert. Das Handbuch, das jetzt zustande gekommen ist, dokumentiert einen häufig über Jahrhunderte gewachsenen und in aller Regel stetig gemehrten und intakt gebliebenen Bestand. Es sollte eine jede Gelegenheit genutzt werden, diesen keinesfalls selbstverständlichen und wie von einem Strahl des Segens umspielten Sachverhalt in Erinnerung zu rufen. 27 Im Osnabrücker Institut ist das Manuskript eines unabgeschlossenen Buches verfügbar, das den Arbeitstitel trägt: Die Zerstörung der deutschen Bibliothek im Zweiten Weltkrieg. Es wird zu gegebener Zeit zum Abschluß geführt werden.

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Verbalisierte Sachkataloge Kürzer und knapper aber, so denke ich, ist selten ein großes und auf lange Zeit hin konzipiertes Handbuch eingeleitet worden als das vorliegende. Wo Namen und Titel ansonsten prangen, herrscht bescheidene Zurückhaltung, auch das ja doch wohl einem vor allem aus Deutschland herüberblickenden Beobachter ins Auge springend und dankbar vermerkt. Und der gesteht gerne, in den wenigen Absätzen Gedanken niedergelegt gefunden zu haben, die akzentuiert und zitiert zu werden verdienen. Historische Buchbestände sind in aller Regel unzulänglich erschlossen. An ihrer Katalogisierung und Digitalisierung wird allerorten lebhaft gearbeitet. Wird das Handbuch dadurch überflüssig? Im Gegenteil. Es leistet das, was die anderen Hilfsmittel nicht leisten. In den Worten der Direktorin der Zürcher Zentralbibliothek, in der über Urs B. Leu die Fäden des Unternehmens zusammen liefen: Kataloge und Bibliographien dienen dem Zugriff auf einzelne Bücher, das Handbuch lässt Strukturen und Eigenarten von Bibliotheken erkennen. [...] Nicht Nennung einzelner Titel ist die Aufgabe des Handbuchs, sondern die reflektierende Analyse der Bausteine, die eine Büchersammlung ausmachen. Der Deutlichkeit halber überspitzt, könnte man die Bestandsbeschreibung eine Verbalisierung der Sachkataloge ohne Angabe von einzelnen Titeln nennen. Das Handbuch stellt die Bibliotheksbestände in historische und systematische Zusammenhänge, was konventionelle Erschliessungsinstrumente nicht leisten können.28

Treffender und pointierter könnte man es nicht sagen. Mit dem nun vorliegenden Handbuch ist Benutzern und Bibliophilen in der Schweiz, darüber hinaus aber allen dem historischen Buch zugetanen Lesern und Forschern ein Vademecum zugefallen, das sie alsbald nicht mehr werden missen mögen. Dank also ist den Bearbeitern, den mitwirkenden Institutionen und nicht zuletzt dem Verlag auszusprechen, der dem noch einmal eine so gediegene Gestalt zu verleihen gewußt hat.

IV. Zugleich mag der erfolgreiche Abschluß des Handbuchs zum Anlaß genommen werden, Gedanken für ein anders geartetes Anschlußprojekt niederzulegen. Das Buch wird auch in einer gewandelten digitalen Welt seine unvertretbare Aufgabe bewahren, darin ist die Fachwelt sich einig. An uns ist es, das uns Mögliche zu tun, das Buch erschließend und in historische wie aktuelle Kontexte einrückend zum Sprechen zu bringen. Mit dem Handbuch der historischen Buchbestände in der Schweiz ist ein weiterer großer Schritt voran zu

28 Susanna Bliggenstorfer: Vorwort. In: Handbuch der historischen Buchbestände in der Schweiz. Hg. von der Zentralbibliothek Zürich. Bearb. von Urs B. Leu u. a. Bd. 1. Hildesheim u. a. 2011, S. 7.

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einem Unternehmen getan, das als eines von vielen möglichen aus dem vorliegenden Werk herauswachsen könnte.

Poetische Kommunikation und gelehrte Interaktion im Zeichen des reformierten Bekenntnisses Kulturelle Räume sind seit dem 16. Jahrhundert bis tief in das 18. Jahrhundert hinein konfessionell grundiert.29 Neben die vertikale ständische Gliederung tritt eine raumübergreifende horizontale, die sich über Bekenntnisbildungen formiert. Kulturtheoretisch und ‑geschichtlich folgt daraus, dem Nexus zwischen den diversen kulturellen Charakteren und der religiösen Positionierung nachzugehen. Diese forscherliche Strategie kann sich auf eine glänzende Tradition zurückbeziehen, wie sie etwa durch das Werk von Max Weber, Ernst Troeltsch und Herbert Schöffler, um nur drei Namen zu nennen, repräsentiert wird. Diese Ansätze weiterzuentwickeln, kann heute nur heißen, kulturelle Ensembles in mikrologischer Feinarbeit zu rekonstruieren und ihrer Vernetzung über konfessionelle Optionen nachzugehen. Als ein Ziel könnte ins Auge gefaßt werden, den über Mitteleuropa sich erstreckenden alten deutschen Sprachraum in seiner kulturellen und konfessionellen Diversität wie in seiner inneren Strukturiertheit in einem großangelegten Forschungsprojekt zum Gegenstand einer interdisziplinären Erkundung zu erheben. Einem derartigen Vorhaben sollte durch sinnvoll angelegte Teilprojekte zugearbeitet werden. Ein solches wird im folgenden skizziert.

29 Es darf verwiesen werden auf die Zusammenstellung entsprechender Arbeiten mit einem regionalen kulturraumkundlichen Ansatz in dem oben (Anm. 25) aufgeführten Werk. Darin Klaus Garber: Stadt und Literatur im alten deutschen Sprachraum. Umrisse der Forschung – Regionale Literaturgeschichte und kommunale Ikonographie – Nürnberg als Paradigma, S. 3–89. Hier S. 32 ff., Anm. 67, eine Kompilation einschlägiger Arbeiten. Zur konfessionellen Strukturiertheit vgl. das großangelegte und weiter fortschreitende, von Anton Schindling und Walter Ziegler in der Reihe Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung erscheinende Gemeinschaftswerk: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650. Münster 1989 ff. Hervorzuheben im Blick auf die generellen Aspekte ist der Band 7: Bilanz – Forschungsperspektiven – Register. Hg. von Anton Schindling und Walter Ziegler. Münster 1997 (Katholisches Leben und Glaubensreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 57). Des weiteren vgl. die beiden Sammelbände: Konfessionelle Pluralität als Herausforderung. Koexistenz und Konflikt im Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Winfried Eberhard zum 65. Geburtstag. Hg. von Joachim Bahlcke u. a. Leipzig 2006; Konfessioneller Fundamentalismus. Religion als politischer Faktor im europäischen Mächtesystem um 1600. Hg. von Heinz Schilling. München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs 70). Schließlich sei verwiesen auf Heinz Schilling: Ausgewählte Abhandlungen zur europäischen Reformations- und Konfessionsgeschichte. Hg. von Luise Schorn-Schütte und Olaf Mörke. Berlin 2002 (Historische Forschungen 75).

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Konfessionelle Topographie im Zeichen des Reformiertentums Womöglich nicht aus europäischer, sehr wohl jedoch aus deutscher Perspektive ist der Beitrag des Reformiertentums zur kulturellen Entfaltung in der Frühen Neuzeit bislang unterschätzt. Deutschland ist konfessionell nach eigenem Selbstverständnis wie aus dem Blickwinkel des Auslands bikonfessionell strukturiert. Vielerlei Gründe haben dazu beigetragen, daß das Herzland der Reformation immer noch in erster Linie als lutherisch geprägt wahrgenommen wird. Bayern fällt in dieser Optik eine bis ins Folkloristische hineinreichende Sonderrolle zu. Entsprechend wird man nicht sagen dürfen, daß es dem Freistaat bislang gelungen wäre, eine Brücke zum europäischen Katholizismus zu schlagen. Das blieb Österreich und zumal Wien vorbehalten. Das reformierte Bekenntnis und sein reicher Beitrag zum kulturellen Leben ist im Bewußtsein kaum gegenwärtig. Es prägt sich darin der Umstand aus, daß ihm eine Entfaltung auf deutschem Boden nach dem verlorenen Aufstand in Böhmen und den böhmischen Nebenländern noch vor dem eigentlichen Beginn des Dreißigjährigen Krieges versagt blieb. Nicht das Luthertum, wohl aber das Reformiertentum wahrte ein enges Verhältnis zum Humanismus, wie es im Luthertum nur über Melanchthon eine sehr spezifische und allemal unpolitische Heimstatt besaß. Kennzeichen des europäischen Reformiertentums und seiner Liaison mit dem Humanismus ist sein prononciertes öffentliches und bündnispolitisches Agieren. Womit angedeutet ist, daß ein auf eine Kernregion zielendes Projekt von vornherein europäisch ausgerichtet ist, weil von der Sache her zwingend nahegelegt.30

Der oberrheinische Kulturraum und das europäische Reformiertentum In der skizzierten Situation kommt dem oberrheinischen Kulturraum eine besondere Stellung zu.31 Er war für eine geschichtlich knapp bemessene Frist ein Kerngebiet reformiert30 Vgl. dazu mit weiterer reicher Literatur: Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa. Hg. von Ansgar Reiss und Sabine Witt. Dresden 2009. Darin Klaus Garber: Die nationalen Literaturen im frühmodernen Europa unter dem Stern des Calvinismus, S. 169–175. Das Werk ist mit einer reichhaltigen Bibliographie ausgestattet. Eine Bresche schlug seinerzeit der Sammelband: Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der ‚Zweiten Reformation‘. Hg. von Heinz Schilling. Gütersloh 1986 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 195). Hierin Klaus Garber: Zentraleuropäischer Calvinismus und deutsche ‚Barock‘-Literatur, S. 307–348. Vgl. auch ders.: Der deutsche Sonderweg – Gedanken zu einer calvinistischen Alternative um 1600. In: Kulturnation statt politischer Nation? Akten des 7. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Bd. 9. Hg. von Franz Norbert Mennemeier und Conrad Wiedemann. Tübingen 1986, S. 165–172. 31 Zum oberdeutschen Kulturraum sei hier nur verwiesen auf den Sammelband: Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile. Im Auftrag der Stiftung ‚Humanismus heute‘ des Landes Baden-Württemberg hg. von Paul Gerhard Schmidt. Sigmaringen 1993; Humanisten am Ober-

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humanistischen Denkens und Schreibens und als solcher ein Brennpunkt europäisch votierender Geistigkeit. Die Gründe dafür können hier nicht dargelegt werden. In dem Maße, wie sich die innerprotestantischen Konflikte seit der Mitte des 16. Jahrhundert verschärften, war es von entscheidender Bedeutung, daß auch im deutschsprachigen Raum sich Zentren und Kristallisationspunkte herausformten, in denen das Reformiertentum sich gegenüber dem dominanten Luthertum behauptete und politischen Flankenschutz erhielt. Böhmen selbst und die böhmischen Nebenländer – Mähren, Schlesien und die Lausitz, ihrerseits in engem religiösen Austausch mit Großpolen, dem Preußen Königlich polnischen Anteils im Nordosten wie mit Ungarn und zumal Siebenbürgen im Südosten Mitteleuropas – waren prädestiniert für eine Rezeption des reformierten Bekenntnisses. Es hatte im Adel wie im Magnatentum nicht anders als in der humanistischen Gelehrtenschaft Wurzel gefaßt. Dies aber implizierte die Markierung eines Konflikts mit dem Habsburger Kaiserhaus. Es ist von geschichtlich schwerlich auszuschöpfender Bedeutung, daß mit der verlorenen Schlacht am Weißen Berg dem reformierten Bekenntnis der Lebensraum in weiten Teilen Mitteleuropas genommen wurde.32 Im Westen bildete der Pfälzer Hof in Heidelberg die Vorhut des reformierten Bekenntnisses auf deutschem Boden. So war es nur folgerichtig, daß von dem Pfälzer Kurfürstentum der Versuch ausging, im konfessionellen und politischen Ringen um 1600 die Führungsrolle des reformierten Bekenntnisses über den Erwerb der böhmischen Königskrone zu behaupten. In den Jahrzehnten um 1600 herrschten die intensivsten Kontakte zwischen den böhmischen Nebenländern und der Pfalz. Doch sie blieben nicht darauf beschränkt. So wie die mitteleuropäische Intelligenz, sofern vom Reformiertentum berührt, nach dem Oberrhein blickte, so verliefen die gelehrten Wanderwege von Heidelberg über das gemäßigt lutherische Straßburg und seine Akademie weiter hinein in die rhein. Neue Gelehrte im Dienst alter Herren. Hg. von Sven Lembke und Markus Müller. Leinfelden-Echterdingen 2004 (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 37). Vgl. auch die einschlägigen Titel in dem Gemeinschaftswerk von Wilhelm Kühlmann und Walter E. Schäfer: Literatur im Elsaß von Fischart bis Moscherosch. Gesammelte Studien. Tübingen 2001; dies.: Frühbarocke Stadtkultur am Oberrhein. Studien zum literarischen Werdegang J.M. Moscheroschs. Berlin 1983 (Philologische Studien und Quellen 109). Wichtig geblieben auch die seinerzeit grundlegende Untersuchung von Erich Kleinschmidt: Stadt und Literatur in der Frühen Neuzeit. Voraussetzungen und Entfaltung im südwestdeutschen, elsässischen und schweizerischen Städteraum. Köln / Wien 1982 (Literatur und Leben 22). Zur konfessionellen Situierung: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650. Bd. 5: Der Südwesten. Hg. von Anton Schindling und Walter Ziegler. Münster 1993 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 53). 32 An dieser Stelle mag hier nur ein weiterführenden Hinweis auf einen Beitrag von Joachim Bahlcke am Platz sein, der in dem oben (Anm. 30) zitierten Werk zum Calvinismus erschienen ist: Calvinismus im östlichen Europa. Entwicklungslinien des reformierten Typus der Reformation vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, S. 196–203.

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Schweiz mit Basel als einem humanistischen Zentrum von wiederum europäischer Strahlkraft.33

Perspektivierung eines Forschungsprojekts Dem oberrheinischen kulturellen und konfessionellen Raum kommt in diesem Sinn eine europäische Schlüsselstellung zu. Als vom Reformiertentum geprägter unterhält er mit den glaubensverwandten Gruppierungen in Mittelost- und Westeuropa gleich intensive Kontakte. Die Intensität dieser Kontakte unterliegt temporären Schwankungen und regionalen Verschiebungen. Unabhängig davon dürfte im konfessionellen Zeitalter keine zweite Gruppierung auszumachen sein, die ein derart dichtes Netz überregionalen und überstaatlichen intellektuellen Austausches ausgebildet hätte wie die dem Reformiertentum anhängende bzw. mit ihm sympathisierende Intelligenz am Oberrhein. Wohin man blickt, laufen die Fäden für eine Weile in den Zentren und Knotenpunkten des Reformiertentums am Oberrhein zusammen. Woran es mangelt, ist eine empirisch gediegene Erhebung und Dokumentation dieses faszinierenden Vorgangs. In seinem Verlauf werden Handlungsmuster supranationalen Charakters erkennbar, die sowohl eine Alternative zur nationalen Formierung wie auch zur lutherischen Abspaltung markieren. Eine gemeineuropäische Kultur im Zeichen von Humanismus und reformierter Orientierung ist dem geschichtlichen Bewußtsein zurückzugewinnen, in deren Mitte Positionen sich herausformen, die auf eine Überwindung des konfessionellen Streits hinauslaufen und vorausweisen auf die Aufklärung. Der oberrheinische Kulturraum stellt dafür ein ideales Beobachtungsfeld dar. Es ist im Hinblick darauf erforderlich, die materialerschließende Dokumentation zu kombinieren mit einer darstellerischen Auswertung. Sie läge in einer Rekonstruktion des oberrheinischen Raums zwischen Reformation und Aufklärung unter besonderer Berücksichtigung der lokalen Gruppenbildungen und ihres jeweiligen Beitrages zur Ausformung und geschichtlichen Entwicklung eines kulturellen Profils, das sich mit eben diesem Raum unverwechselbar verbindet.

33 Diese Zusammenhänge demnächst mit der einschlägigen Literatur neuerlich eingehend dokumentiert in: Späthumanismus – reformierte Konfessionalisierung – politische Formierung. Kulturelle, religiöse und politische Beziehungen zwischen Schlesien und dem deutschen Südwesten um 1600. Hg. von Joachim Bahlcke und Hans-Peter Becht (Pforzheimer Gespräche 5). Dazu die bekannte ältere und quellenkundlich gut dokumentierte Untersuchung von G. Hecht: Schlesisch-kurpfälzische Beziehungen im 16. und 17. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 81 (N.F. 42) (1929), S. 176–222.

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V. Textuelle Fundierung im Dichten bei Gelegenheit Diese Andeutungen müssen hinreichen für den Aufriß eines Forschungsprojekts, das einen gezielten und fest umrissenen textuellen Zugriff verbindet mit einem weitreichenden erkenntnisleitenden Ausgriff. Ziel ist es, über ein besonders qualifiziertes Material eine partielle Rekonstruktion des oberrheinischen Kulturraums zu leisten. Und dies derart, daß über personenkundliche Erhebungen eine bislang nicht existierende Topographie der Akteure und der von ihnen eingegangenen Gruppenbildungen und kommunikativen Kontakte versucht wird. Das für eine solche Untersuchung besonders geeignete Material liegt in einer Gattung vor, deren hervorstechendes Merkmal ihre Omnipräsenz über mehrere Jahrhunderte und ihre Verhaftung an alltagsweltlichem Geschehen ist. Als in der Antike bereits ausgebildete ist sie geprägt durch fixe rhetorische Muster, die ihr Konsistenz und damit Kompatibilität verleihen, andererseits jedoch Öffnungen und Weiterbildungen ebenso wie personelle und gruppenspezifische Adaptationen begünstigen.34 Das in der literarischen Schreibkultur der Frühen Neuzeit verankerte und aus dieser Position heraus die nationalen Literaturen ergreifende Kasualcarmen ist das gegebene Medium, um Prozesse der Konstitution gelehrten Bewußtseins und gemeinschaftlichen Agierens zu studieren. Wie keine andere Schreibform ist sie in jedem einzelnen Beitrag aktual und dialogisch ausgeformt, da auf Anlaß und Adressaten bezogen. Gruppenbildung vollzieht sich also gleichermaßen auf der Ebene von Verfassern und ihrem Zusammenschluß in einem Kreis von Beiträgern wie auf der Ebene der Adressaten im Blick auf deren Lebensräume und personellen Kontakte. Das im folgenden zu skizzierende Projekt wird folglich über die Erfassung und Erschließung von personalem Gelegenheitsschrifttum entwickelt.

Aspekte der institutionellen Operationalisierung Auszugehen ist unserer Vorstellung nach von den Bibliotheken als den maßgeblichen Überlieferungsträgern der im Blick auf das Projekt zur Rede stehenden Gattung, dem Gelegenheitsgedicht. Wir möchten vorschlagen, eine Reihe von Bibliotheken zu nominieren, in denen das fragliche Schrifttum gut dokumentiert und zugleich jeweils regionalspezifisch hinlänglich prägnant ausdifferenziert ist. Dabei ist vorab einzuräumen, daß ange34 Dazu zuletzt: Theorie und Praxis der Kasualdichtung in der Frühen Neuzeit. Hg. von Andreas Keller u. a. Amsterdam / New York 2010. Darin Klaus Garber: Gelegenheitsdichtung. Zehn Thesen – in Begleitung eines forscherlichen Osnabrücker Groß-Projekts, S. 33–37. Vgl. demnächst auch den lexikalischen Eintrag von Axel E. Walter: Gelegenheitspublikationen (Mittelalter/Frühe Neuzeit). In: Medien der Literatur. Ein Handbuch. Hg. von Natalie Binczek u. a. Berlin / New York 2012.

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sichts der geschichtlich begünstigten Überlieferungsverhältnisse der Schweiz eine Führungsrolle in dem Projekt zuwächst. Es wäre folglich wünschenswert, wenn das Projekt in seinen bibliothekarischen Komponenten in der Schweiz angesiedelt wäre. Angesichts der im Zuge einer Schaffung des Handbuchs der Schweizer historischen Buchbestände gewonnenen Erfahrungen könnte es vorteilhaft sein, das Projekt in die organisatorische Obhut der Zentralbibliothek Zürich zu legen. Unser Vorschlag besteht darin, eine Bibliothek in der Bundesrepublik Deutschland, eine Bibliothek in Frankreich und drei Bibliotheken in der Schweiz vorerst für das Projekt zu nominieren und zu einem Projektverbund zusammenzuschließen. Es wären dies idealiter die Universitätsbibliothek Heidelberg, die National- und Universitätsbibliothek Straßburg, die Universitätsbibliothek Basel, die Zentralbibliothek Zürich sowie die Universitätsbibliothek nebst der Burgerbibliothek Bern. Dazu ein knappes Wort zu den nominierten Bibliotheken, im Falle der Schweiz zugleich in systematischer Ergänzung zu den obigen okkasionellen Bemerkungen: – Heidelberg: Die Palatina in Heidelberg war der Ort, an dem das um die pfälzische Politik und Kultur gruppierte Schrifttum aller Couleur zusammenströmte. Es war daher konsequent, daß die habsburgisch-bayerischen Siegermächte auf eine Destruktion dieses Dokumentationszentrums hinwirkten. Die Bibliothek, wie erwähnt, gelangte zu großen Teilen in das München Maximilians II. und in die Bibliothek des Vatikans. Es wäre folglich von erheblichem Reiz, die in Heidelberg verbliebenen sowie die nach München und Rom gelangten Personalschriften dem Projekt insgesamt zuzuführen und derart eine paradigmatische Rekonstruktion auf dem Gebiet des bislang stiefmütterlich behandelten Kleinschrifttums zu initiieren. – Straßburg: Das Zentrum zur Sammlung des lokalspezifischen Schrifttums im Blick auf Stadt und Region war die Straßburger Stadtbibliothek. Sie galt neben der Nürnberger bis zum Übergang an Frankreich und hernach neben der Hamburger als die reichste kommunale Schöpfung auf deutschem Boden. Ihre Zerstörung durch die preußischen Truppen noch vor Einnahme der Stadt selbst im Jahr 1870 erschien wie ein Menetekel nachfolgender bibliothekarischer Katastrophen im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Der große elsässische Historiker Rodolphe Reuss ist sogleich nach dem Untergang an den Wiederaufbau einer städtischen Bibliothek gegangen. Die vor allem von ihm gesammelten Schätze an Alsatica bestimmen bis heute das Profil dieser inzwischen wieder gut ausgebauten Abteilung in der jetzigen National- und Universitätsbibliothek. Gerade das Aufkommen an personalem Gelegenheitsschrifttum ist erheblich. Hinzuzuziehen wären ggf. die reichen Bestände im Stadtarchiv. Und natürlich kann auch daran gedacht werden, Bibliotheken wie Schlettstadt oder Colmar auf französischer Seite in das Projekt mit einzubeziehen. Schließlich sei darauf verwiesen, daß sich reichhaltige Bestände an Straßburger Casualia in der Russischen Nationalbibliothek zu St. Petersburg befinden.

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– Basel: Basel ist ein Zentrum nicht nur des Frühhumanismus und des mit ihm verbundenen Frühdrucks, sondern ebensowohl auch des Späthumanismus gewesen. Insbesondere für die in den Westen emigrierende oder auf der peregrinatio academica in den Hochburgen am Oberrhein Station machende nobilitas literaria des Ostens bildete die Universität Basel einen so gut wie niemals übergangenen Fix- und Haltepunkt. Das entsprechende Schrifttum – Dissertationen, Disputationen, Gratulationen und sonstige Personalschriften – haben sich, wie gleichfalls erwähnt, in einmaliger Geschlossenheit in der Universitätsbibliothek Basel erhalten. Insbesondere die Wanderwege der Basel berührenden akademischen Kreise lassen sich im einzelnen nur über die vor Ort entstandenen und daselbst zumeist auch gedruckten kleinen Texte rekonstruieren. – Zürich: Zürich als Herz der deutschsprachigen Reformation in der Schweiz bewahrt äußerst reichhaltige Sammlungen aus dem Umkreis der gesamten Reformationsgeschichte einschließlich der entsprechenden Flugblatt- und Flugschriftenliteratur. Die letztere greift weit aus und dokumentiert auch das nachreformatorische Geschehen und die Stationen der Konfessionalisierung in großer Dichte. Lange Zeit im Schatten standen die personalen Gelegenheitsschriften. Es ist, um daran nochmals zu erinnern, das Verdienst des Zürcher Literaturwissenschaftlers Rolf Tarot, dieses Quellengut ausgehoben und zum Gegenstand forscherlicher Initiativen gemacht zu haben. Das geplante Projekt der Erfassung und Erschließung ist nicht zum Abschluß gelangt. Die entsprechenden Vorarbeiten sind in die Abteilung für Handschriften und rare Drucke der Zentralbibliothek Zürich gelangt und stehen für das geplante Projekt zur Verfügung. – Bern: In Bern sind ideale Voraussetzungen für das Gelingen des Vorhabens mit den unvorstellbar reichen Sammlungen der Bibliothek Bongars gegeben. Während die Handschriften der Bibliothek Bongars in der Burgerbibliothek verwahrt werden, stehen die Drucke unter dem gleichen Dach in der Universitätsbibliothek Bern. Es gibt m.W. außer der Collection Dupuy in Paris keine andere Sammlung, in der sich der politische Aktionsradius der europäischen Späthumanisten mit Bezug zum Reformiertentum in der Kulminationsphase um 1600 besser studieren ließe als in der Sammlung Bongars. Den Kernbestand bildet das um Heidelberg gruppierte Schrifttum. Doch die Drucke greifen aus auf den gesamten reformierten Kulturraum Europas – Folge der internationalen Kontakte dieser gelehrten Politiker-Generation, für die sich in nie wieder erreichter Symbiose das humanistische Wirken bruchlos mit dem öffentlichen verband. Diese Humanisten pflegten engste Kontakte mit ihren in die Bürgerkriege in Frankreich, den Niederlanden und England involvierten Kollegen. Die Rekonstruktion dieser politisch-theologisch-eruditären Netzwerke in Europa mit den erwähnten Knotenpunkten gehört zu den großen Herausforderungen einer europäisch votierenden Kulturwissenschaft und die Bibliothek Bongars bietet dafür auch über das reiche personale Gelegenheitsschrifttum ideale Voraussetzungen.

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Zusammenfassung des Projektziels Die wenigen voranstehenden Hinweise müssen ausreichen, um das konkrete Projektziel vorläufig und wiederum nur skizzenhaft zu umreißen. Es soll das in den erwähnten Bibliotheken – nebst möglichen Anrainern – vorhandene personale Gelegenheitsschrifttum ausgehoben und digitalisiert sowie katalogisiert, nach einem in Osnabrück entwickelten und erprobten Schema und Kriterienkatalog erschlossen und online zugänglich gemacht werden.35 Die Erschließung betrifft Autoren und sämtliche Beiträger in der Abfolge ihres Erscheinens in einer Sammelschrift und unter Mitführung aller am Namen haftenden näheren Angaben, anlaßstiftende Adressaten und sonstige erwähnte Personen, Drucker und Verleger, poetische Formen und Sprachstand, bildnerische und musikalische Beigaben, Marginalien und handschriftliche Zusätze, Provenienzen und sonstige überlieferungsgeschichtliche Daten einschließlich historischer Signaturen. Aufsetzend auf diesen erschließenden Daten wird ein Register mit angesetzten Personennamen aufgebaut, in der Referenzen bezüglich bestehender Personen-Datenbanken und vorliegende bio-bibliographische Hilfsmittel zusammengeführt und kurze Biogramme bislang unbekannter Personen geboten werden. Zudem werden Wanderwege der Personen und Gruppenbildungen mit dem Ziel dokumentiert, gelehrte und konfessionelle Netzwerke zu rekonstruieren und lokale Schwerpunkte politischen und kulturellen Agierens zu ermitteln. Als Spezialbeitrag werden im Projekt gewonnene neue Informationen über das Wirken von Druckern und Verlegern dokumentiert. Abschließendes Projektziel ist die Ausarbeitung einer Literatur- und Kulturgeschichte des oberrheinischen Raums in der Frühen Neuzeit auf der Basis der aus dem Personalschrifttum geschöpften Daten, die – korreliert mit anderweitigen kontextuellen Elementen – zu einer handbuchförmigen Darstellung führen sollte. Eine solche dürfte am ehesten als ein Sammelwerk aus der Feder von Spezialisten zu realisieren sein. Entsprechende Regularien sollten ebenso wie die Planung des Projekts als ganzem einer vorbereitenden Konferenz vorbehalten bleiben, welche zu einem nicht allzu fernen Zeitpunkt vielleicht in einer der drei Bibliotheken der Schweiz abgehalten werden könnte.

Literaturgeschichte des alten deutschen Sprachraums Im Herzland Mitteleuropas, in Böhmen, wurde ein Gedanke geboren, und in der Schweiz, in Fribourg, erstmals ins Werk gesetzt, nämlich eine Geschichte der deutschen Literatur, gegliedert nach historischen Regionen. Die theoretischen Instrumentarien dafür waren untauglich, weil völkisch und rassistisch verseucht. Die Aufgabe indes bleibt bestehen. 35 Zu den Projekt-Regularien vgl.: Göttin Gelegenheit. Das Personalschrifttums-Projekt der Forschungsstelle ‚Literatur der Frühen Neuzeit‘ der Universität Osnabrück. Hg. von der Forschungsstelle ‚Literatur der Frühen Neuzeit‘ der Universität Osnabrück. Osnabrück 2000 (Kleine Schriften des Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit 3).

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Klaus Garber

Auch am Oberrhein und in der Schweiz lagern einzigartige Bestände an deutscher Literatur, wie sie für eine Literatur- und Kulturgeschichte des alten deutschen Sprachraums vonnöten sind. Dieser aber erstreckt sich von den vorgeschobensten sprachlichen Grenzregionen in der polyglotten Schweiz, einem Europa in nuce, bis hinauf in das Baltikum, vom Niederrhein bis nach Siebenbürgen. Schaue ich also zu unserem Jubilar herüber, so erhoffe ich mir im Blick auf ein gemeinsames Projekt auf der Basis des dafür qualifizierten Klein- und Gelegenheitsschrifttums eine enge Kooperation zwischen den einschlägigen Häusern in der Schweiz und den mit ihnen aufs engste kommunizierenden bibliothekarischen Stätten auf den alten historischen Wanderwegen den Rhein hinauf. Nicht nur die Schweiz, nicht nur die oberrheinische Kulturlandschaft, sondern Europa als Ganzes hat mit dem jetzt vorliegenden Handbuch einen historischen Anker zur Auslotung seiner geschichtlichen Zusammengehörigkeit und zur Stiftung seiner Identität erlangt, welche intensiver und tiefer als in der Politik und der Ökonomie, wie uns diese Tage lehren, eben in der Kultur und im Geist gründet. Möge das Werk in diesem Sinne seine zukunftstiftenden Wirkungen entfalten, zu denen eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages auch eine Dokumentation und Auswertung des Tagesschrifttums im Kontext des oberrheinischen Raums gehören könnte.

Clemens Müller (St. Gallen)

Disputationstexte der medizinischen Fakultät Wien aus dem frühen 16. Jahrhundert Von der mündlichen Disputationspraxis der mittelalterlichen Universität bis zur heutigen schriftlichen Dissertation führt ein faszinierender Weg, der jedoch nicht in allen seinen Phasen befriedigend ausgeleuchtet werden kann. Namentlich für den allmählichen Übergang zur Verschriftlichung der Thesen ist die Materialbasis schmal.1 Ein Zufall der Überlieferung hat uns im Nachlass des St. Galler Humanisten Joachim Vadian einige exemplarische Texte bewahrt. Die Festschrift zu Ehren des Doyens der Disputationsforschung in der Schweiz, dem ich selbst entscheidende Hinweise für das Verständnis dieser bedeutenden und faszinierenden Literaturgattung verdanke,2 ist eine außerordentlich passende Gelegenheit für deren Erstveröffentlichung. Die Entdeckung eines Blattes mit handschriftlichen Thesen aus dem Jahr 1513 verdankt sich der Aufmerksamkeit des Zürcher Paracelsusforschers Urs Leo Gantenbein. Er fand sie in einer astrologischen Vorlesungsmitschrift Vadians aus dem Jahr 1514 (St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms 66); dieser hatte die Rückseite (und zum Teil auch das Recto) des Thesenblatts als Notizmaterial benutzt und seiner Mitschrift inkorporiert. Der Vadian-Forschung schon lange bekannt sind hingegen die vier mit handschriftlichen Anmerkungen versehenen Thesenblätter, die Vadian für seine Prüfungsdisputationen zur Erlangung der medizinischen Grade an der Universität Wien – Baccalaureat und Lizenti-

1 Literatur: Hanspeter Marti: [Art.] Disputation. In: Historisches Lexikon der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 2. Berlin und New York: Walter de Gruyter, 1994, Sp. 866–880; zu den Disputationsschriften Sp. 869f.; ders.: [Art.] Dissertation. In: ebd., Sp. 880–884. – Die Geschichte der Disputation/Dissertation von den Anfängen bis in die neueste Zeit mit dem Fokus auf die Verhältnisse an deutschen Universitäten versucht Ku-Ming (Kevin) Chang: From Oral Disputation to Written Text. The Transformation of the Dissertation in Early Modern Europe. In: History of Universities 19 (2004), S. 129–187, besonders S. 145ff. (The Emergence of the Dissertation as a Printed Text) nachzuzeichnen. 2 Joachim Jungius: Disputationes Hamburgenses. Kritische Edition. Hg. von Clemens Müller-Glauser. (Veröffentlichungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e.V. Hamburg; 59). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1988, besonders S. XI–XV (Das Disputationswesen zur Zeit von Jungius).

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Clemens Müller

at, beide 1517 – hatte drucken lassen (St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms Fragm 2, 10–12).3

1. Die handschriftliche Einladung Johannes Korndorfers zur repetitio an der medizinischen Fakultät Wien, 1513 Johannes Korndorfer aus Bayreuth (Korendorfer, Korndorfer de Beyrewt, Kurrendorffer de Beyrrewth, Kuerrendorffer de Parreyt, Keradorphorus ex Weyerreut / de Pareut) gehört nicht zu den bekannten Persönlichkeiten der (Medizin-)Geschichte: Weder in die Allgemeine noch in die Neue Deutsche Biographie hat er Eingang gefunden. Die Spur seines akademischen Werdegangs musste aus verschiedenen einschlägigen Quellen erschlossen werden, die sich jedoch als verhältnismäßig ergiebig erwiesen. Eine Schreibernotiz in einer Bayreuther Handschrift hatte schon in den 90er Jahren das Interesse von Rainer-Maria Kiel, Stabsmitarbeiter der Universitätsbibliothek Bayreuth geweckt, der die genauere Herkunft Johannes Korndorfers aus der Bayreuther Bürgerschaft bestimmen und sein Medizinstudium in Wien nachweisen konnte.4 Aktenkundig wurde Johannes Korndorfer erstmals unter den Immatrikulierten der nacio Bavarorum des Sommersemesters 1491 an der Universität Leipzig.5 Bereits im Sommersemester 1492 legte er beim Magister Johannes Werdea die Baccalaureatsprüfung (in den artes, wie anzunehmen ist), ab.6 Am 14. April 1496 immatrikulierte er sich an der Universität Wien.7 Am 19. November 1497 wurde er nach dem Zeugnis der Acta Facultatis Medicae Universitatis Vindobonensis unter dem Dekanat von Bartholomäus Steber in die medizinische Fakultät Wien aufgenommen: Iohannes Kuerrendorffer de Parreyt 3 St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms. Fragm. 2, 10–12. Die handschriftlichen Anmerkungen ediert von Emil Arbenz in: Die Vadianische Briefsammlung. Bd. III (Mitteilungen zur Vaterländischen Geschichte 27). St. Gallen: Fehr’sche Buchhandlung, 1897, S. 279; vgl. Bernhard Milt: Vadian als Arzt. Hg. von Conradin Bonorand. (Vadian-Studien 6). St. Gallen: Fehr’sche Buchhandlung, 1959, S. 13f.; Clemens Müller: Humanismus vs. Scholastik: Joachim Vadians Promotion zum doctor medicinae an der Universität Wien. In: Acta Conventus Neo-Latini Upsaliensis (a. MMIX). (im Druck) 4 Rainer-Maria Kiel. Johannes Kuerendörffer aus Bayreuth: ein Absolvent der Wiener Medizinischen Fakultät. Archiv für Geschichte von Oberfranken 76 (1996), S. 125–129. Ich danke dem Verfasser herzlich für seinen Hinweis und die Überlassung eines Sonderdrucks. 5 Die Matrikel der Universität Leipzig. Hg. von Georg Erler. Bd. 1: Die Immatrikulationen von 1409–1559. Leipzig: Giesecke & Devrient, 1895, S. 383: „Iohannes Korndorfer de Beyrewt“, zusammen mit den Mit-Bayreuthern Conradus Reuter, Georgius Hering und Iohannes Preyss, unter Rektor Martin Sporn von Frankfurt. 6 Die Matrikel der Universität Leipzig. Hg. von Georg Erler. Bd. 2: Die Promotionen von 1409– 1559. Leipzig: Giesecke & Devrient, 1897, S. 332. 7 Die Matrikel der Universität Wien. Bd. 2, 1: 1451–1518, Text. Graz: Böhlau, 1967, S. 248: „Johannes Churrendorff de Pareytt“; siehe Kiel (wie Anm. 4), S. 128.

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huic nostre facultati ascriptus est scholaris, prius liberalium arcium baccalarius.8 Am 3. August 1501 erlangte er ebenda das medizinische Baccalaureat, wie aus dem Schreibervermerk eines von ihm angelegten Manuskripts mit der Abschrift zweier Medizintraktate, heute im Besitz der Universitätsbibliothek Bayreuth, hervorgeht:9 Ego Joannes Keradorphorus ex weyerreut, arcium liberalium baccalaureus, medicine saluberrime scolaris indignus, anno Iesu christi incarnacionis 1501 dominica ante pentecostes complevi et scribendo finem induxi huic tractatui vienne. Unde laus et gloria sit deo in secula seculorum, amen. Qui eodem anno in sexta inventionis sancti steffani creatus sum in baccalaureum medicine. Unde deus sit benedictus in secula seculorum. Amen.

Über seine folgenden Schicksale gibt ein außergewöhnlicher, postumer Nachtrag zu seiner Immatrikulation in den Acta Facultatis Medicae Auskunft:10 Iste dominus Iohannes Kuerrendorffer alias Korendorfer in nostro Viennensi gymnasio (postquam preclaro doctori domino Bartholomeo Steber aliquot annis fidelissime esset famulatus), adepto in medica facultate baccalariatu, Carinthiam petivit, ubi medicam artem multis opem et salutem afferendo laudabiliter exercuit. Deinde Italiam petivit et in Bononiensi gymnasio doctoralibus insignibus non sine gloria susceptis Viennam rediit, ubi omnibus et singulis doctis percharus, precipua tamen familiaritate junctus preclaris viris domino doctori Ioanne Enczianer, domino doctori Iudoco Puechamer, domino doctori Georgio Tansteter et doctori Matthie Gasser, cum quibus, dum vix ad unius anni spacium integerrimam vitam duxisset, tandem e vivis non sine multorum lamentatione immature excessit. Cuius anima dulci Christi Salvatoris nostri presentia eternaliter frui mereatur. Amen.

Nach der Erlangung des Baccalariats soll Korndorfer demnach mehrere Jahre lang in Kärnten als Arzt gewirkt haben. Zu einer unbekannten Zeit soll er in Bologna sein Studium weitergeführt und mit dem Doktorat abgeschlossen haben.11 Das Jahr seiner Rückkehr nach Wien ist nicht angegeben, lässt sich aber aus weiteren Einträgen in den Acta auf 1513 festlegen. Im September 1513 stellte Korndorfer, artium et medicine doctor, der Fakultät das Gesuch, an der Fakultät „repetieren“ zu dürfen.12 Bei der repetitio handelte 8 Acta Facultatis Medicae Universitatis Vindobonensis. Hg. von Karl Schrauf. Bd. 2: 1436–1501. Wien: Verlag des Medicinischen Doctorencollegiums, 1899, S. 223f. 9 UB Bayreuth, Ms. 23. cart. s. XVI, S. 70, eingehend beschrieben bei Kiel (wie Anm. 4), S. 126–128. Ich danke herzlich Herrn Bibliotheksamtsrat Detlev Gassong für die freundliche Übermittlung einer Photographie dieses Dokuments. 10 Acta Facultatis Medicae, Bd. 2 (wie Anm. 8), S. 224. 11 Ein Nachweis für Korndorfers Studium in Bologna ließ sich nicht erbringen; sein Name fehlt im Verzeichnis von Gustav C. Knod: Deutsche Studenten in Bologna (1289–1562). Biographischer Index zu den Acta nationis Germanicae universitatis Bononiensis. Berlin: R. v. Deckers Verlag, 1899. 12 Acta Facultatis Medicae Universitatis Vindobonensis. Hg. von Karl Schrauf. Bd. 3: 1490–1558. Wien: Verlag des Medicinischen Doctorencollegiums, 1904, S. 93f.: Die Mercurii iterum congregata fuit facultas post festum sanctorum Cosme et Damiani ad audiendum quendam artium et medicine doctorem, doctorem videlicet Ioannem Keradorphorum de Bayreutt diocesis Bambergensis petere volentem se

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es sich um eine Prüfung für Inhaber auswärtiger Doktorate, die in die Wiener Fakultät aufgenommen zu werden wünschten. Das Prozedere ist in den Statuten von 1389 im Detail festgehalten:13 Doctor alterius Vniuersitatis uolens recipi ad facultatem debet solemniter repetere vnum Canonem in Auicenna, amphorismum uel vnum canonem in Tegni Galieni. Circa ������������������ quam repeticionem mouere debet vnam questionem cum argumentis pro et contra, ad quam respondebit sibi vnus de Baccallarijs Medicine. Post, hoc facta congregacione facultatis humiliter petat a facultate Medicine, vt dignetur eum recipere in Condoctorem suum. Et si fuerit admissus inter Doctores facultatis medicine, ibidem habeat vltimum locum.

Der Anwärter auf die Aufnahme in die Fakultät musste also ein Thema aus einem der grundlegenden Lehrwerke der Zeit: Avicenna, Hippocrates oder Galen, vorlegen und eine Disputation dazu präsidieren. Als Respondent musste einer der Wiener Baccalaureaten fungieren. Die Rolle der Opposition muss demnach bei den übrigen Anwesenden gelegen haben, und dem Repetenten als Vorsitzendem oblag es dann, die Diskussion zu determinieren, d. h. mit einer den Fachdogmen entsprechenden Lösung abzuschließen. Dies dürfte eine durchaus taugliche Form gewesen sein, Kenntnisse und Lehrfähigkeit eines Kandidaten zu prüfen. Je nachdem, wie überzeugend der Auftritt ausfiel, konnte die Fakultät für oder gegen eine Aufnahme stimmen. Korndorfers Gesuch, sich der Prüfung zu stellen, wurde jedenfalls positiv beschieden:14 est ad repetendum admissus secundum conclusionem prius factam cum doctore Salio. Proiecit enim sibi idem doctor afforismum 22. secunde particule Afforismorum Yppocratis: ‚Ex plenitudine quecumque egritudines fiunt, evacuacio sanat etc.‘

Als Termin war Donnerstag, 10. November, vorgesehen; dieser Wochentag war üblicherweise für Disputationen vorgesehen. Am 4. November musste die Fakultät über ein Gesuch zur Vorverschiebung des Termins auf den Mittwoch, 9. November, entscheiden; Korndorfer begründete das Gesuch damit, dass der vorgesehene Donnerstag auf die Vigilien des Martinstags (10. November) fiel und dass wegen des rituellen Fastens einige Doktoren an der Teilnahme verhindert sein könnten.15 Dieses Gesuch wurde positiv entschie-

admitti ad repetendum. Da der Kosmas-und-Damian-Feiertag (28. September) in diesem Jahr auf einen Mittwoch fiel, ist wohl der darauf folgende Mittwoch, der 5. Oktober anzusetzen. 13 Statuten der medizinischen Fakultät der Universität Wien vom 1. April 1389. Hg. von Rudolf Kink. Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien. Bd. 2: Statutenbuch der Universität. Wien: Carl Gerold & Sohn, 1854, S. 156–170, hier S. 167. 14 Acta Facultatis Medicae, Bd. 3 (wie Anm. 12), S. 94. Die Fakultät hatte am 13. Mai Johannes Salius – ganz den Statuten gemäß – gestattet, sich ein Thema aus Avicenna, Galen oder Hippokrates zu wählen. Er proiecit [...] propria manu Afforismum 26. quarte particule Afforismorum, et fuit materia de fluxu dissenterico: ebd., S. 87. 15 Acta Facultatis Medicae, Bd. 3 (wie Anm. 12), S. 101: Item doctor Ioannes Keradorpherus de Bayttreudt, qui propediem repetere voluit, doctores consuluit facultatis in eadem congregacione, anne alio die

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den, und gleichzeitig wurde festgestellt, dass „die Zettel für die Disputationen und Repetitionen der Fakultät frühestens acht Tage davor verteilt werden sollten“: Conclusum est, quod quarta feria ante Martini repeteret, ne convivii solemnitas impediretur, et quod scede pro disputacionibus et repeticionibus facultatis non cicius nisi octo diebus antea distribuantur.16

Die erfolgreiche – honorifice – Abhaltung der repetitio wurde ebenfalls in den Fakultätsakten vermerkt, mit der in Hinsicht auf den Ablauf interessanten, aber nicht ganz klaren Feststellung: baccalarius medicine pro respondente deputatus non nisi parum incidentaliter auditus, qui per repetentem pro consuetudine erat deputatus.17 Wenn dies bedeutet, dass der von Korndorfer angestellte Respondent allzu wenig zu Wort kam, dann dürfte Korndorfer selbst die Hauptlast des Disputs getragen haben – was jedenfalls der Anerkennung seiner Lehrfähigkeit nicht abträglich war. Die definitive Aufnahme Korndorfers in die Fakultät ist Gegenstand von zwei weiteren Einträgen in die Fakultätsakten. Wie wir oben gesehen haben, war dem schon zu dieser Zeit kränkelnden Korndorfer – wegen eines Gichtanfalls konnte er am 21. Dezember zum Beschluss seiner Aufnahme nicht persönlich vor der Fakultät erscheinen – kein langer Aufenthalt in der Fakultät beschieden, da er schon im folgenden Jahr starb.18 Die sceda für Korndorfers Repetition ist durch den eingangs geschilderten Zufall erhalten geblieben. Vadian, zu dieser Zeit bereits ein arrivierter Humanist und Dozent an der Artistenfakultät, war kurz vor Korndorfers repetitio, am 13. Oktober 1513, als Student in die medizinische Fakultät eingeschrieben worden.19 Es ist daher wahrscheinlich, dass er persönlich an der Disputation teilnahm und dabei in den Besitz eines von mehreren Thesenblättern gelangte, die Korndorfer von einem professionellen Kopisten hatte herstellen lassen. Es handelt sich um ein robustes Papierblatt von 30 x 43,5 cm, einseitig mit schwarzer Tinte beschrieben von einer sorgfältigen, kalligraphisch gewandten Hand – nicht von der Hand Korndorfers, wie der Vergleich mit seiner oben erwähnten, eigenhändigen Kopie zweier medizinischer Traktate eindeutig erkennen lässt. Ein Jahr später

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quam quinta feria consueta pro actibus repeticionis actum terminare possit propter vigiliam Martini, que certos doctores ieiunio distraheret et in quintam recte ceciderit feriam. Ebd., S. 102. Ebd., S. 102: Item die Mercurii, que erat 9. Novembris, egregius vir Mag. Ioannes Keradorphorus de Bayreutt prout artium et medicine doctor suam repeticionem honorifice fecit super divi Hippocratis aphorismo 22. particule secunde. [...] Actum in aula universitatis responsione propria; baccalarius medicine pro respondente deputatus non nisi parum incidentaliter auditus, qui per repetentem pro consuetudine erat deputatus. Ebd., S. 103: conclusit facultas in negocio domini doctoris Iohannis Korndorffers, qui peciit [!] admitti ad consilium per medium doctoris Georgii Tansteter, nam podagra impeditus articulo formato per se comparere nequivit; S. 98 ist die (von 4 auf drei ungarische Gulden reduzierte) Aufnahmegebühr quittiert; zu seinem Tod im folgenden Jahr siehe den oben zitierten Nachtrag (Anm. 10). Acta Facultatis Medicae, Bd. 3 (wie Anm. 12), S. 86; Milt (wie Anm. 3), S. 20.

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Abb. 1: St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms 66, fol. 11–13.

benutzte Vadian das zum Heft gefaltete Blatt als Beschreibstoff für die Mitschrift einer Astronomievorlesung, die er bei seinem Freund Collimitius (Georg Tannstetter) besuchte. Es bildet seither eine Einlage in Ms. 66 der Vadianischen Sammlung an der Kantonsbibliothek St. Gallen.20 20 St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms. 66, fol. 11–13. Beschreibung bei Gustav Scherer: Verzeichniss der Manuscripte und Incunabeln der Vadianischen Bibliothek in St. Gallen. St. Gallen: Zollikofer, 1864, S. 26f. – Zur Benutzung faltete Vadian das Blatt von der ursprünglichen Größe von 30 x 43,5 cm mit der Schriftseite nach innen doppelt und schnitt es an der oberen Seite auf. Damit ergab sich ein Heft von 8 Seiten von 22,5 x 15 cm, deren zweite und dritte, größtenteils vom ursprünglichen Text bedeckt, von Vadian nicht beschrieben wurden. So ergibt sich die moderne Zählung fol. 11r, von Vadian beschrieben / ¼ Disputationstext, ohne Seitenzahl / ¼ Disputationstext, ohne Seitenzahl / 11v, von Vadian beschrieben / 12r, von Vadian beschrieben / 12v mit ¼ Disputationstext, ohne Notizen Vadians / 13r mit ¼ Disputationstext, mit Notizen Vadians / 13v, von Vadian beschrieben. Dieses Heft ließ sich gut in die nur wenig breiteren Hefte (22,5 x 16,5 cm) mit der

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De speciali consensu et favore clarissimorum virorum Artium et medicinae doctorum eximiorum saluberrimae facultatis medicae huius inclyti Vienensis universalis studii Ioannes Keradorphorus de Pareut artium et medicinae doctor proxima die Mercurii mane hora Septima repetendo Aphorismum xxii, parti. ii, Ex plenitudine quaecunque ęgritudines fiunt, etc. Infrascriptas conclusiones disputationis gratia ut liberior prębeatur dominis pro sua humanitate arguere volentibus aggressus pro viribus sustentare conabitur. In aula Universitatis. Conclusio Prima. Plenitudo et indigentia ultimitatem attingentes sunt egritudines. Conclusio Secunda. Repletio et inanitio excedentes sunt causae ęgritudinum. Tertia Conclusio. Ultimitas in plenitudine vel repletione facilior est quam in indigentia seu inanitione. Conclusio Quarta. Immoderata repletio immoderata indiget evacuatione, et econtra. Quinta Conclusio. Natura non sustinet repentinas transmutationes. Conclusio Sexta. Omnes egritudines fientes, ex repletione pendentes sanabiles evacuatio sanat. Septima conclusio. Materia furiosa mox est evacuanda sed non furiosa prius est digerenda. Octava conclusio. Egritudines ab evacuatione quascunque sanabiles repletio sanat. Conclusio Nona. Omnis morbus de repletione est morbus fiens. Nec tamen omnis morbus de inanitione est morbus factus. Conclusio decima. Omnis curatio perficitur contrario graduali morbo aequali.

Der „Kopf“ von Korndorfers Thesenblatt entspricht genau der Charakterisierung, die Hanspeter Marti für die frühe Dissertation gibt: Sie ist, „wie andere frühneuzeitliche Textgattungen, primär eine Gelegenheitsschrift, in der, wie in einer Perioche, die Einladung zur Teilnahme an einer Veranstaltung ausgesprochen“ wird.21 Angegeben sind neben dem Namen des Hauptakteurs der Anlass (de speciali consensu et favore [...]; repetendo [...] conclusiones [...] sustentare conabitur), der grobe Inhalt mit dem Hinweis auf den zu behanfortlaufenden Vorlesungsmitschrift einlegen. – Für die Bereitstellung der folgenden Abbildungen danke ich herzlich dem Direktor der Vadianischen Sammlung an der Kantonsbibliothek Vadiana, St. Gallen, Herrn Dr. Rudolf Gamper. 21 Hanspeter Marti: Disputation und Dissertation. Kontinuität und Wandel im 18. Jahrhundert. In: Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Hg. von Marion Gindhart und Ursula Kundert. Berlin und New York: de Gruyter, 2010, S. 63–85, hier S. 65.

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delnden hippokratischen Aphorismus, der Zweck des Schriftstücks (ut liberior prębeatur dominis pro sua humanitate arguere volentibus aggressus), der Ort (In aula Universitatis) und die Zeit (proxima die Mercurii mane hora Septima). Jahr und Datum, wie sie bei den späteren (gedruckten) Dissertationen üblich sind, konnten allerdings weggelassen werden, da der beschränkte Zeitrahmen für die Benutzung des Thesenblattes durch die ortsüblichen Bedingungen gegeben war. Es sollte, wie wir oben gesehen haben, frühestens eine Woche vor der Disputation publiziert werden, und mit dem Ende der Disputation hatte das Thesenblatt keinen weiteren Zweck mehr. Der Aphorismus des Hippokrates ist nach der damals üblichen Quelle angegeben. Es handelt sich um die Übersetzung des Constantinus Africanus aus dem arabischen Hippokrates, zusammen mit dem Kommentar Galens, die einen Teil der Articella bildete, neben dem Canon Avicennas das elementarste Studienbuch für die mittelalterliche und frühneuzeitliche Ärzteausbildung. Der ganze Aphorismus lautet: Ex plenitudine quecumque egritudines fiunt, evacuatio sanet; et quecunque ab evacuatione, plenitudo. Et aliorum contrarietas.22 Bei den einzelnen Thesen (conclusiones) handelt es sich zum Teil um Differenzierungen der pauschalen Diagnostik des Hippokrates. So wird zwischen extremem (ultimitatem attingentes) und übermäßigem (excedentes) Säfteüberschuss bzw. -mangel unterschieden (These 1 und 2), zwischen sich anbahnenden (morbus fiens) und ausgebrochenen (morbus factus) Krankheiten (These 9), zwischen entzündeter (materia furiosa) und nicht entzündeter (materia non furiosa) Krankheitsmaterie (These 7). Dazu kommen ebenfalls differenzierende therapeutische Beobachtungen und Anweisungen, wie, dass der extreme Überschuss leichter zu therapieren sei als der extreme Mangel (These 3), oder dass die nicht entzündete Materie vor der Abführung zu digerieren sei (These 7). Zwei Thesen nehmen die zum Schluss des Aphorismus formulierte hippokratische und galenische Lehre des contraria contrariis (These 4 und 10) auf, und eine These (5: Natura non sustinet repentinas transmutationes) schiebt die allgemeine therapeutische Weisheit ein, dass der kurative Eingriff maßvoll, nicht schockartig verlaufen sollte. Ob die Formulierung der Thesen eine letztlich eigenständige Leistung des Autors ist und allenfalls auf persönlicher ärztlicher Erfahrung beruht, oder ob es sich um die Reproduktion von Büchergelehrsamkeit handelt, konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht erforscht werden. Wir können uns jedoch gut vorstellen, dass diese Thesen einem disputierlustigen Fachpublikum durchaus Material zu einer ausführlichen Debatte geliefert haben.

22 Articella: Hippocrates: Aphorismi, mit dem Kommentar von Galen. Aus dem Arabischen übersetzt von Constantinus Africanus. Venedig: Joannes und Gregorius de Gregoriis, 1500, fol. 9r. Zitiert nach BSB-Ink A-789/GW 2683; Digitalisat in: BSB München (abgerufen am 24. August 2011).

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2. Joachim Vadians gedruckte Thesen zur Baccalaureats- und Lizentiatsprüfung an der medizinischen Fakultät Wien, 1517 Joachim Vadians Studien und Wirken an der Wiener Universität (1501–1518) sind durch die eigene reichhaltige Hinterlassenschaft und Zeugnisse Dritter sehr gut dokumentiert. Aufgrund seiner eminenten Bedeutung als Vertreter des Humanismus nördlich der Alpen und als Schweizer Reformator waren und sind sie bis heute Gegenstand der Forschung. Sein Medizinstudium, das er als bereits arrivierter Gelehrter und Dozent im Jahre 1513 neben seiner Lehrtätigkeit aufnahm und 1517 mit der Aufnahme als doctor in die medizinische Fakultät abschloss, ist in der bis heute maßgeblichen Biographie von Werner Näf kurz dargestellt.23 Eingehender befasste sich damit der Medizinhistoriker Bernhard Milt in seiner Monographie über Vadian als Arzt.24 Speziell mit den Disputationen im Rahmen von Vadians Medizinstudium habe ich mich vor einiger Zeit beschäftigt;25 zu einer Edition der Texte ist es bisher jedoch nicht gekommen. Am 13. Oktober 1513 hatte sich Vadian in der medizinischen Fakultät einschreiben lassen.26 Nach den Statuten hatte er bis zum Baccalaureat während mindestens zwei Jahren die mittelalterlichen arabistischen Klassiker Johannitius und die Articella zu studieren, ferner das gesamte erste Buch von Avicennas Canon und den ersten Abschnitt (fen) des vierten Buchs (de febribus) sowie ein Buch über die ärztliche Praxis, z. B. Rhazes’ neuntes Buch der Almansor gewidmeten medizinischen Enzyklopädie.27 Die Exemplare aller dieser drei von Vadian benutzten Werke befinden sich neben zahlreichen weiteren medizinischen Lehrbüchern noch heute in St. Gallen, versehen mit den handschriftlichen Spuren seines Studiums.28 Am 26. September 1516 hielt Vadian die Festrede am Feiertage der Schutzpatrone der medizinischen Fakultät, Kosmas und Damian – nach den Statuten von 1518 entband dies 23 Werner Näf: Vadian und seine Stadt St. Gallen. Bd. 1: Humanist in Wien, bis 1518. St. Gallen: Fehr’sche Buchhandlung, 1944, S. 146–159. 24 Milt (wie Anm. 3), S. 1–19. Bernhard Milt (1896–1956) hatte bis 1923 Material für seine VadianStudie gesammelt, diese aber nie abgeschlossen. Die Aufarbeitung zur Publikation durch Bonorand erfolgte aufgrund der nachgelassenen Papiere (Hinweis von Dr. Rudolf Gamper). 25 Müller. Humanismus vs. Scholastik (wie Anm. 3). 26 Acta Facultatis Medicae, Bd. 3 (wie Anm. 12), S. 86: Eodem die (13. Oct. 1513) intitulatus est Mag. Iochachimus von Watt alias Vadianus ex Sancto Gallo. 27 Statuten 1389 (wie Anm. 13), S. 158: Ordinamus primo quod scolaris in Medicina volens promoveri ad Gradum Baccallariatus in Medicina quicunque sit debet audivisse Johannicium, artem commentatam integre; Primum Canonis Avicenne, Primam fen quarti Canonis Avicenne, et aliquem librum in Practica, ut nonum Rasis Almansoris vel consimilem. [...] Item si est magister in artibus, debet audivisse in eadem facultate Medicine ad minus duobus annis. 28 Siehe Verena Schenker-Frei: Bibliotheca Vadiani. (Vadian-Studien 9). St. Gallen: Fehr’sche Buchhandlung, 1973, Nr. 548 (Articella); Nr. 572 (Avicenna: Canon); Nr. 565 (Expositio noni libri Almansoris).

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den Prüfling von der Disputation zur Erlangung des Baccalaureats.29 Am 16. Mai 1517, einem Samstag, absolvierte Vadian die Baccalaureatsprüfung rigoroso examine, d. h. durch die Doktoren der Fakultät, wie – unter anderen Dokumenten – die Fakultätsakten festhalten:30 Convocata facultas fuit medica 16. Maii (1517) ad audiendam Mag. Ioachimi Vadiani de Sancto Gallo peticionem, qui pro gradu waccalariatus [!] eiusdem facultatis examinari desiderabat; a doctoribus graciose admissus, responsionem dicti doctores ab eo acceperunt, in qua pro huiuscemodi gradu gnavus offensus est. [...] Examine vero peracto, a consumatissimis doctoribus decano professionis medice demandatum fuit, Mag. Ioachimo coronam primam in hac arte auctoritate facultatis, omnium doctorum ac propria tradendam fore.

Seine Prüfungsleistung wurde offenbar als hervorragend beurteilt. Dies zeigt der Beschluss der Fakultät, dass dem Kandidaten „die höchste Auszeichnung“ (corona prima) verliehen werden sollte. Nach der Erlangung des Baccalaureats hätte Vadian statutengemäß weitere zwei Jahre studieren und ein Jahr davon einen Arzt der Fakultät bei seinen Krankenbesuchen begleiten müssen, um sich mit der ärztlichen Praxis vertraut zu machen.31 Man kann sich nur schwer vorstellen, wie Vadian diese Auflage neben seinen vielfältigen Aufgaben und Aktivitäten dieses Jahres erfüllt haben könnte. Wie einem Eintrag in seinem Almanach, in dem er wichtige persönliche Ereignisse festzuhalten pflegte, zu entnehmen ist, stellte er sich aber bereits am folgenden 27. August, einem Donnerstag (also dem üblichen Disputationstag), einer der für das Lizentiat erforderlichen öffentlichen Disputation.32 Am 2. Oktober vermerken die Acta Facultatis Medicae Vadians Anmeldung zu den Lizentiatsprüfungen – von einem zweijährigen Studium nach dem Baccalaureat kann also keine Rede sein. In der Tat erwähnt der Eintrag die Sonderbehandlung, die Vadian zuteil wurde: dispensa29 Statuten der medizinischen Fakultät der Universität Wien vom 9. November 1518. Hg. von Sonia Horn. Examiniert und Approbiert. Die Wiener medizinische Fakultät und nicht-akademische Heilkundige in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien, 2001, S. 251: [baccalaureandus] publice duobus doctoribus in doctorum et scholarium presentia responderit. Quod si oracionem habuerit in festo s. Cosmae et Damiani et eandem obtulerit decano facultatis, locum responsionis habebit oratio quae servabitur pro memoria. 30 Acta Facultatis Medicae, Bd. 3 (wie Anm. 12), S. 120. Dieser Anlass wurde überdies von Vadian in seinem Exemplar des Almanach von Johannes Stoeffler (Almanach nova plurimis annis venturis inservientia [1507–1531]. Venedig: Liechtenstein, 1507; Kantonsbibliothek St. Gallen, VadSlg 698) zum Mai 1517 am Rand notiert: hoc die, hora prima, creatus sum in baccalaureum medicinę habito rigoroso examine expositis xvi fl. v ß xxiiii ₰. 31 Statuten 1389 (wie Anm. 13), S. 162: ad minus visitare debet infirmos in Practica Medicine ad spacium unius anni cum Doctore facultatis eiusdem; die identische Formulierung in den Statuten 1518 (wie Anm. 29), S. 254. 32 Randnotiz Vadians in Stoeffler: Almanach, zum 27. August 1517: Respondi pro licentia in Medicinis publice: exposui 7 ß ₰. In den Acta facultatis Medicae ist diese Prüfung nicht vermerkt.

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tum fuit [...] super responsionibus et defectibus pie ac graciose propter multas causas.33 Der Termin wurde auf den 17. Oktober (also wiederum auf einen Samstag) festgelegt. An diesem Tag fand die Prüfung statutengemäß unter Ausschluss der akademischen Öffentlichkeit im Haus des Vizekanzlers statt.34 Am 15. November empfing Vadian im feierlichen Ritual im Stefansdom von seinem Freund Collimitius die Doktoratsinsignien.35 Am 17. November wurde er im Rahmen des üblichen, vom Kandidaten auszurichtenden Festmahls in die Fakultät aufgenommen.36 Zu den Prüfungen im Mai und im August hatte Vadian Thesenblätter vorbereiten und in Umlauf bringen müssen. Diese sind im Nachlass Vadians erhalten geblieben. Es handelt sich um insgesamt vier gedruckte Blätter,37 zwei von der Baccalaureatsprüfung, zwei von der Lizentiatsprüfung. Weshalb es sich jeweils um zwei handelt, ist noch nicht geklärt.38 Die Statuten enthalten zwar mehrere Hinweise darauf, dass der Promovend zwei doctores zu respondieren habe; ob dies bei derselben Gelegenheit geschehen musste, ist allerdings nicht ersichtlich, wird aber durch die Quellenlage bei der folgenden, öffentlichen Lizentiatsdisputation im August nahegelegt.39 Beim eigentlichen Promotionsakt hatte der Pro-

33 Acta Facultatis Medicae, Bd. 3 (wie Anm. 12), S. 122; vgl. Randnotiz in Stoeffler: Almanach, zum 2. Oktober 1517: Hoc die admissus sum ad respondendum pro licentia in facult[ate] Medica. 34 Acta Facultatis Medicae, Bd. 3 (wie Anm. 12), S. 124f.: Altero die post Colomanni facultas tota comparuit in edibus D. Ioannis Newman vicecancellarii mane infra primarum pulsum et, ut moris est, fuerunt assignata puncta clarissimo viro Ioachimo Vadiano, philosophie magistro et Phebo laureato, ad que eodem die post meridiem respondit. Examinatus est a decem doctoribus et approbatus: Doctor Ioannes Neuman vicecancellarius, Doctor Ioannes Wentzelhuser decanus, Doctor Wilhelmus Puelinger, Doctor Ioannes Prutenus, Doctor Ioannes Entzianer, Doctor Iodocus Puchaymer, Doctor Georius [!] Tanstetter, Doctor Symon Latz, Doctor Ioannes Pulhamer, Doctor Ioannes Gastgeb. – Randnotiz Vadians in Stoeffler: Almanach, zum 14. Oktober 1517: Respondi privatim pro licentia, et post examen exposui 15 ducatos Doctoribus decem, pro collatione autem 5 fl. reinisch Vicecancellario quando adprobatus sum, pro cedula 1 ducatum. Bedello bibalia 4 ß ₰. 35 Acta Facultatis Medicae, Bd. 3 (wie Anm. 12), S. 128: Die 15. mensis Novembris Ioachimus Vadianus et Ioannes Aycher, artium magistri et saluberrime medicine baccalaurei, licentiam in eadem facultate sub reverendo in Christo patre domino Paulo Oberstainer, ecclesie cathedralis divi Steffani prepositi et incliti gymnasii Viennensis cancellarii, acceperunt, quibus mox clarissimus vir dominus doctor Georius Tannstetter, medice et mathematice professor, insignia contulit doctoralia. Ad facultatem ante licentiam solverunt 4 flor. Ungar. 36 Ebd., S. 128: duo doctores novelli, Ioachimus Vadianus et Ioannes Aycher, petunt ad consilium et consortium facultatis admitti, et accepto iuramento de utrisque de observandis admissi sunt. Es folgen Bestimmungen über ihre Vorlesungspflichten. 37 St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms Fragm 2.10–12. 38 Die Behauptung von Milt (wie Anm. 3), S. 13, Vadian sei „ordnungsgemäss mit zwei Thesen [...] zu seinem Baccalaureatsexamen“ erschienen, kann sich auf keinerlei Quellenevidenz stützen. 39 Statuten 1389 (wie Anm. 13), S. 159: [baccalaureandus] debet duobus doctoribus respondisse; vgl. die Statuten 1518 (wie Anm. 29), S. 251.

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Abb. 2: St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms Fragm 2.11a

movend auf jeden Fall zwei Thesen zu verteidigen, eine vor der Ablegung des Promovendeneides, eine danach.40 Dass Vadian seine Thesen drucken ließ, ist mit Sicherheit eine außergewöhnliche, für die Universität Wien möglicherweise eine erstmalige Erscheinung. Nach den Forschungen von Hanspeter Marti kommt die Gepflogenheit bzw. das Erfordernis, dass Promotionsthesen gedruckt werden müssen, erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf.41 Vadian konnte sich diese Extravaganz leisten, weil er durch seine intensive Publikationstätigkeit als Dozent in Wien gute Beziehungen zu Druckern, insbesondere zur Offizin von Johannes Singriener (Singrenius) geknüpft hatte.42 In der Tat sind die beiden Baccalaureatsthesen mit denselben Typen von Singrenius gedruckt wie der 1516 mit einem Begleitbrief von Vadian erschienene Dialogus de libero arbitrio von Lorenzo Valla, die beiden Lizentiatsthesen mit denselben Typen wie die im Mai 1518 zusammen mit den Scholien Vadians erschienenen Pomponii Melae Hispani libri de situ orbis tres. 40 Statuten 1389 (wie Anm. 13), S. 159f.: promovendus [...] debet [...] determinare unum problema. [...] Deinde determinet questionem unam; vgl. die Statuten 1518 (wie Anm. 29), S. 252. 41 Zu den Disputationsdrucken siehe Marti: [Art.] Disputation (wie Anm. 1), S. 866–880; zu den Disputationsschriften S. 869f.; ders.: [Art.] Dissertation (wie Anm. 1), S. 880–884. Die Forderung nach dem Thesendruck erscheint demnach erstmals in der Promotionsordnung der Kölner Juristen von 1589 (S. 881). 42 Zu Vadians Druckern und Verlegern siehe Näf (wie Anm. 23), S. 213f.

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Die Baccalaureatsthesen (Fragm 2.11a und 2.11b) sind auf querformatige, unregelmäßig geschnittene Blätter von ca. 16.5 x 22 cm gedruckt. Vadians Exemplar des zweiten Thesensatzes (Fragm 2.11b: Questio. U[trum] Corpus a iusticiali temperie lapsum [...]) wurde zunächst blind bedruckt, dann wurde die Rückseite für den definitiven Druck verwendet. Für die beiden umfangreicheren Lizentiatsthesen (Fragm 2.12 und 2.10) wurden hochformatige, ebenfalls unregelmäßig zugeschnittene Blätter von ca. 20/21 x 30/31 cm verwendet. Im Gegensatz zur disputationstypischen Anlage Korndorfers, in der das Blatt die Einladung zum Disputationsakt mit den Thesen verbindet, enthalten Vadians Thesendrucke lediglich als Überschrift eine Quaestio, der, unter der Bezeichnung von Conclusio und Propositio, eine Reihe von zu disputierenden Thesen folgen. In drei Fällen werden die Thesen von einem Corollarium abgeschlossen. Baccalaureatsthesen (1) Questio. U[trum] Quatuor humores, inter quos diversitas est specivoca, membra corporis humani seorsum vel coniunctim nutriant. Conclusio prima. Humores numero quaternario compraehendi, nec plures esse nec pauciores, ratione est convincibile. Propositio prima. Contrarietas quae inter humores invenitur, non nisi a qualitatibus complexionalibus sumi potest. Conclusio secunda. Quamvis humores quatuor uno et totali epatis calore generentur, specie tamen diversos esse, operationes eorum ostendere videntur. Propositio secunda. Non repugnat ab uniformi causa instrumentali effectus specie diversos produci. Conclusio tertia. Membra humani corporis a quatuor humoribus mixtim nutriuntur. Propositio tertia. Licet sanguis ab epate in venas transmissus, tres reliquos humores secum devehat, Membra tamen vigore virtutis attractivae, magis idoneum suae complexioni nutrimentum ex eis eliciunt.

Corollarium. Questio ad sensum propositionum et conclusionum conceditur.

Anmerkungen Vadians:

frig[us] zu Utrum quatuor humores [...] (links): per antiperistasin / ignis cal[or] zur Conclusio prima (links): Praeter eas rationes, quas ad[d]ucit Turr[isanus] commentario 44. 21 (2. l?) Rationibus probatur aliis. calor melancolia zur Conclusio prima (rechts):

sanguis flegma

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Abb. 3: St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms Fragm 2.11b

zur Propositio prima (links): Imo et a contrarietate actionum et operationum. Actiones autem contrariae sunt, quae contrarios terminos producunt et accipiunt denominationes a terminis. zur Conclusio secunda (rechts): Maior est calor Gippi quam concavi. | Pono nobis (vobis ?) chilum temperatum. Ex illo quatuo[r] humores generantur. | Nota de praedicatis. Iste (?) de 2 etiam (?, gradu?) humid[itatis]. zur Conclusio tertia (links): Sequeretur ex hoc, quod mixtio esset nutritio: quod est falsum. zur Propositio tertia (links): Si dicit idem esse, obsta, per hoc quod est in mixtione forma miscibilis, sed ratio in nutritione non.

Baccalaureatsthesen (2)

QUESTIO. U[trum] Corpus a iusticiali temperie lapsum, per sibi similia potius quam contraria sit conservandum. Conclusio prima. Quodlibet temperatum corpus, per ea quae effective temperiem iuvant, aptum est conservari. Propositio prima. Non quaelibet res non naturalis corpori temperato adveniens eiusdem temperiem conservat. Conclusio secunda. Omne corpus praeter naturam lapsum, admodum aptum est a sibi similibus ledi. Propositio secunda. Nullum corpus quod praeter naturam lapsum est, apte potest conservari. Conclusio tertia. Corpus naturali distemperamento lapsum conservari per similia tamen, aptum est.

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Propositio tertia. Licet ita sit, ut praecedens asserit conclusio, conservantia tamen corpus naturaliter lapsum, certo respectu, eidem aliquo modo contraria dici possunt.

Corollarium. Questio ut ponitur vera est, et precipue ad sensum tertiae conclusionis.

Anmerkung Vadians: Ad hanc Positionem ad gradum Baccalauriatus Vad[ianus] respondit medice.

Lizentiatsthesen (1) Q[UAESTIO], UTRUM TRIA PRIMA VIRTUTUM GENERA, ab Avicenna descripta, ratione diversa, realiter et essentialiter cum animae substantia conveniant? CONCLUSIO PRIMA. Causae efficienti, quae merito suae speciei in diversas simul operationes exire potest, diversitas denominationum, quominus una numero sit, nihil obest.

Abb. 4: St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms Fragm 2.12

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Propositio prima. Habitudo virtutum ad operationes, est habitudo causarum ad suos effectus. Propositio secunda. Haec sequela non valet: virtutes animae sunt in anima, ergo virtutes animae sunt aliud ab anima. Propositio tertia. Una virtus alia prior vel posterior dici potest per diversos respectus. CONCLUSIO SECUNDA. In ordinatione virtutum ministrantium et ministratarum, ut eas Avicenna ponit, nulla temporis, sed sola naturae prioritas locum habet. Propositio prima. Una virtus alia nobilior est, non ratione quidem principii, sed aut operationis modo, aut eius fine. Propositio secunda. Non qualibet parte corporis quaelibet virtus suae operationis mineram habet. Propositio tertia. Considerando virtutem, ut membro infixam, Cor principale membrum est omnium virtutum, in genere membrorum. CONCLUSIO TERTIA. Corpus quod consistentiae suae metam praeteriit, vere amplius augmentari posse, non est possibile. Propositio prima. Distributio qualitatum primarum, operationi quatuor virtutum ministrantium applicatarum, ut eam Avicenna posuit, sufficiens est. Propositio secunda. Considerando virtutem ut immediate ad operationem apta est, possibile est in aliquo animali virtutem vitalem ibi esse, ubi animalis non sit. Propositio tertia. Virtutes comprehensivae manifestae, quae quinque sensuum exteriorum operationem perficiunt, viam operationis, virtutibus compraehensivis occultis, a posteriori faciunt. Questio ut ponitur est vera, ex bono sensu primae conclusionis.

Anmerkung Vadians: Vadianus defensurus erat haec axiomata, sed nonnullis Doctoribus et Scholaribus invidia corruptis eam nimis philosophicam calumniantibus, Thema de Phlebotomia proposuit.

Lizentiatsthesen (2) U[TRUM] PHLEBOTOMIA, QUAE PLETORICIS CORPORIBUS praecipue salutaris est, febrium curis canonice adhiberi possit. CONCLUSIO PRIMA. Humoribus pariter in quanto peccantibus magis quam in quali, via appropriatae evacuationis phlebotomia debetur. Propositio prima. Corpori pingui repleto quod merito suae complexionis frigidum est, via praeservationis phlebotomia non competit.

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Abb. 5: St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms Fragm 2.10

Secunda propositio. In evidenti virtutum defectu, quacumque repletione imminente, phlebotomiam fieri admodum periculosum est. Tertia propositio. Phlebotomiam canonice malam, consuetudo, vel necessitas bonam facere potest. Quarta propositio. In corporibus calidis et humidis, phlebotomia repletioni obvians maxime salutaris est, in caeteris vero minus. Quinta propositio. Quamvis omnis phlebotomia, praeter eventativam, evacuet, non tamen omnis evacuandi gratia adhiberi solet. Sexta propositio. Nulla phlebotomia adeo est salutaris quin eam semper accidentale nocumetum comitetur. CONCLUSIO SECUNDA. Phlebotomiam in febrium, et maxime fientium curatione, locum habere indubium est.

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Prima propositio. In febre ephimera phlebotomia commodum locum non habet, nisi ubi vel oppilationem vel nauseativam sacietatem, sequitur. Secunda propositio. In Ephimera ex nauseativa sacietate phlebotomiam fieri, quocunque modo, periculo non caret. Tertia propositio. Febris Ectica quia immaterialis est et facta, nulla sanguinis eductione indiget. Quarta propositio. In putrida febre urina grossa adparente et ad ruborem inclinante, dummodo non sit multa inflammatio, facie tumida et pulsu magno phlebotomia cum primis locum habet. Quinta propositio. In Sinocha febre contingit, ut evacuatio ad usque Lypotomiam continuetur, quamvis periculosa est. Sexta propositio. Praeter corporis et morbi naturam, tempus pro phlebotomia observare non est inutile. Coroll[arium]. Quaestio ad sensum duarum conclusionum conceditur ut vera.

Anmerkung Vadians: Vadianus defendit XXVII. Augusti anno MDXVII.

Der Inhalt von Vadians Thesen ist medizinhistorisch kaum von Belang. Es liegt zu seiner Zeit im Wesen der Sache, dass tradiertes Wissen abgerufen und formallogisch „verteidigt“ wird. Eine gewisse Aufmerksamkeit erregen allenfalls die ersten Lizentiatsthesen, die gemäß Vadians Notiz von der Fakultät wegen ihres „zu philosophischen“ Inhalts abgelehnt wurden.43 Von größtem Interesse sind die Texte jedoch in Verbindung mit Vadians handschriftlichen Anmerkungen. Diese erlauben überhaupt erst, die Thesen in ihren Kontext zu stellen – ohne diese würde es sich um historisch nur sehr ungefähr einzuordnende, ephemere Dokumente handeln, als die sie ja eigentlich gedacht waren. Die Notizen geben je einen Hinweis auf den Disputationsanlass (Baccalaureatsthesen 2: Ad hanc positionem ad gradum baccalauriatus Vad[ianus] respondit medice), das Disputationsdatum (Lizentiatsthesen 2: Vadianus defendit XXVII. Augusti anno MDXVII.) bzw. besondere – problematische – Umstände an der Disputation (Lizentiatsthesen 1: Vadianus defensurus erat haec axiomata, sed nonnullis Doctoribus et Scholaribus invidia corruptis eam nimis philosophicam calumniantibus, Thema de Phlebotomia proposuit). Einen Einblick in die möglichen Argumentationen während der Verteidigung der Thesen erlauben die ausführlichen – möglicherweise zur Vorbereitung angebrachten – Notizen zu den ersten Baccalaureatsthesen: Stichworte zur Physiologie (die vier humores, Theorie der antiperistasis,44 die unterschiedlichen Wärmeverhältnisse auf der konvexen und der konkaven Seite der Leber: Maior est calor Gippi quam concavi), die Nennung einer Autorität (der Galenkommentar von Petrus 43 Müller: Humanismus vs. Scholastik (wie Anm. 3). 44 Siehe Johann Ramminger: ‚antiperistasis‘. In: ders.: Neulateinische Wortliste, URL: www.neulatein. de/words/0/007272.htm (benutzt am 18.Oktober 2011)

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Turisanus) sowie Bemerkungen zur Argumentationslogik (Sequeretur ex hoc, quod mixtio esset nutritio: quod est falsum) und -praxis (Si [opponens] dicit idem esse, obsta). Die hier edierten Disputationstexte sind, wenn nicht überhaupt Unikate, so doch rare Zeugnisse für die Disputationspraxis in der Umbruchzeit am Anfang des 16. Jahrhunderts. Der Nachlass von Joachim Vadian, in dem sie überliefert wurden, ist bis heute noch nicht erschöpft. Seine aufmerksame Sichtung dürfte auch in Zukunft aufschlussreiches Material zur Wissenschafts- und Kulturgeschichte zutage fördern.

Joseph S. Freedman (Montgomery, AL)

Philosophy Instruction, the Philosophy Concept, and Philosophy Disputations Published at the University of Ingolstadt, c. 1550–c. 16501 In the year 1981, Hanspeter Marti published an article on the value of published philosophical disputations (that is, disputations published in connection with philosophy instruction at academic institutions) for research on topics pertaining to Early Modern European studies.2 The following year, this article was followed by his publication of an extensive bibliography of philosophical disputations published in Central Europe between the years 1660 and 1750.3 His bibliography has been widely utilized in the three decades following its publication; in part due to the publication thereof, increased attention has also been accorded to disputations as an important academic genre.4 The present study is focused on philosophical disputations published in Ingolstadt – in connection with academic instruction held at the University there – during the hundred-year period between c. 1550 and c. 1650. Here, provisional answers will be given to the following five questions. First, what was the scope of philosophy instruction at the University of Ingolstadt during the period between c. 1550 and c. 1650? Second, how did this scope evolve during that same period? Third, what were those subject-matters falling within the parameters of philosophy, the sciences, and the arts at the University of Ingol1 This article could not been completed without assistance from Munich archivists and librarians. Especially helpful were Irene Friedl (Special Collections, Munich University Library) and Dr. Claudius Stein (Munich University Archive). And Ingolstadt imprints made digitally accessible by the Munich State Library have been extensively utilized. The primary sources and secondary literature mentioned and discussed in the text as well as in the footnotes of this article is cited in full in the Bibliography. 2 Marti: Der wissenschaftsgeschichtliche Dokumentationswert (1981) as cited in full in the Bibliography. „Philosophical Disputations“ here refer to philosophical disputations and dissertations published in connection with academic instruction. No attempt will be made here to distinguish between disputations and dissertations; refer to Hanspeter Marti’s articles on the same in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (1994) as cited in the Bibliography. 3 Marti: Philosophische Dissertationen (1982) as cited in the Bibliography. 4 Refer to Freedman: Published academic disputations in the context of other information formats used primarily in Central Europe (c. 1550–c.1700) (2010) and Freedman: Disputations in Europe in the Early Modern Period (2005); these two articles were published in volumes (cited here in the Bibliography) that are devoted to the subject-matter of disputations (and dissertations).

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stadt during the period? Fourth, what can be said concerning the content of this Ingolstadt philosophy instruction? And fifth, to what extent can published philosophical disputations help provide answers to these first four questions? One additional, more general question must also be posed here. During the 16th and 17th centuries, which academic subject-matters were generally understood to fall within the parameters of European academic philosophy? An answer can be ventured here on the basis of discussions of this same matter found in literally hundreds of philosophical writings published during these two centuries.5 During the early part of the 16th century, philosophy generally was considered to consist of nine basic disciplines; these disciplines were frequently understood to fall within the scope of theoretical, practical, or rational philosophy.6 Theoretical philosophy consisted of metaphysics, physics, and mathematics; practical philosophy included ethics, family life (oeconomica) and politics. Logic, rhetoric, and grammar – and sometimes poetics and/or history as well – were included within the parameters of rational philosophy. From about the mid16th century onwards, the question was often raised as to whether or not logic, rhetoric, and grammar should be considered as parts of philosophy.7 The evolving scope of philosophical subject-matters at the University of Ingolstadt can be ascertained – in large part – by looking at the scope of philosophical subject-matters discussed in disputations published in connection with instruction at that same university. The earliest extant disputation published in Ingolstadt on philosophical subject-matters – a broadsheet that discusses two questions, one on ethics and one on physics – appeared

5 Freedman: Classifications (1994) discusses classifications of philosophy, the sciences, and the arts during the 16th and the 17th centuries. 6 See Freedman: Philosophy Instruction (1985), pp. 117, 127, 137, 164. Some early 16th century authors divided philosophy (or science) into the categories of theoretical and practical and placed rational philosophy within the former category; see Freedman: Classifications (1994), pp. 49, 51 and Freedman: Encyclopedic Philosophical Writings (1994), pp. 213, 238. 7 To give two examples from the 1560s, Liebler (1561) and Beverus (1567), p. 290 present both positions – logic as a part of philosophy or not a part of philosophy – but do not side with either position. Concerning Georg Liebler (1524–1600), the first edition (1561) of his textbook on physics, and the classification of philosophy discussed therein see Freedman: Liebler (2012). The question of whether or not logic is part of philosophy is posed in an Ingolstadt disputation presided over by Zettelius in 1563; see the passage quoted in no. 5 (VI.) of Table A. However, logic is considered to be part of philosophy in two Ingolstadt philosophy disputations published in the 1560s: „Tres sunt partes Philosophiae videlicet realis, moralis, sermocinalis. Ex qua divisione patet Logicam, cum versetur circa orationem veram vel falsam, membrum esse Philosophiae.“ Wispeckius, Lang, Pruckperger, and Praun (1565) [no. 6 (Ex logica) in Table A]; „V. Dialectica. Utrum Dialectica inter sermocinalem philosophiam sit praestantissima?“ Wispeckius and 8 respondents (1566) [V. in no. 8 in Table A].

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in the year 1549.8 Two additional philosophy disputations were published as broadsheets in the years 1553 and 1554, respectively.9 The years 1559 through 1569 saw the publication in Ingolstadt of at least 12 philosophy broadsheets; the general content of these 12 extant broadsheets can be briefly discussed within the aid of Table A.10 From the year 1562 onwards, these broadsheets apparently intended to touch upon the all or most of those philosophical subject-matters that were then generally considered to fall within the parameters of philosophy. Poetics is discussed within one disputation (6. in Table A) published in the year 1565. Grammar and/ or rhetoric are mentioned in those broadsheets published between 1563 and 1565 (3. through 7. in Table A) but not in those published from 1566 onwards (8. through 12. in Table A).11 From 1566 through 1569, the subject-matters of metaphysics, physics, logic, and mathematics and/or ethics are discussed. But the range of subject-matters discussed in philosophical disputations during the 1560s can generally be said to have been broad, and this same broadness can be seen – as is evident in Table B – during the first half of the 1570s.12 Rhetoric is discussed within the disputation (2. in Table B) published in 1574 while discussions of both grammar and rhetoric – as well as family life (oeconomica) and politics – are found in a disputation (3. in Table B) published in 1575.13 Mathematics and/or logic are accorded attention within all of these 8 See Seyttenthaler (1549). The two earliest published philosophy disputations that I have located to date – cited in Freedman: Published academic disputations (2010), p. 100, fn. 36, and p. 123, Table 13, A – are broadsheets that were published in the years 1548 and 1547, respectively. 9 The disputation by Reisacherus, Aurpachius, and Chunius (1553) presents 7 theses (pronunciata) on magic (magia), 4 theses on physics, 3 theses on logic, and 2 theses on ethics. The disputation by Macer and Weilhamerus (1554) poses two questions. The first question (questio) focuses on the human soul and is followed by five theses and a single sentence conclusion; the second question, which focuses human affections and human nature, is there discussed within four subsequent theses, which are followed by a single sentence conclusion and a single sentence appendix. 10 Refer to the chronologically arranged citations of these broadsheets in the Bibliography. Numbers 3, 4, 5, 8, 9, and 11 in Table A were published in connection with the awarding of Master of Arts degrees to the candidates mentioned in these broadsheets, while numbers 1, 2, 6, 7, 10, and 12 in Table A apparently were all held for the purposes of practice. Also refer in the Bibliography to additional disputations published in Ingolstadt by Albertus (1561), by Pinedanus and Mentzel (1564), by Lyresius and Dornerus (1568), by Ursinus and Dornerus (1568), by Schöffl (1569), and by Vizanus and Striedacher (1569). 11 A four-leaf disputation published at Ingolstadt in the year 1564 discusses – in the form of theses – topics taken from the subject-matters of rhetoric, humanitas, and grammar; refer to Hungerus and Maierus (1564) in the Bibliography. 12 Refer to the full citations of 1 through 4 in Table B in the Bibliography. The disputation by Paulus Vizanus SJ and Joannes Wagnerus (1571) discusses metaphysics, physics (including the soul), and logic (only), but it does not specifically state that it covers all of philosophy. 13 Rhetoric is also the subject-matter of an oration published in Ingolstadt in 1565 as well as in disputations published there in 1567, 1572, and 1575; refer to Belligerus (1565), Wispeckius and Wasche-

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disputations through the year 1578. From 1570 onwards, broadsheets become the rare exception in Ingolstadt rather than the rule; the only broadsheet presented in (6. of ) Table B – published in 1579 – limits itself to discussion of metaphysics, physics, and logic.14 Extant disputations published at the University of Ingolstadt during the 1580s provide little information concerning the breath of philosophy instruction there during that decade. This apparently is largely due to the fact that the relatively few philosophical disputations known to have been published during that same decade were devoted to specific points of doctrine. These disputations did not delineate philosophy in any broad sense, but the points of doctrine discussed therein fell within the parameters of metaphysics, the soul (de anima), physics, and logic.15 Beginning in the 1590s, published „encyclopedic“ philosophy disputations are extant. In disputations published in 1595, 1618, and 1646 where individual presiders and/or respondents are named (numbers 7, 8, 9, and 10 in Table B), they consider „all of“ (universa) philosophy (1595) and „the whole of“ (tota) philosophy (1618 and 1648) to consist (only) of metaphysics, physics (which included discussion of the soul), and logic.16 This same narrower understanding of the scope of philosophy is evident in 28 anonymously authored, extant Ingolstadt philosophy disputations – held at the end of the third (that ist, metaphysics) year of the three-year philosophy course there – the contents of which are outlined in Table C.17 The first of these anonymously held disputations was published in the year 1591 and a second one was published in 1593.18 These disputations

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rus (1567), Fabricius and Pronnerus (1572), and Rotmarus and Collicola (1575) in the Bibliography. See Carpentarius SJ and Everardus (1579) in the Bibliography. There are (at least) two additional extant broadsheets from the 1570s; one (on the soul) by Streuffius (1570) and the other one (on logic) by Vizanus and Montfort (1572). Refer to the philosophy disputations published in the years 1580, 1582, 1584, 1586, and 1588 – all of which are presided over by Jesuit teachers and were held in connection with the awarding of Masters degrees – that are cited in the Bibliography. Two additional Masters degree philosophy disputations – by Kratzerus (1579) and by Vogelius (1579) – are also cited there. Refer to the disputations published in 1595 (authored by Ferdinand, Archbishop of Cologne and by Philipp, Bishop of Regensburg), in 1618 (presided over by Laurentius Forer), and in 1646 (presided over by Sebastian Veihelin) as cited in the Bibliography. Refer to the citations in the Bibliography of numbers 1 through 28 in Table C. The occurrence of these disputations is documented in the volume of the Acts of the Arts of Faculty of the University of Ingolstadt beginning in the year 1567 and ending in the year 1690 [München, Universitätsarchiv: O_IV_3] as well as in the Catalog of Students in the Third and Final Year (metaphysice) of the philosophy course at the University of Ingolstadt between in the year 1591 and ending in the year 1666 [München UA: O_I_4]; it is by means of O_IV_3 and O_I_4 that the presiders and respondents for the 28 disputations listed in Table C have been able to be identified. München UA: O_I_4 (Catalogus Studiosorum Metaphysicae in Academia Ingolstadiensi), fol. 1r begins with the following statement: „Anno Christi MDXCI post studiosorum instaurationem Metaphysicas, sive Tertii anni philosophicas praelectiones audire ceperunt a R. P. Petro Baccherio So-

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were held annually in Ingolstadt – with the possible exceptions of 1603, 1604, and 1638 – beginning (no later than) in the year 1598; they continued to be held through and after the year 1650.19 Jesuit as well as non-Jesuit students were enrolled in the third (metaphysics) year of the three-year philosophy course; only Jesuit students were selected to participate in these annual disputations.20 In each annual disputation, two, three, or four Jesuit students served as respondents; however, neither the names of these Jesuit respondents nor the name of the Jesuit professor who served as its presider were given within that same disputation in its published form.21 The annual disputation from the year 1608 (9. in Table C) discussed metaphysics, ethics, physics, mathematics, and logic (in that order). In the remaining 27 published cietatis Jesu.“ Concerning Peter Bacher (1556/7–1636) see Boehm: Biographisches Lexikon (1998), p. 28. It is possible that the establishment of the third year (synonymous here with the „metaphysics“ year) of the three-year philosophy course at the University of Ingolstadt Arts Faculty might have been a (or: the) reason for the holding – and subsequent publication – of an anonymously authored disputation in that some year. Neither München UA: O_IV_3 nor O_I_4 provide any indication that such anonymously authored disputations were held in the years 1592, 1594, 1595, 1596, or 1597. 19 Documentation is extant for annual disputations held during many years – 1609, 1611, 1617, 1625, 1626, 1628, 1632, 1633, 1635, 1637, 1639, 1640, 1641, 1642, 1643, 1644, 1645, 1646, 1647, 1648, 1649, 1650 – where no published version thereof has been located to date; see München UA: O_IV_3, fol. 79v, 86v, 113r, 141r, 145v, 163r, 167r, 171v, 174r, 177r, 182r, 185v, 189r, 192v, 195v, 200r, 207r, 217r, 221r, 225v, 229v; München UA: O_I_4, fol. 9v, 12v, 19v, 32v, 33v, 40v, 42r. Documentation of annual disputations held beyond the year 1650 is also extant: for the years 1651 through 1660 see München UA: O_IV_3, fol. 233r, 238r, 241r, 245r, 248r, 251v, 254v, 257r, 261r, 265r. 20 In München UA: O_IV_1, the catalog of students for each year lists the students enrolled in the third (metaphysics) year of the philosophy course during that year. In each annual list (except for in the lists from the years 1638 through 1648), students belonging to the Jesuit order are mentioned first, followed by non-Jesuit students, which were Roman Catholic clerics as well as secular students (including students having titles of nobility). The respondents in the 1640 annual disputations were Augustinian clerics; the respondents in the 1639, 1641, 1642, 1643, and 1644 annual disputations apparently were not Jesuits; see München UA: O_IV_3, fol. 182r, 185v, 189r, 192v, 195v, 200r and München UA: I_IV_3, fol. 45v, 46v, 47r, 47v, 48v, 49r. It should also be noted that – based on the disputations located in research for this study – Jesuit students did not serve as respondents in those disputations published in Ingolstadt during the late 16th and the early 17th centuries where the names of the presiders and respondents were listed on the title pages of those same disputations. Refer to the disputations cited in the Bibliography where presiders and respondents are named; the one possible exception to this is Hungerus and Maierus (1564). 21 It is not clear why the names of the Jesuit presiders and Jesuit respondents in these annual disputations were not listed in the published versions thereof. It is possible that it was only decided towards the end of the third year (metaphysice) – after the published version of a given disputation had appeared – which Jesuit students should serve as respondents in that same disputation. It is also possible that the Jesuits in the Arts Faculty decided not to list the names of the students (or the presiders) for some other reason or reasons.

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disputations summarized in Table C, „universal philosophy“ (universa philosophia) or the „complete (philosophical) course“ (toto cursu) was deemed to consist of logic, physics (including the soul), and metaphysics.22 Physics (including the soul) was the subject-matter given the most attention in all 28 of these disputations.23 Classifications of philosophy, of science (scientia), and the arts (artes) are presented within three of these anonymously authored disputations – published in the years 1598, 1612, and 1613, respectively (as outlined in A, B, and C of Table D) and in three authored Ingolstadt disputations published in the years 1604, 1610, and 1611 respectively (as outlined in A, B, and C of Table E); the classifications presented within these six disputations provide additional information concerning the scope of philosophy as understood at the University of Ingolstadt during the years around 1600.24 In all of these disputations, it would appear that philosophy is roughly equated with science.25 In the disputation from the year 1598 (A in Table D) the concept of science (scientia) is briefly discussed (A1 and A2).26 Those disciplines falling within the scope of science (scientia habitualis totalis) are outlined in A3 of Table D. Science (A3 in Table D) is either „real“ (realis) or philological (sermocinalis). Logic is the one philological subject-matter considered here to be a science; the remaining philological subject-matters are „more able“ (potius) to be considered as arts.27 Real science is either speculative (comprising metaphysics, physics, and mathematics) or practical. It appears here that „moral science“ (which almost certainly is meant to include ethics) is the only practical science. The remaining disciplines alluded to here (referred to as factivae) probably are mechanical arts. It would appear that science can be roughly equated with philosophy here; science (or: philosophy) includes logic, metaphysics, physics, mathematics, and moral science (or: moral philosophy).

22 The annual philosophy disputation held in 1623 (21. in Table C) was exceptional insofar as focused on divine beauty (pulchritudo divina) rather than specifically on logic, physics, and metaphysics; however, the contents of all 41 theses contained in this disputation fall within the parameters of those three philosophical subject-matters. Refer to footnote 44 – and the corresponded passage in the text of this article – concerning the use of „universal philosophy,“ „the whole (philosophy) course,“ and other analogous phrases within the title pages of – and text captions found within the text of – these anonymously published philosophy disputations. 23 Refer to footnote 52 and to the corresponding passage in the text of this article. 24 The contents of these three anonymously authored disputations are summarized in numbers 3, 11, and 12 of Table C. The only other (brief ) classification of philosophical disciplines located to date is an Ingolstadt disputation published in the year 1565; refer to footnote 7 of this article. 25 In the case of B in Table D, physics and metaphysics are considered as part of philosophy while logic is regarded as both a part and an instrument of philosophy; the title of that same disputation (see footnotes 28, 29, and 30 below) refers to logic, physics, and metaphysics as sciences. 26 Assertiones ex universa philosophia (1598), A1v (Thesis 1). 27 Assertiones ex universa philosophia (1598), A1v (Thesis 2).

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B and C in Table D outline classifications of philosophy as presented in the annual, anonymously published Ingolstadt disputations from the years 1612 and 1613, respectively. In B of Table D, the „traditional“ classification of philosophy into the three categories of rational, moral, and natural is considered to be in harmony with the classification of philosophy into two categories: practical and theoretical.28 Practical philosophy comprises rational and moral philosophy while natural philosophy is equated with theoretical philosophy. The latter includes metaphysics, physics, and mathematical disciplines; the mathematical disciplines fall „less properly“ (minus proprie) within the scope of the sciences than physics and metaphysics do.29 Rational philosophy (which apparently is equated here with logic) is regarded both as a part of philosophy (that is, as a science) and as an instrument of the same (that is, as an art).30 While logic appears to be both a part and not a part of philosophy in the anonymously published disputation from the year 1612 (B in Table D), such is not the case in the anonymous disputation from the year 1613 (C in Table D).31 There logic is flatly not considered as a part of philosophy (C2 in Table D). Philosophy is either practical (moral philosophy) or theoretical; the latter consists of physics, mathematics, and metaphysics (C1 in Table D). Science, the arts, and prudence serve as the subject-matter of a disputation by Paulus Laymannus and Paris Comes de Latrono published in the year 1604 which is outlined in A of Table E.32 Sciences (scientiae) are either speculative or practical (A1 in Table E); the former includes physics, mathematics, and metaphysics while the latter comprises logic and moral science.33 The sciences (which apparently are roughly equivalent to philosophical disciplines) are contrasted with the arts (artes); analogously, moral science is contrasted 28 „Philosophia [...] Dividitur in Rationalem, Moralem, Naturalem: quarum illae duae simpliciter sunt Practicae: haec una Theorica: [...]“ Positiones Aristotelicae e tribus scientiis, logica, physica, metaphysica decerptae (1612), A1v (Thesis 2, lines 3–4). 29 „[...] Mathematicas disciplinas: esto hae (alioquin evidentissimae certissimaeque respectu nostri) minus proprie Scientiarum nomen sibi vendicent.“ Positiones Aristotelicae e tribus scientiis, logica, physica, metaphysica decerptae (1612), A1v (Thesis 2, lines 4–6). 30 „Rationis Philosophia, quam etiam Dialecticam & Logicam vocant, est Scientia & Ars; Practica & Theoretica; immo Pars & Organum Philosophiae.“ Positiones Aristotelicae e tribus scientiis, logica, physica, metaphysica decerptae (1612), A1v (Thesis 4, lines 1–2). 31 „Logica non est pars Philosophiae, sed habitus instrumentalis, universim practicus.“ Theses Peripateticae quas e toto cursu philosophico selectas (1613), Alv (Thesis 2). 32 This disputation published by Paulus Laymannus and Petrus Comes de Latrono is cited in full in the Bibliography; an additional disputation that includes some discussion and classifications of selected (philosophical) disciplines – published by Paulus Laymannus and Michael Strigelius in the year 1608 – is also cited in the Bibliography. 33 Laymann and Latrono (1604), pp. 12–13 (XXIII, XXV, XXVI). Within 16th- and 17th-century classifications of philosophical disciplines, monastica sometimes refers to monastic and/or solitary life; see Freedman: Encyclopedic Philosophical Writings (1994), pp. 213, 238 and Freedman: Classifications (1994), pp. 42, 43, 53, 55.

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with prudence (A2 and A3 in Table E). The sciences are linked here to universal principles or universal nature, while arts and prudence are linked to experience and to particular circumstances and individual events, respectively.34 It would appear here (in A3 of Table E) that „monastic“ life (monastica), family life (oeconomica), and politics (civilis) are subordinated here to practical science (scientia moralis); the latter apparently is synonymous with ethics.35 It is specifically noted in this disputation (A1 in Table E) that the practical sciences are subordinated to the speculative sciences and that (within the context of the speculative sciences) mathematics is subordinated to physics.36 And it is noted that the „foremost“ (praestantissima) of the „philological sciences“ (sermocinalium scientiarum) is logic.37 In the disputation outlined in B of Table E – by Georgius Clainerus and Dionysius Keller from the year 1611 – philosophy is divided into speculative (metaphysics, physics, mathematics) and practical (rational and moral).38 A considerably larger number of subject-matters are presented in a disputation from the year 1610 by Georgius Clainerus and Franciscus Maximilianus Calchus, the contents of which are summarily outlined in C1 and C2 of Table E. All of the subject-matters presented in B of Table F also appear within C1 and C2 of Table F. It is not clear, however, whether some of the „arts“ subject-matters presented in C1 of Table E – in particular, family life (oeconomica), politics, and some greater or lesser number of the subject-matters listed within the domain of mathematics – are considered here as part of philosophy.39 The art of memory (ars memorandi), grammar, rhetoric, and the mechanical arts are probably intended to be excluded therefrom. And the arts subjectmatters deemed not to be part of philosophy are probably regarded here to be subordinate thereto. The disparity here between „philosophy“ subject matters (B) and those arts subjectmatters (C1) deemed as non-philosophical has its parallel in the disparity between the subject-matters presented within C2 of Table E. In C2, three philosophy subject-matters (metaphysics, physics, and ethics) and divine theology are „superior arts“ (artes superiores); they are „more like“ (magis) sciences than arts. On the other hand, the „inferior arts“ (artes inferiores) – including the liberal arts (grammar, rhetoric, logic, arithmetic, music, geometry, and astronomy) and the „servile“ (serviles) arts – are „more often“ (saepius) said

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Laymann and Latrono (1604), pp. 18 (XL), 20 (XLIV). Laymann and Latrono (1604), p. 20 (XLIV–XLV). Laymann and Latrono (1604), pp. 15 (XXXI), 16 (XXXIV). „Sermocinalium scientiarum praestantissima est Logica, [...].“ Laymannus and Latrono (1604), p. 23 (LIV). 38 Clainerus and Keller (1611), pp. 7–8 (XIX–XX). 39 Clainerus and Calchus (1610), pp. 12–13.

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to be arts than sciences.40 Logic and mathematics are apparently subordinated here to metaphysics, physics, and ethics. On the basis of the classifications of philosophy, the sciences, and the arts presented in Tables D and E, the following two points can be made here. First, „practical“ subjectmatters are subordinated to „theoretical“ and „universal“ subject-matters in these classifications. And second, there are some differences in opinion to be seen therein, as well as some shades of gray. Logic is considered as (1) practical, (2) practical as well as theoretical, (3) as part of philology, and (4) not belonging to philosophy. In addition, not clear are the distinctions made 1. between philosophy and the arts; 2. between science and the arts, and 3. between individual arts subject-matters. The following general question can be raised here. What do these encyclopedic philosophy disputations (Tables A, B, and C) and /or these classifications of philosophy, the sciences, and arts (Tables D and E) indicate concerning the actual subject parameters of philosophy instruction at the University of Ingolstadt during the late 16th and early 17th centuries? Information contained in two publications by Arno Seifert on the University of Ingolstadt’s Arts Faculty – which are briefly excerpted in Table F – can be used to provide at least some partial answers.41 Arno Seifert’s discussion of the Arts Faculty curriculum traces – among other things – the gradual narrowing of the parameters of philosophy instruction offered at the Ingolstadt Arts Faculty (D. in Table F).42 This occurred mainly in the years between 1577 and 1590; this can be considered as a consequence of the fact that the Jesuits were granted control of the University of Ingolstadt Arts Faculty by the end of the 1580s. This nar40 „Tertia divisio Artium ratione dignitatis vel gradus est, in Superiores & Inferiores. Superiores, quae scientiae magis quam Artes vocantur, sunt, Physica, Ethica seu moralis doctrina & utraque Theologia, quaeque ad eas reducuntur; Inferiores, quae saepius Artes quam Scientiae dicuntur, ad septem Liberales & totidem serviles revocantur; Liberales, quibus animus libera & ingenua hominis pars excolitur, sunt hae; Gram. Rhet. Dialect. Arith. Mus. Geom. & Astron. Serviles, [...] quae, quibus corpus in opere mercenario & servili exercetur, sunt Agricultura, Venatoria, Militaris, Fabrilis, Chirurgia, Textoria, & Nautica [...]“. Clainerus and Calchus (1610), pp. 13–14 (XVII). Clainerus and Clachus also note here on page 14 (XVII–XVIII) that some servile arts – they specifically mention painting (Ars pingendi) and military arts (Ars Palaestrae) – deserve „more dignity“ (maioris dignitatis) than other mechanical (servile) arts. 41 These two articles – Seifert: Die Jesuitische Reform (1980) and Seifert: Der Jesuitische Bildungskanon (1984) – are cited in full in the Bibliography. Valuable discussion – based on extensive primary source research – concerning the teaching of mathematics at the University of Ingolstadt during the second half of the 16th century is presented in Schöner: Mathematik und Astronomie (1994) as cited in the Bibliography. Concerning the evolution of Jesuit Ratio studiorum from 1540 to 1599 see Bartlett (1984); concerning Jesuit academic instruction in the context of the history of the Jesuits in Central Europe during the 16th and early 17th centuries refer to Duhr (1907 and 1913) as cited in the Bibliography. 42 Refer to Seifert: Die Jesuitische Reform (1980), pp. 71–73 as well as to Seifert: Der Jesuitische Bildungskanon (1984), p. 45.

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rower range of subject matters – metaphysics (including the soul), and logic – continued to be taught and emphasized in the Jesuit philosophy curriculum through the first half of the 17th century.43 Two points can be made here in this connection. First, looking at Tables A and B, the relatively broad scope of philosophy disputations at Ingolstadt listed here ends in the year 1578. No encyclopedic philosophy disputations published at all during the 1580s could be located for inclusion within Table B. With the exception of one anonymously authored philosophy disputation published in 1608 (9. in Table C), all of the remaining 31 „encyclopedic“ disputations in Tables B and C published between 1591 and 1646 limit their discussion to the subject areas of logic, physics (including the soul), and metaphysics.44 And second, the classifications of philosophy, science, and arts outlined in Tables D and E are contained in Ingolstadt philosophy disputations published during the years between 1598 and 1613. As discussed by Arno Seifert, the opponents of the Jesuits at the University of Ingolstadt fought against what they deemed to be the narrow scope of their philosophy instruction in the Arts Faculty beginning in 1597 and especially during the years between 1609 and 1613, when four of the six disputations listed in Tables E and F were published. The differences of opinion that can be seen within these classifications (Table E and F) have a parallel in the differences of opinion concerning the proper scope of philosophy instruction at the Ingolstadt Arts Faculty between 1597 and 1613 (E. in Table F).45 A similar parallel is difficult to find, however, when searching for an answer to the following question: to what extent does the content of Ingolstadt philosophy disputations 43 With regard to the aversion of the Ingolstadt Jesuits against dialectic (or: practical logic) refer to the discussion in Seifert: Die Jesuitische Reform (1980), pp. 69, 74–75, 84. Concerning the extent to which the Ingolstadt Jesuits deemphasized the subject-matters of ethics and mathematics during the early 17th century see Seifert: Die Jesuitische Reform (1980), pp. 75–76 and Seifert: Der Jesuitische Bildungskanon (1984), pp. 51–54. The Ingolstadt Jesuits were also successful in countering efforts to introduce philosophy instruction in politics during this same period; see Seifert: Der Jesuitische Bildungskanon (1984), p. 51. 44 The following phrases are used – on the title pages or in captions found within the texts of these 28 anonymously authored disputations in Table C – to describe their scope: toto cursu (numbers 1, 4, 10, 12, 13, and 18), tota philosophia (16, 17, 21, and 28), universa philosophia (3, 7, 22), universa philosophia Aristotelis (8, 24), tota philosophia Peripatetica (20, 23, 26), universa philosophia Peripatetica (27), philosophia Peripatetica (15), ex tribus Philosophiae partibus (5, 25), ex triplici philosophia (15), and logica, physica, et, metaphysica (6, 11). 45 See Seifert: Die Jesuitische Reform (1980), pp. 76–84. There is one additional point that can be mentioned here. Encyclopedic philosophical writings – which were published very rarely in Central Europe during most of the 16th century – began to be published in substantially larger quantities – together with writings on some new (sub-) disciplines – by Central European Protestant authors from the beginning of the 17th century onwards; refer to the discussion given in Freedman: Encyclopedic Philosophical Writings (1994) and in Freedman: The Godfather of Ontology? (2009), pp. 15–19. It can be surmised that these developments did not go unnoticed at the University of Ingolstadt during the early years of the 17th century.

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reflect the actual content of philosophy instruction at the University of Ingolstadt during the late 16th and early 17th centuries? Philosophy instruction during this period – at Ingolstadt as well as at in other academic institutions in Central Europe – includes discussion of large numbers of general and special points of doctrine. University-related documents provide us with relatively little information concerning the extensive and detailed content of this instruction. Published Ingolstadt philosophical disputations are extent in large numbers, and they do provide us with a great deal of information concerning the content of philosophy instruction at the University of Ingolstadt during the late 16th and early 17th centuries. But they are not the only source of this information.46 Published textbooks on logic and other philosophical subject-matters – albeit very few of which were published by Ingolstadt philosophy professors – were published there.47 And unpublished manuscripts on philosophical subject-matters are also extant.48 One additional published source concerning philosophy instruction at Ingolstadt – apparently during the late 16th century – was published by Ludovicus Serranus in the year 1603; its subject-matter content is briefly outlined in Table G.49 The subject-matters of 46 Ingolstadt curricular documents in manuscript format – as well as published Ingolstadt curricular documents from the years 1548, 1568, and 1571 – are cited in the Bibliography, where published curricular documents for the University of Dillingen from the year 1550 and from the years 1564 through 1614 are also cited. The subject-matters appearing in the Dillingen curricular documents from the years 1564 through 1614 (except for the year 1602) are summarized in Freedman: Religious Confession and Philosophy (2011), pp. 414–415 and are cited there on pp. 380–381. Some curricular documents pertaining to the Ingolstadt Arts curriculum have been published in Seifert: Die Universität Ingolstadt im 15. und 16. Jahrhundert. Texte und Regesten (1973), which is cited in the Bibliography. 47 A short textbook on rhetoric – consisting mostly of dichotomous tables – was published (in Augsburg) in the year 1561 by Ingolstadt professor Caspar Macer; see Macer: Artis rhetoricae praeceptiones schematibus (1561) in the Bibliography. Also cited in the Bibliography are editions of textbooks on logic by non-Ingolstadt authors Caspar Rudolph (1555), Petrus Fonseca SJ (1595) and Philippus du Trieu SJ (1620) that were published in Ingolstadt. Word lists by Georg Reeb SJ that were published in Ingolstadt appear to have been utilized in philosophy instruction; see – as cited in the Bibliography – Reeb: Axiomata philosophica (1625 and 1642) as well as Reeb: Distinctiones philosophicae (1629 and 1642). A three-part set of philosophy textbooks on logic (1619), physics (1620), and metaphysics (1620) was published by Matthaeus Hoen – a non-Jesuit Roman Catholic author – primarily for use in philosophy instruction at the University of Cologne; see Hoen (1619 and 1620) in the Bibliography. Philosophy textbooks were widely published by Central European Protestant authors – for example, by Bartholomaeus Keckermann (d. 1609) – during the late 16th and the early 17th centuries. An extensive (but not complete) bibliography of Keckermann’s writings is given in Freedman: Keckermann (1997). 48 This is evident from the late 16th- and early 17th-century writings by Ingolstadt philosophy professors in manuscript format that are cited in the Bibliography. 49 Serranus: Propositiones et decreta universae philosophiae (1603), pp. 229–230. According to the title page of this work, it was apparently prepared (and presumably published) by Ludovicus Serra-

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logic, physics, and metaphysics (concerning which many Ingolstadt disputations were published) are included here. But very little content concerning the remaining two subject matters discussed here by Serranus – mathematics (including music, arithmetic, astronomy, cosmography, optics, organica, gnomonica, and computus) and ethics (which also includes family life [oeconomica] and politics) – is to be found within philosophy disputations published in connection with philosophy instruction at the University of Ingolstadt from mid-1570s through the middle of the 17th century. It appears that philosophy disputations were published in Ingolstadt mainly concerning those subject-matters that were deemed to have some degree of importance within the philosophy curriculum itself. Rhetoric, poetics – and occasionally family life, politics, and grammar – were accorded some attention in philosophy disputations during the 1560s and 1570s but not thereafter.50 A few publications on mathematics at Ingolstadt during the second decade of the 17th century are extent, as are a few disputations on ethics published during the following decade. But the amount of subject content pertaining to either mathematics or ethics published in Ingolstadt from the 1580s through the 1640s was apparently minimal.51

nus for the purpose of earning a Master of Arts (pro assequendo Philosophiae Doctoratu) at the University of Ingolstadt. Attempts to find any information concerning Ludovicus Serranus – in manuscript records of the Ingolstadt Arts Faculty and in the published enrollment books (Matrikeln) of the University of Ingolstadt – have not been successful. A substantial portion of the content of the Propositiones et decreta universae philosophiae (1603) is also to be found in the following work: Serranus and Latil: Assertationes universae philosophiae in Academia Turononia societatis Jesu ad disputandum propositae (1601); a poem to Ludovicus Serranus congratulating him for his Master of Arts degree (Doctoratus philosophiae lauream) at the Jesuit Academy in Tournon is found on page 8 of this latter work. It is possible that Serranus pursued a Master of Arts at the University of Ingolstadt but that he did not enroll at and/or did not receive that degree there. It is also possible that Ludovicus Serranus is the same person as Louys (Louis) de Serres, a Doctor of Medicine who published a medical treatise in the year 1625; see Serres: Discours (1625) in the Bibliography. 50 However, several academic disputations the content of which was both political and legal (politicojuridica) were published in Ingolstadt during the early 17th century; refer to Waizeneggerus and Mechtl (1625) as well as to Waizeneggerus and Herwath de Hohenburg (1632) in the Bibliography; Christoph Besold (1557–1638) converted from Lutheranism to Catholicism in 1635 and became a Professor of Jurisprudence at the University of Ingolstadt the following year. In 1637 he published in Ingolstadt a revised version of his textbook on politics (which had been first published in the year 1620); see Besoldus (1620 and 1637) in the Bibliography. Concerning the career of Christoph Besold refer to Boehm: Biographisches Lexikon (1998), pp. 43–45. 51 The following writings on mathematics published in Ingolstadt are cited in the Bibliography: Scheiner and Locher (1614); Scheinerus and Schönperger (1615); Scheiner (1616); Cysatus and Mozelius (1619). Philosophical topics pertaining to ethics are the subject matter of disputations by Alt and Pisonet (1625) as well as by Alt and Linder (1625). Short sections on ethics and mathematics are included within Conclusiones ex universa philosophia (1608) on page 3 and on page 7, respectively.

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The following observation can be ventured here. Philosophy disputations on logic, physics, and metaphysics – and especially on physics – published in Ingolstadt during the late 16th and early 17th centuries provide a large amount of information concerning what taught there pertaining to these same subject-matters during that period.52 But information concerning the content of mathematics, ethics, family life, politics, rhetoric, and poetics instruction at the University of Ingolstadt during this same period – insofar as such information is extant – will have to be extracted in large part from manuscript sources.53 But manuscript sources also have a wider relevance for the study of philosophy disputations. In the case of the 28 philosophy disputations listed in Table C, it is University of Ingolstadt archival records in manuscript format that provide the names of the presiders and respondents of those anonymously published disputations. The University of Ingolstadt Arts Faculty records also provide information – for some of these orally held disputations – concerning how the participating students performed.54 But one can call into question the extent to which the information contained in many or most philosophy disputations (published in Ingolstadt and elsewhere) was actually disputed orally in its entirety during the early modern period.55 There can be no definitive 52 A large amount of information concerning philosophy as taught at the University of Dillingen during the years between 1555 and 1648 is presented and discussed in Leinsle: Dilinganae Disputationes (2006). Ulrich Leinsle’s study is largely based on his detailed examination of over 300 philosophy disputations published during those same years. Within the context of those Dillingen philosophy disputations devoted to individual subject-matters (and not philosophy as a whole), disputations on physics (including disputations on the soul) are by far the most numerous thereof; refer to the chart on page 565 of his study. This is most probably also the case with respect to Ingolstadt philosophy disputations published during the late 16th and early 17th centuries; in the encyclopedic philosophical disputations summarized in Tables B and C, physics and the soul are the most discussed subjectmatters found therein. A full study of Ingolstadt philosophy disputations during the late 16th and early 17th centuries would require a monograph, for which Leinsle’s study of Dillingen philosophy disputations could serve as an excellent parallel study. 53 Cited in the Bibliography are manuscript treatises by (or notes on lectures given by) three Ingolstadt Jesuit mathematics professors (Cornelius Adriansens, Johannes Appenzeller and Christoph Scheiner) as well as a manuscript treatise on human volition – which includes some subject-matter pertaining to ethics – by Christian Baumann. 54 To give some examples from the disputations summarized in Table C, the annual disputation held in 1607 (8. in Table C) was evaluated as „satisfactory“ (cum satisfactione), the one held in 1612 (11. in Table C) was judged to be cum laude, the one held in 1619 (17. in Table C) was considered to be „without erudition“ (sine eruditionis laude), the one held in 1634 (27. in Table C) received the evaluation of „excellent“ (praeclare), and the one held in 1646 (28. in Table C) was evaluated as cum magna laude; see München UA, O_I_4, fol. 73v, 89r, 121r, 170r, 221r. 55 For example, it is difficult to see how the vast majority of the theses (theses; positiones; conclusiones) presented in the 28 anonymously publications summarized in Table C could have been utilized in their published form within oral disputations. Refer to the following two sample theses: „Modum disserendi qua talis est, velut proprium obiectum demonstrative tradit Logica Docens; quae proinde habitus Scientificus est, Instrumentarius & Practicus: Utens ipsam Formam a Docente reflexe tradi-

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answer to this question; it is written records that must be used to provide us with whatever information – pertaining to this and other related questions – that we can find concerning oral instruction during this same period.56 And this information – in published and manuscript formats – can only be expected to provide us with limited insight concerning some aspect(s) of oral instruction and/or limited insight concerning oral instruction at some given academic institution(s), by some given instructor(s) and/or student(s), and at some given point(s) in time.57 Published studies on – and published editions of – the records of universities and other academic institutions can assist us in evaluating the significance of disputations in individual institutional contexts.58 The use of such studies and editions will also help us to gradually arrive at increasingly realistic assessments concerning what can and cannot be learned through the study of philosophy disputations during the early modern period. The following point can be ventured here: such increasingly realistic assessments might lead us not to overestimate the evidential value of published philosophy disputations – while at the same time allowing us to confirm the significance and usefulness they do in fact have for the study of early modern history and culture. tum materiis Scientiarum tam probabilibus quam necessariis actu exercito inducit: Est Ars similitudinaria, ut plurimum eadem re cum Docente, nunquam cum Scientiis aliis; neuter ex Habitibus ad ullam Scientiam Realem; actus, saltem Virtualis, Docentis, expressus Utentis ad omnem, simpliciter requiritur.“ Conclusiones ex toto cursu philosophico (1610) [10. in Table C], p. 2 (Thesis prima). „Objectum sensus proprium est quod per propriam speciem ut quod, commune quod per eandem realiter proprii speciem cognoscitur ut quo, nec hoc sine illo vel naturaliter vel supernaturaliter, sicut nec substantiae aut spiritus sentiri possint. Res indivisibiliter existens, item objectum absens, aut omnino non existens supernaturaliter tantum sentitur. Sensus super suam sensationem se non relectunt; laedi etiam a sensibili, indirecte tamen, & nonnunquam falli possunt.“ Theses ex universa Aristotelis philosophia (1629) [24. in Table C], p. 5 (Thesis 38). 56 Some issues pertaining to the dichotomy between published disputations and oral disputations in Central Europe during the late 16th and the 17th centuries are discussed in Freedman: Published academic disputations (2010), pp. 109–113. 57 In the case of the anonymously authored, Jesuit philosophy disputation from the year 1591 summarized in number 1 of Table C, one presider and three respondents are listed in the records of the Ingolstadt University Arts Faculty records, but one copy of the published version contains – on the verso side of the title page – a handwritten list of five respondents (three of which were listed in the Arts Faculty records). Refer to the footnote corresponding to the summary of this disputation (in number 1 of Table C). 58 This article could not have appeared in its present form had it not been for the pertinent, meticulously researched and written publications by Arno Seifert that are cited in the Bibliography. A very well documented study by Norbert Hofmann on the University of Tübingen Arts Faculty between 1534 and 1601 was invaluable for the preparation of my recent article on Georg Liebler; see Hofmann: Die Artistenfakultät der Universität Tübingen (1982) and Freedman: Liebler (2012). The following additional study – based in large part on extensive use of Wittenberg University records – can be mentioned here: Kathe: Die Wittenberger Philosophische Fakultät 1502–1817 (2002).

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Table A Philosophical Subject Matters Discussed within „Encyclopedic“ Philosophical Disputations (Broadsheets) Published in Ingolstadt, 1559–1569 1. Reisacherus and Malus [Male] (1559): Logicae quaestiones [8 theses]; Physica [15 theses]; Politica [15 theses] 2. Macer and Eysenmenger (1561): Physica [1 thesis and 1 conclusio]; Ethica [3 theses] Dialectica [2 theses]; Rhetorica [1 thesis]; Grammatica [1 thesis] 3. Zettelius and 10 named respondents (3. Non. Feb. 1562): [six subject-matters, one question each]: I. Grammatica; II. Rhetorica vel Dialectica; III. Mathematica; IIII. Physica; V. Ethica; VI. Metaphysica 4. Macer and 14 named respondents (8. Calend. Febr. 1563): [ten subject-matters, one question each]: 1. Grammatica; 2. Dialectica; 3. Rhetorica; 4. Arithmetica; 5. Musica; 6. Astronomica; 7. Geometrica; 8. Ethica; 9. Physica; 10. Metaphysica

5. Zettelius and 9 named respondents (7. Calend. Augusti 1563): [six subject-matters, one question each]: I. Metaphysica. An esse, essentia, & existentia in eodem subiecto re ipsa inter se distinguitur? II. Physica. An in corporibus mistis elementa vere maneat? III. Ethica. An recte senserint Pythagorei ἐμ τῷ ἀντιπεπονθέναι ius omne positum? IIII. Astronomica. An astris afficiantur corpora, corporum autem temperamenta sequantur animi? V. Rhetorica. An Picus Mirandula recte sentiat eloquentiam cum sapientia coniungere non esse aliud, quam pudice fucum addere virgini? VI. Dialectica. Utrum Dialectica pars Philosophiae censenda sit an Instrumentum?

6. Wispeckius, Lang, Pruckperger, and Praun (1565): (Grammar / Hebrew Grammar) [5 theses]; Ex poetica [4 Theses]; Ex rhetorica [4 Theses]: Ex Logica [4 Theses]; Ex Ethica [4 Theses]; Ex Physica [2 Theses]; Ex Metaphysica [2 Theses] 7. Landauus [Landau], Prockelius, and Hilebrandus (11. Calend. Januarii 1565): [19 theses in all]: Grammaticae (I.–II.); Rhetoricae (III.–IV.); Dialecticae (V.–VII.); Physicae (VIII.–XI.); Metaphysicae (XII.–XIII.); Mathematicae (XIIII.–XVII.); Ethicae (XVIII.–XIX.)

8. Wisbeckius and 8 named respondents (12. Calend. Februarii 1566): [five subject-matters, one question each]: I. Metaphysica; II. Physica; III. Ethica; IIII. Mathematica; V. Dialectica



9. Jacobaeus, Vitus and 10 named respondents (6. Idus Julii 1567): [five subject-matters, one question each]: I. Metaphysica; II. Physica; III. Ethica; IIII. Mathematica; V. Dialectica

10. Hungerus, Dornerus, and Martinus [Martini] (12. Julii 1567): [18 theses in all]: Logicae (I.–IIII.); Naturales (V.–XIIII.); Metaphysicae (XV.–XVI.); Ethicae (XVII.–XVIII.) 11. Landauus [Landau] and 8 named respondents (7. Calend. Februarii 1569): [four subjectmatters, one question each]: I. Metaphysica; II. Physica; III. Ethica; IIII. Astronomica 12. Dornerus and Waldkirch (pridie nonas Februarii 1569): Metaphysicae [3 theses]; Logicae [3 theses]; Ethicae [3 theses]; Physicae [11 theses]

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Table B Philosophical Subject Matters Discussed within Authored „Encyclopedic“ Philosophical Disputations Published in Ingolstadt, 1570, 1573-1575, 1578, 1595, 1618, and 1646 1. [Vicaeus, Restiarii (Bartholomaeus), and Restiarii (Joannes) (1570): folio letters and numbers / thesis numerials]: Ex prima philosophia [A2v–A3r/I–VIII]; Ex libris de anima [A3r–A4r/I– V]; Ex libris de ortu et interitu [A4v–B1r/I–VIII]; Ex libris de coelo [B1v/I–VI]; Ex libris de physica auscultatione [B2r–B2v/I–VIII]; Ex mathematicis [B2v–B3r/I–VI]; Ex morali philosophia [B3r–B3v/I–VI]; Ex logica [B3v–B4r/I–V]; Appendix [B4r] 2. Martinus [Martini] and Jobst (1573): [folio letters and numbers / thesis numerials]: Ex prologiis dialecticis [A2r-A2v/I–XII]; Ex quinque praedicabilium tractatu thesis prima [A2v– A3r/I–VII]; Ex libris de physica auscultatione thesis prima [A3r/I–VII]; Ex libris de coelis [A3r/I–III]; Ex libris de ortu et interitu [A3r-A3v/I–III]; Ex libris de animo [A3v / I–III]; Ex mathesi [A3v/I–II]; Ex morali philosophia [A3v–A4r/I–VI]; Ex metaphysica [A4r/I–II]. 3. Martinus [Martini] and Helmarius (1574): [folio letters and numbers / thesis numerials]: Ex prima philosophia [A3r–A3v/I–VII]; Ex libris de physica auscultatione [A3v–A4r/I–VIII]; Ex libris de coelo [A4r–A4v/I–VIII]; Ex libris de ortu et interitu [A4v–B1r/I–VII]; Ex meteororum libris [B1r–B1v/I–VII]; Ex libris de anima [B1v–B2r/I–VIII]; Ex mathematicis [B2r–B2v/I– V]; Ex moralis philosophia [B2v–B3r/I–VIII]; Ex rationali philosophia [B3r–B4r/I–X]; Ex oratoria facultate [B4r–B4v]; Ad quatuor facultatibus [B4v]: Ad Theologos; Ad Jureconsultos; Ad Medicos; Ad Philosophos 4. Pihelmair (Joannes Baptista), Pihelmair (Wolfgang), Collicola (Joannes Baptista), and Collicola (Wolfgang) (1575): [folio letters and numbers / thesis numerials]: Ex Metaphysica, seu prima philosophia [A3v–A4r/I–VII]; Ex philosophia naturali, De Physica auscultatione [A4r-A4v/VIII–XII]; De Generatione et Corruptione [A4v/XIII–XIV]; De rebus Meteorologicis [A4v–B1r/XV–XVII]; De anima [B1r/XVIII–XX]; De Parvis Naturalibus [B1r–B1v/XXI– XXIII]; Ex morali philosophia [B1v]: Ex ethica [Blv/XXIV]; Ex politica [Blv/XXV]; Ex Oeconomica [Blv/XXVI]; Mathematicis [B2r/XXVII–XXVIII]; Ex philosophia rationali [B2r-B3v]: Ex Prologuiis Logices [B2r/XXX–XXXII]; Ex institutionibus Porphyrii [B2v/XXXIII–XXXV]; Ex Categoriarum Aristotelis libro [B2v/XXXVI–XXXVII]; Ex libris ΠΕΡΙ ΕΡΜΗΝΕΙΑΣ [B2v–B3r/XXXVIII–XXXIX]; Ex libri Priorum [B3r/XL–XLI]; Ex libris de Demonstratione [B3r/XLII–XLIII]; Ex libris Topicorum [B3v/XLIV–XLV]; Ex libris Elenchorum [B3v/XLVI– XLVII]; Ex Rhetorica [B3v/XLVIII–XLIX]; Ex Grammatica [B4r/L] 5. Sella, Christophorus (1578): [folio letters and numbers / thesis numerials]: Metaphysicae [A3r–B1r/I–XL]; Physicae [B1r–B2v/XLI–LXXXI]; De coelo [B2v–B3v/LXXXII–CI]; De generatione et corruptione/De ortu et interitu [B3v–C2v/CII–CLVIII]; Meteorologicae [C2v– C3v/CLIX–CLXXV]; De anima [C3v–D4r/CLXXVI–CCLX]; Morales [D4r–D4v/CCLXI– CCLXIX]; Mathematicae [D4v–D5r/CCLXX–CCLXXVIII]; Logicae [D5r–D6r/CCLXXIX– CCC] 6. Carpentarius and Everardus (1579): [broadsheet; thesis numerials]: Ex logica [I–XVIII]; Ex philosophia naturali [XIX–XLIII]; Ex metaphysica [XLIV–XLVIII] 7. Ferdinandus [Archbishop of Cologne] (1595): [page numbers and thesis numerials]: Logicae [3–9/I–XVIII]; Physicae ex libris physicorum [9–18/XIX–XXXIIX]; Ex libris de coelo [18–22/

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XXXIX–XLVII]; Ex libris de Generatione [23–28/XLIIX–LIX]; Ex Meterologicis [28–31/LXLXVII]; Ex libris de anima [31–42/LXIIX-XCI]; Metaphysicae [42–46/XCII–C] 8. Philippus [Bishop of Regensburg] (1595): [page numbers and thesis numerials]: Logica [1–11/I–XXII]; Ex libris physicorum [11–18/XXIII–XXXVIII]; Ex libris de coelo [18–23/ XXXIX–L]; Ex libris de Generatione [23–31/LI–LXV]; Ex Meterologicis [31–34/LXVI– LXXII]; Ex libris de anima [34–43/LXXIII–XCV]; Metaphysicae [44–46/XCVI–C] 9. [a.]: Forer and Gering; [b.]: Forer and Rosenhamer (1618): [page numbers and thesis numerials]: (Logica) [1–14/I–XVI]; (Physica) [14–38/XVII–XXVI]; (Metaphysica) [pp. 38–39/ XXXVII] 10. Veihelin and Neuhaus (1646): [page numbers and thesis numerials]: (Logica) [1–23/ I–XXIX]; (Physica) [23–40/XXX–LVII]; (Metaphysica) [40–48/LVIII–LXX]

Table C Philosophical Subject Matters Discussed within 28 „Encyclopedic“ Disputations by Anonymous Authors Published in Ingolstadt, 1591, 1593, 1598–1634, and 1646 1. Theses ex toto curso philosophico (die __ & __ Julij 1591); [authorship not mentioned: Jacobus Gretserus, praes. – Hugo Rot, Rodolphus Sonnenberger, and Joannes, Specius, resp.59 (also: Jacobus Berchtoldus and Joannes Zamponius [?], resp.?)60]; [caption, fol. A2r]: Theses ex universa philosophia; [no subject captions presented]; (Logica) [fol. A2r–A2v/Theses1–9]; (Physica / Anima) [A2v–A4r/10–32]; (Metaphysica) [A4r–A4v/33–35]; (Statement): Cum facultate superiorum. [A4v] 2. Assertiones philosophicae ex logica, physica, et metaphysica (25 Junij 1593); [authorship not mentioned: Robertus [Rupertus] Reindelius, praes. – Joachimus Meglinus, Georgius Kern, and Adamus Danner, resp.61] Ex logica [fol. A1v–A2r]: De principiis modorum disserendi [A1v/ Theses 1–4]; De speciebus modorum disserendi [A2r/1–5]; Ex physica [A2r/1–5]: De princpiis et passionibus corporis naturalis [A2r–A2v/1–5]; De corpore simplici [A2v–A3r/1–10]; Tum de anima universim de vegetante [A3v/1–4]; De anima sensitiva [A3v–A4r/1–4]; De anima rationali [A4r/1–3]; Ex metaphysica [A4v/1–5]; (Statement): Cum facultate superiorum. [A4v]

59 München UA: O_I_4, fol. 33v; concerning the career of Jacob Gretser (1562–1625), refer

to the article in Boehm, Biographisches Lexikon (1998), pp. 156–157.

60 On fol. A1v in the copy of the published version of this dissertation at the Bavarian State

Library in Munich with the call number 4 Diss 1282, Beib. 8, the following five individuals (in what appears to be then-contemporary handwriting) are named as respondentibus ex Societ[tatis] Jesu: Jacobus Berchtoldus, Hugo Rott, Joannes Specius, Rudolphus Sonnenberger, and Joannes Z[?]ambon[?]ius. 61 München UA: O_I_4, fol. 37r; O_IV_3, fol. 1r; concerning the career of Rupert Reindel (1560–1630) see Boehm, Biographisches Lexikon (1998), p. 334.

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3. Assertiones ex universa philosophia. ({19} Junij 1598); [authorship not mentioned: Anton Welser, praes. – Paulus Liaman / Laymann, and Conradus Reihing, resp.62]; [caption, p. 1]: Theses ex universa philosophia; [no subject captions presented]; (Scientia) [p. 1 / Theses 1–3]; (Metaphysica) [pp. 1–2/Theses 4–8]; (Physica) [2–5 / Theses 9–31]; (Anima) [5–6 / Theses 32–42]; (Logica) [6–7/Theses 43–49]; (Approval Statements: Deans of the Theology and Philosophy Faculties) [p. 7] 4. Assertiones ex logica, physica, et metaphysica (die {7} Junij 1599); [authorship not mentioned: Sebastianus Horstius, praes. – Jacobus Franciscus and Georgius Klainer, resp.63]; [caption, p. 1]: Theses ex toto philosophiae cursu; [no subject captions presented]; (Logica) [pp. 1–2 / Theses 1–7]; (Physica) [2–3 / Theses 8–25]; (Anima) [3–5 / Theses 26–45]; (Metaphysica) [5–6 / Theses 46–50]; (Approval Statements: Deans of the Theology and Philosophy Faculties) [p. 6] 5. Theses philosophicae ex logica, physica & metaphysica (5 {6} Julij 1602); [authorship not mentioned: Hugo Roth, praes. – Jacobus Biderman and Joannes Fontanus, resp.64]; [caption, p. 2]: Theses ex tribus philosophiae partibus; [no subject captions presented]; Logica [pp. 2–3 / Theses 1–6]; Scientia [3/Thesis 7]; Physica [3–5/Theses 8–27]; Anima [6–8 / Theses 28–44]; Metaphysica [8/Theses 45–50]; (Statement): Cum facultate superiorum [p. 8] 6. Assertiones ex logica, physica, et metaphysica (22 Junij & 4 Julij 1605); ab aliquibus a Societate Jesu [22. Junij: Peter Stevart, praes. – Oswaldus Brast and Simon Felix, resp.; 4 Julij: Conradus Reihing, praes. – Casparus Lechnerus and Oswaldus Coscamus, resp.65] [caption, p. 2]: Theses philosophicae. Ex logica [pp. 2–3/Theses 1–8]; Ex physica [2–7/Theses 9–42 (Anima: Theses 31–42); Ex metaphysica [7–8/Theses 43–50]; Approval Statements: Deans of the Theology and Philosophy Faculties [p. 8] 7. Theses philosophicae ex logica, physica & metaphysica (3 {4} Julij 1606); a duobus e Societate Jesu [Paulus Laymann, praes. – Johannes Agricola and Laurentius Forer, resp.66] [caption, p. 2]: Disputatio ex universa philosophia; [no subject captions presented]; (Logica) [pp. 1–2/ Theses I/VII]; (Physica) [3–6/VIII–XXIV]; (Anima) [6–7/XXV–XXXIII]; (Metaphysica) [7–8/XXXIV–XXXVIII]; (Approval Statements: Deans of the Theology and Philosophy Faculties) [p. 8] 8. Conclusiones ex universa Aristotelis philosophia (pridie D. Udalrici [= 3. Julii] 1607); a duobus e Societate Jesu [Conradus Reihing, praes. – Christophorus Schachner and Georgius 62 München UA: O_I_4, fol. 52v; O_IV_3, fol. 4v; the career of Paul Laymann (1575–

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1635) is discussed and documented in Boehm, Biographisches Lexikon (1998), pp. 234– 235. Here – and in the following footnotes corresponding to the publications presented in Table C – square brackets are used to indicate where the disputation date given in O_I_4 is at variance with the date given on the title page of the printed disputation. München UA: O_I_4, fol. 54v; O_IV_3, fol. 5r. München UA: O_I_4, fol. 55r; O_IV_3, fol. 5v; concerning the career of Hugo Roth (Rott, Rot) (1570–1636) refer to the article in Boehm, Biographisches Lexikon (1998), p. 354. München UA: O_I_4, fol. 67v–68r; O_IV_3, fol. 8r; concerning the careers of Peter Stevart (1547–1624) and Konrad Reihing (1573–1634) refer to Boehm, Biographisches Lexikon (1998), pp. 418–419 and pp. 333–334, respectively. München UA: O_I_4, fol. 70v; O_IV_3, fol. 8v.

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Stengel, resp.67] [caption, p. 2]: Theses ex toto cursu philosophico; Ex metaphysicis [pp. 2–3/I– X]; Ex physicis [3–7/XI–XLIII]; Ex logicis [7–8/XLIV–L]; (Approval Statements: Deans of the Theology and Philosophy Faculties) [p. 8] 9. Conclusiones ex universa philosophica (Pridie Calend. Julij 1608); a duobus e Societate Jesu [Gualtherus Mundbrott, praes. – Gebhardus Razenreidt and Casparus Weishaupt, resp.68] Ex metaphysica [pp. 2–3/Theses 1–IX]; Ex ethica [3/Theses I–V]; Ex physica [3–6/I–XXIV]; Ex mathematica [7/I–V]; Ex logica [7–8/I–VII]; (Approval Statements: Deans of the Theology and Philosophy Faculties) [p. 8] 10. Conclusiones, ex toto cursu philosophico (3. Nonas Julij 1610); a duobus e Societate Jesu [Christoph Steborius, praes. – (Joannes) Baptista Cysetus and Bernhardus Wyl, resp.69] [no subject captions presented]; (Logica) [pp. 1–2/Theses I–IX]; (Physica) [2–6/X–XXXIV]; (Anima) [6–8/XXXV–XLIV]; (Metaphysica) [8/XLV–L]; (Statement): Cum facultate superiorum. [p. 8] 11. Positiones Aristotelicae, e tribus scientiis, logica, physica, metaphysica (3 Julij 1612); a tribus e Societate Jesu [Georgius Clainer, praes. – Joannes Albericus, Daniel Feldner, and Georgius Verdunck / Verdugk, resp.70] [no subject captions presented]; (Philosophia) [A1v/Theses 1–4] (Logica) [A1v–A2r/Theses 5–15]; (Physica) [A2v–A3v/16–36]; (Anima)[A3v–A4v/37– 47]; (Naturalis Theologia seu Metaphysica) [A4v/48–53]; (Statement): Cum facultate superiorum. [A4v] 12. Theses Peripateticae quae e toto cursu philosophicae selectas (Kalend. Julijs 1613); duo e Societate Jesu [Christoph Steborius, praes. – Joannes Rackelmann and Casparus Wenckh/ Wenck, resp.71] (Philosophia) [A1v/Thesis 1); Ex Logica [A1v–A2r/2–10]; Ex Lib. Physicis [A2r–A2v/11–19]; Ex Lib. de Coelo [A2v–A3r/20–22]; Ex Lib. de Generatione [A3r–A3v/23– 30]; Ex Meteoris [A3v/31–32]; Ex Lib. de anima [A3v–A4r/33–40]; Ex Metaphysica [A4r– A4v/41–50]; (Statement): Cum facultate superiorum. [A4v] 13. Theses Peripateticae ex toto cursu philosophicae selectas (Calend. Julijs 1614); a duobus e Societate Jesu [Christoph Steborius, praes. – Gaspar Hell and Andreas Mener, resp.72] Ex Logica [pp. 2–3/Theses 1–9]; Ex Physica [3–4/10–17]; Ex Libris de Coelo [4/18–19]; Ex Libris de

67 München UA: O_I_4, fol. 73v; O_IV_3, fol. 9r. 68 München UA: O_I_4, fol. 76r; O_IV_3, fol. 9v; concerning the career of Walter Mund-

69 70 71

72

brot (c. 1576–1645/1646) see Boehm, Biographisches Lexikon (1998), p. 290. Variant spellings of names – as needed are given with the spelling in O_I_4 given first, followed by the spelling listed in O_IV_3. München UA: O_I_4, fol. 82r; O_IV_3, fol. 11v; concerning the career of Christoph Steborius (1574–1639) refer to Boehm, Biographisches Lexikon (1998), p. 354. München UA: O_I_4, fol. 89r; O_IV_3, fol. 13v; regarding the career of Georg Clainer (1574–1620) see Boehm, Biographisches Lexikon (1998), p. 71. München UA: O_I_4, fol. 99r; O_IV_3, fol. 14r. The names of the two respondents to this disputation are also handwritten on the title page of copy of this disputation [call number: W 4 Philos. 309, #2] owned by the Munich University Library München UA: O_I_4, fol. 103v; O_IV_3, fol. 15r. The names of the two respondents to this disputation are also handwritten on the copy of the title page of this disputation [call number: W 4 Philos. 309, #1] owned by the Munich University Library

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Generatione [4–5/20–25]; Ex Meteoris [5–6/26–29]; Ex libris de Anima [6–7/30–43]; Ex Metaphysica [7–8/44–50]; (Statement): Cum facultate superiorum. [p. 8] 14. Assertiones ex triplici philosophia (26 Junij 1615) duo e Societate Jesu [Simon Felix, praes. – Ferdinandus Reinman and Conradus Graff, resp.73] Ex Logica [pp. 1–2/Theses 1–9]; Ex Physica [2–6/10–41]; Ex Metaphysica [6–7/42–50]; (Statement): Cum facultate superiorum. [p. 7] 15. Praecipuae difficultates philosophiae Peripateticae (4. Julij 1616); duo e societate Jesu[Gaspar Lechnerus, praes. – Henricus Wangerecks and Philibertus Nicolaus, resp.74]Ex Logica [pp. 2–3 / Theses 1–8]; Ex Physica [3–7/9–41]; Ex metaphysica [7–8/42–50]; (Approval Statements: Deans of the Theology and Philosophy Faculties) [p. 8] 16. Conclusiones ex tota philosophia (3 Julij 1618); a duobus e Societate Jesu [Laurentius Forer, praes. – Fridericus Aicher and Jacobus Swaiger, resp.75] Ex Logica [pp. 2–3/Theses 1–9]; Ex Physica [3–7/Theses 10–41]; Ex Metaphysica [7–8/Theses 42–50]; ]; (Approval Statements: Deans of the Theology and Philosophy Faculties) [p. 8] 17. Assertiones ex tota philosophia (Kalendis Julij 1619); a duobus e Societate Jesu [Oswaldus Coscanus, praes. – Georgius Bernardus and Christoph Pflaumer, resp.76] Ex Logica [A1v–A2r/ Theses 1–8]; Ex Physica [A2r–A4r/9–40]; Ex Metaphysica [A4r–A4v/41–47]; (Statement): Cum facultate superiorum. [A4v] 18. Positiones ex toto cursu Peripatetico (3 Julii 1620); duo e Societate Jesu [Joachimus Erndlin, praes. – Clemens Papinus and Adamus Seemiller, resp.77] Ex Logica [pp. 2–3/Positiones 1–10]; Ex Physica [3–8/11–40]; Ex Metaphysica [7–8/41–47]; (Approval Statements: Deans of the Theology and Philosophy Faculties) [p. 8] 19. Positiones ex tota philosophia Peripatetica ({25–26 Junii}1621); a quatuor e Societate Jesu [25 Junii: Georgius Lyprandus, praes. – Petrus Udri and Nicolaus Wirsing; 26 Junii: Georgius Lyprandus, praes. – Joannes Rauch and Carolus Stein, resp.78]; Ex Logica [pp. 2–3/Positiones 1–10]; Ex Physica [3–8/11–50]; Ex Metaphysica [8/51–54]; (Statement): Cum facultate superiorum. [p. 8] 20. Theses Peripateticae ex tota philosophia ({18} Junij 1622); duo e Societate Jesu [Andreas Mener, praes. – Ignatius Leonardus and Henricus Moser, resp.79]Ex Logica [pp. 2–3/Theses 73 München UA: O_I_4, fol. 106v; O_IV_3, fol. 16v; concerning the career of Simon Felix

(1583–1626), see Boehm, Biographisches Lexikon (1998), pp. 113–114.

74 München UA: O_I_4, fol. 110v; O_IV_3, fol. 17v; concerning the career of Caspar Lech-

ner (1583–1634_ see Boehm, Biographisches Lexikon (1998), p. 235–236

75 München UA: O_I_4, fol. 114v; O_IV_3, fol. 22r; regarding the career of Laurentius

(Lorenz) Forer (1580–1659) see Boehm, Biographisches Lexikon (1998), pp. 126–127.

76 München UA: O_I_4, fol. 121r; O_IV_3, fol. 24r; concerning the career of Oswald

Coscanus (1581–1637) see Boehm, Biographisches Lexikon (1998), p. 72.

77 München UA: O_I_4, fol. 124v–125r; O_IV_3, fol. 25v; concerning the career of Joachim

Erndlin (1588–1636?) see Boehm, Biographisches Lexikon (1998), p. 103.

78 München UA: O_I_4, fol. 129v; concerning the career of Georg Lyprand (1588–1665)

see Boehm, Biographisches Lexikon (1998), p. 256.

79 München UA: O_I_4, fol. 132v; O_IV_3, fol. 27v; regarding the career of Andreas Men-

er (1590–1655) see Boehm, Biographisches Lexikon (1998), p. 276. The date of this dispu-

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1–9]; Ex Physica [3–8/10–41]; Ex Metaphysica [8/42–44]; (Statement): Cum facultate superiorum. [p. 8] 21. Disputatio philosophica de investigatione pulcheritudinis divinae ex entis creati pulcheritudine, sive numero, mensura, pondere, collecta ex tota philosophia (9. Junii 1623); a tribus e Societate Jesu [Henricus Lamparter / Lampardus, praes. – Paulus Grandinger, Conradus Heinzel / Henzel, and Rupertus Lener, resp.80] [caption (A1v): Reginae coeli ... Has de pulchro theses, per manus SS. Catharinae et Francisci Xaverii. Clientes addictissimi DDD.]; A1v–A4r / Theses 1–41 [These 41 theses discuss content taken directly from the subject–matters of metaphysics, physics, and logic.] 22. Theses ex universa philosophia (1 July 1624); duo e Societate Jesu [Caspar Hell, praes. – Henricus Moser and Ignatius Leonardus, resp.81] [Caption (p. 2)]: SS. Catharinae Virg. et Mart. Francisco Xaverio philosophiae Ingolstadianae patronis positiones hasce clientes infimi DD.; Ex logica [pp. 2–3/Theses 1–9]; Ex physica [3–8/10–48]: Ex VIII. Physicis [3–5/10–23]; Ex Libris de Ceolo [5/24–27]; Ex Libris De Generat. et Meteor. [5–6/28–35]; Ex libris de anima [6–8/36–48]; Ex Metaphysica [8/49–53] 23. Assertiones ex universa Peripateticorum philosophia (Pridie Calendas Julii 1627); duo e Societate Jesu [Georgius Lyprandus, praes. – Conradus Calmelet and Maximilianus Lerchefeldt, resp.82] Logica [pp. 2–3/Assertiones 1–9]; Ex Physica [3–7/10–45]; Ex Metaphysica [7–8/46–54]; (Statement): Cum facultate superiorum [p. 8] 24. Theses ex universa Aristotelis philosophia (30 Junii 1629); tres e Societate Jesu [Georgius Reinhardus, praes. – Leonardus Lerchenfeldt, Franciscus Rechlinger, and Jacobus Rosler, resp.83] Ex Logica [pp. 1–2/Theses 1–9]; Ex Physica [2–6/10–44]; Ex Metaphysica [6/45–49]; (Statement): Cum facultate superiorum [p. 6] 25. Positiones Peripatetica ex tribus partibus philosophiae (3 Julij 1630); duo e Societate Jesu [Christian Baumann, praes. – Bernardus Freÿ and Guilielmus Leferer / Lefrer, resp.84] Logica [pp. 2–3/Theses I–IX]; Physica [3–8/Theses X–XLV]; Metaphysica [8/XLVI–L]; (Approval Statements: Deans of the Theology and Philosophy Faculties) [p. 8] 26. Universa philosophia Peripatetica (Pridie Calend. Julii 1631); duo e Societate Jesu [Nicolaus Wysing, praes. – Lambertus Everardt and Isaias Molitor, resp.85] Ex Logica [pp. 2–3/Theses I–IX]; Ex Physica [3–8/Theses X–XL]; Ex Metaphysica [8/XLI–XLIV]; (Statement): Cum facultate superiorum [p. 8]

80 81 82 83 84 85

tation is also handwritten on the title page of the published copy thereof at the Bavarian State University with the call number Clm 4825a. München UA: O_I_4, fol. 136r; O_IV_3, fol. 29v; concerning the career of Heinrich Lamparter (1591–1670) see Boehm, Biographisches Lexikon (1998), p. 231–232. München UA: O_I_4, fol. 138r; O_IV_3, fol. 31r: regarding Kaspar Hell (1591–1634) see Boehm, Biographisches Lexikon (1998), pp. 175–176. München UA: O_I_4, fol. 150r; O_IV_3, fol. 36r. München UA: O_I_4, fol. 154v; O_IV_3, fol. 37r. München UA: O_I_4, fol. 158r; O_IV_3, fol. 38r; concerning Christian Baumann (1588–1635) refer to Biographisches Lexikon (1998), pp. 33–34. München UA: O_I_4, fol. 161r; O_IV_3, fol. 39v; concerning Nikolaus Wysing (1601– 1672) see Boehm, Biographisches Lexikon (1998), p. 491.

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27. Universa philosophia Peripatetica (26 Maij 1634); tres e Societate Jesu [Nicolaus Stratius, praes. – Joannes Fachsius / Faxius, Rudolphus Flachslandt / Flaxlandt, and Christophorus Otto / Ott, resp.86] Logica [pp. 2–3/Theses I–VIII]; Ex Physica [3–7/Theses IX–XXXVII]; Ex Metaphysica [7–8/XXXIIX–XLIII]; (Approval Statements: Deans of the Theology and Philosophy Faculties) [p. 8] 28. Conclusiones ex tota philosophia peripatetica ({21} Mense Julio 1646); duo Societatis Jesu [Servilianus Veihelin, praes. – Paulus Knell and Matthias Rem, resp.87] [Caption (p. 2)]: Conclusiones philosophicae; Ex logica (pp. 2–3/I–V]; Ex Physica (3–6; VI–XXVII); Ex Metaphysica (6–8/XXIIX–XXXIIX); (Statement): Cum facultate superiorum [p. 8]

Table D The Sciences (scientiae) and Philosophy Classified in Three Anonymously Published Ingolstadt Disputations: A. _ Julii 1598; B. 3 Julii 1612; C. Kalend. Julijs 1613 A1 Scientiam de rebus habere nos posse, ipsum naturale sciendi desiderium sufficienter demonstrat. A2 scientiae

⎧ actualis: illa est cognitio rei per causam certa ac evidens ⎪ ⎨ ⎧ partialis ⎪ habitualis ⎨ totalis: vero non est una simplex qualitas, ⎩ ⎩ sed plurium habituum coacervatio

scientia habitualis totalis

⎧ una sola est logica, quae rationalis quoque appellari solet, ⎪ quod versatur circa operationes mentis dirigendas ⎧ sermocinalis ⎨ ⎪ ⎪ relinqui sermocinalis habitus, qui circa externum sermonem ⎪ ⎩ dirigendum occurpantur, ad artem potius sunt referendi. ⎨ ⎪ ⎧ speculativa: metaphysica; mathematica; physica ⎪ ⎩ realis ⎨ ⎧ una est activa [=] scientia moralis ⎩ practica ⎨ ⎩ caeterae omnes: factivae sunt

A3

86 München UA: O_I_4, fol. 170r; O_IV_3, fol. 43r; regarding Nikolaus Stratius (1604–

1657) refer to Boehm, Biographisches Lexikon (1998), pp. 422–423.

87 München UA: O_I_4, fol. 211r; O_IV_3, fol. 50v; concerning the career of (Jakob) Ser-

vilian Veihelin (1611–1675) see Boehm, Biographisches Lexikon (1998), p. 451.

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⎧ ⎪ philosophia ⎪ ⎨ ⎪ ⎪ ⎩

⎧ [1]: scientia et ars rationalis (quam etiam dialecticam ⎨ [2]: practica et theoretica ⎩ [3]: pars et organum philosophiae & logicam vocant ⎧ metaphysica ⎪ moralis ⎧ ⎨ theorica ⎨ physica naturalis ⎩ ⎪ mathematicae disciplinae: hanc minus proprie scientiarum nominem vendicat ⎩

⎧ practica seu moralis C1 philosophia ⎨ ⎩ theoretica: physica; mathematica; metaphysica C2 logica: non est pars philosophiae

Table E Philosophy, the Arts, the Sciences, and Prudence according to A. Paulus Laymann and Paris Comes de Latrono (1604), B. Georgius Clainerus and Dionysius Keller (1611), and C. Georgius Clainerus and Franciscus Maxilianus Calchus (1610) A1

⎧ speculativa: physica; mathematica; metaphysica scientiae ⎨ ⎩ practicae: scientia rationis = logica; scientia moralis

A2 scientiae: hae conclusiones sua ex universalis principiis methodo demonstrative colligat artes: vero ex experientia gignit ... A3 scientia moralis: enim universam virtutus naturam considerat ... prudentia; vero particulares circumstantias & varios eventus considerans ... prudentia: [1] monastica; [2] oeconomica; [3] civilis (architectonica; ministeralis) A4 scientiae speculativae (praestant): scientiae practicae; physica (praestantior): mathematica; arithmetica (praestantior): musica; physica (praestantior): medica; logica (subordinatur): scientiae reales; sermocinalium scientiarum praestantissima est logica ... B

⎧ speculativa: metaphysica; physica; mathematica philosophia ⎨ ⎧ rationalis: (apparently limited to) logica ⎩ practica ⎨ ⎩ moralis: (largely limited to) ethica

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C1

⎧ physica ⎪ ⎧ pura: geometria; arithmetica ⎧ theoretica ⎪ mathematica ⎨ mixed: astronomia – astrologia; optica; musica; ⎨ ⎩ ⎪ cosmographia; geographia; typographia ⎪ ⎪ ⎧ naturalis = metaphysica ⎪ ⎪ ⎩ theologia ⎨ divina ⎪ lex canonica ⎩ artes ⎨ ⎪ ⎧ rationalis: logica ⎪ ⎪ ⎧ ethica ⎪ agentes ⎨ ⎪ oeconomica (family life) ⎪ ⎪ moralis ⎨ politica ⎪ ⎩ lex civilis: magna pars iuris canonicae ⎪ ⎩ practica ⎩ ars memorandi (the art of memory) efficientes

C2

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⎧ ⎪ ⎪ artes ⎨ ⎪ ⎪ ⎩

grammatica; rhetorica (mechanical arts 8 are listed)

superiores: Physica; Ethica, seu moralis doctrina; utraque Theologia (divina; Metaphysica) ⎧ liberalis: grammatica; rhetorica; logica; arithmetica; musica; geometria; infe- ⎪ astronomia rio- ⎨ res ⎪ illiberalis; (7 „non liberal“ arts are listed, some of which are „less servile“ ⎩ than others) [superiores: more like scientiae than artes; inferiores: more often artes than scientiae]

Table F Philosophy Subjet-Matters Taught by Jesuits and Non-Jesuits at the University of Ingolstadt, c. 1550–c. 1650 – as discussed by Arno Seifert (1980 and 1984) A. The Jesuits established themselves in Ingolstadt in the year 1556; in turn, they were given the authority to fill professorships in logic (1558), physics (1564), and metaphysics (1570) in Faculty of Arts at the University of Ingolstadt. B. In 1571 the University of Ingolstadt Arts Faculty was able reach the following goals: 1. Greek, Hebrew, and Poetics continued to have designated instructors; rhetoric continued to be taught in a public lecture format. 2. Dialectic (practical logic) continued to be taught along with (theoretical) Logic. 3. Ethics and Mathematics, which also had designated instructors, were covered within Arts Faculty examinations C. (between 1570 and 1576): Jesuits at the University of Ingolstadt fought internally with the Ingolstadt Arts Faculty concerning control of instruction in the above subject-matters.

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D. After 1576, it appears to have been largely monetary issues that helped the Jesuits to gradually gain complete control of the University of Ingolstadt Arts Faculty; this occurred during the years between 1585 and 1588; in 1590, the Jesuits wrote new Arts faculty statutes (which were revised in 1615 and again in 1649). 1. The three year philosophy course emphasized logic, physics, and metaphysics; the teachers in this course frequently had been Arts faculty students themselves and usually only taught philosophy for a short period. 2. Mathematics and Ethics were taught as separate subject-matters, but were deemphasized. 3. Rhetoric and poetics were taught in the Jesuit’s pre-university level school. 4. Greek and Hebrew were taught by the rhetoric and mathematics teacher, respectively. 5. Dialectic (practical logic) initially was still taught but was dropped in the year 1600. 6. Newly created philosophical disciplines had no place in this Jesuit curriculum. E. Opposition to the Jesuit curriculum in the Ingolstadt Arts Faculty emerged in the Arts Faculty in 1597, 1599, and 1602, and during the years between 1609 and 1613. 1. Opponents of the Jesuits tried to regain control of some or all subject-matters in the Arts Faculty and reintroduce non-Jesuit teachers (especially for logic, rhetoric, and ethics). 2. The Jurisprudence Faculty was especially unhappy with the „non practical“ content of instruction in the Arts Faculty by teachers who were too young and changed too often. F. The opponents of the Jesuits failed to regain this control in 1613, but did win on one point: students in Jurisprudence and Medicine did not need to complete the Jesuit philosophy course. (The Theology Faculty required their students to do beginning in 1605.) G. In 1629, the Jurisprudence Faculty at the University of Ingolstadt asserted that the Jesuit logic instruction in the Arts Faculty did not meet the „practical“ needs of Jurisprudence; H. Opponents of the Jesuit three year philosophy course wanted to reduce it to two years and to eliminate or reduce instruction in metaphysics and the „theoretical“ components of logic. in 1642, a compromise was reached: prospective jurisprudence and medicine students would now be required to complete two (but not: three) years of the philosophy course; the third year (required for theology students) would include metaphysics and (theoretical) logic. I. But the Arts Faculty noted in 1650 and 1651 that many of these students were not completingthe two (required) years of the (Jesuit) philosophy course; but the Jesuit authorities told the Arts Faculty not to make an issue concerning this; and that remained the case until 1678.

Table G Subject-Matters Listed by Ludovicus Serranus in Connection with his Studies for the Master of Arts (Philosophy) Degree at the University of Ingolstadt (as Published in Frankfurt am Main in the Year 1603) LOGICAE. De Logica generatim 11. Ente rationis. 31. Universalibus. 50. Categoriis. 70. Disserendi rationibus. 88. Definitione ac Divisione. 104. Enunciatione. 103. Argumentatione. 141. Demonstratione. 162. Scientia. 184. Topica, & Sophistica. 204. Methodo. 216. PHYSICAE. De physica universe. 15. principiis. 18. Natura, & arte. 34. Causis. 37. 53. Quantitate, loco, & tempore. 74. Motu. 89. Motore primo. 94. Mundo. 106. Coelis. 169. Elementis. 126. Mixtis generatim, eorumque adiunctis. 143. Imperfectis, seu Meteoris. 166. Perfectis inanimis.

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175. Animatis, & anima in commune. 188. Anima vegetante. 193. Sentiente. 205. Intelligente. 227. MATHEMATICAE. De Mathematicis in genere. 21. Arithmetica. 39. Musica. 58. 78. Geometria. 91. Astronomia. 115. Cosmographia 132. 154. Optica. 176. Organica & Gnomonica. 195. Computo. 178. ETHICAE. De Ethica in commune. 24. Beatitudine. 42. 63. Actionibus humanis. 83. 98. 118. 135. (135: Oeconomica. 147–148. Politica. 148–157.) Perturbationibus. 159. 179. Habitu. 190. Virtutibus. 213. 224. METAPHYSICAE. De Philosophis universe. 25. Metaphysica generatim. 44. Transcendentibus, praecopue de ente. 48. 65. 85. Divisionibus entis, & proprietatibus simplicibus. 101. Uno. 121. Vero. 139. Bono. 160. Copulatis 181. Substantia. 200. Accidente. 202. Angelis. 214. Deo. O. M. 226.

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Bibliography Library/archive locations and call numbers are given for all of the primary sources cited in this article. The following abbrevations are used for this purpose: BSB HAB SB UA UB UStB

= Bayerische Staatsbibliothek (München) = Herzog August Bibliothek (Wolfenbüttel) = Staatsbibliothek = Universitätsarchiv = Universitätsbibliothek = Universitäts- und Stadtbibliothek (Köln)

praes. = praeses (presider) resp. = respondens / defendens (respondent / defendent) The parentheses {} are used to indicate handwritten annotations or corrections in published writings as well as handwritten annotations in records of the Munich University Archive. Square parentheses [ ] are used to indicate text that is found neither on the title page nor in the text of a given published work. For this reason, square parentheses are used to identify all of the authors of the anonymously published disputations presented in Table C. Square parentheses are also used when presenting library / archive locations and call numbers for primary sources.

Primary Sources – Manuscripts – Acts of the Arts Faculty; Catalog of Students Acta (of the Arts Faculty of the University of Ingolstadt), 1567–1690. [München UA: O_IV_3] Catalogus studiosorum metaphysice in Academia Ingolstadiensi [Catalog of Students in the Third and Final year (metaphysice) of the philosophical course at the University of Ingolstadt], 1591–1666. [München UA: O_I_4]

Primary Sources – Manuscripts – Curriculum Documents, Privilegia, and Statutes [1573]: Ordo lectionum et catalogus collegii philosophici professorum. Actum Ingolstadii 3. die Octobris 1573. [München BSB: Cod. Bavar. 3018, f. 34v] [published in Prantl (1872), pp. 392–394)] [1590]: Statuten der Artistenfakultät (der Universität Ingolstadt). [München BSB: Cgm 27322/11, 8v (ff)] [published in Seifert (1973), pp. 413–448]

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[1642]: Constitutiones et privilegia Universitatis Ingolstadianae. [20 August 1642] [München UA: AHG_III_14] [1649]: Liber statutorum facultatis artisticae Ingolstadii recognitus anno 1649. [München UA: B, 1, Nr. 46 (missing)] [published in Prantl (1872), pp. 413–444)]

Primary Sources – Manuscripts – Philosophical Writings (Listed Chronologically) Reisacher, Sebastian. Miscella de arte rhetorica (Materialsammlung). [S.l.], Mitte 16. Jh. 117 Bl. [München BSB: Clm 28874] Adriansens, Cornelius. Mitschriften von mathematischen Veranstaltungen. Ingolstadt, 1592–1593. [Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek: 4° Cod. 52] Appenzeller SJ, Johannes. Mitschriften von mathematischen Veranstaltungen von Johannes Appenzeller: fol. 1r-48v: Tractatus de astronomia; fol. 54v-61r: Tractatus de visurandis doliis; fol. 62r-68v: Gnomonica; 68v-81r: De quadrante. Ingolstadt, 1599. [München UB: 4° Cod. ms. 876] Keller SJ, Jakob. Jacobi Keller commentarius in Aristotelis libros 8 Physicorum, de coelo, de generatione, de meteoris. [sine loco], 1599–1600. 699 S. [München BSB: Clm 27757 b] Keller SJ, Jakob. Jacobi Keller commentarius in libros Aristotelis de anima et Metaphysicorum. [sine loco], 1601. 636 S. – Papier. [München BSB: Clm 27758] Reihing SJ, Konrad. Conradi Reihing commentarius in universam Aristotelis logicam. [sine loco], 1603. 386 Bl. [München BSB: Clm 27760] Reihing SJ, Konrad. Eiusdem commentarius in Physicorum libros Aristotelis, exceptus ab eodem. [sine loco], 1604. 307 Bl. [München BSB: Clm 27761] [Clainer] Klainer SJ, Georg. Georgii Klainer Commentarius in reliquos (minores) libros physicos et Metaphysicam Aristotelis. Ingolstadt, 1612. 360 Bl. [München BSB: Clm 27765] Scheiner SJ, Christoph. Tractationes mathematicae. Ingolstadt, 1613. 160 Bl. [München BSB: Clm 27705] Mener SJ, Andreas. Andreae Mener S. J. professoris Ingolst. commentarii in Aristotelis universam logicam; in VIII libros Physicorum et IV de coelo; de generatione et corruptione, de meteoris, Metaphysica; de anima. [sine loco], 1620–1622. 148 Bl. [München BSB: Clm 4825 a] Mener SJ, Andreas. Andreae Mener S. J. professoris Ingolst. commentarii in Aristotelis universam logicam; in VIII libros Physicorum et IV de coelo; de generatione et corruptione, de meteoris, Metaphysica; de anima. [sine loco], 1620–1622. 143 Bl. [München BSB: Clm 4825 b]

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Baumann SJ, Christian [1588–1635]. Tractatus de voluntate humana. [sine loco; sine datum] [Eichstätt UB: Cod. St. 88]

Primary Sources – Published (Listed Chronologically) (Announcement of Instruction Offered at the University of Ingolstadt, 1548) Candidis Lectoribus S. [...] In sacris literis [...] In utroque jure [...] In medicina [...] In liberalibus disciplinis [...] in linguis [...] Datae Ingolstadii Kalendis Junii [...] 1548. [München UA: W 2 H.lit. 176, #161 (broadsheet) (digitally accessible)] Seyttenthaler, Wolfgangus, praes. and Balsmannus, Nathanael, resp. Praesidente D. M. Volfgango Seyttenthaler Ratisbonensi Respondebit ad sequentes positiones Nathanael Balsmannus Torgensis, D. Ioanne Lorichio Hadamario Decano Disputatio. Quaestio moralis. U[trum] virtus sit finis hominis, an voluptas? [...] Quaestio physica. U[trum] omnia fiant fato, nec ne? Ingolstadij Mense Octobri [...] 1549. [München UB: W 2 H.lit. 176, #86 (Broadsheet)] [Dillingen, University of ] Institutum & ratio doctrinae, quae traditur hoc anno 1550 in collegi S. Hieronymi, Dilingae erecto [...]. [München UB: W 2 H.lit. 176, #159 (Broadsheet)] Reisacherus, Sebastianus, praes. Aurpachius, Joannes, resp., and Chunius, Georgius, resp. Disputatio In Publicum Ingolstadii Proposita [...] De Magis [...] Physica [...] Dialectica [...] Ethica [...] 1553. [München UB: W 2 H.lit. 176, #87 (Broadsheet)] Macer, Casparus, praes. and Weilhamerus, Joannes, resp. Hae qvaestiones agitabuntur pvblice M. Casparo Macro Albimoenio praeside, & Ioanne Weilhamero respondente, in schola Philosophorum Ingolstadij. Quaestio prima. U[trum] anima sit, ut loquuntur, ex traduce? [...] Quaestio secunda. Suntne omnes affectus tollendi ex hominum natura [...]. 1554. [München UB: W 2 H.lit. 176, #108 (Broadsheet)] Rhodolphus [Rudolphus], Casparus. Dialectica [...] Ab authore diligenter recognita & locupletata. (Ingolstadii): (Excudebat Alexander Weissenhorn), 1555. [München BSB: L. eleg. m. 279 (digitally accessible)] Reisacherus, Sebastianus, praes., Frantz, Wolfgangus, resp., Malus [Male], Matthias, resp., and Diemarus, Johannes, resp. Qvaestiones philosophicae publice Ingolstadii ad disputandum propositae [...] 1559 Calen. Decembris. (Ingolstadii). [München UB: W 2 H.lit. 176, #94 (Broadsheet)] Albertus, Joannes. Propositiones de fine Philosophiae. [Ingolstadii]: 1561. [München UB: W 2 H.lit. 176, #96 (Broadsheet)] Lieblerus, Georgius. Epitome philosophiae naturalis. Basileae: Per Joannem Oporinum (Ex officina Arnoldi Gymnici sumptibus Johannis Oporini), (1561 mense Augusto). [München BSB: Phys. g. 254 (digitally accessible)]

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Macer, Casparus, praes. and Eisenmenger, Marcus, resp. Consensu clarissimi uiri Domini Hieronymi Zigleri Poësios Ordinario nec non facultatis Ingolstadiensis Decani M. Marcus Eysenmenger de Vuympina subsequentes positiones disputabit [...] M. Casparus Macer [...] Die veneris proxime futuro hora locoque solitis. (Ingolstadii): XIIII. Calend. Septemb., 1561. [München UB: W 2 H.lit. 176, #95 (Broadsheet)] Macer, Caspar. Artis rhetoricae praeceptiones, schematibus, non multis quidem, nec intricatis, sed tamen ad puerorum ingenia, ut speramus, appositis, explicatae: quae magnum eloquentiae studiosis fructum, & magnam ipsis bene dicendi principiis lucem, adferre possunt. (Augustae Vindelicorum): Philippus Ulhardus Chalcographus Augustanus descripsit, 1561. [University of Illinois, Urbana-Champaign (Special Collections): uncat.] Zettelius, Wolfgangus, praes. and (10 named respondents). Decem infra signati liberalissimarum artium, & philosophiae candidati, in Academia Ingolstadiensi celeberrima, supremam philosophiae lauream publicè consequentur [...] hae quaestiones explicabuntur [...] 1562 3. Non. Feb. in schola Canonistarum veteris Collegij. Ingolstadii: Ex typographia Weissenhorniana. [München UB: W 2 H.lit. 176, #111 (Broadsheet)]. Macer, Caspar, praes. and (14 named respondents). Infra signati liberalissimarvm artivm et philosophiae candidati, in Academia Ingolstadiensi celeberrima, magisterij, & doctoratus philosophici lauream publicè consequentur [...] hae quaestiones agitabuntur [...] 1563. 8. Calend. Febr. in schola Canonistarum veteris Collegii. Ingolstadii: Ex typographia Weissenhorni[ana]. [München UB: W 2 H.lit. 176, #109 (Broadsheet)] Zettelius, Wolfgangus, praes. (and 9 named respondents). Selecti et doctissimi iuvenes, [...] optimarum artium & philosophiae candidati, [...] insignem Magisterii & Doctoratus Philosophici lauream, [...] in Academia [...] Ingolstadiensi, adipiscentur [...] hae quaestiones agitabuntur [...] 1563, 7. Calend. Augusti [...]. Ingolstadii: Ex typographia Weyssenhorniana. [München UB: W 2 H.lit. 176, #110 (Broadsheet)] Pinedanus, Alphonsus, praes. and Mentzel, Philippus, resp. De universalibus theses philosophicas [...] in disputatione publica defendet 4. Febr. [...] Philippus Mentzel [...]. Ingolstadii: Ex typographia Weyssenhorniana, 1564. [München BSB: 4 Diss. 3449, Beibd. 7 (digitally accessible)] Hungerus, Wolffgangus, resp. and Maierus, Theodorus, resp. Theses oratoriae, humanitatis et grammaticae, quae ingenui adolescentes [...] studiosi scholae societatis Jesu Ingolstadii [...] defendent, 21. Aprilis, horis pomeridianis. Ingolstadii: Ex typographia Weyssenhorniana, 1564. [München UB: W 4 Philos. 313 #1] [Dillingen, University of ] Catalogus lectionum, 1564–1614. [Dillingen an der Donau, Studienbibliothek: XV γ 134, fol. 192–243] Belligerus, Joannes. Oratio de studiis discendi, et eloquentiae encomio, in qua dilucide ostenditur, ad omne studiorum genus, artes dicendi in primis esse necessarias, conscripta. Ingolsta-

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dii: Alexander & Samuel Weyssenhornij excudebat, 1565. [München BSB: 4 L.eleg.g. 4 (digitally accessible)] Wispeckius, Guilhelmus, praes., Lang, Joannes, resp., Pruckperger, Wolfgangus, resp., and Praun, Joannes, resp. Theses philosophicae in [...] Academia Ingolstadiana publice disputandae [...] praeside M Guilhelmo Wispeckio artis oratoriae professore. Ingolstadii: Ex typographia Weissenhorniana, 1565. [München UB: W 2 H.lit. 176, #99 (Broadsheet)] Landauus [Landau], Fridericus, praes., Prockelius, Daniel, resp., and Hildebrandus, Michael, resp. Theses philosophicae in Academia Ingolstadiana 11. Calend. Januarii pvblicè disputandae. Ad quas praeside M. Friderico Landauo Fachensi, Tullianae lectionis professore [...]. Ingolstadii: Ex typographia Weissenhorniana, 1565. [München UB: W 2 H.lit. 176, #98 (Broadsheet)] Wisbeckius, Wilhelmus, praes. and (8 named respondents). Selecti et doctissimi iuvenes [...] optimarum artium & philosophiae candidati, [...] insignem magisterii & doctoratus philosophici lauream, [...] in Academia [...] Ingolstadiensi, publicè consequentur [...] hae quaestiones agitabuntur [...] 1566, 12. Calend. Februarii [...]. Ingolstadii: Ex typographia Weissenhorniana. [München UB: W 2 H.lit. 176, #112 (Broadsheet)] Beverus Joannes. In Aristotelis Stagiritae [...] De rebus naturalibus libros brevis ac dilucidus commentarius. Lovanii: Ex officina Bartholomaei Gravii, 1567. [Trier, Stadtbibliothek: R / 40 / VI 21] Jacobaeus, Vitus, praes, and (10 named respondents). Egregii et doctissimi ivvenes [...] optimarum artium & philosophiae candidati, [...] insignem magisterij & doctoratus philosophici lauream, [...] in Academia [...] Ingolstadiensi publicè consequentur [...] hae quaestiones agitabuntur [...] 1567 6. Idus Julij in schola Canonistarum veteris Collegij. Ingolstadii: Ex typographia Weissenhorniana. [München UB: W 2 H.lit. 176, #113 (Broadsheet)] Hungerus, Albertus, praes., Dornerus, Martinus, resp., and Martinus [Martini], Fridericus, resp. Propositiones philosophicae qvas praeside M. Alberto Hvngero, [...] in publica disputatione defendent [...] Martinus Dorner [...], & Fridericus Martinus [...] disputabuntur 12. Julii, Anno 1567. Ingolstadii: Excudebat Alexander & Samuel Weissenhornij fratres. [München UB: W 2 H.lit. 176, #100 (Broadsheet)] Wispeckius, Guilhelmus, praes. and Wascherus, Joannes, resp. Theses rhetoricae in [...] Academia Ingolstadiana publice disputandae. Ingolstadii: Excudebant Alexander & Samuel Weissenhornij, 1567. [München BSB: 4 Philos. 313, Beibd. 4 (digitally accessible)] Professores humaniorum literarum Collegii Ingolstadiani Societatis Jesu [...] Catalogvs lectionvm et exercitationvm, quas, [...] 5. Idus Octobr. auspicabimur. Ingolstadii: Excudebat Alexander Weissenhorn, 1568. [München UB: W 2 H.lit. 176, #162 (Broadsheet)]

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Lyresius, Joannes, praes. and Dornerus, Martinus, resp. Theses de logica [...] publice [...] disputanda 26. Octobris, media octava [...]. Ingolstadii: Excudebat Alexander Weissenhorn, 1568. München BSB: 4 Diss. 338, 29 (digitally accessible)] Oliva, Joannes Paulus, praes. and Volnhals, Marcus, resp. Theses logicae ac physicae. Ingolstadii: Excudebat Alexander Weissenhorn, (Disputabuntur 8. Aprilis anno 1568 in aula Albertina veteris Collegii). [München BSB: 4 Diss. 1206#16 (digitally accessible)] Ursinus, Carolus, praes. and Dornerus, Martinus, resp. Assertiones de generatione. Ingolstadii: Excudebat Alexander Weissenhorn, 1568. [München BSB: 4 Diss. 1297, Beibd. 12 (digitally accessible)] Hungerus, Albertus, praes. and Hoeckenstadlerus, Sixtus, resp. De natura et arte theses philosophicae, X. Calend. April. [...] in Academia Ingolstadiana publice disputandae. Ingolstadii: Excudebat Alexander Weissenhorn, 1569. [München BSB: 4 Polem. 675#11 (digitally accessible)] Landauus [Landau], Fridericus, promotor and (8 named respondents). Virtute Et Doctrinae Praestantes juvenes, Artium et Philosophiae Baccalaurei, infra subscripti, quòd indefessam in illis studiis hactenus posuerunt operam, atq[ue] sub graui Doctissimorum [...] virorum censura & examine praeclara dederint eruditionis suae documenta, summam Magisterii ad Doctoratus Philosophici Lauream in [...] Ingolstadiensi Gymnasio, publica [...] congratulatione consequentur [...] quaestiones publice discutiendae haec sunt. [...] Futura est promotio in schola Canonistarum veteris Collegij 7. Calend. Februarii [...] 1569. Ingolstadii: Ex typographia Weissenhorniana. [München UB: W 2 H.lit. 176, #114 (Broadsheet)] Dornerus, Martinus, praes. and Waldkirch, Joannes Jacobus, resp. Theses Philosophicae, quibvs Pvblice Dispvtandis [...] statim post supremam in Philosophicis studiis lauream susceptam [...]. Hae positiones publice in aula Albertina veteris collegij disputabuntur pridie nonas Februarii [...] 1569. Ingolstadii: Excudebat Alexander Weissenhorn. [München UB: W 2 H.lit. 176, #114 (Broadsheet)] Schöffl, Michael, resp. Assertiones de iis quae competunt omnibus sensibus, & de ente. [...] cum facult. Dec. Art. et Theol. Ingolstadii: Excudebat Alexander Weissenhorn, 1569. [München BSB: 4 Diss. 1303, Beibd. 29 (digitally accesible)] Vizanus, Paulus, praes. and Striedacher, Andreas, resp. Assertiones physicae & logicae. Ingolstadii: Excudebat Alexander Weissenhorn, 1569. [München BSB: Diss. 2232, 12] Vicaeus, Joannes, praes., Restiarius, Bartholomaeus, resp. and Restiarius, Johannes, resp. Theses ex universa philosophia desumptae. Ingolstadii: Excudebat Alexander Weissenhorn, 1570. [München BSB: 4 Diss. 3613, Beibd. 4 (digitally accessible)] Streuffius, Theodoricus, resp. Ex tertio libro de anima, assertiones phisicae, de vi appetendi naturali, sensitiva, et rationali [...] die Jovis proximo publice disputabuntur in aula Albertina.

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Ingolstadii: Excudebat Alexander Weissenhorn, 1570. [München UB: W 2 H.lit. 176, #101 (Broadsheet)] Ordo studiorum et lectionum, in quatuor facultatibus apud [...] Academiam Ingolstadiensem [...] renovatus & publice propositus, sub initium huius Anni 71. Ingolstadii: Ex officina Weissenhorniana, 1571. [Wolfenbüttel HAB: 243.6 Quodl. (10)] Vizanus SJ, Paulus, praes. and Wagnerus, Joannes, resp. Positiones logicae, physicae et metaphysicae in Academia Ingolstadiensi defendendae [...] disputabuntur proxima die. Ingolstadii: Ex officina Weissenhorniana, 1571. [München BSB: 4 Diss. 3615, Beibd. 2 (digitally accessible)] Vizanus, Paulus, praes. and Montfort, Georgius Comes a, resp. Assertiones ex Aristotelis logica universa, eiusdemque optimis interpretibus petitae, quas [...] sexto calend. Septemb. in [...] Ingolstadiensi Academia publice propugnabit. Ingolstadii: Ex officina Weissenhorniana, 1572. [München UB: W 2 H.lit. 176, #105 (Broadsheet)] Fabricius, Reynerus, praes. and Pronnerus, Ludovicus, resp. Assertiones oratoriae quibus M. T. Ciceronis polistissima [politissima] doctrina, de partitione oratoria, breviter explicatur. Quas [...] in [...] Academia Ingolstadiensi die {9} Octobris publice propugnabit. Ingolstadii: [Ex officina Weissenhorniana], 1572. [München BSB: 4 J.rom.c. 87, Beibd. 5 (digitally accessible)] Martinus [Martini], Fridericus, praes. and Jobst, Georgius, resp. Theses ex variis atque diversis philosophiae partibus desumptae in aula Albertina 3. Non. Aprilis, 1573. Ingolstadii: Ex officina Weissenhorniana, 1573. [München BSB: 4 Diss. 3389, 28 (digitally accessible)] Martinus [Martini], Fridericus, praes. Helmarius, Sebastianus, resp. Theses ex variis philosophiae partibus collectae, et ad publicam disputationem in [...] Ingolstadiensi Academia [...] propositae [...] In aula magna Veteris Collegij {27} die Maij hora septima. Ingolstadii: Ex officina Weissenhorniana, 1574. [München BSB: Ph.U. 644o (digitally accessible)] Rotmarus, Valentinus, praes. and Collicola, Wolfgangus, resp. Assertiones rhetoricae, in [...] Ingolstadiensi Academia publice disputatae [...] in aula Albertina Veteris Collegii, die 9. Aprilis, hora septima. Ingolstadii: Ex officina typographica Davidis Sartorij, 1575. [München BSB: 4 Diss. 3487, Beibd. 32 (digitally accessible)] Pihelmair, Joannes Baptista, praes. Pihelmair, Wolfgangus, resp., (Collicola, Joannes Baptista and Collicola, Wolfgang) Ex universa philosophia theses, in [...] Ingolstadiensi Academia [...] die 19. Decembris, ad publicam disputationem propositae [...] In aula Albertina Veteris Collegij, die Lunae proxima, hora octava. Ingolstadii: Ex officina typographica Davidis Sartorij, 1575. [München BSB: 4 Diss. 1206, Beibd. 19 (digitally accessible)]

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Sella, Christophorus, resp. Theses CCC. ex universa philosophia, divina, naturali, morali, mathematica, et logica depromptae, & in [...] Academia Ingolstadiensi [...] ad disputandum publice propositae, die Feb. {5} Ingolstadii: Ex typographia Weissenhorniana apud Wolfgangum Ederum, 1578. [München BSB: 4 Diss. 1303, Beibd. 15 (digitally accessible)] Kratzerus, Emericus, resp. Assertationes ex universa logica, in [...] Ingolstadiensi Academia proposita; quas doctissimus in philosophia candidatus, Emericus Krazerus [...] die {10} Mensis Julij tuebitur. Ingolstadii: Ex officina Weissenhorniana apud Wolfgangum Ederum, 1579. [München BSB: 4 Diss. 1303, Beibd. 6 (digitally accessible)] Vogelius, Joannes, resp. De anima, & prima philosophia disputatio, quam defendet [...] Candidatus, Ioannes Vogelius [...]. Ingolstadii: Ex officina Weissenhorniana apud Wolfgangum Ederum (disputabuntur 10. die Mensis Julij, 1579). [München BSB: 4 Diss. 1303, Beibd. 5 (digitally accessible)] Carpentarius SJ, Nicolaus, praes. and Everardus, Georgius, resp. Ex philosophia depromptae [...] in [...] Academia Ingolstadiensi [ __ ] Octobri 1579. Ingolstadii: Ex officina typographica Davidis Sartorii. [Dillingen, Studienbibliothek: XV γ 134 (Broadsheet)] Haller SJ, Richardus, praes., Kager, Joannes, resp., Ebersperger, Matthias, resp. and Motschenbach, Pancratius, resp. De mundo et eius elementis, coelo, igne, aere, aqua, terra, disputatio philosophica. In [...] Academia Ingolstadiensi, Anno 1580, die {13} Julij, publice proposita [...] Respondentibus doctissimis philosophiae candidatis: Joanne Kager [...] Matthia Ebersperger [...] Pancratio Motschenbach Babenbergensi. Ingolstadii: Ex officina typographia Davidis Sartorii, 1580. [München BSB: 4 Diss. 1297, Beibd. 22 (digitally accessible)] Carpentarius, Nicolaus, praes. and Witmayr, Andreas, resp. Disputatio philosophica de anima in communi, deque vegetativae ac sensitivae naturis et propriis affectionibus. In [...] Academia Ingolstadiensi, Anno 1582. die {3.} Julij publice proposita [...] respondente doctissimo philosophiae candidato Andrea Witmayr Megnensi Suevo. Ingolstadii: Ex officina Weissenhorniana apud Wolfgangum Ederum, 1582. [München BSB: 4 Diss. 1208, Beibd. 18 (digitally accessible)] Phederus [Feder] SJ, Georgius, praes. and Guetmayr, Gregorius, resp. De analogia, disputatio philosophica thesibus centum explicata. Quam, in [...] Ingolstadiensi Academia [...] propugnabit pro magisterii laurea consequenda [...] Gregorius Guetmayr [...] Die {27} Augusti anni 1584. Ingolstadii: Ex officina typographica Davidis Sartorii, 1584. [München BSB: 4 Diss. 1206, Beibd. 17 (digitally accessible)] Perius SJ, Joannes, praes. and Paumgartner, Caspar, resp. De ente disputatio metaphysica, proposita in [...] Ingolstadiensi Academia IV. Julii anni 1586 die [...] Maii proposita. [...] Respondente pro suprema in philosophia laurea Casparo Paumgartner [...]. Ingolstadii: Ex officina typographica Davidis Sartorii. [München BSB: 4 Diss. 1209, Beibd. 9 (digitally accessible)]

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Hagelius SJ, Balthasar, praes. and Luchis, Andreas de, resp. Disputatio philosophica, de metallo et lapide, ex tertio et quarto libro meteororum Aristotelis: in [...] Ingolstadiensi Academia [...] 1588 die {8} Julij proposita. [...] Respondente pro suprema in philosophia laurea, Andrea de Luchis [...]. Ingolstadii: Ex officina typographica Davidis Sartorij. [München BSB: 4 Diss. 1285, Beibd. 11 (digitally accessible)] Hagelius SJ, Balthasarus, praes. and Reisacher, Guilielmus, resp. Disputatio philosophica, de meteoris [...] de quibus agit Aristoteles in tribus libris meteororum; in [...] Ingolstadiensi Academia, Anni 1588 die [ __ ] Maij proposita. [...] Respondente pro supremo in philosophia honore, Guilielmo Reisacher [...]. Ingolstadii: Ex officina typographica Davidis Sartorii. [München BSB: 4 Diss. 1209, Beibd. 33 (digitally accessible)] [Gretserus SJ, Jacobus, praes., Rot SJ, Hugo, resp., Sonnenberger SJ, Rodolphus, resp. and Specius SJ, Joannes, resp.] Theses ex toto cursu philosophico anno 1591 die 3. Julii in alma Ingolstadiensi Academia absoluto, propositae in eadem Academia ad publicam disputationem. Defendentur in aula novi ducalis Gymnasii Societatis Jesu, die [ __ ] et [ __ ] Julii. Ingolstadii: Ex officina typographica Wolfgangi Ederi, 1591. [München BSB: 4 Diss. 1282, Beibd. 8 (digitally accessible)] Reindelius SJ, Rupertus, praes., Moritschius, Nicolaus, resp. and Haymiller, Jacobus, resp. Assertiones ex variis philosophiae partibus depromptae et ad publicam disputationem in [...] Ingolstadiensi Academia propositae [ __ ] Maij. [...] Ab [...] philosophiae candidatis, Nicolao Moritschio [...] & Jacobo Haymiller [...]. Ingolstadii: Ex officina typographica Davidis Sartorii, 1593. [München BSB: 4 Diss. 1305, Beibd. 1 (digitally accessible)] [Reindelius SJ, Robertus, praes., Danner SJ, Adamus, resp., Kern SJ, Georgius, resp., and Meglinus SJ, Joachimus, resp.] Assertiones philosophicae ex logica, physica, et metaphysica, sub finem cursus philosophici disputandae in [...] Academia Ingolstadiensi, anno 1593 die 25. Junii. Ingolstadii: Ex officina Wolfgangi Ederi, 1593. [München UB: W 4 Vetus 528] Ferdinandus [Archbishop of Cologne]. Theses ex universa philosophia. Ingolstadii: Ex officina typographica Davidis Sartorii, 1595. [München BSB: 4 Diss. 1303, Beibd. 2 (digitally accessible)] Fonseca SJ, Petrus. Institutionum dialecticarum libri octo. Emendatius quam antehac editi. Quibus accessit eiusdem Isagoge philosophica, nunc primum in Germania typis excusa. Ingolstadii: Ex officina typographica Davidis Sartorii, 1595. [München BSB: Ph. Sp. 285] Philipppus [Bishop of Regensburg]. Theses ex universa philosophia. Ingolstadii: Ex officina typographica Davidis Sartorii, 1595. [München BSB: 4 Diss. 1209, Beibd. 21 (digitally accessible)] Portia, Cyrus, Comes de, resp. Disputatio philosophica, de anima in communi, deque vegetativae, sensitivae, & rationalis naturis ac affectionibus. In [...] Academia Ingolstadiensi, anno 1595, studiis philosophiae absolutis, proposita ab [...] Cyro, Comite de Portia, &c. Ingolstadii:

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Ex officina typographica Davidis Sartorii. [München BSB: 4 Diss. 1303, Beibd. 27 (digitally accessible)] Adriani SJ, Cornelius [Adriaensens, Cornelis], praes. and Halwill, Hugo ab, resp. Disputatio philosphica de anima, in [...] Ingolstadiensi Academia, anno 1596 die {21} Junii, publice proposita [...] respondente [...] Hugone ab Halwill, post triennalem philosophiae cursum absolutum. Ingolstadii: Ex officina typographica Davidis Sartorii. [München BSB: 4 Diss. 1208, Beibd. 2 (digitally accessible)] Manhart SJ, Joannes, resp. Theses philosophicae ex universa philosophia in [...] Ingolstadiensi Academia publice ad disputandum proposita, anno 1596 die [ __ ] Julij [...] post triennalem cursum absolutum. Ingolstadii: Ex officina Adami Sartorii. [München BSB: 4 Diss. 1281, Beibd. 15 (digitally accessible)] [Welser SJ, Anton, praes., Laymann SJ, Paulus, resp. and Reihing SJ, Conradus, resp.] Assertiones ex universa philosophia. In [...] Academia Ingolstadiensi ad finem triennalis cursus philosophici publice propositae anno 1598 die [19] Junij. Ingolstadii: Ex typographia Adami Sartorii. [München BSB: 4 Diss. 1303 (digitally accessible)] Krafftius, Joannes, resp. Theses philosophicae ex universa philosophia: in [...] Academia Ingolstadiensi ad finem triennalis cursus philosophici ad disputandum publice proposita. Anno 1598 die {3} Julij. Ingolstadii: Ex officina typographica Ederiana, 1598. [München BSB: 4 Diss. 1303, Beibd. 10 (digitally accessible); München UB: W 4 Philos. 1546] [Horstius SJ, Sebastianus, praes., Franciscus SJ, Jacobus, resp., and Klainer [Clainer] SJ, Georgius, resp.] Assertiones ex logica, physica, et metaphysica, sub finem cursus philosophici ad publicam disputationem propositae: in inclyta et catholica Academia Ingolstadiensi, 1599 die 7 Junij. Ingolstadii: Excudebat Adam Sartorius. [München BSB: Ph.U. 644n (digitally accessible)] Mundbrot SJ, Gualterus, resp. Assertiones ex prima philosophia seu metaphysica quas ad publicam disputationem propositas in [...] Academia Ingolstadiensi post absolutum philosophiae cursum die [...] Julij. Ex typographia Adami Sartorii, 1599. [München BSB: Ph.sp. 1082b; digitally accessible] Kellerus SJ, Jacobus, praes. and Held, Egidius, resp. Theses philosophicae de ente successivo, in [...] Ingolstadiensi Academia, ad publicam disputationem propositae {6} die Iunii [...] Respondente [...] Egidio Held [...] Philosophiae candidato. Ingolstadii: Ex typographia Ederiana apud Andream Angermarium, 1601. [München BSB: 4 Diss. 1281, Beibd. 10; digitally accessible] Serranus, Ludovicus and Latil, Casparus de. Assertiones universae philosophiae in Academia Turnonia societatis Jesu ad disputandum propositae. Defensae autem a [...] Ludovico Serrano, & domino Caspar de Latil, Provinciali, pro assequendo in Philosophia doctoratu. Francofurti: Impensis Matthaei Beckeri, 1601. [München BSB: Diss. 1278 (digitally accessible)]

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Manhart SJ, Joannes, praes. and Sturmius, Melchior, resp. Disputatio metaphysica, in [...] Academia Ingolstadiensi publice habita, die 6. Septembris [...] respondente Melchior Sturmio [...] eiusdem philosophiae candidato. Ingolstadij: Typis Ederianis apud Andream Angermarium, 1602. [München BSB: 4 Diss. 1281, Beibd. 21 (digitally accessible)] [Roth SJ, Hugo, praes., Biderman SJ, Jacobus, resp. and Fontanus SJ, Joannes, resp.] Theses philosophicae ex logica, physica & metaphysica, in celebri et catholica Academia Ingolstadiensi circa finem cursus philosophici die V. Julii ad publicam disputationem propositae. Ingolstadii: Ex officina typographica Ederiana apud Andream Angermarium, 1602. [München BSB: 4 Diss. 1281, Beibd. 22 (digitally accessible)] Dannemeyr SJ, Joannes, praes. and Pilatus, Fridericus, resp. Disputatio Peripatetica ex prima philosophia, quam in [...] Ingolstadiensi Academia ad disputationem publicam [...] post triennalem cursum, proposuit [...] Fridericus Pilatus Tassulensis Italus, Philosophiae candidatus. Die 28. Junii. An. 1603. Ingolstadii: Ex officina typographica Ederiana apud Andream Angermarium, 1603. [München BSB: 4 Diss. 1281, Beibd. 30 (digitally accessible)] Serranus, Ludovicus. Propositiones et decreta universae philosophiae, hoc est, disputationes & assertiones physicae, metaphysicae, logicae, ethicae, politicae, mathematicae, geometricae, &c. In Academia Ingolstadiensi pro assequendo philosophiae doctoratu proposita a Ludovico Serrano. Accessit methodus et compendium totius philosophiae brevem & perspicuam eius enodationem continens, in Academia Turnonia a clariss. Professore Philosophico olim traditum. Francofurti: Impensis Johannis Ludovici Bitschii, 1603. [Erfurt-Gotha Universitäts- und Forschungsbibliothek / Gotha Forschungsbibliothek: Phil. 80 00117/02(01)] Laymann SJ, Paulus, praes. and Comes de Lodrono, Paris, resp. and autor. Disputatio philosophica, de varietate scientiarum et artium [...] in [...] Academia Ingolstadiensi die [ __ ] Novembri [...]. Ingolstadii: Ex officino Ederiana apud Andream Angermarium, 1604. [München BSB: 4 Diss. 1304, Beibd. 15 (digitally accessible)] Reihing SJ, Conradus, praes. and Bruggmann O.Cist., resp. Disputatio ex duobus Aristotelis de ortu et interitu libris, quam in [...] Academia Ingolstadiensi die {14} Decemb. [...] proponet [...]. Ingolstadii: Ex officina Ederiana apud Andream Angermarium, 1604. [München BSB: 4 Diss. 1282, Beibd. 33 (digitally accessible)] [Stevart SJ, Peter, praes., Brast SJ, Oswaldus, resp., and Felix SJ, Simon, resp.: 22. Junii; Reihing, Conradus, praes., Lechnerus SJ, Casparus, resp., and Coscanus SJ, Oswaldus, resp.: 4. Julii.] Assertiones ex logica, physica, et metaphysica in [...] Academia Ingolstadiensi sub finem triennalis cursus philosophici ab aliquibus e Societate Jesu 22. Junij & 4. Julij publice propositae. Ingolstadii: Ex officina Ederiana apud Andream Angermarium, 1605. [München BSB: 4 Diss. 1298, Beibd. 35 (digitally accessible)] [Laymann SJ, Paulus, praes., Agricola SJ, Johannes, resp., and Forer SJ, Laurentius, resp.] Theses philosophicae, ex logica, physica, et metaphysica. In [...] Academia Ingolstadiensi, fin-

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iente cursu, a duobus e Societate Jesu, publice ad disputandum, die 3. Julij propositae. Ingolstadii: Ex typographia Ederiana apud Andream Angermarium, 1606. [München UB: 4 Philos. 875] Reihing SJ, Conradus, praes. and Rechlinger, Sebastianus Christophorus, resp. Assertiones quas ex logica, physica, et metaphysica collectas [...] proponet die {22} Junij. Ingolstadii: Apud Andream Angermarium, 1607. [München BSB: 4 Diss. 1298, Beibd. 38 (digitally accessible)] [�������������������������������������������������������������������������������������� Reihing SJ, Conradus, praes., Schachner SJ, Christophorus, resp. and Stengel SJ, Georgius, resp.] Conclusiones ex universa Aristotelis philosophia, ad publicam disputationem, in [...] Academia Ingolstadiensi, a duobus e Societate Jesu metaphysicae studiosis, sub finem totius philosophiae pridie D. Udalrici [= 3. Julii] propositae. Ingolstadii: Ex typographia Ederiana apud Andream Angermarium, 1607. [München UB: 4 Philos. 309, 7] Laymann SJ, Paulus, praes. and Strigelius, Michael, resp. Theses philosophicae de quinque virtutibus humani intellectus in [...] Academia Ingolstadiensi [...] In aula Canonistarum die [ __ ] Martij. Ingolstadii: Ex officina typographica Ederiana apud Andream Angermarium, 1608. [München BSB: 4 Diss. 1298, Beibd. 33 (digitally accessible)] [Mundbrott SJ, Gualtherus, praes., Razenreidt SJ, Gebhardus, resp., and Weishaupt SJ, Casparus, resp.] Conclusiones ex universa philosophia ad publicam disputationem, in [...] Academia Ingolstadiensi. A duobus e Societate Jesu Metaphysicae studiosis sub finem triennalis cursus philosophici pridie Calend. Julij propositae. Ingolstadii: Ex typographeo Ederiano apud Andream Angermarium, 1608. [München BSB: Diss. 3105, Beibd. 19] [Steborius SJ, Christoph, praes., Cysetus SJ [Cysatus], (Joannes) Baptista, resp., and Wyl SJ, Bernhardus, resp.] Conclusiones ex toto cursu philosophico, in [...] Academia Ingolstandiensi ad publicam disputationem, a duobus e Societate Iesu 3. Nonas Julij, Anno 1610 propositae. Ingolstadii: Ex officina typographica Ederiana apud Andream Angermarium. [München BSB: H.lit.p.647a, Beibd. 20 (digitally accessible)] Clainerus SJ, Georgius, praes. and Calchus, Franciscus Maximilianus, resp. Disputatio philosophica de artibus generatim, et arte artium speciatim; in [...] Academia Ingolstadiensi, Anno 1610 die {15} Decemb. proposita. Ingolstadii: Ex officina Ederiana apud Andream Angermarium. [München BSB: 4 Diss. 1298, Beibd. 1 (digitally accessible)] Clainerus SJ, Georgius, praes. and Keller, Dionysius, resp. Disputatio philosophica de philosophia et physiologia, in [...] Ingolstadiensium Academia publice proposita, die VIII. Iulij, Anno 1611. Ingolstadii: Ex typographeo Ederiano apud Andream Angermarium, 1611. [München BSB: 4 Diss. 1307, Beibd. 6 (digitally accessible)] [Clainer SJ, Georgius, praes., Albericus SJ, Joannes, praes., Feldner SJ, Daniel, resp. and Verdunck / Verdugk SJ, Georgius, resp.] Positiones Aristotelicae e tribus scientiis, logica, physica, metaphysica decerptae, his tribus annis in [...] Ingolstadiensium Academia explicatae, nunc, a tribus e Societate Iesu religiosis et philosophiae studiosis, publice in eadem academia

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propugnatae. Anno [...] 1612. Die 3. Julij. Ingolstadii: Ex typographeo Andreae Angermarii, 1612. [München BSB: 4 Diss. 1236, Beibd. 1 (digitally accessible)] Clainerus SJ, Georgius, praes. and Mermannus, Maximilianus, resp. Assertiones miscellaneae, de variis humani corporis affectionibus, quas post triennem philosophiae cursum absolutum, in [...] Ingolstadiensi Academia [...] propugnabit [...] Maximilianus Mermannus [...] medicinae studiosus. Anno 1612 die {4} Septemb. Ingolstadii: Excudebat Andreas Angermarius. [München BSB: 4 Diss. 1298, Beibd. 27 (digitally accessible)] [Steborius SJ, Christoph, praes., Rackelmann SJ, Joannes, resp. and Wenckh/Wenck SJ, Casparus, resp.] Theses peripateticae quas e toto cursu philosophico selectas in [...] Ingolstadiensi Academia duo e Societate Jesu ad publicam disputationem PP. A. 1613 Kalend. Julij. Ingolstadii: Typis Andreae Angermarii, 1613. [München UB: 4 Philos. 309, 11] Scheiner SJ, Christophorus, praes. and Locher, Joannes Georgius, resp. Disquisitiones mathematicae, de controversiis et novitatibus astronomicis [...] publice disputandas posuit, propugnavit, mense Septembri, die [ __ ] [...] Joannes Georgius Locher [...] Magisterij Candidatus, Juris Studiosis. Ingolstadii: Ex typographeo Ederiano apud Elisabetham Angermariam, 1614. [München BSB: 4 Diss. 1510, Beibd. 2 (digitally accessible)] [Steborius SJ, Christoph, praes., Hell SJ, Gaspar, resp. and Mener SJ, Andreas, resp.] Theses Peripateticae ex toto philosophiae cursu selectae et in [...] Academia Ingolstadiensi a duobus e Societate Jesu in publicam disputationem positae. Calend. Jul. [...] 1614. Ingolstadii: Ex typographeo Ederiano, apud Elisabetham Angermariam. [München UB: 4 Philos. 309, 2] Scheinerus SJ, Christophorus, praes. and Schönperger, Joannes Georgius, resp. Exegeses fundamentorum gnomonicorum quas in [...] Ingolstadiensi Academia [...] post decursum philosophici campi stadium: publicae disputationi exponebat [...] mense Septembri die 26. Ingolstadii: Ex typographeo Ederiano apud Elisabetham Angermariam viduam, 1615. [München BSB: 4 Diss. 1210, Beibd. 18 (digitally accessible)] [Felix SJ, Simon, praes., Reinman SJ, Ferdinandus, resp., and Graff SJ, Conradus, resp.] Assertiones ex triplici philosophia, quas in [...] Academia Ingolstadiensi, sub finem triennalis cursus in publicam disputationem dederunt duo e Societate Jesu eiusdem philosophiae studiosi. 26. Junij [...] 1615. Ingolstadii: Typis Ederianis, apud Elisabetham Angermariam viduam. [München UB: 4 Philos. 309, 1]. [���������������������������������������������������������������������������������������� Lechnerus SJ, Gaspar, praes., Wangerecks SJ, Henricus, resp., and Nicolaus SJ, Philibertus, resp.] Praecipuae difficultates philosophiae Peripateticae quae in [...] Ingolstadiensi Academia, sub finem cursus philosophici, die IV. Julii, anno 1616 publice proposuerunt duo e Societate Jesu. Ingolstadii: Ex typographeo Ederiano apud Elisabetham Angermariam viduam. [München UB: 0001/4 Phys. 50] Lechnerus SJ, Gaspar, praes. and Grustner, Christophorus, author and resp. Disputatio philosophica de anima vegetativa [...] in [...] Ingolstadiensium Universitate [...] post decursum

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philosophiae studium publico examine excutiendam & propugnandum scripsit & proposuit IV. Nonas Septemb. Christphorus Grustner [...]. Ingolstadii: Ex officina Ederiana apud Elisabetham Angermariam viduam, 1616. [München BSB: 4 Diss. 1207, Beibd. 20 (digitally accessible)] Scheiner, Christophorus. Refractiones coelestes, sive solis elliptici phaenomenon illustratum. Ingolstadii: Ex officina Ederiana apud Elisabetham Angermariam, 1616. [München BSB: 4 Diss. 1210, Beibd. 19 (digitally accessible)] [Forer SJ, Laurentius, praes., Aicher SJ, Fridericus, resp. and Swaiger SJ, Jacobus, resp.] Conclusiones ex tota philosophia. In [...] Ingolstadiensium Universitate, a duobus e Societate Jesu ad publicam disputationem propositae III. Julij [...] 1618. Ingolstadii: Ex typographeo Gregorij Haenlin. [München UB: 4 Philos. 309, 3] Forer SJ, Laurentius, praes. and Gering, Joannes, resp. Disputatio miscellanea ex omnibus fere partibus philosophiae. Quam in [...] Ingolstadiensium Universitate ad publicam disputationem proposuit VI. die Julij Anno 1618. Ingolstadii: Ex typographeo Ederiano apud Elisabetham Angermariam viduam. [München BSB: 4 Diss. 1251, Beibd. 2 (digitally accessible)] Forer SJ, Laurentius, praes. and Rosenhamer, Matthias, resp. Disputatio miscellanea ex omnibus fere partibus philosophiae. Quam in [...] Ingolstadiensium Universitate ad publicam disputationem proposuit VI. die Julij Anno 1618. Ingolstadii: Ex typographeo Ederiano apud Elisabetham Angermariam viduam. [München BSB: 4 Diss. 1302, Beibd. 10 (digitally accessible)] Erndlin, Joachimus, praes. and Jocher, Franciscus, resp. Disputatio philosophica de quibusdam difficultatibus logicis. Quam in [...] Universitate Ingolstadiensi [...] publice disputabit. Franciscus Jocher iurisprudentiae et physicae studiosus die [ __ ] Aprilis [...] 1619. Ingolstadii: Typis Gregorii Haenlin. [München BSB: 4 Diss. 1368, Beibd. 33 (digitally accessible)] [������������������������������������������������������������������������������������ Coscanus SJ, Oswaldus praes., Bernardus SJ, Georgius, resp., and Pflaumer SJ, Christoph, resp.] Assertiones ex tota philosophia in [...] Ingolstadiensium Universitate a duobus e Societate Jesu ad publicam disputationem propositae. Kalendis Julij [...] 1619. Ingolstadii: Ex typographeo Gregorii Haenlin. [München UB: 4 Philos. 309, 9] Coscanus SJ, Oswaldus, praes. and Schaz, Johannes, resp. Disputatio physica de aquis. Quam in [...] Academia Ingolstadiensi die [ __ ] Junii anni 1619 [...] proponet Joannes Schaz [...] juris, & metaphysicae studiosus. Ingolstadii: Typis Gregorii Haenlin. [München BSB: 4 Diss. 1301, Beibd. 7 (digitally accessible)] Cysatus SJ, Jo. Baptista, praes. and Mozelius, Volpertus, resp. Mathemata astronomica de loco, motu, magnitudine, et causis cometae qui sub finem anni 1618 et initium anni 1619 in coelo fulsit; ex assiduis legitimisque variorum phaenomenorum observationibus derivata [...] publiceque proposita et demonstrata [...] anno 1619 die [ __ ] Decembris. Ingolstadii: Ex

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typographeo Ederiano apud Elisabetham Angermariam, 1619. [München BSB: 4 Diss. 1301, Beibd. 7 (digitally accessible)] Hoen, Matthaeus. Philosophiae speculatricis Aristotelis Stagiritae, pars prima, continens compendiariam resolutionem logices. [...] Ad usum almae facultatis artium & gymnasiorum philosophorum in generali Coloniensium studio collecta. Cum singulorum Gymnasium scitu. Coloniae: Apud Antonium Boetzerum, 1619. [Köln UStB: G. B. II / B 410e (2)] [Erndlin SJ, Joachimus, praes., Papinus SJ, Clemens, and Seemiller SJ, Adamus, resp.] Positiones ex toto cursu peripatetico depromptae quae ad V. Nonas Julias, in publica [...] Academiae Ingolstadiensis propugnabunt duo e Societate Jesu religiosi, philosophiae studiosi. {3. Julii} Anno [...] 1620. Ingolstadii: Formis Gregorii Haenlin. [München UB: 4 Philos. 309, 8] Besoldus, Christophorus. Synopsis doctrinae politicae. Tubingae: Typis Joh. Alexandri Cellii, 1620. [München BSB: Pol.g. 469–1/2, Beibd. 2 (digitally accessible)] Du Trieu SJ, Philippus. Manuductio ad logicam, sive dialecticae studiosae iuventuti ad logicam praeparandae [...]. Editio ultima prioribus castigatior. Ingolstadii: Ex typographeo Ederiano apud Elisabetham Angermariam viduam, 1620. [München BSB: Ph. sp. 222] Hoen, Matthaeus. Philosophiae speculatricis Aristotelis Stagiritae, pars secunda. Continens compendiariam resolutionem physices. [...] Ad usum almae facultatis artium & gymnasiorum philosophorum in generali Coloniensium studio collecta. Cum singulorum Gymnasium scitu. Coloniae: Apud Antonium Boetzerum, 1620. [Köln UStB: G. B. II / B 410e (2)] Hoen, Matthaeus. Philosophiae speculatricis Aristotelis Stagiritae, pars tertia continens compendiariam resolutionem duodecim librorum metaphysicorum [...] Ad usum almae facultatis artium & gymnasiorum philosophorum in generali Coloniensium studio collecta. Cum singulorum Gymnasium scitu. Coloniae: Apud Antonium Boetzerum, 1620. [Köln UStB: G. B. II / B 410e (3)] [Lyprandus SJ, Georgius praes., Udri SJ, Petrus, resp., and Wirsing SJ, Nicolaus, resp.: 25 Junii; Lyprandus, Georgius, praes., Rauch, Joannes, resp. and Stein, Carolus, resp.: 26 Junii.] Positiones ex tota philosophia Peripatetica ad VII & VI Calendas Iulias in [...] Ingolstadiensium Academia a quatuor e societate Iesu religiosis. Ad disceptationem publicam datae. Anno [...] 1621. Ingolstadii: Typographeo Gregorii Haenlin. [München BSB: 4 Diss. 1285, Beibd. 1 (digitally accessible)] [Mener SJ, Andreas, praes., Leonardus SJ, Ignatius, and Moser SJ, Henricus, resp.] Theses ex tota philosophia selectae quae in [...] Ingolstadiensium academia duo e Societate Jesu Religiosi ad disceptationem publicam proposuerunt [...] 1622 [18] Julii. Ingolstadii: Typis Gregorii Haenlin. [München BSB: (in): Clm 4825a]

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Mener SJ, Andreas, praes. and Molitor OSB, Romanus, resp. Disputatio philosophica de interitu rerum naturalium. Quam in [...] Universitate Ingolstadiensi; anno 1622 die [ __ ] Junii. [...] Publice proposuit [...] Romanus Molitor [...] sacrae theologiae & metaphysicae studiosus. Ingolstadii: Typis Gregorii Haenlin. [München BSB: Clm 4825a (digitally accessible)] Lampardus SJ, Henricus, praes. and Horstius, Joannes resp. Disputatio philosophica de mutatione loci. Quam in [...] Ingolstadiensi Academia. [...] Publice proponet Ioannes Horstius, philosophiae baccalaureus, et metaphysicae studiosus. [...] 1623 [ __ ] Aprilis. Ingolstadii: Typis Gregorii Haenlin. [München BSB: 4 Diss. 1211, Beibd. 11 (digitally accessible)] [Lamparter / Lampardus SJ, Henricus, praes., Grandinger SJ, Paulus, resp., Heinzel/Henzel SJ, Conradus, resp., and Lener SJ, Rupertus, resp.] Disputatio philosophica de investigatione pulchritudinis divinae ex entis creati pulchritudine, sive numero, mensura, pondere, collecta ex tota philosophia, et a tribus e societate Iesu Religiosis publice defensa, in [...] Ingolstadiensi Academia. Anno 1623. Die 9. Junij. Ingolstadii: Ex typographeo Gregorii Haenlin. [München BSB: 4 Diss. 1211, Beibd. 22 (digitally accessible)] Hell SJ, Gaspar, praes. and Grotta, Adamus Sigefridus de, resp. Assertiones philosophicae ex universa philosophia rationali, naturali, divina depromtae. Quas in [...] universitate Ingolstadiensi [...] publice defendet [...] 1624 18. Cal. Julii. Ingolstadii: Typis Gregorii Haenlin. [München BSB: 4 Diss. 1285, Beibd. 1 (digitally accessible)] [Hell SJ, Caspar, praes., Moser SJ, Henricus, resp., and Leonardus SJ, Ignatius, resp.] Theses ex universa philosophia, quae in [...] Universitate Ingolstadiensi duo e Societate Jesu ad publicam disputationem proponent Kalendis Juliis [...] 1624. Ingolstadii: Typis Gregorii Haenlin. [München BSB: 4 Diss. 1296, Beibd. 11 (digitally accessible)] Waizeneggerus, Ferdinandus, praes. and Mechtl, Joannes Albertus, resp. Disputatio politico-iuridica de summo capite ac membris Sacrosancti Romani Imperii [...] publice defendet [...] in Auditorio Canonistarum ante: et pomeridianis horis ad diem 12. Julii anno 1625. Ingolstadii: Typis Wilhelmi Ederi. [München BSB: 4 Diss. 1339, Beibd. 1 (digitally accessible)] Alt, Claudius, praes. and Linder, Thomas, resp. Beatitudo naturalis in publicam disceptationem data, Ingolstadii [...] Universitate [...] propugnante ad diem 24. Septembris. [Ingolstadii]: Typis Gregorii Haenlini, 1625. [München BSB: 4 Diss. 1211, Beibd. 28 (digitally accessible)] Alt, Claudius, praes. and Pisonet, Anianus, resp. Felicitas naturalis in publicam disceptationem posita [...] disputante [...] Ingolstadii [...] Universitate ad diem 24. Septembris. [Ingolstadii]: Typis Gregorii Haenlini, 1625. [München BSB: 4 Diss. 1211, Beibd. 27 (digitally accessible)] Serres, Louys [Louis] de. Discours de la nature, causes, signes, & curation des empeschmens de la conception, & de la Sterilité des femmes. A Lyon: Chez Antoine Chard, 1625. [Göttingen SUB: 8 MED PRACT 3522/65]

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Lyprandus SJ, Georgius, praes. and Schwaiger, Ubaldus, resp. Disputatio philosophica de causis, quam in [...] Universitate Ingolstadiensi [...] publice proposuit F. Ubaldus Schwaiger Can: Reg: Ord. S. Aug. [...] metaphysicae studiosus. [...] 1626 die 17. Novemb. Ingolstadii: Typis Gregorii Haenlini. [München BSB: 4 Diss. 1237, Beibd. 17 (digitally accessible)] [Lyprandus SJ, Georgius, praes., Calmelet SJ, Conradus, resp. and Lerchefeldt SJ, Maximilianus, resp.] Assertiones ex universa Peripateticorum philosophia depromptae quas in [...] Ingolstadiensium Universitate duo e Societate Jesu [...] publice disputandas proposuere pridie Calendas Julii [...] 1627. Ingolstadii: Typis Gregorii Haenlini, 1627. [München UB: 0001/4 Philos. 25(2] Reeb SJ, Georgius. Axiomata philosophica frequentius iactari solita. Anno 1625 in Dilingana Academia explicata: nunc recognita & aucta. Ingolstadii: Apud Gregorium Haenlinum, 1629. [München BSB: Ph.u. 409, Beibd. 1 (digitally accessible)] Reeb SJ, Georgius. Distinctiones philosophicae, quarum frequentior iactari usus. Anno 1624 in Dilingana Academia explicatae: nunc recognitae & auctae. Ingolstadii: Typis Gregorii Haenlini apud Georgium Sartorium bibliopegum Ingolstadiensem, 1629. [München BSB: Ph.u. 409 (digitally accessible)] [���������������������������������������������������������������������������������������� Reinhardus SJ, Georgius, praes., Lerchenfeldt SJ, Leonardus, resp., Rechlinger SJ, Franciscus, resp., and Rosler, Jacobus, resp.] Theses ex universa Aristotelis philosophia [...] in [...] Universitate Ingolstadiensi. Disputandas proposuere tres e Societate Jesu metaphysicae studiosi. Ad diem 30. Junii 1629. Ingolstadii: Typis Gregorii Haenlini. [München UB: W 4 Phys. 51#6] Baumann SJ, Christianus, praes., and Kager, Matthias, resp. Difficultates selectae ex universa philosophia naturali [...] in [...] Academia Ingolstadiensi publice disputavit Matthias Kager [...] metaphysicae studiosus. [...] 1630 die 1. Julii. Ingolstadii: Ex typographeo Gregorii Haenlini, 1630. [München BSB: 4 Diss. 1237, Beibd. 17 (digitally accessible)] [����������������������������������������������������������������������������������������� Baumann SJ, Christian, praes., Freÿ SJ, Bernardus, resp., and Leferer/Lefrer SJ, Guilielmus, resp.] Positiones Peripateticae ex tribus partibus philosophiae. Quas in [...] Universitate Ingolstadiensi proposuerunt duo e Societate Iesu metaphysicae studiosi [...] 1630 3. Julii. Ingolstadii: Ex typographeo Gregorii Haenlini. [München UB: 0014/W 4 Phys. 51, #11 (digitally accessible)] Wysing SJ, Nicolaus, praes., Azwanger, Antherus, resp., and Bernardus, Martinus, resp. Assertiones philosophicae de continuo triplici quadragena comprehensae. Quae in [...] Universitate Ingolstadiensi [...] Antherus Azwanger, et Martinus Bernardus, Canonici Regulares Ordinis S. Augustini [...] metaphysices et matheseos studiosi publice propugnabunt. Ad diem {2} Aprilis [...] 1631. Ingolstadii: Ex typographeo Gregorii Haenlini. [München BSB: 4 Diss. 1655 (digitally accessible)]

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[Wysing SJ, Nicolaus, praes., Everardt SJ, Lambertus, resp., and Molitor SJ, Isaias, resp.] Universa philosophia Peripatetica quam Ingolstadii in [...] Electorali Academia publica disputatione propugnabunt duo e Societate Jesu religiosi metaphysicae studiosi. Pridie Calend. Julii [...] 1631. Ingolstadii: Typis Gregorii Haenlini. [München UB: W 4 Philos. 301, #7] Waizeneggerus, Ferdinandus, praes. and Herwarth de Hohenburg, Joannes Conradus, resp. Dissertatio politico-juridica de imperatore et imperio quam [...] annuente inclyto Collegio Juridico [...] publico examini subijciet [...] die 14. Februarij [...] 1632. Ingolstadii: Typis Gregorii Haenlini. [München BSB: 4 Diss. 994, Beibd. 3 (digitally accessible)] [Stratius SJ, Nicolaus, praes., Fachsius/Faxius SJ, Joannes, resp., Flachslandt / Flaxlandt SJ, Rudolphus, resp., and Otto/Ott, Christophorus, resp.] Universa philosophia Peripatetica. Quam in [...] Universitate Ingolstadiana tres e Societate Jesu metaphysicae studiosi publice disputandam proposuere [...] 1634. Ad diem {26} Maij. Ingolstadii: Ex typographeo Gregorii Haenlini. [München UB: W 4 Philos. 25, #112] Besoldus, Christophorus. Synopsis politicae doctrinae. Nunc denuo revisa, correcta, multoque auctior edita. Ingolstadii: Typis Gregorii Haenlin, 1637. [München BSB: Pol.g. 72 (digitally accessible)] Reeb SJ, Georgius. Axiomata philosophica frequentius iactari solita. Anno 1625 in Dilingana Academia explicata: nunc quarto recognita & aucta. Ingolstadii: Apud Gregorium Haenlinum, 1642. [München BSB: Ph.u.410, Beibd. 1 (digitally accessible)] Reeb SJ, Georgius. Distinctiones philosophicae, quarum frequentior iactari usus. Anno 1624 in Dilingana Academia explicatae: nunc quarta editione recognitae & auctae. Ingolstadii: Typis Gregorii Haenlini apud Nicolaum Henricum bibliopolam ac typographum Monacensem, 1642. [München BSB: Ph.u. 410; digitally accessible] Burghaber, Adamus, praes. and Byrson, Joan. Udalricus, resp. Universalia cum parergis ex universa philosophia depromptis quae in [...] Universitate Ingolstadiensi [...] publice propugnavit [...] F. Joan. Udalricus Byrson Canon. Regul. ordinis S Augustani [...] Mense Julio [...] 1645. Ingolstadii: Typis Gregorii Haenlini. [München BSB: 4 Diss. 2873 (digitally accessible)] [Veihelin SJ, Servilianus, praes., Knell SJ, Paulus, resp. and Rem SJ, Matthias, resp.] Conclusiones ex tota philosophia Peripatetica quas in [...] Universitate Ingolstadiensi disputationi publicae proposuerunt duo Societatis Jesu religiosi, metaphysicae studiosi anno 1646. [21] Mense Julio. Ingolstadii: Typis Wilhelmi Ederi. [München UB: 0001/4 Philos. 25(4] Veihelin SJ, Servilianus, praes., and Neuhaus, Franciscus L. Baro a, resp. Disputatio philosophica logicas, physicas, et metaphysicas assertiones complexa [...] publice propugnandam proposuit. In [...] Universitate Ingolstadiensi. {23} Mense Julio. Anno 1646. Ingolstadii: Typis Wilhelmi Ederi. [München BSB: 2 Diss. 35, Beibd. 1 (digitally accessible)]

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Joseph S. Freedman

Hettinger SJ, Philippus, praes. and Reyff, Franciscus Josephus, resp. Conclusiones philosophicae ad fundamenta reductae et in [...] Universitate Ingolstadiensi [...] publice propugnatae a Francisco Josepho Reyff [...] metaphysicae studioso. Anno 1647 mense Julio. Ingolstadii: Typis Wilhelmi Ederi. [München BSB: Diss. 103 (digitally accessible)]

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Philosophy Instruction, the Philosophy Concept, and Philosophy Disputations

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Joseph S. Freedman

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Riccardo Pozzo (Rom)

Helmstedter Disputationen im Umkreis von Johannes Caselius I. Der Aristotelismus setzte sich an der Academia Iulia erst 1590 durch, als Johannes Caselius Mitglied der Philosophischen Fakultät wurde.1 Caselius genoss eine Sonderstellung in Helmstedt, da er als doctor iuris nicht zu den Professoren der Artistenfakultät zählte. Er bot Vorlesungen in Eloquenz und Ethik an und wurde zweimal Prorektor, nämlich 1592/93 (als er durch die Ernennung Martinis zum Professor für Dialektik die Polemik gegen die Ramisten auslöste) und 1602/03 (als er den Hofmannstreit mit dem Sieg der Humanisten beenden konnte).2 Die Gruppe der Caselianer setzte sich aus drei aus Rostock stammenden ehemaligen Schülern zusammen: Albert Clamp (für zwei Semester im Jahr 1590 Professor für Dialektik und Ethik in Helmstedt, danach Mitglied der Juristischen Fakultät), dem Schotten Duncan Liddel (ab 1593 Professor für Astronomie und Geometrie, nach 1600 Mitglied der Medizinischen Fakultät) und dem Logiker und Metaphysiker Kornelius Martini (Professor für Logik ab 1594).3 1 Paul Zimmermann: Album Academiae Helmstadensis. Bd. 1, Abt. 1: Studenten, Professoren etc. der Universität Helmstedt von 1574–1636. Hannover 1926, S. 430. Eine Bibliographie zu Caselius findet man in Emilio Bonfatti: La ‚civil conversazione‘. Letteratura del comportamento da Stefano Guazzo a Adolph Knigge 1574–1788. Udine 1979, S. 78. Von den Werken Caselius’ seien genannt: In Ethicorum Aristotelis interpretationem prolegomena. Rostock 1575; Aristotelis de arte dicendi libri tres. Rostock 1577; In Aristotelis de vita et moribus librorum interpretationem programma. Helmstedt 1593; Rhetor sive de magistro dicendi. Helmstedt 1594; De bono academiae oratio. Helmstedt 1599; Diagraphe magisterii philosophici. Helmstedt 1602; Eleeinon sumban, sive de casu miserabili ad academias. Helmstedt 1607; Politeusomenos quemadmodum primarius, idemque ingeniosus adolescens, mature et recte educetur ad rempublicam. Helmstedt 1608. 2 Zimmermann (wie Anm. 1), S. 430f., 396, 412f. 3 Vgl. Riccardo Pozzo: Adversus Ramistas. Kontroversen über die Natur der Logik am Ende der Renaissance. Basel 2012; Peter John Anderson: Duncan Liddel, M. A., M. D., Professor in the University of Helmstedt: 1591–1607. Aberdeen 1910; Jerome J. Bylebil: The School of Padua. Humanistic Medicine in the Sixteenth Century. In: Health, Medicine and Mortality in the Sixteenth Century. Hg. von Charles Webster. Cambridge 1979, S. 335–370; Ian Maclean: Logic, Signs and Nature in the Renaissance. The Case of Learned Medicine. Cambridge 1997; Riccardo Pozzo: Philosophy, Medicine, and Aristotle’s De anima in Helmstedt at the Close of the Renaissance. In: Scientiae et artes. Die Vermittlung alten und neuen Wissens in Literatur, Kunst und Musik. Hg. von Barbara Bauer-Mahlmann. Wiesbaden 2004, S. 831–841.

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Riccardo Pozzo

Caselius war unter den ersten in Deutschland, die die Notwendigkeit einer Abrechnung mit dem Ramismus als unvermeidlich betrachteten. So empfahl er seinen drei oben erwähnten Schülern, Zabarellas Lehren als polemisches Werkzeug gegen die Ramisten anzuwenden. Zuerst ließ er Clamp eine Disputation für Zabarella schreiben: Theses de natura logicae ad universum Aristotelis Organon, die 1591 von Martini als Respondens vorgelegt wurde; ein Jahr später erschien Liddels De philosophia eiusque instrumentis disputatio. Denn die Ramisten hatten im Welfenland inzwischen außerhalb der Universität die Oberhand gewonnen. In Braunschweig war Georg Büsing bis 1577 Rektor des Aegidianums und Verbreiter von ramistischen Lehren.4 Ihm folgte ein weiterer Ramist, Hermann Nicephorus, der an der Polemik gegen Martini teilnahm.5 Als Rektor des Catherinaeums in Braunschweig war zu jener Zeit Karl Bumann – auch Ramist – Verfasser einer Dialectica socratica et aristotelica.6 Es gab Ramisten auch an den gelehrten Schulen zu Wolfenbüttel und zu Helmstedt.7 Die größte Anhängerschaft fand der Ramismus aber unter den Studenten der Universität, obwohl unter den Mitgliedern der Artistenfakultät niemand war, der ex professo den Ramismus lehrte. Mit dem Ramismus beschäftigten sich nur Privatdozenten wie Günther Adam und Christian Beckmann. Hinzu kam Kaspar Pfaffrad, der von 1588 bis 1592 mit großem Erfolg Privatlektionen über die ramistische Logik erteilte.8

II. Caselius legte seinen Schülern Klamp und Liddel also nah, ihre ersten Disputationen in Helmstedt (die von Martini als Respondens 1591 und 1592 verteidigt wurden) über die Natur der Logik gemäß Zabarella abzufassen. Es handelte sich dabei um die vier Fragen zu genus, finis, subiectum und divisio der Logik. Das genus der Logik hat Zabarella zunächst negativ definiert, denn die Logik ist für ihn keiner der fünf für das Wissen grundlegenden habitus der aristotelischen Ethica Nicomachea (ars, prudentia, scientia, sapientia, intellectus), da sie nicht nach den theoretischen Strukturen des Sachverhaltes fragt, sondern lediglich nach den methodischen Verfahren der Argumentation.9 Damit wurde die Logik einstweilen von der Metaphysik abgegrenzt; denn diese beschäftigt sich mit ontologisch fundierten Sachverhalten (entia realia), die Logik mit Begriffsbeziehungen (entia rationis). 4 Karl Bumann: Dialectica socratica et aristotelica. Frankfurt am Main 1593. Vgl. Paul Petersen: Geschichte der Aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland. Leipzig 1921. Reprint Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 134. 5 Petersen (wie Anm. 4), S. 134. Vgl. auch Wilhelm Risse: Logik der Neuzeit. Bd. 1: 1500–1640. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 193. 6 Petersen (wie Anm. 4), S. 135. 7 Ebd., S. 134ff. 8 Zimmermann (wie Anm. 1), S. 378f. 9 Risse (wie Anm. 5), S. 278.

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Zabarella schlägt vor, die natura der Logik als einen habitus intellectualis instrumentalis zu bezeichnen, also als einen außerhalb der fünf aristotelischen habitus (habitus principes gegenüber den habitus instrumentales) liegenden instrumentellen habitus. Die Logik darf folglich nicht scientia genannt werden, da ihr Gegenstand kein reeller ist, und ebenso wenig ars, da sie ihren Gegenstand nicht verändern kann.10 Sie ist aber der ars näher als der scientia, da sie in ihrer instrumentellen Funktion als eine vernunftgesetzte Kunst zur Begründung und Darstellung des Wissens dient.11 Finis der Logik ist daher, als „instrumentum philosophiae, a philosophis inventum ad discernendum in philosophia verum a falso, et bonum a malo“ zu fungieren und zwar in der Form einer Übung zur Erlernung des Wissens.12 Ihr subiectum sind die notiones secundae, dementsprechend ist auch ihre divisio zweifach: Einerseits ist sie „quidam naturalis instinctus“ (logica naturalis), so z. B. im Falle der Grammatik, wobei die habitus-Definition ihre durchaus psychologische Grundlegung beweist, andererseits ist sie jene Sammlung von Regeln, die die Philosophen „philosophandi rationem ac methodum expendentes“ herausgearbeitet haben (logica artificiosa).13 Weiter unterschied Zabarella zwischen logica docens, die „seiuncta a rebus“ ist, d. h. eine rein formale Technik ohne jeglichen Inhalt, und logica utens, die „in usu posita“ ist, so dass sie die Aufgabe einer Vorwissenschaft (propaedeutica) erfüllt.14 Was die Aufzählung und Unterteilung der Bücher des Organon betrifft, hielt Zabarella an der von Averroes eingeführten Teilung in logica formalis generalis und logica materialis specialis fest.15

III. Die Caselianer fingen gleich damit an, Zabarellas Schrift De natura logicae zu verbreiten. Die Positionen Zabarellas hatten allerdings in Deutschland bereits eine gewisse Wirkung erzielt. Man trifft sie unter anderem bei Fortunatus Crell und Matthias Flacius Illyricus d. J. an.16 Die Idee war, dass man gegen die Ramisten am besten polemisierte, wenn man zuerst die bei Melanchthon unklar gebliebenen Fragen (nach der Grundlegung, Semantik usw.) mit Hilfe der strengen Darlegungen Zabarellas neu stellt. In der Tat beherrscht das Thema der Einleitung die Diskussionen unter den Logikern am Ende des 16. Jahrhun10 Jacopo Zabarella: De natura logicae (1578), lib. 1, cap. 2 u. 7. In: Ders.: Opera logica. Straßburg 1597. Reprint Hildesheim 1966, S. 5, 16. 11 So Risse (wie Anm. 5), S. 278. Zabarella (wie Anm. 10), S. 41: „Logica non est scientia.“ 12 Zabarella (wie Anm. 10), S. 29. 13 Zabarella (wie Anm. 10), S. 27. Vgl. Risse (wie Anm. 5), S. 278f. 14 Zabarella (wie Anm. 10), S. 10. 15 Das zweite Buch von De natura logicae handelt von der averroistischen Einteilung des Organon in logica generalis et specialis und von der Abgrenzung der Logik von der Rhetorik und der Poetik. Vgl. ebd., lib. 2, cap. 1–23, S. 52–102. 16 Siehe Risse (wie Anm. 5), S. 453f., 112ff.

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Riccardo Pozzo

derts. Das erste Buch von Melanchthons Erotemata, die Vorrede zu den Scholae dialecticae von Ramus sowie Zabarellas De natura logicae stellten Grundideen für Philippisten, Ramisten und Peripatetiker zur Verfügung. Hinsichtlich der Frage nach der Gattung verstand Klamp, ebenso wie Liddel, die Logik als instrumentellen Habitus.17 Zur Frage nach dem Gegenstand wies Klamp auf die secundae notiones hin, insofern wir diese beim Argumentieren gebrauchen, während Liddel von secunda noemata sprach.18 Hinsichtlich der Frage nach dem Zweck schließlich befürwortete Klamp den Schluss, der auch die Frage nach der Einteilung beantwortete, dass man entweder gemein oder eigen schließt; Liddel hingegen sprach von einem Licht der Natur, das unsere Erschließung der Dinge leitet.19 Die erste systematisch vollständige Auseinandersetzung wurde 1599 von Martini in seinen Logikvorlesungen vorgelegt, und zwar aufs Deutlichste in den dem Rudimentum logicum (Februar 1599–März 1601) vorangestellten „Prolegomena de natura logicae“, in welchen Martini Zabarellas Lösungen zu den vier Fragen mit Zustimmung wiedergab, zugleich Melanchthon rechtfertigte und gegen Ramus polemisierte.20

17 Albert Klamp: Theses de natura logicae. Helmstedt 1591, Th. 5: „Et quia rationem dirigit logica, quae non una re, sed omnibus, quibus homines instituimur occupata est, non etiam inter quinque cognitionis nostrae habitus peculiarem sibi locum vendicabit, neque ei certum genus entis subiicitur: sed instrumentum quoddam seu habitus quidam instrumentalis est, discursum mentis informans ut ipsa verum et falsum discernere queat.“ – Duncan Liddel: Disputatio de philosophia eiusque instrumenta. Helmstedt 1592, Th. 27: „Ut autem ad hos suos scopos animus humanus legitime et debite procedat, normis sive habitibus quibusdam instrumentalibus, quas disciplinas logicas nonnulli vocant, indiget.“ 18 Klamp (wie Anm. 17), Th. 6: „Nam in primis rerum notionibus quatenus tales sunt, logica non occupata est, cum ad philosophiam pertineant. Tantum ex iis tanquam suo subiecto, secundas notiones fabricatur, instrumenta ad discursum quem diximus omnino necessaria.“ – Liddel (wie Anm. 17), Th. 31: „Non enim logicae illius entis naturae propria cognitio aut aliquod primum noema subiicitur, sed habitus communis est, normas tantum cognoscendi, rerumque secundas notiones, quae usu tantum primis rerum notionibus cognoscendis accomodantur, considerans, quo nomine a metaphysica, quae communissimarum simplicissimarumque primarum notionum, quibus caeterae scientiae communicant, disciplina est, discernitur.“ 19 Klamp (wie Anm. 17), Th. 7: „Internus ergo finis logicae syllogismus est: huius exacta consideratio duas logicae partes peperit, communem scilicet et propriam.“ – Liddel (wie Anm. 17), Th. 2: „Verum cum mens ipsa, nisi aliunde adhunc suum scopum dirigatur, adeo caeca sit, ut ad veritatem verique boni consecutionem [...] instinctu lucis naturae, a summis omnium aetatum viris, partim necessitate, partim cognoscendi studio, rerumque iucunda admiratione, inventae et perpositae sunt.“ 20 Hg. im Anhang an Riccardo Pozzo (wie Anm. 3), S. 188–208.

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IV. Durch seine im Umkreis von Caselius abgefassten Disputationen gegen die Ramisten führte Martini als erster in Deutschland Zabarellas Wissenschaftstheorie ein. Crell und Flacius Illyricus d.J. hatten die Lehre des modus considerandi zwar erwähnt, dennoch fehlte bei ihnen noch eine systematische Verarbeitung. Martini legte dagegen eine systematisch kohärente Erweiterung der von Zabarella eingeleiteten Gedankengänge vor. Er verband diese Reflexion mit einer Polemik gegen die Semantik der Ramisten. Schließlich gelang ihm eine Synthese der humanistischen Topik, der aristotelischen Theorie der intentiones primae et secundae und – wenngleich kritisch – der ramistischen Ontologie. Die Aufnahme des zabarellaschen Gesichtspunkts hatte Martini bereits 1594 vollgezogen, als er sich in seiner Disputatio adversus Ramistas prima de subiecto et fine logicae gegen Ramus wandte. Martini gab den von den Universitätsstatuten vorgesehenen Ansatz Melanchthons wieder, gestaltete ihn aber nicht unwesentlich in die Richtung von Zabarella um. Gleichzeitig widerlegte er die ramistische Unterstellung, dass die Logik mit der Metaphysik gleichzustellen sei, und bahnte damit den Weg für die Wiederaufnahme der aristotelischen Logik und Metaphysik im protestantischen Deutschland.21 Der modus considerandi der Logik läßt sich demnach so definieren: „Eum [modum considerandi] tibi determinat Ens rationis, sive secundi mentis conceptus; hactenus enim Logicae res subijciuntur, quatenus secundis illis notionibus, ad veritatem, qui finis est Logicae informantur. – Diesen Modus bestimmt Dir das Gedankending oder die Zweitbegriffe des Geistes. Die Dinge unterliegen insoweit der Logik, wie sie durch jene Zweitbegriffe, gemäß der Wahrheit, die der Zweck der Logik ist, informiert werden.“22 Eine vollständigere Definition des Gegenstandes der Logik wurde von Martini 1596 in seiner Disputatio adversus Ramistas secunda de constitutione logicae et natura locorum in genere vorgelegt.23 Martini nahm die Ontologie der Ramisten auf, versuchte aber gleichzeitig, sie durch Aristoteles, Melanchthon und Zabarella zu widerlegen.24 Die Kategorienlehre wurde von Martini zunächst auf ihr ontologisches Fundament befragt, erst später nach ihrem logischen Bezug.25 Martini führte den Begriff einer materiellen Ursache ein und meinte damit die von den Besonderheiten der Gegenstände stammenden Bedingungen, die dann die Form der enunciationes bestimmen.26 Die Frage nach dem Gegenstand verlagert sich in die Frage nach den Voraussetzungen – nach den Bedingungen, die die

21 Kornelius Martini: Disputatio adversus Ramistas prima. Helmstedt 1594, Th. 27. Vgl. Pozzo (wie Anm. 3), S. 142. 22 Martini (wie Anm. 21), Th. 28. 23 Kornelius Martini: Disputatio adversus Ramistas secunda. Helmstedt 1596, Th. 1. 24 Ebd., Th. 23. 25 Ebd., Th. 29. 26 Ebd., Th. 50.

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Riccardo Pozzo

Erkenntnis ermöglichen. Martini erklärte weiter, die Missachtung von Form und Materie der enunciationes sei ein gravierender Fehler von Ramus.27 Im Hinblick auf die Frage nach der Einteilung der Logik in einen allgemeinen und in einen speziellen Teil wurde von Martini das Modell von res und modus considerandi auf das Begriffspaar forma et materia übertragen.28 Hier wirkte noch die von Melanchthon befürwortete Identifikation der Logik mit der Arithmetik. Der Gegenstand der Auseinandersetzung war allerdings der Anspruch von Ramus, der Logik direkt eine Semantik zu geben, deren Bestandteile die species entis und das thema sind, was Martini ablehnte.29 Ramus fängt bewusst mit den zehn praedicamenta an, begeht dann aber den Fehler, den logischen Kategorien die topischen loci anzuhängen: „Nam locos hosce primas entis differentias, primas species esse ait, neque id ei sufficit, quin etiam non entis causas, et opposita, et caetera posse exquiri: contendat; et tot modis imo etiam pluribus falsas enunciationes fieri posse quam veras.– Denn er [Ramus] sagt, die loci seien die ersten Unterschiede des ens, die ersten species. Er begnügt sich aber damit nicht, weil er hinzufügt, die Logik könne auch die Ursachen des non ens und die Opposita usw. untersuchen. Und er meint, auf viele, ja auf mehr Arten könne man falsche als wahre Aussagen machen.“30 Die Ironie Martinis war schneidend. Er wies darauf hin, dass Ramus’ allzu allgemeine Bezeichnung eines locus untragbar sei, da sie merkwürdige Resultate hervorbringe.31 In seiner Kritik an Ramus übernahm Martini Melanchthons Lehre des thema simplex et complexum.32 Da Ramus mit keinem Mittel die themata unterscheiden könne, bleibe die Frage offen: „Quomodo autem speciem entis, id est rei, constituit, quod entitatis suae realitatis nihil habet? – Wie könnte er eine species des ens, also eine der res aufbauen, die keine Wirklichkeit ihres Seins hätte?“33 Denn, wenn sich das ens in seinen verschiedenen species in den loci auffassen ließe, würden alle entia einem locus gehören, was aber nicht stimmt.34 Martini forderte, die loci von den species entis strenger zu trennen.35 Die loci dienen lediglich dazu, Argumente für eine Diskussion vorzubereiten. Sie sind für die Individuation des kategorialen Gehalts nicht verwendbar.36 Da Ramus das aristotelische Verfahren der Definition per genus et differentiam specificam abgelehnt hat, kann er durch seine topische Definition nur die Oberfläche, nicht aber das Wesen der Dinge erreichen,

27 28 29 30 31 32 33 34 35 36

Ebd., Th. 57. Ebd., Th. 147. Ebd., Th. 148. Ebd., Th. 150. Vgl. Ramus: Scholae dialecticae. In: ders.: Scholae in liberales artes. Basel 1569. Reprint Hildesheim 1970, lib. 4, cap. 5, S. 118f. Martini (wie Anm. 23), Th. 152f. Ebd., Th. 154f. Ebd., Th. 156. Ebd., Th. 157. Ebd., Th. 160. Ebd., Th. 161.

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und somit kommt Ramus Epikurus gefährlich nah, der das ens in den Sinnen sieht.37 Deshalb muss man in einer Definition die Vermischung der kategorialen Bestimmungen vermeiden. Martini lehnte eine Erweiterung der Kategorientafel durch die loci entschieden ab.38

V. Im Jahre 1596 erschien in Lemgo eine Sammlung von Aufsätzen, die später in einem (heute in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrten) Band mit der Einbandsbezeichnung „Ramus contra Martinum defensus“ gebunden wurde.39 Der Titel wird Martinis bereits erwähnten zwei Disputationen „adversus Ramistas“ gerecht. Eine erste Gruppe von drei Abhandlungen erschien mit dem Titel: M. Cornelii Martini Antverpii adversus Ramistas disputatio de subiecto et fine logicae. Una cum aliis tribus eiusdem importunitati oppositis disputationibus a Friderico Beurhusio in Schola Tremoniana, Conrado Hoddaeo D. in Gymnasio Gottingensi, Heizone Buschero in Schola Hannoverana.40 Es handelt sich dabei um eine Reihe von responsiones ad theses, die allerdings schriftlich an einem anderen Ort und nicht mündlich im Disputationssaal vorgelegt wurden. Diese Sammelschrift beginnt mit einem Nachdruck von Martinis Disputatio prima aus dem Jahr 1594 und präsentiert einen detaillierten Kommentar (wie gesagt: These auf These), wenn auch nach unterschiedlichen Perspektiven. Die zweite Gruppe im Einband umfasst drei Schriften des Helmstedter Privatdozenten Anthon Nothold: zunächst De Rameae institutionis principiis et natura logicae ad primam disputationem M. Cornelii Martini [...] adversus Ramistas propositam consideratio a philosophiae Rameae studiosis in illustri Academia Iulia instituta, die 1597 erschien und sich ebenso mit Martinis Disputatio prima befasst.41 Dieser folgt der Nachdruck einer Programmschrift Martinis aus dem Jahr 1597 zusammen mit Notholds Anmerkungen: Magistri Cornelii Martini Antverpii programma cum responsione studiosorum Rameae philosophiae in Academia Iulia. Qua studium Rameum a reprehensione M. Cornelii vindicatur et Melanthoni nec non optimae institutionis legibus consonum probatur.42 Den Schluss des Bandes bildet Notholds Diatribe philosophica qua doctrina de definitione et divisione dialec37 Ebd., Th. 166. 38 Ebd., Th. 168. 39 Einbandtitel: Ramus contra Martinum defensus. Exemplar in: Berlin SBPK, Sign. Nl 3530. Auf die Abhandlungen dieses Bandes machte zuerst Risse (wie Anm. 5), S. 183f., aufmerksam. Vgl. danach Riccardo Pozzo: Ramus contra Martinum defensus. The Helmstedt Controversy 1592–1598. In: Autour de Ramus. Bd. 2. Le Combat. Hg. von Kees Meerhoff u. a. Paris 2005, S. 213–233. 40 Cornelii Martini Antverpii adversus Ramistas disputatio de subiecto et fine logicae. Hg. von Friedrich Beurhaus, Konrad Hoddäus u. Heizo Buscher. Lemgo 1596. 41 Anton Nothold: De Rameae institutionis principiis et natura logicae. Lemgo 1597. 42 Kornelius Martini u. Anton Nothold: Programma cum responsione studiosorum Rameae philosophiae in Academia Iulia. Lemgo 1597.

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Riccardo Pozzo

ticae de notionibus primis et secundis, de argumentis inventionis et praedicabilibus de analysi logica Rameorum de metaphysica et praedicamentis ad Philippi et Rami documenta revocatur ac iudicatur. Et simul fundamenta eorum, quae M. Cornelius Martinus secunda disputatione sua his nuper opposuit discutiuntur. Commentantibus quibusdam Philippeae et Rameae philosophiae studiosis concinnata et edita, die 1598 erschien und sich mit Martinis Disputatio secunda aus dem Jahr 1596 beschäftigt.43

VI. In seiner Replik auf Martinis Disputatio prima unternahm Beurhaus den Versuch, Ramus vor den Einwänden der Zabarellisten zu schützen. Um die humanistische Konzeption der Logik zu rechtfertigen, vereinigte Beurhaus die Ebene der Semantik und der Pragmatik. Beurhaus begann mit einer Kritik an dem modus considerandi.44 Die unterschiedlichen modi considerandi, so Beurhaus, rechtfertigen die Trennung der Metaphysik von der Logik nicht. Die von Beurhaus vorgeschlagene Gleichsetzung von ens und argumentum impliziert eine Rhetorisierung der Grundlegungswissenschaft, was nicht ohne Belang für den Aufbau eines Systems der Wissenschaften ist.45 Beurhaus widerlegte Martini in vier Hinsichten: Die Logik sei kein Habitus, sondern werde durch die Natur begründet, sei also eine ars, die sich durch die Methode universeller Dokumente („in documentorum catholicorum methodo“) entfalte.46 Sie sei kein Instrument, sondern eine ars, die zugleich scientia sei.47 Gegenstand der Logik seien keine noemata, sondern Abstraktionen von in der Natur fundierten Gegenständen,48 folglich auch das ens technologicum und das non ens, was Beurhaus zur völligen Ablehnung einer Abgrenzung der Logik von der Metaphysik führte.49 Beurhaus zitierte Martinis Pointe sehr konzis: „Logicam porro nihil extra mentem, sed aliquid in mente, atque mentis habitum se facere [Martini] dicit.– Martini sagt, dass er die Logik zu nichts außerhalb des Verstandes mache, sondern zu etwas im Verstand, zu einem Habitus des Verstandes.“50 Damit hatte Martini auf die provokative, in die Richtung des Platonismus weisende Äußerung von Beurhaus „artem, adserit, etiamsi a nemine discatur“ geantwortet.51 Die Replik von Beurhaus machte darauf aufmerksam, dass die Stufe der Erlernung einer ars das Vorhandensein derselben als eines in der Natur bzw. in einem 43 44 45 46 47 48 49 50 51

Kornelius Martini u. Anthon Nothold: Diatribe philosophica. Lemgo 1598. Beurhaus (wie Anm. 40), Th. 10, Bl. B8v. Ebd., Bl. B8v–C1r. Ebd., Bl. B6v. Ebd., Bl. B6v. Ebd., Bl. B7v. Ebd., Bl. C2v–C3v. Ebd., Bl. B5vff. Friedrich Beurhaus: Defensio Petri Rami dialecticae. Erfurt 1588, Bl. A5v.

Helmstedter Disputationen im Umkreis von Johannes Caselius

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Kommunikationsmittel (z. B. in einem Buch) tradierten Systems voraussetzt.52 Daraufhin widerlegte Beurhaus die aristotelische Unterscheidung von scientia und ars mit der Bemerkung, dass beide insofern gleichwertig seien, als sie aus notwendigen Sätzen zusammengesetzt werden.53

VII. Der Sieg des Caselianers Kornelius Martini über die Helmstedter Ramisten ist für die Vernetzung von Politik, Theologie und Kultur am Ende der Renaissance charakteristisch, und die Tatsache, dass sich in Helmstedt die humanistische Richtung von Caselius und den Caselianern gegen die hegemonischen Projekte des Ramismus sowie gegen die antiphilosophisch gesonnene lutherische Orthodoxie durchsetzen konnte, lässt sich nur im Rahmen der von den Welfenherzögen Julius und Heinrich Julius betriebenen Kulturpolitik verstehen. Wenn nicht gerade die Freiheit, so wurde doch die Reinheit des Lehrbetriebes von den Landesvätern in Schutz genommen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, darauf hinzuweisen, dass sich Disputationen als unentbehrliches Instrument für die Durchsetzung von kulturpolitischen Entscheidungen erwiesen.

52 Beurhaus (wie Anm. 40), Bl. B6r–v. 53 Ebd., Bl. B6v.

Wilhelm Kühlmann (Heidelberg)

Zu einer Tübinger Brot- und Butterdisputation Der Theologe, Schulmeister und Dichter Ulrich Bollinger (1568–1612) über die menschliche Seele (1594) Am 8. März 1594 (alten Kalenders) machte sich ein für damalige Verhältnisse nicht mehr ganz junger Schulmeister und ehemaliger Schüler der berühmten Klosterschule Bebenhausen namens Ulrich Bollinger1 daran, in der Tübinger Universität über ein bereits von den ehrwürdigsten Autoritäten behandeltes Thema zu disputieren: über den „Status“ der menschlichen Seele (Abdruck unten im Textanhang): keine Disputation pro gradu, auch keine pro loco, sondern „exercitii causa“, wohl aber doch mit dem Erfolg, dass er bald darauf vom einfachen Lehrer (1590) zum Rektor der Bebenhauser Schule aufstieg (1597), dort predigen durfte und dann den Weg zu Pfarrämtern in der Provinz fand (1600 in Schlaitdorf, 1610 in Waldenburg). In Tübingen hatte er studiert (seit 1585) und den Magistertitel erworben (1589). Später wurde er dank seiner als exzellent geltenden poetischen Talente von dem renommierten späthumanistischen Dichter Paul Schede Melissus (1539–1602) zusätzlich noch zum Dichter gekrönt (vor 1596).2 1 Zu Bollinger s. Ralf Georg Czapla: Bollinger, Ulrich. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann [...]. Bd. 2. Berlin, New York 2008, S. 69f.; im Folgenden zitiert als Killy/Kühlmann; John L. Flood: Poets Laureate in the Holy Roman Empire. A Bio-bibliographical Handbook. 4 Bde. Berlin / New York 2006, hier Bd. 1, S. 212–214; Wilhelm Kühlmann: Bollinger, Ulrich. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. VL 16. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Michael Schilling, Johann Anselm Steiger und Fritz Vollhardt. Bd. 1. Berlin / Boston 2011, Sp. 323–330. Im Folgenden stütze ich mich in der Einleitung und den Angaben zur Person Bollingers auf diesen meinen Artikel. – Ferner: Christian Sigel: Das Evangelische Württemberg. Generalmagisterbuch. 2. Haupteil, Bd. Bl-C, Nr. 417 (maschinenschriftlich, Exemplar im Hauptstaatsarchiv Stuttgart); David Friedrich Strauss: Leben und Schriften des Dichters und Philologen Nicodemus Frischlin. Frankfurt am Main 1856, S. 517, 556. – Joseph Aigner: Die poetischen Umschreibungen des Johanneischen Evangeliums von Ulrich Bollinger. München 1825. – Oswald Crollius: Alchemomedizinische Briefe 1585–1597. Hg., übersetzt und erläutert von Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle. Stuttgart 1998, S. 164–166. – Ralf Georg Czapla: Das Bibelepos in der Frühen Neuzeit. Zur deutschen Geschichte einer europäischen Gattung. Habilitationsschrift Heidelberg 2007. Berlin / Boston [im Druck]. 2 Abzulesen in: Elegidion In Funere Pauli Melissi (1602). In: Cod. Pal. lat. 1905, 217r–v; verzeichnet in Wolfgang Metzger: Die humanistischen, Triviums- und Reformationshandschriften der Codices Palatini latini in der Vatikanischen Bibliothek (Cod. Pal. lat. 1461–1914). Wiesbaden 2002, S. 326.

Der Theologe, Schulmeister und Dichter Ulrich Bollinger

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B.s Werke zeigen das – etwa in Spitzen gegen die Antitrinitarier – betont rechtgläubige, in jeder Hinsicht angestrengte, gemessen an der Karriere aber kaum erfolgreiche Bemühen, die Kontakte zu den Größen der Tübinger Universität (ablesbar auch in den Tagebüchern des Tübinger Gräzisten Martin Crusius),3 aber auch den Spitzen der württembergischen Verwaltung zu pflegen. Bollingers beachtlicher poetischer Ruf führte immerhin dazu, dass er mit der Herausgabe des letzten großen Werkes Nicodemus Frischlins, des im Gefängnis geschriebenen und als Manuskript hinterlassenen Versepos Hebraeis, betraut wurde.4 Mit äußerstem Fleiß hat sich Bollinger seit seiner Anstellung in Bebenhausen, gewiss nicht ohne Hoffnung auf Beförderung, immer wieder mit Versbeiträgen an zahlreichen akademischen Kasualdrucken wie auch an den von ähnlichen Werken Frischlins inspirierten, oft mit historischen Marginalien und Exkursen versehenen Panegyrica und Memorialschriften beteiligt, die Mitgliedern oder Verwandten des Württembergischen Herzogshauses galten.5 Kennzeichnend für die literarischen Interessen und die 3 Martin Crusius: Diarium. Bde. 1–3 und 4 (Register). Hg. von Wilhelm Göz, Ernst Conrad, Reinhold Stahlecker und Eugen Staiger. Tübingen 1927–1961 (Register!). 4 Nicodemus Frischlin: Hebraeis. Continens Duodeocim Libros: Quibus Tota Regum Iudaicorum, & Israëliticorum historia, ex sacris Literis ad verbum desumpta, carmine heroico Virgiliano describitur. Opus posthumum, ante hac nondum visum, nunc demum post multos labores in lucem prolatum [...] Operâ verò, & studio Ulrici Bollingeri [...]. Straßburg 1599; Ebd. 1610. – Ders.: Odarum Libelli Tres [...]. In: ders.: Operum Poeticorum [...] Pars Elegiaca [...]. Ebd. 1601, Bl. Iii3–Nnn4. – Zu Bollingers weiteren selbstständig erschienenen Werken zählen: Ode anniversaria sacra de Deo Spiritu Sancto. o.O. 1589. – Epistola, Qua Wirtenberga Ludovicum Principem Et Dominum Suum [...] ad Nuptias sororis proficiscentem [...] Efficta More Poetico. Tübingen 1589. – Encomium Wetterae Athenarum Hassiae. Straßburg 1595 (Exemplar nicht nachgewiesen; nach Vorrede von Oswald Crollius in Crollius: Basilica Chymica, 1609); auch in: Stephan Ritter: Cosmographia Prosometrica. Marburg 1619; danach auch in: Johann Jacob Plitt: Nachrichten von der Oberheßischen Stadt Wetter […]. Frankfurt am Main 1769, S. 84–94. – Hodoeporica siue Itinera Sanctorum Patriarcharum Abrahami, Lothi, et Josephi. Scripta carmine Elegiaco. Tübingen 1595; dass. Pars II. Ebd. 1597. – Oratio in Encaeniis Novi Auditorii [...] in Coenobio Bebenhusano. Ebd. 1595. – Moseis De rebus gestis Mosis, in exitu Israëlitarum ex Aegypto: Per Libros quatuor, heroico carmine ad imitationem Aeneid. Virg. deducta. Frankfurt am Main 1597. – Dass. Per Libros Novem Heroico Carmine Deducta. Tübingen 1603. – Nonni Panopolitani Poetae Graeci Paraphrasis Evangelica Secundum S. Ioannem Carmine Heroico Latino reddita. Adiecta sunt Hymni sacri quatuor, item Argumenta in VI. libros Christiados Vidae. P. Melissus Schedius recensuit, ediditque Speyer 1597. – Predigt Vber der Leich [...] Eberhardi Bidenbachs [...]. Tübingen 1597. – Panegyrici tres, De Vita, Rebus Gestis, Et Obitu [...] Georgii Principis Würtenb. Ebd. 1603. – Panegyricus de Marchionibus Badens. et Hochburg [...]. Ebd. 1603. – De sedecim abavis et abaviis paternis et maternis principum et Ducum Würtemb. hodie viventium. Leipzig 1609. – In XXIII disput. theologi. Joannis Georgii Sigwardi consignatio testimoniorum biblicorum […] elaborata. Leipzig 1610. 5 Beiträge zu Werken anderer und zu Gelegenheitsdrucken (in Auswahl und mit erheblich verkürzten bzw. paraphrasierten Titeln): Erhard Cellius: Oratio funebris auf den Tod des Medizinprofessors Johannes Vischer. Tübingen 1588. – Gratulationes zur Magisterwürde des Bruders Johannes Bollinger. Ebd. 1588. – Johann Georg Sigwardt: Leichenpredigt für Anna Maria Varnbüler. Ebd. 1588. – Zus.

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genuin lutherische Ausrichtung des von Bollinger, Sebastian Hornmolt (1562–1637)6 oder dem Bollinger-Schüler Georg Konrad Maickler (1574–1647)7 repräsentierten württembergischen Späthumanismus, bisher kaum erforscht, war die angestrebte Symbiose lateinischer Formkultur und genuin biblischer Frömmigkeit, wobei dem Alten Testament auch chronologisch der Vorrang vor Homer zugesprochen wurde, ja Moses als Erfinder der Dichtkunst galt. Eine gewisse Originalität konnte Bollinger in der Übertragung von Modellen der humanistischen Reisedichtung (Typus des Hodoeporikon) auf die „Itinera“ biblischer Patriarchen beanspruchen (1595 und 1597). Inwieweit er an dem hinterlassenen Manuskript der von ihm herausgegebenen Frischlinschen Hebraeis, des Epos über mit Michael Beringer: Elegien zum Lob des Christophorus Kodericus. Ebd. 1588. – Epicedia et Epitaphia, Graeca et Latina: Ad M. Martinum Crusium [...] de obitu Martini, F[ilii] eius [...]. Ebd. 1589. – Zur Verleihung der juristischen Doktorwürde an Huldrichus Brollius. Ebd. 1589. – Zur Verleihung der Magisterwürde an Ioannes Altenbachius Balingensis. Ebd. 1589. – Anthonius Varenbulerus (Varnbüler, Abt von Hirsau, Sohn des Kanzlers Nicolaus Varnbüler): Oratio Funebris auf den Theologen Jakob Andreae. Ebd. 1590. – Thomas Birck (Pfarrer zu Untertürkheim): Comoedia. Darinnen den Gotts-uergeßnen Doppelspilern/ zu ewiger Abschew/ und den Gwissenhafftigen Kurzweilern [...] die Wuerffel vnnd Karten [...] auß heiliger Schrift gruendtlich erklaert [...]. Ebd. 1590. – Wolfgang Jacob Graeter: Ariditas. Carmen heroicum de Siccitate Anni M.D.XC. Ebd. 1590. – Erhardus Cellius: Oratio de Vita et Morte [...] M. Samuelis Heilandi, Basiliensis, Ethices in Academia Tubingensi Professoris. Ebd. 1592. – Acclamationes Amicorum De Secundae Laureae Honoribus Qui [...] Davidi Megerlino [...] tributi sunt. Ebd. 1592, – Auf die Magisterwürde des Laurentius Frisaeus Stutgardianus. Ebd. 1592. – Jacob Heerbrand: Oratio Funebris De Vita Et Obitu [...] Ludovici, Ducis Wirtembergici [...]. Ebd. 1593. – Carmina Nuptialia [...] Sebastiano, Martini Aichmanni [...] filio. Tübingen 1595. – Martin Crusius: Annales Suevici. Frankfurt am Main 1595/96. – Matthaeus Zuberus: Miscellaneorum Epigrammaton Libelli Sex. Ebd. 1596. – Sebastian Hornmolt: Dauidis Regii Prophetae Psalmi, Puris ac perpetuis Iambis sine elisione expressi. Tübingen 1596. – Ders.: Ioan. Auenarij Theologi Precationes Sacrae [...] puris ac perpetuis Iambis [...] expressae. Ebd. 1596. – Erhard Cellius: Iubilaeus Coniugalis [...] Nicolai Varenbüleri Sen. [...]. Ebd. 1597. – Christophorus Hermannus Kurchemius. Nachruf auf Christophorus Binderus, Abt von Adelberg. Ebd. 1597. – Augusti Iunioris, Brunscvicensium Ducis [...] Orationes et Edicta. Ebd. 1598. – Zus. mit Erhard Cellius: Glückwünsche zur Hochzeit des Juristen Caspar Vogler. Ebd. 1598. – Sichardus Redivivus [...]. Ioannis Sichardi [...] quondam Ordinarii Iuris Civilis, Dictata et Praelectiones in Codicem Iustinianeum. Frankfurt am Main 1598. – Samson Hertzog: Notariats Von Contracten außfurliche [...] Underrichtung. Straßburg 1599. – Augustinus Brunnius: Trias Electoralis Politica [...]. Frankfurt am Main 1600. – Johannes Harpprecht: Oratio De Ortu, Vitae cursu, et obitu [...] Nicolai Varenbüleri [...]. Tübingen 1605. – Georg Gödelmann: Zur Magisterwürde von Georg Konrad Maickler. Tübingen 1606. – Elegia De Vera Antiqua Philosophica Medicina. Ad Dn. Osvaldum Crollium, Medico-chymicum felicissimum etc. Encomium Wetterae Athenarum Hassiae. In: Oswald Crollius: Basilica Chymica. Frankfurt am Main 1609, im Anhang (gesonderte Paginierung); zahlreiche weitere Drucke: Frankfurt am Main: Gottfried Tampach (nicht vor 1611); ebd. 1620; Ebd. (nicht vor 1622); Genf: François Lefèbvre 1620; Ebd.: Johannes Celerius 1624, 1631; Leipzig: Gottfried Grosse 1634. 6 Zu ihm s. Ralf Georg Czapla: Hornmolt, Sebastian. In: Killy/Kühlmann (wie Anm. 1), Bd. 5 (2009), S. 588f. 7 Zu ihm s. Ralf Georg Czapla: Maickler, Georg Konrad. In: ebd., Bd. 7 (2010), S. 618f.

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die Geschichte der altjüdischen Könige, jenseits einer elementaren Redaktion noch selbst Hand anlegte, lässt sich nicht ermessen. Während Frischlins Großdichtung aber letztlich nur als „eine Aneinanderreihung episch paraphrasierter Episoden des Alten Testamentes“ (Czapla) anzusehen ist, schloss sich Bollinger in seinem Mosesepos (Moseis, 1597 in vier, 1603 in neun Büchern) mit der Konzentration auf einen zentralen Heros (den „pius“ Moses) noch enger an Vergil an. Dessen Epos wurde in christlich-jüdischer Kontrafaktur umgeschrieben, indem Episoden und Bücher als Kontrastimitationen gedacht waren. Das unzulässige Liebesverhältnis Dido-Aeneas sollte sich zum Beispiel spiegeln im strafwürdigen Tanz um das Goldene Kalb. Bollinger hat in den Vorreden (1597 an Nicolaus Varnbüler und Martin Aichmann, 1603 an den Magistrat der Stadt Ulm), die sich literaturtheoretisch mit den Vorlesungen und Paraphrasen Frischlins zu Vergil engstens berühren, diese intertextuellen, sowohl tektonisch wie stilistisch bedeutsamen Lesarten ausdrücklich nahegelegt. Selbstverständlich wird das Werk immer wieder auch auf Gegenwartsbezüge hin transparent: so nicht nur in der Assoziation von Moses mit Luther, sondern auch (in der Fassung von 1603) in der Luthers Doktrin folgenden Erörterung der Bilderverehrung (anknüpfend an die Episoden der Ehernen Schlange und des Goldenen Kalbs), wobei sich auch der angebliche Polytheismus der Katholiken anschwärzen ließ. Bollinger hat sein ursprünglich auf zwölf Bücher angelegtes Moses-Epos als Fortsetzung seiner lateinischen Fassung (1597) der spätantiken griechischen (epischen) Johannes-Paraphrase des Nonnos von Panopolis verstanden. Indem der von Schede Melissus besorgten Edition „Argumente“ zu den sechs Büchern von Marco Girolamo Vidas (1490–1566) Christias beigefügt waren, wurde der direkte legitimatorische Bezug zur rinascimentalen Bibelepik im europäischen Rahmen akzentuiert. Kulturgeschichtlich wertvoll, aber thematisch ganz anders orientiert sind Bollingers im freundschaftlichen Zusammenleben mit dem Alchemiker und Paracelsisten Oswald Crollius (ca. 1560–1608)8 entstandenen Verswerke, die in ganz Europa im Anhang der Ausgaben von Crolls Basilica Chymica (zuerst 1609) verbreitet wurden. In der Elegie (Übers.) „Über die wahre alte philosophische Medizin“ wird im Kontrast zu der verbreiteten Alchemistensatire der hermetistischen Transmutationsphilosophie in einer langen Reihe älterer und zeitgenössischer Repräsentanten (darunter auch Paracelsus) die Würde einer eigenen historischen Genealogie zuteil, und auch das „Lob“ der hessischen Stadt Wetter, Crolls Heimatort (von ihm eine Vorrede), spart nicht mit analogen Rühmungen, in denen Bollinger sogar – ein seltener Fall – als Augenzeuge über die alchemischen Versuche Crolls in Hexametern berichtet.9 Beigetragen zu Bollingers Fortkommen hatte sein Gönner und weitläufiger Verwandter, der damalige württembergische Kanzler Martin Aichmann (1550–1616), der seit 1603 als kursächsischer Rat in Dresden lebte und offenbar zeitweise die Verbindung Bollingers auch zu Druckern in Leipzig herstellte (Schreiben an Bollinger im Vorspann 8 Zu ihm s. Joachim Telle: Crollius, Oswald. In: ebd., Bd. 2 (2008), S. 504–506. 9 Auszüge greifbar in Ed. Crollius, 1998 (wie Anm. 1).

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von dessen erweiterter Fassung der Moseis, 1603). Aichmann wie dem ebenfalls irgendwie mit Bollinger (vielleicht durch Patenschaften) verwandten Juraprofessor Nicolaus Varenbühler d. Ä. (1519–1604), dem Urheber des württembergischen Landrechts,10 also einflussreichen Persönlichkeiten der württembergischen ‚Ehrbarkeit‘, war wie bald darauf auch die Moseis von 1597 auch schon der Disputationsdruck gewidmet. Bei der Disputation präsidierte Bollingers akademischer Lehrer, der seit 1592 als Theologieprofessor in Tübingen amtierende Theologe Matthias Hafenreffer (1561–1619).11 Einen guten Eindruck von dessen Persönlichkeit gibt kein Geringerer als der berühmte Theologe, geistliche Schriftsteller, auch Miturheber des Rosenkreuzermythos Johann Valentin Andreae (1586–1654),12 einst Hafenreffers Hausgast. Denn in seinem autobiographischen Traktat Mora Philologica13 ließ Andreae Hafenreffer in langen Ausführungen als Studienberater auftreten. Hafenreffer fordert hier zwar die Beherrschung der alten und modernen Sprachen, auch eine universale Kenntnis der Geschichte und Naturkunde, doch dominiert die Bibel als Richtschnur allen Wissens und als Regulativ der ausschlaggebenden inneren und äußeren Verhaltensnorm, der „Frömmigkeit“. Auch die Kenntnis der Kontroverstheologie bleibt unabdingbar; für weltliche Dichtungen, die sich ‚heidnischer‘ Relikte z. B. in der Mythographie bedienten, empfand Hafenreffer offenbar wenig Sympathie und entsprach damit genau den deutlichen, man darf sagen: christlichen, ja manchmal durchaus fundamentalistischen Abgrenzungstendenzen des oben umrissenen württembergischen Späthumanismus:14 Ein großer Teil der Theologie besteht darin, auf die Kämpfe der Kirche mit Häresie und Gewaltherrschaft zu hören. Warum unsere Studenten diese Theologie geringschätzen, begreife ich nicht, es sei denn, daß sie über unsere und die Religion der anderen ziemlich ungehörig urteilen. Um anderes mögen sich andere kümmern! Gleichwohl ist denkbar, daß es deswegen so 10 Zu ihm vgl. Friedrich Wintterlin: Varnbüler, Nikolaus. In: ADB 39 (1895), S. 498f.; Erhard Cellius: Imagines Professorum Tubingensium. Hg. von Hansmartin Decker-Hauff. Sigmaringen 1981. Bd. 1. Faksimile, S. 48f.; Bd. 2. Kommentar und Text in Übersetzung, S. 70. 11 Vgl. Wilhelm Gaß: Hafenreffer, Matthias. In: ADB 10 (1879), S. 316f.; Heinrich Fausel: Hafenreffer, Matthias. In: NDB 7 (1966), S. 460; Cellius (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 42f.; Bd. 2, S. 138f. Zu seinem Streit mit Kepler s. Jürgen Hübner: Die Theologie Johann Keplers zwischen Orthodoxie und Naturwissenschaft. Tübingen 1975 (Beiträge zur historischen Theologie 50), S. 6f., 22ff. u. ö. (Register). 12 Zu ihm zusammenfassend Wilhelm Kühlmann: Andreae, Johann Valentin. In: Killy/Kühlmann (wie Anm. 1), Bd. 1 (2008), S. 152–155; jetzt auch Martin Brecht: Johann Valentin Andreae 1586–1654. Eine Biographie. Göttingen 2008. 13 Erster und einziger Druck des wohl schon auf die Jahre um 1610 zurückgehenden Werkes in: Johann Valentin Andreae: In bene meritos Gratitudo. Straßburg 1633, S. 161–196; mit dem lateinischen Text, einer deutschen Erstübersetzung samt Einleitung und Kommentar hg. von Wilhelm Kühlmann und Werner Straube. In: Johann Valentin Andreae: Nachrufe, Autobiographische Schriften, Cosmoxenus. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995 (Gesammelte Schriften 2), S. 217–289 und (Kommentar) S. 546–552. 14 Ich zitiere hier nur aus der deutschen Übersetzung (wie Anm. 13), S. 253–257.

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viele gesetzlose Politiker, todbringende Ärzte und törichte Philosophen gibt, weil sie weder die Gegenwart noch die Vergangenheit kennen. Um auf uns zurückzukommen: Was will denn unsere Bibel anderes als uns eine Vorstellung von göttlichem Willen und Handeln [vermitteln]? Gott befiehlt mit seinem Wort, beglaubigt mit Beispielen, verordnet mit Geboten und ermutigt durch Erfahrungsbeweise. Die Heilige Schrift enthält das vollkommenste Urbild der ganzen Welt, die zentralen Punkte aller, um nicht zu sagen, menschenwürdigen Künste und Wissenschaften. Derjenige hat am meisten bewirkt, der gelernt hat, überall die Bibel zu Rate zu ziehen. Hier haben Zeitmessung, Geographie, Baukunst, Musik, Physik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie usw., was sie bewundern können, aber am allermeisten die Staatskunst, die lernen kann, was die Menschen brauchen, um sich hier auf Erden auf den Himmel vorzubereiten. Das Wenige an irdischer Lebenszeit gestalten wir mit unendlich vielen Vorschriften, die Unendlichkeit, in der wir tatsächlich leben werden, bestimmen wir mit ganz wenigen Vorschriften. Es ist gut zu wissen, wie es dem Türken, wie es dem Moskowiter, wie es dem Fürsten der Tartaren unter seinesgleichen geht, wie Gott einst mit seinem Volk umging oder was jetzt Christus tut. Wie es uns allerdings dereinst im Reich unseres Vaters gehen wird, darüber sind nur wenige besorgt. Ich enthalte mich an dieser Stelle nicht des Vorwurfs der Gottlosigkeit in der Literatur: Deukalion eher als Noah, Phaeton eher als die Sonne Josuas oder auch Ezechiels, das Vlies Iasons eher als das des Gideon, das Haupt der Gorgo eher als das Weib Lots, die Leier des Amphion eher als die Harfe Davids – daß diese und die anderen unzähligen Spielereien [in der Dichtung] gegenüber der allerhöchsten Wahrheit bei den Christen Wertschätzung genießen und in wahrhaft dichterischer Freiheit verfeinert werden, ist etwas, was ich niemals billige. Mit diesen Mythen die Jugend vertraut zu machen, eine Gott entrissene Blume dem Satan auszuliefern. Gibt es denn nichts anderes, was mein Sohn, der Christus geweiht ist, lernen soll, als was der Teufel erdichtet hat? Oder sind die heiligen und vom Geist Gottes erfüllten Geschichten so völlig ohne Bildung, daß die Spielereien eines Ovid sie übertreffen? Ach, wie lasterhaft ist doch die Christenheit, da Christus uns letztlich kaum im Alter bekannt wird und ‚schmeckt‘. Infolgedessen ist alles voll von Mythen, für religiöse, die Gemeinde angehende Geschichten ist nirgendwo Raum.

Was lässt sich in dieser geistigen Atmosphäre und in diesen personalen Konnexionen über Bollingers Diputation sagen? Ich versuche, dazu folgende Beobachtungen zusammenzufassen: 1. Gemäß den oben zitierten Forderungen Hafenreffers verbindet Bollinger Gesichtspunkte der kompilatorischen Bibelexegese und der Kontroverstheologie. Dabei beschränkt er sich in den Belegstellen zur Gänze auf das Alte und Neue Testament. Es kommt ihm offenbar nicht darauf an, das säkulare, hier einschlägige, von der Antike über die Scholastik bis hin zu Autoren der rinascimentalen Philosophie ausdifferenzierte Argumentationssystem als solches auch nur anzudeuten, geschweige denn reflektierend zu problematisieren. Selbst die Kirchenväter werden nicht berücksichtigt, was insofern vermerkt zu werden verdient, als in der Disputation bald Antithesen zur katholischen Dogmatik in der Vordergrund rücken, die sich – etwa in den Akten des Trienter Konzils, bei Bellarmin oder in den katechetischen Schriften eines Petrus Canisius – auch auf den consensus patrum stützten. Auch Melanchthons berühmter Commentarius de anima (Wittenberg 1540, überarbeitet unter dem Titel Liber de ani-

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ma. Ebd. 1553 u. ö:, Abdruck in C. R. XIII) wirkte offenbar auf Bollinger nicht inspirierend. Melanchthon hatte in seinem Einleitungskapitel weitläufig dargelegt, warum „haec doctrina“ in der Kirche nicht entbehrt werden könne, hatte also bestanden auf einer Symbiose von philosophischer und genuin christlicher Seelenlehre, ja wollte allen Lesern einschärfen, dass zentrale Denkfiguren des Christentums ohne diese philosophische Vorverständigung kaum sinnvoll zu behandeln seien. Insofern widmete sich Melanchthon im Bewusstsein einer komplexen Interaktion von Seele und Körper den humanen Kräften, Vermögen und Affekten, den äußeren und inneren „sensus“, dabei auch das Vorbewusste (die Träume) einbeziehend und im Vergleich auf die Merkmale alles Lebendigen eingehend. So legte er eine umfassende christliche Anthropologie in der Interferenz von Psychologie, medizinischer Physiologie und Theologie vor. Unverkennbar setzte er sich dabei mit vielen genannten und ungenannten Autoritäten auseinander: mit Platon, Aristoteles (Entelechiebegriff), Cicero und auch mit Galen, indem er die bei den Medizinern, auch bei Hermetisten und Paracelsisten wirksame Lehre vom Spiritus Vitalis sogar mit der Botschaft vom Wirken des Heiligen Geistes zu harmonisieren wusste.15 Keine Spuren davon bei Bollinger, erst recht nicht von althergebrachten neuralgischen Diskursen, etwa zur Frage nach der individuellen Unsterblichkeit der Seele oder gar nach dem von der Orthodoxie bekämpften platonischen Theorem der Weltseele und den davon abhängigen Influenzvorstellungen. 2. Ist also die zur Disputation vorgelegte Reihe von 25 „Thesen“ (im Folgenden bezeichnet als „Th.“ mit der Nummer) Zeugnis eines kleinlich verengten Provinzgeistes ohne Kontakt mit dem Reflexionsniveau der Epoche? So wohl nicht, denn zu bedenken ist die Eigenart des hier vorliegenden publizistischen und akademischen Genres des Thesendrucks einer ‚Disputation‘, deren mündliche Präsentation und Diskussion wir uns ja allenfalls in Gedanken vorstellen können.16 Bollinger hatte offenkundig von Hafenreffer, dem Praeses, die Aufgabe gestellt bekommen, Belegstellen (testimonia) der Bibel zur Seelenlehre im Blick auf zentrale Axiome einer Dogmatik zu sammeln, in der sich das Konkordienluthertum gegen die ‚Päpstler‘ wie auch, hier kaum von Belang, gegen die Calvinisten zu behaupten hatte. In der Nachfolge von Melanchthons Loci arbeitete Hafenreffer selbst an einem solchen Werk, das er vermutlich in seiner Lehre und 15 Zur Seelenlehre bei Melanchthon sowie im weiteren Umkreis bieten Zugänge Gideon Stiening: Psychologie. In: Melanchthon und die Marburger Professoren (1527–1627). Hg. von Barbara Bauer. 2 Bde. Marburg 1999, Bd. 1, S. 77–119, sowie nun, umfassend und scharfsichtig, Sascha Salatowsky: De Anima. Die Rezeption der aristotelischen Psychologie im 16. und 17. Jahrhundert. Amsterdam/ Philadelphia 2006 (Bochumer Studien zur Philosophie 43); Jürgen Helm: Die „spiritus“ in der medizinalhistorischen Tradition und in Melanchthons „Liber de anima“. In: Melanchthon und die Naturwissenschaften seiner Zeit. Hg. von Günther Frank und Stefan Rhein. Sigmaringen 1998 (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 4), S. 219–238. 16 Dazu umfassend mit der älteren und neueren Literatur: Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Hg. von Marion Gindhart und Ursula Kundert. Berlin 2010 (Trends in Medieval Philology 20).

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auch mit Studierenden vorbereitete. Dieses Kompendium erschien genau zur Jahrhundertwende (1600; VD 16, H 152), lag 1603 bereits in der dritten Auflage vor und wurde auch weiterhin gern benutzt. Mir steht zum Vergleich derzeit nur ein späterer Druck von 1622 zur Verfügung.17 Wie der Titel bereits andeutet, setzt sich Hafenreffer hier in Marginalien, Zitaten und Kommentaren zu den einzelnen Glaubenssätzen ausführlich, manchmal recht scharf, mit den Trientiner Konzilsbeschlüssen und seinen jesuitischen wie auch calvinistischen Widersachern auseinander. Dadurch unter anderem unterscheidet sich seine Schrift von einem der kanonischen Epochenwerke des Luthertums, dem zuerst im Jahr 1610 (in Wittenberg) publizierten, vielfach nachgedruckten und übersetzten, bis in die Goethezeit gültigen Compendium Locorum Theologicorum Ex Scripturis Sacris Et Libro Concordiae18 des Wittenberger Theologieprofessors Leonhart Hütter (1563–1616).19 In seinem nackten Biblizismus schließt sich Bollinger eher an den mit Hütter vorliegenden Lehrbuchtypus an. 3. Bollinger unterscheidet (Th. 1) seine Sache („res“), also das Denkobjekt ‚Seele‘, von den in den biblischen Wörtern („vocabulum“) fassbaren verschiedenen Bedeutungen („significationes“), von denen er in Th. 2–4 den tropischen Gebrauch genauer unterscheidet (synekdochisch, metaleptisch, metonymisch). Erst mit Th. 5 bestimmt er die menschliche Seele einigermaßen dürftig als den ‚herausragenderen Teil‘ des Menschen. Der gesamte Problemkomplex des Verhältnisses von Seele, Geist und Leib und die differenzierten Überlegungen, die einst Melanchthon an die Frage „Quid est anima?“ knüpfte, kommen nicht in den Blick. Denn bald wird klar, warum Bollinger nicht über die Seele als solche, sondern über deren „Status“ (Titel) disputieren wollte. Mit Th. 6 geht er nämlich sogleich über zur Behauptung der Unsterblichkeit der Seele und zu deren Status nach dem Tode des Menschen (Th. 7ff.). Hier wird die Basis gelegt für die folgenden kontroverstheologisch relevanten Sätze. Komplexe eschatologische Feinsinnigkeiten, wie Fragen nach dem universalen letzten Gericht im Verhältnis zum Status der Einzelseele nach dem Tode, auch der weitläufige Argumentationsbereich der vier letzten Dinge (quattuor novissimi) werden hier allenfalls angedeutet, letzthin

17 Loci Theologici: Certa Methodo ac Ratione, In Tres Libros tributi. Qui Et Rerum Theologicarum Summas, Suis Scripturae Testimoniis confirmatas, breviter continent: earumque Christianam Praxin commonstrant: ac nostri denique seculi praecipuas Ἑτεροδιδασκαλίας fideliter exponunt. Stuttgart 1622. 18 Äußerst nützlich, mit weitläufigen Ausführungen zum Autor, zur Überlieferung und zur katechetischen Literatur im weiteren Kontext nun der einer späteren Auflage folgende Neudruck: Leonhart Hütter: Compendium Locorum Theologicorum ex Scripturis Sacris et Libro Concordiae. Lateinisch – deutsch – englisch. Kritisch hg., kommentiert und mit einem Nachwort sowie einer Bibliographie sämtlicher Drucke des ‚Compendium‘ versehen von Johann Anselm Steiger. Teilband 1 (Doctrina et Pietas, Abteilung II, Varia, Bd. 3). Stuttgart-Bad Cannstatt 2006. 19 Zu Hütter s. Johann Anselm Steiger: Hütter, Leonhart. In: Killy/Kühlmann (wie Anm. 1), Bd. 5 (2009), S. 643f.

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auch nicht in der abschließenden Th. 25 problematisiert, in der die endzeitliche Wiederkunft Christi beschworen wird. 4. So schnell wie möglich scheint Bollinger übergehen zu wollen zur biblischen Widerlegung der katholischen Widersacher und deren Lehre vom „Limbus“ (Th. 9) bzw. „Purgatorium“ (Th. 10). Hier traf er sich mit den Verdikten Hafenreffers, der den „Limbus Patrum“ für ein „humanum figmentum“ hielt, „quod nullis rationibus ex scripturis probari potest“,20 und sich sehr kritisch auch gegen die Lehre vom Purgatorium wandte. Es erscheint konsequent, dass sich Bollinger nun auch apodiktisch gegen die Empfehlung wendet, für die Toten zu beten (Th. 12). Damit stellte er sich gegen die Katholiken, die zum Beispiel in der verbreiteten Glaubenslehre des Jesuiten Petrus Canisius (1521– 1597), auch wenn die Schrift dazu schweige, ausführlich und in Reverenz vor den Kirchenvätern (Cyprian, Origenes, Dionysius, Clemens, Chrysostomus, Augustinus ) und gemäß der Meinung der „universa ecclesia“ dazu angehalten wurden.21 5. Daraus ergibt sich schlüssig (Th. 13–17) die Zurückweisung der katholischen Heiligenverehrung (Anrufung der Heiligen, Th. 13). Der Heiligen darf allenfalls als Zeugnis für die Kraft und die Gaben Gottes und als Exempeln zur „imitatio“ (Th. 17) gedacht werden. Damit entsprach Bollinger dem lutherischen Konsensus, wie ihn sorgfältig Hütter ausbreitete.22 6. Th. 18–24 widmen sich den Erscheinungen („apparitiones“) von verstorbenen Personen, ein Thema, das nicht nur im Volksglauben, sondern bis in das durchaus protestantische Schrifttum des 18. Jahrhunderts virulent blieb (man denke an Jung-Stillings Scenen aus dem Geisterreiche, 1795 u. ö.). ‚Papistische‘ Berichte dieser Art werden als teuflische bzw. melancholische Illusionen oder Altweibermärchen abgetan (Th. 21). Dabei kommt Bollinger (Th. 22) auch auf die diabolischen „spectra“ zu sprechen, die für ihn nur auf Grund magischer Zauberformeln („incantationes“) hervorgerufen werden können. Nur mit erkennbarer Verlegenheit erwähnt er dabei die für das Hexenwesen der Epoche und für die Magiediskussion einschlägige, höchst neuralgische Bibelstelle, wo von Totenbeschwörungen die Rede ist (1. Samuel 28): die Geschichte der sog. Hexe von Endor. Dass Bollinger wie so viele Zeitgenossen, darunter der berühmte Dichter Paul Schede Melissus,23 an solche Incantationes glaubte, geht aus der These hervor, ohne dass sich der Disputant hier auf weitere Folgerungen einließe. 20 Hafenreffer (wie Anm. 17), S. 395. 21 Petrus Canisius: Der Große Katechismus. Summa doctrinae Christianae (1555). Ins Deutsche übertragen und kommentiert von Hubert Filser und Stephan Leimgruber. Regensburg 2003 (Jesuitica 6), S. 173–175. 22 Hütter (wie Anm. 18), S. 526–533. 23 Von ihm u. a. ein Gedicht „Ad Deum. Ut Fascinum & Incantamentum Veneficarum clementer avertat“. Dazu im weiteren Zusammenhang Wilhelm Kühlmann: Poetische Hexenangst. Zu zwei Gedichten des pfälzischen Humanisten Paul Schede Melissus (1539–1602) und ihrem literarischen Kontext [zuerst 1997], wieder abgedruckt in ders.: Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in

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Bollingers Disputationsthesen waren wie alle Drucke dieser Art Grundlage der akademischen Diskussion, zugleich ein Qualifikationsnachweis, der Gelerntes im gegebenen und erlaubten intellektuellen Horizont reproduzierte. Der Schulmeister und Theologiestudent Bollinger konnte damit eine angemessene Bibelkenntnis bezeugen, dazu die Fähigkeit, in wie auch immer beschränktem Rahmen auf zentrale Thesen der konfessionellen Gegner mit geeigneten Testimonia zu antworten. Nichts Aufregendes, eine (um den Begriff der Automobilindustrie zu benutzen) ‚Brot- und Butterdisputation‘, welche Einblicke in das Alltagsgeschehen nicht nur der Tübinger Universität in der Epoche der Glaubenskämpfe gewährt. Zugleich bestätigt dieses Opusculum Bollingers, und das ist durchaus von Belang, mit seinem herausgehobenen lutherischen Biblizismus genau das Profil, das er auch als Dichter gerade mit seinen großen Bibelepen zu gewinnen wusste.

Textanhang DISPVTATIO DE STATV ANI= MARVM. Quam in nomine S. S. Trinitatis, Praeside D. MATTHIA HAfenreffero, s. s. theologiae doctore, eivsdemqve professore in Academia Tybingensi ordinario: Viro Reuerendo & Clarißimo, &c. 8. Martij, hora & loco solitis, exercitij causa habendam suscepit: m.vlricvs bollinger, illvstris Scholae Bebenhusanae Praeceptor. [Vignette] tvbingae Apud Georgium Gruppenbachium, Anno M. D. XCIIII.

Deutschland. Hg. von Joachim Telle, Friedrich Vollhardt und Hermann Wiegand. Tübingen 2006, S. 323–341.

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CLARISSIMO ET CON= SVLTISSIMO VIRO, D. NICOLAO VArenbulero, seniori: I. V. Doctori celeberr. & eiusdem Profess. emerito, &c. suo cognato, parentis loco perpetuò colendo: nec non CLARISS. ET CONSVLTISS. VIRO, DN. MARTINO AICHMANNO; V. I. Doctori, Cancellario Vvirtembergico dignissimo, &c. Domino Affini suo longè colendissimo: Has Theologicas Theses, ad declarandam aliquam animi gratitudinem, pro plurimis in se et suos collatis meritis: Cum obseruantia offert m. Vlricvs Bollinger, Theolog. Studiosus, Scholae illustris Bebenhusanae Praeceptor.

[A2r]

DISPVTATIO THEOLOGICA, DE STATV ANI= MARVM.

ΘΕΣΙΣ 1. Non vno et eodem modo svmitur vocabulum animae in sacris literis: ideoque variae eius significationes priùs sunt distinguendae quàm ad rem ipsam accedamus. 2. Interdum συνεκδοχικῶς pro persona, seu homine toto ponitur. Gen. 14. vers. 21. dicit Rex Sodomae ad Abrahamum; Da mihi animas, &c. Sic Gen. 46. vers. 27. & alibi. 3. Nonnunquam pro desiderio μεταληπτικῶς, Psal. 27. vers. 12. Ne tradideris me in animas tribulantium me. Sic Psalm. 42. vers. 3. Eccles. 6. vers. 7. & 9.

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4. Saepe μετωνυμικῶς pro vita. Genes. 37. vers. 21. Rubenus (pro Iosepho) dixit: Non percutiemus eum in anima. Sic Exod. 21. vers. 23. Deut. 22. vers. 26. & passim in Biblijs. 5. His igitur et alijs (animae) significationibus omissis: nos animam de hominis parte praestantiore volumus intelligi, vt legitur Matth. 10. vers. 28. Ne metuatis vobis ab his, qui occidunt corpus, animam autem occidere non possunt, &c. [A2v] 6. Eam nos immortalem esse statuimus, & probamus: 1. Testimonijs Scripturae, Matth. 22. vers. 32. Deus est Deus Abraham, & Deus Isaac, & Deus Iacob. Non est Deus mortuorum, sed viuentium. Sic Daniel, 12. 2. Euigilabunt alij in vitam aeternam, & alij in opprobrium. Et Ecclesiast. 12. vers. 7. Spiritus redeat ad Deum, qui dedit eum. 2. Exemplis, Henochi, Gen. 5. vers. 24. Abrahami, 25. vers. 7. Isaaci, 35. vers. 29. 3. Resuscitatis è mortuis, 1. Reg. 17. vers. 24. Reuertatur, obsecro, anima pueri huius, &c. Non igitur interierat, sed recesserat tantummodò. 7. Quò autem recedant animae, id verò in sacris literis edocemur: Piorum animae transeunt in vitam beatam, quam Scriptura vocat Sinum Abrahami, & Paradisum. Sic legimus, Luc. 16. vers. 22. Luc. 23. vers. 43. Phil. 1. vers. 23. 8. Animae verò damnatorum, ad infernum descendunt, Psal. 54. vers. 16. Descendant ad infernum viuentes. Luc. 16. vers. 23. Diues est in inferno. 9. Non igitur est Limbus (quem vocant) vel infantium, qui non acceperunt baptismum, vel Patrum, qui ante natiuitatem Christi suam animam Deo tradiderunt, Psal. 31. vers. 6. 10. Nec vllo modo Purgatorium (sic enim appellant) probari potest, in quo animae tam diu torreantur, donec peccatorum maculas expurgent. Scriptura namque prorsus ignorat. 11. Vnde sequitur, duplicem tantùm esse statum animarum; [A3r] vel bonum piorum in coelo, vel malum impiorum in gehenna: Intermedium nullum.

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12. Sequitur etiam, non esse orandum pro mortuis. Si enim animae ipsorum sunt in vita beata, orationibus non egent: Sin autem in inferno, non iuuantur, nec liberantur, Gal. 6. vers. 5. Rom. 14. vers. 12. 13. Animae porrò sanctae in coelis non sunt inuocandae, quia Spiritus S. non praecipit, quin imò prohibet & condemnat istiusmodi preces, Luc. 11. vers. 2. Os. 13. vers. 9. Deut. 18. vers. 11. 14. Nulla nos iuuandi fiducia, nulla spes, nullum planè solatium in illis collocetur, manifestè scilicet pugnant illa cum verbo DEI. Ier. 17. vers. 5. & vers. 8. Psal. 146. vers. 3. 15. In Scripturam & illi peccant, qui gratiam ibi & misericordiam petunt. Act. 4. vers. 12. Hebr. 4. vers. 16. 16. De animabus enim in altera vita Spiritus S. disertè affirmat, quòd nos & res nostras in terris, nec agant nec cognoscant, 4. Reg. 22. vers. 20. Isai. 63. vers. 16. 17. Memoria tamen Sanctorum nobis grata & celebris esse debet; idque propter Devm, qui tanta sua dona illis, dum vita manebat, tribuit: & vt virtutes, quas in vita exercuerunt, suam habeant laudem, nosque ad imitationem reddant alacriores, Phil. 4. vers. 9.1. Thess.1. vers. 6. Heb. 6. vers. 12. et tot. cap 11. [A3v]

18. De animarum verò apparitionibus sic statuimus, eas ad nos redire, & nobiscum agere, nec velle, nec posse, si velint. 19. Non volunt animae beatae, quia cum magno desiderio ex hac lachrymarum valle liberatae, non nobiscum in miseria, sed cum Christo in gloria esse cupiunt: Luc. 2. vers. 29. Phil. 1. vers. 23.

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20. Damnatae verò, vt maximè vellent, non possunt, quod ex historia Diuitis, Luc. 16. patet: Quòd si enim potuisset ille, redijsset sanè, & ipse suos de tormentis inferni cauendis solicitè praemonuisset. 21. Quae igitur de apparitionibus animarum à Pontificijs traduntur, aut Diabolicae & Melancholicae illusiones, aut aniles fabulae habendae sunt. 22. Et sanè fatemur, eiusmodi spectra Diabolica vltrò nonnunquam hominibus occurrere, nonnunquam Magicis incantationibus elici, vt est 1. Sam. 28. vers. 14. 23. Ne verò ab illis quaeratur veritas, (vel potiùs falsitas) grauissimè à Deo prohibetur, Deut. 18. vers. 11. Isa. 8. vers. 19. 24. Moses et Helias, testibus Euangelistis, Matth. 17. vers. 3. Marc. 9.4. Luc. 9.30. apparuerunt quidem, & sermones contulerunt cum Saluatore: sed in corporibus suis, quibus in coelum translati erant, vt est legere 2. Reg. 2. vers. 11. [A4r] 25. Similiter & nostrae animae in consummatione seculi, ad sua redibunt corpora, quae nouam gloriam & proprietates spirituales induent. 1. Cor. 15. vers. 43. & 44. Nos autem (inquit Apostolus, 1. Thess. 4. vers. 16. & 17.) qui reliqui erimus (in corporibus) in aduentum Domini, nequaquam praeueniemus dormientes. Quia ipse Dominus cum hortatu & voce Archangeli, ac tuba Dei descendet de coelo, & mortui in Christo resurgent primùm. Deinde nos viuentes, qui reliqui erimus, simul cum illis rapiemur in nubibus, in occursum Domini in aëra: & sic semper cum Domino erimus, Apoc. 22. vers. 20. ETIAM VENI DOMINE IESV, AMEN.

Manfred Komorowski (Duisburg)

Die Universität Orléans im 17. Jahrhundert: ihre Bedeutung für Juristen aus dem deutschsprachigen Raum Hanspeter Marti ist die Universität Orléans wohlbekannt. Aus seiner Feder stammt der Artikel „Orléans“ im Historischen Lexikon der Schweiz, in dem er die Bedeutung jener alten französischen Universität für Schweizer Studenten im Verlauf von Jahrhunderten skizziert.1 Als ich vor gut 30 Jahren damit begann, die alten Duisburger Hochschulschriften zu erfassen und biographische Informationen über die dortigen Studenten zu sammeln, stieß auch ich zu meinem Erstaunen immer wieder auf Querverbindungen zu der doch recht weit entfernten Hochschule in Frankreich. Davon waren aber nicht alle vier traditionellen Fakultäten betroffen. Da die Universität Orléans seit ihrer Gründung 1235 in erster Linie eine Rechtshochschule war, fanden ganz überwiegend Juristen den Weg an die Loire. Es war schon länger bekannt, dass der 1661 nach Duisburg berufene Gerhard Feltmann (1637–1696) 1659 in Orléans den Titel eines Doktors der Rechte erworben hatte (s. bibliographischer Teil). Erst nach intensiven Suchen gelang es zu ermitteln, dass auch Johann Weyerstraß († 1676)2 1655 vor seinem Amtsantritt im November 1656 die für einen Ordinarius unabdingbare Promotion in Orléans nachholte. Zwei der drei ersten Duisburger Professoren der Rechte hatten folglich dort den Doktorgrad erworben. Die in ihren Eintragungen unterschiedlich ausführliche Duisburger Universitätsmatrikel3 wies in mehreren Fällen auf einen früheren Besuch der renommierten französischen Rechtsakademie hin. Intensivere biographische Recherchen zeigten dann schnell, dass wesentlich mehr Studenten die umgekehrte Richtung wählten und vom Rhein an die Loire wechselten, um dort den begehrten Titel eines Lizentiaten oder Doktors der Rechte zu erwerben. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass man dort den Kandidaten keine allzu hohen Hürden in Weg legte. Der Ruf der Hochschule hatte darunter zwar gelitten, die leicht zu erreichende und offensichtlich kostengünstige Promotion, ohnehin damals 1 Hanspeter Marti: Orléans. http://hls-dhs-dss.ch/textes/d/D6602.php 2 Der aus Mettmann im Bergischen Land stammende Weyerstraß hatte in Köln, Herborn (1622) und ab dem 23.10.1630 in Groningen studiert. Welche Tätigkeit er danach ausübte, bleibt ebenso wie sein Geburtsdatum vorläufig im Dunkeln. 3 Duisburger Universitätsmatrikel: http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/ Derivate-22358/00–index.htm

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eher ein Verwaltungsakt als eine strenge fachliche Prüfung, war aber für viele junge Juristen Grund genug, ihre „peregrinatio academica“ dorthin zu lenken.4 Im 17. Jahrhundert konnte die Universität Orléans bereits auf eine lange, zum Teil ruhmreiche Tradition zurückblicken.5 Schon gleich nach ihrer Gründung zog sie Rechtsstudenten aus ganz Europa an und genoss lange einen ähnlich hervorragenden Ruf wie das italienische Bologna. Nach der Reformation wurden Stadt und Hochschule zu einem Zentrum des französischen Protestantismus. Die Universität erlebte damals eine weitere Blütezeit, in der sie sich nicht nur in der Rechtswissenschaft, sondern auch in den humanistischen Studien, ja selbst in der Medizin profilierte. In jener Zeit, im Jahre 1538, reduzierte man die ursprünglich zehn studentischen Landsmannschaften auf vier. Neben der französischen war die deutsche Nation die größte. Ihr wurden Studenten aus allen Teilen des Alten Reiches zugeordnet, darunter die Niederländer auch noch nach ihrer Unabhängigkeit 1648, teilweise sogar die Wallonen, während man Studenten aus Flandern der pikardischen Nation zurechnete. Die „Nation Germanique“ verfügte über eine beträchtliche Autonomie und großzügige Privilegien, auf die noch näher einzugehen ist. Wir verfügen nach wie vor über zahlreiche Akten zur Geschichte der „Natio Germanica“. Eine besondere Rolle spielen dabei die Acta Procuratoria, die jeweils für drei bis vier Monate die wichtigsten Ereignisse wie Immatrikulationen, Graduierungen, Abgänge usw. dokumentierten. Den Vorsitz führte der Prokurator, der abwechselnd aus der Germania Superior bzw. Germania Inferior gewählt wurde. Er verfügte unter anderem über das Recht, Promotionen durchzuführen. In der Leitung der Natio Germanica unterstützten ihn der Quaestor als Kassenwart, ein Assessor, der als persönlicher Referent und Schriftführer die Hauptlast der Verwaltungsgeschäfte trug,6 sowie oft mehrere Bibliothekare, welche die durchaus 4 Dazu der drastische Kommentar von Gerhard Johannes Vossius (1577–1649), wie ein einfacher Student der Rechte in fünf Tagen Richter werden könne: „Am ersten Tag lasse er sich in Orléans als cand. jur. anerkennen und erwerbe am zweiten das Lizentiat beider Rechte. Den dritten brauche er für die Reise von Orléans nach Paris; doch am vierten Tag könne er bei Gericht zugelassen werden und aufgrund dieser dürftigen Berufserfahrung die ‚venia aetatis‘, die Dispensation vom Mindestalter, erlangen, um am fünften Tag das Richteramt zu erhalten.“ Zitiert nach: Willem Frijhoff: Der Lebensweg der Studenten. In: Geschichte der Universität in Europa. Hg. von Walter Rüegg. Bd. 2: Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500–1800). München 1996, S. 298f. 5 Einen guten ersten Überblick hält bereit: Simonne Guenée: Bibliographie de l’histoire des universités françaises des origines à la Révolution. Bd. 2: D’Aix-en-Provence à Valence et académies protestantes. Paris 1978, S. 296–321. 6 Die Libri assessorum sind deswegen deutlich umfangreicher als die Aufzeichnungen der Prokuratoren, die selten mehr als fünf Blatt umfassten. Die sieben Aktenkonvolute des 17. Jahrhunderts umfassen die Signaturen D 232 bis D 238 in den Archives du Loiret. Die mir in Xerokopie vorliegenden Adsessoria des Assessors Gerhard Feltmann für Januar und Februar 1660 umfassen sieben eng beschriebene Blätter. (In: D 237=2 Mi 46).

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Abb. 1: Acta Procuratoria Trimester März bis Juni 1669. Nach den Amtsträgern der Natio Germanica folgen die Immatrikulierten, die Graduierten und die Abgänger.

ansehnliche eigene Bibliothek betreuten.7 Pedelle, Legaten und Oratoren ergänzten den Personalbestand der Nation. Man kann leicht erahnen, welch immensen Quellenwert die seit 1862 in den Archives Départementales du Loiret in Orléans aufbewahrten Quellen haben. Die beste Übersicht finden wir in dem in Deutschland sehr seltenen Findbuch aus dem Jahre 1917, das auch noch die leider beträchtlichen Kriegsverluste durch den verheerenden Brand des Jahres

7 Glücklicherweise verfügen wir über zwei gedruckte Kataloge der Bibliothek, die einen bedeutenden Zuwachs innerhalb von vierzehn Jahren dokumentieren, von 4353 Bänden im Jahre 1664 auf 5258 im Jahre 1678. Emmichius Nedergordius: Catalogus librorum qui Aureliae in bibliotheca germanicae nationis exstant. Aureliae: Rousselet, 1664; Gisbertus Edingh: Catalogus librorum qui Aureliae in bibliotheca nationis germanicae exstant, secundum seriem literarum alphabeti digestus. Aureliae: Verjon, 1678. Dazu noch ein unveröffentlichter Nachtrag aus dem Jahre 1682. Beschreibung der Kataloge bei Winfried Dotzauer: Deutsche in westeuropäischen Hochschul- und Handelsstädten, vornehmlich in Frankreich, bis zum Ende des Alten Reiches. Nation, Bruderschaft, Landsmannschaft. In: Festschrift Ludwig Petry. Hg. von Johannes Bärmann und Alois Gerlich. Bd. 2. Wiesbaden 1969, S. 89–159, hier S. 129, und David Paisey: Printed books in English and Dutch in early printed catalogues of German university libraries. In: Across the Narrow Seas. Studies in the history and bibliography of Britain and the Low Countries. Presented to Anna E. C. Simoni. Ed. by Susan Roach. London 1991, S. 130–132.

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Abb. 2: Acta Adsessoria Januar bis Februar 1660 unter dem Vorsitz von Gerhard Feltmann.

1940 nachweist.8 Die universitäts- und rechtsgeschichtliche Forschung hat dies frühzeitig erkannt. Nach dem gewonnenen Krieg von 1870/71 gab es deutsche Bestrebungen, die Akten der Natio Germanica nach Deutschland zu transferieren. Vor Ort wertete sie dann 1910/11 der renommierte Straßburger Universitätshistoriker Gustav Carl Knod (1850– 1914) aus.9 Im 20. Jahrhundert erwarben sich vor allem niederländische und belgische

8 Camille Bloch, Jacques Soyer: Inventaire sommaire des archives départementales antérieures à 1790. Loiret. Archives civiles. Série D. Instruction publiques, sciences et arts. Orléans 1917. 9 Nouvelle dictionnaire de biographie alsacienne. Rédacteur en Chef: Jean-Pierre Kintz. Nr. 21. Strasbourg 1993, S. 2028 (Jean Rott).

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Forscher wie Cornelia Ridderikhoff, Hilde de Ridder-Symoens,10 Robert Feenstra11 oder Willem Frijhoff12 besondere Verdienste. Von deutscher Seite ist besonders Winfried Dotzauer13 zu nennen. So verfügen wir über eine Edition der Livres des procurateurs de la nation germanique de l’ancienne Université d’Orléans, die leider nicht wie angekündigt bis 1602 reicht, sondern mit dem Jahr 1567 abbricht. Die publizierten Bände beinhalten nicht nur die Textedition, sondern umfassend recherchierte Studentenbiographien für den Zeitraum von 1444 bis 1546, diese eben leider noch früher abbrechend.14 Es ist sehr zu bedauern, dass dieses immens wichtige Quellenwerk keine Vollendung fand. Für das ausgehende 16. und erst recht für das 17. Jahrhundert muss man auf die handschriftlichen Quellen zurückgreifen. Vor allem Willem Frijhoff ging in seiner grundlegenden Abhandlung ausführlich auf die Quellensituation im 17. Jahrhundert ein. Seine Untersuchung ist umso wichtiger, als die Deutsche Nation zu jener Zeit nach wie vor zu einem bedeutenden Teil aus Niederländern bestand. Obwohl er sie in einer Kartei erfasst hat, nennt er sie nicht namentlich. Er besitzt etwa eine Kartei der im Berichtszeitraum promovierten Niederländer, die zum überwiegenden Teil der Natio Germanica angehörten. Eine Tabelle (S. 39) zeigt die Zahl niederländischer Graduierter nach Vierteljahrhunderten: 1600–1624: 390; 1625–1649: 479; 1650–1674: 245; 1675–1699: 103.

10 Cornelia Maria Ridderikhoff und Hilde de Ridder-Symoens verdanken wir die Edition der unten genannten Livres des procurateurs. 11 Der Leidener Rechtshistoriker Robert Feenstra scheint der „Spiritus rector“ der niederländischen Studien zu Orléans gewesen zu sein. Er beschäftigte sich vielfach mit der alten Rechtshochschule, so etwa in: Etudes néerlandaises de droit et d’histoire: présentées à l’Université d’Orléans pour le 750e anniversaire des enseignements juridiques. Ed. par Robert Feenstra et Cornelia Maria Ridderikhoff. Orléans 1985. Feenstra hatte auch die zum Jubiläum gezeigte Ausstellung konzipiert: Orléans en Leiden. De universitaire geschiedenis van Orléans vanuit Leiden belicht. Catalogus van een tentoonstelling van handschriften en vroege drukken [...]. Leiden 1985. Die Exponate stammten allerdings aus der Zeit vor 1600. 12 Willem Frijhoff: La société néerlandaise et ses gradués, 1575–1814. Une recherche sérielle sur le statut des intellectuels à partir des registres universitaires […]. Amsterdam 1981. 13 Winfried Dotzauer: Deutsches Studium und deutsche Studenten an europäischen Hochschulen (Frankreich, Italien) und die nachfolgende Tätigkeit in Stadt, Kirche und Territorium in Deutschland. In: Stadt und Universität im Mittelalter [...]. Hg. von Erich Maschke und Jürgen Sydow. Sigmaringen 1977, S. 112–141; ders.: Deutsche (Anm. 7), hier besonders S. 120–137. 14 Les Livres des Procurateurs de la Nation Germanique de l’ancienne Université d’Orléans 1444– 1602. Leiden. T. 1, 1444–1546, Pt. 1: Texte des rapports des procurateurs. 1971; T. 1, 1444–1546, Pt. 2: Biographies des étudiants. Vol. 1: Introduction, sources et bibliographies, biographies des étudiants 1444–1515. 1978; T. 1, 1444–1546, Pt. 2: Biographies des étudiants. Vol. 2: Biographie des étudiants 1516–1546. 1980; T. 1, 1444–1546, Pt. 2: Biographies des étudiants. Vol. 3: Tables, additions et corrections, illustrations. 1985; T. 2, 1546–1567, Pt. 1: Textes et rapports des procurateurs. Vol. 1: Texte des rapports 1546–1560. 1988; T. 2, 1546–1567, Pt. 1: Texte des rapports des procurateurs. Vol. 2: Textes des rapports 1561–1567. 1988.

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Diese Zahlen für das 17. Jahrhundert, wie angeklungen gegenüber früheren Blütezeiten etwa um die Mitte des 16. Jahrhunderts schon eine Epoche des relativen Niedergangs, belegen, dass Orléans immer noch beträchtliche Bedeutung besaß. Als in Mitteleuropa der Dreißigjährige Krieg tobte, hatte die Rechtsakademie besonderen Zulauf. Die Studenten kamen aus allen Teilen des Alten Reiches an die Loire, die meisten zwar aus den westlichen Regionen wie etwa dem Rheinland oder Westfalen, aber auch Schlesier15 und Preußen scheuten den langen Weg nicht. Die Schweizer, darunter 1557 der berühmte Arzt und Humanist Felix Platter (1536–1614), fehlten ebenfalls seit dem ausgehenden Mittelalter nicht.16 Diese Entwicklung setzte sich auch nach dem Westfälischen Frieden 1648 fort. Die das ganze Jahrhundert bis 1685, bis zur Rücknahme des Edikts von Nantes von 1598 prägende religiöse Toleranz, aber auch die französische Kultur des „Age classique“, das besonders „reine“ Französisch der Ile de France17 und das blühende Theaterleben lockten stets viele Protestanten, aber auch Katholiken an die Loire, wo sie zahlreiche Privilegien wie das Waffentragen oder Freiplätze in den Theatern genossen. Orléans war zu jener Zeit nicht nur eine bevorzugte Promotionsuniversität für Juristen, sondern, was das studentische Leben vor Ort anbetraf, eine „demokratisierte Ritterakademie“.18 Nach 1685 vertrieb die Politik Ludwigs XIV. nicht nur die französischen Protestanten, die Hugenotten, sondern auch die meisten Mitglieder der Natio Germanica und andere Protestanten. Frijhoffs oben angeführte Zahlen belegen am Beispiel der Niederländer den allmählichen und schließlich rapiden Niedergang in der zweiten Jahrhunderthälfte, der tendenziell bei den deutschen Studenten ganz ähnlich war. Obwohl die Akten der Natio Germanica im Jahre 1689 weitgehend abbrechen, die Nation sich de facto auflöste, gab es danach immer noch einige wenige deutsche Rechtsstudenten. Die unten angeführten Promotionen von drei Hamburgern zu Beginn des 18. Jahrhunderts belegen dies. Gleiches gilt für die in der Literatur mehrfach bezeugte Promotion des westfälischen Gelehrten Jodokus Hermann Nünning (1675–1753) um 1700. Der Versuch einer Wiederbelebung unter streng katholischen Vorzeichen scheiterte nach 1721 kläglich. Zahlreiche Universitätsneugründungen boten in Deutschland attraktive Alternativen. Für deutsche Studenten hatte Orléans keine Bedeutung mehr.

15 Dotzauer, Deutsche (Anm. 7), S. 131f. führt die 101 schlesischen Studenten von 1600 bis 1650 sogar namentlich auf. Da viele der jungen Schlesier auch in Italien studierten, können wir in etlichen Fällen ihren weiteren Universitätsbesuch und ihren späteren Lebensweg verfolgen bei Claudia Zonta: Schlesische Studenten an italienischen Universitäten. Eine prosopographische Studie zur frühneuzeitlichen Bildungsgeschichte. Köln u. a. 2004 (Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte 10). 16 Sie sind namentlich aufgeführt bei Alphonse Rivier: Schweizer als Mitglieder der ‚deutschen Nation‘ in Orléans. In: Anzeiger für schweizerische Geschichte 1874–1877, S. 244–247 und 267–272. 17 Speziell für Angehörige der Deutschen Nation erschien ein Lehrbuch der französischen Sprache: Jean Delaunay: Linguae Gallicae Tyrocinium: in usum inclytae nationis Germanicae in Academia Aurelia residentis. Aureliae: Hotot, 1662. 18 Dotzauer, Deutsche (Anm. 7), S. 131.

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Im Zusammenhang mit meinen Duisburger Forschungen hatte ich mir schon vor Jahren die Livres des procurateurs de la nation germanique für die Jahre 1653–1672 (D 221 bzw. 2 Mi 38) und 1672–1689 (D 222 bzw. 2 Mi 39) als Mikrofilm kommen lassen.19 Schon vorher war ich auf Gustav Knods Index nominum suppositorum inclytae nationis Germanicae universitatis Aureliensis (1441–1734)20 gestoßen, der nach dem Tode Knods 1914 in die damalige Universitäts- und Landesbibliothek Straßburg gelangte. Frijhoff rät von der Konsultation der Knodschen Aufzeichnungen jedoch ab,21 da die Originalmatrikel von 1603 bis 1637 (D 242 bzw. 2 Mi 48) und von 1637 bis 1681 (D 243 bzw. 2 Mi 49) in Orléans nicht zu den Kriegsverlusten des Jahres 1940 zählt. Die beiden Matrikelbände habe ich nicht eingesehen, kann also auch keine detaillierten Aussagen über ihre Beschaffenheit machen. Knods Notizen, die er wie erwähnt 1910/1911 aus mehreren Archivalien zusammenschrieb, sind oft schwer lesbar, weisen aber das genaue Immatrikulationsdatum nach, das etwa in den Acta Procuratoria fehlt. Diese berichten allerdings über die Abgänge von der Hochschule sowie über die zahlreichen Promotionen zu Lizentiaten und Doktoren, nennen aber immer nur die Namen der Studenten und Graduierten. Nicht selten fehlen sogar die Vornamen. Quellenkundlich von höchster Relevanz ist weiterhin ein Herkunftsregister der Studenten in Form eines Zettelkatalogs im Lesesaal der Archives du Loiret.22 Es erschließt sowohl die Livres des Procurateurs als auch die Matrikel und andere einschlägige Akten, darunter die Acta Assessoria,23 die in der Regel ausführlicher berichteten als die Acta Procuratoria. Landsmannschaftliche Recherchen für Deutschland existieren bisher nur sporadisch, etwa für Schlesien,24 das Rheinland und Hessen25 oder den Niederrhein.26 Im Anhang dieses Beitrages findet man nun einen weiteren Mosaikstein, der einen tieferen 19 Die Nachfolgebände der in Anm. 14 angeführten Edition. Für das 17. Jahrhundert sind außerdem relevant: D 216=2 Mi 31 (1587–1602); D 217=2 Mi 34 (1602–1614); D 218=2 Mi 35 (1614–1635); D 219=2 Mi 36 (1635–1646); D 220=2 Mi 37 (1646–1653). 20 Gustav Carl Knod: Index nominum suppositorum inclytae nationis Germanicae Universitatis Aureliensis (1441–1734). Manuskript. Bibliothèque Nationale et Universitaire Strasbourg. Signatur : Ms 2884. Von Knod stammt auch das Album studiosorum Aurelianensium. Natio Germanica. O. O. [ca. 1899]. 16 Bl. Es weist allerdings nur die Studenten der Jahre 1441 bis 1546 in chronologischer Abfolge nach. Das aus einem unbekannten Sammelwerk stammende Dokument befindet sich in der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln unter der Signatur 1L6587. 21 Frijhoff (Anm. 12); S. 314–315. 22 Freundliche Auskunft der Archives du Loiret vom 13.10.1997. 23 Acta Assessoria (Anm. 6) 24 Dotzauer, Deutsche (Anm. 7) und Zonta (Anm. 15). 25 Heinrich Büttner: Rheinische und hessische Studenten an der Loire. In: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde. Neue Folge 13 (1950), S. 192–198. 26 Manfred Komorowski: Graduierte aus dem Herzogtum Kleve und der Grafschaft Moers 1575–1700 […] (s. Quellen im Abschnitt „Inauguraldissertationen und Promotionen“). Orléans fand hier für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts Berücksichtigung.

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Einblick in die regionale Verteilung der deutschen Studentenschaft ermöglicht. Dank Frijhoff ist der holländische Teil der Natio Germanica besser erforscht. Als Ausgangspunkt für weitere Recherchen gibt es seit langem auch eine namentliche Auflistung der Schweizer Studenten.27 Auf die erwähnten Quellen stütze ich mich bei meinen Aussagen, die wegen des Bezugs zu Duisburg einen ganz eindeutigen Schwerpunkt auf der Zeit nach 1650 haben. Für die Zeit davor zitiere ich nur einige Inauguraldissertationen sowie mehr zufällig ermittelte Promotionsbelege (s. bibliographischer Teil). Obwohl Duisburg stets auch eine beliebte Promotionsuniversität war,28 wechselten doch zwischen 1655, der Gründung der Duisburger Universität, und 1689, dem massiven Niedergang der Natio Germanica, 50 angehende Juristen vom Rhein an die Loire, von denen die meisten dort promovierten. Die umgekehrte Richtung, von Orléans nach Duisburg, wählten nur vier Schweizer Juristen, die allesamt am Rhein keinen akademischen Grad erwarben. Von Frijhoff29 erfahren wir allerdings auch, dass etwa nach 1675 das niederländische Harderwijk Orléans den Rang als bevorzugte Promotionsuniversität ablief, ein Befund, der nicht nur für die Niederländer zutrifft. Einige Duisburger Doktoren der Rechte wie Gerhard Isinck (Promotion 1661), Johannes Parent (1672) oder Cornelius Caspar Lüttringhausen (1673) besuchten Orléans noch nach ihrer Promotion. Etliche ehemalige Duisburger Studenten übernahmen Ämter in der Deutschen Nation. Prokuratoren wurden der erwähnte Johannes Parent und der spätere Professor der Rechte in Steinfurt und Marburg Johannes Tesmar, Assessoren Gerhard Feltmann, Johannes Parent, Cornelius Caspar Lüttringhausen. Im untersuchten Zeitraum stammten besonders viele Studenten vom Niederrhein, aus Westfalen, Bremen und ganz besonders aus Hamburg. Markant war auch die Beliebtheit Orléans’ zwischen 1670 und 1689. Sind die Archivalien der alten, 1793 aufgelösten Universität Orléans für unsere Epoche in beträchtlichem Umfang erhalten, so steht es um die gedruckte Überlieferung der Hochschule eher schlecht. Die anlässlich der Promotion verteidigten Inauguraldissertationen sind bibliographisch nur sehr lückenhaft belegt. Die überwiegend aus den Offizinen Fremont, Hotot, Rousselet oder Verjon stammenden Titel fehlen vor Ort, in den Archives du Loiret und in der Bibliothèque Municipale, nahezu vollständig. Die Acta Procuratoria nennen leider nur die Namen, oft nur die Nachnamen der Graduierten. Die Titel der Inauguraldissertationen fehlen stets.30 In der nach Druckorten gegliederten französischen 27 Vgl. Rivier (Anm. 16). 28 Manfred Komorowski: Die alten Duisburger Universitätsschriften. Erfassung, Erschließung, wissenschaftliche Auswertung. In: Zur Geschichte der Universität – das ‚Gelehrte Duisburg‘ im Rahmen der allgemeinen Universitätsentwicklung. Hg. von Irmgard Hantsche. Bochum 1997, S. 107–126. 29 Anm. 12. 30 Sie müssten eigentlich genannt sein in den Registres des thèses, in die sich die Kandidaten nach der Verteidigung ihrer Dissertationen und vor der feierlichen Promotion eintragen mussten. Für unseren Berichtszeitraum erstrecken sich die vier Archivalien auf die Jahre 1681 bis 1702 (Signaturen D 185–D 189=1 mi 43 – 1 mi 46). Die Dokumente selbst habe ich nicht eingesehen.

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Nationalbibliographie des 17. Jahrhunderts31 harrt Orléans noch der Bearbeitung. Auch der berühmte Catalogue Général der Pariser Nationalbibliothek hilft nicht viel weiter. Wie der Anhang schnell verdeutlicht, hält sich der Zugewinn in modernen gedruckten wie elektronischen Verzeichnissen in engen Grenzen. Es beginnt schon mit der oft hanebüchenen Identifizierung des Druckortes „Aureliae“ als Baden-Baden, Hamburg oder Genf. So blieb etwa die Suche nach den Inauguraldissertationen der erwähnten Duisburger Professoren, der später in Orléans promovierten ehemaligen Duisburger Studenten sowie Angehörigen weiterer Landsmannschaften oder Berufsgruppen, etwa der Notare des Fürstbistums Münster, meist erfolglos. Eine Ausnahme bilden hier nur die Hamburger, denen der 1701 ebenfalls in Orléans promovierte Carl Johann Fogel ein bibliographisches Denkmal gesetzt hat. Aber auch von manchen der dort genannten Titel sucht man nach den enormen Kriegsverlusten der Hamburger Stadtbibliothek bisher vergeblich ein Exemplar. Insgesamt tut sich hier ein weites Feld für lohnende Recherchen zur Universitätsgeschichte des 17. Jahrhunderts, zur europäischen ‚peregrinatio academica‘ auf. Wie gesehen machten doch zahlreiche Rechtsstudenten an der Loire Station. Von einer Fortsetzung der so hoffnungsvoll begonnenen Edition der Livres des procurateurs wird man sicher vergeblich träumen. Eine vollständige Liste der Mitglieder und der Graduierten der Natio Germanica für das Jahrhundert wäre bereits ein großer Gewinn. Konkret hieße das, die beiden angesprochenen Matrikelbände für das 17. Jahrhundert und als Vorstufe zu einer vorläufig noch recht illusorischen Bibliographie der Inauguraldissertationen eine gedruckte Aufstellung der Promovierten herauszubringen. Zu seiner großen Freude würde der Jubilar zu den hier genannten dort auch zahlreiche weitere Schweizer finden. Dazu nur einige Beispiele: Mit den unten aufgeführten Duisburger Studenten aus der Schweiz kamen weitere junge Schweizer an die Loire. Am selben Tag (12.06.1669) wie Michael Augsburger (Ougspurger) trugen sich dessen Berner Landsleute Franz Ludwig Chasseur, Albert Stürler und Nicolaus Rhotius in die dortige Matrikel an. Ein halbes Jahr später (05.11.1669) kamen mit David Steiger und Melchior Düringer (Thüringer) Johann Rudolf Holtzer und Jakob Spengler, beide ebenfalls aus Bern, nach Orléans. Bei dem am 10.12.1669 eingeschriebenen Johann Fries handelt es sich um den späteren Professor der Philosophie am Zürcher Carolinum Johann Heinrich Fries.32 Durch die erwähnte namentliche Zusammenstellung aus dem 19. Jahrhundert sind die Schweizer in Orléans zum größten Teil bekannt. Eine gründliche Analyse der Quellen könnte aber die alte Publikation von Rivier33 gut ergänzen, etwa den Anlass liefern zu einer Suche nach Übungs- und Inauguraldissertationen mit deren Paratexten (Widmungen, Gratulationsgedichten) in Schweizer Bibliotheken, zur Vervollständigung von weiteren bio-bibliogra-

31 Louis Desgraves, Albert Labarre, Jacques Betz: Répertoire bibliographique des livres imprimés en France au XVIIe siècle. T. 1–29. Baden-Baden [u. a.] 1978–2010. 32 Zu den exakten Immatrikulationsdaten s. Knod (Anm. 20), Bl. 127/571. 33 Vgl. Anm. 16.

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phischen Fakten und würde letztlich einen bedeutenden Beitrag zur Schweizer Gelehrtengeschichte liefern. Für andere Regionen gilt dies analog.

Inauguraldissertationen und Promotionen im 17. Jahrhundert: Auswahlverzeichnis Hier werden bibliographisch belegte Dissertationen und biographisch gesicherte Promotionen nachgewiesen. Eine vollständige Auswertung der Acta Procuratoria hätte den Rahmen gesprengt. Selbst für den Zeitraum 1653 bis 1689, für den mir die Quelle vorlag, wäre das deutlich zu umfangreich gewesen. Die Juristen, die in Duisburg und Orléans studierten sowie an letzterem Ort vielfach promovierten, folgen im nächsten Abschnitt. Quellen: ADB: Allgemeine Deutsche Biographie. Bde. 1–56. Leipzig 1875–1912 DBA: Deutsches Biographisches Archiv. Folge I-II. 1431 und 1457 Mikrofiches. München 1982–1993 Fogel: Carl Johann Fogel: Antiqua et nova bibliotheca disputationum Dnn. Hamburgensium literatorum juridica [...]. Hamburgi 1730 Höting: Ingeborg Höting: Die Professoren der Steinfurter Hohen Schule. Steinfurt 1991 (Steinfurter Schriften 21) Kohl: Wilhelm Kohl: Die Notariatsmatrikel des Fürstbistums Münster. In: Beiträge zur westfälischen Familienforschung 20 (1963), S. 3–136 Komorowski / Kleve: Manfred Komorowski: Graduierte aus dem Herzogtum Kleve und der Grafschaft Moers 1575–1700. Eine bio-bibliographische Dokumentation. In: Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert. Hg. von Rainer Christoph Schwinges. Basel 2007, S. 535–574 Marti, Beziehungen Duisburg: Hanspeter Marti: Die Beziehungen der frühneuzeitlichen Universität Duisburg zur Schweiz. In: Zur Geschichte der Universität Duisburg 1655– 1818. Hrsg. von Dieter Geuenich und Irmgard Hantsche. Duisburg 2007, S. 65–100. Darin: Bio-Bibliographien Schweizer Studenten. NDB: Neue Deutsche Biographie. Bd. 1– , München 1953– Ranieri: Biographisches Repertorium der Juristen im Alten Reich. 16.–18. Jahrhundert, A-E. Hg. von Filippo Ranieri und Karl Härter [...]. IUS COMMUNE CD-ROM. Frankfurt am Main 1997 Tradel, Caspar (Augsburg): Quaestiones quaedam controversae. Aureliae: Hotot, 1601. [4] Bl. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg

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Krapf [Vorlage: Crapff], Johann Georg: Miscellanearum utriusque iuris conclusionum centuria. 12.11.1601. Aureliae: Hotot, 1601. [4] Bl. Dombibliothek Hildesheim Daemen, Johann (Königshoven/Bergheim) [Hzgtm. Jülich]: Promotion 09.11.1602 Lit.: Ranieri Müller, Conrad (1577–1643, Würzburg bzw. Ansbach ): Disputatio inauguralis de rebus creditis, si certum petatur, in specie de mutuo. Aureliae 1603 Bayerische Staatsbibliothek Lit.: DBA I 872, 159–160 (dort Promotion 1602) Schnaf, Johann Caspar: Conclusiones controv. de iurisiurandi religione, ex iure tam civili quam canonico depromptae. Aureliae 1604 Bayerische Staatsbibliothek Bossius, Laurentius: Miscellanea utriusque iuris. Aureliae: Hotot, 1605. [12] Bl. Bayerische Staatsbibliothek Planck, Johann: Disputatio de iudiciis ex utroque iure desumpta. Aureliae 1605 Bayerische Staatsbibliothek Chytraeus, Matthaeus (1579–1640, Bremen): Theses X. Orléans 24.07.1607 Lit.: DBA I 190, 390–391 Hemel, Georg: Positiones de sponsalibus et matrimonio. Aureliae 1609 Universitätsbibliothek München Eppen (Eppius), Heinrich (um 1574–1636, Ostfriesland): Promotion 11.1611. Lit.: DBA I 286, 359ff. ; II 333, 186; Ranieri Autobiographischer Bericht über seine Promotion: Aliqualis descriptio Actus Promotionis, qua mihi Henrico Eppio gradus doctoralis, eiusque honores & privilegia anno 1611 die 2/12 novembris Aureliae in Gallia acquisita & collata. Ca. 1611 (Kein Exemplar nachweisbar) Kraz, Joachim (Werben/Altmark): De usucapionibus et praescriptionibus. Aureliae: Fremont 1613 (Präses: Mathaeus Magnus). 5 Bl. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Lit.: DBA I 706, 7–9 (hier auch: von Kraze) Gessler, Johann: Disputatio iuridica de locatione conductione, & emphyteusi. Aureliae: Hotot, 1614. 28 S. Bayerische Staatsbibliothek Vehelen, Melchior: De matrimonio et iure dotium. Aureliae: Fremont, 1614 Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte (Sammlung Lehnemann)

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Dauber, Johann Heinrich (1610–1672, Herborn/Nassau): Promotion 07.09.1631 Lit.: DBA I 223, 25–39; NDB 3, 523; Ranieri Bitter, Ernst (Berg): Disputatio iuridica de utilissima tutelarum materia. 19[hs.].05.1633. Aureliae: Hotot, 1633. Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte Pagenstecher, Werner (1609–1668, Steinfurt): Promotion 11.04.1634 Lit.: DBA I 927, 363–366; Höting 153–157 Robbe, Nikolaus: De usucapionibus et praescriptionibus. Aureliae: Hotot, 1646 Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte (Sammlung Lehnemann) Alers, Johannes (1618–1648, Bremen): Disputatio selectiores universi juris materias continens. Aureliae: Hotot, 1647. 16 S. Staats- und Universitätsbibliothek Bremen Lit.: DBA I 15, 231 Roleman, Johannes: Positiones iuridicae theorico-practicae inauguralis appellationum materiam synoptice contin. Aureliae: Hotot, 1647. 16 S. Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt Halle; Bayerische Staatsbibliothek Winckel, Theodor (Hamburg): Theses. Aureliae 1647 Lit.: DBA I 1375, 214; Fogel 45 Vetten, Eberhard (Osnabrück, † 1675?): Positiones juridicae inaugurales de bonae fidei stricti juris et arbitrariis actionibus. Aureliae 1647. 16 Bl. Württembergische Landesbibliothek Wüsthausz, Adolph (Schermbeck/Kleve): Disputatio iuridica inauguralis de publicis iudiciis. 01.1648. Aureliae: Hotot, 1648. [5] Bl., 25 S. Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar Hopp, Egbert (Kleve bzw. Uedem): Promotion um 1650? Lit.: Komorowski, Kleve, 549 Marle, Johann von (Münster/Westfalen): Disputatio inauguralis iuridica continens iuris feudalis synopsin. 07.1651. Aureliae: Hotot, 1651. [1] Bl., 36 S. Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte Gulchen, Abraham Ludwig von: Disputatio inauguralis de iureiurando in genere eiusque variis speciebus. Präs.: Franciscus Osius. Aureliae: Hotot, 1652. 116 S. Leopold-Sophien-Bibliothek Überlingen Witten, Alexander (Kleve): Promotion 1654 Lit.: Komorowski, Kleve, 549

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Motzfeldt, Franz (Kleve): Immatrikulation 31.03.1655, Promotion 1655 Lit.: Komorowski, Kleve, 549–550 Weyerstraß (Weyerstrat), Johannes († 1676), immatrikuliert 22.06.1655 (Jul. Montanus), Promotion 1655 Lit.: Komorowski, Kleve 550 Klopper, Barthold (Kloppersheim bei Petershagen): Dissertatio Iustinianea historico-politico-juridica. Aureliae 1656 [Inauguraldissertation ?] Gartz, Dominik († 1703, Hamburg): De donationibus. Aureliae 1659 Lit.: DBA I 369, 235–237; Fogel 46 Motzvelt, Johannes (Kleve): Immatrikulation 17.03.1659, Promotion 1659 Lit.: Komorowski, Kleve, 551 Feltmann, Gerhard (1637–1696, Kleve): De iustitia et jure. 1659 Lit.: Komorowski, Kleve, 551 Beerningh, Christian (Christoph?) (Wesel): Immatrikulation 02.06.1661, Promotion 1661 Lit.: Komorowski, Kleve, 551 Schnobel, Joachim (Hamburg): De jactu. Aureliae 1661 Lit.: Fogel 47 Goeckmann, Alexander (Münster/Westfalen): Promotion 22.11.1661 Lit.: Kohl 86 Ernesti, Johann (Minden): Theses juridicae de legitima. Aureliae 1663 Bodleian Library Oxford Immatrikulation 18.03.1663 Lit.: Ranieri E, S. 443: Straßburg 05.01.1655 Blume, Jacob (Hasselwerder bei Bremen) [Oldelandia-Bremensis]: Promotion nach dem 19.01.1664. Lit.: Ranieri Monnich [Mönnich], Johann Gerhard (Osnabrück/Westfalen): Disputatio iuridica inauguralis de obligationibus. Aureliae 1664 Sächsische Landesbibliothek Dresden; Bodleian Library Oxford Storck, Johann Wilhelm (Osnabrück/Westfalen): Disputatio inauguralis iuridica de diffamationibus. Aureliae 1664 Universitätsbibliothek München; Bodleian Library Oxford

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Abb. 3: Porträt Georg von Berchems. Aus: Katalog der graphischen Porträts in der HAB Wolfenbüttel 1500–1850. Bearbeitet von Peter Mortzfeld. Reihe A: Die Porträtsammlung der HAB Wolfenbüttel. Bd. 2: Abbildungen Be–Bran (A 1343).

Placcius, Vincentius (1642–1699, Hamburg): Theses inaugurales de interpretatione legum. Aureliae: Hotot, 1665. 12 S. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart Lit.: DBA I 962, 200–219; Fogel 48 Berchem, Georg von (1639–1701, Bremen): Disputatio inauguralis, de clarigatione vulgò repressaliis. 05.03.1666. Aureliae: Rousselet, 1666. 21, [1] S. Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar; Staats- und Universitätsbibliothek Bremen Lit.: DBA I 83, 93–95; II 101, 116 Tesmar, Johannes (1643–1693, Bremen): Promotion vor August 1668 Lit.: Höting 186–189 (mit Porträt); ADB 37, 587–588 Ernst, Gerhard (Hamm/Westfalen): Disputatio inauguralis juridica de sequestrationibus. Aureliae 1669 Bodleian Library Oxford

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Abb. 4: Titelblatt der Inauguraldissertation Georg von Berchems. Neben dem Kandidaten ist auch der Name des Rektors Jacques de la Lande genannt. In anderen Dissertationen wird auch manchmal der Präses auf dem Titelblatt genannt.

Mancinus, Georg Andreas (Flensburg): Theses juridicae inaugurales miscellaneae. Aureliis nach 1670 Lit.: DBA I 799, 412–413 Vonberth, Theodor (Wesel): Promotion 1672 Lit.: Komorowski, Kleve, 555 Heere, Johann Christian († 1713, Hamburg): De jure connubiorum. Aureliae 1672 Lit.: DBA I 493, 282–283; Fogel 50 Vegesack, Nikolaus (1646–1723, Hamburg): Theses variae ex utroque jure. Aureliae 1673 Lit.: DBA I 1302, 369–370; Fogel 51 Wildeshausen, Erich (Hamburg): Theses ex jure. Aureliae 1674 Lit.: Fogel 51 Venhoeven, Hermann (Kleve): Promotion 1674 Lit.: Komorowski, Kleve, 556

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Wordenhoff (Wördenhoff), Erich (Hamburg): Disputatio juridica inauguralis de occasione. 15.02.1677. Aureliae: Boyer, 1677. 54 S. Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte; Bibliothèque Nationale Paris Held(t), Georg († 1716, Hamburg): De stipulatione. Aureliae 1677 Lit.: DBA I 505, 211–212; Fogel 52 Huswedel [Husswedel, Hauswedel], Barthold (Hamburg): Theses inaugurales ex illustrioribus utriusque juris capitibus decerptae. Aureliae 1677. [4] Bl. Universitätsbibliothek Tübingen Lit.: DBA I 488, 67; Fogel 52 Sylm (Sillm), Helwig († 1714, Hamburg): De privilegiis senum. Aureliae 1677 Lit.: DBA I 1253, 63; Fogel 52 Syllems (Sylm), Johann (Hamburg?) Disputatio juridica inauguralis de nuptiis. Aureliae 1678 British Library London Lit.: DBA I 1253, 66 (1704 erwähnt) Slüter, Matthaeus (1648–1719, Hamburg): Promotion 1678 Lit.: DBA I 1190, 272–276 Winckel, Lucas († 1713, Hamburg): Mixtura positionum juridicarum. Aureliae 1678 Lit.: DBA I 1375, 210–211; Fogel 52 Hosius, Franz Wilhelm: Promotion 09.05.1679 Lit.: Kohl 87 Linde, Adolf Heinrich (Datteln/Köln): Promotion 09.05.1679 Lit.: Kohl 87 Bischopinck, Bernhard Ernst: Promotion 05.12.1679 Lit.: Kohl 87 Bremen, Franz von (Hamburg): De jure gratificandi. Aureliae 1680 Früher: Universitätsbibliothek Rostock, jetzt Bibliothek der Chuo-Universität Tokyo Lit.: DBA I 142, 157–159; Fogel 53; Tsuno, Ryuichi: Katalog juristischer Dissertationen, Disputationen und Programme […] Halbbd. 1–2. Tokyo 1989 Schopping, Christoph Bernhard: Promotion 08.02.1681 Lit.: Kohl 87 Mulert, Johann (Lingen/Westfalen): Promotion 21.08.1681 Lit.: Kohl 87

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Manfred Komorowski

Bartels, Matthias (1655–1715, Hamburg): De juramentis. Aureliae 1681 Lit.: DBA I 56, 313–318; Fogel 53 Hosius, Johann Lucas (Münster/Westfalen): Promotion 07.03.1682 Lit.: Kohl 87 Schmiet (Schmidt), Erich (Hamburg): De iure circa lumen coeli. Aureliae 1682 Universitätsbibliothek München; Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte (Sammlung Lehnemann) Schrötteringk, Georg (1657–1709, Hamburg): Theses ex jure. Aureliae 1682 Lit.: DBA I 1142, 387–389; Fogel 53 Mensing, Peter (Münster/Westfalen): Promotion 10.09.1682 Lit.: Kohl 87 Stuhr, Johannes (1657–1698, Hamburg): De jure medicorum. 03.1683. Aureliae: Verjon, 1683. 20 S. Staats- u. Universitätsbibliothek Hamburg Lit.: DBA I 1245, 275; Fogel 54 Kentzler, Johann (1657–1697, Hamburg): De Bodemeria. Aureliae 1683 Lit.: DBA I 639, 382–385; Fogel 54 Wördenhoff, Laurentius († 1704, Hamburg): Disputatio inauguralis de quietantiis. Aureliae 1683 Lit.: DBA I 1394, 112; Fogel 54 Becke, Albert von der (Münster/Westfalen): Promotion 12.08.1683 Lit.: Kohl 87 Faber, Johann Justus (Frankfurt am Main): Dissertatio inauguralis de emtione venditione per aversionem. Aureliae: Verjon, 1683. Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte Holste, Friedrich (Hannover): Disputatio juridica inauguralis de jure interpellationum. Aureliae: Verjon, 1684. 60 S. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel; Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin Brantz, Adolf († 1716, Hamburg): De bancaeruptoribus. Aureliae 1684 Lit.: DBA I 136, 212–215; Fogel 54 Meurer, Peter (1658–1694): De pactis. Aureliae 1684 Lit.: DBA I 833, 185; Fogel 54

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Schmidt, Johann Heinrich († 1708, Hamburg): Theses ex jure. Aureliae 1684 Lit.: DBA 1118, 190–191; Fogel 54 Winckel, Ulrich (Hamburg): De pactis. Aureliae 1684 Lit.: DBA I 1375, 228–229; Fogel 54 Bischoping, Johann Heinrich (Münster/Westfalen): Promotion 20.05.1684 Lit.: Kohl 87 Sutorius, Leo Julius (Werne/Westfalen): Promotion 11.01.1685 Lit.: Kohl 87 Huge, Johann Reinhard (Münster/Westfalen): Disputatio juridica inauguralis de haereditate vel actione vendita et de jure evictionis. 04.06.1685. Aureliae: Verjon, 1685. [1] Bl., S. 5–10, [2] Bl. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Lit.: Kohl 87 Busch, Erich (um 1650–1726, Hamburg): Theses ex jure. Aureliae 1685 Lit.: DBA I 170, 27–29; Fogel 54; Ranieri VomCampe, Lucas (Hamburg): Dissertatio inauguralis de assecurationibus. 09.1685. Aureliae: Verjon, 1685. 26 S. Barock-Bibliothek Nünning Sendenhorst Luben, Christian Friedrich (Berlin/Mark): Disputatio juridica inauguralis de furto. Aureliae: Verjon, 1685. [4] Bl., 14 S. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Matfeldt, Bernhard (1661–1725, Hamburg): Dissertatio de obligationum qualitatibus altera continens resolutionem casuum nonnullarum practicorum. 05.02.1686. Aureliae: Verjon, 1686. 16 S. Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte Lit.: DBA I 811, 300–305; Fogel 55 Willms, Jacob (Hamburg): De curatoribus aliis s. extraordinariis. Aureliae 1686 Lit.: Fogel 55 Hosius, Johann Ludger (Münster/Westfalen): Promotion 18.06.1686 Lit.: Kohl 87 Otto (Otte), David (Hamburg): De cambiis eorumque jure ac privilegiis. 08.10.1687. Aureliae 1687. 28 S. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Lit.: DBA I 924, 1–3; Fogel 55

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Verpoorten, Jacob (1662–1723, Hamburg): De jure valetudinariorum. Aureliae 1687 Lit.: DBA I 1305, 250–251; Fogel 55 Schedding, Ernst Wilhelm (Münster/Westfalen): Promotion 29.10.1687 Lit.: Kohl 87; DBA I 1091, 396 Lochau, Henning (1664–1722, Hamburg): De privilegio dotis. Aureliae 1688 Lit.: DBA I 773, 358–361; Fogel 55 Schrötteringk, Adolf (1661–, Hamburg): Theses ex utroque iure. Aureliae 1688 Lit.: DBA I 1142, 385; Fogel 55 Walther, Barthold (1662–1723, Hamburg): De usufructu. Aureliae 1688 Lit.: DBA I 1330, 194–195; Fogel 55 Wernike, Arnold: Promotion 01.10.1688 Lit.: Kohl 88

Um bzw. nach 1700 Nünning (Nunning), Jodokus Hermann (1675–1753, Schüttorf ). Promotion um 1700 Lit.: ADB 24, 55–56; DBA I 906, 110–112 und 392–417 (jeweils ohne Datum der Promotion bzw. Nachweis der Inauguraldissertation) Fogel, Carl Johann (1675–1738, Hamburg): Disputatio […] exhibens nonnullas positiones de materia emtionis & venditionis tam juris civilis quam juris stat. Hamb. juxta part. 2, tit. 8. Aureliae: Borde, 1701. [4] Bl. Staatsarchiv Hamburg Lit.: DBA I 331, 317–326 Wiese, Hinrich Diederich (1676–1728, Hamburg): Theses ex jure. Aureliae 1701 Rath, Christ. (Hamburg): Positiones ex jure. Aureliae 1701 Pannach, Johannes Gottlob (Bautzen): Disputatio juridica inauguralis de jure interpellationum. Aureliae 1717 Sächsische Landesbibliothek Dresden Lit.: DBA I 930, 7

Duisburger Studenten in Orléans Für diesen Personenkreis stehen in Duisburg weitere bio-bibliographische Informationen zur Verfügung, die im Rahmen der Vorbereitung einer neuen Duisburger Matrikeledition gesammelt wurden. Sofern die Studenten aus der Region (Kleve/Moers) stammten, sind

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schon Details bei Komorowski, Kleve (s. o.) zu finden. Schweizer Studenten, die sowohl in Duisburg wie in Orléans studierten, tauchen bei Marti, Beziehungen Duisburg (s. o.) auf. Die Immatrikulationsdaten stammen von Knod (Anm. 20), die in der Regel nicht exakt datierten Promotionsbelege aus den Acta Procuratoria. Motzfeldt, Heinrich (1634–1703, Kleve) Matr. Duisburg 26.10.1652; Matr. Orléans 03.05.1658; Promotion Orléans 03.05.1658 Lit.: Komorowski, Kleve, 551 Feltmann, Gerhard (1637–1696, Kleve): De iustitia et iure. Matr. Duisburg 10.05.1653; Matr. Orléans 08.08.1659; Promotion Orléans 10.12.1659, Anfang 1660 Assessor Lit.: Komorowski, Kleve, 551 Motzfeldt, Friedrich Wilhelm (1636–1697, Kleve) Matr. Duisburg 24.10.1654 und 08.09.1659; Matr. Orléans 07.01.1662; Promotion Orléans 1662 Neuhoff, Theodor Stephan (um 1638–, Westfalen) Matr. Duisburg 31.05.1655; Matr. Orléans 26.11.1658; Promotion Orléans 1658 Isinck, Gerhard (um 1638–, Emmerich) Matr. Duisburg 16.10.1655, dort Promotion 04.1661; Matr. Orléans 12.01.1663 (nach seiner Duisburger Promotion) Lit.: Komorowski, Kleve, 551 Wilich (Wilik, Wild), Thomas von (um 1638–, Wesel) Matr. Duisburg 22.09.1656; Matr. Orléans 02.06.1661, Promotion Orléans 1661 Lit.: Komorowski, Kleve, 551 Ilsinck, Everardus (Doetinchem/Gelderland) Matr. Duisburg 06.11.1656; Matr. Orléans 09.09.1664 Wülffing, Werner (um 1632–1698?, Elberfeld) Matr. Duisburg 02.02.1657; Matr. Orléans 26.11.1658; 1659 Assessor Tho Bucop, Theodor (um 1639–, Wesel) Matr. Duisburg 20.04.1657; Matr. Orléans 04.06.1664, Promotion Orléans 1665 Lit.: Komorowski, Kleve, 552 Nettesheim, Christian Rutger (Düsseldorf ) Matr. Duisburg 09.07.1657; Matr. Orléans 09.08.1660 Louwerman, Gerhard (um 1634–1695, Emmerich) Matr. Duisburg 26.10.1657; Matr. Orléans 01.09.1659, Promotion Orléans 1659 Lit.: Komorowski, Kleve, 551

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Werich, Heinrich Werner (1641–, Wesel) Matr. Duisburg 17.01.1659; Matr. Orléans 05.05.1664 Thenigh, Christian (um 1640–1694, Wesel) Matr. Duisburg 17.01.1659; Matr. Orléans 05.05.1664, Promotion Orléans 1664, 05.1664 auch Quaestor Lit.: Komorowski, Kleve, 552 Heimbach, Christian von (um 1640–, Emmerich) Matr. Duisburg 23.09.1659; Matr. Orléans 13.09.1663, Promotion Orléans 1664 Lit.: Komorowski, Kleve, 552 Witt (With), Johannes de (um 1642–, Wesel) Matr. Duisburg 01.05.1660; Matr. Orléans 12.01.1667, Promotion Orléans 1668 Lit.: Komorowski, Kleve, 554 Rickers (Rickärs, Richartz), Wilhelm († vor 1691, Ruhrort) Matr. Duisburg 27.09.1660; Matr. Orléans 15.03.1667, Promotion Orléans 1667 Lit.: Komorowski, Kleve, 553 Porta (Portzen), Arnold Hermann von (um 1643–, Wesel) Matr. Duisburg 12.05.1661; Matr. Orléans 06.07.1671, Promotion in Orléans 1671 Lit.: Komorowski, Kleve, 555 Seller, Peter († 1690, Rees) Matr. Duisburg 03.09.1661; Matr. Orléans 10.12.1669, Promotion Orléans 1669/70 Lit.: Komorowski, Kleve, 554 Fetmenger, Abraham (1645–, Aachen) Matr. Duisburg 06.09.1661; Matr. Orléans 28.01.1672 Golius, Theodorus (um 1637–1679, Leiden) Matr. Duisburg 13.09.1661; Matr. Orléans 21.02.1667 Hopp, Adolph (Holten) Matr. Duisburg 27.10.1661; Matr. Orléans 20.02.1671, Prokurator 1671 Juchen (Jüchen), Cornelius von (Wesel) Matr. Duisburg 07.09.1662; Matr. Orléans 19.01.1666, Promotion Orléans 1666 Essbach, Goswin von († 1669, Westfalen) Matr. Duisburg 14.10.1662; Matr. Orléans 25.08.1665 Butendack, Heinrich (um 1638–, Bremen) Matr. Duisburg 17.11.1662; Matr. Orléans 13.09.1663, Quaestor

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Santen, Johannes von (Wesel) Matr. Duisburg 23.04.1663; Matr. Orléans 07.05.1669, Promotion Orléans 1670 Lit.: Komorowski, Kleve, 554 Ther Stegen, Johannes († 1709, Wesel) Matr. Duisburg 23.04.1663; Matr. Orléans 07.05.1669, Promotion Orléans 1670, Bibliothekar Lit.: Komorowski, Kleve, 554 Wunder (Wonder), Michael Heinrich (1645–1703, Zevenaar) Matr. Duisburg 04.09.1663; Matr. Orléans 30.04.1668, Promotion Orléans 1668, Bibliothekar Lit.: Komorowski, Kleve, 554 Rademacher, Bertram (Emmerich) Matr. Duisburg 21.09.1663; Matr. Orléans .10.1665 Buytendick, Gerhard von (Wesel) Matr. Duisburg 22.09.1663; Matr. Orléans 07.05.1669 Esgen, Johann Caspar (um 1647–1689, Schwelm) Matr. Duisburg 07.05.1664; Matr. Orléans 12.12.1672, Prokurator 1673 Berchem, Georg von (1639–1701, Bremen) Matr. Duisburg 20.05.1664; Matr. Orléans 19.01.1666, Promotion Orléans 03.1666 Keller, Johann Heinrich (1646–1693, Duisburg) Matr. Duisburg 23.09.1664; Matr. Orléans 06.06.1670, Promotion Orléans um 1671 Lit.: Komorowski, Kleve, 555 Isinck, Peter (um 1649–, Kleve) Matr. Duisburg 28.09.1665; Matr. Orléans 18.02.1670 Gruter, Johannes (um 1647–, Breckerfeld/Mark) Matr. Duisburg 23.12.1665; Matr. Orléans 17.08.1670 Tornow (Tourno), Friedrich Joachim von (um 1649–, Berlin) Matr. Duisburg 25.03.1666; Matr. Orléans 10.12.1667 Thormann, Huldreich (Ulrich) (1646–1706, Bern/Schweiz) Matr. Duisburg 27.05.1666; Matr. Orléans 06.06.1665 Lit.: Marti, Beziehungen Duisburg (Quellenverz.) Nr. 59 Tesmar, Johannes (1643–1693, Bremen) Matr. Duisburg 07.06.1666; Matr. Orléans 10.12.1667, Promotion vor August 1668, Anfang 1668 Assessor und Prokurator Lit.: ADB 37, 587–588; DBA I 1261, 4–28; Höting 186–189 (mit Porträt)

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Lüttringhausen, Cornelius Caspar (Köln) Matr. Duisburg 14.05.1669; Promotion Duisburg 1673; Matr. Orléans 21.08.1673 (nach seiner Duisburger Promotion Bibliothekar der Natio Germanica 1673) Augsburger (Augspurger), Michael (1648–1732, Bern/Schweiz) Matr. Duisburg 14.01.1670; Matr. Orléans 12.06.1669 Lit.: Marti, Beziehungen Duisburg (Quellenverz.) Nr. 4; eHLS (Barbara Braun-Bucher) Camberg, Heinrich (Wesel) Matr. Duisburg 24.09.1670; Matr. Orléans 29.04.1677 Steiger, David (1649–1701, Bern/Schweiz) Matr. Duisburg 24.02.1671; Matr. Orléans 05.11.1669 Lit.: Marti, Beziehungen Duisburg (Quellenverz.) Nr. 54 Hopp, Johann Wilhelm (um 1653–, Holten) Matr. Duisburg 05.05.1671; Matr. Orléans 13.01.1682; Promotion Orléans 1682 Parent, Johannes (1648–1695, Bremen) Matr. Duisburg 04.09.1671; Promotion in Duisburg 1672; Matr. Orléans 30.10.1673, dort zunächst Assessor und dann 1674 Prokurator Muntz (Müntz), Anton Werner (1654–1724, Kleve) Matr. Duisburg 11.10.1673; Matr. Orléans 1679 Bachmann, Friedrich Wilhelm (um 1656–, Kleve) Matr. Duisburg 16.04.1674; Matr. Orléans 28.02.1684; Promotion Orléans 1684 Lit.: Komorowski, Kleve, 558 Bachmann, Johann Adolph (um 1658– , Kleve) Matr. Duisburg 16.04.1674; Matr. Orléans 01.12.1684; Promotion Orléans 1684 Lit.: Komorowski, Kleve, 558 Veltmann, Heinrich Caspar (Dortmund) Matr. Duisburg 11.04.1676; Matr. Orléans 1684/85 Hinssen, Johannes (1658 – vor 1700, Wesel) Matr. Duisburg 24.04.1676; Matr. Orléans 03.10.1681 Dockweiler, Philipp Theodor (Ravensberg) Matr. Duisburg 24.10.1676; Matr. Orléans 26.07.1678 Ewich, Gerhard (1658–, Wesel) Matr. Duisburg 11.10.1677; Matr. Orléans 27.02.1683 Tocht, Cornelius van der (1658–, Gouda) Matr. Duisburg 01.08.1680; Matr. Orléans 1682/83

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Hochreutiner, Christoph (1662–1742, Sankt Gallen/Schweiz) Matr. Duisburg 21.07.1682; Promotion 16.11.1682; Orléans 11.06.1684 Lit.: Marti, Beziehungen Duisburg (Quellenverz.) Nr. 24; eHLS (Lukas Gschwend) Schorn, Johann Wilhelm (Kaiserswerth) Matr. Duisburg 14.01.1684; Matr. Orléans 22.11.1685 Düringer (Türinger, Turinger), Melchior (1647–1723, Bern/Schweiz) Matr. Duisburg 29.01.1696; Matr. Orléans 05.11.1669, Assessor 1670, später Theologe Lit.: Marti, Beziehungen Duisburg (Quellenverz.) Nr. 16

Bernhart Jähnig (Berlin)

Disputationen als Quelle für den Schülerkreis des Universitätsgelehrten Johannes Gisenius Der niedersächsisch-westfälische Theologe Johannes Gisenius (1577–1658)1 gehört zu den zahlreichen Universitätsgelehrten des 17. Jahrhunderts, für die ihre zunächst privaten, dann öffentlichen Disputationen ein wesentliches Mittel ihres akademischen Unterrichts waren. Private Disputationen sind, wenn überhaupt, nur handschriftlich überliefert. Von den öffentlichen Disputationen wurden Einzeldrucke hergestellt, damit alle Teilnehmer dieser Veranstaltungen den Text vor sich haben und den Verlauf der jeweiligen Disputation verfolgen konnten. Auch wenn diese Disputationen öffentlich waren, so dienten sie dennoch in der Regel nicht zur Erlangung eines akademischen Grades. Auf dem Titelblatt eines solchen Einzeldrucks finden sich außer dem Thema der Disputation der Name des Universitätslehrers, der als Präses zumeist auch die Thesen verfaßt hat,2 und der Name des Studenten mit Angabe seiner Herkunft, der als Respondent die Thesen zu verteidigen hatte. Ferner finden sich Ort und Zeit der Veranstaltung. Leider haben sich nicht von allen öffentlichen Disputationen Einzeldrucke bis heute erhalten. Viele kennen wir nur, weil deren Verfasser sie später wie die Kapitel eines Buches in umfangreicheren Veröffentlichungen zusammengefaßt haben. Dabei sind die genauen Zeitangaben der ursprünglichen Veranstaltungen meistens nicht mit abgedruckt worden. Das ist auch bei Johannes Gisenius so gewesen, wie wir im folgenden sehen werden. Erhalten blieben jedoch die Namen und Herkunftsangaben der Studenten, so daß auch die Buchausgaben der Dispu1 Carl Anton Dolle: Ausführliche Lebens-Beschreibung aller Professorum Theologiae [...] auf der Universität zu Rinteln. Bd. 1. Hannover 1751, S. 15–96; Robert Stupperich: Johannes Gisenius und sein Kampf um die Universität Rinteln. In: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 63 (1965), S. 140–157; Bernhart Jähnig: Gehalt und Gehaltsforderungen des Rintelner Universitätsprofessors Johannes Gisenius. In: Schaumburg-Lippische Mitteilungen 23 (1974), S. 41–62; ders.: Johannes Gisenius als akademischer Lehrer. In: Jahrbuch (wie eben) 100 (2002), S. 43–59. 2 Mit dieser Frage hat sich unser Jubilar vor einigen Jahren auseinandergesetzt: Hanspeter Marti: Von der Präses- zur Respondentendisputation. In: Examen, Titel, Promotionen. Hg. von Rainer Christoph Schwinges. Basel 2007, S. 251–274. Die hier für Disputationen erörterte Verfasserfrage ist für die Untersuchung einer Zugehörigkeit der Respondenten zu den Schülern des Präses gleichgültig, da auch ein möglicher studentischer Verfasser einer Disputation Schüler bleibt. Bei zwei Disputationen aus Gisenius’ Rintelner Zeit steht ausdrücklich auf dem Titelblatt, daß der Respondent auch Autor sei, eben weil das die Ausnahme war.

Disputationen als Quelle

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tationen die Schüler eines Universitätslehrers erkennen lassen, die als Respondenten aufgetreten sind. Die Einzeldrucke der Disputationen enthalten in der Regel Widmungen, mit denen die Respondenten meist höher gestellten Persönlichkeiten danken, von denen sie gefördert worden sind. Auf diesen erweiterten Personenkreis kann hier nicht eingegangen werden. Aus Raumgründen kann hier auch nicht die soziale Herkunft der Disputanten untersucht werden. Auch wenn es sich noch nicht um Examensdisputationen handelt, so geht es dennoch um eine gehobene Schicht unter den Studenten, was sich zumeist im erfolgreichen Bemühen um eine berufliche Stellung zeigt, wie wir später zeigen werden. Um den Anteil der Respondenten an der gesamten Studentenschaft zu ermitteln, müßte man die Disputationen aller Vertreter wenigstens einer Fakultät betrachten, was hier jedoch nicht erfolgen kann.

Wittenberg Nachdem Gisenius am 20. Juli 1601 an der Universität Wittenberg immatrikuliert worden war, studierte er vorrangig an der philosophischen Fakultät3 und wurde am 19. März 1605 zum Magister promoviert. Daß sein eigentliches Ziel die Theologie gewesen ist und er daher auch an dieser oberen Fakultät an Lehrveranstaltungen teilgenommen haben wird, kann hier zunächst außer Betracht bleiben. Das Magisterexamen berechtigte Gisenius, private Disputationen durchzuführen. Es sind aus dieser Zeit handschriftlich nur zwei Disputationsreihen überliefert, nämlich aus dem Jahr 1605 zur Logik des Aristoteles sowie aus dem Jahr 1606 zur Logik allgemein.4 Wenigstens die ersten Disputationen sind mit einem Tagesdatum versehen, so daß sich erschließen läßt, daß diese, bei gelegentlichen Abweichungen, wöchentlich stattgefunden haben. Beide Disputationsreihen haben aus je 16 Veranstaltungen bestanden. Dabei haben in beiden Jahren jeweils acht Studenten zweimal als Respondenten mitgewirkt. Ein Student, nämlich der 1603 in Wittenberg immatrikulierte Gottschalk Hecker aus Lemgo, hat sich in beiden Jahren je zweimal als Respondent beteiligt, während in der Aristotelesreihe zwei Studenten sich abgelöst haben, also nur einmal respondiert haben. Wir kennen daher die Namen von 16 Studenten, die in den Jahren 1605 und 1606 unter Gisenius privatim respondiert haben. Es sollen nunmehr hier wie an den folgenden Wirkungsstätten von Gisenius die Herkunft und der spätere Berufserfolg der Studenten vorgestellt werden, die unter Gisenius respondiert haben.

3 Heinz Kathe: Die Wittenberger Philosophische Fakultät 1502–1817. Köln u. a. 2002 (Mitteldeutsche Forschungen 117); zur Geschichte dieser Universität ist im ganzen immer noch grundlegend Walter Friedensburg: Geschichte der Universität Wittenberg. Halle a. S. 1917. 4 Johannes Gisenius: Disputationes in logicam Aristotelis habitae. In: Universitätsbibliothek Marburg, Mscr. 597, Teil E; ders.: Disputationes logicae habitae. Ebd., Teil F.

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Bernhart Jähnig

Trotz der geringen Zahl von nur 16 Studenten zeigt sich im Blick auf den Universitätsort insofern eine zu erwartende landschaftliche Herkunft,5 als aus der Mark Brandenburg vier und aus Ostfalen (Altmark, Magdeburg, Halberstadt) drei Respondenten stammten. Daß niemand aus Kursachsen kam, also aus dem Land, zu dem Wittenberg selbst gehörte, ist wohl dem Zufall der geringen Zahl zuzuschreiben. Außer aus den welfischen Landen sind auch aus Lemgo je zwei Respondenten gekommen, also aus der Stadt, in der Gisenius vor seinem Universitätsstudium seine Gymnasialbildung genossen hat. Zu den beiden Lemgoern gehörte der schon genannte Gottschalk Hecker, dessen verwitwete Schwester Catharina (1590–1625) er 1612 geheiratet hat.6 Wie Hecker gehörte auch der zweite Lemgoer, Barthold Prott, zu einer Ratsherrenfamilie, über den jedoch außer der Fortsetzung seines Studiums in Gießen nichts ermittelt werden konnte. Von den weiteren Respondenten der beiden privaten Disputationsreihen kamen je einer aus Franken, Thüringen, Mecklenburg, Schleswig-Holstein und Schweden. Versuchen wir den Erfolg des Studiums am späteren Beruf zu messen, dann finden wir acht in einem Pfarramt, von denen Heinrich Julius Strube (1586–1629)7 später sogar Universitätsprofessor in Helmstedt wurde. Von diesen acht sind sechs in ihre Heimatlandschaften zurückgekehrt, während die beiden aus Nordhausen und Quedlinburg stammenden Respondenten auf Pfarrstellen in Holstein untergekommen sind. In der Reihe fällt ein adeliger Herr aus der Mark Brandenburg auf, Hans Georg (d. Ä.) von Ribbeck, der schon in den 1590er Jahren sechs Jahre lang in Wittenberg, Leipzig und Straßburg studiert hatte, ehe er sich zu Gisenius’ Zeit in Frankfurt an der Oder und Wittenberg erneut einschreiben ließ; später ist er beim brandenburgischen Kurfürsten in verschiedenen Ämtern zu finden8. Für sechs Respondenten hat sich nichts ermitteln lassen.9 5 Nur für Wittenberg gibt es eine Untersuchung und kartographische Darstellung wie von Heinz Prokert †, Gottfried Langer, Charlotte Prokert: Vom Einzugsbereich der Universität Wittenberg (1502–1812). Teil 1–2. Halle (Saale) 1967–1973. 6 Heiratsrezeß vom 30. August 1612. Abschrift in Stadtarchiv Lemgo: Pr., G 37 I; Leichenpredigt in StUB Göttingen: Conc. fun. 119, Nr. 3. 7 Album Academiae Helmstadiensis. Bd. 1/1. Bearb. von Paul Zimmermann. Hildesheim 1926, S. 383. 8 Peter Bahl: Der Hof des Großen Kurfürsten. Köln u. a. 2001, S. 564 u. ö. 9 In folgenden Nachschlagewerken konnten Einträge gefunden werden, aus denen hier keine Einzelnachweise gegeben werden können: Friedrich Wilhelm Bauks: Die evangelischen Pfarrer in Westfalen von der Reformationszeit bis 1945. Bielefeld 1980; Philipp Meyer: Die Pastoren der Landeskirchen Hannovers und Schaumburg-Lippes. Bd. 1–3. Göttingen 1941–1953; Georg Seebaß, Friedrich-Wilhelm Freist: Die Pastoren der Braunschweigischen Evangelisch-Lutherischen Landeskirche. Bd. 1–2. Wolfenbüttel 1969–1974; Johannes Ramsauer: Die Prediger des Herzogtums Oldenburg. Oldenburg 1909; Otto Friedrich Arends: Gejstlicheden i Slesvig og Holsten fra Reformationen til 1864. Bd. 1–3. Kopenhagen 1932; Gustav Willgeroth: Die Mecklenburg-Schwerinschen Pfarren seit dem dreißigjährigen Kriege. Bd. 1–3. Wismar 1924–1937; Georg Krüger: Die Pastoren im Lande Stargard seit der Reformation. In: Meklenburgische Jahrbücher 69 (1904), S. 1–270; Die Evangelischen Geistlichen Pommerns. Auf Grund des Steinbrück-Berg’schen Mskr. bearb. von Hans

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Darüber hinaus sind 14 öffentliche Disputationen bekannt, die Gisenius in Wittenberg veranstaltet hat und von denen Einzeldrucke überliefert sind. Von deren Respondenten kam auch nur einer aus Kursachsen, dagegen drei aus Ostfalen und sogar fünf aus den welfischen Landen.10 Schließlich beteiligten sich je einer aus dem übrigen Niedersachsen, aus Westfalen (Dortmund), Mecklenburg, Riga und Schweden. Bei den Respondenten öffentlicher Disputationen kann angenommen werden, daß sie öfter einem formalen Abschluß ihres Studiums näher standen als die Respondenten privater Disputationen. Daher ist es nicht erstaunlich, daß bei diesen 14 der Anteil derjenigen, die sich später in einer beruflichen Stellung11 nachweisen lassen, größer ist als bei den privaten Respondenten. Von den 14 hat sich nur für den Mecklenburger keine Stelle finden lassen. Während sich für den Rigenser M. Johannes Stille ein Pfarrdienst im niedersächsischen Lüchow wenigstens als möglich ermitteln ließ, finden sich alle anderen zwölf auf Pfarrstellen in ihren Heimatlandschaften. Von diesen ging der Niedersachse M. Nicolaus Hardkopf, der wie Gisenius 1609 in Wittenberg Adjunkt geworden war, einige Jahre später an St. Nicolai in Hamburg.

Moderow, Ernst Müller. Bd. 1–2. Stettin 1903–1912. Bd. 3/1–2, bearb. von Helmuth Heyden. Greifswald 1956–1959; Helmuth Heyden: Pommersche Geistliche. [Ergänzungen]. Köln/Graz 1965; Hugo Richard Paucker: Ehstlands Geistlichkeit in geordneter Zeit- und Reihefolge. Reval 1849; Otto Fischer: Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg. Bd. 1–2/2. Berlin 1941; Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 1–10. Leipzig 2003–2009; Reinhold Grünberg: Sächsisches Pfarrerbuch. Bd. 1–2. Freiberg 1940; Matthias Simon: Bayreuthisches Pfarrerbuch. München 1930; ders.: Ansbachisches Pfarrerbuch. Lf. 1–3. Nürnberg 1955–1957; Albert Rosenkranz: Das Evangelische Rheinland. Bd. 2. Düsseldorf 1958; Georg Biundo: Die evangelischen Geistlichen der Pfalz seit der Reformation. Neustadt/Aisch 1968; Marie-Joseph Bopp: Die evangelischen Geistlichen und Theologen in Elsaß-Lothringen seit der Reformation. Bd. 1–3. Neustadt/Aisch 1959– 1965; Baden-Württembergisches Pfarrerbuch. Bd. 1–3. Stuttgart 1979–1993; Ulmer Pfarrerbuch, Hs. im Stadtarchiv Ulm; Ernst Wagner: Die Pfarrer und Lehrer der Evangelischen Kirche A. B. in Siebenbürgen. Bd. 1. Köln u. a. 1998. Außerdem wurden folgenden studentischen Verzeichnissen Angaben entnommen: Wilhelm Diehl: Suchbuch für die Gießener Universitätsmatrikel nebst Ergänzungen dazu von 1605 bis 1624. In: Mitteilungen der Hessischen Familiengeschichtlichen Vereinigung 6 (1940–1941), S. 267–312; August Woringer: Die Studenten der Universität Rinteln (Academiae Ernestina). Leipzig 1939; Gerhard Schormann: Rintelner Studenten des 17. und 18. Jahrhunderts Rinteln 1981 (Schaumburger Studien 42). 10 Besitzgeschichtlich ist bemerkenswert, daß das Exemplar der öffentlichen Disputation vom Dezember 1605 von Justus Widemann aus Peine in der British Library, London, den handschriftlichen Besitzvermerk von Ananias Hoetenschlebius aus Quedlinburg trägt, der wie Widemann 1605 als Respondent an den privaten Disputationen von Gisenius mitgewirkt hat. 11 Auch wenn die Themen der Disputationen den Fächern der Philosophischen Fakultät zuzuordnen sind, strebte die Mehrzahl dieser Respondenten den Beruf als Pfarrer an, wie gleich zu sehen sein wird. Verzeichnisse von Juristen oder Medizinern, die bisher weit weniger als Pfarrerbücher vorliegen, wurden daher nicht kontrolliert.

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Lemgo Nachdem Gisenius bald nach seiner Magisterprüfung sich mit dem specimen eruditionis habilitiert haben wird, denn bereits im Februar 1606 hat er mit dem Abhalten von Vorlesungen begonnen, wurde er am 18. Oktober 1609 Adjunkt der Fakultät. Etwa zu dieser Zeit erreichten ihn Berufungen auf die Direktorenstellen zweier westfälischer Gymnasien, nämlich Dortmund und Lemgo. Als ehemaliger Lemgoer Gymnasiast hat er sich verständlicherweise für die lippische Handelsstadt entschieden. Die Berufung erfolgte zu der Zeit einer für Lemgo in herrschafts- und konfessionspolitischer Hinsicht angespannten Lage.12 Die Bemühungen Graf Simon VI. zur Lippe, die „Zweite Reformation“ auch in Lemgo durchzusetzen, hatten keinen Erfolg, so daß bis heute die Evangelisch-Reformierte Landeskirche Lippe über eine lutherische Klasse (Kirchenkreis) für Lemgo verfügt. Die Auseinandersetzungen des Jahres 1609 hatten zunächst dazu geführt, daß aus diplomatischen Gründen Sylvester Pribenius (um 1578–1627)13 als Rektor des Gymnasiums und andere führende lutherische Persönlichkeiten die Stadt verließen. Daher wurde die Neuberufung nötig. Der neue Rektor kann zwar nicht die Streitigkeiten ausgelöst haben, wie die lippische Heimatforschung teilweise behauptet hat, da er erst im Februar 1610 in Lemgo seinen Dienst aufgenommen hat, doch hat er stets in Auseinandersetzung mit Katholiken und Reformierten einen eindeutig lutherischen Standpunkt verfochten. Das bestimmte auch Methode und Inhalt seiner Lehrveranstaltungen am Gymnasium Lemgo.14 An den angeseheneren Gymnasien, auch wenn sie wie Lemgo nicht den Rang eines Akademischen Gymnasiums oder Gymnasium illustre hatten, wurden in einer beabsichtigten Nähe zum zeitgenössischen Wissenschaftsbetrieb Disputationen durchgeführt. Gisenius hat diese Unterrichtsmethode in Lemgo intensiviert und in den Dienst der genannten Auseinandersetzungen um die Lehre der lutherischen Orthodoxie gestellt. Diese inhaltliche Seite soll hier außer Betracht bleiben, vielmehr soll mit den Lemgoer Disputanten wiederum ein gehobener Schülerkreis in den Blick genommen werden. Gisenius hat in den fünf Jahren seiner Lemgoer Tätigkeit, von Juli 1610 bis Juli 1615, zwei öffentliche Disputationsreihen veranstaltet, die theologische bestand aus 23, die philosophische aus 26 Sitzungen, die jeweils an zwei Tagen und in wechselnden Abständen durchgeführt

12 Heinz Schilling: Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe. Gütersloh 1981. 13 Er wurde anschließend von 1610 bis 1623 Professor für Logik und Ethik am Akademischen Gymnasium Stadthagen und an der Universität Rinteln. Willy Hänsel: Catalogus Professorum Rinteliensium. Rinteln 1971 (Schaumburger Studien 31), Nr. 116. Im Blick auf die Ursache der Entlassung von Pribenius und anderen steht die Aussage, das Gymnasium mit seinem Rektor Pribenius stünde der reformierten Theologie nahe – so Gerhard Schormann: Academia Ernestina. Die schaumburgische Universität zu Rinteln an der Weser (1610/21–1810). Marburg 1982, S. 60 f., 79 f. – , auf wackligen Füßen. 14 Vgl. Schilling (Anm. 12), S. 248–251.

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wurden.15 Fast alle Respondenten haben je in einer theologischen und einer philosophischen Disputation geantwortet, nur Heinrich Vulpius (†1647), der spätere Professor am Gymnasium Reval,16 kam nur in einer philosophischen Disputation zum Zuge. Zwei Respondenten, nämlich Arnold Blanckenforth und Heinrich Tetzel, hatten je zweimal zu antworten. Zwei weitere Respondenten, nämlich Konrad Northmann und Johannes Zisich, hatten noch eine zweite philosophische Disputation, also insgesamt drei. Ein großer Teil der Respondenten hatte sich bereits vor dem Auftritt in Lemgo an einer Universität immatrikuliert, die meisten zogen spätestens danach nach Helmstedt, Rostock oder Wittenberg. Im ganzen zeigt dieses Aufgebot an Respondenten, daß man in Lemgo unter der Leitung von Gisenius für eine Öffentlichkeit um hohe fachliche Leistungsfähigkeit bemüht war. Auch wenn die Mehrzahl der Respondenten unmittelbar von einer Universität nach Lemgo gekommen ist, fragen wir nach deren eigentlicher landschaftlicher Herkunft. Von den 22 Respondenten kam die größte Gruppe, nämlich sechs Personen, aus Lemgo selbst, vier weitere aus dem übrigen Westfalen. Drei kamen aus den welfischen Landen, zwei aus dem übrigen Niedersachsen einschließlich der Schaumburgischen Lande. Je zwei weitere stammten aus Schleswig-Holstein und Pommern, je einer aus Ostfalen und der Mark Brandenburg. Hinsichtlich der Anziehungskraft des Lemgoer Gymnasiums zeigt sich zweierlei, nämlich zum einen die Bedeutung von Lemgo selbst und seiner Umgebung, zum anderen, daß aber etwa ebenso viele aus entfernteren Landschaften zur öffentlichen Disputation nach Lemgo kamen. Versuchen wir noch zu berücksichtigen, wer nach seiner Immatrikulation an einer Universität als Respondent bei Gisenius in Lemgo erschienen ist, dann stellen wir trotz einer größeren Dunkelziffer (fünf ) fest, daß wenigstens zehn bereits vorher in Helmstedt immatrikuliert waren, zwei auch in Frankfurt an der Oder, wobei der schon genannte Arnold Blanckenforth je zweimal vor und nach 1611 in Lemgo respondiert hat.17 Fragen wir nun, wer von den Lemgoer Respondenten unter Gisenius nach einem Universitätsstudium einen Beruf hat erreichen können, dann ist festzuhalten, daß wenigstens bei sieben von 22, also fast einem Drittel, sich nichts gefunden hat, wobei die oben 15 Je eine vollständige Reihe der Texte hat sich erhalten in der Gymnasial-Bibliothek Lemgo: Aw 21 a und Aw 21 b: Johannes Gisenius: Disputationum theologicarum prima [usw. bis:] vigesima tertia. Lemgo 1610–1615; ders.: Quaestionum philosophicarum disputatio prima [usw. bis:] vigesima sexta. Lemgo 1610–1615. Einzelne Drucke sind auch andernorts nachgewiesen. 16 Seit 1632; vgl. Gotthard von Hansen: Geschichtsblätter des revalschen Gouvernements-Gymnasiums. Reval 1881, S. 182 f. 17 Gisenius selber ist ein Jahr nach seiner Immatrikulation in Wittenberg nach Lemgo zurückgekehrt, um unter dem damaligen Rektor Sylvester Pribenius zu disputieren. Theses disputationis tertiae, quae est de uno et triuno deque diversis logicis, mundo, virtute morali in genere et affectionibus entis metephysici simplicibus. Praeses: M. Sylvester Pribenius, Rector, Resp.: Johannes Gisenius Dissensis. Lemgo 13./14. Sept. 1602. Stadtarchiv Lemgo, Gymn.-Bibl. Zu diesem Zeitpunkt wird er kaum geahnt haben, daß er einmal Nachfolger von Pribenius werden würde.

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gemachte Einschränkung zu wiederholen ist, daß außerhalb von Pfarrdienst und Schule keine Ermittlungen angestellt wurden. Als Erfolg ist anzusehen, daß drei Respondenten später Professoren der Universität Rinteln und damit Kollegen von Gisenius wurden, nämlich die aus Lemgo stammenden Juristen Johannes Möllenbeck (1592–1624) und Johannes Rörentorph (um 1595–1636) sowie der Mediziner Ernst Nitzen (um 1590– nach 1647) aus Celle.18 Die übrigen wurden Pfarrer in Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, teilweise nachdem sie vorher einige Jahre im Schuldienst gewesen waren.

Gießen Im Sommer 1614 hat Gisenius seine Lehrtätigkeit in Lemgo für einige Monate unterbrochen, um sich am 10. Juli als Doktorand an der noch jungen Universität Gießen19 zu immatrikulieren.20 Das war die formelle Voraussetzung, um dort den Doktor der Theologie zu erwerben. Dazu disputierte er unter dem Vorsitz von Johannes Winckelmann (1551–1626) am 21. Juli 1614 über die Prädestination der Söhne Gottes für das ewige Leben. Die Thesen dieser Disputation sind 1617 im Band 6 der Gießener theologischen Disputationen nachgedruckt worden. Doch zunächst kehrte Gisenius nach Lemgo zurück. Nach erfolgreichen Berufungsverhandlungen im Frühjahr 1615 konnte er sich im Juli in Lemgo verabschieden und in Gießen zunächst vertretungsweise eine zusätzliche fünfte Professur für Theologie übernehmen. Erst im letzten Quartal 1616 erscheint er auf der regulären vierten Professur, ehe er im September 1617 wegen eines Todesfalls auf die dritte Professur aufrücken konnte, die mit dem Fach Hebräisch verbunden war.21 Bald nach seiner Ankunft in Gießen eröffnete er im August 1615 eine Disputationstätigkeit, die im Laufe der folgenden Jahre intensiver wurde. Aus den vier Jahren von August 1615 bis August 1619, in denen Gisenius in Gießen gelehrt hat, sind 112 öffentliche Disputationen überliefert. Drei von diesen sind in der Reihe der schon genannten Gießener theologischen Disputationen erschienen.22 Fünf Disputationen sind nur als Einzel18 Hänsel (Anm. 13), Nr. 37, 41 und 87. 19 Kurze Einführung von Peter Moraw: Kleine Geschichte der Universität Gießen 1607–1982. Gießen 1982; grundlegend für die Frühzeit immer noch Wilhelm Martin Becker: Das erste halbe Jahrhundert der hessen-darmstädtischen Landesuniversität. In: Die Universität Gießen von 1607 bis 1907. Bd. 1. Gießen 1907, S. 1–364; ferner Anton Schindling: Die Universität Gießen als Typus einer Hochschulgründung. In: Academia Gissensis. Hg. von Peter Moraw, Volker Press. Marburg 1982, S. 83–113. 20 Diehl (Anm. 9), S. 281. 21 Vgl. Becker (Anm. 19), S. 135. 22 Disputationum theologicarum de praecipuis coelestis doctrinae capitibus et inprimis horum temporum controversiis in academiae Giessena publice habitarum Tomus 6, ed. a Johanne Winckelmanno, Balthasare Mentzero, Johanne Gisenio. Gießen 1617, 21623.

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drucke erhalten. Alle übrigen, von denen es auch vereinzelt Separatdrucke gibt, sind als Kapitel in umfangreichere Buchveröffentlichungen eingegangen, die im folgenden genannt werden sollen. Sein erstes Buch über die ‚Irrtümer der reformierten Theologen‘ ist in den Monaten Mai bis September 1617 aus 21 Disputationen entstanden23 und setzte sich im Rahmen der noch jungen Gießener Tradition mit den reformierten Gegnern an der Hessen-Kasseler Universität Marburg und am akademischen Gymnasium Herborn in Nassau auseinander. Unmittelbar nach Beendigung dieser Disputationsreihe begann Gisenius im Oktober 1617 seine Auseinandersetzung mit der römisch-katholischen Theologie, die in jener Zeit besonders an den Jesuitenhochschulen vertreten wurde. Hieraus ist sein umfangreichstes Werk entstanden, das in drei Bänden 67 Disputationen enthält.24 Beide Werke sind in Gießen ein zweites Mal aufgelegt worden, nachdem er diese Universitätsstadt bereits verlassen hatte. Zeitlich früher, nämlich schon im Dezember 1615, hatte er eine Disputationsreihe begonnen, in der er in zeitlich größeren Abständen unter dem angriffsfreudigen Titel, daß ‚reformierte Lehrinhalte zu fliehen seien‘ („de Zwinglio-Calvinismo fugiendo“), die theologische Auseinandersetzung seinen Schülern zu vermitteln suchte. Neun Disputationen, die bis Herbst 1617 durchgeführt worden waren, faßte er zu einem ersten Band unter diesem Titel zusammen, der aber erst vier Jahre später in Gisenius’ nächster Hochschulstadt, nämlich in Straßburg, erschienen ist.25 Neben den biblischen Schriften bildete die Interpretation von Martin Luthers Kleinem Katechismus eine wichtige Grundlage in der theologischen Auseinandersetzung, so daß dieser als ‚Kleine Bibel‘ bezeichnet wurde.26 Eine erste, noch kürzere Abhandlung hatte er schon 1613 in Lemgo veröffentlicht, ehe er diese in Gießen und später in Straßburg durch Disputationen stark ausbaute, wobei das Wort „defensio“ wiederum auf die kontroverstheologische Auseinandersetzung hinweist.27 In Gießen sind noch die ersten sieben Disputationen abgehalten worden. Diese haben zwar keine Tagesdatierung, sie dürften jedoch in Gisenius’ letzter Zeit in Gießen entstanden sein, da sie nach Ankunft am neuen Ort unmittelbar fortgesetzt wurden. Versuchen wir nun die landschaftliche Herkunft von Gisenius’ Gießener Disputanten zu erfassen, indem wir alle vorgestellten Werke zusammenfassend betrachten. Die 112 23 Johannes Gisenius: Calvinismus, hoc est Errorum Zwinglio-Calvinianorum methodica enumeratio et brevis, pia et modesta Refutatio. Gießen 1617, 21620. 24 Johannas Gisenius: Papismus, hoc est Errorum pontificiorum methodica enumeratio et brevis, pia atque modesta Refutatio. Bd. 1–3. Gießen 1618–1619, 21623–1625. 25 Johannes Gisenius: De Zwinglio-Calvinismo fugiendo partes duae. Bd. 1. Straßburg 1621. Eine weitere Disputation, in der am 13. Mai 1618 Ägidius Konrad Gualtperius für seine Promotion zum Doktor der Theologie als designierter Superintendent von Jever respondiert hat, ist erst in Bd. 2 als Disputation 9 nachgedruckt worden, als Präses und Respondent Gießen längst verlassen hatten. 26 Vgl. Schilling (Anm. 12), S. 249 f. 27 Johannes Gisenius: Hierognomologia, hoc est praecipua scripturae sacrae dicta, doctrinae Christianae capitum sedem et fundamenta continentia, quibus evincitur, esse Catechismum b. Lutheri parva Biblia. Lemgo 1613; ders.: Pia et perspicua Catechismi beati Lutheri defensio. Straßburg 1620.

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Disputationen entfallen auf 69 Respondenten. Daraus folgt, daß ein bedeutender Anteil der Studenten mehr als einmal unter Gisenius respondiert hat. Je nachdem, ob wir deren Anzahl oder die Anzahl der von ihnen verteidigten Disputationen betrachten, ergeben sich hinsichtlich der landschaftlichen Herkunft gewisse Abweichungen. Hessen kann trotz seiner territorialen und konfessionellen Vielfalt im ganzen als ‚Sitzland‘ der Universität Gießen angesehen werden. Aus diesem haben acht Respondenten elf Disputationen verteidigt. Aus dem westlichen Niedersachsen, vom Schaumburger Land bis zum Osnabrückschen, kamen ebenfalls acht Studenten, die jedoch 18 Disputationen verteidigt haben. Noch zahlreicher war das räumlich angrenzende Westfalen vertreten, von dort kamen 13 Respondenten vorwiegend aus Minden-Ravensberg und den Grafschaften Lippe und Mark. Diese haben 28 Disputationen verteidigt und verfügen damit über den größten landschaftlichen Anteil. Anzahlmäßig mit Hessen vergleichbar ist der Raum des heutigen Schleswig-Holstein, von dort haben sechs Studenten elfmal respondiert. Kleinere Respondentenzahlen kamen einmal aus Franken, nämlich vier Personen für sechs Disputationen, ferner je vier Studenten aus den welfischen Landen, d. h. dem östlichen Niedersachsen, und aus Schwaben, die viermal verteidigt haben, und schließlich haben aus Kursachsen drei Personen sechsmal respondiert. Aus zahlreichen anderen Landschaften von den baltischen Ländern bis zum Elsaß haben je einer oder zwei Respondenten Disputationen verteidigt. Der große Anteil der vorgestellten Landschaften läßt sich aus zwei Gründen verstehen. Im westniedersächsisch-westfälischen Raum, aus dem Gisenius stammte, mag sein Ansehen für das nicht allzu entfernt liegende Gießen als Studien- und Disputationsort anziehend gewirkt haben. Darüber hinaus bleibt zu beachten, daß es in dem großen Raum von Westfalen bis Schleswig-Holstein zu der Zeit außer Helmstedt noch keine Volluniversität gegeben hat. Das war eine Voraussetzung, die den ehrgeizigen Fürsten Ernst, Grafen zu Holstein-Schaumburg, bewogen hat, die Gründung einer Universität in seiner Wesergrafschaft zu betreiben, was 1621 in Rinteln gelang,28 wie wir unten sehen werden. Aus dem dargestellten zahlenmäßigen Verhältnis zwischen Respondenten und Disputationen folgt, wie gesagt, daß es eine Reihe von Respondenten gegeben hat, die mehr als zweimal unter Gisenius während seiner vier Gießener Jahre disputiert haben. Spitzenreiter ist der Dithmarscher Petrus Boie/Boetius (†1634), der bereits 1612 am Gymnasium Lemgo unter ihm je eine theologische und philosophische Disputation bestritten hatte, dann nach einem Studienjahr in Helmstedt 1614 nach Gießen kam und 1616–1618 fünfmal unter Gisenius disputierte. Im Papismus-Werk ist er wie allerdings manch anderer allein zweimal zu finden. Dennoch lassen die bisher bekannten Quellen nichts Näheres über die Beziehungen zwischen dem Lehrer und diesem Schüler erkennen. – Aus Westfalen sind hier vier Respondenten vorzustellen. Von diesen kam Reinhold Seher (1592–1651) aus Dortmund, einer Stadt mit einem bedeutenden Gymnasium, er disputierte unter Giseni28 Vgl. Bernhart Jähnig: Gründung und Eröffnung der Universität Rinteln. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 45 (1973), S. 351–360.

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us viermal in Gießen und machte dort sein Magisterexamen. Wohl vor einer festen Anstellung hat er später in Rinteln noch einmal unter Gisenius verteidigt. Wennemar Elbers (1590–1671) stammte aus Dorsten oder aus Hattingen in der Grafschaft Mark und disputierte offenbar schon als Magister dreimal, vorher hatte er in Marburg und Tübingen studiert. Johannes Cothmann (1595–1650) aus Herford disputierte ebenfalls dreimal, später gelangte er über Rostock nach Wittenberg, wo er 1626 zum Doktor der Theologie promoviert wurde. Johannes Polemann schließlich stammte aus Minden, hat offenbar als Minderjähriger mit dem Studium in Wittenberg begonnen, ehe er 1616 nach Gießen kam, wo er ebenfalls dreimal unter Gisenius respondierte, Weiteres war nicht zu ermitteln. Es ist wohl eher Zufall, daß alle genannten Westfalen ebenfalls zweimal im PapismusWerk zu finden sind. Auch aus dem angrenzenden westlichen Niedersachsen sind vier Respondenten zu nennen, davon drei aus Osnabrück. Gerhard Gravius (1596–1658) verteidigte viermal in verschiedenen Disputationsreihen, ging später nach Greifswald, wo er 1622 Magister wurde. Otto Brawe (†1639), über dessen Bildungsgang sonst nichts ermittelt wurde, disputierte 1617/18 dreimal schon als Magister. Jakob Durfeld (1591–1657), ein weiterer Osnabrücker, wurde 1617 in Gießen Magister und disputierte ebenfalls dreimal unter Gisenius, dies tat er später auch noch einmal in Rinteln. Schließlich ist der Rintelner Pfarrerssohn Hermann Hasfort zu nennen, der über das Gymnasium illustre Stadthagen und die Universität Helmstedt nach Gießen kam und ebenfalls dreimal unter Gisenius disputierte, auch über ihn ließ sich Weiteres nicht finden. – Von außerhalb der genannten Herkunftsgebiete ist zunächst der aus Marburg gekommene, unten zu nennende Ägidius Konrad Gualtperius (Walper) vorzustellen, der dreimal unter Gisenius respondiert hat, darunter seine Doktordisputation.29 Ferner sind drei weitere Respondenten zu nennen, die je dreimal unter Gisenius respondierten. Das waren Johannes Chilian aus Trappstadt in Franken, der vorher in Wittenberg studiert hatte, dann Thomas Wehner (†1633/34) aus Rochlitz in Sachsen, der von Gießen nach Rostock ging, wo er den Magistergrad erwarb, ehe er in Rinteln wieder Anschluß an Gisenius fand, und schließlich als bekanntester der Masure Cölestin Mislenta (1588–1653), der von Königsberg über die sächsischen Universitäten nach Gießen gekommen war, auch um bei Gisenius seine Hebräischstudien zu intensivieren. 1617/18 hat er dreimal unter Gisenius respondiert, ehe er nach der Disputation am 17. Dezember 1618 zum Doktor der Theologie promoviert wurde. Fragen wir nach dem Erfolg des Studiums der Respondenten, indem wir ihre späteren beruflichen Stellungen in den Blick nehmen, dann zeigt sich, daß von 69 Disputanten für 20 nichts ermittelt werden konnte. Hinsichtlich dieses ungünstig erscheinenden Teilergebnisses ist immerhin zu bemerken, daß wenigstens zehn von diesen 20 den Magister Artium erworben haben. Zu diesem Ergebnis ist zu bemerken, daß bei einem Theologieprofessor in der Regel Studenten der Theologie respondiert haben. Doch sind Abweichungen vorgekommen, auch wenn sie sich hier bisher nicht haben nachweisen lassen. Nicht 29 Vgl. Anm. 25.

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alle werden eine Pfarrstelle bekommen haben, sondern sind Lehrer geblieben wie Jakob Durfeld aus Osnabrück, der trotz eifrigen Disputierens und auch als Magister nicht über eine Rektorstelle hinausgekommen ist.30 Die Lehrer sind in den meisten Landschaften weit weniger gut erschlossen als die Pfarrstelleninhaber. Und selbst bei den Pfarrerbüchern gibt es Lücken, so daß auch daher eine Dunkelziffer geblieben ist.31 Als Erfolg wird es jeder Professor angesehen haben und auch heute noch ansehen, wenn ein Schüler früher oder später selbst Professor wird. Unter den Gießener Respondenten von Gisenius waren das sieben. Mehr auf der Durchreise war Alexander Christiani (1587–1637), der nach Abschluß seines Studiums in Greifswald sich unter Gisenius als Respondent an der Papismus-Reihe beteiligte, bevor er kurz danach in Greifswald zum Professor der Mathematik, 1619 der Logik ernannt wurde.32 Schon behandelt wurde als eifriger Repondent der Herforder Johannes Cothmann, der von Gießen nach Rostock ging und 1626 zum Professor der Theologie berufen wurde.33 Statius Fabricius (1591– 1651) aus Diepenau im Hochstift Minden34 hatte als Student und danach eine bewegte Laufbahn. Diese führte ihn 1618 auch nach Gießen, wo er zweimal unter Gisenius disputierte; als Delmenhorster Hofprediger wurde er in Rinteln promoviert, 1638 schließlich Universitätsprofessor in Helmstedt. Weiter zu nennen ist der Elsässer Isaac Fröreisen (1590–1632),35 Gisenius’ späterer Kollege in Straßburg, der bereits im Dezember 1615 unter ihm disputiert hat. Eine ungewöhnliche Laufbahn hatte der aus dem Oldenburger Friesland stammende Meno Hanneken (1595–1671), der nach einigen Semestern in Gießen zunächst Rektor in Oldenburg wurde, dann ab 1622 in Wittenberg studierte und 1626 an der wieder lutherisch gewordenen Universität Marburg zuerst Professor der Ethik, dann der Theologie wurde, ehe er nach zwei Jahrzehnten 1646 als Nachfolger von Nikolaus Hunnius als Superintendent nach Lübeck ging.36 Caspar Ebel (1595–1664) aus Gießen wurde nach einigen Stationen 1629 Professor der Logik auch in Marburg, zuletzt in Gießen.37 Am bekanntesten wurde schließlich der schon genannte Cölestin Mislen-

30 Woringer (Anm. 9), S. 32 Nr. 439. 31 Aus der Aufzählung in Anm. 9 geht hervor, daß einige Landschaften ganz fehlen, andere sind noch nicht abschließend bearbeitet. Schließlich weisen auch die älteren Pfarrerbücher Lücken auf, die durch die zu ihrer Zeit beschränkt zugänglichen Quellen bedingt sein mögen. 32 Johann Gottfried L. Kosegarten: Geschichte der Universität Greifswald. Bd. 1. Greifswald 1857, S. 235. 33 Etwas von Gelehrten Rostockschen Sachen 1 (1737), S. 190; 5 (1741), S. 719–734, 820–826, 875– 890; 6 (1742), S. 871–840. 34 Ausführliche Würdigung durch Michael Kusch: Statius Fabricius (1591–1651). In: Oldenburger Jahrbuch 91 (1991), S. 1–39. 35 Martin Schmidt: Art. Fröreisen, Isaak. In: Neue Deutsche Biographie 5 (1961), S. 654. 36 Heinrich Heppe: Art. Hanneken, Meno. In: Allgemeine Deutsche Biographie 10 (1879), S. 521 f. 37 Vgl. Hermann Schüling: Caspar Ebel (1595–1664), ein Philosoph der lutherischen Spätscholastik an den Universitäten Marburg und Gießen. Gießen 1971, S. 1–7.

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ta.38 Er wurde zurück nach Königsberg berufen, zunächst als Professor des Hebräischen, dann der Theologie. Er war im Herzogtum Preußen der entschiedenste Vertreter der lutherischen Orthodoxie gegen die reformierte Landesherrschaft und die unter dem Einfluß von Georg Calixt stehenden Kollegen. Darüber hinaus hat sich für Gisenius’ Respondenten bei bisher 40 nachweisen lassen, daß sie nach dem Studium früher oder später in eine Pfarrstelle gelangt sind. Von diesen haben 18 vor oder während ihres Theologiestudiums den Magistergrad an einer Artistischen Fakultät erlangt. Einer, nämlich der schon genannte Marburger Ägidius Konrad Gualtperius (1590–1634),39 wurde 1618 zum Doktor der Theologie promoviert und dann zum Superintendenten von Jever berufen. Eine besonders hohe Stellung im Kirchendienst erlangte Ägidius Hunnius (1595–1642)40 aus der bekannten Wittenberger Theologenfamilie, der nach der Promotion in Theologie 1623 Generalsuperintendent von Altenburg wurde. Vier weitere Pfarrer sind im Verlauf ihres Lebens zu Superintendenten oder Dekanen aufgestiegen, nämlich der Hesse Hermann Philipp Orth (†1659) zum Dekan von Lich, Johannes Binchius (1596–1671) aus Herford zum Senior der dortigen Pfarrerschaft, Petrus Kirchbach aus Freiberg (1590–1638) zum Superintendenten von Zwickau und Philipp Cöler (1592–1638) aus Crailsheim als Superintendent seiner Heimatstadt. Auch die meisten der übrigen Respondenten haben eine oder auch nacheinander mehrere Pfarrstellen in ihrem Herkunftsort oder ihrer Heimatlandschaft erhalten können. Es gab lediglich sechs Ausnahmen, die auswärts unterkamen. Der Westfale Wennemar Elbers wurde zunächst Pfarrer in Köln, 1622 in Wesel, der Hesse Johannes Hilgarter († vielleicht 1665) wurde Pfarrer an St. Jacobi in Göttingen, der schon genannte Kursachse Thomas Wehner erlangte Pfarrstellen zunächst in Bückeburg, dann bei der Äbtissin von Gandersheim, der Kurpfälzer Johannes Adam Roßbecher (†1631) war zuletzt Pfarrer im hessischen Wetter, Theodor Coster aus Soest wurde nach seiner Ordinierung in Helmstedt Pfarrer in einem südniedersächsischen Dorf und der Theologensohn Georg Schlüsselburg aus Wismar, dessen Vater schon sehr umtriebig gewesen war, gelangte auf eine Pfarrstelle in der holsteinischen Propstei Münsterberg.

38 Iselin Gundermann: Coelestin Mislenta. In: Altpreußische Geschlechterkunde NF 13, Jg. 30 (1982), S. 121–133; Thomas Kaufmann: Art. Myslenta, Coelestin. In: Neue Deutsche Biographie 18 (1997), S. 674 f. 39 Erwähnt u. a. in einem Artikel über seinen Vater, den Marburger Universitätsprofessor Otto Walper: Wilhelm Grotefend: Art. Walper, Otto. In: Allgemeine Deutsche Biographie 40 (1896), S. 769. Vgl. oben Anm. 25. 40 Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon. Bd. 2. Leipzig 1750, Sp. 1777.

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Straßburg Das Gymnasium illustre der Stadt Straßburg im Elsaß,41 das als Schule von Johann Sturm berühmt war, konnte jeden Vergleich mit den großen deutschen Universitäten sowohl hinsichtlich der Anzahl der Professoren als auch an Studenten aufnehmen, so daß auch daher mit Erfolg 1621 das kaiserliche Privileg erlangt werden konnte. Anders als an den anderen Universitäten waren die vier theologischen Lehrstühle nicht nach einem Rang, sondern nach den von ihnen zu behandelnden biblischen Büchern unterschieden. Als 1618 der Lehrstuhl für die alttestamentlichen Geschichtsbücher durch Tod verwaist war, fiel der Blick von Stadtobrigkeit und Gymnasium Straßburg auf Gisenius, von dem man sich auch eine Fortsetzung seiner in Gießen gepflegten kontroverstheologischen Arbeit erhoffte.42 Am 1. September 1619 wurde Gisenius in Gießen feierlich verabschiedet und gelangte nunmehr in eine wirkliche Großstadt im Süden Deutschlands, nachdem er bisher nur in kleineren Städten gelebt und gelehrt hatte. Das führte nicht nur hinsichtlich der äußeren Lebensumstände, sondern auch für seine Lehrtätigkeit zu auffälligen Veränderungen. Neben seinen Vorlesungen setzte er seine Disputationstätigkeit mit unverminderter Intensität fort. In Gießen hatte er die Verteidigung von Luthers Kleinem Katechismus nur bis zu einer siebenten Disputation führen können. In Straßburg wurde diese Disputationsreihe bis zur Disputation 23 weitergeführt und beendet, 1620 wurde das umfangreiche Werk gedruckt.43 In den Jahren 1615–1617 hatte er in Gießen über die ‚zu fliehenden Lehren der reformierten Theologie‘ disputieren lassen, in Straßburg setzte er diese Reihe mit 22 Disputationen fort. Die Gießener und die Straßburger Disputationen hat er dann in jeweils einem Band zusammengefaßt und 1621 veröffentlicht.44 Darüber hinaus hat Gisenius auch in Straßburg eine Reihe von öffentlichen Disputationen veranstaltet, deren Texte in kein größeres Werk eingegangen sind, erhalten haben sich Einzeldrucke von elf Disputationen. Insgesamt hat also Gisenius in den anderthalb Jahren, in denen er seine Professur in Straßburg wahrgenommen hat, 48 Disputationen durchgeführt, die von 38 verschiedenen Respondenten verteidigt worden sind. Die Dichte der Disputationsfolge ähnelt der in seinen vier Gießener Jahren. Fragen wir auch für Gisenius’ Straßburger Zeit nach der landschaftlichen Herkunft der Respondenten, dann bilden die elf Elsässer, von denen nur einer nicht aus Straßburg 41 Vgl. Anton Schindling: Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538–1621. Wiesbaden 1977; Gerhard Meyer: Zu den Anfängen der Straßburger Universität. Neue Forschungsergebnisse zur Herkunft der Studentenschaft und zur verlorenen Matrikel. Hg. von Hans-Georg Rott u. Matthias Meyer. Hildesheim u. a. 1989. 42 So der Professor des Rechts Joachim Cluten in: L’Université de Strasbourg. Hg. von Marcel Fournier und Charles Engel. Paris 1894 (Les Statuts et Privilèges des Universités Françaises 4/1), S. 368, 377. 43 Gisenius, Defensio (Anm. 27). 44 Gisenius, De Zwinglio-Calvinismo (Anm. 25). Bd. 1–2. Straßburg 1621.

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kam, und die neun Schwaben allein knapp die Mehrheit. Von den Schwaben stammten fünf aus der Reichsstadt Ulm einschließlich ihres großen Stadtgebietes. Dieses Übergewicht von Straßburger und Ulmer Studenten konnte darüber hinaus auch allgemein als kennzeichnend für die Herkunftsgebiete der Studierenden an der Straßburger Akademie festgestellt werden.45 Das zeigt auch, daß diese Städte sehr bevölkerungsreich waren. Während seiner Straßburger Zeit hatte Gisenius es übernommen, die dort studierenden Ulmer Studenten zu betreuen, auch wenn sie nicht seine Respondenten waren. Dies war deshalb auch Gegenstand seines Briefwechsels mit dem Ulmer Superintendenten Konrad Dieterich (1575–1639), mit dem er gemeinsam in Gießen zum Doktor der Theologie promoviert worden war.46 Fünf Respondenten kamen aus Hessen und Nassau, die sieben Mal disputierten. Überraschend mag es erscheinen, daß angesichts der kleinen Gesamtzahl drei Disputanten aus der Lausitz kamen, was wohl etwas zufällig ist. Je zwei Respondenten kamen aus der Pfalz und Franken. Aus dem gesamten nordwestdeutschen Raum, also Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, aus dem bisher die Mehrzahl von Gisenius’ Schülern stammten, hat keiner den Weg zu Gisenius als Disputant gefunden außer einem, nämlich Jodocus Widemann aus Peine, der schon mehrmals in Wittenberg unter Gisenius disputiert hatte und bereits seit 1615 eine Pfarrstelle im Braunschweigischen innehatte. Je ein Respondent kam aus Brandenburg, Pommern, Livland, Siebenbürgen und Ungarn, von denen letzterer zweimal disputiert hat. Während die neun schwäbischen, darunter die Ulmer Respondenten je nur einmal disputiert haben, war das bei den Straßburgern anders. Auf zehn Straßburger Respondenten entfielen 15 Disputationen. Unter diesen ragte Johannes Georg Dorsche (1597–1659) hervor, der dreimal disputiert hat. Er galt als Gisenius’ Lieblingsschüler in Straßburg,47 der ihn im Herbst 1620 auf seiner Reise zu den Tübinger Theologen begleitete, als es darum ging, hinsichtlich des Widerstandsrechts zwischen den Theologen beider Universitäten weitestmögliche Übereinstimmung zu erzielen. In Straßburg hat außerdem der Pfälzer Johann Adam Roßbecher (†1631) dreimal disputiert. Er war schon in der Papismus-Reihe in Gießen unter Gisenius beteiligt und ist ihm nach Straßburg gefolgt. Zwei weitere Gießener Studenten, nämlich Ludwig Dunte aus Reval und der Hesse Hermann Christoph Corvinus gen. Cranauge, haben erst in Straßburg je einmal unter Gisenius disputiert. Fragen wir nach dem beruflichen Fortkommen von Gisenius’ Straßburger Respondenten, ist zunächst festzustellen, daß dies bei insgesamt 38 Respondenten für elf nicht ermittelt wurde. Dieser Anteil ist geringer als bei den Gießenern, weil gerade bei Straßburg und Ulm als den bedeutendsten Herkunftsorten die Erschließung der Pfarrer gut ist. Bezeichnend für die bisher wenig befriedigende Lage in Hessen ist, daß von den elf Unbekannten 45 Vgl. Meyer (Anm. 41), S. 19. 46 Vgl. Jähnig, akademischer Lehrer (Anm. 1), S. 54. 47 Vgl. Wilhelm Horning: Dr. Johann Dorsch, Professor der Theologie in Straßburg im 17. Jahrhundert. Straßburg 1886, S. 2; Thomas Kaufmann: Art. Dorsche, Johann Georg. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Aufl. Bd. 2. Tübingen 1999, Sp. 955.

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allein vier aus Hessen stammten. Wenn wir uns nun den im Beruf Erfolgreichen zuwenden, lenken wir zunächst den Blick auf die künftigen Universitätsprofessoren. Das waren unter Gisenius’ Straßburger Respondenten zwei. Zum einen war das der schon genannte Johannes Georg Dorsche, der 1627 in Straßburg zum Doktor der Theologie promoviert und zum Universitätsprofessor berufen wurde, ehe er 1653 Professor primarius in Rostock wurde. Der andere war einer der drei Lausitzer, nämlich Johannes Schmidt (1594–1658)48 aus Bautzen, der in Wittenberg zum Doktor der Theologie promoviert und nach Gisenius’ Weggang Professor in Straßburg wurde. Während des Dreißigjährigen Krieges war er als Kirchenpräsident einer der führenden Theologen am Ort. Der Bedarf an evangelischen Theologen, den Straßburg und das Elsaß zu dieser Zeit hatten, zeigt sich darin, daß von den elf Elsässern unter Gisenius’ Respondenten neben Dorsche acht als Pfarrer und einer als Lehrer im Lande blieben, während nur bei einem der Verbleib unbekannt ist. Selbst bei den neun Schwaben gingen lediglich vier als Pfarrer zurück, während drei als Pfarrer im Elsaß blieben. Einer von diesen war Israel Mürschel (1592–1657), der als Pfarrer von Bischheim im gelehrten Straßburg des Dreißigjährigen Krieges eine größere Rolle spielte.49 Auch von den fünf aus Hessen und Nassau blieb einer als Pfarrer im Elsaß, ebenso der Pommer Jakob Thaumandrus (Wunderlich, †1634). Andere gingen jedoch in ihre Heimat zurück, so die beiden Pfälzer, von denen der schon mehrmals genannte Johannes Adam Roßbecher schließlich Pfarrer in Wetter in Hessen wurde. Von einem Franken wissen wir, daß er Pfarrer wurde ebenso wie Ludwig Dunte in Reval. Nur einer, nämlich Gotthard Leschenbrandt (1601–1661), wurde schließlich Superintendent von Heilbronn. Im Schuldienst blieben außer dem einen Straßburger noch der zweite Lausitzer, Urbanus Scultetus (1595–1632), der als Rektor in seine Heimatstadt Lauban zurückkehrte, sowie aus Siebenbürgen Valentin Franck (um 1590– 1648), der später dort Sachsengraf wurde. Es zeigt sich im ganzen, wenn wir die Lebensläufe von Gisenius’ Respondenten überblicken, ein ähnliches Bild wie bei den Gießenern, nämlich daß die große Mehrheit in einen Pfarrdienst gelangte.

Rinteln Gisenius war kaum in Straßburg angekommen, erreichte ihn eine erste Anfrage des aufstrebenden holstein-schaumburgischen Landesherrn Ernst, der im Jahre 1619 nicht nur die Reichsfürstenwürde erlangen konnte, sondern sich auch verstärkt bemühte, sein 1610

48 Johannes Wallmann: Art. Schmidt, Johann. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Aufl. Bd. 7. Tübingen 2004, Sp. 933 f. 49 Vgl. Achim Aurnhammer: Israel Murschels pietistischer Patriotismus. In: Literatur und Kultur im deutschen Südwesten zwischen Renaissance und Aufklärung. Hg. von Wilhelm Kühlmann. Amsterdam 1995 (Chloe 22), S. 219–243.

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in Stadthagen gegründetes Gymnasium illustre zu einer Volluniversität auszubauen.50 Ernst versuchte, das bisherige Lehrpersonal aus Stadthagen für den Neuanfang in Rinteln durch die Berufung von besonders angesehenen Gelehrten zu verstärken, die an den drei oberen Fakultäten die Stellung als Professores primarii erhalten sollten. Das gelang mit Gisenius für die Theologen, der diesen Rang vor Josua Stegmann (1588–1632) erhielt, der bereits seit 1617 in Stadthagen gelehrt hatte.51 Gisenius erhoffte sich in der Nachbarschaft der Heimat seiner Ehefrau Catharina, die aus Lemgo stammte,52 und auch in der Nähe seiner eigenen Osnabrücker Heimat eine Fortsetzung seiner bisher erfolgreichen Lehrtätigkeit. Die folgenden politischen und militärischen Ereignisse, die das Schaumburger Land besonders hart getroffen haben, haben das zu einem guten Teil verhindert. Nachdem die Universität am 17. Juli 1621 in Rinteln feierlich eröffnet worden war, starb der Landesherr ohne unmittelbaren Erben bereits im folgenden Jahr. Ein weiteres Jahr darauf vertrieben die Kriegsereignisse einen großen Teil der Professoren und Studenten, nur Gisenius hat ausgehalten. Das Restitutionsedikt von 1629 bedrohte den Bestand der Universität im ganzen, was erst 1633 nach einer Wende des Verlaufs des Krieges überwunden werden konnte. Als nach dem endgültigen Erlöschen des holstein-schaumburgischen Grafenhauses 1640 schließlich 1647 Schaumburg unter zwei Landesherren, nämlich Hessen und Lippe, geteilt wurde, war Gisenius inzwischen ein alter Mann geworden, der sich mit verschiedenen politischen und konfessionellen Anfeindungen auseinanderzusetzen hatte, die hier nicht weiter zu verfolgen sind53. Die Kriegsereignisse der zwanziger Jahre des 17. Jahrhunderts haben nicht verhindert, daß Gisenius in diesem Jahrzehnt mit Erfolg seine Disputationstätigkeit hat fortsetzen können, ehe diese danach deutlich zurückging und nicht mehr zu größeren Buchveröffentlichungen geführt hat. In den zwanziger Jahren sind drei Werke aus Disputationsreihen entstanden. Die Dichte der Disputationsfolge läßt sich auch hier nicht rekonstruieren, weil nur von wenigen Disputationen Einzeldrucke ermittelt werden konnten, die eine Tagesdatierung enthalten. Am 4. April 1624 widmete Gisenius seinem früheren Landesherrn Landgraf Ludwig von Hessen-Darmstadt sein Buch über die ‚Reinigung der Rintelner Universität von den Calvinisten‘.54 Dieses Buch ist aus zehn Disputationen erwachsen, 50 Helge Bei der Wieden: Fürst Ernst Graf von Holstein-Schaumburg und seine Wirtschaftspolitik. Bückeburg 1961 (Schaumburg-Lippische Mitteilungen 15), S. 48–60; Schormann, Academia Ernestina (Anm. 13), besonders S. 87–103. 51 Zu ihm und seiner Gegnerschaft nicht nur gegen Reformierte, sondern auch Antitrinitarier bzw. Sozinianer vgl. Schormann, Academia (Anm. 13), S. 60–75. 52 Wie Anm. 6. 53 Vgl. Jähnig, Gehalt (Anm. 1), S. 46–57; Gerhard Schormann: Aus der Frühzeit der Rintelner Juristenfakultät. Bückeburg 1977, S. 91–94; ders., Academia (Anm. 13), S. 126 f.; Jähnig, akademischer Lehrer (Anm. 1), S. 58 f. 54 Hier läßt sich fragen, ob sich Gisenius damit gegen die reformierten Neigungen an der Artistischen Fakultät, die schon in Stadthagen bestanden haben, wenden wollte, auf die Schormann, Academia (Anm. 13), S. 60–65, hinweist.

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die in den Jahren 1623–1624 gehalten worden sind.55 Über einen längeren Zeitraum entstand Gisenius’ Werk über das akademische Leben, das in zwei Bänden veröffentlicht und von denen der erste mehrmals neu gedruckt wurde.56 Der geänderte Titel des Neudrucks von 1627 macht etwas deutlicher, worum es inhaltlich geht, nämlich um die Rechtsverhältnisse von Universitätsgründungen, während Band 2 näher auf die Rintelner Verhältnisse eingeht. Die beiden Bände sind aus 15 und neun Disputationen entstanden. Schließlich ist ein drittes Werk, nämlich eine Meditation über den Weg zum Heil, zu nennen, das nach einem ersten Erscheinen57 sechs Jahre später mit neuen Respondenten in wesentlich erweiterter und damit stark überarbeiteter Form vorgelegt wurde.58 In der späteren Ausgabe werden die Namen der 21 Respondenten mit Herkunftsbezeichnungen aufgeführt, so daß diese vollständig in unserer Untersuchung berücksichtigt werden können. An dieser späteren Ausgabe haben 22 Respondenten mitgewirkt. Gisenius hat auch in Rinteln wie an seinen früheren Universitäten eine Reihe von Disputationen durchgeführt, die nur als Einzeldrucke überliefert sind. Das waren bis zum Jahr 1644 insgesamt 16, von denen sieben in die Zeit bis 1629, also seiner großen Buchveröffentlichungen fielen. Nachdem 1633 die römisch-katholischen Mönche als Ausführende des Restitutionsedikts von 1629 vertrieben waren, plante Gisenius offenbar eine Disputationsreihe über die ‚Reinigung der Universität Rinteln von den gegenreformatorischen Kräften‘. Erhalten sind jedoch nur Einzeldrucke der Disputationen 1 und 4 aus den Jahren 1634 und 1635, eine zusammenfassende Buchveröffentlichung ist vermutlich – aus welchem Grund auch immer – nicht mehr gelungen. Aus den späteren Jahren sind keine Disputationen bekannt, weil seine Lehrtätigkeit infolge von Auseinandersetzungen mit der neuen Landesherrschaft, seit 1640/47, und mit jüngeren Kollegen stark beeinträchtigt war. Fragen wir wieder nach den Herkunftslandschaften der Respondenten, die nunmehr in Rinteln unter Gisenius aufgetreten sind, dann wird seine Rückkehr in den norddeutschen Raum unübersehbar. Er hat in seinen Rintelner Jahren 93 Disputationen veranstaltet, an denen 72 Respondenten mitgewirkt haben. Nur neun Disputationen, die alle als Einzeldrucke überliefert sind, fallen in die Zeit nach 1629. Doch auch für die Jahre 1621– 1629 bleibt die Veranstaltungsdichte deutlich hinter der seiner Zeit in Gießen und Straßburg zurück. Die Kriegsereignisse haben mehr nicht zugelassen. Äußere Umstände haben zusätzlich zu Überlieferungsverlusten geführt. Von den 72 Respondenten kam fast die 55 Johannes Gisenius: Repurgatio Collegii Rintelensis [...] a Calvinianis vero temere occupati, commaculati et deformati. Rinteln 1624. 56 Johannes Gisenius: Vita academica ex scriptura potissimum sacra aliisque probatis authoribus descripta. Bd. 1. Rinteln 1626, Neudruck unter dem Titel: De iure et regimine academiarum statusque ecclesiastici tractatus. Rinteln 1627; 2. Aufl. Rinteln 1639; Bd. 2. Rinteln 1628. 57 Johannes Gisenius: Brevis et pia viae salutis meditatio. Rinteln 1623. 328 S. Das einzige in einem Bibliothekskatalog, nämlich in der Landesbibliothek Hannover, nachgewiesene Exemplar gilt als Kriegsverlust. 58 Johannes Gisenius: Viae salutis meditatio, breviter et perspicue exponens gratiam salutarem in creatione collatam, transgressione Adae amissam, Christi merito reparatam [...]. Rinteln 1629. 1008 S.

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Hälfte, nämlich 33 aus Westfalen, auf die sogar 48 von 93 Disputationstexten entfielen. Das westliche Niedersachsen einschließlich des Schaumburger Landes stellte 22 Respondenten mit 25 Disputationstexten. Dieses Übergewicht ist nicht erstaunlich angesichts der Entfernungen zu den entfernt gelegenen ‚Nachbaruniversitäten‘. Aus den benachbarten welfischen Landen, deren Landesuniversität Helmstedt war, kamen fünf Respondenten mit sieben Disputationen, je drei Respondenten waren in Hessen, Thüringen und Mecklenburg zu Hause, zwei in Ostfriesland und einer in Kursachsen, der schon genannte Thomas Wehner. Auch in Rinteln gab es Respondenten, die mehrmals unter Gisenius angetreten sind, von diesen vier dreimal. Das waren Gottfried Culmann aus Münder im braunschweigischen Weserbergland, der vorher in Helmstedt studiert hatte, Johannes Hoffmann aus Quernheim im Stift Minden, von dessen Vor- und Nachleben nichts zu ermitteln war, Johannes Lembruch aus Limburg oder Oldendorf in Westfalen, der vorher auch in Helmstedt gewesen war, und Bernhardus Pötker (1597–1663) aus Bielefeld, der 1630 als Autor und 1634 bei der Osnabrücker Reformationssynode59 unter Gisenius disputiert hat. Bemerkenswert ist, daß der Universitätslehrer Gisenius offenbar der Grund war, daß einige Respondenten seiner früheren Universitäten sich 1621 an der neugegründeten Universität Rinteln einfanden. Genannt wurden schon der Dortmunder M. Reinhold Seher, der Osnabrücker M. Jakob Durfeld und der Kursachse M. Thomas Wehner. In Rinteln disputierten unter Gisenius der auch schon genannte Statius Fabricius und der Hesse M. Johannes Hartmann Groß, der vorher schon in Gießen und Straßburg gewesen war. Von den Straßburger Respondenten, die 1621 nach Rinteln zwar gekommen sind, von denen sich jedoch keine Disputation gefunden hat, sind M. Johann Georg Dorsche und M. Philipp Balthasar Geiger zu nennen. Von letzterem gibt es einen Brief, in dem er über die Anfangsschwierigkeiten im ersten Sommer in Rinteln berichtet.60 Wenn wir uns nun den von den Rintelner Respondenten erreichten beruflichen Stellungen zuwenden, ist zunächst festzuhalten, daß von 72 bei 19 nichts ermittelt werden konnte. Dieses Ergebnis ähnelt dem bei Straßburg, ist also günstiger als bei Gießen. Außer dem schon mehrmals genannten Statius Fabricius ist keiner dieser Respondenten Universitätsprofessor geworden. Im Schuldienst geblieben sind nur zwei, nämlich der schon öfter erwähnte Jakob Durfeld in Osnabrück und der Hesse Conradus Scipio als Konrektor in Norden/Ostfriesland. Außergewöhnlich erscheint, daß der Bielefelder Johannes Engelkingk (†1662/63) Konventuale und Provisor des evangelischen Klosters Loccum wurde. Das ist jedoch bemerkenswert, weil Gisenius im hohen Alter etwa von 1652 bis 1655 in Loccum gelebt hat. Alle anderen Respondenten wurden Pfarrer, vielfach außerhalb ihrer engeren westfälischen Heimat. Doch alle blieben im nordwestdeutschen Raum. Einer von 59 Herbert Langer: Schweden als Bewahrer des Erbes der Reformation. In: 450 Jahre Reformation in Osnabrück. Hg. von Karl Georg Kaiser und Gerd Steinwascher. Bramsche 1993, S. 603–621, hier 608, 617 Nr. 33.12. 60 Teilweise zitiert bei Woringer (Anm. 9), S. 47 Nr. 648.

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diesen, Jakob Veltmann (1602–1679), war seit der Osnabrücker Reformationssynode 1634 erneut Pfarrer in Gisenius’ Geburtsstädtchen Dissen am Teutoburger Wald geworden.61 Manche waren zwischen Studium und Pfarrdienst einige Jahre im Schuldienst gewesen, oft als Konrektoren. Die Stellung eines Superintendenten erreichten Berthold Müller aus Höxter (um 1593–1652) in Sengwarden/Kniphausen, Johannes Munstermann aus Lemgo (1598–1666) in Otterndorf und Alardus Vaeck (1592–1653), nachdem er zur Universitätseröffnung 1621 unter Gisenius zum Doktor der Theologie promoviert worden war, zunächst in Stadthagen, 1638 in Jever. * 220 Respondenten haben an der Philosophischen bzw. Artistischen Fakultät Wittenberg, am Gymnasium Lemgo und an den Theologischen Fakultäten Gießen, Straßburg und Rinteln in 349 Disputationen Thesen verteidigt, die fast immer von Johannes Gisenius als Präses verfaßt waren. Darüber hinaus hatte Gisenius wie alle seine Professorenkollegen neben den Respondenten weitere Schüler in unbekannter Zahl. Es gibt aus dieser Zeit noch keine Hörerlisten, doch nicht wenige andere Quellen – wenn auch unübersichtlich überliefert – geben darüber Auskunft, daß dieser oder jener Theologe während seines Studiums bei ihm gewohnt, gehört oder irgendeine Aufgabe gehabt habe. Untersucht wurden von Gisenius weder seine Biographie62 noch die theologiegeschichtliche Bedeutung seines Werks und damit auch nicht die seiner Disputationen.63 Es wurden nur die Respondenten seiner Disputationen betrachtet, die hinsichtlich ihrer landschaftlichen Herkunft und ihres beruflichen Fortkommens charakterisiert worden sind, wobei es sich um die erfolgreicheren unter seinen Schülern gehandelt hat. Damit soll nicht gesagt werden, daß nicht auch andere seiner Studenten später eine berufliche Stellung erreicht haben, etwa indem sie eine Pfarrstelle einnehmen konnten. Der besondere Reiz der Untersuchung lag darin zu erkennen, wie sich die Verhältnisse und das Umfeld der einzelnen Hochschulen, an denen Gisenius tätig gewesen ist, ähnelten und doch auch unterschieden. Junge Leute, die im 17. Jahrhundert ein Universitätsstudium aufnehmen wollten, mußten sehr beweglich sein, weil die Universitäten ungleich im Reich verteilt waren, was sich auch im Blick auf die landschaftliche Herkunft von Gisenius’ Respondenten gezeigt hat. In Wittenberg, wo Gisenius allerdings noch an der Artistenfakultät gelehrt hat, zeigt sich bei den Respondenten ein gewisses Überwiegen zwar nicht des Sitzlandes Kursachsen, jedoch benachbarter Landschaften. Auch in Gießen stellte das Sitzland Hes61 Karl Bachholz: Dissen Teutoburger Wald. Dissen 1963, S. 58 f. 62 Sein Geburtsort Dissen im Hochstift Osnabrück, sein Geburtsjahr 1577, sein erreichtes Lebensalter von 81 Jahren und sein Tod am 8. Mai 1658 wurden in seinem schon seit langem nicht mehr erhaltenen Epitaph in der Lemgoer Marienkirche genannt, so zitiert bei Dolle (Anm. 1), S. 54. 63 Hinweise dazu finden sich bei Stupperich (Anm. 1), der auf S. 144 Anm. 16 hervorhebt, daß die Ungunst der Lage ihn in Rinteln „um jede theologische Wirkung gebracht“ habe.

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sen einen nicht allzu großen Anteil, während aus dem westfälisch-niedersächsischen Raum bedeutend mehr Respondenten stammten. Dagegen zeigte sich in Straßburg und Rinteln die Bedeutung des Standorts für die Mehrzahl unter den Respondenten. Anders war es im Blick auf das berufliche Fortkommen, weil das bei allen vier Universitätsorten ähnlich war. Auch wenn bei fast einem Drittel der erfaßten Respondenten bisher nichts über ihren Lebensweg nach dem Universitätsstudium ermittelt werden konnte, läßt sich feststellen, daß über die Hälfte aller betrachteten Respondenten den Weg in ein Pfarramt gefunden hat – zu einem großen Teil in ihrer Heimatlandschaft.64

64 Eine eingehendere Untersuchung, inwieweit diese Studenten außerhalb ihrer Heimatlandschaften ein Unterkommen gefunden haben, wie sie bei dem wesentlich kleineren Respondentenkreis des aus Soest stammenden und in Rostock lehrenden Theologen Johannes Affelmann (1588–1624) möglich war, unterbleibt hier aus Raumgründen. Vgl. Bernhart Jähnig: Johannes Affelmann. Ein akademischer Lehrer der lutherischen Orthodoxie in Rostock. In: Aus tausend Jahren mecklenburgischer Geschichte. Festschrift für Georg Tessin. Köln/Wien 1979, S. 29–66.

Ursula Paintner (Berlin)

Zum Nutzen der akademischen Jugend Zwei antijesuitische Gymnasialdisputationen von Johann Matthäus Meyfart

I. Einleitung Im Jahr 1626 finden am Coburger Gymnasium academicum unter dem Vorsitz des Rektors der Institution, Johann Matthäus Meyfart, zwei Disputationen über die Heiligenverehrung statt. Auf den ersten Blick handelt es sich bei den in der Herzöglichen Bibliothek Gotha überlieferten Thesendrucken1 um Zeugnisse eines völlig normalen akademischen Vorgangs: Der Präses, in diesem Falle Meyfart selbst als Rektor des Gymnasiums, formuliert die Thesen, die auf Kosten des Respondenten gedruckt werden. Präses und Respondent sind namentlich auf dem Titelblatt erwähnt; der erste Druck ist Förderern des Respondenten gewidmet. Die Titelblätter nennen zudem Datum und Ort der feierlichen Disputationen, diese fanden am 4. Februar respektive am 23. Juni 1626 in der Aula magna des Gymnasiums statt. Es handelt sich also um Präsenzveranstaltungen vor dem Publikum einer zumindest akademischen Öffentlichkeit; die Respondenten übten sich nicht nur in der akademischen Form der Disputatio, sondern hatten auch die Gelegenheit, ihr Können einer größeren Zuhörerschar zu demonstrieren und das Reden vor Publikum einzuüben. Als Gymnasium academicum übernahm die Coburger Institution teilweise die Aufgaben einer Universität; die Lernenden konnten hier in den vier klassischen Fakultäten bis zum Baccalaureats-Examen studieren, blieben jedoch in einen eher schulmäßigen Lehrbetrieb integriert.2 Disputationen stellen in diesem Zusammenhang sowohl eine Vorübung für die universitäre Praxis als auch die Möglichkeit eines Leistungsnachweises dar.

1 Johann Matthäus Meyfart (Pr.), Joseph Balthasar Finck (Resp.): Disputatio theologica prior, de invocatione Sanctorum, Opposita potissimùm Martini Becani, nuper Jesuitae, sophisticationibus. Coburg: Johannes Forckelius, 1626 [Forschungsbibliothek Gotha, Theol. 4° 00307/308 (10)]; Johann Matthäus Meyfart (Pr.), Johannes Rotenbach (Resp.): Disputatio theologica secunda, de invocatione Sanctorum, Opposita potissimùm Martini Becani, nuper Jesuitae, sophisticationibus. Coburg: Johannes Forckelius, 1626 [Forschungsbibliothek Gotha, Theol. 4° 00307/308 (11)]. 2 Erich Trunz: Johann Matthäus Meyfart. Theologe und Schriftsteller in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. München 1987, S. 29.

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Bei näherem Hinsehen weisen die beiden Thesendrucke eine für Disputationen nicht alltägliche Besonderheit auf. Die Thesen sind nämlich nicht nur an der Materie selbst ausgerichtet, sondern nehmen explizit Bezug auf einen Gegner, den es zu widerlegen gilt: den Jesuiten Martinus Becanus, dessen Manuale controversiarum huius temporis3 bzw. der darin befindliche Abschnitt über die Heiligenverehrung gewissermaßen die Folie bildet, vor der die beiden Disputationes ablaufen. Im Normalfall läßt sich eine Disputatio als Inszenierung mit drei festgelegten Rollen begreifen: Neben Präses und Respondent, die die in den Thesen schriftlich festgehaltene Position vertreten, wobei der Präses den Respondenten im Bedarfsfall unterstützt,4 gibt es einen Opponenten, der die Thesen angreift. Die Rolle des Opponenten entfaltet sich also erst im Moment der Präsenzveranstaltung; im Thesendruck wird er für gewöhnlich nicht einmal namentlich erwähnt. Gegensätzliche Positionen stehen also im Thesendruck selbst im Normalfall nicht im Vordergrund, sondern entfalten sich erst in der eigentlichen, mündlichen Disputatio. Martin Mulsow sieht darin zurecht eine „Pluralisierungssicherung“, die einerseits geeignet ist, innerhalb der Universität Denkfreiheit zu gewährleisten, andererseits jedoch die außeruniversitäre Öffentlichkeit vor übermäßiger Konfrontation mit neuen oder heterodoxen Ideen schützt.5 Anders liegt der Fall in den vorliegenden Drucken, denn hier ist die Kontroverse – und zwar nicht die zwischen Respondent und Opponent, sondern zwischen Becanus als Vertreter der katholischen Kirche sowie Präses und Respondenten als Vertretern der lutherischen Position – bereits im Thesendruck deutlich inszeniert. Die vorgelegten Thesen entstehen erst in Abgrenzung von Becanus, dessen Funktion sich nicht mit einer der üblichen Rollen der Disputatio deckt. 3 Martinus Becanus: Manuale controversiarum huius temporis. Würzburg 1623. Online verfügbar ist die Ausgabe Passau: Johannes Manfrè, 1719, aus der im folgenden zitiert wird. http://books.google. de/books?id=KOiPQPedWP8C&printsec=frontcover#v=onepage&q&f=false, zuletzt besucht am 13.10.2011. 4 Hanspeter Marti: Art. Disputation. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 2. Tübingen 1994, Sp. 866–880, hier Sp. 867. Marti betont, es gebe für die Rolle des Präses zwei Auffassungen, er könne entweder als Schiedsrichter fungieren oder den Respondenten unterstützen, wobei die Vertreter der letzteren Auffassung in der Mehrzahl seien. 5 Martin Mulsow: Der ausgescherte Opponent. Akademische Unfälle und Radikalisierung. In: Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart, Weimar 2007, S. 191–215, hier S. 194f.: „Natürlich sah man, daß die ‚libertas philosophandi‘ nicht zu stark eingeschränkt werden durfte, daß man also der Welt der Universitäten Freiräume lassen und schaffen mußte, um wissensfördernden Diskussionen Luft zum Atmen zu geben. Nach Averroes haben insbesondere Philosophen einen guten Magen, der viel Hypothetisches (und man kann hinzufügen: viel Dissens und Disparität) vertragen kann. Das einfache Volk kann das nicht. Daher mußte es Sicherungen geben, damit ‚Dubia‘ aus der Universität keine destruktive Wirkung in der Welt außerhalb haben konnten. Nun, es gab eine ganze Reihe solcher Pluralisierungssicherungen. Die wichtigste war wohl, daß der Dissens eingegrenzt blieb: innerhalb des Hörsaals und mittels der lateinischen Sprache.“

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An diesen zunächst oberflächlichen Befund knüpfen sich die folgenden Fragen: Zum ersten ist zu untersuchen, wie sich diese Tatsache eines „doppelten Opponenten“ auf die Textstruktur der Thesendrucke auswirkt. Wie und zu welchem Zweck wird hier ein Dissens bereits im Druck inszeniert, und wie läßt sich diese Sonderform der Disputatio begrifflich fassen? Zum zweiten stellt sich die – nur hypothetisch zu beantwortende – Frage, was in der mündlichen Disputation diskutiert wurde, wenn die gedruckten Thesen bereits die Widerlegung einer gegnerischen Position enthielten. Und zum dritten ist exemplarisch nach dem Zusammenhang von Disputation und Kontroverstheologie zu fragen. Die bisherige Forschung hat vor allem die Rolle von Disputationes zur binnenkonfessionellen Konsolidierung betont, da Disputationen im Rahmen der konfessionell gebundenen Universitäten im Regelfall zwischen Beteiligten einer Konfession stattfanden. In Abgrenzung dazu hat man die mündlichen Auseinandersetzungen zwischen Vertretern unterschiedlicher Konfessionen mit dem Begriff Religionsgespräch belegt.6 Anhand der hier vorgestellten Beispiele wird aber deutlich, daß auch an einem konfessionell gebundenen Gymnasium zwischen Beteiligten einer Konfession Disputationen abgehalten werden konnten, die in großem Maße der kontroverstheologischen Abgrenzung von der jeweils anderen Konfession dienten. Über die Frage hinaus, wie die Disputatio formal die kontroverstheologische Auseinandersetzung im Zeitalter der Konfessionalisierung beeinflußt hat,7 läßt sich hier beobachten, wie die Disputatio ihrerseits konfessionspolemische Züge annimmt. Inwieweit dies Rückwirkungen auf die Funktion der Disputatio an sich hat, ist zumindest zu überlegen.

II. Die Quellen Die beiden hier zu behandelnden Thesendrucke8 entstanden nicht im luftleeren Raum. Vielmehr läßt sich feststellen, daß Johann Matthäus Meyfart sich um 1626 intensiv mit 6 Zur Disputatio als Mittel binnenkonfessioneller Einigung vgl. Kenneth G. Appold: Orthodoxie als Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710. Tübingen 2004 (Beiträge zur historischen Theologie 127). Vgl. außerdem Thomas Fuchs: Konfession und Gespräch. Typologie und Funktion der Religionsgespräche in der Reformationszeit. Köln u. a. 1995 (Norm und Struktur 4). 7 Vgl. Ursula Paintner: Aus der Universität auf den Markt. Die disputatio als formprägende Gattung konfessioneller Polemik im 16. Jahrhundert am Beispiel antijesuitischer Publizistik. In: Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Hg. von Marion Gindhart und Ursula Kundert. Berlin u. a. 2010 (Trends in Medieval Philology 20), S. 129–154. 8 Ich verwende im folgenden die Begriffe Thesendruck und Disputatio für die hier verhandelten Quellen weitestgehend synonym, wobei allerdings zu beachten ist, daß ‚Disputatio‘ stärker die Tatsache betont, daß der Thesendruck keinem Selbstzweck folgt, sondern die mündliche Disputation mit impliziert.

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dem Manuale von Becanus beschäftigte. Hatte er in der Nachfolge seines Lehrers Albert Grawer bereits 1621/22 unter dem Titel Grawerus continuatus eine v. a. gegen den Jesuiten Franz Coster gerichtete Kontroversschrift herausgegeben,9 so folgte 1627 mit dem AntiBecanus eine Kontroversschrift gegen Becanus’ Manuale, deren Entstehung nach Hallier um das Jahr 1625 anzunehmen ist.10 In diesen Zusammenhang sind die beiden Disputationen einzuordnen; die Thesen sind gewissermaßen als Nebenprodukt aus dem Entstehungsprozeß der größeren Kontroversschrift zu betrachten. Deutlich wird hier einmal mehr, wie groß der Einfluß des Präses auf die Disputationsthesen war; ein selbständiger Beitrag der Respondenten ist kaum anzunehmen. Meyfart greift aus der Fülle des bei Becanus vorgefundenen Materials einen in sich geschlossenen Abschnitt heraus – das Kapitel über die Heiligenverehrung. Damit wählt er ein überschaubares, im Zuge einer bzw. zweier zeitlich begrenzter Disputationen zu behandelndes Thema, das zugleich genügend Spielraum für eine individuelle Differenzierung zwischen den beiden Studenten läßt. Die beiden Disputationes bauen so unmittelbar aufeinander auf, daß die zweite explizit als Continuatio der ersten bezeichnet wird.11 Dies darf jedoch nicht über markante Unterschiede vor allem im Niveau der Thesen hinwegtäuschen: Faktisch ist die Aufgabe des zweiten Respondenten wesentlich einfacher als die des ersten, da sie vor allem darin besteht, Probleme der Frömmigkeitspraxis zu klären, während es dem ersten Respondenten obliegt zu beweisen, daß Heiligenverehrung grundsätzlich nicht rechtgläubig ist. Das Risiko, auf diesem dogmatischen Gebiet zu scheitern, ist ungleich höher als für die Frömmigkeitspraxis. Auch ist die erste Disputatio, wenn man die Thesendrucke als Maßstab ansetzen kann, umfangreicher: Hier umfaßt der Thesendruck sechzehn Quartseiten, in der zweiten sind es nur zwölf. Wir müssen also davon ausgehen, daß Meyfart dem ersten Respondenten, Joseph Balthasar Finck aus Gießen, mehr zutraute als dem zweiten, Johannes Rotenbach aus dem fränkischen Eisfeld (heute zu Thüringen). Der Niveauunterschied wird deutlicher bei einem Blick auf die Struktur der beiden Disputationes bzw. der Thesendrucke. Die Disputatio prior beginnt wie üblich mit einer Widmung an die Förderer des Respondenten, in diesem Fall an den Taufpaten und verschiedene Verwandte und Gönner, u. a. einen Rat und Kanzler des hessischen Landgrafen. Die doppelte Funktion der Widmung, zugleich Dankbarkeit zu bekunden und die spätere Karriere vorzubereiten,

9 Johann Matthäus Meyfart: Grawerus continuatus, sive disputationum Anti-Jesuiticarum Francisco Costero, Roberto Bellarmino, & Martino Becano, potißimum oppositarum. Tomus II. Jena: Beithmann, 1622 [VD 17, Nr. 23:646816E]; vgl. Christian Hallier: Johann Matthäus Meyfart. Ein Schriftsteller, Pädagoge und Theologe des 17. Jahrhunderts. Mit einem Nachwort von Erich Trunz. Neumünster 1982 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 15), S. 32f. 10 Hallier, Meyfart (wie Anm. 9), S. 42. 11 Meyfart, Disputatio theologica secunda (wie Anm. 1), fol. A2r.

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tritt hier deutlich zutage.12 Es folgt eine kurze Vorstellung des ‚Programms‘, aus der die kontroverse Anlage der Disputation bereits hervorgeht:13 DEO PROSPERANTE. Disputaturi de invocatione Sanctorum, de qua hodie inter Catholicos Lutheranos & h[ae]reticos Jesuitas, aliosq[ue] Ecclesi[ae] hujus alumnos, acerrimè controvertitur, hanc nobis pr[ae]scribemus methodum. Primo doctrinam, de precibus sive Invocatione breviter repetemus: Secundo controversiam ipsam examinabimus, intricatissimasq[ue] sophisticationes, quibus Martinus Becanus Lojolitic[ae] factionis socius, studios[ae] juventuti Manualis sui libri I. cap. 7. imponere voluit, dissipabimus.

Es entsteht beinahe der Eindruck, als werde hier ein hochaktuelles Thema diskutiert und dem akademischen Nachwuchs tatsächlich die Verantwortung aufgebürdet, die Auseinandersetzung mit einem der führenden Köpfe der jesuitischen Kontroverstheologie zu führen.14 Der Gegensatz zwischen den beiden Konfessionen tritt dabei bereits in der Formulierung „inter Catholicos Lutheranos & haereticos Jesuitas“ zutage: Welche Konfession das Prädikat „katholisch“ im Wortsinne von „allumfassend“ für sich beanspruchen dürfe, ist eine während des Zeitalters der Konfessionalisierung heftig umstrittene Frage. Indem dieses Prädikat hier den Lutheranern zugeordnet und damit den traditionell als „Katholiken“ bezeichneten Altgläubigen abgesprochen wird, wird der Konflikt zum Programm erhoben, zugleich aber der Ausgang der Auseinandersetzung von vornherein festgeschrieben. Wenn das Attribut ‚katholisch‘ allein den Lutheranern zukommt, kann auch in bezug auf die Heiligenverehrung nur deren Position die richtige sein. Der Eindruck, die ‚akademische Jugend‘ stehe hier an vorderster Front des Konfessionskonflikts, erweist sich bei näherem Hinsehen allerdings als trügerisch. Denn zum einen 12 Vgl. Michael Philipp: Politica und Patronage. Zur Funktion von Widmungsadressen bei politischen Dissertationen des 17. Jahrhunderts. In: Disputatio 1200–1800 (wie Anm. 7), S. 231–268. 13 Meyfart, Disputatio theologica prior (wie Anm. 1), fol. A2r. Übersetzung hier wie im folgenden U.P.: „Mit Gottes Segen. Um über die Heiligenverehrung zu disputieren, über die heutzutage zwischen den Katholisch-Lutherischen und den häretischen Jesuiten und anderen Anhängern dieser Kirche heftig gestritten wird, nehmen wir uns folgende Methode vor. Als erstes werden wir die Lehre von den Gebeten bzw. von der Anrufung kurz zusammenfassen. Als zweites werden wir die Streitfrage selbst untersuchen und die hochkomplizierten Sophistereien auseinandernehmen, welche Martinus Becanus, ein Genosse der loyolitischen Partei, der lernbegierigen Jugend im 7. Kapitel des ersten Buchs seines Manuale zuzumuten wagt.“ 14 Zur Bedeutung des Manuale in diesem Kontext vgl. Trunz, Meyfart (wie Anm. 2), S. 85: „Martin Becanus (1563–1624), aus Brabant stammend, war Jesuit. Er wurde Professor der Theologie in Würzburg, dann in Mainz und schließlich in Wien, wo er auch der Beichtvater Kaiser Ferdinands II. wurde. Er war ein Dogmatiker und Kontroverstheologe, der klar, flüssig und überzeugungskräftig schrieb. Während Bellarmin in Rom blieb und Coster in Köln und Brüssel, wirkte Becanus vom Wiener Kaiserhof aus als die stärkste Kraft in der gegenreformatorischen Theologie Deutschlands. Für die Lutheraner war besonders sein ‚Manuale controversiarum‘ gefährlich, das 1623 in Würzburg und 1624 in Antwerpen erschienen war.“

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war die Frage der Heiligenverehrung bereits von Luther selbst auf den Tisch gebracht worden. Das Thema wird zum Zeitpunkt der Disputationes also bereits seit ca. 100 Jahren diskutiert, und es ist davon auszugehen, daß alle Argumente bereits genannt wurden. Aktualität besitzt es nur insofern, als bislang keine Einigung erzielt werden konnte – und jedem Beteiligten dürfte klar gewesen sein, daß nach diversen gescheiterten Versuchen eine Einigung auch nicht zu erzielen war. Zum anderen gehört die Heiligenverehrung zwar zu den beliebten, keinesfalls aber zu den zentralen Themen der konfessionellen Kontroverse. Anders als das Eucharistieverständnis oder die Rechtfertigungslehre handelt es sich nicht um ein heilsnotwendiges Problem. Zwar kann protestantischerseits behauptet werden, die katholische Heiligenverehrung sei heilsverhindernd, da sie häretisch sei; katholischerseits wird aber nicht behauptet, die Verehrung der Heiligen sei notwendig, um das Heil zu erlangen. Bei näherem Hinsehen erweist sich das Thema also als vergleichsweise sicheres Feld für eine Gymnasial-Disputation: Die Respondenten können ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen, ohne sich auf ein allzu brenzliges Thema einlassen zu müssen. Um den Gegenstandsbereich exakt einzugrenzen, läßt der Verfasser auf die oben zitierte Vorbemerkung eine Definition dessen folgen, was unter invocatio verstanden wird. Dies ist auch für unser Verständnis der Materie wichtig: Der streng theologische Begriff der invocatio wird sowohl vom säkularen Begriff der adoratio (im Sinne von Bewunderung/ Orientierung an einem Vorbild) als auch vom landläufigen Begriff der imploratio abgegrenzt. Die imploratio im Sinne des Erflehens von Hilfe kommt auch Menschen gegenüber zur Anwendung, wohingegen die eigentliche invocatio allein dem religiösen Kult vorbehalten ist. In diesem Sinne wird invocatio definiert:15 Est autem invocatio bonorum necessariorum non externa tantum voce, sed interno cordis affectu propter Christum mediatorem verà fide apprehensum, à Deo facta petitio, conjuncta cum debita gratiarum actione.

Zu prüfen sei nun, ob invocatio nach dieser strengen Definition auch den Heiligen zukomme oder nicht. Meyfart spitzt die Streitfrage auf diesen engen Begriff zu, weil die allgemeine Verehrung der Heiligen im Sinne einer Vorbildfunktion (adoratio) auch in der protestantischen Praxis nicht ausgeschlossen wird. Der Streit zwischen den beiden Konfessionen bezieht sich tatsächlich nur auf die direkte Anrufung der Heiligen als Mittler zwischen den Menschen und Gott, und um diesen Streit ist es Meyfart zu tun.16 Dies wird zu Beginn

15 Meyfart, Disputatio theologica prior (wie Anm. 1), fol. A2v: „Bei der Invocatio handelt es sich um eine nicht nur mit äußerer Stimme, sondern aus einem inneren Affekt des Herzens heraus an Gott gerichtete Bitte um notwendige Güter, und zwar weil Christus als Mittler im wahren Glauben erkannt wird, in Verbindung mit der geschuldeten Dankbarkeit.“ 16 Vgl. den Eintrag Heilige/Heiligenverehrung in: Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Müller. Bd. 14. Berlin/New York 1985, S. 641–672, bes. den Abschnitt VII, Frieder Schulz: Die protestantischen Kirchen, S. 664–672.

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des zweiten Teils der Disputatio, in dem die eigentliche Streitfrage behandelt wird, erneut zusammengefaßt:17 1. Disputatur hic de objecto invocationis, utrum sancti de eô participent? Sed qu[ae]stio non est 1. Ratione adjunctorum communium, An sancti sint honorandi & nominandi: Nec 2. Ratione effecti finiti, utrum sint laudandi, Ecclesi[ae] exempli loco commendandi, & perpetua memoria colendi. Nec 3. Ratione effecti voluntarij, utrum Beati c[oe]lites in genere pro Ecclesia orent. H[ae]c enim vel non petentibus Pontificijs largimur. 2. Nervus igitur qu[ae]stionis est hic: An Sancti religiosè sint invocandi, ita, ut ad illorum non tantum intercessionem sed etiam merita, opem & auxilium confugere, in ijsdemq[ue] spem ac cordis fiduciam collocare liceat? Lutherani negant, Pontificij affirmant: certè in nullum alium finem, nisi ut Deo Patri, Filio & Spiritui S. detrahant.

Auch aus dieser präzisen Formulierung der Fragestellung ist die der Disputation zugrunde liegende Frontstellung klar ersichtlich. Der letzte Satz unterstellt den ‚Päpstlichen‘, ihre Version der Heiligenverehrung basiere nicht einfach auf einer Unkenntnis der ‚richtigen‘ Lehre, sondern verfolge im Gegenteil die böse Absicht, Hoffnung und Vertrauen der Gläubigen vom Dreieinigen Gott abzulenken. Wenn allerdings bereits in der Fragestellung einer der beiden Positionen böse Absichten unterstellt werden, ist der Ausgang der Diskussion von vornherein festgelegt. Der so beginnende zweite Teil der Disputatio prior ist in einzelne ‚Punkte‘ untergliedert. Diese Gliederung setzt sich in der Disputatio secunda nahtlos – sogar ohne Einschub einer eigenen Widmung – fort, so daß die Pars prima, der erste Teil der Disputatio prior, als Einleitung in beide Disputationes verstanden werden muß und die Disputatio secunda letztlich die Pars secunda der Disputatio prior fortsetzt. Beide Disputationes bilden gedanklich und strukturell eine Einheit. In der Disputatio prior werden nun vor allem die beiden Positionen dargestellt und die Frage behandelt, ob mit der katholischen Heiligenverehrung Gottvater und Christus gelästert werden; es geht also letztlich darum zu klären, ob die katholische Heiligenverehrung häretisch ist oder nicht. Im Unterschied dazu werden in der Disputatio secunda die Fragen 17 Meyfart, Disputatio theologica prior (wie Anm. 1), fol. A3v–4r: „Hier wird über das Objekt der Invocatio disputiert, also ob die Heiligen daran teilhaben. Aber die Frage stellt sich weder 1. in Hinblick auf den damit verbundenen allgemeinen Nutzen, ob die Heiligen geehrt und benannt werden sollten, noch 2. in Hinblick auf die angestrebte Wirkung, ob sie gelobt, der Kirche als Beispiel vorgeführt und in ewigem Eingedenken verehrt werden sollten, noch 3. in Hinblick auf die freiwillig [gewährte] Wirkung, ob die Seligen im Himmel allgemein für die Kirche beten. Dies gestehen wir nämlich den Päpstlichen gerne zu, auch wenn sie nicht darum bitten. 2. Der Kern der Frage ist vielmehr folgender: Ob die Heiligen im religiösen Sinne angerufen werden sollten, und zwar dergestalt, daß es erlaubt wäre, nicht nur zu ihrer Vermittlung, sondern auch zu ihren Verdiensten, Leistungen und zu ihrer Hilfe Zuflucht zu nehmen und Hoffnung und Zuversicht des Herzens in sie zu setzen. Die Lutheraner verneinen dies, die Päpstlichen bejahen es, sicherlich zu keinem anderen Zweck, als selbige [Hoffnung und Zuversicht, U.P.] von Gottvater, dem Sohn und dem Heiligen Geist abzulenken.“

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geklärt, An Invocatio Sanctorum sit signum diffidentiae?18 und An Invocatio Sanctorum sit inutilis, eò quod ipsi non audiant nostras preces, neq[ue] sciant quid apud nos geratur?19 Im Unterschied zu den letzten beiden Fragen der Disputatio prior, Vtrum Invocatio sanctorum cedat in injuriam Dei?20 und An Invocatio Sanctorum cedat in injuriam Christi21, betreffen diese Punkte nicht unmittelbar dogmatische Fragen, sondern eher den praktischen Nutzen der Heiligenverehrung, bieten also weniger ‚Gefahrenpotential‘ für die Kenntnisse und Fähigkeiten des Schülers. Wichtig ist die argumentative Struktur, mit der die einzelnen Fragen behandelt werden. Bereits oben ist deutlich geworden, daß die Definition des Begriffs invocatio über ein Ausschlußverfahren hergeleitet wird. Nachdem alle nicht gemeinten Bedeutungen des Begriffs ausgeschlossen wurden, bleibt als letzte die für die Disputationes zentrale Bedeutung übrig. Noch bevor dann im folgenden Becanus’ Argumente aufgegriffen und widerlegt werden, geht Meyfart bei der Entwicklung seiner Thesen streng syllogistisch vor: In der Pars secunda der Disputatio prior folgt auf die oben zitierte Zuspitzung der Fragestellung als Punctum II. ein „geminum pro orthodoxâ sententiâ argumentum“:22 1. Pro nostra sententia [...] ita argumentamur: Quicunq[ue] religiosè invocandus est, in illo sunt omnia requisita, qu[ae] necessariò requiruntur in eo, qui preces exaudire debet. Nullus sanctorum est in quo sint omnia requisita, qu[ae] necessariò requiruntur in eo, qui preces exaudire debet. Ergò Nullus sanctorum est religiosè invocandus. 2. Major negari à doctis non potest, minorem probo inductione; in eo qui religiosè invocari potest, requiritur infinita juvandi potentia, voluntas juvandi indubitata ac certa, omniscia cor18 19 20 21 22

Meyfart, Disputatio theologica secunda (wie Anm. 1), fol. A2r. Ebd., fol. A3r. Meyfart, Disputatio theologica prior (wie Anm. 1), fol. B1v. Ebd., fol. B2v. Meyfart, Disputatio theologica prior (wie Anm. 1), fol. A4r: „1. Zugunsten unserer Lehrmeinung argumentieren wir [...] wie folgt: Wer auch immer im religiösen Sinne anzubeten ist, der besitzt alle Eigenschaften, die derjenige notwendig braucht, der Gebete erhören soll. Es gibt keinen unter den Heiligen, der alle Eigenschaften besitzt, die derjenige notwendig braucht, der Gebete erhören soll. Folglich ist keiner der Heiligen im religiösen Sinne anzubeten. 2. Der Obersatz kann von Gelehrten gar nicht geleugnet werden, den Untersatz beweise ich per Induktionsverfahren: Derjenige, den man im religiösen Sinne anrufen kann, benötigt die grenzenlose Fähigkeit zu helfen, den unzweifelhaften und sicheren Willen zu helfen, allwissenden Einblick in die Herzen und Wahrnehmung der Seufzer, durch die er zwischen Heuchlern und anderen unterscheiden kann: Er benötigt außerdem die höchste Weisheit, damit er zwischen heilbringenden und weniger heilbringenden Dingen unterscheiden kann, höchste Gerechtigkeit, damit er [dem Bittenden] sowohl durch Versprechungen als auch durch Drohungen Genüge leisten kann; er benötigt schließlich dauernde Präsenz. 3. Diese Dinge kommen keinem der Heiligen zu, denn sie sind nur Gott zu eigen, Jesaja 40 v. 10 ff. [...] 4. Daher argumentieren wir wiederum: Wer auch immer anzurufen ist, an den müssen wir glauben, Röm. 10 v. 14, wie der Apostel sagt: ‚Wie sollen sie nun den anrufen, an den sie nicht glauben.‘ Es gibt keinen unter den Heiligen, an den wir glauben müssen. Ergo: Keiner der Heiligen darf angebetet werden.“

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dium inspectio & gemituum perceptio, qua discernat inter hypocritas & alios: requiritur etiam summa sapientia, ut distinguat inter salutaria & minus salutaria; summa justitia, ut & promissionibus & comminationibus satisfiat; deniq[ue] requiritur perpetua pr[ae]sentia. 3. Nullus sanctorum est in quem h[ae]c cadant: sunt autem solius Dei propria, Esai. 40 v. 10 & seqq. [...] 4. Argumentamur iterum: quicunq[ue] est invocandus, in illum debemus credere, Rom. 10 vers. 14. ait Apostolus, quomodo invocabunt, in quem non crediderunt. Nullus Sanctorum est, in quem debemus credere. E. Nullus sanctorum est invocandus.

Die positive Argumentation für die protestantische Position folgt streng dem logischen Schema des Syllogismus: Aus Obersatz (maior) und Untersatz (minor) folgt ein Schluß (conclusio), der durch ausgeschriebenes oder abgekürztes ergo jeweils deutlich hervorgehoben ist. Im zitierten Fall wird als Beleg für den Obersatz der gesunde Menschenverstand herangezogen. Der Untersatz wird anhand von Bibelstellen belegt, und wenn beide Sätze belegt sind, gilt die Wahrheit der conclusio als gegeben. Hier wird diese relativ einfache Argumentationsstruktur dadurch gewissermaßen verfeinert, daß als letzte Schlußfolgerung ein neuer Syllogismus steht, der nun seinerseits nicht mehr belegt werden muß, sondern dessen Obersatz als Bibelzitat bereits den Beleg in sich trägt. Die syllogistische Struktur eignet sich auch hervorragend, um gegnerische Argumentationen zu untersuchen oder zu widerlegen. Denn um einen Syllogismus zu falsifizieren, genügt es, einen der beiden Sätze zu widerlegen: Werden maior oder minor als falsch entlarvt, dann bricht der gesamte logische Schluß zusammen. Entsprechend stellt Meyfart in den Disputationsthesen in dem Teil, der der eigentlichen Widerlegung des Becanus gewidmet ist, Becanus’ Position in syllogistischer Form dar, um dann jeweils einen der beiden Sätze zu falsifizieren und damit die conclusio zu widerlegen:23 1. Transimus ad Martinum Becanum, qui in frontispicio capitis septimi, ita videtur exordiri. Qu[ae] sententia est totius Ecclesi[ae] Catholic[ae], qu[ae] errare non potest, illa est orthodoxa. Sanctos piè ac cum fructu invocari posse, est sententia totius Ecclesi[ae] Catholic[ae], qu[ae] errare non potest. E. sanctos piè & cum fructu invocari posse, est orthodoxum. 2. Respondeo. Major non est simpliciter vera; brevitatis ergo notamus, 1. elenchum definitionis: orthodoxum in religione id est, quod est conforme scripturis sacris. 2. Elenchum totius & testi23 Ebd. fol. A4v: „Gehen wir zu Martinus Becanus, der zu Beginn des 7. Kapitels wie folgt anzufangen scheint: Die Lehre der gesamten katholischen Kirche, die nicht irren kann, ist rechtgläubig. Daß man die Heiligen in Frömmigkeit und mit Nutzen anbeten kann, ist Lehre der gesamten katholischen Kirche, die nicht irren kann. Folglich ist es rechtgläubig, daß man die Heiligen in Frömmigkeit und mit Nutzen anbeten könne. Ich erwidere: Die maior ist nicht einfach so wahr, in gebotener Kürze stellen wir fest: 1. einen Punkt in Hinblick auf die Definition: Orthodox ist in der Religion das, was mit den Heiligen Schriften übereinstimmt. 2. einen Punkt in Hinblick auf das Zeugnis als ganzes; die Lutheraner sind in Geschichtsfragen nicht so ungebildet: Es ist Petrus Gnaphaeus, der durch Tyrannis den Bischofssitz von Antiochia besetzte und gemeinsam mit anderen eine falsche Lehre einführte. 3. Inwiefern die Kirche nicht irren kann, darüber werden wir an anderer Stelle sprechen.“

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monij. Non ita rudes sunt Lutherani in historicis; Petrus Gnaph[ae]us est, qui per tyrannidem sedem Antiochenam occupavit, & improbum dogma cum alijs invexit. 3. Quomodo Ecclesia errare non possit, alibi dicetur.

Tatsächlich beginnt, wie Meyfart durch das videtur auch andeutet, das 7. Kapitel über die Heiligenverehrung in Becanus’ Manuale keinesfalls mit einem Syllogismus, sondern mit einer einfachen Aussage:24 NOs docemus cum communi consensu totius Ecclesi[ae] Catholic[ae], qu[ae] errare non potest, Sanctos cum Christo regnantes in c[oe]lo pie, & cum fructu a nobis invocari posse. Et hoc confirmat quotidiana experientia, quia quotidie experiuntur fideles prodesse sibi Sanctorum invocationem.

In der Aussage stimmt Meyfarts Paraphrase mit Becanus’ Darstellung überein; Meyfart verändert aber bewußt die bei Becanus vorgefundene Argumentationsstruktur und paßt sie seiner eigenen Vorgehensweise an. Wie oben dargestellt, läßt sich ein Syllogismus auf relativ einfache Weise durch die Widerlegung eines der beiden Sätze untergraben; indem Meyfart Becanus’ Argument bzw. Aussage in die Form eines Syllogismus bringt, erleichtert er also dessen Widerlegung und damit die Argumentation für den Respondenten. Meyfarts Argumentation gewinnt im folgenden an Komplexität, wenn er nicht Becanus’ positive Aussagen (nos docemus), sondern dessen Darstellung der lutherischen Position referiert und widerlegt. Auch hier dominiert der Syllogismus: Meyfart gibt in syllogistischer Form wieder, was Becanus den Lutherischen unterstellt, um dann die ‚tatsächliche‘ lutherische Position – ebenfalls als Syllogismus – zu benennen:25 PUNCTUM V. An Invocatio Sanctorum cedat in injuriam Christi. 1. Affirmant adversarij, inquit Becanus, quia Christus est unicus mediator noster, 1. Tim. 2v.5. per quem habemus accessum ad Deum, Eph. 2.v.18. E. non est recurrendum ad Sanctos. Hoc enim cedit in injuriam Christi, quasi ipsius intercessio non sufficiat, nisi accedat etiam Sanctorum intercessio. 24 Becanus, Manuale (wie Anm. 3), S. 160: „Wir lehren mit dem allgemeinen Einverständnis der gesamten katholischen Kirche, die nicht irren kann, daß die Heiligen, die mit Christus im Himmel regieren, in Frömmigkeit und mit Nutzen angerufen werden können. Und dies bestätigt die tägliche Erfahrung, denn täglich erfahren die Gläubigen, daß ihnen die Anrufung der Heiligen nutzt.“ 25 Meyfart, Disputatio theologica prior (wie Anm. 1), fol. B2v: „Punkt V. Ob die Anrufung der Heiligen mit einer Lästerung Christi einhergeht. 1. Dies behaupten die Gegner, sagt Becanus, weil Christus unser einziger Mittler ist, 1 Tim. 2 v. 5, durch den wir Zugang zu Gott haben, Eph. 2 v. 18. Folglich darf man keine Zuflucht zu den Heiligen nehmen, denn dies geht mit einer Lästerung Christi einher, als ob gleichsam seine Vermittlung nicht ausreiche, wenn nicht die Vermittlung der Heiligen hinzukomme. 2. Weil der arglistige Jesuit nach seinem Gutdünken unser Argument verfälscht, wiederholen wir es hier in Gänze: Was auch immer das Amt Christi einschränkt, geht mit einer Lästerung Christi einher. Die Anrufung der Heiligen schränkt das Amt Christi ein. Folglich geht die Anrufung der Heiligen mit einer Lästerung Christi einher. Die maior ist zugestanden, die minor wird bewiesen.“

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2. Quia versipellis Jesuita pro beneplacito suo format nostrum argumentum, reproducemus integru[m]. Quicquid derogat officio Christi, illud cedit in injuriam Christi. Invocatio sanctorum derogat officio Christi. E. invocatio sanctorum cedit in injuriam Christi. Major est concessa, minor probatur.

Die syllogistische Argumentation zieht sich also auf allen Ebenen durch den Text; sowohl in der positiven Darstellung der eigenen als auch in der Darstellung der gegnerischen Position sowie in der Darstellung und Widerlegung dessen, was der Gegner (Becanus) als die Position der Lutheraner ausgibt. Dies ist zunächst typisch für Disputationen vor allem am Gymnasium, die ja nicht zuletzt auch der Einübung der logischen Methode dienen. Die syllogistische Argumentation ist jedoch in diesem Fall, und dies unterscheidet die vorliegenden Disputationen vom Mainstream und ist für ihre Funktion von entscheidender Bedeutung, nicht uneingeschränkt sachlich, sondern enthält polemische Spitzen, die für ein lutherisches Publikum durchaus eine komische Komponente ins Spiel bringen. Dies wird zum Beispiel deutlich, wenn Meyfart im Zuge der Frage, ob die Anrufung der Heiligen nutzlos sei, Becanus’ Belegstrategie kommentiert:26 Affirmant adversarij, inquit Iesuita. Esto argumentum: Quicunq[ue] nec preces exaudiunt, neq[ue] sciunt, quid in terris geratur, illorum invocatio est inutilis. Sancti defuncti tales sunt. E. illorum invocatio est inutilis. Concedit Becanus majorem, negat minorem, & probat primò contrarium authoritate nonnullorum Patrum, cum Matres, quas producat, non habeat.

Meyfart verspottet hier das katholische Traditionsverständnis, bei dem die Kirchenväter ebenso Träger der christlichen Lehre sind wie die Heilige Schrift selbst. Dies wird von den Protestanten bestritten, wiewohl sie den Kirchenvätern durchaus eine gewisse Autorität zubilligen. Wenn hier Becanus unterstellt wird, er hätte auch Mütter zitiert, wenn es sie denn gäbe, wird der Argumentation mit Kirchenväterzitaten Beliebigkeit attestiert; der Witz dürfte für ein protestantisches Publikum, wie es für diese Disputationen anzunehmen ist, völlig offensichtlich sein. Natürlich stellt sich die Frage, ob diese Pointe in der mündlichen Disputatio zur Geltung kommen konnte oder ob es sich um ein auf die schriftliche Form des Thesendrucks beschränktes Phänomen handelt. Letzteres ist eher wahrscheinlich, zumal Meyfart zum Ende der Disputatio secunda scherzhaft gemeinte Anregungen zum Üben gibt, die kaum mündlich vorgetragen worden sein dürften:27 26 Meyfart, Disputatio theologica secunda (wie Anm. 1), fol. A3r: „Die Gegner behaupten dies, sagt der Jesuit. Folgendes soll das entsprechende Argument sein: Wer weder Bitten hören kann noch weiß, was auf der Erde geschieht, dessen Anrufung ist nutzlos. Die verstorbenen Heiligen gehören in diese Kategorie. Folglich ist ihre Anrufung nutzlos. Becanus gesteht die maior zu und verneint die minor; er beweist zunächst das Gegenteil mithilfe der Autorität einiger Väter, weil es keine Mütter gibt, die er heranziehen könnte.“ 27 Ebd. fol. B2v: „Um der lerneifrigen Jugend weitere Themen zum Disputieren zu geben, legen wir zwei Zulagen bei. Es soll gefragt werden erstens: Ob das Fegefeuer existiert. Dies wird bejaht, allerdings mit Einschränkungen. Es existiert, insofern es die Geldbeutel der Laien reinigt, aber es existiert nicht, insofern es die Seelen der Verstorbenen reinigt. Es soll gefragt werden zweitens: Ob es auch

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Ut studiosa Iuventus habeat uberiorem disputandi materiam, subijcimus duo corollaria. Qu[ae]ritur I. An detur Purgatorium? Affirmatur, sed distinctè. Datur, quod purgat crumenas Laicorum: sed quod purget animas defunctorum, non datur. Qu[ae]ritur II: Utrum etiam hodie LIMBUS patrum detur? Affirmatur, si rectè intelligatur. Datur, seniorum pr[ae]sertim; imò & limbus raatrum [sic] datur aliquibus in oris, de quo Poeta: Sidoniam picto chlamidem circumdata limbo.

Bei den Themen ‚Gibt es das Fegefeuer‘ und ‚Gibt es den Limbus der Väter‘ (einen äußeren Höllenkreis, in dem die vor Christi Erlösungstat verstorbenen Väter des Alten Testaments zwar in Gottferne, aber ohne Höllenqualen verweilen) handelt es sich um durchaus ernstgemeinte Fragen des Konfessionskonflikts. Während die Existenz von Fegefeuer und Limbus von den Katholiken behauptet wird, wird sie von den Lutheranern bestritten mit dem Verweis darauf, beide würden in der Heiligen Schrift nicht erwähnt. In ihrer Bedeutung rangieren die beiden Themen also ungefähr auf einer Ebene mit der Heiligenverehrung. Die Antworten, die Meyfart hier vorschlägt, weichen aber von der Diskussion der Heiligenverehrung insofern ab, als sie die Themen nicht mehr sachlich bearbeiten, sondern rein polemisch abhandeln. Es handelt sich hier also nicht um Vorschläge für tatsächliche Disputationen, sondern dem Thesendruck der Disputatio secunda wird abschließend eine deutlich polemische Wendung gegeben. Diese entfaltet ihre Wirkung über das Präsenzpublikum hinaus durch die Verbreitung des Thesendrucks, der zwar nicht unbedingt viele Leser gehabt haben muß, aber immerhin sicherstellte, daß die Polemik über die Dauer der mündlichen Disputatio hinaus schriftlich festgehalten wurde. Diese scharfe, unsachliche Form der Polemik scheint also vor allem ein Phänomen des Thesendrucks zu sein und richtet sich daher potentiell an eine größere Öffentlichkeit.

III. Disputatio und Kontroverstheologie Die polemische Schärfe, mit der die beiden hier besprochenen Thesendrucke sich gegen die katholische Position und speziell gegen die Argumentation von Martinus Becanus wenden, ist für Schuldisputationen eher unüblich. Im Unterschied zum Religionsgespräch, bei dem in der Regel auf obrigkeitliche Einladung hin Vertreter unterschiedlicher Konfessionen zusammentrafen, diente die Disputatio im Zeitalter der Konfessionalisierung gerade nicht der Auseinandersetzung zwischen den Konfessionen, sondern eher der binnenkonfessionellen Verständigung und Absicherung. Dementsprechend darf als sicher gelten, daß die Aufgabe des – nicht schriftlich fixierten – Opponenten im Falle der vorlieheute noch den Limbus der Väter gibt. Dies wird bejaht, aber nur wenn es im richtigen Sinne verstanden wird. Denn es gibt einen Limbus, vor allem bei älteren Leuten; ja es gibt sogar auch den Limbus der Väter an manchen Säumen, worüber der Dichter sagt: ‚Schön im Sidonergewand mit farbigem Saume gekleidet‘.“ Binnenzitat Vergil, Aeneis 4,137, Übersetzung von Johann Heinrich Voß.

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genden Disputationes nicht war, die Position von Becanus zu vertreten. Viel eher ist zu vermuten, daß seine Argumentation darauf hinauslief, die Stichhaltigkeit der gegen Becanus aufgebotenen Argumente zu überprüfen und diese gegebenenfalls weiter zuzuspitzen. Wenn Respondent und Opponent auch gegeneinander argumentierten, so vertraten sie doch letztlich dieselbe lutherische Position, die hier gegen die jesuitische abgegrenzt wird. Man kann also auf den unterschiedlichen Ebenen von Thesendruck und mündlicher Disputatio von einem doppelten Opponenten sprechen. Als erster Opponent, der die lutherische Position zur Heiligenverehrung bestreitet und als häretisch einzustufen versucht, ist Becanus in den Thesendruck eingeschrieben. Auf dieser Ebene ist es Aufgabe des Respondenten, Becanus’ Argumentation richtig darzustellen und in Thesenform zu widerlegen. Als zweiter Opponent tritt der ‚tatsächliche Opponent‘ im mündlichen Austausch auf den Plan. Er muß gewissermaßen die Lücken in der Argumentation des Respondenten finden und benennen, worauf letzterer entweder mit einer Verteidigung oder einer Zuspitzung seiner – gegen Becanus gerichteten – Thesen reagieren kann. Respondent und Opponent der mündlichen Disputation bilden also eine gemeinsame Front gegen den Opponenten im Thesendruck. Damit ist zum einen sichergestellt, daß der Rahmen des „institutionalisierten Dissenses“ nicht gesprengt wird. Den Begriff prägte Martin Mulsow, um zu signalisieren, daß die Disputatio zwar Raum für Dissens bietet, daß dieser aber sowohl durch gezielte Exklusionsmechanismen (lateinische Sprache, eingeschränkte Öffentlichkeit) als auch durch das strenge Regelwerk der Disputatio gewissermaßen gezähmt ist.28 Der formale Rahmen stellt weitestgehend sicher, daß der Dissens am Ende in einen – wenn auch vorläufigen – Konsens überführt wird. Respondent und Opponent als Schüler eines lutherisch ausgerichteten Gymnasiums sind beide gehalten, die lutherische Lehre zum Thema zu vertreten und zu verteidigen; es wird keinem der Beteiligten zugemutet, sich gedanklich in die katholische Position zu versetzen. Zum anderen jedoch, und dies ist hier entscheidend, nimmt der Thesendruck zugleich polemische Züge an: Unter Polemik verstehen wir die Inszenierung eines sachbezogenen Gegensatzes, wobei von vornherein ein Pol des Gegensatzpaares als richtig, der andere als falsch markiert wird.29 Insofern können Disputationes polemisch sein, müssen es aber nicht – immerhin hat der Respondent die Möglichkeit, Einwänden des Opponenten auch nachzugeben und sie damit produktiv in seine eigene Argumentation einzubauen. Thesendrucke sind in aller Regel nicht polemisch, da sie nur die Position des Respondenten darstellen. In der Polemik ist eine produktive Rezeption gegnerischer Argumente kategorisch ausgeschlossen; überzeugt werden soll nicht der Gegner, sondern das Publikum, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen soll die Position des Sprechers selbst als wahr, zum

28 Mulsow, Der ausgescherte Opponent (wie Anm. 5). 29 Vgl. Ursula Paintner: Des Papsts neue Creatur. Antijesuitische Publizistik im Deutschsprachigen Raum (1555–1618). Amsterdam u. a. 2011 (Chloe 44), S. 41–48.

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anderen die des polemisch angegriffenen Gegners als falsch erkannt werden. Einen Mittelweg oder Kompromiß läßt Polemik nicht zu.30 In diesem Sinne ist auch die Kontroverstheologie der Konfessionalisierungszeit als polemisch einzuschätzen, denn sie dient der Etablierung der Lehre einer Konfession in deutlicher Abgrenzung von der jeweils anderen. Daß die Kontroverstheologie ihre inszenatorischen Strukturen dabei zum großen Teil von der Disputatio als gängiger akademischer Praxis entlehnt, ist an anderer Stelle untersucht worden.31 An Meyfarts Disputationes läßt sich nun zeigen, wie umgekehrt die Disputatio vor allem in ihrer Ausprägung als Thesendruck Formen und Funktionen der Kontroverstheologie übernimmt. Wir haben oben gesehen, daß bereits eingangs die lutherische Lehre als „katholisch“ im Sinne der einzig wahren christlichen und allumfassenden Kirche bezeichnet, die jesuitische Position hingegen als häretisch gebrandmarkt und damit eine eindeutige Opposition zwischen richtiger (lutherischer) und falscher (römisch-katholischer) Lehre konstruiert wird. Auch die syllogistische Widerlegung der von Becanus vorgebrachten Argumente dient vorrangig dem Ziel, eine klare Grenze zwischen katholischer und protestantischer Lehre zu ziehen und die beiden Positionen zugleich eindeutig zu bewerten:32 Alterum argumentum habet [i.e. Becanus, U.P.] ita: Qui cultoribus suis multa bona corporis & animi largiuntur, illi piè & cum fructu invocari possunt. Sancti hoc faciunt, quia teste Becano, alijs sanitatem, alijs castitatem, alijs profectum in studijs largiuntnr [sic]. E. pie & cum fructu invocari possunt. Respondeo in propositione est impia subjecti recipientis circa se fallacia; alias enim Diabolus piè invocari posset, qui non paucos in sellam Pontificiam promovit. In minori 30 Vgl. Jürgen Stenzel: Rhetorischer Manichäismus. Vorschläge zu einer Theorie der Polemik. In: Formen und Formgesichte des Streitens. Der Literaturstreit. Hg. von Franz Josef Worstbrock und Helmut Koopmann. Tübingen 1986 (Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses 2), S. 3–11, hier S. 7: „Das Angriffsziel polemischer Rede läßt sich nunmehr genauer beschreiben. Der Polemiker soll samt seiner Position in den Augen der polemischen Instanz als wertvoll erscheinen, der Angegriffene und seine Position als minderwertig. Polemik folgt dem Schema eines säkularisierten Manichäismus, das die Beteiligten in die Extremregionen von Licht und Finsternis auseinandertreibt. Sei es ein Individuum oder eine Gruppe – das polemische Objekt soll geschwächt und zum sozialen Außenseiter oder gar Feind gestempelt werden, dem die geschlossene Front von Polemiker und Publikum gegenübersteht.“ 31 Vgl. Paintner, Aus der Universität auf den Markt (wie Anm. 7). 32 Meyfart, Disputatio theologica prior (wie Anm. 1), fol. A4v: „Er [Becanus, U.P.] bringt außerdem folgendes Argument: Diejenigen, die ihren Verehrern viel Gutes sowohl hinsichtlich des Körpers als auch des Geistes gewähren können, dürfen in Frömmigkeit und mit Nutzen angerufen werden. Die Heiligen tun dies, weil sie, wie Becanus bezeugt, den einen Gesundheit, den andern Keuschheit, wieder andern Erfolg bei ihren Studien gewähren. Folglich können sie in Frömmigkeit und mit Nutzen angerufen werden. Ich entgegne, daß im Obersatz eine gottlose Selbsttäuschung des empfangenden Subjekts vorliegt, andernfalls könnte nämlich auch der Teufel in Frömmigkeit angerufen werden, der bereits einigen auf den päpstlichen Thron geholfen hat. Auf die minor entgegne ich zweitens, daß sie eine Fälschung der Ursprungsgründe ist: Es ist falsch, daß die Heiligen ihren Verehrern diese Güter gewähren können.“

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2. est fallacia causarum procreantium: falsum est, quod sancti h[ae]c bona suis cultoribus pr[ae]stare possint.

Nicht nur, wenn auf der Inhaltsebene die Heiligenverehrung mit der Teufelsanbetung verglichen wird, wird der Gegensatz zwischen richtiger und falscher, lutherischer und katholischer Lehre deutlich. Er wird vielmehr auch formal inszeniert: Allein durch den stetigen Wechsel von dritter und erster Person (hier beispielhaft: Alterum argumentum habet – Respondeo) wird deutlich, daß zwei gegensätzliche Positionen vertreten werden; vor allem das die Sprecherposition markierende „Respondeo“ trägt dazu bei, daß das Publikum sich mit dieser identifiziert. Die Parallelen zu zeitgenössischen kontroverstheologischen Traktaten, nicht zuletzt zu Meyfarts eigenem Anti-Becanus, sind an dieser Stelle unübersehbar.33 Der Thesendruck kann unabhängig von seiner Verwendung als Grundlage einer Disputation als eigener kontroverstheologischer Traktat über die Heiligenverehrung gelesen werden. Kontroverstheologische Traktate zeichnen sich im Unterschied zur Grundform des Thesendrucks dadurch aus, daß auch die gegnerische Position in sie eingeschrieben ist und als Kontrastfolie dient, vor der sich die Position des Sprechers um so deutlicher und überzeugender absetzt. Es ist anzunehmen, daß diese kontroverstheologische Komponente der Thesendrucke auch in den mündlichen Disputationen deutlich zutage trat. Da die Thesen des Respondenten aus der Auseinandersetzung mit Becanus gewonnen sind, ist davon auszugehen, daß sich die Einwände des Opponenten auf diese Auseinandersetzung bezogen. Wir haben oben von einem „doppelten Opponenten“ gesprochen, um die unterschiedlichen Positionen von Becanus und dem ‚tatsächlichen‘ Opponenten zu markieren. Obwohl beider Positionen nicht deckungsgleich ineinander aufgehen, ist davon auszugehen, daß durch die kritischen Einwürfe des ‚tatsächlichen‘ Opponenten Becanus als ‚unsichtbarer‘ Opponent auch beim mündlichen Akt der Disputation zugegen war. Wenn Respondent und Opponent darüber stritten, wie Becanus am stichhaltigsten zu widerlegen sei, so war die stetige Aktualisierung der in Becanus personifizierten katholischen, gegnerischen Position sicherlich beabsichtigt, gab sie doch vor allem dem Respondenten die Möglichkeit, die eigene, orthodoxe Position um so deutlicher herauszuarbeiten. In diesem Sinne läßt sich also von der mündlichen Disputatio ebenso wie vom Thesendruck als einer ‚Kontroversdisputation‘ sprechen. Beide enthalten polemische Elemente, indem sie ein positives „Wir“ von einem negativen „Anderen“ in Hinblick auf die theologische Lehre von der Heiligenverehrung abgrenzen.34 In doppelter Hinsicht markiert der Begriff ‚Kontroversdisputation‘ den „Sitz im Leben“ der fraglichen Disputationes, die bei Meyfart in prägnanter Form vorliegen, sicherlich aber auch häufiger anzutreffen sind. Zum einen sind sie direkter Ausfluß aus Meyfarts kontroverstheologischer Auseinandersetzung mit Becanus, die zunächst vom gymnasialen Disputationswesen unabhängig war, deren Themen Meyfart aber offenbar einen dankbaren Stoff für die unter seinem Vorsitz stattfindenden Dis33 Vgl. Hallier, Meyfart (wie Anm. 9), S. 33, 43. 34 Vgl. Stenzel, Rhetorischer Manichäismus (wie Anm. 30).

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putationen boten. Zum anderen beschreibt der Begriff ‚Kontroversdisputation‘ aber auch eine von der üblichen Disputation abweichende bzw. über diese hinausgehende Funktion dieser Veranstaltungen. Dient die übliche (theologische) Disputation im Zeitalter der Konfessionalisierung zunächst der binnenkonfessionellen Verständigung, so ist hier die Abgrenzung vom konfessionellen Gegner zugleich mit angelegt. Erich Trunz sieht die Notwendigkeit, die lutherische Lehre zusammenhängend und in klarer Abgrenzung vom Katholizismus darzustellen, vor allem für die Zeit um 1600 in der Reaktion auf das Wirken jesuitischer Kontroverstheologen wie Coster, Bellarmin und Becanus.35 Konfessionalisierung im Sinne der Herstellung von klar begrenzter Orthodoxie, von Herausbildung konfessioneller Identitäten in deutlicher Abgrenzung vom jeweiligen Gegner findet um diese Zeit vor allem in polemischen Schriften statt, die als Medien der Distanzkommunikation ein denkbar breit gefächertes, auch konfessionell gemischtes Publikum ansprechen. Das Beispiel der Meyfartschen Disputationen zeigt jedoch, daß auch in schulischen oder universitären Präsenzveranstaltungen, bei denen Teilnehmer und Publikum einer gemeinsamen Konfession angehören, konfessionelle Polemik betrieben wird. Abschließend ist nach den Gründen für dieses Phänomen zu fragen und andeutungsweise zu überlegen, welchen Einfluß dies auf die ursprünglichen Funktionen der Disputatio hat.

IV. Fazit: Kontroversdisputationen Die Funktion des institutionalisierten Disputationswesens ist vielfältig: Disputationen dienen als Leistungsnachweis, zur Wissensvermittlung und zum Wissensaustausch, zur Entwicklung und Etablierung neuer Ideen, zur akademischen Repräsentation und Selbstvergewisserung und nicht zuletzt zur Vorbereitung der Studierenden auf ihre späteren Berufe.36 Öffentliches Auftreten und Reden, stichhaltiges Argumentieren und die Auseinandersetzung mit Einwänden gehören für den größten Teil der Berufe, die eine akademische Ausbildung voraussetzen, zum täglichen Geschäft, und die hierzu erforderlichen 35 Trunz, Meyfart (wie Anm. 2), S. 75: „Luther hatte niemals ein zusammenfassendes System seiner Lehre gegeben. Sein Werk bestand aus Bibelexegesen vielfältiger Art und Stellungnahmen zu zahlreichen Fragen, die sich aus dem Werk der Reformation ergaben. Erst Melanchthon hatte ein zusammenfassendes Werk verfaßt, das die Hauptpunkte der lutherischen Lehre in lockerer Folge behandelt, die ‚Loci communes‘ [...]. Zum Widerstand gegen die Werke von Coster, Bellarmin und Becanus war dieses Werk aber wenig geeignet, und noch weniger waren es die ‚Confessio Augustana‘ von 1530 und die ‚Formula concordiae‘ von 1577, die nur umständliche Formulierungen der Lehrmeinung waren. So erwuchsen den lutherischen Theologen um 1600 zwei Aufgaben: die eine war, ihre Lehre als ein großes Gebäude darzustellen; die zweite war, eine Kontroverstheologie zu entwickeln, die nicht nur biblisch begründet und begrifflich klar war, sondern auch logisch und rhetorisch schlagkräftig die katholischen Argumente zurückwies.“ 36 Marti, Disputation (wie Anm. 4), Sp. 869.

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Eigenschaften – Eloquenz, sicheres Auftreten, rhetorisches Geschick – werden in der Disputatio trainiert. Dabei tritt die ‚Trainingsfunktion‘ der Disputatio immer mehr in den Hintergrund, je weiter die Teilnehmer – vor allem der Respondent – im Studienverlauf bzw. in der akademischen Karriere fortgeschritten sind. Während also von einer Schuldisputation zu erwarten ist, daß sie inhaltlich wenig Neues bietet, dafür aber den Schülern/ Studierenden Raum bietet, ihre fachliche Qualifikation zu beweisen und zudem die heute so genannten softskills zu trainieren, ist beispielsweise für pro gradu-Disputationen zur Erlangung eines Doktorgrades davon auszugehen, daß die fachlichen Probleme höher zu veranschlagen sind als der Trainingsfaktor für öffentliches Auftreten. Um so erstaunlicher ist es, daß kontroverstheologische Aufgabenstellungen, die als inhaltlich anspruchsvoll gelten und große Anforderungen an Talent und Charakter des Kandidaten stellen,37 in ansonsten sehr deutlich formalisierten, eher für einen geringen Studienfortschritt konzipierten Gymnasialdisputationen bearbeitet werden. Wir haben oben skizziert, daß das Thema Heiligenverehrung im frühen 17. Jahrhundert keine besonderen inhaltlichen Schwierigkeiten mehr bot, da es bereits ausführlich diskutiert worden war und die konfessionellen Positionen klar abgesteckt waren. Die Schwierigkeit der beiden Disputationes für die Respondenten lag also nicht im Thema selbst, sondern in der kontroverstheologischen Anlage. Es galt nicht nur, die eigenen Thesen sicher und stichhaltig zu begründen, sondern zugleich, die katholischen Thesen effek37 Zu den erforderlichen Qualifikationen für einen Kontroverstheologen vgl. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon, s.v. Polemische Theologie. Bd. 28. Leipzig und Halle 1741, Neudruck Graz 1982, Sp. 1079–1100, bes. Sp. 1084: „Die Vertheidigung der Wahrheiten wider die Einwürffe, welche die Feinde machen, erfordert drey Stücke: man muß die Wahrheit selbst deutlich und distinct vortragen, damit die Gegner deren Sinn und Meynung richtig fassen können: ist das geschehen, so hat man sie mit hinlänglichen Gründen zu beweisen, und dabey nicht so wohl auf eine grosse Anzahl, als vielmehr auf die Wichtigkeit derselbigen zu sehen; worauf man die Einwürffe, welche man macht, nach einander durchzugehen und gründlich zu beantworten hat. Die Widerlegung der Irrthümer ist deutlich, redlich und gründlich anzustellen, und muß daher drey Eigenschafften haben. Die Deutlichkeit erfordert, daß man vor allen Dingen die Beschaffenheit der Streitfrage erkläret, und alles, was zu deren wahren und richtigen Begriff nöthig ist, auseinander setzet, damit man auf keine Abwege gerathe, auf keine Logomachien verfalle, noch ein vergebliches Disput anfange. Zu solcher Deutlichkeit kommt billig die Redlichkeit, krafft deren man die Meynungen derjenigen, die man widerlegen will, aufrichtig anführet: zu dem Ende die symbolischen Bücher und die Hauptschrifften der Gegengesinnten selbst lieset, alles in seinem gehörigen Zusammenhang wohl erweget, die Beweißthümer, welche sie anbringen, richtig berühret, und nicht die schwächsten an statt der stärcksten vor sich nimmt. Und wenn es damit seine Richtigkeit hat, so folget denn die Widerlegung selbst, welche billig gründlich seyn muß, das ist, man hat sie so einzurichten, daß man den Grund, darauf der Irrthum beruhet, umstösset, und also andere von dem Ungrund der falschen Lehre überzeuget werden. Sollen wir die Wahrheiten vertheidigen und die Irrthümer widerlegen, so muß das nach Anweisung der heiligen Schrifft geschehen, welches der dritte Begriff ist, den die Definition in sich fasset.“ Besonderer Wert wird zudem auf den „Geist der Wahrheit und der Liebe“ gelegt, der in der Kontroverstheologie herrschen solle; vgl. ebd. Sp. 1099.

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tiv zu widerlegen. Die Qualifikationsziele – um erneut einen modernen Ausdruck zu verwenden – lagen also weniger im inhaltlichen Bereich als vielmehr im Bereich der softskills. Bereits Erich Trunz hat darauf hingewiesen, daß die Einübung der konfessionellen Auseinandersetzung im schulischen bzw. akademischen Umfeld der praktischen Berufsvorbereitung der Absolventen diente. Ein nicht geringer Prozentsatz von ihnen wurde später als Pfarrer bzw. Geistliche tätig und sah sich im Alltag mit der Notwendigkeit konfrontiert, direkten Auseinandersetzungen mit den Jesuiten standzuhalten oder der eigenen Gemeinde gegenüber überzeugende katholische Argumente entkräften zu müssen.38 Ergänzend ist hinzuzufügen, daß die polemische Ausrichtung dieser Auseinandersetzung im Sinne einer nicht auf Einigung zielenden, sondern auf klare Abgrenzung angelegten Argumentation vor allem vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges an Bedeutung gewinnt. Läßt sich schon seit den 1580er Jahren eine fortschreitende Politisierung des Konfessionskonflikts feststellen, die eine theoretisch immer noch angestrebte Einigung auf theologischer Ebene in weite Ferne rücken ließ, so wurde eine solche Einigung nach 1618 immer unwahrscheinlicher. Dementsprechend genügte eine Ausbildung in der letztlich auf Konsens zielenden Diskussionsform der Disputatio nicht mehr, um künftige Theologen und Geistliche auf ihren Beruf vorzubereiten. Geübt werden mußte vielmehr der Dissens: die klare Markierung zweier entgegengesetzter Positionen unter der Prämisse, daß nur eine dieser Positionen wahr sein kann. In diesem Sinne entspricht eine Neuausrichtung der Disputation als Kontroversdisputation, wie wir sie bei Meyfart gesehen haben, durchaus den historisch bedingten Anforderungen an die Disputatio sowohl als Textgattung als auch als universitären Veranstaltungstyp. Es wäre in weitergehenden Forschungen auf breiterer Materialbasis zu klären, ob diese Form sich durchsetzen konnte und welche Rückwirkungen diese Entwicklung letztlich auf Form und Gebrauch der Disputatio insgesamt hatte. Die Vermutung liegt nahe, daß die Instrumentalisierung zu konfessionspolemischen Zwecken zum häufiger konstatierten ‚Verfall‘ der Disputatio beitrug. Je mehr der kontroverstheologische Nutzen in den Mittelpunkt rückte, um so wichtiger wurde die strenge Formalisierung, um so mehr traten Möglichkeiten, aus dem ‚institutionalisierten Dissens‘ auszuscheren und tatsächlich neue Ideen zu entwickeln, in den Hintergrund. Wo die Möglichkeiten der Disputatio an ihre Grenzen stießen, bleibt für den Disputationsforscher allerdings noch viel zu tun.

38 Trunz, Meyfart (wie Anm. 2), S. 76.

Donald Felipe (San Francisco, CA)

Notes On Some Early Disputation Handbooks The tradition of the disputation handbook, which thrived most especially in the Lutheran schools of Central Germany in the early to mid 17th century, remained almost entirely ignored by contemporary scholarship until around twenty years ago.1 The work of Hanspeter Marti has been groundbreaking and instrumental in bringing the relevance and content of the tradition to light, but much remains to be done.2 I am honored and pleased to offer this minor contribution in this Festschrift to further an understanding of this tradition. In this paper I will focus on a few specific topics regarding the emergence of the handbooks in the early 17th century, most especially the role of logic and some key relationships between pedagogy, logic and theological dispute that may partially explain why disputation handbooks flourish most especially in Lutheran circles.3 The handbook that will primarily concern us here is the pivotal work De analysi logica by Cornelius Martini, which was printed eight times between 1619 and 1659.4

1 See Hanspeter Marti: Art. ,Disputation‘ and ,Dissertation‘. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Gert Ueding (Ed.). Vol. 2. Tübingen 1994, pp. 866–884. See also Donald Felipe: Ways of disputing and principia in 17th century German disputation handbooks. In: Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Marion Gindhart and Ursula Kundert (Eds.). Berlin / New York 2010, pp. 33–61; Post-Medieval Ars Disputandi. Ph. D Dissertation. Ann Arbor 1991. A select bibliography of disputation handbooks is provided at the end of the paper. 2 Hanspeter Marti: Philosophieunterricht und philosophische Dissertationen im 17. und 18 Jahrhundert. In: Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis 19. Jahrhundert. Rainer Christoph Schwinges (Ed.). Basil 1999, pp. 207–232; H. Marti: Kommunikationsnormen der Disputation. Die Universität Halle und Christian Thomasius als Paradigmen des Wandels. In: Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Ulrich Johannes Schneider (Ed.). Wiesbaden 2005, pp. 317–344. 3 Freedman notes that despite the fact that Jesuit institutions published a considerable number of disputations in the late 16th century the only treatise by a Jesuit on disputation theory in the 16th and 17th centuries is Henricus Marcelius: Ars disputandi ex optimis Academicarum legibus concinnata. Cologne 1658. Joseph S. Freedman: Published academic disputations in the context of other information formats utilized primarily in Central Europe (c. 1550–c. 1700). In: Disputatio 1200–1800 (ftn. 1), p. 94, ftn. 13. See also Felipe (ftn.1), p. 34. 4 Cornelius Martini: De analysi logica. Helmstedt 1619. The fourth edition published in Helmstedt in 1659 was used in preparing this paper.

Notes On Some Early Disputation Handbooks

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A complete account of how handbooks on disputation emerge in the early 17th century should address certain developments in the 16th century, which cannot be initiated here. Generally, tracts on how to carry on disputation are common in 16th century logic textbooks, Protestant and Catholic, and the long and rich tradition of disputation as a method of instruction and testing has vibrant life. Around the turn of the century substantial books on how to dispute, some well over one hundred pages in length, begin to appear in Germany that differ considerably in character from 16th century sources. A few contrasts between what is arguably one of the first disputation handbooks, Erotemata de disputatione by the Catholic Augustine Hunnaeus of Louvain, first published in 1564, with two early Protestant handbooks by Henning Rennemann (1605), professor at Erfurt, and Hamburg pastor and theologian Jacob Reneccius (1609), are instructive in this regard.5 The twenty seven page work of Hunnaeus, which he himself calls a libellum, has several general traits in common with many later 17th works: he provides a brief dedication and some commentary on the purpose and usefulness of disputation itself and of the account or theory of disputation (ratio disputandi) to be explained in the work. The account that follows treats a variety of common topics, a definition of disputation, descriptions of rules for responding (or defending) and opposing (or attacking), and an example of a disputation. Hunnaeus rather poetically praises the educational benefits of disputation, particularly exercises demonstrating knowledge of logical principles, but there is no indication in the work that he writes for a hostile or divided audience, nor does he address any controversial questions on how to dispute; he merely asserts that he will ‚release‘ (absolvemus) the praiseworthy theory of disputing observed at the academy of Louvain, which he does by addressing a series of questions (erotemata) and by providing an example of a disputation.6 But the sample disputation appears to be an academic exercise, which does not deal with matters of theological or topical controversy: a dialectical treatment of a rhetorical paradox discussed by Cicero that „all wise men are free and all foolish men are servants.“7

5 The 1569 edition was used in preparing this paper: Augustin Hunnaeus: Erotemata de disputatione. In: Prodidagmata de dialecticis vocum affectionibus et proprietatibus. Antwerp 1569, pp. 87–116; I recently learned of an earlier handbook by Hunaeus: De Disputatione. Louvain 1551. A cursory review of the handbook turns up no clear and obvious structural differences with the Erotemata. Jacob Reneccius: Artificium Disputandi, Praeceptis Logicis, & Exemplis Theologicis Dispositum Atque Expositum. Wittenberg 1609; Henning Rennemann: De legitima ratione recte disputandi. Commentatio publicae disputationis in Acad. Erfurtensi Examini subjecta: Respondente Caspare Bussio Calenbergo. Jena 1605. Strictly speaking, Rennemann presents commentary on a public disputation on the ‚right theory of correctly disputing‘. But, the commentary of around eighty pages or so is clearly intended as a guide on how to dispute and hence can be considered to fall into the early handbook tradition. 6 Hunnaeus (ftn. 5), p. 89. 7 Hunnaeus (ftn. 5), p. 100.

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In sharp contrast to the rather civil and gentlemanly tone of Hunnaeus the handbooks of both Rennemann and Reneccius are strewn with themes of bitter theological conflict and educational crisis. At the beginning of the preface of Rennemann’s work he denounces and sharply scolds those who would view his commentary on disputation as fruitless.8 Rennemann’s scathing comments indicate the existence of skepticism at the Erfurt academy about the benefits of disputation. And then in explaining some of the common benefits of disputation he immediately stresses the importance of knowing how to dispute in refuting the Jesuits of Ratisbonne. The handbook by the Hamburg Pastor Reneccius, on the other hand, is entirely focused on theology; in the extended title Reneccius describes the context of his work as „a storm fertile and abounding with many heresies“ and claims he will provide the tools to refute the „rubbish and tricks“ of Papist and Calvinist opinions.9 The text provides example after example on how to refute false theological doctrine in disputation and treats rules of responding and opposing only in the last few pages. Both these works, which deserve more thorough and careful study, are focused on use of disputation in education and in theological polemics, and are written with the ambition of treating perceived problems of education and the rejection of heresies through teaching and implementing the correct theory (artificium or ratio) of disputing. These early 17th century disputation handbooks, unlike their 16th century predecessors, function as polemical instruments addressing the two of the greatest issues for Protestant Central Europe: how to vindicate and defend the true articles of faith and how to best educate the young. Many more contrasts between these works could be discussed. I explore merely one relevant to Martini and the tradition to follow. Hunnaeus explains a common rule that participants in a dispute should have „sedate and serene spirit“ and behave civilly. The same theme is common in 16th century tracts.10 The Protestant Rennemann also provides an extended treatment of ethics, which addresses not merely codes of behavior but relationships between faculties exercised in disputation and ethical traits. For instance, Rennemann connects the use of the „correct paths of the laws of disputation“ to the „skillful faculty [...] of seeking the truth, of exercising acumen of the mind, of sensible judgment“,

8 Rennemann (ftn. 5), p. 2. 9 See ftn. 5. The extended title reads: Artificium Disputandi, Praeceptis Logicis, & Exemplis Theologicis Dispositum Atque Expositum, omnibus iis, qui hac tempestate, multorum haereticorum fertile ac feraci, veritatem serere, falsitatem vero terere discupiunt, cum perutile, tum necessarium: quippe in quo Praeter alias quisquilias strophasque & Pontificorum & Calvinanorum opinionum, quae tanquam sanae ac subtiles, cum tamen sint versanae & puerile [...]. 10 Goclenius makes a distinction between the ethical and logical duties held in common by all disputants in his early handbook. Rennemann refers to Goclenius in developing his comments on ethics. See Rennemann (ftn. 5), p. B3. Also see Rudolf Goclenius: De legitima disputandi ratione. In: Rudolph Snellius: Commentarius doctissimus in dialecticam Petri Rami [...]. Herborn 1587, pp. 108– 111.

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among other things.11 He concludes that „there is nothing more apparent in the matter of learned men than that they possess for themselves the true and legitimate theory of true disputation that has been explored and premeditated (praemeditatam)“. And then later, in discussing a rule that the disputator must possess moderation in speaking, which requires „serene and amicable speech“, Rennemann connects sound judgment with moderation; „judgment must be preserved whole“, he says, so that „judgment is least perturbed by some storm of dispositions, which, swift and enflamed spread a certain smoke over the principle and faculty of judging, by which the clear discernment of truth is impeded“.12 Philippo-Ramist educational philosophy and humanism are both relevant to this characterization of the theory of disputation (ratio disputationis);13 Melanchthon’s conception of dialectic as ars docendi and Vives’s characterization of disputation, which Rennemann makes reference to, as „a faculty of the human intellect examining the truth one receives from God“, are essential background; in accordance with Vives’s description of the nature of disputation, correct disputation involves the development and application of the intellect and judgment in grasping the truth, to the extent that truth can be grasped.14 And, in accordance with Melanchthon’s conception of dialectic, disputation naturally involves teaching that aims for the correct development of faculties of reasoning and judgment.15 11 Rennemann (ftn. 5), p. 2. Ut enim ex vero illius secundum rectos legum tramites usu comparatur veri indagandi, sensa animi facunde pro tempore proferendi, acumen ingenii exercendi, sollerter in rebus judicandi, & sophisticis cavillationibus occurendi sollers facultas; sic ex privato ejusdem, prostratis et evulsis legum terminis abusu non nisi scurrilis cavillationis, anilis altercations, odiosae de frigidissimis quibusque naeniis vociferations, & proculcatae tandem veritatis stadium progerminat. Adeo ut nihil e studiosorum magis esse adpareat: quam si veram & legitimam verae Disputationis rationem sibi praemeditatam et exploratam habeant. 12 Rennemann (ftn. 5), p. B5: Judicium enim integrum est servandum: minime perturbatum tempestate aliqua adfectionum: quae incitatae & accensae velut fumum quaedam rationi & facultati judicandi offundunt: quo veri perspicientia impeditur. 13 Rennemann’s handbook needs further study, but his conception of disputation, which includes reference to the ars disserendi (see Rennemann, ftn. 5, p. 3 and A2), and his general eclectic treatment of disputation, appear consistent with Risse’s brief characterization of him as a Philippo-Ramist eclectic who admires Aristotle, but accepts the idea that Aristotle is an enemy of Christian faith (see Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Vol 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964 p. 182). It should also be noted that by 1605 Rennemann views himself as writing in a tradition of prior commentary on disputation, citing Vives, Goclenius and Hunnaeus as antecedents. See Rennemann (ftn. 5), p. 10. 14 Ludovicus Vives: De Disputatione. In: id.: Opera omnia. Tomus III. Valentia, 1782, p. 68: ad purgandos autem hosce cortices ut nucleus prodeat purus, ingenium humanum examinandae veritatis facultatem a Deo accepit, cujus functio disputatio nominantur. Vives’s definition is explicitly mentioned by Rennemann in his explanation of the definition of disputation; see Rennemann (ftn. 5), p. A4. 15 Philipp Melanchthon: Erotemata Dialectices. Wittenberg 1547. Reprinted in: Philippi Melanthonis Opera Quae Supersunt Omnia. Carolus Gottlieb Bretschneider (Ed.). Halle 1846, Vol. XIII, pp. 513–514.

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Hence, the true theory of disputation should provide rules, strategies, guidance and other advice on how to nurture and apply these faculties in the act of disputing. Likewise, the act of disputing is social and will involve ethics and moral virtues, including piety. A similar concern on teaching and development of intellect, character and ethics is evident in Martini’s handbook, although the identification of dialectic and logic with the ars disserendi is rejected; Martini focuses on teaching the proper use of logic as an instrumental ‚habit‘ that can be applied across disciplines (habitus instrumentalis) following the philosophy of Zabarella. The theoretical presuppositions to this approach to teaching carry many implications for disputation that I will briefly address below. Cornelius Martini is well known as perhaps the most important figure in the early development of the German school metaphysics and as an extremely influential Aristotelian scholastic, who plays key roles in the so-called ‚Hoffman-Streit‘ over the theory of double-truth and in bringing an end to Ramist influence at schools in Central Germany.16 At first glance the primary concern of De analysi logica appears to be the dispute with Hoffman and other irrationalists, which is indicated by a preoccupation in the preface with the issue of whether or not theology could or should be disputed. But the ambitions of the theory of logical analysis reach far beyond this context; Martini’s ultimate aim is to teach the proper use of logic in disputation through commentary, argument (which includes criticism and correction of other handbooks, like Reneccius)17 and examples, and to treat the same overarching issues of theological dispute and education that are of concern in the Rennemann and Reneccius handbooks. The theory of the use of logic (logical analysis) presented in the work provides an influential theoretical framework for later handbooks and insights into the oral disputation practice of the time. Martini’s general position against irrationalism is presented in the preface, and serves as a theoretical basis for the work to follow. The thesis of Hoffman is assumed: truths of theology cannot be grasped and justified by reason, and that, therefore, theology cannot be disputed, nor should it be disputed. The foundation for Martini’s response is the distinction between things themselves in nature and Sacred Scripture as distinct kinds of sources of truth.18 From these sources of truth others truths can be deduced only through the correct use of logic. Formal logic, that is, the formal consequence relation, guarantees that something necessarily follows from something else by the form of the sentences and disposition of terms. It is divine and infallible, a gift from God. Inattention to the correct 16 Max Wundt: Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1939, pp. 98–102. Also see, Kornelius Martini: „De natura logicae“. Prolegomeni ad un corso di lezioni del 1599, a cura di Riccardo Pozzo. In: Rivista Di Storia Della Filosofia 3 (1989), pp. 501–502. 17 Martini explains five criticisms against Artificium disputandi of Reneccius; all have to do with formal errors of reasoning. See Martini (ftn. 4), pp. 131–141. 18 A rather clear account in English of how this crucial distinction fits into Martini’s analytic approach to metaphysics can be found in Ian Hunter: The university philosopher in early modern Germany. In: The Philosopher In Early Modern Europe. Conal Condren, Stephen Gaukroger, and Ian Hunter (Eds.). Cambridge 2006, pp. 35–65.

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use of logic, Martini claims, has led to the propagation of fraudulent opinions even from most learned men. Likewise arbitrary articles of faith are „dreamed up“, which results in „sterile piety“, due to neglect of „good consequence“ or „correct reasoning“. Reasoning that observes the laws of formal logic and is based on the word of God, an infallible source of truth, allows for sound deductions and disputation of theology, which will defend true faith and refute heresy.19 Disputation that does not observe correct logic and Scripture, on the other hand, will result in disaster. Hence, Martini demands observance of the principle, si disputandum sit, logice disputandum esse (preface, 6–7). The main criticism of irrationalism and the theory of double-truth is rather obvious and nothing new: holding theology immune from dispute, and hence not subject to the laws of logic, opens the flood gates to theological belief. Articles of faith can be arbitrarily „dreamed up“ and there exists no rational means for evaluating competing theological claims. But, Martini’s critique places special emphasis on the claim that educating the „good logician“ (bonus logicus) is a cornerstone for sound education of the young and the defense of articles of faith. The teaching of logic and the proper application of logic, as a divine and infallible aid in discerning truth, thus more clearly emerge as matters of keen spiritual concern; and the proper practice of logic and dispute is more clearly articulated and transparently aligned with theory. From the perspective of early 17th century thinkers, the stakes of the debate engaged in De analysi logica could not be higher: educational philosophy that is both theologically and philosophically sound hangs in the balance, and the „good logician“, according to Martini, is essential to its actualization. Martini’s conception of logical analysis presupposes Aristotelian theory on logic, perception, knowledge and method borrowed from Zabaralla, all of which are crucial to developing the notion of the good logician. Providing justification for theory is not the primary concern of the work, since logical analysis itself tacitly involves the application of logical theory. The distinction between application and theory immediately emerges as a foundational concept in the handbook tradition after Martini, which will be discussed below. Logical analysis can concern ,form‘ or ,matter‘, and thus is treated in two parts. Formal analysis examines logical consequence, that is, the disposition of terms in a syllogism, whereas material analysis examines logical relations between the terms in a syllogism by considering the primary concepts (primae notiones) insofar as they can be bought under second intentions. The good logician is conceived as a general scientist able to identify and evaluate the logical properties of terms, sentences, relationships between concepts, and, most importantly, the formal consequence relation. The formal aspect of logic has implications for disputation procedure, which already exist as norms in common practice. First, the status of the controversy (status controversiae) must be established, which at the very least involves clarifying the issue so that the thesis and its contradictions can be clearly identified. Second, deductions that guarantee truth in disputation require good form, and hence procedurally the form of an argument must be 19 Martini (ftn. 4), pp. 3–7.

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examined first before the Respondent makes any move with regard to the matter or premises of the argument. This idea is already present in prior handbooks, but Martini further clarifies the rule in what I believe is the first reference to a common rule of proof borrowed from Roman law and observed in schools in Central Germany, affirmanti incumbit probatio (214–215).20 Martini admits that this is a good rule when applied to ,matter‘ or the premises of an argument but not to the form; the rule demands that the opponent or the one who asserts an argument is required to prove, but it is the Respondent’s responsibility to examine and prove denials of form. The identification of the Praeses with the Respondent, which occurs in both early and later handbooks, is relevant to this rule: the Respondent functions as the guardian of good form which, among other things, serves as a divine instrument for the defense of articles of faith and refutation of heresies. Formal logic and the theory of the syllogism are in effect placed at the service of school authority as means for regulating argument in disputation. The material aspect of logical analysis and the assumption of an Aristotelian theory of perception play crucial roles in the identification and justification of principles in disputation, that is, those propositions considered undeniable by the rule contra negantem principia non est disputandum. These principia are identified in later handbooks as the foundations for all argument in disputation and serve as cornerstones for the entire edifice of Schulphilosophie.21 The theory of perception, again borrowed from Aristotle through Zabarella, assumes that under certain conditions, on the basis of abstraction and the grasping of primary notions, one can have certainty in some knowledge claims.22 Logical analysis of these material claims will involve comprehending the logical relations that hold among the primary notions, and these logical relations are indicated by the second intentions under which the primary notions subsist, like species, genus and differentia. Logical relationships between primary notions can be captured in genus-species hierarchies, which characterize the logical structure of the nature of things from which the primary notions have been abstracted and grasped by the intellect. Logical analysis of matter thus allows a scientist, the good logician, to grasp and map out relationships between terms and concepts across disciplines and to identify the proper domain or discipline for principles, and to avoid category mistakes.23 The conception of logic as a habitus or disposition of the intellect naturally raises questions of the relationship of the habitus of logic with other dispositions of soul, most especially moral virtues and piety. In the preface Martini assumes that true belief is necessary 20 See Felipe (ftn. 1), p. 46. 21 Ibid., pp. 44–60. 22 Principles identified through these kinds of abstractions from sense perception are mentioned in both the handbooks of Dannhawer and Calov. See Johann Conrad Dannhawer: Idea boni disputatoris. Straßburg 1629. And see Abraham Calov: Tractatus novus de methodo docendi et disputandi. Rostock 1637. These kinds of principles are discussed in Felipe (ftn. 1), pp. 54–57. 23 Martini (ftn. 4), pp. 218–230.

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for piety in the full sense at least, and he argues that logic is a necessary instrument to vindicate articles of faith. Piety and logic are thus intimately related to one another, particularly as far as teaching is concerned. A similar thesis, borrowed from the Nicomachean Ethics, is developed regarding moral virtues. Knowledge of „right reason“ (recta ratio) is necessary for virtuous and prudent action, and logic is an instrument for discerning „right reason“.24 Rhetoric and logic are distinguished on this score; although rhetoric possesses norms of conduct that prohibit dishonesty and fraudulent persuasion, rhetoric cannot be employed as an instrument for discerning correct rational principles, since its proper aim is persuasion and not truth. The ethical aspects of disputation and dialectic, which are stressed in Vives and the earlier handbooks of Goclenius and Rennemann, remain of key concern in Martini and are interpreted and explained within his Aristotelian framework. Finally, the tacit distinction between the theory of the use of logic in disputation and logical theory itself is immediately picked up in later works with new terminology. Conrad Horneius, Martini’s student, publishes the work De processu disputandi just four years later in 1624, in which he claims to treat the same subject matter as De analysi logica. Horneius explains that logical analysis and the process of disputation are the same insofar as they involve the application of logical theory in dispute. He draws an analogy with jurisprudence. Just as the theory of law, that involves accounts of legal principles and rules, can be distinguished from the process of law or the application of law, so too the theory of logic (the account of logical rules and principles) differs from the process of disputation (the application of logic).25 I cannot find an earlier use of the term processus disputandi in the German handbook tradition, which Horneius appears to derive from the analogy with processus juris. The process of disputing, as Horneius understands it, merely involves teaching how to use logic in disputation. Hence, his textbook, like De analysi logica, provides copious examples that selectively address the application of certain logical concepts, like predicaments, predicables, supposition, theory of proof (ratio probandi), without explaining and teaching the concepts themselves. Also, both Horneius’s and Martini’s textbooks presuppose structured school disputation and adherence to duties of responding and opposing in many instances, but not all. In fact most of the commentary on how to apply logical concepts would naturally apply to dialectical situations in other contexts. The notion of processus disputandi appears to undergo some changes after Horneius. In the handbook of Scharf, for instance, a distinction is made between the „mode of disputation“, which Scharf says he treated in lectures (praelectiones) on topics and dialectical canons, and „the process of disputing“.26 This distinction seems to mirror in some way Horneius’s treatment of theory and application. But in Scharf the process of disputing is merely the act of disputing itself, which, it is assumed, most especially belongs in a structured school setting. The structure of Scharf ’s handbook differs accordingly. The topics 24 Ibid., pp. 12–14. 25 Conrad Horneius: De processu disputandi liber. Frankfurt 1624, p. 7. 26 See Johann Scharf: Processus disputandi. Wittenberg 1635, pp. 1–2.

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appear to be ordered in a chronology useful to a student whose aim is to study how to prepare to dispute in school, beginning with teaching about proposing theses and constituting the status of the controversy and working through a careful review of the duties of the Respondent, Opponent and Praeses, and the moves available to each. The handbooks of Martini and Horneius, on the other hand, are focused for the most part on how to apply logic in disputation. Construing the process of disputing not as the more general application or use of logic but as the act of disputing appears to shift the focus of the handbook to the structure of the dispute and the duties of the participants.

Concluding Remarks Freedman has noted that there are no disputation handbooks by Jesuits in the 16th and 17th centuries, with the exception of one published in 1659.27 Additionally, many of the handbooks of the early to mid-17th century are written by Lutheran scholastics connected with universities at Wittenberg, Altdorf and Helmstedt.28 As noted at the beginning of the paper, a complete account of the emergence of the genre of the disputation handbook must address important developments in the 16th century. Humanist educational reforms in the 16th century, which resulted in the death of the obligatio and a reevaluation of the nature and usefulness of disputation, are crucial to an understanding of both the increasing volume of commentary on disputation and the character of that commentary.29 In any event, by the turn of the century considerable new commentary existed on disputation that provided a basis for theoretical discussions on how to dispute. In Lutheran circles there were at least two general problems that motivate the production of handbooks on disputation: 1) the need to provide refutations and counterarguments in confessional disputes, 2) the need to provide educational practice and teaching with a firm theoretical foundation amid the many philosophical controversies that existed within Lutheran institutions themselves.30 In the case of Martini the development of theory aims especially at resolving once and for all the issue of how to dispute theology to quell the influence of irrationalism and to establish Aristotelian logical theory and its proper application as instruments of disputation. But the challenge of irrationalism in Lutheran schools, even 27 See ftn. 3. Freedman (ftn. 1), p. 94, ftn. 13. 28 See the bibliography below for a list of these handbooks. See also Felipe (ftn. 1), pp. 33–34. 29 For a succinct explanation between the difference between the obligatio and quaestio as different kinds of disputation in medieval arts faculty, see Olga Weijers: The various kinds of disputation in the faculties of arts, theology and law (c. 1200–1400). In: Disputatio 1200–1800 (ftn. 1), pp. 21– 31. The disputatio that survives and flourishes in the 16th and 17th centuries grows out of the legacy of the quaestio type of disputation. 30 See Walter Sparn: Die Schulphilosophie in den lutherischen Territorien. In: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Vol. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa. Helmut Holzhey and Wilhelm Schmidt-Biggemann (Eds.). Basil 2001, pp. 475–497.

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after Martini and the rising dominance of Aristotle in school philosophy, persists and will not go away quietly. Aristotelian intellectualism and Lutheran fideism remain at loggerheads at a fundamental level, and tensions between the ideal of bonus logicus or the bonus disputator and the ideal of the divine heart, paradoxical articles of faith, like the ubiquity of Christ, and the non-syllogistic narrative of Scripture itself, continue to challenge philosophical assumptions and educational philosophy.31 These tensions, accompanied by the aforementioned educational and philosophical controversies within Lutheran institutions, provide partial explanations for why the theory of disputation (ratio disputandi) is of particular interest to Lutheran scholastics.

Select bibliography of disputation handbooks from the mid-16th to early 18th centuries The bibliography below presents many of the more important disputation handbooks, that is, books devoted to explaining the theory or art of disputing with commentary on rules and strategies and examples. This bibliography does not include all the handbooks, but most of the early handbooks are here. A disputation by Jungius is also included. This bibliography, of course, does not even present a fraction of the works written on disputation in the 16th, 17th and 18th centuries. Tracts and commentary on disputation in logic textbooks are common; there also exist many dissertations on disputation and other commentary in fragments and other works. The importance of the disputatio to European intellectual history in the 17th century can be easily gauged by typing ,disputatio‘ into the VD 17 search engine. The result brings back over 20,000 hits. Böhmer, Justus Henning: Ad methodum disputandi et conscribendi disputationes juridicas. Halle 1730. Calov, Abraham: Tractatus novus de methodo docendi et disputandi. Rostock 1637. Caselius, Martin (Praeses) / Böhm, Christoph (Respondent): De accurato disputandi genere tractatus logicus. Wittenberg 1633. Dannhawer, Johann Conrad: Idea boni disputatoris. Straßburg 1629. Felwinger, Johann Paul: Brevis commentatio de disputatione. Altdorf 1659. Goclenius, Rodolph: De legitima disputandi ratione. In: Rudolph Snell: Commentarius doctissimus in dialecticam P. Rami. Herborn 1587, pp. 102–120. Hansch, Michael Gottlieb: Idea boni disputatoris. Leipzig 1713. Heine, Johann: Methodus disputandi hodierna. Helmstedt 1710. Horneius, Conrad: De processu disputandi liber. Frankfurt 1624. 31 As late as 1668 Andreas Kesler writes a three hundred and thirty six page handbook devoted to addressing issues in the disputation of theology. See Andreas Kesler: Methodus disputandi. Altdorf 1668.

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Hunnaeus, Augustin: De disputatione inter disceptantes dialectice instituenda libellus. Louvain 1551. Hunnaeus, Augustin: Erotemata de disputatione. In: id.: Prodidagmata de dialecticis vocum affectionibus et proprietatibus. (Cologne 11564) Antwerp 1569, pp. 87–116. Jungius, Joachim (Praeses) / Groshermann, Hermann (Respondent). De controversis disputandi legibus disputatio cujus theses in Gymnasio Hamburgensi publice ventilabuntur. Hamburg 1630. Kesler, Andreas: Methodus disputandi. Altdorf 1668. Kortholt, Christian. De processu disputandi papistico tractatus. Kiel 1685. Lange, Joachim: Genuina methodus disputandi. Halle 1719. Langius Caesaremontanus, Joseph: De optimo genere disputandi et colloquendi. Freiburg 1608. Marcelius, Henricus: Ars disputandi. Köln 1658. Martini, Cornelius: De analysi logica. Helmstedt 1619. Möring, Hartmann: Palaestra disputandi architectonica. Minden 1680. Pretten, Johann: Disputandi methodus apprime in usum scholasticae iuventutis brevissime delineate. Leipzig 1669. Pruckner, Johann: Libellus de artificio disputandi. Erfurt 1656. Reneccius, Jacob: Artificium disputandi. Wittenberg 1609. Rennemann, Henning (Praeses) / Busse, Caspar (Respondent): De legitima ratione recte disputandi commentatio publicae disputationis in Acad. Erfurtensi examini subjecta. Jena 1605. Salzhuber, Georg: Methodus disputandi: hoc est, ratio et via recte artificiose in omnibus artibus & scientiis disserendi. Erfurt 1608. Santes, Johannes: Dialogistica seu modus disputandi scholasticus, in discipulorum logicorum usum. Dortmund / Wesel 1630. Scharf, Johann: Processus disputandi. Wittenberg 1635. Schneider, Johann Fridemann: Tractatus logicus singularis in quo processus disputandi. Halle 1718. Thomasius, Jacob: De processu disputandi. In: id.: Erotemata logica. Leipzig 1670, pp. 139–208. Wendeler, Michael: Breves observationes genuini disputandi processus. Wittenberg 1650. Zeisold, Johannes: Processus disputandi Sperlingianus. Jena 1651.

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Arvo Tering (Tartu)

Zur frühen Rezeption von Harveys Theorie des Blutkreislaufs im deutschen Sprachraum Eine apologetische Disputation in Königsberg aus dem Jahre 1651*

Zur Einleitung Von der Antike bis zum 17. Jahrhundert stützte sich die abendländische Medizin hauptsächlich auf die von Galen entwickelte humoralpathologische Theorie, in der das in der Leber entstandene Blut als Transporteur der Nährstoffe in die Körperteile eine wichtige Rolle spielte. Im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert bemerkte man Widersprüche in der Galenischen Lehre von der Blutbewegung (Unauffindbarkeit der Porositäten des Herzseptums, Entdeckung des Lungenkreislaufs und der Venenklappen), der englische Arzt William Harvey veröffentlichte 1628 mit der Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus aber eine völlig neue Auffassung des Blutkreislaufs, die in der Physiologie zu einem Paradigmenwechsel führte. Vorläufig herrschte noch eine erwartungsvolle Stille gegenüber der neuen Theorie, eine sogenannte Inkubationsperiode. Doch mit der Zeit begann man, diese Theorie aufmerksamer zu studieren, vor allem an der Universität Leiden. Die Niederlande wurden zum Stützpunkt ihres Durchbruchs. In den ersten zehn Jahren fand die neue Theorie sehr wenige Anhänger. Man kann etwa die Tatsache, dass der junge Jenaer Professor Werner Rolfink einige Jahre nach der Veröffentlichung des Buches von Harvey die neue Theorie in seinen Vorlesungen vorstellte, eher als eine Ausnahme nicht nur im deutschen Sprachraum ansehen. Außer seinem Schüler und Kollegen, dem späteren Hamburger Arzt Paul Marquard Schlegel, und dem Helmstedter Professor Hermann Conring können wir im deutschen Sprachraum niemanden finden, der zu Harveys Lebzeiten dessen Theorie des Blutkreislaufs öffentlich unterstützte. Eigentlich bedeutet das noch nicht, dass es keine Anhänger gab; wir wissen nur sehr wenig über sie. Die 1

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Die Anfertigung des vorliegenden Aufsatzes wurde unterstützt durch das stiftungsfinanzierte Projekt SF 018004s08 und den Eesti Teadusfond (Nr. 8938). Der Autor dank Hr. Sulo Lembinen und Hr. Anti Lääts für ihre Hilfe, ebenfalls Frau Vilve Seiler für die Übersetzung des Aufsatzes aus dem Estnischen ins Deutsche.

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Abb.: Titelblatt der Pro-loco-Disputation von Michel und Thory, SLUB Dresden, Signatur: Physiol. 259, 92.

Rezeption der Theorie des Blutkreislaufs ist ja europaweit noch ein Forschungsdesiderat. Zu dieser Thematik kann man in einer sehr wichtigen Gattung von Quellen viele Entdeckungen machen – nämlich in den an Universitäten verteidigten medizinischen Dissertationen, sowohl Übungsdisputationen als auch Doktordissertationen, die bisher wenig wertgeschätzt wurden. Ein für die Rezeption der Theorie des Blutkreislaufs sehr aufschlussreicher Fund ist die Entdeckung einer apologetischen Disputation, die nicht an einer zentralen deutschen Universität, sondern an der Peripherie, der Universität Königsberg nämlich, verteidigt wurde.1 Freilich war die Universität Königsberg die wichtigste Universität im lutherischen Osteuropa und während des Dreißigjährigen Krieges auch ein sicherer Studienort für viele mitteldeutsche Studenten. Der Präses dieser zu Harveys Lebzeiten 1651 verteidigten Disputation war der aus Königsberg stammende Johannes Michel (ca. 1621–1678), der ab 1650/51 als Adjunkt der medizinischen Fakultät der Königsber1 Michel / Thory = Disputatio de sanguinis circulatione, quam divino annuente numine pro loco adjuncti amplissimae facultatis medicae suffragio, obtento publicae censurae subjicit Johannes Michel. D. Respondente Georgio Thory. Ad diem [...] Januarij in auditorio majori. Regiomonti 1651 (Exemplar in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden).

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ger Universität wirkte. Er hatte in Leiden studiert und in Basel zum Doktor promoviert.2 Der Respondent war Georg Thory, der aus Polen stammte und zwei Jahre in Königsberg Medizin studiert hatte. Die 87 Thesen auf 15 Seiten umfassende Disputation hat der Präses Johannes Michel zusammengestellt, um durch deren Verteidigung seine Kompetenz bei der Bewerbung um die Stelle des Adjunkten der medizinischen Fakultät der Albertina zu beweisen. Der vorliegende Beitrag setzt sich zum Ziel, vor dem Hintergrund der äußerst schnellen Entdeckungsreihe, die zur Entwicklung der Theorie des Blutkreislaufs beitrug, den Standpunkt der Autoren der Disputation zu verschiedenen Aspekten dieser Theorie zu ermitteln. Der Beitrag soll eine dankbare Jubiläumswidmung an Hanspeter Marti sein, der überaus dankenswerte Arbeit geleistet hat, indem er auf den Quellenwert der frühneuzeitlichen Dissertationen aufmerksam gemacht hat.3 Bei der Analyse der Disputation stützt sich der Autor auf den 1957 veröffentlichten programmatischen Beitrag von Karl Eduard Rothschuh (1908–1984) über den katalytischen Einfluss der Entdeckung des Blutkreislaufs auf die rasche Entwicklung der Physiologie im 17. Jahrhundert, in dem eine Entdeckung die andere verursachte und diese ihrerseits die nächste.4 In Rothschuhs Beitrag werden die für die Erforschung der Rezeption der Kreislauftheorie wichtigen Einzelaspekte angeführt. Diese boten einen guten Orientierungspunkt für die ergebnisreiche Studie von Marius J. van Lieburg über die Aufnahme dieser Theorie in den Doktordissertationen, die Medizinstudenten deutscher Herkunft in Leiden verteidigten.5 Im gleichen Kontext versucht dieser Beitrag, die in der Disputation von Michel / Thory vorgelegten Thesen zu betrachten. Diese werden vergleichend vor dem Hintergrund der zur damaligen Zeit verbreiteten Standpunkte dargelegt. Zuerst werden die Studienhintergründe der Autoren der Disputation betrachtet, insbesondere die Uni2 Zu Michel vgl. Isidorus Brennsohn: Die Ärzte Kurlands vom Beginn der historischen Zeit bis zur Gegenwart. Riga 1929, S. 301; Manfred Komorowski: Basel als Promotionsort Königsberger Akademiker vor 1700. In: Die Universität Königsberg in der Frühen Neuzeit. Hg. von Hanspeter Marti und Manfred Komorowski unter Mitarbeit von Karin Marti-Weissenbach. Köln u. a. 2008, S. 41. 3 Für den Dank gibt es drei Gründe: Zum ersten ist Hanspeter Marti einer der enthusiastischeren Wiederbeleber der Forschung zur Geschichte der Universität Königsberg in der frühen Neuzeit, zum anderen ist er einer der eifrigeren Verfechter der Benutzung von Dissertationen als Geschichtsquelle und zum dritten konnte der Verfasser des vorliegenden Beitrags nach dem völligen Verlust seines Sehvermögens vor allem dank der anregenden Unterstützung und Hilfe seiner teuren Freunde und Kollegen Hanspeter und Karin Marti wieder in den Sattel steigen und die Erforschung der Ideengeschichte des Baltikums fortsetzen. 4 Karl Eduard Rothschuh: Die Entwicklung der Kreislauflehre im Anschluß an William Harvey. Ein Beispiel der autokatalytischen Problementfaltung in den Erfahrungswissenschaften. In: Klinische Wochenschrift. Organ der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte 35 (1957), Heft 12, S. 605–612. 5 Marius J. van Lieburg: Deutsche Studenten in Leiden (1628–1688) und die Einführung der Kreislauflehre William Harvey’s in Holland. In: Deutsch-Niederländische Beziehungen in der Medizin des 17. Jahrhunderts. Hg. von M. J. van Lieburg und Richard Toellner. Amsterdam 1982, S. 39–76.

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versität Leiden zu Michels Studienzeit, als Harveys Kreislauftheorie eben von dort aus ihren Siegeszug in ganz Europa begann. Der Schwerpunkt liegt auf der Auffassung der Blutbewegung in der hier in Rede stehenden Disputation. Zur besseren Orientierung in der Problematik wird sowohl das Galenische Blutbewegungssystem als auch die Harveysche Blutkreislauftheorie kurz erläutert. Ausgehend davon, dass gerade um die Zeit der Verteidigung der Disputation, verstärkt dann in den folgenden Jahrzehnten, die Funktionen aller Körperorgane umgedacht wurden, wird der in der Disputation vertretene Standpunkt zu einzelnen mit dem Blutkreislauf verbundenen Fragen dargelegt: Was ist die treibende Kraft des Kreislaufs? Worin liegt die empirische Prüfung und Begründung der Richtigkeit der Blutkreislauftheorie? Gibt es Poren im Herzseptum? Wie gelangt das Blut von den Arterien in die Venen? Worin besteht die Rolle der Leber bei der Blutbildung? Hinzu kommt das Problem der eingeborenen Wärme (calor innatus) und der Lebensgeister (spiritus vitales).

1. Der Studienhintergrund Johannes Michels Die soziale und geistige Umgebung Johannes Michels war Königsberg und die dortige Universität. Michel war wahrscheinlich der Sohn eines Bürgers der Königsberger Teilstadt Kneiphof.6 Er immatrikulierte sich an der Universität der Heimatstadt mit etwa 15 Jahren am 30. Oktober 1636. Da Michel erst jetzt ins Zentrum des Interesses der Wissenschaftshistoriker gerät, hatten die Forscher früher keinen Grund, Angaben zu seinem Studienhintergrund zu sammeln. Der Respondent der Disputation Georg Thory immatrikulierte sich an der Universität Königsberg am 3. August 1649 als „Georgius Thorij Cracoviensis Polonus“.7 Es ist ein seltener Fall, dass ein aus dem katholischen Polen und dazu noch aus einer Stadt mit einer starken katholischen Universität stammender Student im lutherischen Königsberg studierte. Über sein späteres Schicksal kann der Autor des vorliegenden Beitrags keine Angaben machen.8 Die Untersuchung der Frage, wie sich die Professoren der medizinischen Fakultät der Königsberger Universität zu den verschiedenen naturwissenschaftlichen und medizinischen Ideen zu Michels Studienzeit und zur Zeit der Verteidigung der Disputation von Michel / Thory verhielten, ist ein Forschungsdesiderat.9 6 Dies könnte man aus der seiner Disputatio medica de ulcere pulmonum seu phthisi (Basileae 1648) beigefügten Dedikation an die Ratsmitglieder des Kneiphofs schließen. 7 Die Matrikel der Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr. 1544–1829. Teil 1. Hg. von Georg Erler. Leipzig 1910, S. 507. 8 Eine diesbezügliche Anfrage an das Universitätsarchiv Kraków vom 6. Juni 2011 blieb leider unbeantwortet. 9 In der neuesten Königsberger Medizindozenten behandelnden Untersuchung von Stephan Jaster werden ideengeschichtliche Aspekte jedenfalls nicht betrachtet; siehe S. Jaster: Die medizinische Fakultät der Albertus-Universität und ihre bedeutendsten Vertreter im 16. und 17. Jahrhundert. In: Königsberg in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 2), S. 42–76.

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Anscheinend gab es in Königsberg in der Mitte des 17. Jahrhunderts Befürworter der Harveyschen Theorie des Blutkreislaufs, vor allem unter den jüngeren Lehrenden. Jedenfalls war der ab 1644 als Adjunkt der medizinischen Fakultät wirkende Sohn des Königsberger Professors Ahasver Schmitner (1618–1654) ein sicherer Harveyaner. Er hatte 1640 in Leiden unter dem Vorsitz von Johannes Walaeus (Johann de Wale) disputiert, und Walaeus lobte ihn als einen der häufigsten Teilnehmer an den Demonstrationen und Experimenten, die er zum Beweis der Richtigkeit der Kreislauftheorie durchgeführt hatte.10 Anscheinend wohnte Schmitner 1651 auch der Verteidigung der Dissertation seines jüngeren Kollegen Johann Michel bei. Für die Herausbildung der Ansichten Johannes Michels ist als besonders wichtig seine Immatrikulation an der Universität Leiden (am 30. November 1643) anzusehen.11 Neun Monate früher als Michel, am 23. Dezember 1642, hatte sich dort der aus Riga gebürtige und spätere Rigaer Stadtphysicus Nicolaus Witte immatrikuliert. Dieser war sowohl ein Verehrer Descartes’12 als auch ein Verteidiger des Kreislaufsystems.13 Gerade einige Jahre vor ihrer Ankunft entwickelte sich die Universität Leiden zu einem Ort, an dem die Harveysche Theorie des Blutkreislaufs aus ihrer etwa zehn Jahre dauernden Inkubationszeit heraustrat. Die Studienzeit von Michel und Witte fiel in die sehr spannende Periode, als die Universität Leiden zum Mittelpunkt der Verbreitung der Ideen sowohl Harveys als auch Descartes’ in ganz Europa wurde.14 Damals begann in Leiden nämlich der junge Lektor und spätere hervorragende Vertreter der iatrochemischen Richtung Franciscus le Boë Sylvius Vorlesungen über die Blutkreislauflehre zu halten. Mit der Demonstration der Vivisektionen im botanischen Garten der Universität überzeugte er den außerordentli-

10 Lieburg (wie Anm. 5), S. 47; Komorowski (wie Anm. 2), S. 40. 11 Album studiosorum Academiae Lugduno Batavae 1575–1875. Accedunt nomina Curatorum et Professorum per eadem secula. Bearb. von Guilielmus Du Rien. Hagae Comitum 1875, Sp. 346. 12 Siehe Arvo Tering: Descartes in Swedish Livonia. On the Arrival of Cartesian Ideas in Estonia and Livonia, the Baltic Provinces of Sweden, in the 17th Century and the Beginning of the 18th Century. In: Mundus librorum. Essays on Books and the History of Learning. Helsinki 1996, S. 137–139. 13 Nicolaus Witte setzte die Lehre vom Blutkreislauf als selbstverständlich voraus sowohl in seiner 1645 in Leiden verteidigten Doktorarbeit Hydrops ascites (Präses: Johannes Walaeus) als auch in der 1647 in Franeker verteidigten Disputation De causis arthritidis. Hier sei dazu ein Beispiel aus letzterer Disputation (These 15) angeführt: „Quae [vasa] etiam sunt viae, per quas serum ad articulos movetur. Potissimum tamen per arterias fit ille influxus: per illas enim sanguis cum sero ad habitum corporis pellitur: per venas autem ab externis partibus ad cor redit, quod indicant valvulae illae venarum nuper inventae, quae versus cor sunt apertae, versus habitum corporis clausae, ne sanguis ad illum remeare possit“. 14 Über das intellektuelle Milieu an der Universität Leiden in den 1640er Jahren siehe Theo Verbeek: Descartes and the Dutch Early Reactions to Cartesian Philosophy, 1637–1650. Carbondale u. a. 1992; J. Schouten: Johannes Walaeus (1604–1649) and His Experiments on the Circulation of the Blood. In: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 29 (1974), S. 259–279.

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chen Medizinprofessor Johannes Walaeus15 von der Richtigkeit der Theorie. Walaeus, der sich zuerst skeptisch gegenüber der neuen Lehre verhielt, wiederholte zur Prüfung der Blutkreislauftheorie alle Versuche Harveys an Tieren. Durch Walaeus’ Leidener Medizinstudenten verbreitete sich die Kreislauftheorie überall in Europa. Ein entscheidender Zeitpunkt war das Jahr 1640, als die Doktorarbeit des Engländers Roger Drake über die Blutkreislauftheorie und deren wissenschaftlicher Betreuer Johannes Walaeus von den Gegnern dieser Theorie angegriffen wurden. Dies veranlasste Walaeus, zwei an seinen Schüler Thomas Bartholinus gerichtete Briefe zur Verteidigung der Kreislauftheorie zu veröffentlichen, die der Letztere als Anhang zum Medizinhandbuch seines Vaters Caspar Bartholinus 1641 publizierte. Damals, als es weder wissenschaftliche Gesellschaften noch Zeitschriften gab, war es üblich, Forschungsarbeiten als Briefe im Anhang eines Buches zu veröffentlichen. Durch diese Briefe, die 1643 nochmals und 1645 erweitert publiziert wurden, erreichten die Ergebnisse der von Walaeus selbst durchgeführten Tierexperimente das wissenschaftliche Publikum. Gerade in diesen Jahren, zur Studienzeit der späteren baltischen Ärzte Nicolaus Witte und Johannes Michel, entwickelte sich Leiden zu einem wichtigen Publikationsort bahnbrechender Bücher. Es war eine Zeit, als Harveys neue Kreislauftheorie sich noch gar nicht überall durchgesetzt hatte, auch wenn sich die Waagschale allmählich immer mehr in diese Richtung neigte und ehemalige Gegner zu begeisterten Verteidigern wurden. 1644 erschien in Amsterdam bei Elzevier die lateinische Übersetzung von Descartes’ Discours de la méthode, in dem die Grundkonzeption der Harveyschen Blutkreislauftheorie vorgelegt wurde. Descartes hielt sich damals in den Niederlanden auf, sowohl in Leiden als auch in Amsterdam. In der Disputation von Michel / Thory werden Walaeus, Conring und Plemp als wichtigere Vertreter der Harveyschen Theorie des Blutkreislaufs genannt; außer Walaeus waren auch die beiden anderen Autoren mit den Niederlanden verbunden. Hermann Conring (1606–1681) veröffentlichte nämlich sein Buch De sanguinis generatione et motu naturali 1643 eben in Leiden. Und der Medizinprofessor der katholischen Universität Löwen Vobiscus Fortunatus Plemp (1601–1671), der zunächst zu den Gegnern Harveys gehörte, ließ sich von der Richtigkeit dieser Theorie in Amsterdam überzeugen, wo er von 1628 bis 1633 als Arzt wirkte und sich mit Descartes befreundete. Die Herausbildung der Ansichten Michels wurde sicher durch seine Beziehungen zu Dozenten und Mitstudenten beeinflusst. Als einen dieser Beeinflusser kann man seinen Königsberger Mitbürger Albert Kyper ansehen, der zur Zeit seiner Immatrikulation 1643 Lektor der Philosophie war und später Medizinprofessor an der Universität Leiden wurde. Kyper hatte sowohl in Physik und Philosophie als auch in Medizin veraltete Auffassungen, doch befürwortete er Harveys Kreislauflehre.16 Vorgreifend sei bemerkt, dass der vita15 Johannes Walaeus war 1633–1648 außerordentlicher Professor und 1648–1649 ordentlicher Professor an der Universität Leiden. 16 C. de Pater: Experimental physics. In: Leiden university in the seventeenth century. An exchange of learning. Hg. von Theodoor Hermann Lunsingh Scheurleer. Leiden 1975, S. 312f.; Edward G.

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listische Blickwinkel der zu behandelnden Harveyschen Blutkreislauftheorie, die auch Michel / Thory favorisierten, keineswegs im Widerspruch zum Aristotelismus stand, dessen Vertreter Kyper war. Die von Descartes ausgehende mechanistische Sicht war in der Disputation von Michel / Thory fast gar nicht vorhanden. Offensichtlich kann man Kypers Persönlichkeit und Auffassungen nicht einfach einer Richtung zuordnen, denn Nicolaus Witte, der seine Dissertation Descartes und dessen Freunden dediziert hatte, fand in der Dedikation auch Platz für Kyper. Wie viele andere Doktoranden mit Königsberger Studienhintergrund17 wählte auch Michel zum Verteidigungsort seiner Doktorarbeit die Universität Basel, wo er sich 1647 immatrikulierte und im Juli 1648 eine Arbeit über die Tuberkulose verteidigte (Disputatio medica de ulcere pulmonum seu phthisi [...] pro summis in medicina honoribus) und am 8. August zum Doktor promoviert wurde. Diese Arbeit enthält keinen Hinweis auf den Blutkreislauf oder die Rolle der Lungen.

2. Die Galenische Lehre der Blutbewegung und die Harveysche Lehre des Blutkreislaufs Nach der Galenischen Lehre der Blutbewegung besteht der Blutweg aus der venösen und der arteriösen Seite, die nichts gemeinsam haben. Der aus Magen und Darm kommende Nahrungssaft (kylos) wird in der Leber kontinuierlich in neues Blut verwandelt. Der größere Teil dieses venösen, mit Nahrung angereicherten Bluts strömt aus der Leber unter Koordinierung des dort befindlichen Spiritus naturalis durch die Venengefäße und die untere Hohlvene in die Körperperipherie, wo das nährende Blut die Körperorgane und Muskeln versorgt. Der andere, geringere Teil des Blutes strömt während der Diastole der Herzkammern von der Hohlvene nach oben in den rechten Vorhof und von dort in die Kammer. Von dort bewegt sich ein Teil des Bluts durch die arteriöse Vene in die Lungen, um diese zu ernähren. Den dünnsten Teil des venösen Bluts zieht die linke Kammer durch die feinen Poren des Herzseptums aus der rechten Kammer in sich, und zwar durch eigene Muskelkraft. Dieses verdünnte Blut ist als Brennstoff des Herzfeuers gedacht, der verdunstet. Das Septum ist die einzige Verbindung zwischen dem linken und dem rechten Blutweg. Die linke Kammer dient als Verteilungspunkt für die Arterien, durch die das mit der eingeborenen Wärme und dem spiritus vitalis gemischte Blut allmählich in alle Körperorgane Luft transportiert. Über diese Arterien fließt allen Organen einschließlich der Lungen über die „venöse Arterie“ ebenfalls etwas Blut zu, welches aber in der linken Herzkammer durch die eingeborene Wärme und die Beigabe von spiritus vitalis und Luft eine belebende Wirksamkeit erhält. Auf venösem Wege in die Peripherie gelangte Nährstoffe Ruestow: Physics at seventeenth and eighteenth-century Leiden. Philosophy and the new science in the university. The Hague 1973, S. 39f. 17 Vgl. Komorowski (wie Anm. 2), S. 41.

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treffen mit arteriell angelangter Luft zusammen und ernähren die Gewebe und geben ihnen Vitalität und Bewegungsvermögen. Als Katalysator dient die Wärme. Die linke Herzkammer bekommt während ihrer Diastole die sowohl für die Abkühlung des calor innatus als auch für die Versorgung der Peripherie nötige Luft zusammen mit dem Blut aus den Lungen durch die Lungenvene. Im Zuge der Abkühlung als Rückstand verbleibender Ruß (fuligines) wird durch dieselbe Lungenvene in umgekehrter Richtung in die Lungen geführt. Die Systole öffnet dann nämlich die Klappen der Lungenarterie, und die Arterie lässt Ruß transportierendes Blut in die Lunge und Luft transportierendes Blut in die Körperperipherie strömen. Die Aufgabe der Lungen ist die Abkühlung des Feuers im linken Herzen sowie die Aufnahme des als Rückstand verbliebenen Rußes. Die Systole öffnet die Klappen der Lungenarterie und der Körperschlagader und lässt Blut in Lunge und Körperperipherie. Die Arterien, muskuläre Gefäße, ziehen sich im Gegensatz zu den Venen mit schwacher Muskelkraft rhythmisch zusammen und bewirken den Puls. Dazu erhalten sie – durch die Arterienwände – einen weiterführenden Impuls vom Herzen.18 Der Harveyschen Blutkreislauftheorie gingen mehrere kritische Bemerkungen über Schwachstellen der Galenischen Lehre der Blutbewegung voraus. Zuerst äußerte Vesalius Zweifel an der Blutbewegung durch das Herzseptum, dann kam die Entdeckung des Lungenkreislaufs durch Michael Servet (1553) und Realdo Colombo (1559), schließlich die Entdeckung der Venenklappen durch Fabricius ab Aquapendente (1603). Harvey fielen in Galens Lehre der Blutbewegung mehrere Widersprüche auf. Zum einen ist der Blutstrom durch die Venen in die Peripherie wegen des Aufbaus der Venenklappen, die Blut nur herzwärts strömen lassen, nicht möglich, zum anderen ist die Möglichkeit, dass Blut von der rechten Herzseite in die linke durch die Porositäten des Kammerseptums dringt, nicht beweisbar. Zum dritten scheint die Behauptung nicht zu stimmen, dass sich das Blut durch die Ernährung jedesmal erneuert, was nämlich bedeuten würde, dass der Blutstrom insgesamt umfassender sein müsste, als Harvey in Vivisektionen ermittelte. Es ist unmöglich, aus der Nahrungsflüssigkeit eine Blutmenge zu gewinnen, die in einer so kurzen Zeit durch das Herz und die Blutgefäße fließt. Eben daraus folgerte Harvey, dass die Blutbewegung nur im Kreislauf möglich ist. Harvey ging in seiner 1628 erschienenen Arbeit davon aus, dass Blut von den Venen in die rechte Herzseite zurückströmt und dass es aus der rechten Herzkammer durch die Lungen in den linken Vorhof und von dort in die linke Herzkammer gelangt. Er fand, dass die Lungenarterie ebenso groß ist wie die Aorta, was nur für die Lungenernährung gar nicht nötig wäre. Porositäten im Herzseptum waren nicht zu finden. Von der Arterie bewegte sich das Blut in die Körperperipherie. Ungeklärt blieben noch die Verbindungen zwischen Arterien und Venen bis zur Entdeckung der Kapillaren durch Malpighi und 18 Rothschuh (wie Anm. 4), S. 605–608; Hans Christoph Kümmell: Zur Ideengeschichte der HerzKreislauf-Lehre. In: Der Merkurstab 2006, Heft 1, S. 5 (www.merkurstab.de/Dateien/Leseproben/ kuemmel_1.06.pdf ); Thomas Fuchs: Die Mechanisierung des Herzens. Harvey und Descartes – Der vitale und der mechanische Aspekt des Kreislaufs. Frankfurt am Main 1992, S. 35.

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Leeuwenhoek. Von da an wurde die Entdeckung des Blutkreislaufs allgemein anerkannt. Also ist die heutige Auffassung des Blutkreislaufs, derzufolge die Hauptaufgabe des Herzens die Sicherung des kontinuierlichen Blutkreislaufs und dieser Kreislauf die durch die Herztätigkeit entstehende kontinuierliche Zirkulation des Bluts in Blutgefäßen ist, auf das Jahr 1628 zurückzuführen.

3. Michel / Thory als Vertreter der Blutkreislauftheorie. Michel / Thory haben sich in ihrer Dissertation zwei ehrgeizige Ziele gesetzt: erstens, das Wesen des Blutkreislaufs zu entwerfen, und zweitens, Beweismaterialien vorzulegen, dass eine solche Blutbewegung auch tatsächlich stattfinden könne.19 Gleich am Anfang der Dissertation bezeichnen die Autoren ihre Gegenwart in Bezug auf die Erforschung der Blutbewegung als eine fruchtbare Zeit der Innovationen. Als Vertreter der Harveyschen Blutkreislauftheorie werden Johannes Walaeus, Hermann Conring und Vobiscus Fortunatus Plemp genannt.20 Diese Gelehrten waren damals tatsächlich Autoritäten dieser Theorie; Walaeus und Conring galten zum Beispiel auch in der ein Jahr später (1652) in Uppsala verteidigten Dissertation De circulatione sanguinis des Schweden Olaus Rudbeck als Hauptautoritäten.21 Im vierten Paragraphen erläutern Michel / Thory das Wesen der Kreislauftheorie Harveys. In Dissertationen ist es üblich, den Gegenstand der Betrachtung zu definieren; so wird auch hier zunächst der Begriff des Blutkreislaufs erläutert. Harvey nannte seine Entdeckung Blutkreislauf oder die Kreisbewegung des Blutes: Das Blut gelangt wieder zum Anfang zurück, es durchläuft ununterbrochen denselben Kreis. Die Blutbewegung beginnt im Herzen, das Blut fließt in die Peripherie und von der dort in das Zentrum zurück.22 Die Aufgabe der Blutbewegung, in der das Blut ununterbrochen vom Herzen durch die Arterien in die Körperteile gestoßen und von Körperteilen durch die Venen zurück ins

19 Michel / Thory (wie Anm. 1), These 2: „De hac sententia, data occasione, quaedam in medium proferre proposui: quod ut commodius fiat, motus huius naturam primum deliniabimus; post inquiremus, an huiusmodi motus in corpore humano fieri poßit; an fiat; et an fieri debeat.“ 20 Ebd., These 1: „Ferax et fertile hoc novitatum tempus, veteribus, de motu sanguinis circulari, incognitam, sententiam adinvenit et divulgavit, auctore Guilielmo Harveo, Regis Angliae medico, quem Wallaeus, Plempius, Conringius secuti, sicut et alii plures plurimi.“ 21 Olaus Stenius (Präses) / Olaus Rudbeckius (Respondent): Disputatio anatomica de circulatione sanguinis. Arosiae 1652. – Vgl. Sten Lindroth: Harvey, Descartes, and Young Olaus Rudbeck. In: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 12 (1957), S. 211. 22 Michel / Thory (wie Anm. 1), These 3: „Inventum hoc circulator microcosmi, Harveus, vocavit sanguinis circulationem, vel sanguinis circularem motum, optime quidem: ad terminum siquidem unde cepit iterum redit, eundemque circulum continuo agit. Hinc non incommode etiam dici posset: motus sanguinis a centro ad circumferentiam, et a circumferentia ad centrum.“

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Herz geleitet wird, ist die Ernährung der Körperteile sowie die Blutbearbeitung.23 Die Verfasser der Disputation räumen ein, dass eine derartige Blutbewegung im menschlichen Körper möglich ist.24 Danach beziehen sie die Kreislauftheorie auf die aristotelische Ursachenlehre. Nach dieser wird das mit der eingeborenen Kraft versorgte Herz als die Wirkursache angesehen, als Materialursache das Blut, als Formalursache die Blutbewegung vom Herzen in die Organe und von den Organen in das Herz, als Finalursache die Nützlichkeit und Notwendigkeit des Blutkreislaufs, der der Erhaltung der Blutbearbeitung und der Ernährung der Körperteile dient.25 Der Bewegungsgrund ist der geeignete Körper in gutem Zustand.26 Auch Harvey selbst stützte sich auf die aristotelische Lehre, dies sowohl in der Formulierung der Kreisbewegung als auch in der Ursachenbehandlung.27 Michel / Thory haben zudem ausführlich den Aufbau von Arterien und Venen, auch der Chylusvenen und ihrer Funktionen im Blutkreislauf betrachtet. Diese werden sowohl aus der Sicht der Körperernährung als auch der der Blutwege dargelegt.28 Zur Begründung der Theorie des Blutkreislaufs werden eine Reihe von Argumenten vorgelegt. Erstens, in der Natur ist alles zweckentsprechend geordnet, und dies betrifft auch das Herz und die angrenzenden Körperorgane, so dass parallel verlaufende Arterien und Venen nicht dieselbe Aufgabe – die Versorgung der Körperorgane mit Blut – haben können. Das zweite Argument besagt, dass durch die Arterien mehr Blut in die Körperorgane gestoßen wird als gleichzeitig neues entsteht und von den Körperteilen verbraucht wird. Drittens, wenn es keine Kreisbewegung des Blutes gäbe, hätten auch die Venenklappen, die die Rückbewegung des Blutes in die Körperteile verhindern, keinen Sinn.29 Nach den oben dargelegten Punkten, die das Kreislaufsystem Harveys stützen, erklären sich die beiden Autoren der Disputation inhaltlich damit einverstanden, dass Arterielles und Venöses nicht mehr unterschiedliche Funktionsgebiete sind wie bei Galen; von nun an bilden sie eine funktionale Einheit im Dienst des Bluttransports. Der Blutkreislauf bedeutet 23 Ebd., These 4: „Est autem haec sanguinis circulatio motus quo sanguis continuo a corde per arterias ad partes pellitur, et per venas a partibus ad cor reducitur, ob partium nutritionem et sanguinis elaborationem.“ 24 Ebd., These 6: „Huiusmodi motum in corpore humano fieri posse omnino asserimus: dantur enim ad eum omnia requisita.“ 25 Ebd., Thesen 7 und 9. 26 Ebd., These 86. 27 Siehe Kümmell (wie Anm. 18), S. 6f. 28 Michel / Thory (wie Anm. 1) behandeln die Blutgefäße in den Thesen 24–41. 29 Ebd., These 43: „Natura enim, quae nihil facit frustra, alias gratis tanto artificio cor et partes circa cor iacentes efformasset. Frustra duplex vasorum sanguinem ad partes deferentium genus extruxisset; cum unum sufficeret: nam per arterias plus sanguinis expellitur, quam generatur; plus etiam quam a partibus consumitur brevi temporis spacio, absque ratione quoque plurimis in locis, valvulae, sanguinis motum ad partes praecludentes, venis praepositae essent, ne partium calor naturalis a nimia copia suffocetur, ut cum errore putarunt valvularum autores: quia sanguis crassior per eas lente movetur. Sed maxime necessariae essent in arteriis, per quas sanguis tenuior et calidior cum impetu pellitur“.

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den arteriellen Zustrom und den venösen Rückstrom des Blutes. Auch die Funktionen aller anderen Körperorgane sollten aus der Sicht der Kreislauftheorie überdacht werden. Zur Zeit der Disputation von Michel / Thory wurden erste Schritte in dieser Richtung gemacht. Im Folgenden wird betrachtet, wie die Autoren der Dissertation die Funktionen verschiedener Körperorgane aus der Sicht des Blutkreislaufs verstanden haben.

4. Experimentelle Begründungen der Kreislauftheorie Ein Teil der in der Disputation von Michel / Thory zur Verteidigung der Kreislauftheorie angeführten Begründungen von Harvey und Walaeus beruht auf einfach überprüfbaren Experimenten. Zum Beweis der Kreislauftheorie werden drei klassische Ligaturversuche der Venen dargelegt. Den ersten kann jeder selbst nachprüfen: Wenn man eine sichtbar geschwollene Vene mit dem Finger drückt und das Blut in Richtung äußerer Körperorgane presst, strömt aus dieser Richtung nichts hinzu. Wenn man den Finger wieder abnimmt, füllt das sehr schnell aus dem betreffenden Glied fließende Blut die Venenbahn erneut.30 Das zweite Experiment ist der Aderlass.31 Die am oberen Teil des Oberarms ligierte Vene schwillt unterhalb der Ligatur und beweist damit, dass das Blut nicht nach unten, sondern nach oben fließt. Eine zu starke untere Ligatur ist schädlich, da sie den Zustrom des arteriellen Bluts in Richtung der Finger verhindert. Auch die obere Binde sollte nicht zu stark gebunden werden, damit nicht durch das Zusammenpressen der Arterien der Blutweg verschlossen wird. Erst nach ausreichendem Aderlass stoppt das Blut, wenn man die Vene unterhalb des Einschnitts zusammenpresst. Das Schließen des oberen Teils der Vene wäre ein Fehler des Chirurgs. Descartes drückt in seinem Discours de la méthode (1637) denselben, auf Harveys Beispiel beruhenden Gedanken deutlicher aus.32 30 Ebd., These 44: „Triplici insuper experimento, sanguinem in circulum ire, probare solent. Primum facile cuilibet experiri licet cum vena aliqua conspicua et tumida digito comprimitur, et sanguis versus extrema cogitur, nihil a superna parte influit; si vero digitus tollitur, sanguis celerrime ab extremis effluens, spacium venae replet. Idem contingit cum sanguis versus superiora pellitur“. 31 Ebd., These 45: „Alterum experimentum venae sectio exhibet. Brachii namque parte superiore ligata, vena infra ligaturum intumescit, certo indicio sanguinem non descendere sed ascendere. Item nisi vinculum inferius iniectum solvatur, fluxus retardatur et sistitur“. These 46: „Obiicere quis posset inferiorem ligaturam esse superfluam imo noxiam: sed inferius vinculum impedit fluxum sanguinis arteriosi versus partes extremas; cumque arteriae et venae anastonosi saepe iunguntur, influxum in venas promovent. Hinc si vena loco huic connexioni proximiori incidatur, sanguis calidior et rubicundior copiose exit“. These 47: „Hanc quoque ob causam superius vinculum non nimis coarctandum, ne compressione arteriarum, sanguini via praecludatur, ideo vena incisa relaxandum“. These 48: „Denique post sufficientem sanguinis missionem, vena si in parte inferna comprimitur sanguis extemplo sistitur: si vero parte superna, fine suo chirurgus frustratur“. 32 René Descartes: Abhandlung über die Methode, richtig zu denken und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen. Übersetzt und erläutert von Julius H. von Kirchmann. Berlin 1870 (Philosophische Werke, Erste Abtheilung), S. 61f.: „Er [Harvey] zeigt dies deutlich an den gewöhnlichen Ope-

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Das dritte Experiment besteht in einer Vivisektion.33 Wenn man eine beliebige Vene eines lebenden Tieres ligiert und von der Binde herzwärts einen Einschnitt macht, tropft kein oder langsam sehr wenig Blut heraus und die Vene außerhalb der Ligatur schwillt stark an. Wenn man aber den Einschnitt in die Vene peripheriewärts der Binde macht, fließt Blut in großer Menge heraus. Das Umgekehrte passiert bei den Arterien: Macht man in die Arterie einen Einschnitt außerhalb der Binde, fließt sehr wenig Blut heraus, während aus einem Einschnitt herzwärts der Ligatur das Blut stürmisch herausbricht. Michel / Thory sind überzeugt, dass dieses Experiment so offensichtlich den Zustrom des Bluts durch die Arterien und den Rückstrom durch die Venen beweist, dass dagegen kaum Einsprüche entstehen können.34 Dieses Vivisektionsexperiment führte auch Michels Lehrer Johannes Walaeus durch und zog daraus die Folgerung, dass das Blut kontinuierlich aus dem Herzen durch die Arterien in die Peripherie fließt und von dort durch die Venen zurück ins Herz.35

5. Die Herztätigkeit Was ist die Stoßkraft, die das Blut in den Gefäßen in Bewegung bringt? In der Tradition der Galenischen Lehre kommt die Blutbewegung durch die spiritus vitales zustande. Vom Herzen verbreitet sich diese Bewegung in die Arterien, deren Puls eine Atmungsbewegung rationen der Wundärzte, die durch ein Umbinden des Armes oberhalb des Ortes, wo sie in die Vene einschlagen, das Blut stärker fliessen machen, als wenn dieses Umbinden nicht geschieht; geschähe es aber unterhalb nach der Hand zu, so würde das Gegentheil eintreten, wenn sie nicht zugleich den Arm darüber sehr stark einschnüren. Denn offenbar kann die mässige Unterbindung des Armes die Rückkehr des in demselben befindlichen Blutes durch die Venen nach dem Herzen verhindern, aber nicht, dass neues Blut aus den Arterien hinzukomme, da diese unter den Venen liegen und ihre härtere Haut sich weniger zusammendrücken lässt. Also wird dadurch das von dem Herzen kommende Blut stärker nach dem Arm getrieben, als es von dort durch die Venen nach dem Herzen drängt. Da nun dieses Blut durch einen Schnitt in die Vene aus dem Arme herausfliesst, so muss es nothwendig den Zugang unterhalb des Bandes haben, d. h. am Ende des Armes, wo es von der Arterie aus eintreten kann.“ 33 Michel / Thory (wie Anm. 1), Thesen 49–50: „Tertium et evidentissimum experimentum a sectione vivorum desumitur: si animalis alicuius vivi vena quaecunque (modo proxime arteriae anastomosi iuncta non sit) a cute et carne liberetur et ligetur, ac citra ligaturam, in parte nimirum cordi propinquiore, rescindatur, nihil vel parum sanguinis lente extillat, infraque ligaturam vena valde intumescit. Si vero in parte remotiore a corde, seu ultra vinculum dissecetur, affatim et copiose sanguis effluit. Contrarium evenit in arteriis: si arteria ligata ultra ligamentum resecetur, parce sine saltu sanguis exit, et arteria in parte cordi propinquiore admodum repletur: si vero citra vinculum, sanguis impetuose erumpit“. 34 Ebd., These 51: „Hoc experimentum sanguinis affluxum per arterias, et refluxum per venas, tam manifeste probat, ut contradictionem vix admit[t]at“. 35 Schouten (wie Anm. 14), S. 262f.

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ist: Bei ihrer Erweiterung ziehen die Arterien Luft durch die Haut zur Abkühlung des Blutes und zur Belüftung in den Körper ein. Ihre Kontraktion lässt auf dem gleichen Weg Exkretionen der Gewebe austreten.36 Bei Harvey ist 1628 von einer Kreislaufmechanik noch keine Rede. Nach Walaeus wird das Blut wegen der Wärme im Herzen verdünnt, erwärmt und beweglicher; wenn es in die kühleren Körperteile gelangt, wird es dichter und zieht sich zusammen. Das Ergebnis ist, dass sich das Blut im Kreis bewegt. Auch Descartes ging von der traditionellen Lehre aus, dass es im Herzen immer mehr Wärme gibt als in jedem anderen Körperteil und dass das Feuer der Herzwärme das Blut erwärmt. Die Herzwärme (calor innatus) verursacht die Verdünnung des Blutes und die Ausdehnung im Herzen. Sich ausdehnend bewegt sich das Blut in die Arterien während der maximalen Dilatation (Diastole). Über die Ausdehnung durch Wärme und die Zusammenziehung durch Abkühlung sind Descartes und Walaeus einer Meinung. Heutzutage sieht man als die Ursache der Blutbewegung die Zusammenziehung der Herzmuskeln an, nicht aber die unaufhörliche Verdünnung und Verdichtung des Blutes unter dem Einfluss steigender und sinkender Temperatur. Dieses Wissen geht in die 1660er Jahre zurück. Niels Stensen (1638–1686) stellte 1664 und 1667 fest, dass bei der Präparation im Herzmuskel nichts von einem Ort eingeborener Wärme zu finden sei und dass der Herzmuskel den Skelettmuskeln gleiche und kein Sitz der Seele oder Wärmebilder sei. Etwas später, 1669, bestätigte Roger Lower Stensens Beobachtungen.37 Von da an wurde allgemein anerkannt, dass das Herz ein Muskel ist und kein Ort der Wärmebildung oder der Spirituserzeugung. Nach Auffassung von Michel / Thory geht die Bewegung des Blutes vom Herzen aus. Nach der Galenischen Tradition ist die Antriebskraft der spiritus vitalis unter Beteiligung der Wärme. Das mit der eingeborenen Kraft versorgte Herz ist die wirkende Ursache der Bewegung. Das Herz verfügt über das Bewegungsvermögen, das sich insbesondere im spiritus vitalis und in eingeborener Wärme zeigt: Es existieren in der muskelfaserigen Umgebung des Herzens Wärme tragende verdünnte Geister, und von dort werden diese Geister in die Kreisbewegung getrieben.38 Michel / Thory halten also in ihrer Disputation bei dem von ihnen nur flüchtig betrachteten Problem der Antriebskraft der Blutbewegung an der traditionellen Vorstellung von spiritus vitalis und Herzwärme fest, was auch Walaeus und Descartes getan haben. Erst im nächsten Jahrzehnt wurde nachgewiesen, dass das Herz ein Muskel ist.

36 Fuchs (wie Anm. 18), S. 38. 37 Rothschuh (wie Anm. 4), S. 607. 38 Michel / Thory (wie Anm. 1), These 8.

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6. Die Rolle der Leber bei der Blutbildung In der Disputation von Michel / Thory heißt es zur Begründung des Blutkreislaufs: Der Blutkreislauf hat die Aufgabe, das Blut zu bearbeiten, und die Blutwerkstatt ist das Herz, nicht die Leber. Dafür sprechen mehrere Gründe: Erstens könnte die Leber die Erwärmung nicht aushalten und auch nicht die für die Bearbeitung des Blutes nötige Wärme transportieren. Zweitens hat die Leber keine Höhlen, in denen das Kochen von Blut und Nährstoffen stattfinden könnte. Wenn drittens das Herz der Ort der Blutbearbeitung ist, ist nicht die Leber das Hauptorgan der Blutbildung.39 Eben zu jener Zeit verlor die Leber ihre Bedeutung als Organ der Blutbildung.40 Galen war der Auffassung, dass die Rolle der Leber darin besteht, den aus dem Magen in die Leber zu transportierenden rohen chylus in Blut zu verwandeln. Gaspare Aselli entdeckte 1622 Chylusgefäße, ohne vorausgesehen zu haben, dass sie nicht zur Leber gelangten. Danach hatte auch Harvey noch 1628 keinen Grund, an der Blutbildungsfunktion der Leber zu zweifeln. Als sehr wichtig erwies sich die Entdeckung Jean Pecquets (1622– 1674) im Jahr 1649. Er entdeckte nämlich den Sammelkanal der Chylusgefäße, ductus thoracicus, der in der Brust nach oben zieht und in das venöse System der oberen Hohlvene mündet. Olaus Rudbeck und Thomas Bartholinus bestätigten dies 1653 beim Menschen und beschrieben die Lymphgefäße. Danach geht die Ernährung vom Magen aus, der Darmkanal geht nicht durch die Leber, folglich kann die Leber nicht mehr als Organ der Blutbildung betrachtet werden. Michel / Thory kannten zur Zeit der Ausarbeitung ihrer Disputation die ein paar Jahre zuvor gemachte Entdeckung Pecquets offensichtlich noch nicht. Sonst wäre diese sicher als ein wichtiger Punkt angegeben worden. Davon zeugt auch ihre damals schon veraltete, auf dem Stand von Asellis Entdeckung gebliebene Auffassung, dass die durch die Leber zerstreuten Zweige der Pfortader und der Chylusvenen mit der Hohlvene verbunden wer-

39 Ebd., Thesen 57–59: „Hoc antequam ulterius probetur, cor, non hepar, sanguinis officinam esse, monstrabimus. Primo ob temperamentum, est enim viscus calidissimum, quod humorem allatum in perfectum sanguinem, coctione, convertere valet. Hepar vero temperatum est, quod facile etiam a mediocriter calidis laeditur. Calorem igitur intensum ad coctionem, et homogeneorum ac heterogeneorum separationem necessarium perferre non potest. Secundo, ob structuram: constat enim substantia densa et crassa, apta ad calorem coctioni necessarium recipiendum et retinendum. Geminos insuper habet ventriculos, in quibus coctio commode fieri potest. Hepar vero notabiles cavitates non obtinet, sed eius parenchyma minimis et diversis venulis circumfusum est, in quibus potius alteratio, homogeneorum et heterogeneorum congregatione, quam vera coctio peragitur. Tertio, ob situm commodum cor non hepar est sanguinis officina: nam ad quam partem materia coquenda non pervenit, illa non erit pars coquens, quia vim suam in eam exerere non potest. Iam ad hepar minima tantum pars sanguinis crudi, neque omnis chylus pervenit. Ergo hepar non erit sanguificationis principale organon“. 40 Rothschuh (wie Anm. 4), S. 608.

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den, die Blut und Chylus aufnehmen.41 Pecquets Entdeckung zeigte, dass die resorbierte Nahrung nicht in die Leber gelangt, sondern direkt in das Herz fließt. Das Herz als Chylus aufnehmendes Organ bildet Blut. Die Leber dient als Gallenfilter, der den Chylus aus dem Darm ins rechte Atrium bringt. Also begann die Leber gerade zur Zeit der Verteidigung der Dissertation von Michel / Thory, ihre Position als Organ der Blutbildung zu verlieren, und wurde zum einfachen Absonderungsorgan der Galle degradiert.

7. Das Problem der Porositäten des Herzseptums Die Frage, ob das Blut das Herzseptum durchdringen kann, ist einer der zentralen Scheidepunkte zwischen der Galenischen Physiologie und dem Harveyschen Kreislaufsystem. Nach der Lehre Galens gibt es in der Scheidewand (Septum) des Herzens feine Poren, durch die der dünnste Teil des venösen Blutes, der einen geringen Teil des aus der Leber kommenden Blutes ausmacht, aus der rechten Kammer in die linke dringt und sich mit spiritus vermischt langsam weiter bewegt, um die peripheren Körperteile mit Luft zu versorgen. An Poren begann Vesalius (1543) zu zweifeln, der während der anatomischen Präparation des Herzens in der Herzscheidewand vergebens nach solchen Poren gesucht hatte. Sein Nachfolger Colombo lehnte (1559) das Vorhandensein von Septumporen ab und kam auf den Gedanken, dass das Blut viel leichter durch die breitere, schwammige Lunge als durch die dichte Muskelwand fließen könnte. Die gleiche Meinung vertrat auch sein Schüler Cesalpino (1571). Harvey ging (1628) einen Schritt weiter; er lehnte die Existenz von Poren im Septum ab, vermutete aber, dass solche Porositäten in der Körperperipherie, wo das Blut von den Arterien in die Venen übergeht, vorhanden sind. Johannes Walaeus (1641) und Roger Lower (1669) waren mit beiden Punkten Harveys einverstanden. Mitte des 17. Jahrhunderts gab es aber namhafte Physiologen, die das Vorhandensein von Porositäten im Septum doch für möglich hielten. So hielt etwa Thomas Bartholinus (1651, 1671) zwar das Vorhandensein von Poren im toten Herzen für nicht nachweisbar, meinte aber, man könne nicht fest behaupten, dass das Durchdringen von Blutteilchen durch das Septum im lebendigen Herzen unmöglich sei. In der Disputation von Michel / Thory herrscht eine eindeutig ablehnende Haltung gegenüber der Blutbewegung von der rechten Kammer in die linke durch das Septum. die Autoren gingen von der Hauptthese der Harveyschen Kreislauftheorie aus, dass sich das in die rechte Herzkammer gelangte Blut mit großer Kraft weiter bewegt. Das Blut geht nicht quer durch die Scheidewand von der rechten Herzkammer in die linke, denn diese Scheidewand ist dicht, es gibt in ihr keine wahrnehmbaren Poren. Mit jedem Pulsschlag wird so viel Blut ausgestoßen, dass der Durchgang durch das Septum unmöglich ist. Auch wenn 41 Michel / Thory (wie Anm. 1), These 31: „Surculi venae portae et venarum lactearum per hepar dispersi cum radicibus venae cavae varie iunguntur, quae sanguinem et chylum recipiunt, et in cisternam venae cavae se exonerant“.

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das Herz beide Kammern zugleich zusammenzieht, kann sich das Blut durch Lungenarterie und Vene von der rechten in die linke Kammer bewegen. Dies ist der offene und offensichtliche Weg.42

8. Die Verbindungswege der Arterien und Venen in der Kreislaufkette des Blutes Das schwächste und am meisten bestrittene Glied des Harveyschen Kreislaufsystems war die Verbindung zwischen Arterien und Venen. Wie gelangt das Blut von den Arterien in die Venen? Harvey selbst sprach über direkte Verbindungen zwischen den Gefäßen, über Anastomosen und gewisse Porositäten in Geweben, durch die das Blut seinen Weg finde. Später, 1649, hielt er die Existenz von völlig direkten Anastomosen zwischen den Gefäßen für möglich. Harveys Nachfolger akzeptierten die freie Bewegung des Blutes durch die Gewebe. 1661 bewies Marcello Malpighi mit dem Mikroskop das Vorhandensein von Verbindungswegen in den Lungenkapillaren eines Frosches. Der Durchgang des Blutes in andere Organe blieb noch ein ungelöstes Problem, bis Anton van Leeuwenhoek 1688 die Existenz von Kapillaren bewies. Damit war eine entscheidende Lücke in Harveys Nachweisen geschlossen.43 Michel / Thory erkennen in ihrer Disputation das Vorhandensein von Anastomosen an. Mehr noch, die Rede ist auch von Kapillaren der Venolen.44 Offensichtlich ist der Ausdruck von Hermann Conring entliehen, der das Wort Kapillaren als Terminus in Gebrauch nahm,45 obwohl Malpighi die Kapillaren erst 1661 mit Hilfe des Mikroskops entdeckte. In der Disputation werden auch die Anastomosen des Lungenkreislaufs nicht außer Acht gelassen. Die Lungenarterie schöpft Blut aus der rechten Kammer des Herzens 42 Ebd., These 36: „Non itaque sanguis ex dextro cordis ventriculo in sinistrum per foramina septi transversi transit, quia foramina notabilia in crasso illo septo non reperiuntur; sique ab auctoribus quandoque observata sint, tam exigua fuerunt, ut tantum sanguinis, quantum singulis pulsibus expellitur, transudare impossibile sit. Cum etiam cor uno momento utrumque ventriculum contrahat, aeque ex sinistro in dextrum meare posset; sicque sanguinis confusione naturae operatio frustraretur. Sed per arteriam et venam pulmonalem, quia hic aperta est et manifesta via, quam quilibet in vivorum sectione luculenter cernere et observare potest. Quod ipsum etiam vasorum horum amplitudo et sanguinis delati ingens copia adserunt. Alias plus sanguinis pulmones absumerent, quam omnes corporis partes“. 43 Rothschuh (wie Anm. 4), S. 607. 44 Michel / Thory (wie Anm. 1), These 27: „Tota igitur massa sanguinea in universo corpore movetur, hoc tamen discrimine; quod sanguis, qui per anastomoses maiores ramos intrat, citior circulum absolvat et repetat, quam qui, per modum transcolationis et transudationis, a venulis capillaribus allicitur“. 45 Edwin Rosner: Die Bedeutung Hermann Conrings in der Geschichte der Medizin.. In: Medizinhistorisches Journal 4 (1969), S. 298.

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und trägt es in die Lungen, wo es durch die Anastomose der Lungenvene von einer Herzhöhle in die andere geleitet wird.46

9. Eingeborene Wärme In der Lehre Galens gehört die eingeborene Wärme (calidus innatus) als Lebensprinzip zusammen mit der Seele und der Materie immer zur unzertrennlichen Komposition des lebenden Organismus. Sie wird in der Fortpflanzung (generatio) durch den Muttersamen an die Nachkommen vererbt, nach der Geburt liegt sie im Herzen des Nachkommen. Nach der Abkühlung der eingeborenen Wärme verstirbt der Organismus. Der in der linken Herzkammer als flammenloses Feuer wirkende calor innatus bringt das aus der Leber kommende Blut auf Lebenswärme. In andere Körperteile wird die eingeborene Wärme durch die spiritus vitales transportiert. Auch Harvey sah in seinem 1628 erschienenen Werk das Herz noch als Ort der Wärme sowie der spiritus vitales an. Doch Johannes Walaeus zweifelte 1641 an der Existenz einer eingeborenen Wärme. Um diese zu prüfen, machte er einen Versuch. Er steckte einen Finger in eine Herzkammer, deren Spitze abgeschnitten war. Er konnte keine besondere Wärme feststellen. Der Niederländer Jacob Back (1648) entschied sich für die Auffassung von Walaeus, dass das Herz nicht die Quelle der Körperwärme sei. Unter dessen Einfluss äußerte auch Harvey 1649 Zweifel sowohl am calor innatus als auch an den spiritus vitales: Das Herz ist gar nicht der Ursprungsort der Blutwärme. Vielmehr entsteht die Wärme im Blut selbst, und das Blut verleiht dem Herz seine Wärme. Dasselbe stellte 1664 auch Niels Stensen fest. Roger Lower stimmte der Auffassung bei, dass das Blut das Herz erwärme, nicht das Herz das Blut. 1669 beschrieb Borelli seinen Versuch, um dies zu beweisen: Er führte ein Thermometer in das Herz eines lebenden Hirsches und konnte dort keine höhere Temperatur feststellen als in den anderen Organen. Borelli hielt 1680/81 die Reibung an den Wänden der Blutgefäße für die wichtigste Ursache der Körperwärme – wie auch andere Iatromechaniker, vornehmlich le Boë Sylvius, die dies durch die Fermentation erklärten.47 Descartes dagegen hatte sich zum calidus innatus bekannt und diesen in seiner Theorie eingesetzt. Das im Herzen brennende Feuer ist die Kraft, die die cartesianischen Automaten bewegt. Dieses Feuer hat dieselbe Qualität wie die Flamme der unbelebten Natur; die Herzwärme erweitert das Blut und treibt dessen Kreislauf an.48 46 Michel / Thory (wie Anm. 1), These 34: „Quarto sunt arteria pulmonalis, et vena pulmonalis: arteria pulmonalis sanguinem ex dextro cordis sinu haurit, et ad pulmones defert, in quibus per varias anastomoses venae pulmonali tradit. Atque ita sanguis ex una cordis cavitate in alteram ducitur; veluti liquores epistomio ex uno vase in alterum“. 47 Rothschuh (wie Anm. 4), S. 607f. 48 Nikolaus Mani: Naturwissenschaftlich-biologische Grundlagenforschung in der Medizin des 17. Jahrhunderts. In: Medizinhistorisches Journal 11 (1976), S. 184.

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Auch Thomas Bartholinus glaubte 1651 an den calor innatus, und noch 1671 war das Herz für ihn das wärmste Organ. Er wies die kritischen Bemerkungen Harveys aus dem Jahr 1649 zurück. Die Frage nach dem Ursprung der Körperwärme blieb noch lange ein Objekt der Diskussion. Das Problem blieb bis zum 19. Jahrhundert ungelöst. Das Herz aber verlor die Funktion als Wärmeerzeuger endgültig bereits um 1670.49 In der Disputation von Michel / Thory ist die Herzsubstanz der Ort der spiritus vitales und der eingeborenen Wärme. Das Herz ist am wärmsten und äußerst spirituos. Die sich in der dichten Substanz bewegende subtile, verdünnte Wärme in den verdünnten spiritus leitet das Blut in den Kreislauf und regelt die Herzkontraktionen und den Puls.50 Man kann voraussetzen, dass Michel als Schüler von Walaeus mit dessen Versuchen, in deren Folge dieser das Herz als Wärmequelle ablehnte, vertraut war. Trotzdem war Michel anderer Meinung. Wie Descartes benutzte er die eingeborene Wärme im Dienst des Blutkreislaufs.

10. Geisterlehre Noch im 17. Jahrhundert war in der Physiologie die von Galen entwickelte Geisterlehre fest verankert.51 Dieser Lehre zufolge besteht der lebende Organismus aus drei Systemen, die in harmonischer Hierarchie zusammenwirken. Diesen Systemen entsprechend sind auch die Aufgaben des Pneumas unter drei Pneumaprinzipien verteilt. Das erste System ist die vegetative Sphäre, deren zentrales Organ die Leber ist, die auch für die Blutbildung sorgt. Sie ist der Ort der spiritus naturales des physischen Pneumas. Die Leber stützt vegetative Funktionen und ist nahrungsgebend, indem sie das Blut verteilt und den Stoffwechsel unterhält, also die Blutbildung, die Versorgung des Organismus mit Nahrung und den Stoffwechsel koordiniert. Das zweite System ist die Blut- und Wärmesphäre, deren zentrales Organ – das Herz – der Ort der spiritus vitales ist. Diese entstehen mit Hilfe der eingeborenen Wärme aus dem durch das Septum gelangenden Blut sowie aus der Atemluft, die aus den Lungen kommt. Die spiritus vitales regeln die Pulsschläge, die Blutbewegung sowie die Verteilung der Lebensflamme und der Vitalität im ganzen Körper durch das arterielle System. Die spiritus vitales transportieren den calidus innatus in die verschiedenen Körperteile. Das dritte System ist das Nervensystem, dessen Zentrum das Gehirn ist. Das Gehirn ist das Zuhause des psychischen Pneumas – der Seelengeister (spiritus animales). Die spiritus animales fließen durch die Nervenkanäle in die Muskeln und bewirken, dass diese sich zusammenziehen und entspannen. Spiritus animales regeln das Empfinden, die Bewegung und das Denken, indem sie die sensible, die bewegende und die denkende Seele beeinflussen. 49 Rothschuh (wie Anm. 4), S. 608. 50 Michel / Thory (wie Anm. 1), These 12. 51 Fuchs (wie Anm. 18), S. 33–38.

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Mit der Entdeckung Harveys wurde diese Geisterlehre erschüttert. Insbesondere wurde der Glaube an spiritus vitales zersetzt. Dort, wo die linke Herzkammer eine neue Rolle im Kreislaufsystem erhielt, verloren die spiritus vitales ihre Funktion. Die Leber verlor ihre Funktion als Blutbildungsorgan, und damit wurden auch die spiritus naturales funktionslos. Nur die spiritus animales behaupteten ihre Rolle noch lange. In der Arbeit Harveys von 1628 bleibt das Herz allerdings noch der Entstehungsort der Wärme und der spiritus vitales. Erst Johannes Walaeus äußert 1641 erste Zweifel. Walaeus fragt, ob das sprudelnde Blut der offenen Arterien tatsächlich etwas zu tun hat mit den darin wirkenden spiritus vitales. 1649 beginnt auch Harvey an den spiritus vitales wie auch an dem calidus innatus zu zweifeln. Die Vorstellung von der Entstehung der spiritus vitales im Herzen geriet dadurch immer mehr ins Schwanken. Dies hatte in erster Linie mit der Entdeckung des Systems der Lymphgefäße (ductus thoraticus) und der veränderten Rolle der Leber im Orchester der Körperorgane zu tun. Auf der Grundlage der Theorie des Blutkreislaufs wurde die Doktrin der spiritus vitales insbesondere von Hermann Conring und von dem holländischen Arzt Jakob de Back (1648) heftig kritisiert. Auch Olaus Rudbeck war (1652) der Auffassung, dass im Körper nur spiritus animales existieren, die beiden anderen Geister, spiritus naturales und spiritus vitales, lehnte er ab.52 Natürlich war dieser Paradigmenwechsel mühsam. Thomas Bartholinus etwa hielt noch lange an der Auffassung Galens fest, die Aufgabe der linken Herzkammer bestehe in der Erzeugung der spiritus vitales.53 In der Disputation von Michel / Thory wird die bis dahin verbreitete Lehre von den Funktionen der Geister anerkannt. Das Bewegungsvermögen des Herzens zeigt sich danach insbesondere in den spiritus vitales und der eingeborenen Wärme.54 Es gibt keinen Grund, der Disputation deshalb Konservatismus hinsichtlich dieser Vorstellung von den Geisterfunktionen vorzuwerfen. Denn wenn auch gerade zu dieser Zeit Gelehrte an der Existenz der spiritus vitales zu zweifeln begannen, dauerte es doch noch einige Zeit, bis diese vollends abgeschüttelt wurden.

11. Messdaten der Blutzirkulation Die Entdeckung des Blutkreislaufs eröffnete die Möglichkeit zur Messung vieler physikalischer Merkmale des Herzens und der Gefäße. Einen besonders großen Beitrag dazu leisteten die Vertreter der iatrophysikalischen Richtung, besonders die Cartesianer. Auch in der Disputation von Michel / Thory werden mehrere Aussagen zur Blutmenge und Bewegungszeit vorgelegt: (1) Wie groß ist die Blutmenge im Körper zu einem bestimmten 52 Lindroth (wie Anm. 21), S. 216f. 53 Ebd., S. 216. 54 Michel / Thory (wie Anm. 1), These 10: Cordis autem facultas haec consistit cumprimis in spiritus vitalis, et caloris insiti ac infinentis virtute et copia; spirituumque animalium per nervos influxu promovetur“. Vgl. auch die Thesen 11 und 12.

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Zeitpunkt? (2) Wieviel Blut wird in einer Stunde durch die Herzkammern ausgestoßen? (3) Wie groß ist die Pulsfrequenz? (4) Wieviel Blut befindet sich zu einem bestimmten Zeitpunkt als Nahrung in den Körperteilen? Ausgehend gerade vom zuletzt genannten Aspekt hat Harvey das Hauptargument dafür gewonnen, dass die Blutbewegung nur als Kreisbewegung denkbar ist. Er hielt nämlich die bis dahin verbreitete Auffassung, dass sich das Blut jedes Mal durch die Nahrung erneuert, für nicht wahrscheinlich. Nach Harvey ist die Blutmenge, die in einer halben Stunde durch das Herz fließt (etwa 5 englische Pfund), etwa gleich groß wie die Gesamtmenge des im Körper befindlichen Blutes (etwa 4 englische Pfund).55 Es sei gar nicht möglich, aus der Nahrung die Blutmenge zu gewinnen, die in einer so kurzen Zeit durch das Herz und die Gefäße fließt. Eben daraus folgerte Harvey, dass die Blutbewegung nur eine Kreisbewegung sein könne.56 Dasselbe Problem taucht auch in der Disputation von Michel / Thory auf: Durch das Herz, heißt es dort, fließt bedeutend mehr Blut, als die Körperteile als Nahrung verbrauchen können. Wenn in jeder Stunde 12 Pfund Blut zur Nahrung würden, müsste das Körpergewicht in kurzer Zeit sehr schnell zunehmen, denn auch das nicht als Nahrung verbrauchte Blut würde zusätzliches Gewicht verleihen. Doch auch dann, wenn die Ernährung für einige Tage reduziert würde oder ganz ausbliebe, fließe das Blut ununterbrochen durch das Herz. Woher kommt diese Fülle an Blutflüssigkeit?57

Schlussfolgerungen und weitere Forschungsperspektive Die 1651 unter dem Vorsitz von Johannes Michel von Georg Thory in Königsberg verteidigte Dissertation stellte auf eine ernstzunehmende Weise dem an Medizin interessierten Publikum einer wichtigen europäischen Universität Harveys Theorie des Blutkreislaufs vor. Dies geschah zu Harveys Lebzeiten, als der Katalyseeffekt seiner Entdeckung gerade einsetzte. Michel / Thory argumentierten in ihrer Disputation für den Blutkreislauf 55 Vgl. Rothschuh (wie Anm. 4), S. 609; Schouten (wie Anm. 14), S. 274. 56 Kümmell (wie Anm. 18), S. 5. 57 Michel / Thory (wie Anm. 1), Thesen 81–84: „Plus etiam e corde eiicitur quam partes in alimentum convertere possunt: si enim singulis horis duodecim libra sanguinis in alimentum cederent, in quantam quaeso molem excrescerent brevi temporis spacio, quia corpus corpori additum quantitatem eius adauget. Neque alimenta assumpta sanguinis extrusi quantitatem ullo modo resarcire possunt: assumat enim quis in prandio libras decem, duodecim, vel etiam plus, assumat tantum in coena, quantitas haec satis magna (nam plurimi dimidia aut tertia parte contenti sunt). Perpende quantum de his per alvum, per urinam, per palatum, per oculos, per aures, per nares, per poros insensibili transpiratione, in singulis coctionibus decedat, computa residuum cum quantitate sanguinis expulsi, quae quaeso proportio? Imo saepe per biduum, triduum vel diutius, parum aut nihil assumitur alimenti. Cor interim continuo sanguinem eructat, unde cordi tum suppetit tanta humoris sanguinei abundantia? Hic minimam tantum quantitatem apposuimus. Cor tamen tantam massae sanguineae copiam brevi temporis spacio expellit, ut igitur in orbem indesinenter eat necesse est“.

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sowohl mit Hilfe der Aristotelischen Ursachenlehre als auch mit mehreren Einzelelementen der Galenischen Lehre von der Blutbewegung (calor innatus, spiritus vitales). Auch Harvey selbst ging 1628 noch von der Aristotelischen Ursachenlehre aus und hatte auch noch keine Zweifel an der Rolle von calor innatus und spiritus vitales für den Blutkreislauf. Michel / Thory lehnten allerdings die beiden Hauptstützen der Galenischen Lehre ab: Sie bestritten also die Existenz von Poren des Herzseptums sowie die Funktion der Leber als Organ der Blutbildung. Am Beispiel der Disputation von Michel / Thory lässt sich zeigen, dass Dissertationen es wert sind, als Quellen der Rezeption von Ideen erforscht zu werden. Diese Dissertation ist die erste bisher bekannte Studentenarbeit im osteuropäischen Raum, die Harveys Theorie des Blutkreislaufs verteidigt. Damit hat sich die medizinische Fakultät der Universität Königsberg als einer der frühen Stützpunkte der Verbreitung der Lehre Harveys erwiesen, was Anlass genug ist, sie in den Fokus einer weiteren Erforschung der Geschichte der Physiologie zu stellen. Die Frage, ob die Dissertation von Michel / Thory in Königsberg eher eine Ausnahme war oder ob sie im Gegenteil einen vorbereiteten, günstigen Boden vorfand, stellt ein interessantes Forschungsdesiderat dar. Um den Umfang der Rezeption der Theorie des Blutkreislaufs festzustellen, müssten freilich alle im 17. Jahrhundert an den Universitäten verteidigten medizinischen Dissertationen gesichtet werden. Auch der Lebensweg Johannes Michels, seine Studienzeit in Königsberg und Leiden sowie seine einige Jahrzehnte dauernde Tätigkeit als Leib-und Hofarzt des Kurländischen Herzogs wären einer tieferen ideengeschichtlichen Erforschung wert. Und neben Michel wirkte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Baltikum, das als europäische Peripherie galt, mindestens noch ein weiterer Arzt, der Harveys Blutkreislauftheorie vertrat. Das war der Rigaer Stadtphysicus Nicolaus Witte, der zusammen mit Michel in Leiden studiert hatte und der in den beiden Arbeiten, die er während seiner Studienzeit veröffentlichte, diese Theorie als selbstverständlich ansah. Diese beiden Mediziner gehörten nach ihrer Amtsposition der Spitze der sozialen Hierarchie an und dürften hinsichtlich ihrer medizinischen Kompetenz zu den Meinungsführer gehört haben. Es dürfte sich gewiss lohnen, ihre Tätigkeit als Ärzte in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht tiefer zu erforschen.

Marion Gindhart (Mainz)

Erhard Weigels pro-loco-Disputation in Jena über den Kometen von 1652 Ein Paradigma für die Polyfunktionalität frühneuzeitlicher Disputationen

1. Einleitung Als Erhard Weigel im Jahr 1653 als Nachfolger von Heinrich Hofmann die Professur für Mathematik an der Universität Jena antrat, war er als Neuberufener verpflichtet, eine Disputation zu leiten, die auf einer von ihm verfassten dissertatio basierte. Weigel wählte als Thema dieser pro-loco-Disputation ein besonderes Phänomen: den Kometen, den er im Dezember 1652 in Leipzig beobachtet hatte, als er noch Adjunkt an der dortigen Philosophischen Fakultät war. Der Jenaer Dissertationstext mit dem Titel Commentatio astronomica de cometa novo (1653)1 zählt zu Weigels ersten gedruckten Beiträgen zum Kometendiskurs der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, dem in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche weitere in unterschiedlichen Textsorten folgen sollten. Vorliegende Studie konzentriert sich in erster Linie auf die Commentatio. Sie fragt nach den verschiedenen Funktionen, die eine frühneuzeitliche Disputation in gedruckter Form wie auch als performativer Akt erfüllen konnte, und versucht zugleich, das in der Commentatio verhandelte Wissen zu kontextualisieren. Die Untersuchung ist unter anderem auch deswegen reizvoll, da die Commentatio in zwei Druckvarianten erschienen ist, die sich in ihren Paratexten – den Widmungen von Praeses und Respondent – unterscheiden. Im folgenden soll zunächst Weigels Weg zur Jenaer Professur skizziert werden, der sich der Förderung durch mehrere Personen vor und während seiner Zeit an der Universität Leipzig verdankte. Mit Überlegungen zur Polyfunktionalität speziell von Antrittsdisputationen wendet sich die Untersuchung dann der Commentatio zu und nimmt zunächst die Widmungsvarianten in den Blick. Dabei geht sie zum einen den Patronageverhältnissen des Respondenten Johann Benjamin Schilter, den Funktionen der Widmungsadressen und seiner Respondentenrolle sowie seiner universitären wie beruflichen Laufbahn nach; zum anderen wird Weigels Dedikation, die sich an Herzog Friedrich Wilhelm II. von 1 Erhard Weigel (Praes.) / Johann Benjamin Schilter (Resp.): Commentatio astronomica de cometa novo. Jena: Georg Sengenwald 1653 [VD 17 14:073100Y und 39:118168C].

Erhard Weigels pro-loco-Disputation in Jena

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Sachsen-Altenburg richtet, vor dem Hintergrund seiner Berufung nach Jena analysiert. Es wird auch herausgearbeitet, welche Motive bei der Beobachtung des Kometen von 1652 für Weigel eine Rolle spielten, wie Entdeckung und Observation in Leipzig vonstatten gingen, und warum der Komet überhaupt Gegenstand seiner pro-loco-Disputation in Jena wurde. Zu untersuchen ist dann, welches Wissen von Kometen und welche wissenschaftlichen Methoden in der Commentatio verhandelt werden, wie und mit welchen Intentionen die Vermittlung erfolgt. Weigels Ausführungen werden dabei auf verschiedene Weise kontextualisiert: Sie werden in der immer noch andauernden Diskussion um die Kometennatur (meteorologisches versus kosmisches Phänomen) verortet und dabei auch mit den Schriften früherer Förderer in Bezug gesetzt: mit der Commentatio physicomathematica de cometa anni 1618 (1619) Philipp Müllers, Mathematikprofessor und Lehrer Weigels in Leipzig, die als ein zentraler Prätext in Weigels Commentatio genannt und rezipiert wird, sowie mit den zeitgenössischen Kometenschriften von Bartholomäus Schimpffer und Jakob Ellrod, der bezüglich des Kometen von 1652 nachweislich mit Weigel in wissenschaftlichem Austausch stand. Ein Ausblick schließlich skizziert Weigels Adaptationen seiner Kometentheorie bis zum Jahr 1666, als er erneut über Kometen disputieren ließ.

2. Der Weg zur Jenaer Professur Am 2. November alten Kalenders (im folgenden a. K. abgekürzt) 1650 präsidierte Erhard Weigel als Magister an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig bei einer öffentlichen Disputation De ascensionibus et descensionibus astronomicis.2 Der gedruckte Disputationstext liegt in zwei verschiedenen Fassungen vor: einer Version ohne Widmungen3 und einer Version, die auf der Rückseite des Titelblattes eine Reihe von Personen nennt, denen Weigel als Praeses die Schrift zueignet.4 Unter diesen finden sich an erster Stelle zwei seiner akademischen Lehrer in Leipzig, Philipp Müller5 und Hieronymus Kromayer, gefolgt von seinen beiden wichtigsten Förderern vor der Studienzeit, Jakob Ellrod und Bartholomäus Schimpffer, sowie zwei in Leipzig wohnende Kaufleute, Johann Weiß 2 Erhard Weigel (Praes.) / August Wolff (Resp.): Dissertatio de ascensionibus et descensionibus astronomicis. Leipzig: Timotheus Hön 1650 [VD 17 12:157456F mit Widmungsempfängern]. 3 So in einem Exemplar der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen Halle, Sign. 75 E 11[2], das nicht im VD17 verzeichnet ist. 4 So in dem im VD17 verzeichneten Exemplar der BSB München, Sign. 4° Diss. 1636 (Beibd. 22), s. Anm. 2. 5 Zu Philipp Müller vgl. Detlef Döring: Die Beziehungen zwischen Johannes Kepler und dem Leipziger Mathematikprofessor Philipp Müller. Eine Darstellung auf der Grundlage neuentdeckter Quellen und unter besonderer Berücksichtigung der Astronomiegeschichte an der Universität Leipzig. Berlin 1986 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.-hist. Klasse. Bd. 126. Heft 6).

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und Johann Konrad Plitz, die wie Weigel aus der Oberpfalz stammten6 und ihn als „sympatrioti“ finanziell unterstützt haben. In diesem Paratext zeigen sich mithin eine Reihe von Gönnern vereint, die Weigel ihren Möglichkeiten entsprechend gefördert haben: Weigels mathematische und astronomische Interessen, die er an der Leipziger Universität etwa als Hörer Philipp Müllers und mit eigenen Observationen verfolgte, und die er – bereits als Student mit „Indulgentz der Obern“ – seinen „privat Auditores“ mit gemeinsamen Beobachtungen, astrognostischen Übungen und geometrischen Unterweisungen vermittelte,7 hatten durch seine Tätigkeit bei Bartholomäus Schimpffer in Halle und die Unterstützung durch Jakob Ellrod in Wunsiedel entscheidende Impulse erhalten:8 Während seiner Schulzeit am Lutherischen Gymnasium in Halle Anfang der 1640er Jahre arbeitete Weigel als Schreiber bei dem bekannten Astrologen und Kalendermacher Schimpffer und eignete sich dort auch den Umgang mit astronomischen Instrumenten und Hilfsmitteln an. 1646 musste er allerdings aus finanziellen Gründen kurzfristig nach Wunsiedel, dem Wohnort seiner verwitweten Mutter, zurückkehren. Dort nahm sich der mathematisch und astronomisch versierte Archidiakon Ellrod, der ihn bereits zuvor gefördert hatte, erneut seiner an und bildete ihn auch fachlich weiter. Einige Zeit später kehrte Weigel nach Halle zurück und führte bei Schimpffer nun auch selbstständig kalendarische und astrologische Berechnungen durch. Zum Wintersemester 1647 immatrikulierte sich Weigel an der Universität Leipzig, wurde 1649 Baccalaureus, 1650 Magister und im März 1652 mit einer pro-loco-Disputation De existentia aus dem Bereich der Metaphysik Adjunkt an der Philosophischen Fakultät.9 Kurze Zeit später, im Oktober desselben Jahres, starb der Jenaer Mathematikprofessor Heinrich Hofmann, dessen Nachfolge Weigel 1653 antrat.10 6 Weigel wird am 16. Dezember a. K. 1625 im oberpfälzischen Weiden geboren und getauft. Seine Eltern ziehen als überzeugte Protestanten im Zuge der Rekatholisierung der Region 1628 mit ihren Kindern nach Wunsiedel. Er besucht dort die Lateinschule, später das Lutherische Gymnasium in Halle, im Sommer 1644 vorübergehend das Pädagogium der Jenaer Universität. Vgl. Johann Dorschner: Erhard Weigel in seiner Zeit. In: Erhard Weigel – 1625 bis 1699. Barocker Erzvater der deutschen Frühaufklärung. Beiträge des Kolloquiums anlässlich seines 300. Todestages am 20. März 1999 in Jena. Hg. von Reinhard E. Schielicke, Klaus-Dieter Herbst und Stefan Kratochwil. Thun / Frankfurt am Main 1999 (Acta Historica Astronomiae 7), S. 11–38, hier S. 12. Der Tagungsband ist vergriffen, aber als pdf-Datei unter der URL http://www.astro.uni-jena.de/~schie/weigelpr_2007_2e. pdf abrufbar. Zu Johann Weiß vgl. Detlef Döring: Erhard Weigels Zeit an der Universität Leipzig (1647 bis 1653). In: Schielicke / Herbst / Kratochwil (1999), S. 69–90, hier S. 87. 7 Vgl. Döring (1999), S. 74f. und 82. Im Rahmen einer dieser astrognostischen Übungen sichtete Weigel am 9. Dezember a. K. den Kometen von 1652, zudem waren es unter anderem seine gut besuchten collegia privata, die ihn als Kandidaten für die Mathematikprofessur in Leipzig empfahlen (s. u.). 8 Vgl. Dorschner (1999), S. 12–14. 9 Vgl. Dorschner (1999), S. 14. 10 Zur Geschichte der Mathematik und Astronomie in Jena mit ausführlichen Abschnitten zu Weigel vgl. Reinhard E. Schielicke: Vom Weltuntergang, dem „Mysterium cosmographicum“ und der Ka-

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Es ist das Verdienst Stefan Kratochwils, Licht in das Verfahren gebracht zu haben, das für Weigel so positiv endete:11 In einem Brief vom 17. November 1652 übermittelte der Dekan der Philosophischen Fakultät dem Rektor eine Liste von fünf möglichen Kandidaten für die Nachfolge Hofmann, darunter auch Erhard Weigel, der sich durch seine früh ausgeprägten mathematischen Interessen, seine collegia privata an der Universität Leipzig sowie seine dortigen öffentlichen Disputationen empfahl.12 Drei Tage später nun richtete Weigel – mit Verweis auf seine Kenntnis der internen Liste – seinerseits Briefe an zwei der drei Nutritoren der Universität Jena, an Herzog Ernst den Frommen von Sachsen-Gotha und an Herzog Friedrich Wilhelm II. von Sachsen-Altenburg, in denen er seine vom Dekan erwähnten Qualitäten repetierte (er und sein Informant mussten also den Wortlaut des Briefes gekannt haben) und die Adressaten bat, ihm die Stelle „zu deferiren“.13 Am 22. November setzte der Rektor Herzog Ernst von der Dringlichkeit der neu zu besetzenden Mathematikprofessur in Kenntnis, woraufhin sich ein Briefwechsel zwischen den Nutritoren Ernst, Friedrich Wilhelm und Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar entspann. Als letzterer dafür plädierte, die Liste zu annullieren, da er keinen der Kandidaten kannte,14 sprach sich Friedrich Wilhelm dezidiert für Weigel aus, da dieser nicht nur fachlich sondern auch pädagogisch „zum besten recommendiret wird, und bey den Studiosos durch seine bisherige Experientia sich albereit angenehm gemacht“.15 Ein Argument, das Wilhelm letztlich überzeugte, so dass er am 11. Januar 1653 auch im Namen seines Bruders Ernst brieflich die Installation Weigels in Jena veranlasste. Seinem Schreiben an die Universität folgte sechs Tage später dieselbe Aufforderung von Seiten Friedrich Wilhelms, welche schließlich die Berufung sicherte.16

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lenderreform – die Astronomie in Jena in den ersten 150 Jahren an der Universität. In: Blätter des Vereins für Thüringische Geschichte 18 (2008), S. 6–24; ders.: Von Sonnenuhren, Sternwarten und Exoplaneten. Astronomie in Jena. Jena / Quedlinburg 2008; Schielicke nutzt für seine Ausführungen zu Weigel mit der gebotenen kritischen Distanz u. a. die materialreiche (aber mit problematischen Wertungen versehene) Untersuchung von Otto Knopf: Die Astronomie an der Universität Jena von der Gründung der Universität im Jahre 1558 bis zur Entpflichtung des Verfassers im Jahre 1927. Jena 1937. Stefan Kratochwil: Die Berufung Erhard Weigels an die Universität Jena. In: Schielicke / Herbst / Kratochwil (1999), S. 91–103. Vgl. Kratochwil (1999), S 93–95 mit Abdruck der sich auf Weigel beziehenden Passage. Vgl. Kratochwil (1999), S. 95 mit Abdruck einer längeren Passage aus dem Brief Weigels an Friedrich Wilhelm. Zur Erschließung der weit verstreuten Korrespondenz Weigels vgl. Stefan Kratochwil: Der Briefwechsel von Erhard Weigel. In: Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Hg. von KlausDieter Herbst / Stefan Kratochwil. Frankfurt am Main u. a. 2009, S. 135–154. Vgl. Kratochwil (1999), S. 96. Zitiert nach Kratochwil (1999), S. 97. Vgl. Kratochwil (1999), S. 97f., ein vollständiger Abdruck beider Briefe S. 100f.

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3. Weigels pro-loco-Disputation in Jena Zur Polyfunktionalität der Antritts-Disputation Weigel hatte die Berufung nach Jena also vor allem der Fürsprache Friedrich Wilhelms zu verdanken. Pflicht für den Neuberufenen war es nun – wie etwa auch an den Universitäten Helmstedt oder Königsberg –,17 bei einer pro-loco-Disputation zu präsidieren, die auf der Grundlage einer eigens dafür von ihm verfassten dissertatio abgehalten wurde.18 Schriftliche Dissertation und öffentliche, mündliche Disputation boten dem neuen Professor vielfältige Möglichkeiten, sich zu profilieren und seinen Standort zu bestimmen: Er konnte anhand des gewählten Themas (zu dem er als Praeses sicherlich auch einleitend hinführen und ein abschließendes Resümee ziehen konnte)19 seine ‚Sachmächtigkeit‘ beweisen. Er konnte die Vorstellung, die er von seinem Fach hatte, exemplarisch darlegen und Desiderate formulieren, sich inhaltlich und methodisch innerhalb der Wissenschaftslandschaft wie des Kollegiums positionieren und sich und seine Lehre (insbesondere auch das ‚gebührenpflichtige‘, private Lehrangebot) empfehlen. Zudem konnte er seine didaktische Befähigung, seine Autorität sowie seine kommunikative und soziale Kompetenz bei der Leitung der Disputation unter Beweis stellen. Und er konnte sich in Form von Widmungsadressen oder -vorreden, die als Paratexte die gedruckte Dissertation begleiteten, bei Gönnern für erwiesene Unterstützung bedanken und gleichzeitig versuchen, sie für eine weitere Förderung zu verpflichten.

Variationen in den Dedikationen Welche Funktionalisierungen lassen sich nun bei Weigels Inauguraldisputation in Jena beobachten? Beginnen wir beim letzten Punkt, der Adressierung von Gönnern: Hier können wir ein ‚zweigleisiges‘, personalisiertes Verfahren beobachten, da zwei Varianten des Dissertationsdruckes vorliegen: Zum einen eine Version, bei der sich auf der Rückseite des – mit orthographischen Fehlern behafteten – Titelblattes eine Liste mit Dedikationsempfängern befindet, denen der von Weigel bestimmte Respondent, Johann Benjam Schilter, dieses exercitium academicum widmet.20 Zum anderen eine Version mit fehlerfrei gesetztem Titel, dessen Rückseite leer gelassen wurde. Stattdessen enthält sie eine sechsseitige 17 Vgl. Johannes Tütken: Privatdozenten im Schatten der Georgia Augusta. Zur älteren Privatdozentur (1734 bis 1831). Teil 1. Statutenrecht und Alltagspraxis. Göttingen 2005, S. 143f. mit Literatur. 18 Es handelt sich bei der Commentatio Weigels also nicht um die schriftliche Vorlage für eine lectio inauguralis, eine „Antrittsvorlesung“ oder „akademische Antrittsrede“, wie in der Weigelforschung bisweilen zu lesen ist. 19 So auch die Annahme von Tütken (2005), S. 133. 20 So in einem Exemplar der SLUB Dresden, Sign. Astron. 574,26 [VD 17 14:073100Y], im folgenden Weigel / Schilter (1653a).

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Widmungsvorrede an Herzog Friedrich Wilhelm.21 Das heißt: Praeses und Respondent ließen jeweils eigene Widmungen dem Haupttext vorangehen, mit denen sie bestimmte Interessen verfolgten.22

Der Respondent Johann Benjamin Schilter, seine Förderer und seine Karriere Über Johann Benjamin Schilter sind wir dank einer Leichenpredigt23 gut unterrichtet, so dass wir sowohl die von ihm genannten Widmungsempfänger als auch seine Funktion als Respondent in Jena verorten und bewerten können: Schilter wurde am 6. Oktober 1632 in Leipzig geboren und erhielt dort und in Naumburg seine Schulausbildung, bevor er 1651 zum Studium nach Jena wechselte. Maßgebliche Förderung erfuhr er durch seinen Vater, den Juristen Johann Schilter,24 den er auch als ersten Widmungsempfänger nennt. Dieser schickte ihn, als sein Leipziger Lehrer Theophilus Coler25 (ein weiterer Widmungsempfänger) 1648 eine Rektorenstelle in Naumburg erhielt, mit diesem dorthin. Der junge Schilter besuchte die Stadtschule und war Privatschüler bei Coler. So ausgebildet ließ ihn sein Vater das Studium in Jena beginnen, wo er sich als eifriger Hörer und beim Abhalten von collegia privata so empfahl, dass ihn „Anno 1653. der weitberuehmte Professor Mathem. Herr Weigelius, als er seine Disputation. inauguralem de Cometa gehalten/ […] zum Respondenten selbst erwehlet.“26 Schilter wechselte kurz darauf, nachdem er selbst noch eine Disputation „elaboriret“27 und diese bei Johann Frischmuth in Jena verteidigt hatte, nach Leipzig an die Philosophische Fakultät und studierte dort unter anderem bei Philipp Müller. 21 So in einem Exemplar der FB Gotha, Sign. Math 4° 126/02 (01) [VD 17 39:118168C], im folgenden Weigel / Schilter (1653). Die Widmungsvorrede an Friedrich Wilhelm findet sich auf A2r–A4v. Der Haupttext, der bei beiden Ausgaben derselbe ist, beginnt mit Lage B. 22 Zu Druckvarianten von Disputationen vgl. Michael Philipp: Politica und Patronage. Zur Funktion von Widmungsadressen bei politischen Dissertationen des 17. Jahrhunderts. In: Disputatio 1200– 1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Hg. von Marion Gindhart und Ursula Kundert. Berlin 2010 (Trends in Medieval Philology 20), S. 231–268, hier S. 242–246 und 249. 23 Andreas Günther: Unüberwindlicher Prediger-Schild. Zeitz: Friedemann Hetstedt 1684 [VD 17 39:114921Z]. 24 Johann Schilter ist zum Widmungszeitpunkt Doktor beider Rechte, Assessor des Consistorium Ecclesiasticum in Leipzig, Senior des dortigen Schoe ppenstuls und Advocatus ordinarius des Oberhofgerichtes, vgl. Günther (1684), S. 38 und Weigel / Schilter (1653a), A1v. Ein weiterer der insgesamt vier Widmungsempfänger und Förderer ist ebenfalls ein Verwandter, promovierter Jurist und Mitglied des sächsischen Schöppenrates, Johann Christoph Marx. 25 Coler wird später General-Superintendent, Assessor des Consistorium und Pastor von St. Michael in Jena, vgl. Günther (1684), S. 38 und 45. In der Leichenpredigt ist ein Epicedion von ihm auf den verstorbenen Schilter enthalten (Günther [1684], S. 50). 26 Günther (1684), S. 39. 27 Günther (1684), S. 39.

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Bemerkenswert ist, dass Müller bereits in der Commentatio unter den Widmungsempfängern Schilters erscheint und zwar als „patronus ac promotor suus summopere colendus“. Inwieweit Schilter mit Müller zu dieser Zeit überhaupt schon in Kontakt stand, ist nicht bekannt – es steht jedoch zu vermuten, dass diese Widmung als ‚Bewerbungsadresse‘ mit Blick auf den anstehenden Wechsel nach Leipzig vorgenommen wurde.28 Durch die Zueignung dieser exercitatio academica konnte Schilter seinen Gönnern für erwiesene Unterstützung danken und ihnen zeigen, dass sich die in ihn gesetzten Hoffnungen und die ideelle wie materielle Förderung gelohnt hatten. Als Respondent bei der pro-loco-Disputation eines Neuberufenen zu fungieren, war eine Demonstration seines Studienerfolges und ein deutliches Zeichen seiner Hochschätzung an der Fakultät. Zugleich konnte sich Schilter durch diese Steigerung seines akademischen Prestiges für eine weitere Förderung empfehlen beziehungsweise um neue Unterstützung werben. Dass Schilter nach seinem Wechsel nach Leipzig ein gutes, wenn nicht sogar enges Verhältnis zu Philipp Müller gepflegt hat (so zumindest der – topische? – Tenor der Leichenpredigt),29 dürfte neben seiner Begabung auch auf seine aktive Bemühung um Patronage zurückzuführen sein, die Weigel als ehemaliger Müller-Schüler sicherlich durch eine entsprechende Empfehlung unterstützt hatte. Sein Studium in Leipzig und seine weitere Karriere verliefen jedenfalls erfolgreich: Schilter erwarb die Grade des Baccalaureus und Magister (zu dem ihn Müller als Senior der Philosophischen Fakultät ernannte) und studierte Theologie.30 Die sich anschließende theologische Laufbahn beendete er als Pastor an der Stadtkirche St. Wenzel in Naumburg.31

Weigels Widmungsvorrede an Herzog Friedrich Wilhelm II. Weigel verfolgte mit seiner sechsseitigen Widmungsvorrede an Herzog Friedrich Wilhelm ähnlich gelagerte Ziele – Dank für erwiesene Förderung und Werbung um weitere Unterstützung –, ohne diese freilich explizit zu machen: Als Leitmotive wählte er zum einen die Erhabenheit der Betrachtung des Himmels und seiner Phänomene, durch die sich der Mensch zu seinem eigentlichen, göttlichen Ursprung aufschwingen könne; zum anderen die traditionelle Affinität der spirituellen und politischen Lenker der Gesellschaft zur Himmelskunde. Ausgehend von den babylonischen und ägyptischen Königen und Priestern, die Manilius im 1. Buch seiner Astronomica als Begründer der Astronomie nennt, spannt Weigel einen Bogen zu europäischen und chinesischen Regenten, welche die Astro28 Zu den Adressatengruppen, den Intentionen der Dedikanten und speziell auch zu Widmungen an Gönner, die diese Funktion (noch) nicht innehaben, aber dafür aus finanziellen und/oder karrierefördernden Gründen gewonnen werden sollen, vgl. Philipp (2010) passim. 29 Günther (1684), S. 46. 30 Günther (1684), S. 46. Zur Ausbildung Schilters in Leipzig inklusive der dort absolvierten disputationes vgl. ebd. S. 39f. und 46. 31 Günther (1684), S. 40.

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nomie (nicht zuletzt auch durch die gezielte Beschäftigung und Unterstützung von Gelehrten) beförderten und zum Teil selbst betrieben. In die Reihe dieser Herrscher werden dann auch die Förderer der Astronomie und Mathematik in Sachsen einbezogen, namentlich Johann Wilhelm von Sachsen-Altenburg, der den Altenburger Hof mit Instrumenten ausgestattet, und dessen Bruder (und Weigels Fürsprecher) Friedrich Wilhelm II., der nach dem Tod Johann Wilhelms die Sammlung bewahrt und für den öffentlichen Gebrauch bestimmt habe – zur Zierde des Hofes wie zu Ehren der Muse Urania.32 Mit der Einführung der Urania leitet Weigel – poetisch und panegyrisch verbrämt – über zu seiner Berufung und zur Wahl des Themas seiner disputatio und nimmt dabei gleichzeitig Friedrich Wilhelm in die Pflicht: Urania, die große Hoffnungen für ihre Belange in den Herzog setze, habe gesehen, wie eifrig Friedrich Wilhelm den Kometen von 1652 observiere und wie sehr er sich gräme, dass Jena mit dem Tod Heinrich Hofmanns einen Beobachter verloren habe, der den Lauf des Kometen hätte verzeichnen und seine Beschaffenheit den Studenten hätte erklären können.33 Urania nun setzt Weigel darüber in Kenntnis, dass er vom Senat der Universität Jena den Nutritoren als Kandidat für die Nachfolge Hofmann vorgeschlagen wurde. Dieser beobachtet daraufhin den Kometen mit größtmöglicher Aufmerksamkeit, um dem Begehren des Herzogs Genüge tun zu können. Das Ergebnis dieser Anstrengung bietet er nun mit vorliegender Arbeit dar und hofft darauf, dass der Herzog ihm auch weiterhin die wohlwollende Gnade gewähre, die er „praeprimis nuper“34 erfahren habe. Diese Nebenbemerkung bleibt die einzige Anspielung auf die maßgebliche Unterstützung Friedrich Wilhelms im Rahmen des Berufungsverfahrens. Das ‚besondere‘ Präsent jedoch, das ihm Weigel mit der Widmung seiner disputatio und dem Thema im speziellen macht, dürfte der Herzog goutiert haben. Allerdings musste Weigel in den folgenden Jahrzehnten seiner Jenaer Zeit (er starb 1699) die finanzielle Unterstützung seitens der Nutritoren immer wieder mit brieflichen Petitionen einfordern und etwa um die Rückerstattung ausgelegter Beträge bitten.35 Trotzdem wurde für die Astronomie an der Salana auf Betreiben Weigels einiges getan: Bereits 1656 erhöhte man etwa das Torgebäude des Collegium Jenense um drei Stockwerke, um eine Observationsplattform zu schaffen. Eine Ausstattung mit Instrumenten wurde angestrebt, scheint jedoch recht schleppend vorangegangen zu sein. Bei der Drucklegung von Weigels Himmelsspiegel 36 Ende März 1661 jedenfalls war das Observatorium noch nicht mit den „nothwendigen Instrumenten ver32 33 34 35

Weigel / Schilter (1653), A2r–A4r. Weigel / Schilter (1653), A4r. Weigel / Schilter (1653), A4v. Vgl. Stefan Kratochwil: Das Weigel-Projekt: Versuch einer Rekonstruktion des Selbstverständnisses von Erhard Weigel. In: Philosophia mathematica. Die Philosophie im Werk von Erhard Weigel. Hg. von Stefan Kratochwil. Jena 2005, S. 7–21, hier S. 11f. und Kratochwil (2009), S. 139 und 142. 36 Erhard Weigel: Speculum uranicum aquilae Romanae sacrum. Jena: Samuel Krebs 1661 [VD 17 39:121865R].

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sehen worden“,37 auch wenn es einige Schenkungen gab, die aus der herzoglichen Gerätesammlung der Weimarer Wilhelmsburg stammten.38 Einige Instrumente, deren Verbesserung beziehungsweise Neuentwicklung sich Weigel widmete, standen bedauerlicher Weise zur Observation des Kometen, der sich zu Beginn des Jahres 1661 zeigte, ebenfalls noch nicht zur Verfügung.39 Allerdings konnte Weigel auf dem flachen Dach des neuerbauten Jenaer Schlosses am 1. Januar 1661 als spektakuläres und repräsentatives Zeige-Objekt einen von mehreren Personen betretbaren, drehbaren Himmelsglobus errichten, der jedoch 1692 aus Sicherheitsgründen wieder entfernt werden musste.40

Weigels Observation des Kometen von 1652 Beide Druckvarianten der Commentatio stimmen ab dem Prooemium, das mit Lage B beginnt, überein. Dieses und die ersten Kapitel liefern einige weitere Details über die Berufung Weigels, seine Observation des Kometen in Leipzig und die Genese der vorliegenden Schrift.

Weigels Kometenbeobachtung in Leipzig Kurz nachdem Weigel erfahren hatte, dass er vom Senat der Jenaer Universität für die Nachfolge Hofmann nominiert war, zeigte sich – so seine retrospektive Inszenierung – quasi als kosmische Novität im Dezember 1652 der auffällig dunkle Komet.41 Weigel entdeckte ihn während einer astrognostischen Übung, die er in Leipzig im Rahmen seines 37 Weigel (1661), K3r. Dem Himmelsspiegel ist ein ganzseitiges Kupfer beigegeben, welches das Collegium mit dem Neubau zeigt. Auf seiner Plattform ist eine Observationsszene des Kometen von 1661 dargestellt, der sich über dem Komplex beim Sternbild des Adlers befindet. Auf dem Kirchenvorhof ist eine (fiktive) Vorführung von Weigels geplantem „Astrodicticum compositum“ (Stern=Schrancke) inszeniert, im Vordergrund des Bildfeldes ist eine Sammlung von Geräten visualisiert, von denen einige eben noch nicht in dieser Form fertiggestellt waren. Eine ganzseitige Abbildung des Kupfers findet sich bei Dorschner (1999), S. 21, der jedoch nicht auf die Szene auf dem Vorhof eingeht, das „Astrodicticum compositum“ nicht identifiziert und von durchgängig existenten Instrumenten Weigels ausgeht. – Zu einer späteren mechanischen Werkstatt Weigels vgl. Klaus-Dieter Herbst: Traces to the mechanic’s workshop: Gottfried Teuber’s copper engraving and woodcut illustrations for Erhard Weigel. In: The role of visual representations in astronomy. History and research practice. Hg. von Klaus Hentschel und Axel D. Wittmann. Thun / Frankfurt am Main 2000, S. 53–65 und ders.: Erhard Weigels mechanische Werkstatt. Eine Spurensuche. In: Jenaer Jahrbuch zur Technik- und Industriegeschichte 6 (2004), S. 33–44. 38 Weigel (1661), K3v. 39 Weigel (1661), K3v. 40 Vgl. Schielicke, Sonnenuhren (2008), S. 44–46 mit Abb.; Dorschner (1999), S. 23. Zu Weigels spektakulärem „Pancosmus“ vgl. Schielicke, Sonnenuhren (2008), S. 45–47, basierend auf Knopf (1937), S. 57–59. 41 Weigel / Schilter (1653), B1r.

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privaten Collegium Astronomicum abhielt:42 Als er am 9. Dezember a. K. nach Sonnenuntergang mit seinen auditores die Bestimmung von Sternbildern vornahm, fiel ihm der Komet sofort auf.43 Intensiv widmete sich Weigel in den kommenden Tagen der Observation des Kometen und versuchte nach eigener Auskunft, so genau wie möglich – wenn auch ohne geeignete astronomische Instrumente – seinen Ort und Lauf zu bestimmen. Dies tat er nach seiner Aussage zum einen aus eigenem Interesse, zum zweiten qua Profession, da er in Leipzig in seinen collegia privata Astronomie unterrichtete, und zum dritten in Hinblick auf die aktuelle Kandidatur für die professio publica in Jena, zu deren Amtsaufgaben derartige Observationen zählten.44 Weigel observierte den Kometen mit Ausnahme von nur wenigen Tagen vom 9. Dezember a. K. bis zum 27. Dezember a. K. mit unbewaffnetem Auge; lediglich am 26. und 27. Dezember zog er ein Fernrohr zu Hilfe, um den Kometen noch orten zu können.45

Leipziger Instrumentenmangel Die Klage über fehlende Instrumente, mit deren Hilfe exakte Messdaten hätten gewonnen werden können, findet sich häufiger in Kometendrucken des 17. Jahrhunderts, die für die Superlunarität der Kometen plädieren. Dies mag in manchen Fällen apologetischer Topos sein, die (mehrfache) Thematisierung in Weigels Disputation dürfte aber noch andere Zwecke verfolgen. Bereits Weigels Lehrer Philipp Müller hatte in seiner Abhandlung über den Winterkometen von 1618/19, die auf einer seiner Vorlesungen basierte und den Grundlagentext für eine disputatio publica des Baccalaureus Johannes Praetorius darstellte,46 an exponierter Stelle auf das Fehlen von Instrumenten in Leipzig hingewiesen – in einer der Disputation 42 Weigel / Schilter (1653), B1r/v. Der Observationsort wird nicht genannt, denkbar wäre jedoch die Pleißenburg. Weigel stand in engem Kontakt und gelehrtem Austausch mit dem dortigen Ingenieur und späteren Kommandanten, Basilius Titel, dessen umfangreiche Bibliothek er benutzte und mit dem er auch gemeinsame astronomische Observationen durchführte, vgl. Döring (1999), S. 88f. 43 Als Entstehungsdatum vermutet er aufgrund bestimmter Planetenaspekte (einer Quadratur von Jupiter und Mars und einer Opposition von Sonne und Mond) den 7. Dezember a. K., vgl. Weigel / Schilter (1653), B3v. 44 „Huius spectaculi novitate non minus quam singulari specie commotus ea qua fieri potuit diligentia in id incubui, ut & locum quo sistebat, & motum quo progrediebatur accurate indagarem, praesertim cum hoc quicquid est exercitii ad me pertinere putarem, partim quod Astronomiam tum privatim docerem: partim quod ad publicas huius generis functiones alibi me quam honorificentissime denominatum esse intelligerem.“ (Weigel / Schilter [1653], B1r). 45 Weigel / Schilter (1653), D2v. 46 Philipp Müller (Praes.) / Johannes Praetorius (Resp.): Hypotyposis cometae nuperrime visi. Leipzig: Henning Grosse d. Ä. / Georg Liger 1619 [VD 17 12:162152R]. Vgl. zu dem in mehreren Ausgaben veröffentlichten Text Marion Gindhart: Das Kometenjahr 1618. Antikes und zeitgenössisches Wissen in der frühneuzeitlichen Kometenliteratur des deutschsprachigen Raumes. Wiesbaden 2006 (Wissensliteratur im Mittelalter 44), S. 223–225 und 234–243. Die folgenden Verweise auf Müllers

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vorgeschalteten Dedikation an den Rektor der Universität, Georg Ernst von Schönburg:47 Müllers Bitte um eine Optimierung der Ausstattung entsprang dabei seinem Anliegen nach einer Verbesserung der mathematisch-astronomischen Ausbildung an der Leipziger Artistenfakultät, die er für zentrale neue Erkenntnisse der recentiores, vor allem Brahes und Keplers, öffnen wollte. Für die Etablierung der Astronomie als Wissenschaft im Allgemeinen und der Kometen als kosmische Phänomene (Superlunaritätstheorie) im Speziellen waren exakte Instrumente und exakte Messdaten unerlässlich, um dem Vorwurf der imperfectio artis seitens der Aristotelici zu begegnen und ihre Vorwürfe zu entkräften, dass die Instrumente, mit deren Hilfe die Höhe der Kometen bestimmt wurde und werde, fehlerhaft seien und divergierende Daten lieferten. Scipione Chiaramonti (1565–1652) etwa, der über Jahrzehnte hinweg die aristotelische Kosmologie und mit ihr die sublunare Position der Kometen in Auseinandersetzung mit Astronomen wie Tycho Brahe, Christoph Rothmann, Christoph Clavius, Johannes Kepler oder Willebrord Snell polemisch verteidigte, verwarf astronomische Einwände gegen das aristotelische Modell, indem er auf die Streubreite der Beobachtungsdaten verwies und auf ihrer Grundlage Parallaxenberechnungen vornahm, die etwa die Supernova von 1572 als sublunares Phänomen erwiesen.48 Wenn Weigel in der Commentatio mehrfach betont, dass ihm zur Beobachtung des Kometen von 1652 in Leipzig geeignete Instrumente fehlten, so ist dies sicherlich auch als Appell an die Adresse Friedrich Wilhelms und der anderen herzöglichen Nutritoren zu verstehen, einen ähnlichen Notstand in Jena zu beheben und damit die Astronomie und insbesondere auch die Kometologie zu befördern.

Von der Observation zur Veröffentlichung Weigel jedenfalls behalf sich angesichts fehlender Geräte damit, dass er mit der Fadenmethode zunächst die jeweilige Kometenposition in Relation zu benachbarten Fixsternen festlegte, deren ekliptikale Koordinaten bekannt waren. In einem zweiten Schritt bestimmText beziehen sich auf die Ausgabe: Philipp Müller: De cometa anni 1618 commentatio physicomathematica. Leipzig: Henning Grosse d. Ä. 1619 [VD 17 23:289764]. 47 Müller (1619), A4v–A5v. 48 Zu Chiaramonti vgl. Michael Weichenhan: „Ergo perit coelum …“. Die Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie. Stuttgart 2004 (Boethius 49), insbes. S. 205f. und 222–229 und Gino Benzoni: Artikel „Chiaramonti, Scipione“. In: Dizionario Biografico degli Italiani 24 (1980), S. 541–549. Weigel / Schilter (1653), F4r reagiert auf die Einwände Chiaramontis gegen die Parallaxenbestimmung als schlagendes Argument für die Superlunarität der Kometen mit einem alternativen trigonometrischen Nachweis, der bei der gleichzeitigen Sichtbarkeit der Kometen in verschiedenen Regionen ansetzt (so auch Müller [1619], S. 33f.). Bartholomaeus Keckermann bezweifelte generell die Möglichkeit, von der Erde aus Höhenbestimmungen von Kometen durchführen zu können, vgl. Gindhart (2006), S. 249–252.

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te er über verschiedene trigonometrische Verfahren die Koordinaten des Kometen an den einzelnen Observationsterminen. Diese Ergebnisse – so Weigel – seien jedoch nicht für eine Veröffentlichung vorgesehen gewesen. Da aber die Berufung nach Jena mit einer pro-loco-Disputation (auf der Basis einer schriftlichen Dissertation) gekoppelt war, habe er die trigonometrischen Berechnungen zur Bestimmung des Kometenortes um allgemeine Aspekte zum Wesen der Kometen vermehrt, um dies in Form der vorliegenden schriftlichen Dissertation wie auch der mündlichen Disputation der gelehrten Öffentlichkeit zu präsentieren, und zwar „boni ominis gratia“. Der Komet als traditioneller Unglücksbote wird somit als omen faustum für die Karriere Weigels ‚okkupiert‘: Quamvis autem observationes meas, utpote crassiores, nequaquam dignas iudicaverim, ut lucem viderent, tamen, cum, DEO clementer sic dirigente, Spartam Professoriam nactus Disputationem pro Loco habendam esse scirem, operae pretium fore putavi, si Trigonometricum loci Cometici calculum discursu generali de Natura Cometarum augerem, & utrumque simul publico eruditorum examini boni ominis gratia exponerem. (Weigel / Schilter [1653], B1v) Obgleich ich aber meine Beobachtungen (zumal sie ziemlich unpräzise waren) keineswegs einer Veröffentlichung wert erachtet habe, so hielt ich es dennoch – weil ich wusste, dass ich eine pro-loco-Disputation abhalten muss, nachdem ich durch die gnädige Fügung Gottes den Professorenrang erhalten habe – für lohnend, die trigonometrische Berechnung des Kometenortes um ein allgemeine Abhandlung über die Natur der Kometen zu erweitern und beides zugleich dem öffentlichen Urteil der Gelehrten um eines guten Omens willen vorzulegen.

Die Observationsberichte und die auf den gewonnenen Daten basierenden trigonometrischen Berechnungen bilden den Kern der Schrift (Kapitel 2–19). Ihnen geht ein einführendes Kapitel49 voraus, das eine etymologische Erklärung des Lexems cometa sowie Definitionen nach dem sensus popularis und dem sensus philosophicus gibt. Letztere benennt als κριτήριον principale den zweifachen Lauf (also die scheinbare tägliche Bewegung mit den Fixsternen und eine quasi-planetarische Eigenbewegung) und als κριτήριον minus principale den stets von der Sonne abgewandten Schweif, der verschiedene Formen annehmen, aber auch fehlen kann. An diese Definition knüpfen die Kapitel 20–28 an, die sich dem genannten „discursus generalis de natura cometarum“ widmen. Hier werden Themen wie Stoff, Gestalt und Eigenschaften der Kometen, ihre Bildung und ihr Ort, ihre Bewegung, die Form ihrer Bahnen oder die Schweifbildung diskutiert. Kapitel 29 beschließt die Schrift mit einem Blick auf die Deutung der Kometen. Dem Usus entsprechend dürften Weigel und Schilter die schriftliche Fassung mit einem zeitlichen Vorlauf vor der für den 16. Juli a. K. 1653 angesetzten Disputation50 an die üblichen Empfänger wie das Professorenkollegium, Kommilitonen sowie außeruniver49 Weigel / Schilter (1653), B1v–B2v (Cap. I.). 50 So die gedruckte Angabe auf dem Titel der Schilter-Exemplare; die Weigel-Exemplare enthalten ein Spatium für den handschriftlichen Vermerk des Datums.

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sitäre Gelehrte und Honoratioren, die der öffentlichen Disputation ebenfalls beiwohnen konnten, verteilt haben. In den Druck gegeben wurde der Text wohl kurz nach dem 19. Juni a. K., dem Datum von Weigels Widmung an Herzog Friedrich Wilhelm. Der 27 beziehungsweise 30 Blatt umfassenden Schrift wurde ein ganzseitiges Kupfer beigegeben, welches das ohnehin sehr sorgfältig gesetzte und durchgliederte Werk ästhetisch wie didaktisch zusätzlich aufwertet [Abb. 1]. Der Stich visualisiert dabei alle Stationen der Kometenbahn, die Weigel anhand fast täglich vorgenommener Beobachtungen in den Observationsberichten seiner Commentatio verzeichnet: von der ersten Sichtung im Sternbild Hase über Eridanus und Stier bis zum Caput Medusae und Perseus. Das Kupfer ist bei einem Teil der erhaltenen Exemplare vor das Titelblatt gebunden, bei einem Teil fehlt es. Es zeigt die Süd-Nord-Bewegung des Kometen, die etwas nördlich vom Wendekreis des Steinbocks (Weigel berechnet 41° südliche Breite) über Äquator, Ekliptik und weit über den Wendekreis des Krebses hinaus verlief und dabei retrograd von den Zwillingen in den Stier erfolgte. Zudem sind die jeweilige, mit dem unbewaffneten Auge erkennbare Größe, Form und Struktur des Kometenkopfes sowie die Form, Ausdehnung und Richtung des Schweifes zu den einzelnen Observationsterminen in Übereinstimmung mit den Ausführungen im Text festgehalten.

Die Commentatio als Einführung in die sphärische Trigonometrie Wie Philipp Müller lag auch Weigel daran, die Anerkennung und Etablierung der Astronomie als Wissenschaft voranzutreiben und darüber hinaus die Mathematik als Universalund Fundamentalwissenschaft (mit einer starken ethischen Komponente) zu installieren.51 Als Schlüsseldisziplin für die Auswertung seiner Observationsdaten, als socia et ministra der Astronomie, verwendet Weigel die sphärische Trigonometrie, die zu seiner Studienzeit in Leipzig eine Standardvorlesung Philipp Müllers war.52 In der Commentatio wird die Trigonometrie als Verfahren zur Positionsbestimmung (d. h. zur Berechnung der ekliptikalen Koordinaten und deren Umrechnung in äquatoriale),53 zur Bestimmung der täglich

51 Zu Weigels Mathematikverständnis vgl. – neben den Editionsprojekten von Thomas Behme – den Sammelband Kratochwil, Philosophia mathematica (2005); Dorschner (1999), S. 19 und 33; Leonhard Friedrich: Pädagogische Perspektiven zwischen Barock und Aufklärung. Die Pädagogik Erhard Weigels. In: Schielicke / Herbst / Kratochwil (1999), S. 39–68, bes. S. 59–62; Wilhelm Hestermeyer: Paedagogia mathematica. Idee einer universellen Mathematik als Grundlage der Menschenbildung in der Didaktik Erhard Weigels, zugleich ein Beitrag zur Geschichte des pädagogischen Realismus im 17. Jahrhundert. Paderborn 1969. 52 Vgl. Döring (1999), S. 77–79. 53 Zur Umrechnung Weigel / Schilter (1653), D3v–D4r (Cap. XVII.) mit einer Tabelle aller Kometenkoordinaten.

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Abb. 1: Kupfertafel mit der Bahn des Kometen von 1652 aus der Commentatio Weigels [SLUB Dresden, Astron.574,26 (vor dem TB eingebunden)].

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zurückgelegten Bahnstrecke,54 für die Höhen-55 und Größenberechnung56 des Kometen genutzt. Zugleich ist die Schrift – von den erwähnten Erweiterungen über die natura cometarum abgesehen – eine luzide und didaktisch versierte Einführung in die sphärische Trigonometrie und soll wohl auch als praktische Anleitung für spätere, eigenständige Berechnungen der Rezipienten dienen. Weigel dürfte hier vor allem auch an seine Studenten gedacht haben, an deren meist niedrigem mathematischem Bildungsgrad er seine elementar (wenn auch in imponierender disziplinärer Breite) angelegten Vorlesungen in der Folgezeit orientierte.57 In der Commentatio werden verschiedene trigonometrische Verfahren und Lösungswege exemplarisch und in kleinen Schritten durchgespielt. Anhand von beigegebenen Figuren lassen sie sich leicht nachvollziehen.58 Diese Luzidität der Ausführung findet ihre Entsprechung auch im Layout des Druckes [Abb. 2], der so zu einer ‚Visitenkarte‘ der fachlichen wie didaktischen Befähigung des akademischen Lehrers Weigel wird.

Weigels Ausführungen über die natura cometarum in der Commentatio Den trigonometrischen Berechnungen lässt Weigel nun weitere zehn Kapitel folgen, die sich der – mannigfach diskutierten – Natur der Kometen widmen. Interessant ist hierbei, wie sich Weigel in dieser Debatte positioniert und wie er sie thematisiert. Die Schriften, die anlässlich des Winterkometen von 1618/19 – des letzten kometarischen Großereignisses – entstanden sind, zeigen, dass zu Beginn des Jahrhunderts noch zäh und teilweise äußerst hitzig und apodiktisch um die natura cometarum gerungen wurde: Dabei ging es in erster Linie um die grundsätzliche Frage, ob die Kometen nach aristotelischer Lehre sublunare, meteorologische Phänomene sind, die aus Erddämpfen gebildet werden, in die oberste Luftschicht aufsteigen und dort verdichtet und entzündet werden, oder aber, ob sie – wie etwa die Parallaxenmessungen Brahes ergeben hatten – superlunare, kosmische Erscheinungen darstellen (zu deren Bildung und Beständigkeit es dann wiederum verschiedene Theorien gab).

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Weigel / Schilter (1653), D3r (Cap. XV.). Weigel / Schilter (1653), D4v–E1r (Cap. XVIII.). Weigel / Schilter (1653), E1r–E2r (Cap. XIX.). Schielicke, Sonnenuhren (2008), S. 33. Zu Weigels Vorlesungen vgl. die Übersicht bei Dorschner (1999), S. 32. Die Behandlung einer Vielfalt mathematischer Disziplinen in den Vorlesungen ist Programm und soll über ihre Vermittlung auch demonstrieren, wie breit die Universalwissenschaft Mathematik aufgestellt ist. 58 Weigel / Schilter (1653), B3v–D3r (Capp. IV.–XIV.).

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Abb. 2: Leseprobe mit trigonometrischer Berechnung aus der Commentatio Weigels [SLUB Dresden, Astron.574,26, B4r].

Kometarische Mindestgrößen Die Bestimmung der Parallaxe ist für Weigel ebenfalls der Schlüssel zur Höhen- und auch Größenbestimmung der Kometen. Da es ihm jedoch bei seiner Observation des Kometen von 1652 in Ermangelung geeigneter Instrumente nicht möglich war, exakte Positionsbestimmungen vorzunehmen und entsprechend genau die Parallaxenwinkel zu bestimmen, rechnete er für den Kometen am Ende seiner Sichtbarkeit59 mit einem Näherungswert von etwa 5’, was eine Entfernung von 687 Erdhalbmessern60 und somit eine eindeutig superlunare Position ergibt. Zu Beginn der Sichtung war der Komet erdnäher, aber mindestens 114 Erdhalbmesser entfernt und somit ebenfalls zweifelsfrei superlunar.61 Für diese Min-

59 Weigel / Schilter (1653), D4v–E1r (Cap. XVIII.). 60 Dies entspricht in etwa 590.000 dt. Meilen nach den Berechnungen Brahes und Keplers. 61 „His ita positis sequitur Cometam hunc nequaquam in aere hoc nostro, sed longe supra Lunam in aura aetherea suos exercuisse motus […].“ (Weigel / Schilter [1653], E1r). Vgl. ebd., E2r.

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desthöhe berechnet Weigel62 den Durchmesser (427 2/3 dt. Meilen), das Volumen, den Umfang und die Oberfläche des Kometen, also ebenfalls Mindestwerte.

Neu gegen alt: Die Kometendefinition der moderni und die causa Aristotelica Diese Werte bilden die Grundlage für die weiteren Überlegungen zur physikalischen Erklärung der Kometen. Dazu stellt Weigel63 den vielfältigen antiken Theorien, für die er die pseudo-plutarchische Doxographie64 in lateinischer Übersetzung zitiert, den Ansatz der moderni Philosophi (von denen er die zeitgenössischen Peripatetiker ausnimmt) gegenüber: Moderni Philosophi a placitis veterum nonnihil discedentes Cometam dicunt esse Phaenomenon insolitum, quod ex pellucida & alicubi densescente Coeli substantia genitum in aetherea regione motu quasi planetico ad tempus progreditur, comam in locum Soli oppositum protendens. (Weigel / Schilter [1653], E2r) Die Gelehrten aus neuerer Zeit, die sich von den Ansichten der alten einigermaßen entfernen, behaupten, dass ein Komet eine ungewöhnliche Erscheinung sei, die sich – aus durchsichtiger und sich an einem beliebigen Punkt verdichtender Himmelsmaterie gebildet – in der Himmelsregion mit gleichsam planetarischer Eigenbewegung für eine gewisse Zeit fortbewegt und dabei einen Schweif auf einen der Sonne gegenüberliegenden Ort hin ausstreckt.

Diese ‚moderne‘ Definition wird im folgenden dann freilich in ganz traditioneller Manier über diverse distinctiones abgeleitet: genus externis

definitio a causis differentia specifica

internis (materia, forma) ab adiunctis

Die allgemeine Genusbestimmung findet sich zu Beginn der angeführten definitio: Der Komet ist ein phaenomenon insolitum, was ihn mit Novae und anderen ungewöhnlichen Himmelserscheinungen verbindet. Der maßgebliche Unterschied, die differentia specifica,

62 Weigel / Schilter (1653), E1r–E2r (Cap. XIX.). 63 Weigel / Schilter (1653), E2r/v (Cap. XX.). 64 Ps.-Plutarch, De placitis philosophorum 3,2 (893B–D).

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wird dann über die äußeren und inneren Ursachen (causae externae et internae) sowie über spezifische Eigenschaften (adiuncta) bestimmt. Bei der Klärung der causae 65 positioniert sich Weigel zum aristotelischen Modell und seiner Rezeption, ohne sich allerdings in der Intensität damit auseinanderzusetzen, wie dies Philipp Müller noch 1619 getan hatte.66 Dies liegt jedoch nicht daran, dass das Modell in der Zwischenzeit obsolet geworden wäre: Da bis 1652 kein vergleichbares kometarisches Großereignis stattfand, das einen neuen Datenpool hätte liefern und die Superlunarität zweifelsfrei hätte erweisen können,67 hielt sich das systemimmanent stimmige aristotelische Modell in den fünfziger Jahren weiterhin und wurde von seinen Anhängern als Bestandteil der aristotelischen Kosmologie vehement verteidigt. Die lange Dominanz dieses Modells führt Weigel dabei auf zwei Faktoren zurück: die Autorität des Aristoteles und den Mangel an besseren Beobachtungen: Secuti sunt eum in hac sententia tantum non omnes, qui post eum vixerunt, idemque vel destituti melioribus circa hoc phaenomenon observationibus, vel saltem Aristotelis autoritate capti in hunc usque fere diem tanto fervore propugnarunt, ut Ursae Catulos citius eripueris, quam hos de sua latum unguem dimoveris sententia. (Weigel / Schilter [1653], E2v) Es folgten ihm in dieser Ansicht fast alle, die nach ihm lebten, und sie verteidigten sie – entweder weil sie keine besseren Beobachtungsdaten bezüglich dieses Phänomens hatten oder von der Autorität des Aristoteles so eingenommen waren – schier bis zum heutigen Tag mit einem solchen Nachdruck, dass man leichter einer Bärin ihre Jungen entreißen könnte, als diese auch nur einen Fingerbreit von ihrer Meinung abzubringen.

Wie bereits angedeutet, versuchten exponierte Aristotelici die Superlunarität der Kometen als ungültige Annahme zu verwerfen, indem sie etwa Messdaten und -methoden in Frage stellten, auf die Streubreite der Daten verwiesen und inkorrekte Parallaxenmessungen, die Kometen scheinbar als sublunar erwiesen, durchführten oder benannten. Zu dieser direkten Auseinandersetzung mit aktuellen Superlunaritätsansätzen tritt – wie anlässlich des Kometenschrifttums von 1618/19 gezeigt werden konnte –68 ganz prominent ein weiteres Verfahrensmuster der Aristotelici, nämlich die Existenz konkurrierender, superlunarer Theorien gar nicht zu thematisieren oder aber sie in Rekurs auf antike Superlunaritätstheorien (etwa der Pythagoräer) indirekt zu widerlegen. Durch diese verweigerte Wahrnehmung und Artikulation des ‚neuen‘ Wissens sollte ihm die Öffentlichkeit und somit grundsätzlich die Legitimation als ernstzunehmende Alternative oder Korrektiv genommen und eine Infragestellung der aristotelischen Lehre vermieden werden. 65 Zunächst zur materia: Weigel / Schilter (1653), E2v–F2v (Cap. XXI.). 66 Müller (1619), S. 23–43, vgl. Gindhart (2006), S. 239f. 67 Gary W. Kronk: Cometography. A catalog of comets. Volume 1: Ancient–1799. Cambridge 1999, S. 342–346 verzeichnet nach 1619 und vor 1652 lediglich drei unspektakuläre Kometen, von deren Sichtung in Europa einzelne Beobachter berichteten (1625, 1639 und 1647). 68 Vgl. Gindhart (2006), S. 222–234 zu Abraham Rockenbach sowie S. 244–252.

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Es ist nun interessanter Weise Bartholomäus Schimpffer, bei dem Weigel in Halle als Kalendermacher gearbeitet hat, der in seiner populären deutschsprachigen Kometenflugschrift, die 1652 und 1653 in mehreren Auflagen erschien,69 nach der zweiten Variante verfährt: Schimpffer referiert in einem eigenen Kapitel mit der Überschrift „Die Opiniones oder Meinungen von den Ursachen/ auß welchen die Cometen entstehen“ 70 neben der theologischen Deutung als göttliche Bußzeichen lediglich die aristotelische Theorie, leitet von diesem Modell physikalisch die Folgen der Kometen ab und spezifiziert diese mit traditionellen astrologischen Verfahren. Im Gegensatz dazu agitierten die Superlunaritätsbefürworter teilweise vehement und ganz offen gegen die Aristotelici – dies im übrigen auch programmatisch in Vorlesungen und Disputationsschriften:71 Aus dem Jahr 1619 wäre etwa neben der Leipziger Kometenvorlesung und der darauf basierenden Abhandlung Philipp Müllers auch der Discursus Johannes Dölings zu nennen, über den er als Praeses am 6. März a. K. 1619 in Greifswald disputieren ließ.72 In einigen Schriften wird der Streit als erbitterte Auseinandersetzung thematisiert, in anderen wird die Angelegenheit als abgeschlossen, die aristotelische Theorie als obsolet und widerlegt inszeniert. In Weigels Commentatio finden wir beide ‚Bilder‘: zum einen die Aristotelici, die – wie im obigen Zitat – die Kometentheorie und damit die Geschlossenheit des aristotelischen Systems mit allem Nachdruck verteidigten; zum anderen die Diskussionsunwürdigkeit ihrer Theorie, die bereits mit den Beobachtungen, Messungen und Berechnungen Brahes überholt sei.73 Wie in den Kometenschriften von 1619 wird dabei der Autorität des „summus veterum Philosophorum“ Aristoteles die des „nobilissimus Astronomorum Phoenix“ Brahe entgegengesetzt und die Frage nach dem Ort des Kometen als schon längst entschieden deklariert – Brahe, Kepler und Longomontanus mit

69 Erstausgabe: Bartholomäus Schimpffer: Kurtze Beschreibung deß dunckelen Cometen. Halle: Johann Rappoldt 1652 [VD 17 23:289135Q] und Nachdrucke (1652?) [VD 17 7:658964Q identisch mit 14:072850Q], 1653 [VD 17 14:072844P]; Nachdrucke Leipzig: Timotheus Ritzsch 1653 [VD 17 12:642865N; 39:118170Y]; dazu Nachdruck Frankfurt am Main: Johann Philipp Weiß 1653 [VD 17 14:072840H] zusammen mit Janus von der Gartow: Kurtzer Bericht von dem Comet. Erstausgabe Hamburg: Arendt Petersen 1652 [VD 17 23:644908L] mit zahlreichen Nachdrucken. Von der Gartows kleine Schrift (4 Bl.) wurde noch während der Kometenerscheinung, kurz nach dem 17. Dezember 1652, herausgegeben und ist eines der typischen, schnell auf den Markt gebrachten und damit äußerst gefragten Produkte. Es enthält einen kurzen Observationsabriss, eine Liste der drohenden Katastrophen und der davon betroffenen Länder und Städte sowie einen Sündenspiegel mit Bußaufruf. 70 Schimpffer (1652?), C1r–C3r. 71 Vgl. Gindhart (2006), S. 252–266. 72 Vgl. Gindhart (2006), S. 255f. und S. 261f. 73 Vgl. etwa Weigel / Schilter (1653), F3v: „Recentiores vero explosa elementari natura coelestique substituta causam Cometarum efficientem paulo aliter inquirunt.“ Oder, polemischer, gegen die Feuernatur des Schweifes G3r: „Verum sublato fulcro ruit quod ipsi superstructum est: destructa materia fuliginosa exspirat flamma, nec praeter fumos quicquam relinquitur.“

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seiner Appendix („De novis phaenomenis“) der Astronomia Danica (1622) sind für Weigel die autoritativen Stützen für ein superlunares Kometenmodell: Verum superiori seculo nobilissimus Astronomorum Phoenix Tycho Braheus, Cometas altioris & naturae & ordinis esse accuratissimis observationibus edoctus, materiam ipsis non elementarem, sed coelestem inesse deprehendit, & argumentis firmissimis demonstravit, quod idem etiam Kepplerus, Longomontanus & alii praeterea Physici non minus quam Astronomi praestiterunt, observationibus suis Tychonis sententiam confirmantes, atque Cometas corporibus coelestibus accensendas esse adeo perspicue demonstrantes, ut inter doctos hodie nemo facile sit inveniendus, qui non relictis hac in parte castris antesignani cum recentioribus facere cogatur. (Weigel / Schilter [1653], E2v–E3r) Aber im vergangenen Jahrhundert hat der hochberühmte Phoenix der Astronomen, Tycho Brahe, erkannt – nachdem er durch äußerst präzise Beobachtungen zu der Einsicht kam, dass die Kometen einer höheren Natur und Ordnung zugehören –, dass sie nicht aus elementarischer, sondern aus kosmischer Materie bestehen, und er hat dies mit überaus starken Argumenten bewiesen. Ebendiese Meinung haben auch Kepler, Longomontan und ferner andere Naturkundige wie auch Astronomen vertreten, dabei durch ihre eigenen Beobachtungen die Theorie Brahes bestätigt und so klar und deutlich bewiesen, dass die Kometen den Himmelskörpern zuzurechnen sind, dass heutzutage unter den Gebildeten nicht leicht einer zu finden ist, der nicht in diesem Punkt das Lager des Vorkämpfers verlässt und sich genötigt sieht, es mit den neueren Gelehrten zu halten.

Da den Dreh- und Angelpunkt der Superlunaritätstheorie die Berechnung eines Parallaxenwinkels darstellt, der kleiner ist als der des Mondes, sichert Weigel den Zugang seiner Rezipienten zu diesem zentralen Moment, indem er den Begriff Parallaxe allgemein verständlich mit Hilfe einer Konstruktionszeichnung erklärt und dadurch auch die Gültigkeit der – leicht nachvollziehbaren Methode – demonstriert.

Weigels Kometentheorie im Jahr 1653 Aus der Superlunarität der Kometen folgert Weigel, dass sie nicht aus Erddämpfen formiert sein können, da diese nur begrenzt über die Erde aufsteigen und ein Phänomen von den immensen Ausmaßen eines Kometen nicht bilden könnten. Auch könnte ein Dampfgebilde nie einen Lauf wie die bisher beobachteten Kometen vollziehen. Das bedeutet also, dass der Komet aus kosmischer Materie gebildet sein muss: Missa igitur veterum sententia cum recentioribus non immerito facimus, & materiam Cometarum Coelestem substantiam esse affirmamus. (Weigel / Schilter [1653] F1r) Nachdem wir also die Meinung der alten Gelehrten verworfen haben, schließen wir uns mit gutem Recht den neueren an und bestätigen, dass die Materie der Kometen eine kosmische Substanz ist.

Welche Materie dies nun genau ist und wie die Bildung des Kometen inklusive seines Schweifes vor sich geht, diskutiert Weigel ausführlich in Auseinandersetzungen mit den

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Theorien Brahes, Keplers, Longomontans, aber auch Willebrord Snells, Pierre Gassendis und Giovanni Battista Ricciolis. Dabei erweist er sich als selbstbewusster Kritiker, der aus der Diskussion und dem Vergleich der Theorien ein eigenes Modell entwickelt. Einen besonderen Schwerpunkt legt er auf die optische Erklärung des Kometenschweifes und des Kometenlichtes, mit der er sich auch in seinen folgenden deutschsprachigen Schriften immer wieder beschäftigt,74 und über die er als Dekan der Philosophischen Fakultät im Juli 1666 disputieren lässt.75 Er liest während seiner Jenaer Zeit mehrfach über theoretische und experimentelle Optik76 und führt auch Mikroskopierversuche durch.77 In der Commentatio nun erklärt er Kometen als vergängliche Himmelsphänomene, die aus temporären Ätherverdichtungen unterschiedlicher Dichte resultieren, die das Sonnenlicht reflektieren und brechen. Ihre Eigenbewegung ist – wie bei den Planeten – auf eine virtus propria zurückzuführen,78 der Verdichtungsvorgang wird durch Aspekte der Planeten und insbesondere der Sonne initiiert.79 Bestimmte Orte ihres Auftretens oder Parameter ihres Laufes gibt es nicht,80 ebenso variabel sind sie in Dauer und Erscheinungszeit.81 Weigel geht von geradlinigen Kometenbahnen (mit möglichen Krümmungen) aus,82 adaptiert also das keplersche Konzept im Gegensatz etwa zu Philipp Müller, der Brahe in der Annahme kreisrunder Bahnen folgte.83 Die Schweifbildung erklärt Weigel als Phänomen an der sonnenabgewandten Seite des Kometen, wo kleinste moleculae, die den Kometenkopf als eine Art ‚Wolke‘ umgeben, durch Sonnenstrahlen beleuchtet werden, die – nachdem sie den Kometenkopf durchdrungen haben und in ihm gebro-

74 So etwa im Himmelsspiegel (Weigel [1661]), wo G4r die Herkunft der Kometenmaterie spezifiziert wird als kondensierte exhalationes der WeltCoe rper inklusive der Erde; dann in der Fortsetzung des Himmelsspiegels (1665), die eine neue Schweiftheorie zur Diskussion stellt, welche ausführlich im Erdspiegel (1665) dargelegt wird: Erhard Weigel: Speculum terrae. Jena / Frankfurt am Main: Samuel Krebs / Thomas Matthias Götze 1665 [VD 17 23:671085N], S. 165–171 zur Optik allgemein, S. 171–178 zur Optik der Kometen. Mit der revidierten Theorie, dass Kometen auch aus Erdausdünstungen entstehen können und der Schweif lediglich ein Spiegelungsphänomen in der Atmosphäre ist, entfernt sich Weigel freilich weit von der tatsächlichen Natur der Kometen. Zu Weigels Kometentheorie in seinen deutschsprachigen Schriften vgl. Friedrich Bartholomaei: Erhard Weigel. Ein Beitrag zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften auf den deutschen Universitäten im 17. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Mathematik und Physik, Suppl. 13 (1868), S. 1–44, hier S. 34–36. 75 Erhard Weigel (Praes.) / Martin Hartmann (Resp.): Disputatio de luce cometarum. Jena: Samuel Krebs 1666 [VD 17 547:629817U]. 76 Vgl. die Übersicht bei Dorschner (1999), S. 32. 77 Vgl. etwa Weigel (1665), S. 169. 78 Weigel / Schilter (1653), F2v–F3r (Cap. XXII.). 79 Weigel / Schilter (1653), F3v (Cap. XXIII.). 80 Weigel / Schilter (1653), F4r–G1r (Cap. XXIV.). 81 Weigel / Schilter (1653), G1r–G2r (Cap. XXV.). 82 Weigel / Schilter (1653), D3r/v (Cap. XVI.) und G2r–G3r (Cap. XXVI.). 83 Müller (1619), S. 9–13, vgl. Gindhart (2006), S. 237.

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chen wurden – hinter ihm als Bündel austreten und dabei gegebenenfalls auch feine Teile des caput mit austreiben.84 Zum motus proprius, der Eigenbewegung des Kometen, tritt der motus primus / communis, dem der Komet – und hier wird es spannend – mit allen Gestirnen täglich von Ost nach West zu folgen scheint. Weigel gibt bei seiner Diskussion des zweifachen motus zu bedenken, ob diese augenscheinliche, allgemeine tägliche Bewegung tatsächlich existiere oder nicht vielmehr auf die Erdrotation (und damit auf eine Konstituente des kopernikanischen heliozentrischen Systems)85 zurückzuführen sei: De priori [scil. motu communi] non immerito dubitatur, utrum ille realiter insit Cometis, an saltem a nobis cum tellure in orbem euntibus ipsis affingatur […]. (Weigel / Schilter [1653], G2r) Bezüglich der ersteren [also der gemeinen Bewegung] zweifelt man nicht zu Unrecht, ob die Kometen jene tatsächlich besitzen, oder ob vielmehr wir, indem wir uns mit der Erde drehen, ihnen diese Bewegung fälschlich zuweisen.

Es sei nämlich zweifelhaft, ob der Komet mit seiner Konsistenz bei einer solchen raschen Bewegung dieser so exakt folgen und dazu seinen motus proprius beibehalten könne – eine bemerkenswerte Standortbestimmung, auch wenn Weigel diesbezüglich auf weiteren Forschungsbedarf verweist.86 Kryptisch verbrämt finden wir die Theorie der Erdbewegung – und damit ein prokopernikanisches Signal – auch bei Weigels früherem Förderer Jakob Ellrod. Dieser hatte über die Kometenerscheinung von 1652 eine Bußpredigt gehalten und dieser eine gedruckte Kometenschrift folgen lassen,87 welche die breit ausgeführte theologische Komponente um weitere Zugänge zu Kometen (Astronomie, Physik und ausführlich Astrologie) erweitert. Ellrod hatte nachweislich mit Weigel über den Kometen korrespondiert und dessen Erkenntnisse in seine Schrift mit einfließen lassen. Die Annahme einer kosmi84 Weigel / Schilter (1653), G3r–H1r (Cap. XXVIII.). 85 In der bisherigen Forschung (etwa Dorschner [1999], S. 35) wurde angenommen, Weigel favorisiere das tychonische System. Sein Verhältnis zum kopernikanischen System wurde nur vage thematisiert, vgl. Schielicke, Weltuntergang (2008), S. 16f. und Schielicke, Sonnenuhren (2008), 35f. mit Abb. des tychonischen Weltbildes aus Weigels Himmelsspiegel mit Jupitermonden, Saturn‚henkeln‘, frei verteilten Fixsternen und: gestrichelt eingetragener kopernikanischer Erdbahn. Vgl. jetzt allerdings neu Thomas Krohn: Kometenobservationen im mitteldeutschen Raum in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Hamburg 2011 (Mathematische Forschung und Lehre an der Universität Wittenberg 2), S. 52–55 und 62–64 mit einer differenzierteren Betrachtung der kosmologischen Positionen Weigels und seiner Affinität zum kopernikanischen System gerade in Hinblick auf die Kometenbewegung. 86 „Sed de his dabitur occasio forsan alio tempore accuratius inquirendi.“ (Weigel / Schilter [1653], G2r). 87 Jakob Ellrod: Memoria quadripartita cometae. Hof: Johann Albrecht Mintzel 1653 [VD 17 14:668585S]. Die Widmung an Markgraf Christian von Brandenburg-Kulmbach datiert vom 1. März 1653. Zur Bußpredigt siehe B2r.

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schen Natur der Kometen vertritt Ellrod etwa mit dezidiertem Verweis auf Weigels Berechnungen, die er von diesem erhalten hatte: Und hat hierue ber mich ein wohlgelahrter Junger Mann M. E. W. jetzo designirter Professor Mathematum zu Jena/ schrifftlich berichtet/ daß er durch fleißige Nachrechnung/ dieses Cometens hoe he auff 680. Semidiametros terrae sch ae tze. (Ellrod [1653], S. 9)

Die aristotelische Theorie, die „allhie gantz und gar nicht statt haben“88 kann, lehnt Ellrod – anders als etwa Schimpffer – rigoros ab. Und wie Weigel hält er es für unwahrscheinlich, dass die Kometen die Erde täglich in 24 Stunden umkreisen, da dieser Umschwung sie aus ihrer geradlinigen Bahn treiben würde.89 Die Folgerung zieht er jedoch aus theologischen Gründen nicht offen, sondern insinuiert sie lediglich – in lateinischer Sprache: Sapienti sat dictum. Res enim haec de motu terrae proprio qui sequeretur, odiosa plerisque est. (Ellrod [1653], S. 7). Für einen Verständigen ist genug gesagt. Denn dieser Umstand, dass die Erde eine Eigenbewegung hat (welche sich als logische Konsequenz ergeben würde), ist für die meisten anstößig.

Weigels Deutung des Kometen von 1652 Was die Deutung der Kometen anbelangt, so sind sie für Weigel – wie andere portenta extraordinaria – Zeichen der Allmacht Gottes, Mehrer seines Ruhmes und göttliche Kommunikationsinstrumente.90 Wie alle Teile der Schöpfung dienen sie letztlich dem Heil der Menschen, das durchaus auch durch Unglücke bzw. die Angst davor befördert werden kann.91 Bezüglich ihrer astrologischen Auslegung zeigt sich Weigel zumindest in der Commentatio (ganz anders als Schimpffer und Ellrod, die in ihren Kometenschriften ausführliche astrologische Deutungen vornehmen) ähnlich zurückhaltend wie Philipp Müller, der sich von der Judizialastrologie und einer Vermengung von Astronomie und Astrologie distanzierte und lediglich die Keplersche Aspektenlehre akzeptierte.92 Weigel liest Kometen als Universalzeichen Gottes, deren spezielle Folgen für einzelne Länder nicht durch die menschgemachten regulae der Astrologie eruiert werden können.93 Lediglich ein Analogie88 89 90 91 92

Ellrod (1653), S. 8. Ellrod (1653), S. 7. Zu Weigels Physikotheologie vgl. Dorschner (1999), S. 34. Weigel / Schilter (1653), H1r–H2v (Cap. XXIX.). Müller (1619), S. 71–82, vgl. Gindhart (2006), S. 153f., 236, 243. Das Urteil von Döring (1999), S. 82: „Müller ist […] ein erklärter Gegner aller Kometendeuterei“ ist in dieser apodiktischen Form nicht haltbar. Zu Weigels praktischer Ausübung der Astrologie in Halle und Leipzig und zur Entwicklung seines Verhältnisses zur Astrologie vgl. ebd., S. 82–84. Zu Weigels späteren ‚Ausflügen‘ in die Kometomantik vgl. Knopf (1937), S. 60–62. 93 Zu Weigels Kritik etwa an den paganen Sternbildern und seinen Versuchen, diese durch heraldische Symbole europäischer Fürstenhäuser zu ersetzen, vgl. Dorschner (1999), S. 18, 28f., 34; Zu einem

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vergleich mit historischen Kometen, die exakt dieselben Parameter besitzen (was es de facto nicht gibt), wäre eine sichere Deutungsmethode. Nichtsdestotrotz referiert er kurz und wohl als Zugeständnis an seine Leser, wie der Komet von 1652 nach bestimmten Parametern traditionell astrologisch ausgelegt werden würde.94 Zugleich zeigt er anhand einer kurzen Zusammenschau, welch unterschiedliche Folgen historische Kometen, die im Sternzeichen Stier erschienen, gezeitigt haben, und signalisiert dadurch, dass eine spezifische Deutung aufgrund der Relation zu einem bestimmten Zodion nicht möglich ist (auch wenn „Stierkometen“ immer Seuchen und Hungersnot brachten). Dass einige Kometen einzelnen Menschen Glück und Erfolg verkünden können, belegt Weigel durch die militärischen und politischen Erfolge etwa von Alexander dem Großen oder Augustus.95 Dass der Komet von 1652 für ihn selbst ein gutes Vorzeichen war, erwiesen – wie er selbst erhoffte – seine Berufung nach Jena und seine dortige jahrzehntelange, produktive Tätigkeit.

4. Ausblick – Eine neue Schweiftheorie in der Kometendisputation von 1666 Weigel revidierte seine Theorie über die Schweifbildung in den sechziger Jahren und, was in unserem Zusammenhang besonders interessant ist, er ließ darüber – wie oben erwähnt – im Jahr 1666 disputieren. Auf den Aufbau und die Beweisverfahren der Disputationsschrift soll hier nicht näher eingegangen werden. Erwähnt sei lediglich, dass – nachdem in einem ersten Teil die Eigenheiten des Lichtes in stark formalisierter Form über eine Kette von definitiones und observationes, von axiomata und propositiones mit demonstrationes abgeleitet wurden –96 in derselben Weise in einem zweiten Teil97 über die Natur der Kometen gehandelt wird. Der Schweif wird dabei – aus heutiger Sicht freilich ein Rückschritt – als rein optisches Phänomen in der Atmosphäre erklärt.98 Die in der Commentatio vertretenen Theorien, dass der Schweif aus materia besteht, die aus dem Kopf des Kometen

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seiner erhaltenen heraldischen Globen vgl. neu Jürgen Hamel: Der heraldische Silberglobus von Erhard Weigel im Astronomisch-Physikalischen Kabinett Kassel. In: Gottfried Kirch (1639–1710) und die Berliner Astronomie im 18. Jahrhundert. Beiträge des Kolloquiums am 6. März 2010 in Berlin-Treptow. Hg. von Jürgen Hamel. Frankfurt am Main 2010 (Acta Historica Astronomiae 41), S. 34–64. Im 2. Kapitel seines Himmelsspiegel (Weigel [1661], A4r–E2r) versuchte er, die traditionellen Sternbilder durch „geistliche Nahmen und Bilder“ (ebd., C4r) zu ersetzen und sie lückenlos christlich-eschatologisch umzudeuten. Ähnlich verfährt auch Kepler, etwa bei der von seinen Rezipienten erwarteten Spezialdeutung des Kometen von 1607, vgl. Gindhart (2006), S. 174–176. Weigel / Schilter (1653), H1v–H2r. Weigel / Hartmann (1666), A2v–B3r („De proprietatibus lucis“). Weigel / Hartmann (1666), B3r–C4v („De luce cometica“). Weigel / Hartmann (1666), C3r–C4r.

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ausgetrieben wird und das Sonnenlicht reflektiert, wird abgelehnt. Desgleichen die These, dass er in einer materia-Hülle gebildet wird, die den Kometen umgibt und begleitet. Der Respondent Martin Hartmann, der als Stiefsohn Weigels99 in einem besonderen Verhältnis zum Praeses steht, wird auf dem Titelblatt als auctor benannt. Wenn Hartmann den Text (oder Teile davon) tatsächlich selbst verfasst hat, so vermutlich in intensivem persönlichem Austausch mit Weigel, sicherlich aber in enger Anlehnung an die optische Vorlesung, die Weigel im Sommersemester 1665 gehalten hatte, und nachweislich auf der Basis seiner schriftlichen Ausführungen.100 Auf den Erdspiegel (1665) etwa wird dezidiert als Quelle verwiesen.101 Die Disputation greift also eine neue Entwicklung in Weigels Forschung auf, und es liegt auf der Hand, dass Weigel die öffentliche Disputation wie die gedruckte Dissertation als Medien institutioneller Kommunikation gezielt einsetzte, um – in lenkender Zusammenarbeit mit dem Respondenten – seine Thesen über diese spezielle Form universitärer Lehre und Übung auch in die gelehrte Diskussion zu bringen. Er nutzt mithin die Polyfunktionalität von Dissertationstext wie Disputationsakt, um Öffentlichkeit(en) zu bilden, sich als Mitglied der Universität102 wie der scientific community mit seiner Forschung zu profilieren und neu entwickelte Theorien zu multiplizieren. Wie Martin Gierl anhand der Jungius-Korrespondenz gezeigt hat, waren gedruckte Disputationen beliebte Sammelobjekte in Gelehrtenbibliotheken und wurden im gelehrten

99 Martin Hartmann war eines von acht Kindern, welche die verwitwete Elisabeth Hartmann (geb. Bayer) mit in die 1653 geschlossene Ehe brachte (zur Eheschließung vgl. Dorschner [1999], S. 16). Für den Hinweis auf das Verwandtschaftsverhältnis danke ich Katharina Habermann (SUB Göttingen) und Stefan Kratochwil. Hartmann präsidierte später selbst als Magister in Jena – etwa im Jahr 1668 bei zwei Parallaxen-Disputationen und 1669 bei der Synopse einer auf Weigel fußenden Geographia universalis. Er promovierte 1669 bei Johann Theodor Schenck über den Tinnitus und präsidierte 1670 bei einer urologischen Disputation, wurde Arzt in Ohrdruf und war ab 1682 als Stadtphysicus in Weimar tätig. 100 Zur Frage der Verfasserschaft vgl. Hanspeter Marti: Von der Präses- zur Respondentendissertation. Die Autorschaftsfrage am Beispiel einer frühneuzeitlichen Literaturgattung. In: Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert. Hg. von Rainer Christoph Schwinges. Basel 2007 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 7), S. 251–274 und Ulrich Rasche: Die deutschen Universitäten und die ständische Gesellschaft. Über institutionengeschichtliche und sozioökonomische Dimensionen von Zeugnissen, Dissertationen und Promotionen in der Frühen Neuzeit. In: Bilder – Daten – Promotionen. Studien zum Promotionswesen an deutschen Universitäten der frühen Neuzeit. Hg. von Rainer A. Müller, bearbeitet von Hans-Christoph Liess und Rüdiger vom Bruch. Stuttgart 2007 (Pallas Athene 24), S. 150–273, hier S. 189–201. 101 Weigel / Hartmann (1666), C4r. 102 Rasche (2007), S. 190 sieht die Disputationen ganz dezidiert als „Leistungsnachweis der Professoren, der Fakultäten und der Universität“. Denkbar ist, dass der oben genannte bibliographische Verweis auf Weigels Erdspiegel ggf. auf Weigel selbst zurückzuführen und auch vor dem Hintergrund einer ‚Leistungsbilanz‘ zu sehen ist.

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Briefwechsel angefordert und versendet.103 Das heißt, nicht nur der performative Akt, sondern auch die gedruckte Version hatte ein entsprechendes Publikum und war ein zentrales Medium zur „Verschriftlichung von Wissenschaft“.104 Weigels Kometendisputationen von 1653 und 1666 zeigen also erneut, dass das Vorurteil, die Disputationen würden lediglich altbekanntes Buchwissen repetieren und einüben, revidiert werden muss. In beiden Fällen wird hier vielmehr Einblick gewährt in laufende Debatten (etwa die Diskussion um die Natur der Kometen), an denen der Praeses Weigel mit seinen aktuellen Forschungen in Theorie und Praxis teilnimmt. Ganz bewusst bedient er sich dabei neben anderer Medien (Vorlesungen, gedruckte volkssprachige Schriften) gerade der Disputation in ihrer mündlichen wie schriftlichen Form, um verschiedene Rezipientengruppen und dabei auch verschiedene Ziele zu erreichen: Er nutzt die Disputation mit ihren multiplen didaktischen Funktionen als Lehr- und Übungsinstrumentarium für seinen akademischen Unterricht und als Werbung für denselben, als ‚Schaufenster‘ für seine aktuelle Forschung und Lehre und damit auch als programmatische Standortbestimmung innerhalb des Kollegiums wie der scientific community. Er kann sich und seine ‚Sachmächtigkeit‘, seine didaktische Befähigung und die von ihm vertretene Disziplin profilieren, seine Theorien in die wissenschaftliche Diskussion einbringen und diese befruchten (ob er nun ‚richtige‘, hinterfragbare oder zu verwerfende Theorien vertritt). In den Paratexten wie den hier betrachteten Widmungen offenbaren sich weitere Funktionen der Disputation: Ein begabter Student wie Johann Benjamin Schilter kann sein akademisches Prestige dadurch steigern, dass er als Respondent bei der Antritts-Disputation eines neuberufenen Professors ausgewählt wird und erfolgreich antritt. Durch die Widmung an seine Förderer setzt er den Personen, die ihm den Universitätsbesuch ermöglicht haben, ein gedrucktes ‚Denkmal‘. So kann er sich in repräsentativer Form bei ihnen bedanken, demonstrieren, dass ihre Förderung sichtbaren Erfolg gezeitigt hat, sich bei ihnen für eine Fortsetzung der Patronage empfehlen, zugleich auch neue Förderer ‚einwerben‘ und damit seine akademischen wie beruflichen Karrierechancen optimieren. Ebenso kann sich der Praeses, wie die Widmung Weigels an Friedrich Wilhelm offenbart, durch die Zueignung der Schrift für zurückliegende Unterstützung bedanken und sich den Förderer rhetorisch gewandt zugleich für weitere Patronage verpflichten.

103 Martin Gierl: Korrespondenzen, Disputationen, Zeitschriften. Wissensorganisation und Entwicklung der gelehrten Medienrepublik zwischen 1670 und 1730. In: Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Hg. von Richard van Dülmen und Sina Rauschenbach. Köln u. a. 2004, S. 417–438, hier S. 420–423. „Up-to-date zu sein, hieß in der prae-journalen Zeit, über die aktuellen Disputationen in Form der Dissertationen zu verfügen.“ (ebd., S. 423). 104 Gierl (2004), S. 422.

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Quellen Ellrod (1653): Jakob Ellrod: Memoria quadripartita cometae. Hof: Johann Albrecht Mintzel 1653 [VD 17 14:668585S]. Janus von der Gartow: Kurtzer Bericht von dem Comet. Hamburg: Arendt Petersen 1652 [VD 17 23:644908L]. Günther (1684): Andreas Günther: Unüberwindlicher Prediger-Schild. Zeitz: Friedemann Hetstedt 1684 [VD 17 39:114921Z]. Philipp Müller (Praes.) / Johannes Praetorius (Resp.): Hypotyposis cometae nuperrime visi. Leipzig: Henning Grosse d. Ä. / Georg Liger 1619 [VD 17 12:162152R]. Müller (1619): Philipp Müller: De cometa anni 1618 commentatio physicomathematica. Leipzig: Henning Grosse d. Ä. 1619 [VD 17 23:289764]. Schimpffer (1652?): Bartholomäus Schimpffer: Kurtze Beschreibung deß dunckelen Cometen. Nachdr. der Ausg. Halle: Johann Rappoldt 1652 [VD 17 7:658964Q]. Erhard Weigel (Praes.) / August Wolff (Resp.): Dissertatio de ascensionibus et descensionibus astronomicis. Leipzig: Timotheus Hön 1650 [VD 17 12:157456F mit Widmungsempfängern]. Weigel / Schilter (1653a): Erhard Weigel (Praes.) / Johann Benjamin Schilter (Resp.): Commentatio astronomica de cometa novo. Jena: Georg Sengenwald 1653 [VD 17 14:073100Y mit Widmungsadressen Schilters]. Weigel / Schilter (1653): Erhard Weigel (Praes.) / Johann Benjamin Schilter (Resp.): Commentatio astronomica de cometa novo. Jena: Georg Sengenwald 1653 [VD 17 39:118168C mit Dedikation Weigels]. Weigel (1661): Erhard Weigel: Speculum uranicum aquilae Romanae sacrum. Jena: Samuel Krebs 1661 [VD 17 39:121865R]. Weigel (1665): Erhard Weigel: Speculum terrae. Jena / Frankfurt a. M.: Samuel Krebs / Thomas Matthias Götze 1665 [VD 17 23:671085N]. Weigel / Hartmann (1666): Erhard Weigel (Praes.) / Martin Hartmann (Resp.): Disputatio de luce cometarum. Jena: Samuel Krebs 1666 [VD 17 547:629817U].

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Marion Gindhart

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Jan-Andrea Bernhard (Castrisch/Zürich)

Ungarische Studenten disputieren über die Confessio Helvetica posterior (1566) im Vorfeld der Formula consensus (1675) Ein theologie- und kommunikationsgeschichtlicher Beitrag

Wer die von Károly Szabó begründete Régi Magyar Könyvtár [Alte ungarische Bibliothek] (Budapest 1879–2007) während der Jahre der „Trauerdekade“ (1671–1681)1 einsieht, dem fallen mehrere Drucke auf, die im Zusammenhang mit Bullingers Confessio Helvetica posterior (1566) stehen. Einerseits ist dabei an apologetische Schriften verschiedener Gelehrter Siebenbürgens und des Partium2 zu denken, die der Streitschrift Veritas toti

1 Als „Trauerdekade“ werden die Jahre der erbarmungslosen Verfolgung der protestantischen Prediger und Lehrer im königlichen Ungarn während der absolutistischen Herrschaft Leopolds I. bezeichnet; vgl. Zoltán Csepregi: Das königliche Ungarn im Jahrhundert vor der Toleranz (1681–1781). In: Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert). Hg. von Rudolf Leeb u. a. Wien / München 2009 (Veröffentlichungen des Institutes für Österreichische Geschichtsforschung, Bd. 51), S. 299ff. (mit weiterer Literatur); Mihály Bucsay: Der Protestantismus in Ungarn 1521–1978. Ungarns Reformationskirchen in Geschichte und Gegenwart. Bd. 1: Im Zeitalter der Reformation, Gegenreformation und katholischen Reform. Wien u. a. 1977 (Studien und Texte zur Kirchengeschichte und Geschichte. 2. Reihe, Bd. 3/1), S. 178–189. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der Einsatz der reformierten Schweiz für die Befreiung der ungarischen „Galeerensträflinge“: vgl. Rebellion oder Religion? Die Vorträge des internationalen kirchenhistorischen Kolloquiums Debrecen 12. 2. 1976. Hg. von Peter F. Barton und László Makkai. Budapest 1977 (Studien und Texte zur Kirchengeschichte und Geschichte. 2. Reihe, Bd. 3); Hans Schaffert: Johann Heinrich Heidegger 1633–1698. Professor der Theologie. Protektor der ungarischen Prädikanten. Zürich / Debrecen 1975; Endre Zsindely: Die Befreiung ungarisch-protestantischer Prediger von den Galeeren und ihre Aufnahme in Zürich vor 300 Jahren. In: Zürcher Taschenbuch 1978, S. 119–131; Johannes Häne: Die Befreiung ungarischer Prädikanten von den Galeeren zu Neapel und ihr Aufenthalt in Zürich (1675–1677). In: Zürcher Taschenbuch 1904, S. 121–180. 2 Nach dem Vertrag von Speyer (1570) fiel das Grenzgebiet zwischen Siebenbürgen und dem türkisch besetzten Mittelteil Ungarns – ursprünglich königlich – dem siebenbürgischen Fürsten zu, welcher seither den Titel „Transilvaniae et partium regni Hungariae princeps“ trug. Vgl. Kurze Geschichte Siebenbürgens. Hg. von Béla Köpeczi. Budapest 1990, S. 257. Das Zentrum des Partium bildete durch Jahrhunderte das „ungarische Genf“, d. h. die Stadt Debrecen.

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mundo declarata (Kaschau 1671) des Titularbischofs von Großwardein (Oradea, RO),3 György Bársony (1626–1678), entgegentraten,4 andererseits an Disputationen, die ungarische Studenten am reformierten Kollegium in Nagyenyed5 (Aiud, RO), an der Universität Basel sowie an der Hohen Schule in Zürich über einzelne Kapitel der Confessio Helvetica posterior gehalten hatten.6 In diesem Zusammenhang ist in der Forschung mehrfach die Äußerung gefallen, dass die Beschäftigung mit dem Helvetischen Bekenntnis gerade im Zeitalter des leopoldinischen Absolutismus in der reformierten Kirche immens identitätsstiftend gewirkt habe und die ungarischen Studenten darum gehäuft über das Bekenntnis disputiert hätten.7 Die Inbezugsetzung erwähnter Disputationen zur „Trauerdekade“ wurde allerdings bislang nicht en détail untersucht. Vorliegende Studie, die sich mit den in der Schweiz gedruckten Disputationes ungarischer Studenten über Bullingers Confessio beschäftigt, soll sich erstmals dieser Frage annehmen.

3 Seit 1556 residierte kein katholischer Bischof mehr in Großwardein bzw. besaß der Bischofstitel von Großwardein rein nominellen Status; vgl. András Emődi: A Nagyváradi székeskáptalan könyvtára a XVIII. században [Die Bibliothek des Großwardeiner Domkapitels im 18. Jahrhundert]. Budapest / Szeged 2002 (A kárpát-medence kora újkori könyvtárai, Bd. 5), S. XLVIIIf. 4 Vgl. [György Komáromi Csipkés]: Molimen Sisyphium, Hoc est frustraneitas conatus [...] Reformatos in Ungaria non esse Confessionis helveticae, probare [...]. [Klausenburg] 1672; [János Pósaházi]: Falsitas Toti Mundo detecta [...]. Klausenburg 1672; [Mihály Szathmárnémeti]: Falsitas veritatis toti mundo declaratae. In negotio tolerantiae exercitii publici Religionis Protestantium in Ungaria. o. O. o. J.; gedruckt in: Pál Okolicsányi: Historia diplomatica seu de statu religionis evangelicae in Hungaria. In tres periodes distincta [...]. [Frankfurt am Main] 1710, Appendix, S. 146–152. 5 Der deutsche, heute eher ungebräuchliche Name von Nagyenyed ist Straßburg am Mieresch. 6 Vgl. Tamás Veresegyházi: Disputationis Theologicae in Caput X. Confessionis Helveticae: [...] De praedestinatione Dei, et electione Sanctorum [...] 2 Tle. Zürich 1673; János Horváti Békés: Disputationum exegeticarum in Confessionem Helveticam decima Ad Cap. II. § 2, 3, 4. De usu sanctorum patrum & Conciliorum in Theologia [...]. Basel 1674; János Kállai Kopis: Disputationum exegeticarum in Confessionem Helveticam undecima De Judice Controversiarum Ad Cap. II. § V, VI. [...]. Basel 1674; István Enyedi: Disputatio Theologica. De Lapsu, Peccato & Causa Peccati. Ex Capite VIII. Confessionis Helveticae Bipartita [...]. 2 Tle. Klausenburg 1681. 7 Vgl. Jan-Andrea Bernhard: Basel als Druckzentrum für Hungarica im Späthumanismus und der Aufklärung. Gründe und Folgen des Drucks von theologischen Hungarica im 17. und 18. Jahrhundert. In: Jazyk a řeč knihy [Sprache und Rede des Buches]. Hg. von Jitka Radimská. Prag 2009 (Opera Romanica, Bd. 11), S. 79; István Juhász: Glaubensbekenntnis und Kirchengeschichte. Die „Confessio Helvetica Posterior“ in der Geschichte der siebenbürgisch-reformierten Kirche. In: Bullinger-Tagung 1975. Vorträge, gehalten aus Anlass von Heinrich Bullingers 400. Todestag. Hg. von Ulrich Gäbler und Endre Zsindely. Zürich 1977, S. 103; Barnabás Nagy: Geschichte und Bedeutung des zweiten helvetischen Bekenntnisses in den osteuropäischen Ländern. In: Glauben und Bekennen. Vierhundert Jahre Confessio Helvetica Posterior. Beiträge zu ihrer Geschichte und Theologie. Hg. von Joachim Staedtke. Zürich 1966, S. 127.

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1. Theologische Auseinandersetzungen an den reformierten Kollegien in Siebenbürgen und im Partium zur Zeit der „Trauerdekade“8 Im Jahre 1656 erschienen in Sárospatak und in Weißenburg (Alba Iulia, RO) zwei Streitschriften, die beide die Frage der Kirchenorganisation thematisierten, aber zwei ganz gegensätzliche Standpunkte vertraten: Während der französische Theologe Isaac Basire (1607–1676) aus Rouen (F), der 1653 einem Ruf von Fürst György Rákóczi II. gefolgt war und am Kollegium in Weißenburg lehrte, sich in seiner Schrift Triumviratus Sive, Calvinus, Beza & Zanchius Pro Episcopatu (Weißenburg 1656) für das bischöfliche System stark machte,9 vertrat Pál Medgyesi, Hofprediger der Fürstenmutter Zsuzsanna Lórántffy, in seiner pseudonym herausgegebenen Schrift Trecentum-Viratus, & Ultra, Sive Calvinus, Beza, Zanchius, Daneus, Szegedinus, Junius & plerique omnes (Sárospatak 1656) die Ansicht, dass das „Regimen Ecclesiarum Reformatarum esse debere non Episcopale, sed Presbyteriale“.10 Nach dem Tode des Fürsten bekräftigte im Jahre 1661 die siebenbürgische Synode, unter Einfluss des neu gewählten Fürsten Mihály Apafi I., erneut das bischöfliche System und verbot presbyterianische Tendenzen.11 Als Gegner der „Neuerungen“ 8 Dank der Unterstützung der Türken konnte Fürst Mihály Apafi, seit 1661 auf dem siebenbürgischen Throne, trotz der „Gebietsverluste“ in Ostungarn – so mussten im Oktober 1671 Professoren und Studenten das Kollegium in Sárospatak verlassen, nachdem die wieder katholisch gewordene Witwe von György Rákóczi II., Zsófia Báthory, auf ihren Gütern in Ostungarn zu harten Maßnahmen gegen die Protestanten gegriffen hatte – gegenüber Leopold I. die Unabhängigkeit Siebenbürgens bewahren, so dass die „Trauerdekade“ nur den königlichen Teil des Stephansreiches betraf. Damit gewannen die Kollegien im Partium und in Siebenbürgen eine ganz besondere Bedeutung auch für die Ausbildung reformierter Lehrer und Geistlicher des königlichen Ungarn. Vgl. Árpád Ferencz: Der Einfluss der Theologie Karl Barths auf die Reformierte Kirche Rumäniens. Unter Berücksichtigung der Impulse für eine osteuropäische Theologie der Befreiung. Zürich 2005, S. 54f. 9 Vgl. Jenő Zoványi: Magyarországi protestáns egyháztörténeti Lexikon. Budapest 31977, S. 55; Stefan Veress: Einfluss der calvinischen Grundsätze auf das Kirchen- und Staatswesen in Ungarn. Tübingen 1910, S. 65f.; Károly P. Szathmáry: A gyulafehérvár-nagyenyedi Bethlen-főtanoda története [Die Geschichte der weißenburgisch-straßburgischen Bethlen-Hauptschule]. Nagyenyed 1868, S. 68. 10 [Pál Debreceni Ember]: Historia ecclesiae reformatae in Hungaria et Transilvania [...]. Hg. von Friedrich Adolf Lampe. Utrecht 1728, S. 573. Medgyesi gab seine Streitschrift unter dem Pseudonym „Philaletes“ heraus, doch Gisbert Voetius hielt im vierten Band seiner Politica ecclesiastica (Dordrecht 1676) fest, dass Pál Medgyesi der Verfasser der Schrift gewesen sei. Vgl. Ödön Miklós: Ki a „Trecemviratus“ szerzője? [Wer ist der Verfasser von „Trecemviratus“?]. In: Magyar Könyvszemle 24 (1916), S. 256–258. 11 Vgl. Ferencz: Einfluss (wie Anm. 8), S. 53f. Nach dem Tod von Bischof Gáspár Veresmarti († 1668), eines starken Vertreters der bischöflichen Macht, kam Péter Kováznai auf den Bischofssitz, der presbyterianische Tendenzen unterstützte. Der Fürst beobachtete diese Entwicklung mit Sorge, weswegen er sich entschloss, die reformierten Barone, Magistraten, Schulmeister sowie Professoren am 3. Oktober 1671 zu einer Versammlung einzuladen, deren Forderungen der Synode zugestellt wurden, um „die Einheit der Kirche nicht zu gefährden.“ Später wurde aus der von Fürst Apafi einberufenen

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scharte der Fürst „orthodoxe“ Theologen wie beispielsweise den Sárospataker Lehrer János Pósaházi oder Mihály Tofeus, den späteren Bischof Siebenbürgens (1679–1684), um sich und versuchte weiterhin auf die Entscheide der Synoden Einfluss zu nehmen. So wurden 1673 auf der Synode in Radnót (Iernut, RO) gleichzeitig Márton Dézsi, Pál Hunyadi, István Pataki und Pál Csernátoni12 – sie wirkten an den Kollegien in Klausenburg (Cluj, RO) und Nagyenyed – wegen ihrer Lehren verurteilt. Die ersten drei wurden des Coccejanismus beschuldigt, Csernátoni des Cartesianismus. Sie benutzten alle die cartesianische Methode und vertraten eine Föderaltheologie im Sinne von Johannes Coccejus (1603– 1669).13 Diese Einflüsse waren unter anderem in der regen, von mehreren adligen siebenbürgischen Grafen und Baronen unterstützten Peregrination nach Holland begründet.14 Versammlung das Hauptkonsistorium der Kirche. Vgl. Ferencz: Einfluss, S. 56; Gábor Sipos: Die oberste Kirchenleitung der reformierten Kirche in Siebenbürgen (1690–1713). In: Siebenbürgen in der Habsburgermonarchie. Vom Leopoldinum bis zum Ausgleich (1690–1867). Hg. von Zsolt K. Lengyel und Ulrich A. Wien. Köln u. a. 1999 (Siebenbürgisches Archiv, Bd. 34), S. 119ff.; G. Sipos: Az Erdélyi Református Főkonzisztórium kialakulása 1668–1713–(1736) [Die Herausbildung des reformierten Hauptkonsistoriums von Siebenbürgen 1668–1713–(1736)]. Klausenburg 2000 (Erdélyi tudományos füzetek, Bd. 230), S. 15f. 12 Es ist nicht ohne Bedeutung, dass Pál Csernátoni (1633?–1676) nach Studienaufenthalten in Heidelberg, Leiden, London und Oxford seine Ausbildung im Oktober 1665 in Basel abschloss. Vgl. Ádám Hegyi: Magyarországi diákok svájci egyetemeken és akadémiákon 1526–1788 (1798) [Ungarländische Studenten an schweizerischen Universitäten und Akademien 1526–1788 (1798)]. Budapest 2003 (Magyarországi diákok egyetemjárása az újkorban, Bd. 6), S. 49. Dies kann auch erklären, dass Fürst Apafi im September 1674, also nach der Verurteilung Csernátonis, nicht der Universitätsbibliothek Basel, sondern der Stadtbibliothek in Zürich, das offenbar eher den Ruf der „Orthodoxie“ genoss, eine finanzielle Unterstützung zukommen ließ. Vgl. Donationenbuch der Stadtbibliothek Zürich, 16. September 1674, ZBZ: Arch St. 22, Bl. 101. 13 Vgl. Réka Bozzay: Der Einfluss ehemaliger Studenten der Leidener Universität im 17. und 18. Jahrhundert auf Kultur und Bildung in Ungarn und Siebenbürgen. In: Calvin und Reformiertentum in Ungarn und Siebenbürgen. Helvetisches Bekenntnis, Ethnie und Politik vom 16. Jahrhundert bis 1918. Hg. von Márta Fata und Anton Schindling. Münster 2010 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Bd. 155), S. 224f.; Jan-Andrea Bernhard: „Ich bin nur einmal Freund ... Deß will ich stets verbleiben.“ Gelehrtenkontakte zwischen Ungarn und den Drei Bünden (1650–1800). In: Bündner Monatsblatt 2009, S. 363; Bucsay: Protestantismus (wie Anm. 1), S. 214; Béla Köpeczi: La politique des cartésiens en Hongrie et en Transylvanie au XVIIe siècle et au debut du XVIIIe siècle. Budapest 1975 (Studia Historica Academiae Scientiarum Hungaricae, Bd. 103), S. 13f. Zur Verbindung des Coccejanismus mit dem Cartesianismus: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte. Bd. 3: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Ökumenizität. Hg. von Carl Andresen und Adolf Martin Ritter. Göttingen 21998, S. 93ff.; Jan Rohls: Die protestantische Theologie der Neuzeit. Bd. 1: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert. Tübingen 1997, S. 107f. 14 Vgl. Réka Bozzay: Der finanzielle Hintergrund der „peregrinatio academica“ der ungarländischen Studenten an den niederländischen Universitäten. In: Studiosorum et librorum peregrinatio. Hungarian-Dutch cultural relations in the 17th and 18th century. Hg. von August den Hollander u. a. Amsterdam / Budapest 2006, S. 24ff.

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Auch die vier auf der Synode zu Radnót verurteilten Ungarn haben in Holland (Leiden, Groningen) studiert.15 Coccejus’ Lehren und Descartes’ Philosophie wurden somit in Siebenbürgen heftig diskutiert, und dies nicht nur innerhalb der Kirchenmauern, sondern auch in den Kollegien in Nagyenyed, Klausenburg und Debrecen.16 Aufsehen erregte wegen seiner cartesianischen Lehre beispielsweise Márton Szilágyi Tönkő (1642–1700), der nach Studien in Utrecht, Franeker, Groningen und Leiden seit 1669 am Kollegium in Debrecen als Professor der Philosophie wirkte.17 Sein ehemaliger Lehrer György Martonfalvi Tóth (1635–1681), seit 1660 – nach der Eroberung von Großwardein durch die Türken musste er mit den Schülern nach Debrecen übersiedeln – am Kollegium in Debrecen tätig, trat, obwohl Ramist und Puritaner, entschieden gegen seinen Schüler Szilágyi Tönkő auf und veröffentlichte die Orthodoxa Diatribe. De Hodierna famosa peccatorum Paresi (Debrecen 1673), in welcher die coccejanischen Ideen verurteilt wurden.18 Auf diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Márton Szilágyi Tönkő sich in seinem für den Philosophieunterricht in Debrecen verfassten Werk Philosophia (Heidelberg 1678) über Descartes ausschwieg und sich auf Aristoteles berief – inhaltlich wandte er jedoch die cartesianische Methode an.19 Wegen dieser Methode hat genanntes Lehrbuch auch in 15 Vgl. Réka Bozzay und Sándor Ladányi: Magyarországi diákok Holland egyetemeken 1595–1918 [Ungarländische Studenten an holländischen Universitäten 1595–1918]. Budapest 2007 (Magyarországi diákok egyetemjárása az újkorban, Bd. 15), S. 190, 245, 247, 249; András Szabó und Sándor Tonk: Erdélyiek egyetemjárása a korai újkorban 1521–1700 [Der Universitätsweg siebenbürgischer Studenten in der frühen Neuzeit 1521–1700]. Szeged 1992 (Fontes rerum scholasticarum, Bd. 4), S. 169, 219f., 267. 16 Vgl. Bozzay: Einfluss (wie Anm. 13), S. 224f. 17 Vgl. Bozzay und Ladányi: Diákok (wie Anm. 15), S. 74; Béla Levente Baráth: Adattár Martonfalvi György peregrinus diákjairól [Datensammlung über die Auslandaufenthalte der Studenten von György Martonfalvi]. Debrecen 2001 (A D. Dr. Harsányi András alapítvány kiadványai, Bd. 3), S. 63f. 18 Vgl. Bozzay: Einfluss (wie Anm. 13), S. 226; Béla Levente Baráth: Martonfalvi György (1635– 1681) munkásságának jelentősége a Debreceni Református Kollégium és a magyar peregrináció történetében [Die Bedeutung des Schaffens von György Martonfalvi (1635–1681) in der Geschichte des Reformierten Kollegiums Debrecen und der ungarischen Peregrination]. Debrecen 2000 (A D. Dr. Harsányi András alapítvány kiadványai, Bd. 2), S. 21–28; A Debreceni Református Kollégium Története [Die Geschichte des Reformierten Kollegiums Debrecen]. Hg. von József Barcza. Budapest 1988, S. 547; Robert John Weston Evans: Calvinism in East Central Europe: Hungary and Her Neighbours. In: International Calvinism 1541–1715. Hg. von Menna Prestwich. Oxford 1985, S. 187ff.; Béla Tóth: Ramus hatása Debrecenben [Die Wirkung von Ramus in Debrecen]. In: Könyv és Könyvtár XII (1979), S. 90ff.; Bucsay: Protestantismus (wie Anm. 1), S. 218; Imre Révész: Entre l’orthodoxie et les lumières. Tolérance et intolérance dans le protestantisme calviniste. Des XVIe–XVIIIe siècles en Hongrie. In: Nouvelles Etudes Historiques 1 (1965), S. 426. 19 Vgl. András Mészáros: A filozófia Magyarországon. A kezdetektől a 19. század végéig [Die Philosophie in Ungarn. Von den Anfängen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts]. Pressburg 2000, S. 47; Tibor Hanak: Geschichte der Philosophie in Ungarn. Ein Grundriß. München 1990 (Studia Hunga-

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Zürich zu Diskussionen zwischen Johann Heinrich Heidegger und Johannes Müller geführt.20 Die maßgebenden Repräsentanten der reformierten Kirche Siebenbürgens haben diese theologische Entwicklung mit Sorge beobachtet. Einer der bedeutendsten Vertreter der strengen Orthodoxie war János Pósaházi (1628–1686), der seit 1657 als Lehrer in Sárospatak und seit 1671 am Hofe in Weißenburg wirkte. In theologischen Fragen vertrat er zeitlebens eine harte und kompromisslose Haltung.21 Als Márton Dézsi 1671 nach Nagyenyed als Lehrer berufen wurde und daselbst auf der Grundlage der Summa doctrinae de foedere Dei (Leiden 1648) von Coccejus unterrichtete, forderten die streng orthodox eingestellten Lehrer sogleich seine Entlassung. Mit der Absicht, Coccejaner und Cartesianer zu verurteilen, wurde 1673 schließlich die bereits erwähnte Generalsynode in Radnót abgehalten. Doch der Beschluss der Synode konnte den Streit um den Coccejanismus in Siebenbürgen und im Partium noch lange nicht beenden. Dézsi lehrte auch nach der Verurteilung weiterhin in coccejanischem Sinne. Bezeichnendes Exempel ist die theologische Disputation von István Enyedi über das 8. Kapitel der Confessio Helvetica posterior, die Enyedi 1681 bei Márton Dézsi am Kollegium in Nagyenyed hielt und in der er wie Coccejus den infralapsarischen Standpunkt vertrat.22 Nicht erstaunlich, dass er seine Disputation – sie besteht aus zwei Teilen – unter anderem auch dem seit Winter 1675/76 in Nagyenyed als Arzt und Lehrer wirkenden „Cartesianer“ Ferenc Pápai Páriz, Schüler von János Apáczai Csere und Pál Csernátoni,23 und dem 1673 gleichfalls verurteilten „Coccejaner“ Pál Hunyadi, Pfarrer in Salzburg/Víznaka (Ocna Sibiului, RO), widmete.24 Schließlich verfasste János Pósaházi im Jahre 1684 seinen Syllabus Assertionum, Thesium et Hypothesium illarum (è multis) quibus Neoterici quidam Theologi & Philosophi hoc tempore in Belgio, Hungaria & Transylvania, scholas & Ecclesias turbant (Klausenburg 1685), um dem Cartesianismus und Coccejanismus den entscheidenden Schlag zu versetzen, indem er zahlreiche coccejanische und cartesianische Thesen untersuchte und widerlegte; unter den coccejanischen Thesen befanden sich auch deren fünf, die von Márton

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rica, Bd. 36), S. 32; Mihály Bucsay: Calvins Präsens in Ungarn. In: Calvinus Ecclesiae Doctor. Referate des Internationalen Kongresses für Calvinforschung, vom 25. bis 28. September 1978 in Amsterdam. Hg. von Wilhelm Heinrich Neuser. Kampen 1978, S. 214. Vgl. unten. Vgl. Katalin Berkes u. a.: Cultural relations between Holland and Hungary in the 17th and 18th century. Texts of the exhibition. In: Studiosorum et librorum peregrinatio (wie Anm. 14), S. 71f.; Mészáros: Filozófia (wie Anm. 19), S. 45f.; Köpeczi: Politique (wie Anm. 13), S. 12f. Detailliertere Ausführungen zu János Pósaházi werden in meiner Habilitationsschrift zu lesen sein. Vgl. István Enyedi: Disputatio theologica. De Lapsu [...]. Klausenburg 1681. Vgl. Gábor Sipos: Zur Bedeutung des Reformierten Kollegiums Nagyenyed für die siebenbürgische Kultur vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. In: Calvin und Reformiertentum (wie Anm. 13), S. 267f.; Mészáros: Filozófia (wie Anm. 19), S. 49; Bucsay: Protestantismus (wie Anm. 1), S. 219; Alexander Zsindely: Medicinae Doctor Franz Pariz Pápai. In: Gesnerus 30 (1973), S. 32, 36f. Vgl. Enyedi: Disputatio theologica. De Lapsu (wie Anm. 22), fol. A1v, B3v.

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Dézsi stammten. Doch noch vor der Veröffentlichung kam das Werk in die Hände von Márton Dézsi und István Pataki, und es gelang den beiden eine (allerdings nie veröffentlichte!) Replica ad Syllabum Cl. Johannis Pósaházi zu verfassen.25 Die knappen Ausführungen zu den theologischen Auseinandersetzungen an den reformierten Kollegien in Siebenbürgen und im Partium sollen aufzeigen, wie sehr die Theologiegeschichte des Gebietes östlich des türkisch besetzten Mittelteils Ungarns zur Zeit der absolutistischen Herrschaft Leopolds I. von der Auseinandersetzung mit dem Coccejanismus, verbunden mit der cartesianischen Methode, geprägt war. Bei den nachfolgenden Ausführungen soll dies im Blick behalten werden.

2. Die Disputationen ungarischer Studenten über die Confessio Helvetica Posterior 2.1. Die Confessio Helvetica Posterior in ihrer Bedeutung für Siebenbürgen und das Partium Seitdem einerseits auf dem ungarischen Landtag zu Pressburg (1608) die im Wiener Frieden ausgesprochene Religionsfreiheit zum Landesgesetz erhoben worden war,26 andererseits im Landtagsbeschluss von Klausenburg im September 1608 festgehalten wurde, „dass in Klausenburg wieder die wahre Orthodoxa Confessio über die Dreieinigkeit, die Helvetica Confessio genannt wird, eingeführt werden soll“,27 war das reformierte Bekenntnis eine feste Rechtsgrundlage, die sogar die habsburgischen Könige anerkennen mussten, was sich 25 Vgl. Replica ad Syllabum Cl. J. Johannis Pósaházi [...] Exhibita ad mandatum Celsissimi Principis et Sanctionis Consilii suae Celsitudinis per M D E P et S P C R C P. o. J. [1685], MTA: Egyh. és Bölcs. 8-r. 16. Die Kürzel hat Béla Köpeczi: Politique (wie Anm. 13), S. 15, gedeutet als „Martinus Dési Enyediensis Professor et Stephanus Pataki Collegii Reformatorum Claudiopolitani Professor“; die Ansicht von Zoványi und Bozzay, dass allein Márton Dézsi der Verfasser der Replica gewesen sei – vgl. Bozzay: Einfluss (wie Anm. 13), S. 225f.; Jenő Zoványi: A coccejanismus története. Tanulmánya a protestáns theologia multjából [Die Geschichte des Coccejanismus. Studie aus der Vergangenheit der protestantischen Theologie]. Budapest 1890, S. 138, 150 – ist also abzulehnen. Vgl. Mészáros: Filozófia (wie Anm. 19), S. 46f. 26 Vgl. Mihály Zsilinszky: A magyar országgyűlések vallásügyi tárgyalásai a reformatiotól kezdve. Bd. 1: A reformatiotól a bécsi békéig (1523–1608) [Die Verhandlungen der ungarischen Landtage in Religionssachen seit der Reformation. Bd. 1: Von der Reformation bis zum Wiener Frieden (1523– 1608)]. Budapest 1880, S. 358f. 27 „hogy Kolosvárra az szentháromságról való igaz orthodoxa confessio, melyet helvétiai comfessiónak hínak, bévetettessék“: Beschluss des siebenbürgischen Landtags in Klausenburg, 21.–27. September 1608. In: Sándor Szilágyi: Erdélyi országgyűlési emlékek [Erinnerungen an die siebenbürgischen Landtage]. Bd. 6. Budapest 1880, S. 228.

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in einer Reihe von Friedensverträgen niederschlug.28 Gerade in Siebenbürgen und im Partium wurde die Confessio Helvetica Posterior als ein geeignetes Mittel betrachtet, das „orthodoxe Bekenntnis“ sowohl gegenüber dem antitrinitarischen als auch gegenüber dem infolge der jesuitischen Mission erstarkenden katholischen Bekenntnis zu verteidigen.29 In der Folge ist die Confessio Helvetica Posterior sowohl theologisch als auch politisch-staatsrechtlich Grundlage und Garantie für das Bestehen der reformierten Kirche Siebenbürgens geblieben. Mit Recht schreibt darum der siebenbürgische Universalgelehrte Péter Bod (1712–1769) um die Mitte des 18. Jahrhunderts: „Celebris haec confessio semper apud Hungaros fuit, ita de ea Reformati nominarentur Helveticae Confessionis in articulis Diaetalibus.“30 Allein im 17. und 18. Jahrhundert erschienen zehn ungarische Ausgaben der Confessio, davon deren sechs zweisprachig (lateinisch-ungarisch).31 Auf diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass die Confessio Helvetica posterior die theologische Arbeit und Entwicklung im Partium und in Siebenbürgen im 17. und 18. Jahrhundert wesentlich prägte.

2.2. Ungarische Studenten disputieren über das Zweite Helvetische Bekenntnis Im selben Jahr, in dem Leopold I. die ungarische Verfassung auflöste (1673) und die Verfolgung der Protestanten im königlichen Ungarn fortan systematisch durchgeführt werden konnte, begannen mehrere ungarische Studenten in Zürich und in Basel ihr Studi-

28 Details dazu liefere ich in meiner Habilitationsschrift im Kapitel „Die Bedeutung der ungarischschweizerischen Kontakte im Jahrhundert der reformierten Orthodoxie“; vgl. István Tőkés: Bullinger Henrik hatása a magyar nyelvű Református Egyházban [Heinrich Bullingers Einfluss auf die ungarischsprachige reformierte Kirche]. In: Református Szemle 97 (2004), S. 300f.; István Juhász: Hitvallás és Türelem. Tanulmányok az erdélyi református egyház és teológia 1542–1792 közötti történetéből [Bekenntnis und Toleranz. Studien zur siebenbürgischen reformierten Kirche und Theologie zwischen 1542 und 1792]. Klausenburg 1996 (Dolgozatok a református teológiai tudomány köréből, Bd. 2), S. 93f.; Bucsay: Protestantismus (wie Anm. 1), S. 167ff.; Barnabás Nagy: Quellenforschungen zur ungarischen Reformationsliteratur, unter besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zu Bullinger. In: Zwingliana XII (1965), S. 199f. 29 Vgl. Jan-Andrea Bernhard: Die apologetische Funktion des Zweiten Helvetischen Bekenntnisses im Siebenbürgen des 18. Jahrhunderts. In: Heinrich Bullinger: Life – Thought – Influence. Zurich, Aug. 25–29, 2004. International Congress Heinrich Bullinger (1504–1575). Hg. von Emidio Campi und Peter Opitz. Zürich 2007 (Zürcher Beiträge zur Reformationsgeschichte, Bd. 24), S. 823f.; Juhász: Glaubensbekenntnis (wie Anm. 7), S. 102. 30 Péter Bod: Historia Hungarorum Ecclesiastica. Inde ab exordio Novi Testamenti ad nostra usque tempora ex monumentis partim editis, partim ineditis, fide dignis, collecta studio et labore [...]. Hg. von Lodewijk Willem Ernst Rauwenhoff. Bd. 1. Leiden 1888, S. 355. 31 Drucke in: Oppenheim (1616), Debrecen (1616, 1713, 1791), Pápa (1628), Sárospatak (1654), Kolozsvár (1679, 1742, 1755) und Győr (1743).

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um.32 Ganz besonders ist dabei auf den Debreciner Tamás Veresegyházi, später Bischof des Kirchendistriktes Jenseits-der-Theiss, auf den siebenbürgischen Arzt Ferenc Pápai Páriz, später Lehrer am Kollegium in Nagyenyed, auf den aus Erdőhorváti (Nähe Sárospatak) stammenden János Horváti Békés, der infolge einer Krankheit in Bern verstarb, und schließlich auf den in Nagykálló geborenen János Kállai Kopis, der nach seiner Rückkehr in Margitta (Margitha, RO) als Pfarrer wirkte, zu verweisen. Alle erwähnten Studenten stammen aus Gebieten, die dem Fürsten Siebenbürgens unterstellt waren, und alle hatten, vor ihren Studien in der Schweiz, bereits holländische oder deutsche Universitäten besucht.33 Die Universität Basel und die Hohe Schule in Zürich bildeten also gewissermaßen den Abschluss ihrer Peregrination – Veresegyházi und Pápai Páriz krönten diesen gar noch mit einem Doktordiplom. Allerdings widmete sich Pápai Páriz weniger der Theologie als der Medizin; nach seiner Rückkehr wurde er von der Landesfürstin damit beauftragt, für das Kollegium in Nagyenyed eine Apotheke einzurichten. Dennoch wurde ihm 1680 am Kollegium ein Lehrstuhl angeboten, vorerst für Griechisch, Ethik und Philosophie, später auch für Physik und Theologie.34 Hingegen widmeten sich Veresegyházi, Horváti Békés und Kállai Kopis der Theologie und disputierten während ihrer Studien an den Schweizer Akademien insbesondere über die Confessio Helvetica posterior. Ihren Disputationen wollen wir uns in einem ersten Schritt zuwenden.

Tamás Veresegyházi (1643–1716) Tamás Veresegyházi stammte aus Debrecen und absolvierte daselbst am Kollegium auch seine ersten Studien bei György Martonfalvi Tóth. 1672 zog er ins Ausland und immatrikulierte sich im Juni in Frankfurt an der Oder, zog dann aber weiter nach Leipzig und Marburg, bevor er im März 1673 nach Zürich kam. Obwohl in Zürich keine Immatrikulation von Veresegyházi vorliegt, haben wir aus den Tagebüchern von Ferenc Pápai Páriz und János Horváti Békés sowie aufgrund erhaltener Briefe relativ genaue Kenntnis über den Zeitpunkt der Ankunft von Veresegyházi in der Schweiz. Zum 18. August 1672 erwähnt Pápai Páriz in seinem Tagebuch, dass Veresegyházi mit anderen ungarischen Studenten in Leipzig angekommen sei; schließlich zogen die beiden gemeinsam weiter nach

32 Da die Ungarn weder in Siebenbürgen noch im königlichen Ungarn über eine reformierte Universität verfügten, bildete die Peregrination, d. h. der Auslandaufenthalt zu Studienzwecken, bis ins 19. Jahrhundert die grundlegende Form der intellektuellen Bildung in Ungarn und Siebenbürgen. Auch die schweizerischen Akademien (Hohen Schulen, Universitäten) nahmen für die ungarländische Studentenperegrination in verschiedenen Jahrzehnten eine große Bedeutung ein. Vgl. Hegyi: Diákok (wie Anm. 12) (mit weiterer Literatur). 33 Vgl. Hegyi: Diákok (wie Anm. 12), S. 49f.; Die Matrikel der Universität Basel. Hg. von Hans G. Wackernagel und Max Triet. Bd. 4: 1666/67–1725/26. Basel 1975, S. 70, 73, 83, 84. 34 Vgl. Sipos: Bedeutung (wie Anm. 23), S. 267; Zsindely: Pariz Pápai (wie Anm. 23), S. 36f.

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Marburg, wo sie am 11. November eintrafen und andere Ungarn kennenlernten, namentlich János Horváti Békés, der seit Juli 1672 in Marburg studierte.35 Am 8. Februar 1673 verließen Veresegyházi, Pápai Páriz und Horváti Békés Marburg und zogen über Gießen, Frankfurt am Main, Darmstadt, Heidelberg und Straßburg nach Basel, wo sie am 24. Februar ankamen.36 Veresegyházi muss nach wenigen Tagen weitergezogen sein, da er am 5. März in Zürich eintraf und sich sogleich an Johann Heinrich Heidegger wandte: In seinem ersten Brief stellt er sich selber vor und berichtet von seinen Studien, insbesondere in Marburg, wo er bei Reinhold Pauli studiert habe, welcher ihm Heidegger empfohlen habe;37 verbunden mit einem Hinweis auf die Verfolgungen in Ungarn bat er um Aufnahme am Carolinum.38 In den kommenden Monaten hat Veresegyházi bei Heidegger weitere Studien absolviert, welche er im Oktober 1673 mit einer Disputation über das 10. Kapitel „De Praedestinatione Dei et electione sanctorum“ der Confessio Helvetica posterior abschloss.39 Im Anschluss an den Druck der Disputatio ist in Zürich ein Streit über die theologische Richtung von Veresegyházi ausgebrochen, in deren Folge Veresegyházi Zürich verließ40 und wieder nach Basel zurückkehrte, wo er am 26. Januar 1674 ankam.41 Hier schloss er, nachdem er von den „Proceres Illustres Helvetiae Reformatae“ für seine Studien 100 Taler erhalten hatte,42 am 1. Mai seine Studien mit der Doktorarbeit De providentia Dei (Basel 1674) bei Johannes Zwinger ab.43 Er widmete seine Arbeit den Basler Professo35 Vgl. Pápai Páriz Ferencz naplója 1649–1691 [Das Tagebuch von Ferenc Pápai Páriz 1649–1691]. Hg. von József Koncz. In: Irodalomtörténeti Közlemények 2 (1892), S. 397f.; Horváti Békés János diáknaplója [Das Studententagebuch von János Horváti Békés]. Hg. von Hedvig Gácsi. Szeged 1990 (Peregrinatio Hungarorum, Bd. 6), S. 58. 36 Vgl. Pápai Páriz naplója (wie Anm. 35), S. 499; Horváti Békés János diáknaplója (wie Anm. 35), S. 59f. 37 Tatsächlich stand Reinhold Pauli (1638–1682), Professor der Theologie in Marburg, mit Johann Heinrich Hottinger in reger Korrespondenz; vgl. ZBZ: B 8, D 176, D 178. 38 Vgl. Tamás Veresegyházi an Johann Heinrich Heidegger, 7. März 1673 (= 25. Februar 1673), ZBZ: B 9, Nr. 63; vgl. Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 60. 39 Vgl. Veresegyházi: De Praedestinatione Dei [...] (wie Anm 6). 40 Heidegger konnte dennoch durchsetzen, dass Veresegyházi für seine Weiterreise eine Unterstützung erhielt; vgl. Rechnung betreffend des Fiscum Scholasticum, 1. Februar 1674, StAZ: E II 493, Bl. 1v. 41 Vgl. Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 66; Matrikel der Universität Basel, Bd. 4 (wie Anm. 33), S. 84. 42 Vgl. Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 67. 43 Die Promotionsurkunde (vgl. Johannes Zwingerus: Non abs re Zach. 1, 8. Ecclesiae Dei comparatur myrto, [...] Quorum numero jure optimo annumerandus venit Vir Praestantissimus, D. THOMAS VERES-EGYHAZI, Debrecinensis-Ungarus [...]. Basel [1674]) ist gedruckt worden und noch heute in Basel (vgl. UBB: VB O 11d, 447) greifbar; vgl. Ádám Hegyi: A bázeli egyetem ismeretlen magyar vonatkozású egyleveles nyomtatványai [Unbekannte, Ungarn betreffende Einblattdrucke der Universität Basel]. In: Magyar Könyvszemle 124 (2008), S. 298f.; Matrikel der Universität Basel, Bd. 4 (wie Anm. 33), S. 84; vgl. Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 70f.; Pápai Páriz naplója (wie Anm. 35), S. 501.

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ren Lukas Gernler, Johann Rudolph Wettstein und Johannes Zwinger, insbesondere aber dem Hebraisten Johann Jakob Buxtorf, den er als „amico singulari candori observandissimo“ bezeichnete.44 Nach seiner Heimkehr45 wirkte er in verschiedenen Gemeinden des Partium und Siebenbürgens, bis er schließlich im Juni 1686 nach Debrecen als Stadtpfarrer berufen wurde. Von 1711 bis zu seinem Tode war er Bischof des Kirchendistriktes Jenseits-der-Theiss.46 In einer Arbeit über die theologischen Zürcher Dissertationen im 17. Jahrhundert hält Urs Leu fest, dass die Arbeit von Veresegyházi vor allem den Widerspruch von Johannes Müller (1629–1684), der seit 1672 am Carolinum als Theologieprofessor wirkte, erregt hatte.47 Johannes Müller wurde kurz nach seinem Amtsantritt zu einem energischen Gegner von Johann Heinrich Heidegger. Dies zeigte sich erstmals deutlich im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung wegen der beiden Disputationen zum 10. Kapitel der Confessio Helvetica posterior von Tamás Veresegyházi, die er beide bei Heidegger hielt, obwohl letzterer ihm empfohlen hatte, eine bei Müller zu halten.48 Veresegyházi hatte sich auf bedeutende gemäßigte Theologen wie William Ames, den Lehrer von János Apáczai Csere sowie Johannes Coccejus, Johannes Crocius oder Frans Burman berufen.49 Letzterer hatte die föderaltheologische Interpretation der Schrift mit den Grundlagen der cartesianischen

44 Vgl. Tamás Veresegyházi: Defensio inauguralis thesium theologicarum De Providentia Dei [...]. Basel 1674, fol. A1v. 45 Veresegyházi muss spätestens im Juni (bereits im Mai?) Basel verlassen haben, da sich aus den Tagebüchern von Horváti Békés und Pápai Páriz nach Mitte Mai keine Hinweise mehr auf eine Anwesenheit Veresegyházis in Basel finden lassen; seine Briefe vom Juli 1674 an Heidegger sowie an Gernler, Zwinger und Wettstein kommen bereits aus Ungarn; vgl. Tamás Veresegyházi an Johann Heinrich Heidegger, 21. Juli 1674, ZBZ: D 181, 128; Tamás Veresegyházi an Lukas Gernler, Johannes Zwinger und Johann Rudolph Wettstein, 21. Juli 1674, UBB: Fr.-Gr. Ms. II 20, Nr. 206. Zudem hat er auch kein Trauergedicht auf den Tod von Horváti Békés – derselbe hat Veresegyházis Promotion einen poetischen Applaus gar in Hebräisch beigegeben (vgl. János Horváti Békés: ‫[ שמחה מלבב‬...]. In: Plausus votivus In Alma Universitate Basiliensi [...] Viro Clarißimo, Doctißimoque D. Thomae Veresegyhazi Debrecinensi Hungaro [...]. Basel 1674, fol. A4v) – verfasst, was seine bereits erfolgte Abreise erklären kann. 46 Vgl. Hegyi: Diákok (wie Anm. 12), S. 50; Baráth: Adattár (wie Anm. 17), S. 76f.; Zoványi: Lexikon (wie Anm. 9), S. 684f. 47 Vgl. Urs Leu: Häresie und Staatsgewalt. Die theologischen Zürcher Dissertationen des 17. Jahrhunderts zwischen Orthodoxie und Frühaufklärung. [Erscheint] In: Die Schola Tigurina im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Hanspeter Marti. Marburg 2012, Bl. 25f. 48 Vgl. Johann Heinrich Heidegger: Grundtliche und wahrhaffte Histori Etlicher unglükseliger Streitigkeiten und Zweyspaltungen, so zwüschen Einichen Kirchen- und Schuldieneren der Stadt Zürich nun etliche Jahr hero mit nammen von Anno 1673 bis Anno 1680 geschwäbt, ZBZ: G 327, Bl. 7r; vgl. Alexander Schweizer: Die Entstehung der helvetischen Consensus-Formel, aus Zürichs Specialgeschichte näher beleuchtet. In: Zeitschrift für die historische Theologie 30 (1860), S. 125. 49 Vgl. Veresegyházi: De Praedestinatione Dei [...] I (wie Anm. 6), fol. C1r, C3r, C4r.

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Philosophie zu verbinden gelehrt.50 Wie Burman liess auch Veresegyházi die praedestinatio aeterna durch den foedus operum (naturae), d. h. den Bund vor dem Sündenfall, und den foedus gratiae, d. h. den Bund nach dem Sündenfall, geschichtlich realisiert sein. Veresegyházi favorisierte den Infralapsarismus mit der Begründung, dass derselbe der Schrift entsprechender sei, weil nämlich Gott bei seiner Erwählung nicht den Menschen schlechthin, sondern den Sünder in Gnaden angenommen habe.51 Obwohl Veresegyházi beide Teile seiner Disputatio sowohl Gegnern als auch Anhängern des Föderalismus widmete, sprich einerseits György Martonfalvi Tóth, andererseits Márton Szilágyi Tönkő, einerseits Johannes Müller oder Johann Ulrich Bülod,52 andererseits Johann Heinrich Heidegger oder Johannes Lavater,53 hat Müller Veresegyházis Disputationen massiv angegriffen, unter anderem auch darum, weil er Samuel des Marets (Maresius), den Lehrer von Müller und energischen Bekämpfer des Coccejanismus, nur bescheiden erwähnt habe.54 In einer ausführlichen Widerlegung, gerichtet an den Säckelmeister Zürichs, griff Müller indirekt auch Heidegger, Johannes Lavater und Johann Heinrich Schweizer an, sich berufend auf Theologen wie Bullinger, Gwalther, Alting, des Marets sowie andere.55 Veresegyházis Disputationes bildeten insofern den Auftakt zu den kommenden heftigen Auseinandersetzungen zwischen Müller und seinen Anhängern sowie Heidegger und dessen Gesinnungsgenossen.56 Während die Disputationes föderaltheologische Fragen mehrfach thematisierten, lassen sich keine Hinweise auf die „Trauerdekade“ erkennen. Zwar sprach Veresegyházi die Haltung der „Pontificii & Lutherani“ in der Prädestinationslehre an, stellte aber keinen Bezug zu den Verfolgungen her. Vielmehr widerlegte er sachlich die Argumente der „Päpstlichen“, der Lutheraner sowie der „Sociniani“.57 Einzig im Schlussabschnitt, wo es 50 Auf sein Hauptwerk Synopsis theologiae et speciatim foederum Dei (Utrecht 1671), das zu den wichtigeren Leistungen der cartesianischen Schule im Coccejanismus – vgl. Rohls: Theologie (wie Anm. 13), S. 108f. – gehörte, beruft sich Veresegyházi explizit, vgl. ders.: De Praedestinatione Dei [...] I (wie Anm. 6), fol. D4r. 51 Vgl. Veresegyházi: De Praedestinatione Dei [...] I (wie Anm. 6), fol. C2r–v, Dr–v; ders.: De Praedestinatione Dei [...] II (wie Anm. 6), fol. A3r–v. 52 Archidiakon Johann Ulrich Bülod war ein vertrauter Freund von Johannes Müller; beide behaupteten einmütig, dass Heideggers Lehre – er hat betont, dass er selbst nie anders als Veresegyházi in seinen Disputationes gelehrt habe – nicht „orthodox“ sei; vgl. Heidegger: Grundtliche und wahrhaffte Histori (wie Anm. 48), Bl. 8r–9v. 53 Vgl. Veresegyházi: De Praedestinatione Dei [...] I (wie Anm. 6), fol. A1v; ders.: De Praedestinatione Dei [...] II (wie Anm. 6), fol. A1v. 54 Vgl. Heidegger: Grundtliche und wahrhaffte Histori (wie Anm. 48), Bl. 9r–v; vgl. Schweizer: Entstehung (wie Anm. 48), S. 125. 55 Vgl. Johannes Müller an den Säckelmeister Zürichs, 18. Dezember 1673, ZBZ: D 234, Bl. 229–262. 56 Vgl. Karl Hutter: Der Gottesbund in der Heilslehre des Zürcher Theologen Johann Heinrich Heidegger (1633–1698). Gossau 1955, S. 47f. 57 Vgl. etwa Veresegyházi: De Praedestinatione Dei [...] I (wie Anm. 6), fol. C2r, C3v; ders.: De Praedestinatione Dei [...] II (wie Anm. 6), fol. A4r.

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um die Anfechtungen wegen der Erwählung geht, hielt er fest: „in timore, & tremore salus nostra procuranda est“.58

János Horváti Békés (~1648–1674) János Horváti Békés stammte aus Siebenbürgen und wurde um das Jahr 1648 in Erdőhorváti geboren, wo er auch seine Kindheit verbrachte.59 Seit Januar 1666 besuchte er das Kollegium in Sárospatak,60 später setzte er seine Studien in Klausenburg fort, bevor er am 10. März 1671 seine Peregrination antrat, die ihn an die Universitäten in Utrecht und Marburg führte.61 Sein Tagebuch gibt uns detailliert Auskunft über seine Aufenthaltsorte und seine Tätigkeiten.62 Daraus wissen wir auch, wie bereits erwähnt, dass Horváti Békés sich in Marburg mit Veresegyházi und Pápai Páriz getroffen hat und sie gemeinsam nach Basel zogen, wo sie am 24. Februar 1673 ankamen.63 Während Veresegyházi weiter zog, absolvierten Horváti Békés und Pápai Páriz ihre Studien in Basel. Mit Pápai Páriz pflegte Horváti Békés einen besonders freundschaftlichen Austausch, so dass er ihn in seinem Tagebuch mehrfach als „amicus meus Franciscus Paricz Papai“ bezeichnete.64 Seine Studien absolvierte Horváti Békés in Basel bei Lukas Gernler (1625–1675), Professor für Kontroverstheologie, später für Altes Testament; daneben besuchte er auch Vorlesungen bei Johann Jakob Buxtorf (1645–1704), Professor für orientalische Sprachen, und bei Johann Rudolph Wettstein (1614–1684), Professor für Neues Testament.65 Schließlich disputierte Horváti Békés am 11. Juni 1674 bei Lukas Gernler über das zweite Kapitel der Confessio Helvetica posterior und zwar zum Thema „De usu sanctorum patrum & Conciliorum Theologiae“.66 Ende Juni verließ Horváti Békés Basel „Bernam versus ut ibi a mor-

58 Veresegyházi: De Praedestinatione Dei [...] II (wie Anm. 6), fol. C2v. 59 Vgl. Gábor Pintér: Bevezetés [Einleitung]. In: Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 5. 60 Vgl. Richárd Hörcsik: A Sárospataki református kollégium diákjai 1617–1777 [Die Studenten des Reformierten Kollegiums in Sárospatak 1617–1777]. Sárospatak 1998, S. 105. 61 In Utrecht immatrikulierte er sich am 14. Juni 1671, in Marburg am 3. Juli 1672; vgl. Hegyi: Diákok (wie Anm. 12), S. 49; Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 24. 62 Vgl. Tagebuch von János Horváti Békés, UBB: H V 74, gedruckt in: Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 25–84. 63 Vgl. oben. 64 Vgl. Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 61, 65, 70, 72. Die beiden Ungarn haben füreinander auch Gedichte verfasst: János Horváti Békés: Bekes Paricio sincero corde salutem [...]. In: Vota solennia Quae Nobilissimi & Clarissimi Viri D. Francisci Pariz de Pápa Transylvano-Ungari [...]. Basel 1674, fol. B2v–r; Ferenc Pápai Páriz: Ἀργαλέη ὡς μοῖρα ΘΕΟΥ [...]. In: Justa piis manibus Clarissimi ac Eruditi Viri D. Johannis Bekes Horvati Ungari [...]. Basel [1674], fol. A3v–A4v. 65 Vgl. Pintér: Bevezetés (wie Anm. 59), S. 14; Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 60–71. 66 Vgl. Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 71; Horváti Békés: De usu sanctorum patrum & Conciliorum [...]. Basel 1674.

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bo meo quem in inguene gero curarer.“67 Eine Krankheit in der Schamgegend – Pápai Páriz bezeichnete dieselbe als „intestinalis Βουβωνοκηλης“, d. h. ein Leistenbruch68 – bewog ihn, sich in Bern beim bekannten Professor Lang operieren zu lassen. Dennoch verstarb Horváti Békés kurz nach der Operation am 21. Juli 1674 in Bern. Offenbar hatte er „cum Chirurgo post multos discursos“ diesbezüglich bereits eine böse Vorahnung, so dass er noch verschiedene letzte Verfügungen in seinem Tagebuch festhielt.69 Schliesslich fand in Bern die Abdankung statt, gehalten vom Berner Theologieprofessor Johannes Niklaus.70 Der unerwartete Tod von János Horváti Békés hat die damalige Gelehrtenwelt Basels und Berns so tief berührt, dass noch im gleichen Jahr eine Sammlung von Trauergedichten, verfasst „a praeceptoribus, fautoribus et amicis“, erschien.71 Es scheint, dass Johann Rudolph Wettstein der geistige Vater dieses Drucks gewesen ist; neben ihm haben weitere Persönlichkeiten wie der Hebraist Johannes Leusden, ehemaliger Lehrer von Horváti Békés, Johann Jakob Buxtorf oder auch Johann Jakob Hofmann Trauergedichte beigesteuert, gefolgt von mehreren Epicedia von Mitstudenten und Landsleuten.72 Die Disputation von János Horváti Békés – er widmete sie dem siebenbürgischen Baron und Berater des Fürsten Dénes Bánffy (1630–1674),73 der die Peregrination von Horváti Békés finanziell unterstützt hatte74 – trug natürlich, aufgrund der gewissermaßen unproblematischen Thematik, keinesfalls das gleiche „Provokationspotential“ in sich wie diejenige von Tamás Veresegyházi. Horváti Békés disputierte im Rahmen der „ordentlichen“ Disputationen bei Gernler, d. h. seine Disputation war eine sogenannte Fortsetzung derjenigen des Zürchers Johann Jakob Hottinger (Cap. II, § 1), des Sohns von Johann Heinrich Hottinger, sowie derjenigen des Schaffhausers Conrad Ziegler (Cap. II, § 2). Es ist bekannt, dass Gernler als streitbarer Vertreter einer strengen Orthodoxie vor allem um die Abwehr der Lehren aus der Schule von Saumur bemüht war. Um die Studenten in ihrem „orthodoxen“ Denken zu festigen, ließ er sie seit 1661 über einzelne Abschnitte der 67 Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 71. 68 Vgl. Pápai Páriz naplója (wie Anm. 35), S. 502. 69 Vgl. Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 72. Eindrückliches Zeugnis dessen, dass sich Horváti Békés der Ernsthaftigkeit seines Gesundheitszustandes durchaus bewusst war, ist auch ein Brief dieser Tage; vgl. János Horváti Békés an N. N. (Basel), o. J. [Juli 1674], UBB: Fr.-Gr. Ms. II 5a, Nr. 52. 70 Vgl. Pápai Páriz naplója (wie Anm. 35), S. 502. 71 Vgl. Justa piis manibus (wie Anm. 64). 72 Seltsamerweise hat Lukas Gernler, bei dem Horváti Békés disputiert hat, keine Trauerverse auf den Tod seines ehemaligen Schülers verfasst. Ob dies damit zusammenhängt, dass Wettstein, ein energischer Gegner der Gernlerschen „Hochorthodoxie“ und der Formula consensus (vgl. Max Geiger: Die Basler Kirche und Theologie im Zeitalter der Hochorthodoxie. Zürich 1952, S. 219–350), der Initiator war, muss offen bleiben. 73 Dénes Bánffy unterstützte Fürst Apafi maßgeblich in seiner Politik des Ausgleichs; vgl. István Juhász: Die Gegenreformation und die siebenbürgischen Prediger im Jahrzehnt zwischen 1671–1681. In: Rebellion oder Religion? (wie Anm. 1), S. 92. 74 Vgl. Pintér: Bevezetés (wie Anm. 59), S. 5, 14; Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 67.

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Confessio Helvetica posterior disputieren. Obwohl die erschienenen elf Disputationes keineswegs alle bei Gernler abgehaltene Disputationen über die Confessio gewesen sein dürften, weisen sie doch darauf hin, mit welcher Gründlichkeit Gernler seine Studenten unterrichtet hatte. Bis 1674 kam Gernler nämlich nicht über die Auslegung der ersten beiden Kapitel der Confessio hinaus.75 Zudem scheint es, dass im Vorfeld der Formula consensus (1675)76 in gehäufterem Maße über die Confessio disputiert wurde, zumindest erschienen von den elf gedruckten Disputationen deren fünf zwischen 1672 und 1674.77 Horváti Békés’ Disputatio lag also kein außerordentlicher Anlass – in dem Sinne, dass er bei Gernler wegen seines „orthodoxen“ Rufes exlizit über die Confessio disputieren wollte – zugrunde, sondern sie wurde im Rahmen der „ordentlichen“ Disputationen bei Gernler gehalten. Argumentativ brachte Horváti Békés nichts Neues: Er widerlegte die „päpstliche“ Ansicht, dass Kirchenväter und Konzilien der Schrift gleichzusetzen seien; vielmehr würden sie nur gelten, wenn sie mit der Schrift übereinstimmen würden. Auch lehnte er die Ansicht des jesuitischen Theologen Jacob Masen („Ioannes Semanus“, 1606–1681) ab, dass die Väter und Konzilien die verdorbenen Stellen der Bibel erklären könnten, und berief sich dabei auch auf Calvin.78 Weiterhin sind die Corollaria, die Horváti Békés am Ende seiner Disputation abdrucken ließ, interessant. Sie geben uns einen kurzen Einblick in Horváti Békés’ theologisches Denken, vor allem solche Loci betreffend, die in der Disputatio „De usu sanctorum patrum“ nicht angesprochen werden konnten. In den Corollaria widerlegte er nämlich in sechs Paragraphen die Lehre der „Sociniani dum unitarios se vocari volunt“. Er hielt unter anderem fest, dass diese „propter ejus [i. e. Adami] peccatum in nos mortem &c. dominari negant.“79 Diese Aussage setzt implizit den infralapsarischen Standpunkt voraus, bedenkend, dass Horváti Békés in Utrecht bei Johannes Leusden und Frans Burman studiert hat.80 Auch würden die „Sociniani“ den Vätern des Alten Testamentes – diese hatten gerade in der Föderaltheologie eine außerordentliche Stellung inne – keine Bedeutung zumes75 Vgl. Geiger: Kirche (wie Anm. 72), S. 76f. Natürlich ist davon auszugehen, dass Gernler an eine Fortführung der Disputationen über die Confessio gedacht hat, aber der unerwartete Tod am 9. Februar 1675 verunmöglichte es ihm. 76 Zur Entstehung, Theologie und Geltung der Formula consensus: Ernst Koch: Das Konfessionelle Zeitalter – Katholizismus, Luthertum, Calvinismus (1563–1675). Leipzig 2000 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, Bd. II/8), S. 124–127; Rudolf Pfister: Kirchengeschichte der Schweiz. Bd. 2: Von der Reformation bis zum zweiten Villmerger Krieg. Zürich 1974, S. 486–498; Geiger: Kirche (wie Anm. 72), S. 99–139. 77 Es handelt sich um folgende Disputationes: Daniel Wegelin: De canonis integritate [...]. Basel 1672; Johann Jakob Hottinger: De vera et legitima ratione [...]. Basel 1673; Conrad Ziegler: De sanctorum patrum usu [...]. Basel 1674; János Horváti Békés: De usu sanctorum patrum [...]. Basel 1674; János Kállai Kopis: De judice controversiarum [...]. Basel 1674. 78 Vgl. Horváti Békés: De usu sanctorum patrum (wie Anm. 77), fol. B2v. 79 Ebd., fol. C4v. 80 Vgl. Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 41ff.

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sen und somit auch den Bund mit Gott brechen.81 Horváti Békés gab sich damit als „Coccejaner“82 – auch der „hochorthodoxe“ antisaumurische Gernler zeigte gegenüber dem Coccejanismus erstaunliche Offenheit, ja pflegte mit Coccejus gar einen freundschaftlichen Briefwechsel83 – zu erkennen.84 Nachfolgend schließt sich Horváti Békés’ Widerlegung der Abendmahlslehre sowie der Eschatologie der Unitarier an. Warum Horváti Békés diese Corollaria seiner Disputation beigefügt hat, lässt sich nur vermuten. Wahrscheinlich stehen dahinter reale Auseinandersetzungen, die er mit Unitariern gehabt hat.85 Hingegen findet sich weder in der Disputatio noch in den Corollaria ein Hinweis auf die „Trauerdekade“.

János Kállai Kopis (~1645–1681) János Kállai Kopis wurde in Nagykálló im Partium geboren und absolvierte seine ersten Studien am Kollegium in Debrecen, seit 1665 war er in der oberen Klasse. Nach einer kurzen Betätigung als Rektor in Szikszó zog er im Frühjahr 1673 ins Ausland. Seine weiteren Studien absolvierte er in Frankfurt an der Oder, Marburg und Heidelberg.86 Ende November kam er schließlich nach Basel, immatrikulierte sich aber erst am 28. Januar 1674, gleichentags wie Tamás Veresegyházi, an der Universität.87 Während er seine Studien vor allem bei Lukas Gernler, aber auch bei den beiden Bibelexegeten Johann Jakob 81 „[...] ejus [i. e. Dei] foedera contendunt“: Horváti Békés: De usu sanctorum patrum (wie Anm. 77), fol. C4v. Die Föderaltheologie versteht den foedus gratiae als eine Abfolge von verschiedenen, sich einander ablösenden Bundesschlüssen (vgl. Anselm Schubert: Das Ende der Sünde. Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung. Göttingen 2002 [Forschungen zur Kirchenund Dogmengeschichte, Bd. 84], S. 128), weswegen Horváti Békés, wenn er über die Väter des Alten Testamentes spricht, auch den Plural („foedera“) gebraucht. 82 Über seine Hochachtung vor Coccejus berichtet er auch in einem Brief an Johann Jakob Hottinger; vgl. János Horváti Békés an Johann Jakob Hottinger, 8. April 1674, ZBZ: H 358, Bl. 47. 83 Vgl. Briefwechsel zwischen Johannes Coccejus und Lukas Gernler, UBB: Ki. Ar. 24a, Bl. 116–121. Gernler erregte damit den Widerspruch einiger „Extremorthodoxer“ wie des Berners Johannes Niklaus oder des Zürcher Johannes Müller, die eine Formula anticoccejana und anticartesiana schaffen wollten; vgl. Leu: Häresie (wie Anm. 47), Bl. 26f.; Geiger: Kirche (wie Anm. 72), S. 127. 84 Dies wird auch in einigen Predigten von Horváti Békés, die er in Klausenburg noch vor seinen Auslandstudien in den Jahren 1669–70 gehalten hat, bestätigt; vgl. János Horváti Békés: Predigten, 1669–70, UBB: A IX 45. 85 Möglicherweise in Marburg, wo am 24. August 1672 „tres Sociniani, Bölöni, Dalnoki, Benkö“ angekommen seien; vgl. Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 58; vgl. Pintér: Bevezetés (wie Anm. 59), S. 19. 86 Vgl. Hegyi: Diákok (wie Anm. 12), S. 49; Zoványi: Lexikon (wie Anm. 9), S. 288; Sándor Czeglédy: A XVII. századi Magyarország helyzete egy zürichi kéziratban [Eine Zürcher Handschrift über die Situation in Ungarn im 18. Jahrhundert]. In: Református Egyház 18 (1966), S. 110. 87 Vgl. Matrikel der Universität Basel, Bd. 4 (wie Anm. 33), S. 83; Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 65.

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Buxtorf und Johann Jakob Hofmann absolvierte, pflegte er mit den dort anwesenden Ungarn regelmäßigen Kontakt.88 Am 16. Mai hielt er bereits eine theologische Disputation De haereditate ecclesiae, wobei er seine zehn Argumente, aufgeteilt in fünfzehn Paragraphen, als „Apodixes orthodoxae“ bezeichnete. Dies ist immerhin ein deutlicher Hinweis darauf, dass Kállai Kopis die rechte Lehre am Herzen lag. Die Widmung der Disputatio an Politiker (Konsule, Gesandte an der Hohen Pforte, Stadträte von Debrecen usw.) lässt zudem vermuten, dass Kállai Kopis – während der „Trauerdekade“ – um den Bestand der reformierten Kirche fürchtete.89 Kállai Kopis entschloss sich, bei Gernler noch einmal zu disputieren. Seine zweite Disputation sollte die Fortsetzung derjenigen von Horváti Békés sein, fand also im Rahmen der „ordentlichen“ Disputationen über die Confessio Helvetica posterior statt; am 12. November sprach Kállai Kopis über De Judice controversiarum (Cap. II, § 5 u. 6).90 Schliesslich stellte Lukas Gernler, in jenem Jahr Dekan der theologischen Fakultät, am 15. Dezember ein Abgangszeugnis und Empfehlungsschreiben für János Kállai Kopis aus. Darin hielt Gernler fest, dass niemand zweifle, „Eum [...] evasurum utilissimum aedificandae Ecclesiae & promovendae gloria Dei organum.“91 Daraufhin zog Kállai Kopis allerdings nicht nach Hause, sondern vorübergehend nach Zürich.92 Daselbst absolvierte er weitere Studien bei Johann Heinrich Heidegger, welche er im April 1675 mit einer Dissertatio textualis De peccato in spiritum s[anctum] (Zürich 1675) abschloss. Mitte April zog auch Pápai Páriz nach Zürich, wo „apud Heideggerum hospitantem Cl. D. Joh. Copis Callai salvum reperi.“93 Die beiden Ungarn pflegten mit Lavater und Schweizer gleichfalls den Austausch, hingegen verliert Pápai Páriz über Müller kein Wort in seinem Tagebuch. Schließlich zogen Pápai Páriz und Kállai Kopis gemeinsam weiter nach Schaff-

88 Kállai Kopis hat ein langes Epicedion in Distichen auf den Tod von Horváti Békés gedichtet. Vgl. János Kállai Kopis: Lacrymae Fratris, Amici, Popularis peregrini [...]. In: Justa piis manibus (wie Anm. 64), fol. C1r–C2r; und auch für die Doktorpromotionen von Tamás Veresegyházi und Ferenc Pápai Páriz hat er poetische Applause, mit eindrücklichen Freundschaftsbezeugungen, verfasst; vgl. János Kállai Kopis: ‫[ שיר ידידת‬...]. In: Plausus votivus (wie Anm. 45), fol. B1v; János Kállai Kopis: ΕΠΙΝΙΚΙΟΝ. Παννύχιον [...]. In: Vota solennia (wie Anm. 64), fol. B1v–B2v. Der gedruckten Dissertation von Veresegyházi wurde ein weiterer poetischer Applaus von János Kállai Kopis beigegeben; vgl. János Kállai Kopis: Consecrata seris sumus hostia maxima cultris [...]. In: Veresegyházi: De providentia Dei (wie Anm. 44), fol. A6v. 89 Vgl. János Kállai Kopis: ‫הלקי אלוהים לעולם‬. Apodixes X. orthodoxae. De haereditate ecclesiae [...]. Basel 1674, fol. A1v. János Horváti Békés verfasste einen poetischen Applaus für die Disputatio von Kállai Kopis; vgl. János Horváti Békés: Quicquid habet Mundus fucus est [...]. In: Kállai Kopis: ‫הלקי‬ [...], fol. A6v. 90 Vgl. Kállai Kopis: De judice controversiarum (wie Anm. 6). 91 Lukas Gernler: Dekanatszeugnis für János Kállai Kopis, 15. Dezember 1674, UBB: Fr.-Gr. Ms. I 16, Bl. 210. 92 Vgl. Pápai Páriz naplója (wie Anm. 35), S. 504. 93 Ebd., S. 506.

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hausen, wo sie im Hause des Arztes Johann Conrad Peyer (1653–1712) logierten.94 Während Pápai Páriz in Schaffhausen zurückblieb, zog Kállai Kopis im Juni weiter nach Schlesien und Prag, dann in seine Heimat.95 Dort wirkte er seit 1677 als Pfarrer in Bagamér und seit 1679 in Margitta, wo er bereits vor 1681 verstarb.96 Ein Blick auf Kállai Kopis’ Disputatio über die Confessio Helvetica posterior zeigt uns ein ähnliches Bild wie bei Veresegyházi und Horváti Békés. Kállai Kopis widmete seine Disputatio an erster Stelle dem Bischof des Kirchendistriktes „Jenseits der Theiss“, Mátyás Nógrádi (1611–1681)97, und seinem Lehrer Lukas Gernler, dann weiteren ungarischen Gelehrten, darunter auch die beiden Debreciner Lehrer und Kontrahenten György Martonfalvi Tóth und Márton Szilágyi Tönkő. Schließlich fügte er bei, dass er seine Arbeit „non minori cum candore“ Johann Jakob Buxtorf und Johann Jakob Hofmann widme.98 Inhaltlich war Kállai Kopis’ Auslegung des fünften und sechsten Paragraphen des zweiten Kapitels der Confessio vor allem gegen die römische Auffassung der Notwendigkeit eines „irdischen“ Richters gerichtet, und er betonte darum mit Nachdruck, „Scripturam Judicem esse in causa fidei.“99 Theologiegeschichtlich interessant ist vor allem der Appendix Defendentis, also Kállai Kopis’ Anhang zu seiner Disputation, in dem er in elf Artikeln einige Ausführungen zur Bedeutung der Bekenntnisse, der Philosophie und der Theologie machte. Im sechsten Artikel hielt Kállai Kopis fest: „Duo sunt Foedera: unum operum, cum Adamo integro pactum; alterum Gratiae, aut reconciliationis, cum eodem lapso initum.“ Im Folgenden führte Kállai Kopis aus, dass der Bund der Gnade alle Menschen betreffe, da durch den Samen Abrahams allen – „omnes gentes, sive omnes familiae terrae“ – der Segen und das Erbe zugesprochen werde. Schließlich hielt er fest, dass das Fundament des Gnadenbundes Christus Jesus sei, wenn auch der „modus applicationis Christi“ sich in der Zeit, bevor Christus dargeboten worden sei, noch verschieden gewesen sei („variavit“).100 Diese Artikel belegen unzweifelhaft, dass Kállai Kopis sich als Föderaltheologen verstanden hat; dies kann auch erklären, warum er bei Gernler zweimal disputiert 94 In Schaffhausen verfasste Ferenc Pápai Páriz auch seinen poetischen Applaus für den Druck der Dissertatio textualis De peccato in spiritum s[anctum] (Zürich 1675) von János Kállai Kopis; vgl. Ferenc Pápai Páriz: Τίς πέλει ΙΗΤΡΟ C; ταχέως [...]. In: János Kállai Kopis: Dissertatio textualis De peccato in spiritum sanctum [...]. Zürich 1675, fol. C1v. 95 Vgl. Pápai Páriz naplója (wie Anm. 35), S. 507. 96 Vgl. Baráth: Adattár (wie Anm. 17), S. 41f. Falsch ist die Angabe von Czeglédy: Helyzete (wie Anm. 86), S. 110, dass Kállai Kopis wegen einer Krankheit nach Debrecen gezogen und dort um 1681 verstorben sei; es handelt sich dabei nämlich um einen andern János Kállai, der sich 1666 in Debrecen immatrikulierte, 1677 in Frankfurt an der Oder studierte und 1679 nach Hause kehrte. Vgl. Baráth: Adattár (wie Anm. 17), S. 35. 97 Entgegen Zóványi: Lexikon (wie Anm. 9), S. 438, wurde Nógrádi, der in Holland und England studiert hat, nicht erst 1617 geboren. 98 Kállai Kopis: De judice controversiarum (wie Anm. 6), fol. A1v. 99 Vgl. ebd., fol. B1v. 100 Vgl. ebd., fol. C2v.

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hat. Gerade Gernler hat ja, gemeinsam mit Heidegger, wesentlich dazu beigetragen, dass in die Formula consensus keine anticoccejanischen und anticartesianischen Formulierungen einflossen.101 Unsere Erkenntnis wird unterstützt durch die Tatsache, dass Kállai Kopis in Zürich bei Heidegger, und nicht bei Müller, disputiert hat. Gewiss hatte er von Veresegyházi von den damaligen Auseinandersetzungen zwischen Heidegger und Müller Kenntnis, und hat sich bewusst für Heidegger entschieden.

3. Der Wissensaustausch in seinem kommunikationsgeschichtlichen Ertrag 3.1. Wissensaustausch zwischen ungarischen und schweizerischen Gelehrten Die bisherige Darstellung hat bereits aufgezeigt, dass zwischen den ungarischen Studenten und Gelehrten einerseits, zwischen den Ungarn und den schweizerischen Gelehrten andererseits ein intensiver Wissensaustausch stattgefunden hat. Natürlich kann im Rahmen dieses Aufsatzes dieser Wissensaustausch der 70er Jahre, den ungarische und schweizerische Gelehrte gepflegt haben, nicht umfassend gewürdigt, sondern nur einige Aspekte, die vor allem Tamás Veresegyházi, János Horváti Békés und János Kállai Kopis betreffen, erwähnt werden. Besonders bemerkenswert ist es dabei, einen Blick auf die Korrespondenz der Ungarn mit schweizerischen Gelehrten zu werfen, die vor allem von drei Themata beherrscht wird: Verfolgungen im königlichen Ungarn, Bitten um Unterstützung von Studenten und Gemeinden sowie Angaben zur Theologie.

Die Verfolgungen im königlichen Ungarn Bereits kurz nach seiner Ankunft in Zürich im März 1673 berichtete Veresegyházi in einem Brief an Heidegger, in dem er um Aufnahme am Carolinum bat, von den Anfechtungen und Verfolgungen der reformierten Kirche in Ungarn.102 Als Veresegyházi bereits in Basel studierte, bat er Heidegger um Unterstützung auch für andere ungarische Studenten, z. B. für den Preschauer Studenten István Dobozy, und zwar mit der Begründung, dass in Ungarn weitere Verfolgungen stattfinden würden.103 Zu diesem Zeitpunkt fand gerade das zweite Pressburger „Blutgericht“ – es wurde vom 5. März bis 5. April 1674 abgehalten – statt, auf dem 336 protestantische Geistliche und Schulmänner des 101 Vgl. Geiger: Kirche (wie Anm. 72), S. 126ff., 320ff.; Hutter: Gottesbund (wie Anm. 56), S. 49ff. 102 Vgl. Tamás Veresegyházi an Johann Heinrich Heidegger, 7. März (=25. Februar) 1673, ZBZ: B 9, Nr. 63. 103 Vgl. Tamás Veresegyházi an Johann Heinrich Heidegger, 17. März 1674, ZBZ: B 9, Nr. 83.

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königlichen Ungarn angeklagt wurden, von denen rund 100, die standhaft bei ihrem Bekenntnis blieben, zu Zwangsarbeit auf der Galeere in Neapel verurteilt worden sind.104 Die Verfolgung der Reformierten in Ungarn wurde also von Veresegyházi als Berechtigungsgrund einer Unterstützung der ungarischen Glaubensgeschwister verstanden. Schließlich berichtete auch János Horváti Békés Johann Jakob Hottinger in Zürich über die schrecklichen Vorgänge in Pressburg.105 In anderen Briefen wird mehrfach auf die schwierige Situation der Reformierten in Preschau (Prešov, SK), Tyrnau (Trnava, SK) oder Miskolc hingewiesen.106 So meldete Kállai Kopis kurz vor seiner Weiterreise aus Schaffhausen, dass er vor dem Wiener Zoll Angst habe, und er darum über Nürnberg und Schlesien nach Ungarn reise.107 Tatsächlich berichtete Pápai Páriz wenig später aus Győr, dass Studenten aus Debrecen auf der Rückkehr aus Marburg ergriffen und verhaftet worden seien. Im unteren Teil Ungarns sei aber alles noch viel schlimmer.108 Ein diesbezüglich besonders interessantes Dokument ist ein weitgehend in Vergessenheit geratener Bericht über die Situation der reformierten Kirche in Ungarn und Siebenbürgen, den János Kállai Kopis spätestens zu Beginn des Jahres 1674 an den Rat von Zürich geschrieben hat.109 Der Bericht, der auch in anderer Hinsicht – wir werden noch darauf zu sprechen kommen – bemerkenswert ist, und die verschiedenen Briefe der Ungarn haben insbesondere die Zürcher Kirche über die reale Situation im königlichen Ungarn in Kenntnis gesetzt und damit indirekt dafür sensibilisiert, dass die Reformierten daselbst des Gebetes und der Hilfe bedürfen. Als schließlich im September 1675 in Zürich ein Hilferuf von dem Bündner Pfarrer Nikolaus Zaff, der seit 1674 in Venedig als Arzt

104 Vgl. László Makkai: Zum Gedenken an die „Trauerdekade“ des ungarischen Protestantismus. In: Rebellion oder Religion? (wie Anm. 1), S. 17ff. 105 Vgl. János Horváti Békés an Johann Jakob Hottinger, 8. April 1674, ZBZ: H 358, Bl. 47. 106 Vgl. Tamás Veresegyházi an Johann Heinrich Heidegger, 3. Mai 1674, ZBZ: B 9, Nr. 87; Ferenc Pápai Páriz an Johann Heinrich Heidegger, 10. Juni 1675, ZBZ: D 181, Bl. 148r; Ferenc Pápai Páriz an Johann Caspar Bauhin, 25. Juni 1675, UBB: G 2 I 7, Bl. 120f. 107 Vgl. János Kállai Kopis an Johann Heinrich Hottinger, 12. Mai 1675, ZBZ: D 181, Bl. 135f. 108 Vgl. Ferenc Pápai Páriz an Johann Caspar Schweizer, 6. August 1675, ZBZ: B 9, Nr. 88. 109 Vgl. János Kállai Kopis an den Rat von Zürich, o. J. [1673/1674], ZBZ: D 182, Bl. 476r–479r. Erstmals hat Czeglédy: Helyzete (wie Anm. 86), S. 110f., über diese Handschrift, die leider undatiert ist, in einem kurzen Überblick berichtet. Bei einem Forschungsaufenthalt in Debrecen bin ich auf eine textlich identische Handschrift gestoßen, die allerdings nicht von Kállai Kopis geschrieben wurde, sondern eine Abschrift von István Kocsi Csergő, dem Sohn des Galeersensträflings Bálint Kocsi Csergő, ist, der sie im Mai 1721 in Zürich vom Original abgeschrieben hat. Vgl. János Kállai Kopis an den Rat von Zürich, o. J. [1673/1674], TtREL: I. 24. b. 3k, Bl. 149–159 (Nr. 2). Der Bericht muss noch vor dem zweiten Pressburger „Blutgericht“ verfasst worden sein, denn Kállai Kopis weist mit keinem Wort darauf hin, obwohl er ausführlich über die schwierige Situation der Reformierten unter der absolutistischen Herrschaft von Leopold I. im königlichen Ungarn berichtet.

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wirkte und gleichfalls im Geheimen die Reformierten von Venedig betreute, eintraf,110 hatten also der Zürcher Rat und die Professorenschaft bereits Kenntnis von der tatsächlichen Bedrängnis der Reformierten im königlichen Ungarn, und die Bereitschaft zur Hilfe war sofort gegeben.

Bitten um und Dank für Unterstützung von ungarischen Studenten und Gemeinden In zahlreichen Briefen werden Heidegger und Hottinger, aber auch andere Gelehrte Zürichs und Basels um finanzielle Unterstützung der Studien, um einen Studienplatz oder um Unterkunft angefragt. Veresegyházi bat um gnädige Aufnahme in Zürich, berichtete von der schwierigen Situation in Gemeinden wie Preschau und dankte für die Unterstützung.111 Gleichfalls mehrfach äußerte Kállai Kopis seine Dankbarkeit für die finanzielle Hilfe,112 und Horváti Békés lobte die humanitas Heideggers und wandte sich noch kurz vor seinem Tode aus Bern an die Basler Professorenschaft mit einem Wort des Dankes.113 Auch Pápai Páriz, der sich in der Schweiz den medizinischen Studien gewidmet hatte, hat in Basel, Zürich und Schaffhausen große Gastfreundschaft erlebt.114 Schließlich drückte auch der Debreciner Professor Márton Szilágyi Tönkő für die große Unterstützung und das Wohlwollen Heideggers gegenüber den ungarischen Studenten Dankbarkeit aus.115 Aus den Briefen spricht eine große emotionale Verbundenheit derjenigen ungarischen Studenten, die in Basel und Zürich studiert und Gastfreundschaft genossen haben. Zeugnis dessen ist insbesondere die immer wieder auftretende Aufforderung, dass der Adressat an andere gelehrte Persönlichkeiten in Zürich und Basel Grüße ausrichte, beispielsweise an Lavater, Schweizer,116 Buxtorf oder Gernler.

110 Vgl. Bittschrift der Ungarn sowie Schreiben von Nicolaus Zaff an Johann Heinrich Heidegger, Aug./Sept. 1675, ZBZ: B 304, Nr. 92; vgl. Erich Wenneker: Nicolaus Zaff – ein Bündner Arzt und Theologe in Venedig. In: Bündner Monatsblatt 1995, S. 38ff. 111 Veresegyházis Briefe werden aufbewahrt in: ZBZ: B 9, D 181; UBB: Fr.-Gr. Ms. II 20, Nr. 206. 112 Kállai Kopis’ Briefe sind zum Teil gedruckt; vgl. István Zsindely: Bázeli egyetem könyvtárából [Aus der Bibliothek der Universität Basel]. In: Sárosptataki Füzetek, 1861, S. 841f., und werden zum Teil in Zürich aufbewahrt (vgl. ZBZ: B 9, D 181). 113 Horváti Békés’ Briefe werden aufbewahrt in: ZBZ: H 358; UBB: Fr.-Gr. Ms. II 5a, Nr. 52. 114 Pápai Páriz’ Briefe sind zum Teil gedruckt – vgl. Zsindely: Egyetem (wie Anm. 112), S. 842–845 – und werden zum Teil in Zürich und Basel aufbewahrt: ZBZ: B 9, D 181; UBB: G 2 I 7, Bl. 120f.; Fr.-Gr. Ms. I 17, Bl. 57. 115 Szilágyi Tönkős Briefe werden aufbewahrt in: ZBZ: B 9, D 181. 116 Bei Grüßen an „Dn. Suicerum“ ist oft nicht klar, ob es sich um den Vater Johann Caspar Schweizer (1619–1688) oder den Sohn Johann Heinrich Schweizer (1646–1705) handelt; es scheint aber, dass die Grüße mehrheitlich an Johann Caspar Schweizer, der auch mit Ferenc Pápai Páriz in Korrespondenz stand, auszurichten waren. Obwohl die beiden Schweizer es nicht zu einem Bruch mit Heidegger kommen ließen, standen sie dennoch einer Einheitsformel wie der Formula consensus ablehnend gegenüber; vgl. Geiger: Kirche (wie Anm. 72), S. 129, 240ff.

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Hinweise zu den theologischen Prägungen und Auseinandersetzungen In der Korrespondenz der Ungarn fällt insbesondere auf, welche Bedeutung die hebräischen Studien bei denselben eingenommen haben. János Horváti Békés berichtete mehrfach über seine hebräischen Studien bei Buxtorf,117 und mehrere Ungarn haben ihre Disputationen gleichfalls Buxtorf gewidmet, indem sie betonten, in welcher Freundschaft sie zu Buxtorf stehen würden.118 Ein kurzer inhaltlicher Blick in die Disputationen bestätigt dies: Oft bedienten sich die Ungarn des Hebräischen wie auch, besonders Veresegyházi, des Arabischen und Syrischen. Gerade die Föderaltheologie betrieb eine intensive exegetische Betätigung, und sie befasste sich insbesondere mit dem Alten Testament. Die Schriftgemäßheit der Theologie und der Kirche war maßgeblich dafür verantwortlich, dass der Föderaltheologie im Allgemeinen und Coccejus im Besonderen öfters „Biblizismus“ vorgeworfen wurde.119 Vater Johannes Buxtorf (1599–1664) hatte ja mit Coccejus Briefkorrespondenz gepflegt,120 so dass Johann Jakob von Kindsbeinen an nicht nur von der Orientalistik, sondern gleichfalls von der Föderaltheologie geprägt gewesen ist. Tatsächlich äußerte Horváti Békés im Zusammenhang mit seinen Basler Studien auch seine Hochachtung gegenüber Johannes Coccejus.121 Und Pápai Páriz meldete, als er bereits in Nagyenyed weilte, an Heidegger, dass auch in Siebenbürgen der Coccejanismus weit verbreitet sei, weswegen der Fürst sich einzumischen versuche.122 An den Kollegien in Debrecen und Nagyenyed wurde, wie wir bereits erwähnt haben, heftig um die theologische Richtung gerungen. In Kenntnis der wohlwollenden Förderung der ungarischen Studenten und in Dankbarkeit ihr gegenüber wandte sich darum der Debreciner Professor Márton Szilágyi Tönkő an Heidegger und berichtete über die Ausbildung am Kollegium in Debrecen, insbesondere über die Beschäftigung mit der Philosophie. Gleichzeitig zweifelte er nicht, dass sich auch die schweizerischen Akademien „luminibus“ auszeichnen würden.123 Dies war mit ein Grund, warum Szilágyi Tönkő in den 70er Jahren mehrere Studenten nach Zürich und Basel empfahl. Als Tamás Veresegyházi in Debrecen ankam und im Gespräch mit Szilágyi Tönkő erfuhr, dass er sein neues Buch De Philosophia beendet habe, fragte er sogleich Heidegger, wo es wohl am besten 117 Vgl. etwa János Horváti Békés an Johann Jakob Hottinger, 23. Dezember 1673, ZBZ: H 358, Bl. 43; János Horváti Békés an Johann Jakob Hottinger, 7. Januar 1674, ZBZ: H 358, Bl. 44; János Horváti Békés an Johann Jakob Hottinger, 17. Februar 1674, ZBZ: H 358, Bl. 46. 118 Vgl. etwa Veresegyházi: De Providentia (wie Anm. 44), fol. A1v; Kállai Kopis: De judice controversiarum (wie Anm. 6), fol. A1v. 119 Vgl. Schubert: Ende (wie Anm. 81), S. 129. 120 Vgl. Ernst Staehelin: Der Briefwechsel zwischen Johann Buxtorf II. und Johannes Coccejus. In: Theologische Zeitschrift 4 (1948), S. 378–391. 121 Vgl. János Horváti Békés an Johann Jakob Hottinger, 8. April 1674, ZBZ: H 358, Bl. 47. 122 Vgl. Ferenc Pápai Páriz an Johann Heinrich Heidegger, 9. November 1675, ZBZ: D 181, Bl. 159f. 123 Vgl. Márton Szilágyi Tönkő an Johann Heinrich Heidegger, 20. November 1675, ZBZ: B 9, Nr. 69.

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drucken zu lassen sei, in Zürich, Basel, Genf oder Heidelberg.124 Tatsächlich ließen es nicht nur die politischen Unruhen in Debrecen,125 sondern auch die damaligen theologischen Auseinandersetzungen in Debrecen kaum zu, dass eine „cartesianische“ Philosophie, „ad usum Scholarum praesertim Debrecinae applicata“, gedruckt wurde.126 Erst zwei Jahre später schickte Szilágyi Tönkő seine Philosophia an Heidegger und bat um Rat für die Drucklegung der Schrift.127 Sie erschien schließlich im folgenden Jahr in Heidelberg. Der Hintergrund dafür, dass die Schrift zumindest nicht in Zürich erscheinen konnte, liegt auf der Hand. Es ist ja aus Heideggers Grundtliche und wahrhaffte Histori Etlicher unglükseliger Streitigkeiten und Zweyspaltungen bekannt, dass Szilágyi Tönkős Schrift zwischen Müller und Heidegger zu weiteren Auseinandersetzungen geführt hat.128 Müller hatte nämlich im Nachklang der Formula consensus (1675) sogar ein Verbot von Coccejus und Descartes verlangt, womit er aber beim Zürcher Rat nicht durchkam.129 Als er schließlich die Schrift Szilágyi Tönkős gelesen hatte, verfasste er sogenannte Errores observati in Phil. Szilvasum, womit Márton Szilágyi Tönkő gemeint war. In diesen Errores wurden verschiedene „cartesianische“ Aussagen aus der Schrift von Szilágyi Tönkő widerlegt.130 Dennoch hat langfristig, sei es in Zürich oder Basel, in Debrecen oder in Nagyenyed, der Coccejanismus, in Verbindung mit der cartesianischen Methode, den Sieg davon getragen.

124 Vgl. Tamás Veresegyházi an Johann Heinrich Heidegger, 25. November 1675, ZBZ: D 181, Bl. 129r. 125 Szilágyi Tönkő berichtete darüber, dass auch in Debrecen kaiserliche Soldaten Leute in die Verbannung geführt, ausgeraubt und die Prediger bedroht hätten; er selbst sei durch militärische Gewalt seiner öffentlichen Ämter enthoben worden; vgl. Schaffert: Heidegger (wie Anm. 1), S. 11. 126 Bei den Debreciner Drucken jener Jahre handelte es sich vor allem um Schriften von Szilágyi Tönkős Kontrahenten György Martonfalvi Tóth sowie von ihm theologisch nahe stehenden Gelehrten. Besonders hinzuweisen ist dabei auf die bereits erwähnte Schrift Orthodoxa diatribe (Debrecen 1673) von Martonfalvi Tóth, in der er die coccejanischen Ideen aufs schärfste verurteilte und von den ungarischen Peregrinanten das Versprechen verlangte, sich von den Neuerungen fernzuhalten; vgl. Bozzay: Einfluss (wie Anm. 13), S. 226. 127 Vgl. Márton Szilágyi Tönkő an Johann Heinrich Heidegger, 10. Juni 1677, ZBZ: B 9, Nr. 102. 128 Vgl. Heidegger: Grundtliche und wahrhaffte Histori (wie Anm. 48), Bl. 81r–91v. 129 Vgl. Leu: Häresie (wie Anm. 47), Bl. 27. 130 Vgl. Errores observati in Phil. Szilvasium, o. J. [1677/78], ZBZ: L 408, Bl. 551–553. Der ganze Band enthält theologische Streitigkeiten unter den Geistlichen Zürichs aus dem 17. Jahrhundert; darin finden sich auch andere kritische Abhandlungen und Dokumente zum Coccejanismus bzw. zum Cartesianismus. Vgl. auch Béla Tóth: Szilágyi Tönkő Márton „Philosophiá“-ja megjelenésének körülményei [Die Umstände des Druckes der „Philosophia“ von Márton Szilágyi Tönkő]. In: Magyar Kőnyvszemle 93 (1977), S. 317 ff.

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3.2. Kommunikationsgeschichtliche Erkenntnisse Der grundlegende Blick auf die Studien der ungarischen Studenten der 70er Jahre des 17. Jahrhunderts in der Schweiz belegt, dass dieselben sich während ihrer Studienzeit mit der Föderaltheologie, in Teilen auch mit der cartesianischen Methode, auseinandergesetzt haben und dadurch maßgeblich geprägt waren. Ihre Studien haben sie vor allem bei wichtigen Vertretern der Formula consensus absolviert, welche zwar eine antisaumurische Theologie vertraten, Neuerungen wie Coccejanismus und Cartesjanismus aber grundsätzlich offen gegenüberstanden. Dies gilt für die bereits facettenreich dargestellten Theologen Heidegger und Gernler, bei denen die Ungarn über die Confesssio Helvetica posterior disputiert hatten, aber nicht weniger für Johann Jakob Buxtorf, Johann Jakob Hofmann, Johannes Zwinger, Johannes Lavater oder Johann Jakob Hottinger d. Ä., mit dem insbesondere János Horváti Békés in regelmäßigem Kontakt gestanden hat.131 Damit ist eine interessante Verschiebung in der Theologie der ungarischen Studenten des Partium und Siebenbürgens festzustellen. Die ehemaligen Studenten von György Martonfalvi Tóth, der sich energisch gegen den Coccejanismus gestellt hatte, haben sich während ihrer Studien in Holland immer mehr dem Coccejanismus zugewandt. Schließlich haben sie ihre Studien in der Schweiz bei Vertretern der „coccejanischen“ Orthodoxie abgeschlossen, sich also von ihrem Lehrer definitiv abgewandt. Sie haben damit den gleichen Weg wie in den 60er Jahren bereits Márton Szilágyi Tönkő beschritten, und viele andere, die die schweizerischen Akademien nicht besucht haben, taten ihnen gleich.132 Dasselbe Bild begegnet uns, wenn man die Studien der ehemaligen Schüler des Kollegiums in Nagyenyed systematisch untersucht. Horváti Békés ist nur ein bezeichnendes Beispiel für diese Entwicklung. Diese theologische Ausrichtung der untersuchten Studenten bestätigt sich, wenn wir einen Blick auf die erhaltenen Verzeichnisse der Bibliotheken von Tamás Veresegyházi und János Horváti Békés werfen. Sowohl eine Testamentsverfügung von Veresegyházi, in der er 1716 Bücher an Mihály Gyöngyösi Jó vermachte, als auch das von István Kocsi Csergő im Jahre 1718 erstellte Bibliotheksverzeichnis der Bücher von Veresegyházi zeigen, dass Veresegyházis Bibliothek einerseits viele Bücher von „Neuerern“, darunter insbesondere Föderaltheologen, umfasste, andererseits der – für die Föderaltheologie typische – Akzent auf exegetischen und philologischen Schriften zum Alten Testament lag. Es finden sich zahl131 Hottinger und Horváti Békés pflegten nicht nur eine regelmäßige Korrespondenz, sondern disputierten auch beide bei Gernler. Für die Disputation von Hottinger verfasste Horváti Békés einen poetischen Applaus; vgl. ders.: Cum genus humanum mortis proprosa fatigat [...]. In: Johann Jakob Hottinger: Disputationum exegeticarum in confessionem Helveticam octava: In qua Ad Cap. II. § I. De vera et legitima ratione interpretandae Scripturae Sacrae [...]. Basel 1674, fol. C4v; vgl. Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 62, 64–66. 132 Béla Levente Baráth konnte nachweisen, dass rund 40 % der ehemaligen Schüler Martonfalvi Tóths in Holland bei Föderaltheologen (Johannes Coccejus, Frans Burman, Christopher Wittichius, Jan van der Waeyen) disputiert haben; vgl. Baráth: Adattár (wie Anm. 17), S. 94–99.

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reiche Schriften von Johannes Buxtorf, Johannes Coccejus, Johannes Le Clerc, Johannes Clauberg, René Descartes, Johann Heinrich Heidegger, Hugo Grotius, Samuel Pufendorf usw.133 Auch ein Buchverzeichnis, das János Horváti Békés in Utrecht um den 22. Juni 1671 herum nach Anschaffung mehrerer Bücher verfasst hatte, gibt ein ähnliches Bild ab. Neben mehreren Werken der Hebraistik (Buxtorf, Leusden, Alting) finden sich vor allem Werke der Föderaltheologie wie Coccejus’ Summa doctrinae de foedere et testamento Dei (1648; weitere Auflagen) oder Burmans Synopsis Theologiae et speciatim foederum Dei (1671). Bemerkenswert ist zudem, dass Horváti Békés auch zwei Werke von Andreas Essenius, dem Gegner von Coccejus und Burman, anschaffte,134 sich offenbar also am Anfang seiner Studien noch mit den verschiedenen „Richtungen“ befassen wollte. Weiter lässt sich erkennen, dass in diesen Jahren – aus schweizerischer Sicht betrachtet – Johann Heinrich Heidegger die „Hauptzentrale“ des Wissensaustausches der Nachrichten war, die Ungarn und Siebenbürgen betrafen. So hat Heidegger zwischen 1673 und 1682 mit über dreißig Ungarn briefliche Korrespondenz gepflegt. Von dieser beachtlichen Anzahl waren nur deren sechs ehemalige Galeerensträflinge, alle andern haben sich von verschiedenen Universitäten der Schweiz, Deutschlands und Holland sowie aus Ungarn und Siebenbürgen aus freien Stücken an Heidegger gewandt.135 Natürlich hat er auch Schriften der Ungarn gesammelt, von denen später ein Teil in die Bibliothek von Johann Caspar Hagenbuch kam. Darunter finden sich bespielsweise Horváti Békés’ und Veresegyházis Disputationen über die Confessio Helvetica posterior, des letzteren Dissertation De providentia oder István Gyöngyösis ‫ פירוש‬sive Exegesis quinquaginta Psalmorum Davidis (Zürich 1677).136 Umgekehrt wissen wir, dass Heidegger seinen ungarischen Studenten auch Werke geschenkt hat.137 Heidegger war aber nicht nur eine theologische Autorität für die Ungarn, sondern auch Vermittlungsstelle für Stipendien und Empfehlungsschreiben

133 Vgl. Partiumi könyvésházak 1623–1730 (Sárospatak, Debrecen, Szatmár, Nagybánya, Zilah) [Hausbibliotheken des Partium 1623–1730 (Sárospatak, Debrecen, Szatmár, Nagybánya, Zilah)]. Hg. von Csaba Fekete u. a. Budapest und Szeged 1988 (Adattár XVI–XVIII. századi szellemi mozgalmaink történetéhez, Bd. 14), S. 283–289, 323f. 134 Es handelt sich einerseits um dessen Systema Theologicae Dogmaticae, andererseits um dessen Compendium Theologiae dogmaticae. Vgl. János Horváti Békés: „Emi istis diebus libros“, o. J. [20.–24. Juni 1671], UBB: H V 74, Bl. 14r–v; gedruckt in: Horváti Békés diáknaplója (wie Anm. 35), S. 36f. 135 Vgl. die Korrespondenz von Johann Heinrich Heidegger, ZBZ: B 9, D 181. 136 Vgl. Bibliotheca Hagenbuchii, ZBZ: C 361, Bl. 43r, 45v, 95r, 121v. 137 In einem älteren Register der Bücher des ehemaligen reformierten Kollegiums von Klausenburg, zusammengestellt von Zsigmond Pál Jakó († 2008), wird erwähnt, dass Johann Heinrich Heidegger János Kállai Kopis ein Werk geschenkt habe: „Joh. Kopis Kállai ex donatione Cl. Joh. Henr. Hejdegeri Theologi Tigurini“, A Kolosvári nemes Reformatum Collegium Bibliothecajának possessorai, EREL: Sammlung Zsigmond Jakó (ohne Signatur), 3. Heft, S. 37; leider konnte das Werk aber in der akademischen Bibliothek in Klausenburg heute nicht mehr gefunden werden.

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sowie Anlaufstelle bei materieller Bedrängnis138 – mit ein wichtiger Grund, warum die Galeerensträflinge sich an ihn gewandt haben. Es ist in diesem Zusammenhang tatsächlich bemerkenswert, dass die Ungarn in Zürich vor allem mit Heidegger, hingegen mit Müller keinen bzw. kaum persönlichen Kontakt gepflegt haben. Abgesehen davon, dass der Kreis um Hottinger, Schweizer und Lavater Müller und seinen Anhängern weit überlegen war, haben sich die Ungarn auch theologisch Heidegger mehr verbunden gefühlt. Der Bericht von János Kállai Kopis, den er wohl Anfang 1674 an den Zürcher Rat gesandt hat, endet mit einer interessanten Formulierung. Kállai Kopis gibt seiner Hoffnung Ausdruck, „ut Vobis clavum Florentissae hujusce Reip. felicissime tenentibus, simplex & orthodoxa veritas in sua patria Tiguro invicta perennet“.139 Natürlich meinte Kállai Kopis mit der „einfachen und orthodoxen Wahrheit“ die Confessio Helvetica posterior, die auf der Synode zu Debrecen (1567) offizielles Bekenntnis der Reformierten Ungarns geworden ist. Dies hielt Tamás Veresegyházi auf der Kehrseite des Titelblattes seiner Disputation De praedestinatione Dei, et electione sanctorum explizit fest: „In Mscriptis HENRICI BULLINGERI, Summi Theologi, Antistitis Ecclesiae Tigurinae, ZUINGLII, Primi Reformatoris, Successioris, in Praefatione Confessionis Helveticae haec leguntur: Omnes Ecclesia Ministri (sunt verba Synodi Generalis, Ministrorum Ecclesiarum Hungariae) qui in conventu Sancto ad 24. Febr. Anno Domini 1567. Debrecinum convocato, cis & ultra Tibiscum, inter reliquas Confessiones recepimus, & subscripsimus Helveticae Confessioni, Anno 1566, edita, cui & Ecclesia Genevensis Ministri subscripserunt“.140 Die ungarischen Reformierten waren sich also der theologischen und geistigen Verbundenheit mit der reformierten Schweiz im Allgemeinen und mit Zürich im Besonderen stets bewusst, obschon Zürich mitnichten ein bevorzugtes Peregrinationsziel war. Glänzendes Zeugnis dieser Verbundenheit ist gerade die Korrespondenz von Johann Heinrich Heidegger mit zahlreichen Ungarn. Die „orthodoxe Wahrheit“, wie sie von den „Vätern“ der Formula consensus vertreten wurde, haben die ungarischen Studenten in der Schweiz gesucht. Die Auseinandersetzungen wegen der Föderaltheologie, die die Ungarn im Vorfeld der Abfassung der Formula consensus in Zürich und Basel angetroffen haben, waren ihnen bereits vertraut, da auch im Partium und in Siebenbürgen um die „orthodoxe“ Interpretation der Confessio Helvetica posterior gerungen wurde. Dabei muss betont werden, dass während der „Trauerdekade“ in der Schweiz von den Ungarn Basel und Zürich bevorzugt wurden,141 während Bern und 138 Vgl. Schaffert: Heidegger (wie Anm. 1), S. 11f. 139 Vgl. János Kállai Kopis an den Rat von Zürich, o. J. [1673/1674], ZBZ: D 182, Bl. 479r. 140 Veresegyházi: De praedestinatione dei [...] I (wie Anm. 6), fol. A1v. Der Text ist korrekt zitiert aus dem 74. Artikel der von Péter Juhász Melius im Anschluss an die Synode von Debrecen verfassten Articuli ex verbo Dei et lege naturae compositi (Debrecen 1567, fol. H4v). 141 In Basel sind von 1671–1681 acht Ungarn bekannt, in Zürich deren neun. Vgl. Hegyi: Diákok (wie Anm. 12), S. 49f., 92; Szabó und Tonk: Erdélyiek (wie Anm. 15), S. 198; Pápai Páriz Ferenc: Békességet magamnak, másoknak [Ferenc Pápai Páriz: Friede für mich, für die anderen]. Hg. von Géza Nagy. Bukarest 1977, S. 408.

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Genf nicht besonders gefragt waren. Allerdings haben wir von Bern aus dieser Zeit keine Angaben. Die Akademie in Genf hingegen wurde, soweit wir wissen, kaum von ungarischen Studenten aufgesucht. Zwar hatte Horváti Békés ursprünglich vor, von Bern weiter nach Genf zu ziehen, doch abgesehen von ihm hat in den betreffenden Jahren einzig noch István Gyöngyösi in Genf studiert.142 Nach seinen Studien bei Heidegger in Zürich143 zog er nach Genf und disputierte je einmal bei Luis Tronchin, Philipp Mestrezat und François Turrettini.144 Während Tronchin und Mestrezat saumurische Theologen waren, vertrat Turrettini eine „orthodoxe“ Linie und trat für die antisaumurische Formula consensus ein, konnte sich aber nicht durchsetzen, so dass die Formula in Genf erst 1679 rezipiert wurde.145 Da die Ungarn in ihrer Mehrheit eine antisaumurische Haltung vertraten, war also Genf in diesen Jahren für die Ungarn kein bevorzugter Studienort, gleichfalls disputierten sie nicht bei den „Generalisten“ Johannes Müller, Johann Rudolph Wettstein oder – in Bern – bei Johannes Niklaus.

4. Ertrag und Ausblick Ungarische Studenten haben während der „Trauerdekade“ in Zürich und Basel ihre Studien absolviert. Das Besondere dabei ist, dass drei derselben – Tamás Veresegyházi, János Horváti Békés und János Kállai Kopis – unter anderem über die Confessio Helvetica posterior disputiert haben. In diesem Zusammenhang ist in der Forschung mehrfach die Äußerung gefallen, dass die Beschäftigung mit dem Helvetischen Bekenntnis gerade im Zeitalter der „Trauerdekade“ in den reformierten Kirchen Ungarns und Siebenbürgens identitätsstiftend gewirkt habe und darum die ungarischen Studenten über das Bekenntnis disputiert hätten. Die Untersuchung der genannten Disputationes, der Personenkontakte, des Wissensaustausches und der Hintergründe der Disputationen offenbart allerdings ein differenzierteres Bild. In Basel haben Horváti Békés und Kállai Kopis über die Confessio disputiert, weil Gernler dies im Rahmen seines Unterrichtes vorsah und er selbst sich im Vorfeld der Abfassung der Formula consensus intensiver mit der Confessio beschäftigt hat. Eine intensivere Beschäftigung mit der Confessio wegen der „Trauerdekade“ ließ sich bei den Ungarn aber nicht feststellen. Hat doch Kállai Kopis seine erste theologische Disputation bei 142 Vgl. Hegyi: Diákok (wie Anm. 12), S. 80. 143 Vgl. István Gyöngyösi: Disputationis theologicae pars prior: De clavibus regni Dei [...]. Zürich 1676. 144 Vgl. István Gyöngyösi: Disputatio de authoritate scripturae sacrae [...]. Genf 1677; ders.: Disputatio theologica De perfectione scripturae sacrae [...]. Genf 1677; ders.: Disputationis theologicae pars posterior: De clavibus regni Dei [...]. Genf 1677. 145 Vgl. Koch: Zeitalter (wie Anm. 76), S. 126; Pfister: Kirchengeschichte (wie Anm. 76), S. 496; Geiger: Kirche (wie Anm. 72), S. 129.

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Gernler De haereditate ecclesiae gehalten. Auch bei Veresegyházi lässt sich die Ansicht, dass er wegen der „Trauerdekade“ über die Confessio disputiert habe, nicht erhärten. Vielmehr lag sein theologisches Interesse im Locus der Providenz- und Prädestinationslehre, weswegen er auch in diesem Bereich in Basel bei Zwinger promovierte. Diese Thematik hat, wie dargelegt, den Widerspruch von Müller provoziert. Dieser Widerspruch zeigt auf, warum sich die ungarischen Studenten – unter anderem – mit der Confessio beschäftigt haben. Es war die Frage, wie die Confessio zu verstehen sei, nämlich supralapsarisch oder infralapsarisch, coccejanisch oder anticoccejanisch. Ein Blick auf die ungarisch-schweizerische Korrespondenz führt zur gleichen Erkenntnis, nämlich dass der theologische Wissensaustausch die Korrespondenz beherrschte und nicht die Berichterstattung über die Verfolgungen während der „Trauerdekade“. Die Untersuchung und Kontextualisierung der Disputationen illustriert, dass die genannten ungarischen Studenten die Confessio Helvetica posterior in föderaltheologischem Sinne verstanden haben und darum Heidegger – in geringerem Masse Gernler – eine ausnehmende Bedeutung für die Ungarn einnahm. Heideggers Schlüsselstellung betraf also keineswegs nur seinen Einsatz für die ungarischen Galeerensträflinge, sondern in nicht geringerem Maße seine theologische Ausrichtung, die sich am prägnantesten in der Formula consensus ausgedrückt hat, in der er sich erfolgreich gegen die „Generalisten“ durchgesetzt hatte und deswegen anticoccejanische sowie anticartesianische Formulierungen in der Formula keinen Eingang gefunden haben. Die Formula consensus, die als eine Erklärung der Confessio Helvetica posterior verstanden wurde, erlangte einzig in der Schweiz – und auch hier nur vorübergehend – Geltung. Dennoch war in Ungarn das „orthodoxe“ Verständnis der Confessio, obwohl die Formula nie amtlich rezipiert wurde, ganz im Sinne der Formula, und dies nicht nur vorübergehend. Im Jahre 1679 erschien die erste siebenbürgische Ausgabe der Confessio, die nach dem Muster der Sárospataker Ausgabe von 1654 gedruckt worden ist. Auf dem Titelblatt wird festgehalten, dass das Bekenntnis „jetzt neu für die siebenbürgischen orthodoxen Kirchen“ herausgegeben worden sei.146 Das Bekenntnis übernahm die Funktion, die in der Schweiz die Formula consensus übernommen hatte. Beide Bekenntnisse sollten ein wirksames Mittel gegen die theologischen „Neuerungen“ im aufkommenden Zeitalter der Aufklärung sein. Eindrückliches Zeugnis dessen ist die Tatsache, dass 1742 in Klausenburg eine weitere ungarische Ausgabe der Confessio Helvetica Posterior, ergänzt durch den lateinischen Text der Formula consensus, erschien. Nur drei Jahre später wird in der Dissertatio historico-ecclesiastica de libris reformatae Ecclesiae symbolicis (Klausenburg 1745),147 die József Sebes Zilahi und Márton B. Onadi am 13. September 1745 am Kollegium von Nagyenyed unter dem Vorsitz des Enyeder Professors Zsigmond Borosnyai Nagy hielten, im 18. Abschnitt darauf hingewiesen, dass der siebenbürgische Bischof József Deáki Filep 146 Vgl. [Heinrich Bullinger]: Confessio et Expositio Fidei Christianae, Az az: Az Keresztyeni Igaz Hitről való Vallás-tétel [...]. Klausenburg 1679, fol. Ar. 147 Vgl. Bernhard: Funktion (wie Anm. 29), S. 828f.

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(1681–1748) in der Klausenburger Ausgabe von 1742 mit Recht auch die Formula consensus (1675) beigefügt habe, da die älteren Bekenntnisse „inlustrari ac augeri possunt“.148 Obwohl die Formula consensus nur in der Schweiz Geltung hatte und in Ungarn bzw. Siebenbürgen nie amtlich rezipiert wurde, wird abschließend in der zehnten These der Theses defendentium festgehalten: „Libros Ecclesiae Refor. Symbolicos, v. l. Augustanam variatam, Helveticam, Confessiones, Catechismum Palatinum, Judicium Synodi Dordracensis, atque Formulam Consensus Eccl. Ref. Helveticarum recipimus, retinemus et defendimus; Scientes nihil in iis contineri, quod non sit conforme Verbo DEI.“149 Damit wird belegt, dass auch in Siebenbürgen die Formula consensus am reformierten Bethlen-Kollegium in Nagyenyed als die autorisierte Interpretation des Zweiten Helvetischen Bekenntnisses verstanden wurde. Es ist daher nicht verwunderlich, dass seit Mitte der 60er Jahre des 18. Jahrhunderts sowohl im Hauptkonsistorium als auch in der Synode Siebenbürgens die Einrichtung, über einzelne Abschnitte der Confessio Helvetica posterior zu predigen, institutionalisiert wurde.150 Mit Recht kann man darum sagen, dass im ganzen 17. und 18. Jahrhundert in der siebenbürgischen Theologiegeschichte die Confessio Helvetica posterior Grundlage aller theologischen und dogmatischen Auseinandersetzungen und Entwicklungen bildete. Abkürzungen: EREL Erdélyi református egyházkerület Levéltára [Archiv des reformierten Kirchendistriktes Siebenbürgen], Klausenburg MTA Magyar Tudományos Akadémia [Ungarische Akademie der Wissenschaften], Budapest StAZ Staatsarchiv Zürich, Zürich TtREL A Tiszántúli Református Egyházkerület Levéltára [Archiv des reformierten Kirchendistriktes Jenseits-der-Theiss], Debrecen UBB Universitätsbibliothek Basel, Basel ZBZ Zentralbibliothek Zürich, Zürich

148 Vgl. Josephus S. Zilahi und Martinus B. Onadi: Dissertatio historico-ecclesiastica de libris reformatae Ecclesiae symbolicis [...] praeside Sigismundo N. Borosnyai [...]. Klausenburg 1745, S. 36. 149 Zilahi und Onadi: Dissertatio (wie Anm. 148), S. 40. 150 Vgl. Bernhard: Funktion (wie Anm. 29), S. 830ff.; Juhász: Hitvallás (wie Anm. 28), S. 96ff.

Michael Philipp (Augsburg)

Gescheiterte ratio status Wilhelm von Schröters Dissertatio academica von 1663

Die Pluralisierung von Wissen ist jüngst zum Paradigma der Frühneuzeitforschung erhoben worden. Demnach eröffne die Dialektik von Pluralisierung und Autorität, die einhergehe mit der Infragestellung von Traditionen und einer Konkurrenz der Verfechter von Wissen, der Institutionen und Entscheidungsträger, einen neuen Blick auf die Geschichte dieser Epoche.1 Nimmt man die schon ältere These hinzu, dass Wissen bzw. „Denkstile“ stets nur in sozialen Netzwerken oder „Denkkollektiven“ entstehen und wirksam werden (L. Fleck),2 kann man die akademische Disputation als ein zentrales Medium erachten, das diesen Zusammen­hang von Pluralisierung und sozialer Gebundenheit von Wissen in besonderem Maß zum Ausdruck bringt. Im Rahmen solcher Veranstaltungen wurde nämlich Wissen öffentlich ‚verhandelt‘ und auf seine Konsensfähigkeit im Rahmen politischsozialer Kontexte hin erprobt. Verknüpft war damit zudem die Absicht der ‚Autoren‘, aus ihrer Präsentation von Wissen ‚Kapital‘ zu schlagen, ging es doch maßgeblich auch darum, sich die Unterstützung und Patronage wichtiger Förderer zu sichern. Dass dies im Rahmen einer pluralisierten Wissenskultur trotz aller Bemühungen um Konsenswahrung auch scheitern konnte, soll hier am Beispiel der Dissertatio academica des später als Kameralist in kaiserlichen Diensten bekannt gewordenen Wilhelm von Schröter (Schröder) aufgezeigt werden.3 Schröters Abhandlung, die in drei Teilen die Staatsräson, den Adel und den Ersten Minister behandelt, weist eine Reihe von Besonderheiten auf, die interessante Einblicke in 1 Die zahlreichen Erträge des DFG-Sonderforschungsbereichs 573 „Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit“ sind greifbar unter: http://www.sfb-frueheneuzeit.uni-muenchen.de/. 2 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935]. Frankfurt am Main 1980. 3 Vgl. zur Biographie ADB 32 (1891), S. 530ff.; NDB 23 (2007), S. 577f. (teilweise fehlerhafte Angaben). Zum Kameralisten Schröter vgl. Fritz Blaich: Die Epoche des Merkantilismus. Wiesbaden 1967, S. 67ff.; Wolf-Hagen Krauth: Gemeinwohl als Interesse. Die Konstruktion einer territorialen Ökonomie am Beginn der Neuzeit. In: Gemeinwohl und Gemeinsinn. Hg. von Herfried Münkler. Berlin 2001, S. 191–212; Luise Sommer: Die österreichischen Kameralisten in dogmengeschichtlicher Darstellung [1920/25]. Aalen 1967, Teil 2, S. 79–123, bes. S. 79ff.; Heinrich Ritter v. Srbik: Wilhelm von Schröder. Ein Beitrag zur Geschichte der Staatswissenschaften. Wien 1910; Kurt Zielenziger: Die alten deutschen Kameralisten. Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie und zum Problem des Merkantilismus [1914]. Frankfurt am Main 1966, S. 295–334.

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Abb. 1: Titelblatt der Dissertatio academica Schröters, Exemplar der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha, Phil 2° 00269 (33)

das politische Denken und die Wissenskultur des 17. Jahrhunderts offerieren. Um diese deutlicher hervortreten zu lassen, soll zunächst der Blick auf das Disputationswesen im Allgemeinen gelenkt werden; dabei ist auch auf andere Politikdisputationen einzugehen, bei denen ähnliche Komplikationen aufgetreten oder die thematisch mit der Schröters vergleichbar sind, und allgemein das Bild der älteren Forschung von der Disputatio bzw. der sog. Alten Dissertation neu zu konturieren. Nach kurzen biographischen Notizen ist in einem weiteren Teil auf die Thesen Schröters einzugehen, insbesondere auf jene zur Staatsräson, und auf die kontroversen Reaktionen, welche er damit hervorrief. Der abschließende Teil resümiert die Besonderheiten dieses Falles sowie Formen und spezifische Grenzen der Pluralisierung von Wissen, wie sie in Disputationen zum Ausdruck kommen.

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Michael Philipp

Politikdisputation und akademische Wissenskultur Drei Komplexe sind zu betrachten, um typische Momente des Disputationswesens fassen zu können. Dazu zählt erstens das personelle Geflecht aus Akteuren, welche unmittelbar und mittelbar in eine Disputation eingebunden waren. Hier sticht zunächst das Verhältnis zwischen Präses und Respondent heraus, dem im Normalfall eine Lehrer-Schüler-Beziehung zugrunde lag; im Rahmen der Disputation traten diese als Verfasserteam auf und waren mit unterschiedlichen Anteilen für den Inhalt verantwortlich.4 Sodann gehören zu den Akteuren die (namentlich zumeist nicht bekannten) Opponenten und das Auditorium, aber auch Gratulanten, welche dem Druck lobende Verse auf den Respondenten (oder auch Defendenten) beigesteuert und ihm damit den Rücken gestärkt haben. Indirekt beteiligt, aber nicht minder wichtig waren die Widmungsadressaten: Mit der Benennung hochrangiger Persönlichkeiten als Förderer suchte der Vortragende soziales oder auch akademisches Prestige zu reklamieren und dieses seinem Auditorium gegenüber unter Beweis zu stellen. Über die Widmungsadressen lassen sich Hinweise ermitteln auf den sozialen Status des Respondenten, auf seine bisherigen Mäzene und die Patrone, welche seinen weiteren Karriereambitionen dienlich sein sollten.5 Den zweiten Fokus bilden die Veranstaltungsform und der Inhalt des Vorgetragenen. Die Disputation war das „Standardverfahren, tradierte Wahrheiten sozial geordnet zu verhandeln und so zu reproduzieren“,6 wobei Wahrheit – der Begriff veritas ist Dreh- und Angelpunkt der zeitgenössischen methodischen Literatur zur Disputation7 – genau genommen den „zu erstellenden oder wiederherzustellenden Konsens einer Gruppe“ meint. Es ging also um die Einübung, Vermittlung und Vertiefung anerkannter und konsensfähiger Wissensbestände. Die Disputation war eine „Bühne, auf der Positionen vorgestellt und bestritten, abgesteckt und behandelt“ wurden.8 Sie konnte dabei auch zum 4 Zur Frage der Autorschaft bei älteren Dissertationen vgl. nun Hanspeter Marti: Von der Präses- zur Respondentendissertation. Die Autorschaftsfrage am Beispiel einer frühneuzeitlichen Literaturgattung. In: Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert. Hg. von Rainer Christoph Schwinges. Basel 2007, S. 251–274. 5 Vgl. Michael Philipp: Politica und Patronage. Zur Funktion von Widmungsadressen bei politischen Dissertationen des 17. Jahrhunderts. In: Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Hg. von Marion Gindhart und Ursula Kundert. Berlin / New York 2010, S. 231–268. 6 Martin Gierl: Korrespondenzen, Disputationen, Zeitschriften. Wissensorganisation und die Entwicklung der gelehrten Medienrepublik zwischen 1670 und 1730. In: Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Hg. von Richard van Dülmen u. a. Köln u. a. 2004, S. 417–438, hier S. 421. 7 Vgl. Donald Felipe: Ways of disputing and principia in 17th century German disputation handbooks. In: Gindhart / Kundert (wie Anm. 5), S. 33–61 (auch mit Hinweisen zur älteren Literatur); für den skandinavischen Raum vgl. Otto Brusiin: Zur Idee der Disputation. In: Studia philosophica in Honorem Sven Krohn. Hg. von Timo Airaksinen und Risto Hilpinen. Turku 1973, S. 37–44. 8 Gierl (wie Anm. 6), S. 425, 421.

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Forum werden, auf dem kontroverse oder alternative Ideen, ‚neues‘ Wissen oder zumindest neue Perspektiven auf bekannte Themen zur Debatte gestellt und auf ihre Akzeptanz in einem bestimmten gelehrten Milieu und konfessionell-politischen Umfeld hin getestet werden konnten. Dass ein solcher Test negativ ausfallen und der Wissenstransfer aufgrund heftigen Widerstandes scheitern konnte, wird sich an unserem Beispiel zeigen. Ein Beispiel für den Import und die gelungene Präsentation neuen Wissens ist die Disputation über die Staatsräson des Juristen Cyriacus Herdesianus (1580–1631) aus dem Jahr 1615.9 Es handelt sich dabei um die erste in Deutschland erschienene Disputation überhaupt zu diesem Thema, das das ganze 17. Jahrhundert über kontrovers debattiert worden ist.10 Erworben hatte sich der Verfasser dieses Wissen zusammen mit seinem Mitreisenden, dem Nördlinger Patrizier Christoph Röttinger, auf ihrer gemeinsamen Bildungsreise „per Germ. Belg. Angl. Gall. Ital. Hisp.“ Dies gibt die dedicatio seiner Positiones politicae-historicae zur Staatsräson zu erkennen, die er denn auch Röttinger gewidmet hat. Nach Herdesianus stellte die ratio status einen wichtigen Teilaspekt der von Tacitus entdeckten „Arcana Imperii“ dar. Italiener und Spanier würden sie „Ragione di Stato“ bzw. „Racon del estado“ nennen, die Deutschen verwendeten dafür „Prudentia regnativa“ oder „ius dominandi particulare“. Damit sei, so der Verfasser, nichts anderes gemeint als die 9 Cyriacus Herdesianus (Präs.) / Abraham Ulrich (Resp.): De prudentia regnandi particulari, seu De ratione status Positiones politicae-historiae. Zerbst 1615. Herdesianus wirkte nach langjähriger Bildungsreise ab etwa 1614 als Professor am Gymnasium in Zerbst; die Disputation hat er von einem Schüler vortragen lassen. 1618 erhielt er einen Ruf an die Universität Frankfurt/Oder; dort stieg er 1621 vom Geschichts- zum Rechtsprofessor auf. Seine Gymnasialdisputation belegt, dass Staatsräson und Arcana politica bereits im frühen 16. Jahrhundert gängiger Unterrichtsstoff gewesen sind. Knapp ein Jahrzehnt später publizierte im Übrigen ein Schüler des Herdesianus, der Jurist, spätere Anhaltinische Rat und Gesandte Martin Milag (1598–1675), einen Discursus politicus De ratione status seu regnativa prudentia (Zerbst 1624). 10 Der Forschung ist sie bislang unbekannt. Vgl. die Zusammenstellung von Staatsräson-Dissertationen bei Michael Stolleis: Friedrich Meineckes „Die Idee der Staatsräson“ und die neuere Forschung [1981]. In: ders.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt am Main 1990, S. 134–164, hier S. 155f. Die Liste, die sowohl akademische Reden, eigenständige Abhandlungen (Dissertationen) sowie Disputationen enthält, ließe sich freilich beliebig verlängern. Vgl. etwa die zeitgenössische Spezialbibliographie Bibliotheca statistica (1701) des Caspar Thurmann. Hg. von Wolfgang E. J. Weber. München 2000. Dass auch diese Bibliographie nicht vollständig ist, belegt das Fehlen der Disputationen des Herdesianus und seines Schülers Milag wie auch der Oratio De ratione Status des dänischen Rittes Christian Urne, die dieser 1648 an der Straßburger Universität gehalten hat; des Weiteren fehlen verschiedene Politikdisputationen „De ratione status“ wie etwa – ich nenne nur solche, die auch in der Auflistung bei Stolleis nicht enthalten sind – die der Wittenberger Johann Ernst Hering (1668) und Christian Röhrensee (1691), des Rintelners Constantin Nusler (1684) und die drei des Königsbergers Sigismund Pichler (1641). Darüber hinaus war die ratio status freilich Thema in systematischen Abhandlungen zur Politik und zum Öffentlichen Recht, ja sogar Gegenstand von Dichtung und Theater in der Barockzeit.

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„notitia adquirendi, conservandi & ampliandi imperium“. Die Zerbster Disputation hat, obwohl sie erstmals eine konfliktträchtige Thematik präsentiert, insofern den Konsens getroffen, als Herdesianus die ratio status dem höherrangigen Ziel des Gemeinwohls verpflichtete.11 Sie belegt zudem (wie freilich viele weitere Disputationen ebenso), dass die Anregungen für die Präsentation ‚neuen‘ Wissens und dessen Transfer nicht selten aus der peregrinatio academica bezogen wurden. Der dritte Komplex betrifft das Verhältnis von Disputation und Öffentlichkeit. Zu Recht wurde die Disputation als „öffentlicher politischer Akt“ beschrieben,12 an dem (neben den eben genannten Akteuren) zum einen ein Auditorium partizipierte, das sich sowohl aus Professoren, Dozenten und Studenten wie auch aus Gästen aus dem In- und Ausland sowie aus Vertretern der Politik zusammensetzen konnte. Hinzu kommt eine erweiterte Öffentlichkeit, die auf Basis von Berichten zu Disputationsveranstaltungen, welche sich regelmäßig in Briefen der Gelehrtenwelt finden, sowie durch den Erwerb der Drucke – Disputationen waren ein beliebtes Sammelobjekt im Kommunikationssystem der Gelehrtenwelt – das Geschehen mit Interesse verfolgt hat.13 In welch starkem und 11 Herdesianus hat sich offenbar intensiv mit der zeitgenössischen italienischen Debatte zur ratio status vertraut gemacht; er zitiert beispielsweise neben dem ‚Klassiker‘, Giovanni Boteros Della ragion di Stato (Venedig 1589/1598; deutsch: Straßburg 1596), Scipione Ammiratos Discorsi sopra Cornelio Tacito (Florenz 1594), Giovan Antonio Palazzos Del governo e della ragion vera die Stato (Neapel 1604) und Pietro Andrea Canonieros Quaestiones ac discursus in duos primos libros Annalium C. Cornelii Taciti (Rom 1609). Von den beiden letzteren übernahm er die Ansicht, die Staatsräson sei „eine Abweichung von den geltenden Gesetzen im Hinblick auf […] das Gemeinwohl“ bzw. „eine notwendige Überschreitung des allgemeinen Rechts zugunsten des öffentlichen Nutzens“; vgl. Enzo Baldini / Anna Maria Battista: Staatsräson, Tacitismus, Machiavellismus, Utopie. In: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Band 1: Allgemeine Themen, Iberische Halbinsel, Italien. Hg. von JeanPierre Schobinger. Basel 1998 (Ueberweg IV: Philosophie des 17. Jahrhunderts), S. 545–616; Zitate ebd., S. 557. – Zur Staatsräsondebatte in Deutschland vgl. Horst Dreitzel: Politische Philosophie (Abschnitt: Neustoizismus, Tacitismus und Staatsräson). In: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Band 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa. Hg. von Helmuth Holzhey und Wilhelm Schmidt-Biggemann. Basel 2001 (Ueberweg IV: Philosophie des 17. Jahrhunderts), S. 694–714; Michael Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts [1980]. In: ders., 1990 (wie Anm. 10), S. 37–72. 12 Gierl (wie Anm. 6), S. 421. Ebd., weiter: „Disputation bildete Öffentlichkeit, und man konnte die Gelehrten mit ihr in die Öffentlichkeit ziehen.“ 13 Vgl. ebd., S. 420ff. Berichte über Disputationen und Hinweise zur gedruckten Disputation als Sammelobjekt durchziehen beispielsweise den gesamten Briefwechsel des Mediziners, Logikers und Mathematikers Joachim Jungius (1587–1657). Robert Christian B. Avé-Lallemant: Des Dr. Joachim Jungius aus Lübeck Briefwechsel mit seinen Schülern und Freunden. Ein Beitrag zur Kenntnis des großen Jungius und der wissenschaftlichen wie socialen Zustände des dreißigjährigen Krieges. Lübeck 1863. Und aus solchen Berichten, etwa einem Brief eines Johann Seldener an Jungius vom November 1640, geht auch hervor, dass bei Disputationen auch ein hochherrschaftliches Publikum zugegen war; hier waren es konkret Königsberger theologische Disputationen, bei denen der Sohn des Kurfürsten und andere vom Hofe sowie der Gesandte des polnischen Königs und viele der Gro-

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kritischem Maße beispielsweise das Auditorium an solchen Veranstaltungen Anteil nehmen konnte, zeigt sich am Fall des jungen Zürichers Johann Caspar Escher. Er hat 1697 in Utrecht unter Gerard de Vries eine Disputation über die libertas populi vorgetragen. Das Thema hatten die beiden Akteure abgesprochen, zwischen denen auch ein Lehrer-SchülerVerhältnis bestand. Mit einer These hat Escher allerdings heftige Reaktionen des Auditoriums provoziert, das in Utrecht traditionell aufgefordert war, sich neben den Opponenten an der Debatte zu beteiligen. Unter dem Eindruck dieser kritischen Einwände sah sich, wie aus autobiographischen Schilderungen hervorgeht, der überraschte Disputant denn auch genötigt, diese These zu revidieren.14 In nicht wenigen Fällen war eine solche akademische Veranstaltung also kein eingespieltes Ritual ohne wirkliche Diskussion, bei dem ein Respondent die mehr oder minder abgesprochenen Einwände der Opponenten parierte und dabei die Unterstützung ‚seines‘ Präses genoss.15 Der im Rahmen einer Disputatio inszenierte Dissens und die kontrollierßen Preußens anwesend gewesen seien. Auch im Briefwechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz stößt man auf solche Berichte; vgl. das Folgende. 14 Gerard de Vries (Präs.) / Johann Caspar Escher (Resp.): Exercitatio politica De libertate populi. Utrecht 1697. Während die (wie wohl nicht nur in Utrecht üblich) vom Autor benannten Opponenten, die Escher ihre Einwände vorab mitgeteilt hatten und denen der Autor wiederum „einige Antworten communicirt“ hatte, keine Schwierigkeiten bereiteten, ist der Respondent insbesondere mit der 16. These zur Religion und der Tolerierung Andersgläubiger während der Disputation dann auf den Widerspruch des Auditoriums gestoßen. Der Disputant hatte der Obrigkeit das Recht eingeräumt, in Fragen des Kultes reglementierend eingreifen zu dürfen, sobald ein Bekenntnis als konsensfähig fixiert worden sei. Wie aus den eigenen Erinnerungen überliefert, erregte insbesondere seine Argumentation, dass die Obrigkeit gegen Dissentierende vorgehen und diese des Landes verweisen dürfe, die Gemüter der Zuhörer, insbesondere der exilierten Hugenotten, die den Eindruck gewannen, der Züricher Student billige die französische Verfolgung. De Vries, der offenbar auch erst mit der Vorlage der Druckfassung am Tag der Disputation auf diese problematischen Sätze aufmerksam geworden war, unterstützte und bestärkte zwar seinen Schüler, doch half dies wenig. Escher, der aus dem Erfahrungshorizont seiner Zwinglischen Heimatstadt argumentiert hatte, zeigte sich peinlich berührt bzw. „sehr embarassirt“ und gab schließlich klein bei, indem er aus dieser Debatte die Konsequenz zog, den Gedanken der religiösen Toleranz höher zu veranschlagen als den der konfessionellen Einheit des Gemeinwesens. Vgl. zur Disputatio Eschers Carl Keller-Escher: Geschichte der Familie Escher vom Glas, 1320–1885, Teil 1: Geschichtliche Darstellung und biographische Schilderungen. Zürich 1885, S. 106f., sowie Thomas Maissen: ‚Par un pur motief de religion et en qualité de Republicain‘. Der außenpolitische Republikanismus der Niederlande und seine Aufnahme in der Eidgenossenschaft (ca. 1670–1710). In: Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts (Historische Zeitschrift, Beiheft 39). Hg. von Luise Schorn-Schütte. München 2004, S. 233–282, hier S. 270ff. 15 Vgl. Martin Mulsow: Der ausgescherte Opponent. Akademische Unfälle und Radikalisierung. In: ders.: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Stuttgart / Weimar 2007, S. 191–215. Disputationen seien zwar aufgrund von Vorzensur und des massiven Drucks der akademischen Gemeinschaft auf die Opponenten „allzu häufig bloße streng schematisierte Veranstaltungen“ mit vorhersehbarem Ausgang gewesen, aber eben „keineswegs immer.“ Anhand eigener Beispiele von – freilich seltenen – Fällen von

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te Kontroverse konnten gelegentlich sogar aus dem Ruder laufen, wenn einer der Beteiligten – etwa der Respondent oder auch einer der Opponenten – den Boden des Normenkonsenses verlassen hatte.16 Die Spannung zwischen (einem zu kontrollierenden) Dissens und (dem zu wahrenden) Konsens war zwar in der akademischen Disputatio traditionell angelegt, ging es doch schon bei den als Disputationen angelegten Religionsgesprächen des 16. Jahrhunderts um streitende ‚Wahrheitsfindung‘. Die eigentlichen Streitgegner, die Widersacher der eigenen ‚Wahrheit‘, sollten im Rahmen der akademischen Disputatio freilich nicht in den eigenen Reihen gesucht werden, schon gar nicht unter den daran Beteiligten. Vielmehr benannte man in den inhaltlichen Ausführungen oder sogar schon in einem Untertitel konsensfähige Antipoden bzw. Anti-Autoritäten, welche der Kritik auch deshalb unterzogen wurden, um damit den Konsens mit dem Plenum zu beschwören. Beliebte Anti-Autoritäten waren im Rahmen von Politikdisputationen Denker wie Machiavelli, Bodin, Hobbes oder die sogenannten Monarchomachen.17 Bedingt durch den Wandel der politischen Rahmenbedingungen – sei es in Gestalt eines neuen Regenten oder eines veränderten ‚interstaatlichen‘ Umfeldes, sei es in Form einer schleichenden Erosion geltender Wertvorstellungen oder eines Verfassungsumsturzes – mussDisputationsdrucken, die handschriftlich notiert die möglichen Einwände der Opponenten aufweisen, sowie der Arbeit von Kenneth Appold belegt Mulsow, dass Opponenten „gelegentlich tatsächlich auf fruchtbare Weise“ in die Thesendiskussion eingegriffen hätten, es „zu einem lebhaften Wortwechsel“ kommen konnte, der „abends in der Kneipe weitergeführt“ wurde und gar in Beleidigungen ausarten konnte. Ebd., S. 195ff. Vgl. Kenneth Appold: Orthodoxie als Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710. Tübingen 2004. 16 Vgl. Mulsow (wie Anm. 15), S. 193f. Mulsow analysiert die Disputation als Medium, um die fortschreitende Pluralisierung, die „Pluralität der Welten“ und „disparate Gemengelage von Weltbildangeboten“ ‚auszuhalten‘. Er fokussiert dazu die Rolle der Opponenten, die man als „institutionalisierten Dissens“ beschreiben könne. Die Auseinandersetzung mit ‚äußeren‘ Gegnern und ihren Weltbildern sollte der Sicherung des eigenen (aber nicht zwangsläufig statischen) Normenkonsenses dienen. 17 Vgl. (in chronologischer Folge): David Schmuck (Präs.) / Tobias Winckler (Resp.): Vindiciae monarchiae ultimae, sive Dissertatio politico-iuridica De soluta imperatoris potestate […] adversus Joann-Bodini aliorumque eius farinae scriptorum ineptias. Altdorf 1628; Albert Curtius (Präs.) / Georg Heinrich v. Werdenstein (Resp.): Antitheses politicae, quas adversus Nicolaum Machiavellum &c. propugnabat. Dillingen 1628; Daniel Berckringer (Präs.) / H. L. Wolff (Resp.): Disputatio politica De educatione et institutione principum […] cum corollariis anti-Machiavellicis. Utrecht 1641; Henning Huthmann (Präs.) / Ulrich Christian Piper (Resp.): Disputatio politica Contra art. IX. cap. I. elementorum philosophicorum de cive, a Thoma Hobbes Malmesburiensi Anglo conscriptorum. Kiel 1674; Valentin Alberti (Präs.) / Christian Wagner (Resp.): Dissertatio politica De maiestate, eiusque divisione in realem et personalem adversus monarchomachos. Leipzig 1677; Christoph Heinsius (Präs.) / Matthias Naundorff (Resp.): Problematis politici, utrum disputationes theologicae rerumpublicarum eversionem afferant, & ideo prohibendae sint, nec ne? contra Bodinum, tuebuntur negativam, Wittenberg 1693; Joh. Heinrich Acker (Präs.) / Georg Wolfgang Dürfeld (Resp.): Dissertatio historico-politica De majestate principum inviolabili adversus monarchomachos. Jena 1703.

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te dieser politische Konsens, man könnte auch sagen: die ‚herrschende Mehrheitsmeinung‘, stetig nachjustiert und gefestigt oder aber neu bestimmt werden. Die Verfassungsordnungen wie auch die dahinter stehenden und von der Mehrheit getragenen Ordnungsvorstellungen bewegten sich dabei im Spannungsfeld zwischen einer machtteiligen Mischverfassung (Republikanismus) und einer machtstaatlich-zentralistischen Einherrschaft (Absolutismus). Ein sich vergleichsweise rasch vollziehender Verfassungswandel, wie er beispielsweise in Schweden seit 1680 von statten ging,18 konnte dementsprechend auch zu Konflikten zwischen Anhängern des neuen und denen eines älteren Ordnungskonzepts führen. So löste 1685 eine Politikdisputation De ephoris einen Skandal aus, da die Thematik – mit Ephoren wurden Räte oder Gremien bezeichnet, die eine Vermittlerfunktion zwischen König und Volk bzw. Ständeversammlung sowie eine Wächter‑ oder Aufsichtsfunktion gegenüber dem Herrscher innehatten – dem aktuellen Verfassungswandel hin zur absoluten Monarchie entgegenstand.19 In dessen Gefolge war es zur Entmachtung des Reichsrats gekommen, der in den Jahrzehnten zuvor als eine Art Ephorengremium fungiert hatte.20 Dem Respondenten Jonas Eric Öman, der mit seiner Disputation eigentlich den Magistergrad erwerben wollte, wurde von den ‚Royalisten‘ gar „ein Prozeß wegen Majestätsvergehen angedroht“, nachdem dieser die Meinung vertreten hatte, dass jedem König Ephoren zur Seite stehen müssten. Sein Lehrer Andreas Norcopensis verteidigte seinen Schüler zwar geschickt, indem er zugab, dass „die Ephorie in unserem Vaterland jetzt keinen Gewinn“ mehr habe, was aber niemanden hindern sollte, das Thema zu behandeln, weil ja bei anderen Völkern diese Einrichtung sehr wohl noch in Gebrauch sei. Einer seiner Gegner, der Jurist und Verehrer König Karls XI. 18 Die „wahrhafte Revolution der Verfassung“ hatte 1680 mit einer Reichstagserklärung begonnen, die den König vom Zwang der Konsultation des Reichsrats befreite und ihm zugestand, nur Gott verantwortlich zu sein; 1682 folgte eine weitere Erklärung, welche den unbedingten Gehorsam des Reichstages gegenüber allen Maßnahmen und Beschlüssen der Krone beinhaltete, 1693 schließlich die sogenannte Souveränitätserklärung, die den König auch über die Gesetze des Landes stellte; Heinz Duchhardt: Europa am Vorabend der Moderne 1650–1800. Stuttgart 2003, S. 291. Als christlichem König räumte ihm diese auch ein, „nach eigenem Belieben“ zu regieren; Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999, S. 75. 19 Andreas Norcopensis (Nordenhjelm) (Präs.) / Jonas Eric Öman (Resp.): De ephoris Disputatio […] pro gradu magisterii. Uppsala 1685. Vgl. Günter Barudio: Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung 1648–1779. Frankfurt am Main 1981 (Fischer Weltgeschichte Bd. 25), S. 57. 20 Der Reichsrat, ein Gremium aus fünf hohen Reichsbeamten, welches die Reichsverwaltung auch ohne einen oder unter einem schwachen König selbstständig weiterführte, erlangte durch die sogenannte Regierungs-Ordnung von 1634 und im Kontext der häufigen Thronwechsel und Vormundschaftsregierungen des 17. Jahrhundert besondere Bedeutung. Die Reichsräte erachteten sich dabei als „ephori regni“, als Mittler zwischen dem König und dem durch den Reichstag vertretenen Volk. „Die Regierungs-Ordnung ist von den folgenden Königen nicht anerkannt und die Ephorenterminologie während des Absolutismus ausdrücklich verboten worden.“ Nils Runeby: Notizen über eine verhinderte Republik. In: Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit. Hg. von Helmut G. Koenigsberger. München 1988, S. 273–284, hier S. 280f.

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Carolus Lundius, hielt jedoch – dem gewandelten politischen Grundkonsens entsprechend – dagegen, dass ein Fürst oder König unmittelbar unter Gott stehe, für Inspektoren, Mediatoren oder sogenannte Ephoren daher kein Platz sei.21 Auch am Beispiel der Dissertatio Schröters zeigt sich, dass eine – als solche wohl nicht beabsichtigte – Infragestellung des politischen Grundkonsenses heftige Reaktionen hervorrufen konnte. Diese nämlich aktivierte nicht nur die Gelehrtenwelt, sondern auch die Obrigkeit, welche aus eigenen Interessen heraus gleichfalls solche Störungen im stärker auf Konsens und Eintracht hin orientierten Wissenschaftsbetrieb der Frühen Neuzeit zu unterbinden trachtete. Wie kam es nun zum Scheitern der ratio Schröters bei seinem eigentlich unter besten Voraussetzungen gestarteten Versuch, seinen status als Sprössling aus der politischen Führungsschicht zu wahren? Betrachten wir zunächst die Akteursebene und das personelle Umfeld.

Jena, Leiden, London und zurück Im Frühjahr 1663 kehrte Wilhelm Schröter (1640–1689; auch: Schröder), der sich später als Merkantilist bzw. Kameralist im Dienst des Kaisers einen Namen machen sollte, nach längerem Auslandsaufenthalt in seine thüringische Heimat zurück. Sein Vater gleichen Namens, der Kanzler des ernestinischen Teilherzogtums Sachsen-Gotha, war in diesem Jahr verstorben. Als Sohn eines hohen Staatsbeamten war Schröter am Hofe Herzog Ernsts des Frommen aufgewachsen, hatte zunächst das von diesem Landesherrn gegründete Gothaer Gymnasium besucht und ab 1659 an der Universität Jena studiert. Dort hatte er 1660 seine ersten akademischen Meriten erworben, indem er unter dem Juristen Johann Volkmar Bechmann den Discursus juris publici De potestate circa sacra in Imperio RomanoGermanico verteidigte, der Herzog Ernst gewidmet ist.22 Noch im gleichen Jahr trieb es den begabten Studenten in die Niederlande und dann nach England, was nicht nur den späteren Kameralisten prägte, sondern auch die politischen Ordnungsvorstellungen des jungen Bildungsreisenden. Aus Leiden meldete er sich 1661 mit einer knapp 30-seitigen Laudatio auf die Restitution König Karls II. von Großbritannien, was seine Präferenzen für die monarchische Herrschaftsform zum Ausdruck brachte.23 Freilich dürfte die Lobrede auch die Aufnahme des Thüringer Kanzlersohnes in die höheren Kreise des Königrei21 Vgl. Barudio (wie Anm. 19), S. 57f. Im Zuge einer Universitätsreform 1655 war Johannes Althusius, ein wichtiger Gewährsmann für das Ephorat, dem dieser in seiner Politica (1604; ³1614) ein ganzes Kapitel (das 18.) gewidmet hatte, bereits 1655 aus der Autorenliste der Universität Uppsala gestrichen worden. Wenn sich Öman daher noch 1685 auf Althusius als Autorität stützte, musste allein dies schon Widerspruch hervorrufen. 22 Zum Inhalt vgl. Srbik (wie Anm. 3), S. 17ff. 23 Magni monarchae Caroli Secundi, Magnae Britanniae, Franciae & Hiberniae Regis, fidei defensoris restitutio felix […] Laudata à Guilielmo Schrotero. Leiden 1661. – Über Schröters Aufenthalt in den Niederlanden berichtet Srbik nichts; die Lobrede bleibt unerwähnt (vgl. Srbik, wie Anm. 3, S. 20).

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ches befördert haben. Dort wurde er auf Vorschlag des Aristokraten und Naturphilosophen Robert Boyle im September 1662 Mitglied der Royal Society und lernte unter anderem den Politiker und Gelehrten Kenelm Digby kennen.24 Die Rückkehr in seine Heimat war wohl nicht als dauerhaft geplant, dennoch wollte Schröter die Zeit nicht ungenutzt lassen, sich vielmehr mit einer weiteren akademischen Abhandlung dem gelehrten Publikum und – was aufgrund seiner Herkunft nahe lag – den Regierenden präsentieren. Die Verteidigung seiner Dissertation an der Universität Jena erfolgte Ende Juli dieses Jahres. Als Präses gewann er Severus Christoph Olpe, der zu dieser Zeit das Rektorat innehatte. Olpe (1627–1673) hatte seit den 1650er Jahren Philosophie mit einem Schwerpunkt auf der Politik gelehrt und eine zweisprachige Ausgabe (lateinisch und griechisch) der Politik des Aristoteles (1660) vorgelegt, über deren einzelne Bücher er zudem zwischen 1659 und 1661 mehrfach Disputationen abgehalten hatte. Der gebürtige Eisenacher, Sohn eines Archidiakons und im übrigen auch ein Schüler des Gothaer Gymnasiums, verfolgte einen Berufsweg im Bereich der kirchlichen Verwaltung; seine Lehrtätigkeit als Politikdozent und -professor (1664/65) war dabei nur eine Zwischenstation.25 Der wesentlich bescheideneren Verhältnissen entstammende Olpe mag es als gewisses Privileg und – im Hinblick auf sein weiteres Fortkommen – wohl auch als Chance empfunden haben, bei der Disputation des Sohnes des herzoglichen Kanzlers die Leitung zu übernehmen. Ein sonst übliches Lehrer-Schüler-Verhältnis lag bei dieser Disputation somit nicht vor. Der Respondent hatte sich vielmehr seine Themen „ganz offensichtlich selbst gewählt, sie selbständig ausgearbeitet und sich nicht unter die Fittiche eines Mitglieds des akademischen Kollegiums begeben“.26 Und er hat sie selbstbewusst präsentiert, indem er sie nicht wie üblich auf Quart-, sondern auf großen Folioseiten hat drucken lassen – seine Dissertation ist der einzige bislang nachgewiesene Disputationsdruck in diesem Papierformat! Nicht ohne Stolz bezeichnet sich der Kanzlersohn auf dem Titelblatt zudem als Mitglied der Royal Society.

24 Vgl. Michael C. W. Hunter: The Royal Society and its Fellows 1660–1700. The Morphology of an Early Scientific Institution [1982]. Oxford ²1994, S. 73, 156. Hunter vermag den Namen „William Schroter“ allerdings nicht einzuordnen und zählt ihn, da er des Öfteren zwischen London und dem Kontinent hin- und hergereist war, nicht zu den fremden Mitgliedern. In den Quellen wurde er als „virtuoso & traveler“ bezeichnet und mit ‚Monsieur‘ angesprochen. 25 1656 hatte Olpe eine Professur für Poesie kombiniert mit einem außerordentlichen Lehrauftrag für praktische Philosophie erhalten und im selben Jahr die Tochter eines Jenaer Diakons geheiratet; 1664 rückte er auf den Lehrstuhl für Ethik und Politik, verließ aber ein Jahr darauf bereits die Universität und ging als Superintendent nach Römhild; 1668 wurde er dann noch Doctor Theologiae. Zur Biographie Hermann Kappner: Die Geschichtswissenschaft der Universität Jena vom Humanismus bis zur Aufklärung. Jena 1931, S. 63ff. 26 Srbik (wie Anm. 3), S. 33.

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Schröters Dissertatio academica nimmt sich drei Themen vor, nämlich die ratio status, die nobilitas und den Ersten Minister (ministrissimus).27 Der Verfasser bewegt sich damit auf den ersten Blick in einem Umfeld, das Olpe schon im Rahmen anderer Disputationen und Editionen bearbeitet hat. Dieser hatte etwa 1662 „in commodum Studiosae Iuventutis“ (so das Titelblatt) Simone Simonis (1532–1602) Schrift De vera nobilitate herausgegeben und im Juli 1662 eine Disputatio politica de vera nobilitate von Hans Caspar von Klitzing, einem Lausitzer Adeligen, verteidigen lassen. Im März 1663 – also kurz vor Schröters Auftritt in Jena – folgte mit dem Discursus politicus De arcanis senatus aristocratici, den der Königsberger Daniel Schönfeld unter Olpes Regie vorgestellt hatte, ein Arbeit, deren Rahmenthema (arcana) eng mit dem der Staatsräson verflochten war. Die entscheidenden Anregungen bezog Schröter aber nicht von der Jenaer Politikwissenschaft, sondern aus seiner peregrinatio academica. Mit der Dedikation zu seiner Dissertatio reklamiert Schröter die Zugehörigkeit zu zwei sozialen Netzwerken. Zum einen benennt er den jungen Herzog Friedrich von SachsenGotha (1646–1691), den ersten Sohn des regierenden Herzogs Ernst sowie dessen Nachfolger als seinen Patron; der zweite Widmungsadressat ist Kenelm Digby, dem er als seinem Förderer in England zu Dank verpflichtet war.28 Digby, der mit Thomas Hobbes seit ihrer gemeinsamen Pariser Exilzeit vertraut war, wird als ausgesprochener Royalist, aber auch als überzeugter Katholik charakterisiert.29 Nicht zuletzt über diesen Gelehrten, der auch Gründungsmitglied der Royal Society war, muss der Thüringer daher mit der Debatte um die englische Verfassung und speziell die Stellung des Königs sowie vermutlich auch mit den Schriften von Hobbes vertraut geworden sein.30 Nachdem auch in den Niederlanden 1649 eine Kontroverse um die Thronfolge Karls II. entbrannt war,31 dürfte er jedoch bereits hier auf den englischen Verfassungskonflikt aufmerksam geworden sein. 27 Severus Christoph Olpe (Präs.) / Wilhelm Schröter (Resp.): Dissertatio academica, cuius prima pars de ratione status, altera de nobilitate, tertia de ministrissimo. Jena 1663. 28 Gratulationsverse von Dozenten oder Studierenden finden sich nicht, was auf die fehlende bzw. nicht mehr vorhandene Verankerung des aus England Angereisten im akademischen Milieu der Jenaer Universität hindeutet. 29 Vgl. Srbik (wie Anm. 3), S. 30. Digby (1603–1665) war Höfling, Diplomat und Naturphilosoph mit einer Vorliebe für Astrologie und Alchemie. Als Katholik musste er des öfteren England verlassen, hielt sich häufig in Paris auf und wurde hier Kanzler der Königin Henrietta Maria, was auch Schröter in seiner Widmungsadresse erwähnt. Vgl. Davida Rubin: Sir Kenelm Digby, 1603–1665. A Bibliography based on the collection of K. Garth Huston. San Francisco 1991. 30 Zur Verfassungsdebatte im 17. Jahrhundert vgl. Mark Goldie: Absolutismus, Parlamentarismus und Revolution in England. In: Pipers Handbuch der politischen Ideen. Bd. 3: Neuzeit: Von den Konfessionskriegen bis zur Aufklärung. Hg. von Iring Fetscher und Herfried Münkler. München 1985, S. 275–352. 31 Die in den Niederlanden von Marcus Zuerius Boxhorn und anonymen Streitgegnern 1649 ausgetragene Debatte um die Thronfolge Karls II. von England ist wohl auch als Hintergrund für Schröters eingangs erwähnte Lobrede und seine Wertschätzung der Monarchie zu beachten. Boxhorn hatte in De successione et iure primogenitorum in adeundo principatu, dissertatio (Leiden 1649) verschiedene

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Biblische ratio status Inhaltlich bewegten sich Schröters Thesen zum Adel und zum Ersten Minister in konsensfähigen Bahnen. Im Teil De nobilitate vertritt er – und hier stimmt er mit Olpe überein – die proabsolutistische These, dass sich die Stellung des Adels aus der königlichen Gnade ableite, also nicht aus eigener Tradition und der Vererbung von Ämtern. Mit dem dritten Set von Thesen über den Ministrissimus betritt der Verfasser in gewisser Weise Neuland. Das Thema des ‚Ober-Staats-Ministers‘ bzw. ‚ministrissimus‘ ist im Rahmen einer Disputation erstmals von Schröter erörtert worden. Schon länger präsent in Wissenschaft und Literatur ist zwar die historische Figur des Sejanus, die als antikes Muster für ‚Erste Minister‘ fungierte; neben Georg A. Ennenckel, Baron von Hoheneck, hatte sich etwa Cyriacus Herdesianus mit diesem Stoff befasst.32 Dennoch wird man Schröters Arbeit eine Vorreiterfunktion attestieren können, ist sie doch bereits 1671 erneut gedruckt worden und 1673 in deutscher Übersetzung erschienen.33 Zwischenzeitlich hatte der Leipziger Jakob Thomasius das Thema 1668 wiederum im Rahmen einer Politikdisputation aufgegriffen.34 Beide Abhandlungen sind 1680 zusammen in einem Büchlein nachgedruckt worFormen der Erbfolge diskutiert und dabei zugunsten der Sukzession des späteren englischen Königs Karl II. Stellung bezogen; dem Erstgeborenen stehe demnach das Thronfolgerecht auch dann zu, wenn dessen Vater wegen Verbrechen verurteilt worden sei. Dem widersprach ein anonymer Student der Rechte, was wiederum Gegenschriften provozierte. Vgl.: Bibliography of Dutch Seventeenth Century Political Thought. An annotated Inventory, 1581–1710. Hg. von Gert Onne van de Klashorst u. a. Amsterdam 1986, S. 55–58, No. 154–160. 32 Georg Achat (Baron v. Hoheneck) Ennenckel: Seianus seu De praepotentibus regum ac principum ministris, Commonefactio. Straßburg 1620 [deutsch: Ulm 1658]; Cyriacus Herdesianus: Seianus Grand Mignon, seu de ortu et occasu aulicorum. Frankfurt am Main 1645; vgl. zu diesem postum erschienenen Werk Christoph Kampmann: Zweiter Mann im Staat oder Staat im Staat? Zur Stellung Wallensteins in der Administration Kaiser Ferdinands II. In: Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit. Hg. von Michael Kaiser und Andreas Pečar (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 32). Berlin 2003, S. 295– 315. 33 Wilhelm Schröters/ Illustrissimae Regiae Societat. Britann. Assessoris, Dissertatio De Ministrissimo = Vom Ober-Staats-Bedienten. In unserer Deutschen Mutter-Sprache […] dargestellet von M. Joachim Scriverio, s.l. 1673. 34 Von dieser Dissertatio politica de ministrissimo quam […] / sub praesidio M. M. Jacobi Thomasii […] publice defendit Georgius Henricus Groerus sind mehrere Druckvarianten entstanden. Offenbar fand die Disputatio im Februar 1668 statt, wofür auch ein Druck hergestellt wurde, der nur De ministrissimo betitelt war. Eine weitere Durckvariante aus dem folgenden Jahr erhielt dann den Zusatz Disputatio politica. Thomasius und Groer definieren nach Hinweisen auf zeitgenössische Beispiele aus Spanien und Frankreich den ministrissimus als „administrator publicus, qui Regis jam adulti ac praesentis loco toti imperii solus praeest“ (Th. 9). Die einzelnen Definitionselemente werden im Folgenden genauer behandelt (Th. 10–16), dabei das Phänomen des Ersten Ministers u. a. etwa von Reichsvikaren abgegrenzt und sein spezifischer Wirkungsraum – „magis […] in regno successivo quam electivo“ (Th. 20) – bestimmt. Daran schließt eine weitere Differenzierung an, die „Divisio in

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den, was den Leitcharakter der Schrift Schröters unterstreicht.35 Inhaltlich wird die Machtanmaßung führender Minister in Frankreich und Spanien thematisiert, welche durch Patronage sowie mit Gewalt die Macht an sich zögen. Ihr verderbliches Wirken, das erst unerfahrene oder schwache Herrscher ermöglichten, kritisiert der Autor heftig und empfiehlt zur Eindämmung einige machiavellistische Gegenmaßnahmen.36 Bezeichnend für Schröters Stoßrichtung ist hier die Warnung vor einem Zuviel an fürstlicher Milde: „gar zu fromme Fürsten“ laufen nämlich Gefahr, dass die Premierminister durch gefährliche Schmeichelei ihre Macht missbrauchten („De ministrissimo“, § 3). Grundsätzlich fügen sich die Thesen zum Adel, die Warnungen vor Ersten Ministern und die Erörterung der Staatsräson, welche den Erhalt der Machtstellung des Fürsten fokussiert, zu einem einheitlichen Gesamtbild. Die Ausführungen zur Staatsräson scheinen dann aber einem „starrsten Absolutismus“ derart das Wort geredet zu haben und „von solcher Rücksichtslosigkeit“ gewesen zu sein, „dass die Schrift sofort verboten wurde“.37 Was aber war so problematisch an seiner Dissertatio? Schröter beginnt konventionell mit der Herleitung des Begriffs und seinen Übersetzungen. Im Unterschied zu Herdesianus zeigt sich aber schon ein Wandel insofern, als nach Schröter ratio status im Deutschen nun (1663) mit „das Interesse eines Staads“ („De ratione status“, § 2) wiedergegeben wird. Des Weiteren (ebd., § 3) will Schröter im Unterschied zu Rechts- und Politikgelehrten, welche status etwa auf die civitatis & Libertatis jura bzw. auf den Staat und seine Verfassungsform beziehen, diesen respectu Personae betrachten. Und die ratio, welche diesen ‚Status‘ stabilisiere und erhalte, sei „die Vernufft/ quae admonet nos, ut maxima nobis industria sit, quo in felici hoc statu consenescamus“. Die media ad conservandum statum, welche die Vernunft nahelege, seien entweder „violenta & directa, vel non violenta & indirecta“ und finden im Inneren wie auch im Außenverhältnis des Staates Anwendung. Sie dienen dem Erwerb, der Erweiterung, der Verteidigung und der Wiedergewinnung von Macht (potestas). Nicht definieren, aber doch beschreiben will Schröter die Staatsräson daher als jenes Mittel, das jedermann gebrauche „ad statum suum probum et improbum“ (Th. 29), welche den zentralen Diskussionspunkt der zweiten Hälfte der Abhandlung bildet. Diese Leipziger Disputation mit gut 60 knapp gehaltenen Thesen auf acht Druckseiten hat keinen wissenschaftlichen Apparat und verweist auf keine wichtige Autorität – auch nicht auf Schröter, über dessen Dissertation Thomasius, wie gleich noch dargestellt wird, recht genau Bescheid wusste. War Schröter also nicht zitierfähig? Zumindest um 1700 scheint dies nicht (mehr) der Fall gewesen zu sein: In der Bibliotheca statistica des Caspar Thurmann findet sich Schröters Dissertation sehr wohl verzeichnet; vgl. Caspar Thurmann: Bibliotheca statistica [1701]. Hg. und eingeleitet von Wolfgang E. J. Weber. München 2000, zum Lemma „Ministrissimus, Primus, & Supremus Minister […] Ober-Staats-Minister“ S. 53f., 22f. 35 Wilhelm Schröter / Jakob Thomasius: De ministrissimo exercitationes duae. s.l. 1680. 36 Vgl. Srbik (wie Anm. 3), S. 35f. 37 Zielenziger (wie Anm. 3), S. 296, bzw. (zweites Zitat) Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800. München 1988, S. 211.

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conservandum, acquirendum, amplificandum, vel recuperandum“ (ebd., § 3). Wie stark die Staatsräson für den Autor schon auf Personen und insbesondere die des Herrschers ausgerichtet ist, zeigt sich auch im Folgenden (ebd., § 4): Hat die Staatsräson, fragt Schröter, stets das öffentliche Wohl zum Ziel, wie Johann Tobias Geisler in seiner Schrift De statu politico meine?38 Seine Antwort ist ein klares Nein, wie man am Beispiel König Davids leicht erkennen könne: „Principem enim ex ratione status pro sceptris & corona in subditos expeditionem recte facere.“ Es gelte also, den Sinnspruch des Kaisers M. Claudius Tacitus (275/76 n. Chr.) zu beachten: sibi bonus, aliis malus. Diese machiavellistische Rechtfertigung eines Kreuzzugs gegen die Untertanen zur Sicherung der Herrschaft versteht sich freilich erst vor dem Hintergrund der jüngeren Geschichte Englands. In den royalistischen Kreisen, in denen sich Schröter bewegt hat, dürfte der Schock der Hinrichtung des Königs im Januar 1649 immer noch nachgewirkt haben. Wenn Schröter hier als einzigen zeitgenössischen Autor überhaupt in seiner Dissertation Geisler ins Visier nimmt, so geschieht dies wohl stellvertretend für die aristotelische Politica, mit welcher der junge Thüringer in verschiedenen Punkten auf Kriegsfuß steht. So bezieht er, wie gesagt, status nicht mehr wie Geisler auf die reipublicae forma,39 sondern auf die Person des Fürsten. Oberstes Ziel der Staatsräson ist somit auch nicht mehr das Gemeinwohl bzw. das Wohl des Volkes, sondern eben das persönliche Wohl und vor allem die Sicherheit des Fürsten; Geisler hatte mehrfach salus publica bzw. die beata Civium vita als finis betont und Religion, Macht und Freiheit als Ziele verworfen.40 Schließlich ist für Schröter die Differenzierung einer wahren und einer falschen bzw. korrupten Variante der ratio status nicht relevant.41 Die Frage Geislers: Utrum potestas immediate a Deo, vel mediante populo? oder die Diskussion, ob das Volk die Wirkursache des Staates sei, dürfte der Thüringer als abwegig oder gar als gefährlich erachtet haben.42 Was Schröter im Anschluss daran ausführt, entspricht kaum dem Charakter einer akademischen Abhandlung als vielmehr dem einer Art Fürstenlehre. Er lässt nämlich fünf Regeln folgen, die sich an den Fürsten richten, und zwar konkret seinen heimatlichen Landesherrn und dessen Sohn, den Widmungsadressaten, da er mehrfach von „meus prin38 Schröter zitiert und kritisiert als einzigen zeitgenössischen Autor Geisler – und zwar gleich zweimal (§ 2 und 4). Möglicherweise ist er auf das 1656 in Amsterdam gedruckte Werk Geislers während seines Aufenthalts in den Niederlanden gestoßen. Der aus Militsch/Schlesien stammende Jurist und Politiker (1624–1659) hatte in Leipzig studiert, dort als Präses 1645–1647 einige Politikdisputationen geleitet, wirkte nach einem Militärdienst in Livland als Advokat in Dorpat und anschließend als Legat und Secretarius des Magnus de la Gardie in Polen. Er verstarb als designierter Gerichtsassessor in Livland. Vgl. die Leichpredigt von Daniel Schultze: Immortalitatis Statua Beatis Manibus […] Dn. Johannis Tobiae Geisleri, Philosophiae Magistri, Poëtae Laur. […] Stettin [ca.] 1660. 39 Vgl. Johann Tobias Geisler: De statu politico, secundum praecepta Taciti formato. Amsterdam 1656, Cap. 3: De Divisione Status. Benutzt wurde das Exemplar der BL London. 40 Vgl. ebd., Cap. 2, § 11 und Cap. 5, §§ 1–8. 41 Vgl. ebd., Cap. 9. 42 Vgl. ebd., Cap. 4, § 7 bzw. § 6.

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ceps“ (etwa „De ratione status“, § 5, Reg. 1., und § 7, Reg. 3.) spricht.43 Eine weitere Besonderheit der ganzen Dissertatio ist, dass Schröter seine Argumentation fast ausschließlich auf das Alte Testament stützt; das gilt sowohl für die Belege wie auch für die Exempel, die er verwendet. Immer wieder rekurriert er auf Könige Israels, neben David etwa auf Saul und Jerobeam, oder auf andere Politiker wie den im Buch Esther erwähnten Haman. Fast könnte man von einer Fürstenpredigt sprechen, die den Fürsten in allen Belangen seiner Herrschaft zu Vorsicht mahnt. Freilich ist auch ein taktischer Aspekt erkennbar, lag es doch nahe, in seiner Heimat mit Bibelfestigkeit zu punkten, die von einem Herzog regiert wurde, der nicht umsonst den Beinamen „der Fromme“ bekam. Indem Schröter die Staatsräson als „das Mittel, dessen sich jeder zur Begründung und Erhaltung, zum Wiedererwerb und zur Verbesserung seiner eigenen Lebensstellung bedient“,44 beschreibt, bricht er allerdings aus dem konsensfähigen Rahmen der aristotelischen Politikwissenschaft aus. Er löst die ratio status ja aus der Hinordnung auf das Gemeinwohl, dem diese traditionell verpflichtet war und wodurch sie überhaupt erst konsensfähig gemacht, sozusagen ‚entmachiavellisiert‘ werden konnte. Bei ihm wird sie hingegen zum individualistischen Prinzip und steht damit am Beginn der Krise des Aristotelismus in Deutschland,45 die dann auch der Politica eine neue Ausrichtung verleihen sollte.46 Die Regeln, welche Schröter seinem Fürsten zur Wahrung seines status dringend ans Herz legt, lauten etwa: Der Fürst müsse sich zur konsequenten und rücksichtslosen Durchsetzung seiner auf den eigenen Nutzen zielenden Politik durchringen, um Gefährdungen seiner Herrschaft zu begegnen: „melius enim est praevenire quam praeveniri.“ Angesichts der „inconstantia generis humani“ müsse stets mit einem „occultum & latentem inimicum“ gerechnet werden, der jederzeit zum offenen Feind werden könne (§ 5, Reg. 1.). Der Erhalt der Herrschaft und der persönlichen Sicherheit des Fürsten haben daher oberste Priorität. Jeder Gefährdung sei in konsequenter Form entgegenzutreten; selbst die Rücksichtnahme auf die eigene Verwandtschaft (Frau, Kinder, Brüder) könne sich als schädlich erweisen. Als Exempel verweist Schröter auf König Salomo, der befohlen hatte, dass sein Bruder Adonia als möglicher Konkurrent um die Herrschaft und potentieller Aufwiegler des Volkes getötet werde. Fundament dieser Regel sei die „publica utilitas, 43 Auch in der dritten Dissertation über den Ministrissimus spricht er mit „meus princeps“ mehrfach (§ 5 und 7) seinen Fürsten direkt an. 44 Zum Inhalt der Staatsräson-Schrift vgl. auch Srbik (wie Anm. 3), S. 34f., Zitat: S. 34. 45 Vgl. Horst Dreitzel: Die „Staatsräson“ und die Krise des politischen Aristotelismus: Zur Entwicklung der politischen Philosophie in Deutschland im 17. Jahrhundert. In: Aristotelismo politico e ragion di stato. Atti del convegno internazionale di Torino, 11–13 febbraio 1993. Hg. von Artemio Enzo Baldini. Florenz 1995, S. 129–156. 46 Vgl. Wolfgang E. J. Weber: „Die Politica [ist] eine Kunst, seinen Stand zu conserviren, klüglich zu regieren, alle impedimenta zu removiren, und sich Freunde zu erwerben.“ Bemerkungen zur Transformation und zum Ende der frühneuzeitlichen deutschen Politikwissenschaft um 1700. In: Kulturhermeneutik und kritische Rationalität. Festschrift für Hans-Otto Mühleisen zum 65. Geburtstag. Hg. von Friedemann Maurer u. a. Lindenberg im Allgäu 2006, S. 595–605.

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quae in persona Principis sita est“ (§ 6, Reg. 2.). Auch Verträge und Bündnisverpflichtungen stünden unter dem Primat des eigenen Nutzens; dissimulierende Vertragsbestimmungen seien vorteilhaft, denn sie ermöglichten im Falle einer Zwangslage deren Bruch (§ 7, Reg. 3.). Nicht Nachsicht, sondern Strenge sei die bessere Tugend des Fürsten (§ 8, Reg. 4.). Besonders hüten müsse sich der Fürst vor Verschwörungen und Erhebungen der Untertanen, wie sie von Jerobeam und dem Usurpator Cromwell betrieben worden seien. Als fundamentum dieser Regel verweist der Verfasser auf die „effrena plebis ferocia“, welche in blinde Wut ausarte (§ 9, Reg. 5.). Die Erfahrungen des englischen Bürgerkrieges aus der Sicht eines Royalisten sind hier überdeutlich. Selbstredend könne Widerstand nicht legitim sein, verdankten die Könige ihre Herrschaft auf Erden doch Gott selbst und nicht einer wie auch immer gearteten Übertragung der Souveränität vom Volk auf den Herrscher.47 Und Gott selbst habe den Königen damit auch die Mittel zu deren Erhaltung zugestanden, darunter insbesondere die media violentia & directa, die im Schwerpunkt behandelt werden. In den abschließenden Thesen – Corollaria – ergänzt Schröter dies mit der Behauptung, Könige seien nicht Verwalter, sondern Eigentümer ihres Reiches: „Rex non administrator Regni, verum proprietarius est“ (1.). Weder Verträge noch Kapitulationen oder sonstige Abmachungen zur Beschränkung ihrer Macht seien daher rechtswirksam (2.). Die ratio status befreite er damit aus jeglichen moralischen und rechtlichen Schranken und verlieh dem Herrscher eine göttlich sanktionierte absolute Macht. Schröter verband die „Staatsräson als Klugheitslehre des Eigennutzes“ mit der „Rechtfertigung des monarchischen Absolutismus aus den Königsrechten des Propheten Samuel sowie aus dem Kriegsrecht“.48 Hintergrund für die Radikalität der machiavellistisch-absolutistischen Positionen Schröters war sein vorangegangener Auslandsaufenthalt, in dessen Rahmen er die politischen Debatten um die Stellung des englischen Königs kennen gelernt hatte. Nicht nur die Schriften von Thomas Hobbes, sondern etwa auch König Jakobs I. Trew Law of Free Monarchies (1598) und die ‚monarchomachischen‘ Gegenschriften zum „Divine Right of Kings“ haben ihn zu seinen provozierenden Thesen angeregt. In Kombination mit einem 47 Hier gehen die Theoretiker des göttlichen Rechts der Monarchie nicht nur auf Distanz zu den Monarchomachen mit ihrem Konzept einer ‚Volkssouveränität‘, sondern auch zu Hobbes und seiner Vertragskonstruktion. Die Monarchie ist samt ihren Herrschaftsrechten durch göttliche Stiftung institutionalisiert. Und entgegen Hobbes erlischt die Gehorsamspflicht der Untertanen auch dann nicht, „wenn der Monarch seine friedenssichernde Herrschaft nicht mehr tatsächlich durchsetzen kann“. Horst Dreitzel: Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland. Ein Beitrag zu Kontinuität und Diskontinuität der politischen Theorie in der Frühen Neuzeit. Mainz 1992, S. 84. Schröter beruft sich hier (wie im Übrigen auch der schottisch-englische König Jakob I.; vgl. das Folgende) auf das Alte Testament, das erste Buch Samuel. Vgl. dazu Annette Weber-Möckl: ‚Das Recht des Königs, der über euch herrschen soll‘. Studien zu 1 Sam 8, 11ff. in der Literatur der frühen Neuzeit. Berlin 1986, die allerdings nicht auf Schröter eingeht. 48 Dreitzel: Politische Philosophie (Abschnitt: Theorien des göttlichen Rechts der Monarchie). In: Holzhey / Schmidt-Biggemann (wie Anm. 11), S. 607–748, hier S. 725.

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konsequenten Machiavellismus hatte der Thüringer den Boden des politischen Grundkonsenses im Reich und seinen Territorien verlassen, der unter anderem die religiöse und sittliche Einhegung der Politik umfasste. Dementsprechend war auch schon Hobbes mit seinen Überlegungen zum Naturzustand, zur Schrankenlosigkeit der Herrschermacht und mit seinem Rechtsbegriff in Deutschland überwiegend auf Ablehnung gestoßen, hielt die bestimmende Mehrheit der Politikdenker – etwa Hermann Conring – doch an den machtteiligen Strukturen der Reichsverfassung mit ihren „Prinzipien der Vereinbarung und des friedlich-schiedlichen Ausgleichs“ fest.49 Den Ordnungskonsens insbesondere für die lutherischen Territorialstaaten hatte der Nachfolger von Schröters Vater, Veit Ludwig van Seckendorff, mit seinem Teutschen Fürstenstaat 1656 erstmals in prägender Weise formuliert. Ihm zufolge sei Herrschaft religiös gebunden, der Fürst ein Amtmann Gottes, der praktisches Christentum zu verwirklichen habe. „Sein Idealbild war die temperierte Herrschaft des guten Einvernehmens, der Machtteilung auf der Grundlage des christlichen Konsenses.“50 Wie sehr musste sich die fürstliche ratio status Schröters, auch wenn sie ausschließlich auf biblischen Motiven basierte, von solchen Positionen unterscheiden, die Herzog Ernst dem Frommen, dem „lutherischen Musterfürsten“,51 wie auf den Leib geschneidert schienen?52 War es ernste Besorgnis um die fürstliche Macht, die ihn zur Präsentation seiner Thesen in Jena verleitet hat? Hätte er nicht wissen müssen, dass seine Ausführungen nicht die Zustimmung der Mehrheit in seiner Heimat finden würden? Wenige Jahre vorher hatte doch schon der junge Magister Johann Friedrich Horn (ca. 1629–1665) in der benachbarten Wittenberger Universität mit ähnlichen Thesen Widerspruch provoziert und einen Gelehrtenstreit ausgelöst. Dessen Politikdisputation über das dominium supereminens, welche Horn zusammen mit dem preußischen Studenten Johann Georg Calov 1658 in Wittenberg vorgelegt hatte, gipfelte in der „Verteidigung eines unbegrenzten Rechts der Staatsgewalt auf das Eigentum der Untertanen“. In der anschließenden Debatte hatte sich nicht diese Position, sondern die traditionelle Auffassung behaupten können, wonach „das jus eminens auf Notstandssituationen beschränkt sei und die Pflicht zur Entschädigung enthalte.“53 Horn verließ Anfang der 1660er Jahre seine Heimat, wirkte 49 Stolleis (wie Anm. 37), S. 281. 50 Michael Stolleis: Veit Ludwig von Seckendorff. In: Staatsdenker in der Frühen Neuzeit. Hg. von dems. München 31994, S. 148–171; Zitat: S. 155. 51 Dreitzel (wie Anm. 47), S. 82. 52 Vgl. Andreas Klinger: Der Gothaer Fürstenstaat. Herrschaft, Konfession und Dynastie unter Herzog Ernst dem Frommen. Husum 2002; Ernst der Fromme (1601–1675). Staatsmann und Reformer. Ausstellungskatalog Gotha. Hg. von Roswitha Jacobsen und Hans-Jörg Ruge. Bucha bei Jena 2002. 53 Dreitzel (wie Anm. 48), S. 720. Vgl. dazu auch Christoph Link: Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre. Wien 1979, S. 170ff.: Horns Analyse des dominium eminens – der Terminus bezeichnet die (früher als potestas extraordinaria für den Fall des Staatsnotstandes gedachte) Eingriffsermächtigung der Obrigkeit in das Eigentumsrecht der Bürger, die sowohl in Form von Steuern und Abgaben wie auch in Form von Enteig-

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zunächst in den Niederlanden und dann in Orléans in Frankreich. Mit seinem Hauptwerk Politicorum pars architectonica (Utrecht 1664) hatte er als einziger Deutscher eine „geschlossene Theorie des institutionellen Gottesgnadentums“ entwickelt.54 So außergewöhnlich waren Schröters Thesen eigentlich also nicht.55 Sie fügen sich in jene „Theorien des göttlichen Rechts der Monarchie“, die (auch) im Reich in Reaktion auf die englische Revolution und die politische Propaganda der Monarchomachen entstanden und durch die Entwicklung der monarchischen Herrschaft im Frankreich Ludwigs XIV., in Dänemark (Lex regia 1665) sowie später auch in Schweden weiter befördert worden sind.56 Just in dem Jahr, in dem Schröter in Leiden die Wiedereinsetzung des englischen Königs Karl II. besungen hat, veröffentlichte zudem der Jurist und Philosoph Johann Christoph Neander (ca. 1635 – nach 1677),57 ein kurfürstlicher Hofgerichtsadvokat in Berlin, seinen Discursus De principum potestatis summitate, contra regicidium anglicanum (Berlin und Frankfurt/Oder 1661). Diese wenig später auch ins Deutsche übertragene Streitschrift58 ist neben Schröters Dissertatio academica „die radikalste Apologie eines schrankenlosen Absolutismus, weit über die lutherische Konzeption hinaus“.59 Sie versteht die Souveränität des Herrschers in Anlehnung an Bodin als unteilbar und als unmittelbare Schöpfung Gottes, dessen irdischer Vertreter (vicarius Dei) der Fürst ist. Dieser sei weder an natürliches noch an göttliches Recht gebunden, könne über das Eigentum der Untertanen und der Kirche verfügen, Verträge und Grundgesetze aufheben und sei nur seinem Gewissen verpflichtet. Nur das Ruhmesstreben und die Gewalt anderer Fürsten setzten ihm Grenzen.

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nung und Konfiskation gekleidet sein konnte – ist später vom Wittenberger Juristen Wilhelm Leyser mit einer kritischen Gegenschrift (Dissertatio pro Imperio contra dominium eminens. Wittenberg 1673) bedacht worden. Mit der Kompetenz des Staates, den Erwerb und Verlust von Eigentum zu normieren, habe er das Recht (potestas extraordinaria) verbunden, Privateigentum im Falle der necessitas publica zu beschlagnahmen. Diese jedoch habe Horn im Unterschied zu seinen Kritikern großzügig ausgelegt, keine konkrete Gefahr vorausgesetzt und damit zukunftsweisend „entsprechend den Notwendigkeiten des modernen Verwaltungsstaates die allzu enge Verklammerung von Enteignungsbefugnis und staatlichem Notstandsrecht“ gelockert; ebd., S. 172, 174. Dreitzel (wie Anm. 48), S. 720. Zum Inhalt des Werkes vgl. ebd., S. 720–722. Srbik (wie Anm. 3), S. 36f., urteilt, sie seien wenig originell und ihr „wissenschaftlicher Gehalt […] gleich Null“ gewesen, seien zudem „schleuderhaft“ und „in derber, grobschlächtiger Form“ vorgetragen worden; immerhin aber – und nur hier ist Srbik voll zuzustimmen – seien sie „als Dokument der Zeitgeschichte wertvoll“. Dreitzel (wie Anm. 48), S. 719. Der Sohn des Samuel Neander hatte in Frankfurt/Oder bei Georg Konrad Berg (Disputatio civilis De rege, 1653) und Friedrich von Jena (zwei juristische Disputationen 1654 und 1655) studiert und die Schriften seines Großvaters Christoph Neander herausgegeben. Johann Christoph Neander: Discursus De Principum Potestatis Summitate i. e. von Hoheit Fürstlicher Macht und Gewalt, deutsch von Theodor Ließberger. Frankfurt/Oder ca. 1670. Dreitzel (wie Anm. 48), S. 719.

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Solche Standpunkte konnten offenbar in Brandenburg und seiner Frankfurter Universität vertreten werden; mit dem Geschichts-, Politik- und Theologieprofessor Johann Christoph Becmann (1641–1717) sollte diese Ideenströmung hier auch ihren Höhepunkt erreichen.60 An Schröters Heimatuniversität und den sächsischen Nachbaruniversitäten herrschte aber, wie gesagt, ein anderer Geist. Hatte der Verfasser der Dissertatio academica seine Kommunikationssituation falsch eingeschätzt? Hatte er, begeistert von seinem im Ausland erworbenen Wissen, mit seinen Thesen zur fürstlichen Staatsräson gar provozieren wollen? Wenn er tatsächlich die Absicht verfolgt hatte, damit seine wissenschaftliche Qualifikation unter Beweis zu stellen oder womöglich gar einen akademischen Grad zu erwerben,61 war das in jedem Fall ein riskantes Unterfangen, das auch gründlich misslang. Mit der möglichen Absicht, sich den „status“ als Kandidat für Spitzenposten in der Politik des Herzogtums zu sichern, wie er schon aus der gemeinsamen Erziehung mit dem Nachfolger des Herzogs herrührte, wäre der Kanzlersohn damit ebenso gescheitert. Dessen ungeachtet hat Schröter seine Thesen 1674 nachdrucken lassen und sie später ins Ökonomische übertragen, wodurch die machiavellistische Schärfe etwas gemildert wurde. Sein Hauptwerk Fürstliche Schatz- und Rent-Kammer (1686) kann als „Staatsräsontraktat“ charakterisiert werden, in dem als wichtigstes „Instrument der fürstlichen Machtbehauptung und ‑durchsetzung neben dem Militärwesen“ der Geldbesitz und die Wirtschaftskraft vorgestellt wird.62 Die Verfolgung der eigenen Interessen des Fürsten auf wirtschaftlichem Gebiet war allgemein im späteren 17. Jahrhundert auch in Deutschland mehr und mehr als legitim erachtet worden.63 Rein auf politischem Feld gingen solche Thesen aber zu weit – zumindest im Rahmen des politischen Grundkonsenses der meisten lutherischen 60 Vgl. ebd., unter Verweis auf: Johann Christoph Becmann (Präs.) / Otto Christian v. Grumbkow (Resp.): Dissertatio De divino vicariatu principum. Frankfurt/Oder 1688. 61 Srbik (wie Anm. 3), S. 32, mutmaßt, Schröter habe „den Doktorhut […] erwerben“ wollen; dies wird noch im NDB-Artikel zu Schröter („Schröder“; Bd. 23, 2007, 577f.) übernommen. Dagegen spricht aber, dass die sonst auf den Titelblättern üblichen Hinweise (Titelzusätze wie pro [magisterii] gradu, pro licentia, pro summis in philosophia honoribus etc.) bei dieser Dissertatio academica fehlen. Sie dürfte also, wie auch der Vermerk auf dem Titelblatt „[…] publicae eruditorum disquisitioni exponet […]“ zu erkennen gibt, zumindest formal rein dem Erweis akademischer Gelehrsamkeit halber angefertigt und verteidigt worden sein. 62 Dreitzel (wie Anm. 47), S. 83. 63 Vgl. Stolleis (wie Anm. 37), S. 212. Dies belegt beispielsweise auch die Doppeldisputation von Johann Jakob Müller (1650–1716): Dissertatio politica De principe iuste suam utilitatem quaerente. Jena 1687; in beiden Teilen übernahm der sächsische Adelige Johann Friedrich v. Ritter den Part des Respondenten. Müller behauptet darin unter anderem, dass der Fürst nicht ungerecht handelt, „si se ipsum respiciat, suamque utilitatem intendat“ (Pars I, Bl. 1). Wenn auch nicht so radikal wie bei Schröter, so wird hier dennoch ein utilitaristisch konnotierter und an die Machiavellismusdebatten anknüpfender Absolutismus vertreten. Diese Entwicklung, die Verknüpfung fürstlicher Macht mit wirtschaftlichem Wohlstand, schlägt sich auch in der Literaturgattung der Fürstenspiegel nieder; vgl. etwa Johann Georg Förderer: Politischer Lustgarten eines Regenten/ Darein ein […] Brunnen gezeiget wird/ daraus Er sich selbsten Macht/ und seinen Unterthanen Reichthum schöpffen kann.

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deutschen Landesherrschaften. (Etwas anders mag sich das für den Kaiser dargestellt haben, in dessen Dienste der Kameralist Schröter 1673 oder 1674 getreten ist.) Als der Herausgeber der Schatz- und Rentkammer diesem Werk ab der vierten Auflage von 1713 ein Supplement mit dem Titel Disquisitio politica Vom absoluten Fürstenrecht beifügte, das auf der Dissertatio von 1663 basierte und nochmals die staatstheoretische Grundkonzeption umriss, sollte dies erneut Kritik hervorrufen. Welche Reaktionen zeigten nun die akademische Öffentlichkeit und die Politik auf die Disputation Schröters? Zunächst einmal kann an diesem Beispiel festgestellt werden, dass sich die Gelehrtenwelt über Disputationen informiert hat. In diesem Falle war es der junge Leibniz, der seinerzeit anwesend war und über den Verlauf der Disputation sowie die folgenden Reaktionen seinem Leipziger Lehrer Jakob Thomasius, einem der dort wichtigsten Politiklehrer, in einem Brief Bericht erstattet hat.64 Diesem Brief beigefügt war auch die Druckfassung der Disputation Schröters. Die wohl markanteste Information ist, dass die Verbreitung der Schrift auf Betreiben von Herzog Ernst „wegen Staatsgefährlichkeit untersagt“ worden ist.65 Des Weiteren schildert Leibniz, dass der Vortragende in der Diskussion schlagende Argumente und eine akademische Ausdrucksweise habe vermissen lassen. Inhaltlich sei vieles „ab Anglia allatam“ gewesen; zum Teil habe man den Geist Machiavellis verspürt, zum Teil „aut Hobbes aut Hobbesianus elucet.“ Man habe Schröter vorgeworfen, dass jede Rechts­sicherheit im Inneren schwinden, Gesetze, Verträge und „auch das Völkerrecht zum bloßen Buchstaben“ verkommen müssten, wenn man dem Herrscher eine derartige absolute Machtvollkommenheit einräumte und den Eigennutz zur einzigen Triebfeder seines Handelns machte.66 Dass die Disputation auf Widerspruch und mehrheitlich auf Ablehnung stieß, darüber berichtete zudem auch der Schlesier Christian Weirauch in seinem Werk Della Ragione di Stato. D.i. Von der Geheimen […] Regierungs-Klugheit. Demnach habe der Verfasser die Staatsräson „kaltsinnig, verächtlich und liederlich abgehandelt“.67 Der Leiter dieser Disputatio, der Philosoph Olpe, sah sich – von den Thesen Schröters wohl überrascht und von den Reaktionen darauf angetrieben – genötigt, noch im Septem-

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Frankfurt 1709. Hintergrund ist die Ablösung der traditionellen, auch etwa von Martin Luther vertretenen „Moral Economy“ durch eine „Political Economy“; Reinhard (wie Anm. 18), S. 338. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Zweite Reihe: Philosophischer Briefwechsel. Erster Band. Berlin 1972, S. 1. Der Brief ist datiert auf den 2. (12.) September 1663. Srbik (wie Anm. 3), S. 33. Leibniz formulierte in seinem Brief (wie Anm. 64): „Quin et princeps Gothanus, re comperta, ac cognito, quam in hac disputatione periculosa spargerentur, primus vrsit, effecitque, ut publice confiscaretur.“ Srbik (wie Anm. 3), S. 37f. Lateinische Zitate aus dem Brief von Leibniz; Leibniz (wie Anm. 64), S. 1. Christian Weirauch: Della Ragione di Stato Das ist Von der Geheimen und Ungemeinen RegirungsKlugheit: In X. Discurse verfaste Abhandlung/ Worinnen/ Ob etwas/ und was die so beruffene Ratio Status eigentlich sey. Breslau / Leipzig 1673. Zitiert nach Stolleis (wie Anm. 37), S. 211f., Anm. 501.

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ber des gleichen Jahres eine zweite Disputation zur Klarstellung seiner Position folgen zu lassen. Mit dieser Theses miscellae betitelten und von dem Eisenacher Jurastudenten Johann Sebastian Rhöne vorgetragenen Disputation wurden Schröters Thesen ‚korrigiert‘ und damit die Erörterung der Ratio status wieder in die konsensfähigen, weil antimachiavellistischen und konservativ-lutherischen Bahnen der aristotelischen Politica zurückgelenkt. Die Gegenthesen Olpes und Rhönes, die nur auf Machiavelli und nicht auf Schröter (oder gar Hobbes) rekurrieren, inhaltlich aber eindeutig auf die Dissertatio academica Bezug nehmen, beginnen zumeist mit Formulierungen wie improba bzw. nefaria assertio est (eine moralisch schlechte bzw. gottlose Behauptung ist ...), mit Machiavellica ratio est oder gar mit pessima persuasio est. Zurückgewiesen werden so unter anderem die Behauptungen, dass man Schlechtes tun müsse, um Gutes zu erreichen, dass der Fürst aus Staatsräson mit Gewalt gegen Untertanen und für Szepter und Krone vorgehen müsse, dass der Eigennutz das Fundament der Staatsräson sei und Verträge und Bündnisse deswegen gebrochen werden dürften oder dass der König sein Reich als seinen Besitz betrachten dürfe. Denn schließlich habe der Fürst „in Ratione Status non sui ipsius, sed Reipublicae commodum“ (Thes. 24) zu beachten.68 Und auch noch Jahrzehnte nach seinem Tod haben Schröters Thesen Gegendarstellungen provoziert. Hier nun bildete das schon erwähnte Supplement zu seinem Hauptwerk, die politische Abhandlung über das absolute Fürstenrecht, den Auslöser. Gottlieb Samuel Treuer (1683‑1743) hat diese 1719 einer kritisch distanzierten Analyse unterzogen. Seine Gegendarstellung kulminiert in der Behauptung, „die einzig vernünftige, historisch gerechtfertigte, politisch zweckmäßige und reichsrechtlich legitimierte Monarchie“ sei die durch ständische Mitwirkung beschränkte.69

Der ausgescherte Respondent Nach seinem misslungenen Auftritt in Jena ließ Schröter seine thüringisch-sächsische Heimat hinter sich und begab sich wieder nach England, um dort im Rahmen der Royal Society weiter seinen naturwissenschaftlichen und ökonomischen Interessen nachzuge68 Severus Christoph Olpe (Präs.) / Joh. Sebastian Rhöne (Resp.): Theses miscellae. Jena 1663. Rhöne gehörte zu den ‚verlässlichen‘ Schülern Olpes; bereits 1661 hatte er zwei der Thesendisputationen im Rahmen der Edition der aristotelischen Politik (nämlich zu den Büchern fünf und acht) bestritten. Seinen Theses miscellae sind im übrigen keinerlei Paratexte (Widmung, Gratulationen) beigegeben (so zumindest bei den im VD17 nachge­wiesenen Druckexemplaren). Sie dienten also nicht primär der akademischen Qualifikation des Respondenten, sondern der Widerlegung der Thesen Schröters. Die Gegenthesen beziehen sich auf die fünf „Regulas“, welche Schröter ‚seinem‘ Fürsten gibt. 69 Gottlieb Samuel Treuer: Wilhelm FreyHerrn von Schrödern Disqvisitio Politica Vom Absolvten Fürsten‑Recht. Mit Nöhtigen Anmerckungen versehen, Welche derselben gefährliche Irrthümer deutlich entdecken und solches praetendirte Recht gründlich untersuchen. Leipzig u. a. 1719. Vgl. dazu Dreitzel (wie Anm. 47), S. 80–99, Zitat: S. 92.

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hen. Nach Zwischenaufenthalten an verschiedenen deutschen Höfen gelangte der 1673 zum Katholizismus übergetretene Schröter nach Wien, trat hier in die Dienste des Kaisers und entwickelte sich – angeregt durch einen erneuten Englandaufenthalt – zum erfolgreichen Wirtschaftsreformer. Sein Hauptwerk Fürstliche Schatz- und Rentkammer, das erstmals 1686 erschienen und im 18. Jahrhundert häufig nachgedruckt worden ist, sollte die „Grundschrift des deutschen Kameralismus“ werden. Schröter repräsentiert damit wie beispielsweise auch Leibniz einen neuen „Typ des gelehrten Projektemachers und ‚Hofgelehrten‘, der mit einer oft abenteuerlichen, immer aber von der Gunst fürstlicher oder adeliger Mäzenaten abhängigen Karriere aus der Enge der herkömmlichen Institutionen der Gelehrsamkeit“ ausgebrochen ist.70 Schröters Dissertatio academica von 1663 belegt, dass die Disputation nicht nur ein Forum war, auf dem tradiertes Wissen eingeübt, gefestigt und weitergegeben wurde sowie neue bzw. an anderen Orten erworbene Theorieansätze auf ihre Konsensfähigkeit hin getestet worden sind. Zwar sollte die Disputation im Regelfall die Möglichkeit bieten, akademische Qualifikation unter Beweis zu stellen, sich damit in einem politisch-sozialen Milieu und insbesondere Mäzenen und Förderern zu präsentieren, um damit Chancen für den weiteren Berufsweg wahren oder auftun zu können. Sie konnte aber auch zu einer Bühne der Selbstdarstellung werden, auf der sich Gelehrte mit mehr oder minder provokativen Gedankengängen zu profilieren trachteten und dabei in Kauf nahmen, aus dem Konsens der herrschenden Lehrmeinungen und den dahinter stehenden sozialen Netzwerken auszuscheren. Der im Rahmen der Disputation inszenierte Dissens artete damit, das belegt auch die Mehrzahl der anderen Beispiele, in offenen Konflikt aus. Es spricht einiges dafür, dass der mit dem Selbstbewusstsein eines Sohnes des herzoglichen Kanzlers und eines Mitglieds der Royal Society aufgetretene Schröter nicht sonderlich darauf bedacht war, sich mit dem in Thüringischen Landen herrschenden Ordnungskonsens zu arrangieren. Zwar mag er sich mit der Verwendung der Bibel als alleiniger Grundlage seiner Argumentation versprochen haben, die Zustimmung seiner Hörer gewinnen zu können. Die De-Autorisierung der aristotelischen Tradition der Politikwissenschaft war jedoch im Rahmen des ‚Denkkollektivs‘ seiner Heimatuniversität und deren Landesherrschaft nicht mehrheitsfähig. Auch hat er die Gefahren, welchen die fürstliche ratio status ausgesetzt sein konnte, für die thüringisch-sächsischen Herzogtümer und auch die meisten übrigen deutschen Territorialherrschaften viel zu sehr überzeichnet. Ob der selbstbewusst aufgetretene 23-jährige Kanzlersohn mit seiner Dissertatio einen status als künftiger Spitzenbeamte hat wahren wollen, muss man somit in Zweifel ziehen. Die Optionen, welche ihm die Mitgliedschaft in der Royal Society bot, scheinen attraktiver gewesen zu sein und ihm einen provokanten Auftritt in Jena ermöglicht zu haben. Insgesamt betrachtet zeigt sich, dass die grundsätzlich auf Konsensbildung und -wahrung ausgerichtete Wissenskultur der Frühen Neuzeit mit der akademischen Disputation ein Medium hatte, das geeignet war, die Pluralisierung von Wissen zu bewältigen und 70 Ebd., S. 83 bzw. (zweites Zitat) S. 82.

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auch dem Wissenstransfer ein Forum zu verschaffen. Dabei musste, wie unser Beispiel gezeigt hat, zwischen dem Präses und dem Respondenten nicht grundsätzlich ein LehrerSchüler-Verhältnis bestehen. Auch konnten, wie bei Herdesianus gezeigt, im Rahmen von Disputationen neue Themen in die Debatte eingeführt werden. Schröter hat mit seinen Ausführungen zum ministrissimus Neuland betreten, mit der Argumentation zur Staatsräson zumindest neue Perspektiven auf ein bekanntes Thema eröffnet. Die Bedeutung dieses Mediums zeigt sich schließlich darin, dass erneut die Plattform der Disputation dazu genutzt worden ist, das ‚Störfeuer‘ Schröters mit Gegenthesen wieder einzudämmen. In jedem Fall waren Disputationen in ihrer mündlich-schriftlichen Mischform die Aufmerksamkeit der akademischen Öffentlichkeit und der Obrigkeit – im Falle von Politikdisputationen gar in besonderer Weise – sicher.

Robert Seidel (Frankfurt am Main)

Frühneuzeitliche Parodiedebatten im Medium akademischer Disputationen Das Exercitium philologicum de parodia (Leipzig 1671), die Disputatio de parodia (Uppsala 1776) und das theoriegeschichtliche Umfeld I. Die Frage, was eine Parodie sei, wird von der modernen Literaturwissenschaft durchaus nicht einhellig beantwortet. Man muss gar nicht das extrem weit gefasste poststrukturalistische Begriffsverständnis als Beleg dafür heranziehen, auch diejenigen Definitionen, die ein konventionelles Verständnis von Intertextualität zugrunde legen, weichen zum Teil erheblich voneinander ab.1 In der Germanistik hat sich in den letzten Jahrzehnten infolge der zahlreichen, gerade auch lexikalischen Definitionsinitiativen des Erlanger Autorenduos Theodor Verweyen und Gunter Witting eine verhältnismäßig klare, leicht zu vermittelnde Position durchgesetzt, die den strukturalistischen Ansatz, wie er etwa auch von Gérard Genette vertreten wird, auf streng funktionale Kategorien hin akzentuiert.2 Dies führt nun etwa dazu, dass die Wissenschaft hierzulande sehr deutlich zwischen Parodie und Kontrafaktur3 unterscheidet, indem sie die (gegen Autoritäten gerichtete) Kritik und die (sich auf Autoritäten stützende) Nutzung des Prätextes zu fundamentalen Gegensätzen erklärt. Wie jede andere vereinfachende Festlegung hat auch diese Definition freilich ihre Tücken, wenn man etwa bedenkt, dass für die Kritik an der verfehlten Rezeption eines Klassikers, sofern sie sich einer imitativen Technik bedient, keine der beiden Bezeichnun1 Vgl. Robert Seidel: Parodie. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. von Friedrich Jaeger. Bd. 9. Stuttgart / Weimar 2009, Sp. 869–872. 2 Vgl. neben anderen Publikationen des Autorenduos die noch immer maßgebliche Monographie von Theodor Verweyen und Gunther Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Eine systematische Einführung. Darmstadt 1979; außerdem dies.: Parodie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft […]. Hg. von Klaus Weimar. Bd. 3. Berlin / New York 2003, S. 23–27. Weniger ergiebig, als zu erwarten wäre, ist hingegen der Artikel von Peter Stocker: Parodie. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 6. Tübingen 2003, Sp. 637–649. 3 Auch hierzu ist maßgeblich die Studie von Thedor Verweyen und Gunther Witting: Die Kontrafaktur. Vorlage und Verarbeitung in Literatur, bildender Kunst, Werbung und politischem Plakat. Konstanz 1987 (Konstanzer Bibliothek 6).

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gen genau passt oder dass es eine harmlose, vollkommen zweckfreie Parodie eigentlich nicht geben kann, da im Prozess der Lektüre unvermerkt auch die Autorität der Vorlage in Mitleidenschaft gezogen werden dürfte. Gleichwohl ist es für eine Literaturwissenschaft, die nach der gesellschaftlichen, zumindest aber innerkulturellen Funktion von Textproduktion, -vermittlung und -rezeption fragt, unerlässlich, ein Instrumentarium wie das von Verweyen und Witting bereit gestellte zu nutzen, selbst wenn gelegentliche Modifikationen daran notwendig werden sollten. Etwas anders liegen die Dinge, wenn man sich aus wissenschaftshistorischer Perspektive mit früheren Versuchen einer Definition des Parodiebegriffes beschäftigt. Hier geht es nicht darum, ein widerspruchsfreies, universal anwendbares Modell gegenüber konkurrierenden Entwürfen herauszustellen. Vielmehr muss untersucht werden, in welchem institutionellen Zusammenhang, auf welcher theoretischen und materiellen Grundlage und mit welchen konkreten Absichten diese Theorien verfasst wurden. Statt auf Stringenz und Effektivität der Argumentation muss man also auf die historische Plausibilität des Erklärungsansatzes achten. In der Frühen Neuzeit setzte man sich, wie auch schon in der Antike, recht häufig mit der Parodie und verwandten intertextuellen Erscheinungen auseinander, wobei die Bezeichnungen für die gemeinten Phänomene erheblich variierten. Poetikhandbücher wie die von Julius Caesar Scaliger (Poetices libri septem, 1561), Jacobus Pontanus (Poeticae institutiones, 1594), Gerhard Johannes Vossius (Poeticae institutiones, 1647)4 oder Jacob Masen (Palaestra eloquentiae ligatae, 1654–1657) waren die Orte, an denen sich die Gelehrten des 16. und 17. Jahrhunderts mit relevanten Theorien und Texten auseinandersetzten, hinzu kamen aber auch ausführliche, zum Teil Abhandlungscharakter annehmende Einleitungen zu Anthologien wie etwa den Parodiae morales (1575) von Henri Estienne. Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts gewannen deutschsprachige Kompendien wie Johann Joachim Eschenburgs Entwurf einer Theorie der schönen Künste und Wissenschaften (1783) oder Karl Friedrich Flögels Geschichte der komischen Litteratur (1784), die sich vielfach auf die Überlegungen französischer Aufklärer stützten, die Oberhand. Zeitgenössische Lexika von Estiennes Thesaurus Linguae Graecae (1572) bis zu Johann Jacob Hofmanns Lexicon Universale (1698)5 oder den großen Enzyklopädien der Aufklärungszeit fassten den jeweiligen Stand des Begriffsverständnisses zusammen. Im Bereich der akademischen Gebrauchsliteratur ist der Gegenstand allerdings, so weit man sieht, weniger prä4 Pontanus äußert sich knapp, Vossius in seinem poetologischen Hauptwerk nur beiläufig zur Parodie, doch gelten beide neben Scaliger als Autoritäten, wie das unten besprochene Gedicht von Friedrich Rappolt zeigt. Vossius wird in der Leipziger Dissertation mehrfach angeführt, u. a. wird aus seinem Aristarchus, sive de arte grammatica libri septem zitiert. 5 Der relativ knappe Eintrag ist weitgehend aus Scaliger entnommen. Johann Jacob Hofmann: Lexicon universale, historiam sacram et profanam […] explanans. Editio absolutissima […]. Bd. 3. Leiden 1698, S. 590: „PARODIA, de Rhapsodia nata est […] cujus reliquias exhibet Scaliger Poët. l. 1. c. 42. […] ad cujuspiam ignominiam. Vide Scaligerum d. l.“ Der gesamte Artikel ist im Anhang bei Niehl (wie Anm. 6), S. 36 f., abgedruckt.

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sent, wenngleich in zahlreichen akademischen Reden etwa zum Thema De imitatione (s. u.) die Parodie natürlich gestreift wurde.6 Wir wollen uns hier ausschließlich mit den ‚alten Dissertationen‘, also den Disputations- oder Thesendrucken der Frühen Neuzeit, beschäftigen. Für die Blütezeit der Produktion dieses Dissertationstyps zwischen 1660 und 1750, die von Hanspeter Martis gewaltiger Bibliographie vorbildlich erschlossen ist, lässt sich nur eine einzige einschlägige Abhandlung nachweisen, das unter dem Präsidium von Joachim Feller (1638–1691)7 in Leipzig veranstaltete, von Jacob Schmaltz („Autor-Respondens“)8 ausformulierte und ver6 In den letzten Jahren sind einige Beiträge zur Parodie in der Frühen Neuzeit erschienen, die auch die Theorieentwürfe der Zeit reflektieren. Vgl. Thomas Schmitz: Die Parodie antiker Autoren in der neulateinischen Literatur Frankreichs und der Niederlande (XVI. Jahrhundert). In: Antike und Abendland 39 (1993), S. 73–88; Robert Seidel: ‚Parodie‘ in der Frühen Neuzeit. Überlegungen zu Verbreitung und Funktion eines intertextuellen Phänomens zwischen Humanismus und Aufklärung. In: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 27 (2003), S. 112–134; Rüdiger Niehl: Parodia Horatiana. Parodiebegriff und Parodiedichtung im Deutschland des 17. Jahrhunderts. In: ‚Parodia‘ und Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. von Reinhold F. Glei und Robert Seidel. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 120), S. 11–45; Jörg Robert: Nachschrift und Gegengesang. Parodie und parodia in der Poetik der Frühen Neuzeit. In: Ebd., S. 47–66. Sehr wertvoll ist daneben noch die ältere Studie von Eckart Schäfer: Deutscher Horaz. Conrad Celtis – Georg Fabricius – Paul Melissus – Jacob Balde. Die Nachwirkung des Horaz in der neulateinischen Dichtung Deutschlands. Wiesbaden 1976, S. 92–101. 7 Vgl. Reinhard Breymayer: Feller, Joachim. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann. Bd. 3. Berlin / New York 2008, S. 404 f. In neueren Sammelbänden firmiert Feller mehrfach gemäß seinen unterschiedlichen Funktionen als Rektor der Universität, Poet, früher Anhänger des Pietismus usw.; vgl. Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780. Hg. von Hanspeter Marti und Detlef Döring. Basel 2004 (Texte und Studien 6); Detlef Döring: Anfänge der modernen Wissenschaften. Die Universität Leipzig vom Zeitalter der Aufklärung bis zur Universitätsreform. 1650–1830/31. In: Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. Bd. 1. Leipzig 2009, S. 517– 771; Eruditio – Confessio – Pietas. Kontinuität und Wandel in der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzovs (1639–1699). Hg. von Stefan Michel und Andreas Straßberger. Leipzig 2009 (Leucorea-Studien 12). Vgl. außerdem zwei Spezialaufsätze von Richard Beck: Aus dem Leben Joachim Fellers. Nach handschriftlichen Quellen der Zwickauer Ratsschulbibliothek. In: Mitteilungen des Altertumsvereins für Zwickau und Umgegend 4 (1894), S. 24–77, und Wolfgang Miersemann: „Pietismus“ und „Teutsche Poëterey“. Zu einem Schlüsseltext des Poesieprofessors und „Sängers der Leipziger pietistischen Bewegung“ Joachim Feller (1638–1691). In: Das Echo Halles. Kulturelle Wirkungen des Pietismus. Hg. von Rainer Lächele. Tübingen 2001, S. 191–241. 8 Über ihn ist wenig bekannt, immerhin sind der Leipziger Matrikel einige Daten zu entnehmen. Der aus Altenburg gebürtige Schmaltz wurde bereits im Sommersemester 1662 (vermutlich als Kind) und erneut im Sommersemester 1669 immatrikuliert. Am 16. April 1670 wurde er Baccalaureus, am 30. Januar 1673 Magister. Georg Erler: Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559–1809. Bd. 2. Die Immatrikulationen vom Wintersemester 1634 bis zum Sommersemester 1709. Leipzig 1909, S. 392. – Die entsprechenden Daten für Joachim Feller lauten: geboren in Zwickau, Immat-

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teidigte Exercitium philologicum de parodia aus dem Jahre 1671.9 Auch zur imitatio im Allgemeinen konnten nur verhältnismäßig wenige Titel gefunden werden.10 Lediglich im außerdeutschen Kulturbereich war noch eine späte Dissertatio de parodia zu verifizieren, die im Jahre 1776 unter Petrus Svedelius an der Universität im schwedischen Uppsala abgehalten wurde.11 Die beiden Drucke stehen somit innerhalb eines vergleichbaren Textspektrums ziemlich isoliert, weshalb allein sich ein genauer Blick darauf gerade in Bezug auf das Schwerpunktthema unserer Festschrift schon lohnen dürfte. Die Erscheinungsjahre markieren darüber hinaus poetikgeschichtliche Wendepunkte: Um 1670 lagen die großen poetologischen und rhetorischen Kompendien des Späthumanismus und der Barockzeit im wesentlichen vor und standen die literarischen und medialen Paradigmenwechsel, die die Frühaufklärung mit sich bringen sollte, allesamt noch aus. Die Jahre um 1770 wiederum bedeuteten für die mittel- und nordeuropäische Literatur eine so einschneidende Neuorientierung, dass eine lateinisch geschriebene Abhandlung zu einem genuin poetologischen Thema den Blick auf die epochentypische Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen zu eröffnen verspricht: Worüber an den Universitäten in lateinischer Sprache diskutiert wurde, das betraf die studentische Jugend zunächst einmal nicht weniger als die Strömungen der literarischen Avantgarde. Wir können also davon ausgehen, dass die beiden Disputationsdrucke den Stand der texttheoretischen Debatten ihrer Zeit, was den speziellen Bereich der unter parodia verstandenen intertextuellen Verfahren betrifft, rekapitulieren und wo nicht weiter entwickeln, so doch in thesenartiger Form pointieren.

rikulation 1649, Eidesleistung 1656, Baccalaureus und Magister artium 26. Januar 1660, Baccalaureus der Theologie 30. März 1671, Lizentiat der Theologie 9. Mai 1671. Ebd., S. 101. 9 Vgl. Hanspeter Marti: Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660–1750. Eine Auswahlbibliographie. München u. a. 1982, S. 177 (Nr. 2004). Schmaltz verteidigte offenbar bereits vier Tage nach der hier behandelten Dissertation unter dem Vorsitz von Johann Sauerbrei eine Diatribe academica de foeminarum eruditione posterior (ebd., S. 412, Nr. 6969). Diese Dissertation wurde zweimal in Leipzig gedruckt, 1671 aus Anlass des Actus und 1676 in einer durchgesehenen korrigierten Fassung. 10 Friedrich Kaspar Hagen (Präs.) / Johann Christoph Burger (Resp.): De imitatione oratoria. Wittenberg 1703 (Marti, wie Anm. 9, S. 214, Nr. 2783); Georg Wilhelm Kirchmaier (Präs.) / Johann Ephraim Büttner (Resp.): De decoro imitationis, maximae eloquentiae partis. Wittenberg 1698; dass. mit Benjamin Franck als Respondent, ebd. 1698 (Marti, S. 267, Nr. 3893 und 3894); Immanuel Pröläus (Präs.) / Johann Samuel Pröläus (Resp.): Comparanda eloquentia ex illustrium oratorum imitatione exemplisque. Leipzig 1695 (Marti, S. 371, Nr. 6081); Johann Gottfried Grohmann (Präs.) / Friedrich Wilhelm Erenfred (Resp.): De imitatione poetica quid sit censendum. Leipzig 1791. 11 Publikationen nach 1800 wurden nicht mehr aufgesucht, obgleich der Paradigmenwechsel hin zur Inauguraldissertation sich nicht an der Jahrhundertschwelle festmachen lässt. Aus dem frühen 19. Jahrhundert datieren einzelne Vertreter beider Dissertationstypen, die sich mit dem Phänomen der Parodie beschäftigen.

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II. Die den sieben „Theses“ des Exercitium philologicum de parodia (1671) vorangestellte Einleitung beginnt programmatisch mit dem Wort „Imitatio“.12 ‚Nachahmung‘ sei gleichsam die Seele aller Studien, was sich etwa an der Grammatik, der Rhetorik und der Ethik zeigen lasse, da die Grammatiker zur Nachahmung der besten Wort- und Satzformen anleiteten usw. Für die Poetik gelte das, wie ja auch Aristoteles mit seiner μίμησις-Lehre fordere, natürlich ebenfalls, und die literarischen Gattungen seien verschiedene Weisen der Nachahmung, „ita quidem res gestas exprimentes, ut novâ quasi formá inductâ, novaque iisdem facie affictâ geri denuò videri queant.“ [die so die Geschehnisse zum Ausdruck bringen, dass es scheinen könnte, als hätten sie gleichsam eine neue Gestalt angenommen und ereigneten sich mit einem neu geformten Äußeren ein zweites Mal.] Die Parodie sei nun – offenbar als zeitlich nachfolgend gedacht – aus der poetischen „imitatio“ entstanden, „quam non absurdè quis imitationis imitationem appellaverit“. [die jemand nicht unpassend als Nachahmung von Nachahmung bezeichnen könnte.] Hier stellt der Verfasser, ohne dies auszusprechen, der aristotelischen ‚imitatio rerum‘ die horazische ‚imitatio verborum‘ gegenüber und fordert sogleich eine „theoria“ der Parodie, die noch nie formuliert worden sei. Aus der formalistischen Wendung „imitationis imitatio“ könnte man erwarten, dass nun eine strukturale Intertextualitätstheorie geboten würde: Wie man die ‚res‘ in verschiedenen literarischen Gattungen nachbildet – also anders im Epos als in der Tragödie, anders in der Tragödie als in der Komödie –, so würden die ‚verba‘ in unterschiedlichen intertextuellen Strategien verarbeitet. Die erste These („Parodia, si Etymum spectes, similis cantilena, aut simile carmen est“ [Die Parodie ist, wenn man die Herkunft des Wortes betrachtet, eine Art Gesang oder eine Art Gedicht.]) nähert sich dem Begriffsverständnis, ganz einem modernen Lexikoneintrag entsprechend, über die (historische) Wortbildung. Anders als in vergleichbaren Fällen frühneuzeitlicher Etymologiestudien, wo die fehlende Einsicht in sprachhistorische Gesetzmäßigkeiten oft zu absurden Erklärungsversuchen führte, ist durch die Offensichtlichkeit der Wortzusammensetzung eine Annäherung an das Verständnis gewährleistet. Der zweite Bestandteil der Vokabel ließ sich plausibel vom griechischen „ὠδή“ ableiten, da man die Parodie der Poesie zurechnete und daher nur Verstexte berücksichtigte. Für die drei noch in der modernen Begriffsdefinition herangezogenen Bedeutungen der vorgeschalteten Präposition „παρά“ bietet der Verfasser die lateinischen Äquivalente „contrà“, „ad“ und „propè“ an und erläutert sie so, dass als Konstituenten der Parodie die Abweichung in der Bedeutung („contrarium […] sensum“), die Analogie in der Form („ad alterius cujusdam normam et formam effictum“) und – vor allem („Rectissimè“) – eine 12 Joachim Feller (Präs.) / Jacob Schmaltz (Resp.): Exercitium philologicum de parodia. Leipzig 1671. Aufgrund der Kürze des Textes und der Fülle herangezogener Passagen verzichte ich im Folgenden auf die Angabe von Seitenzahlen. Die Analyse folgt im Wesentlichen der Abfolge der sieben Thesen, so dass das Auffinden der zitierten Stellen nicht schwierig ist.

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grundsätzliche Ähnlichkeit mit der Vorlage bestimmt werden („parodia ad carmen illud, ad cujus exemplar conformatur, similitudine suâ quam proximè accedit“ [Die Parodie kommt dem Gedicht, nach dessen Vorbild sie verfasst wird, durch ihre Ähnlichkeit so nah wie möglich.]). Nun sind die beiden letzteren Bestimmungen nicht ohne Weiteres zu differenzieren, so dass am Ende und nach einer Beglaubigung durch die Autorität Quintilians13 eine etwas verwässerte Formulierung bleibt, die das für die bezeugten Texte unerhebliche Kriterium der Musikalität problematisiert: „Obtinuit autem posteà, ut carmina assimilata saltem, ut ut minimè modulata, id nominis retulerint.“ [Später setzte es sich aber durch, dass Gedichte, die nur an eine Vorlage angeglichen waren, aber keineswegs wie auch immer gesungen wurden, diesen Namen behielten.] Diese Unschärfe der Definition wird in der zweiten These („Parodia πολλαχῶς accipitur“ [‚Parodie‘ wird auf vielfältige Weise aufgefasst.]) zunächst noch verstärkt. Schmaltz versammelt hier eine Reihe von Sonderbedeutungen des Terminus, beginnend mit einer Passage aus der Suda, die er so deutet, dass „parodiam veluti Epirrhema aut Parabasim esse“. Es folgen weitere Spezialfälle des Begriffsverständnisses, sei es dass die Paraphrase von Versen durch Prosa oder die konsequente Ersetzung eines bestimmten Buchstabens damit gemeint sei. Bemerkenswert ist, dass die Ausdehnung der Analyse auf Prosatexte, „tametsi […] Parodia oratoria poëticae consangvinea quasi sit“ [wenn auch die Prosaparodie mit der poetischen gleichsam blutsverwandt ist], ausdrücklich zurückgewiesen wird. So kehrt der Verfasser allmählich zu der bereits erreichten Position zurück, indem er von Parodie in den Fällen sprechen will, „cum versum alterius Poëtae leviter mutatum aliorsum trahimus“. [wenn wir den Vers eines fremden Dichters leicht abändern und auf einen anderen Sinn beziehen.] Er kündigt daraufhin eine „definitionem seu descriptionem potiùs, prout ex ipsa praxi efflorescit“ [Definition oder vielmehr Beschreibung, wie sie sich aus der Praxis selbst ergibt], an, plädiert also, nachdem er einige eher abseitige Deutungsmöglichkeiten referiert hat, schlüssig für ein induktives Vorgehen. Eine sehr präzise Definition bildet dann auch die dritte These: „Parodia est imitatio, quâ Carmen alteriùs Poëtae mutatione modicâ in alium sensum venustè inflectitur.“ [Die Parodie ist eine Nachahmung, in der das Gedicht eines fremden Dichters durch maßvolle Abwandlung mit Anmut in einen anderen Sinn gebracht wird.] Diese Begriffsklärung fasst die bisherigen Festlegungen zusammen und führt sie weiter: Mit „imitatio“ bezieht der Verfasser sich auf das mit dem ersten Wort der Dissertation aufgerufene universale Kulturparadigma, mit „Carmen“ wird der inzwischen problematisierte, aber als Arbeitsgrundlage festgeschriebene Anschluss an die Poetik hergestellt. Dass beide Begriffe in einem systematischen Zusammenhang stehen, wird dadurch markiert, dass ‚imitatio‘ als ‚genus‘, ‚poetica‘ hingegen als in diverse ‚species‘ unterteilt bezeichnet wird; ‚imitatio‘ ist also deutlich ein Überbegriff von Dichtung und damit ein Überbegriff zweiter Ordnung für ‚parodia‘. („Generis munus Imitatio hîc praestat. Et rectè! Haec enim omnibus Poëticae speciebus competit […]“ [Die Nachahmung 13 Institutio oratoria 9,2,35.

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erfüllt hier die Funktion einer Gattung. Und zu Recht! Sie betrifft nämlich alle Arten der Dichtkunst.]) In logischer Präzision wird die „differentia“, durch die sich die Parodie gegenüber anderen Formen der (poetischen) „imitatio“ auszeichnet, genau beschrieben. Als Gegenstand der parodistischen „imitatio“ gilt demnach ein Text, dessen „Objectum materiale“ ein „carmen seu versus alterius Poëtae“ ist; mit der Ergänzung „alterius Poëtae“ schließt der Autor die Selbstbearbeitung etwa in Form einer Palinodie aus, ohne dies zu kommentieren, und mit der Verwendung des Singulars ebenso die Textklassenparodie, in der personenübergreifend Stile oder Darstellungsmodi parodiert werden. Das „Formale“ (also das ‚Wie?‘ des Verfahrens) wird durch den zweiten Teil der Definition erläutert, im Grunde also durch einen Änderungskatalog: Die Abwandlung muss maßvoll („modicâ“) sein, womit sie sich vor allem vom Cento unterscheide (§ 6), sie soll den Sinn verändern („in alium sensum“) im Gegensatz etwa zur Paraphrase (§ 5), und sie soll anmutig („venustè“) daherkommen (§ 7). Aufschlussreich ist vor allem der Paragraph, der das maßvolle Vorgehen beschreibt, denn dem Verfasser gelingt es hier, die Dialektik von kleinem Eingriff und großer Wirkung mit dem Zusammenwirken zweier Stimmen zu koppeln, so dass beinahe ein Modell von Dialogizität formuliert wird: Nimirum sermo, quo imitatio parodica fit, partim Poëtae sit oportet, et maximam quidem partem, quem imitamur, partim παρωδοῦντος ipsius, quippe qui levi mutatione Poetae versum ad sensum longè alium inflectit. [Gewiss müssen die Worte, durch die eine Nachahmung parodistisch wird, zum einen Teil – und zwar zum größten Teil – dem Dichter gehören, den wir nachahmen, zum anderen Teil dem Parodisten selbst, da dieser ja durch eine leichte Abwandlung den Vers des Dichters in einen ganz anderen Sinn bringt.]

Praktisch solle dies dadurch geschehen, dass weder Metrum noch Klangstruktur und auch nicht die Syntax verändert, sondern lediglich Substantive oder maximal Subjekt und Prädikat (unter Beibehaltung von Versmaß und Klangbild) ausgetauscht würden. Der Verfasser erläutert dies durch Beispiele aus den Werken von Jakob Thomasius14 und Friedrich Taubmann. Im Zentrum der Abhandlung stehen die vierte und die fünfte These, die einen historischen Gegensatz markieren: „Thes. IV. Parodia olim non nisi jocosa et salsa erat. […] Thes. V. Parodia nova partim jocosa, partim seria est.“ [These 4: Die Parodie war einst nichts als witzig und beißend. These 5: Die neue Parodie ist zum Teil witzig, zum Teil ernst.] Mit der ‚alten‘ Parodie meint der Verfasser, wie die Beispiele zeigen, fast ausschließlich Texte aus der griechischen Antike, mit der ‚neuen‘ solche aus der Neuzeit. Offenbar dachte er in Bezug auf das Altertum an die attische Poliskultur, in der nicht nur die Freiheit der Rede herrschte, sondern aus der auch prominente Texte wie die Literaturparodien 14 Der bedeutende Leipziger Gelehrte hatte kurz zuvor, im Jahre 1670, das Lehrbuch Physica perpetuo dialogo […] adornata herausgebracht, aus dem Schmaltz hier zitiert. Er war außerdem der Schwiegervater des Präsiden Feller; es gab also persönliche Gründe, den sonst nicht prominent als Dichter hervorgetretenen Professor hier anzuführen.

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eines Aristophanes hervorgingen. Die Scherzhaftigkeit der antiken Parodie wird nun auch mit Funktionsbestimmungen belegt, sie wird gleich zu Beginn abgeleitet „ex fine […], quem risus excitationem, aut certè morum traductionem dixeris“. [aus ihrem Zweck, den man als Erregung von Gelächter oder gewiss als Bloßstellung von schlechten Gewohnheiten bezeichnen könnte.] Diese Zielsetzung, die später sogar noch um das Element der ‚purgatio‘, der tragischen Katharsis also, ergänzt wird, steht in einem nur lockeren Verhältnis zu dem beschriebenen Verfahren selbst, das etwa von Scaliger als umgekehrtes Rhapsodieren bezeichnet wird; nach ihm ist die (antike) Parodie „Rhapsodia inversa mutatis vocibus ad ridicula sensum retrahens“.15 Aus den beiden Aspekten des (moralisierenden) Spottes und der lächerlichen Verzerrung von erhabenen Texten ist – so viel steht fest – keineswegs die für moderne Parodien konstituierende Vorlagenkritik abzuleiten. Als die ‚beste‘ („Clarissimè“) Definition der ‚parodia vetus‘ bezeichnet Schmaltz eine Ausführung der Aristoteles-Kommentatoren Vincenzo Maggi und Bartolomeo Lombardi, bei denen es heiße: „Hegemon primus parodias, i. e. magnifica atque egregia aliorum carmina conscripta in deteriorem ac viliorem usum convertit.“16 [Hegemon hat als erster Parodien verfasst, d. h. großartige und erhabene Gedichte, die von anderen geschrieben worden waren, zu einem schlechteren und schäbigeren Zweck verändert.] Daraus ergibt sich für ihn die Folgerung, diejenigen seien in der Antike ‚Parodisten‘ genannt worden, „qui versibus ex Tragoediis vel ipso Homero desumptis, iisque leviter inflexis ac mutatis vilissima quaeque argumenta, et plenissima maledicentiae tractanda sumpserint, aliosque salsè et verbis autorum lepidè detortis perstrinxerint“. [die Verse aus Tragödien oder sogar aus Homer herausnahmen, diese leicht veränderten und abwandelten und gerade die schäbigsten und von Lästerei erfülltesten Themen sich zu behandeln vornahmen und andere Menschen bissig und mit Versen aus den Autoren, die anmutig verdreht waren, tadelten.] Der Zweck dieser Unternehmungen, so unterschiedlich er auch sein konnte – Unterhaltung, ‚Katharsis‘, Verspottung außerliterarischer Laster –, scheint sich nach Ansicht des Verfassers doch nie vorlagenkritisch gegen die zeitgenössischen Klassiker gewendet zu haben, mit der bezeichnenden Ausnahme der aristophanischen Frösche, wo die literarische Kritik allerdings auf der Figurenebene, also nicht mit der unmittelbaren Autorität der Textinstanz ausgetragen wird. Auffälligerweise werden denn auch Texte wie die Batrachomyomachia, die heutige Philologen zumindest gelegentlich als Angriff auf die Traditionen 15 Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Bd. 1. Hg., übersetzt, eingeleitet und erläutert von Luc Deitz. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 370; dort S. 371 die Übersetzung: „[…] eine umgekehrte Rhapsodie, die durch eine veränderte Ausdrucksweise den Sinn ins Lächerliche zieht.“ Scaligers Parodiekonzept ist von Verweyen und Witting ausführlich und im Rückgriff auf ältere Forschungen diskutiert worden. Daraus „ergibt sich, daß der Wortgebrauch von ‚Parodia‘ in J. C. Scaligers ‚Poetik‘ zu stark interpretiert ist, wenn mit ihm im streng adversativen Sinne eine gegen das Muster oder Modell selbst gerichtete kritische Adaptation bezeichnet sein soll“ (Verweyen/Witting 1979, wie Anm. 2, S. 12). 16 Vgl. Vincenzo Maggi / Bartolomeo Lombardi: In Aristotelis librum de poetica communes explanationes (1550). Ndr. München 1969 (Poetiken des Cinquecento 4), [1. Teil], S. 63.

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des großen Epos deuten, nicht erwähnt. Aus Sicht des Leipziger Studenten und seines Umfeldes war also die antike Parodie ein durchweg spöttisches Genre, das die traditionellen wirkungsästhetischen Postulate (‚prodesse‘ und ‚delectare‘) erfüllte und nach moderner Begrifflichkeit die Bereiche der Kontrafaktur und der ‚harmlosen‘ Parodie abdeckte. Dass durch sie literarische Autoritäten gezielt oder im Nebeneffekt nachhaltig desavouiert werden konnten, geriet ihm offensichtlich nicht in den Blick. Die Ausführungen zur fünften These beginnen mit einer Pointe, indem der Verfasser bemerkt: „A quâ [nämlich der antiken Parodie] non degeneravit nova, ita tamen, ut versoriam quasi capiens, etiam ludicra antiquorum carmina ad seria imò sacra inflectat.“ [Gegenüber der antiken Parodie ist die neue nicht abgefallen; und doch verhält es sich so, dass sie gleichsam umkehrt und auch kurzweilige Gedichte der Alten zu ernsten, ja zu geistlichen umwandelt.] Schmaltz folgt also dem ‚aemulatio‘-Diskurs: Die Neuzeit besitzt die Fähigkeiten der Antike und überbietet sie zugleich. In einer auf Steigerung bedachten Argumentation führt er zunächst aus, dass auch in der Gegenwart die scherzhafte Parodie noch gepflegt werde. In einem längeren Zitat aus Scaliger wird erneut die Koinzidenz aus Verzerrung der literarischen Vorlage und Kritik außerliterarischer Gegebenheiten betont. Interessant ist an diesem Abschnitt, dass der Verfasser Texte unterschiedlicher Gattungen nennt. Er führt die italienische commedia dell’ arte ebenso an wie Friedrich Taubmanns Parodien auf horazische und juvenalische Satiren – das Problem der parodistischen Bearbeitung von per se komischen Texten benennt er nicht – und Scaligers Parodien von Versen aus der vergilischen Aeneis. Dann freilich kommt er zu den ‚parodiae sacrae‘, nach moderner Terminologie also den geistlichen Kontrafakturen. Dieser vierte Paragraph zur fünften These bildet inhaltlich und sprachlich den Höhepunkt der Abhandlung und soll deshalb vollständig zitiert werden: Sed sacrarum Parodiarum Conditores longè sunt plurimi. Videas enim carmina Diis Deabusque Gentilium dedicata, mutatis vocibus ad Deum Triunum, Patrem, Filium et Spiritum S. inflecti, imò Epithalamiis, Genethliacis, Epitaphiis, aliisque metricis vel gratulationibus vel consolationibus adaptari. Laudabili sanè studio. Nam ita Poëtarum sententias aureas, quod Hieronymi monitum est, ab iniquis possessoribus auferentes, et in Dei Ecclesiam transferentes17 Parodi Israëlitas seqvuntur, qui despoliatis AEgyptiis ex auro illorum vasa ad tabernaculum Domini fecere. 17 Die Frage des ‚usus iustus‘ klassischer Texte war ein großes Thema bei den Kirchenvätern, als locus classicus gilt Augustinus, De doctrina christiana 2,60: „Philosophi autem qui vocantur, si qua forte vera et fidei nostrae accommodata dixerunt, maxime Platonici, non solum formidanda non sunt, sed ab eis etiam tamquam ab iniustis possessoribus in usum nostrum vindicanda. Sicut enim Aegyptii non tantum idola habebant et onera gravia, quae populus Israel detestaretur et fugeret, sed etiam vasa atque ornamenta de auro et argento et vestem, quae ille populus exiens de Aegypto sibi potius tamquam ad usum meliorem clanculo vindicavit, non auctoritate propria, sed praecepto Dei ipsis Aegyptiis nescienter commodantibus ea quibus non bene utebantur, sic doctrinae omnes gentilium non solum simulata et superstitiosa figmenta gravesque sarcinas supervacanei laboris habent, […] sed etiam liberales disciplinas usui ueritatis aptiores et quaedam morum praecepta utilissima continent

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[Aber die Verfasser geistlicher ‚Parodien‘ sind bei weitem am zahlreichsten. Du kannst nämlich sehen, dass Gedichte, die den Göttern und Göttinnen der Heiden gewidmet waren, nach Änderung von Worten auf den dreieinigen Gott, Vater, Sohn und Heiligen Geist, umgebogen und sogar zu Hochzeits-, Geburtstags- und Begräbnisgedichten und anderen Gratulationsoder Trauerschriften in Versform umgewandelt werden. Gewiss mit lobenswertem Bemühen, denn indem die Parodisten die goldenen Aussprüche der Dichter, wie die Mahnung des Hieronymus lautet, ihren unbefugten Besitzern wegnehmen und sie auf Gottes Kirche übertragen, folgen sie so den Israeliten nach, die die Ägypter ausplünderten und aus deren Gold Gefäße für das Tabernakel des Herrn machten.]

Schmaltz beschreibt hier den seit dem 16. Jahrhundert häufig gepflegten Brauch, geistliche Kontrafakturen auf antike Gedichte, meist Oden, zu schreiben. Ein Beispiel wäre etwa der erste Text aus dem ersten Buch der Parodiae Horatianae des Johannes Adam, der „Ex Horat: lib I. Od. XXXV.“ (einem Gebet an die Göttin Fortuna) abgewandelt ist und folgendermaßen beginnt: „O Christe, mundi qui regis ambitum, / Praesens in omni, quà Devs es, loco, / Patri coaevus; quà Maria / Natus homo, super astra vectus.“18 [O Christus, der du den Weltkreis lenkst, gegenwärtig an jedem Ort, soweit du Gott bist, mit dem Vater gleichaltrig; soweit du von Maria geboren bist, ein Mensch, hinaufgefahren über die Sterne hin.] Derlei Bemühungen werden ausdrücklich gelobt, was in der sonst nüchtern gehaltenen Abhandlung auffällt. Doch damit nicht genug, vergleicht Schmaltz das Verfahren mit dem Verhalten der Israeliten, die bei ihrem Auszug die Ägypter ausplünderten, um aus deren Gold Weihegaben für ihren Gott herzustellen.19 Die pathetische Formulierung hat Schmaltz freilich nicht selbst geprägt, vielmehr teilweise wörtlich abgeschrieben. In dem zwölf Jahre zuvor erschienenen Lehrbuch Aurora aestiva hatte der Freiberger Lehrer Christian Funcke (1626–1695) seine 1657 gehaltene Inauguralrede De ratione legendi ac imitandi autores classicos et historicos et oratores et poetas abgedruckt, die er nach seinen eigenen Angaben „maximam partem“ aus Nicodemus Frischlins bekannter, mehrfach gedruckter Rede De imitatione kopiert hatte. Bei Funcke war nun zu lesen: Quod si igitur hic et alii prisci Autores laudem meruerunt, quod imitati sunt aliorum sententias παρωδοῦντες, quòd si Virgilius encomio dignus est, qui è sterquilinio Enniano aurum collegit, quanto magis vos merebimini laudem, si aurea Veterum scita ac dicta vestra feceritis? Hieronymus certè non imprudenter alicubi hortatur, ut, profanorum Oratorum ac Poetarum aureas

[...] debet ab eis auferre Christianus ad usum iustum praedicandi Evangelii.“ Bei Hieronymus konnte ich die von Schmaltz angeführte Stelle nicht nachweisen, und es findet sich auch keine treffende Passage in der einschlägigen, materialreichen Monographie von Christian Gnilka: Der Begriff des „rechten Gebrauchs“. Basel / Stuttgart 1984 (Chresis 1); vgl. hier vor allem S. 89–91. 18 „Ad Christum, pro Ecclesiae concordia“, in: Johannes Adam: Horatianarum parodiarum liber primus […]. Heidelberg 1611, S. 5. Zu Adam vgl. Robert Seidel: Ein deutscher Horaz in Heidelberg. Johannes Adams Parodiae Horatianae (1611). In: Noctes Sinenses. Festschrift für Fritz-Heiner Mutschler zum 65. Geburtstag. Hg. von Andreas Heil u. a. Heidelberg 2011, S. 120–128. 19 Nach Exodus 3,21 f. und 12,35 f., wo allerdings von der Verwendung des Goldes keine Rede ist.

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sententias ab iniquis possessoribus auferentes, et in Dei Ecclesiam transferentes, sequamur Israëlitas, qui spoliarunt AEgyptios, et ex auro illorum fecêre vasa ad templum Domini.20 [Wenn also dieser und andere altehrwürdige Schriftsteller Lob verdient haben, weil sie die Aussprüche anderer in Form einer ‚Parodie‘ imitierten, wenn Vergil des Preises würdig ist, der auf dem Misthaufen des Ennius Gold sammelte, um wieviel mehr werdet ihr Lob verdienen, wenn ihr die goldenen Erkenntnisse und Aussagen der Alten zu euren eigenen macht? Hieronymus mahnt gewiss nicht ohne Verstand irgendwo, dass wir, indem wir die goldenen Aussprüche der heidnischen Prosaschriftsteller und Dichter ihren unbefugten Besitzern wegnehmen und sie auf Gottes Kirche übertragen, den Israeliten nachfolgen sollen, die die Ägypter ausplünderten und aus deren Gold Gefäße für den Tempel des Herrn machten.]

In Frischlins einflussreicher Rede – und vergleichbar auch bei Funcke – stand nun allerdings diese Forderung zwischen einer langen Sequenz von Beispielen gelungener antiker Parodien und weiteren Anweisungen zur akademischen Übungsform der ‚imitatio‘, die in erster Linie zur Festigung der Stilsicherheit dienen sollten, wenngleich auch hier das Verfassen geistlicher Kontrafakturen eines der Lernziele war. Dennoch sticht die Betonung der ‚parodia sacra‘ bei Schmaltz hervor, zumal er sonst eher knapp und nüchtern argumentiert. Auffällig ist auch der diesem rhetorischen Höhepunkt unmittelbar folgende scharfe Schnitt. Schmaltz bemerkt, dass „utriusque parodiae exempla exhibet Caspar Rothius“, womit er auf eine offenbar verbreitete Parodiensammlung verweist,21 die, wie er selbst anführt, Texte von Henri Estienne, Friedrich Taubmann, Nicodemus Frischlin, den beiden Scaliger, Paul Schede Melissus, Janus Lernutius, Valens Acidalius, Janus Dousa, Caspar Cunrad, Nathan Chytraeus und anderen enthält. Und eine weitere Textsammlung wird genannt: „Phaselus Catulli Virorum Doctorum parodiis celebratus, isque à Senftlebio editus.“22 Das Interesse des Verfassers an der Unterscheidung von scherzhafter und ernsthafter Parodie, von weltlicher und geistlicher Dichtung erscheint nach dem furiosen 20 Christian Funcke: Aurora aestiva […]. Freiberg 1659, S. 287 f.; die ganze im Anhang enthaltene Rede umfasst S. 263–303, zur parodia S. 281 ff. In der Aurora aestiva selbst geht Funcke auf diverse Arten der imitatio ein, wozu etwa Paraphrase (S. 219 ff.), Heterosis (S. 231 ff., hier schöne Beispiele) und eben Formen der ‚Parodie‘ nach dem Verständnis der Frühen Neuzeit (S. 241 ff.) gehören. – Die zitierte Passage ist in der Tat leicht abgewandelt aus Nicodemus Frischlin: Oratio de exercitationibus oratoriis et poeticis, ad imitationem veterum, recte utiliterque instituendis Witebergae Anno 1587. recitata. In: Ders.: Orationes insigniores aliquot […]. Straßburg 1605, S. 112–168, hier S. 157. Frischlin behandelt in einer Sequenz die Heterosis (S. 143–148), die ‚Parodie‘ (S. 148–159) und die Paraphrase (S. 159–163) als die „tres modos, quibus aliorum verba et sententias, imitando possimus nostra facere“. Bei der Parodie bezieht er sich allein auf die Definition Scaligers, fügt jedoch hinzu, dass es auch ernsthafte Parodien gebe. Der Vergleich von Schmaltz, Funcke und Frischlin zeigt deutlich, dass Schmaltz sich an Funcke angelehnt hat. 21 Caspar Roth: Parodiarum in veterum poetarum sententias et odas celebriores partim ex aliorum nobilissimorum poetarum scriptis collectarum, partim a seipso recens-compositarum liber unus. Opus non tam ob rerum varietatem iucundissimum quam studiosae iuventuti utilissimum. Leipzig 1616. 22 Phaselus Catulli et ad eundem parodiarum a diversis auctoribus scriptarum decades quinque, quibus accesserunt in eum ipsum Phaselum notae philologicae Andr. Senftlebii ex bibliotheca Nicolai He-

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Plädoyer für die ‚parodia sacra‘ spontan erloschen. Damit wird aber auch die zentrale Frage, warum die gesamte Abhandlung so und nicht anders angelegt ist, problematisch. Die Verve, mit der Schmaltz die ‚parodia sacra‘ hervorhob, könnte in Zusammenhang mit den zu Beginn des Druckes, auf der Rückseite des Titelblattes, genannten Gönnern („Mecoenatibus ac Evergetis studiorum meorum Summis“) stehen, unter denen sich mehrere hohe Geistliche aus Schmaltzens Geburtsstadt Altenburg befanden. Auch in der Sache selbst markiert die fünfte These bis zum vierten Paragraphen eine klare Tendenz, indem sie die geistliche Kontrafaktur (‚parodia seria / sacra‘) gegenüber der witzigen Parodie (‚parodia jocosa‘) ohne spezifische inhaltliche Nutzenbestimmung präferiert. Man kann also festhalten, dass der Überbietungsdiskurs sich allein der religiösen Differenz (profan – christlich) bedient, aufgrund deren die goldenen Worte der Alten ihren unrechtmäßigen Besitzern entwunden und einer Bearbeitung im christlichen Sinne zugeführt werden müssen. Mit der sechsten These („Horatiana Parodia uti maximè usitata est, ita prae ceteris difficilis admodùm“ [Die Horazparodie ist die am meisten gebräuchliche, aber auch verglichen mit den anderen besonders schwierig.]) wendet sich der Verfasser von der typologischen Binnendifferenzierung der ‚parodia‘ zur artistisch-rhetorischen. Dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat, markiert er selbst im Einleitungssatz: „Notissimae sunt tàm sacrae quàm profanae celeberrimi Viri Thomae Sagittarii in Horatium Parodiae.“23 [Sehr bekannt sind sowohl die geistlichen als auch die weltlichen Horazparodien des berühmten Thomas Sagittarius.] Nach einer etwas willkürlich erscheinenden Aufzählung weiterer Horazparodisten erläutert er, inwiefern Horaz, den er als „dignissimus parodiâ“ bezeichnet, zugleich auch am schwierigsten zu parodieren sei. Die angeführten Gründe leuchten nicht immer ganz ein, wenn er beispielsweise die Parodie eines Vergilverses mit der einer vollständigen Ode vergleicht und letzteres Unternehmen als komplexer bezeichnet. Der Abschnitt endet im Duktus eines poetologischen Lehrbuches mit der Mahnung, man möge sich an dem schwierigen Gegenstand versuchen und dabei die oben dargelegten Regeln beachten. Aus der maßvollen Abänderung der Vorlage ergebe sich ein reizvoller neuer Text. Gänzlich als Appendix erscheint die kurze siebte These („Centones Parodiis affines sunt“ [Die Centonen sind mit den Parodien verwandt.]), die vermutlich durch das Vorbild Scaligers angeregt ist. In Scaligers Poetik folgt auf das Kapitel über die Parodie (Buch 1, Kapitel 42) unmittelbar ein kurzes über die Centonen (Kapitel 43), welches von Schmaltz vollständig und wörtlich wiedergegeben wird.24 Im übrigen präsentiert sich der Abschnitt wenig strukturiert, auffällig ist – im Kontrast zur Herausstellung der ‚parodiae nelii. Leipzig 1642. – Auch den Hinweis auf diese Textsammlung könnte Schmaltz, wie manches andere, der Schrift von Funcke verdanken. 23 Thomas Sagittarius: Horatius Christianus sive parodiae sacrae ad Horatii ductum noviter accomodatae. Jena 1615; ders.: Horatius prophanus primus sive parodiae ad res prophanas alias pro Horatii ductu noviter accomodatae. Jena 1617. Dazu vgl. Robert (wie Anm. 6), S. 59 f. 24 Scaliger (wie Anm. 15), S. 378.

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sacrae‘ weiter oben – das Lob („carmen ingeniosum, elegans atque facetum“) eines kirchenkritischen „Cento Virgilianus de Vita Monachorum“, der „de corrupto Ecclesiae statu“ handle. Dem sächsischen Protestanten Schmaltz mochte die Invektive gegen die Missstände in der Papstkirche natürlich gefallen, auch wenn er anscheinend nicht wusste, dass der Text von dem Italiener Lelio Capilupi (den er im Folgenden nennt) stammte und lange auf dem Index der katholischen Kirche stand.25 In einer ‚captatio benevolentiae‘ am Schluss behauptet der Verfasser, wenn er nicht exakt genug gewesen sei, werde man das damit entschuldigen, „quòd nihil propemodum, aut parùm certè ab aliis de naturâ ejus [der Parodie] sit literis consignatum“. [dass fast nichts oder gewiss zu wenig von anderen über das Wesen der Parodie schriftlich aufgezeichnet ist.] Diesem Urteil kann man bedingt zustimmen. Im akademischen Bereich war in der Tat wenig zum Thema publiziert worden, und die führenden Poetiken sowie manche anderen Schriften kannte und nutzte Schmaltz, soweit es ihm sinnvoll schien, in vielen Fällen, wobei er, wie der Vorlagenvergleich zeigt, recht zuverlässig zitiert. Die wichtigsten Referenztexte, die er nicht auswertet, dürften die begleitenden Abhandlungen zu Henri Estiennes Parodiae morales gewesen sein, die „die umfassendste frühneuzeitliche Kritik und Poetik der Parodie“26 enthalten. An den Haupttext des Exercitium schließen sich sieben Corollarien zu verschiedenen Themen an, die dem akademischen Brauch gemäß ebenfalls in der Disputation verhandelt werden konnten. Darunter nimmt nur das vierte Bezug auf das Parodienthema: „Gravissimè animadvertendum in Parodos illos, qui Psalmos Davidicos in sensus Satyricos aut Fescenninos distorquent.“ [Besonders streng soll man gegen diejenigen Parodisten vorgehen, die die Psalmen Davids auf einen satirischen oder derben Sinn hin verdrehen.] Es passt zu dem frommen Grundtenor der Abhandlung, dass die spöttische Psalmenparodie als Sonderform der Psalmenparaphrase abgelehnt wird.27 Auf den drei letzten Seiten des Druckes sind noch Geleitgedichte von Friedrich Rappolt (1615–1676), der dem Präses Feller als Professor der Poesie im Amt vorangegangen war, von Feller selbst und von Johann Friedrich Leibniz, der sich als ‚adfinis‘ des Verfassers bezeichnet, abgedruckt. Rappolt schließt an die auch von Schmaltz kurz angerissene Tradition der Phaselus-Gedichte an, jener Parodien (nach heutiger Terminologie: Kontrafakturen) also, die Catulls carmen 4 („Phaselus ille, quem videtis, hospites“) abwandeln und die Scaliger durch eine eigene, in seine Poetik eingerückte Version populär gemacht hatte. 25 Vgl. Reinhold F. Glei: Vergil am Zeug flicken. Centonische Schreibstrategien und die Centones ex Virgilio des Lelio Capilupi. In: Glei / Seidel (wie Anm. 6), S. 287–320, hier S. 300. 26 Robert (wie Anm. 6), S. 52. 27 Auseinandersetzungen um die richtige Bearbeitung, Übersetzung oder Vertonung des Psalters durchziehen die gesamte Frühe Neuzeit. Der Gegenstand galt als äußerst heikel, weshalb spöttische Adaptationen große Indignation hervorrufen mochten. Als Reminiszenz an diese Konflikte kann der Roman Der Psalmenstreit (ndl. Het psalmenoproer, 2007) des niederländischen Autors Maarten ’t Hart gelten, der den Streit um die ‚neue Bereimung‘ des Psalters im Jahre 1773 als historische Folie des fiktiven Geschehens wählte.

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Rappolt setzt mit seiner Kontrafaktur allerdings erst in der Mitte des Gedichtes an und bearbeitet nur die Verse 1–9 und 25–27 der Vorlage, also die Rahmenpartien, so dass das Verfahren zwar durch die auffällige Metrik vorbereitet, aber erst nach einiger Zeit – und durch abgewandelte Drucktype verstärkt – erkennbar wird. In seinem das Gedicht eröffnenden Lob der parodistischen Technik wertet er ernste und scherzhafte Parodien gleich („usus applicare ad serios / Vel et jocosos“), was im ‚parodistischen‘ Teil dezidiert wiederholt wird („sive seria / Opus foret sonare sive ludicra“). Ein zweiter wichtiger Aspekt dieses Gedichtes liegt darin, dass als „testes“, die die poetische Würde des parodistischen Genres („fuisse carminum haut vilissimum“) bezeugen, die drei großen Poetiker der Frühen Neuzeit aufgerufen werden: „Scalaque nobilem, inclytumque vulpibus, / De ponte nomen cuique Pontano fuit.“28 Der promovierte Theologe Rappolt, seit 1670 ordentlicher Professor für Theologie in Leipzig, setzte also seine Autorität dafür ein, die ‚Parodie‘, und zwar nicht nur in Form der von Schmaltz präferierten geistlichen Kontrafaktur, als wichtige literarische Schreibart zu adeln.29 Wenn Rappolt für die Dignität der zeitgenössischen Parodie steht, richtet der Präses Feller den Blick auf die lokale Öffentlichkeit. In einer „parodia“ auf die Horazische Ode carmen 3,28 – das Preisgedicht auf Neptun und andere Götter – fordert Feller zunächst seinen Respondenten auf, die Früchte seines Geistes nicht zu verstecken und dem Publikum vorzuenthalten. Im zweiten Teil des Textes heißt es dann, womöglich in einem etwas unglücklichen Versuch, die Vorlage zu adaptieren, Schmaltz werde auch noch in einem Gedicht („flexâ […] lyrâ“) Altenburg und die „gaudia principis“ besingen, der – soviel wird jedenfalls klar – als Mäzen zu gelten hat („qui Charin, / Prudentesque tenet Palladas, et Suos / Blandis flectit habenulis“). Mit dem Fürsten ist gewiss nicht Herzog Friedrich Wilhelm III. von Sachsen-Altenburg gemeint, der 1671 noch ein Kind war, sondern das Lob bezieht sich vermutlich auf dessen Vormund, Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen, Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft und Förderer von höfischer Musik und Kunst. Die Formulierung „gaudia“ könnte auf Johann Georgs Neigung zu ausgedehnten Festlichkeiten Bezug nehmen.30 Gegen diese beiden wenn nicht anspruchsvollen, so doch bemühten parodistischen Versuche zweier Leipziger Professoren – die sich beide intensiv mit dem Werk des ‚Epikureers‘ Horaz beschäftigten31 – setzt sich das kurze sechszeilige Epigramm, das den Druck 28 Also Julius Caesar Scaliger, Gerhard Johannes Vossius (‚vos‘ ndl. für Fuchs, lat. „vulpes“), Jacobus Pontanus. Die Platzierung von Pontanus ist hübsch gelungen, bei Catull endet V. 9 mit den Worten „Ponticum sinum“. 29 Zu Rappolt vgl. Allgemeine Deutsche Biographie 27 (1888), S. 301 f., sowie die bei Marti / Döring (wie Anm. 7) versammelten neueren Publikationen zur Leipziger Universitätsgeschichte, passim, u. a. S. 135 und 393, wo aus verschiedener Perspektive Rappolts frühaufklärerische Haltung, seine Neigung zum Epikureismus und seine hohe Wertschätzung der Poesie herausgestellt werden. 30 Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie 14 (1881), S. 381–383. 31 Hierzu dezidiert Reimar Lindauer-Huber: Rezeption und Interpretation des Horaz an der Universität Leipzig 1670–1730 zwischen Philologie, Philosophie und Poetik. In: Marti / Döring 2004 (wie

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beschließt, schon äußerlich ab. Verfasser ist Johann Friedrich Leibniz (1632–1696), seit 1666 Lehrer an der Leipziger Thomasschule und Stiefbruder des Philosophen, von Hartmut Rudolph charakterisiert als „rigider Lutheraner in Leipzig, wandte sich später dem Pietismus zu“.32 Er umschreibt in einer luziden, dogmatisch klar festgelegten Weise die Aufgaben des Parodisten: Qvi potis est vero Domino sacrare, profani Carminibus vates quae cecinere suis; Qui retinet numeros et verba, sed illa reformat, Ut sint Christjano digna subindè viro; Ut sint temporibus nostris et moribus apta; Ille Parodus abhinc atque Poëta cluit. [Wer in der Lage ist, dem wahren Herrn zu weihen, was die heidnischen Dichter in ihren Liedern sangen, wer deren Rhythmen und Worte beibehält, diese aber so ‚reformiert‘, dass sie danach eines Christenmenschen würdig und unseren Zeiten und Sitten angemessen sind, der heißt von jetzt an Parodist und Poet.]

Demnach ist ein echter ‚Parodist‘ nur derjenige, der weltliche Gedichte zu geistlichen umarbeitet (Leibniz benutzt das im literarischen Kontext unübliche Verb ‚reformare‘) und sich dabei auf die religiösen Leitwerte der Gegenwart bezieht. Was bei seinem Verwandten, dem Respondenten Schmaltz, sichtbar wurde, wird in diesem unauffälligen Schlussgedicht noch einmal verdichtet: Geistliche Kontrafaktur ist das legitime Handwerk des Parodisten. Die drei Begleitgedichte der Leipziger Gelehrten, die dem Disputationsdruck angefügt sind, sind in ihrer Heterogenität wohl repräsentativ zu sehen für die Optionen, die sich nicht nur dem Praktiker, sondern auch dem Theoretiker der Parodie im späten 17. Jahrhundert im Umfeld einer protestantischen Universität anboten. Drei Stimmen, die für die Würde der parodistischen Schreibart in ihrer ernsten und ihrer scherzhaften Ausprägung, für die Verbindung von literarischer Kunst und Mäzenatentum sowie für die ausschließliche Nutzung der intertextuellen Strategie zu geistlichen Zwecken stehen. Allen gemeinsam ist freilich, dass eine mögliche vorlagenkritische Tendenz der Parodie nicht in den Blick gerät, literarische Kritik mithin keine Rolle zu spielen scheint. Es wäre nun zu fragen, worin die Gründe dafür liegen könnten und inwiefern sich dieser Befund im Rahmen des Disputationsschrifttums in der Folgezeit veränderte. Anm. 7), S. 379–407. Feller und Rappolt ging es bei ihren Bemühungen nicht in erster Linie um die Möglichkeit, Horaz in Form der ‚parodia sacra‘ zu bearbeiten. 32 Hartmut Rudolph: Daniel Ernst Jablonski und Gottfried Wilhelm Leibniz in ihrem ökumenischen Bemühen. In: Daniel Ernst Jablonski. Religion, Wissenschaft und Politik um 1700. Hg. von Joachim Bahlcke und Werner Korthase. Wiesbaden 2008 (Jabloniana 1), S. 265–284, hier S. 266. Vgl. daneben vor allem Detlef Döring: Der junge Leibniz und Leipzig. […] Berlin 1996, S. 53 f., mit Quellennachweisen. Auch hiernach erscheint Johann Friedrich Leibniz als ein frömmelnder Weltverächter, dem man kaum ein Interesse an der ‚parodia iocosa‘ zutrauen kann.

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III. Wir müssen einen Sprung an die äußersten Grenzen der Frühen Neuzeit machen und überdies den deutschen Kulturbereich verlassen, wenn wir uns dem zeitlich folgenden akademischen Disputationsdruck zuwenden wollen. Mehr als hundert Jahre nach Schmaltz und Feller beschäftigten sich im schwedischen Uppsala der Präses Petrus Svedelius (1732–1805), Professor der Poesie, und der Respondent Laurentius Petrus Hambraeus „Helsingus“ unter dem Titel Dissertatio de parodia (1776) mit einem Thema, das in Theorie und Praxis seither zahlreiche Verschiebungen erfahren hatte.33 Der schmale Druck, der keine Paratexte enthält, entwickelt in sechs durchnummerieren, aber nicht mit Überschriften versehenen Thesen auf elf Textseiten seine Argumentation. Die historischen Ausführungen zur Herkunft und Entwicklung der parodistischen Schreibart in der Antike, die etwa den ersten Teil der Abhandlung einnehmen, decken sich faktisch mit dem, was Schmaltz schreibt, und führen auch dieselben Gewährsleute an. In diesem Teil ist aus der neueren Literatur auch eine Iliasparodie des Briten Joshua Barnes, dem eine „Musa vere Homerica“ (S. 4)34 bescheinigt wird, aus dem Jahre 1679 zitiert,35 ein Text, der ganz in der Tradition der unkritischen Adaptationen steht. Mit der vierten These beginnt der systematische Teil der Abhandlung, in welchem der Verfasser36 den Zweck („finis“) der Parodie allgemein bestimmen und Anweisungen („praecepta“, S. 7) für deren Realisation geben will. Bei der Formulierung des Zwecks hält er sich zunächst unverbindlich an das horazische ‚prodesse et delectare‘, um alsbald eine Differenzierung vorzunehmen. Hier kommt nun, anders als bei Schmaltz, der die ernste von der scherzhaften Parodie unterschied, als Differenzkriterium die Kritik ins Spiel. Mit Blick auf einige antike Texte, die freilich seltsam unbestimmt bleiben, sowie auf Parodien des Franzosen Boileau (Chapelain décoiffé) und des Schweden Helsing „in Haquin. Bager“ 33 Petrus (Pehr) Svedelius war seit 1772 Professor der Poesie in Uppsala, später wurde er u. a. zum Doktor der Theologie promoviert und hatte das Rektorat der Universität inne. Er leitete insgesamt 38 Disputationen als Präses. Svedelius „was accounted one of the best teachers in the University in the Gustavian period“. Sten Lindroth: A History of Uppsala University 1477–1977. Uppsala 1976, S. 124. 34 Petrus Svedelius (Präs.) / Laurentius Petrus Hambraeus (Resp.): Dissertatio de parodia. o.O. [Uppsala] 1776. – Im Falle dieses Druckes sind die Seitenangaben jeweils direkt an das Zitat angefügt. 35 Αὐλικοκάτοπτρον, sive Estherae historia, poetica paraphrasi idque Græco carmine, cui versio Latina opponitur, exornata, una cum scholiis seu annotationibus Græcis [...]. Additur Parodia Homerica de eadem hac historia. London 1679. 36 Wir gehen davon aus, dass es sich hierbei um den Präses Svedelius handelt, da die Verfasserschaft eines Respondenten meist durch den Hinweis „Respondens et auctor“ auf dem Titelblatt eigens vermerkt wird. Für die Verhältnisse in Uppsala im 18. Jahrhundert betont der Universitätshistoriker ausdrücklich: „[…] it became increasingly common for both theses pro gradu and theses pro exercitio to be written by the professor who acted as president and not by the respondent.“ Lindroth (wie Anm. 33), S. 139.

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(S. 8)37 formuliert der Autor das Ziel einer literarischen Kritik im Medium der Parodie: „Insignis quidem Parodiae usus in vellicandis jejunis versificatorum fetibus“ (S. 8). [Ein besonderer Nutzen der Parodie liegt in der Herabsetzung ärmlicher Erzeugnisse von Verseschmieden.] So genannte Poeten, die „modum et fontem recte scribendi nesciant“ [die rechte Weise und die Quelle des guten Schreibens nicht kennten], seien daher „veluti pueruli corrigendi, quorum indecora facta per ridiculas imitationes reprehendimus“ (S. 9) [wie kleine Jungen zu verbessern, deren ungezogene Handlungen wir durch lächerliche Nachäffungen tadeln]. Mit diesem Vergleich rückt Svedelius nahe an die heute geläufige Definition der Parodie als einer vorlagenkritischen Form imitierender Textverarbeitung heran. Und er unterscheidet von dieser kritischen Parodie sogleich die andere Form, die eben ‚unkritisch‘ sei: „Alterum ab hoc alienum praebet usum Parodia in imitando sine animadversione occupata: invertitur quidem sensus, non vero ut inde vel in Poëma exemplar, vel in Auctorem aliquid redeat joci acriorisque salis.“ (S. 9). [Einen zweiten, von diesem abweichenden Nutzen bietet eine Parodie, die sich auf Nachahmung ohne Kritik beschränkt: Der Sinn wird zwar verkehrt, aber nicht so, dass dadurch irgendetwas an Spott oder schärferem Witz auf das Beispielgedicht oder auf dessen Verfasser fällt.] Durch die explizite Differenzierung wird klar, dass die Parodie im späten 18. Jahrhundert auch literaturkritische Funktion einnehmen kann, und zwar nicht nur faktisch, sondern auch nach ihrem in der Theorie vorgetragenen Anspruch. Wir werden sogleich die Frage erörtern, wo diese im Jahre 1776 ja nicht mehr ganz neue Zielsetzung ihre Ursprünge hat. Zunächst sollen jedoch noch einige weitere Erläuterungen von Svedelius referiert werden, die teilweise wichtige Ergänzungen und Spezifizierungen gegenüber der zentralen Begriffsbildung sind. Der Hinweis darauf, dass in der Antike (und auch noch in neuerer Zeit) die unkritische Parodie geläufiger war, weil man sie „ad imitandum et exprimendum veterum elegantias Poëtarum“ (S. 10) [zur nachahmenden Wiedergabe der stilistischen Eleganz der alten Dichter] gut einsetzen konnte, bestätigt den allgemeinen Befund, dass eine respektvolle ‚imitatio‘ und ‚aemulatio‘ kanonischer Autoren – ob im Modus ernster oder scherzhafter Realisation – bis weit in die Frühe Neuzeit hinein dominierte und dass vorlagenkritische Parodien in der Regel nicht auf Einzeltexte ‚klassischer‘ Autoren oder auf deren Stil zielten, sondern eher auf bestimmte pragmatische Textsorten wie astrologisches Fachschrifttum, protestantische Leichenpredigten oder auch akademische Disputationen, die mit ihrer drängenden gesellschaftlichen Präsenz die parodistische Kritik auf den Plan riefen.38 Svedelius geht des weiteren auf die im 17. und 18. Jahrhundert besonders in Frankreich geübte Form der Theaterparodie ein und formuliert bereits das Problem, dass ein anerkannter Text durch eine Parodie beschädigt werden könnte. 37 Weder der Verfasser noch der Titel der Parodie bzw. deren Gegenstand konnten präzise verifiziert werden. 38 Vgl. hierzu die Ausführungen von Seidel (wie Anm. 6). Gebrauchstexte galten nicht als ‚poetisch‘ und wurden daher in den theoretischen Schriften zur stets in gebundener Rede vorgestellten (s. o.) Parodie nicht behandelt.

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Scio equidem esse, qui ita existimant, e Parodia in exemplar suum nihil redire incommodi ridiculive; at vèro contrariam rem licet probare nequeamus, intime sentimus. Relegendo, quod plurimi fecisti poëma, in quod Parodia sagacior exstiterit; vel tantillum percipies taedii: scilicet, vel nobis maxime invitis, et imagines et verba παρωδικά in animum recurrunt risumque in argumento gravissimo reducunt (S. 11 f.). [Ich weiß sehr wohl, dass es Leute gibt, die glauben, dass von einer Parodie nichts an Schädlichem oder Lächerlichem auf ihre Vorlage zurückfalle; aber wenn wir das Gegenteil auch nicht beweisen können, so spüren wir es doch im Innern. Wenn man ein Gedicht, das man hoch geschätzt hat und zu dem eine Parodie der scharfsinnigeren Art entstanden ist, erneut liest, wird man wohl nur ein wenig Überdruss empfinden. Doch natürlich kommen uns, auch ganz gegen unseren Willen, die Bilder und Worte der Parodie wieder in den Sinn und erneuern unser Lachen selbst bei einem sehr ernsthaften Gegenstand.]

Das Argument begegnet in Deutschland etwa zeitgleich bei Sulzer39 und verbreitete sich wenige Jahrzehnte später mit dem Aufkommen von Goethe- und Schiller-Parodien. Legendär ist die Reaktion eines Anonymus, der in einem Gedicht Die Feinde der Parodie auf Gottfried Günther Röllers Der Kaffee betitelte Parodie auf Schillers Lied von der Glocke Bezug nimmt und das unbewusste (vgl. „nobis […] invitis“) Rezeptionsverhalten der Leser reflektiert: „Immer fällt das Kaffeekännchen / Mir bey Schillers Glocke ein.“40 Es versteht sich, dass im Rahmen eines akademischen Diskurses an die Verantwortung der Parodiejünger appelliert wird, und gerade die „Parodia castigatoria“ habe im horazischen Sinne darauf zu achten, „ut ridentes verum dicamus“ (S. 12).41 Neben der Forderung nach Wahrheit steht die Mahnung, die angehenden Parodisten möchten nicht geschmacklos oder unzüchtig schreiben, sondern ihre Scherze vielmehr einsetzen wie ein gutes Parfum, das im Übermaß angewendet auch Unwillen erzeuge. Ein Blick auf den Anmerkungsapparat in Svedelius’ Dissertation lässt unschwer erkennen, auf welche Autorität er sich stützt. Unter den theoretischen Schriften zur Parodie, die er zitiert, erscheint nur ein Text, der später als Scaliger und Estienne datiert, dieser allerdings prominent: Es handelt sich um den Discours sur l’origine et sur le caractère de la parodie aus der Feder des Abbé Claude Sallier (1685–1761), der bereits 1733 erschienen war.42 Svedelius erwähnt Sallier gleich auf der ersten Seite seiner Schrift,43 zitiert später 39 Johann George Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste […]. 2. Teil. Leipzig 1775, S. 394: „[…] könnten durch Parodien die wichtigsten Gedichte und die erhabensten Schriften über wahrhaftig große Gegenstände, allmählig so lächerlich gemacht werden, daß die gesamte schönere Welt sich derselben schämte.“ 40 Zitiert bei Verweyen / Witting 1979 (wie Anm. 2), S. 29. 41 Nach Horaz, Satiren 1,1,24. – Auch hierzu gibt es einen Vorgriff in der Mitte der Abhandlung, wo Svedelius über „usum et abusum“ (S. 6) der neuzeitlichen Parodie räsonniert. 42 In: Histoire de l’Académie Royale des Inscriptions et Belles Lettres, avec [getrennt paginiert] Les Mémoires de Littérature tirez des Registres de cette Académie […]. Tome septième. Paris 1733, [Mémoires] S. 398–410. 43 Hier übrigens die später folgenden Ausführungen zur vorlagenkritischen Parodie bereits – eben mit Bezug auf Sallier – vorwegnehmend (S. 2).

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ausführlich eine Passage, in der das seit der Antike geläufige unkritische Parodieren der homerischen Epen thematisiert wird,44 und schließt mit den letzten Worten aus Salliers Artikel. Damit ist zwar die Autorität Salliers deutlich markiert, nicht aber die entscheidende Tendenz, die er von ihm – und womöglich von anderen Autoren derselben Zeit – übernommen hat. Die oben erwähnten literaturkritischen Funktionen, die Svedelius der Parodie zuschrieb, wurden nämlich von Sallier als einem der ersten Theoretiker festgeschrieben, und es muss offen bleiben, warum Svedelius trotz seines Bekenntnisses zu dem „Celeber[rimus] Sallier“ (S. 8) gerade die diesbezüglichen Stellen nicht zitiert. So schreibt Sallier beispielsweise: La Parodie doit avoir pour but l’agréable et l’utile […]. Elle entreprend tantost d’exposer au grand jour les ridicules qu’on observe dans la conduite des hommes, tantost de faire appercevoir les fausses beautez d’un ouvrage, et de désiller les yeux à un auteur que l’amour propre et la flatterie avoient séduit: elle luy fait envisager l’éloignement où il est de la perfection qu’il croyoit avoir atteint.45

Weitere – unausgesprochene – Parallelen liegen auf der Hand: Auch Sallier will nach einem historischen Überblick übergehen „à l’examen du caractére [sic] de la Parodie, et des préceptes qu’elle doit observer“,46 von ihm stammt der Vergleich der Parodie mit einem guten Parfum, und eine Parallele findet sich auch im Hinblick auf die Fehler, die der Parodist vor allem zu vermeiden habe: „l’esprit d’aigreur, la bassesse de l’expression et l’obscénité“.47 Es ist hier nicht der Raum, die Komplexität der wichtigen und einflussreichen Abhandlung von Claude Sallier im Detail herauszuarbeiten, wie es auch nicht möglich ist, zeitgleiche Traktate wie etwa Louis Fuzeliers Discours à l’occasion d’un discours de M[onsieur] D[e] L[a] M[otte] sur les Parodies von 1731 zu besprechen.48 Wichtig wäre zur Einschätzung der Bedeutung Salliers in Frankreich, wo, wie man sieht, das literaturkritische Parodiekonzept entwickelt wurde, der Hinweis darauf, dass die Jahrzehnte später erschienene Encyclopédie Diderots und d’Alemberts sich ganz auf Salliers Abhandlung stützte.49

44 Svedelius, S. 8: „Aucun Poëte […] n’ a été plus souvent ni plus universellement parodié, qu’ Homere: ce n’étoit pas assurément dans la vûë de critiquer ses vers: c’ étoit au contraire, parce qu’ on les voyoit toûjours avec plaisir, et que les applications ingenieuses, qu’ on en faisoit en les parodiant, etoient plus favorablement recûës, que celles où l’ on auroit emprunté les vers de tout autre Poëte.“ Vgl. Sallier (wie Anm. 42), S. 405 f. 45 Sallier (wie Anm. 42), S. 407. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 409. 48 [Louis Fuzelier:] Discours à l’occasion d’un discours de M. D. L. M. sur les Parodies. In: Les Parodies du Nouveau Théâtre Italien. Bd. 1. Paris 21738 [Ndr. Genf 1970], S. XIX–XXXV. 49 Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Bd. 12. Paris 1765, S. 73 f. Der Extrakt aus Sallier ist kurz und geht auf das kritische Potential der Parodie so gut wie nicht

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Schon Verweyen und Witting konstatieren, dass im deutschen Kulturbereich „der begriffsgeschichtliche Wandel im Wortgebrauch von ‚Parodie‘ in Richtung auf die Bezeichnung einer spezifischen Form kritischer Textverarbeitung“50 im letzten Drittel des 18. Jahrhundert vollzogen wurde, und sie weisen auf das wenige Jahre nach Svedelius’ Dissertation erschienene einflussreiche Lehrbuch von Johann Joachim Eschenburg hin, der in seinem Passus zur Parodie die ‚satirische‘ und vorlagenkritische Funktion zumindest andeutet: Eine besondre Art der Satire ist die Parodie, welche entweder den einzelnen Versen oder dem ganzen Gedichte eines bekannten Dichters durch Aenderung einzelner Wörter, oder durch Anwendung derselben auf einen andern Gegenstand, einen veränderten Sinn giebt, oder die ganze Manier eines Dichters nachbildet, um dadurch sein Gedicht oder den Gegenstand desselben zu belachen. Gemeiniglich wählt man dazu ernsthafte Gedichte, um sie durch die Parodie komisch zu machen.51

Im Frankreich der Frühaufklärung war das literaturkritische Potential der Parodien im Kontext der ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘ und wohl mehr noch in Folge der Modeerscheinung der Theaterparodien in den Blick der Theoretiker geraten. Eine dichte Folge einschlägiger Abhandlungen scheint es in den 1730er Jahren gegeben zu haben.52 Im deutschen Kulturbereich hat die Rezeption dieser Theorien offenbar erst gut eine Generation später eingesetzt, wobei neben Eschenburg vor allem die zeitgleich erschienene Geschichte der komischen Litteratur von Carl Friedrich Flögel mit ihren sehr ausführlichen Anmerkungen zur Parodie normsetzend wurde. Flögel differenziert die verschiedenen Formen der ‚Parodie‘ danach, welches Verhältnis Vorlage und Adaptation zueinander einnehmen. Er vertritt zwar einen sehr weiten Parodiebegriff, führt dabei aber die meisten von der Antike bis zu den französischen Aufklärern formulierten Definitionsansätze zusammen und weist auch auf den vorlagenkritischen Parodientypus hin: Nachahmung eines elenden Originals, um es desto lächerlicher zu machen. Dieses Kunstgriffs hat man sich unzähligemal in der gelehrten Welt bedient, dem guten Geschmack aufzuhelfen, und den verdorbnen zu stürzen; und es ist auch gemeiniglich von glücklicher Wirkung gewesen. Dieses bezeigen die Epistolae obscurorum virorum, die dem Küchenlatein der Mönche einen Hauptstoß gaben […].53

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ein, außerdem enthält er entstellende Fehler, so heißt es z. B.: „Henri Etienne qui florissoit vers la neuvième olympiade, a été le premier inventeur de la parodie.“ Verweyen / Witting 1979 (wie Anm. 2), S. 22. Johann Joachim Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften […]. Berlin / Stettin 1783, S. 87. Eschenburg führt Salliers Discours explizit als Referenz an. S. 88 notiert er ein paar historische Hinweise und Quellenangaben moderner ‚Parodien‘, wobei es sich vor allem um Travestien antiker Epen handelt. Vgl. Jürgen von Stackelberg: Literarische Rezeptionsformen. Übersetzung – Supplement – Parodie. Frankfurt am Main 1972 (Schwerpunkte Romanistik 1), S. 204–206; Verweyen / Witting 1979 (wie Anm. 2), S. 19–22. Carl Friedrich Flögel: Geschichte der komischen Litteratur. Bd. 1. Liegnitz / Leipzig 1784, S. 352.

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Hier wird nun die Diskussion um den Wert der Parodie an die zeitgenössische Geschmacksdebatte angeschlossen, wie auch eine weitere Passage belegt: Man kann der Parodie ihren Nutzen, was die Werke des Geschmacks betrift, auf keine Weise absprechen. Sulzer rühmt sie als ein gutes Mittel zur Hemmung gewisser erhabner Ausschweifungen, und des gelehrten, politischen und gottesdienstlichen übertriebnen Fanatismus. […] Auch in der Gelehrsamkeit und dem Geschmack giebt es einen pedantischen Fanatismus, gegen den die Parodie ein bewährtes Mittel ist [Anm.: Sulzers Theorie der schönen Künste. Parodie].54

Geschmacksdiskussion und Kritik: zwei Aspekte des Literaturdiskurses der Aufklärung, die von Frankreich aus den deutschen Kulturbereich beeinflussten und das System der Funktionen intertextuellen Schreibens nachhaltig veränderten. – Flögels Abhandlung ist in ihrer Offenheit für unterschiedliche Parodiekonzepte freilich auch ein Beleg dafür, dass man sich bei der Skizze einer Entwicklung des Parodiebegriffs „vor Teleologisierung hüten“ muss,55 da eben der affirmative Gebrauch der Technik wie der Bezeichnung bis in die Moderne hinein fortgeführt wird. Das bis heute bestehende Problem der „Gleichzeitigkeit sehr heterogener Parodiebegriffe“56 ist nun allerdings nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, die ja vom spezifischen Verständnis von parodia in einer konkreten akademischen Gebrauchsschrift aus dem Jahre 1671 ausging und die Ergebnisse der Analyse in Beziehung zu einem gut einhundert Jahre später erschienenen Disputationsdruck setzen wollte.

IV. Wenn wir uns abschließend mit der Frage beschäftigen, welchen Gewinn der Literaturund Wissenschaftshistoriker aus der Analyse jener akademischen Gebrauchsschriften zum Thema ‚Parodie‘ zieht, steht zunächst einmal der alte Disput über das innovative Potential dieses Texttyps im Hintergrund. Die Zeitgenossen standen den Dissertationen vielfach positiv gegenüber, was man etwa in Johann David Michaelis’ seinerzeit lebhaft aufgenommenem Räsonnement über die protestantischen Universitäten in Deutschland aus dem Jahre 1776 lesen kann: „Einiger Professoren ihre Dissertationen schätzt das Publicum höher, als ihre Bücher, denn in diesen wiederholen sie das vorhin Bekannte, in jenen sagen sie das Neue.“57 Demgegenüber vertreten moderne Forscher, nicht zuletzt der Empfänger dieser Festschrift, eine skeptischere Position. Hanspeter Marti, der zweifellos beste Kenner der 54 55 56 57

Ebd., S. 353. Der Verweis bezieht sich auf den Parodie-Artikel bei Sulzer (wie Anm. 39), S. 394 f. Verweyen / Witting 1979 (wie Anm. 2), S. 22. Ebd., S. 26. Johann David Michaelis: Räsonnement über die protestantischen Universitäten in Deutschland. Teil 4. Frankfurt / Leipzig 1776 [Ndr. Aalen 1973], S. 15.

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Materie, sieht „die Hauptaufgabe der disputatio […] in der Regel darin, den Teilnehmern anerkanntes Meinungswissen zu vermitteln, dieses zu festigen und zu verbreiten“.58 In der Sache ist, zumindest was die beiden hier analysierten Drucke betrifft, der Position Martis eindeutig zuzustimmen. Die Leipziger Dissertation basiert auf den Ergebnissen, die die Poetiken des Humanismus und der Barockzeit festgeschrieben hatten, und die Schrift aus Uppsala reflektiert allem Anschein nach den Stand, den die Begriffsbildung der europäischen Aufklärung, von Frankreich gesteuert, gegen Ende des 18. Jahrhunderts erreicht hatte. Zu Beginn unserer Untersuchung hatten wir allerdings das Ziel formuliert, die Schriften vor allem mit Blick auf ihren institutionellen Kontext, ihre theoretischen und materiellen Grundlagen und ihre konkreten Wirkabsichten hin zu untersuchen. Hierzu wären folgende, in Teilen sicher vorläufige Feststellungen zu machen: Die Universitäten Leipzig und Uppsala waren in den Jahren 1671 bzw. 1776 weithin anerkannte und gut besuchte, aber nicht eigentlich Reformuniversitäten. Die Lehrstühle für Poetik, die die beiden Präsides bekleideten, galten traditionell nicht als Foren, auf denen sich innovative Ideen entwickelten, vielmehr wurden die Studenten im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert hier zu einer Vertrautheit mit (antiker) Literatur geführt und auch dazu angeleitet, selbst poetische Elaborate auf allerlei ‚Gelegenheiten‘ zu verfertigen.59 Dazu waren literarhistorisches Wissen (vor allem die Kenntnis klassischer Texte), formalrhetorische Techniken und ein Bewusstsein von Nutzen und Gefahren öffentlicher Ausstellung der eigenen Produkte vonnöten. Was der Student zu dem speziellen Thema der ‚Parodie‘, womit ja ein Teilaspekt der generellen Lehre von der imitatio bezeichnet war, wissen musste, wurde im Medium der Disputation rekapituliert und war in den aus Anlass des Actus herausgegebenen Thesendrucken nachzulesen. Dass unter den nach Tausenden zählenden ‚philosophischen‘ Dissertationen der Gegenstand der parodia, jedenfalls unter dieser Bezeichnung, so extrem selten vertreten war, ist etwas überraschend, da die Schreibart sich zu unterschiedlichsten Zwecken einsetzen ließ und – wie wir gesehen haben – den im 18. Jahrhundert aufkommenden Problemkomplex der literarischen Kritik berührte. Die künftige Sichtung poetologischer, im weiteren Sinne auch rhetorischer Dissertationen sollte stets einen Blick darauf richten, inwiefern intertextuelle Schreibverfahren reflektiert werden, denn es wäre erstaunlich, wenn im akademischen Umfeld der Gegenstand soviel seltener behandelt worden wäre als in anderen Bereichen der gebildeten Öffentlichkeit. Dass die Parodie Gelegenheit zum gelehrten Disput bot und unterschied-

58 Hanspeter Marti: Philosophieunterricht und philosophische Dissertationen im 17. und 18. Jahrhundert. In: Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. Hg. von Rainer Christoph Schwinges. Basel 1999 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 1), S. 207–232, hier S. 215. 59 Für Leipzig versucht Döring 2009 (wie Anm. 7), S. 554–559, eine Verortung der Universität im Vergleich mit anderen Institutionen des Alten Reichs; zu Uppsala vgl. Lindroth (wie Anm. 33), S. 124.

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liche Positionen dazu durchaus öffentlich artikuliert werden konnten, deuten die oben analysierten Paratexte der Leipziger Dissertation ja an. Beide Verfasser zitieren großzügig aus Quellen der Antike, des Humanismus und der jeweiligen Gegenwart. Teilweise sind diese Zitate durch Quellenangabe und / oder Schrifttype markiert, gelegentlich – wie an der besprochenen Stelle in der Leipziger Dissertation – ist der Nachweis auch weggelassen. In der Regel sind die markierten Zitate zuverlässig und lassen sich leicht verifizieren. Besonders Schmaltz hat hier gründlich gearbeitet, wenngleich man natürlich nicht die bibliographischen Standards der Moderne anlegen kann. Bei Schmaltz sind von den damals vorliegenden Referenztexten, auf die die parodiegeschichtliche Forschung sich heute bezieht, die meisten erwähnt. Auffällig ist bei ihm lediglich der Verzicht auf die wichtigen Paratexte aus Estiennes Parodiae morales (1575), die bei Svedelius dreimal zitiert sind. Sucht man nach den die Verfasser jeweils leitenden Autoritäten, wird man im Falle der Leipziger Dissertation von 1671 eine ganze Reihe zeitgenössischer Texte finden, die sich allerdings meist auf die Rekonstruktion der antiken Geschichte der Parodie beziehen. Für die komische Variante der neuzeitlichen Parodie verweist Schmaltz interessanterweise explizit und recht ausführlich auf die Poetik des Jesuiten Alessandro Donati60 (wie übrigens auch auf Masen), während er für die ihm offenkundig wichtigere, ernsthafte Variante die von ihm benutzte, erst wenige Jahre zuvor erschienene Schrift von Christian Funcke als Prätext nicht kennzeichnet. Svedelius hingegen markiert als Leittext sehr deutlich die vierzig Jahre zurückliegende Abhandlung Salliers, die auch von seinen Zeitgenossen in Deutschland noch als maßgeblich gesehen wurde und – zumindest aus dem wissenschaftshistorischen Rückblick – den im 18. Jahrhundert formulierten Paradigmenwechsel hin zu einer literatur-, also vorlagenkritischen Parodie repräsentiert. Beide Verfasser der Dissertationen erweisen sich als kundig im Hinblick auf die zu ihrer Zeit verfügbaren antiquarischen Hilfsmittel und zeigen ebenfalls Kenntnisse der geläufigen Theorien. Dass sie selbst nicht an der Spitze der Theorieentwicklung zu stehen vermochten, liegt im Falle der Leipziger Dissertation an der Zeitsituation um 1670, die enzyklopädischen Bestandsaufnahmen günstiger war als innovativen Konzepten, während bei der Abhandlung von Svedelius der Vorsprung der Entwicklung literaturkritischer Schreibstrategien in Frankreich für die Uneigenständigkeit mitverantwortlich war. Die konkreten Absichten eines Disputationsdruckes abzuschätzen ist naturgemäß schwierig, weil der Übungscharakter der Textsorte möglicherweise mit einem situationsunabhängigen, rein sachlichen Interesse des Autors kollidiert oder zumindest andere Akzentsetzungen erfordert. Die Leipziger Dissertation ist als ein explizit vom Respondenten verfasster Text in besonderer Weise als ‚specimen eruditionis‘ zu bewerten, was möglicherweise die besonders ausführliche Dokumentation der historischen Quellen erklärt. In poetologischer Hinsicht fällt die adhortative Wendung in These VI, § 7, auf, wo die 60 Alexander Donatus S.J.: Ars poetica sive institutionum artis poeticae libri tres. Köln 1633. Im 10. Kapitel des 3. Buches findet sich der Abschnitt „Parodia“ (S. 267 f.), den Schmaltz teilweise wörtlich zitiert, teilweise paraphrasiert, jedenfalls fast vollständig in seine Abhandlung integriert.

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besondere Schwierigkeit der Horazparodien als Inzitament für anspruchsvolle Versuche angeführt wird: „Tantumque abest praetereà, ut à parodiis Horatianis absterrere quem velimus, ut potius, cum diligentiae etiam difficillima quaeque pervia sint, Flaccum gnaviter imitandum, et in aliam per parodias transformandum faciem censeamus.“ [Ich bin außerdem so weit davon entfernt, jemanden von Horazparodien abschrecken zu wollen, dass ich vielmehr meine, dass, da ja für die Gewissenhaftigkeit auch die schwierigsten Wege gangbar sind, Horaz geflissentlich nachgeahmt und durch Parodien in eine andere Gestalt verwandelt werden soll.] Auf der funktionalen Ebene schließlich fällt das besondere Engagement des Verfassers für die geistliche Parodie auf, wozu auch das vierte Corollarium mit dem Verdikt gegen satirische Psalmenparodien und das Geleitgedicht seines frommen Verwandten Johann Friedrich Leibniz passen. Svedelius als Verfasser der spätaufklärerischen Dissertation aus Uppsala arbeitete insgesamt etwas nachlässiger. Gewiss war auch hier der Aufweis der historischen Entwicklung des Parodiebegriffes, über die im Actus disputiert werden sollte, von Belang. Gegen Ende der Abhandlung treten freilich die rhetorisch-poetologischen Maximen und die funktionalen Aspekte deutlich gegenüber dem dokumentarischen Aspekt in den Vordergrund. Dem Verfasser gelingen wirkungspoetische Überlegungen wie die zur möglicherweise unbeabsichtigten Beschädigung einer Vorlage durch die Parodie. In einzelnen Formulierungen berühren sich der ästhetische und der moralische Diskurs in einer Weise, die an neuere Überlegungen zum ‚Recht‘ der Satire denken lässt: „Semper qui contra jus fasque sapuerit, si vel ingeniosissime, egregie desipit“ (S. 12). [Wer gegen Recht und Ordnung seinen Verstand gebraucht, selbst wenn er es auf geniale Weise tut, der handelt immer auf glänzende Weise töricht.] Dem Text aus dem Jahre 1776 ist anzumerken, dass der Verfasser eine Spannung zwischen poetischer Ingeniosität und gesellschaftlicher Verträglichkeit von Literatur wahrnahm, die am Satireverdikt des Leipziger Autors ein Jahrhundert zuvor noch nicht zu erkennen war. Dass im Jahrzehnt des Sturm und Drang, der von Deutschland aus auch die nördlichen Nachbarn erreichte, eine in lateinischer Sprache verfasste, auf das imitative Dichten in fremder Zunge zielende Abhandlung als Anachronismus erscheinen mochte, ist wiederum ein anderes Phänomen, das über die Thematik dieses Beitrags hinausweist.61

61 Vgl. Robert Seidel: Lateinische Theaterapologetik am Vorabend des Sturm und Drang. Die Vindiciae scenicae von Philipp Ernst Rauffseysen (1767). In: Das lateinische Drama der Frühen Neuzeit. Exemplarische Einsichten in Praxis und Theorie. Hg. von Reinhold F. Glei und Robert Seidel. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 129), S. 287–312.

Herbert Jaumann (Greifswald)

Jakob Thomasius, ein protestantischer Späthumanist Seine Dissertationes und Programmata zur Philosophiegeschichte

Vorbemerkung zu Leben und Werk Jakob Thomasius (25. oder 27.8.1622–9.9.1684) entstammt einer angesehenen, in der dritten Generation in Leipzig ansässigen Juristenfamilie, und er ist mit dieser Stadt, ihrem Bürgertum und dessen Bildungsinstitutionen zeitlebens aufs engste verbunden. Er hat Leipzig, mit Ausnahme des Schulbesuchs in Gera und eines kurzen Studienaufenthalts in Wittenberg, später nie für längere Zeit verlassen. Dennoch ist sein geistiger Horizont derjenige eines europäischen Späthumanisten, der durchaus mit den großen Namen in den Niederlanden vergleichbar ist (vergleichbar – nicht gleichzusetzen), wenn auch mit einem entschieden lutherischen Mittelpunkt, der zu seiner Zeit in Kursachsen durchgesetzt war. Nach dem Dreißigjährigen Krieg war die libertine und allenfalls kalvinistische Prägung der europäischen Gelehrtenrepublik bereits Geschichte, zumal in Deutschland, wo von einem libertinage érudit (Pintard) um 1600 wie auch später nur in ganz wenigen Einzelfällen die Rede sein konnte.1 Andererseits wird meist übersehen, daß der ältere Thomasius als einziger in der bisherigen Geschichte seiner Familie, die im frühen 16. Jahrhundert aus Oberfranken über Thüringen nach Leipzig gekommen war, nicht die Rechte studierte und kein Jurist geworden ist. Eine solche Abweichung vertritt nur noch einer aus der Reihe der berühmten Träger dieses Namens: im 19. Jahrhundert der Erlanger Theologe Gottfried Thomasius (1802–1875), mit dem ein prominenter Thomasius auch wieder nach Franken bzw. Bayern zurückgekehrt war. Jakob Thomasius besuchte mit dem jüngeren Bruder Johann, dem späteren Juristen, Gesandten beim Reichstag in Regensburg und Verfasser des Schäferromans Damon und Lisille (1663),2 der sich wie der Vater Michael noch „Thomas“ nannte (1624–1679), das Gymnasium in Gera. Nach der Immatrikulation in Leip1 Vgl. Herbert Jaumann: ‚Wilder‘ Libertinismus? Der Fall Matthias Knutzen. In: Vergesellschaftung unter Abwesenden. Räume des clandestinen Untergrunds in der Frühen Neuzeit. Hg. von Martin Mulsow (im Druck). Zum Begriff vgl. den viel zu wenig bekannten Beitrag von Jean-Claude Margolin: Reflexions sur l’emploi du terme libertin au seizième siècle. In: Aspects du Libertinisme au XVIe siècle. Actes du colloque international de Sommères. Paris 1974, S. 1–33. 2 Vgl. Herbert Jaumann: Bürgerlicher Alltag im deutschen Schäferroman? Gattungsgeschichtliche Thesen zu Damon und Lisille. In: Schäferdichtung. Referate der 5. Arbeitsgruppe beim zweiten Jahrestreffen des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur 1976 in Wolfenbüttel. Hg. von Wilhelm Voßkamp. Hamburg 1977, S. 39–58.

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zig 1640 studierte er kurz in Wittenberg (bei dem Opitzianer Augustus Buchner) und erneut in Leipzig, wo er 1643 den Magistergrad erwarb. Seit 1646 lehrte er an der Universität seiner Heimatstadt und bekleidete daneben ein Lehramt an der städtischen Nikolaischule, einem Akademischen Gymnasium, an dem er 1650–1653 als Konrektor amtierte. Daneben übernahm er 1653 an der Universität als Nachfolger von Friedrich Leubnitz († 1652), dem Vater von Gottfried Wilhelm, der sich dann meist „Leibniz“ schrieb, die Professur der Moralphilosophie (Ethik), ab 1656 noch die der Dialektik („Disputierkunst“), und seit 1659 bis zu seinem Tode lehrte Thomasius als Professor der Rhetorik an der Leipziger Universität, der damals größten in Deutschland (gegründet 1409), zu deren berühmten Lehrern in der Aufstiegsphase des späteren 17. Jahrhunderts er gehörte (neben dem Theologen Johann Benedikt Carpzov, dem Mediziner und Naturforscher Michael Ettmüller, dem Theologen und Naturrechtler August Pfeiffer und nicht sehr vielen anderen). Seit 1670 amtierte Thomasius neben seiner Universitätsprofessur weiter als Professor und Rektor an der Nikolaischule, von der er 1676 an das größere Thomasianum wechselte, der zweiten Gelehrtenschule der Stadt, an der 50 Jahre später Johann Sebastian Bach Kantor gewesen ist. Es wäre gewiß bemerkenswert, wäre Jakob Thomasius nur einer der Lehrer von Christian Weise und des jungen Leibniz sowie der Vater und Erzieher zweier berühmter Söhne gewesen: des Nürnberger Polyhistors, Mediziners und Arztes Gottfried (1660–1746), dessen Bedeutung nicht nur für Nürnberg, sondern in seinen jungen Jahren für Esaias und Samuel Pufendorf und den Bruder Christian in Leipzig viel zu wenig erforscht ist, und eben Christians, des ältesten Sohnes (1655–1728), des philosophischen Juristen und Kritikers von epochaler Bedeutung. Leibniz (geb. 1646 in Leipzig) besuchte ab 1653 die Nikolaischule, als Thomasius dort Konrektor war, hörte zwischen 1661 und 1663 dessen Universitätsvorlesungen, wurde von ihm promoviert,3 und seit 1663 war der Lehrer und ehemalige Kollege des Vaters der erste wichtige Briefpartner des jungen Leibniz.4 Aber 3 Als Respondent der Disputation, die als Dissertatio de principio individuo wie üblich unter dem Namen des Praeses (Jakob Thomasius) im Jahre 1663 in Leipzig gedruckt wurde. 4 Zu Jakob Thomasius und Leibniz: Der Briefwechsel zwischen Leibniz und J. Thomasius (16 Briefe) ist enthalten in: Gottfried Wilhelm Leibniz. Sämtliche Schriften und Briefe. 2. Reihe: Philosophischer Briefwechsel. Bd. 1 (1668–1676). Darmstadt 1926. Ausführlich kommentiert sind die Briefe in: Leibniz-Thomasius Correspondance 1663–1672. Texte établi, introduit, traduit, annoté et commenté par Richard Bodéüs. Paris 1993. Dazu, besonders zum Leipziger Kontext, die Abhandlung von Detlef Döring: Der junge Leibniz und Leipzig. Ausstellung zum 350. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz im Leipziger Alten Rathaus. Leipzig 1996, darin zu Thomasius und Leibniz S. 73ff.; außerdem Guido Aceti: Jacob Thomasius e il pensiero filosofico-giuridico di Goffredo Guglielmo Leibniz. In: Ius. Rivista di scienze giuridiche N.S. 8 (Milano 1957), fasc. 2, S. 259–319; Henry Joly: Thomasius et l’université de Leipzig pendant la jeunesse de Leibniz. In: Revue philosophique de la France et de l’étranger 3 (1878), H. 6, S. 482–500. – Zu den genannten Namensträgern vgl. die Artikel von Herbert Jaumann vor allem in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. 13

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Thomasius zählte ganz unabhängig von solchen Leipziger Konstellationen in den 60er bis 80er Jahren zu den gelehrten Autoritäten in Europa – und ihn als solchen angemessen zu studieren, sollte die Forschung heute viele Gründe haben, auch wenn es sich einmal nicht um einen Helden der ‚Aufklärung‘ oder – noch beliebter – der ‚Frühaufklärung‘ handelt, an der allen heute angeblich so viel gelegen ist bis zur ärgerlichen Verzerrung und Entleerung dieses Begriffs, unter der vor allem das Bild von Christian Thomasius seit langem zu leiden hat.5 Jakob Thomasius hinterließ eine lange Reihe von häufig nachgedruckten Programmata, Dissertationen und Traktaten zu verschiedenen Themen der Ethik, Politik und Naturforschung, der Rhetorik und Poetik, Philologie und historia litteraria, auf dem zuletzt genannten Gebiet z. B. die Dissertation De plagio literario von 1673, einen der frühesten Ansätze zu einer Theorie der Öffentlichkeit in der Neuzeit (dazu weiter unten). Darunter sind auch Themen, die man damals „curiös“ genannt hat und seither als kultur- oder sozialgeschichtlich oder auch ‚volkskundlich‘ hätte bezeichnen können: über die gelehrten Vaganten, über die Geschichte der männlichen Barttracht, über die Zigeuner und über das Winterquartier der Schwalben, über die Alraunwurzel oder über die Blindheit der Maulwürfe. Viele erlebten Neuauflagen und Erweiterungen (besonders die Dissertationes duae de foeminarum eruditione, zuerst Leipzig 1671, und De plagio literario), auch Übersetzungen ins Deutsche (besonders die Abhandlungen über ‚curiöse‘ Themen). Am bekanntesten wurde der ‚Schulmann‘6 Thomasius mit den immer wieder aufgelegten Bde. Berlin u. a. 2008–2012. (zu Johann Thomas, Jakob, Gottfried und Christian Thomasius: erschienen 2011); zu Jakob Thomasius auch in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 25, in Vorbereitung für 2012; zu Christian Thomasius auch in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 33, 2001, S. 483– 487, und vgl. die Kurzeinträge in Herbert Jaumann: Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. Bd. 1. Berlin u. a. 2004, S. 652–655. 5 Man muß aufpassen, daß ‚Aufklärung‘ nicht bald den Weg des ‚Ideologie‘-Begriffs geht, eines, wohl verstanden, noch im 20. Jahrhundert philosophisch wie politisch eigentlich nützlichen, weil dem Auseinanderhalten des Verschiedenen dienenden Konzepts, das jedoch von allen Seiten bis zur völligen Unbrauchbarkeit heruntergewirtschaftet und entleert wurde und inzwischen aus ernsthaften Diskursen ausgeschieden ist. Seither verfault es im Mediengeschwätz und dem Meinungs-Gestammel im Internet, wo es meiner Beobachtung nach nicht einmal den dort gar nicht so seltenen Duft einer Sumpfblüte verströmt. 6 Regelrechte ‚Schulschriften‘, etwa über institutionelle und didaktisch-methodische Fragen, scheint es von ihm nicht zu geben, wenn man von den von Richard Sachse herausgegebenen wichtigen Aufzeichnungen absieht, in: Acta Nicolaitana et Thomana. Aufzeichnungen von J. Thomasius während seines Rektorates an der Nicolai- und Thomasschule zu Leipzig (1670–1684). Leipzig 1912; dazu auch Otto Kaemmel: Geschichte des Leipziger Schulwesens vom Anfange des 13. bis gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts (1214–1846). Leipzig 1909, zu Ausführungen des Thomasius S. 255ff.; weitere Literatur: Albert Forbiger: Beiträge zur Geschichte der Nikolaischule in Leipzig. Leipzig 1826; Gottfried Stallbaum: Die Thomasschule zu Leipzig. Leipzig 1839; Franz Kemmerling: Die Thomasschule zu Leipzig. Eine kurze Geschichte von ihrer Gründung 1212 bis zum Jahre 1927. Leipzig 1927; St. Thomas zu Leipzig. Schule und Chor. Bilder und Dokumente. Hg. von Bernhard

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Lehrbüchern für das rhetorische, logische (mit Anhang: De processu disputandi), metaphysische und physikalische Grundstudium (jeweils „pro incipientibus“, nachträglich gesammelt in einem Band von 1705) nach der dialogischen Methode der Erotemata und häufig mit Hilfe von Tabellen und synoptischen Tafeln.7 Bei dieser ‚erotematischen‘ Methode (griech. ἐρώτημα / erótēma: Frage, Ausfragen) wurde der Lehrstoff in einem katechismusähnlichen Schema von Frage und Antwort ‚programmiert‘. Sehr erfolgreich war die Philosophia practica continuis tabellis in usum privatum comprehensa (zuerst 1661),8 die seine Politik und Sittenlehre enthält und bis weit ins 18. Jahrhundert in Gebrauch war. Diese als Widerspiel von Frage und Antwort inszenierte Darstellung philosophischer und anderer Lehren ist in Antike und Früher Neuzeit freilich mehr gewesen als nur didaktische Aufbereitung, denkt man an die Dialogwerke der Humanisten und die schulhumanistischen Dialoge von Erasmus, Castellio, Johann Sturm u. a. Zahlreiche Abhandlungen von Jakob Thomasius sind später in den Observationes selectae ad rem literariam spectantes erschienen (Halle 1700–1705 in 11 Bänden, hg. von Christian Thomasius mit Johann Franz Buddeus, Georg Ernst Stahl und Nikolaus Hieronymus Gundling; von Jakob Thomasius enthält Band V, 1702, insgesamt 50 Beiträge).9 Das andere Zentrum seines Werkes ist die sogenannte philosophische Historie, d. h. die Philosophiegeschichte im Verständnis und Stil des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, Historia philosophica, mehr oder weniger als Sparte der Historia litteraria. Vornehmlich den Dissertationen und Programmata zu dieser Thematik gelten die Ausführungen in diesem Beitrag. Jakob Thomasius vertritt hier einen späten Aristotelismus, arbeitet jedoch mit der unermüdlichen Rekonstruktion der traditionellen philosophischen Schulen („sectae“), wenngleich ungewollt, der Philosophia eclectica vor.10 Er habe die aristotelische Phi-

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Knick. Wiesbaden 1963; Die Thomasschule Leipzig zur Zeit Johann Sebastian Bachs. Ordnungen und Gesetze 1634, 1723, 1733. Hg. von Hans Joachim Schultze. Leipzig 1985. – Im übrigen sollte die wohl aus der Tiefe des 19. Jahrhunderts stammende und heute nur noch abgestanden und nicht einmal komisch klingende Bezeichnung ‚Schulmann‘ endlich aus dem Verkehr gezogen werden. Daß sie weiter im Vokabular der Bildungsgeschichte mitgeschleppt wird, ist kein Zeichen für eine reflektierte Wissenschaftssprache in Deutschland. Jakob Thomasius: Philosophia instrumentalis et theorica. Leipzig 1705 (= 4. Auflage der Erotemata Rhetorica, Logica [mit Anhang: De processu disputandi], Metaphysica, jeweils zuerst 1670, und der Physica perpetuo dialogo, zuerst 1678). – Vgl. den Nachdruck der Erotemata logica in: Gesammelte Schriften. 7 Bde. Hg. von Walter Sparn. Hildesheim 2003–2008, hier Bd. 2 (2003); der Nachdruck der Erotemata metaphysica ebd. in Bd. 3 (2003); der Nachdruck der Physica ebd. in Bd. 5 (2004). Nachdruck der Philosophia practica in: ders.: Gesammelte Schriften (wie Anm. 7). Bd. 1 (2005). Dazu Gertrud Schubart-Fikentscher: Unbekannter Thomasius. Weimar 1954; Martin Mulsow: Ein kontroverses Journal der Frühaufklärung: die Observationes Selectae, Halle 1700–1705. In: Aufklärung 17 (2005), S. 79–99. Dazu relativ ausführlich Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 296–301. Zur Philosophia eclectica vgl. auch Horst Dreitzel: Zur Entwicklung und Eigenart der ‚eklektischen Philosophie‘. In: Zeitschrift für historische Forschung 18 (1991), S. 281–343; Wilhelm Schmidt-Biggemann:

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losophie in besonderer Weise vertreten, schreibt später Johann Jakob Brucker, weil er sich bemüht habe, die antiken Philosophen, die ‚Heiden‘ also, „nach dem eigentlichen Verstand der Systematum vorzustellen, und der unnützen, ja wohl schädlichen Vereinigung der Heydnischen Philosophie mit der Christlichen Religion vorzubeugen“, also gegen den gefährlichen Syncretismus anzugehen.11 Die wichtigsten Werke sind hier das Schediasma historicum (zuerst 1665; unter neuem Titel 1699, hg. von Christian Thomasius), die Exercitatio de stoica mundi exustione (1674: die Lehre vom sogenannten „Weltbrand“ in der stoischen Metaphysik), das Programma gegen den namentlich nicht genannten Spinoza: Adversus anonymum de libertate philosophandi (1671), sowie die Dilucidationes Stahlianae (1676).12 Christian Thomasius gab 1693, als er sich nach seiner Flucht aus Leipzig eben in Halle etabliert hatte, einen Sammelband mit dem Titel Dissertationes LXIII varii argumenti, Samuel Pufendorf gewidmet, heraus und bewies sich als einfühlsamer Schüler des Vaters. Dieser wäre, heißt es in der Praefatio (in der Übersetzung des Verfassers), gewiß „zur wahren und einzigen Philosophie gelangt, wenn die Zeit [...] ihm die Denkfreiheit gestattet hätte, die wir Gott sei Dank genießen, auch wenn die Sophisten von heute noch so sehr darüber die Zähne fletschen.“

Die Dissertationen über die stoische Lehre vom Weltbrand In die Philosophiegeschichtsschreibung ist Jakob Thomasius in erster Linie als Lehrer und Korrespondent des jungen Leibniz eingegangen. Daß schon der junge Leibniz den sogenannten Syncretismus verteidigt, gegen den sich gerade Thomasius immer ausgesprochen hat, macht dieses Verhältnis natürlich von Anfang an spannungsreich. Bereits Johann Jakob Brucker, erster Standardautor der Historia philosophica im 18. Jahrhundert in Deutschland, rezipiert Thomasius vor allem als Historiker der stoischen Philosophie sowie als letzten „berühmten Aristotelicus“. Mit „sonderbarem Fleiß, Gründlichkeit und Nettigkeit“ habe Thomasius die aristotelische Philosophie vertreten – so wie es „sein Amt und Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung. Frankfurt am Main 1988, S. 31ff., 203ff.; Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit. Hg. von Norbert Hinske. Hamburg 1986 (= Aufklärung 1, H. 1); Werner Schneiders: Vernünftiger Zweifel und wahre Eklektik. Zur Entstehung des modernen Kritikbegriffs. In: Studia Leibnitiana 17 (1985), S. 142–161; Helmut Holzhey: Philosophie als Eklektik. In: ebd. 15 (1983), S. 19–29; vgl. zum ganzen Zusammenhang auch Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997, S. 488ff. 11 Johann Jakob Brucker: Kurze Fragen aus der Philosophischen Historie. Bd. 6. Ulm 1736, S. 497. 12 Nachdruck der Dilucidationes Stahlianae, hoc est in partem priorem Regularum Philosophicarum Danielis Stahlii Praelectiones, studiosae juventuti olim privatim dictatae, nunc publici juris factae (zuerst Jena 1657, 1662), in: ders.: Gesammelte Schriften (wie Anm. 7). Bd. 4 (2005). Nur dieser Band enthält auch ein Porträt des 53jährigen Jakob Thomasius, also von 1675. Der Philosoph Daniel Stahl (1589–1654) hatte in Jena gelehrt.

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Beruf erforderte“, schrieb Brucker und führte in der Fußnote als Beleg die Erotemata, die Physik und die Tafeln zur praktischen Philosophie an.13 Das zuerst 1665 gedruckte Schediasma historicum ist diejenige seiner philosophiehistorischen Schriften, der die Forschung bis in die jüngste Zeit vielleicht die meiste Beachtung geschenkt hat und die auch Thomasius selbst immer wieder hervorhebt. Der Sohn Christian hat sie 1699 unter dem Titel Origines historiae philosophicae et ecclesiasticae neu herausgegeben.14 In der an Johann Benedikt Carpzov gerichteten Widmungsvorrede zur Exercitatio de stoica mundi exustione (1676) weist Thomasius auf den engen Zusammenhang hin, in dem diese neue Abhandlung mit der zehn Jahre älteren Schrift steht. Er sieht ihn vor allem in der Fortschreibung des Projekts der „quatuor inter Graecos Philosophicarum factionum historia“ und der Geschichte der Häresien (weniger der Häretiker).15 Hauptthemen der Exercitatio sind die Prophetien vom Ende der Welt als Weltbrand (mundi conflagratio, exustio) im Neuen Testament (u. a. bei Petrus) und auf der anderen Seite in der heidnischen Philosophie, in erster Linie bei den Stoikern und Epikureern, namentlich bei Zenon d. J., Kleanthes und Chrysipp, aber auch bei den griechischen und lateinischen Autoren von Empedokles, Heraklit und Sophokles bis Lucan und vor allem Ovid. An exegetischer Literatur schöpft Thomasius aus Johann Gerhard, Georg Calixt und Gerard Johannes Vossius, vor allem aber aus den Arbeiten katholischer Theologen und Philologen wie Agostino Steuco, Martín Delrío, Paolo Beni und immer wieder Justus Lipsius, der unbestrittenen Autorität, wenn es um die Kommentierung der stoischen Lehre für die neuere Zeit ging (dazu besonders die Manuductio ad stoicam philosophiam und die Physiologia stoicorum, beides erschienen Paris bzw. Antwerpen 1604). Daß Thomasius 13 Johann Jakob Brucker: Historia critica philosophiae a mundi incunabulis ad nostram usque aetatem deducta. Bd. 1. Leipzig 1742. Reprint Hildesheim 1975, S. 35f. und besonders S. 920f.; vgl. ders.: Kurze Fragen (wie Anm. 11), Bd. 6, S. 495ff. Zum Autor vgl. J. J. Brucker (1696–1770). Philosoph und Historiker der europäischen Aufklärung. Hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann und Theo Stammen. Berlin 1998, und Herbert Jaumann: Handbuch Gelehrtenkultur (wie Anm. 4), S. 134f. 14 Jacob Thomasius: Schediasma historicum, quo, occasione definitionis vetustae, qua Philosophia dicitur γνῶσις τῶν ὄντων, varia discutiuntur ad Historiam tum philosophicam tum ecclesiasticam pertinentia: Inprimis autem inquiritur in ultimas origines Philosophiae gentilis, & quatuor in ea sectarum apud Graecos praecipuarum: Haereseos item Simonis Magi, Gnosticorum, Massalianorum & Pelagianorum; denique Theologiae mysticae pariter ac scholasticae. Leipzig 1665. – Zur neueren Forschung vgl. Giovanni Santinello: Jakob Thomasius e il medioevo. In: Medioevo 4 (1978), S. 173–216, und ders.: Jakob Thomasius (1622–1684): ‚Schediasma historicum‘. In: Storia delle storie generali della filosofia. Hg. von dems. Bd. 1: Dalle origini rinascimentali alla ‚historia philosophica‘. Brescia 1981, S. 438–467; ferner Lucien Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte. Bearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Ulrich Johannes Schneider. Darmstadt 1990 (zuerst franz. 1973), S. 99ff.; Ralph Häfner: Jakob Thomasius und die Geschichte der Häresien. In: Christian Thomasius (1655–1728). Hg. von Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997, S. 141–164. 15 Jakob Thomasius: Exercitatio de stoica mundi exustione. Cui accesserunt argumenti varii, sed inprimis ad historiam Stoicae Philosophiae facientes Dissertationes XXI. Leipzig 1676. – Reprint in: ders.: Gesammelte Schriften (wie Anm. 7). Bd. 6 (2004).

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sich dabei „als Schüler von Lipsius“ erweise, wie Lucien Braun behauptet,16 trifft nicht zu. Im Gegenteil, in diesem Zusammenhang ist Lipsius in seinen Augen fast so etwas wie ein hoffnungsloser Fall. „Omnino etiam operam Lipsius perdidit, quoties Stoicorum errores incrustare laboravit“, liest man in der Widmungsvorrede. Gerade von Lipsius zitiert er immer wieder Beispiele für jene illegitime Annäherung der stoischen Vorstellung vom Weltende – „fatali naturae necessitate“17 – an die christliche Lehre von Gott, der im Gegenteil „ex liberrima voluntate“ und „solis exceptis intelligentibus creaturis“ sich entschließe, der verdorbenen Welt das Ende zu bereiten – aber eben nicht in der Art des stoischen fatum, das die blinde Naturnotwendigkeit exekutiert, der auch Gott selbst unterliegen soll, sondern aus freiem und dazu menschenfreundlichem Entschluß: „ut gemens creatura liberetur a servitute corruptionis.“18 Fatum und fortuna stehen gegen voluntas Dei. Daß die menschenfreundliche Fürsorge des christlichen Gottes so weit geht, sich frei auch noch für den (allerdings nicht ‚endgültigen‘) Untergang der Welt zu entscheiden, ist für diese hartgesottene Metaphysik offenbar kein Problem. Wohl aber wird Thomasius nicht müde, immer wieder gegen die falschen „conciliatores“ und „syncretistae“ vorzugehen und hinter der nur scheinbaren Ähnlichkeit der christlichen und heidnischen Prophetien vom Weltende so scharf wie möglich die wahre Differenz hervortreten zu lassen, die so groß sei wie die zwischen Tag und Nacht: Haec ergo Stoicorum tam praeclara conflagratio fuit Mundi, tam similis illi, quam Christiani profitemur, atque tenebrae sunt luci. Ut recte pronunciaverit Basilius, quanto castarum pulchritudo praestantia meretriciam excuperat, tantum esse inter nostras & externorum sententias discrimen.19

In der Auseinandersetzung mit dem „Neutralismus“ des Origenes in These 17 findet dieses Argumentationsziel eine weitere Zuspitzung, und das Thema wird in nicht weniger als drei der folgenden Dissertationen (XVII–XIX) aufgenommen und vertieft. Origenes sei „nulli Graecorum Sectae addictior quam Platonicae“;20 jedoch „quae de interitu mundi sua fecit, Stoicae philosophiae similiora esse quam Platonicae“ – Thomasius liest in der Tat genau, und die Unbeirrbarkeit, mit der er differenziert, kann der modernen Ideenrekon16 17 18 19 20

Braun (wie Anm. 14), S. 99 Anm. 1. Thomasius (wie Anm. 15), S. 12, These 11. Thomasius (wie Anm. 15), S. 11, These 10. Thomasius (wie Anm. 15), S. 15, These 13. Zum origenischen Platonismus vgl. Häfner (wie Anm. 14), S. 145 u. ö. Häfner spricht sogar im Sinne von Johann Franz Buddes Auffassung (Spinozismus ante Spinozam, 1701) von einem „origenianischen Spinozismus“, eine Bezeichnung, die die Gereiztheit gut zum Ausdruck bringt, die Autoren wie Jakob Thomasius seit ihrer Bekanntschaft mit dem 1670 erschienenen Tractatus theologico-politicus des Amsterdamer Anonymus erfaßt hatte. Wie Thesen des Typs Spinozismus ante Spinozam Schule gemacht haben, zeigt eine der ersten Schriften von Hermann Samuel Reimarus, die Dissertatio de Machiavellismo ante Machiavellum. Wittenberg 1719. Reimarus hatte 1714–1716 u. a. bei Budde in Jena studiert.

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struktion, die bei solchen auctores minores auf rasche Pauschalierungen aus ist, ehe man zu den vermeintlich ‚großen‘ Autoren übergeht, natürlich nicht gefallen. Dabei kann man von der Prägnanz, mit der der Neutralismus des Origenes bestimmt wird, nur lernen: Neutra esse duo haec placita, h. e. nec plane Christiana, nec plane Stoica, sic doceo. Christianis maxime orthodoxis Mundus in nihilum resolvetur; Stoicis in Chaos informe, quo solus Deus & materia comprehendantur absque ullo accidente; Origeni nec in nihilum penitus, nec in tale Chaos. Perit enim illi solus, ut ita loquar, Mundi squalor: incendium vero effugit non substantia tantum, sed quicquid est accidentium nobiliorum. Talis per ignem byssi purgatio est.21

Daß Thomasius der 21 Thesen (auf 28 Oktavseiten) umfassenden Exercitatio eine Reihe von ebenfalls 21 Dissertationes hinzufügt und so aus der wie üblich knapp gehaltenen Universitätsschrift ein selbständiges Buch im Umfang von 255 Oktavseiten macht, ist ungewöhnlich und unterstreicht die Bedeutung, die das Thema für ihn hat. Ähnlich gründlich und ausführlich ist er nur mit der ebenfalls bedeutenden und innovativen Schrift De plagio literario verfahren. Diese in die Exercitatio integrierten ‚Dissertationen‘ sind natürlich nicht das, was man gewöhnlich darunter zu verstehen hat: die Druckfassung einer akademischen Disputation. Es handelt sich in diesem Fall eigentlich um Erweiterungen und Exkurse zu den Thesen bzw. den Fußnoten der Exercitatio, die den ursprünglichen Umfang gesprengt hätten, weil sie zum Teil fast monographischen Charakter angenommen haben, und es werden alle wichtigen Themen darin noch einmal und oft in weiter Ausholbewegung und sehr materialreich wieder aufgenommen: die vier Sectae der griechischen Philosophie (Diss. II), die platonische und aristotelische Lehre von der Ewigkeit der Welt (Diss. III, IV), die Vorstellung vom annus magnus, dem Schicksalsjahr, in dem die Welt verbrennt (Diss. V), die stoischen Lehren von den sterblichen Göttern, vom Chaos und der Materie, vom Weltbrand und der „malignitas fati“ (Diss. VII, VIII, XI– XIII) und schließlich der origenische „Neutralismus“. Mehrere andere Themen kommen hinzu, wie das des Phoenix (Diss. IX, in Anknüpfung an die Fußnote q in These 11 der Exercitatio), eine umfassende Monographie zur historischen Semantik, von der Ornithologie zur Motiv- und Symbolgeschichte, zur Mythographie, Reiseliteratur, Religions- und Philosophiegeschichte. Sie ist in 331 Paragraphen gegliedert und könnte mit 177 Druckseiten als ein eigenes Buch für sich alleine stehen. Man kann daran erneut den enzyklopädischen Horizont des Leipziger Philologen ablesen, dem, auf der Basis der klassischen Tradition: der griechisch-lateinischen, jüdischen und christlichen, eine sehr breite Palette der späthumanistischen Gelehrsamkeit zu Gebote steht, von Herodot und Plinius zu Talmud und Kabbala (hier in der großen Sammlung von Johannes Pistorius Niddanus d. J.22), Leone Ebreo oder Ulisse Aldrovandi. Doch wenn von einem enzyklopädischen 21 Thomasius (wie Anm. 15), Dissertatio XIX: Origenis neutralismus, S. 241. 22 Johannes Pistorius Niddanus: Ars cabalistica. Hoc est reconditae theologiae et philosophiae scriptorum tomus unus. Basel 1587. Reprint Frankfurt am Main 1970, die größte Sammlung von Texten zur christlichen und jüdischen Kabbala vor Knorr von Rosenroth: Kabbala denudata. 2 Bde. Sulz-

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Horizont gesprochen wird, ist das keinesfalls im Sinne jener reflexartigen und immer etwas anachronistischen Bewunderung des 19. und 20. Jahrhunderts für den ‚Universalgelehrten‘ zu verstehen – im Falle von Leibniz oder auch Goethe muß es ebenso reflexhaft immer auch noch ‚der letzte‘ seiner Art sein. Auch das ist einer dieser aus der Tiefe des 19. Jahrhunderts stammenden und vielfach noch heute mitgeschleppten Ladenhüter einer verfehlten Bildungsgeschichte, die die Frühe Neuzeit vor der sogenannten Aufklärung nur noch unzureichend verstanden hat. Nein, es ist nur wenig übertrieben, wenn man sagt: Dieser Horizont ist für den tüchtigen Gelehrten des europäischen Späthumanismus der Normalfall; daß dieser Fall durch verschiedene gelehrte Individuen auf unterschiedlichem Niveau repräsentiert wird, versteht sich von selbst.

Das Spektrum der Dissertationen des Jakob Thomasius Die Abhandlung über den Phönix aus den Weltbrand-Dissertationen ist gleichzeitig ein Beispiel für eine ganze Reihe von Dissertationen des Jakob Thomasius (jetzt im üblichen Sinn der Druckfassung von Disputationen) zu Themen der kulturellen Semantik. Man kann sie Disziplinentiteln wie Begriffsgeschichte, Ethnographie und Folklore (in Deutschland früher ‚Volkskunde‘ genannt), Natur- und Kulturgeschichte, Mythographie, Symbolforschung, Religionsgeschichte, Rhetorik und Poetik, Politik usw. zuordnen. Einige von ihnen gehören – neben den Schulbüchern, also den Erotemata und Tabellen – zu den erfolgreichsten Schriften des älteren Thomasius, erlebten ebenfalls mehrere Auflagen, und manche wurden sogar ins Deutsche übersetzt – bei ehemaligen Disputationen ein seltener Fall. Die Dissertatio philosophica de plagio literario, 1673 von Johann-Michael Reinelius verteidigt,23 wurde zeitgenössisch viel zitiert und ist unter den großen Dissertationen noch bach 1677, Frankfurt am Main 1684. Reprint Hildesheim 1974. Der voluminöse Folioband des jüngeren Pistorius enthält u. a. Texte und Kompendien vor allem von Paulus Ricius, Johannes Reuchlin, Arcangelo da Borgonovo, Rabbi Iosephus de Castilia, Leone Ebreo (De amore) und den Sefer Jezira. Zu Pistorius Niddanus d. J. (1546–1608) vgl. Jaumann: Handbuch Gelehrtenkultur (wie Anm. 4), S. 517f. 23 Nachdruck der Dissertatio philosophica de plagio literario in: ders.: Gesammelte Schriften (wie Anm. 7). Bd. 7 (2008). Leider wurde darin kommentarlos nur die erste Fassung von 1673 abgedruckt, ohne die wichtigen Accessiones in der 2., erweiterten Auflage von 1679 („nunc recusa & sex accessionibus locupletata“) und ohne die Einbeziehung der in Schwabach 1692 gedrucken Neuauflage; die Accessiones scheinen schon im Jahre 1679, also noch zu Lebzeiten des Thomasius, auch separat erschienen zu sein (Ad Dissertationem philosophicam [...] accessiones, wiederum in Leipzig bzw. Jena bei Christoph Enoch Buchta). In den erweiterten Versionen hat sich, mit oder ohne Zutun des Verfassers zu seinen Lebzeiten, ein veränderter Erfahrungsstand niedergeschlagen – in jenen 70er und 80er Jahren des 17. Jahrhunderts also, in denen nun auch im zurückgebliebenen Deutschland, und zumal in Leipzig (aber dann über die Journale eben tendenziell überregional), eine nahezu rasante Evoluti-

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heute die bekannteste, neben dem Schediasma historicum, von dem bereits die Rede war. Der zweiten Auflage, die 1679 erschienen ist, wie auch dem späteren Druck von Schwabach 1692 waren sechs Accessiones hinzugefügt, in denen die Thesen der ersten Fassung vertieft und um einige zusätzliche Gesichtspunkte und Materialien erweitert sind.24 Von großem kulturhistorischen und theoriegeschichtlichen Interesse sind Dissertationen wie die folgenden, eine Auswahl von Beispielen aus verschiedenen Themenfeldern, die vielleicht als typisch gelten können: Diatriba academica de foeminarum eruditione (in zwei Teilen 1671, in 2. Auflage 1676), die sich in die Reihe der gelehrten Abhandlungen seit u. a. Joan Lluís Vives, Lucrezia Marinella, Marie de Gournay, Jan van Beverwijk (Beverovicius) und Anna Maria von Schurmann gegen die Prämisse von der natürlichen Bildungsunfähigkeit der Frau stellt;25 De ritu veterum Christianorum predicandi versus orientem (1670) und De Nigello Wirkero (1679): Nigel Wirker war ein englischer Häretiker um 1400, der Jan Hus nahestand; De Petro Dresdensi (1678) handelt ebenfalls von einem zur Zeit von Jan Hus verbrannten Häretiker, dem „Dresdnischen Peter“: unter diesem Titel erschien die Dissertation 1693 auch in deutscher Übersetzung. Die poeseologische Exercitatio de fabulis Poetarum earumon der öffentlichen Sphäre und ihrer Medien eingesetzt hat. So jedenfalls in meinem Aufsatz von 2000/2008 (wie Anm. 24). 24 Für eine Lektüre dieser Abhandlung unter dem Aspekt neuer Erfahrungen mit Phänomenen der Öffentlichkeit avant la lettre um 1670/90, denen gegenüber die traditionellen ethischen und juristischen Kategorien offenbar nicht mehr greifen und deshalb zu einer analytischen ‚Verlegenheit‘ führen, vgl. Herbert Jaumann: Öffentlichkeit und Verlegenheit. Frühe Spuren eines Konzepts öffentlicher Kritik in der Theorie des plagium extrajudiciale von Jakob Thomasius (1673). In: Scientia Poetica 4 (2000), S. 62–82, und erneut in: Strukturen der deutschen Frühaufklärung 1680–1720. Hg. von Hans Erich Bödeker. Göttingen 2008, S. 99–118. Unter dem Aspekt der Debatte um Gelehrtenmoral und Kommunikation unter Gelehrten vgl. Gierl (wie Anm. 10), S. 570ff. Zu juristischen Fragen auch Renate Frohne: Jacob Thomasius: De plagio literario. In: UFITA. Archiv für Urheber-, Film-, Funk- und Theaterrecht 123 (1993), S. 15–27. 25 Die beiden Teile: Jakob Thomasius (Präses): Diatriba academica prior de foeminarum eruditione. Johannes Sauerbrei (Respondent), 1671, und Johannes Sauerbrei (Präses): Diatriba academica posterior [...]. Jakob Smalcius (Resp.), 1671; 2. Aufl. 1676. Deutsche Teilübersetzung in: Das wohlgelahrte Frauenzimmer. Hg. von Elisabeth Gössmann. München 1984, S. 99–117. Die älteren Texte von Joan Lluís Vives: De institutione feminae Christianae libri III. Basel 1523, und ders.: De officio mariti. Brügge 1529; Lucrezia Marinella (1571–1653): Le nobiltà e eccellenze delle Donne et i diffetti e mancamenti de gli Huomini. Venezia 1600. Deutsche Teilübersetzung in: Eva, Gottes Meisterwerk. Hg. von Elisabeth Gössmann. München 1985, S. 22–44; Marie de Jars de Gournay (1565– 1645): L’égalité des hommes et des femmes. Paris 1622. Darüber in: Das wohlgelahrte Frauenzimmer, S. 21–38; Jan van Beverwijk (1594–1647): Van de Uitnementheyt des vrouwelijken geslachts. Dordrecht 1639. Deutsche Teilübersetzung in: Ob die Weiber Menschen seyn, oder nicht? Hg. von Elisabeth Gössmann. München 1988, S. 166–211; zu Anna Maria von Schurmanns (1607–1678) verschiedene Schriften zum Thema, vor allem zu ihrem Briefwechsel mit André Rivet, in: Das wohlgelahrte Frauenzimmer, S. 39–52. Zu Vives vgl. Jaumann: Handbuch Gelehrtenkultur (wie Anm. 4), S. 389f., zu Schurmann ebd., S. 595f.

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que vario sensu (1676) grenzt die fabulae poetarum von den fabulae Aesopicae ab, zielt also auf einen allgemeinen Begriff von fabula als Fiktion, als poetische Erdichtungen („figmenta“). Unter den sensus fabularum interessiert weniger der sensus historicus als die „sensus physici et astrologici“, die alte Lehre vom vierfachen Schriftsinn wird behandelt, welcher der Florentiner Neuplatoniker Leone Ebreo26 einen „sensus metaphysicus“ und Athanasius Kircher einen „sensus politicus“ hinzugefügt habe: Diese Dissertation ist in aller Kürze (7 Blätter) auch der Versuch einer Theorie der Interpretation im Sinne der alten Hermeneutik, aber durchaus mit Ansätzen zu deren Erweiterung aufgrund des Ungenügens an einzelnen Deutungsschemata: „Vides ita, circa fabularum poeticarum interpretationem variis modis hallucinatos esse omni aevo viros eruditos.“27 Zu Themen des Rechts und der politischen Theorie, auch der neuzeitlichen, findet man Dissertationen wie De principe eiusque virtutibus (1653); De potestate legislatoria (1654); De natura et constitutione politicēs (1659); Exercitatio politica de Ratione status, definitionem eius a Scipione Ammirato propositam expendens (1665; 1672); De morborum in republica intestinis ac moralibus causis (1666); De gynaecocratia subsidiaria (1667); Idea boni perfectique politici (1668); De societatis civilis statu naturali et legali (1670); De Religione Christiana non minui fortitudinem bellicam, contra Nicolaum Machiavellum Florentinum (1670); De cautelis principum circa colloquia et congressus mutuos (1674). Mit den Lehren des Hugo Grotius hat er als erster dem Sohn Christian ein Begriffsgerüst naturrechtlicher Politik vermittelt, das dann in dessen Leipziger Magisterdisputation eingegangen ist;28 ein Lehrbuch zur Einführung in das Werk des Grotius, wiederum mit den charakteristischen Tabellen, war 1670 erschienen: Specimen tabularum novarum in Hugonis Grotii de iure belli et pacis libros. De Poculo S. Joannis, quod vulgo appellant S. Johannis-Trunck (1675), ist ein Beispiel für Themen der ‚Volkskunde‘, De cingaris (1652, deutsch: Curiöser Tractat von Ziegeunern [sic]. Dresden 1702, mit Hypothesen über ihre Herkunft, Sitten usw.) und De barba (1671) sind typische Beispiele für ‚ethnographische‘ Themen: über den Bart als Schmuck des Mannes, als Merkmal verschiedener typischer Rollenträger (‚Philosophen‘, Adlige 26 Zu Leone Ebreo vgl. Jaumann: Handbuch Gelehrtenkultur (wie Anm. 4), S. 402, zu Kircher ebd., S. 367–369. 27 Jakob Thomasius (Präses): Exercitatio philosophica de fabulis poetarum, earumque vario sensu. Nikolaus Spengler (Resp.). Leipzig 1676, fol. B3r. Vgl. an letzter Stelle im Band der Dissertationes varii argumenti (1693; wie Anm 29) ein Programma über ein Seitenthema dazu: Nr. LXIII: De occultis poeticarum fabularum sensibus. 28 Christian Thomasius (Präses): De duplici maiestatis subiecto disputatio politica. Heinrich Höffer (Resp.). Leipzig 1672. Daß Christian Thomasius bei seiner eigenen Magisterdisputation offensichtlich als Präses fungierte, erregt in der Forschung seit jeher Staunen, eine Erklärung ist jedoch nirgends zu finden. Zum Thema und Inhalt dieser ersten Publikation Christians, die der Berührung mit Pufendorf vorausging, die sein künftiges Denken bestimmen sollte, vgl. Rudolf Hoke: Die Staatslehre des jungen Thomasius. Seine Erstlingsschrift aus dem Jahre 1672. In: Festschrift für Heinrich Demelius zum 80. Geburtstag. Erlebtes Recht in Geschichte und Gegenwart. Wien 1973, S. 111– 125.

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usw.), über mythologische Kuriositäten wie die Darstellung der ‚Venus barbata‘, über Konventionen bei Bart-Rasuren: bei Gefangenen, Tonsuren bei Mönchen, bei Trauerfällen, religiösen Opfern usw. Damit verwandte Beiträge zur Mythographie und Naturgeschichte bieten die frühen Arbeiten De mandragora disputatio philologica (1655, deutsch: Von der Alraun-Wurtzel, 1739: von mandragoras: die Alraun-Pflanze, ital. mandragola: so auch der Titel einer Komödie des Machiavelli von ca. 1518); De hibernaculis hirundinum (1658, deutsch: Curieuse Gedancken vom Winter-Lager der Schwalben, 1702); De visu talparum (1659, deutsch: Curiöser Tractat genant Das wieder gefundene Gesicht [d. i. die Sehkraft] der sonst blinden Maulwürffe, 1702); De tempore (1659); De gemmis (1661); De transformatione hominum in bruta (1667); De nominibus atque insignibus lupinis (1667); De origine animae humanae (1669) usw. Die früheste Dissertation ist offenbar von 1644: Historia salis, eine Dissertatio pro loco, vielleicht aus Anlaß der Bewerbung um die Stelle eines Licentiatus bzw. Assessors der Leipziger Artistenfakultät. Der Frage nachzugehen, was das eigentlich für Themen sind, also eine Gattungsbestimmung dieser „curiösen“, hier improvisiert als ‚volkskundlich‘ oder ‚ethnographisch‘ bezeichneten Dissertationen wäre eine der naheliegenden Forschungsaufgaben. Sie müßte in einem weiteren Rahmen angegangen werden, und die Zuordnung zu bestimmten Disziplinen (Philologie in der weiten Bedeutung von Spätantike und Früher Neuzeit, Naturforschung, historia usw.) kann dabei nur der Anfang sein. Ein weiterer Aspekt müßte die analytische Unterscheidung zweier Ebenen sein: die der Themenwahl und die der methodischen bzw. sprachlich-rhetorischen Behandlung des Themas. Während es sich um „Scherzdisputationen“ sicher nicht handeln wird, scheint mir am ehesten die Absicht vorzuliegen, das Interesse an akademischen Abhandlungen durch Betonung lebensweltlicher Themen und Probleme aufzufrischen, man kann auch sagen: durch Betonung des delectare. Daß mehrere dieser Dissertationen lange nach Thomasius’ Tod ins Deutsche übersetzt und es in dieser Version zu mehreren Auflagen brachten, unterstreicht diese Nähe zur Lebenswelt und sollte nicht sofort mit den kulturkritischen Intentionen gleichgesetzt werden, mit denen Christian Thomasius und andere Gelehrte wie zuvor schon Weise oder dann Tschirnhaus oder Gabriel Wagner vor und um 1700 mit relativ strategischen Absichten das Monopol des Gelehrtenlateins durchbrachen. Vielleicht in Verbindung mit einem Motiv wie ‚Originalität‘ auch durch die Wahl relativ ‚ausgefallener‘ Themen scheinen mir beim älteren Thomasius doch andere Erkenntnis- und Wirkungsabsichten vorzuliegen, zumal ja gar nicht bekannt ist, ob die deutschen Versionen auf seine Absicht zurückgehen. Vielleicht sind die nicht nur bei Jakob Thomasius, sondern schon in der populären Literatur des 16. Jahrhunderts, etwa der mehr oder weniger gelehrten Dialogliteratur in Italien, etwa in Untertiteln auffallend häufig verwendeten Adjektive facetus (witzig, launig) und festivus (heiter, fröhlich, unterhaltsam) vielleicht eine wichtige Spur, die, in Verbindung mit anderen Bezeichnungen und im Vergleich auch mit älteren und zeitgenössisch benachbarten Textgattungen zu einer Bestimmung der Spezifik dieses Typs der Dissertationen führen kann.

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Die Sammlung der „Dissertationes“ von 1693 Die unter dem Obertitel Dissertationes LXIII varii argumenti von Christian Thomasius in Halle herausgegebenen kleinen Schriften sind hingegen keine Dissertationen, weder im eigentlichen Sinn der Druckfassung einer Disputation noch in der Bedeutung eines ausgelagerten Exkurses, sondern akademische Programmata, also verhältnismäßig kurze Einführungen, Ansprachen oder Reden, die im Zusammenhang mit akademischen Festakten vorgetragen wurden, einführend zu Reden anderer, zu Disputationen, zur Verleihung akademischer Grade usw. Im ausführlichen Untertitel des Bandes wird dies auch deutlich gemacht.29 Thematisch wie auch durch ausdrückliche Verweise des Autors stehen einige in enger Verbindung, ja in einer Art Austauschbeziehung zu den thematischen Schwerpunkten der Disputationen bzw. eigentlichen Dissertationen. Die Widmungsvorrede von Christian Thomasius an Pufendorf („Perillustri & Excellentissimo Domino, [...] Patrono maxime suspiciendo“: über die bisherige Geschichte des ihn auch darin, wo er ihn kritisiert, so sehr prägenden Verhältnisses zu Samuel Pufendorf ) und die Vorrede an die Leser mit einer eingehenden Würdigung der Intentionen und Leistungen des Vaters wie auch deren Grenzen sind bei aller Kürze aufschlußreich. Sinnreich ist gleich der Beginn mit (I.) De utilitate declamationum, und auffällig ist in diesem Band die Häufung der religiösen, theologischen und religionsgeschichtlichen Themen, die etwa ein Drittel des Bandes ausmachen: über christliche Feste und Gebräuche (z. B. XXI: De Pontificiorum risu paschali), über Heiligenlegenden und Aberglauben, und als Nebenthemen zu den Weltbrand-Dissertationen: De excidio mundi, chiliastis, morte hominis (LX) und De chiliasmo & chiliastis (XXII); wiederum mehrere Themen zur auch neuzeitlichen Politik: De primis rerumpublicarum originibus (VII), De statu naturali adversus Hobbesium (XIX), De Machiavellistis & Monarchomachis (XXIX), und sehr bemerkenswert die Reden zu gelehrten Disziplinen und zum Bildungsbetrieb: De arte medica (XXIV), De astrologia judiciaria (XXXI), De septem artibus liberalibus (XXXIV), De vocabulo philosophiae (LV), De occultatione scientiarum (LXII), De studiorum academicorum comparatione cum mercatura (III), De peregrinationis usu & abusu (XLII), De vetusto ritu creandi Baccalaureos (XLVI). Zentral sind in diesem Band jedoch die Reden zur Historia haereseos (besonders XL: De Antichristo mixto) und zu einem der Hauptthemen von Jakob Thomaasius in den sechziger und siebziger Jahren: „propudiosa illa novas gignendi sectas licentia, quam hodierni inter philosophos Libertini sibi sumunt“, wie er es später in der Widmungsvorrede zur Exercitatio de Stoica mundi exustione (1676) formuliert. In erster Linie sind das diese drei Interventionen: Adversus philosophos libertinos (XXXIX, 1665), Adversus philosophos novan29 Jakob Thomasius: Dissertationes LXIII. Varii argumenti magnam partem ad Historiam philosophicam & ecclesiasticam pertinentes, antea a Beato Autore in Academia Lipsiensi intra quadraginta circiter annos per modum Programmatum separatis foliis publicatae, nunc conjunctim editae a Filio Christiano Thomasio. Halle 1693. – Reprint in: ders.: Gesammelte Schriften (wie Anm. 7). Bd. 6 (2004).

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tiquos (XLI, 1665) sowie das für die unmittelbar zeitgenössische Auseinandersetzung besonders brisante Programma Adversus anonymum de libertate philosophandi (L) vom 8. Mai 1671. Thomasius ist um diese Zeit Dekan des „Collegium Philosophicum“ – wie man sieht, gibt es damals in Leipzig (wie meist auch anderswo) noch keine ‚Philosophische Fakultät‘ als etablierte begriffliche Größe. Das wird in dem oft anachronistischen Reden über die frühneuzeitliche Universität vergessen. Bekanntlich ist diese Rede des Thomasius gegen den 1670 in Amsterdam (aber mit Druckort Hamburg) publizierten Tractatus theologico-politicus gerichtet, mit dem „anonymus“ und „lucifuga scriptor“ ist also Spinoza gemeint. Im folgenden Jahr wird das Programma ohne Änderungen erneut gedruckt, zusammen mit der Oratio panegyrica de praepostera & impia libertate philosophandi des Altdorfer Professors der Theologie und Moralphilosophie Johann Conrad Dürr. Aber in der eigens für diesen Band des Kollegen verfaßten kurzen Vorrede (gezeichnet den „16. Martii A. 1672“) nennt Thomasius nun den Namen des Verfassers: Omnino enim rei Christianae interest, Anonymi scriptoris, quem Benedictum Spinosam esse, Judaeum ob opinionum monstra ἀποσυνάγωγον, ac blasphemum hominem, rescivimus nuper, Tractatum de libertate Philosophandi, libellum plane pestilentem, quia publice nocere conatur, publice refelli; ab iis maxime, quibus commissa cura est consulendi Juventuti Academicae, quae cupidioribus saepe oculis venena bibit quam salubria. Quamobrem & Programma meum aliquod ejusdem cum Tua Oratione argumenti adjungere volui.30

Bemerkenswert ist, daß der Leipziger Lutheraner sich hier ohne weiteres mit der orthodoxen Synagoge identifizieren kann, die Spinoza exkommuniziert hatte, und es ist nicht weniger bemerkenswert, daß der Professor nichts dabei findet, wenn er bei seiner Berufung auf die Verantwortung als Erzieher der Jugend sich eigentlich auf die Seite derjenigen stellt, die Sokrates den Prozeß machten, der der Jugend ebenfalls das ‚Gift‘ seiner Philosophie zu trinken gegeben habe, was in der späthumanistischen Kultur bekannter nicht sein konnte. Dürrs Rede ist ebenfalls gegen den Tractatus des Amsterdamer Anonymus gerichtet, vor allem aber gegen die theologischen Schriften des ehemaligen Mediziners Daniel Zwicker (1612–1678), mit dem gleich auch die Philosophie von Thomas Hobbes (zumal De cive) und seiner Anhänger getroffen werden soll. Zwicker stammt aus Danzig, aus einer Familie deutscher lutherischer Pastoren, geht dort ins Lager des Sozinianismus über und lebt, gleich so vielen anderen christlichen Häretikern aus ganz Europa, seit 1657 in 30 Jakob Thomasius: Vorrede. In: Johann Conrad Dürr: Oratio de praepostera et impia libertate philosophandi, praesertim in religionis negotio, oppositum Tractatui theologico-politico scriptoris lucifugae haud ita pridem vulgato. Accessit ejusdem argumenti Programma Lipsiense M. Jacobi Thomasii. Jena 1672. Der Version des Programma, die unter der Nr. L im Band der Dissertationes von 1693 abgedruckt ist, sind dazu zwei Fußnoten beigegeben: (b) mit der Vermutung, daß der Tractatus nicht in Hamburg, sondern in Wirklichkeit in Amsterdam gedruckt worden sei, und (c): „nuspiam enim nomen exprimit suum. Cognovi tamen postea, impii hujus scripti autorem esse Benedictum Spinosam, Exjudaeum blasphemum, & formalem Atheum“ (S. 571f.).

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Amsterdam, wo er zu einem führenden Autor der religiösen Toleranz wird. Er vertritt einen alle christlichen Konfessionen und vor allem die Sekten übergreifenden Irenismus – er wählt diesen Begriff auch als Selbstbezeichnung – und fordert deshalb unbeschränkte Freiheit der Artikulation für alle religiösen Gemeinschaften, die zusammen die Kirche Christi bildeten. Comenius ist in Amsterdam einer seiner hartnäckigsten Gegner. Zu Spinoza steht er in keiner Beziehung. In seiner Bibliothek befanden sich dessen Principia philosophiae more geometrico demonstratae (1663, über Descartes), aber auch zwei Schriften gegen Spinozas ‚Atheismus‘ im Tractatus.31 Dürr formuliert drastischer als Thomasius, er sieht seinen Gegner von demselben „infestum sidus“ gesteuert, sein Geist und seine Feder sei von der nämlichen „pestilens ista lues“ wie der Amsterdamer infiziert.32 Thomasius hatte seinerseits im Programma wider die Philosophi libertini (XXXIX) von 1665 einen englischen Autor aufs Korn genommen, den Mediziner und Orientalisten Edmund Dickinson, Magister artium am Oxforder Merton College, den man wohl zu der besonders in England beheimateten Spezies der antiquarians zählen darf, der z. B. auch die weitaus prominenteren Gelehrten John Aubrey und Anthony Wood, John Evelyn, John Selden und Robert Burton angehört haben. Man kann geradezu von einem politischen ‚Antiquarismus‘ um 1600 sprechen, ein gelehrtes Arbeitsfeld, das wie alles Frühneuzeitliche in Italien entsteht, aber dann neben Frankreich vor allem in England die schönsten Blüten getrieben hat. Die Figur des gelehrten antiquarian, vielleicht eine der frühneuzeitlichen und eben spezifisch englischen Varianten des Polyhistors, jedoch weder klassischer Philologe noch gar ‚Antiquar‘, wurde (und wird) in Deutschland viel zu wenig wahrgenommen, weshalb es für ihn und seine ‚Disziplin‘ bis heute keine brauchbare deutsche Bezeichnung gibt; ‚Antiquar‘ ist und bleibt im Deutschen ein Antiquitätenhändler, und die gelegentlich begegnende Bezeichnung ‚Antiquarianismus‘ ist lediglich die simple Übernahme von engl. antiquarianism, eine, wie leicht zu sehen ist, im Deutschen schlecht improvisierte Umständlichkeit.33 31 Zu den wichtigsten Schriften Daniel Zwickers gehören: Irenicum Irenicorum, seu reconciliatoris Christianorum hodiernorum norma triplex, sana omnium hominum ratio, Scriptura sacra & traditiones. [Amsterdam] 1658, und gegen Comenius: Irenicomastix perpetuo convictus et constrictus. Seu nova confirmatio infallibilitatis Irenici Irenicorum per ostensam futilitatem criminosae Comenianae refutationis. Amsterdam 1661. Vgl. die wertvolle Monographie von Peter G. Bietenholz: Daniel Zwicker, 1612–1678. Peace, tolerance and God the one and only. Firenze 1997, mit einem Verzeichnis der umfangreichen Bibliothek Zwickers, einem Faksimile seines eigenen handschriftlichen Bücherverzeichnisses, einer Werkbibliographie und einem Anhang über die Kontroverse um die Toleranzschrift von Mino Celsi (d. i. Pseud. für Lelio Sozzini): In haereticis coërcendis quatenus progredi liceat (zuerst als Disputation in Siena, Druck in Straßburg 1577), die Zwicker 1662 in einer Kurzfassung publizierte. 32 Dürr (wie Anm. 30), fol. B2r. 33 Zur schmalen Forschung in Deutschland, wo man beim ‚antiquarian‘ eben eher an den Antiquitätenhändler denkt, besonders Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der frühen Neuzeit. Stuttgart 2007, Kap. 6, S. 143ff.; dort auch

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Edmund Dickinson war 1655 mit Delphi Phoenicizantes hervorgetreten, einer grundgelehrten Abhandlung voller eigenwilliger Thesen über Wesen und Herkunft des delphischen Orakels, der Figur der Pythia usw., die wie die ganze griechische Religion von den Phöniziern, d. h. von den Hebräern abstamme: Apollo sei eigentlich Josua, aus Josuas Vater Nun sei Zeus/Jupiter geworden usw. Natürlich war schon dieser Traktat für den Leipziger Aristotelicus eine schwer verdauliche Kost, aber das Hauptziel seines Angriffs war dann Dickinsons Oratiuncula pro philosophia liberanda, die im Anhang zu seiner gelehrten Abhandlung gedruckt worden war.34 Der freimütige Engländer polemisiert darin in ebenso phantasievollen wie drastischen Wendungen besonders gegen die Diktatur des Aristotelismus und die Dummheit der daran partizipierenden Schulphilosophie. Für Thomasius wird mit solchen Forderungen des Libertinismus von diesem das Tor zum Atheismus geöffnet, und er stellt Dickinson in die Reihe mit Edward Herbert, dem Begründer dessen, was später Deismus heißt, Thomas Hobbes und Isaac La Peyrère, dem Autor der Prae-Adamitae, einer ebenfalls 1655 erschienenen Skandalschrift. Festzuhalten ist freilich ein anderes Argument gegen Dickinson und die philosophi libertini: Thomasius schwebt nämlich auch hier, wie später (1673/79 und 1692) in De plagio literario, eine Art öffentlicher Willens- oder Konsensbildung vor, für die er noch kein Wort hat. Er nennt es „concilium convocatum scholis omnibus“. Nur ein solcher Willensbildungsprozeß, könnte man sagen, und nicht die vorlaute Polemik irgendeines „magistellus“ oder „sciolus“, wie Thomasius schreibt, also nicht einzelne Unberufene könnten die aristotelische Philosophie reformieren und an ihrem Rang etwas ändern; aber das kann man – als christlicher Philosoph, der man doch ist – gewiß nicht dadurch, daß man einfach zur Alternative Platon übergeht, von einem Heiden zu einem anderen: „ab Aristotele ad Platonem vel similem aliquem veterum, h. e. a Gentili ad Gentilem deficere.“35 Und Thomasius skizziert an dieser Stelle auch seine (eher ‚monarchistische‘) Vorstellung von der Verfassung der Respublica literaria, die man generell als ein fiktives, auch kontrafaktisches Modell der Gelehrweitere Literatur. Vgl. die Sammelbesprechung von Herbert Jaumann: Gelehrtenkultur, Gelehrtenrepublik – Normen, Praktiken, Konfliktverhalten. In: Das achtzehnte Jahrhundert 32 (2008), H. 2, S. 273–287. 34 Edmund Dickinson: Delphi Phoenicizantes, sive tractatus, in quo Graecos, quicquid apud Delphos celebre erat seu Pythonis & Apollinis historiam, seu Paeanica certamina & praemia, seu priscam Templi formam atque inscriptionem, seu Tripodem, oraculum &c. spectes e Josuae historia scriptisque sacris effinxisse rationibus haud inconcinnis ostenditur. Et quamplurima quae philologiae studiosis apprime futura sunt, aliter ac vulgo solent enarrentur. Appenditur Diatriba de Noae in Italiam adventu [...]. His accessit Oratiuncula pro Philosophia liberanda. Oxford 1655. Dickinson ist auch der Autor einer ‚mosaischen‘ Physik: Physica vetus et vera. Sive tractatus de naturali veritate hexaemeri mosaici. Per quem probatur in historia creationis tum generationis universae methodum atque modum, tum verae philosophiae principia strictim atque breviter a Mose tradi. Hamburg 1705. 35 Jakob Thomasius: Adversus philosophos libertinos (1665). In: ders. (wie Anm. 29), Nr. XXXIX, S. 441f.

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tenkommunikation interpretieren kann, in dem mit Hilfe der Staatsformenmetaphorik eigentlich von Themen und Problemen gelehrter bzw. wissenschaftlicher Öffentlichkeit gesprochen wird:36 Nusquam felicior est ut civilis, ita literaria Respublica, quam sub unius imperio. Per quotidiana enim Plebiscita quantum additur libertati Singulorum, tantum detrahitur Universorum saluti. Parum autem abest, quin ad hujusmodi regimen Democraticum rem scholasticam inclinent, qui per singulas prope nundinas passim ex variis terrarum angulis erumpunt novae quisque philosophiae conditores. Quibus existimes vix aliud quaeri majore cum cura, quam ut ipsos posteritas inserat catalogo, in quo sunt Cardani, Campanellae, Fluddii, Gilberti, Comenii, Hobbesii, Digbaei, & alia Novatorum jam diu plura, quam publice expediat, nomina.37

36 Zu einer solchen Interpretation von Respublica literaria / Gelehrtenrepublik vgl. Herbert Jaumann: Concept and Perspectives of Research. In: Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus. The European Republic of Letters in the Age of Confessionalism. Hg. von dems. Wiesbaden 2001, S. 11–19; ferner ders.: Respublica Literaria comme métaphore politique. Signification de Res publica, de l’humanisme au XVIIIe siècle en Europe. In: Les premiers siècles de la République européenne des Lettres. Actes du Colloque international, Paris, décembre 2001. Hg. von Marc Fumaroli. Paris 2005, S. 69–88; ders.: Gibt es eine katholische Respublica litteraria? Zum problematischen Konzept der Gelehrtenrepublik in der Frühen Neuzeit. In: Kaspar Schoppe (1576– 1649). Philologe im Dienste der Gegenreformation. Beiträge zur Gelehrtenkultur des europäischen Späthumanismus. Hg. von dems. Frankfurt am Main 1998, S. 361–379; ders.: Ratio clausa. Die Trennung von Erkenntnis und Kommunikation in gelehrten Abhandlungen zur Respublica literaria um 1700 und der europäische Kontext. In: Res publica litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Konferenz Wolfenbüttel 1985. Hg. von Sebastian Neumeister u. Conrad Wiedemann. Wiesbaden 1987, S. 409–429, vgl. auch ders.: Öffentlichkeit und Verlegenheit (wie Anm. 24). 37 Thomasius (wie Anm. 35).

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Tulliopolis – Das Projekt einer Civitas latina im Spiegel des akademischen Kleinschrifttums um 1700 I. In den frühneuzeitlichen Reflexionen zum Verhältnis des Gelehrtenlateins zu den Nationalsprachen sowie zum Erwerb und zur Verwendung der lateinischen Sprache taucht immer wieder der Gedanke auf, ein als „Romana Colonia“, „Latium redivivum“, „Ῥωμαιόπολις“, „Roma Tullia“, „Tulliopolis“ oder einfach als „Civitas latina“ bezeichnetes lateinsprachiges Gemeinwesen zu begründen. Daniel Georg Morhof (1639–1691) referiert in seinem Polyhistor recht ausführlich, zugleich affirmativ1 und mit erheblicher Resonanz2 eine anonyme französische Schrift (Examen de la manière d’enseigner le latin aux enfants par le seul usage) aus dem Jahre 16683 – sie lag ihm nur in der ein Jahr später veröffentlichten englischen Übersetzung vor4 –, die eingangs von dem Fall eines knapp vierjährigen Pariser Kindes berichtet, das nur Latein gesprochen, dieses aber perfekt beherrscht habe. Das war das Ergebnis einer ihrem Selbstverständnis nach vor allem durch Leichtigkeit, Kürze und Sicherheit ausgezeichneten Methode,5 diese Sprache nämlich allein auf dem Wege ihres Gebrauches statt durch grammatische Regeln zu erlernen, der es ab dem 22. Monat seines Lebens ausgesetzt gewesen sein soll. In jenem Werk fand er auch den – von dem unbekannten Autor allerdings nicht weiter entfalteten – Vorschlag zur Einrichtung einer civitas latina („une petite Republique Latine“),6 den Morhof für

1 Daniel Georg Morhof: Polyhistor sive de notitia auctorum et rerum commentarii. Quibus praeterea varia ad omnes disciplinas consilia et subsidia proponuntur. Lübeck 1688, Lib. II, Cap. IX, S. 417– 421. 2 Aus der Fülle von zeitgenössischen Schriften, die sich auf dieses Referat Morhofs beziehen, möchte ich außer den im Text selbst erwähnten an dieser Stelle nur die von Johannes Böse am 30. Juli 1702 unter Christian Masecovius’ Vorsitz verteidigte Dissertatio academica, de linguae latinae praerogativa nennen (Königsberg 1702, hier § 16, Bl. C4v). 3 Examen de la manière d’enseigner le latin aux enfants par le seul usage. Paris 1668. 4 An examen of the way of teaching the latin tongue to little children by use alone. Englished out of French. London 1669. Reprint Menston 1969 (English Linguistics 1500–1800, No. 206). 5 Examen (wie Anm. 3), Kap. 8, S. 64: „Voila les avantages de cette education sur l’education ordinaire. 1. Apprendre plus facilement. 2. Apprendre en moins de temps. 3. Sçavoir plus parfaitement.“ 6 Vgl. Examen (wie Anm. 3), Kap. 5, S. 41.

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wert erklärte, dem König von Frankreich präsentiert worden zu sein,7 und der den Umstand kompensieren sollte, dass es kein Land mehr gab, in dem Latein die Muttersprache war.8 Doch auch vorher schon kam es zu förmlichen Entwürfen einer Stadt, in der von allen Bewohnern, selbst von den Handwerkern, ausschließlich lateinisch gesprochen werden sollte. Ich erwähne als prominentestes Beispiel nur Johann Amos Comenius’ Latium redivivum. Hoc est, de forma erigendi latinissimi collegii, ceu novae romanae civitatulae, eine im vierten Teil seiner Opera didactica omnia veröffentliche Schrift,9 in der er die von ihm entwickelte „Methodus naturalis“ auf das Erlernen der lateinischen Sprache anwandte und die Aufgabe dieses strikt praxisbezogenen Spracherwerbs als pädagogisch-didaktische Utopie einer Gemeinschaft von gleichsam spielerisch Lehrenden und Lernenden ausgestaltete. Für sein Vorhaben beanspruchte Comenius Ungewöhnlichkeit und Neuheit, obwohl ihm die verwandten älteren Überlegungen des Rostocker Theologieprofessors Eilhard Lubinus (1565–1621) bekannt waren.10 Man darf vermuten, dass es diese methodus war, die unausgesprochen auch jenem eingangs erwähnten Examen von 1668 zugrunde lag. Comenius (1592–1670) stellte sich keine richtige Stadt vor, sondern ein vom Lärm der Welt abgelegenes klosterartiges Konvikt – „Collegium seu Coenobium (id est, Convictus) civitatulam qvandam, ceu parvam Romam, repraesentans“ –, dieses aber groß genug (mindestens eintausend Personen), damit alle wichtigen Funktionen eines Gemeinwesens ausgeübt werden könnten („utqve hîc totius etiam Vitae praeludia habeantur“). Vor allem aber bedachte

7 Morhof (wie Anm. 1), S. 420f.: „Non ineptè Autor ille Regi Galliae suadet, ut talem aliquam Civitatem Latinam instituat, qvâ solâ conversatione Latinam linguam doceantur pueri; fore hanc curam tanto Rege dignam, atque inter caetera magna opera fortè primo loco ponendam, & facili negotio opus hoc conficiendum. Ego sanè ipsi planè adstipulor & credo intra 20 annos extrui talem societatem posse, qvâ omnes etiam opifices latinè loquantur.“ 8 Vgl. die anonyme Rezension des Examen in: Le Journal des sçavans. Du Lundy 18. Mars, 1669, S. 21. 9 Johann Amos Comenius: Latium redivivum [...]. In: ders.: Didacticorum operum pars IV. Amsterdam 1657 (Reprint Prag 1957), Sp. 75–84. – Dieser Text wurde noch mehrfach veröffentlicht, u. a. in: Scholarum reformator pansophicus. Comenii de educatione et scholis methodo naturali emendandis cogitationes novissimae. Pansofický vychovatel. Komenského poslední myšlenky o reformĕ výchovy a škol přirozenou metodou. [Hg. von Jan Patočka]. Prag 1956, S. 18–28. 10 Vgl. Eilhardus Lubinus: Novi Iesu Christi Testamenti graeco latino germanicae novae editionis, pars prima. [...] Cum praeliminari ad celsissimum Pomeraniae principem Philippum epistola, in qua consilium de latina lingua compendiose a pueris addiscenda exponitur. Rostock 1614, Bl. a2r–f4v, hier besonders Bl. f2v–f4r. – Direkt von Lubinus abhängig ist ein unter dem Titel Meditationes de schola (um 1630) handschriftlich überlieferter Plan für den Lateinunterricht des schwedischen Reformpädagogen Jacob Rudbeck (1583–1636); vgl. Jacob Rudbeckius Latinstad. Ett pedagogiskt dokument från Gustav II Adolfs tid. Utgivet med inledning av Eskil Källquist. In: Lychnos. Jahrbuch der schwedischen Gesellschaft für Geschichte der Wissenschaften 1936, S. 151–179, hier S. 177. – Dazu Emin Tengström: Latinet i Sverige. Om bruket av latin bland klerker och scholares diplomater och poeter lärdomsfolk och vältalare. Lund 1973, S. 61.

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er die Vorkehrungen, die getroffen sein müssten, damit sich die dort („svavi hoc carcere“) für maximal drei Jahre eingeschlossenen Zöglinge nicht wie „incarcerati“ fühlten.11 Charakteristisch für alle diese und ähnlich geartete Entwürfe war der Optimismus, mit dem die pädagogische Methodenfrage beantwortet wurde, ob Latein schneller, einfacher und sicherer durch grammatische Regeln oder durch Konversation und Gebrauch erlernt werden könne. Lubinus hatte versichert: „Illud certè per Dei gratiam confido, & prorsus mihi persuasum habeo, si hujusmodi Romana, liceat mihi ita appellare, Colonia adornaretur, non minus cito, & forte etiam non minus certè & plenè Romanam linguam in illâ addisci posse, quam olim in mediâ Suburrâ aut Romano foro.“12 Und mit dem gleichen ungebrochenen Optimismus beantwortete Comenius den selbst formulierten Einwand, ob diese als so vortrefflich funktionierend dargestellte Lösung des Problems der langen Ausbildungszeiten13 nicht in Kürze selbst ein großes neues Problem erzeugen müsste, eine ‚Akademikerschwemme‘ nämlich:14 Jede Neuerung pflege erst einmal Angst auszulösen. „Verumenimverò ubi Bonum tantùm expenditur, & Melius, remedium facilè omnibus reperit humana prudentia. Nec industrioso ulli unqvam deerit qvod agat“.15 Der letzte bedeutendere Versuch in dieser Richtung dürfte von dem im Bistum Toulouse wirkenden spanischen Geistlichen Miguel Maria del Olmo16 unternommen worden sein und stammt aus der Zeit unmittelbar nach dem Wiener Kongress – nach IJsewijns Einschätzung „a strange early 19th-century pamphlet“.17 Es handelt sich um die Otia Villaudricensia,18 in denen Olmo den Fürsten, die sich 1814/15 in Wien versammelt hatten, um eine dauerhafte europäische Nachkriegsordnung zu beschließen, Vorschläge zur Wiederbelebung des Lateins als gemeinsamer Sprache Europas durch die Gründung

11 Comenius (wie Anm. 9), §§ 5, 7, 12, 15, 19, 23, Sp. 76–80. 12 Lubinus (wie Anm. 10), Bl. f3v–f4r. – Zu Lubinus vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann und Stephan Meier-Oeser: Lubinus, Eilhardus. In: Killy Literaturlexikon. 2., vollständig überarbeitete Auflage hg. von Wilhelm Kühlmann. Bd. 7. Berlin / New York 2010, S. 528. 13 Comenius’ Projekt zielte freilich weit hinaus über die bloße Vermittlung von lateinischen Sprachkenntnissen: „Praesertim cùm non simpliciter Latium, sed qviddam plus qvàm Latium, condi svademus. Contubernium scilicet ita ordinatum, ut non tantùm Latina Latinè sonare omnia, sed & omnia sapienter, Cogitare, Agere, Loqvi, Omnes Latii hujus Cives doceantur“ (wie Anm. 9), § 22, Sp. 84. 14 Ebd., § 24, Sp. 80: „Si hoc processerit, Collegiumqve tale multis centenis & millenis erudiendis sufficiet, qvid facient tot Eruditi Viri, Scholis nunc suam conferentes operam? an non illis operas & panem eripi injuriosum erit?“ 15 Ebd. 16 Lebensdaten nicht ermittelt. 17 So Jozef IJsewijn: Companion to neo-latin studies. Part I. History and diffusion of neo-latin literature. Second entirely rewritten edition. Leuven 1990, S. 112. 18 Michael Olmo: Otia Villaudricensia. [...] Ad octo magnos principes qui Vindobonae, anno 1815, pacem orbis sanxerunt, de lingua latina colenda, et civitate latina fundanda, liber singularis. Accedit epistola auctoris ad Barberium Vemars, cum responsione Barberii. Toulouse 1816 [1817].

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eines „Roma Tullia“19 genannten lateinischen Stadtstaates unterbreitete.20 Als Urheber dieses Fundationsvorschlages sah Olmo den Mathematiker, Philosophen und Präsidenten der Berliner Akademie der Wissenschaften Pierre-Louis Moreau de Maupertuis (1698– 1759) an.21 Dieser hatte in der Lettre XIX. Sur le Progrès des Sciences auch von einer „Ville Latine“ gehandelt als dem idealen Ort, an dem Latein kultiviert werden könnte. Folgte man Maupertuis, dann war das ganze damalige Europa von der Notwendigkeit überzeugt, diese seit langem tote und doch bis in die Gegenwart hinein universale Sprache zu kultivieren.22

II. Im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert wird der Gedanke einer civitas latina mehrfach auch in Dissertationen behandelt, so von Christian Weise (1642–1708), seit 1678 Rektor des Zittauer Gymnasiums.23 Am 31. März 1689 ließ Weise von Johann Hübner (1668–1731), der zu dieser Zeit Amanuensis im seinem Hause war24 und später als Pädagoge und Polyhistor bekannt wurde, die Disputatio politica de latina lingua, quan19 Olmo (wie Anm. 18), § 96, S. 123: „Habebitque Latina civitas, in honorem Romanae eloquentiae nomen Roma Tullia, veterisque regimen, ac jura imitabitur, his adjectis, quae, juxtà praesentis temporis locique consuetudines, ab aliis liberis Europae civitatibus assumi possint“. 20 Vgl. dazu Heinrich Karl Abraham Eichstädt: De novo Michaelis Olmonis consilio civitatem latinam fundandi. Jena 1822 (Eichstädt war nicht der Text, sondern nur ein kurzer kommentierter Auszug daraus bekannt: Proposal for a Latin Colony. In: The Classical Journal 50 [Juni 1822], S. 281–284); Joseph Holzer: De Michaelis Olmonis consilio civitatem latinam condendi. In: Societas Latina 9 (1941), S. 3–7; Dirk Sacré: De Roma Tullia. In: Vox Latina 26 (1990), S. 38–46; D. Sacré: Project: een Latijnse stadstaat 1816–1824. In: Hermeneus. Tijdschrift voor antieke cultuur 65 (1993), Nr. 2 (Themanummer: Latijn in Europa), S. 113–119; J. IJsewijn und D. Sacré: The ultimate efforts to save latin as the means of international communication: In: History of European Ideas 16 (1993), S. 51–66. 21 Olmo: Traduction avec le texte en regard, de l’adresse latine signée par plusieurs professeurs et gens de lettres, et présentée a S. M. Louis XVIII, le 22 Octobre 1821, sur le projet de la fondation d’une ville latine, par le moyen d’une souscription européenne. Paris 1824, § 26, S. 41: „Or, nous ne sommes pas, Sire, les premiers auteurs de cette proposition, que nous vous présentons aujourd’hui respectueusement. Que cette gloire demeure toute entière au savant et ingénieux philosophe Maupertuis, qui, charmé aussi de la douce image d’une ville où l’on ne parlerait que Latin, en donne une esquisse dans ses lettres“. – Bei dieser Traduction Olmos handelt es sich übrigens keineswegs, wie verschiedentlich (wohl vom Titel irregeführt) angenommen wurde, um eine Übersetzung der Otia Villaudricensia. 22 Vgl. Lettres de Mr. de Maupertuis. Dresden 1752, S. 157–228, hier S. 187f. 23 Vgl. Hans Arno Horn: Christian Weise als Erneuerer des deutschen Gymnasiums im Zeitalter des Barock. Der „Politicus“ als Bildungsideal. Weinheim/Bergstr. 1966 (Marburger pädagogische Studien, 5). 24 Horn (wie Anm. 23), S. 113f., 165f., 169, 174–176.

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tum reip. intersit eandem doceri25 verteidigen, eine Valediktionsdisputation, denn Hübner, der 1678 in das Gymnasium eingetreten war, nahm im Wintersemester 1688/89 an der Universität Leipzig das Studium auf.26 Dem Argumentationsgang dieses Specimen folge ich nicht in alle seine Verästelungen hinein, sondern nur so weit, wie er für das hier behandelte Thema relevant ist. In der Frage nach der genuin politischen Bedeutung der lateinischen Sprache wird Politik verstanden als „Prudentia CONSERVANDAE Reipublicae“.27 Bildung und Erziehung sind für Weise integrale Momente dieser conservatio – eine Feststellung, die er nicht etwa als Plädoyer für die Konfundierung beider Bereiche mit der Politik aufgefasst wissen will: Analog zur Regelung des Verhältnisses von Religion und politischer Obrigkeit soll sich die Macht der Letzteren nur auf die äußeren Belange der ansonsten den Fachleuten (Philologen, Pädagogen) überlassenen res scholastica erstrecken. Der Autor schickt seinen Ausführungen zunächst (§§ XI–L) einige Prudenzregeln „indubitatae veritatis“28 voraus: Dem Staat ist daran gelegen, (1.) dass es Schulen gibt; (2.) dass das Ziel dieser Schulen und das Ziel des Lebens koinzidieren, das heißt, dass die Schulen auf einen lebenspraktischen, am Gemeinwohl orientierten Nutzen hingeordnet sind; (3.) dass von den Lernenden keine vollkommene Bildung verlangt wird, sondern eine solche, die sie auch erreichen können, bringt jemand, der allzu sehr auf die Realisierung einer Vollkommenheit in der Idee dringt, doch letztlich nur Träume hervor, aber keine praktischen Ratschläge („Nam qvae practica sunt, simul esse volunt possibilia“).29 Ja, man richtet nach seinem Verständnis geradezu Schaden an, wenn man für die meisten Menschen unerreichbare Muster als allgemeine Norm der Erziehung aufstellt.30 Die Beispiele dafür entnimmt auch Weise dem Referat Morhofs und weist die dort empfohlene Lehr- und Lernmethode jenes französischen Anonymus, insbesondere aber das Projekt einer civitas latina im Namen von praktischer Machbarkeit und Menschlichkeit harsch zurück: „Ast qvi judicium adhibeat practicum, & qvantum speranda s. possibilia distent ab optandis s. theoreticis, perpendat;

25 Christian Weise (Präses) / Johann Hübner (Respondent): Disputatio politica de latina lingua, quantum reip. intersit eandem doceri [...]. Loco speciminis valedictorii [...]. Zittau 1689. 26 Die iüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559–1809 als Personen- und Ortsregister bearbeitet und durch Nachträge aus den Promotionslisten ergänzt. Hg. von Georg Erler. Bd. 2: Die Immatrikulationen vom Wintersemester 1634 bis zum Sommersemester 1709. Leipzig 1909, S. 197; vgl. Uwe-K. Ketelsen: Hübner, Johann. In: Killy Literaturlexikon (wie Anm. 12), Bd. 5, 2009, S. 627f. 27 Weise / Hübner (wie Anm. 25), § III, Bl. A2r. 28 Ebd., § X, Bl. A3r. 29 Ebd., § XIX, Bl. A3v. 30 Ebd., §§ XX, XXIII, Bl. A4r: „Inde graviter mihi peccare videntur non solum in scholas, sed in ipsam qvoque remp. qvi Literatorum Heroas, admirandos potius qvam imitandos, ita proponunt, ut ab eorum exemplo capere velint universales informandi regulas. [...] Inde vereor ne praeceptores laterem lavent, cum passim in Scholas ad Ciceronem, Senecam, utrumque Plinium & alios provocant, qvorum ferream & ingeniosam sedulitatem ne centesimus asseqvetur.“

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vereor, ut à risu vel à commiseratione temperare sibi possit.“31 Es fänden sich keine Lateinlehrer, die um der Schüler willen freiwillig in ein langjähriges Exil gingen, keine Eltern, die sich auf längere Zeit von ihren in jungen Jahren besonders schutzbedürftigen Sprösslingen trennten. In Bezug auf die durch das Latein verdrängte Muttersprache überwiegen für ihn die Nachteile dieser Methode ihre Vorzüge bei weitem. Auch die beiden letzten Kanones der Klugheit – (4.) die Ausrichtung dieses Unterrichts vorzugsweise an den Bedürfnissen durchschnittlicher Schüler32 sowie (5.) die genaue Einsicht in die inneren und äußeren Hindernisse der Schulen – stehen im Einklang mit Weises Hinwendung zur politischen Praxis und der korrespondierenden Aufwertung eines Unterrichts, der der Vermittlung praxisrelevanten Realwissens dient. Wie aber steht es mit dem politischen Nutzen der lateinischen Sprache? Am Ende ihrer Analyse (§§ LI–LXX) „ad normam utilitatis politicae“ konstatiert Weise sachlich, jedoch mit den in diesem Kontext üblichen Invektiven gegen die Vertreter der römischen Kirche, Latein sei aus rein historischen Gründen zur Muttersprache der Gelehrten geworden, nicht etwa aufgrund irgendwelcher besonderer innerer Qualitäten. Die politische und wissenschaftliche Bedeutung des Lateins stellt er damit nicht in Abrede, plädiert nur für eine nüchtern-vernünftige, rein instrumentale Auffassung der Sprache, auch der lateinischen. Mit Latein könne man in der internationalen Kommunikation die mit der Vielfalt der Landessprachen gegebenen Probleme vermeiden.33 Im Übrigen ist er weit entfernt von aller ängstlichen Latinität der Ciceronianer, die er aber ebenfalls nicht gänzlich verwirft,34 sondern durch die Historisierung von Stilnormen – „in lingvis nullas habemus regulas aeternae veritatis: qvales in disciplinis moralibus agnoscimus“ und „qvae majoribus nimium placuerunt, posteritas omittit: posteris arrident alia majoribus incognita“35 – in ihrer Geltung begrenzt.

III. Die von Weise erhobenen Einwände bzw. Einwände von der Art, wie Weise sie formuliert hatte, haben dazu geführt, dass nachfolgende Behandlungen des Themas der Frage der Machbarkeit, sei es mit kritischer, sei es mit affirmativer Intention, größere Aufmerksamkeit schenkten. Das lässt sich exemplarisch an dem Programma quo somnium quorundam 31 Ebd., § XXVIII, Bl. A4v. 32 Ebd., §§ XXXIVf., Bl. B1v: „At mediocrium major est copia: unde largiorem qvoque virorum utilium messem is reip. praestabit, qvi excolendis horum ingeniis invigilaverit; [...] Ipsi Politici passim laudant mediocres, qvi nec infra, nec supra suam functionem sint, sed pares negotiis.“ 33 Ebd., § LXVIII, Bl. C1v. 34 Ebd., § CXIX, Bl. D4v: „Interest plerosque contentos esse Latinitate sobria: sed tamen interest qvoque nonnul[l]os extare viros qvi Latinitatem excolant anxiam, unde caeteri petant consilia.“ 35 Ebd., § LXXXI, Bl. C3r.

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de civitate latina condenda excutit atque explodit [...] Heumannus zeigen,36 mit dem Christoph August Heumann (1681–1764), seit 1717 Inspektor und Theologieprofessor am Göttinger Gymnasium, am 15. Juni 1718 zur Inauguration des neuen Konrektors dieser Institution einlud. Mit kräftiger Ironie,37 in der Apostrophierung aber vergleichsweise noch zurückhaltend stellt Heumann in dieser wenige Jahre später unter dem Titel Utopiae literatae caput primum und mit neuer Einleitung nochmals veröffentlichten „Dissertatiuncula“38 die civitas latina-Konzepte in die Tradition der platonisch inspirierten Entwürfe eines Idealstaates. In den Korollaria einer 1713 an der Salana verteidigten pro loco-Dissertation ist es nicht beim bloßen „somnium“-Vorwurf geblieben: „Anonymi Galli, & Eilhardi Lubini consilia“, heißt es dort, „quorum alter ut sola conversatione pueri latinam linguam doceantur, Galliae Regi civitatem latinam, alter coloniam Romanam eruditis suasit, à Bechero, si adhuc superstes esset, dubio procul sapienti stultitiae non immerito annumerarentur“.39 Jacob Burckhard (1681–1752), seit 1714 Professor am neu gegründeten akademischen Gymnasium in Hildburghausen, hat sich, in Kenntnis des Korollariums, mit diesen Konzepten und den korrespondierenden Methodenlehren in seinen Kommentaren De linguae latinae quibus in Germania per XVII saecula amplius usa ea est fatis, einem aussagekräftigen Werk zur Situation des Lateingebrauchs um 1700, gar nicht befassen wollen.40 Anders Heumann, der weder so weit gehen wollte wie die Jenaer 36 C. A. Heumann: Programma quo somnium quorundam de civitate latina condenda excutit atque explodit, simulque ad solennem inaugurationem novi conrectoris omnium ordinum viros literarum studiis excultos literatorumque studiosos officiose invitat Christophorus Augustus Heumannus [...]. Göttingen 1718. 37 Ebd., S. 3: „Solet, cum praeclararum optabiliumque rerum cogitatione occupatur animus, tum vulgus hominum, tum ipsa philosophorum natio ita velut extra se rapi, vt, quam speciem laeti concepere animo, eam illico repraesentari posse oculis, sibi persuadeant, quin etiam consilia eam repraesentandi cupide ineant.“ 38 C. A. Heumann: Poecile sive epistolae miscellaneae ad literatissimos aevi nostri viros [...]. Tomi I. Liber I. Halle 1722, Nr. XII, S. 94–103. 39 Johann Christoph Wendler (Präses) / Johann Nikolaus Schwarz (Respondent): Dissertationem praeliminarem qua asseritur adversus Stanislaum Rescium, Baronium, Labbeum [...], Lutheranos in praeiudicium doctrinae purioris neque supprimere neque corrumpere scriptores ecclesiasticos et profanos [...] examini submittit Praeses [...]. Jena 1713, Corollarium X, S. 25 (richtig: 39). 40 J. Burckhard: De linguae latinae quibus in Germania per XVII saecula amplius usa ea est fatis novi plane, quibus priores illustrantur partim partim supplentur, commentarii [...]. Wolfenbüttel 1721, S. 587–589: „Multa Latinitatis addiscendae Compendia ista, variasque nouas, vti inscriptae saeculo XVII prodierunt, Methodos, commemorare nihil attinet, nimis enim longum id foret. Nec illorum, qui Germanis eodem proximo saeculo auctores exstiterunt, vt CIVITAS quaedam LATINA, siue COLONIA ROMANA, institueretur inter ipsos, in qua sola conuersatione, consuetudine vsuque Latinam linguam docerentur pueri, consilium pluribus verbis persequi & rationes eorum exponere animus est. Fingamus, non esse τῶν ἀδυνάτων, Ciuitatem siue Coloniam eiusmodi hodie constituere; & adsentiamur Augustino, fore, vt, si pueris inter homines integre loquentes crescere daretur ac viuere, grammatica ii non indigerent arte. Nihil tamen profici amplius istiusmodi Latina Ciuitate, si talis

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Disputanten noch wie Burckhard die Auseinandersetzung verweigerte. Für ihn ist die neuere „Tulliopolis“ wie Plotins „Platonopolis“ ein politisches Gedankending, erdacht von Philologen. Den Ausdruck „ens rationis politicum“ hat er von dem Juristen Johann Nikolaus Hertius (1651–1710) übernommen, der so den platonischen Staat apostrophiert hatte.41 Entia rationis haben nach überlieferter scholastischer Lehre kein extramentales, sondern ein ‚objektives‘, das heißt ein nur vorgestelltes Sein im Geist (esse obiective tantum). Heumann nennt als namhafte Befürworter jenes Plans außer Morhof und Lubinus noch den erst Elbinger, dann Danziger Pädagogen und Mediziner Joachim Pastorius (1610–1681), in dessen Überlegungen zur Methode des Lateinunterrichts42 die Vorstellung von einem „Latium extra Italiam“ der ganzen Ausrichtung auf die Erziehung junger Adliger entsprechend einen erklärt elitär-exklusiven Charakter angenommen hatte,43 der institueretur nostra aetate, posse, arbitror, quam vt hominum, quemadmodum Caselium progressus, qui in Scholis fiant, planissime exposuisse, modo cognouimus, Latine loquentium, siue balbutientium, prodiret inde multitudo, quos Latine loqui populus putaret, & qui in illis, quae ipsi plebeii interdum intelligerent, obmutescere necesse non haberent: sed quos, si res magna ageretur, vna cum re verba statim deficerent; & qui, si Latinus scriptor, de veteribus vnus, explicandus esset, haererent, ac ne sibi quidem, quid eorum quisque vellet, intelligerent, nedum quid ex iis cum aliis porro communicare possent.“ – Zu Burckhard vgl. Walther Ludwig: De linguae Latinae in Germania fatis. Jacob Burckhard und der neuzeitliche Gebrauch der lateinischen Sprache. In: ders.: Supplementa Neolatina. Ausgewählte Aufsätze 2003–2008. Hg. von Astrid Steiner-Weber. Hildesheim u. a. 2008 (Noctes Neolatinae. Neo-Latin Texts and Studies, 10), S. 17–50. 41 Heumann (wie Anm. 36), S. 4. – Vgl. J. N. Hertius: Elementa prudentiae civilis, ad fundamenta solidioris doctrinae jacienda. Frankfurt am Main 1703, Paedia, § XI, S. 16. Hertius verteidigt die „civitas ex voto optima“ im Übrigen hinsichtlich ihrer praktisch wie theoretisch regulativen Funktion: „Prima est, ut intelligamus artes rivulos esse divinae sapientiae, quae est immensa & infinita, nec unquam exhauriri potest. Altera est, ut flectamur ad modestiam, agnitâ nostrâ imbecillitate, quae longè abest à perfectione. Tertia, ut conatus magnorum ingeniorum aliquo modo dirigantur ad illas normas, & tantum quisque elaboret, quantum assequi potest.“ 42 J. Pastorius: Palaestra nobilium seu consilium de generosorum adolescentum educatione in gratiam quorundam illustrium Polonorum conscriptum. Elbing 1654 (die Erstauflage soll o. O. 1636 erschienen sein). – Zu Pastorius vgl. Dorota Żołądź-Strzelczyk: Pädagogische Ansichten des Joachim Pastorius. In: Humanismus im Norden. Frühneuzeitliche Rezeption antiker Kultur und Literatur an Nord- und Ostsee. Hg. von Thomas Haye. Amsterdam / Atlanata 2000 (Chloe, 32), S. 251–264. 43 Pastorius (wie Anm. 42), Cap. 2, S. 10f.: „Si Terra aliqva in Europâ esset, qvae eam lingvam [sc. latinam] vernaculam haberet, eò haud dubiè Nobiles plerique, saltem ditiores, mitterent filios suos. Sic enim istic non minore negotio eam lingvam addiscerent, qvam disci solent aliae, qvarum causâ à foco paterno abstrahi, mittique in extera loca consvevêre adolescentes. At nulla hodiè gens est, qvae lingvam istam à matre hauriat, Italiâ, & Româ ipsâ etiam, qvoad lingvam, priscae illi adeò dissimili, ut Latinum sermonem nemo istic sciat, nisi qvi deditâ operâ eam didicerit. [...] Eqvidem qvod de Collegiis, in qvibus Domestici omnes non aliâ lingvâ, qvam Latinâ uterentur, & ego alibi, & alii ante me monuêre, id à nemine citiùs, qvam a Nobilibus dari posset effectui: qvippe qvi facillimè omnium sumtum eum facere ac sustinere qveant. Et miror de tali Instituto in locis ad eam rem opportunis non cogitari diligentiùs, neque inter tot Viros Magnificos, & ad pia alioqvin opera propensos, reper-

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auch in späteren Entwürfen wie dem von Christian Heinrich Gasser dezidiert zur Geltung gebracht wird (vgl. unten Abschnitt IV). Aus drei Gründen verweist Heumann diesen Plan zur Propagation des Lateins in die Welt der platonischen Träume: Er sei (1.) aus praktischen Gründen nicht realisierbar; wäre er aber realisierbar, würde er (2.) überflüssig sein und (3.) sogar Schaden anrichten. An erster Stelle ist es das Fehlen lateinkundiger Mütter, Ammen und Handwerksausbilder. Doch selbst wenn es diese gäbe, würde es nach Heumann bei den Schülern zu einem Konflikt zwischen der Lateinkundigkeit und der Bereitschaft zur Ausübung niedriger Tätigkeiten („sordidum excolere opificium“)44 kommen müssen, und wenn nicht dies, dann notgedrungen die Reinheit des Lateins wie die der Muttersprache leiden. Für unnötig erklärt er den Plan, weil die Schulen Lateinkenntnisse bei weitem schneller und leichter vermitteln könnten, und zwar auf dieselbe Weise wie Englisch oder Französisch, es müssten nur einige besondere Bedingungen erfüllt sein (richtiges Alter der Schüler, angemessene Methode und Zielsetzung des Unterrichts, der eben nicht aus allen Schülern Philologen machen soll, sondern sich an den praktischen Bedürfnissen des Alltags orientieren muss). Schaden nähme schließlich die Pflege der Muttersprache, die er im Blick auf die Mehrheit der Menschen in ihrer Bedeutung höher einschätzt als das Latein, das nur noch bei bestimmten Gelegenheiten und von wenigen gebraucht werde. Aber auch das Latein würde nicht bewahrt, sondern, wie schon Christian Thomasius (1655–1728) gegen Morhof eingewandt habe,45 unweigerlich durch eindringende Germanismen korrumpiert und dergestalt aus der „Tulliopolis“ unmerklich eine „Barbaropolis“ werden.46

IV. Bei der in Königsberg veröffentlichten Dissertatio politica de Ῥωμαιόπολει von Christian Heinrich Gasser (1680–1753) dürfte es sich um den bis dahin ausführlichsten Entwurf

iri aliqvos, qvi tale velut Latium extra Italiam fundare, si non pro vulgô, saltem pro nobilibus pueris aggrediantur.“ 44 Heumann (wie Anm 36), S. 6. 45 Vgl. Schertz und ernsthaffter/ vernünfftiger und einfältiger Gedancken/ über allerhand lustige und nützliche Bücher und Fragen eilffter Monat oder November in einem Gespräch vorgestellet (= Lustiger und ernsthaffter Monats-Gespräche anderer Theil/ in sich begreiffend die sechs letzten Monate des 1688. Jahres [...]). Halle 1688, S. 637: „Aber wenn diese lateinischen [!] Stadt nun einmahl auffgerichtet wäre/ wie würde man sie wohl im baulichen Wesen erhalten/ daß sie nicht verhuntzt würde/ und die Einwohner an statt des Ciceronianischen schlim Polnisch Latein lerneten, welches wohl nicht nachbleiben/ sondern in andern 20. Jahren nothwendig geschehen würde/ wenn die Einwohner dieser Lateinischen Stadt mit denen andern Einwohnern Handthierung und Handlung trieben und sich mit denen selben verheyratheten.“ 46 Heumann (wie Anm. 36), S. 9.

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eines lateinsprachigen Gemeinwesens handeln.47 Der aus dem pommerschen Kolberg stammende Verfasser hatte sich am 28. August 1703 an der Albertina als Student der Rechtswissenschaft immatrikuliert,48 dann aber offensichtlich die Fakultät gewechselt, wie das Specimen De sanguine Jesu Christi nos emundante, ex 1. Joh. 1. v. 7 belegt, das er im April 1705 unter dem Vorsitz des Theologen Gottfried Wegner verteidigte; und nach Auskunft des Titelblattes der Schrift, von der hier die Rede sein soll, hat Gasser den Magistergrad erworben. 1707 wurde er als Nachfolger seines Bruders Adam Sebastian Gasser Prorektor, 1709 Rektor in Rastenburg,49 1710 Rektor in Marienburg, von 1712 bis 1728 war er Pfarrer in Dollstädt (Preußisch Eylau),50 ab 1735 in Liebstadt (Mohrungen), in der Zwischenzeit „außer Bedienung“.51 Die Dissertatio politica, die kein Thesendruck für eine akademische Disputation ist,52 auch wenn sie – allerdings nur auf den ersten Blick – so aussieht und der Autor das Disputatorische rhetorisch stark herausstreicht, ist undatiert. Daniel Heinrich Arnoldt (1706–1775)53 und Georg Christoph Pisanski (1725–1790)54 haben 1724 als Erscheinungsjahr angegeben, zumindest Letzterer scheint jedoch davon ausgegangen zu sein, dass Gasser sie bereits in der Zeit seines Rastenburger Rektorats ver-

47 Christian Heinrich Gasser: Dissertatio politica, de Ῥωμαιόπολει, seu nova civitate latina condenda. Königsberg o. J. 48 Die Matrikel der Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr. 2. Bd. Die Immatrikulationen von 1657– 1829. Hg. von Georg Erler. Leipzig 1911/12, S. 236. Einer seiner Brüder, Simon Peter Gasser (1676–1745), war Jurist und Ökonom an der Universität Halle. 49 Johann Wilhelm Gottlob Heinicke: Zur ältesten Geschichte des königlichen Gymnasiums zu Rastenburg bis in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zur dritten Säcularfeier. In: Jahresbericht des königlichen Gymnasiums zu Rastenburg womit zur öffentlichen Prüfung am 8. und 9. October 1846 ergebenst einladet J. W. G. Heinicke. Rastenburg 1846, S. 1–92, hier S. 74f., 79. 50 Friedwald Moeller: Altpreußisches evangelisches Pfarrerbuch von der Reformation bis zur Vertreibung im Jahre 1945. Bd. 1: Die Kirchspiele und ihre Stellenbesetzungen. Hamburg 1968 (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e.V., 11), S. 32, 86; Vanselow: Gasser, Christian Heinrich. In: Altpreußische Biographie. Hg. im Auftrage der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung von Christian Krollmann u. a. Bd. 1. Marburg 1941, S. 205. 51 Daniel Heinrich Arnoldt: Zusätze zu seiner Historie der Königsbergschen Universität, nebst einigen Verbesserungen derselben, auch zweyhundert und funfzig Lebensbeschreibungen Preußischer Gelehrten. Königsberg 1756 (Reprint Aalen 1994), S. 138. 52 Zum Verständnis dieser Textgattung hat niemand soviel beigetragen wie Hanspeter Marti. Aus der Fülle seiner wegweisenden einschlägigen Publikationen nenne ich hier nur den Artikel ‚Dissertation‘. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 2. Tübingen (auch Darmstadt) 1994, Sp. 880–884, und verweise auf das Verzeichnis der Schriften des Jubilars in diesem Band. 53 Arnoldt (wie Anm. 51), S. 139. – Bibliothekskataloge nennen als Erscheinungsdatum „ca. 1720“. 54 Georg Christoph Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte in vier Büchern. Mit einer Notiz über den Autor und sein Buch. Hg. von Rudolf Philippi. Königsberg 1886. Reprint Hamburg 1994 (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e.V., 80/1), S. 635, vgl. S. 484, 683.

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fasst hatte. Es ist nicht auszuschließen, dass dieser sich damit für eine Universitätsstelle empfehlen wollte. Gasser beginnt mit einem Loblied auf die Errungenschaften seines, vor allem aber der beiden vorausgegangenen Jahrhunderte und spricht sich damit entschieden und in jedweder Hinsicht für den Vorzug der Modernen gegenüber den Alten aus,55 abgesehen von einem einzigen Punkt, der Latinität der Augusteischen Epoche, die nach seiner Meinung in späterer Zeit nie wieder erreicht wurde. In hartem Widerspruch dazu steht für ihn die scharfe Ablehnung, ja Verachtung der litterae: „plurimi nausea litterarum capti [...], abjectè & sinistrè de iis loquuntur.“56 Die Diagnose vieler seiner Zeitgenossen, die die „linguae unius latinae cultura“ dafür verantwortlich machen, teilt er nicht. Zwar leide die Jugend bei der Aneignung der „lingua erudita“ und bringe es darin im Sprechen und Schreiben am Ende doch nicht weit. Abhilfe schafft für ihn aber nicht die Einführung des Deutschen als Unterrichts- und Universitätssprache, ein in seiner Zeit verbreitetes Votum,57 dem sich der Autor schon deshalb nicht anschließen kann, weil Latein für ihn das Bollwerk gegen die Barbarei ist („Turpe est dedecorare arma, quibus communis Litterarum hostis, Barbaries, depugnanda est“).58 Unbeschadet seiner Überzeugung von der auch sonst bestehenden Vorzüglichkeit der lateinischen Sprache will Gasser doch nicht so weit gehen, diese zur Norm aller Nationalsprachen zu erheben: „Nos via media incedentes id saltem verè dicere possumus, eam esse Linguam, qua supersedere mundus nullo modo potest.“59 Für ihn kann es folglich nur darum gehen, eine neue Methode zu finden, mit der man den Schwierigkeiten der Aneignung dieser Sprache wirkungsvoll begegnet. In diesem Zusammenhang greift Gasser die zeittypische Vorteilskritik auf, um sie gegen grundsätzliche Bedenken gegenüber neuen Lösungen zu wenden. Für eine solche neue Lösung eines alten Problems erklärt er nämlich seinen Gedanken: Civitatem aut domum aliquam latinam condendam esse, firmiter mihi persvasum habeo, in quibus latina lingua, eaque pura & casta, non secus ac vernacula ab ipsis teneris, h. e. à tertio, quarto vel quinto aetatis anno addisci ex usu quotidiano possit, idque prius, quam suae vernaculae, è quacunque sit gente puellus, rectè asueverit.60 55 Gasser scheint bislang auch als Stimme im Vorzugsstreit in der einschlägigen Literatur noch nicht registriert worden zu sein; auch bei Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981, fehlt er. 56 Gasser (wie Anm. 47), § 2, S. 4 u. ö. 57 Vgl. dazu Richard Hodermann: Universitätsvorlesungen in deutscher Sprache um die Wende des 17. Jahrhunderts. Phil. Diss. Jena 1891; Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. 3., erweiterte Auflage. 2 Bde. Leipzig 1919, Register (v. Deutscher Unterricht); Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Paderborn 2003, S. 11–38 (Deutsch als Universitätssprache). 58 Gasser (wie Anm. 47), § II, S. 5. 59 Ebd., § III, S. 6. 60 Ebd., § V, S. 7.

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Dieser Gedanke soll alle vier Bedingungen erfüllen, denen jeder öffentliche Vorschlag nach seiner Auffassung genügen muss: Er ist auf den Ruhm Gottes gerichtet (durch die mühelose und sichere Unterweisung der Jugend), er dient dem allgemeinen Wohl, und zwar ganz Europas (durch die Ersparnis von Zeit, Kosten und Mühen), er ist ehrenhaft (weil er auf das Wohl vieler Menschen abzielt), und er übersteigt nicht die menschlichen Fähigkeiten, ein Aspekt, den der Verfasser mit Verweis auf die verwandten Überlegungen von Comenius, Pastorius und Morhof zumindest für sehr wahrscheinlich erklärt. Gasser verwahrt sich angesichts dieser von ihm erwähnten Autoren gegen die immerhin nahe liegende Vermutung, „me acta agere“.61 In den folgenden Paragraphen (§§ XI–XIX) widmet er sich detailliert der Ausgestaltung und auch der Finanzierung der zu begründenden lateinischen Kolonie. Diese soll abgelegen und abgeschlossen von der Umwelt im polnischen Grenzgebiet oder an der Ostseeküste Preußens angesiedelt und anfangs mit je 12 zwei- oder dreijährigen Jungen und Mädchen bevölkert werden. Ihre Gehilfen, Betreuer, Erzieher und Prediger, deren Zahl ebenfalls festgelegt ist, werden eidlich strikt verpflichtet, mit ihnen sowie untereinander ausschließlich lateinisch zu sprechen: „Injuratus nemo intret Ῥωμαιόπολιν“.62 Anderes Dienstpersonal wohnt außerhalb der Kolonie und hat keinen unmittelbaren Kontakt zu deren Bewohnern, wie überhaupt besondere Vorkehrungen zum Schutz der Reinheit der lateinischen Sprache getroffen werden. Dergestalt soll im Laufe der Jahre Latein zur Muttersprache dieser Einrichtung werden, und die später dorthin geschickten Zöglinge – zu deren Nutzen diese Kolonie ja geschaffen wird – würden diese Sprache wie jede andere lebendige Sprache auch allein durch Gebrauch und in kurzer Zeit erlernen können. Woher die ersten 24 „Colonuli“ kommen, die später heiraten, für Nachwuchs sorgen und einen Handwerksberuf erlernen sollen, die Kolonie aber nicht verlassen dürfen, sagt Gasser nicht. Jene Gehilfen gedenkt er jedenfalls aus den Armenhäusern zu holen,63 die anderen Bediensteten meint er dadurch zu gewinnen, dass er ihnen ein besseres Fortkommen („spe promotionis“) in Aussicht stellt bzw. das Bürgerrecht („utique Civis“) in der Kolonie zugesteht.64 Für alle aber hat er Pflichtenkataloge ausgearbeitet; das Erlassen von Gesetzen, zu denen auch jene Eidesformel gehören würde, ist für ihn hingegen Sache der Obrigkeit des Landes, in deren Kompetenzen er keinesfalls eingreifen will: „Disserere meum est, idque citra cujusquam hominis praejudicium“.65 Zum Bemühen um den Nachweis der Machbarkeit gehört die ausführliche Behandlung der Kostenfrage. Der von seinem Projekt überzeugte Autor besitzt Geschäftssinn. Eingehend rechnet er vor, dass es sich bei diesem nicht zuletzt auch um ein bereits nach wenigen 61 Ebd., §§ VI–X, S. 8–12, hier S. 12. 62 Ebd., § XV, S. 18. 63 Ebd., § XIV, S. 15: „Quatuor vel sex infimae sortis, fortunaeque novercantis juvenes ex iis, qui ob paupertatem communi sumtu aluntur, eorum tamen in latinitate profectuum, ut ea saltem, quae in communi vita cum puerulis colloquendi materiam praebent, satis promtè & latinè effari possint.“ 64 Ebd., § XIV, S. 16f. 65 Ebd., § XV, S. 19.

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Jahren nennenswerten Gewinn erwirtschaftendes Unternehmen handeln würde („intra Sexennium omnis sumtus in Coloniam semel factus restitueretur, reliqui vero anni usuram impensarum cum largo foenore impertirent“); und würde man die civitas größer anlegen, als in seinem consilium vorgesehen, ließen sich auch die jährlichen Einnahmen entsprechend erhöhen („Quid si vero, ampliori facta Civitate, centum, ducenti & plures pueruli illuc confluerent ex dissitis quoque Provinciis, an non Proventus annuus semel factis impensis dignus foret?“).66 Diese Ausweitung begründet Gasser zugleich religiös: Es wäre unchristlich, den Nutzen einer derartigen Einrichtung auf die heimatlichen Gefilde beschränken zu wollen.67 Anders als in den zuvor erwähnten civitas latina-Entwürfen, die sich stets explizit an den Fürsten als an den intendierten Initiator wandten – noch Olmo folgt 1816 in seinen Otia Villaudricensia diesem Muster –, ist im vorliegenden Fall mangels Widmungsempfängern und sonstiger Hinweise im Text nicht mit Sicherheit zu sagen, an wen Gasser seine Überlegungen adressierte; das Titelblatt besagt nur, er unterbreite sie „CORDATIORUMQUE HOMINUM CENSURAE“, also einem anonymen, sozial und ständisch nicht differenzierten Publikum, obwohl er als zahlende ‚Kunden‘ nur die Sprösslinge vornehmer bzw. begüterter Familien im Auge hat („nam ex faece plebis, tenuisque fortunae hominibus vix conducere nostram Ῥωμαιόπολιν“).68 Er wird nicht müde, diesen Letzteren insbesondere den im Zeitgewinn liegenden Nutzen seines Projektes auszumalen. Ein erkennbarer Erfolg war Gasser nicht beschieden. Unter Berufung auf Heumanns Kritik an Morhof und Pastorius verwies Pisanski seinen Vorschlag später freundlich in das Reich der Utopie.

V. In die am 7. Juni 1739 von Mattias Fryksell unter dem Vorsitz von Petrus Ekerman an der Universität Uppsala verteidigte Disputatio academica, consilium de civitate latina condenda leviter adumbrans69 hat ein Großteil der bislang erwähnten Autoren Eingang gefunden: an erster Stelle Morhof, dann Lubinus, Pastorius, der französische Anonymus des Examen von 1668 und schließlich Heumann; Gasser hingegen fehlt. Ekerman (1696–1783)70 66 Ebd., § XVII, S. 21. 67 Ebd., § XIX, S. 23: „impium foret, & irreligiosum, solius Patriae limitibus cohibere velle utilitatem rei per fines Mundi omnes sese diffundentis“. 68 Ebd., § VII, S. 8; vgl. § XXIII, S. 27. 69 Petrus Ekerman (Präses) / Matthias Fryksell (Respondent): Disputatio academica, consilium de civitate latina condenda leviter adumbrans. Uppsala 1739. 70 Vgl. Biografiskt lexikon öfver namnkunnige svenske män. Bd. 4. Stockholm 21875, S. 226f. Ekerman hatte sich am 2. März 1715 an der Universität Uppsala immatrikuliert (vgl. Uppsala Universitets Matrikel [1595–1817]. Hg. von Aksel Andersson u. a. 18 Teile. Uppsala 1900–1960, Teil 7, 1920, S. 97) und dort 1722 den Magistergrad erworben; 1728 wurde er Adjunkt der philosophischen Fakultät. Unter seinem Vorsitz wurden mehrere Hundert Dissertationen verteidigt.

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versah von 1737 bis 1779 die Professur der Beredsamkeit, der aus Karlstad (Provinz Värmland) stammende Fryksell (1716–1746) war ein Sohn des Pfarrers und Richters Elav Fryksell (1684–1751), dem die Dissertation gewidmet ist. Wie aus einer der beiden an den Respondenten71 adressierten Gedichtbeigaben hervorgeht, ist dieser der Verfasser der aus neun Paragraphen bestehenden Disputation, mit der er graduiert wurde. Für Fryksell sind alle civitas latina-Projekte maßgeblich durch den Umstand motiviert, dass die lateinische Sprache – herausragend unter allen Fremdsprachen als unersetzliche Unterrichts- und Kommunikationssprache in den Lateinschulen und Universitäten – nirgendwo mehr lingua vernacula ist. Latein ist also, wie er mit dem Philosophen und Juristen Johann Gottlieb Heinecke (1681–1741) sagt, eine tote Sprache („Latina lingua iamdudum inter mortales conticuit“),72 die nicht wie andere, lebende Sprachen durch den Gebrauch angeeignet werden und dadurch gleichsam in Fleisch und Blut übergehen („inque succum, quod ajunt, & sangvinem convertatur“) kann.73 Diese im späten 17. Jahrhundert aufkommende Rede vom Tod des Lateins meint nicht, dass die lateinische Sprache für die aktuelle Kommunikation in der Gelehrtenwelt ungeeignet sei, sondern dass sich diese Sprache seit dem Ende der Antike nicht weiterentwickelt habe.74 Ihre alleinige Norm sieht Fryksell in den klassischen Autoren der Zeit des römischen Imperiums. Er behandelt die betreffenden Projekte als Zuspitzungen der zahllosen, sich mit ihren Versprechen hinsichtlich der Kürze des von ihnen vorgeschlagenen Weges zum Erwerb der lateinischen Sprache überbietenden sprachdidaktischen Methodenentwürfe des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, von denen er etliche, mehr oder weniger elaborierte Revue passieren lässt (u. a. die von Ehrenfried Walther von Tschirnhaus, Comenius, Johann Joachim Becher, Quirinus Kuhlmann, Lambert Thomas Schenckel und Tanneguy Le Fèvre). Mit Heinecke75 und Heumann äußert der Verfasser indes gleich zu Beginn seiner Ausführungen die Befürchtung, dass alle diese Pläne dasselbe Schicksal erleiden wie der platonische Idealstaat, der bekanntlich nur im Kopf seines Erfinders existierte. Das Erfahrungsargument der Befürworter einer „Tulliopolis“, die auf prominente Beispiele von Kindern – wie 71 Fryksell (auch: Fryxell) hatte am 18. September 1732 die Universität Uppsala bezogen, vgl. Uppsala Universitets Matrikel (wie Anm. 70), Teil 9, 1922, S. 231. Seine Lebensdaten wurden ermittelt über: http://www.rootsweb.ancestry.com. 72 J. G. Heineccius: Fundamenta stili cultioris in usum auditorii [...]. Leipzig 61736 (zuerst 1719), Pars III: De variis cultioris stili facultatem adsequendi subsidiis, Cap. I: De auctorum lectione, S. 266. 73 Ekerman / Fryksell (wie Anm. 69), § I, S. 4; ebd., S. 3: „illud maxime interest, quod nulla nunc sit provincia, nullave terra, in qua vetus illa lingva Romana ita vigeat, ut eam usu, vel consvetudine sola cum provincialibus, arripere, & tibi familiarem reddere possis. Et haec fuit profecto caussa, cur de Collegiis & Rebuspublicis Latinis [...] condendis instituendisque viri docti deliberandum putarunt.“ 74 Vgl. dazu Walther Ludwig: Latein im Leben – Funktionen der lateinischen Sprache in der frühen Neuzeit. In: ders.: Miscella Neolatina. Ausgewählte Aufsätze 1989–2003. Bd. 1. Hg. von Astrid Steiner-Weber. Hildesheim u. a. 2004 (Noctes Neolatinae. Neo-Latin Texts and Studies, 2.1), S. 1–35, hier S. 5f. 75 Heineccius (wie Anm. 72), S. 267 mit Bezug auf das Examen (1668) und Morhof.

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etwa Roberto Gentili, den Sohn des Juristen Alberico Gentili (1552–1608), oder Michel Montaigne (1533–1592) – verweisen können, die sich die lateinische Sprache eben auf die fragliche Art und Weise, also durch den Gebrauch, angeeignet haben sollen, referiert Fryksell zwar, geht jedoch gleich zu anderen bekannten Experimenten über, die für ihn kaum glaubliche („ratio minime capere videtur“) oder eher Erstaunen erregende als nachahmenswerte Ergebnisse erbracht haben, die er als Gaukelei abtut.76 Den Hauptakzent seiner Ausführungen legt Fryksell auf die vielen praktischen, sich dem Erfolg des Unternehmens in den Weg stellenden Schwierigkeiten, Probleme und Folgelasten, die er breit ausmalt. Zunächst zählt er nochmals, vor allem Heumann folgend, die schon von anderen hervorgehobenen auf wie etwa den zu erwartenden sozialen Konflikt zwischen Lateinsprachigkeit und niederen Tätigkeiten sowie die drohende Verunstaltung des Lateins. Er fügt eine ganze Reihe weiterer hinzu: das vermutlich baldige Verlernen der lateinischen Sprache77 unter den Bedingungen des Berufsalltags, Gefahren für die Schicklichkeit, Vernachlässigung wichtiger, den Frauen zugewiesener Lebensbereiche wegen der Überbewertung der Sprachaneignung („Num sutori, vel cuicunque alii opifici satis esset consultum, si garrulam quandam psittacum domi sedentem habeat uxorem, cum qua ipse & reliqua familia colloquatur?“),78 die Notwendigkeit, dass alle Mitglieder des neuen Gemeinwesens, um nicht unnütz zu sein, die lateinischen Wörter für die zahllosen im Alltag begegnenden Dinge beherrschen müssten – dabei habe doch selbst Heumann freimütig eingestanden, die lateinischen Bezeichnungen vieler Fische, Pflanzen und Haushaltsgegenstände nicht zu kennen, worauf dieser sich als Teil der docta ignorantia allerdings noch etwas zugute hielt – und dergleichen mehr. Aus Texten antiker und neuerer Autoren (Sueton, Erasmus u. a.) führt Fryksell Exempla besonderer Skrupelhaftigkeit gegenüber dem Sprechen der lateinischen Sprache an, insbesondere gegenüber dem schriftlich unvorbereiteten, improvisierten Gebrauch derselben und fügt hinzu: „Sic Carol. Sigonium, Guil. Budaeum & Paul. Manutium, Latinitatis licet scientissimos, raro tamen & perpaucis Latina lingua locutos esse refert Jacob. Pontanus: maluerunt enim Gallice & Italice, in consvetudine familiari, cogitationes suas expromere.“ Und mit Cicero hält er fest: „nullaque res [...] tantum ad dicendum proficit, quantum scriptio“.79 Weit entfernt, ein Garant reiner Latinität zu sein, als der sie von ihren Verfechtern intendiert ist, könnte für ihn eine Colonia Romana nur zur Verunstaltung der lingua latina, insbesondere durch das ungebildete 76 Ekerman / Fryksell (wie Anm. 69), § II, S. 6: „Dantur etjam alia hujus generis experimenta, at quae partim domesticae consvetudini, partim ingeniorum admirandae potius, quam imitandae felicitati originem suam debent, unde ex ipsis cunis & crepundiis exiere haud pauci ϑαυματουργὸι“, mit Verweis auf Johann Peter Titz: Commentatio I. De quibusdam adminiculis latinae linguae, praecipue Comenianis, didactica. In: ders.: Manuductio ad excerpendum [...]. Danzig 1676, § II, S. 1–5 (Separatpaginierung). Der Text in Anm. 73 paraphrasiert eine Passage in dieser Commentatio. 77 Mit Verweis auf Christian Heinrich Weiße: De stylo romano libri quinque [...]. Chemnitz 1724, Lib. I, Cap. VIII: Num colloquia latina stylum corrumpant, S. 98–104, hier S. 101. 78 Ekerman / Fryksell (wie Anm. 69), § III, S. 9. 79 Ebd., § VI, S. 14f.; vgl. Cicero: Brutus, Cap. XXIV, 92.

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Volk, beitragen.80 Damit will er indes keinem latinistischen Purismus das Wort reden: „nimiam in stilo superstitionem [...] ineptam omnino esse, immo risu & indignatione, quam laude, longe digniorem“. Extremer Ciceronianismus hat bekanntlich nicht unwesentlich zum Rückzug des Lateins aus dem mündlichen Gebrauch beigetragen. Die Fähigkeit, Latein zu sprechen, deren man durchaus bedürfe („concedimus, loquendum interdum ex tempore & subito, ubi res ita postulaverit“), erwirbt man aber auch nach seiner Überzeugung ausschließlich durch unermüdliche Lektüre und gebührende Stilübungen.81 Nach dem Gesagten kann für Fryksell das abschließende Urteil nur negativ lauten, zumal er selbst die Zielsetzung einer solchen civitas latina, also die Ausbildung allein der zukünftigen Elite des Staates („ut apti reddantur juvenes, qui rebus & functionibus in Republica amplioribus praeponantur“),82 für verkehrt erklärt, schafft sie doch ein Problem, ein Kommunikationsproblem nämlich zwischen Funktionselite und Volk, statt es zu lösen. Zur Schädlichkeit einer solchen Tulliopolis, würde sie denn realisiert werden, kommt noch ihre Überflüssigkeit, hat die latinitas doch längst ihre Orte – Schulen und Akademien –, an denen sie kultiviert wird und zu denen sich jene Institution in eine aussichtlose Konkurrenz begeben würde: Gratulamur interim nobis, hodierno die, superesse Latium illud redivivum in Scholis, Gymnasiis & Academiis, ubi Latinam linguam cum reliquis studiis humanioribus, audiendo non tantum, legendo & scribendo, verum etiam perorando & disputando, addiscendi est facta juventuti copia & potestas [...].83

Die von Fryksell verfasste Dissertation ist, soweit ich sehe, der vorerst letzte Beitrag ex professo zum civitas latina-Konzept. Olmo hat das Thema zu Anfang des 19. Jahrhunderts, also am Ende des Alten Reichs, in neuem Kontext und – wie es scheint – in fast völliger Unkenntnis der hier skizzierten Phase seiner Behandlung wieder aufgegriffen. Zu nennen wäre an dieser Stelle allenfalls noch die im September 1764 von dem Geistlichen Francisco Escoin y Mollà im Rahmen einer akademischen Festveranstaltung zu Ehren des Erzbischofs von Valencia, Andrés Mayoral (1685–1769), vorgetragene Rede De re publica latina

80 Ebd., § VI, S. 13: „quippe cum constet eruditissimos saepe viros in sermone extemporali aut exercitatos satis non fuisse, aut minus castos cultosque. Colloquia vero cum iis, qui linguam Latinam nequeunt accuratissime loqui, magis profecto turbant sermonem Latialem, quam juvant“. Fryksells Skepsis gegenüber einer Tulliopolis gründet überdies in der „Latinae lingvae pronunciatio mirum quantum corrupta“, die er mit einem längeren Zitat aus Weiße (wie Anm. 77) belegt (§ VII, S. 17f.): „Mirari vero convenit quosdam condi velle Rempublicam, cujus cives sermone utantur veterum Romanorum, quorum tamen verba non nisi vitiose efferre valeant.“ 81 Ebd., § VI, S. 15f.: „Hancce vero extemporalem sermone Latino dicendi facultatem non comparandam contendimus quotidiana atque incondita loquela, & barbaro garritu, effutiendique quicquid in buccam venit libidine, sed assidua lectione, & stili debita exercitatione“. 82 Ebd., § VIII, S. 18. 83 Ebd., § IX, S. 19f.

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ordinanda84 – ein zur Erneuerung der Studien entworfenes Programm, das von der zu begründenden respublica latina eher im Sinne eines idealen Gebildes als einer konkreten Institution spricht („hic vobis constituatur beatissimum Latii regnum, ubi disciplinae artesque universae renoventur, floreant, vigeant“),85 auch wenn es auch um eine solche geht („novum hic Musarum domicilium constitueretur“).86 Die Rede steht in keinem erkennbaren Überlieferungszusammenhang mit den im vorliegenden Beitrag behandelten Texten aus dem protestantischen Raum und soll deshalb hier außer Betracht bleiben. Die vorgestellten, teils kurios, wenn nicht abwegig anmutenden civitas latina-Entwürfe dürften nur dann recht verstanden sein, wenn man sie (auch) als Momente einer Legitimations- und Funktionskrise der lateinischen Gelehrtenkultur Europas auffasst. Die Verteidiger des Lateins haben die Veränderungen zu dessen Ungunsten an der Wende zum 18. Jahrhundert in zahlreichen Schriften als Niedergang der bonae artes wortreich und mit zumeist topischen Formeln beklagt. Die Reaktion auf die drohende bzw. sich bereits vollziehende „Desintegration der humanistischen Gelehrtenrepublik [...] in Richtung auf ein sich um Nobilitierung und Qualifizierung der Muttersprache bemühendes außerscholastisches Publikum“87 vollzog sich allerdings nicht nur als Klage, sondern auch als gedankliche Forcierung und Zuspitzung von – wie wir rückschauend wissen – nicht mehr lange haltbaren Positionen. Für Gasser, und nicht nur für ihn, war Latein das Bollwerk gegen die Barbarei. Als Bollwerk für den Lateingebrauch bis in das 19. Jahrhundert hinein haben sich vor allem die an akademischen Gymnasien und an den Universitäten abgehaltenen Disputationen erwiesen.

84 Francisco Escoin y Mollà: De re publica latina ordinanda oratio. In: Academia de bellas letras en los estudios de latinidad, poesia, humanidad y rhetorica [...] que dedican al ilustrissimo [...] Don Andrès Mayoral, arzobispo de Valencia, los discipulos de las escuelas pias del colegio de San Joaquin de la misma ciudad [...]. Valencia 1764 [Exemplar der Biblioteca Histórica, Universitat de Valencia], S. V–VIII. Der Name des Redners wird S. 13 genannt. 85 Ebd., S. VIII. 86 Ebd., S. V. 87 Wilhelm Kühlmann: Apologie und Kritik des Latein im Schrifttum des deutschen Späthumanismus. Argumentationsmuster und sozialgeschichtliche Zusammenhänge. In: Daphnis 9 (1980), S. 33–63, hier S. 34.

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De philosophia sutoria – Die „Böhme-Dissertation“ von Christian Thomasius und ihr Kontext I. ‚Aufklärerische Rationalität‘ – was immer dieses vorläufig besser nur heuristisch zu gebrauchende Konstrukt auch genau bezeichnen mag – hat sich weniger linear formiert, als man bisher zu glauben geneigt war. Dies führen nicht zuletzt die Ergebnisse einer Forschergruppe nachdrücklich vor Augen, die unter der Leitung von Monika Neugebauer-Wölk die „Aufklärung im Bezugsfeld neuzeitlicher Esoterik“ untersucht hat.1 So zeigt etwa die von Friedemann Stengel unlängst vorgelegte fulminante Arbeit zur Position und Rezeption von Emanuel Swedenborg2 ganz unmissverständlich, dass sich die Aufklärung durchaus nicht selten von ihrem Gegenteil hat inspirieren lassen. Dies gilt nicht nur für die frühe Aufklärung, doch wohl für diese in einer besonderen Weise: Aufklärung war in der frühen und noch unsicheren Phase ihrer Entstehung sozusagen naturgemäß offen für Theorie- und Erklärungsangebote, die jenseits des Rationalen angesiedelt waren. Wobei die Suche auf noch ungesichertem Terrain zu theoretischen und praktischen Experimenten und nicht zuletzt zu theoretischen und praktischen Krisen führte, die dem aufklärerischen Verbesserungsimpetus auch dann noch dienlich sein sollten, wenn sie mit Mitteln durchgeführt wurden oder zu Ergebnissen führten, die retrospektiv als nicht- bzw. antiaufklärerisch qualifiziert wurden. In diesen Kontext gehören auch – zumindest teilweise – die Bemühungen von Christian Thomasius. Denn in den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts wird eine schon verschiedentlich, wenn auch nicht hinreichend beschriebene Krise3 seines bisherigen 1 Vgl. dazu etwa die Beiträge in dem von Monika Neugebauer-Wölk unter Mitarbeit von Andre Rudolph herausgegebenen Sammelband: Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Tübingen 2008. 2 Friedemann Stengel: Aufklärung bis zum Himmel. Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2011. 3 Vgl. dazu vor allem Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim / New York 1971, S. 226–239, sowie Hans-Jürgen Engfer: Christian Thomasius. Erste Proklamation und erste Krise der Aufklärung in Deutschland. In: Werner Schneiders (Hg.): Christian Thomasius 1655–1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hamburg 1989, S. 21–36; siehe auch Martin Pott: Thomasius’ philosophischer Glaube. In: ebd., S. 223–247.

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Denkens manifest, die spätestens dann nicht mehr zu übersehen ist, als Thomasius im „Beschluß“ seiner 1696 erschienenen Ausübung der Sitten Lehre in einem geradezu verkündenden Gestus mitteilt, die sittliche Besserung des Menschen nicht mehr von der Wirksamkeit eines durch die philosophische Sittenlehre angeleiteten einsichtigen Verstandes, sondern nur noch von der Gnade Gottes zu erwarten: Also werden diejenigen / die schon einen lebendigen Geschmack am Worte Gottes finden / und mit einer lebendigen Erkäntnüß desselben begabet sind / wohl tun / wenn sie meine Sittenlehre nicht lesen; Denn sie werden so wenig Geschmack daran finden / als ein Erwachsener / wenn er in einer Banck eingesperret gehen sollte, darinnen man Kinder gehen lernet; die vorhin Verführten aber / und absonderlich meine bisherigen Auditores, müssen ebenfalls nach der Erkenntnüß der hierinnen demonstrierten Wahrheiten / dieses mein Buch wegschmeissen / und sich einig und allein an Gottes Wort halten: Wie etwan ein Krancker die Krücken / durch die er sich das Gehen angewehnet / hernach wegwirfft. Denn alle meine Lehre geht nicht weiter / als die Gelahrten und Studirenden zu überzeugen / wie alles voll Mist und Unflat in der überall herrschenden Gelahrheit sey / und wie dieser weggeschafft werden solle. Wie er aber weggeschafft werden könne / und wie was Gutes an dessen Statt angeschafft werden müsse / das zeiget eine höhere Schule / darinnen ich nicht Professor, sondern in ultima classe nur Auditor bin.4

Philosophische Sittenlehre ist hier nur noch Anleitung und Hinführung zu etwas Höherem, das dann nicht mehr theoretisch gedacht, sondern ausschließlich unmittelbar und wahrhaftig erfahren werden kann. Der Beschluss der Ausübung der Sitten Lehre markiert insofern nicht nur die Krise im Selbstverständnis von Christian Thomasius, sondern auch seine verstärkte Hinwendung zu religiösen und in der Folge zu mystischen Vorstellungen – die Rede von der „höheren Schule“, in der Thomasius selbst nur Zuhörer ist, dürfte in diesem Kontext hinreichend signifikant sein. Die Hintergründe, die genaue Genese und die theoretischen Effekte dieser Krise sind bisher noch nicht hinreichend erforscht. Dies setzte eine eingehende Analyse des ungemein voraussetzungsreichen Umfeldes ebenso voraus wie die detailgenaue Untersuchung des dafür in Frage kommenden Werkkomplexes von Thomasius, inklusive einer Berücksichtigung der bestehenden intertextuellen Bezüge.5 Dass dies an dieser Stelle nicht geschehen kann, bedarf keiner weiteren Begründung; was indes aber sehr wohl geschehen kann, ist die Aufhellung eines Details, oder wenn man so will, die Bearbeitung einer Petitesse, die für den Zusammenhang freilich auch dann nicht uninteressant ist, wenn sie das hier angerissene Problem selbstverständlich nicht löst, sondern allenfalls hilft, es etwas zu begrenzen. Dabei soll es im Folgenden um einen kleinen Text gehen, der zu eben jener Textsorte gehört, deren eminenter Wert als Quelle für die „Wissenschafts-, Personen-, 4 Christian Thomasius: Ausübung der Sitten Lehre. Halle 1696. Reprint in: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. 11. Hildesheim u. a. 1999, S. 527f. 5 Vgl. dazu den aufschlussreichen Beitrag von Markus Meumann: Diskursive Formationen zwischen Esoterik, Pietismus und Aufklärung: Halle um 1700. In: Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik (wie Anm. 1), S. 77–114.

Die „Böhme-Dissertation“ von Christian Thomasius

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Schul-, Sozial- und Kulturgeschichte“6 von Hanspeter Marti völlig zu Recht betont worden ist. Es handelt sich um die von Christian Thomasius verfasste, von Jacob Konrad Keeß respondierte und am 10. August 1693 vorgelegte Dissertation An Sutor possit esse Philosophus.7 Die kleine Arbeit gehört in den oben skizzierten Kontext, weil mit dem Schuster, von dem der Titel spricht und von dem gefragt wird, ob er ein Philosoph sein könne, niemand anderes als der Görlitzer Schuster und Theosoph Jakob Böhme gemeint ist. Nach Auffassung der Literatur, die diese Dissertation freilich zumeist nur anführt, inhaltlich aber nicht würdigt, dokumentiert sich hier, also quasi zu Beginn der allgemein konstatierten Krise von Thomasius, dessen deutliche Wertschätzung für Böhme. In diesem Sinne interpretiert Georg Müller in einem Beitrag für den von Max Fleischmann 1931 herausgegebenen Sammelband Christian Thomasius. Leben und Lebenswerk das den Schluss der Dissertation markierende „stillgedachte Hoch auf die Schusterphilosophie“.8 Ob der Leipziger Reichsgerichtsrat Georg Müller allerdings sehr viel mehr gelesen hat als den letzten Satz mit der in Großbuchstaben gedruckten und insofern hervorgehobenen Schlussphrase – „VIVAT PHILOSOPHIA SUTORIA“9 –, steht freilich noch dahin, wobei man Müller sicher zugute halten muss, dass es ihm in seiner kleinen Studie nicht um die „BöhmeDissertation“, sondern um Thomasius’ Beitrag zum Urheberrecht ging. Doch wie dem auch sei: Der bloße Titel verschafft – bei Lichte besehen – noch keinen hinreichenden Aufschluss über eine denkbare Wertschätzung des Görlitzer Schusters durch Thomasius, und zwar selbst dann nicht, wenn man den anerkennend klingenden Schluss mitberücksichtigt. Denn genaugenommen stellt die Titelfrage, ob ein Schuster ein Philosoph sein könne, den Begriff von Philosophie zur Diskussion, wobei zu klären gilt, welche Bedin6 Hanspeter Marti: [Art.] Dissertation. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2. Darmstadt 1994, Sp. 881. 7 In Academia Fridericiana Celeberrimi Autoris De Ratione Status Dissertationem V. & VI. De Revelatione Arcanorum et de Exploratoribus, cum adiuncta Quaestione An Sutor possit esse Philosophus? publice ventilabunt Die X. Augusti MDCXCIII. Horis matutinis ab 8. Ad 12. Christianus Thomasius, JCtus & Prof. Publ. & Respondens Jacobus Conradus Keeß/ Lindaviensis. o. O. 1693. 8 Georg Müller: Vorstufen des Urheberrechts bei Christian Thomasius. In: Max Fleischmann: Christian Thomasius. Leben und Lebenswerk. Halle 1931, S. 320. Vgl. auch Rolf Lieberwirth: Christian Thomasius. Sein wissenschaftliches Lebenswerk. Weimar 1955, S. 38, sowie Kay Zenker: Vorwort. In: Christian Thomasius: Versuch von Wesen des Geistes oder Grund-Lehren so wohl zur natürlichen Wissenschaft als der Sittenlehre. Reprint in: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. 12. Hildesheim u. a. 2004, S. XXXI. Hinweise auf die „Böhme-Dissertation“ finden sich etwa auch bei Werner Schneiders, Helmut Holzhey / Simone Zurbuchen und Walter Sparn, allerdings ohne weitergehende Überlegungen zum rezeptionsgeschichtlichen Stellenwert der Arbeit. Vgl. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik (wie Anm. 3); Helmut Holzhey und Simone Zurbuchen: Christian Thomasius. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nord- und Mitteleuropa. Basel 2011, S. 1171; Walter Sparn: Philosophie. In: Hartmut Lehmann und Ruth Albrecht (Hg.): Geschichte des Pietismus. Glaubenswelt und Lebenswelten. Göttingen 2004, S. 242. 9 Thomasius: An sutor possit esse philosophus (wie Anm. 7), § X.

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gungen gegeben sein müssen, damit ein Schuster eben nicht nur ein solcher, sondern zugleich ein Philosoph sein kann. Was dann im gegebenen Fall auch für Jakob Böhme gelten könnte, nämlich dann, wenn auch in seinem Fall die definierten Bedingungen gegeben sind. Diese Diskussion ist freilich etwas anderes als die behauptete Erörterung der Philosophie Böhmes inklusive eines anerkennenden Urteils über deren philosophische Substanz. Insofern dürfte sich ein genauerer Blick also lohnen, denn dieser könnte am Ende nicht nur helfen, einen Teil des Problems zu lösen, sondern zusätzlichen einen Beleg dafür liefern, dass Hanspeter Marti zu Recht die Unentbehrlichkeit von Dissertationen „für die genaue Kenntnis ideologischer Vermittlungsvorgänge in den frühneuzeitlichen Gelehrtenschulen“10 behauptet hat. Mit Blick auf die Analyse von Thomasius’ „Böhme-Dissertation“ als möglichem Zeugnis einer positiven Rezeption des Werkes von Jakob Böhme empfiehlt es sich, die Dissertation erst einmal zurückzustellen und sich zunächst einen, wenn auch nur groben, Überblick über die Anwesenheit Böhmes im Werk von Christian Thomasius zu verschaffen.11 Auf diese Weise sollte sich zeigen lassen, ob Christian Thomasius zu denjenigen gehörte, die Böhmes Denken und Verkündung positiv oder gar produktiv rezipierten, oder ob er gar auf der Seite derer stand, die Böhme wegen seiner vielfach beklagten Dunkelheit und Unverständlichkeit im Grunde gar nicht für diskursfähig hielten.12 Dieser auch in Jöchers

10 Hanspeter Marti: Philosophieunterricht und philosophische Dissertationen im 17. und 18. Jahrhundert. In: Rainer Christoph Schwinges (Hg.): Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. Basel 1999, S. 207f. 11 Selbstverständlich wäre es sinnvoll, in diesem Zusammenhang auch Thomasius’ 1699 erschienenen Versuch von Wesen des Geistes eingehend zu untersuchen. Weil dieses Werk aber einen erheblich höheren Interpretationsaufwand erfordert, als er an dieser Stelle geleistet werden kann, muss vorderhand ein Ausblick am Ende dieses Beitrages genügen. 12 Dass Böhme Thomasius beeinflusst habe, wurde in der Forschung jenseits der hier in Rede stehenden „Böhme-Dissertation“ vor allem mit Blick auf den 1699 erschienenen Versuch von Wesen des Geistes vielfach konstatiert; siehe dazu etwa Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Würde. Frankfurt am Main 1985, S. 329f.; Engfer: Christian Thomasius (wie Anm. 3), S. 27; Pott: Thomasius’ philosophischer Glaube (wie Anm. 3), S. 232; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Pietismus, Platonismus und Aufklärung: Christian Thomasius’ Versuch von Wesen des Geistes. In: Frank Grunert und Friedrich Vollhardt (Hg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Tübingen 1998, S. 84; Holzhey und Zurbuchen: Christian Thomasius (wie Anm. 8), S. 1192; Francesco Tomasoni: Christian Thomasius. Geist und kulturelle Identität an der Schwelle zur europäischen Aufklärung. Münster 2009, S. 147; sowie Kay Zenker: Vorwort (wie Anm. 8), S. XXXI. Wie weit dieser Einfluss tatsächlich reicht, ist nach wie vor nicht befriedigend geklärt. Insofern gilt noch immer, was Paola Meyer 1999 festgestellt hat: „It has been suggested that at least one philosopher of the Enlightenment, Christian Thomasius, admired Böhme. However opinions on this point are divided, nor has any convincing argument been made for a significant reception“. Paola Meyer: Jena Romanticism and Its Appropriation of Jakob Böhme. Theosophy, Hagiography, Literature. Québec 1999, S. 47.

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Gelehrtenlexikon13 oder in Zedlers Universal-Lexicon14 in Standardformulierungen auftauchende Standardvorwurf findet sich bisweilen in noch drastischerer Zuspitzung, und zwar dann, wenn in spezifisch disziplinären Kontexten disziplinentypische Anforderungen erhoben werden. So betont beispielsweise Johann Franz Budde – also ein Philosoph und Theologe aus der theoretischen Umgebung von Thomasius – mit Blick auf die nach Luther anstehende Säuberung der scholastischen Theologie einerseits und den diesbezüglichen Leistungen der mystischen Theologie andererseits, dass Böhme neben Weigel und Hoburg zu denjenigen gehört habe, die der mystischen Theologie keinerlei Vorzüge verschafft, sondern sie im Gegenteil „mit so vielen und groben irrthümern besudelt“ hätten, „daß sie unter den unsern keinen platz verdienen“15 – wie sehr sie auch selbst ihre Zugehörigkeit zur lutherischen Konfession betonten.

II. Fragt man also nach der Anwesenheit von Jakob Böhme im Werk von Christian Thomasius, dann ist es im gegebenen Fall möglich, mit einer positiven bibliographisch-bibliothekarischen Information einzusetzen: Thomasius verfügte – ausweislich des Auktionskataloges von 1739 – in seiner eigenen Bibliothek über Böhmes Schriften, und zwar in der Ausgabe Amsterdam 1682.16 Mehr noch, er besaß nicht nur diese Bücher, sondern empfahl sie auch ausdrücklich zur Lektüre, denn Thomasius hatte für jedes Stück seiner Summarischen Nachrichten von auserlesenen / mehrentheils alten / in der Thomasischen Bibliotheque vorhandenen Büchern unter der Rubrik „Auserlesener Bücher-Vorrath“ eine Liste von Werken zusammengestellt, die durchaus als Lektüreempfehlung zu verstehen ist. Dort führt er Bücher aus seinen eigenen Beständen auf, die er für wichtig und lesenswert hält, darunter findet sich eben auch, und zwar im 1718 erschienenen 24. Stück, ein Hinweis auf die Amsterdamer Böhme-Ausgabe.17 Diese Nennung ist zwar ein Beleg für die von 13 [Art.] Boehm (Jacob). In: Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon. Erster Theil. Leipzig 1750, Sp. 1171. 14 [Art.] Böhme (Jacob). In: Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Vierter Band. Halle / Leipzig 1733, Sp. 356. 15 Johann Franz Budde: Einleitung in die Moral-Theologie. Leipzig 1719, S. 23. 16 Vgl. Bibliotheca Thomasiana [...] cuius Auctio publica fiet Halae Magdeburgica Die VI Julii 1739. Halle 1739, S. 81. Vgl. zu der Böhme-Ausgabe Frans A. Janssen: Die erste Ausgabe von Böhmes gesammelten Werken 1682, sowie zur Verbreitung der Schriften Böhmes: Carlos Gilly: Wege der Verbreitung von Jacob Böhmes Schriften in Deutschland und den Niederlanden. Beides in: Theodor Harmsen (Hg.): Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Amsterdam 2007, S. 249– 254 sowie S. 71–98. 17 Christian Thomasius: Summarische Nachrichten von auserlesenen / mehrentheils alten / in der Thomasischen Bibliotheque vorhandenen Büchern. Vier und zwanzigstes Stück. Halle / Leipzig 1718, S. 1042.

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Thomasius erkannte und anerkannte Bedeutung Böhmes, doch wird damit eine sachliche Affinität freilich noch nicht dokumentiert. Dafür könnten diejenigen Textstellen einen ersten Anhalt liefern, an denen in Thomasius’ Œuvre von Böhme die Rede ist. Und diese sind doch weniger zahlreich, als man angesichts der Regelmäßigkeit, mit der in der Forschung Thomasius’ positive Böhme-Rezeption kolportiert wird, zunächst annehmen durfte. Wer erwartet hätte, dass Thomasius in seiner Kurzversion der Philosophiegeschichte, die das erste, immerhin 46 Seiten umfassende Kapitel seiner Philosophia aulica von 1688 ausmacht,18 Böhme wenigstens namentlich erwähnt, wird enttäuscht. Thomasius positioniert sein eigenes Unterfangen – wie schon der bekannte Titelkupfer19 sinnfällig macht – als Mittelweg zwischen Aristotelismus und Cartesianismus und zielt bereits hier auf eine eklektische Philosophie, die in ihrer antischolastischen und antipedantischen Haltung im Prinzip Verbindungslinien zu Böhmes Denken hätte aufbauen können, doch scheint Thomasius daran nicht, d. h. noch nicht interessiert zu sein. Böhme bleibt schlicht unerwähnt. Unerheblich sind auch die Verweise in den Monatsgesprächen. Die Auseinandersetzungen, die Thomasius selbst mit der lutherischen Orthodoxie in Leipzig führte, hätten ihn dazu veranlassen können, in den Monatsgesprächen, d. h. in der konfliktreichen Phase zwischen 1688 und 1690,20 auf die Causa Böhme contra Richter einzugehen,21 etwa mit der Absicht, lehrreiche oder auch propagandistische Parallelen zum eigenen Schicksal zu ziehen. Bei näherem Zusehen wird allerdings rasch deutlich, dass dies für Thomasius’ Belange taktisch kaum sinnvoll sein konnte, denn wen hätte der Fall Böhme als Modell einer Auseinandersetzung auch beeindrucken können. Die Gegner von Thomasius hätten dadurch in ihrer ablehnenden Haltung nur bestätigt werden können, und wertvolle, d. h. sinnvoll einsetzbare Kombattanten wären auf diese Weise sicher nicht zu gewinnen gewesen. Deswegen hat sich Thomasius, wenn er Vorbilder brauchte oder sich effektvoll in eine Dissentertradition hat stellen wollen, viel lieber – und möglicherweise streitstrategisch wirkungsvoller – auf Luther und auf Sokrates bezogen. Seine sporadischen Hinweise auf Jakob Böhme bleiben in den Monatsgesprächen generell einigermaßen unspezifisch. In der kritischen Rezension zu Colbergs Platonisch-hermetisches Christenthum22 bezieht sich 18 Vgl. dazu Sicco Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte. Philosophiegeschichte zwischen Barock und Aufklärung. Tübingen 2004, S. 318–338. 19 Vgl. dazu die Erläuterungen von Werner Schneiders in: ders.: Hoffnung auf Vernunft. Hamburg 1995, S. 52–55. 20 Vgl. dazu: Rolf Lieberwirth: Christian Thomasius’ Leipziger Streitigkeiten. In: ders.: Rechtshistorische Schriften. Hg. von Heiner Lück. Weimar u. a. 1997, S. 3–12. 21 Siehe dazu etwa: Georg Wehr: Jacob Böhme – Leben und Werk. In: Harmsen (Hg.): Jacob Böhmes Weg in die Welt (wie Anm. 16), S. 63f. 22 Siehe dazu Friedrich Vollhardt: „Pythagorische Lehrsätze“. Schwärmerkritik und Konsensdenken bei Daniel Colberg, Heinrich Wilhelm Clemm und Friedrich Christoph Oettinger. In: Wilhelm Kühlmann und Friedrich Vollhardt (Hg.): Offenbarung und Episteme. Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin u. a. 2012, S. 363–384.

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Thomasius zwar nicht ausdrücklich auf Böhme, doch darf man unterstellen, dass der Verweis auf die antiklerikale Kritik derer, die von der Kirche bzw. den Kirchen als Platonisten und Enthusiasten bekämpft werden, auch Jakob Böhme einschließt.23 Ansonsten wird Böhme in den Monatsgesprächen nur in Zusammenhang mit einer Inhaltsangabe von Morhofs Polyhistor gerade mal erwähnt. Kaum aufschlussreicher sind die Bemerkungen in einer Rezension zu der unter dem Pseudonym Janus Philadelphus 1688 von Johann Nicolas Pechlin veröffentlichten Consultatio Desultoria De optima Christianorum secta et vitiis Pontificiorum im Januarheft des Jahres 1689. Hier ist zwar anerkennend davon die Rede, dass sich in Böhmes Schriften „viele Anzeigungen eines tieffsinnigen / wundersamen und erleuchteten Verstandes“ finden ließen, doch paraphrasiert Thomasius hier lediglich eine Einschätzung Pechlins, die dazu noch wiederum in die üblichen Vorhaltungen mündet, denn Böhmes Vorzüge – so wird trotz aller Anerkennung festgehalten – könnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass in seinen Arbeiten „auch wiederum viele tautologische und dunckle Periodi“ seien, „die kein Mensch verstehen könte“24. Auch wenn Thomasius das von Pechlin vorgelegte „Tractätgen“ insgesamt zu schätzen weiß,25 wird sich aus den zitierten Passagen wohl schwerlich ein valides und Thomasius zuschreibbares Urteil zum Werk von Jakob Böhme ableiten lassen. Nimmt man diese Befunde ernst, dann wird man zweifellos mit Fug behaupten können, dass Jakob Böhme in der frühen Phase von Thomasius’ Schaffen keine nennenswerte Rolle gespielt hat. Diese bemerkenswert distanzierte Form der Rezeption ändert sich in den neunziger Jahren und bleibt – wenn ich richtig sehe – auch auf dieses Dezennium beschränkt. Die folgende Beobachtung dürfte diese Einschätzung belegen. In dem 1699 erschienenen Summarischen Entwurff derer Grund-Lehren / Die einen Studioso Juris zu wissen / und auff Universitäten zu lernen nöthig [...] ist entwirft Thomasius ein Unterrichtsprogramm für angehende Juristen, in dem er zur curricularen Orientierung nur diejenigen Inhalte benennt, die Gegenstand der universitären Lehre in der Jurisprudenz sein sollen.26 Das fünfte Kapitel des vierten Teils ist der Kirchenhistorie von Karl V. bis in das ausgehende 17. Jahrhundert gewidmet: Es setzt ein mit Luther „und wie er unverhofft zu Reformation kommen“, fährt dann mit Zwingli, Calvin, Oekolampadius, Karlstad etc. fort und sieht nach Spinoza, Labadie, der Schurmannin, Valentin Weigel, den Rosenkreuzern und Johann Valentin Andreae auch Ausführungen zu Jakob Böhme vor. Damit ist zwar einigermaßen deutlich, in welche Tradition Thomasius den Görlitzer Schuster stellt, doch 23 Vgl. Christian Thomas: Freymüthiger Jedoch Vernunfft- und Gesetzmäßiger Gedancken Uber allerhand / fürnehmlich aber Neue Bücher December des 1689. Jahres. Halle 1690, besonders S. 1128– 1131. 24 Christian Thomas: Freymüthiger Jedoch Vernunfft- und Gesetzmäßiger Gedancken / Uber allerhand / fürnemlich aber Neue Bücher Januarius des 1689. Jahres. Halle 1689, S. 44. 25 Vgl. ebd., S. 61. 26 Vgl. dazu das aufschlussreiche Vorwort von Kay Zenker in: Christian Thomasius: Summarischer Entwurf Derer Grundlehren, die einem Studioso iuris zu wissen, und auf Universitäten zu lernen nötig. Reprint in: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. 13. Hildesheim u. a. 2005, S. IX–XXXVIII.

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ungeklärt ist noch immer, was er in seinen Vorlesungen über Böhme mitzuteilen gedenkt. Darüber verschaffen auch die Cautelae circa praecognita jurisprudentiae in usum auditorii Thomasiani keinerlei Aufschluss, obwohl man dies von dem 1710 erschienenen Text hätte erwarten dürfen, lassen sich die Cautelen doch als Ausformulierung und Überarbeitung des im Summarischen Entwurf derer Grund-Lehren nur skizzierten Programms begreifen.27 Doch nach elf Jahren hat sich im Denken von Thomasius mancherlei verändert, so dass die grundlegende Überarbeitung ganz offensichtlich dazu geführt hat, dass von Böhme nun nicht mehr die Rede ist. Dieser negative Befund gilt auch für die 1712 erschienenen Cautelae circa Praecognita Jurisprudentiae Ecclesiasticae, hier wäre zwar aus thematischen Gründen ein Hinweis auf Böhme naheliegend, doch wird Böhme mit keinem Wort erwähnt. Thomasius hatte seine zeitweilige Affinität zu mystischem Denken, wie er in den Cautelen zur Erlernung der Rechts-Gelahrheit selbst ausführt,28 hinter sich gelassen, und diese Affinität hatte zu der Zeit, in der Thomasius die „Böhme-Dissertation“ vorlegte – also 1693 – noch gar nicht eingesetzt.

III. Die hier eher distanzierte Rede von der jeweils in Anführungszeichen gesetzten „BöhmeDissertation“ sowie der eingangs gegebene Hinweis auf die nur knappen, d. h. inhaltlich nicht qualifizierenden Bemerkungen in der Forschungsliteratur dürften bereits erahnen lassen, dass Thomasius’ Böhme-Dissertation als eine Dissertation über Jakob Böhme durchaus mit Fragezeichen zu versehen ist. Und in der Tat: Gemessen an dem, was man von einer Schrift erwarten darf, die als Böhme-Dissertation in die Literatur eingegangen ist, ist hier eigentlich alles der kritischen Nachfrage würdig. Was die kleine Arbeit übrigens nicht im mindesten daran hindert, auf ihre Weise ein charakteristisches Zeugnis eines Teils der Böhme-Rezeption für die Zeit im ausgehenden 17. Jahrhundert zu sein.29 27 Vgl. zu den Cautelae das Vorwort von Friedrich Vollhardt. In: Christian Thomasius: Cauteleae circa praecognita jurisprudentiae in usum auditorii Thomasiani. Reprint in: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. 19. Hildesheim u. a. 2006, sowie das ebenfalls von Friedrich Vollhardt verfasste Vorwort, das er dem Reprint der ursprünglich 1713 erschienenen deutschen Übersetzung beigegeben hat. In: Christian Thomasius: Höchstnöthige Cautelen welche ein Studiosus Juris, der sich zur Erlernung der Rechts-Gelahrheit auff eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will, zu beobachten hat. Reprint in: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. 20. Hildesheim u. a. 2006, und schließlich: Friedrich Vollhardt: ‚Abwege‘ und ‚Mittelstrassen‘: Zur Intention und Programmatik der Höchstnöthigen Cautelen zur Erlernung der Rechts=Gelahrheit. In: Heiner Lück (Hg.): Christian Thomasius (1655–1728). Wegbereiter moderner Rechtskultur und Juristenausbildung. Hildesheim u. a. 2005, S. 173–198. 28 Vgl. Thomasius: Cautelen zur Erlernung der Rechtsgelehrtheit (wie Anm. 27), S. 38. 29 Vgl. zur kritischen und bisweilen offen denunziatorischen Böhme-Rezeption im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert Wilhelm Kühlmann: Vernunftdiktatur und Sprachdiktatur. Jacob Böhme bei Gottsched und Adelung. In: ders. und Vollhardt (Hg.): Offenbarung und Episteme (wie Anm.

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Fragwürdig ist bereits die Gattungszugehörigkeit, denn der in Rede stehende Text ist eigentlich keine Dissertation, sondern genaugenommen eine Quaestio, die zwei bestehenden Dissertationes angehängt ist. Der Respondent von allen drei Texten ist Jacob Conrad Keeß aus Lindau, und der Gesamttitel lautet: De Ratione Status Dissertationem V. & VI. De Revelatione Arcanorum et de Exploratoribus, cum adiuncta Quaestione An Sutor posse Philosophus? publice ventilabunt, und zwar am 10. August 1693. Die kleine, nur wenige Seiten umfassende Schrift ist noch im selben Jahr im Rahmen einer Sammlung von zwölf Dissertationen erschienen. Es handelte sich um Disputierübungen, denen der anonym erschienene, mehrfach aufgelegte Tractatus sive Fragmenta de ratione status (Frankfurt am Main 1658, 1667, 1692) des herzoglich-magdeburgischen Kanzlers Gottfried von Jena zugrunde lag, wobei – wie Rolf Lieberwirth erläutert – „jeder der 12 Respondenten zunächst zwei Abschnitte [...] übungshalber verteidigen musste, um dann in der anschließenden Disputation zu einer von Thomasius aufgeworfenen Frage Stellung zu nehmen. Daraus erklären sich“ – so Lieberwirth weiter – „auch die scheinbar zusammenhanglosen 12 unterschiedlichen Fragen innerhalb dieser Disputierübung“.30 Nun mag die Frage nach der eigentlichen Textsorte der „Böhme-Dissertation“ nicht wirklich gravierend sein. Als Übung mag ihr Status nicht sonderlich hoch zu veranschlagen sein, wirklich wichtige Thesen, gar innovative Einsichten wird man – so ist zu vermuten – an dieser Stelle kaum publizieren wollen. Und doch dürfte ihr pragmatischer Stellenwert nicht uninteressant sein, denn eine Disputierübung ist auf eine propädeutische Wirkung berechnet, so dass sie durchaus der Ort sein kann, wo Erkenntnisse mitgeteilt werden, die von grundsätzlicher oder weiterführender Bedeutung sind.31 Hinzukommt, dass diese Sammlung 1693 erschienen ist, also noch im Vorfeld der erst im Jahr darauf erfolgten offiziellen Eröffnung der Universität Halle, so dass ein Teil der im Kontext der Disputation erörterten Fragen mit programmatischen Überlegungen in Verbindung steht bzw. stehen kann, die mit Blick auf die anste22); Hanspeter Marti: Das Bild Jakob Böhmes im Unterricht Hoher Schulen deutschsprachiger Länder (1670–1740). In: ebd.; sowie Dirk Werle: Jacob Böhme in der Historia literaria – mit einem Blick auf Jacob Bruckers kritische Philosophiegeschichte. In: ebd. 30 Lieberwirth: Christian Thomasius (wie Anm. 8), S. 37. Der Form nach handelt es sich offenbar um einen Teil einer „Zirkulardisputation“; siehe Hanspeter Marti, der dazu folgendes feststellt: „Hier findet sich unter der Leitung eines Präses, gewöhnlich eines Professors, ein Kreis Studierender zusammen, und es wird in einer Disputationsrunde, einem ‚Kränzchen‘, der Stoff eines Lehrbuchs abschnittweise und mit verteilten Rollen durchgenommen“. Hanspeter Marti: [Art.] Disputation. In: Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik (wie Anm. 6), Sp. 868. 31 In diesem Sinne spricht Hanspeter Marti von dem „beträchtlichen pädagogischen Gebrauchswert“ von Dissertationen, warnt aber gleichzeitig davor, „das kritische und innovative Potenzial frühneuzeitlicher Dissertationen [...] zu unterschätzen“. Siehe ders.: Philosophieunterricht und philosophische Dissertationen im 17. und 18. Jahrhundert (wie Anm. 10), S. 223, sowie ders.: Disputation und Dissertation. Kontinuität und Wandel im 18. Jahrhundert. In: Marion Gindhart und Ursula Kundert (Hg.): Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Berlin u. a. 2010, S. 65.

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hende Universitätsgründung virulent waren; immerhin verband Thomasius diese Neugründung mit der Hoffnung auf eine ganze Reihe von Innovationen, die er wiederholt selbst vorgeschlagen hatte.32 Fragwürdig an Thomasius’ „Böhme-Dissertation“ als Arbeit zum Werk Jakob Böhmes ist aber weniger ihre Form als vielmehr – wie sich bereits bei oberflächlicher Lektüre zeigt – ihr Inhalt. Die kleine Arbeit setzt mit einem Hinweis auf ein markantes Rezeptionsphänomen ein: Bei den zahlreichen Auseinandersetzungen um und über die Schriften von Jakob Böhme schlage regelmäßig negativ zu Buche, dass ihr Verfasser ein Schuster gewesen sei. Böhme werde daher als Schusterphilosoph bezeichnet und seine Lehre als „Philosophia sutoria“ ironisiert.33 Doch schon im zweiten Paragraphen macht Thomasius klar, dass es ihm nicht darum geht, sich an einer Diskussion um Böhme und die theoretische Pertinenz seiner Lehre zu beteiligen, vielmehr will er von Böhme – wie er ausdrücklich sagt – abstrahieren und grundsätzlich die Frage stellen, ob Philosoph und Schuster tatsächlich zueinander im Widerstreit stehen, oder ob sie sich nicht zu einem dritten kombinieren lassen: „Jam uti istam litem meam non facio, ita liceat ex libertate Academica, vel abstrahendo a Boehmio, quaerere, an talis sit repugnantia inter philosophum & sutorem, ut non possint combinari in uno tertio“.34 Damit ist die eigentliche Fragestellung benannt, und diese hat mit den Inhalten von Böhmes Philosophie nichts zu tun, sie betrifft ihn lediglich insoweit, als er eben sowohl Handwerker als auch Philosoph war. Es geht Thomasius um die Diskussion und die Propagierung eines Begriffs von Philosophie, der jenseits akademischer Subtilitäten lebensweltlich eingebunden und daher auch in der Lebenswelt von Nutzen ist. Denn „die liebe Philosophie“, so heißt es in einer 1688 erschienenen Vorlesungsankündigung, „kömmt mir vor, als ein Kind, das z. e. vier Füsse und keine Arme hat“. Wegen dieser Gleichzeitigkeit von Mangel und Überfluss, ist dieses Kind nicht geschickt, „die ordentlichen Verrichtungen eines menschlichen Körpers zu verwalten“. Und genauso ergeht es der akademischen Philosophie: Sie „hat unnütz Zeug genug, das man weder zu sieden noch zu braten brauchen kan“, und gleichzeitig mangelt es ihr „an den nöthigsten, so wol in denen Disciplinen, die den Verstand des Menschen, als in denen, die den Willen desselben betreffen“.35 Thomasius befindet sich also mit seiner „Böhme-Dissertation“, die die Frage nach einer möglichen Kombination von Philosophie und Handwerk im Dienste einer besseren lebenspraktischen Nützlichkeit der ersteren erörtert, durchaus auf einem von ihm bevorzugten Terrain;36 eine inhaltliche Erörterung von Böhmes Lehre ist an die32 Vgl. dazu und insbesondere zum Schicksal dieser Initiativen Günter Jerouschek: Arbeit am Mythos. Thomasius und die Gründung der Universität Halle. In: Lück (Hg.): Christian Thomasius (wie Anm. 27), S. 311–325. 33 Thomasius: An Sutor possit esse Philosophus (wie Anm. 7), § I. 34 Ebd., § II. 35 Christian Thomasius: Von Mängeln derer heutigen Academien. In: ders.: Kleine Teutsche Schriften. Halle 1701. Reprint in: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. 22. Hildesheim u. a. 1994, S. 211f. 36 Vgl. dazu etwa Werner Schneiders: Nicht plump, nicht säuisch, nicht sauertöpfisch. Zu Thomasius’ Idee einer Philosophie für alle. In: Martin Fontius und Werner Schneiders (Hg.): Die Philosophie

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ser Stelle freilich entbehrlich. Böhme ist – wenn man so will – ein willkommener Aufhänger, der sich 1693 in der Tat als ein solcher anbietet.37 Daher kann es auch kaum verwundern, dass von Böhme im Verlauf der acht weiteren Paragraphen dieses sehr kurzen Textes nur noch ein einziges Mal kurz die Rede ist. Ansonsten wird Böhme dann nur noch im letzten Paragraphen aufgerufen, wo es darum geht, das erreichte Ergebnis mit der Eingangsfrage zu verbinden. Das Ganze endet nämlich mit einer Mahnung an Böhmes Gegner, den Spott auf die Schusterphilosophie tunlichst zu unterlassen, und mit dem schon zitierten Ausruf „VIVAT PHILOSOPHIA SUTORIA“.38 Zuvor aber musste zweifelsfrei gefunden werden, was gesucht wurde, nämlich ein Schuster, der zugleich ein ernstzunehmender Philosoph war. Thomasius beginnt seine Suche mit einer Kritik der Verhältnisse an den zeitgenössischen Akademien, die wegen ihrer Differenzierung in vier Fakultäten und der verlangten Kenntnisse alter Sprachen einen akademisch nicht vorgebildeten Schuster von der Philosophie ausschließen. Allerdings komme es auf diese akademische Philosophie auch gar nicht an, denn durch diese würden Philosophen als solche tituliert, die von der Philosophie – d. h. der wahren, nämlich praxistauglichen Philosophie – nichts wüssten, während es zugleich echte Philosophen gebe, die über keine akademischen Titel verfügten.39 Die Situation in der Antike war demgegenüber eine andere: Philosophie umfasste die gesamte Weisheit, eine Differenzierung der Fakultäten existierte nicht, Philosophie wurde in der Volkssprache betrieben und die Philosophen haben ihre Lehren nicht in abstrakte und dunkle Begriffe gehüllt, so dass sie auch von Schustern verstanden werden konnten.40 Für Thomasius’ Fragestellung reicht es natürlich nicht, wenn Schuster als Rezipienten von Philosophie in Frage kommen; er sucht daher einen Schuster, der ein „bonus artifex in arte sutoria“41 und zugleich ein hervorragender Philosoph war. Er findet ihn in den Vitae philosophorum von Diogenes Laertius. Es handelt sich um Simon Atheniensis Coriarius, von dem Diogenes berichtet, dass Sokrates häufig in seine Werkstatt gekommen sei und mit ihm philosophische Gespräche geführt habe, die Simon dann im Nachhinein aufgezeichnet habe. Dadurch seien 33 Dialoge entstanden, die sich mit allen grundlegenden

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und die Belles-Lettres. Berlin 1997, S. 11–20; Frank Grunert: Die Pragmatisierung der Gelehrsamkeit. Zum Gelehrsamkeitskonzept von Christian Thomasius und im Thomasianismus. In: Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik in der Epoche von Leibniz und Lessing. Wiesbaden 2005, S. 131–153. Vgl. dazu die vornehmlich 1693 stattfindende, von Martin Mulsow minutiös aufgearbeitete Diskussion um die Viertzig Wichtigen Fragen von Abraham Hinckelmann: Martin Mulsow: Abraham Hinckelmann und die Genealogie von Böhmes „Grund=Irrthum“. In: Kühlmann und Vollhardt (Hg): Offenbarung und Episteme (wie Anm. 22). Thomasius: An Sutor possit esse Philosophus (wie Anm. 7), § X. Vgl. ebd., § III. Vgl. ebd., § IV. Ebd., § V.

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Gegenständen der Philosophie befassten,42 so dass Thomasius mit Blick auf Simon feststellen kann: „Ergo sutor fuit Philosophus“.43 Simon ist aber nicht nur Philosoph, sondern – und darauf legt Thomasius besonderen Wert – als Philosoph auch „egregius“. Abgesehen davon, dass sein Verständnis und seine Darstellung der sokratischen Lehre, und d. h. der Lehre des größten Philosophen überhaupt, bereits auf einen exzellenten Geist hinweisen, spreche für den Rang des Athener Schusters, dass er sich nach den Angaben von Diogenes Laertius als erster – also noch vor Platon – mit Sokrates auseinandergesetzt hat. Was sogleich mit der die Bedeutung Simons verstärkenden Vermutung verbunden wird, dieser habe, seines unverbildeten und ehrlichen Geistes wegen, Sokrates’ Lehre reiner und klarer dargestellt als Platon.44 Gestützt wird diese Überlegung wiederum auf eine Behauptung von Diogenes Laertius, der in seinem Kapitel über Platon kolportiert, Sokrates habe vieles, was Platon über ihn mitteilt, schlicht für erfunden gehalten.45 Überzeugend ist dieses Argument freilich nicht, denn aus dem, was Platon schlecht gemacht hat, lässt sich schon aus formalen Gründen kein Urteil über den Vorzug von anderen Texten ableiten, die dazu noch nicht einmal überliefert sind und daher auch nicht geprüft werden können. Diese dürftige Beweisführung macht auf Thomasius’ grundsätzliche Verlegenheit aufmerksam: Er kann sich bei seinen Bemühungen, die philosophische Bedeutung des Schusters Simon nachzuweisen, lediglich auf die schmale Materialbasis stützen, die Diogenes Laertius ihm bietet; umso mehr ist er gezwungen, aus jedem Hinweis zugunsten seines Argumentes philosophisches Kapital zu schlagen. So wird dankbar aufgegriffen, was in der Darstellung von Diogenes Laertius lediglich als Titel eines Dialoges angeführt wird, zugleich aber ein Gedanke innerhalb einer Tugendlehre seine könnte: „vero virtus doceri non possit“.46 Allerdings führen dann die daran angeknüpften Überlegungen nicht weiter als bis zu einer Paraphrase des Zitats. Weil alle Philosophie vergeblich ist, wenn sie der Philosoph nicht beispielhaft in seinem Leben verwirklicht, was ihn freilich erst zu einem wahren Philosophen macht, versucht Thomasius diese Fähigkeit zur Realisierung der eigenen Einsichten auch für Simon zu reklamieren. Diogenes Laertius’ Mitteilung, Simon habe zugunsten seiner philosophischen Selbstständigkeit einem finanziell attraktiven Angebot des mächtigen Perikles widerstanden, soll daher belegen, dass Simon Philosophie nicht nur gelehrt,

42 Vgl. Diogenes Laertius: Vitae philosophorum. Hg. von Miroslav Marcovich. Stuttgart 1999, S. 175–177. Deutsch: Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. In der Übersetzung von Otto Apelt. Unter Mitarbeit von Hans Günter Zekl neu hg. sowie mit Vorwort, Einleitung und neuen Anmerkungen versehen von Klaus Reich. Hamburg 1998, S. 134f. Siehe auch Thomasius: An Sutor possit esse Philosophus (wie Anm. 7), der die knappen, in seinen Augen aber hinreichend aussagekräftigen Angaben von Diogenes in § V vollständig zitiert. 43 Thomasius: An Sutor possit esse Philosophus (wie Anm. 7), § V. 44 „Et forte, uti videtur, simplici ingenio & sincero fuisse: magis puram ac limpidam Socratis doctrinam exhibuit atque Plato“, ebd., § IV [recte: VI]. 45 Vgl. ebd., § IV [recte: VI]. 46 Ebd., § VII.

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sondern auch in seinem Leben verwirklicht habe.47 Besonderen Wert legt Thomasius auf die von Simon angewandte Methode zur Erlangung der Weisheit. Aus dem Hinweis, Sokrates habe sich häufig mit ihm in seiner Werkstatt unterhalten, leitet Thomasius eine Simon nur unterstellbare Form des Philosophierens ab, die für Sokrates typisch ist: In trautem Gespräch – also mit Mitteln der „confabulatio“48 – werden lebensnah und ohne die Verbildung akademischer Subtilitäten gemeinsam, diskursiv und deliberativ philosophische und insbesondere moralische Einsichten erörtert. Diese mit Blick auf Sokrates belegte, Simon aber nur analogisch zugemessene Methode hält Thomasius für die „methodus vera atque legitima perveniendi ad sapientiam“,49 und zwar nicht nur in der hier in Rede stehenden Dissertation, sondern auch in seiner zwei Jahre zuvor erschienenen Außübung der Vernunfft-Lehre.50 Nachdem Thomasius also das philosophische Schaffen von Simon dem Schuster hinsichtlich seines schriftstellerischen Ertrags, seiner inhaltlichen und methodischen Qualitäten und selbst noch mit Blick auf deren beispielgebende Umsetzung gewürdigt hat, kommt er zu genau dem Ergebnis, das er die ganze Zeit zielsicher angesteuert hatte. Thomasius stellt fest: „Igitur verosimile est, sutorem non solum posse esse Philosophum, sed & excellentem atque perspicuum, & methodicum Philosophum, Philosophiam suam exemplo exprimentum posse“.51 Erreicht ist damit – unterstellt man einmal die (freilich zweifelhafte) Plausibilität der von Thomasius vorgebrachten Beweisführung – eine Ehrenrettung der „Schusterphilosophie“. Am Beispiel des Simon Atheniensis Coriarius wurde gezeigt, bzw. sollte gezeigt werden, dass ein philosophierender Handwerker grundsätzlich in der Lage sein kann, eine jenseits aller akademischen Vor- und Verbildung angesiedelte Philosophie als theoretisch gehaltvolle und praktisch wirksame Weisheitslehre zu betreiben. Dabei dürfte nicht unwesentlich sein, dass Simon seine philosophische Dignität in vergleichsweise hohem Maße von Sokrates bezieht, und zwar nicht nur durch den Kontakt, sondern auch durch Übereinstimmungen mit Sokrates. Die Fragwürdigkeit einer quasi nur geliehenen Aufwertung wird durch den Umstand kompensiert, dass der ‚Leihgeber‘ niemand Geringeres als Sokrates ist, der von Thomasius – übrigens genau im Erscheinungsjahr der „Böhme-Dissertation“ – deswegen als das „Ebenbild eines wahren und ohnpedantischen Philosophi“52 gefei47 48 49 50

Vgl. ebd., § VII. Ebd., § IIX. Ebd, § IX. Vgl. das Kapitel „Von der Geschickligkeit / andern die Erkenntniß des wahren beyzubringen“, in: Christian Thomasius: Außübung der Vernunfft-Lehre. Reprint in: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. 9. Hildesheim 1998, insbesondere § 113. 51 Thomasius: An Sutor possit esse Philosophus (wie Anm. 7), § X. 52 Das Ebenbild eines wahren und ohnpedantischen Philosophi, oder: Das Leben Socratis, Aus dem Frantzösischen des Herrn Charpentier Ins Teutsche übersetzt von Christian Thomas. Halle 1693, Halle 21720. Thomasius’ starkes Interesse an Sokrates als philosophischem Vorbild wird durch eine weitere Arbeit belegt, die ebenfalls genau in dem Jahr erschien, in dem auch die „Böhme-Dissertation“ publiziert wurde: Der Kern Wahrer und nützlicher Weltweißheit / ehedessen von Xenophon In

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ert wird, weil er „auf denen öffentlichen Plätzen, in denen Gewölben und Buden, darinnen sich die Leute häufig zu versammlen pflegten“, lehrte und „die jungen Leute von dem Abwege einer eitelen Schein-Weißheit auf den Pfad der Tugend“ zu führen versuchte. So wird der spottend verwandte Terminus „philosophia sutoria“ über einen Rekurs auf Sokrates und durch das Beispiel eines historisch beglaubigten Schusters, der zugleich Meister seines Handwerks und ein hervorragender Philosoph gewesen war, in einen Begriff umgewandelt, dem philosophischer Wert und philosophische Würde nicht ohne Weiteres abgesprochen werden können. Was Thomasius den streitenden Parteien in der Auseinandersetzung um Böhme schließlich explizit zur Berücksichtigung anempfiehlt. Fragt man nun, was dies für eine durch die „Böhme-Dissertation“ indizierte BöhmeRezeption bedeutet, dann ist der Ertrag denkbar mager. Genau genommen ist hier nicht einmal klar, ob Jakob Böhme in gleichem Maße wie Simon als ernstzunehmender Philosoph angesprochen werden kann, denn eine inhaltliche Erörterung von Böhmes Philosophie findet schlicht nicht statt. Genau genommen wird mit Hilfe des historischen Beispiels nur gezeigt, dass der Begriff „Schusterphilosophie“ als herabsetzendes Mittel in der Auseinandersetzung mit Böhme untauglich ist. Über Böhme selbst wird damit in der „Böhme-Dissertation“ nichts gesagt, so dass man schließlich zu Recht zögern mag, die „Böhme-Dissertation“ von Thomasius überhaupt noch als solche anzusprechen. Falls damit eine Arbeit gemeint ist, die in einer irgendwie qualifizierten Weise von Jakob Böhme handelt, dann ist der Terminus „Böhme-Dissertation“ sicher fehl am Platz. Dennoch ist die Dissertation für die Böhme-Rezeption insofern interessant, als Thomasius damit ganz offensichtlich für eine sachliche und unvoreingenommene Prüfung von Böhmes Philosophie einzutreten scheint. Auf diese Weise wird nämlich der Schuster Böhme – wie schon der antike Schuster Simon – prinzipiell zu einem philosophischen Diskurs zugelassen, den Thomasius gerade, d. h. im Vorfeld der eigentlichen Gründung der Universität Halle, also zu einer Zeit, in der die konzeptionelle Ausrichtung der neuen Universität noch längst nicht ausgemacht war, im Sinne eines sokratischen Ideals zu ändern bestrebt war. Diese durch die „Böhme-Dissertation“ immerhin geleistete prinzipielle Einbeziehung von Jakob Böhme in den philosophischen Diskurs ist angesichts der späteren Pathologisierungen, die der Görlitzer Schuster durch rationalistische Aufklärer wie Gottsched und Adelung erfahren musste, tatsächlich nicht wenig.

Beschreibung der Merckwürdigen Dinge des Socrates vorgestellet. Halle 1693. Vgl. zur SokratesRezeption, unter anderem bei Thomasius, Benno Böhm: Sokrates im achtzehnten Jahrhundert. Leipzig 1929, sowie im Bezug auf Thomasius’ Monatsgespräche Frank Grunert: Von polylogischer zu monologischer Aufklärung. Die Monatsgespräche von Christian Thomasius. In: Fontius und Schneiders (Hg.): Die Philosophie und die Belles-Lettres (wie Anm. 36), S. 27f.

Die „Böhme-Dissertation“ von Christian Thomasius

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IV. Für die eigentlichen Anliegen des Theosophen Böhme hatte Thomasius 1693 ganz offenkundig kein – noch kein – Interesse. Er war damit beschäftigt, sich in Halle akademisch zu etablieren und seine noch aus der Leipziger Zeit herrührenden Projekte voranzutreiben. Die Naturrechtslehre war 1688 erschienen, die Einleitung und die Außübung der VernunfftLehre hatte Thomasius beide 1691 vorgelegt, die Einleitung in die Sitten-Lehre folgte im Jahr darauf. Die Ausübung der Sitten Lehre erschien dann erst 1696, d. h. gemessen an dem bisher vorgelegten Publikationstempo einigermaßen verspätet. Thomasius war auf Probleme gestoßen und machte dies am Ende des Textes noch einmal sinnfällig deutlich, indem er den Beginn seiner Arbeit mit dem 12. Juni 1693 und das Ende mit dem 11. Mai 1696 ausdrücklich angibt. Der Beschluss des Buches gibt – wie eingangs zitiert – eine Krise zu erkennen, die bereits zu Thomasius’ Aufgeschlossenheit für mystische Spekulationen geführt hatte. Wobei diese ihm wohl nicht zuletzt deswegen als attraktiv erschienen waren, weil mystisches und damit authentisches Denken dem scholastischen, d. h. schulgelehrten Denken gegenüber als Korrektiv in Stellung gebracht werden konnte. Seine schon 1693 erfolgte Würdigung von Esaias Stieffel im ersten Teil der Historie der Weißheit und Thorheit53 und sein Interesse an und sein Kontakt zu Pierre Poiret sind hierfür deutliche Belege. Die Arbeit des Letzteren – De eruditione solida, superficaria et falsa – hatte Thomasius mit einer Vorrede versehen und 1694 herausgegeben, eine zweite Auflage folgte 1708, allerdings mit einer neuen Praefatio, die nun eine deutliche und sogar warnende Distanzierung enthält.54 Wirft man angesichts dieses Sachstandes doch noch einen – wenn auch nur oberflächlichen – Blick auf den 1699 publizierten Versuch von Wesen des Geistes, dann fällt naheliegender Weise diejenige Textpassage ins Auge, in der von Jakob Böhme – freilich nicht von ihm allein – ausdrücklich die Rede ist: Dahingegen die Lehre vom Geist, wie wir dieselbe getrieben, dem Menschen Anleitung giebt, sein Elend zu erkennen und demüthig zu seyn, auch dadurch der Verstand erleuchtet wird, daß 53 Der Dritte Monat: Von Esaias Stieffel / und Ezechiel Methen / etliche Ungemeine Umbstände. In: Historie der Weißheit und Thorheit / zusammen getragen von Christian Thomas / ICto. Erster Theil / worinnen Der Erste / Andere / und Dritte Monat Des 1693sten Jahres begriffen. Halle o. J., S. 140ff. 54 Thomasius’ Distanz zu mystischem Denken hatte sich bereits in dessen Vorrede zur 1707 erschienenen deutschen Übersetzung von Grotius’ De Iure belli ac Pacis unmissverständlich dokumentiert. Hier kritisiert Thomasius, dass „die Mysticos […] kein Mensch verstehen [kann], weil sie unverständlich zuschreiben sich befleissigen, und die Vernunfft gantz ausgetilget wissen wollen“. Indem die Menschen aber – wie Thomasius an anderer Stelle desselben Textes und mit Blick auf die mittelalterliche Mystik betont – ihrer „gesunden Vernunfft“ beraubt würden, verlören sie zugleich ihre Freiheit. Christian Thomasius: Vorrede von der Historie des Rechts der Natur bis auf Grotium; von der Wichtigkeit des grotianischen Wercks / und von dem Nutzen gegenwärtiger Ubersetzung. In: Hugo Grotius: Drey Bücher vom Rechts des Krieges und des Friedens. Leipzig 1707. S. 42, vgl. S. 37.

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Frank Grunert

man nicht nur die Heil. Schrifft immer klährer und klährer einsiehet, sondern auch die Bücher Gottesfürchtiger Männer, die von der Welt und gottloser Clerisey für Narren und Ketzer ausgeschrien werden, als Fluts, Guttmanns, Jacob Böhmens, Valentin Weigels, Hohburgs u.s.w. zu verstehen, und das Elend derer, die mit ihren sophistischen excerptis oder Fragen, oder Lieblosen Streit-Schrifften ihre Ketzermacherey vertheidigen wollen, ohnerachtet ihre exclamationum, autoritatum, carminum gratulatoriorum &c. geradedurch siehet, hingegen aber auch die Schrifften solcher Leute, die zwar Warheit gehabt, aber nicht in denen Schrancken der Demuth blieben, als Theophrasti Paracelsi, Esaiae Stiefels, Quirini Kuhlmanns u.s.w. mit solcher Behutsamkeit lieset, daß man nicht die Spreu für Getreide annimt, aber auch nicht die guten Weitzen mit der Spreu weg schmeisset, wie man dann auch bey denen erstgedachten sich hütet, daß man bey selbigen nicht auff das praejudicium Authoritatis fället, weder ein Böhmist noch Weigelianer u.s.w. wird, sondern in allen Dingen alles prüfet und das Gute behält, allen allerley wird, und in Liebe alle duldet.55

Welchen Einfluss Jakob Böhme tatsächlich auf die eher im Kontext des Neuplatonismus zu lesende Naturlehre56 von Thomasius hatte, lässt sich an dieser Passage selbstverständlich nicht ablesen. Dennoch ist sie insofern bemerkenswert, als sich hier in Nähe und Ferne zu bzw. von mystischem Denken alle Motive finden, die für Thomasius charakteristisch sind: die Erkenntnis des eigenen Elends, die Erleuchtung des Verstandes, die Parteinahme für dissentierende Positionen, die Kritik an der Ketzermacherei, die Kritik am praejudicium autoritatis und über allem eine vieles und viele und dabei eben auch Böhme einigermaßen unspezifisch arrondierende Eklektik. Jenseits einer genaueren Analyse von Thomasius’ Krise und ihrer Auswirkung auf dessen Rezeption von mystischem oder esoterischem Gedankengut passt dies ganz ausgezeichnet zu den oben ermittelten Befunden.

55 Thomasius: Versuch von Wesen des Geistes (wie Anm. 8), S. 128. 56 Vgl. dazu Schmidt-Biggemann: Pietismus, Platonismus und Aufklärung (wie Anm. 12), S. 83–98.

Wiebke Hemmerling (Göttingen)

Das akademische Journal Zum Nachrichtenwert von Dissertationen in den Periodika des 18. Jahrhunderts „Bücher von dergleichen Wesen hat er sonder Zahl gelesen...“1

Wenn ich zwei Forschungsfelder benennen sollte, die mir unmittelbar mit der Person Hanspeter Martis verknüpft scheinen, so müsste ich wohl zum einen das frühneuzeitliche Disputationswesen und zum anderen das Zeitschriftenwesen anführen, die er in ganz besonderer Weise ‚beackert‘ hat. Der vorliegende Beitrag soll diesen beiden Interessen des Jubilars Rechnung tragen und einen Brückenschlag versuchen. So wird es im Folgenden darum gehen, den Nachrichtenwert genauer zu bestimmen, der dem akademischen Kleinschrifttum und vornehmlich den Dissertationen in den zahlreichen allgemeinwissenschaftlichen und fachspezifischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts beigemessen wurde. Welches Image wurde den Dissertationen zuteil? Was wurde vermittelt? Und wie wurde es vermittelt? Dass sich diverse Zeitschriften des 18. Jahrhunderts in ihrer Eigenschaft als Rezensionsorgane der Respublica litteraria auch mit Dissertationen beschäftigt haben, scheint im ersten Moment wenig verwunderlich zu sein, stellte doch die Gattung der Dissertationen als Ergebnis eines vorausgegangenen akademischen Streitgespräches einen elementaren Bestandteil des akademischen Ausbildungsweges dar. Mit dem Erscheinen einer prograduDissertation war für den jeweiligen Respondenten der erste Schritt getan, sich als ein Mitglied der Gelehrtenrepublik ausweisen zu können. Ferner können Dissertationen, die zumeist immerhin einen honorigen Professor zum Autor hatten, durchaus als Ausdruck der zeitgenössischen akademischen Bestrebungen und Trends betrachtet werden und sind somit vorzügliche Zeugnisse einer bisweilen nicht immer leicht zu fassenden Gelehrtenkultur. Und dennoch zeigt ein Blick auf die damalige Zeitschriftenlandschaft, dass ihnen

1 Johann Georg Hamann: Poetisches Lexicon, oder nützlicher und brauchbarer Vorrath von allerhand poetischen Redens-Arten, Beywörtern, Beschreibungen, scharffsinnigen Gedancken und Ausdrückungen. Leipzig 1737, S. 457. Das Zitat stammt offenbar aus der Feder Johann Christoph Wentzels.

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heute wie damals in aller Regel bestenfalls der Status von ‚Stiefkindern‘ in der Gelehrtenwelt zukam. Schon bei der mit dem Jahr 1682 aufgenommenen Arbeit am ‚Urgestein‘ der gelehrten Journale auf deutschem Boden, den Acta eruditorum, wurde dies evident. In einem Brief an Gottfried Wilhelm Leibniz vom Dezember 1695 schreibt ihr erster Herausgeber Otto Mencke über das Vorhaben, eine Dissertation Johann Tilings in den Acta zu rezensieren: Des Hn Tilingii Dissertation hätten wir hertzlich gern ad Acta gebracht, wen es nicht eine blosse Disputation were. Wir haben aber von anfang der Actorum biß hieher keine Disputationes Academicas in denen Actis recensirt, es weren dan derer viele zusammen gedrucket undt in ein recht opus colligiret gewesen. Nicht alß wan in denen Disputationibus nicht öfters bessere Sachen weren, alß in grossen voluminibus; sondern daß unsere Arbeit nicht zu weit extendiret werden möchte.2

Offenbar haperte es also nicht an der intellektuellen Vollwertigkeit der Schriften. Vielmehr stellte deren Vielzahl und Vielseitigkeit ein Problem dar, das man sich allenfalls mit ganzen Dissertationssammlungen einzuhandeln bereit war. Und wie um dies zu unterstreichen, fährt Mencke weiter fort, dass er selbst, sollte sich Tiling dazu entschließen, die Materie „sub forma justi tractatus“ abzuhandeln, ihm ohne Umstände einen Verleger beschaffen könne.3 Einer Rezension hätte in diesem Fall nichts mehr im Wege gestanden. Ähnlich den Acta eruditorum hielten es auch einige andere allgemeinwissenschaftliche Zeitschriften, wie etwa – und das dürfte kaum überraschen – die Deutschen Acta eruditorum (Leipzig 1712–39),4 oder der bereits zuvor im Leipziger Gleditsch-Verlag, teils unter dem gleichen Mitarbeiterstab publizierte Neue Bücher-Saal der gelehrten Welt (Leipzig 1710–17),5 sowie dessen Vorgängermodell, der Ausführliche Bericht von allerhand neuen Büchern (Frankfurt, Leipzig 1708–11).6 Aber auch um die Mitte des 18. Jahrhunderts lässt sich diese Zurückhaltung bei Zeitschriften wie dem Abriß von dem neuesten 2 Otto Mencke an Leibniz. (N. 163). In: Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe. Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel. November 1695–Juli 1696. Erste Reihe. Bd. 12. Hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR. Berlin 1990, S. 230f. 3 Vgl. ebd., S. 231. 4 In den 27 Jahren ihres Fortbestehens wurden anscheinend nicht mehr als 20 eigenständig publizierte Dissertationen besprochen. Die nachstehenden Angaben beruhen auf Erhebungen der Autorin, die mit Hilfe des Göttinger Systematischen Index zu deutschsprachigen Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts (IdRZ 18) gemacht wurden. Sie sind durch mögliche Abweichungen der Titelaufnahmen innerhalb des Index lediglich als ein Richtwert zu verstehen. 5 Hier wurden etwa 8 Dissertationen in 7 Jahren besprochen. An beiden Zeitschriften haben beispielsweise Gottfried Tilgner und Johann Georg Walch mitgewirkt. 6 Es wurden 3 Dissertationen in 3 Jahren besprochen, bei insgesamt 82 publizierten Rezensionen. Die meisten Mitarbeiter dieser Zeitschrift, wie etwa Johann Gottlieb Krause, Johann Christian Schött-

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Zustande der Gelehrsamkeit (Göttingen 1737–44),7 den Zuverläßigen Nachrichten von dem gegenwärtigen Zustande, Veränderung und Wachsthum der Wissenschaften (Leipzig 1740– 57)8 oder etwa der Russischen Bibliothek, zur Kenntniß des gegenwärtigen Zustandes der Literatur in Rußland (St. Petersburg, Riga, Leipzig 1772–87)9 noch beobachten. Es war demnach mitnichten selbstverständlich, dass akademischen Kleinschriften ein Platz in den allgemeinwissenschaftlichen Periodika eingeräumt wurde. Dies sei nur vorangestellt, um Missverständnissen vorzubeugen, wenn die Aufmerksamkeit in den nachstehenden Überlegungen auf all jene Zeitschriften gelenkt wird, die sich dieses Genres angenommen haben. Diese lassen sich in vier verschiedene Typen untergliedern. Erstens finden sich natürlich auch etliche allgemeinwissenschaftliche Zeitschriften, die Rezensionen von Dissertationen, seltener von Programmen und Nachrichten von abgehaltenen Disputationen in ihrem Repertoire hatten. Zweitens ließen sich ebenso einige fachspezifische Periodika auf die Materie ein. Drittens kann auf jene Zeitschriften hingewiesen werden, welche als eigenständige Nachrichtenorgane einer bestimmten Alma Mater fungierten und ohne größere Bedenken als Universitätszeitschriften betitelt werden können. Und viertens bleibt ein Typ von Zeitschriften zu erwähnen, der sich ausschließlich mit dem akademischen Kleinschrifttum beschäftigte und den ich im Weiteren als akademisches Journal bezeichnen möchte.10 Doch in welchem Maße und in welcher Form wurden Dissertationen in diesen verschiedenen Typen abgehandelt? Für eine große Zahl der allgemeinwissenschaftlichen Zeitschriften kann festgehalten werden, dass Dissertationen in ihnen einen Anteil von rund 10–20 % aller besprochenen Schriften ausmachten. Da diese Zeitschriften schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts mehrheitlich in deutscher Sprache erschienen, wurden auf diese Weise die Inhalte der innerhalb des deutschsprachigen Raumes üblicherweise lateinischsprachigen Dissertationen, wenn auch oft in recht überschaubaren Dimensionen, nun auf Deutsch vermittelt und einem weit größeren Rezipientenkreis bekannt gemacht. In diesem Zusammenhang wäre beispielsweise an die noch heute in praktisch jeder deutschen Universitätsbibliothek vorhandenen Göttingischen Zeitungen von Gelehrten Sachen

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gen und Justus Gotthard Rabener, finden sich später in den Deutschen Acta eruditorum oder im Neuen Bücher-Saal wieder. Es wurde 1 Dissertation in 8 Jahren besprochen, bei insgesamt 71 publizierten Rezensionen. Es wurden 12 Dissertationen in 17 Jahren besprochen. Es handelt sich um das Nachfolgemodell der Deutschen Acta eruditorum, an dem auch Johann Christian Schöttgen und Johann Georg Walch noch mitarbeiteten. Es wurde 1 Dissertation in 16 Jahren besprochen, bei insgesamt 656 publizierten Rezensionen. Diesen Begriff entlehne ich Roberts Prutz’ Geschichte des deutschen Journalismus (1. Theil. Hannover 1845, S. 420), sowie der von Michael Ranft ab 1723 in Leipzig herausgegebenen Acta Lipsiensium Academica (1. Theil, Vorrede, Leipzig 1723, Sig. A5r).

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(Göttingen 1739–52)11 zu denken, oder etwa an die Fränckischen Acta erudita et curiosa (Nürnberg 1726–32), bei welchen sich sogar ein Drittel der Rezensionen mit überwiegend der Universität Altdorf entstammenden Dissertationen auseinandersetzte.12 Dass die Dissertationen des jeweiligen Publikationsortes der Zeitschriften aufgrund der besseren Informationszugänglichkeit bevorzugt wurden, ist vielfach zu beobachten. Als überaus raumgreifendes Unternehmen zeigten sich hier die Tübingischen Berichte von gelehrten Sachen (Tübingen 1752–63), die in etwa jeder fünften Rezension Dissertationen aus Zürich, Basel, Rom, Florenz, Verona, Paris, Amsterdam, Leiden, Groningen, Stockholm, Uppsala oder Lund und nahezu allen deutschen Universitäten besprachen.13 Oftmals finden sich in derartigen Rezensionen Angaben zu Respondent und Präses, zu Ort, Datum und Art der abgehaltenen Disputation und, wenn auch meist nur im Fall von feierlichen Promotionen in Anwesenheit eines hohen Besuches, kleinere Bemerkungen zum Disputationsakt. Neben den allgemeinwissenschaftlichen Zeitschriften bildete sich ebenso eine breite Palette fachspezifischer Periodika heraus, die sich auf die Vermittlung ausgesuchter Inhalte der einzelnen Fakultäten beschränkten. Viele dieser Zeitschriften waren keine Rezensionsorgane, ihre Beiträge hatten vielmehr Abhandlungscharakter, denen natürlich auch die eine oder andere Dissertation zugrunde lag. Auffällig scheint, dass selbst bei diesem spezifizierten Typ die akademischen Kleinschriften nicht selten gesondert, bisweilen auch unter ‚ferner liefen‘, zum Beispiel im Rahmen einer am Ende des jeweiligen Stücks zu findenden Rubrik „Kleine Schriften“ und „Disputationes“, abgehandelt wurden.14 Den, wenn auch schon recht bejahrten, statistischen Ergebnissen Joachim Kirchners zufolge belief sich die Zahl der Fachzeitschriften – so will ich sie hier mit aller Vorsicht und der anachronistischen Finten eingedenk doch nennen – bis zum Jahr 1790 auf 294 theologische, 115 juristische und 149 medizinische Periodika, einmal abgesehen von den hunderten Zeitschriften, die mit ihrer historischen, philologischen, philosophischen oder auch naturwissenschaftlichen Ausrichtung den Belangen der Philosophischen Fakultät zugeschlagen werden müssten.15 Offenbar wollte 11 Der Anteil der Rezensionen von vornehmlich aus Göttingen stammenden Dissertationen lag durchschnittlich bei etwa 15 %. 12 Es wurden 63 Dissertationen in 7 Jahren besprochen, bei insgesamt 178 publizierten Rezensionen. Damit lag der Anteil der Rezensionen von Dissertationen bei etwa 35 %. 13 Es wurden 443 Dissertationen in 12 Jahren besprochen, bei insgesamt 2191 publizierten Rezensionen. Damit lag der Anteil der Rezensionen von Dissertationen bei etwa 20 %. 14 So wurde es beispielsweise in Johann Heinrich Christian von Selchows Juristischer Bibliothek von neuen juristischen Büchern und kleinen Abhandlungen (Göttingen 1764–82), Johann August Ernestis Neuen theologischen Bibliothek, darinnen von den neuesten theologischen Büchern und Schriften Nachricht gegeben wird (Leipzig 1760–69) oder in Rudolph Augustin Vogels Neuer medicinischer Bibliothek (Göttingen 1754–72) gehandhabt. 15 Vgl. Joachim Kirchner: Die Grundlagen des deutschen Zeitschriftenwesens. Teil 2. Leipzig 1931, S. 340. Ob Kirchners Zuordnungen in jedem Fall gerechtfertigt scheinen, bleibt zu fragen. Die hier verwendeten Zahlen sollten daher als ein Richtwert verstanden werden.

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man den speziellen Interessen der gelehrten Leserschaft nachkommen, wobei man sich mitunter auch ganz direkt vom älteren enzyklopädischen Bildungsideal und mit ihm von dem Bild des Gelehrten als einem Polyhistor verabschiedete. So resümiert Christian Ernst von Windheim in der Mitte des 18. Jahrhunderts im Vorbericht des ersten Stückes der Göttingischen philosophischen Bibliothek (Hannover 1749–50): Es hat bishero eine jede Art der Wissenschaften ihre eigne Monathsschrift erhalten, darin von den neuesten Schriften, welche zu derselben gehören, Nachrichten ertheilt werden: Und es ist in der That gut, daß ein jeder Theil der Gelehrsamkeit sein eignes Journal habe. Es gibt Gottlob heut zu Tage sehr wenige Gelehrte, die Polyhistores (Vielwisser) werden wollen, und also kaufen die meisten bei den vermischten Journalen sehr wenig vor ihr Geld.16

Dieser von Windheim angedeutete pekuniäre Vorteil scheint indessen für eine Entwicklung des Zeitschriftenwesens in thematisch präzisierten Bahnen erst einmal nicht ausschlaggebend gewesen zu sein. Wenn auch ein deutlicher Zuwachs an Fachzeitschriften über das gesamte Jahrhundert hinweg zu verzeichnen ist, so kann doch von einem Rückgang der allgemeinwissenschaftlichen Zeitschriftenunternehmen kaum die Rede sein. Neben der Intention, sich mit einigen Periodika auf bestimmte Themenbereiche zu beschränken, konnte ebenso eine lokale Begrenzung die Ausrichtung einer Zeitschrift maßgeblich bestimmen, wie es bei den Universitätszeitschriften der Fall war. Hinsichtlich der jährlich an jedweder Universität gedruckten Vielzahl an Reden, Dissertationen und Programmen bot sich die Form eines periodischen Repertoriums, in welchem Auszüge aus den akademischen Kleinschriften und universitätsinterne Neuigkeiten in immer wieder aktualisierbarer Form ihren Platz finden konnten, geradezu an.17 Universitäten wie Altdorf18, Wittenberg19, Jena20, Helmstedt21, Leipzig22, Halle23 und Marburg24 machten zu Beginn des 18. Jahrhunderts von der Möglich16 Göttingische philosophische Bibliothek, worinnen Nachrichten von den neuesten Schriften der heutigen Weltweisen und anderen Umständen derselben, wie auch kurze Untersuchungen mitgetheilet werden. 1. Stück. Hannover 1749, S. 1. 17 Vgl. Prutz (wie Anm. 10), S. 417–422. 18 Fasti Universitatis Altorfinae (1719–23), herausgegeben durch Johann David Köhler. 19 Acta literaria Academiae Vitembergensis (1719), herausgegeben durch Johann Christoph Coler. 20 Diarium Salanum (1720–21), herausgegeben durch Johann Anton Strubberg; Monathliche Nachrichten von Gelehrten Leuten und Schriften, Besonders Dem gegenwärtigen Zustand der Universität Jena (1726–29), herausgegeben durch Johann Andreas Fabricius; Thüringische Nachrichten von Gelehrten Sachen (1734–36), herausgegeben durch Johann Andreas Fabricius; Nova Jenensium litteraria (1740–41), herausgegeben durch Peter Kunz. 21 Annales Academiae Juliae (1722–29), herausgegeben durch Gottlieb Samuel Treuer. 22 Acta Lipsiensium academica oder Leipziger Universitäts-Geschichte (1723–24), herausgegeben durch Michael Ranft. 23 Alte und neue Geschichte der Hallischen Gelehrten, sowohl insgemein, als besonders der FriedrichsUniversität allda (1739–41), herausgegeben durch Justus Israel Bayer. 24 Marburgische Beyträge zur Gelehrsamkeit nebst den Neuigkeiten der Universitäten Marburg und Rinteln (1749–50).

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keit, das eigene universitäre Profil deutlicher skizzieren zu können, in rascher Folge Gebrauch. Um „denen Ausländern einige Proben von ihrem Academischen Fleisse vorzulegen“,25 wurde Latein als Publikationssprache der Universitätszeitschriften anfänglich bevorzugt. Für eine deutschsprachige Vermittlung und eine weitere Verbreitung der Dissertationen wollten hingegen Zeitschriften wie die Acta Lipsiensium academica oder Leipziger UniversitätsGeschichte (Leipzig 1723–24) sorgen, um durch die Unterrichtung eines potentiellen Absatzmarktes nicht weiterhin die Dissertationen „bey den alten Wurmschneidern und Disputations-Krämern verschimmeln“26 zu lassen. Darüber hinaus sind die binnen kurzem erfolgten Gründungen der Zeitschriftenunternehmen offenbar auch auf eine so empfundene Konkurrenzsituation der Universitäten zurückführen, bei der man, wie es in den Acta Lipsiensium academica heißt, „durch Verschweigung unserer gelehrten Universitäts-Geschichte keiner andern Academie einigen Vorzug“27 zu geben bereit war. In der besagten Zeitschrift wurden aktuelle Leipziger Disputationen und Programme so eingehend besprochen, dass es annäherungsweise ihrer Übersetzung gleichkam. Neben den Angaben zum jeweiligen Status der Schriften28 und zu den Rollen der beteiligten Personen werden hier auch die gerade hinsichtlich der Dissertationen häufig offen bleibenden Autorschaftsfragen dahingehend beantwortet, dass jene Fälle, in denen sich die Respondenten als selbständige Verfasser der Dissertationen erwiesen, in der Titelaufnahme mit dem Zusatz „Respondens & Autor“ versehen wurden. Da derartige Erwähnungen oft über die den Dissertationen selbst zu entnehmenden Informationen hinausgehen, ist gerade in den Universitätszeitschriften, deren Herausgeber einen unmittelbaren Einblick in das akademische Treiben nehmen konnten, eine aufschlussreiche Quelle für die Disputationsforschung zu sehen. Mit einem entsprechenden Prädikat möchte ich auch den letzten der eingangs angedeuteten Zeitschriftentypen belegen, das akademische Journal. Im Unterschied zu den Universitätszeitschriften galt seine Aufmerksamkeit den akademischen Kleinschriften verschiedener Fakultäten aller Universitäten des deutschsprachigen Raumes. Doch worin bestand die Motivation der Herausgeber von Zeitschriftenunternehmen wie etwa der Fama academica,29 der Gelehrten Fama,30 der Bibliotheca academica,31 den Acta academi25 Acta Lipsiensium academica oder Leipziger Universitäts-Geschichte. 1. Theil, Vorrede. Leipzig 1723, Sig. A5r. 26 Ebd. 27 Ebd., Sig. [A6r]. 28 Die Dissertationen wurden innerhalb der Zeitschrift als pro Habilitatione, pro Loco oder pro Exercitio gekennzeichnet. Die Programme wurden unterschieden nach: Promotionalia, Funebria, Festivalia, Inauguralia, Anniversaria, Disputatoria, Lectoria, Anatomica und Extraordinaria. 29 Fama academica intimans disputationes in academiis germanicis ac quibusdam exteris habitas (Leipzig 1707–09). 30 Die Gelehrte Fama, Welche den gegenwärtigen Zustand der gelehrten Welt und sonderlich derer Deutschen Universitaeten entdecket (Leipzig 1711–18). 31 Bibliotheca academica qua disputationes, orationes et programmata vel primum edita vel recusa recensentur (Halle 1718–19).

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ca32 oder auch den Gründlichen Auszügen aus denen Neuesten [...] Disputationibus?33 Warum legten sie sich auf dieses Genre fest? Und auf welchen Rezipientenkreis hatte man es damit abgesehen? Antworten auf diese Fragen lassen sich zumeist den Vorworten der Journale entnehmen. So kann man beispielsweise den Gründlichen Auszügen aus denen Neuesten Theologisch-Philosophisch- und Philologischen Disputationibus, welche auf denen Hohen Schulen in Deutschland gehalten worden (Leipzig 1733–45) folgende Erklärung ablesen: Der Zustand hoher Schulen bleibet vielen unbekannt, weil sie nicht Gelegenheit haben durch Briefwechsel oder auf andere Weise Nachricht davon zuerhalten. Die Lehr-Arten in den Wissenschafften ändern sich fast so offt, als die Moden in der Kleidung. Man hat sich auf gewisse Weise nach der Neigung derer Menschen und Zeiten zu richten. Es werden neue Wahrheiten erfunden, oder die alten werden besser ausgekläret, und gründlicher vorgetragen. Wie nicht alles, was alt ist, vor verworffen zu halten; so ist auch nicht alles, was neu heißt, vor unreif, verführerisch und böse anzusehen. Zeit und Nachsinnen geben offt einer gelehrten Meynung gar bald ein ander Ansehen. Streitigkeiten werden insgemein als ein schädliches Unkraut in dem Garten der Gelehrsamkeit geachtet, sie sind es auch offters und hindern viel Gutes; sie werden aber auch vielmahl zu Pfälen, daran die fruchtbaren Stengel in die Höhe wachsen, und zu Wetzsteinen, dardurch mancher Verstand geschärffet wird. Man bedencke, wie viel theure Wahrheiten in den Academischen Schrifften vorgetragen, bewiesen und in ein helles Licht gesetzet werden?34

Steht hier auch der Wunsch nach einer möglichst effizienten Vermittlung der im universitären Rahmen erfolgenden aktuellen Entwicklungen in den Wissenschaften an ein breiteres Publikum im Vordergrund, so klingt doch gleichzeitig eine Rechtfertigung dieses Vorhabens mit an. Was für die einen den so oft angeführten „Wetzstein des Verstandes“ ausmachte, stellte sich anderen nur als „Unkraut im Garten der Gelehrsamkeit“ dar. In eben dieser Weise schwankte auch das Ansehen der akademischen Streitschrift zwischen 32 Acta academica praesentem academiarum, societatum litterarium, gymnasiorum et scholarum statum illustrantia (Leipzig 1733–38). 33 Gründliche Auszüge aus denen Neuesten Theologisch-Philosophisch- und Philologischen Disputationibus, welche auf denen Hohen Schulen in Deutschland gehalten worden (Leipzig 1733–45); Gründliche Auszüge aus den neuesten juristisch-, medicinisch-, historisch-, physicalisch- und mathematischen Disputationibus, welche auf den hohen Schulen sonderlich in Teutschland gehalten worden (Leipzig 1736–37); Gründliche Auszüge aus juristisch- und historischen Disputationibus, welche auf den hohen Schulen sonderlich in Deutschland gehalten worden (Leipzig 1738–44); Gründliche Auszüge aus denen neuesten medicinisch- und chirurgischen Disputationibus, welche auf denen hohen Schulen in Deutschland gehalten worden (Stuttgart 1749–55), Gründliche Auszüge aus denen neuesten juridischen Disputationibus welche auf denen hohen Schulen in Deutschland gehalten worden (Stuttgart 1753–55). 34 Gründliche Auszüge aus denen Neuesten Theologisch-Philosophisch- und Philologischen Disputationibus, welche auf denen Hohen Schulen in Deutschland gehalten worden. [Bd. 6], Erstes Stück, Vorrede. Leipzig 1738, Sig. 3r–v.

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dem eines dienlichen Instrumentes der Wahrheitsfindung und jenem eines fruchtlosen akademischen Pflichtprogramms.35 An der letzteren Beurteilung mag auch das Reglement des den Dissertationen vorausgehenden Disputationsaktes, nach welchem der Respondent unweigerlich als Sieger des Streitgesprächs hervorgehen musste, seinen Anteil gehabt haben.36 Denn innerhalb dieses Procedere, so ließ sich argwöhnen, konnte stets nur dasjenige als Wahrheit bewiesen werden, was der vom Respondenten verteidigten These ohnehin entsprach.37 Spätestens um die Mitte des 18. Jahrhunderts herum scheint die „Disputirkunst“ als ein wesentliches Element der akademischen Ausbildung spürbar an Reputation eingebüßt zu haben. Der allenthalben beklagte Rückgang der Disputationen38 führte im Dezember 1749 in Preußen sogar zu einem königlichen Edikt Friedrichs II., in dem die Mindestanzahl der als Präses abzuhaltenden Disputationen für all jene Magister und Doktoren festgehalten wurde, die an einer preußischen Hochschule Kollegien abhalten wollten oder sich Hoffnungen auf eine außerordentliche oder ordentliche Professur machten.39 In einem weiteren Edikt wurden zusätzlich die Stipendiaten dazu ermuntert, sich vermehrt als Opponenten in Disputationen zur Verfügung zu stellen, mit der ungewöhnlichen Aussicht darauf, auch in dieser Funktion namentlich auf dem Titelblatt der entsprechenden Dissertationen Erwähnung zu finden.40 Neben diesem sowohl den Professoren als auch den Studenten geltenden obrigkeitlichen Memento, in zureichendem Maße Disputationen abzuhalten, kam die Misere auch in Überlegungen zur Form der Disputationen zum Ausdruck. So wurde in einer deutschsprachigen (!) Greifswalder Dissertation aus dem Jahr 35 „Viele unter denen Gelehrten unterlassen auch darnach [den Dissertationen] zu fragen; weil sie manchmahl über einige gerathen sind, darinne wenig Trost zu finden gewesen; Manchen ist die so mancherleye Schreib-Art verdrüßlich, da einer allzuniederträchtig, der andere allzu Redner-mäßig, und der dritte allzutiefsinnig schreibet. Viel lesen auch nicht gerne Disputationen; weil offt soviel Kunst-Wörter der neuern und ältern Gottesgelehrten und Weltweisen gebrauchet werden. Es giebet Gelehrte, welche sich mit Lesung derer Disputationen den Lateinis. Stylum nicht gerne verderben wollen. Es mögen auch wohl einige gefunden werden, welchen bey Durchlesung solcher kleinen Schrifften die Lust vergehet, wenn hier und da ein Wörter-Buch muß nachgeschlagen werden.“ Gründliche Auszüge aus denen Neuesten Theologisch-Philosophisch- und Philologischen Disputationibus, welche auf denen Hohen Schulen in Deutschland gehalten worden. 2. Aufl. Bd. 1. Erstes Stück, Vorrede. Leipzig 1735, Sig. A 2v–3r. 36 Vgl. Johann Martin Chladenius: Untersuchung ob die Erkenntniß der Wahrheit durch die academischen Disputationen befördert werde? In: Philosophische Bibliothek. Bd. 8. Erstes Stück. Hannover 1755, S. 1–17. 37 Vgl. Nicolaus Hieronymus Gundling: Collegium Historico-Literarium oder Ausführliche Discourse über die Vornehmsten Wissenschaften und besonders die Rechtsgelahrheit. Bremen 1738, S. 561. 38 Vgl. Chladenius (wie Anm. 36), S. 2. 39 Vgl. Christian Otto Mylius (Hg.): Corporis Constitutionum Marchicarum Continuatio IV. Derer in der Chur- und Marck Brandenburg, auch incorporirten Landen, ergangenen Edicten, Mandaten, Rescripten, etc von 1748. biß 1750. inclusive. Edikt LXXXIX. Berlin / Halle 1751, Sp. 199–202. 40 Vgl. ebd. Edikt LXXXVIII, Sp. 197–200.

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1753, die unter dem Vorsitz Peter Ahlwardts verteidigt worden war, der ausschließliche Gebrauch des Lateinischen in Disputationen als eine unbegründete „Tyrannische Mode“ bezeichnet, die meist die Möglichkeiten des Respondenten, des Opponenten und auch jene der Zuhörer unnötig einschränkte.41 Wahrheit und Gelehrsamkeit seien nicht an einzelne Sprachen gebunden, so das Argument, und somit sollten Sprachen in Anlehnung an Francis Bacon auch nur als ein „Fuhrwerk der Wissenschaften“ betrachtet werden.42 Um dennoch weiterhin einen ungehinderten Austausch unter den Gelehrten Europas gewährleisten zu können, sah Ahlwardt den Journalisten als Mittelsmann in die Pflicht genommen: Endlich viertens so ist diese Gemeinmachung solcher in Teutschland abgehandelten Wahrheiten hauptsächlich eine Pflicht der Journalisten und Zeitungsschreiber in der gelehrten Welt. Und von diesen verlangen wir vielmehr: daß sie vollkommen das Lateinische verstehen, und auch ihre Journale und Zeitungen in der Lateinischen Sprache abfassen mögten, damit sie auf solche Art auch denen auswärtigen Gelehrten zu Hülfe kommen könnten, welche die Muttersprache eines Landes nicht verstehen.43

Doch die Publikation eines internationalen Kommunikationsorgans zur Popularisierung von Dissertationen scheint nicht das primäre Anliegen der Herausgeber der meisten akademischen Journale gewesen zu sein. Wie Ahlwardt hatten auch Journalschreiber wie Abraham Kriegel,44 Adam Friedrich Petzold,45 Carl Ludwig Neuenhahn46 oder Heinrich Eberhard Gottlob Paulus47 vor allem deutsche „Gelehrte, insonderheit aber Prediger und Studenten“ und auch „andere, welche sonst keinen Nutzen aus den Lat. Disputationen haben können“48 als Rezipienten ins Auge gefasst. Indessen hatte auch das akademische Journal gleich den Dissertationen mit einem Imageproblem zu kämpfen. „Einige Gelehrte halten davor, die Monat-Schriften über-

41 Peter Ahlwardt: Der vorzügliche Nutzen der in teutscher Sprache angestellten akademischen Streithandlungen. Greifswald 1753, S. [1], 22f. 42 Ebd., S. 19. 43 Ebd., S. 25. 44 Herausgeber der Gründlichen Auszüge aus denen Neuesten Theologisch-Philosophisch- und Philologischen Disputationibus, welche auf denen Hohen Schulen in Deutschland gehalten worden (Leipzig 1733–45). 45 Herausgeber der Gelehrten Fama, Welche den gegenwärtigen Zustand der gelehrten Welt und sonderlich derer Deutschen Universitaeten entdecket (Leipzig 1711–18). 46 Herausgeber der Vermischten Bibliothek oder Auszüge aus verschiedenen zur Arzeneigelarheit, Chemie, Naturkunde, Oeconomie, zu Manufakturen und Künsten gehörigen academischen Streitschriften und andern Abhandlungen (Braunschweig 1758–60). 47 Herausgeber der Bibliothek von Anzeigen und Auszügen kleiner meist akademischer Schriften, theologischen, philosophischen, mathematischen, historischen und philologischen Innhalts (Jena 1790–92). 48 Gründliche Auszüge (wie Anm. 35), Sig. A 3r–v.

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haupt dieneten zu nichts, als den guten Geschmack zu verderben“49 heißt es in der Vorrede der 1746 neu gegründeten Vollständigen Nachrichten von dem ordentlichen Inhalte derer kleinen und auserlesenen Academischen Schriften (Leipzig 1746–61). Doch diese Reserviertheit gegenüber dem Medium war durchaus nicht neu. Schon gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatte man in der Gelehrtenrepublik angefangen, sich über Sinn und Unsinn des Journals, über die Berechtigung von Kritiken, die Aufgaben der Journalisten und Schaden und Nutzen dieser Art der Informationsvermittlung auseinanderzusetzen. Und wie schon Dekaden zuvor, so kam man auch jetzt zu dem Schluss, dass die Journale mit Rücksicht auf die Mündigkeit ihrer Leser „bey rechtmäßigem Gebrauch ihren guten Nutzen haben“ konnten.50 Unter dieser Maßgabe fiel die eigene in den Vorreden zum Ausdruck gebrachte Charakterisierung und Bewertung der akademischen Journale, etwa als „Gewürtze, welche, wenn der Magen durch harte Speisen beschweret worden, zur Erweckung und Ergötzung dienen, und welche gleichsam aufräumen und verdauen helfen“,51 bisweilen ausgesprochen selbstbewusst aus. Ebenso kamen die vorteilhaften Eigenschaften der Dissertationen, als dem zentralen Gegenstand der Rezensionen, zur Sprache. „Wer kan leugnen, daß nicht offt auf wenig Blättern gefunden wird, was man in grossen Folianten vergebens suchet? Man trägt in kleinen Schrifften zusammen, was man in grossen, seltsamen und kostbaren Wercken gutes antrifft“, heißt es in den Gründlichen Auszügen.52 Ausgehend von der Voraussicht der innerhalb des akademischen Streitgesprächs unvermeidlich geäußerten Widersprüche und Kritik, wurde die solide Ausarbeitung und der damit verbundene wissenschaftliche Wert der Dissertationen immer wieder betont.53 Dieser Gedankengang erschien wohl einer Vielzahl von Gelehrten recht plausibel, und so konnte es geschehen, „daß man etwas, so auswärtig zum Vorscheine kommet, bey vieler Nachfrage zu erhalten nicht“ vermochte.54 Neben der hoch eingeschätzten Qualität gab also ferner die mangelnde Zugänglichkeit der akademischen Schriften den Zeitschriften-

49 Vollständige Nachrichten von dem ordentlichen Inhalte derer kleinen und auserlesenen Academischen Schriften, welche vornehmlich in die Gottesgelahrheit, Weltweisheit und schönen Wissenschaften einschlagen, und in neulicher Zeit an das Licht gekommen. Erstes Stück, Vorrede. Leipzig 1746, S. 5. 50 Ebd., S. 7. 51 Ebd. 52 Gründliche Auszüge (wie Anm. 34), Sig. [)(4v]. 53 „Man wendet offt mehr Zeit auf dergleichen Schrifften/ als auf weitläuffige Bücher. Es betrifft das punctum honoris; man muß vorsichtig, bedachtsam und gelehrt schreiben/ wenn man nicht allein nicht will ausgelacht, sondern auch nicht öffentlich prostituiret werden [...].“ Aufrichtige und Unpartheyische Gedancken über die Journale, Extracte und Monaths-Schrifften. Drittes Stück. Freyburg 1714, S. 298; vgl. Chladenius (wie Anm. 36), S. 5–7. 54 Vollständige Nachrichten (wie Anm. 49), S. 4.

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unternehmen einigen Anlass, ausschließlich über diese zu berichten.55 Im Fall des Leipziger Verlegers Johann Christian Langenheim scheint die in seinem Verlag publizierte Acta academica (Leipzig 1733–38) darüber hinaus sogar als Absatz förderndes Medium konzipiert gewesen zu sein, da Langenheim zu dieser Zeit einen überaus florierenden Dissertationshandel mit der teilweise nur mühsam zu beschaffenden Ware betrieb.56 Was nun die Einrichtung und die Art der Informationsaufbereitung der akademischen Journale betrifft, so möchte ich im Folgenden einige wenige dieser Zeitschriften einander gegenüberstellen. Vorausschickend sei bemerkt, dass ihnen allen abzulesen ist, dass die Aktualität ihrer Inhalte ein entscheidendes Moment für die Auswahl der besprochenen Schriften darstellte.57 Kaum eine der Dissertationen, eines der Programme oder eine der Reden liegt mit ihrer Publikation länger als zwei Jahre hinter dem Erscheinen der jeweiligen Besprechung zurück. Andere Auswahlkriterien lassen sich hingegen schwerlich transparent machen. Ferner muss auch an dieser Stelle auf das Problem der Informationsbeschaffung für den meist sehr überschaubaren Mitarbeiterkreis der akademischen Journale, der wohl selten mehr als drei Personen gezählt haben dürfte, hingewiesen werden. Regelmäßig wurde durch die Herausgeber zur Mitarbeit und Einsendung von Beiträgen und Übersetzungen aufgerufen.58 Gelegentlich finden sich auch Klagen über mutwillige Verzögerungen von Nachrichtenübermittlungen, die von Seiten der Buchhändler herbeigeführt worden sein sollen.59 Inwieweit, ungeachtet dieser Schwierigkeiten, über eine bewusste Auswahl der Schriften auch eine Ausmusterung ‚zweitklassiger‘ Texte als Veröffentlichungspolitik betrieben wurde, bleibt zu fragen.60

55 „Allein die besten Dissertationen verlieren sich mehrentheils am geschwindesten, und die wenigsten kommen denen Gelehrten zu Händen.“ Gründliche Auszüge (wie Anm. 35), Sig. A 2v. „Die Nüzlichkeit, fast möchte ich sagen, die Nothwendigkeit eines Iournals von Anzeigen und Auszügen kleiner Akademischer und Gymnastischer Schriften steigt eben so sehr, als der so genannte Disputationshandel in Teutschland fällt und gefallen ist.“ Bibliothek von Anzeigen und Auszügen kleiner meist akademischer Schriften, theologischen, philosophischen, mathematischen, historischen und philologischen Innhalts. Erstes Stük, Vorrede. Jena 1789, Sig. A2r. 56 Vgl. Allgemeiner litterarischer Anzeiger. No. LXVI. Leipzig 1798, Sp. 685. 57 Vgl. Gründliche Auszüge (wie Anm. 35), Sig. A3v; Bibliothek von Anzeigen und Auszügen (wie Anm. 55), S. 8. 58 Vgl. Gründliche Auszüge (wie Anm. 35), Sig. A4r; Bibliothek von Anzeigen und Auszügen (wie Anm. 55), S. 8. 59 Vgl. Die Gelehrte Fama, Welche den gegenwärtigen Zustand der gelehrten Welt und sonderlich derer Deutschen Universitaeten entdecket. XIII. Theil, Vorrede. Leipzig 1712, Sig. A3v. 60 „Elende Versuche schwacher Anfänger und Stümper enthalten nichts, was einer Aufbewahrung werth wäre; auch brauchen die Verfasser [der Bibliothek von Anzeigen und Auszügen] solchen Leuten es nicht erst ausdrücklich zu verweisen, dass man sie, wenn sie sich nach einem andern Fache umsehen, auf dem litterarischen Felde nicht vermissen werde; es wird genug seyn, wenn sie sie nicht erwähnen; dieses verurtheilende Stillschweigen wird für die schlechten Schriftsteller zur Warnung und Belehrung hinreichen, und in der Bibliothek wird der dadurch ersparte Raum etwas Besserem ge-

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Indessen können bei den Zeitschriften im Hinblick auf ihre Beurteilungspraxis mehrere Vorgehensweisen beobachtet werden. Zum einen findet sich die Form der kritischen Rezension der Kleinschriften, bei welcher die Kommentare und Beurteilungen des Rezensenten ohne jegliche typographische Absetzung direkt im Text angemerkt wurden. Dies war beispielsweise bei der monatlich herauskommenden Gelehrten Fama (Leipzig 1711– 18) der Fall und wurde hin und wieder auch mit einigen „liederliche[n] Chartequen“ quittiert.61 Dass es sich dabei um ein überaus erfolgreiches Modell der Vermittlung handelte, lässt sich der langen Laufzeit der Zeitschrift, den heute noch zahlreichen Bibliotheksnachweisen und auch den diversen Verweisen in zeitgenössischen Enzyklopädien, Lexika und Bibliographien ablesen.62 Zum anderen konnten Bemerkungen und Urteile als Fußnoten oder in eckige Klammern gesetzt in die Besprechung einfließen. Diese meist gemäßigte, aber etwas umfangreichere kritische Auseinandersetzung war bei Zeitschriften wie etwa den im zweimonatlichen Turnus von Abraham Kriegel herausgegebenen Gründlichen Auszügen (Leipzig 1733–45) oder der quartalsweise erscheinenden Bibliothek von Anzeigen und Auszügen kleiner meist akademischer Schriften (Jena 1790–92) üblich. Oft handelte es sich dabei tatsächlich um übersetzte Auszüge der besprochenen Schriften, wie bereits die Titel der Journale nahe legen. Zuletzt konnte auch ganz auf die „richterlichen Censuren“ verzichtet werden, wie es sich bei den ebenfalls alle zwei Monate unter Kriegel publizierten Vollständigen Nachrichten von dem ordentlichen Inhalte derer kleinen und auserlesenen Academischen Schriften (Leipzig 1746–61) verhielt, die sich, was sich ebenfalls dem Titel entnehmen lässt, ausschließlich als Nachrichtenvermittler verstanden wissen wollte.63 Als einen letzten Punkt möchte ich in aller Kürze noch etwas zur Einrichtung der Zeitschriften anmerken. Auch hier können Unterschiede festgestellt werden. Für gewöhnlich stieß der Leser auf eine Aneinanderreihung von längeren Beiträgen, die meist, kommentarlos der Gewichtung der Fakultäten folgend, mit den theologischen Schriften ihren Anfang nahm. Bei den Ausführungen zu Dissertationen wurden die wesentlichen Angaben zu Titel, Druckort und Umfang, der Art der Dissertation, Ort und Datum des Disputationsaktes sowie die Namen des Präses und des bzw. der Respondenten bereits mit der Überschrift des jeweiligen Beitrags deutlich herausgestellt. Für eine etwaige Klärung von Autorschaftsfragen bezüglich der Dissertationen lohnt bei einigen Zeitschriften auch ein widmet werden können.“ Allgemeine Literatur-Zeitung. Bd. 1. Nr. 35 v. 4. Februar 1790. Jena 1790, Sp. 280. 61 Die Gelehrte Fama (wie Anm. 59), XXXVII. und XXXIIX. Theil, Vorrede. Leipzig 1715, Sig. A2r. Angespielt wird hier auf Jakob Wilhelm Feuerleins Send-Schreiben an einen guten Freund, darinnen von der gelehrten Fama unpartheyisch geurtheilet, und sonderlich die darinnen enthaltene ungegründete Censuren über Zwey Disputationes De dubitatione Cartesiana widerleget werden. 62 Vgl. Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon, Gabriel Wilhelm Goettens Das Jetzt lebende Gelehrte Europa, Johann Georg Heinsius’ Unpartheyische Kirchen-Historie Alten und Neuen Testaments, Johann Friedrich Juglers Beyträge zur juristischen Biographie etc. 63 Vollständige Nachrichten (wie Anm. 49), S. 2.

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Blick in das Inhaltsverzeichnis der einzelnen Stücke, in welchem die besprochenen Titel nicht ohne weiteres dem Namen des Präses, sondern dem des Verfassers nachgeordnet wurden.64 Neben der sachzentrierten Einrichtung, bei der die Gliederung der Beiträge allein nach inhaltlichen Gesichtspunkten vorgenommen wurde, konnte durch eine Gliederung nach lokalen Gesichtspunkten auch die institutionelle Verankerung der Kleinschriften betont werden. Eine Einrichtung dieser Art findet sich beispielsweise im ersten Jahrgang der Gelehrten Fama, die ihre stringente alphabetische Ordnung nach den Orten der Hohen Schulen von Altdorf bis Wittenberg und in einer zweiten Gliederungsebene nach den vier Fakultäten interessanterweise bereits im zweiten Jahr ihres Erscheinens veränderte. Mit dem XIV. Theil (1712) wurden die Ordnungskategorien der Zeitschrift aus dem akademischen Vokabular gelöst. An die Stelle der Untergliederung nach „Facultäten“ trat die etwas vage bezeichnete Kategorie „Nachricht“ von Theologischen, Juristischen, Medizinischen oder Philosophischen Sachen, der sich von nun an die Orte unterordneten. Mit diesen Nachrichten über Dissertationen, Programme, Neuauflagen, Amtsantritte und Todesanzeigen trugen akademische Journale wie die Gelehrte Fama wesentlich zu einer Öffnung der akademischen Öffentlichkeit bei. Die ursprüngliche okkasionelle Bestimmung der Dissertationen als Dokumentation einer Prüfungsleistung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort und vor einem bestimmten Publikum zu erbringen war, verlor innerhalb dieses Vermittlungsprozesses jedoch gänzlich an Bedeutung. Aus Augenzeugen wurden Leser. Letztlich korrespondiert auch das Verschwinden der akademischen Terminologie aus der Einrichtung der Gelehrten Fama mit diesem Phänomen. Das logischrhetorische Streitgespräch verschwand immer mehr hinter der schriftlichen Ausarbeitung der Disputationen, während der Abhandlungscharakter und der Nachrichtenwert der ,Sachen‘ in den Mittelpunkt des Interesses rückten. Doch wie sich dieser Fokus auf die Form der Disputationen auswirkte und wie sich das Verhältnis von Disputation und Dissertation im Laufe des 18. Jahrhunderts gestaltete, mag man bei dem Jubilar nachlesen.65

64 Im Fall der Gründlichen Auszüge kam dieses offenbar nicht ganz unproblematische Vorgehen bereits mit der Vorrede des ersten Stückes zur Sprache: „Was die Ordnung, in welcher die Dissertationen vorkommen werden, betrifft, da werden wir uns wohl eine Freyheit ausbitten, und schuldigst Ansuchung thun, daß es niemand von denen Herren Präsidenten übel nehme, noch vor eine Geringschätzung halte, wenn derselbe seinen Rang nicht sattsam beobachtet siehet: indem wir Dissertationen zuweilen nach den Materien, zuweilen aber auch nach denen Autoren setzen und ordnen werden.“ Gründliche Auszüge (wie Anm. 35), Sig. A4v. 65 Vgl. Hanspeter Marti: Disputation und Dissertation. Kontinuität und Wandel im 18. Jahrhundert. In: Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Hg. von Marion Gindhart und Ursula Kundert. Berlin / New York 2010, S. 63–88.

Ulrich G. Leinsle (Regensburg)

„impune disceptant theologi“ Der Wandel der Disputation in der Spätzeit des Hausstudiums der Prämonstratenserabtei Speinshart Der Wandel des Disputationswesens an den Universitäten und Hohen Schulen im 18. Jahrhundert1 machte auch vor Klosterpforten nicht Halt. In den Klöstern der alten Orden hatte man zumeist im 17. Jahrhundert als kirchenrechtlich anerkannte Institution zur Ausbildung der Kleriker in Philosophie, Theologie und ggf. auch Kirchenrecht ein Kloster- oder Hausstudium („studium domesticum“) installiert, das durch mindestens einen vom Abt ernannten „Professor domesticus“ geleitet wurde. Dieser hatte auch den Vorsitz bei den Disputationen, in denen die von ihm vorgelegten Thesen von den eigenen Schülern als „Defendentes“ zu verteidigen waren.2 Ein gutes Beispiel für den Wandel des Disputationswesens bietet das nicht unbedeutende Hausstudium der Prämonstratenserabtei Speinshart (Kreis Neustadt an der Waldnaab / Oberpfalz) in den Jahrzehnten vor der Säkularisation 1803.3 Zwei dieser Disputationen werden hier erstmals vorgestellt: das einzige erhaltene Thesenblatt aus Speinshart mit den hundert Theses ex universa theologia des nachmaligen Abtes Guarinus Keiling (1735–1794) vom September 17724 und die 1 Vgl. Hanspeter Marti: Disputation und Dissertation. Kontinuität und Wandel im 18. Jahrhundert. In: Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Hg. von Marion Gindhart und Ursula Kundert. Berlin 2010 (Trends in Medieval Philology 20), S. 63–85; ders.: Kommunikationsnormen der Disputation. Die Universität Halle und Christian Thomasius als Paradigmen des Wandels. In: Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenwelt im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Hg. von Johannes Ulrich Schneider. Wiesbaden 2005, S. 317–344. 2 Vgl. exemplarisch: Ulrich G. Leinsle: Studium im Kloster. Das philosophisch-theologische Hausstudium des Stiftes Schlägl 1633–1683. Averbode 2000 (Bibliotheca Analectorum Praemonstratensium 20); ders.: Introduction to Scholastic Theology. Washington, D.C. 2010, S. 280–298. 3 Vgl. ders.: Disputationen am Speinsharter Hausstudium im 18. Jahrhundert. In: 850 Jahre Prämonstratenserabtei Speinshart 1145–1995. Hg. von der Prämonstratenserabtei Speinshart. Pressath 1995 (Speinshartensia 2), S. 115–142; ders.: Festdisputationen in Prälatenklöstern. In: Solemnitas. Barocke Festkultur in Oberpfälzer Klöstern. Beiträge des 1. Symposions des Kultur- und Begegnungszentrums Abtei Waldsassen vom 25. bis 27. Oktober 2002. Hg. von Manfred Knedlik und Georg Schrott. Kallmünz 2003 (Veröffentlichungen des Kultur- und Begegnungszentrums Abtei Waldsassen 1), S. 101–113. 4 Bibliothek des Priesterseminars Bamberg Signatur BPS 21 (Blatt 112,7 x 72,8 cm, Bild 88,0 x 66,7 cm, Thesenleiste 22,9 x 68,5 cm); Beschreibung und Abbildung: Die Graphischen Thesen- und

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Positiones ex Theologia Dogmatica unter Otto Wild (1753–1792) vom 29. August 1791.5 Zwischen beiden liegt die Ordinata series propositionum des späteren Professors in Ingolstadt Heribert von Grafenstein (1747–1793) aus dem Jahr 1778.6 Bedeutsam ist die Tatsache, dass Grafenstein 1772 und Wild 1778 als Defendenten auftreten, wie auch 1791 noch der letzte Professor Wilhelm Wittmann (1767–1836), von dem aber keine Disputationen mehr erhalten sind.7 Kontinuität in der Besetzung steht also Umbrüchen in Gestaltung und Inhalt gegenüber. Denn auch die katholische Theologie insgesamt befand sich im deutschsprachigen Raum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in einem tief greifenden Wandel.8 Die Theologie der sogenannten ‚Zweiten Scholastik‘, auch ‚Barockscholastik‘ genannt,9 mit ihren klaren Schulen der Thomisten, Skotisten, Jesuiten u. a., orientiert an der Philosophie des zeitgenössischen Schularistotelismus unter klarer Dominanz der Jesuiten,10 wurde abgelöst durch eine nachscholastische Theologie, die sich teilweise mehr der Bibel, den

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Promotionsblätter in Bamberg. Nach Vorarbeiten von Wolfgang Seitz bearbeitet und hg. von der Staatsbibliothek Bamberg durch Bernhard Schemmel, mit Lichtbildern von Alfons Steber. Wiesbaden 2001, S. 290f. Positiones ex Theologia Dogmatica, quas in Canonia Speinshartensi Ordinis Praemonst. Praeside D. Ottone Wild, eiusdem Ordinis ibidem Professo Theologiae Professore Ordinario propugnabunt RR. FF. Wilhelmus Wittmann, Hermannus Hafner. Die XXIX. Mensis Augusti, 1791. Ambergae, Typis Ioann. Geogii Koch. 4°, 40 S. Ordinata Series Propositionum, quas ex Theologia Theoretica Christiana in Antiquissima Sacri et Exempti Ordinis Praemonstratensis Canonia Speinshartensi publico examini exposuere Rev. ac Rel. PP. Dominicus Wagner, Fridericus Pietsch, Otto Wild, ejusdem Ordinis et Loci Professi, Assistente Adm. Rev., ac Rel. P. Herib. de Grafenstein, ibidem Canonico Regulari, ac Theologiæ Professore, Die 9 [hs.] Mensis Septembris, Anno MDCCLXXVIII, Horis ante- & postmeridianis. Ratisbonæ, 1778; vgl. Leinsle: Disputationen (wie Anm. 3), S. 133–141, Abbildung S. 134. – Zu Grafenstein vgl. Robert Biersack: Der Speinsharter Chorherr Heribert von Grafenstein. Leben, Werk und Privatbibliothek eines katholischen Aufklärungsphilosophen. In: Analecta Praemonstratensia 74 (1998), S. 204–290. Vgl. Norbert Backmund: Ein Profeßbuch des Klosters Speinshart. In: Ostbairische Grenzmarken 17 (1975), S. 52–82, hier S. 76. Vgl. dazu Leinsle: Introduction (wie Anm. 2), S. 351–358. Vgl. ebd., S. 286–298; Ulrich G. Leinsle: Die Scholastik der Neuzeit bis zur Aufklärung. In: Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg. von Emerich Coreth, Walter M. Neidl und Georg Pfligersdorffer. Bd. 2. Graz, Wien, Köln 1988, S. 54–69; Carlo Giacon: La seconda scolastica. 3 Bde. Milano 1944–1950. Vgl. Charles H. Lohr: Les jésuites et l’aristotélisme du XVIe siècle. In: Les jésuites à la Renaissance. Système éducatif et production du savoir. Hg. von Luce Giard. Paris 1995, S. 79–91; Charles H. Lohr: Jesuit Aristotelianism and Sixteenth Century Metaphysics. In: Paradosis. Studies in Memory of Edwin A. Quain. New York 1976, S. 203–220; konkret für eine Jesuitenuniversität: Ulrich G. Leinsle: Dilinganae Disputationes. Der Lehrinhalt der gedruckten Disputationen an der Philosophischen Fakultät der Universität Dillingen 1555–1648. Regensburg 2006 (Jesuitica 11).

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Kirchenvätern und der Historischen Theologie zuwandte,11 teilweise stark augustinisch geprägt war,12 aber zum Teil auch bewusst die aufgeklärte Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts nach Christian Wolff (1679–1754) aufgriff.13 Ein äußeres Ereignis, welches das Ende des alten Systems kennzeichnet, war die Aufhebung der Gesellschaft Jesu 1773 mit ihrer seit 1599 nicht wesentlich reformierten und im Prinzip schon damals teilweise Überholtes kodifizierenden Ratio Studiorum.14 In den Sog dieses Umbruchs gerieten nicht nur die meist im Sinne der Aufklärung reformierten Universitäten und Hohen Schulen,15 sondern auch die kleineren Klosterstudien.

1. Das barocke Thesenblatt Guarinus Keilings (1772) 1772 päsentiert sich das Speinsharter Hausstudium mit einem aufwändigen barocken Thesenblatt mit einem Kupferstich Praefiguratio baptismi S. Augustini nach Giovanni Battista Pittoni (1687–1767),16 gedruckt beim ebenso renommierten wie fruchtbaren graphischen Verlag Klauber in Augsburg. Die an den Stich angeklebte Thesenleiste gibt die hundert Theses ex universa theologia dogmatico-speculativa des Speinsharter Professors Guarinus Keiling in sehr gedrängter Form wieder. Über die Kommunikationsstrukturen der 11 Z. B. in der Quellenforschung der Mauriner und Bollandisten, aber auch in der Theologie des Fürstabts von St. Blasien Martin Gerbert (1720–1793); vgl. Alfons Deissler: Fürstabt Martin Gerbert von St. Blasien und die theologische Methode. München 1940 (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens, Ergänzungsheft 15); Leinsle: Introduction (wie Anm. 2), S. 337–339; Ulrich L. Lehner: Enlightened Monks. The German Benedictines 1740–1803. Oxford 2011, S. 11–26, 205–207. 12 So bereits Johannes Laurentius Berti: Theologia historico-dogmatico-scholastica. München, Stadtamhof 1750. 13 Zu den einzelnen Versuchen, Vernunft und Theologie auszugleichen, vgl. Matthias J. Fritsch: Vernunft – Offenbarung – Religion. Eine historisch-systematische Untersuchung zu Sigismund von Storchenau. Frankfurt am Main 1997 (Regensburger Studien zur Theologie 53), S. 56f. 14 Vorgeschichte und Textausgabe: Monumenta Paedagogica Societatis Iesu. Hg. von Ladislaus Lukács. 7 Bde. Roma 1965–1992, besonders Bd. 5. – Zur Kritik vgl. Arno Seifert: Der jesuitische Bildungskanon im Lichte zeitgenössischer Kritik. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 47 (1984), S. 43–75. 15 Vgl. z. B. Karl Joseph Lesch: Neuorientierung der Theologie im 18. Jahrhundert in Würzburg und Bamberg. Würzburg 1978; Herbert Rösch: Entwicklungsfaktoren im 17./18. Jahrhundert und die Auseinandersetzung mit der Aufklärung. In: Die Universität Dillingen und ihre Nachfolger. Stationen und Aspekte einer Hochschule in Schwaben. Festschrift zum 450jährigen Gründungsjubiläum. Hg. von Rolf Kießling. Dillingen 1999 (Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen an der Donau 100), S. 79–128; Lehner (wie Anm. 11), S. 175–225. 16 Zu Pittoni vgl. Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begründet von Ulrich Thieme und Felix Becker, hg. von Hans Vollmer. Bd. 27. Leipzig 1933, S. 119–121; zu Klauber ebd., Bd. 20, 1927, S. 411–414.

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Disputation erfahren wir, von der Widmung und der Nennung der Defendenten abgesehen, nichts. Die im graphischen Thesenblatt festgehaltene Speinsharter Disputation vom September 1772 ist das einzige inhaltliche Zeugnis aus der Lehrtätigkeit Keilings in Speinshart. Die Disputation fand bereits unter der wenig glücklichen Regierung des Abtes Eberhard Razer (1729–1792; reg. 1771–1778) statt,17 ist jedoch nicht diesem gewidmet, sondern in guter Tradition18 einem hochstehenden Auswärtigen, dem Regensburger Weihbischof und Domdekan Adam Ernst Joseph Bernclau von Schönreith (1712– 1779).19 Als Defendenten fungierten Augustin Klier (1744–1816),20 Berthold Scheuermann (1747–1803)21 und Keilings Nachfolger als Professor Heribert von Grafenstein. Die Thesen tragen in der linken Spalte oben die Druckerlaubnis des Kurfürstlichen Bücherzensurkollegiums vom 15. Juli 1772, in der rechten unten die Approbation des Bischöflichen Konsistoriums in Regensburg vom 13. Juli. Druck und Disputation wurden offenbar gründlich vorbereitet. Um die Thesen Keilings im Rahmen der zeitgenössischen Theologie würdigen zu können, muss man zuerst einen Blick auf seine Biographie und theologische Ausbildung werfen. Guarinus Keiling wurde am 13. Juli 1735 in Pottenstein als Sohn des bürgerlichen Musikers Johann Jakob Keiling und seiner Frau Magdalena geboren.22 Sein Taufname

17 Zu Razer vgl. Backmund (wie Anm. 7), S. 70; Georg Blößner: Die Äbte des oberpfälzischen Prämonstratenserklosters Speinshart nach der Kirchenspaltung bis zur Säkularisation (1691–1803). Regensburg 1904, S. 54f. – Die umfangreichen Akten im Staatsarchiv Amberg, Bestand: Kloster Speinshart 273–275, 279, 280 sind dort noch nicht berücksichtigt. 18 Vgl. Theo Strammen: Über Widmungen. In: Republik und Dritte Welt. Festschrift für Dieter Oberndörfer zum 65. Geburtstag. Hg. von Wolfgang Jäger u. a. Paderborn u. a. 1994, S. 439–456; Sibylle Appuhn-Radtke: „Domino suo clementissimo …“. Thesenblätter als Dokumente barocken Mäzenatentums. In: Bilder – Daten – Promotionen. Studien zum Promotionswesen an deutschen Universitäten der frühen Neuzeit. Bearbeitet von Hans-Christoph Likess und Rüdiger vom Bruch. Stuttgart 2007 (Pallas Athene 24), S. 56–83; Michael Philipp: Politica und Patronage. Zur Funktion von Widmungsadressen bei politischen Dissertationen des 17. Jahrhunderts. In: Gindhart / Kundert (wie Anm. 1), S. 231–268. 19 Zu Bernclau, Weihbischof von 1766–1779, vgl. Karl Hausberger: Bernclau, Adam Ernst Joseph. In: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1803. Ein biographisches Lexikon. Hg. von Erwin Gatz. Berlin 1990, S. 28. 20 Vgl. Backmund (wie Anm. 7), S. 62f. 21 Vgl. ebd., S. 71f. 22 Zur Biographie vgl. Adolf Mörtl: Abt Guarin Keiling. In: 850 Jahre Prämonstratenserabtei Speinshart, 75 Jahre Wiederbesiedelung durch Stift Tepl 1921–1996: eine Ausstellung der Prämonstratenserabtei Speinshart. In Zusammenarbeit mit dem Diözesanmuseum Regensburg; Prämonstratenserabtei Speinshart, 2. Juni bis 5. Oktober 1996. Regensburg 1996 (Kunstsammlungen des Bistums Regensburg. Diözesanmuseum Regensburg, Kataloge und Schriften 17), S. 88; Backmund (wie Anm. 7), S. 62.

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war Johannes, nicht, wie Backmund will, Petrus.23 Die musikalische Begabung, der er auch in Speinshart vor allem als Cellist, u. a. vor illustren Zuhörern, nachging, war ihm offenbar in die Wiege gelegt.24 1750 immatrikulierte sich Johannes Keiling zusammen mit seinem Bruder Martin als „Poeta“, also für die vorletzte Gymnasialklasse, an der Universität Bamberg,25 wo er dann ab 1752 auch die Philosophie studierte. In dieser Zeit kam er in Kontakt mit Speinshart.26 Am 29. Oktober 1753 brachte dann der Frühmesser von Pottenstein, ein Verwandter Keilings, der sich offenbar nach dem frühen Tod des Vaters des jungen Johannes angenommen hatte, den Kandidaten nach Speinshart. Dieser wird hier als „Artium Liberalium et Philosophiae Baccalaureus“ betitelt, hatte also inzwischen das nach dem ersten Jahr der Philosophie übliche Bakkalaureat erworben. Am 2. November führte der neu ernannte Novizenmeister Isfried Diepold (1709–1786) ihn und drei weitere Kandidaten in den Konvent ein.27 Am 8. Dezember 1753 wurden die vier Novizen von Prior Hugo Strauss (1706–1770) im Auftrag des in München weilenden Abtes Dominikus von Lieblein (1706–1771; Abt seit 1734) eingekleidet.28 Zur Profess am 8. Dezember 1754 kamen auch der nicht namentlich genannte Pflegevater des Guarinus und der Frühmesser von Pottenstein nach Speinshart.29 An das Noviziat schloss sich die weitere philosophische und theologische Ausbildung an. Da Guarinus die Philosophie zumindest teilweise bereits studiert hatte, wurde er offenbar sogleich in den theologischen Kurs aufgenommen, den der 1753 als Doktor der 23 Pfarrarchiv Speinshart, Annales Speinshartenses, S. 124: „Et Joannem honesti et artificiosi Joannis Jacobi Kayling Musici quondam in Pottenstein p.m. et Magdalenae coniugum filium legitimum natum 12. Julii 1736 AA.LL. et Philosophiae Baccalaureum“; vgl. Mörtl (wie Anm. 22); Backmund (wie Anm. 7), S. 62. 24 Vgl. Blößner (wie Anm. 17), S. 62; Annales (wie Anm. 23), S. 180; Staatsarchiv Amberg, Kloster Speinshart 236: Mortuologium, Sept. 7: „Musciae suavioris erat peritissimus, qui vel cum sua chely coram Ducibus Bavarico, Herbipolensi, Marggrafio in Beyreuth comparere non dubitavit.“ 25 Die Matrikel der Universität und Akademie Bamberg. Hg. von Wilhelm Heß. 2 Bde. Bamberg 1923/24: 1750, Nr. 8346 und 8347. 26 In Bamberg studierten damals der spätere Professor und Abt Hermann von Brodreis (1725–1788) und sein Mitbruder Siard von Junker (1731–1801). Vgl. Backmund (wie Anm. 7), S. 55, 61; Matrikel Bamberg (wie Anm. 25): 1751/52, Nr. 8495f. beide als „Poeta“: eine billigere Scheineinschreibung in eine niedrigere Klasse. Tatsächlich studierten beide Theologie. Die Kontakte liefen aber auch über den Vater seines Kommilitonen und späteren Konnovizen Gabriel Aloysius (Macarius) Pary (1734–1786), den Pedell des Bamberger Konsistoriums Johann Edmund Pary; vgl. Annales (wie Anm. 23), S. 118, 124. Der Vater Parys war demnach Pedell des Konsistoriums, nicht „Konsistorialrat und Richter“, wie Backmund (wie Anm. 7), S. 68 schreibt. 27 Vgl. Annales (wie Anm. 23), S. 124. Der Frühmesser war Johann Georg Lehner (1709–1758) aus Pottenstein; vgl. Friedrich Wachter: General-Personal-Schematismus der Erzdiözese Bamberg. Bamberg 1908, Nr. 6011, S. 290. 28 Vgl. Annales (wie Anm. 23), S. 125; die übrigen waren: Macarius Pary, Dodo Heller (1734 – nach 1803) und Roger Witzgall (1734 – nach 1809); Backmund (wie Anm. 7), S. 60. 76. 29 Vgl. Annales (wie Anm. 23), S. 133.

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Theologie aus Bamberg zurückgekehrte Professor Hermann von Brodreis (1725–1788) gab.30 Aus diesem Kurs haben wir Nachricht von sechs Disputationen, deren Defendenten nicht in jedem Fall genannt sind. Wir finden Keiling aber bei der theologischen Disputation am 27. Januar 1756 als Defendenten.31 Nach diesen zwei Jahren des Studiums in Speinshart wurde Keiling zusammen mit Siard von Junker (1731–1801) zum weiteren Theologiestudium zu den Augustiner-Eremiten nach München geschickt, wo er bereits am 17. August 1756 als Defendent bei der jährlichen Disputation unter dem Lektor der Theologie, P. Adrian Hueber, erscheint.32 Über die Dauer dieses Studiums haben wir keine sicheren Angaben. Im Hinblick auf das erforderte Weihealter von 24 Jahren hatte Keiling noch genug Zeit zur theologischen Ausbildung. Am 20. September 1760 wurde er in Regensburg zum Diakon geweiht.33 Am 21. September des folgenden Jahres empfing er die Priesterweihe und legte anschließend das Cura-Examen ab.34 Am 4. Oktober feierte er in Speinshart Primiz.35 Die erste bekannte Tätigkeit Keilings ist die Stelle des Küchenmeisters, die er bis 1766 bekleidete.36

30 Am 28. Februar 1753 verteidigte Brodreis unter P. Christian Liebrecht SJ seine Dissertatio theologica, in qua Summus Pontifex Vigilius ab haeresi tam Eutychiana, quam Nestoriana vindicatur, ad Tractatum de Fide, Spe et Charitate una cum conclusionibus Dogmatico-Theologicis. Bamberg 1753 (8 S. in 4°). Am 22. August verteidigte er: Theses ex universa theologia, quas ad majorem Dei Tri-unius gloriam, B. Virginis Mariae in coelum assumptae, SS. Augustini & Norberti honorem, Approbante Sacra Facultate Theologica, Pro suprema Doctoratus Theologici Laurea publicae Eruditorum disquisitioni submittit R. D. ac P. Hermannus de Brodreis, Sacri Candidissimi, & Exempti Ordinis Praemonstratensis in Ecclesia Speinshartensi B. V. M. sinè labe conceptae Canonicus, AA. LL. & Philosophiae Magister, Ss. Theologiae & Sacrorum Canonum Auditor Emeritus. Bamberg 1753 (8 S. in 4°). 31 Vgl. Leinsle: Disputationen (wie Anm. 3), S. 120. 32 Theses Theologicae Historico-Dogmatico-Scholasticae Ad Mentem Summi Ecclesiae Doctoris & Proto-Parentis Nostri Aurelii Augustini, et Doctoris Nostri Fundamentalis, Aegidii Columni Romani, Ex Tractatu De Sacramentis in Genere, De Baptismo autem & Confirmatione in Specie, Quas Pro Exercitio annuo In Conventu Monacensi FF. Eremitarum ejusdem M. P. N. Augustini, Praeside R. F. Adriano Hueber SS. Theologiae Lectore Ordinario, Defendendas suscipient M. R. D. Frater Guarinus Keiling, Sacerrimi, Candidissimi & Exempti Ordinis Praemonstratensium ex Celeberrima & Antiquissima Canonia Speinshartensi Professus. Ex Nostris autem P. Christianus Ott, P. Chrysost. Ancker, F. Alexander Geber, F. Gaudentius Reber. Die XVII. Augusti Anno MDCCLVI. Horis ante& postmeridianis consuetis. Cum Licentia Superiorum. Monachii, Typis Joannis Jacobi Vötter, Aulae ac Stat. Prov. Bav. Typogr.; 4°; Frontispiz, 4 Blätter unpaginiert; zur Wissenschaft bei den Augustinern in München vgl. Josef Hemmerle: Geschichte des Augustinerklosters in München. MünchenPasing 1956, S. 26–31. 33 Vgl. Annales (wie Anm. 23), S. 152. 34 Vgl. ebd., S. 155. Hervorgehoben wird, dass die Speinsharter Kandidaten beim Cura-Examen „perhumaniter“ behandelt wurden. 35 Vgl. ebd. 36 Vgl. ebd., S. 159; Backmund (wie Anm. 7), S. 62.

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Doch blieb Keiling an Philosophie und Theologie interessiert, wie mehrfache Teilnahmen an Disputationen bei den Franziskanern in Kemnath bezeugen.37 Am 8. November 1766 wurde Keiling für die neuen Kleriker Heribert von Grafenstein, Marquard Graf (1744–1792) und Berthold Scheuermann (1747–1803) zum Professor der Philosophie ernannt.38 Im Januar 1767 begann er einen philosophischen Kurs, an dem auch vier Laien (teilweise Kandidaten) teilnahmen.39 Aus diesem philosophischen Kurs sind bis 1768 vier nicht publizierte Disputationen bekannt, wobei Franziskaner von Kemnath regelmäßig als Opponenten auftraten.40 Mit der feierlichen Schlussdisputation am 12. September 1768 mit den Defendenten Augustin Klier, Berthold Scheuermann, Marquard Graf und Heribert von Grafenstein wurde dieser Kurs abgeschlossen. Opponenten waren der Baron Freiherr von Lilgenau, Pfarrer Franz Joseph von Rupprecht aus Kemnath,41 die Theologieprofessoren von Michelfeld und Weißenohe sowie zwei Franziskaner von Kemnath.42 Im Anschluss an den philosophischen Kurs wurde Keiling Professor der Theologie für dieselben Kleriker. Bereits am 4. September 1769 hielt er mit denselben Defendenten wie 1768 eine Disputation zum Abschluss des ersten Jahres.43 Das neu gefundene Thesenblatt vom September 1772 stellt dann die Abschlussdisputation dieses gesamten Kurses dar, diesmal mit den Defendenten Augustin Klier, Berthold Scheuermann und Heribert von Grafenstein. Inzwischen war am 6. Juni 1771 Abt Dominikus Lieblein gestorben und am 9. September desselben Jahres in einer nicht unumstrittenen Wahl der bisherige Sakristan Eberhard Razer zum neuen Abt gewählt worden.44 Nach Backmund wurde Keiling dann bis 1774 wieder zum Philosophieprofessor bestellt.45 Für einen solchen Kurs lassen sich allerdings keine Kleriker als Hörer nachweisen. Keiling war vielmehr von 1774 bis 1778 Pfarrer von Speinshart,46 sein Nachfolger als Professor wurde Heribert von Grafenstein, der

37 Vgl. Annales (wie Anm. 23), S. 163, 165; zum „Disputationstourismus“ vgl. Leinsle: Festdisputationen (wie Anm. 3), S. 104f. 38 Vgl. Annales (wie Anm. 23), S. 169. 39 Vgl. ebd.: Joseph von Ducrest (1747–1797, eingekleidet 1766), ein Herr von Lieblein, Verwandter des Abtes Dominikus von Lieblein, und die beiden späteren Chorherren Severin Frank (1749–1819) und Norbert Rödel (1748–1786), beide eingekleidet 1767; vgl. Backmund (wie Anm. 7), S. 55, 57, 71. 40 Vgl. Leinsle: Disputationen (wie Anm. 3), S. 120f. 41 Pfarrer von Kemnath von 1740–1782; vgl. Bischöfliches Zentralarchiv Regensburg, Thomas Ries: Entwurf eines Generalschematismus aller Geistlichen des Bistums Regensburg (Manuksript). 42 Vgl. Annales (wie Anm. 23), S. 178; Leinsle: Disputationen (wie Anm. 3), S. 120. 43 Vgl. Annales (wie Anm. 23), S. 182. 44 Vgl. Staatsarchiv Amberg, Kloster Speinshart 273 und 274. 45 Vgl. Backmund (wie Anm. 7), S. 62. 46 Vgl. ebd.

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1770–1773 in Ingolstadt Theologie und die Rechte studiert hatte.47 Bei der Wahl Hermann von Brodreis’ zum Nachfolger des resignierten Abtes Eberhard Razer am 29. April 1778 erscheint Keiling als Subprior.48 Vom neuen Abt wurde er als Kaplan nach Eschenbach geschickt.49 1783 kehrte er als Pfarrer nach Speinshart zurück. Daneben oder danach bekleidete er das Amt des Kellermeisters, bis ihn die Mitbrüder am 13. Mai 1789 zum Nachfolger Brodreis’ wählten.50 Am 7. September 1794 starb der als Abt immer schon kränkliche Guarinus Keiling in Speinshart.51 Keiling ist neben seinen wirtschaftlichen und pastoralen Tätigkeiten ein noch im Sinne der späten katholischen Scholastik ausgebildeter Theologe. Inhaltlich wird in den Thesen ein Durchgang durch die ganze spekulative Theologie von der Gotteslehre bis zur Sakramentenlehre geboten. Als zum Teil wörtlich übernommene Vorlage dient die bereits hundert Jahre alte, immer noch verbreitete und auch in Würzburg benutzte Synopsis totius cursus Theologici accuratissima des Jesuiten Jakob Platel (1608–1681).52 Darüber hinaus hat Keiling auch die Bamberger Theses ex universa Theologia seines Vorgängers Hermann von Brodreis von 1753 herangezogen.53 In Aufbau und Lehre weicht er aber auch durchaus von seinen Vorlagen ab. Die Existenz Gottes ist demnach so gewiss, dass eine ignorantia invincibilis unmöglich ist (thesis 1f.). Eine unmittelbare intuitive Gottschau, aber nicht aus eigenen Kräften, erkennt Keiling mit Platel auch den im vollkommenen Gnadenstand Verstorbenen zu; diese müssen also nicht mehr in das Purgatorium (thesis 3).54 Mit den Jesuiten nimmt er eine scientia media Gottes für bedingte futurische Sachverhalte an. Die Prädestination erfolgt ebenso wie die Reprobation „ex praevisis meritis“ bzw. „demeritis“ (thesis 9f.). Auf die Engellehre werden ganze zwei Thesen (thesis 13f.) verwendet. In der Lehre vom menschlichen Handeln (thesis 15–21) wird relativ unpräzise ein indifferenter aktueller individueller Akt verneint und klar Probabilismus vertreten.55 In 47 48 49 50 51 52

Vgl. Biersack (wie Anm. 6), S. 212–216. Vgl. Backmund (wie Anm. 7), S. 62. Vgl. ebd. Vgl. ebd.; zur Verschiebung und den Umständen der Wahl vgl. Blößner (wie Anm. 17), S. 58–61. Zur Regierungszeit vgl. ebd., S. 62f. Erstdruck Douai 1661, benutzt Köln 1687; zu Platel vgl. Carlos Sommervogel: Bibliothèque de la Compagnie de Jésus. Bd. 6. Brüssel / Paris 1895, Sp. 877–883; zu Würzburg: Lesch (wie Anm. 15), S. 93. 53 Siehe Anm. 30. 54 Vgl. Jacobus Platel: Synopsis totius cursus theologici. Köln 1687, pars 1 numerus 77 (Bd. 1, S. 81f.). 55 Zum Probabilismus vgl. Ulrich G. Leinsle: Servatius de Lairuelz und Juan Caramuel Lobkowitz O. Cist. Zwei Auslegungen der Augustinusregel. In: Analecta Praemonstratensia 82 (2006), S. 238– 320; ders.: Probabilismus im Kloster. Caramuels Theologia regularis. In: Juan Caramuel Lobkowitz. The Last Scholastic Polymath. Hg. von Petr Dvořák und Jacob Schmutz. Prag 2008, S. 99–116; Gerhard Otte: Der Probabilismus. Eine Theorie an der Grenze zwischen Theologie und Jurisprudenz. In: La seconda scolastica nella formazione del diritto privato moderno. Incontro di studio Firenze 16–18 ottobre 1972. Hg. von Paolo Grossi. Milano 1973 (Per la storia del pensiero giuridico

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der Lehre von der Sünde (thesis 31–38) hält Keiling mit Platel an der Spezifikation der Sünde durch das Formalobjekt fest, lehnt aber wie Caramuel u. a. eine Verbindung der Sünden untereinander ab, so dass aus noch so vielen lässlichen Sünden niemals eine Todsünde werden kann.56 Ebenso hält er an der Unbefleckten Empfängnis Mariens fest (thesis 37).57 Im Unterschied zu seinem augustinischen Münchner Lehrer Adrian Hueber erkennt er mit den Jesuiten den ungetauft gestorbenen Kindern zwar eine poena damni, nicht aber eine poena sensus zu (thesis 38).58 In der Gnadenlehre (thesis 39–44) vertritt er über Platel hinaus auch eine relative Suffizienz der Gnade und lehnt die praemotio physica der Thomisten ebenso ab wie die delectatio victrix der „Augustiniani“;59 vielmehr nimmt er mit den Jesuiten eine Gnadenhilfe gemäß der scientia media Gottes an, bei der die Freiheit des Menschen gewahrt bleibt. Gegen die Protestanten wendet er sich in der Ablehnung einer bloß imputativen Rechtfertigung. Zum Traktat von den Göttlichen Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe, thesis 45–53) zieht Keiling auch die Bamberger Dissertation Brodreis’ mit ihren Thesen heran und ergänzt dadurch Platel.60 Die wahre Kirche Christi ist der oberste und unfehlbare Richter in Glaubensstreitigkeiten. Die Unfehlbarkeit wird aber auch dem Papst, wenn er ex cathedra in Glaubenssachen urteilt, zugesprochen, und zwar (strikter als bei Platel) unabhängig vom Konsens der Kirche.61 In der wenig signifikanten Christologie (thesis 59–68) fallen zwei Thesen auf, die über Platel hinausgehen: die Honorius-Frage, wobei Papst Honorius vom Vorwurf, Häretiker zu sein, freigesprochen wird, und die superabundante Satisfaktion Christi, die schon Hugo Strauss in seiner Disputation 1735 verteidigt hatte.62 Die weit entfaltete Sakramentenlehre (thesis 69–100), über die Keiling ja in München disputiert hatte, nimmt zum Teil die Thesen dieser Disputation wieder auf. In der Frage der Intention des Spenders verlangt Keiling hier aber eine (wenig präzise) „intentio seria interna“ (thesis 71). Klar hält er mit Verweis auf die in München erörterte Kontroverse

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moderno 1), S. 283–302; Philipp Schmitz: Probabilismus – das jesuitischste der Moralsysteme. In: Ignatianisch. Eigenart und Methode der Gesellschaft Jesu. Hg. von Michael Sievernich und Günter Switek. Freiburg im Breisgau 1990, S. 355–368. Vgl. Platel (wie Anm. 54), pars 2 numerus 183 (Bd. 2, S. 122); vgl. Juan Caramuel Lobkowitz: Theologia regularis. Frankfurt 1646, disputatio 62, S. 204–208; numerus 908f., S. 205. Zu deren Bedeutung in Speinshart (Patrozinium der Klosterkirche) vgl. Leinsle: Disputationen (wie Anm. 3), S. 138. Vgl. Hueber (wie Anm. 32) thesis 11, folio )(3r. Vgl. Sven K. Knebel: Wille, Würfel und Wahrscheinlichkeit. Das System der moralischen Notwendigkeit in der Jesuitenscholastik 1550–1700. Hamburg 2000 (Paradeigmata 21), S. 221–224. Vgl. Brodreis: Dissertatio (wie Anm. 30): Conclusiones theologicae de virtutibus theologicis, conclusio 10. Vgl. Platel (wie Anm. 54) pars 3 numerus 131 (Bd. 3, S. 91); Brodreis: Dissertatio (wie Anm. 30), conclusio 9: „Pontifex in quaestionibus fidei est infallibilis, etiam extra Concilium, quo est superior.“ Vgl. Hugo Strauss: Satisfactio Dei-Hominis ab intrinseco superabundans. Amberg 1735; dazu Leinsle: Disputationen (wie Anm. 3), S. 122–127.

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zwischen Cyprian von Karthago und Papst Stephan I. an der Gültigkeit der Häretikertaufe fest (thesis 75f.) und lehnt mit Platel eine Taufe der Kinder von Nicht-Christen gegen den Willen ihrer Eltern als unerlaubt ab.63 Die Eucharistielehre (thesis 81–84) folgt in ihrer tridentinischen Ausrichtung, einschließlich der Messopferlehre, z. T. wörtlich Platel.64 Für das Bußsakrament ist eine Reue aus Furcht vor der Hölle (attritio) hinreichend. Mit Caramuel und den sogenannten Laxisten hält Keiling gegen Platel daran fest, dass gravierende Umstände, die den Tatbestand der Sünde nicht verändern, nicht notwendig gebeichtet werden müssen, ebenso wenig Taten, über deren Sündhaftigkeit man im Zweifel ist (thesis 91f.).65 Keiling legt also seinen hundert Thesen weithin Gemeingut der katholischen Dogmatik zugrunde, verzichtet aber – möglicherweise aus Gründen der Präsentation auf dem Thesenblatt – auf historische und zeitgenössische Polemik, aber auch auf eine breitere historische Gelehrsamkeit. Er übernimmt auf weite Strecken die Theologie der Jesuiten, wie sie um die Mitte des Jahrhunderts in Würzburg und Bamberg gelehrt wurde, und setzt sich damit in manchem auch von seinem Lehrer in München P. Adrian Hueber klar ab. Die Thesen geben sehr gut das Bild einer im Grunde bereits kodifizierten nachtridentinischen Scholastik wieder, die sich noch im spätbarocken Glanz eines prächtigen Thesenblatts zu präsentieren weiß.

2. Der Umbruch: Heribert von Grafenstein (1778) Wie einschneidend der Übergang von der scholastischen Theologie Guarinus Keilings zur nachscholastischen in Speinshart war, zeigt sich deutlich an der Ordinata Series Propositionum [...] ex Theologia Theoretica Christiana, über die am 9. September 1778 unter Heribert von Grafenstein zum Abschluss des theologischen Kurses disputiert wurde.66 Da über den Inhalt der Schrift bereits andernorts ausführlich gehandelt wurde,67 genügt es hier, die Differenzpunkte hervorzuheben. Grafenstein, unter Keiling 1772 als Student in Ingolstadt noch Defendent, war ab 1774 Professor der Theologie am Speinsharter Hausstudium. Der Unterschied zu Keiling ist bereits optisch auffallend: Kein barockes Thesenblatt mehr, sondern eine 115 Seiten (in 4°) zählende Schrift mit 122 ausführlichen, mit Fußnoten versehenen Thesen legen die Defendenten zu öffentlicher Prüfung vor, wobei der Professor nur noch als „Assistens“, nicht mehr als Präses agiert. Auch die Kommunikationsstrukturen haben sich verändert: Die Thesen werden weitgehend in der ersten Person 63 Vgl. Platel (wie Anm. 54) pars 5 numerus 205 (Bd. 5, S. 98f.); Hueber (wie Anm. 32) thesis 17. 64 Vgl. Platel (wie Anm. 54) pars 5 caput 4 (Bd. 5, S. 126–213). 65 Dagegen ebd. pars 5 numerus 783 (Bd. 5, S. 346): „Exigit etiam confessionis integritas, ut declarentur circumstantiae notabiliter aggravantes intra eandem speciem.“ 66 Titel siehe Anm. 6. 67 Vgl. Leinsle: Disputationen (wie Anm. 3), S. 133–141; Biersack (wie Anm. 6), S. 215f.

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Plural vorgetragen, teilweise auch in dialogischer Auseinandersetzung mit Einwänden.68 In den Fußnoten, wohin die meisten scholastischen Streitigkeiten verbannt sind, wird mehrfach darauf verwiesen, dass die entsprechenden Inhalte bzw. Kontroversen auf Nachfrage mündlich beantwortet werden können, was die wohl durchwegs scholastisch gebildeten Opponenten, deren Namen wir leider nicht kennen, natürlich gerade zu diesbezüglichen Fragen auffordert.69 Gewidmet ist das Büchlein dem Abt von Speinshart und ehemaligen Professor Dr. Hermann von Brodreis. Die Umbrüche betreffen weniger die einzelnen dogmatischen Positionen, die weithin Gemeingut der katholischen Dogmatik sind, sondern die Grundkonzeption der gesamten theoretischen Theologie im Anschluss an die neuesten Lehrbücher von Benedikt Stattler SJ (1728–1797), dem Lehrer Grafensteins in Ingolstadt,70 Petrus Gazzaniga OP (1723– 1799) und Joseph Bertieri OSA (1734–1806)71 sowie von Johannes Laurentius Berti

68 So schon Grafenstein (wie Anm. 6) §1, S. 1: „Cum Theologia vi nominis denotat sermonem de Deo; nobis tacentibus cuivis patescit, oppido necessarium esse, ut vel in limine non solum formetur idea de Deo, sed insuper illius existentia summo argumentorum robore demonstretur. Huic equidem labori parcere possemus, nisi hodiedum insanientium hominum grex circumstreperet, qui si non in corde, saltem ore dicunt, non est Deus.“ [Hervorhebungen im Original] – Vgl z. B. auch ebd. § 26, S. 25: „Esto! oggerit tandem Theista, amplectar religionem Christianam; sed cuinam inter tot sectas, quae se Christanas dicunt, me associam? licetne mihi in electione esse adiaphoro? Sic interroganti respondemus: id nequaquam licere.“ 69 Z. B. ebd. § 35 Anm. t, S. 34: „Quod nobis firma mente sedeat iurisdictionem R. Pontificis tanquam Primatis ipsis Concilii Gener. esse superiorem, nolumus dissimulare.“ – Ebd. § 40 Anm. e, S. 39: Hic petenti recensebimus; quid sit sensus scripturae, & quotuplex; ex quonam firmum argumentum in theologia formari queat; quae regulae hermeneuticae pro intelligentia scripturae? – Ebd. § 41 Anm. f, S. 40: „Quaesiti exponemus; quid sit Theologia scholastica, quae eius origo, quo sensu sit scientia? Qualiter & quibus necessaria? Quae ejusdem utilitas?“ – Ebd. § 53 Anm. k, S. 50: „Num scientia meritorum decreto praedestinativo praelucens absoluta esse debeat, an vero sufficiens conditionata seu directa media? in arena determinabimus.“ – Ebd. § 77 Anm. b, S. 70: „In quo Thomistae cum Augustinianis in praesenti materia conveniant, in quo discrepant, viva voce declarabimus.“ 70 Vgl. Benedikt Stattler: Theologia Theoretica Christiana. Ingolstadt 1776. – Zu Stattler vgl. Franz Scholz: Benedikt Stattler (1728–1797). In: Katholische Theologen Deutschlands im 19. Jahrhundert. Hg. von Heinrich Fries und Georg Schwaiger. Bd. 1. München 1975, S. 11–34; Philipp Schäfer: Kirche und Vernunft. Die Kirche in der katholischen Theologie der Aufklärungszeit. München 1974 (Münchener Theologische Studien II, 42), S. 103–151. 71 Vgl. Petrus Gazzaniga: Theologiae Dogmaticae in Systema redactae Pars prior. Wien 1777; Josephus Bertieri: Theologiae Dogmaticae in Systema redactae Pars posterior. Wien 1777; zu Gazzaniga vgl. Thomas M. Wehofer: Der Dominikaner und Wiener Universitätsprofessor Petrus Gazzaniga über den pädagogischen Wert der scholastischen Methode des 18. Jahrhunderts. In: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 8 (1898), S. 191–197; zu Bertieri und Berti vgl. Manfred Brandl: Die deutschen katholischen Theologen der Neuzeit. Ein Repertorium. Bd. 2: Aufklärung. Salzburg 1978, S. 16.

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OSA (1696–1766).72 Darüber hinaus stehen im Hintergrund die inzwischen auch an den katholischen Universitäten rezipierte Philosophie Christian Wolffs (1679–1754) und die ‚eklektische‘, nur der Wahrheit, nicht aber einer bestimmten Schule verpflichtete Methode der Aufklärung.73 Die Abkehr von der Scholastik und der Anschluss an die ‚eklektische‘ Theologie der Aufklärung wird sogleich in der Vorrede deutlich gemacht: Die Methode der Anordnung der Ordinata series von Lehrsätzen ist der ordo naturalis der Wolffschen Schule. Im Sinne der Eklektik der Aufklärungszeit wollen sich die Speinsharter zu keiner Schule bekennen („in nullius verba iurare“; Horaz: Epistulae 1,1,14), weder zu Augustinus, noch zu Duns Scotus. Eine solche Sklaverei tauge nicht für einen Liebhaber der Wahrheit, der nur Christus und seiner Kirche verpflichtet ist; denn wo nicht etwas als unfehlbare Lehre definiert ist, könne man seine Meinung ändern.74 Breiten Raum (40 Seiten) nehmen am Anfang die fundamentaltheologischen Grundlegungen über Religion und Offenbarung im Anschluss an Gazzaniga ein.75 Dass scholastisches Gedankengut durchaus erhalten bleibt, beweisen etwa die Aufnahme der jesuitischen scientia media und die Ablehnung der thomistischen praemotio physica.76 Die Vereinbarkeit von Freiheit und Unveränderlichkeit des Willens Gottes wird als „aenigma theologicum“ nur unter Vorbehalt, aber eindeutig unter der Hypothese der scientia media behandelt77. Ausgeschaltet bleibt die gesamte Dämonologie, die bei Stattler und Gazzaniga noch breiten Raum einnimmt. Worin der Fall der Engel bestanden hat, ist kaum zu definieren. Mit unverkennbarem Spott bedenkt Grafenstein dabei die Ansicht des Thomisten Jacobus a S. Dominico OP (1645–1704), der Fall der Engel habe im Unglauben an die praedeterminatio physica bestanden. Dann müsste man sich allerdings wundern, dass so viele Engel nicht gesündigt haben!78 Unterschiedliche Auffassungen bei Keiling und Grafenstein zeigen sich bei der Unfehlbarkeitsfrage. Während Keiling die Infallibilität dem Papst unabhängig vom Konsens der Kirche zuschreibt, verlangt Grafenstein wenigstens die Zustimmung einiger Bischöfe und vertritt gemäßigte febronianische Positionen hinsichtlich der Rechte der Metropoliten.79 Die Abkehr von scholastischen Denkformen zeigt sich nicht zuletzt in der Gnadenlehre, wo an die Stelle der – in aristotelischen Kategorien gefassten – habituellen Gnade mit Stattler die personale Mitteilung des Hl. Geistes

72 Vgl. Berti (wie Anm. 12); Michael Klaus Wernicke: Kardinal Enrico Noris und seine Verteidigung Augustins. Würzburg 1973 (Cassiciacum 23). 73 Vgl. Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart – Bad Cannstatt 1994 (Quaestiones 5). 74 Vgl. Grafenstein (wie Anm. 6), Praefatio, fol. ***4v. 75 Vgl. ebd. § 1–41, S. 1–40. 76 Vgl. ebd. § 8f., S. 6–10. 77 Vgl. ebd. § 11 Anm. m., S. 10. 78 Ebd., § 48 Anm. q, S. 46. 79 Vgl. ebd. § 33f., S. 31f.

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tritt.80 An der strikten Ablehnung des Jansenismus bleibt dabei kein Zweifel, ebensowenig aber an der unterstellten Nähe des Thomismus und Neo-Augustinismus zum Jansenismus. Einig ist sich dagegen Grafenstein mit Keiling z. B. in der bloß moralischen Wirkweise der Sakramente;81 als Spender des Ehesakramentes sieht er allerdings nicht wie dieser die Brautleute, sondern mit Bertieri eher den Priester an.82 In der Frage des Fegefeuers beschränkt sich Grafenstein ausdrücklich auf das „dogma catholicum“ und weist alle Fragen nach Ort, Dauer und Strafen als bloßer Neugier dienlich ab.83 Wiederholt wenden sich vor allem die Anmerkungen gegen protestantische Positionen, was im konfessionell gemischten Gebiet um Speinshart von besonderer Bedeutung ist.84 So wundert sich der Verfasser über die Kritik der Protestanten an den katholischen Zeremonien, wo doch andererseits die „sapientiores“ in ihren eigenen Reihen deren Gebrauch in ihren Kirchen mit Nachdruck wünschen.85 Gegen Luthers Ausspruch vom Messe lesenden und absolvierenden Teufel wird daran festgehalten, dass im gegenwärtigen Status nur Menschen ordentliche Sakramentenspender sind.86 Streng tridentinisch und antiprotestantisch ist zudem die Messopferlehre.87 Den Protestanten wird ferner unterstellt, zu sehr dem Fleisch verpflichtet zu sein, wenn sie die Ordensleute wegen des Keuschheitsgelübdes angreifen, um dadurch Luther von der Verletzung dieses Gelübdes freizusprechen.88 Als „scandalosa“ wird die protestantische Behauptung gewertet, Ehebruch löse das Eheband zwischen Gläubigen auf.89 Dass Grafenstein und seine Schüler mit Kritik gerechnet haben, zeigt das auf der Rückseite des Titels über der Approbation des Konsistoriums von Regensburg angebrachte Motto aus Augustinus, De Trinitate 2, das aber auch als Motiv der eigenen Kritik an der Scholastik gelesen werden kann: „Nullus reprehensor formidandus est amatori veritatis. Si ergo inimicus insultat, ferendus est: Amicus autem – si docet, audiendus.“90 Das von einem anonymen „Verehrer“ herausgebrachte Ehrendenkmal für Heribert von Grafenstein greift sicher nicht zu kurz in der Bewertung dieser bedeutsamsten Schrift aus dem Speinsharter Hausstudium: „Diese Sätze sind nicht von der gewöhnlichen Art. Außer dem, daß 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90

Vgl. ebd. § 80, S. 74. Vgl. ebd. § 90, S. 83. Vgl. ebd. § 120, S. 113f. Vgl. ebd. § 122, S. 114f.; vgl. Bertieri (wie Anm. 71) pars 2 § 409–413 (S. 871–885). Über die gesellschaftlichen Kontakte zu den Protestanten, vor allem aus Neustadt am Kulm, und zu den Markgrafen von Bayreuth geben die Annales Speinshartenses reichlich Auskunft. Vgl. Grafenstein (wie Anm. 6) § 91 Anm. q, S. 85. Vgl. ebd. § 92, S. 86. Vgl. ebd. § 102–105, S. 95–99. Vgl. ebd. § 117, S. 111; nach Johannes Laurentius Berti: De theologicis disciplinis. Bamberg / Würzburg 1770, liber 37 caput 3; Bd. 4, S. 655–661. Vgl. Grafenstein (wie Anm. 6) § 118, S. 112. Augustinus: De Trinitate 2 prooemium. In: Corpus Christianorum. Series Latina 50. Turnhout 1968, S. 81, Z. 25–28.

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sie von unnützen Schulfragen durchgehends weit entfernt sind, kann man sie als eine brauchbare, in guter systematischer Ordnung abgefaßte Skizze einer katholischen Dogmatik ansehen.“91 Nicht die Einzelthesen, sondern die Abkehr von der Scholastik in der gesamten Konzeption der Thesenschrift und dahinter sicher auch seiner Vorlesungen dürften also Grafenstein jenen „wichtigen Verdruß“ bereitet haben, „der ihn schüchtern machte, und ihm alle Lust benahm, iemals [sic!] wieder als Auctor öffentlich aufzutretten“.92

3. Lehrbuchexzerpt und „Opiniones privatae“: Otto Wild (1791) Bei der Disputation Grafensteins 1778 tritt als einer der Defendenten der nachmalige Professor am Speinsharter Hausstudium Otto Wild auf. Von ihm stammt die am 19. August 1791 vorgelegte letzte bekannte Thesenschrift aus diesem Studium: Positiones ex Theologia Dogmatica.93 Über das Leben Otto Wilds ist bislang wenig bekannt.94 Als Sohn des Malers Johann Michael Wild ist er 1753 in Auerbach geboren. Sein Vater erhielt mehrere Aufträge vom Stift Speinshart, so das Deckengemälde des barocken ‚Festsaales‘ im Westflügel 1762,95 das imposante Deckenfresko aus der Apokalypse des Johannes in der Kirche zu Oberbibrach 1762/6396 und schließlich 1773 das Deckengemälde des Bibliothekssaals.97 Spätestens in diesem Jahr trat sein Sohn in Speinshart ein und legte 1774 die Profess ab. Von auswärtigen Studien erfahren wir aus Backmunds Professbuch nichts,98 finden Wild in dieser Zeit auch in keiner Universitätsmatrikel. So dürfte er seine Theologie nur unter Grafenstein in Speinshart studiert haben, die, wie wir aus der Ordinata Series sehen, auf hohem Niveau war.99 1778 wurde er zum Priester geweiht. Danach ist er als Lehrer an der Klosterschule und Bibliothekar bezeugt. 1781 wurde er von Abt Hermann von Brodreis als Professor an das den Prämonstratensern übertragene Gymnasium nach Landshut geschickt, wo von 1782 bis 1786 auch Grafenstein als Professor und Inspektor wirkte.100 Aus dieser Lehrtätigkeit in Landshut haben sich für 1784 und 1786 die gedruckten Prüfungsfragen für die rhetorischen Gymnasialklassen (die zwei höchsten Klassen) 91 Kleines Ehrendenkmal für Heribert von Grafenstein, errichtet von einem seiner Verehrer. Ingolstadt [1793], S. 8 [‚katholischen‘ im Original gesperrt]. 92 Ebd.; vgl. ebd., S. 13. 93 Titel siehe Anm. 4. 94 Vgl. Backmund (wie Anm. 7), S. 75. 95 Vgl. Christina Grimminger: „Festsäle“ in Oberpfälzer Klöstern. Ein Beitrag zur klösterlichen Saalbaukunst der Barock- und Rokokozeit. In: Knedlik / Schrott (wie Anm. 3), S. 17–37, hier S. 31f. 96 Vgl. Adolf Mörtl: Die Kirchen der Expositur Oberbibrach. Oberbibrach 1996, S. 5–15. 97 Vgl. Georg Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Bayern V: Regensburg und die Oberpfalz. München ²2008, S. 752. 98 Vgl. Backmund (wie Anm. 7), S. 75. 99 Vgl. auch Biersack (wie Anm. 6), S. 216. 100 Vgl. ebd., S. 217f.

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erhalten, die einen Einblick in die staatlich verordneten Lehrpläne, aber auch die individuelle Gestaltung der einzelnen Fächer geben.101 In Speinshart versah inzwischen Engelbert Ströhl (1755–1785) von 1782 bis 1785 das Amt des Professors am Hausstudium.102 Nach dessen frühem Tod wurde Otto Wild als Professor nach Speinshart zurückberufen. Er leitete das Hausstudium bis Herbst 1791, verstarb aber bereits am 23. Juni 1792 in Folge eines Schlaganfalls. Sein Nachfolger in Speinshart wurde Aldericus Biersack (1753– 1811), der 1794 als Professor an das Gymnasium in Straubing ging.103 Die Thesenschrift Wilds vom 29. August 1791 (einem Tag nach dem Augustinusfest) präsentiert sich relativ schlicht als Bändchen von 40 Quartseiten. Als Defendenten fungierten die Kleriker Wilhelm Wittmann (1767–1836), später selbst Professor am Hausstudium, und Hermann Hafner (1766–1810), später Professor der unteren Klassen am Gymnasium in Straubing. Beide waren bereits Diakone und wurden am 2. Oktober 1791 zu Priestern geweiht.104 Die Disputation markiert also den Abschluss des Theologiestudiums und erstreckt sich demgemäß über die ganze Theologia Dogmatica. Diese löst in der Nomenklatur der Zeit die Theologia Scholastica bzw. Stattlers und Grafensteins Theologia Theoretica ab. Das Thesenwerk ist Abt Guarinus Keiling gewidmet, dessen Tugenden und Liebe zu Wissenschaften und Künsten überschwänglich gepriesen werden.105 Während wir bei Grafenstein einen weitgehenden Anschluss an Stattler, aber auch an andere Lehrbücher feststellen können, folgt Wild in allem – oft wörtlich – den in Speinshart vorhandenen sechsbändigen Institutiones Theologicae des Aldersbacher Zisterziensers und Ingolstädter Professors P. Stephan Wiest (1748–1797), somit der

101 Gegenstände öffentlicher Prüfung, welche den Schülern der ersten rhetorischen Klasse in dem churfürstl. Schulhause zu Landshut nach dem gnädigst anbefohlenen Schulplane sind vorgetragen worden von Otto Wild, Prämonstratenser Chorherrn aus dem Stifte Speinshart, d. Z. Lehrer der obigen Klasse im Jahre 1784. Landshut [1784]; Inhalt der Prüfungsgegenstände, welche den Schülern der zweyten rhetorischen Klasse im churfürstlichen Schulhause zu Landshut sind vorgetragen worden von Otto Wild, Prämonstratenser Chorherrn aus dem Stifte Speinshart, d. Z. Lehrer der obigen Klasse, im Jahre 1786. Landshut 1786. 102 Vgl. Backmund (wie Anm. 7), S. 73f. 103 Vgl. ebd., S. 54. 104 Zu beiden vgl. ebd., S. 59 bzw. S. 76. Wilhelm Wittmann war ein Bruder des Regensburger Bischofs Georg Michael Wittmann (1760–1833); vgl. Paul Mai: Georg Michael Wittmann. In: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon. Hg. von Erwin Gatz. Berlin 1983, S. 820–822. 105 Wild (wie Anm. 5), S. 3: „Reverendissimo Perillustri ac Amplissimo Domino Quarino Sacri et Exempti Ordinis Canonici Praemonstratensis in Canonia Speinshartensi Abbati Dignissimo et Vigilantissimo, Virtutum Exemplari Fulgentissimo, Scientiarum, ac Artium Liberalium Cultori Studiosissimo, Fautori Summo, et Promotori Ferventissimo, Patri ac Maecenati perquam Gratioso, Theses has in perpetuum pietatis, & deuotionis suae monumentum ac pignus dedicant, atque consecrant Obedientes Filii Praeses et Defendentes.“

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neuesten, von Stattler gar nicht geschätzten Gesamtdarstellung der Dogmatik aus der bayerischen Landesuniversität.106 Was in Wiests Handbuch zuerst auffällt, ist die breite Einbeziehung der theologischen Literarhistorie. Jeder Traktat ist in den einzelnen Kapiteln gegliedert in die „Historia doctrinae“, die relativ kurze positive Darlegung der „Dogmata catholica“, die Auflösung der „Argumenta adversariorum“ („Theologia polemica“) und schließlich oft noch die Darlegung des Praxisbezugs („Theologia practica“, „usus“). Bd. 1 enthält überhaupt nur die „Praecognita in Theologiam revelatam in genere“ und die allgemeine Theologiegeschichte, in der weithin auch die protestantische Tradition berücksichtigt und verarbeitet wird, was zu heftigen Anfeindungen von Seiten der Ex-Jesuiten Anlass gab.107 Die scholastische Theologie findet meist nur noch historisches Interesse, die philosophische Grundlage seines Denkens ist für Wiest noch stärker als für Stattler die Philosophie Christian Wolffs in Auseinandersetzung mit der neueren Philosophie bis David Hume.108 Bd. 2 und 3 umfassen die „Theologia Dogmatica generalis“ mit den fundamentaltheologischen Traktaten „Demonstratio Religiosa“, „Demonstratio Christiana“ und „Demonstratio Catholica“. Mit großer Stringenz bezieht Wiest dann in den restlichen Bänden der „Dogmatica specialis“ die gesamte Theologie als System auf ihren zentralen Gegenstand, Gott, der zunächst in sich betrachtet wird (Bd. 4: „doctrina de Deo in se considerato“), dann als Urheber unseres Heiles (Bd. 5 und 6). Diese gegenüber der traditionellen Theologie neue Systematik hat zur Folge, dass Schöpfungslehre und Inkarnation zur Gotteslehre in Bd. 4 gezogen werden, während für die soteriologische Betrachtung dann die Sünde und deren Heilmittel (Gnade) einschließlich der sehr breit behandelten praktischen Religionsausübung („Exercitia Religionis catholicae“, Bd. 5) und der Sakramente bis zu dem von Gott geschenkten ewigen Leben behandelt werden. Aus Wiests umfangreichem Werk von über 4200 Oktavseiten geht naturgemäß nur ein schmaler, aber aussagekräftiger Auszug in die 40 Seiten der Positiones ein. Wie bei Grafenstein und den Landshuter Prüfungsgegenständen werden auch hier Präsentationsweise und Kommunikationsstrukturen deutlich, wenn Antworten auf gezielte Fragen, insbesondere zur scholastischen Tradition, in Aussicht gestellt werden oder aber ein Urteil

106 Stephan Wiest: Institutiones Theologicae. 6 Bde. Bd. 1. Eichstätt 1782; Bd. 2–3. Eichstätt 1786; Bd. 4–5. Ingolstadt 1788; Bd. 6. Ingolstadt 1789. – Für Speinshart vgl. Bayerische Staatsbibliothek München CbmC 762: Wilhelm Wittmann, Cathalogus librorum Bibliothecae Speinshartanae. – Zu Wiest und seinen Werken vgl. die grundlegende Untersuchung von Bernhard Müller: Vernunft und Theologie. Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Denken und Glauben bei Stephan Wiest (1748–1797). Regensburg 1988 (Eichstätter Studien, Neue Folge Bd. 26), hier S. 68–90; zur Kritik Stattlers ebd., S. 75. Die späteren Umarbeitungen des Lehrbuchs bleiben für unseren Zusammenhang außer Betracht. 107 Vgl. Müller (wie Anm. 106), S. 78. 108 Vgl. ebd., S. 138–240.

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verweigert wird.109 Aus dem ersten Band Wiests macht Wild im „Ingressus“ (S. 5f.) ganze sechs Thesen, in denen die Bestimmung der Theologie als „erudita religionis revelatae cognitio“ (thesis 1), ihre Systematik und Einteilung dargestellt werden. In diesem Zusammenhang werden klar die Glaubenswahrheiten von den subtilen Quästionen der Scholastiker unterschieden; zudem wird der aktuellen Ausrichtung der Theologie Rechnung getragen.110 Die „Theologia Dogmatica generalis“ Wiests (Bd. 2–3) wird in 40 Thesen auf zehn Seiten abgehandelt.111 Bei der Offenbarungslehre wird sogleich in der ersten These ganz nach Wiest gegen Girolamo Cardano, Thomas Hobbes, Pierre Bayle und David Hume argumentiert, nach denen Religion in Unwissenheit und Angst gründe.112 Gegen die „Naturalistae“ und „Theistae“ (Deisten), die nur eine natürliche Religion annehmen wollen, hält Wild an der Notwendigkeit einer geoffenbarten Religion angesichts der Verderbnis der menschlichen Natur fest (thesis 2f.). Als Wahrheitskriterien der Religion kommen innere und äußere Merkmale in Betracht, insbesondere auch Wunder und bewahrheitete Prophezeiungen (thesis 4). Darauf folgt eine Sichtung der geoffenbarten Religionen, d. h. des alttestamentlichen Judentums und des Christentums. Wo Wiest bei den einzelnen Kapiteln eine breite Literarhistorie bietet, verweist Wild lediglich vor der ersten These in Kursivdruck auf die „Historia litteraria“ und geht gegebenenfalls in Anmerkungen nach den einzelnen Thesen darauf ein. An der Verfasserschaft Moses für den Pentateuch wird festgehalten und seine Irrtumsfreiheit herausgestellt, aber für die Schöpfungsgeschichte auch auf außerbiblische Traditionen verwiesen (thesis 7f.). Die Irrtumsfreiheit der neutestamentlichen Schriften, deren Lehre durch Wunder und Prophezeiungen bestätigt ist, wird herausgestellt, während Wild wie Wiest den Argumenten von der wunderbar schnellen Ausbreitung des Christentums und der Standhaftigkeit der Märtyrer weniger Beweiskraft zubilligt (thesis 12 und 14). Die „increduli Naturalistae“ können also die Offenbarung weder als überflüssig noch als unbeweisbar noch als unmöglich abtun (thesis 16). In der Gegenwart allerdings ist das Christentum die einzige wahre Offenbarungsreligion, da (nach Wiest) das Heidentum von Absurditäten und Obszönitäten strotze, der Koran voller Fabeleien und lächerlicher Geschichten, somit Gottes unwürdig sei, das Judentum aber nach der Ankunft des Messias nicht mehr eine wahre Religion, sondern (über Wiest hinaus) angesichts vieler Absurditäten eine „vana superstitito“ geworden sei (thesis 17–20).113 109 Z. B. Wild (wie Anm. 5), S. 23: De Deo Patre Creatore, opinio 2: „Quaesiti de angelis opiniones doctorum exponimus“; ebd., S. 38: De Sacramentis, thesis 38: „De variis theologorum disputationibus de sacramentis in genere respondemus quaesiti“; ebd., S. 25: De Dei Filio, opinio 3; ebd., S. 28: De Deo hominum sanctificatore opinio 4. 110 Ebd., S. 6: Ingressus, thesis 4: „Optime noscat insuper veritates fidei a subtilioribus scholasticorum quaestionibus secernere: & praesenti potissimum tempori consulere.“ 111 Ebd., S. 7–17. 112 Ebd., S. 7: Dogmatica generalis, thesis 1; vgl. Wiest (wie Anm. 106), Bd. 2 § 20, S. 44–46; § 85–87, S. 137–143. 113 Vgl. Wiest (wie Anm. 106), Bd. 2 § 250–274, S. 450–490.

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Die Lehre von der Kirche in der „Demonstratio Catholica“ ist wenig auffällig und folgt in allem Wiest, auch hinsichtlich des Petrusamtes und der eigenberechtigten, nicht von Petrus delegierten Gewalt der Apostel (thesis 25), woraus sich die eigenberechtigte Gewalt der Bischöfe ergibt (thesis 28). Da die Kirche ein übernatürliches Ziel hat, kann sie niemals, wie die aufgeklärten (protestantischen) Gegner unterstellen, ein Staat im Staat sein (thesis 26).114 Ziemlich vage bleibt die Aussage hinsichtlich der Infallibilität in Glaubens- und Sittenlehren, die Wild den Aposteln mit ihrem Haupt Petrus ohne das bei Wiest gegebene „simul sumptis“ (thesis 27), dann aber wie Wiest den mit dem Papst vereinigten Bischöfen zuerkennt (thesis 29). Die genauere Bestimmung der Unfehlbarkeit im Konzil und außerhalb wird schließlich mit Wiest der Literarhistorie zugewiesen (thesis 36).115 Ist mit den allgemein anerkannten Merkmalen die römisch-katholische Kirche als einzig wahre herausgestellt, muss die Falschheit der übrigen dargetan werden (thesis 32f.), wobei Wild nicht zuletzt gegen den religiösen Indifferentismus ankämpft. Als Quellen der Theologie erscheinen schließlich gut tridentinisch Schrift und Tradition, wobei auf den unterschiedlichen Kanon bei Katholiken und Protestanten und die entsprechenden Streitfragen explizit eingegangen wird (thesis 34f.). Gewissheit für die Auslegung ist weder im (pietistischen) Subjektivismus („spiritus privatus“) noch bei den hermeneutischen Regeln der Gelehrten der protestantischen Orthodoxie oder Neologie („hodiernos sic dictos Reformatores“) zu finden (thesis 36). Wichtigstes Indiz der Wahrheit ist der consensus Patrum, während die natürliche Vernunft nur Prinzip der abgeleiteten Aussagen ist. Die bei Wiest auf die Kraft ihrer Argumente restringierte Autorität der scholastischen Theologen tritt in der Prinzipienlehre Wilds gar nicht mehr auf.116 In der „Theologia Dogmatica specialis“ gibt Wild bei den einzelnen Traktaten zunächst einen Hinweis auf die in der „Historia litteraria“ und „Polemica“ bei Wiest behandelten alten und neuen Gegner der einzelnen dogmatischen Lehren. Diese Lehren werden von den jeweils in kleinerem Druck angefügten „Opiniones privatae non dogmaticae“ unterschieden, die wieder auf die theologische Literarhistorie rekurrieren. Die Darlegung der eigentlich dogmatischen Lehre wird dadurch nach Lehrbuchart relativ kurz und wenig signifikant. Dies zeigt sich sogleich bei der Gotteslehre, die ganz nach Wiest gestaltet ist, in der im Wesentlichen in fünf Thesen nur die Existenz und Eigenschaften des „ens necessarium“ dargelegt werden, während die Fragen eines theoretischen Atheismus, der Existenz von Völkern ohne Gottesglauben (gegen Bayle), der Erkenntnisweise Gottes einschließlich der scientia media und die nach Wild weder nützlichen noch notwendigen „famosa systemata“ zur Harmonisierung von göttlichem Willen und menschlicher Frei-

114 Vgl. ebd., Bd. 3 § 305, S. 665f.; zu den vor allem protestantischen Argumenten vgl. Matthias Fritsch: Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung. Naturrechtliche Begründung – konfessionelle Differenzen. Hamburg 2004 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 28), S. 134, 227, 260. 115 Vgl. Wiest (wie Anm. 106), Bd. 3 § 311–313, S. 671–673; § 348, S. 740f. 116 Vgl. ebd. § 377, S. 811.

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heit in die „Opiniones privatae“ abgetan werden.117 Die Einbeziehung einer dogmengemäßen Exegese zeigt sich im Hinweis, dass Bibelstellen, in denen von einem Wandel des Willens Gottes in Abhängigkeit von Affekten (Reue, Zorn usw.) die Rede ist, entsprechend ausgelegt werden müssen (thesis 4).118 Den gleichen Eindruck hinterlässt die Trinitätslehre, in der u. a. mit Wiest das sogenannte Komma Johanneum (1 Joh 5,7 Vg) als echt herausgestellt wird (thesis 8), während die Fragen nach einer Trinitätsauffassung im Alten Testament und einer natürlichen Beweisbarkeit der Dreifaltigkeit als mühsam und unnütz gemieden werden.119 Im Unterschied zu Wiest schließt Wild an die Trinitätslehre nicht sogleich den Inkarnationstraktat an, sondern folgt der älteren heilsgeschichtlichen Systematik, indem er zunächst die auf Gott-Vater bezogene Schöpfungslehre (einschließlich der Engel) samt der Göttlichen Vorsehung darlegt („De Deo Patre Creatore et Provido Gubernatore“),120 die bei Wiest erst nach der Inkarnationslehre folgt. Wild lehnt hier wie schon Grafenstein die vor allem von Isaac de le Peyrère (1594–1676) vertretene Existenz von Präadamiten ab, bezeichnet einerseits den biblischen Schöpfungsbericht als „historica, non vere philosophica“, d. h. im zeitgenössischen Sprachgebrauch als nicht streng wissenschaftlich, hält aber andererseits die wörtliche Auslegung immer noch für die beste.121 Christologie und Soteriologie werden relativ ausführlich in zehn Thesen dargestellt,122 angefangen vom Sündenfall und der Erbsünde, die (mit Wiest) nicht in der Konkupiszenz besteht, sondern – unter Hintansetzung aller Theorien der Scholastiker – nur in der Unfähigkeit, das Endziel durch moralische Verdienste zu erreichen. Sie hebt deshalb die Willensfreiheit nicht auf.123 Eine allegorische Deutung der Paradieseserzählung wird abgelehnt. Die Art der Fortpflanzung der Erbsünde bleibt offen, wobei auch die bei Wiest ausführlich zitierte Theorie des protestantischen Theologen Gottfried Leß (1736–1797) abgelehnt wird.124 Die Frage nach der Notwendigkeit der Satisfaktion Christi und der 117 Vgl. Wild (wie Anm. 5), S. 18f.: De Deo uno; Wiest (wie Anm 106), Bd. 4 § 104–153, S. 137–197; zu den Opiniones privatae ebd. § 13, S. 20–22, § 65–73, S. 87–99. 118 Vgl. Wiest (wie Anm 106), Bd. 4 § 140, S. 180–184. 119 Vgl. Wild (wie Anm. 5), S. 20f.: De Deo in personis trino; Wiest (wie Anm. 106), Bd. 4 § 270–317, S. 370–450; zu den Opiniones privatae ebd. § 200f., S. 271–274; § 268, S. 365f.; § 251–260, S. 338–248; zum Komma Johanneum § 264–267, S. 352–365. 120 Vgl. Wild (wie Anm. 5), S. 21–23; Wiest (wie Anm. 106), Bd. 4 § 497–535, S. 747–809. 121 Vgl. Wild (wie Anm. 5), S. 21f.: De Deo Patre Creatore thesis 3; opinio privata 1; Wiest (wie Anm. 106), Bd. 4 § 500 Coroll., S. 759; Grafenstein (wie Anm. 6) § 50, S. 47; zum Schöpfungsbericht Wiest (wie Anm. 106), Bd. 4 § 483–487, S. 722–731; § 525, S. 794f. 122 Vgl. Wild (wie Anm. 5), S. 23–25: De Dei Filio Incarnato Hominum Redemptore; zur Inkarnationslehre Wiest (wie Anm. 106), Bd. 4 § 391–415, S. 570–600. 123 Vgl. Wild (wie Anm 5), S. 23f.: De Dei Filio, thesis 3; ebd., S. 25: opinio 2; zur Hamartologie und Soteriologie Wiest (wie Anm. 106), Bd. 5 § 44–157, S. 128–330. 124 Vgl. Wild (wie Anm. 5), S. 25: De Dei Filio, opinio 1f.; Wiest (wie Anm. 106), Bd. 5 § 15–29, S. 29–82.

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Erlösung wird schlicht als „magis curiosa, quam utilis“ abgetan und der Streit zwischen Thomisten und Molinisten, ob Christus für alle individuellen Menschen in gleicher Weise gestorben sei, mit deutlicher Ironie unentschieden gelassen.125 Den gesamten zweiten Teil des 5. Bandes von Wiests Institutiones, die praktische Religionsausübung, lässt Wild aus126 und schließt wie Grafenstein an die Soteriologie unmittelbar die Gnadenlehre („De Deo Hominum sanctificatore per gratiam“) an.127 In der „Historia litteraria“ fällt dabei der Name des protestantischen Philosophen und Theologen Johann August Eberhard (1739–1809) auf, mit dem sich Wiest auseinandersetzt.128 Eine äußerlich-imputative Rechtfertigung des Menschen wird (gegen die Protestanten) abgelehnt und die Natur der aktuellen Gnade am ehesten in die Erleuchtung des Intellekts und eine Bewegung des Willens verlegt, wobei den scholastischen Gnadensystemen der Frühen Neuzeit zwar historischer Tribut gezollt wird, sie aber als museal und für die aktuelle Diskussion als überflüssig betrachtet werden.129 Wie Wiest kennt Wild keine allgemeine Sakramentenlehre, sondern führt mit einer allgemeinen These in die Behandlung der einzelnen Sakramente ein und hängt an die Ehelehre als Korollarien nur zwei Thesen über die Sakramente insgesamt an.130 Die nachtridentinische Sakramentenlehre wird in 38 Thesen dargelegt.131 Die „Opiniones privatae“ betreffen vor allem die Einsetzung und geschichtliche Entwicklung der einzelnen Sakramente, so z. B. die Ungültigkeit einer ohne trinitarische Formel nur im Namen Jesu gespendeten Taufe, die Unklarheit bezüglich Materie und Form der Firmung und die Möglichkeit, die Firmspendung an einen Priester zu delegieren.132 Bei der Eucharistielehre werden die Versuche, die Datierungen des Letzten Abendmahls bei Johannes und den 125 Vgl. Wild (wie Anm. 5), S. 25: De Dei Filio, opinio 2f., bes. opinio 3: „Nemo nostrum, partes inter adeo potentes, facile erit arbiter.“ Wiest (wie Anm. 106), Bd. 5 § 100–119, S. 229–264. 126 Vgl. Wiest (wie Anm. 106), Bd. 5, S. 395–918: caput 3 „De Deo salutis nostrae auctore per religionis, eiusque exercitionum determinationem“. – Dieser Teil wurde bereits in der zeitgenössischen Kritik bemängelt; vgl. Müller (wie Anm. 106), S. 83. 127 Vgl. Wild (wie Anm. 5), S. 26–28; Wiest (wie Anm. 106), Bd. 6, S. 3–352: caput 1. 128 Vgl. Wiest (wie Anm. 106), Bd. 6, § 8, S. 29–35; zu Eberhard Gerda Haller: Johann August Eberhard (1739–1809), ein streitbarer Geist an den Grenzen der Aufklärung. Mit einer Auswahl von Texten Eberhards. Halle/Saale 2000 (Schriftenreihe zur Geistes- und Kulturgeschichte). 129 Vgl. Wild (wie Anm. 5), S. 27: De Deo hominum sanctificatore thesis 5; opinio 1; ebd., S. 28 opinio 4: „Systemata ab Augustinianis, Thomistis, Molinistis, aliisque excogitata [...] inter praeclaros excellentium ingeniorum partus debita cum reverentia reponimus [...] sed candide fateri, non indignum cum S. Augustino putamus – nos nescire haec iungere.“ Wiest (wie Anm. 106), Bd. 6 § 65– 67, S. 226–240; § 52, S. 191–194; § 80–83, S. 274–289. 130 Vgl. Wild (wie Anm. 5), S. 38: De Sacramentis thesis 37f.; Wiest (wie Anm. 106) Bd. 6 § 261–264, S. 800–807. 131 Vgl. Wild (wie Anm. 5), S. 28–38: De Sacramentis; Wiest (wie Anm. 106), Bd. 6 caput 2 (S. 353–848). 132 Vgl. Wild (wie Anm. 4), S. 29f.: Baptismus, opinio 3; Confirmatio, opinio 2f.; Wiest (wie Anm. 106), Bd. 6 § 185, S. 640–642; § 193f., S. 657–661.

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Synoptikern zu harmonisieren, angesprochen und die Frage des gesäuerten oder ungesäuerten Brotes im Unterschied zu Wiest aus den Dogmata in die „Opiniones privatae“ verschoben.133 Die Ablässe werden im Rahmen des Bußsakramentes im Unterschied zu Wiests ausführlicher Erörterung nur in einer einzigen These thematisiert.134 Das Diakonat wird im Unterschied zu Wiest nicht als sakramentaler ordo angesehen; über die Bischofsweihe wird nichts gesagt.135 Bei der Ehelehre werden in den „Opiniones privatae“ stärker als bei Wiest Naturrecht und staatliches Eherecht einbezogen. Naturrechtlich betrachtet erscheint die Ehe nur als temporäre, auflösbare Verbindung; ebenso ist naturrechtlich Polygamie zulässig. Das Recht des Staates, Ehehindernisse festzulegen, wird anerkannt und durch die kirchlichen Ehehindernisse nicht beeinträchtigt.136 Die Eschatologie weicht bereits in der Überschrift durch die Einbeziehung der ewigen Verdammnis der Bösen von Wiest ab, der insgesamt mehr die ewige Seligkeit als Endziel des Menschen thematisiert. Material ist jedoch der Anschluss an Wiest in den Thesen beibehalten. Bei der „Historia litteraria“ fällt der Hinweis auf die zeitgenössischen Irrtümer bezüglich eines Lebens nach dem Tod auf, wo Wiest u. a. Leibniz und Georg Bernhard Bilfinger (1693–1750) behandelt.137 Mit großer Zurückhaltung verweist Wild wie Grafenstein die Fragen nach dem Partikulärgericht unmittelbar nach dem Tod, nach Ort, Dauer und Art des (bei Wiest im Rahmen der Religionsausübung in Bd. 5 behandelten) Fegefeuers in die „Opiniones privatae“, da vieles nur Gott bekannt sei. Dagegen hält er mit Wiest ein reales Höllenfeuer für vertretbarer als einen „ignis metaphoricus“, während die ewige Seligkeit nach Ansicht der Defendenten in der Abwesenheit alles Schlechten und der Anwesenheit alles Guten besteht.138

133 Vgl. Wild (wie Anm. 5), S. 31: De Sacramentis thesis 15: „minister adhibere debet panem triticeum, & vinum de vite ceu materiam“; dagegen Wiest (wie Anm. 106), Bd. 6 § 206, S. 687: „Materia sacramenti Eucharistiae est panis et quidem Azymus, atque vinum de vite“; Wild (wie Anm. 5), S. 32: Eucharistia, opinio 1f.; Wiest (wie Anm. 106), Bd. 6 § 134f., S. 436–446. 134 Vgl. Wild (wie Anm. 4), S. 34: De Sacramentis thesis 25; Wiest (wie Anm. 106), Bd. 6 § 220–228, S. 724–743. 135 Vgl. Wild (wie Anm. 5), S. 36 Ordo, opinio 2 ; Wiest (wie Anm. 106), Bd. 6 § 242, S. 773–776. 136 Vgl. Wild (wie Anm. 5), S. 37f.: Matrimonium, opinio 1–4; Wiest (wie Anm. 106), Bd. 6 § 170– 172, S. 592–608. 137 Vgl. Wild (wie Anm. 5), S. 38–40: „De Deo Remuneratore bonorum per aeternam felicitatem, et vindice malorum per aeternam damnationem“; Wiest (wie Anm. 106), Bd. 6 caput 3, S. 849–959; zur Historia litteraria vgl. ebd. § 287, S. 850f. 138 Vgl. Wild (wie Anm. 5), S. 40: De Deo Remuneratore opinio 1–4; bes. opinio 4: „Naturam et indolem beatitudinis coelestis […] reponimus in absentia omnis mali, & praesentia omnis boni“; Wiest (wie Anm. 106), Bd. 6 § 288, S. 852–854; § 293, S. 867–870; § 295, S. 871–877; Bd. 5 § 301–305, S. 718–729.

Die Disputation in der Spätzeit des Hausstudiums der Prämonstratenserabtei Speinshart

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4. Vergleich Bei wohl kaum einem Medium akademischer Wissenskultur sind Inhalt und Form so eng miteinander verbunden wie bei der Disputation. Vergleicht man nun die drei Thesenschriften des Speinsharter Hausstudiums, so fällt nicht nur der Wandel der äußeren Gestalt vom barocken Thesenblatt zur kleinen Thesenschrift in die Augen. Es werden auch Kontinuitäten deutlich, die in der materialen Darlegung der posttridentinischen Theologie bestehen. Das Paradigma ändert sich jedoch von einem in der scholastischen Theologie noch gegebenen Anschluss an die Summa Theologiae des Aquinaten zu einer theoretischen, weithin auf fundamentaltheologischen Überlegungen basierenden Theologie bzw. Dogmatik. Zugleich verändern sich die Kommunikationsstrukturen der Disputation: Die Defendenten agieren als Subjekte, die zu Fragen einladen und Antworten in Aussicht stellen. Den eigentlichen Umbruch von der Scholastik zur nachscholastischen Theologie vollzieht in Speinshart Heribert von Grafenstein. Seine Thesenschrift ist auch das gründlichste Zeugnis dieser Schule in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Sein Schüler Wild bereichert die Theologie zwar durch die Einbeziehung der Literarhistorie, bleibt aber in seinem engen Anschluss an Wiest im theologischen Format deutlich hinter Grafenstein zurück. Welche Theologie der in der Disputation Wilds beteiligte Wilhelm Wittmann dann vertreten hat, entzieht sich leider unserer Kenntnis, da aus seiner Lehrtätigkeit bislang keine Zeugnisse vorliegen. Die viel erörterten Gegenstände scholastischer Disputationen werden in Speinshart also deutlich marginalisiert, in Anmerkungen oder Fußnoten verbannt oder als „Opiniones privatae“ der weiteren, zwar nicht verbotenen, aber als weithin irrelevant betrachteten Diskussion der Theologen überlassen: „impune disceptant theologi“139.

139 Wild (wie Anm. 5), S. 34: De Poenitentia opinio 1: „An tres poenitentiae partes, scilicet, contritio, confessio, & satisfactio sint materia, nec ne?? & quaenam sit sacramenti huius materia? – impune disceptant theologi.“

Ulrich Rasche (Göttingen/Wien)

Cui bono? Doktorpromotionen ungarländischer Studenten in Jena 1789–1819 1. Ungarländische Studenten in Jena Von 1789 bis 1819 lassen sich insgesamt 1373 Immatrikulationen ungarländischer Studenten an 21 deutschen Universitäten nachweisen. Davon entfallen 544 (40 %) auf Jena, 307 (22 %) auf Göttingen, 134 (10 %) auf Wittenberg und 388 (28 %) auf die anderen 18 Universitäten.1 Die Universität Jena war also in diesem Zeitraum mit Abstand die meistbesuchte Peregrinationsuniversität ungarländischer Studenten. Diese bildeten dort noch vor den ebenfalls sehr zahlreichen Balten die größte Gruppe der nicht aus dem Gebiet des Alten Reiches bzw. Deutschen Bundes stammenden Studenten. Die Mehrzahl der ‚Jenaer Ungarländer‘ dieser Periode kam aus Oberungarn, etwa ein Viertel aus Siebenbürgen. Ihrer Konfession nach waren sie ganz überwiegend evangelisch-lutherisch. Die siebenbürgischen Studenten sind fast alle Deutsche gewesen (Siebenbürger Sachsen). Bei denen aus Oberungarn waren die Deutschen (Zipser Sachsen) gegenüber den an den großen evangelischen Landesschulen in Pressburg, Kesmark, Schemnitz, Leutschau, Neusohl und Oedenburg erzogenen und deshalb auch der deutschen Sprache mächtigen Slawen (Slowaken) eindeutig in der Minderheit. Alles in allem stellten die Slowaken das Gros der ‚Jenaer Ungarländer‘. Beinahe alle diese Studenten haben auf der Basis einer zumeist sehr gründlichen semiuniversitären humanistischen Grundlagenausbildung in ihren Herkunftsregionen in Jena Theologie studiert und dem damaligen Zuschnitt des Theologiestudiums entsprechend neben den eigentlichen theologischen auch die philologisch-philosophischen wie die mathematisch-naturwissenschaftlichen Vorlesungen der philosophischen Fakultät besucht.2 Sie galten als still, zurückgezogen, fleißig, wissbegierig, gebildet und waren im Schnitt älter als 1 So die Zahlen aufgrund einer Auszählung der Listen bei László Szögi: Magyarországi Diákok Németországi Egyyetemeken És Föiskolákon 1789–1919 (Ungarländische Studenten an den deutschen Universitäten und Hochschulen 1789–1919). Budapest 2001. Etwas davon abweichende Zahlen geben die Tabellen ebd. S. 33 und S. 30. 2 Vgl. Ulrich Rasche: Von Fichte zu Metternich. Die Universität Jena und ihre ungarländischen Studenten um 1800. In: Peregrinatio Hungarica. Studenten aus Ungarn an deutschen und österreichischen Hochschulen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. von Marta Fata, Gyula Kurucz und Anton Schindling. Stuttgart 2006 (Contubernium 64), S. 197–226, mit Verweis auf die ältere Literatur, insbesondere Herbert Peukert: Die Slawen der Donaumonarchie und die Universität Jena 1700– 1848. Berlin 1958 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Insti-

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ihre Jenaer Kommilitonen aus dem Reichs- bzw. Bundesgebiet; an den gerade in Jena überaus aktiven studentischen Reformbewegungen haben sie sich so gut wie nicht beteiligt.3 Zahlreiche ungarländische Studenten zog es hingegen in die 1797 gegründete Mineralogische Gesellschaft4 und in die Lateinische Gesellschaft, die nach der Übernahme des Vorsitzes durch den Professor Carl Abraham Eichstädt im Jahr 1800 wieder aufblühte.5 Die folgende kleine Studie über die Doktorpromotionen dieser nicht nur Hinblick auf ihre Studieninteressen und ihr Bildungsprofil außerordentlich interessanten Studentengruppe beruht auf einer Durchsicht aller dafür in Frage kommenden Bestände des Jenaer Universitätsarchivs6 sowie der darüber hinaus relevanten Quellen. Der Beginn des

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tuts für Slawistik 16), und Othmar Feyl: Beiträge zur Geschichte der slawischen Verbindungen und internationalen Kontakte der Universität Jena. Jena 1960. Ein von Metternich beauftragter Agent, der 1818 in Weimar-Jena verdeckte Ermittlungen über revolutionäre Umtriebe anstellen sollte, berichtete nach Wien: „Die in Jena studierenden Ungarn zeichneten sich von jeher als ordentliche, solide Menschen aus, welche auch neuerdings ihren Ruf bey den Wartburger Studentenfeste bewiesen haben, indem keiner dabey befangen und einen thätigen Antheil genommen hat. Es sind in diesem Zeitpunkt 26, sämmtlich der Theologie beflissene Ungarn und Siebenbüger in Jena gegenwärtig, sie haben schon in ihrem Vaterlande die theologischen Studien vollendet, und sie kommen auf die Universität nur auf zwey Jahre, um sich durch eine höhere geistliche Ausbildung auch den höheren geistlichen Würden fähig zu machen. Daher kömmt es, daß es nur Leute von reifern, gesetztern Alter, und zwar von 23–30 Jahren, sind, welche an den sogenannten Burschenleben, welches meist von Jünglingen von 17–22 Jahren auf den deutschen Hochschulen und auch in Jena getrieben wird, wenig Reitz finden und es ihrer nicht würdig halten. Daher sticht ihr ernstes Benehmen, ihr zurückgezogenes, bloß auf dem Kreise ihrer Landsleute beschränktes Leben auffallend gegen das sogenannte burschikose Leben der deutschen Jugend ab. Überdies zeichnen sie sich durch einen großen Fleiß und durch eine besondere Verwendung aus, welche selbst in Jena als Muster aufgestellt wird.“ Willy Flach: Ein Polizeiagent Metternichs bei Goethe. Eine unbekannte Quelle zum Wartburgfest 1817. In: Festschrift für Wolfgang Vulpius. Weimar 1957, S. 7–35, hier S. 15. Dem Agenten war freilich die Teilnahme von sechs ungarländischen Studenten am Wartburgfest verborgen geblieben, siehe Rasche: Von Fichte zu Metternich (wie Anm. 2), Anm. 89. Johanna Salomon: Die Sozietät für die gesamte Mineralogie zu Jena unter Goethe und Johann Georg Lenz. Köln/Wien 1990 (Mitteldeutsche Forschungen 98), S. 82–101. Außer bei Salomon finden sich ferner Briefe ungarischer Mitglieder an Lenz bei Klára Benedek: A Jénai ásvanytani társaság Magytar tagjai. Budapest 1942. Zu den Mitgliedern: Feyl: Slawische Verbindungen (wie Anm. 2), S. 282–284; János Szabó: Ungarische Studenten und Gelehrte unter Goethes Präsidentschaft. Zur Geschichte der „Societät für die gesammte Mineralogie zu Jena“. In: Rezeption der deutschen Literatur in Ungarn 1800–1850, Teil 2. Zeitschriften und Tendenzen. Hg. von László Tarnói. Budapest 1987, S. 137–158. Feyl: Slawische Verbindungen (wie Anm. 2), S. 278–280. Zur Geschichte der Gesellschaft: Herbert Jaumann: Die Societas Latina Ienensis (1734–1848). In: Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650–1820), Teil 3. Hg. von Detlef Döring und Kurt Nowak. Stuttgart/Leipzig 2002, S. 33–70. Im wesentlichen sind das die Archivalien der philosophische Fakultät, und zwar: 1) ein Kandidatenbuch 1700–1820 (A 2547a) mit den nach Dekanaten chronologisch geordneten Listen der Kandi-

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Untersuchungszeitraums ergibt sich aus der von Szögi gesetzen Zäsur, das Ende markiert das Metternichsche Studienverbot von 1818, das den Zuzug ungarländischer Studenten nach Jena für viele Jahre unterband.7 Ich werde zunächst die einzelnen Promotionsfälle in chronologisch-nummerierter Abfolge besprechen und anschließend die Befunde sowohl aus der Perspektive der Kandidaten als auch der Fakultäten erörtern, d. h. ich werde versuchen, Zahl, Art und Umstände der Promotionen, der erfolgreichen wie der gescheiterten, aus einer Konstellation von beiderseitigen Motiven und Interessen sowie aufgrund der ebenfalls in den Quellen aufscheinenden zeit- und sachspezifischen Hintergründe zu erklären.8 Insgesamt möchte ich damit sowohl einen Beitrag zu den individuellen Biografien und zur kollektiven Profilierung dieser Studentengruppe als auch zur Praxis des vormodernen Promotionswesens leisten, dessen Erforschung Hanspeter Marti mit seinen exzellenten Studien über Disputationen und Dissertationen maßgeblich vorangetrieben hat.9

2. Wunsch und Wirklichkeit: Promotionsgeschichte(n) aus den Akten (1) Der erste Fall, auf den man bei einer chronologischen Durchsicht der Quellen ab 1789 stößt, stammt erst aus dem Jahr 1799. Am 28. April 1799 überbrachte der ungarische Student Paul Czászári dem Dekan der philosophischen Fakultät Lorenz Daniel Succow sein lateinisches Promotionsgesuch (Abb. 1).10 Er gab an, dass er bereits designierter Professor an einem Gymnasium in Ungarn sei, und bat um einen Teilerlass der Promotionsgebühren, die damals etwa 45 Reichstaler

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daten, das nicht immer regelmäßig geführt worden ist; 2) zwei Fakultätsprotokollbücher 1754– 1794/95 (M 740) und 1795–1829/30 (M 740a), in denen die jeweils für ein Semester amtierenden Dekane genauestens über ihre Amtshandlungen und alle die Fakultät betreffenden Vorkommnisse berichteten, und schließlich 3) die von den Dekanen für jedes Semester angelegten Akten selbst, enthaltend deren Umlaufschreiben (Missive) mit den Voten der Professoren, Promotionsgesuche, Abrechnungen, Quittungen, Exemplare der Doktorurkunden usw. Für die Zeit vom Sommersemester (SS) 1789 (M 190) bis zum Wintersemester (WS) 1819/20 (M 244) fehlen lediglich acht dieser Dekanatsakten (WS 1805/06, SS 1806, WS 1806/07, SS 1807, WS 1807/08, WS 1808/09, SS 1811, SS 1814). Vgl. ausführlicher dazu und auch zu den Beständen der anderen Fakultäten Ulrich Rasche: Quellen zum frühneuzeitlichen Promotionswesen der Universität Jena. In: Promotionen und Promotionswesen an deutschen Universitäten der Frühmoderne. Hg. von Rainer A. Müller. Köln 2001 (Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen 10), S. 81–110. Szögi: Ungarländische Studenten (wie Anm. 1); Rasche: Von Fichte zu Metternich (wie Anm. 2). Die Listen der in Jena promovierten Ungarländer bei Feyl: Slawische Verbindungen (wie Anm. 2), S. 60f. und S. 299, sind unvollständig, ohne Kommentare und Nachweise. Siehe dessen Schriftenverzeichnis im Anhang dieses Bandes. Universitätsarchiv Jena, M 210, Bl. 46a.

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Abb. 1: Lateinisches Promotionsgesuch von Paul Czászári, 1799, Universitätsarchiv Jena, M 210, Bl. 46a

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betrugen.11 „Ich mußte ihm freilich eröffnen“ – so der Dekan in seinem Umlaufschreiben vom gleichen Tag an die Fakultät –, „daß ich Ursache zu zweiffeln hätte, ob die Fakultät mit dieser offerte zu frieden seyn möchte. Er erröthete – und nachher erfuhr ich, daß er wirklich von einem andern Ungarn hieselbst erhalten würde. Da er über eine Stunde bei mir war und wir von manchen Dingen redeten, so muß ich bekennen, daß der Hr. Candidat mir sehr wohl gefiel und ich ihn für einen Mann halten muß, der nicht geringe Kenntnisse besitzt.“ Der Dekan empfahl daraufhin seinen Kollegen, die Promotion trotz der Minderzahlung der Gebühren zu genehmigen. Von dieser Promotion versprach sich der Dekan nämlich einen langfristigen Nutzen für die Fakultät: „Auch ex capite politico“ – so schrieb er in besagter Fakultätsmissive – „halte ich mich verpflichtet, zu wünschen, daß er seinen Zweck und wir zugleich die Hoffnung durch ihn erhalten mögen, daß künftig mehrere Ungarn diese Academie besuchen, welches ohne Empfehlung ihrer Lehrer schwerlich erfolgen wird.“12 Die Fakultät stimmte zu und zeigte sich auch in der Frage der Prüfungsleistung entgegenkommend. Während der Dekan immerhin noch die Möglichkeit ins Auge fasste, dass der Philologieprofessor Christian Gottfried Schütz „im Conseß eine kleine Unterredung mit demselben anstellen könnte“, schlossen sich die Professoren dem Votum des Fakultätsseniors Justus Christian Hennings an: „Wenn H. Czassari bereits Professor designatus am Gymnasium ist, so fällt das Examen weg, zumahlen da die Hungarn, ehe sie zu uns kommen, gar streng examinirt werden, und derjenige, der nicht vorzügliche Kenntnisse hat, wird gar nicht auswärts gelassen.“13 Czászári erhielt sein Jenaer Doktordiplom vom 25. Mai 1799, in dem er auf eigenen Wunsch als „professor designatus gymnasii Csurgoviensis“ (Kaschau) bezeichnet wurde, wohl kurz vor seiner Abreise also ohne jegliche Prüfung und für etwa die Hälfte der sonst fälligen Gebühren.14 (2) Der zweite Fall ist der Versuch eines ungarischen Studenten, die Promotion für einen Abwesenden zu erreichen. Am 1. Mai 1799 schrieb der reformierte Student Anton von Pázmándy (immatrikuliert 23. 4. 1798) an die philosophische Fakultät: „Ich ersuche [...] die hochlöbliche Philosophische Facultät gehorsamst mich in den Stand zu setzen, daß ich meinen vielgeliebten Lehrer – Herrn Stephan Márton ersten Professor an dem Superintentialen MutterCollegium der Reformirten über die Donau zu Pápa in Ungarn – mit einem Ehrendiplom der Philosophischen Doctorwürde überraschen könne.“ Er offerierte der Fakultät nur das Geld für den Druck des Diploms und für die Offizianten und bat sie, auf ihren eigenen Anteil an den Promotionsgebühren, der stets den Löwenanteil der Pro11 Vgl. Ulrich Rasche: Geld, Ritual und Doktorurkunde. Zur Rationalisierung des Promotionsverfahrens im 17. und 18. Jahrhundert am Beispiel der philosophischen Fakultät der Universität Jena. In: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 9 (2006), S. 83–99, hier S. 96. 12 Universitätsarchiv Jena, M 210, Bl. 47a. 13 Ebd. Bl. 59b-60a. 14 Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung Nr. 88 (17. Juli 1799), Sp. 698. Diplom: Universitätsarchiv Jena, M 210, Bl. 63. Vgl. zu dem ganzen Fall auch das Fakultätsprotokoll, M 740a, S. 47f.

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motionsgebühren ausmachte,15 zu verzichten. Dafür versprach er: „Eine solche Ehrenbezeugung würde gewiß für die hiesige Universität, auch für die hochlöbliche philosophische Facultät insonderheit manche angenehmen Folgen haben.“16 Die Fakultät lehnte dieses Gesuch in ihrer Sitzung vom 4. Mai jedoch ab. Sie fürchtete, andere und ältere ungarische Schullehrer, die ebenfalls ihre Zöglinge nach Jena schickten, vor den Kopf zu stoßen, wenn sie sie nicht auch ehrenhalber promovierte. Eine solche „Multiplication“ ihrer Diplome wollte die Fakultät vermeiden.17 (3–5) Großzügiger war die Fakultät drei Jahre später im Falle der beiden ehemaligen Jenaer Studenten Samuel Bodo (immatrikuliert 14. 10. 1797) und Matthias Liptay (immatrikuliert 23. 10. 1798). Am 17. April 1802 berichtete Johann Christian Hennings, Dekan der philosophischen Fakultät, in einem Umlaufschreiben seinen Kollegen von einem Gespräch mit dem ungarischen Hofmeister Carl Martin Grylusz.18 Dieser habe ihm mitgeteilt, dass maßgebliche Kräfte auf dem bevorstehenden Landtag in Pressburg „wegen der Fichtischen Philosophie“ den Universitätsbesuch in Jena verbieten wollten. Dass sich diese Kräfte voraussichtlich nicht durchsetzen würden, sei – so Grylusz, der dies auch schriftlich formulierte – vor allem den beiden ehemaligen Jenaer Studenten Samuel Bodo und Matthias Liptay zu verdanken, die in Ungarn eifrig darauf hinwirkten, einflussreiche Landtagsvertreter umzustimmen. Grylusz bat darum, Bodo und Liptay mit der philosophischen Doktorwürde auszuzeichnen, um ihr Ansehen zu erhöhen, ihnen so für ihren Einsatz zu danken und sie weiterhin darin zu bestärken. Die Fakultät stimmte dieser Bitte noch am gleichen Tag zu, gewährte gebührenfreie Promotionen und übernahm sogar die Druckkosten für die Doktordiplome. Außerdem war sie Grylusz für dessen wichtige Informationen so dankbar, dass sie ihm gleich auch noch gratis den Doktortitel verlieh. Als Grylusz am Nachmittag des gleichen Tages wieder bei Hennings erschien, widerstand 15 Vgl. Rasche: Geld, Ritual und Doktorurkunde (wie Anm. 11), S. 96. 16 Universitätsarchiv Jena, M 210, Bl. 48a. 17 Protokolleintrag des Dekans Lorenz Johann Heinrich Succow über die Fakultätssitzung vom 4. Mai 1799 (Universitätsarchiv Jena, M 740a, S. 47): „Nachdem ich Hrn. von Pázmandi Schreiben vorgelegt, aüßerte ich meine Meinung dahin: Es wäre mir bedencklich einem Manne, deßen Geschicklichkeit ich nicht kennte, durch ein Diplom h. c. gleichsam einen Ehrentitel aufzudringen, und dadurch allen disen übrigen würdigen Professoren und SchulLehrern Ungarns vor dem Kopf zu stoßen, die, wie das die täg. Erfahrung lehrte, sich so thätig erwiesen, ihre Schüler nach Jena zu senden. Die Folgen würden ganz gewiß für uns nicht vortheilhaft seyn, es wäre denn, daß wir, wenigstens die ältesten diser Lehrer, ebenfalls honoris causa das Diplom überlieferten. Unanimia vota […] genehmigten das Erste, liebten aber die Multiplication der Diplome nicht, und trugen mir auf, Hrn. von Pázmandi ohne Rückhalt anzuzeigen, daß so sehr wir auch geneigt wären sein Verlangen zu erfüllen, wir es doch nicht wagen dürften, wenn wir nicht älteren und ebenfalls geschickten Lehrern Ungarns vor dem Kopf stoßen solten, deren Folgen mit vielen Unannehmlichkeiten und Bedenklichkeiten verknüpft wären. Dieses ward demselben bekandt gemacht.“ 18 Der ehemalige Jenaer Student Carl Martin Grylusz (immatrikuliert 27. 8. 1796) war zu diesem Zeitpunkt Hofmeister der beiden adligen Ungarn Johann Pronay (immatrikuliert 5. 10. 1801) und Maxilimian Pronay (immatrikuliert 7. 10. 1801).

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der Dekan sogar der Versuchung, das von Grylusz angebotene Geld für die Druckkosten anzunehmen, „um diese Defensores unsrer Academie noch mehr aufzumuntern, unsere Academie zu empfehlen“. Der Dekan hoffe, so seine abschließende Nachricht an die Fakultät, „da alle drei Subjekte von ihren Principalen sehr hoch geschätzt werden, daß ihre Vorstellungen nicht fruchtlos seyn werden“.19 Diese Hoffnung erfüllte sich; es gab kein Studienverbot des ungarischen Landtags. Darüber dürfte die Universität sehr froh gewesen sein, hatte sie sich doch soeben erst von dem Wiener Studienverbot erholt, das den Zuzug ungarländischer Studenten nach Jena 1800 vollständig zum Erliegen gebracht hatte.20 Der Schock über den kurzzeitigen Verlust der wichtigsten ausländischen Besuchergruppe saß tief. Auf drei gratis vergebene Doktordiplome kam es deshalb 1802 gewiss nicht an. (6) Der zweite ungarische Student, der im Untersuchungszeitraum tatsächlich als Jenaer Student in der philosophischen Fakultät promovieren wollte, war der Siebenbürger Joseph Traugott Klein, der sich am 12. Oktober 1802 in Jena immatrikuliert hatte. Am 4. Juni 1804 informierte der Dekan der philosophischen Fakultät seine Kollegen über Kleins Promotionsgesuch. Klein bat ebenfalls um eine Minderung der Promotionsgebühren und versprach, innerhalb von drei Wochen sowohl eine Probeschrift einzureichen als auch das Geld zu bezahlen; er wolle sich dann sogar den Examina stellen. Die im Universitätsgericht gegen ihn anhängige Schuldklage seiner Hauswirtin sei – so der Dekan – „nicht von der Art, daß es ihn seines Zeugnisses unwürdig machte“.21 Die Fakultät stimmte dem Gesuch zu.22 Am 28. Juli musste der Dekan freilich ins Protokollbuch notieren, dass Klein noch nichts bezahlt habe.23 In den nächsten Wochen verklagten immer mehr Jenaer Handwerker, Kaufleute und Wirte Klein wegen unbezahlter Rechnungen, so dass Klein im August in Schuldhaft genommen wurde. Nachdem er Ende August eine größere Sum19 Vgl. Universitätsarchiv Jena, A 2547a (Kandidatenbuch), Bl. 94a, ferner M 216, Bl. 59–66 (Zitate Bl. 59a, 63b), mit den drei Doktordiplomen vom 16. April 1802 für Carl Martin Grylusz, Samuel Bodo und Matthias Liptay, sowie ebd. Bl. 166–121 die Dankschreiben von Bodo und Liptay an die Fakultät und schließlich die Zusammenfassung des Dekans im Protokollbuch, Universitätsarchiv Jena, M 740a, S. 76: „Mancherley fatale Umstände, die sich auf dem ungarisch. Landtage, der den 2ten May seinen Anfang nimmt zu Pressburg, ereignen, erzählt mir näher Herr Hofmeister Grylusz. S[siehe] Missive unter den 17 April. Die Vorstellungen desselben bewogen die Facultaet, dem Hn. Grylusz, Hn. Liptay und Hn. Bodo Doctordiplome ohne alle Kosten zu geben. Ich ließ also solche bey Etzdorf drucken, und werde das Geld der Facultaets Casse abziehen. Nehmlich 3 Rthl. Die Subalternen bekommen nichts, weil wir selbst auch nichts erhalten, sondern honoris caussa die promotion gegeben.“ Vgl. detailliert zum Vorgang im Kontext der Entstehung der Ehrenpromotion in Jena: Joachim Bauer und Joachim Hartung: Die Ehrendoktoren der Friedrich-Schiller-Universität in den Geisteswissenschaften 1800 bis 2005. Hg. von Klaus Dicke. Jena und Weimar 2007, S. 18–20 (und die Abbildungen der Diplome ebd. S. 53–55). 20 Vgl. Rasche: Von Fichte zu Metternich (wie Anm. 2). 21 Universitätsarchiv Jena, M 220, Bl. 50a. 22 Ebd. Bl. 51a. 23 Universitätsarchiv Jena, M 740a, S. 104.

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me von zu Hause erhielt, konnte er einen Teil seiner Gläubiger befriedigen. Er wurde aus dem Karzer entlassen und trat im Oktober 1804 seine Heimreise an. Doch verfolgten ihn noch 1807 und 1808 Jenaer Schuldforderungen bis ins siebenbürgische Bistritz, wo er inzwischen Lehrer am Gymnasium war. Klein hat in Jena wesentlich über seine Verhältnisse gelebt.24 Die beabsichtigte Promotion ist also gescheitert. Offensichtlich konnte er sie sich gar nicht leisten. (7) In gewisser Weise gilt das auch für Franz von Dobsa, immatrikuliert am 23. August 1802, der sein Promotionsgesuch ebenfalls noch während seines Jenaer Aufenthalts stellte. Dobsa zählte freilich nicht zu den typischen ungarländischen Studenten seiner Zeit, denn er war zum Zeitpunkt seiner Promotion bereits vierzig Jahre alt, katholisch und stand eigenen Angaben zufolge sogar in kaiserlichen Diensten. Außerdem gehörte er der Lateinischen und der Mineralogischen Gesellschaft an, deren Bibliothekar er war. Am 20. April 24 Die sehr ausführlich, leider aber wegen eines Wasserschadens zum Teil nicht lesbare Schuldenakte Kleins, Universitätsarchiv Jena, E I, 697, enthält neben Protokollen über die zahlreichen Vernehmungen der Gläubiger auch zwei Briefe Kleins (vom 5. Sept. 1807, ebd. Bl. 17a-19b, und vom 25. Januar 1808, ebd. Bl. 29a-30b). Klein hat zuletzt mit dem Brief vom 5. September 1807 einen größeren Geldbetrag nach Jena geschickt und um eine behördliche Bescheinigung darüber gebeten, daß er nun schuldenfrei sei. Eine genaue Prüfung ergab aber, daß noch immer erhebliche Schulden unbeglichen waren. Klein sah sich im Nachhinein als jugendliches Opfer gezielter Verführung durch die Jenaer Wirte, wie er in seinem Brief vom 5. September 1807 an den Rektor schrieb (ebd. Bl. 17a ff.): „Nach vielem überstandenem Ungemach, in welches mich die vielen Wucherer der sonst ausgezeichneten Universitäts-Stadt Jena gestürzt hatten, langte ich endlich im Oct. 1804 in meiner Vaterstadt an. Reichliche Wechsel von meinem Vater reichten nicht hin, die Unersättlichkeit der ränkevollen Gastwirthen daselbst zu tilgen. Mit erbärmlicher Schmeichelei, die ein junges Menschen vertrauendes Gemüth langsam einwiegt, lockten sie auch mich zu mancher Ausgabe hin, die mein Beutel nicht erreichen konnte. Menschen sind es, die den angenehmen Aufenthalt in der Mitte der Weisen zum anerkannten Schaden der Jenaer Akademie in eine Hölle verwandeln.“ Nun kommt ein Argument, das in Jena beachtet werden musste: „Welcher liebende erfahrne [17b] Vater wird seinen unverdorbenen Sohn Jena’s geheiligten Mauern anvertrauen, ohne ängstlich besorgt um dessen sittliche Wohlfahrt zu seyn, wenn er weiß, daß die Jugendverführung in schmeichelnden Ausdrüken die Jugend zum Essen einladet, blos um das Vergnügen zu haben, in seiner Gesellschaft zu speisen, welches der arme Betrogene über kurz oder lang zehnfach bezahlen muß? Jedes Mittel ergreift der Wucherer, stiftet tausend Vergnügungen, öfnet dem Leichtsinn einen fürchterlichen Pump, bereitet ein Asyl allen Lastern und verschaffet damit den Schülern Ihrer Academie auf 6–10 Jahre Unruhe des Herzens. In Jena fürchten sie sich vor dem Conto-Mandat und nehmen sehr gerne unsere Handschriften an – aber in unsern Vaterlande erwachen wir aus den Träumen und erkennen unter der […] [19a] Jenaer Gastwirthen Freundschaft – die niederste Wucherei.“ Der Jenaer Prorektor scheint sich ob solcher Argumente sehr dafür eingesetzt zu haben, dass Kleins Gläubiger ihre Forderungen in Maßen hielten. Jedenfalls dankte Klein in seinem Brief vom 28. Januar 1808 dafür, dass „Ew. Magnifizenz sich für mein Schiksale und für den guten Ruf der Jenaischen Academie kräftig verwendet haben“ (ebd. Bl. 29a). Klein hat gewiss die erbetene Bescheinigung seiner Schuldfreiheit nie erhalten, denn eine Restschuld blieb immer noch. Sie ist wohl nie beglichen worden; die Akte bricht mit Kleins zweitem Brief ab.

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1804 hat er sich mit einer in den Akten nicht überlieferten Probeschrift zur Promotion in der philosophischen Fakultät gemeldet. Von der mündlichen Prüfung ist er aufgrund eines Votums von Carl Abraham Eichstädt befreit worden, der ihn aus seiner Lateinischen Gesellschaft als einen „nicht ungeschickten jungen Mann“25 kannte (Abb. 2). Wegen der Promotionsgebühren bat Dobsa um Stundung. Er erwarte täglich Geld. Obwohl manche Professoren dazu rieten, ihm erst die Doktorurkunde auszuhändigen, wenn die Gebühren bezahlt waren, oder wenigstens eine Sicherheit zu verlangen, erhielt Dobsa bereits am 23. April das Doktordiplom.26 „Wir würden“ – so der Geschichtsprofessor Christoph Gottlob Heinrich – „bei allen Ungarn, oder vielmehr bey allen rechtlichen Männern anstoßen, wenn wir einen so würdigen, geachteten u. reifen Candidaten nicht trauen wollten. Wie delicat ein Ungar hierüber denkt, ist bekannt genug. Allenfalls will ich für ihn caviren“ (Abb. 2).27 Später dürfte Heinrich allerdings froh gewesen sein, dass er nicht für Dobsa gebürgt hat, denn im Juni war das angekündigte Geld angeblich immer noch nicht eingetroffen. Er werde auf jeden Fall bezahlen, wisse aber noch nicht wann, schrieb Dobsa an die Fakultät, und beschwerte sich zugleich darüber, dass „man so crass den Schatten des Mißtrauens in mich setzt mit zudringlichen Adversionen.“28 Die Fakultät vertraute ihm offenbar nicht mehr und vermutete wohl, dass er Geldeingänge verheimlichte. Sie erhielt ihr Geld Anfang Juli 1804 erst, nachdem der Pedell Christian Gottlieb Nitzschke alle für Dobsa in Jena einlaufenden Gelder amtlicherseits mit Arrest belegt hatte. Nitzschke bekam die fälligen Promotionsgebühren daraufhin von dem Jenaer Bürgermeister Johann Christoph Jakob Paulsen, an den Dobsa sich offenbar sein Geld schicken ließ.29 Dieses Verfahren hat Dobsa sehr erbost. Er fühlte sich in seiner Ehre verletzt und verlangte sogar Satisfaktion: Bei einem „40.jährigen Mann in hohen kayserlichen Bedienstungen“ – so tobte er in einem zornigen Brief an die Fakultät – „konnte doch so viel Discretion erfolgen, daß man ihm wenigstens solches Attentat voraus ankündigen thäte? Leider! geschah dieß alles nicht! 25 Universitätsarchiv Jena, M 220, Bl. 27b. 26 Vgl. Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung Nr. 86 (30. Mai 1804), Sp. 694; Universitätsarchiv Jena, M 220, Bl. 30a (Diplom); Eintrag im Kandidatenbuch zum Sommersemester 1804: A 2547a, Bl. 95b. 27 Universitätsarchiv Jena, M 220, Bl. 27b. Fakultätsprotokoll: M 740a, S. 101. 28 Universitätsarchiv Jena, M 220, Bl. 58a. 29 Vgl. die Missive des Dekans Johann August Heinrich Ulrich vom 6. Juli 1804 zur Abrechnung der Promotionsgelder Dobsas (Universitätsarchiv Jena, M 220, Bl. 61a). Die Familie Paulsen war durch Verwandtschaft und Patenschaft eng mit der akademischen Elite Jenas verflochten, vgl. Katja Deinhardt: Stapelstadt des Wissens. Jena als Universitätsstadt zwischen 1770 und 1830. Köln/Weimar/ Wien 2007 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe 20), S. 219–230. Das hat den Zugriff Nitzschkes auf das Geld Dobsas gewiss erleichtert, zumal die Bürger in solchen Fällen sowieso verpflichtet waren, die Geldeingänge der Studenten anzugeben, vgl. Achatius Ludwig Carl Schmid: Zuverlässiger Unterricht von der Verfassung der Herzogl. Sächs. Gesamtakademie zu Jena. Jena 1772, S. 269f.

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Abb. 2: Voten der Professoren zur Promotion von Franz von Dobsa, 1804, Universitätsarchiv Jena, M 220, Bl. 27b

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Vielmehr raubt mir ein Famulus mein Eigenthum, mit dem schändlichsten Eingriff, vor der Nase weg??!!! und prostituirt mich auf diese entehrende Art, öffentlich! Wer gibt mir nun Satisfaction? Ich versichere aufs Theuerste, und auf die beleidigte Ehre, was doch alle Schätze der Welt überwiegen mag, daß ich sie haben muß.“30 Der Dekan traute sich indes zu, Dobsa zu beruhigen, und war letztlich mit dem Amtseifer Nitzschkes einverstanden: „So viel ist gewiß, daß ohne Nitzschkes Wachsamkeit wir auch dismal von Hn. Dobscha kein Geld erhalten hätten. Also ne sic quidem male.“31 (8) Dass Franz von Dobsa wohl nicht der Ehrenmann war, für den er sich ausgab, zeigte sich wenig später im Fall der Promotion seines Landsmanns Paul Schuska, der sich am 27. April 1801 an der Jenaer Universität eingeschrieben hatte. Schuska hielt sich bereits nicht mehr in Jena auf, als Dobsa im Juni 1804 die philosophische Fakultät um dessen Promotion bat. Auch in diesem Fall ging es ausschließlich um die Promotionsgelder. Die Fakultät verlangte die Bürgschaft Dobsas und die Rückbürgschaft des eben genannten Bürgermeisters Paulsen. Dobsa weigerte sich, eine solche Rückbürgschaft einzuholen. Er hielt das für ehrenrührig. Er hat sich nur selbst für Schuskas Geldzahlung verbürgt, womit sich die Fakultät am 21. Juli 1804 schließlich zufrieden gab.32 Sie wartete nun auf das Geld, hielt die Doktorurkunde für Schuska aber einstweilen noch zurück. Am 29. Januar 1805 bekam die Fakultät einen Brief von Schuska, der sich wunderte, warum das Doktordiplom noch nicht eingetroffen war. Er habe bereits Ende September 1804 das von der Fakultät geforderte Geld an Dobsa geschickt. Nachdem sich Dobsa auf zweimalige Nachfrage des Dekans in dreisten Ausflüchten erging, sich mehrmals verleugnen ließ und einiger Lügen überführt wurde, stand für die Fakultät fest, dass Dobsa das Promotionsgeld seines Landsmanns unterschlagen wollte.33 Nun kam die Sache vor das Universitätsgericht, worüber sich leider nicht viel sagen lässt, weil die darüber vorhandene Akte arg lädiert und nicht benutzbar ist.34 Jedenfalls gelang es der Fakultät am 24. April 1805, Dobsa wenigstens einen Teil der Schuskaschen Promotionsgelder zu entwinden.35 30 Undatierter, wohl Anfang Juli verfasster Brief Dobsas an die Fakultät (Universitätsarchiv Jena, M 220, Bl. 59a). Am 5. Juli erkundigte sich Dobsa schriftlich nach den Rechtsgrundlagen des Vorgehens (ebd. Bl. 60a). 31 Universitätsarchiv Jena, M 220, Bl. 61a. 32 Universitätsarchiv Jena, M 740a, S. 103; M 220, Bl. 71a-71b (Missive vom 21. Juli 1804). 33 Universitätsarchiv Jena, M 740a, S. 110f. In der Dekanatsakte, M 221, Bl. 66–68, 70, 81, überliefert sind leider nur die Missiven des Dekans, nicht aber die in dieser Sache ergangenen Briefe Schuskas und Dobsas. Ebd. Bl. 66 schrieb der Dekan: „Man sieht aus allen, Hr. Dobscha hat das Geld unterschlagen, und bey sn. Mädchen in Lobeda [bei Jena], wo er beständig aufliest, verthan.“ 34 Universitätsarchiv Jena, E I, Nr. 757. 35 Universitätsarchiv Jena, M 220, Bl. 94a-94b; M 740a, S. 113 (Fakultätsprotokoll zum 24. April 1805): „Vertheilte [...] Ulrich“ – der Dekan des Sommersemesters 1804 – „das Geld für Hn. D. Schuska, soviel nämlich H. D. v. Dobsa bezahlet hatte, weil dieser leugnet, ein Mehreres erhalten zu haben. Jedoch habe […] Ulrich deswegen an H. D. Schuska geschrieben, und ist die Antwort abzuwarten.“ Am 3. März 1806 beriet die Fakultät erneut über die Angelegenheit. Einhellige Meinung

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Sein Doktordiplom36 hat Schuska letztlich Geld und viel Ärger, aber keine Prüfungsleistungen gekostet. Franz von Dobsa hat Jena vermutlich im Mai 1805 verlassen.37 (12) An den Jenaer Doktorurkunden scheint Dobsa freilich Gefallen gefunden zu haben. Am 20. November 1806 erwarb er – ohne Examen und Disputation/Dissertation, also vermutlich in Abwesenheit – auch noch den medizinischen Doktortitel.38 Er ist der einzige Ungar unseres Untersuchungszeitraums, der von der Jenaer medizinischen Fakultät promoviert worden ist.39 (9–10) Zuvor, am 12. Juni 1805, hatten sich die erst kurz zuvor immatrikulierten Ungarn Samuel Baló (4. 5. 1805) und Jacob Melczer (13. 5. 1805) zur Promotion in der philosophischen Fakultät gemeldet. Beide hofften, das nötige Geld für die Promotionsgebühren noch zu bekommen.40 Sehr wahrscheinlich haben sich diese Hoffnungen aber

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war, dass Dobsa der Fakultät nichts mehr schulde, wohl aber Schuska, der demnach offenbar doch nicht alle von der Fakultät verlangten Promotionsgebühren an Schuska überwiesen hatte. Ulrich sollte nochmals an Schuska schreiben (ebd. S. 125). Die Sache verlief wohl im Sande; im Protokollbuch gibt es jedenfalls keinen weiteren Eintrag mehr dazu. Universitätsarchiv Jena, M 221, Bl. 82 (ausgestellt auf den 28. Juli 1804). Im Kandidatenbuch wird Schuskas Meldung zur Promotion zwar zum Sommersemester 1804 verzeichnet; als promoviert wird er aber erst zum Sommersemester 1805 geführt (A 2547a, Bl. 95b, 96b). Universitätsarchiv Jena, A 821, Bl. 72b, ist das Konzept eines akademischen Zeugnisses vom 26. Mai 1805, mit dem dem „Doctor der Philosophie Franz Edler von Dobscha aus Ungarn, dermalen zu Lobeda“, am 26. Mai 1805 bestätigt wird, dass er nicht mehr „actu studens“ ist und „seinen akademischen Cursus auf hiesiger Akadmie vor einiger Zeit bereits vollendet hat.“ Universitätsarchiv Jena L 393/1, Bl. 179b (Kandidatenbuch); L 395, Bl. 97a (Fakultätsprotokoll zum 20. November 1806): „Erhielt H. Heinrich Hornschuh aus dem Gothaischen nach vorherigem Colloquium das Doctor Diploma so wie auch H. Doctor Philosophiae Franciscus a Dobscha aus Ungarn ohne Dissertation, weil letzterer schon vieles rühmliche geschrieben. Der 1 rt. an den botanischen Garten wurde ihm erlassen.“ Im Examenprotokollbuch (Universitätsarchiv Jena, L 405) gibt es keinen Eintrag über diese Promotionen. Dafür wurde Dobsas medizinische Promotion im Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung Nr. 13 (11. Februar 1807), Sp. 105, angezeigt. Im Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (Dezember 1813), Sp. 377, wird die medizinische Promotion von „Johann Christian Seiz, aus Siebenbürgen“ angezeigt. Seiz gab in der Universitätsmatrikel (12. 4. 1813) aber Kärnten als Herkunft an. In das Novizenbuch, in das sich alle neuen Studenten eintragen mussten, die noch nicht an einer anderen Universität studiert hatten, schrieb er in der Rubrik ‚Vaterland‘: „Illyrische Provinz Oberkärnthen“, und in der Rubrik ‚Geburtsort‘: „Stadlo bei Neuschweditz in Ostgallizien“ (Universitätsarchiv Jena, BA 1666, Bl. 51b–52a). Mit dieser Herkunftsbezeichnung firmiert er auch im Kandidatenbuch (L 393/1, Bl. 192b: „Stadlo-Polonus“) sowie im Examensprotokollbuch der medizinischen Fakultät (L 405, Bl. 145b: „Stadlo in Gallizien“). Die Herkunftsangabe im Intelligenzblatt ist also wohl ein Fehler. Kandidatenbuch (Universitätsarchiv Jena, A 2547a, Bl. 96b): „Noch haben sich bey mir zur Promotion gemeldet: 1) (….), 2) H. Melzer Hungarus 3) H. Balo Hungarus.“ Fakultätsprotokoll (M 740a, S. 113) zum 12. Juni 1805: „Auch der Ungar H. Melzer hat sich gemeldet, doch erwarte er erst sein Geld. Eben so der Ungar H. Balo.“

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nicht erfüllt. Es gibt jedenfalls keinerlei Hinweise auf den Vollzug der beiden Promotionen. (11) Viel mehr als die Tatsache selbst kann auch über die am 31. Mai 1806 in Abwesenheit erfolgte Promotion von Andreas Simonyi aus Pest nicht angegeben werden.41 Im Untersuchungszeitraum hat weder in Jena noch an einer anderen deutschen Universität ein Student dieses Namens studiert.42 Sollte es sich nicht um jenen schon am 5. Mai 1773 immatrikulierten Andreas Simon handeln, dessen Sohn Samuel Simon (immatrikuliert 24. 10. 1803) seit dem Wintersemester 1803/04 in Jena studierte und die Promotion seines von ihm hochverehrten Vaters43 vermittelt haben könnte, dann wäre dies die erste Promotion eines Ungarn, der nicht in Jena studiert hat. (13) Letzteres gilt gewiss für Julius Thomas Liebbald, der zwar aus Böhmen stammte, hier aber behandelt werden soll, weil er zum Zeitpunkt seiner Promotion Lehrer am Lyzeum in Keszthely war. Er hatte sich nicht an die Fakultät gewandt, sondern an den Ökonomieprofessor Karl Christoph Gottlieb Sturm, der der Fakultät in jenen Jahren mehrere Kandidaten vermittelt hat. Obwohl Liebbald also in Jena völlig unbekannt war, außer der Empfehlung Sturms nur ein paar Zeugnisse vorlegen und noch nicht einmal die vollen Gebühren anbieten konnte, folgte die Fakultät der Empfehlung ihres Dekans Johann Heinrich Voigt, der laut seines Umlaufschreibens vom 5. Juni 1815 von einer solchen Promotion erwartete, „noch mehr solche uns Ehre machende Candidaten aus dem Auslande zu bekommen“.44 (14) Im Gegensatz zu Liebbald war der Slowake Johann Seberinyi ein ehemaliger Jenaer Musterstudent (immatrikuliert 4. Mai 1804), der schon in seiner Jenaer Studienzeit sowohl der mineralogischen als auch Eichstädts Lateinischer Gesellschaft angehört hatte.45 Er sei – wie der Dekan Eichstädt in seiner Missive vom 1. April 1817 an die Fakultät ausführte – „ein mir wohl bekannter, vielseitig gebildeter, auch durch Schriften rühmlich bekannter Mann, der nun als Prediger zu Kochanoch in Ungarn unsern Doctorgrad zu erhalten wünscht“, freilich „mit einiger Erleichterung der Gebühren, weil er eine starke Familie hat“. Die Promotion wie auch der erbetene Teilerlass der Gebühren seien ihm zu bewilligen, so der Dekan, der noch eine in den Akten leider fehlende und auch nicht 41 Universitätsarchiv Jena, A 2547a, Bl. 99a; M 740a, S. 128 (Eichstädt zählt die in seinem Dekanat vom Sommersemester 1806 vorgenommenen Promotionen auf ): „Hr. Andreas Simonyi in Pesth – für 10 Gulden in Wiener Banknoten, die er nach Empfang des Diploms überschickte. Decan. Acten fol. 46–49.“ Die Dekanatsakte dieses Semesters ist leider nicht überliefert. 42 Vgl. das Namensregister von Szögi: Ungarische Studenten (wie Anm. 1). 43 Das Vater-Sohn-Verhältnis zwischen diesen beiden Studenten bezeugt August Luwig Haan: Jena Hungarica sive memoria Hungarorum a tribus proximis saeculis Academiae Jenensi adscriptorum. Gyulae 1858, S. 125: „Samuel Simon, Dobschensis. Coluit patrem Andream, superius laudatum“ (id est ebd., S. 78). 44 Universitätsarchiv Jena M 234, Bl. 42a-49b (Zitat Bl. 42a), 54a, 91a (Diplom fehlt); M 740a, S. 233f. 45 Vgl. Peukert: Slawen der Donaumonarchie (wie Anm. 2), S. 83–85.

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näher bezeichnete Probeschrift Seberinyis beilegte.46 Dabei kann es sich eigentlich nur um Seberinyis 1816 in Pressburg erschiene Schrift Pietatis Monumentum gehandelt haben (Abb. 3). Seberinyi verfasste dieses vierzigseitige Büchlein, das dem Rektor der Jenaer Universität und nunmehrigen Großherzog Carl August „nomine Huncarorum [!] olim academiae huic adscriptorum“ zugeeignet ist, wohl anlässlich der Erhebung Sachsen-Weimar-Eisenachs zum Großherzogtum 1815.47 Es ist ein glänzender lateinischer Panegyricus auf den Kultur- und Bildungsraum Weimar-Jena, erst auf Weimar und Großherzog Carl August, den es geradezu überschwänglich feiert, dann auf die Jenaer Universität (S. 16 ff.).48 Mit seinem Lob auf die Professoren, die gelehrten Gesellschaften, die Institute, die Bibliothek sowie auf den 1815 eingerichteten Ungarntisch im Jenaer Konvikt49 wirkt es beinahe wie eine Werbung für den Universitätsbesuch der Ungarn in Jena.50 Die Fakultät hatte wirk46 Universitätsarchiv Jena, M 238, Bl. 21a-21b. 47 Bereits 1805 hatte Seberinyi als Jenaer Student eine lateinische Rede zum Geburtstag Carl Augusts im Rahmen einer Festveranstaltung der Mineralogischen Gesellschaft gehalten; abgedruckt in den Schriften der Societät für die gesamte Mineralogie zu Jena, Bd. 2. Jena 1806, S. 237–250: „Jo. Seberinyi Welitsna / Arvensis Hungari / Candidati Theologiae / Societatis Mineralog. Ducalis Ab Epistolis / Oratio / Ad Natalem Diem / Serenissimi Principis / Caroli Augusti / Ducis Saxoniae Celsissimi / Rite Concelebrandum / In Societate Mineralogica Ducali / Die Dieta VIII Sept. MDCCCV.“ 48 Seberinyi hatte sein Büchlein schon 1816 an Eichstädt geschickt, der es dann in die von ihm geleitete Universitätsbibliothek gab. Das Exemplar der Universitätsbibliothek Jena (4 H. l. VI, 14) enthält vorne folgende handschriftliche Eintragung Eichstädts: „Librum hunc a clarissimo auctore ex Hungaria ad me transmissum in Bibliothecam academicam intuli d. 16 Decembr. a. 1816. Henr. Car. Abr. Eichstadius Bibliothecae Praefectus.“ Ebenfalls 1816 hatte Seberinyi ein Exemplar an Goethe gesandt; es sollte dem weimarischen Großherzog Carl August vorgelegt werden, s. Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform, Bd. 7 (1816–1817). Weimar 2004, Nr. 663. 49 Vgl. Günter Steiger und Otto Köhler: Unbekannte Dokumente der Völkerfreundschaft 1815–1819. Jena 1970; Rasche: Von Fichte zu Metternich (wie Anm. 2), S. 212–216. 50 Zum Beispiel tadelte Seberinyi S. 17 diejenigen bäuerischen Ungarn („homines opici“), die glauben, es gebe keine umfassendere und gediegenere Bildung als die, die sie sich selbst in den dunklen Schulen ihrer eigenen Lehrer verschafften („qui existimant nullam esse ampliorem, nullam solidiorem scientiam ea, quam ipsi in umbraculis suorum doctorum sibi comparassent“). Um den Irrtum dieser Leute zu widerlegen („ut horum imprimis errorem refellamus“), sei es erlaubt, nun namentlich über die Männer zu reden, durch die gerade eine Universität Deutschlands, natürlich Jena, sich in neuester Zeit ausgezeichnet habe („liceat hic nominatim de illis viris dicere, quibus vel una Germaniae Academia, nimirum Jenensis, novissimis temporibus anteivit“) und deren öffentliche Verdienste um die Wissenschaft gefeiert werden, solange den Künsten und Wissenschaften die ihnen gebührende Ehre erhalten bleibt („quorum in re literaria publica merita, quamdiu artibus disciplinisque suus constabit honos, celebrabuntur“). Nun (S. 17f.) folgt eine panegyrische Aufzählung Jenaer Professoren seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Was für erstrangige Gelehrte – heißt es anschließend (S. 18) – seien es doch („Ecce! o cives! quanta familia, immo respublica principum in doctrinis virorum“), die in wenigen Jahrfünften in dem beschaulichen Jena an der Saale zusammengeströmt seien („qui intra pauca lustra in urbe modica ad Saalam confluxerunt“) und, durch das schwesterliche

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Abb. 3: Titelblatt: Johann Seberinyi: Pietatis Monumentum. Preßburg 1816, Universitätsbibliothek Jena, 4 H.l. VI, 14

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lich allen Grund, Seberinyi für diese Schrift dankbar zu sein. Sie stimmte deshalb den Vorschlägen ihres Dekans in allem zu. Sie wünschte (wohl aus leidvoller Erfahrung) allerdings, dass die geminderten Gebühren „vor Ausfertigung des Diploms erlegt seyn“51 müssen. Diese Bedingung hat Seberinyi offenbar nicht erfüllen können, so dass auch seine Promotion nicht an der Qualifikation, von der die Fakultät im Falle eines ungarischen Kandidaten sowieso immer überzeugt war, sondern an den Kosten gescheitert ist.52 Erst 1839 bekam der inzwischen einflussreiche und hochrangige slowakische Theologe und Reformer die Ehrendoktorwürde der Jenaer theologischen Fakultät.53 (15–16) Die einzigen theologischen Ungarnpromotionen innerhalb des Untersuchungszeitraums waren ebenfalls Ehrenpromotionen. Im Zuge des Reformationsjubiläums verlieh die Fakultät am 31. Oktober 1817 dem ehemaligen Jenaer Studenten und damaligen Oedenburger Superintendenten Johann Kis (immatrikuliert 8. 10. 1792) die theologische Doktorwürde sowie dem Pastor zu Valdor-Jalve Georg Poedver die theologische Lizentiatenwürde.54 (17) Die vorletzte hier zu behandelnde Promotion ist die von Joseph Gödör (immatrikuliert 3. 5. 1817). Gödör verband sein am 25. November 1818 an die philosophische Fakultät gerichtetes Promotionsgesuch zugleich mit dem Antrag auf Habilitation,55 also auf die Erlaubnis, Vorlesungen halten zu dürfen. Er war in unserem Untersuchungszeitraum der einzige ungarische Kandidat mit solchen Ambitionen und deshalb auch der

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Band der Wissenschaften verbunden („& sororio disciplinarum viculo juncti“), sich um die ganze Gelehrtenwelt auf hochberühmte Weise verdient gemacht haben („de toto eruditorum orbe praeclarissime meruerunt“). Er würde – so Seberinyi (S. 19) – wenn er die Werke aller dieser Männer – ganz zu schweigen von noch vielen anderen – nennen wollte, eine ganze Bibliothek beschreiben („Quorum omnium, ut multos alios taceam, si opera scripta […] nominare vellem, jam bibliothecam describerem“). Universitätsarchiv Jena, M 238, Bl. 21a-21b, vgl. ferner das Fakultätsprotokoll, M 740a, S. 254. Aus den Akten geht nur noch hervor, dass Eichstädt am 2. April an Seberinyi einen Brief schrieb, in dem er ihm die Promotionsbedingungen mitteilte, Universitätsarchiv Jena, M 238, Bl. 50b, 52a; M 740a, S. 254. In das Kandidatenbuch hat man Seberinyi nicht eingetragen. Siehe unten Anm. 89. Universitätsarchiv Jena, J 130, Bl. 261b; Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung Nr. 90 (November 1817), Sp. 716; Bauer/Hartung: Ehrendoktoren Geisteswissenschaften (wie Anm. 19), S. 86, 90. Poedver lässt sich nicht als ehemaliger Student an deutschen Universitäten nachweisen, vgl. das Register bei Szögi: Ungarländische Studenten (wie Anm. 1). Vgl. zu einem solchen Verfahren im Detail Ulrich Rasche: Johann Philipp Gablers Jenaer „Habilitationspromotion“ 1778 – eine Quellendokumentation zur Geschichte des älteren Promotionswesens in Jena. In: Johann Philipp Gabler (1753–1826) zum 250. Geburtstag. Hg. von Karl-Wilhelm Niebuhr und Christian Böttrich. Leipzig 2003, S. 87–144, sowie zur Entwicklung des Habilitationsverfahrens seit dem frühen 19. Jahrhundert ders.: Studien zur Habilitation und zur Kollektivbiographie Jenaer Privatdozenten 1835–1914. In: Klassische Universität und akademische Provinz. Die Universität Jena Mitte des 19. bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Hg. von Matthias Steinbach und Stefan Gerber. Jena 2005, S. 129–191.

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einzige, der sich echten akademischen Prüfungen stellen musste.56 Zwar wurde (am 26. November) auch ihm der Doktortitel bewilligt, ohne dass er eine mündliche Prüfung abzulegen brauchte. Doch musste er am 5. Dezember seine schon mit dem Promotionsgesuch vom 25. November eingereichte und nach der am nächsten Tag erfolgten Zulassung zur Habilitation dann auch gedruckte Dissertation verteidigen (Abb. 4).57 Am 31. Dezember 1818 hielt er zur Zufriedenheit der Fakultät noch eine Probevorlesung. „Er erwarb sich demnach legitime die veniam legendi“,58 von der er bereits im Wintersemester 1818/19 „durch Eröffnung exeget. Vorlesungen Gebrauch gemacht“ haben soll.59 Im Lektionskatalog des Sommersemesters 1819 hat der frischgebackene Privatdozent drei theologische Lehrveranstaltungen angekündigt, eine nach seinem bereits 1819 in Jena erschienenen Lehrbuch und zwei sogar in lateinischer Sprache, was damals sicher schon ungewöhnlich war.60 Es ist allerdings sehr fraglich, ob er seine Veranstaltungen in 56 Universitätsarchiv Jena, A 2547a, Bl. 106b; M 242, Bl. 119a-126b; M 740a, S. 276f. 57 Das Titelblatt weist die Dissertation (Exemplar: Universitätsbibliothek Jena, 8 Theol. XXV, 111) als eine selbstverfasste Habilitationsdissertation aus: „Specimen novae interpretationis Pauli epistolae ad Galatas III, 20 […] ad consequendam scholas academicas aperiendi potestatem die V. Decembris MDCCCXVIII publice defendet auctor Josephus Gödör Hungarus, Philosophiae doctor et societatum magniducalium latinae Ienensis et mineralogicae sodalis ordinarius et litterarum commercio iunctus.“ Er widmete die Dissertation seinem Vater Georg Gödör, Pfarrer der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Vadászfalva. Opponenten der Disputation waren Eichstädt als Dekan, der Theologieprofessor Johann Philipp Gabler und der Privatdozent Friedrich August Klein, siehe Universitätsarchiv Jena, M 740a, S. 277. 58 So der Dekan Eichstädt im Fakultätsprotokoll, Universitätsarchiv Jena, M 740a, S. 277. 59 Das Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung Nr. 11 (Februar 1819), Sp. 82, vermeldete: „Am 26. Nov. [sc. 1818] erhielt Hr. Joseph Gödör aus Ungarn die Doctorwürde, und bald darauf am 5. Dec. nach rühmlich vertheidigter Dissertation: Specimen novae interpretationis Pauli Epistol. Ad Gal. III, 20 (B. Joch 2 Bogen 80), und nach einer mit Zufriedenheit der Facultät gehaltenen Probevorlesung, das Recht, auf hiesiger Universität als Privatlehrer aufzutreten, von welchem er auch noch in diesem Halbjahre durch Eröffnung exeget. Vorlesungen Gebrauch gemacht hat.“ Welche Veranstaltungen das waren, entzieht sich unserer Kenntnis. In den Lektionskatalog zum Wintersemester 1818/19 konnte Gödör seine Veranstaltungen noch nicht inserieren, denn als der im August/September 1818 gedruckt wurde, war Gödör noch nicht promoviert/habilitiert. 60 Hier der Eintrag im Lektionskatalog vom Sommersemester 1819, Universitätsbibliothek Jena, 4 H. l. VI, 15/3a, Nr. 10: „Josephus a Gödör, D. gratis 1) Isagogen historicam in pericopas, quae vulgo evangelia et epistolae dicuntur, adhibita earum epicrisi, tradet, sequuturus libellum suum: Isagoge historica in pericopas evangeliorum et epistolarum etc. Jenae apud Schreiber, 1819 8. hora XI–XII dieb. Lun. Mart. Jov. et Ven.; privatim 2) pericoparum ipsarum partem priorem, utpote pericopas evangelicas, praeter introductionem gratis instituendam, interpretabitur iis, qui olim religionis doctores futuri sunt, sexies hora VII–VIII mat. et bis hora XI–XII dieb. Merc. et Sabb.; denique 3) historiam antiquitatum christianarum ennarrabit hora IX–X. – In pericoparum tam introductione, quam interpretatione utetur latina lingua.“ Das erwähnte Lehrbuch ist: Isagoge historica in pericopas evangeliorum et epistolarum adnexa epichrist secundum schediasma Thameri in usum praelectionis academicae edita a Josepho de Gödör philosophiae doctore, societatum magniducalium Ienen-

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Abb. 4: Titelblatt: Dissertation Joseph Gödörs, Jena 1818, Universitätsbibliothek Jena, 8 Theol XXV, 111

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dem laut Lektionskatalog am 10. Mai beginnenden Sommersemester überhaupt in Angriff genommen hat. Schon am 11. Juni 1819 hat er nämlich Jena verlassen.61 Seine akademische Karriere konnte er in Ungarn nicht fortsetzen. Er wurde Rektor und erster Professor am Gymnasium in Raab. Von dort bewarb er sich mit einem Brief vom 10. April 1820 an Goethe um den weimarischen Hofratstitel: „Unsere Stadt ist ein Gemisch von Katholiken und Protestanten; jene machen den größten Theil der Stadt aus. Wir leben zwar in Eintracht miteinander, doch fehlt uns etwas, was unsere katholischen Brüder in uns vermissen. Ihre Aebte, Domherren, Pröbste, Professoren u. s. w. sind Räthe und Hofräthe des Königs, da wir mit dem leeren Namen eines Professors abziehen müssen. Soll daher das Ansehen der Protestanten in Ungarn geltend gemacht werden, so müssen sie in den gleichen Rang mit ihren katholischen Brüdern treten; ihre Rechte sind schon auf einem ziemlich gleichen Fuß, nur fehlt ihnen noch der äußere Glanz ihres Amtes, wo aber dieser fehlt, dort kann ihre Person noch in keinem Estime seyn.“62 Goethe hat Gödörs Wunsch, der wenig später in Erfüllung ging, vorbehaltlos unterstützt. Er schrieb ihm am 21. Juni 1820: „Sowohl Sie als Ihre Landsleute wußten sich, bey dem hiesigen Aufenthalte, die Achtung aller Guten zu gewinnen und hinterlassen den besten Nachruhm. Deswegen kann es uns sehr angenehm seyn, wenn Sie sich in der Ferne auch zu uns bekennen und einen fortdauernden Antheil dadurch bezeichnen wollen.“63 Noch auf eine andere Weise bekannte sich Gödör zu Jena. Im Oktober 1820 heiratete er an seiner neuen Wirkungsstätte die Jenenserin Emilie Eckhardt.64 Nicht alle seine damaligen Jenaer Zeitgenossen hätten Gödör freilich wie Goethe, der ihn persönlich gar nicht kannte, „den besten Nachruhm“ bescheinigt. Johann Kollár etwa meinte in Briefen von 1824 und 1828, Gödör sei in Jena ein „eitler-roher Mensch“ gewesen und habe sich auch später nicht geändert.65 Und seine ehemalige Vermieterin in Jena, Johanna Elisabeth Mohr, war ganz und gar nicht gut auf Gödör zu sprechen. Den ihr

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sium latinae et mineralogicae sodali ordinario et litterarum commercio iuncto. Ienae Typis Georgii Schreiberi et soc. MDCCCXIX. Exemplar: Universitätsbibliothek Jena, 8 Th. XXXIII, 57. So seine Jenaer Vermieterin Johanna Elisabeth Mohr in einem Brief vom 17. Juni 1821, Goethe- und Schillerarchiv Weimar, 28/93, Bl. 199a-200a, hier Bl. 200a. Am 28. März 1819 ist Gödör zuletzt in Jena nachweisbar, als er sich in ein Stammbuch eintrug, siehe Herbert Peukert: Zu den Beziehungen der Slowaken in Jena zu ihren deutschen Kommilitonen im 18. und 19. Jahrhundert. In: Deutschslawische Wechselseitigkeit in sieben Jahrhunderten. Festschrift E. Winter. Berlin 1956 (Veröffentlichungen des Instituts für Slawistik 9), S. 324–336, hier S. 334f. Theodor Thienemann: Erinnerungen an Goethe in einem ungarischen Dorfe. In: Deutsch-ungarische Heimatblätter 1 (1929), S. 5–11, hier S. 6. Goethes Werke, IV. Abt., Bd. 33. Weimar 1905, S. 73f. Zuvor hatte Goethe mit einer Eingabe vom 11. Juni 1820 an den Großherzog Carl August die Verleihung des Hofratstitels an Gödör empfohlen (ebd. S. 60): „Ich habe ihn nicht persönlich gekannt; indem ich mich aber nach ihm erkundige, vernehme ich nichts als Gutes.“ Mit einem Brief vom 3. August 1820 hat sich Gödör bei Goethe für die Verleihung des Titel bedankt, siehe Thienemann: Erinnerungen an Goethe (wie Anm. 62), S. 7f. Ebd. S. 8–11; Peukert: Slawen der Donaumonarchie (wie Anm. 2), S. 192, Anm. 2. Peukert: Beziehungen der Slowaken (wie Anm. 61), S. 334f.

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zustehenden Mietzins investierte Gödör in seine Promotion. Sogar für seine Heimreise musste er sich Geld leihen, für das sie eine Bürgschaft übernahm. Im mehreren Briefen wandte sich Mohr, die offenbar regelmäßig an ungarische Studenten vermietet hatte und – wie sie 1820 an Gödör schrieb – „ein großes Verzeichnis undankbarer Ungarn herzählen“ könnte, später vergeblich an ihn wegen der ausstehenden Schuld. Sie hat sogar Goethe um Vermittlung gebeten und 1821 schließlich auch die Möglichkeit einer Klage gegen Gödör in Ungarn erwogen.66 Was daraus geworden ist, wissen wir nicht. Jedenfalls konnte sich auch Gödör seine Promotion bzw. Habilitation im Grunde nicht leisten. (18) Die letzte im Untersuchungszeitraum für einen ungarländischen Kandidaten ausgestellte Doktorurkunde empfing der hochgelehrte Slowake Paul Schaffarik. Sein Hallenser Kommilitone Tobias Gottfried Schröer schrieb voller Bewunderung über ihn, er habe schon als Student die Griechen ohne Wörterbuch gelesen.67 Auf Vermittlung seines Landsmanns Johann Benedicti, der 1818 zu den ersten acht ordentlichen Mitgliedern des von Carl Abraham Eichstädt gegründeten Philologischen Seminars gehörte,68 wurde Schaffarik mit Diplom vom 5. April 1819 von der philosophischen Fakultät zum Doktor promoviert (Abb. 5).69 Feyls Urteil, Schaffariks Jenaer Doktorat sei die „Krönung“ seines Jenaer Studiums gewesen,70 geht indes ziemlich an den Realitäten vorbei. Schaffarik hatte sich am 27. Oktober 1815 in Jena immatrikuliert und die Universität schon nach achtzehn Monaten wieder verlassen. Als Benedicti mit einem gekonnt formulierten lateinischen Schreiben vom 4. April 1819 bei dem damaligen Dekan erschien, um Schaffariks Promotion bat und

66 Das Goethe- und Schillerarchiv Weimar verwahrt vier Briefe, die Mohr in dieser Angelegenheit geschrieben hat: 1) Mohr an Gödör, 13. Mai 1820 (28/89, Bl. 488a-489a, Zitat Bl. 488b). 2) Mohr an Goethe, 29. September 1820 (28/89, Bl. 491a-492a, hier 491a): „Der jetzige Großherzoglichl. Rat, Rector Dr. Joseph v. Gödör in Raab wohnte als Student in den Jahren 1817 bis 1819 in meinem Hause. Bei seiner Abreise von hier blieb er mir nicht nur Wohnungszins und Auslagen nach beiliegender Obligation vom 8. Juny 1819 65 Taler 22 Groschen, sondern auch noch, da für seine Promotion sein ganzer Wechsel aufgegangen war, das Geld zur Reise mit 20 Rt. schuldig. Letzteres hatte ich selbst nicht einmal baar vorräthig, indem ich tödhlich krank darnieder lag. Auf sein dringendes Flehen verbürgte ich mich jedoch für ihn bei dem Hofadvocaten Hochhausen hieselbst, damit Hr. v. Gödör nun Geld zur Reise bekam. Seitdem hat er nicht das geringste von sich hören lassen. Alle meine Bittbriefe läßt er unbeantwortet.“ 3) Mohr an Goethe, 12. Dezember 1820 (28/90, Bl. 597a598a). 4) Mohr an Goethe, 17. Juni 1821 (28/93, Bl. 199a-200a). 67 Chr. Oeser’s – Tobias Gottfried Schröer’s Lebenserinnerungen. Ein Beitrag zur Deutschen Literaturu. Kulturgeschichte Ungarns. Hg. von Arnold Schröer, Rudolf Schröer und Robert Zilchert. Stuttgart 1933 (Schriften des Deutschen Ausland-Instituts Stuttgart D 6), S. 142. 68 Steiger / Köhler: Unbekannte Dokumente (wie Anm. 49), S. 89–94. 69 Universitätsarchiv Jena, M 243, Bl. 38a-40b, das gedruckte Doktordiplom ebd. Bl. 150. Promotionsbeschluss im Fakultätsprotokoll: M 740a, S. 286. Eintrag im Kandidatenbuch: A 2547a, Bl. 107a. 70 Feyl: Slawische Verbindungen (wie Anm. 2), S. 154. Vgl. auch ebd. S. 55.

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Ulrich Rasche

Abb. 5: Doktordiplom Paul Schaffariks, Jena 1819, Universitätsarchiv Jena, M 243, Bl. 150

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gleichzeitig die vollen Promotionsgebühren offerierte,71 hielt sich Schaffarik bereits im serbischen Neusatz auf. Der in Abwesenheit erteilte Jenaer Doktortitel sollte offenbar seine berufliche Karriere als Schulrektor an dem dortigen griechisch-orthodoxen Gymnasium befördern.72 Den Ausschlag für die völlig prüfungsfreie und sehr schnelle Promotion – das ganze Verfahren dauerte nur zwei Tage – gaben das Votum Eichstädts über Schaffariks exzellente Fähigkeiten als Philologe73 sowie die Tatsache, dass Schaffarik bereits einige Schriften veröffentlicht hatte. Chronologische Tabelle der Promotionen und Promotionsversuche Nr. Name

Fak./Datum

1

Paul Czászári

Phil. 25. 5. 1799

2 3

Stephan Márton, Promotion gescheitert Samuel Bodo

4

Matthias Liptay

5

Martin Grylusz

6 7

Joseph Traugott Klein Promotion gescheitert Franz von Dobsa

8

Paul Schuska

9

Samuel Baló Promotion gescheitert Jacob Melczer Promotion gescheitert

Phil. SS 1799 Phil. 16. 4. 1802 Phil. 16. 4. 1802 Phil. 16. 4. 1802 Phil. SS 1804 Phil. 23. 4. 1804 Phil. 28. 7. 1804 Phil. SS 1805 Phil. SS 1805

10

Praesens/ Absens Praesens

Gebühren Prüfungsleistungen teilweise keine

Absens (hon. causa) Absens (hon. causa) Absens (hon. causa) Praesens (hon. causa) Praesens

(NebenKosten) keine

(keine)

keine

keine

keine

keine

(teilweise)

(Probeschrift)

Praesens

teilweise

Probeschrift

Absens

teilweise

keine

Praesens

(?)

(?)

Praesens

(?)

(?)

keine

71 Universitätsarchiv Jena, M 243, Bl. 38a (Missive des Dekans Johann Heinrich Voigt vom 4. April 1819): „So eben kommt Herr Benedicti aus Ungarn und übergiebt mir das beiliegende lat. Schreiben [ebd. Bl. 39/1–39/4], wo er für seinen Landsmann, Hn. Schaffarik, um den Doctorgrad bittet und plenos sumtus für selbigen sofort erlegen wird.“ 72 Peukert: Slawen der Donaumonarchie (wie Anm. 2), S. 213–215; Feyl: Slawische Verbindungen (wie Anm. 2), S. 153–157. Vgl. ferner Österreichisches biographisches Lexikon 1815–1950. Bd. 9 (1988), S. 375f. 73 Universitätsarchiv Jena, M 243, Bl. 38b: „Hr. Schaffarik war mir fleißiger Zuhörer u. hat überdieß in privatissimis u. in der lateinischen Gesellschaft mir seine Kenntnisse in den alten Sprachen so bewährt, daß ich ihm, auch ohne eingereichtes Specimen, meine Stimme zur Promotion gern gebe.“

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Ulrich Rasche

Nr. Name

Fak./Datum

11

Andreas Simonyi

12

Franz von Dobsa

13

15

Julius Thomas Liebbald Johann Seberinyi Promotion gescheitert Johann Kis

16

Georg Poedver

17

Joseph Gödör Promotion/ Habilitation

Phil. 31. 5. 1806 Med. 20. 11. 1806 Phil. Juni 1815 Phil. SS 1817 Theol. 31. 10. 1817 Theol. 31. 10. 1817 Phil. 26. 11.– 31. 12. 1818

18

Paul Joseph Schaffarik

Phil. 5. 4. 1819

14

Praesens/ Absens Absens

Gebühren Prüfungsleistungen teilweise keine

Absens

teilweise

keine

Absens

teilweise

keine

Absens

(teilweise)

(Probeschrift)

Absens hon. causa Absens hon. causa Praesens

keine

keine

keine

keine

voll

Absens

voll

Dissertation Disputation Probevorlesung keine

3. Cui bono: Motive, Interessen, Konstellationen Blickt man nun auf diese Befunde, so ist zunächst zu bemerken, dass das Interesse der 544 ungarländischen Studenten des Untersuchungszeitraums an den Jenaer Doktortiteln insgesamt verschwindend gering gewesen ist. Das lag zunächst einmal daran, dass der Doktortitel als berufsqualifizierender Studienabschluss für Theologiestudenten zu dieser Zeit überhaupt keine Rolle spielte, wie es ja auch sonst an den deutschen protestantischen Universitäten dieser Zeit keine Studienabschlussprüfungen gab.74 Nachdem die Kandidaten etwa drei Jahre lang studiert hatten, entschieden die Schulkollegien oder Konsistorien über deren Aufnahme in den Schul- oder Kirchendienst aufgrund vorgelegter akademischer Testate und der von ihnen vorgenommenen Eignungsprüfungen. Wirklich erforderlich war der Doktortitel bloß bei den Medizinern bestimmter Regionen, wo er bereits um 1800 formell oder informell Bedingung für die staatliche Approbation war.75 Wie das in Ungarn gehalten wurde, ist hier belanglos, denn es gab ja in Jena so gut wie keine ungarischen Medizinstudenten, die in 74 Vgl. Ulrich Rasche: Die deutschen Universitäten und die ständische Gesellschaft. Über institutionengeschichtliche und sozioökonomische Dimensionen von Zeugnissen, Dissertationen und Promotionen in der frühen Neuzeit, in: Bilder – Daten – Promotionen. Studien zum Promotionswesen an deutschen Universitäten der frühen Neuzeit. Hg. von Rainer A. Müller. Stuttgart 2007 (Pallas Athene 24), S. 150–273, hier S. 157ff. 75 Vgl. ebd. S. 263–269.

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der Medizin hätten promovieren können.76 Den Doktortitel benötigten ferner die wenigen Studenten aller Fakultäten, die eine akademische Laufbahn an einer Universität anstrebten. Letzteres hat zu einer ungarischen ‚Habilitationspromotion‘ (Nr. 17: Gödör) geführt, was an sich sehr bemerkenswert ist. Denn da in Ungarn keine protestantische Universität existierte77 und die Ungarn für gewöhnlich in ihre Heimat zurückkehrten, fiel auch dieses Motiv für die Graduierung aus. So hat sich in den ersten zehn Jahren des Untersuchungszeitraums überhaupt keiner der über 300 ungarländischen Studenten dieser Periode um einen Jenaer Doktortitel beworben. Zwar besaß ein Jenaer Doktortitel gewiss auch in Ungarn eine dignitäts- und rangsteigernde Wirkung,78 die der Karriere förderlich sein konnte. Dieses Motiv wird man wohl für die wenigen Ungarn veranschlagen müssen, die sich nach 1799 schließlich doch um einen Jenaer Doktortitel bemühten, zum Beispiel für den Slowaken Schaffarik (Nr. 18), der bezeichnenderweise seine Karriere nicht in den heimatlichen oberungarischen Regionen, sondern in dem südungarischen Serbien und zudem noch an einem griechisch-orthodoxen Gymnasium startete. Die allermeisten ungarischen Studenten gingen aber wohl dorthin zurück, woher sie gekommen waren. Sie wuchsen aufgrund von Traditionen und netzwerkartigen verwandtschaftlichen oder sonstwie gearteten sozialen Verbindungen gewissermaßen schrittweise in ihre Karrieren als Lehrer und Pfarrer hinein79 und waren deshalb – anders als der ambitionierte Schaffarik und ein paar wenige andere – auf die dignitätsstiftende Wirkung eines Doktortitels nicht wirklich angewiesen. Aus der Sicht der Fakultäten war das durchaus bedauerlich. Insbesondere die philosophische Fakultät hat sich den Promotionsgesuchen ungarischer Kandidaten stets aufge76 Zur Medizinerausbildung in Ungarn vgl. Károly Kapronczay: Die ungarische ärztliche Ausbildung. In: Die ungarische Universitätsbildung und Europa. Hg. von Márta Font und László Szögi. Pécs 2001, S. 203–210; Robert Offner: Deutsche Universitäten als Ausbildungsstätten siebenbürgischer Mediziner von den Anfängen bis 1850. In: Fata u. a.: Peregrinatio Hungarica (wie Anm. 2), S. 287–343. Auch die wenigen Ungarn, die in Göttingen Medizin studierten, haben in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts dort nicht den medizinischen Doktorgrad erworben, vgl. die Liste der Doktoren bei Ulrich Tröhler und Sabine Mildner-Mazzei: Die Göttinger medizinischen Promotionen im 18. Jahrhundert. Göttingen 1993 (Göttinger Universitätsschriften, Serie C: Kataloge 3), Nr. 582–793. 77 Vgl. zuletzt etwa Katalin Gönczi: Die europäischen Fundamente der ungarischen Rechtskultur. Juristischer Wissenstransfer und nationale Rechtswissenschaft in Ungarn zur Zeit der Aufklärung und im Vormärz. Frankfurt 2008 (Studien zur europäischen Rechtskultur. Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main 127), S. 20–22; István Fazekas: Schulstiftungen und Studienfinanzierung im dreigeteilten Königreich Ungarn während des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Schulstiftungen und Studienfinanzierung. Bildungsmäzenatentum in den böhmischen, österreichischen und ungarischen Ländern, 1500–1800. Hg. von Joachim Bahlcke und Thomas Winkelbauer. Wien/München 2011 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 58), S. 171–185, hier S. 180f. 78 Vgl. zu diesem wesentlichen Aspekt der vormodernen Doktorpromotion Rasche: Universitäten und ständische Gesellschaft (wie Anm. 74), passim. 79 Siehe unten Anm. 90.

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Ulrich Rasche

schlossen gezeigt. Schon Paul Czászári (Nr. 1) erhielt 1799 sein Diplom zu reduzierten Kosten und ohne jegliche Prüfung, wie denn auch späterhin von keinem ungarischen Kandidaten eine mündliche Prüfung für die Doktorpromotion verlangt wurde.80 Gelegentlich hören wir von eingereichten Probeschriften (Nr. 6: Klein, Nr. 7: Dobsa, Nr. 14: Seberinyi). Doch wie man im Falle Seberinyis vermuten darf, brauchten das nicht unbedingt Schriften zu sein, die eigens zum Zweck der Promotion verfasst wurden. Auf keinen Fall dürfen sie mit Dissertationen verwechselt werden.81 Wie wir ebenfalls aus den Akten zur Promotion von Czászári (Nr. 2) erfahren, rechtfertigte sich die Fakultät intern für die im Grunde völlig prüfungsfreie Vergabe von Doktortiteln im Falle der Ungarn damit, dass deren Bildung und Wissen eo ipso für die Promotion genügen würden und deshalb eben auch nicht durch ein Examen überprüft zu werden brauchten.82 Man darf diese ohne Zweifel für die Beurteilung des Bildungsniveaus ungarischer Studenten interessante Wahrnehmung allerdings nicht überschätzen. Auch bei vielen anderen Kandidaten hat die Fakultät auf mündliche Prüfungen verzichtet und stattdessen auf Empfehlungen, Zeugnisse und Probeschriften vertraut. Letztlich hat sie ihr promotio fiat sowieso nicht allein von der Dignität des Kandidaten abhängig gemacht. Die Fakultät berücksichtigte stets auch, was eine Promotion ihr selbst nutzen konnte.83 Nach 1799 brachen die Studentenzahlen in Jena ein, was die professoralen Einkünfte aus Vorlesungshonoraren, Vermietungen, Mittagstischen und studentischen Gebühren aller Art erheblich reduzierte. Gleichzeitig minderte die Inflation die nominell stagnierenden Professorengehälter.84 Vor allem an der philosophischen Fakultät entwickelte sich daraufhin die Promotion mehr und mehr zu einem wichtigen Instrument der Krisenbewältigung. Denn die Vergabe von Doktortiteln konnte jenem letztlich ökonomischen Dilemma auf zweierlei Weise (I und II) entgegenwirken. 80 Auch Gödör (Nr. 17) wurde eigentlich prüfungsfrei promoviert. Dissertation, Disputation und Probevorlesung wurden nur als Habilitationsleistung verlangt. 81 Dissertationen sind lateinische Vorlagen für Disputationen, vgl. grundlegend Hanspeter Marti: Artikel ‚Disputation‘ und ‚Dissertation‘. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 2. Tübingen 1994, Sp. 866–884 (mit weiterer Literatur). Eine Disputation wurde von den Kandidaten, die keine akademischen Ambitionen hatten, in der philosophischen Fakultät nicht gefordert, vgl. Rasche: Universitäten und ständische Gesellschaft (wie Anm. 74), S. 202–206. 82 Siehe oben bei Anm. 13. 83 Vgl. zur Promotionspraxis der Jenaer philosophischen Fakultät um 1800 Ulrich Rasche: Geschichte der Promotion in absentia. Eine Studie zum Modernisierungsprozeß der deutschen Universitäten im 18. und 19. Jahrhundert. In: Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert. Hg. von Rainer Christoph Schwinges. Basel 2007 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 7), S. 275–351, hier S. 297–308. 84 Vgl. Ulrich Rasche: Umbrüche – Zur Frequenz der Universität Jena im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Die Universität Jena. Tradition und Innovation um 1800. Hg. von Gerhard Müller, Klaus Ries und Paul Ziche. Stuttgart 2001 (Pallas Athene 2), S. 79–134, hier S. 102ff. (Diagramm S. 101); Ders.: Promotion in absentia (wie Anm. 83), S. 297f.

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(I) Der Doktortitel, zumal der mehr ehren- als prüfungshalber erteilte, band die Kandidaten an die Universität und verpflichtete diese, sich für das Wohl derselben einzusetzen. So versprach sich die philosophische Fakultät von der Promotion zukünftiger oder auch bereits amtierender Pfarrer und Lehrer, dass diese auf die Studienortwahl ihrer Zöglinge zugunsten der Jenaer Universität Einfluss nahmen und dadurch die für die Einkommensverhältnisse der Professoren eminent wichtige Studentenfrequenz wieder anstieg. Dieses Kalkül, von dem natürlich auch die Kandidaten anderer, vor allem ausländischer Regionen profitierten,85 begünstigte schon die Promotion von Czászári (Nr. 1); es schwang auch später ausgesprochen (Nr. 13: Liebbald) oder unausgesprochen bei anderen Promotionsentscheidungen mit. Auch die Vergabe des weimarischen Hofratstitels an Gödör (Nr. 17) wird man wohl in solchen Kontexten sehen müssen. Goethe empfahl jedenfalls dessen Ehrung, weil es „uns sehr angenehm seyn kann, wenn Sie sich in der Ferne auch zu uns bekennen und einen fortdauernden Antheil dadurch bezeichnen wollen.“86 Lag eine Promotion ganz im Interesse einer Fakultät bzw. der Universität, dann erfolgte sie nicht nur prüfungs-, sondern auch gebührenfrei aus eigenem Antrieb (proprio motu) der Fakultäten. Die philosophische Fakultät hat solche Ehrenpromotionen87 zunehmend instrumentalisiert, etwa um das Wohlwollen hochrangiger französischer Offiziere in der auch für die Universität sehr heiklen Krisenzeit um 1806 zu gewinnen.88 Schon vorher, nämlich 1802, hat sie drei ehemalige Jenaer Studenten gratis promoviert, die die in Ungarn wegen der Fichteschen Philosophie in Verruf geratene Universität aus der Schusslinie brachten (Nr. 3: Bodo, Nr. 4: Liptay, Nr. 5: Grylusz). 1817 hat auch die theologische Fakultät durch Ehrenpromotionen zwei einflussreiche ungarische Geistliche auf die Jenaer Universität eingeschworen (Nr. 15: Kis, Nr. 16: Poedver). Bis 1858 kamen noch sieben solcher Ehrenpromotionen ungarischer Persönlichkeiten hinzu, vier theologische und drei philosophische.89 Alles in allem sind im Untersuchungszeitraum aber ledig85 Etwa der Mietauer Gymnasialprofessor Christian Wilhelm Schwenckner 1801, vgl. Bauer/Hartung: Ehrendoktoren Geisteswissenschaften (wie Anm. 19), S. 17f. 86 Siehe oben bei Anm. 63. 87 Vgl. zur Herausbildung der Ehrenpromotion in Jena im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert die Ausführungen von Bauer/Hartung: Ehrendoktoren Geisteswissenschaften (wie Anm. 19), S. 9–41, die auch zeigen, dass die Ergebnisse von Günter Roß: Das Aufkommen der juristischen Ehrenpromotion an den deutschen Universitäten. Diss. jur. Erlangen 1967, den regionalen Befunden nicht immer standhalten. Für grundsätzliche Kritik an dessen zu engem Verständnis von Ehrenpromotionen vgl. Rasche: Promotion in absentia (wie Anm. 83), S. 293f.; ders.: Universitäten und ständische Gesellschaft (wie Anm. 74), S. 230ff. 88 Vgl. Volker Wahl: Französische Ehrendoktoren der Universität Jena aus dem Gefolge Napoleon Bonapartes. In: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 1 (1994), S. 95–105; Bauer/ Hartung: Ehrendoktoren Geisteswissenschaften (wie Anm. 19), S. 21f. 89 Am 25. Juni 1830 erhielten der ehemalige Jenaer Student Paul Jozeffy (immatrikuliert 19. 4. 1796), der „Vater der Slowakei“, sowie Andreas Mayer, Propst in Eperjes/Ungarn, anlässlich der Dreihundertjahrfeier der Übergabe der Augsburgischen Konfession ebenfalls in Abwesenheit theologische Ehrendoktorwürden, siehe Bauer/Hartung: Ehrendoktoren Geisteswissenschaften (wie Anm. 19), S.

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lich fünf ungarische Kandidaten sowohl prüfungsfrei als auch gratis promoviert worden (Nr. 3: Bodo, Nr. 4: Liptay, Nr. 5: Grylusz, Nr. 15: Kis, Nr. 16: Poedver). Wie ist das zu erklären? Obwohl der allgemeine Nutzen solcher Ehrenpromotionen außer Frage stand, mussten die Fakultäten dennoch sehr vorsichtig mit diesem Instrument umgehen, und zwar gerade im Hinblick auf diejenigen Personen, bei denen die Ehrenpromotion ihre gewünschte Wirkung eigentlich am besten hätte entfalten können, nämlich bei den akademisch gebildeten Lehrern und Pfarrern. Sie alle oder auch nur die zahlreichen Jenaer Absolventen90 unter ihnen ehrenhalber oder quasi ehrenhalber zu promovieren, kam nicht in Frage, denn dies hätte zu einer inflationären „Multiplication“ der Jenaer Doktortitel geführt, die den Wert derselben schon nach kurzer Zeit erheblich gemindert hätte. Es wäre dann generell nicht mehr möglich gewesen, die Ehrenpromotion als Auszeichnung berühmter hochverdienter und tatsächlich einflussreicher Persönlichkeiten einzusetzen. Nur einzelne aus dem Kreis dieser für die Jenaer Universität sehr wichtigen sekundären Führungseliten Ungarns mit einem Doktortitel zu ehren und so für sich zu verpflichten, wäre sehr heikel und gefährlich gewesen, wie die fakultätsinterne Diskussion 135, 139. Mayer ist nicht als Jenaer Student nachweisbar. Zu Jozeffy vgl. Peukert: Slawen der Donaumonarchie (wie Anm. 2), S. 81f. Ebenso ehrte die theologische Fakultät am 31. März 1839 ihren einstigen Studenten und damals ebenfalls hochrangigen ungarischen Geistlichen und slowakischen Reformer Johann Seberinyi (Nr. 14), dessen Absenzpromotion in der philosophischen Fakultät 1817 wohl an den Promotionskosten gescheitert war, siehe Bauer/Hartung: Ehrendoktoren Geisteswissenschaften (wie Anm. 19), S. 172. Am 6. September bekam Johann Ladislaus Pyrker von Felsö-Eör, Dichter, Kirchenfürst und ungarischer Magnat, die Ehrendoktorwürde der philosophischen Fakultät, siehe Bauer/Hartung: Ehrendoktoren Geisteswissenschaften (wie Anm. 19), S. 203. Drei Ehrenpromotionen ungarischer Kandidaten erfolgten im Zuge des Universitätsjubliläums von 1858: Georg Paul Binder, ehemaliger Tübinger Student, Superintendent der evangelischen Kirche in Siebenbürgen, Dr. Theol. h. c. 25. Juli 1858, s. ebd. S. 241 – Georg Daniel Teutsch, ehemals Wiener und Berliner Student, Direktor des Hermannstädter Gymnasiums, Dr. phil. h. c. 20. Oktober 1858, siehe ebd. S. 278, und das Dankschreiben vom 9. Januar 1859 bei Feyl: Slawische Verbindungen (wie Anm. 2), S. 127 – Andreas Vandrák, ehemaliger Jenaer Student (immatrikuliert 8. 10. 1830) und Friesanhänger, Direktor des Gymnasiums in Eperjes, Dr. phil. h. c. 28. Oktober 1858, siehe Bauer/Hartung, Ehrendoktoren Geisteswissenschaften (wie Anm. 19), S. 281, sowie das Dankschreiben vom 26. Dezember 1858 bei Feyl: Slawische Verbindungen (wie Anm. 2), S. 85f. 90 Peukert: Slawen der Donausmonarchie (wie Anm. 2), S. 125ff., zählt für die Zeit von 1700 bis 1848 insgesamt 125 Rektoren, Kon- und Subrektoren und 152 Professoren und Lehrer mit Jenaer akademischer Vorbildung an den ungarländischen evangelischen Schulen. Allein in Oedenburg lehrten in diesem Zeitraum 12 Rektoren und Konrektoren sowie 25 Professoren, die zuvor in Jena studiert hatten. Dem evangelischen Lyzeum in Kesmark standen zwischen 1760 und 1840 beinahe ausschließlich ehemalige Jenaer Studenten als Rektoren vor; in der Lehrerschaft hatten sie einen Anteil von 34 %. Viele haben den Lehrerberuf nur übergangsweise ausgeübt, bis sie auf eine Pfarrstelle rücken konnten. Von den Geistlichen der evangelischen Gemeinde in Pressburg im 18. und 19. Jahrhundert haben 41 % die Jenaer Universität besucht; ferner zählt Peukert unter den evangelisch lutherischen Superintendenten Ungarns zwischen 1700 und 1848 insgesamt 37 ehemalige Jenaer Studenten.

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um die abgelehnte Ehrenpromotion des reformierten Gymnasiallehrers Stephan Márton (Nr. 2) zeigt.91 Dann hätten sich die Nichtberücksichtigten übergangen gefühlt, und das wiederum hätte leicht zu gegenteiligen und für die Jenaer Universität ungünstigen Effekten führen können. So haben die Fakultäten im Hinblick auf die Ungarn die Ehrenpromotion nicht wirklich als Medium zur Krisenbewältigung anwenden können. Auch deshalb blieb die Zahl der auf diese Weise promovierten Ungarn und damit auch die Gesamtzahl der Ungarnpromotionen sehr gering. (II) Aus den eben erörterten Gründen war es den Fakultäten viel lieber, wenn die Initiative zur Promotion von den Kandidaten selbst ausging. Solche Promotionen konnten durchaus die gleichen oder ähnliche Effekte wie die Ehrenpromotionen erzielen. Im Unterschied zu diesen mussten die Kandidaten jedoch bei jenen Promotionen im Prinzip sowohl irgendeine Prüfungsleistung erbringen als auch Promotionsgebühren erlegen. Beides war aber verhandelbar. Die Prüfungsleistungen konnten, zumal im Fall der hochgebildeten Ungarn, gegen Null tendieren, nicht aber die Gebühren, denn sie stellten den zweiten und direkten Nutzen dar, den die Fakultäten aus Promotionen ziehen konnten. Ganz gleich also ob die von den Kandidaten selbst beantragten Promotionen aus dem Studium heraus in praesentia oder später in absentia erfolgten, sie spülten immer Geld in die Kassen der Fakultäten und damit auch der Professoren. Diese Promotionen waren deshalb vorzüglich geeignet, deren Einkommensdefizite zu kompensieren. Aus diesem Grund hat die Jenaer philosophische Fakultät gerade die Absenzpromotion, deren Erträge ja nicht von der Zahl der tatsächlich in Jena anwesenden Studenten abhängig waren, im Laufe des 19. Jahrhunderts im großen Stil zu einer wichtigen Säule des Professoreneinkommens ausgebaut.92 Freilich vermochten Kandidaten aus Ungarn, jedenfalls im Untersuchungszeitraum, nicht viel dazu beizutragen.93 Zwar hat die Fakultät im Hinblick auf die Kosten fast immer mit sich reden lassen, weil sie wegen der oben beschriebenen Effekte gerade auch an Ungarn ihren Titel gerne vergeben wollte. Dennoch konnten sich die allermeisten Ungarn selbst einen reduzierten philosophischen Doktortitel, der sowieso schon der billigste war, nicht leisten. Bei den wenigen Präsenzpromotionen unmittelbar aus dem Studium heraus haben sich fast alle Kandidaten finanziell übernommen. Czászári (Nr. 1), der 91 Siehe oben Anm. 17. 92 Vgl. Rasche: Promotion in absentia (wie Anm. 83), S. 308ff. 93 Vgl. für die Zeit danach etwa zur Absenzpromotion des serbischen Sprach- und Literaturwissenschaftlers Vuk Karadzic in der philosophischen Fakultät 1823 Hermann Wendel: Vuks Jenenser Promotion. In: Slavia 2 (1923/24), S. 327–334; Leni Arnold: Die Promotion von Vuk Karadzic in Jena. Eine Dokumentation. In: Deutschland und der slawische Osten. Festschrift zum Gedenken an den 200. Geburtstag von Ján Kollár. Hg. von Ulrich Steltner u. a. Jena 1994, S. 67–84. Allein von 1832 bis 1865 hat die Jenaer philosophische Fakultät rund 1850 Kandidaten in Abwesenheit promoviert, vgl. Rasche: Promotion in absentia (wie Anm. 83), S. 321. Eine prosopograhische Analyse der Kandidaten steht noch aus, so dass sich zu Zeit noch nicht angeben lässt, ob sich darunter auch solche aus Ungarn befunden haben.

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sich von einem ungarländischen Kommilitonen in Jena aushalten ließ, konnte offenbar das Wagnis einer teuren Promotion nur eingehen, weil er bereits eine Stelle in Aussicht hatte und die Fakultät zudem auf einen Teil der Gebühren verzichtete. Dobsa (Nr. 7) aber promovierte auf Pump und wollte außer den eigenen auch noch die Promotionsgelder für seinen Landsmann Schuska (Nr. 8) unterschlagen. Gödör (Nr. 17) verpulverte für seine Promotion/Habilitation seinen regulären Wechsel und blieb deshalb seine Miete und sogar die Kosten für seine Heimreise schuldig. Und der hochverschuldete Klein (Nr. 6) sowie Baló (Nr. 9) und Melczer (Nr. 10) haben die Promotionsgebühren gar nicht aufbringen können. Die meisten der wenigen promotionswilligen Kandidaten entschieden sich deshalb erst zur Promotion, als sie bereits in Ungarn in Amt und Würden standen und mehr Geld zur Verfügung hatten (Nr. 8: Schuska, Nr. 11: Simonyi, Nr. 12: Dobsa, Nr. 13: Liebbald, Nr. 14: Seberinyi, Nr. 18: Schaffarik). Selbst eine solche Absenzpromotion konnte freilich an den Gebühren scheitern (Nr. 14: Seberinyi). Alles in allem: Aus der Sicht der ungarischen Kandidaten war eine Promotion aus verschiedenen Gründen nicht nötig, außerdem zu teuer, und sehr viel mehr, als sie praktisch ohne Prüfung zu reduzierten Gebühren anzubieten, konnten auch die Fakultäten nicht tun, um ungarischen Kandidaten den Jenaer Doktortitel schmackhaft zu machen. Insgesamt bewegte sich deshalb die Promotionsquote der Ungarn auf deren Frequenz bezogen im Bereich statistisch nicht relevanter Anteile. Manche von denen, die dennoch promoviert wurden, zählten gewiss zu den gebildetsten Jenaer Studenten überhaupt (etwa Nr. 15: Kis, Nr. 17: Gödör, Nr. 18: Schaffarik). Aber auch viele andere, vielleicht sogar die meisten ungarländischen Studenten, amtierenden Pfarrer und Lehrer wären im Hinblick auf ihren Bildungs- und Wissenstand zumindest von der philosophischen Fakultät als promotionswürdig angesehen worden, wenn sie sich um den Titel beworben hätten. Das entscheidende Kriterium für den Vollzug einer vormodernen Promotion war jedoch nicht das Bildungsniveau der Kandidaten bzw. die erfolgreich bestandene Prüfung oder überhaupt die Erfüllung irgendwelcher für alle Kandidaten in gleicher Weise geltenden Normen über Examina und Gebühren. Die Vormoderne war eine Gesellschaft der Unterschiede. Ebenso wenig wie sie beispielsweise die Gleichheit des Menschen vor dem Richter kannte, kannte sie die Gleichheit des Kandidaten vor dem Prüfer. Sie beruhte vielmehr auf dem Ausgleich der Unterschiede, auf Kooperation und Konsens, und sie hat in allen Bereichen entsprechende Praktiken entwickelt.94 Deshalb wurden auch Doktorpromotionen zwischen den Fakultäten und Kandidaten ausgehandelt. Die Kandidaten 94 Vgl. zuletzt etwa mit Zusammenfassung des Forschungsstandes Stefan Brakensiek: Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit. In: Die Frühe Neuzeit als Epoche. Hg. von Helmut Neuhaus. München 2009 (Historische Zeitschrift. Beihefte 49), S. 395–406; Barbara Stollberg-Rilinger, André Krischer (Hg.): Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne. Berlin 2010 (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 44).

Doktorpromotionen ungarländischer Studenten in Jena

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wurden dabei nicht nur als Individuen, sondern auch als Mitglieder sozial oder – wie im gegebenen Zusammenhang – herkunftsmäßig definierter Gruppen wahrgenommen und behandelt. Konkret verhandelt wurden Prüfungsleistungen und Gebühren. Im Kern ging es dabei um die Abwägung des beiderseitigen Grenznutzens. Promotionen fanden statt, wenn es gelang, die Interessen in Übereinstimmung zu bringen. Es kommt somit bei der Erforschung des vormodernen Promotionswesens wesentlich darauf an, solche Interessenkonstellationen und Praktiken des Aushandelns zu untersuchen.

Dirk Werle (Leipzig)

Lyriktheorie ‚um 1800‘ an der Universität Greifswald: Benjamin Lundelius’ Dissertation De poesi lyrica* I. Vermutlich im Laufe der 1980er Jahre hat sich in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft die Gewohnheit festgesetzt, von einer Epoche oder Periode ‚um 1800‘ zu sprechen. Man trug damit dem Umstand Rechnung, dass die für die Geschichte der deutschsprachigen Literatur allgemein hochbedeutsamen Umbrüche der Goethezeit nicht einerseits ‚dem 18. Jahrhundert‘, andererseits ‚dem 19. Jahrhundert‘ einfach zu subsumieren sind. Die Jahrzehnte von 1770 bis 1830 und insbesondere die beiden unmittelbar um die Jahrhundertwende gelagerten Jahrzehnte von 1790 bis 1810 sehen Historiker der deutschsprachigen Literatur seit den monumentalen Anfängen der deutschen Literaturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert als Gipfelpunkt beziehungsweise Hochphase der deutschen Literatur. Dieses Narrativ hat in mancherlei Hinsicht seine sachliche Berechtigung; daneben ist aber festzuhalten, dass die Vorstellung, das Jahr 1800 markiere einen (literatur-) historischen Umbruch, im Allgemeinen der mythischen Bedeutsamkeit geschuldet ist, die Jahrhundertwenden seit jeher zugeschrieben wird, ja, dass sie im Besonderen von einigen der kanonisch gewordenen historischen Akteure in der Zeit selbst propagiert wurde.1 Eine Zentralfigur für den Zusammenhang ist Friedrich Schlegel, der nach 1800 ein Protagonist der sich entwickelnden Literaturgeschichtsschreibung wurde und bis 1800 vor allem als einer der Köpfe der frühromantischen Gruppierung wirkte. Sein in diesem Zusammenhang zentraler Essay „Über die Unverständlichkeit“ erschien im letzten Heft des Athenäum gewissermaßen als Abschlussdokument. Hier imaginiert Schlegel, am Ende des 18. Jahrhunderts und mit Blick auf das 19., einen neuen Leser, der die Komplexität der Kommunikation versteht, die Abgründe der Sprache, die unbegrenzte Vervielfältigung des Sinns. Schlegel verleiht seinem Wunsch nach einer neuen Form der Literatur Ausdruck, die den Herausforderungen der Moderne: Beschleunigung, funktionale Ausdiffe* Für kritische Lektüre und zahlreiche wichtige Hinweise danke ich Dieter Burdorf (Leipzig) sowie den Herausgebern dieses Bandes, Reimund Sdzuj (Greifswald und Frankfurt am Main) und Robert Seidel (Frankfurt am Main). 1 Vgl. Arndt Brendecke: Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung. Frankfurt am Main 1990, S. 177–209 [Kap. 9].

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renzierung der Gesellschaft, Pluralisierung von Sinnpostulaten, gewachsen ist – und nach einer Leserschaft, die diese Literatur zu würdigen weiß. Dabei bezieht er sich auf sein eigenes als auf ein ‚kritisches Zeitalter‘, das aber an sein Ende gekommen scheine. Das könne man, so Schlegel, daran erkennen, „daß nun bald alles kritisiert sein wird, außer das Zeitalter selbst, und daß alles immer kritischer und kritischer wird“.2 Das so artikulierte Epochenbewusstsein führt Schlegel dazu, zukunftsoptimistisch mit dem neuen Jahrhundert auch ein neues Zeitalter zu imaginieren, das unter ironischer Zitation alchimistischer Phantasmen in der Tradition der Idee des ‚goldenen Zeitalters‘ perspektiviert wird: Im neunzehnten Jahrhundert, versichert uns Girtanner, im neunzehnten Jahrhundert wird man Gold machen können; und ist es nicht schon mehr als Vermutung, daß das neunzehnte Jahrhundert nun bald seinen Anfang nehmen wird? [...] Wie gern werden nun alle Künstler sich entschließen, den kleinen unbedeutenden Überrest vom achtzehnten Jahrhundert noch zu hungern [...]; denn sie wissen, daß teils noch sie selbst in eigner Person, teils aber auch und desto gewisser ihre Nachkommen in kurzem werden Gold machen können. (S. 334)

In diesem Sinne sieht sich Schlegel „in der Morgendämmerung des neuen Jahrhunderts“ (S. 338) und schließt seine Überlegungen zur Unverständlichkeit mit einem prophetischen Gestus ab: Die neue Zeit kündigt sich an als eine schnellfüßige, sohlenbeflügelte; die Morgenröte hat Siebenmeilenstiefel angezogen. – Lange hat es gewetterleuchtet am Horizont der Poesie [...]: bald aber wird nicht mehr von einem einzelnen Gewitter die Rede sein, sondern es wird der ganze Himmel in einer Flamme brennen, und dann werden euch alle eure kleinen Blitzableiter nichts mehr helfen. Dann nimmt das neunzehnte Jahrhundert in der Tat seinen Anfang, und dann wird auch jenes kleine Rätsel von der Unverständlichkeit des Athenäums gelöst sein. Welche Katastrophe! Dann wird es Leser geben, die lesen können. (S. 340f.)

Angesichts solch beeindruckender Selbstinszenierungen literarischer Avantgarden gerät häufig der banale Umstand aus dem Blick, dass auch in Zeiten des Umbruchs und der vermehrten Innovation nicht eine ganze Epoche die „Siebenmeilenstiefel“ anzieht, sondern in der Regel ganz bestimmte Akteure und Strömungen der Literatur- und Wissensgeschichte. Die breite Masse an Texten und darin geäußerten Positionen ist nicht am von den Avantgarden beanspruchten ‚Puls der Zeit‘, sondern irgendwo anders. Wenn es den Avantgarden gelingt, durch die Bemühungen der Literatur- und Wissensgeschichte kanonisiert zu werden, dann tragen ihre Selbstdeutung und ihre Deutung der eigenen Zeit dazu bei, dass die nicht in die Innovationsgeschichte passenden Texte und Positionen vergessen werden. Zur gegen die Tendenz einer teleologischen Erfolgsgeschichte gerichteten, breiteren und differenzierteren Sicht der Literatur- und Wissensgeschichte hat unter anderem die 2 Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit [1800]. In: ders.: Schriften zur Literatur. Hg. von Wolfdietrich Rasch. München ²1985, S. 332–342, hier S. 333.

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wesentlich durch die Studien Hanspeter Martis beförderte Erforschung des frühneuzeitlichen Dissertations-, Promotions- und Disputationswesens beigetragen. In den damit verbundenen Praktiken und Texten wird, so Marti, einerseits „Erinnerungswissen vergegenwärtigt, gefestigt, kultiviert und konserviert. Andererseits ist das kritische und innovative Potential frühneuzeitlicher Dissertationen nicht zu unterschätzen,[] auch weil sie einen Meinungsstreit buchstäblich inszenierten[] und weil unter dem Schein der Fiktion unkonventionelle Meinungen vorgebracht und verteidigt werden konnten.“3 Das möchte ich am Beispiel der Lyriktheorie veranschaulichen. Sie bildet einen zentralen Bestandteil des literaturhistorischen Umbruchsgeschehens ‚um 1800‘, in erster Linie als Element einer Theorie literarischer Gattungen. Der erwähnte Friedrich Schlegel hat auch an den lyrik- und gattungstheoretischen Diskussionen seiner Zeit Anteil. So lässt er in seinem ebenfalls im Jahr 1800 veröffentlichten „Gespräch über die Poesie“ einen der Gesprächsteilnehmer beim Vortrag einer Abhandlung mit dem Titel „Epochen der Dichtkunst“ auf die antike griechische Gattungslehre zurückgreifen und sie als Kern der Poesie empfehlen: „Diese erste Masse hellenischer Dichtkunst, das alte Epos, die Jamben, die Elegie, die festlichen Gesänge und Schauspiele; das ist die Poesie selbst. Alles, was noch folgt, bis auf unsre Zeiten, ist Überbleibsel, Nachhall, einzelne Ahndung, Annäherung, Rückkehr zu jenem höchsten Olymp der Poesie.“4 In dieser Reihung kommt eine ‚Makrogattung‘ Lyrik nicht vor; unter ‚lyrischer Poesie‘ versteht man bis weit ins 18. Jahrhundert hinein allein in einem engeren Sinne liedhafte Gedichte, die lange auch unter dem Namen ‚Oden‘ firmieren. Die für die Poetik deutschsprachiger Dichtung lange Zeit kanonische Beschreibung formuliert Martin Opitz im fünften Kapitel des Buchs von der Deutschen Poeterey, das neben der inventio die dispositio der Dichtung behandelt und in diesem Rahmen eine kurzgefasste Gattungslehre der Poesie bietet. Hier wird auch die lyrische Poesie erwähnt: „Die Lyrica oder getichte die man zur Music sonderlich gebrauchen kann / erfordern zuefoerderst ein freyes lustiges gemuete / vnd wollen mit schoenen spruechen vnnd lehren haeuffig geziehret sein […].“5 Der traditionellen Gattungslehre weiß sich noch Johann Christoph Gottsched verpflichtet;6 allerdings sortiert er im Versuch einer Critischen Dichtkunst die Gattungen 3 Hanspeter Marti: Disputation und Dissertation. Kontinuität und Wandel im 18. Jahrhundert. In: Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Hg. von Marion Gindhart und Ursula Kundert. Berlin und New York 2010 (Trends in Medieval Philology 20), S. 63–85, hier S. 65 f. 4 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie [1800]. In: ders.: Kritische Schriften und Fragmente. Hg. von Ernst Behler und Hans Eichner. Bd. 2: 1798–1801. Paderborn 1988, S. 186–222, hier S. 191 f. 5 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Mit dem Aristarch (1617) und den Opitzschen Vorreden zu seinen Teutschen Poemata (1624 und 1625) sowie der Vorrede zu seiner Übersetzung der Trojanerinnen (1625). Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002 (Reclams Universal-Bibliothek 18214), S. 33. 6 Vgl. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst […]. Dritte und vermehrte Aufl. (1742). In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Joachim und Brigitte Birke. Bd. 6, 1. Berlin

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nicht wie Opitz entsprechend der rhetorischen Stillehre vom genus grande hinab zum genus humilis, sondern entwicklungshistorisch nach ihrem vermuteten Alter. Hier nimmt die lyrische Poesie im Sinne von Odendichtung aufgrund ihrer Charakterisierung als musikalisch und mit einem „lustige[n] gemuete“ verbunden eine besondere Stellung ein, insofern Gottsched im ersten Kapitel des Versuchs die „Qvelle“ der Poesie „in den Gemuethsneigungen des Menschen“ lokalisiert und die Musik als die „aeltere Schwester“ der Poesie beschreibt (S. 115). Entsprechend sieht er die „Gesaenge“ als „die aelteste Gattung der Gedichte“ (S. 117); und er leitet die Genese der Poesie ‚anthropologisch‘ aus den Gemütsbewegungen her: Das Weinen der Kinder sei nichts anderes als ein Klagelied, das „Lachen und Frohlocken […] eine Art freudiger Gesaenge“ (S. 116). Entsprechend mutmaßt Gottsched, „daß die Poesie etwa folgender maßen entstanden sey. […] Wenn ein muntrer Kopf, von gutem Naturelle, sich bey der Mahlzeit, oder durch einen starken Trunk, das Gebluet erhitzet und die Lebensgeister rege gemacht hatte: so hub er etwa an vor Freuden zu singen, und sein Vergnuegen auch durch gewisse dabey ausgesprochene Worte zu bezeigen.“ (S. 131) Die Verknüpfung der Odendichtung mit den Gemütsempfindungen behauptet im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts dezidierter noch als Gottsched Friedrich Schlegels Vater Johann Adolf, wenn er in der 1770 erschienenen 3. Auflage seiner zuerst 1751 erschienenen, kommentierten Übersetzung von Charles Batteux’ Les beaux arts réduits à un même principe von 1746 die lyrische Poesie als „Ausdruck nicht nachgemachter, sondern wirklicher, Empfindungen“ beschreibt.7 Friedrichs Bruder August Wilhelm erweitert in seinen 1795 in Friedrich Schillers Horen veröffentlichten Briefen über Poesie, Silbenmaß und Sprache diese Bestimmung, indem er die lyrische Poesie nicht mehr bloß als Lied- und Odendichtung auffasst, sondern im modernen Sinne als ‚Makrogattung‘ beschreibt.8 Diese Neukonzeption arbeitet er in den 1798 bis 1799 in Jena gehaltenen

und New York 1973, hier S. 132 f. [Kap. 1: Vom Ursprunge und Wachsthume der Poesie überhaupt]. 7 Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Übersetzt und mit eigenen Abhandlungen begleitet von Johann Adolf Schlegel. Leipzig ³1770, Reprint Hildesheim und New York 1976, Bd. 1, S. 368, Anm. 156. Vgl. den Hinweis bei Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage Stuttgart und Weimar 1995, S. 4. Der hier skizzierte Überblick über die Entwicklung der Lyriktheorie im 18. Jahrhundert entspricht bei einigen Umgewichtungen in den Grundzügen Burdorfs Darstellung, ebd., S. 2–4. Vgl. zur Rolle Batteux’ vor allem Irmela von der Lühe: Natur und Nachahmung in der ästhetischen Theorie zwischen Aufklärung und Sturm und Drang. Untersuchungen zur Batteux-Rezeption in Deutschland. Bonn 1979. 8 Vgl. dazu Georg K. Braungart: Die Lyriktheorie August Wilhelm Schlegels. In: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000 „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Hg. v. Peter Wiesinger. Bd. 6. Bern u. a. 2002 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, 58), S. 191–199.

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Vorlesungen über philosophische Kunstlehre deutlicher aus.9 Die begriffliche Ausweitung hatte implizit bereits etwa Schiller zu Beginn seiner anonym erschienen Bürger-Rezension vorgenommen,10 aber Schlegel verknüpfte die ‚Makrogattung‘ Lyrik im Sinne seines Vaters mit den Gefühlsempfindungen und bereitete so den Boden für Johann Wolfgang Goethes Kanonisierung der Lyrik als einer der drei „Naturformen der Dichtung“ neben Epos und Drama, nämlich der „enthusiastisch aufgeregte[n]“, in den 1819 veröffentlichten „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-Östlichen Divans“.11 In der Zeit ‚um 1800‘ kommt mithin eine langwierige und folgenreiche Begriffsverschiebung zum Abschluss: vom Verständnis der lyrischen Poesie als liedhafter Odendichtung zu einem Konzept der Lyrik als ‚Makrogattung‘.12

II. Auch für die Geschichte der Disputation und Dissertation bildet die Zeit ‚um 1800‘ eine Umbruchsphase. Im Laufe des 18. Jahrhunderts war die gelehrte lateinischsprachige Disputation und Dissertation nach Marti „von der aufklärerischen Kritik stark getroffen“ worden.13 Als Folge gab es an deutschen Universitäten immer weniger Übungsdisputationen; „von der früheren Vielfalt der Dissertationsformen blieb im 19. Jahrhundert nur

9 August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über philosophische Kunstlehre. In: ders.: Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Hg. von Ernst Behler. Bd. 1: Vorlesungen über Ästhetik (1798–1803). Mit Kommentar und Nachwort hg. von E. B. Paderborn u. a. 1989, S. 1–177, hier S. 69–83 [„Lyrische Dichtungsart“]. Vgl. dazu Susanne Holmes: Synthesis der Vielheit. Die Begründung der Gattungstheorie bei August Wilhelm Schlegel. Paderborn u. a. 2006, S. 89–191. 10 Friedrich Schiller: Über Bürgers Gedichte [1791]. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Otto Dann u. a. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz u. a. Frankfurt am Main 1992 (Bibliothek Deutscher Klassiker 78), S. 972–988, hier S. 972. 11 Johann Wolfgang Goethe: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans [1819]. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bden. Hg. von Erich Trunz. Bd. 2: Gedichte und Epen. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von E. T. Vollständige Neubearbeitung München 1981, S. 126–267, hier S. 187–189. 12 Vgl. dazu allgemein Irene Behrens: Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16. bis 19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen. Halle 1940 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 92), S. 180–195. Behrens macht im Rahmen ihrer Studie auf Vorläufer dieser Sichtweise bereits in der italienischen Renaissance aufmerksam. Klaus R. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder. Stuttgart 1968 hat für den deutschen Bereich gezeigt, dass die Dreiteilung der Poesie in die Makrogattungen ‚Epik‘, Lyrik und Drama schon in Alexander Gottlieb Baumgartens Dissertation Meditationes Philosophicae de Nonnullis ad Poema Pertinentibus von 1735 auftaucht und sich im Rahmen der BatteuxRezeption seit Mitte des 18. Jahrhunderts nach und nach durchsetzt (ebd., S. 261 f.). 13 Marti (wie Anm. 3), S. 83.

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noch die vom Doktoranden verfasste Inauguraldissertation übrig“.14 An der Universität Greifswald aber finden im Jahr 1799 noch Übungsdisputationen statt, wie die erhaltenen Dissertationsdrucke bezeugen; eine dieser Dissertationen trägt den Titel De poesi lyrica.15 Die Schrift fällt natürlich in die Zuständigkeit der philosophischen Fakultät; als Präses firmiert ein Magister Benjamin Lundelius, vermutlich auch der Autor der Schrift, der ausweislich des Titelblatts aus Småland stammt; als Respondent ein „Stipendiarius Victorinianus“ Laurentius Hellstadius. Termin der Disputation ist der 9. März. Über Lundelius und Hellstadius ist weiter wenig bekannt: Der Greifswalder Matrikel lässt sich entnehmen, dass Lundelius am 28. Oktober 1796 immatrikuliert worden war,16 und im Dekanatsbuch finden sich Hinweise, dass er 1798 bereits eine Dissertation pro gradu bestritten hatte.17 Es handelt sich um eine Schrift zum Ordo reipublicae literariae atque bibliothecae vere academicae idem, die unter dem Vorsitz des Greifswalder Bibliotheksdirektors Thomas Thorild verteidigt worden war.18 Im Gemeinsamen Verbundkatalog (GBV) sind zu Lundelius darüber hinaus die Lebensdaten 1772–1855 angegeben. Dieses Geburtsdatum ist aber vermutlich nicht korrekt: In einem handschriftlichen Lebenslauf, der mit den Greifswalder Promotionsakten überliefert ist, gibt Lundelius an, er sei am 16. November 1776 geboren, 1785 auf die schola trivialis in Vaxjö gekommen und 1789 auf das dortige Gymnasium gewechselt. 1792 habe er sein Studium an der Philosophischen Fakultät der Universität Uppsala aufgenommen, bevor er dann zum Studium der Theologie nach Greifswald gewechselt sei.19 Von Hellstadius ist bekannt, dass er 14 Ebd., S. 84. 15 de | POËSI LYRICA, | venia ampliss. facult. philos. gryph. | disserunt | Mag. BENJAM. LUNDELIUS, | smolandus, | et | LAURENTIUS HELLSTADIUS, | stipendiarius victorinianus, | in auditorio minori die 9 martii 1799. | horis ante meridiem solitis. | Greifswald: J. H. Eckhardt [1799]. UB Greifswald: Disp. Phil. 47, 20. Zitate aus diesem Text werden folgend im laufenden Text nachgewiesen. 16 Die Matrikel der Universität Greifswald und die Dekanatsbücher der theologischen, der juristischen und der philosophischen Fakultät 1700–1821. Hg. von Roderich Schmidt und Karl-Heinz Spiess. Bd. 1: Text der Matrikel November 1700 bis Mai 1821. Stuttgart 2004, S. 396. 17 Ebd., Bd. 2: Text der Dekanatsbücher, S. 1013 und 1015. Ebd., S. 1017 ist auch der Betrag verzeichnet, den Lundelius „pro apertura cathedrae et censura“ im Zusammenhang mit der hier interessierenden Übungsdisputation entrichtet hat. 18 Ordo | reipublicae literariae | atque | bibliothecae verè academicae | idem. | Specimen, | de quo instituendam | concertationem sollennem, | Annuente Ampliss. Ord. Philosophico, | moderabitur | Thomas Thorild, | Professor Reg. et Biblioth. Acad. Praefectus, | evincet | pro laureâ | Benjamin Lundelius | Smolandiâ-Suecus, | Stipendiarius Humero-Steuchianus, | in auditorio maiori die 24. Martii 1798. | H. A. M. S. | Greifswald: J. H. Eckhardt 1798. Über einen durch das ‚idem‘ im Titel nahegelegten Bezug zur einer anderen Schrift mit dem gleichen Titel beziehungsweise Thema konnte ich bislang nichts herausfinden. 19 Vgl. den handschriftlichen Lebenslauf (Promotionsakten Benjamin Lundelius 1798, Universitätsarchiv Greifswald, Signatur: Phil. Diss. I-80, Bl. 16r): „Natus in Smolandia d. 16. Nov. 1776 missus 1785 ad Scholam trivialem Wexioniae. Anno 1789 dignus judicatus sum, qui in Gymnasium Regi-

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später im Jahr 1799, am 16. September, eine Dissertation pro laurea zum Thema De ornatu sacrae orationis verteidigt hat.20 Als Gönner (maecenas bzw. fautor) des Unternehmens werden darüber hinaus im Dissertationsdruck Georg Wilhelm Fock und Petrus Hernquist genannt. Von beiden sind die Lebensdaten überliefert; Fock lebte von 1727 bis 1808, Hernquist von 1726 bis 1808. Letzterer hatte schon in Greifswald studiert, die Matrikel bezeugt seine Immatrikulation im Juni 1756. Zudem ist er die einzige namhaftere Figur der Personenkonstellation; er war Veterinärmediziner und Schüler Carl von Linnés. Bemerkenswert ist, dass alle vier namentlich im Druck der Dissertation genannten Akteure Schweden sind. Dass die schwedische Landsmannschaft an der Universität Greifswald und vor allem an der Artistenfakultät seit dem 16. Jahrhundert stark vertreten war, ist bekannt;21 anscheinend haben die daraus resultierenden Netzwerke bis in den Bereich der akademischen Qualifikation gewirkt. Das in der Dissertation entwickelte Konzept der lyrischen Poesie ist, wie zu erwarten war, nicht besonders originell, aber es dokumentiert recht informiert den Stand der Lyriktheorie Ende des 18. Jahrhunderts. Hier entspricht der Befund demjenigen, den HansHenrik Krummacher für die in der Enzyklopädik des 18. Jahrhunderts präsentierten Informationen zur Lyriktheorie festgehalten hat: Die enzyklopädischen Texte sind deshalb interessant, weil sie eine „Spiegelung verbreiteter Anschauungen ihrer Zeit“ bieten;22 sie tragen entsprechend den Textsortenspielregeln selten etwas genuin Neues zur Lyriktheorie um ibidem assumerer. Musas adii Upsalienses 1792, harum ludis per quatuor Semestria delectatus. Academiae hic florentis Civis factus sum Mense Sept. 1796. Theologiam, vitae genus mihi aptissimum, ceteris praete[n]di. Bennj. Lundelius“. 20 Dissertatio rhetorica de ornatu sacrae orationis, quam venia ampl. Facult. Philos. Gryph. praeside Mag. Jacobo Wallenio, [...] pro laurea defendet Laurentius Hellstadius, [...] in auditorio majori die 16 Septemb. 1799. Greifswald: J. H. Eckhardt 1799. Erhalten ist ein gedrucktes, auf den 20. September 1799 datiertes Magisterdiplom (Promotionsakten Laurentius Hellstadius 1799, Universitätsarchiv Greifswald, Signatur: Phil. Diss. I-81, Bl. 17 f.). Weitere, zum Teil überprüfungsbedürftige biographische Informationen zu Lundelius und Hellstadius finden sich in Ivar Seth: Universitetet i Greifswald och dess ställning i svensk kulturpolitik 1637–1815. Uppsala 1952, T. 2, S. 67 f. 21 Vgl. dazu Simone Giese: Universität Greifswald – Ein kleiner Finger der res publica litteraria wird zur leitenden Hand der schwedischen Studenten. In: Die Universität Greifswald in der Bildungslandschaft des Ostseeraums. Hg. von Dirk Alvermann u. a. Berlin 2007 (Nordische Geschichte 5), S. 191–210. Außerdem Ivar Seth: Die Universität Greifswald und ihre Stellung in der schwedischen Kulturpolitik 1637–1815. Berlin 1956, vor allem S. 287–310 sowie Kjell Å. Modéer: Die Universität Greifswald und Schweden. Rechts- und Kulturhistorische Betrachtungen. In: Bausteine zur Greifswalder Universitätsgeschichte. Vorträge anlässlich des Jubiläums „550 Jahre Universität Greifswald“. Hg. von Dirk Alvermann und Karl-Heinz Spiess. Stuttgart 2008 (Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald 8), S. 107–127. 22 Hans-Henrik Krummacher: Poetik und Enzyklopädie. Die Oden- und Lyriktheorie als Beispiel. In: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung. Hg. von Franz M. Eybl u. a. Tübingen 1995, S. 255–285, hier S. 284.

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bei, ja, sie ‚hinken‘ nicht selten dem avancierten Stand ‚hinterher‘ – weil es in ihnen vor allem um „die Vermittlung des Systems des Wissens oder auch nur des nötigsten Extrakts“ geht.23 Ähnliches wird man für die Dissertationen der Zeit vermuten können – sie folgen zwar einerseits teilweise ganz anderen Spielregeln als enzyklopädische Texte, teilen mit ihnen aber andererseits das Ziel, im Rahmen einer gelehrten Kommunikationssituation, die auch durch die Verwendung der in der Zeit in vielen Bereichen des literarischen und intellektuellen Feldes durchaus nicht mehr selbstverständlichen lateinischen Sprache angezeigt wird, zunächst einmal einen etablierten Wissensstand dokumentieren zu sollen. Zwar kann man von Dissertationen nicht wie von Enzyklopädien im Sinne einer ausschließenden Dichotomie behaupten, ihnen stelle sich „Bestandsaufnahme und nicht Fortentwicklung von Wissen und Ansichten als Aufgabe“,24 aber man wird doch feststellen können, dass die Orientierung an der Fortentwicklung im geschützten Raum der universitären Ausbildung eher ein regulatives Ideal darstellt, die Bestandsaufnahme dagegen wohl als handwerkliche Bedingung für alles Weitere gesehen wird. Quellenangaben finden sich in der Greifswalder Dissertation nicht, so dass man nur mutmaßen kann, woher das lyriktheoretische Wissen übernommen worden ist – die von Krummacher untersuchten enzyklopädischen Überblickstexte sind hier als wichtiges potentielles Quellenkorpus zu vermuten. Die ersten Paragraphen über Ursprung und Wesen der lyrischen Poesie entsprechen den Ausführungen, wie man sie bereits bei Gottsched nachlesen konnte, der als akademische Lehrbuchautorität auf allen Gebieten der ‚schönen Künste und Wissenschaften‘ seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kanonische Geltung besaß.25 Der Name der lyrischen Poesie wird von dem Greifswalder Autor ganz traditionell hergeleitet aus dem Umstand, dass er Gedichte bezeichnet habe, die zur Lyra gesungen worden seien. Zudem wird die lyrische Poesie als erste und älteste Art der Dichtung qualifiziert (S. 5, § 1). In einem späteren Paragraphen wird der musikalische Ursprung der Dichtung weiter auserzählt: Nicht allein zu Saiteninstrumenten wie der Lyra oder der Kithara seien die ersten lyrischen carmina gesungen worden, sondern auch zu Schlaginstrumenten wie dem Tympanon oder der Zimbel und zu Blasinstrumenten wie Flöten oder Trompeten (S. 7, § 4). Wie Gottsched entwickelt Lundelius ein Ursprungsszenario, in dem zunächst eine Opposition zwischen der Redekunst als ars eloquendi und der Musik als ars canendi aufgebaut wird: Erstere sei im Laufe der Kulturgeschichte erst spät aufgetreten, letztere dagegen sei vom Anfang der Menschheitsentwicklung an da gewesen: Es habe sich um eine Form von imitatio der Vögel gehandelt („modulamine avium omniumque sonorum aliquatenus 23 Ebd., S. 263. 24 Ebd., S. 283. 25 Das kann man etwa zeitgenössischen Lektüreempfehlungen entnehmen; vgl. Dirk Werle: Umbau des polyhistorischen Wissensraums. Johann Christoph Stockhausens Critischer Entwurf einer auserlesenen Bibliothek für den Liebhaber der Philosophie und schönen Wissenschaften (1752). In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 34 (2011), S. 125–138.

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imitatio“, S. 5, § 2). Entsprechend sei auch heute noch die menschliche Rede durch musikalische Reste („Musicae […] rudimenta“) geprägt, insofern etwa jeder gefühlsgesteuerte Ausruf etwas von einem Gesang an sich habe. Eine ähnliche Darstellung findet sich in Johann Gottfried Herders einige Jahre zuvor, 1795, erschienener Abhandlung Die Lyra. Von der Natur und Wirkung der lyrischen Dichtkunst: „Allem, was lebt“, schreibt Herder, „gab die Natur mehr oder minder Stimme“.26 Herder wehrt allerdings wie vor ihm bereits Gottsched die – von Lundelius affirmierte – Vorstellung ab, „daß die Menschen nur von den Vögeln ihren Gesang gelernt haben, und ohne sie dazu nicht gelangt wären“.27 Aber er bringt wie später der Greifswalder Autor den Gesang mit einer anderen Fähigkeit des Menschen in Verbindung: „Denn Ihm gab der Schöpfer nicht nur Stimme, sondern auch Sprache. Da jede Sprache nun, schon ihrer Natur nach, Musik ist: so war, auch ohne Lyra und Cither, dem Menschen mit ihr das Werkzeug einer lyrischen Poesie gegeben.“ Indem der Greifswalder Autor wie vor ihm Herder lyrische Poesie als Sprache mit dem Gesang in Verbindung bringt, modelliert er für diese Form von Dichtung implizit einen Rezipienten als Hörer, nicht als Leser, wie ihn sich, wenn auch nicht mit dem speziellen Blick auf die Lyrik, zur gleichen Zeit Friedrich Schlegel für das neue Jahrhundert wünschte.28 Dementsprechend partizipiert der Greifswalder Text an einer in der Zeit virulenten Spannung zwischen dem „poetologische[n] Programm der Wiederherstellung von Mündlichkeit“ einerseits und dem Befund, dass Lyrik „[u]m 1800 […] nicht mehr ein zur Lyra gesungenes Lied, sondern ein geschriebener Text“ ist, „für den Sprachklang und Sprachrhythmus konstitutive Merkmale sind“, andererseits.29 Dieser Spannung begegnet der Greifswalder Autor mit seiner Ursprungsgeschichte, in die auch die Entstehung des Sprachrhythmus integriert wird: Er habe seine Ursprünge in Festbräuchen der ersten Menschen, bei denen man zum Lobe der Götter umhergesprungen sei („saltandi modus 26 Johann Gottfried Herder: Die Lyra. Von der Natur und Wirkung der lyrischen Dichtkunst. In: ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. von Günter Arnold u. a. Bd. 8: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792–1800. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt am Main 1998 (Bibliothek deutscher Klassiker 154), S. 117–135, hier S. 120. Herder entwickelt hier Theoreme weiter, die er schon in seiner 1772 erschienenen Abhandlung über den Ursprung der Sprache vorgetragen hatte. Vgl. ders.: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bollacher u. a. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772. Hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt am Main 1985 (Bibliothek deutscher Klassiker 1), S. 695–810. 27 Herder: Die Lyra (wie Anm. 26), S. 121. Vgl. Gottsched (wie Anm. 6), S. 116: „Der Mensch wuerde, meines Erachtens, gesungen haben, wenn er gleich keine Voegel in der Welt gefunden haette.“ 28 In seinen Schriften zur antiken Lyrik dagegen denkt Schlegel auch an deren Hörer. Vgl. dazu Dieter Burdorf: Blätter, Rosen, Gärten. Zur Theorie des lyrischen Fragments beim jungen Friedrich Schlegel. In: Antike − Philologie − Romantik. Friedrich Schlegels altertumswissenschaftliche Manuskripte. Hg. von Christian Benne und Ulrich Breuer. Paderborn u. a. 2011, S. 101−146. 29 Joh. Nikolaus Schneider: „Still auf dem Blatt ruhte das Lied“. Lyrische Gedichte zwischen Lesetext und Hörerlebnis. In: Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18. Jahrhundert. Hg. von Wolfgang Adam und Markus Fauser. Göttingen 2005 (Schriften des Gleimhauses Halberstadt 4), S. 135–148, hier S. 148.

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pluribus erat servandus“). Das rhythmische Springen habe ein Rhythmusgefühl erzeugt. Eine ähnliche Ursprungsgeschichte erzählt August Wilhelm Schlegel in den Briefen über Poesie, Silbenmaß und Sprache. „In ihrem Ursprunge“, schreibt Schlegel, „macht Poesie mit Musik und Tanz ein untheilbares Ganzes aus. Der Tanz hat in allen seinen Gestalten, von der einfachsten Natur bis zu den sinnreichsten Erweiterungen der Kunst, vom Freudensprunge des Wilden bis zum noverrischen Ballet, nie die Begleitung der Musik entbehren gelernt.“30 Das sei, so Schlegel, erst in der Gegenwart der Fall, und es sei Aufgabe des Dichters, diesen Zustand der Trennung von Dichtung, Musik und Tanz wieder rückgängig zu machen. Die Kraft des lyrischen Gedichts bestehe, so der Greifswalder Autor weiter, darin, dass es wie die hervorbrechende Stimme eines bewegten Gemüts sei („velut erumpens vox commoti animi“); die Lyrik sei mithin die Stimme der Gefühle und der Phantasie („vox affectuum et Phantasiae“), nicht der kalten ratio (S. 6, § 3). Im lyrischen Gedicht sei daher in besonderem Maße der von Platon für die Dichtung allgemein beanspruchte furor divinus enthalten. Die Beschreibung zeigt, dass der Greifswalder Autor die zeitgenössische Kopplung der lyrischen Poesie an die Gemütsbewegungen mitgeht und dass er sogar bereits einen recht weiten Lyrikbegriff zu vertreten scheint, der als Inbegriff der Poesie insgesamt gelten soll. Die Theorie der lyrischen Dichtung als Stimme der Gemütsbewegung belegt er recht schulmäßig, aber auch etwas unerwartet damit, dass die lyrische Dichtung ganz bestimmte rhetorische Figuren bevorzuge, nämlich die etwas ‚gewagteren‘ („audaciores illae figurae“): die Hyperbel, die Apostrophe und die Prosopopoiie, die durch Beispiele aus Vergil, Cicero und Plinius veranschaulicht werden. Dass die Gemütsbewegung durch rhetorische Mittel zum Ausdruck gebracht werden soll, impliziert wohl, dass Lundelius in der notorischen Frage, ob es sich beim lyrischen Gedicht um unmittelbaren Ausdruck oder um Nachahmung der Empfindungen handelt, gar kein Problem sieht, sondern seinen Ausführungen ganz selbstverständlich, mit Batteux und gegen seinen Übersetzer und Kommentator Schlegel, die Nachahmungsoption zugrunde legt.31 30 August Wilhelm Schlegel: Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache. In: ders.: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Eduard Böcking. Bd. 7: Vermischte und kritische Schriften 1. Leipzig 1846 (ND Hildesheim und New York 1971), S. 98–154, hier S. 103 f. 31 Die andere Option, dass die lyrische Poesie und insbesondere die Ode unmittelbarer Ausdruck der Empfindungen sei, entwickelt besonders profiliert Moses Mendelssohn: Von der Lyrischen Poesie. In: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. von I. Elbogen u. a. Bd. 3, 1: Schriften zur Philosophie und Ästhetik 3. Bearbeitet von Fritz Bamberger und Leo Strauss. Berlin 1932, S. 333– 341. Die Fragment gebliebene Abhandlung konnte der Greifswalder Autor freilich noch nicht kennen, denn sie wurde erst 1810 posthum in der Neuen Berlinischen Monatsschrift veröffentlicht. Kennen konnte er aber Schillers Bürger-Rezension, die 1791 in der Allgemeinen Literatur-Zeitung erschienen war und in der Schiller dekretiert: „Es ist […] nicht genug, Empfindung mit erhöhten Farben zu schildern; man muß auch erhöht empfinden.“ Schiller (wie Anm. 10), S. 974. Allerdings optiert Schiller für eine ‚Idealisierung‘ der Empfindungen in der Darstellung, ohne die das Gedicht ein schlechtes bleiben muss: „[Der lyrische Dichter, D. W.] darf eine gewisse Allgemeinheit in den

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Der weite Lyrikbegriff, der in der Greifswalder Dissertation vertreten wird, wird ganz deutlich im Entwurf einer historischen Gattungslehre der lyrischen Poesie, der das Zentrum der Schrift bildet und formal scheinbar den tradierten Mustern, etwa bei Opitz oder Gottsched, folgt. Der Autor nennt zunächst antike Formen lyrischer Poesie, beginnend mit Pindarischen Gedichten, die die Götter und Helden besungen und gerühmt hätten, und ihren Horazischen Adaptationen, also den traditionell „maßgeblichen Muster[n] lyrischer Dichtung“.32 Man habe aber auch, so Lundelius, frohe Ereignisse, Gastmähler, Liebesdinge und unernste Dinge besingen können (S. 7, § 5). Als daraus hervorgehende Subgattungen lyrischer Poesie werden genannt: Päane, Hymnen, Dithyramben, Hyporchemata, Oden, Scholia, Chöre (S. 8, § 5). Die Ode tritt in dieser Aufstellung nicht als Synonym lyrischer Poesie auf, sie ist nur eine unter vielen Formen, in der die antiken Lyriker Liebessorgen, Zorn, Wein und alles Mögliche sonst besungen hätten („Odae: quibus curas amatorias, iras, vina et nihil non cantarunt antiqui Lyrici“). Bereits Opitz hatte die Ode eher unscharf dadurch charakterisiert, dass sie zum Besingen aller möglichen Gegenstände tauge. Der Greifswalder Autor knüpft hier an die alte Vorstellung der Ode als liedhaftem Gedicht an, nicht an die Ende des 18. Jahrhunderts bereits vielerorts etablierte Idee der Ode als Dichtung hohen Stils, die erhabene Gegenstände und Empfindungen thematisiert und dem ‚einfachen‘ Lied geradezu entgegengesetzt ist. Mit den ‚Hymnen‘ und ‚Dithyramben‘ sind aber auch diese Arten von Gedichten enthalten, so dass die Trennung zwischen liedhafter Ode und erhabener, hymnischer Dichtung bereits berücksichtigt ist. Nicht in der Liste enthalten sind Epigramm und Elegie; sie gelten Lundelius offenbar noch nicht als lyrische Poesie, obwohl die Diskussion insbesondere über den Charakter des Elegischen in der zeitgenössischen Lyriktheorie eine gewisse Virulenz erlangt hatte.33 Der Greifswalder Autor bleibt aber nicht bei einer Auflistung antiker griechischer und römischer lyrischer Formen stehen, er gedenkt auch der nordischen Skalden, der gallischen Barden, der Lieder des Ossian sowie der mittelalterlichen Troubadours und Minnesänger, wenngleich ihre Produkte als „non sat magni […] momenti“ abqualifiziert werden (S. 9, § 6). Im Folgenden listet Lundelius die Vielfalt moderner lyrischer Formen auf, getrennt nach ihren Ursprungsländern Italien (Kantate, Sonett, Kanzone, Madrigal), Spanien (Romanze), Frankreich (Rondeau, Virelai, Vaudeville) und England (Catch, Ditty, Glee). So ‚historisiert‘ er die traditionelle, hierarchische Gattungslehre. Als Abschluss seiner Formenlehre bringt Lundelius drei Beispiele hervorragender lyrischer Poesie der Neuzeit. Sie werde in keinem Text deutlicher und lebhafter vorgeführt („numquam poterit recentior poësis Lyrica, aut clarius illustrari, aut vividius repraesentaGemütsbewegungen, die er schildert, um so weniger verlassen, je weniger Raum ihm gegeben ist, sich über das Eigentümliche der Umstände, wodurch sie veranlaßt sind, zu verbreiten.“ Ebd., S. 984. 32 Krummacher (wie Anm. 22), S. 280. 33 Vgl. dazu Jörg Schuster: „Aus der sanftern und fernenden Erinnerung mag er dichten“ – Poetologische Implikationen des ‚Elegischen‘ in der Lyriktheorie des 18. Jahrhunderts. In: Sprache und Literatur 30 (1999), H. 2, S. 40–52.

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ri“) als in John Drydens Ode „Alexander’s Feast, or the Power of Music“, aus der exemplarisch große Teile zweier Strophen zitiert werden (S. 9–11, § 6). An diesem ersten Hauptbeispiel ist dreierlei bemerkenswert. Erstens handelt es sich hier um eine Ode im älteren Sinn des Wortes, also um ein ganz traditionelles Beispiel für liedhafte lyrische Poesie, die zudem 1736 von Georg Friedrich Händel als Chorwerk vertont worden war, deren Sangbarkeit also in der Tat erwiesen war. Zweitens wählt Lundelius ein Beispiel, das 1799 bereits über 100 Jahre alt ist; Drydens Ode stammt aus dem Jahr 1697. Es scheint ihm mithin zunächst nicht gerade darum zu gehen, mit seinen Beispielen ‚am Puls der Zeit‘ zu liegen. Drittens wählt er ein Beispiel, in dem die musikalische Kraft der Poesie nicht nur formal zum Ausdruck gebracht wird, sondern in dem es inhaltlich um genau dasselbe geht: Die Ode beschreibt das Siegesfest Alexanders des Großen, bei dem dessen Hofdichter Timotheus den Sieg besingt. Der Greifswalder Autor wählt für seine Zitate auch genau die Passagen, in denen vom Akt dichterischen Singens explizit die Rede ist. Das zweite von Lundelius angeführte Hauptbeispiel für die lyrische Poesie der Neuzeit ist Friedrich Gottlieb Klopstock, der als „princeps germanorum vatum“ geehrt wird. Der Autor zitiert aus Klopstocks schon zu der Zeit bekanntester Hymne in freien Rhythmen, der „Frühlingsfeier“, und zwar die berühmte Stelle, auf die bereits Goethes Werther rekurriert hatte, die Stelle nämlich, an der beschrieben wird, wie Gott es im Zuge eines Gewitters donnern lässt. Die Stelle wählt Lundelius aus, um zu zeigen, dass Klopstock alle anderen Dichter, auch Dryden, an „sublimitas“ übertreffe; er wird als derjenige Dichter dargestellt, der am besten das Erhabene in lyrischer Poesie zum Ausdruck bringen könne. An dem zweiten Beispiel sind im Vergleich mit dem erstgenannten zwei weitere Aspekte bemerkenswert: Klopstocks Gedicht ist keine Ode im traditionellen Sinne; die Gemütsbewegung wird hier nicht durch Liedhaftigkeit und Sangbarkeit zum Ausdruck gebracht, sondern durch die Darstellung eines bewegten Gemüts in Gestalt freier Rhythmen und parataktischer Sätze und Ausrufe. Durch die Berücksichtigung dieser Innovation, die Klopstock seit Mitte des 18. Jahrhunderts in die Oden- und Hymnendichtung eingeführt hatte, zeigt der Greifswalder Autor nun, dass ihm eine wesentliche neuere Entwicklung im Bereich der lyrischen Poesie bekannt ist und dass er sie als Teil seines Entwurfs integrieren kann. Zweitens wird mit der Nennung des zweiten Beispiels deutlich, dass Lundelius es mit seinem Vorhaben ernst meint, sich auf die gesamte europäische Lyrik und nicht bloß auf einen Teil beziehen zu wollen. In diesem Zusammenhang ist denn auch das dritte Beispiel aufschlussreich, das der Autor nennt. Es handelt sich um ein Gedicht des schwedischen Dichters Bengt Lidner, der 1776 bis 1779 ebenfalls in Greifswald studiert hatte und erst wenige Jahre zuvor, 1793, gestorben war. Das Gedicht stellt die Auswirkungen eines Erdbebens in Madrigalversen dar. Die Originalität und Qualität dieses Gedichts wird von Lundelius gegenüber den beiden zuvor genannten Beispielen als niedrigeren Grades bewertet: Auch Lidner entbehre nicht, so der Autor, eines sehr tüchtigen ingenium („Nec ingenio validissimo caret“). Dass dieser Autor mit seinem Gedicht über das Erdbeben die Reihe der exempla moderner lyrischer Poesie komplettiert, ist natürlich erstens eine Reverenz an die schwedische Lands-

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mannschaft in Greifswald. Zweitens soll gerade die Wahl eines Gedichts mit diesem besonderen Sujet anzeigen, dass die schwedische Dichtung sich vor der deutschen, insbesondere der Klopstock’schen, nicht zu verstecken braucht: In der Skala der Naturereignisse, die das Gefühl des Erhabenen hervorrufen können, ist ein Erdbeben höher angesiedelt als ein Gewitter, weil die Macht der Naturgewalten sich hier noch stärker präsentiert. Drittens scheint die Reihung eines englischen, eines deutschen und eines schwedischen Gedichts anzudeuten: Der Greifswalder Autor sieht die herausragenden Entwicklungen der lyrischen Poesie im 18. Jahrhundert dezidiert nicht in der Romania, in Italien, Spanien und Frankreich, den Ländern, in denen seiner eigenen Darstellung zufolge die meisten modernen lyrischen Textsorten entstanden sind, sondern in den germanischen Ländern. Vor allem aber bedeutet die Ablösung der in der Gelehrtenkultur lange Zeit noch verbindlichen antiken Musterbeispiele, auf die zu Beginn der Dissertation nur noch angespielt wird, durch neuzeitliche Exempel ein Statement, das den literaturhistorischen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts Rechnung trägt. Dabei sind die Gedichte chronologisch so gewählt, dass die schwedische Lyrik als aktueller Höhepunkt der Entwicklung erscheint, die die Krone von den älteren englischen und deutschen Modellen übernommen hat. Herder hatte in seiner Abhandlung Die Lyra eben unter Verweis auf Klopstock eine Vorreiterrolle der deutschsprachigen Dichtung behauptet: Unter allen jetzt blühenden kultivierten Sprachen Europas ist es die Unsere, die sich, frei von den Fesseln des Reims, und zwar nicht in unprosodischen Deklamationen, sondern in den Sylbenmaßen der Alten selbst ihrem lyrischen Gesange hat nachschwingen mögen. […] und wer ists, der ihr zu diesem Aufschwunge geholfen? Undankbar wäre es, den Namen des Mannes zu verschweigen, der getan hat, was achtzehn Jahrhunderte vor ihm nicht taten, Klopstock.34

Vor dem Hintergrund derartiger Proklamationen ist Lundelius’ Entscheidung zu verstehen, einen schwedischen Klopstock aus dem Hut zu zaubern, zumal wenn man hinzunimmt, was Herder einige Seiten später dekretiert: „Ein Volk, das keinen Nationalgesang hat, hat schwerlich einen Charakter, und wie hoch es in seiner Bildung gestiegen sei, an welchen Empfindungen und Gegenständen es am liebsten und innigsten hafte, dies zeigt nichts so sehr als die Art und Gattung der lyrischen Muse, die unter ihm wohnet.“35 Für heutige Leser überraschend, aber im Rahmen eines Modells, das die lyrische Poesie als quasi-musikalische Erscheinung deutet, im Ansatz nachvollziehbar und zudem ganz in der Tradition von Batteux’ durch Schlegel, aber dann 1754 in Auszügen auch durch Gottsched ins Deutsche übersetzten Beaux Arts réduits à un même principe36 ist der Umstand, dass der Greifswalder Autor seine Abhandlung abschließt mit einer Besprechung des „Drama Musicum“, der Oper, die er als „Artificium […] summum“ der neueren lyrischen Poesie bezeichnet, weil in ihr die vereinten Kräfte („conjunctas vires“) von 34 Herder: Die Lyra (wie Anm. 26), S. 126. 35 Ebd., S. 134. 36 Vgl. Behrens (wie Anm. 12), S. 181 f.

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Mimus, Poesie, Musik, Bewegung, Bild und Szenerie wirksam seien (S. 12, § 7). Die Diskussion wendet sich der Frage zu, ob es naturgemäß sei, ein ganzes Drama zu singen (S. 13, § 7). Die Antwort fällt positiv aus und berührt – in heutiger Terminologie – fiktionstheoretische Aspekte: Im Theater würden ohnehin allerhand fiktive und wunderbare Dinge dargestellt („ficta et mira omnia“); man möge es nur der Phantasie der Zuschauer überlassen, die ein gesungenes Drama ohne Weiteres akzeptierten. Das Theaterrund, gedacht nach dem Modell eines antiken Amphitheaters, beschreibt Lundelius etwas pathetisch als ‚magischen Zirkel‘ („in magico illo Theatri Circo“). Gleichwohl müsse der Dichter einer Oper ebenso wie der Dichter eines kleineren lyrischen Gedichts Regeln der Wahrscheinlichkeit beachten („Omnia tamen, ut eo usque naturam imitentur, ac fieri possit“): Arien dürften nur in Situationen eingefügt werden, in denen eine Figur tatsächlich von Gemütsbewegungen („affectu“) überwältigt, Chöre dagegen nur in Situationen, in denen ein gewisser rhetorischer Nachdruck („vehementia“) des Gesungenen plausibel sei. So führt die Diskussion zu einem allgemeinen Abschluss der Abhandlung, der wie der Beginn wieder recht traditionell anmutet: Die lyrische Poesie möge nur immer die Wahrheit der Natur („naturae veritate“) beachten, die Gemüter der Menschen zu himmlischen und ewigen Dingen erheben und sie gegen die Fährnisse des Lebens wappnen. Die Greifswalder Dissertation De poesi lyrica ist ein Dokument der lyriktheoretischen Umbruchszeit ‚um 1800‘; aber nicht der Avantgarde, sondern des Wissenstransfers von den Avantgarden in den Bereich akademischer Ausbildung und Diskussion. Lundelius versucht in erster Linie, bewährte Wissensbestände über die lyrische Poesie für die Diskussion in der akademischen Debatte zu aktualisieren: die Bestimmung der lyrischen Poesie als musikalische Dichtung und als Ausdruck von Gemütsempfindungen. Dabei ist seine geistige Herkunft aus dem universitären Umfeld der philosophischen Fakultät, näherhin aus dem Lehrgebiet der Rhetorik, unverkennbar. Allerdings berücksichtigt er insbesondere in seiner historischen Gattungslehre neuere lyriktheoretische Entwicklungen, die in die Richtung eines Konzepts von Lyrik als Makrogattung zielen, er ‚historisiert‘ die tradierte Gattungslehre, und er positioniert sich insbesondere mit seinen Exempeln moderner lyrischer Poesie auf profiliertere Weise, indem er die alte durch die neue, die südeuropäische durch die nordeuropäische und die englische und deutsche durch die schwedische Poesie überbietet.

Hanspeter Marti: Schriftenverzeichnis I. Selbstständige Publikationen Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660–1750. ������������������� Eine Auswahlbibliographie, unter Mitarbeit von Karin Marti. München 1982. [Gemeinsam mit Emil Erne:] Index der deutsch- und lateinsprachigen Schweizer Zeitschriften von den Anfängen bis 1750. Unter Mitarbeit von Mirjam Christen und Karin Marti. Basel 1998. Klosterkultur und Aufklärung in der Fürstabtei St. Gallen. St. Gallen 2003. Gottfried Arnold. Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsgabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti. Hg. von Antje Mißfeldt. Köln, Weimar, Wien 2011. Handbuch der historischen Buchbestände in der Schweiz. Hg. von der Zentralbibliothek Zürich. Bd. 1: Kantone Aargau bis Jura. Bearbeitet von Urs B. Leu, Hanspeter Marti und Jean-Luc Rouiller. Hildesheim, Zürich, New York 2011. Handbuch der historischen Buchbestände in der Schweiz. Hg. von der Zentralbibliothek Zürich. Bd. 2: Kantone Luzern bis Tessin. Bearbeitet von Urs B. Leu, Hanspeter Marti, Jean-Luc Rouiller, Veronica Carmine und Paola Costantini. Hildesheim, Zürich, New York 2011. Handbuch der historischen Buchbestände in der Schweiz. Hg. von der Zentralbibliothek Zürich. Bd. 3: Kantone Uri bis Zürich. Bearbeitet von Urs B. Leu, Hanspeter Marti und Jean-Luc Rouiller. Hildesheim, Zürich, New York 2011.

II. Herausgebertätigkeit Programm und Exempel (Texte und Studien der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Bd. 1). Engi/Schweiz 1996. Karl Kloter: Markus. Ein Entwicklungs-Roman aus unserer Zeit. Zürich 1959; Reprint Kriens 2001. Mit Beiträgen von Mirjam Infanger, Karl Kloter, Hanspeter Marti, Pirmin Meier. Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780. Hg. von Hanspeter Marti und Detlef Döring (Texte und Studien der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Bd. 6). Basel 2004. Die Universität Königsberg in der Frühen Neuzeit. Hg. von Hanspeter Marti und Manfred Komorowski. Köln, Weimar, Wien 2008. Reformierte Orthodoxie und Aufklärung. Die Zürcher Hohe Schule im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Hanspeter Marti und Karin Marti-Weissenbach. Köln, Weimar, Wien 2012.

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III. Mitarbeit Engi – Ein historischer Spaziergang. Hg. vom Verein zur Erforschung und Dokumentation der Ortsgeschichte von Engi. Glarus 1996. Karin Marti-Weissenbach: Die Unternehmerfamilie Tschudi aus dem glarnerischen Schwanden. Ihre Geschichte seit dem 16. Jahrhundert. Unter Mitarbeit von Hanspeter Marti. Hg. von der Peter Tschudi-Freuler’schen Familienstiftung. Glarus 2003. Martin Bodmer-Stiftung für einen Gottfried Keller-Preis. Fondation Martin Bodmer pour un Prix Gottfried Keller. Ein Schweizer Literaturpreis. Un prix littéraire suisse. o. O. 2004.

IV. Aufsätze Disputationswesen und Rhetorikgeschichte: Vorbemerkungen zu einer im Entstehen begriffenen Auswahlbibliographie. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 1 (1980), S. 165–167. Der wissenschaftsgeschichtliche Dokumentationswert alter Dissertationen. In: Nouvelles de la République des Lettres 1 (1981), S. 117–132. Gottfried Arnold – Magister der Philosophie in Wittenberg. Seine Dissertation über die Engelsprache: erstmals ediert und vorläufig kommentiert. In: Linguistica Biblica 52 (1982), S. 41–70. – Zweite, verbesserte Fassung in: Gottfried Arnold. Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsgabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti. Hg. von Antje Mißfeldt. Köln, Weimar, Wien 2011, S. 161–189. Zur Aufnahme der französischen Querelle des Anciens et des Modernes in der deutschen Gelehrtenrepublik. Johann Benedikt Carpzovs Vergleichsschrift – ein wirkungsgeschichtliches Paradigma. In: Nouvelles de la République des Lettres 2 (1985), S. 191– 211. Die Rhetorik des Heiligen Geistes. Gelehrsamkeit, poesis sacra und sermo mysticus bei Gottfried Arnold. In: Pietismus-Forschungen. Zu Philipp Jakob Spener und zum spiritualistisch-radikalpietistischen Umfeld. Hg. von Dietrich Blaufuß. Frankfurt am Main 1986, S. 197����������������������������������������������������������������� –���������������������������������������������������������������� 294. – Zweite, verbesserte Fassung in: Gottfried Arnold. Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsgabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti. Hg. von Antje Mißfeldt. Köln, Weimar, Wien 2011, S. 15–76. Schweizer Periodika in der Zeit der Aufklärung – ein Forschungsprojekt (Index analytique des périodiques suisses des débuts à 1789). In: Bulletin, Schweizerische Akademie der Geisteswissenschaften, Schweizerische Naturforschende Gesellschaft XII (1987/3), S. 8–11. Naturrecht, Ehrbarkeit und Anstand im Spiegel frühaufklärerischer Hobbeskritik. Lambert van Velthuysens Briefdissertation ‚De principiis justi et decori‘ und ihre Aufnahme in der deutschen Schulphilosophie. In: Aufklärung 6/2 (1991), S. 69–95.

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Die Geschichte der deutschen Literatur als Thema einer Disputation in der Barockzeit. Die wiederaufgefundene Dissertation des Schlesiers Karl Ortlob (1628–1678). In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 20/1 (1993), S. 5–9. Die Kapuziner und das Licht der Aufklärung. Ein internationales Forschungsprojekt über kulturelle Ausgleichsprozesse in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Das Beispiel der Kapuzinerbibliothek Luzern. In: Helvetia Franciscana 23/1 (1994), S. 18–40. Die Kapuzinerbibliothek Luzern im Zeitraum 1750–1800. In: Dieter Breuer, Hanspeter Marti, Birgit Boge und Ralf Georg Bogner: Kulturelle Ausgleichsprozesse im Spiegel der gelehrten Bibliotheken der deutschsprachigen katholischen Länder 1750–1800, S. 115–117. In: Trilateraler Forschungsschwerpunkt Differenzierung und Integration. Sprache und Literatur deutschsprachiger Länder im Prozess der Modernisierung. Internationalität und Regionalität. Wiener Gesamtsymposium 2.–4. März 1994. Wien 1994, S. 111–123. Die Verkündigung des irdischen Paradieses. Spiritualismus und Utopie bei Gottfried Arnold. In: Gottfried Arnold (1666������������������������������������������������ –����������������������������������������������� 1714). Mit einer Bibliographie der Arnold������ -����� Literatur ab 1714. Hg. von Dietrich Blaufuß und Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1995, S. 179–196. – Zweite, verbesserte Fassung in: Gottfried Arnold. Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsgabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti. Hg. von Antje Mißfeldt. Köln, Weimar, Wien 2011, S. 77–91. Eine medizinische Schweizer Zeitschrift im Dienst der Aufklärung: Johann Heinrich Rahns Gazette de Santé. In: Gesundheit und Krankheit im 18. Jahrhundert. Referate der Tagung der Schweizerischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts Bern, 1. und 2. Oktober 1993. Hg. von Helmut Holzhey und Urs Boschung in Zusammenarbeit mit Stefan Hächler und Martin Stuber. Amsterdam 1995, S. 107– 116. Eine Rüstkammer der Gegenaufklärung. Die Kapuzinerbibliothek Zug in den letzten beiden Jahrzehnten des Ancien Régime und in der Zeit der Helvetik. In: Helvetia Franciscana 24/2 (1995), S. 149–203. – Zweite, verbesserte Fassung in: Programm und Exempel (Texte und Studien der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen. Bd. 1), Engi/Schweiz 1996, S. 66–103. Der Dialog mit Gott im Gebet. Die Rhetorica caelestis des Jesuiten Jeremias Drexel. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. In Verbindung mit Barbara BeckerCantarino, Heinz Schilling und Walter Sparn hg. von Dieter Breuer. Teil II. Wiesbaden 1995, S. 509–521. Klosterkultur und Aufklärung in der Schweiz: Nationalfonds-Forschungsprojekte zur Wirkungsgeschichte der Aufklärung in den katholischen Landesteilen. In: Pro Saeculo XVIIIo Societas Helvetica, Bulletin 8 (Mai 1996), S. 20f. Die Attacke des Wahren auf das Schöne. Antiaufklärerische Ästhetikkritik in einer benediktinischen Leseanleitung aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Librarium 39 (1996), S. 180–186.

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Programm und Exempel. Zur Gründung der ‚Stiftung für kulturwissenschaftliche Forschungen‘ mit Sitz in Engi (Kanton Glarus, Schweiz). In: Programm und Exempel (Texte und Studien der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Bd. 1), Engi/Schweiz 1996, S. 1–5. Die Schweizer Zeitschrift in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Gelehrte Raritätenkammer oder Plattform der Aufklärung? In: Programm und Exempel (Texte und Studien der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Bd. 1). Engi/Schweiz 1996, S. 128–137. Jesuiten im Blickfeld des radikalen Pietisten Gottfried Arnold. Konfessionalistische Abgrenzung und mystisch-spirituelle Solidarität. In: Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 1: Vormoderne. Weimar, Köln, Wien 1997, S. 501–519. – Zweite, verbesserte Fassung in: Gottfried Arnold. Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsgabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti. Hg. von Antje Mißfeldt. Köln, Weimar, Wien 2011, S. 107–129. „Homo religiosus ad stellas pervolans“. Der Luzerner Kapuziner Clemens Purtschert (1762�������������������������������������������������������������������������� –������������������������������������������������������������������������� 1835) im Spannungsfeld von Offenbarung, Kirche und Aufklärung. In: Helvetia Franciscana 26/1 (1997), S. 4–32. Herder in Riga ���������������������������������������������������������������������� –��������������������������������������������������������������������� ein Schulphilosoph? In: Johann Gottfried Herder und die deutschsprachige Literatur seiner Zeit in der baltischen Region. Beiträge der I. Rigaer Fachtagung zur deutschsprachigen Literatur im Baltikum 14. bis 17. September 1994. Hg. von Claus Altmayer und Armands Gutmanis. Riga 1997, S. 94–111. Christian Thomasius und der Pietismus im Spiegel ihrer Wirkungsgeschichte. Zur philosophiegeschichtlichen Bedeutung der Thomasius-Rezeption im Baltikum. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. von Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997, S. 235–250. Gesellschaftliches Leben und ‚unio mystica‘ am Beispiel der Mystiktheorie des Jesuiten Maximilian Sandäus (1578���������������������������������������������������������� –��������������������������������������������������������� 1656). In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Hg. von Wolfgang Adam. Teil I. Wiesbaden 1997, S. 199–209. Helvetische Befangenheiten. Die Geschichte der Aufklärung in den katholischen Landesteilen der Schweiz – ein Forschungsdesiderat. In: Trilateraler Forschungsschwerpunkt Differenzierung und Integration. Sprache und Literatur deutschsprachiger Länder im Prozeß der Modernisierung. Abschließendes Berliner Gesamtsymposium an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 21.–24. März 1996. [o. O. o. J.], S. 86–88. Luzern – Zentrum der Gegenreformation in der Alten Eidgenossenschaft. In: Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber. Bd. II. Tübingen 1998, S. 1092–1113. Litterärhistorie und Ketzergeschichte. Reimmanns historiographische Toleranz. In: Jakob Friedrich Reimmann (1668�������������������������������������������������� –������������������������������������������������� 1743). Hg. von Martin Mulsow und Helmut Zedelmaier. Tübingen 1998, S. 60–75. – Zweite, verbesserte Fassung in: Gottfried Arnold.

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Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsgabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti. Hg. von Antje Mißfeldt. Köln, Weimar, Wien 2011, S. 144–160. Lateinsprachigkeit ������������������������������������������������������������������� –������������������������������������������������������������������ ein Gattungsmerkmal der Dissertationen und seine historische Konsistenz. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 30/1 (1998), S. 50–63. Anmerkungen. In: SchreibArt (Texte und Studien, Bd. 2. Hg. von der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Engi/Glarus). Basel 1999, S. 85–89. Fürstendiener und Patriot. Der Glarner Karl Müller-Friedberg als Beamter der Fürstäbte von St.Gallen. In: Jahrbuch des Historischen Vereins des Kantons Glarus 79 (1999), S. 9–24. Philosophieunterricht und philosophische Dissertationen im 17. und 18. Jahrhundert. In: Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. Hg. von Rainer Christoph Schwinges. Basel 1999, S. 207–232. Dissertation und Promotion an frühneuzeitlichen Universitäten des deutschen Sprachraums. Versuch eines skizzenhaften Überblicks. In: Promotionen und Promotionswesen an deutschen Hochschulen der Frühmoderne. Hg. von Rainer A. Müller. Köln 2001, S. 1–20. Kulturelle Ausgleichsprozesse in der Schweiz 1750������������������������������������ –����������������������������������� 1840. Das Beispiel der Kapuzinerbibliothek Luzern. In: Die Aufklärung in den deutschsprachigen katholischen Ländern 1750–1800. Kulturelle Ausgleichsprozesse im Spiegel von Bibliotheken in Luzern, Eichstätt und Klosterneuburg. Hg. von Dieter Breuer. Paderborn, München, Wien, Zürich 2001, S. 49–195. Grenzen der Denkfreiheit in Dissertationen des frühen 18. Jahrhunderts. Theodor Ludwig Laus Scheitern an der juristischen Fakultät der Universität Königsberg. In: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Hg. von Helmut Zedelmaier und Martin Mulsow. Tübingen 2001, S. 295–306. Die Utopie des inneren Friedens bei radikalen Pietisten. In: Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision. Hg. von Klaus Garber und Jutta Held. Bd. 1: Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur. München 2001, S. 187–199. – Zweite, verbesserte Fassung in: Gottfried Arnold. Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsgabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti. Hg. von Antje Mißfeldt. Köln, Weimar, Wien 2011, S. 92–105. Ein reisender Schweizer Gelehrter im Baltikum. In: Zwischen Riga und Lugano. Schweizerisch-Lettisches Lesebuch. Hg. von Max Schweizer. Einsiedeln 2002, S. 280–291. Der Seelenfrieden der Stillen im Lande. Quietistische Mystik und radikaler Pietismus – das Beispiel Gottfried Arnolds. In: Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Hg. von Hartmut Lehmann, Hans-Jürgen Schrader und Heinz Schilling. Göttingen 2002, S. 92–105. – Zweite, verbesserte Fassung in: Gottfried Arnold. Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsgabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti. Hg. von Antje Mißfeldt. Köln, Weimar, Wien 2011, S. 130–143.

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Das Bild des Gelehrten in Leipziger philosophischen Dissertationen der Übergangszeit vom 17. zum 18. Jahrhundert. In: Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780. Hg. von Hanspeter Marti und Detlef Döring. Basel 2004, S. 54–109. Ausbildung. Schule und Universität. In: Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Hg. von Richard van Dülmen und Sina Rauschenbach. Köln, Weimar, Wien 2004, S. 391–416. Die Quellenbestände zur frühneuzeitlichen Königsberger Universitätsgeschichte im polnischen Olsztyn (Allenstein) – Ein erster fragmentarischer Überblick. In: Königsberger Buch- und Bibliotheksgeschichte. Hg. von Axel E. Walter. Köln, Weimar, Wien 2004, S. 571–582. [Gemeinsam mit Manfred Komorowski] Erfassung und Erschließung von Königsberger Universitätsschriften der Frühen Neuzeit – Eine Projektskizze. In: Königsberger Buchund Bibliotheksgeschichte. Hg. von Axel E. Walter. Köln, Weimar, Wien 2004, S. 786–800. Aufklärung in Kurland im Spiegel der Freundschaft des Astronomen Johann III Bernoulli mit Johann Jakob Ferber, Professor an der Academia Petrina in Mitau. In: Regionaler Kulturraum und intellektuelle Kommunikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. Festschrift für Klaus Garber. Hg. von Axel E. Walter. Amsterdam, New York 2005, S. 489–520. Plädoyer für Unbekannt. Bemerkungen zum Streit der vier Fakultäten im vorkantschen Gelehrtenschrifttum. In: „Wer ist weise? Der gute Lehr von jedem annimmt“. Festschrift für Michael Albrecht zu seinem 65. Geburtstag. Hg. von Heinrich P. Delfosse und Hamid Reza Yousefi. Nordhausen 2005, S. 173–184. Kommunikationsnormen der Disputation. Die Universität Halle und Christian Thomasius als Paradigmen des Wandels. In: Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Hg. von Ulrich Johannes Schneider. Wiesbaden 2005, S. 317–344. Zwei Klosterbibliotheken in der Zeit der Helvetik. In: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 99 (2005), S. 267–278. Das geistliche Arsenal. Die Konventbibliothek des Kapuzinerklosters Sursee. In: Helvetia Franciscana 35/1 (2006): Kloster für Stadt und Amt. 400 Jahre Kloster Sursee: 1606– 2006. Von der Kapuzinermission zum geistigen Zentrum. Hg. von Christian Schweizer und Stefan Röllin, S. 55–100. Universitätsgeschichtliche Quellenbestände aus Königsberg in Allenstein [Archiwum Państwowe w Olsztynie]. Ein erster fragmentarischer Überblick. In: Preussens erstes Provinzialarchiv. Zur Erinnerung an die Gründung des Staatsarchivs Königsberg vor 200 Jahren. Hg. von Bernhart Jähnig und Jürgen Kloosterhuis. Marburg 2006, S. 215–228. Die Zürcher Hohe Schule. In: Schweizer Monatshefte. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur 3/4 (2007), S. 57–59.

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Hanspeter Marti

Interkonfessioneller Wissenstransfer in der Zeit der Spätaufklärung. Zur Aufnahme der Historia literaria in deutschsprachigen katholischen Ländern. In: Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Frank Grunert und Friedrich Vollhardt. Berlin 2007, S. 161–190. Von der Präses- zur Respondentendissertation. Die Autorschaftsfrage am Beispiel einer frühneuzeitlichen Literaturgattung. In: Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert. Hg. von Rainer Christoph Schwinges. Basel 2007, S. 251–274. Protestantische und aufklärerische Literatur in deutschschweizer Klosterbibliotheken. Ein Forschungsprojekt zur Interkonfessionalität im 18. Jahrhundert. In: Sammeln und Sammlungen im 18. Jahrhundert in der Schweiz. Akten des Kolloquiums Basel, 16.– 18. Oktober 2003. Genève 2007, S. 189–216. Die Zürcher Hohe Schule im Spiegel von Lehrplänen und Unterrichtspensen (1650– 1740). In: Zürcher Taschenbuch 2008. Neue Folge. Hundertundachtundzwanzigster Jahrgang. Zürich 2007, S. 395–409. Die Beziehungen der frühneuzeitlichen Universität Duisburg zur Schweiz. In: Zur Geschichte der Universität Duisburg 1655–1818. Wissenschaftliches Kolloquium, veranstaltet im Oktober 2005 anläßlich des 350. Jahrestages der Gründung der alten Duisburger Universität. Hg. von Dieter Geuenich und Irmgard Hantsche. Duisburg 2007, S. 65–100. [Gemeinsam mit Lothar Mundt:] Zwei akademische Schriften von Simon Dach aus den Jahren 1639 und 1640 – Analyse und Dokumentation. In: Simon Dach (1605–1659). Werk und Nachwirken. Hg. von Axel E. Walter. Tübingen 2008, S. 68–114. Frühneuzeitliche Dissertationen der Universität Königsberg. Erschließung und historiographische Bedeutung eines vernachlässigten Quellencorpus. In: 750 Jahre Königsberg. Beiträge zur Geschichte einer Residenzstadt auf Zeit. Hg. von Bernhart Jähnig. Marburg 2008, S. 271–302. Ein Jahrhundertwerk zur Buch- und Kulturgeschichte. Das ‚Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums‘. In: Librarium 51/1 (2008), S. 88–94. Frühneuzeit- und Aufklärungsforschung aus privater Initiative und in eigener Verantwortung. Die Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen in Engi GL. In: Pro Saeculo XVIIIo Societas Helvetica. Bulletin 34 (Juni 2009), S. 8–12. Eine Kontroverse über Descartes im Einflussbereich der Universität Königsberg. In: Musik und Literatur im frühneuzeitlichen Preußenland. Hg. von Bernhart Jähnig. Marburg 2009, S. 317–334. Die Schule des richtigen Denkens. Logikunterricht und Disputation an der Zürcher Hohen Schule und der Einfluss Johann Jakob Breitingers. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hg. von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer. Göttingen 2009, S. 149–171.

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Thomas Campanella in Gottfried Arnolds Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie. In: Kryptoradikalität in der Frühneuzeit. Hg. von Günter Mühlpfordt und Ulmann Weiß. Stuttgart 2009, S. 229–246. Bewahrung und Wandel geistiger Identität. Die Zisterzienserinnenabtei Lichtenthal als regionaler Mittelpunkt literarischen Lebens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Von der Spätaufklärung zur Badischen Revolution. Literarisches Leben in Baden zwischen 1800 und 1850. Hg. von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann und Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien 2010, S. 159– 179. Philosophie aus frühaufklärerischer Männersicht. Geschlechtsspezifische Ausbildung aus dem Blickwinkel und im Einflussbereich von Christian Thomasius. In: Frauen, Philosophie und Bildung im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Sabine Koloch. Berlin 2010, S. 37–83. Disputation und Dissertation. Kontinuität und Wandel im 18. Jahrhundert. In: Disputatio 1200���������������������������������������������������������������������� –��������������������������������������������������������������������� 1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Hg. von Marion Gindhart und Ursula Kundert. Berlin, New York 2010, S. 63–85. Konfessionalität und Toleranz. Zur historiographischen Topik der Frühneuzeitforschung. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hg. von Herbert Jaumann. Berlin, New York 2011, S. 409–439. Poetik en miniature. Frühneuzeitliches akademisches Kleinschrifttum im Licht der Poetikgeschichte. In: Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. Festschrift für Wilhelm Kühlmann zum 65. Geburtstag. Hg. von Ralf Bogner, Ralf Georg Czapla, Robert Seidel und Christian von Zimmermann. Berlin, New York 2011, S. 199–209. Utopie, göttliche Weisheit und Universität an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. In: Gegen den Strom. Der radikale Pietismus im schweizerischen und internationalen Beziehungsfeld. Hg. von J. Jürgen Seidel. Zürich 2011, S. 97–122. Dissertationen als personen- und familiengeschichtliche Quellen. Das Beispiel Königsbergs – eine Datenbank der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen in Engi/Glarus Süd (Schweiz). In: Altpreußische Geschlechterkunde 59 (2011), S. 311– 324. Dissertationen. In: Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven. Hg. von Ulrich Rasche. Wiesbaden 2011, S. 293–312. Das Bild Jakob Böhmes im Unterricht Hoher Schulen deutschsprachiger Länder (1670– 1740). In: Offenbarung und Episteme. Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Wilhelm Kühlmann und Friedrich Vollhardt. Berlin, Boston 2012, S. 411–434.

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Im Druck Vermittlungsinstanzen des aufklärerischen Gedankenguts und seiner Kritik. Die Disputationsschriften – Speicher logifizierten Wissens. Die Historia literaria im akademischen Unterricht. Gottsched als Universitätslehrer. Tugend, Wissen, Sprache – Christoph August Heumanns pragmatisches Wissenschaftskonzept. Wissensdiskurse und frühneuzeitlicher akademischer Unterricht. Aristoteles und Descartes. Orthodoxie und Vorurteilskritik am Beispiel des Physiklehrbuchs des Zürcher Professors Johann Heinrich Schweizer (1646–1705). Schweizer Klosterbibliotheken im Blickfeld von Bibliotheksgeschichte und Kulturpolitik. Naturphilosophische Eklektik. Das Beispiel der ersten Auflage von Johann Jakob Scheuchzers Physica (Zürich 1701). [Gemeinsam mit Karin Marti-Weissenbach:] Meilenstein auch der Glarner Bibliotheksgeschichte – Das Handbuch der historischen Buchbestände in der Schweiz. Zur frühneuzeitlichen Schuldisputation an der Universität Jena

V. Lexikonartikel Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. von Walther Killy. München: Arnold, Gottfried. Bd. 1: A–Bis. 1988, S. 219–221. Hommel, Karl Ferdinand. Bd. 5: Har–Hug. 1990, S. 460. Jöcher, Christian Gottlieb. Bd. 6: Huh–Kräf. 1990, S. 104f. Mencke, Johann Burkhard. Bd. 8: Mat–Ord. 1990, S. 97f. Reinhold, Karl Leonhard. Bd. 9: Ore–Roq. 1991, S. 373f. Scheuchzer, Johann Jakob. Bd. 10: Ros–Sel. 1991, S. 202f. Schöttgen, Johann Christian. Bd. 10: Ros–Sel. 1991, S. 361f. Sonnenberg, Franz Anton Joseph Ignaz Maria von. Bd. 11: Sem–Var. 1991, S. 67. Stolle, Gottlieb. Bd. 11: Sem–Var. 1991, S. 222. Sturm, Christoph Christian. Bd. 11: Sem–Var. 1991, S. 271f. Wagenseil, Christian Jakob. Bd. 12: Vas–Z. 1992, S. 82f. Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 2. Tübingen 1994: Controversia. Sp. 380–384. Disputation. Sp. 866–880. Dissertation. Sp. 880–884. Historisches Lexikon der Schweiz. Hg. von der Stiftung Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Chefredaktor: Marco Jorio. Basel: Die Aufklärung in der katholischen Schweiz. Bd. 1: Von Aa bis Basel (Fürstbistum). 2002, S. 572.

Schriftenverzeichnis

Berlin. Bd. 2: Von Basel (Kanton) bis Bümpliz. 2003, S. 232f. Bonn. Bd. 2: Von Basel (Kanton) bis Bümpliz. 2003, S. 568f. Calmet, Augustin. Bd. 3: Von Bund bis Ducros. 2004, S. 175. Cysat, Johann Baptist. Bd. 3: Von Bund bis Ducros. 2004, S. 560. Eremita, Daniel. Bd. 4: Von Dudan bis Frowin. 2005, S. 248. Erfurt. Bd. 4: Von Dudan bis Frowin. 2005, S. 250f. Franeker. Bd. 4: Von Dudan bis Frowin. 2005, S. 642f. Frankfurt am Main. Bd. 4: Von Dudan bis Frowin. 2005, S. 649. Göttingen. Bd. 5: Von Fruchtbarkeit bis Gyssling. 2006, S. 564. Groningen. Bd. 5: Von Fruchtbarkeit bis Gyssling. 2006, S. 719. Halle. Bd. 6: Von Haab bis Juon. 2007, S. 54. Heidelberg (D). Bd. 6: Von Haab bis Juon. 2007, S. 197f. Herborn. Bd. 6: Von Haab bis Juon. 2007, S. 288. Ingolstadt. Bd. 6: Von Haab bis Juon. 2007, S. 639. Innsbruck. Bd. 6: Von Haab bis Juon. 2007, S. 644. Jena. Bd. 6: Von Haab bis Juon. 2007, S. 776. Karlsruhe. Bd. 7: Von Jura bis Lobsigen. 2008, S. 102f. Köln. Bd. 7: Von Jura bis Lobsigen. 2008, S. 337. Leiden. Bd. 7: Von Jura bis Lobsigen. 2008, S. 755. Leipzig. Bd. 7: Von Jura bis Lobsigen. 2008, S. 762. Marburg. Bd. 8: Von Locarnini bis Muoth. 2009, S. 277. Marseille. Bd. 8: Von Locarnini bis Muoth. 2009, S. 312f. Montpellier. Bd. 8: Von Locarnini bis Muoth. 2009, S. 694. Orléans. Bd. 9: Von Mur bis Privilegien. 2010, S. 463. Padua. Bd. 9: Von Mur bis Privilegien. 2010, S. 513. Preussen. Bd. 9: Von Mur bis Privilegien. 2010, S. 862f. Saumur. Bd. 10: Von Pro bis Schawischwili. 2011, S. 800. Scheuchzer, Johann Jakob. Bd. 11: Von Scheck bis Stitelmann. Erscheint 2012. Stuttgart. Bd. 12: Von Stock bis Vock. Erscheint 2013. Tübingen. Bd. 12: Von Stock bis Vock. Erscheint 2013. Ulm. Bd. 12: Von Stock bis Vock. Erscheint 2013. Wien. Bd. 13: Von Vodoz bis Zyro. Erscheint 2014. Wild, Abraham. Bd. 13: Von Vodoz bis Zyro. Erscheint 2014. Wittenberg. Bd. 13: Von Vodoz bis Zyro. Erscheint 2014. Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Aufl. Hg. von Wilhelm Kühlmann. Berlin, New York, Boston: Arnold, Gottfried. Bd. 1: A–Blu. 2008, S. 220–222. Hommel, Karl Ferdinand. Bd. 5: Har–Hug. 2009, S. 571f. Jöcher, Christian Gottlieb. Bd. 6: Huh–Kräf. 2009, S. 152f. Lau, Theodor Ludwig. Bd. 7: Kräm–Marp. 2010, S. 254f.

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Hanspeter Marti

Mannhart, Franz Xaver. Bd. 7: Kräm–Marp. 2010, S. 670. Mencke, Johann Burkhard. Bd. 8: Marq–Or. 2010, S. 158f. Reinhold, Karl Leonhard. Bd. 9: Os–Roq. 2010, S. 528–530. Scheuchzer, Johann Jakob. Bd. 10: Ros–Se. 2011, S. 322f. Schöttgen, Johann Christian. Bd. 10: Ros–Se. 2011, S. 539. Sonnenberg, Franz Anton Joseph Ignaz Maria von. Bd. 11: Si–Vi. 2011, S. 58f. Stolle, Gottlieb. Bd. 11: Si–Vi. 2011, S. 298f. Sturm, Christoph Christian. Bd. 11: Si–Vi. 2011, S. 374. Tschudi, Johann Heinrich. Bd. 11: Si–Vi. 2011, S. 631f. Wagenseil, Christian Jakob. Bd. 12: Vo–Z. 2011, S. 59.

Im Druck Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Michael Schilling, Johann Anselm Steiger und Friedrich Vollhardt. Redaktion J. Klaus Kipf. Berlin, Boston: Grasser, Johann Jakob. Bd. 2.

VI. Rezensionen Joachim Dyck: Athen und Jerusalem. München: Beck, 1977. In: Daphnis 8/2 (1979), S. 396–407. Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. München: W. Fink, 1981. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 3 (1983), S. 159–164. Manfred Beetz: Rhetorische Logik. Tübingen: Max Niemeyer, 1980. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 3 (1983), S. 151–155. Werner Kundert: Katalog der Helmstedter juristischen Disputationen, Programme und Reden 1574–1810. Wiesbaden: Harrassowitz, 1984. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 7 (1988), S. 161–164. Jörg-Manfred Unger: Choix littéraire (1755��������������������������������������������� –�������������������������������������������� 1760). Eine Genfer Zeitschrift des 18. Jahrhunderts (Kölner Schriften zur Romanischen Kultur, Bd. 8). Köln: dme-Verlag, 1986. In: Aufklärung 3 (1988), S. 118–120. Emil Erne: Die schweizerischen Sozietäten. Lexikalische Darstellung der Reformgesellschaften des 18. Jahrhunderts in der Schweiz. Zürich: Chronos, 1988. In: Buchhandelsgeschichte 1989/2, B 77–B 78. Bibliographische Probleme im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs. Zweites Kolloquium zur bibliographischen Lage in der germanistischen Literaturwissenschaft veranstaltet von der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel 23.–25.9.1985. Hg. von Wolfgang Martens et. al. Weinheim: VCH, 1988. In: Pietismus und Neuzeit 15 (1989), S. 220–222.

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Martin Dahinden: Das Schweizer Buch im Zeitalter von Nationalsozialismus und geistiger Landesverteidigung. Bern, Frankfurt am Main: Lang, 1987. In: Buchhandelsgeschichte 1989/4, B 154–B 155. Filippo Ranieri: Juristische Dissertationen deutscher Universitäten 17.–18. Jahrhundert (Ius Commune. Sonderhefte: Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 27). Frankfurt am Main: Klostermann, 1986. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 58 (1989), S. 224–226. Manfred Komorowski: Bibliographie der Duisburger Universitätsschriften (1652–1817). Sankt Augustin: Hans Richarz, 1984. In: Rhetorik. Ein Internationales Jahrbuch 10 (1991), S. 161–163. Manfred Komorowski: Promotionen an der Universität Königsberg 1548�������������� –������������� 1799. Bibliographie der pro-gradu-Dissertationen in den oberen Fakultäten und Verzeichnis der Magisterpromotionen in der philosophischen Fakultät: München, London, New York, Paris: Saur, 1988. In: Rhetorik. Ein Internationales Jahrbuch 10 (1991), S. 163f. Wolfgang Rother: Die Philosophie an der Universität Basel im 17. Jahrhundert. Quellen und Analysen. 2 Bde. Zürich 1980 (Diss. ms.). In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 10 (1991), S. 176–178. Manfred Beetz: Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum (Germanistische Abhandlungen 67). Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1990. In: Aufklärung 6/2 (1991), S. 108–115. Peter Christian Erb: Pietists, Protestants, and Mysticism: The Use of Late Medieval Spiritual Texts in the Work of Gottfried Arnold (1666���������������������������������� –��������������������������������� 1714) (Pietist and Wesleyan Studies, No. 2). Metuchan, N. J. & London: The Scarecrow Press Inc., 1989. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 18 (1992), S. 203–206. Stephan Buchholz: Recht, Religion und Ehe. Orientierungswandel und gelehrte Kontroversen im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert (Ius commune. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main. Sonderhefte. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 36). Frankfurt am Main: Klostermann, 1988. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 18 (1992), S. 206–209. Pietismus und Neuzeit: Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. Bd. 17 (1991). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1991. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 62 (1993), S. 256–259. Markus Matthias: Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen. Eine Biographie bis zur Amtsenthebung Petersens im Jahre 1692 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 30). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993. In: Aufklärung 7/2 (1994), S. 133–136. Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666–1686. Bd. 1: 1666–1674. Hg. von Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Udo Sträter und Markus Matthias.

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Tübingen: Mohr Siebeck, 1992. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 63 (1994), S. 280–284. Heiner Schmidt: Quellenlexikon zur deutschen Literaturgeschichte. Bibliography of Studies on German Literary History. Personal- und Einzelwerkbibliographien der internationalen Sekundärliteratur 1945–1990 zur deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 1: A–Bau. Duisburg: Verlag für pädagogische Dokumentation, 1994. In: Theologische Literaturzeitung 119 (1994), Nr. 12, Sp. 1111–1113. Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 119). Tübingen: Max Niemeyer, 1992. In: Aufklärung 8/2 (1994), S. 113–117. Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland. Hg. von Harm Klueting in Zusammenarbeit mit Norbert Hinske und Karl Hengst (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 15). Hamburg: Felix Meiner, 1993. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 64 (1995), S. 195–201. Brigitte Tolkemitt: Der Hamburgische Correspondent. Zur öffentlichen Verbreitung der Aufklärung in Deutschland. Tübingen: Max Niemeyer, 1995. In: Programm und Exempel (Texte und Studien der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Bd. 1). Engi/Schweiz 1996, S. 152–154. Abraham von Franckenberg: Briefwechsel, eingeleitet und hg. von Joachim Telle. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1995. In: Programm und Exempel (Texte und Studien der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Bd. 1). Engi/ Schweiz 1996, S. 155f. Johannes Wallmann: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1995. In: Programm und Exempel (Texte und Studien der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Bd. 1). Engi/Schweiz 1996, S. 157–160. Petrus Thomas Daan Van der Veldt SJ: Franz Neumayr SJ (1697–1765). Leben und Werk eines spätbarocken geistlichen Autors mit einer vollständigen Bibliographie seiner Schriften. Amsterdam & Maarsen: APA-Holland University Press, 1992. In: Programm und Exempel (Texte und Studien der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Bd. 1). Engi/Schweiz 1996, S. 161–163. Wolfgang Klein und Waltraud Naumann-Beyer (Hg.): Nach der Aufklärung? Beiträge zum Diskurs der Kulturwissenschaften. Berlin: Akademie Verlag, 1995. In: Programm und Exempel (Texte und Studien der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Bd. 1). Engi/Schweiz 1996, S. 166–171. Bodo Plachta: Damnatur ������������������������������������������������������������� –������������������������������������������������������������ Toleratur ������������������������������������������������� –������������������������������������������������ Admittitur. Studien und Dokumente zur literarischen Zensur im 18. Jahrhundert (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 43). Tübingen: Max Niemeyer, 1994. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 65 (1996), S. 240–242. Hans Ludwig Nehrlich: Erlebnisse eines frommen Handwerkers im späten 17. Jahrhundert. In Verbindung mit dem Archiv der Franckeschen Stiftungen zu Halle hg. von

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Rainer Lächele (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, Bd. 1). Tübingen: Max Niemeyer, 1997. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 67 (1998), S. 230f. Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666–1686. Bd. 2: 1675–1676. Hg. von Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Markus Matthias und Martin Friedrich. Tübingen: J. C. B. Mohr, 1996. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 67 (1998), S. 225f. Michaela Triebs: Die Medizinische Fakultät der Universität Helmstedt (1576–1810). Eine Studie zu ihrer Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Promotions- und Übungsdisputationen (Repertorien zur Erforschung der frühen Neuzeit, Bd. 14). Wiesbaden: Harrassowitz, 1995. In: Aufklärung 10/2 (1998), S. 126–128. Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden, New York, Köln: E. J. Brill, 1995. In: Aufklärung 11/1 (1999), S. 136–138. Martin Fontius und Helmut Holzhey (Hg.): Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Berlin: Akademie Verlag, 1996. In: Aufklärung 11/2 (1999), S. 114–117. Fiammetta Palladini und Gerold Hartung (Hg.): Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung. Werk und Einfluss eines deutschen Bürgers der Gelehrtenrepublik nach 300 Jahren (1694–1994). Berlin: Akademie Verlag, 1996. In: Aufklärung 11/2 (1999), S. 122–124. Alexander Gottlieb Baumgarten: Die Vorreden zur Metaphysik. Hg., übersetzt und kommentiert von Ursula Niggli. Frankfurt am Main: V. Klostermann, 1998. In: Annäherungen. Edzard Schaper wiederentdeckt? (Texte und Studien 3, hg. von der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen Engi/Glarus). Basel 2000, S. 122–125. Johannes Demandt: Johannes Daniel Falk. Sein Weg von Danzig über Halle nach Weimar (1768������������������������������������������������������������������������� –������������������������������������������������������������������������ 1799). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999. In: Theologische Literaturzeitung 125 (2000), Sp. 796f. Norbert Hinske: Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik. Studien zum Kantschen Logikkorpus. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1998. In: Annäherungen. Edzard Schaper wiederentdeckt? (Texte und Studien 3, hg. von der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen Engi/Glarus). Basel 2000, S. 117–119. Johann Joachim Müller: De imposturis religionum: (de tribus impostoribus). Von den Betrügereyen der Religionen. Hg. und kommentiert von Winfried Schröder. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1999. In: Annäherungen. Edzard Schaper wiederentdeckt? (Texte und Studien 3, hg. von der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen Engi/Glarus). Basel 2000, S. 120–122. Fiammetta Palladini: La Biblioteca di Samuel Pufendorf. Catalogo dell’ asta di Berlin del settembre 1697. Wiesbaden: Harrassowitz, 1999. In: Annäherungen. Edzard Schaper wiederentdeckt? (Texte und Studien 3, hg. von der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen Engi/Glarus). Basel 2000, S. 125–128.

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Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber unter Mitwirkung von Stefan Anders und Thomas Elsmann. 2 Bde. Tübingen: Niemeyer, 1998. In: Annäherungen. Edzard Schaper wiederentdeckt? (Texte und Studien 3, hg. von der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen Engi/Glarus). Basel 2000, S. 113–116. Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt: FrommannHolzboog, 1998. In: Annäherungen. Edzard Schaper wiederentdeckt? (Texte und Studien 3, hg. von der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen Engi/Glarus). Basel 2000, S. 128–133. Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666–1686. Bd. 3: 1677–1678. Hg. von Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Martin Friedrich und Markus Matthias. Tübingen: Mohr Siebeck, 2000. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 71 (2002), S. 278f. Frank Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung. Tübingen: Max Niemeyer, 2000. In: Philosophischer Literaturanzeiger 56 (2003), S. 4–8. Riccardo Pozzo: Georg Friedrich Meiers ‚Vernunftlehre‘. Eine historisch-systematische Untersuchung. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 2000. In: Philosophischer Literaturanzeiger 56 (2003), S. 223–226. Recht und Sprache in der deutschen Aufklärung. Hg. von Ulrich Kronauer und Jörn Garber. Tübingen: Max Niemeyer, 2001. In: Arbitrium 21 (2003), S. 66–69. Albert Zimmermann: Thomas lesen (Legenda 2). Stuttgart-Bad Cannstatt: FrommannHolzboog, 2000. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 72 (2003), S. 187f. Goethe und der Pietismus. Hg. von Hans Georg Kemper und Hans Schneider. Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag, 2001. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 114 (2003), S. 436f. Vernunftkritik und Aufklärung. Studien zur Philosophie Kants und seines Jahrhunderts [Norbert Hinske zum 70. Geburtstag]. Hg. von Michael Oberhausen unter Mitwirkung von Heinrich P. Delfosse und Riccardo Pozzo. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 2001. In: Philosophischer Literaturanzeiger 57 (2004), S. 225–230. Dietrich Blaufuß: Korrespondierender Pietismus. Ausgewählte Beiträge. Hg. von Wolfgang Sommer und Gerhard Philipp Wolf. Leipzig: Evangelische Verlags-Anstalt, 2003. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 73 (2004), S. 194–196. Paul Raabe, Barbara Strutz: Lessings Bucherwerbungen. Verzeichnis der in der Herzoglichen Bibliothek Wolfenbüttel angeschafften Bücher und Zeitschriften 1770–1781. Bearbeitet von Paul Raabe und Barbara Strutz. Göttingen: Wallstein, 2004. In: Das achtzehnte Jahrhundert 29/2 (2005), S. 280f. Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Dresdner Zeit 1686–1691. Bd. 1: 1686–1687. Hg. von Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Martin Friedrich, Klaus vom Orde

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und Peter Blastenbrei. Tübingen: Mohr Siebeck, 2003. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 74 (2005), S. 259–262. Gertraud Gamper [et al.]: Sammlung Carl Meyer in der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden in Trogen. Katalog der Handschriften und der Drucke bis 1600. Hg. von Rudolf Gamper und Matthias Weishaupt. Dietikon-Zürich: Graf, 2005. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 30 (2005), S. 163–165. Tino Markworth: Unsterblichkeit und Identität beim frühen Herder. Paderborn u. a.: Schöningh, 2005. In: Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft 1 (2006), S. 78–81. Johannes Frimmel: Literarisches Leben in Melk. Ein Kloster im 18. Jahrhundert im kulturellen Umbruch. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2005, in: Das achtzehnte Jahrhundert 30/2 (2006), S. 268–270. Oktavian Schmucki OFMCap: Fidelis von Sigmaringen (1578–1622). Bibliographie. Kommentierter Literaturbericht bis 2000. Rom: Istituto Storico dei Cappuccini, 2004. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 75 (2006), S. 310–312. Hora est! On dissertations. With contributions by Douwe D. Breimer, Jos Damen, Joseph S. Freedman, Marten Hofstede, Jet Katgert, Trudi Noordermeer & Olga Weijers. Leiden: Universiteitsbibliotheek, 2005. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 31 (2006), S. 87f. Wilhelm Johann George Cleinow: Chronik 1775. Hg. von Joachim von Gizycki, textkritisch bearbeitet und mit Erläuterungen versehen von Justus von Hartlieb. Karlsruhe: Privatdruck, 2004. In: Preußenland 45 (2007), S. 29–31. Die Universitäten des Alten Reiches in der Frühen Neuzeit. In memoriam Rainer A. Müller. Hg. von Winfried Müller (Jahrbuch für Universitätsgeschichte Bd. 9, 2006). Stuttgart: Steiner, 2006. In: Philosophischer Literaturanzeiger 60/1 (2007), S. 1–5. Dem rechten Glauben auf der Spur. Eine Bildungsreise durch das Elsaß, die Niederlande, Böhmen und Deutschland. Das Reisetagebuch des Hieronymus Annoni von 1736. Hg. von Johannes Burkardt, Hildegard Gantner-Schlee und Michael Knieriem. Zürich: Theologischer Verlag, 2006. In: Pro Saeculo XVIIIo Societas Helvetica. Bulletin 30 (2007), S. 27–29. Sabine Beckmann und Klaus Garber: Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Tübingen: Max Niemeyer, 2005. In: Arbitrium 25 (2007), S. 51–54. „Harmonie und schwesterliche Einheit zwischen Bibel und Vernunft“ in der Aufklärungszeit. Eine Untersuchung von P. Niklas Raggenbass [Rezension zu: Niklas Raggenbass: „Harmonie und schwesterliche Einheit zwischen Bibel und Vernunft“. Die Benediktiner des Klosters Banz: Publizisten und Wissenschaftler in der Aufklärungszeit. (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige, Ergänzungsbd. 44). St. Ottilien: EOS-Verlag, 2006]. In: Titlisgrüsse 93 (2007, Heft 2), S. 35–41.

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Bernd Jaspert: Mönchtum und Protestantismus. Probleme und Wege der Forschung seit 1877. Bd. 1: Von Hermann Weingarten bis Heinrich Boehmer (Regulae Benedicti studia, supplementa, hg. von Makarios Hebler OSB, Bd. 11). St. Ottilien: EOS-Verlag, 2005. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 118 (2007–3), S. 415f. Verzeichnis der gedruckten Briefe deutscher Autoren des 17. Jahrhunderts. Teil 2. Drucke zwischen 1751 und 1980. Bearbeitet von Thomas Bürger. 4 Bde. Wiesbaden: Harrassowitz, 2002. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 76 (2007), S. 329–332. Walter Hauser: Der Justizmord an Anna Göldi. Neue Recherchen zum letzten Hexenprozess in Europa. Zürich: Limmat-Verlag, 2007. In: Pro Saeculo XVIII° Societas Helvetica. Bulletin 32 (2008), S. 25–28. Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 16. Jahrhundert. Hg. Wolfgang Adam und Markus Fauser in Zusammenarbeit mit Ute Pott. Göttingen: Wallstein, 2005. In: Das achtzehnte Jahrhundert 32/1 (2008), S. 154–156. Thomas Ahnert: Religion and the Origins of the German Enlightenment. Faith and the Reform of Learning in the Thought of Christian Thomasius. Rochester: University of Rochester Press, 2006. In: Arbitrium 25 (2007), S. 175–177. Bilder – Daten – Promotionen: Studien zum Promotionswesen an deutschen Universitäten der frühen Neuzeit. Hg. von Rainer A. Müller (Hg.), bearbeitet von Hans-Christoph Liess und Rüdiger vom Bruch. Stuttgart: Steiner, 2007. In: IFB [Informationsmittel (IFB): Digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft] 07-2-494, http://swbplus.bsz-bw.de/bsz265040604rez.htm. Martina Sulmoni: „Einer kunst- und tugendliebenden Jugend verehrt“. Die Bild-TextKombinationen in den Neujahrsblättern der Burgerbibliothek Zürich von 1645 bis 1672 (Deutsche Literatur von den Anfangen bis 1700, Bd. 46). Bern u. a.: Lang, 2007. In: IFB 07–2–273, http://swbplus.bsz-bw.de/bsz273391321rez.htm. Leibniz und seine Bücher. Katalog: Büchersammlungen der Leibnizzeit in der GottfriedWilhelm-Leibniz-Bibliothek. Bearbeitet von Thomas Fuchs. Hameln: CW Niemeyer, 2006. In: IFB 07–2–297, http://swbplus.bsz-bw.de/bsz260577464rez.htm. Die Stiftsbibliothek und das Stiftsarchiv Zeitz, für das Museum Schloss Moritzburg Zeitz. Hg. von Detlef Deye und Roland Rittig. Halle an der Saale: Mitteldeutscher Verlag, 2006. In: IFB 07–2–298, http://swbplus.bsz-bw.de/bsz259985937rez.htm. Johannes Reuchlins Bibliothek gestern & heute: Schätze und Schicksal einer Büchersammlung der Renaissance. Ausstellung im Stadtmuseum Pforzheim, 9. September – 11. November 2007, aus Anlass der Wiedererrichtung des Reuchlinkollegs an der Pforzheimer Schloss- und Stiftskirche St. Michael. Katalog, bearbeitet von Matthias Dall’Asta und Gerald Dörner. Heidelberg, Ubstadt-Weiher, Basel: Verlag Regionalkultur, 2007. In: IFB 07–2–299, http://swbplus.bsz-bw.de/bsz267812019rez.htm. Markus Huttner: Geschichte als akademische Disziplin. Historische Studien und historisches Studium an der Universität Leipzig vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Aus dem Nachlass hg. von Ulrich von Hehl. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2007. In: IFB 07–2–517, http://swbplus.bsz-bw.de/bsz265687969rez.htm.

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Marko A. Pluns: Die Universität Rostock 1418–1563. Eine Hochschule im Spannungsfeld zwischen Stadt, Landesherren und wendischen Hansestädten (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, N.F., Bd. 58). Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2007. In: IFB 07–2–521, http://swbplus.bsz-bw.de/bsz265653118rez.htm. Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 12 (2008), S. 323–326. Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart: Metzler, 2007. In: Arbitrium 26 (2008), S. 305–308. Philipp Jakob Spener: Briefwechsel mit August Hermann Francke 1689–1704. Hg. von Johannes Wallmann und Udo Sträter in Zusammenarbeit mit Veronika AlbrechtBirkner. Tübingen: Mohr Siebeck, 2006. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 77 (2008), S. 362–365. Kulturkosmos der Renaissance: die Gründung der Bayerischen Staatsbibliothek [Katalog der Ausstellung zum 450-jährigen Jubiläum 7. März bis 1. Juni 2008 und der Schatzkammerausstellung „Musikschätze der Wittelsbacher“, 9. Juni bis 6. Juli 2008]. Hg. von der Bayerischen Staatsbibliothek. Wiesbaden: Harrassowitz, 2008. In: IFB 08–1/2–035, http://swbplus.bsz-bw.de/bsz278153925rez.htm. „Es nimmt der Augenblick, was Jahre geben“: vom Wiederaufbau der Büchersammlung der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek. Hg. von Claudia Kleinbub, Katja Lorenz und Johannes Mangei. Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007. In: IFB 08–1/2–036, http://swbplus.bsz-bw.de/bsz264933877rez.htm, [Abstract der Rezension in: Reference Reviews Europe Annual 14 (2008), S. 45f.]. Die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek: nach dem Brand in neuem Glanz. Hg. von Walther Grunwald. Berlin: Meissner, 2007. In: IFB 08–1/2–037, http://swbplus.bsz-bw. de/bsz273407341rez.htm, [Abstract der Rezension in: Reference Reviews Europe Annual 14, 2008, S. 46]. Walter Garber: Die historische Bibliothek des Stadtmuseums Meran (Erschließung historischer Bibliotheken in Südtirol, Bd. 1). Brixen: Provinz-Verlag, 2006. In: IFB 08–1/2–045, http://swbplus.bsz-bw.de/bsz262896214rez.htm, [Abstract der Rezension in: Reference Reviews Europe Annual 14 (2008), S. 50f.]. Rainhard Domanegg und Hans Kienzl: Die Pfarrbibliotheken Niederolang und Assling (Erschließung historischer Bibliotheken in Südtirol, Bd. 2). Brixen: Provinz-Verlag, 2007. In: IFB 08–1/2–046, http://swbplus.bsz-bw.de/bsz273862375rez.htm, [Abstract der Rezension in: Reference Reviews Europe Annual 14 (2008), S. 50f.]. Manfred Schmidt: Die Franziskaner-Bibliotheken Kaltern, Innichen, Signat und Klosterlechfeld (Erschließung historischer Bibliotheken in Südtirol, Bd. 3). Brixen: ProvinzVerlag, 2007. In: IFB 08–1/2–047, http://swbplus.bsz-bw.de/bsz268117853rez.htm, [Abstract der Rezension in: Reference Reviews Europe Annual 14 (2008), S. 50f.].

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Rainhard Domanegg: Die Kapuzinerbibliotheken Klausen, Eppan, Schlanders und Mustair (Erschließung historischer Bibliotheken in Südtirol, Bd. 4). Brixen: ProvinzVerlag, 2007. In: IFB 08–1/2–048, http://swbplus.bsz-bw.de/bsz278855369rez.htm, [Abstract der Rezension in: Reference Reviews Europe Annual 14 (2008), S. 50f.] Beat Immenhauser: Bildungswege – Lebenswege: Universitätsbesucher aus dem Bistum Konstanz im 15. und 16. Jahrhundert. Basel: Schwabe, 2007. In: IFB 08–1/2–243, http://swbplus.bsz-bw.de/bsz259877298rez.htm. Siegbert Rummler: Medizinische Dissertationen – ein Beitrag für die gesundheitliche Volksaufklärung in Brandenburg-Preußen? Schöneiche bei Berlin: scrîpvaz, 2008. In: IFB 08–1/2–254, http://swbplus.bsz-bw.de/bsz354696122rez.htm. Bernd Jaspert: Mönchtum und Protestantismus. Probleme und Wege der Forschung seit 1877. Bd. 2: Von Karl Heussi bis Karl Barth. St. Ottilien: EOS-Verlag, 2006. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 120 (2009), S. 104f. Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität. Hg. von Wulf Oesterreicher, Gerhard Regn und Winfried Schulze (Pluralisierung & Autorität, 1). Münster: Lit, 2003. In: Scientia Poetica 13 (2009), S. 383–385. Horst Bredekamp: Galilei der Künstler. Der Mond, die Sonne. Die Hand. Berlin: Akademie-Verlag, 2007. In: Scientia Poetica 13 (2009), S. 386–388. Michael Niemetz: Antijesuitische Bildpublizistik in der Frühen Neuzeit. Geschichte, Ikonographie und Ikonologie. Regensburg: Schnell & Steiner, 2008. In: IFB 09–1/2, http://ifb.bsz-bw.de/bsz273240978rez-1.pdf. [Sammelrezension:] Johann Nikolaus von Hontheim: Justinus Febronius abbreviatus et emendatus (1777). Hg. und eingeleitet von Ulrich L. Lehner. Nordhausen: Bautz, 2008. – Johann Nikolaus von Hontheim: Justini Febronii commentarius in suam retractionem (1781). Hg. und eingeleitet von Ulrich L. Lehner. Nordhausen: Bautz 2008. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 78 (2009), S. 279–281. Gabriele Crusius: Aufklärung und Bibliophilie: Der Hannoveraner Sammler Georg Friedrich Brandes und seine Bibliothek (Beihefte zum Euphorion, Heft 54). Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2008. In: IFB 09–1/2, http://ifb.bsz-bw.de/bsz277841 100rez-1.pdf. Hans-Albrecht Koch: Die Universität: Geschichte einer europäischen Institution. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008. In: IFB 09–1/2, http://ifb.bsz-bw.de/ bsz276607236rez-1.pdf. Leipziger, Eure Bücher! Zwölf Kapitel zur Bestandsgeschichte der Leipziger Stadtbibliothek: Ausstellung in der Bibliotheca Albertina 18. Juni bis 28. November 2009 / Universitätsbibliothek Leipzig, UBL. Hg. von Thomas Fuchs und Christoph Mackert. Leipzig: Universitäts-Verlag, 2009. In: IFB 10–2, http://ifb.bsz-bw.de/bsz3077414 51rez-1.pdf. Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa. Hg. von Barbara Krug-Richter und Ruth.-E. Mohrmann. Köln, Wei-

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mar, Wien: Böhlau, 2009. In: IFB 10–2, http://ifb.bsz-bw.de/bsz265274540rez-1. pdf. [Sammelrezension:] Jakob Ruf. Leben, Werk und Studien. Konzipiert und hg. von Hildegard Elisabeth Keller. In Verbindung mit Linus Hunkeler, Andrea Kauer, Clemens Müller, Seline Schellenberg Wessendorf, Stefan Schöbi und Hubert Steinke, unter Mitarbeit von Anja Buckenberger. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2008. Bd. 1: Mit der Arbeit seiner Hände. Leben und Werk des Zürcher Stadtchirurgen und Theatermachers Jakob Ruf (1505��������������������������������������������������� –�������������������������������������������������� 1558). Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage. Bde. 2–4: Jakob Ruf: Werke. Kritische Gesamtausgabe. 3 Teile. Bd. 5: Die Anfänge der Menschwerdung. Perspektiven zur Medien-, Medizin- und Theatergeschichte des 16. Jahrhunderts. In: Mittellateinisches Jahrbuch 45 (2010), S. 159–164. Der Humanismus an der Universität Leipzig. Akten des in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte an der Universität Leipzig, der Universitätsbibliothek Leipzig und dem Leipziger Geschichtsverein am 9./10. November 2007 in Leipzig veranstalteten Symposiums. Hg. von Enno Bunz und Franz Fuchs. Wiesbaden: Harrassowitz, 2009. In: IFB 10–4, http://ifb.bsz-bw.de/bsz311198279rez-1.pdf. Präsent. Zum 350-Jahr-Jubiläum der Winterthurer Bibliotheken. Zürich: Chronos, 2010. In: IFB 10–4, http://ifb.bsz-bw.de/bsz32495767Xrez-2.pdf. Walter Garber: Die Kapuzinerbibliotheken von Lana und Neumarkt (Erschließung historischer Bibliotheken in Südtirol, Bd. 6). Brixen: Provinz-Verlag, 2010. In: IFB 11–1, http://ifb.bsz-bw.de/bsz324031513rez-1.pdf. Schatzkammern der Universität Basel. Die Anfänge einer 550–jährigen Geschichte. Katalog einer Ausstellung. Hg. im Auftrag des Rektorats von Martin Wallraff und Sara Stöcklin-Kaldewey. Basel: Schwabe, 2010. In: IFB 11–1, http://ifb.bsz-bw.de/bsz32 6978208rez-1.pdf. Sammelkultur im Geist der Aufklärung. Die Bibliothek des Hannoveraner Beamten Georg Friedrich Brandes in der Landesbibliothek Oldenburg. Heidelberg: Winter, 2010. In: IFB 11–3, http://ifb.bsz-bw.de/bsz332932060rez-1.pdf. Klara Tutzer: Die Bibliothek des Johann Parschalk (Erschließung historischer Bibliotheken in Südtirol, Bd. 7). Brixen: Provinz-Verlag, 2010. In: IFB 11–4, http://ifb.bsz-bw. de/bsz334508576rez-1.pdf. Bernd Dörflinger, James Jakob Fehr, Rudolf Malter† (Hgg.): Königsberg 1724–1804. Materialien zum politischen, sozialen und geistesgeschichtlichen Hintergrund von Leben und Werk Immanuel Kants. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms, 2009. In: Preußenland. Jahrbuch 2 (2011), S. 202–205. Johannes Wallmann: Pietismus und Orthodoxie. Gesammelte Aufsätze, Bd. III. Tübingen: Mohr Siebeck, 2010. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 11 (2011), S. 349–351.

Register der Personennamen Das Register enthält die im Haupttext, in den Anmerkungen und in den Zitaten vorkommenden historischen Personennamen. Ausgenommen sind Namen innerhalb von bibliographischen Angaben. Des Weiteren sind bei der Dokumentation frühneuzeitlicher Werktitel die Drucker, sofern diesen nicht eine spezifische Bedeutung innerhalb der Argumentation zugemessen wird, und die Landesfürsten, die das Druckprivileg ausstellten, weggelassen. Bei der Namensansetzung musste aufgrund der Fülle unsicherer Belege und abweichender Versionen pragmatisch verfahren werden: Ehefrauen sind unter ihrem Mädchennamen notiert, sofern dieser in den Texten erwähnt wird. Ist der Vorname einer Person nicht bekannt, erscheint diese im Register gar nicht. Gelegentlich, aber nicht immer sind alternative Namensformen in runden Klammern beigefügt, hingegen musste auf ein kompliziertes Verweissystem verzichtet werden. Auch sind gewisse Uneinheitlichkeiten in der Kombination deutscher, lateinischer und sonstiger (z. B. ungarischer) Namensformen, wie sie die einzelnen Beiträge bieten, vielfach erhalten geblieben. Das Register erstellte Andreas Teppe unter Mitarbeit von Katharina Schaaf. Abel, Friederike Beate 218 Abel, Jakob Friedrich 218 Acidalius, Valens 573 Acker, Johann Heinrich 546 Adam, Günther 364 Adam, Johannes 280, 572 Adelung, Johann Christoph 628, 634 Adriaensens, Cornelis 328, 343, 351 Affelmann, Johannes 429 Agricola, Johannes 39, 333, 352f. Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius 30, 44 Ahlwardt, Peter 645 Aicher, Fridericus 335, 355 Aichmann, Martin 374–376, 382 Aichmann, Sebastian 374 Aigner, Joseph 372 Alardus de Gelria 101 Albericus, Joannes 334, 353 Alberti, Valentin 546 Albertinus, Aegidius 193 Albertus Magnus 62, 100, 113 Albertus, Joannes 318, 344 Albrecht I., röm.-dt. König 5 Albrecht III., Herzog von Österreich 7, 12f. Albrecht V., Herzog von Österreich 9

Aldrovandi, Ulisse 594 Alembert, Jean-Baptiste le Rond d’ 581 Alers, Johannes 397 Alexander der Große, König von Makedonien 505, 713 Alexander Halensis 62 Alexander III., Papst 161f. Al-Kamil Muhammad al-Malik, Sultan von Ägypten 167 Allatius, Leo (Allaci, Leone) 152 Almansor (Abu Amir Muhammad ibn Abdallah ibn Abi Amir), Kalif von Cordoba 305 Alphonsus de Espina 62 Alt, Claudius 327, 357 Altenbach, Johannes 374 Althusius, Johannes 548 Alting, Menso 522, 535 Alvarus Pelagius 62 Ambrosius 100 Amerbach, Basilius 70 Amerbach, Bonifacius 69f. Amerbach, Bruno 70 Amerbach, Johannes 59, 70 Ames, William 521 Ammirato, Scipione 544, 597 Ancker, Chrysostomus 655

Register der Personennamen

Andreae, Antonius 62 Andreae, Jakob 374 Andreae, Johann Valentin 376, 627 Anna Amalia, Herzogin von SachsenWeimar-Eisenach 255f. Anselm von Canterbury 100 Antognossus, Gerardus 132 Antonia von Württemberg 223, 229 Antonius Monachus 102 Apáczai Csere, János 516, 521 Apelles 128–130, 132, 138, 140f. Appenzeller, Johannes 328, 343 Arcangelo da Borgonovo 595 Aristophanes 30, 39f., 570 Aristoteles 44, 62, 74, 168, 322, 325, 329, 331, 333, 334, 336, 343, 346, 348, 350, 352, 353, 356, 358, 360, 363f., 367, 378, 411, 451, 454, 457, 499f., 515, 549, 553, 560, 567, 570, 602 Arndt, Johann 149, 204, 229 Arnim, Achim von 78f. Arnold, Gottfried 126, 145, 147, 150, 192, 210–212 Arnoldt, Daniel Heinrich 613 Aselli, Gaspare 474 Atkinson, Christopher 142 Aubrey, John 601 Augsburger, Michael 394, 408 August d. J., Herzog von BraunschweigWolfenbüttel 272, 374 Augustinus 15, 59, 62, 64, 99, 102, 380, 571, 610, 655, 661f., 669 Augustus, röm. Kaiser 505 Aurpachius, Johannes 318, 344 Avenarius, Johannes 374 Averroes 365, 431 Avicenna 300, 304f., 311f. Aycher, Johannes 307 Azwanger, Antherus 358 Bach, Johann Sebastian 588, 590 Bacher, Peter 319f. Bachmann, Friedrich Wilhelm 408 Bachmann, Johann Adolph 408 Back, Jacob de 477, 479 Bacon, Francis 645

737

Badreus, Johannes 101 Balde, Jacob 565 Baló, Samuel 683, 693, 700 Balsmannus, Nathanael 344 Baltherus Seckinganus 62 Banffy, Dénes 524 Barlaeus, Caspar 281 Barnes, Joshua 578 Baronius, Caesar 157, 610 Bársony, György 511 Bartels, Matthias 402 Bartholinus, Caspar 466 Bartholinus, Thomas 466, 474f., 478f. Basedow, Johann Bernhard 184, 243, 245f. Basilius Magnus 100 Basire, Isaac 513 Báthory, Zsófia 513 Batteux, Charles 705f., 711, 714 Bauder, Johann Georg 201–203, 213f., 217f. Bauder, Johanna Veronica Susanna 218 Bauder, Maria Agnes 218 Bauhin, Johann Caspar 530 Baumann, Christian 328, 336, 344, 358 Baumgarten, Alexander Gottlieb 706 Bayer, Justus Israel 641 Bayle, Pierre 76, 86–88, 92f., 666f. Beatrice von der Provence, Königin von Sizilien 179 Becanus, Martinus 430f., 433f., 437–445 Becher, Johann Joachim 617 Bechmann, Johann Volkmar 548 Bechstein, Ludwig 76f., 79, 93 Beck, Johann Tobias 213, 218f., 227 Becke, Albert von der 402 Becker, Alexander 280 Beckmann, Christian 364 Becmann, Johann Christoph 558 Bedevolle, Jean 159 Beerningh, Christian (Christoph) 398 Behem, Franciscus 118 Belet, Jean 102 Bellarmin, Robert 377, 433f., 445 Belligerus, Joannes 318, 345 Benedicti, Johann 691–693 Bengel, Ernst 218 Bengel, Johann Albrecht 213, 215f., 218–222

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Register der Personennamen

Beni, Paolo 592 Berchem, Georg von 399f., 407 Berchtoldus, Jacobus 332 Berckringer, Daniel 546 Berg, Georg Konrad 557 Beringer, Michael 374 Bernardus, Georgius 335, 355 Bernardus, Martinus 358 Bernclau von Schönreith, Adam Ernst Joseph 653 Bernhard von Clairvaux 99 Bernstorff, Andreas Peter von 259 Berti, Johannes Laurentius 652, 660–662 Bertieri, Joseph 660, 662 Besoldus, Christophorus 327, 356, 359 Beurhaus, Friedrich 369–371 Beverus, Joannes 317, 346 Beverwijk, Jan van 596 Beza, Theodorus 513 Bibliander, Theodor 58, 64 Bidenbach, Eberhard 373 Biderman, Jacob 333, 352 Biel, Gabriel 64f., 102 Biersack, Aldericus 664 Biester, Johann Erich 258 Bilfinger, Georg Bernhard 670 Binchius, Johannes 421 Binder, Georg Paul 698 Binderus, Christophorus 374 Birck, Thomas 374 Birckmann, Arnold 108f., 117f. Bischopinck, Bernhard Ernst 401 Bischoping, Johann Heinrich 403 Bitter, Ernst 397 Blanckenforth, Arnold 415 Blondus, Flavius 66 Blume, Jacob 398 Blumhardt, Christoph 213 Blumhardt, Johann Christoph 213 Bod, Péter 518 Bodenstein (Karlstadt), Andreas 627 Bodin, Jean 179, 546, 557 Bodmer, Johann Jakob 77f., 87 Bodo, Samuel 677f., 693, 697f. Boë Sylvius, Franciscus le 465, 477 Böhm, Christoph 457

Böhme, Jakob 121–137, 140, 142–146, 621, 623–631, 633–636 Böhmer, Justus Henning 457 Boie (Boetius), Petrus 418 Boileau-Despréaux, Nicolas 578 Bollinger, Ulrich 372–382 Bonaventura 66, 101, 107f., 113f. Bongars, Jacques 279–281, 292 Borch, Anne van der 253 Borelli, Giovanni 477 Borosnyai Nagy, Zsigmond 538 Borromäus, Karl 235 Böse, Johannes 604 Bosquier, Philippe 129f. Bossius, Laurentius 396 Botero, Giovanni 544 Boxhorn, Marcus Zuerius 550 Boyle, Robert 549 Brahe, Tycho 492, 496f., 500–502 Branconi, Maria Antonia von 255, 257f. Brantz, Adolf 402 Brast, Oswaldus 333, 352 Brastberger, Immanuel Gottlob 229 Brawe, Otto 419 Bremen, Franz von 401 Bret, Johann Friderich le 159 Brockes, Barthold Hinrich 183, 188 Brodreis, Hermann von 654f., 657f., 660, 663 Brollius, Huldrichus 374 Brucker, Johann Jakob 591f., 629 Bruggmann, Georg 352 Brunnius, Augustinus 374 Brunnius, Henricus 131f. Bucer, Martin 66, 73, 80 Buchner, Augustus 588 Buddeus, Johann Franz 590, 593, 625 Budé, Guillaume 60, 618 Bugenhagen, Johannes 59, 66f. Bullinger, Heinrich 58, 67, 70f., 511f., 518, 522, 536, 538 Bülod, Johann Ulrich 522 Bülow, Gottschalk Friedrich von 208f. Bumann, Karl 364 Burckhard, Jacob 610f. Bürger, Adam Sigismund 124, 143–145 Bürger, Gottfried August 208, 229, 706, 711

Register der Personennamen

Burger, Johann Christoph 566 Burghaber, Adamus 359 Burius, Conradus, 108 Burk, Christian David 215f., 219, 225 Burk, Dorothea Luise 215f., 219 Burk, Johann Christian Friedrich 216 Burk, Maria Barbara 216 Burk, Philipp David 216 Burmann, Frans 521f., 525, 534f. Burton, Robert 601 Busch, Erich 403 Buscher, Heizo 369 Büsing, Georg 364 Busse, Caspar 449, 458 Bussy-Rabutin, Roger Comte de 86 Butendack, Heinrich 406 Buttivant, Samuel 142 Büttner, Johann Ephraim 566 Buxtorf, Johann Jakob 521, 523f., 526–528, 531f., 534f. Buxtorf, Johannes 532, 535 Buytendick, Gerhard von 407 Byrson, Joannes Udalricus 359 Caesar, röm. Feldherr 6, 49 Calchus, Franciscus Maximilianus 323f., 338, 353 Calenius, Gervinus 106 Calepinus, Ambrosius 100 Calixt, Georg 421, 592 Calmelet, Conradus 336, 358 Calov, Abraham 454, 457 Calov, Johann Georg 556 Calvert, Giles 136f., 142 Calvin, Johannes 220, 513f., 516, 525, 627 Camberg, Heinrich 408 Camerarius, Joachim II. 279 Camerarius, Ludwig 280 Camph, Gerhard zum 64 Canisius, Petrus 101f., 232, 377, 380 Canne, John 139 Canoniero, Pietro Andrea 544 Canstein, Carl Hildebrand von 148 Capilupi, Lelio 575 Cardano, Girolamo 666 Carpentarius, Nicolaus 319, 331, 349

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Carpzov, Johann Benedikt 565, 588, 592 Caselius, Johannes 363–371, 611 Caselius, Martin 457 Castellio, Sebastian 590 Castro, Alfons de 100, 110 Catull 573, 575f. Celerius, Johannes 374 Cellius, Erhard 373f., 376 Celtis, Conrad 565 Cereta, Laureta 42 Cesalpino, Andrea 475 Charpentier, François 633 Chasseur, Franz Ludwig 394 Chiaramonti, Scipione 492 Chilian, Johannes 419 Chladenius, Johann Martin 644, 646 Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth, Markgraf von Bayreuth 199 Christian, Markgraf von Brandenburg-Kulmbach 503 Christiane Amalia von Hessen-Homburg 247 Christiani, Alexander 420 Christina von Sachsen 80 Chrysipp 592 Chunius,Georgius 318, 344 Chytraeus, Matthaeus 396 Chytraeus, Nathan 281, 573 Cicero 48f., 348, 378, 449, 608, 618, 711 Clauberg, Johannes 535 Claudius, Matthias 208, 229 Clavius, Christoph 492 Clemens IV., Papst 176f. Clemens VII., Papst 12 Clemens XIV., Papst 233 Clemens von Alexandria 380 Clithovaeus, Judas 101 Coccejus, Johannes 514–516, 521, 526, 532– 535 Coler, Johann Christoph 641 Cöler, Philipp 421 Coler, Theophilus 487 Cölla, Anna 253 Collenuccio, Pandolfo 163, 166, 171 Collibus, Hippolytus a 280f. Collicola, Joannes Baptista 331, 348 Collicola, Wolfgangus 319, 331, 348

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Register der Personennamen

Colombo, Realdo 468, 475 Comenius, Johann Amos 601, 605f., 615, 617 Conradus, Joannes 359 Conring, Hermann 461, 466, 469, 476, 479, 556 Constantinus Africanus 71, 304 Coppe, Abiezer 136f. Coppin, Richard 137 Corvinus („Cranauge“), Hermann Chris-toph 423 Coscanus, Oswaldus 333, 335, 352, 355 Coster, Franz 433f., 445 Coster, Theodor 421 Cothmann, Johannes 419f. Courteau, Thomas 60 Cranmer, Thomas 67 Creiling, Johann Conrad 198, 227 Crell, Fortunatus 365, 367 Crocius, Johannes 521 Croese, Gerardus 145 Crollius, Oswald 372–375 Cromwell, Oliver 555 Crusius, Martin 373f. Csergö Kocsi, Bálint 530 Csergö Kocsi, István 530, 534 Csernátoni, Pál 514, 516 Csipkés Komáromi, György 512 Culmann, Gottfried 427 Cunrad, Caspar 573 Curtius, Albert 546 Cyprian von Karthago 64, 100, 380, 659 Cysatus (Cysetus), Joannes Baptista 327, 334, 353, 355 Czászári, Paul 674–676, 693, 696f., 699 D’Andrea, Francesco 166 Dach, Simon 269–271 Daemen, Johann 396 Dalberg, Karl Theodor Anton Maria von 256 Danaeus, Lambertus 513 Dann, Christian Adam 219, 225, 227, 229 Dannemeyr, Joannes 352 Danner, Adamus 332, 350 Dannhauer, Johann Conrad 152, 454, 457 Dante Alighieri 168 Dauber, Johann Heinrich 397

Deáki, Filep József 538 Delaunay, Jean 391 Delrío, Martín 592 Denk, Eberhard Ludwig 197, 201, 218 Descartes, René 465–469, 471, 473, 477f., 515, 533, 535, 601, 626 Dézsi, Márton 514, 516f. Di Constanzo, Angelo 171, 174f. Dickinson, Edmund 601f. Diderot, Denis 581 Diemarus, Johannes 344 Diepold, Isfried 654 Dietenberger, Johannes 105 Dieterich, Konrad 423 Digby, Kenelm 549f. Dinslaken, Jordan de 111 Diogenes Laertius 631f. Dionisius Carthusianus 100f. Dionysius von Alexandria 380 Dobozy, István 529 Dobsa, Franz von 679–683, 693f., 696, 700 Dockweiler, Philipp Theodor 408 Döling, Johannes 500 Dolle, Carl Anton 410 Dominico, Jacobus a S. 669 Donauerus, Christopherus 280 Donatus, Alexander 585 Dornerus, Martinus 318, 330, 346f. Dorothea von Dänemark 82 Dorsche, Johann Georg 423f., 427 Dousa, Janus 573 Drake, Roger 466 Dryden, John 713 Ducrest, Joseph von 656 Duns Scotus, Johannes 661 Dunte, Ludwig 423f. Duraeus, John 152 Durantis, Guilelmus 67 Dürfeld, Georg Wolfgang 546 Durfeld, Jakob 419f., 427 Düringer (Thüringer), Melchior 394, 409 Dürr, Johann Conrad 600f. Duval, Pierre 86 Ebel, Caspar 420 Eberhard, Johann August 669

Register der Personennamen

Ebersperger, Matthias 349 Ebreo, Leone 594f., 597 Eck, Johannes 101 Edelink, Gerhard 258 Eder, Georg 106 Edingh, Gisbertus 388 Edwards, Thomas 137f. Eichstädt, Carl Abraham 673, 680, 684f., 687f., 691, 693 Eichstädt, Heinrich Karl Abraham 607 Ekerman, Petrus 616f. Elbers, Wennemar 419, 421 Ellrod, Jakob 483f., 503f., 508 Elswich, Johann Hermann von 152 Ember Debreceni, Pál 513 Empedokles 592 Emser, Hieronymus 105 Engelkingk, Johannes 427 Ennenckel, Georg Achat, Baron von Hoheneck 551 Ennius 572f. Entzianer, Johannes 299, 307 Enyedi, István 512, 516f. Enzio, König von Sardinien 159 Epikur 224, 369 Eppen (Eppius), Heinrich 396 Erasmus von Rotterdam 14–20, 22f., 26–36, 38–49, 51, 53–60, 70, 113, 135, 590, 618 Erbery, William 137 Erdmannsdorff, Friedrich Wilhelm von 245 Erenfred, Friedrich Wilhelm 566 Erndlin, Joachim 335, 355f. Ernesti, Johann 398 Ernesti, Johann August 640 Ernst der Fromme, Herzog von Sachsen-Gotha 485, 548, 550, 554, 556, 559 Ernst, Gerhard 399 Ernst, Graf zu Holstein-Schaumburg 418, 424f. Eschenburg, Johann Joachim 564, 582 Escher, Johann Caspar 545 Escoin y Mollà, Francisco 619f. Esgen, Johann Caspar 407 Essbach, Goswin von 406 Essenius, Andreas 535 Estienne, Henri 564, 573, 575, 580, 582, 585

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Ettmüller, Michael 588 Evelyn, John 601 Everard, John 137 Everardus, Georgius 319, 349 Everardus, Lambertus 331, 336, 359 Ewich, Gerhard 408 Eysenmenger (Eisenmenger), Marcus 330, 345 Eytel (Eitel), Johann Jakob 198 Faber, Jacobus (Faber Stapulensis, Jacques Lefèvre d’Estaples) 60 Faber, Johann Justus 402 Faber, Johannes 101 Fabricius ab Aquapendente, Hieronymus 468 Fabricius, Georg 565 Fabricius, Johann Andreas 641 Fabricius, Reynerus 319, 348 Fabricius, Statius 420, 427 Fachsius (Faxius), Joannes 337, 359 Fagius, Paul 60 Farnworth, Richard 142 Fedele, Cassandra 42 Feldner, Daniel 334, 353 Felix, Simon 333, 335, 352, 354 Feller, Joachim 565, 567, 569, 575–578 Feltmann, Gerhard 386, 387, 388, 393, 398, 405 Felwinger, Johann Paul 457 Ferdinand II., röm.-dt. Kaiser 434, 551 Ferdinand, Erzbischof von Köln 319, 332, 350 Fetmenger, Abraham 406 Feuerlein, Jakob Wilhelm 648 Fichte, Johann Gottlieb 672, 677 Fidati, Simon 67 Finck, Joseph Balthasar 433 Fischer, Benjamin Gottlob 217 Fischer, Christiane Ludowike 217 Fischer, Justine Dorothea 217 Fisher, Samuel 137 Flachslandt (Flaxlandt), Rudolphus 337, 359 Flacius d. J., Matthias 365, 367 Fleckenstein, Katharina von 98 Fleming, Paul 271 Flögel, Carl Friedrich 564, 582f. Fock, Georg Wilhelm 708 Fogel, Carl Johann 394, 395, 404

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Register der Personennamen

Fonseca, Petrus 326, 350 Fontanus, Joannes 333, 352 Forbiger, Albert 589 Förderer, Johann Georg 558 Forer, Laurentius 319, 332f., 335, 352, 355 Fox, George 124, 137, 142–146 Franciscus von Assisi 111, 119 Franciscus, Jacobus 333, 351 Franck, Benjamin 566 Franck, Caspar 101 Franck, Johann Georg 184 Franck, Sebastian 67, 144 Franck, Valentin 424 Francke, August Hermann 148, 211, 229 Francke, Gotthilf August 229 Franckenberg, Abraham von 126, 136, 144 Frank, Severin 656 Frantz, Wolfgangus 344 Freher, Marquard 280 Freÿ, Bernardus 336, 358 Fricke, Johann 130–132 Fricker, Johann Ludwig 197f., 201, 203, 229 Friderici, Jeremias 124, 143–145 Fridolin von Säckingen 62 Friedrich I. Barbarossa, röm.-dt. Kaiser 6, 159–163, 168, 170, 177–180 Friedrich II., röm.-dt. Kaiser 156, 159f., 165– 175, 177–179 Friedrich III., röm.-dt. Kaiser 6f., 11 Friedrich II., König von Preußen 644 Friedrich V., Kurfürst von der Pfalz 279 Friedrich, Herzog von Sachsen-Gotha 550 Friedrich von Anhalt-Dessau 241, 245, 247f., 250, 255, 259, 261f., 264 Friedrich Wilhelm II., Herzog von SachsenAltenburg 482, 485–489, 492, 494, 507 Friedrich Wilhelm III., Herzog von SachsenAltenburg 576 Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg 154, 412 Fries, Johann Heinrich 394 Fries, Johann Jakob 74 Fries, Johannes 60, 72 Frisaeus, Laurentius 280, 374 Frischlin, Nicodemus 372–375, 572f. Frischmuth, Johann 487

Frisius, Johannes 100 Fritsch, Ahasver 149 Froben, Johannes 59, 64, 70 Fröreisen, Isaac 420 Froschauer, Christoph 59, 103 Fryksell, Elav 617 Fryksell, Mattias 616–619 Funcke, Christian 572–574, 585 Fuzelier, Louis 581 Gabler, Johann Philipp 687f. Gaius 48 Galen 71, 300, 304, 378, 461, 470, 473–475, 477–479 Gallus, Jodokus 63 Gandensis, Jacobus 102 Gardie, Magnus de la 553 Gartow, Janus von der 500, 508 Gartz, Dominik 398 Gassendi, Pierre 502 Gasser, Adam Sebastian 613 Gasser, Christian Heinrich 612–616, 620 Gasser, Simon Peter 613 Gastgeb, Johannes 307 Gazzaniga, Petrus 660, 661 Geber, Alexander 655 Gedicke, Friedrich 148, 151 Geiger, Philipp Balthasar 427 Geisler, Johann Tobias 553 Gellert, Christian Fürchtegott 91 Gentili, Alberico 618 Gentili, Roberto 618 Gentner, Johann Friedrich 197, 202 Georgii, Christian Eberhard von 217 Georgii, Heinrike („Henriette“) Dorothea von 217 Gerbert, Martin 652 Gerhard, Johann 592 Gering, Joannes 332, 355 Gernler, Lukas 521, 523–529, 531, 534, 537f. Gerson, Johannes 61 Gessler, Johann 396 Gessner, Konrad 61, 67–69, 71f., 75 Giannone, Pietro 156–181 Gibbon, Edward 159 Girtanner, Christoph 703

Register der Personennamen

Gisenius, Catharina 425 Gisenius, Johannes 410–428 Glarean, Heinrich 72 Gleichen, Ernst IV. Graf von 79 Gleichen, Erwin Graf von 79 Gmelin, Johann Konrad 218 Gmelin, Maria Veronica 218 Gnaphaeus, Petrus 438 Göchhausen, Luise von 211 Goclenius, Rudolf 450f., 455, 457 Gödelmann, Georg 374 Gödör, Georg 688 Gödör, Joseph 687–691, 694–697, 700 Goeckmann, Alexander 398 Goethe, Catharina Elisabeth 206, 209 Goethe, Johann Caspar 206, 229 Goethe, Johann Wolfgang 76, 78, 86, 88–91, 93f., 196, 198, 200, 206–208, 211f., 223– 226, 229f., 246, 255f., 595, 673, 685, 690f., 697, 706, 713 Goetten, Gabriel Wilhelm 648 Goeze, Johann Melchior 91 Góis, Damião de 68–70 Golius, Theodorus 406 Goodwin, John 139–141 Gottfried von Jena 629 Gottsched, Johann Christoph 37, 86f. 92, 186, 628, 634, 704–706, 709, 712, 714 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 37 Götze, Georg Heinrich 145f. Gournay, Marie de 596 Graeter, Wolfgang Jacob 374 Graf, Marquard 656 Grafenstein, Heribert von 651, 653, 656, 659– 665, 668–671 Graff, Conradus 335, 354 Gran, Heinrich 107, 115 Grandinger, Paulus 336, 357 Gratianus de Clusio 102 Gravina, Gian Vincenzo 157 Gravius, Gerhard 419 Grawer, Albert 433 Gregor I., Papst 99, 101 Gregor IX., Papst 166 Gretserus, Jacobus 332, 350 Grimm, Jakob 76–78

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Grimm, Wilhelm 76–78 Groerus, Georgius Henricus 551 Grohmann, Johann Gottfried 566 Gropper, Johannes 102 Groshermann, Hermann 458 Groß, Johannes Hartmann 427 Grosse, Gottfried 374 Grotius, Hugo 281, 535, 597, 635 Grotta, Adamus Sigefridus de 357 Grumbkow, Otto Christian von 558 Grüninger, Johann 103f. Gruppenbach, Georg 381 Grustner, Christophorus 354f. Gruter, Janus 280 Gruter, Johannes 407 Grylusz, Carl Martin 677f., 693, 697f. Grynaeus, Johann Caspar 280 Gualtperius (Walper), Ägidius Konrad 417, 419, 421 Guazzo, Stefano 363 Guetmayr, Gregorius 349 Guevara, Antonio de 192 Gulchen, Abraham Ludwig von 397 Gundling, Nicolaus Hieronymus 590, 644 Günther, Andreas 487f., 508 Günther, Johannes 117 Gustav II. Adolf, König von Schweden 605 Gut, Franz Joseph Melchior 237 Gut, Johann Melchior Josef (Venantius) 237 Gutermann, Christoph Jakob 198 Gutermann, Georg Friedrich 199 Gutermann, Johann Jakob 198 Gutermann, Sophia Margaretha 198 Gwalther, Rudolf 72, 522 Gyöngyösi Jó, Mihály 534 Gyöngyösi, István 535, 537 György Rákóczi II., Fürst von Siebenbürgen 513 Haan, August Ludwig 684 Häfeli, Johann Caspar 243, 248f., 255f., 258– 260, 263, 266 Hafenreffer, Matthias 376–381 Hafner, Hermann 664 Hagelius, Balthasar 350 Hagen, Friedrich Kaspar 566

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Register der Personennamen

Hahn, Johann Michael 245 Haller, Albrecht von 182f., 186f., 190–195 Haller, Richardus 349 Halwill, Hugo ab 351 Hamann, Johann Georg 637 Hambraeus, Laurentius Petrus 578 Handel, Christoph 197, 201 Händel, Georg Friedrich 713 Hanneken, Meno 420 Hansch, Michael Gottlieb 457 Hardkopf, Nicolaus 413 Harpprecht, Johannes 374 Hart, Maarten ’t 575 Hartmann, Elisabeth 506 Hartmann, Martin 502, 505f., 508 Harvey, William 461–471, 473–481 Hasfort, Hermann 419 Haymiller, Jacobus 350 Hecker, Catharina 412 Hecker, Gottschalk 411f. Heemskercken, Jakob van 281 Heerbrand, Jacob 374 Heere, Johann Christian 400 Hegemon von Thasos 570 Heidegger, Johann Heinrich 149, 511, 516, 520–522, 527, 529–538 Heiland, Samuel 374 Heimbach, Christian von 406 Heine, Johann 457 Heinecke, Johann Gottlieb 617 Heinicke, Johann Wilhelm Gottlob 613 Heinrich Friedrich, Markgraf von Brandenburg-Schwedt 241, 245 Heinrich Heimbuche von Langenstein 9, 12 Heinrich IV., röm.-dt. Kaiser 6 Heinrich VI., röm.-dt. Kaiser 159, 164f., 168, 171, 177–179, 181 Heinrich VII., röm.-dt. König 159 Heinrich Julius, Herzog von BraunschweigWolfenbüttel 371 Heinrich XXIV., Reichsgraf von Reuß zu Ebersdorf 200 Heinrich XXIX., Reichsgraf von Reuß zu Ebersdorf 199f., 209 Heinrich Totting von Oyta 9 Heinrich, Christoph Gottlob 680

Heinsius, Christoph 546 Heinsius, Johann Georg 648 Heinzel (Henzel), Conradus 336, 357 Held (Heldt), Georg 401 Held, Egidius 351 Heliogabal, röm. Kaiser 38, 41f. Hell, Caspar 334, 336, 354, 357 Hellbach, Johann Christian 79f. Heller, Dodo 654 Hellstadius, Laurentius 707f. Hellwag, Eberhard Friedrich 197 Helmarius, Sebastianus 331, 348 Hemel, Georg 396 Henel, Nikolaus 573 Hennings, Johann Christian 677 Hennings, Justus Christian 676 Henrietta Maria, Königin von England 550 Heraklit 592 Herbert, Edward 602 Herder, Johann Gottfried 706, 710, 714 Herdesianus, Cyriacus 543f., 551f., 562 Hering, Georg 298 Hering, Johann Ernst 543 Hernquist, Petrus 708 Herodot 594 Hertius, Johann Nikolaus 611 Hertzog, Samson 374 Herwagen, Johannes 106 Hesiod 194 Hettinger, Philippus 360 Heumann, Christoph August 610–612, 616– 618 Heusenstamm, Sebastian von, Erzbischof und Kurfürst von Mainz 118 Hieronymus 42, 70, 99, 571–573 Hilarius von Poitiers 62, 100 Hilebrandus (Hildebrandus), Michael 330, 346 Hilgarter, Johannes 421 Hinssen, Johannes 408 Hippokrates 300f., 304 Hobbes, Thomas 546, 550, 555f., 559f., 600, 602, 666 Hoburg, Christian 625, 636 Hochhausen, Johann Christian Friedrich 691 Hochreutiner, Christoph 409

Register der Personennamen

Hoddäus, Konrad 369 Hoeckenstadlerus, Sixtus 347 Hoen, Matthaeus 326, 356 Hoetenschlebius, Ananias 413 Höffer, Heinrich 597 Hoffmann, Daniel 452 Hoffmann von Hoffmannswaldau, Christian 76, 84–88, 90, 92 Hoffmann, Johannes 427 Hoffmeister, Johann 101 Hofmann, Heinrich 482, 484f., 489f. Hofmann, Johann Jakob 524, 527f., 534, 564 Hohenburg, Herwath de 327, 359 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 225 Holste, Friedrich 402 Holtzer, Johann Rudolf 394 Homer 374, 570, 581 Hondorff, Andreas 76, 80–84, 86f. Honorius, Papst 658 Hopp, Adolph 406 Hopp, Egbert 397 Hopp, Johann Wilhelm 408 Horaz 565, 567, 571f., 574, 576–578, 580, 586, 661, 712 Horn, Johann Friedrich 556f. Hornberger, Johann Christian 216 Horneius, Conrad 455–457 Hornmolt, Sebastian 374 Hornschuh, Heinrich 683 Horstius, Sebastianus 333, 351, 357 Horváti Békés, János 512, 519–521, 523–532, 534f., 537 Hosius, Franz Wilhelm 401 Hosius, Johann Lucas 402 Hosius, Johann Ludger 403 Hosius, Stanislaus 100f. Hotham, Durant 136 Hottinger, Johann Heinrich 520, 524, 530f., 536 Hottinger, Johann Jakob 524–526, 530–532, 534, 536 How, Samuel 137, 139–141 Hrabanus Maurus 71 Hrotsvit von Gandersheim 46 Huber, Christoffel 98 Hübner, Johann 184f., 607f.

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Hueber, Adrian 655, 658f. Huge, Johann Reinhard 403 Hume, David 665f. Hunain Ibn-Ishaq 71 Hungerus, Albertus 101, 346f. Hungerus, Wolfgangus 318, 320, 330, 345 Hunnaeus, Augustinus 449–451, 458 Hunnius, Ägidius 421 Hunnius, Nikolaus 420 Hunyadi, Pál 514, 516 Huobschmidt, Jodocus 115 Hus, Jan 596 Huswedel (Hauswedel), Barthold 401 Huthann, Henning 546 Hütter, Leonhart 379f. Huzelin, Ludwig Christoph 197 Igal, Fabian von 111 IIten, Gertrud 261 Ilsinck, Everardus 405 Innozenz IV., Papst 166, 173 Iosephus de Castilia 595 Irmi, Damian 60 Iselin, Isaac 245 Isinck, Gerhard 393, 405 Isinck, Peter 407 Ittig, Thomas 150 Iuncta, Iacobus 112 Jablonski, Daniel Ernst 577 Jacob, Henry 139 Jacobaeus, Vitus 330, 346 Jahn, Johann Caspar 214 Jakob I., König von England 555 Jakob von Pforzheim 59 Jakober, Alois 236, 238 Jäneke, Johann Rudolph 227 Jobst, Georgius 331, 348 Jöcher, Christian Gottlieb 421, 625 Jocher, Franciscus 355 Johann Georg II., Kurfürst von Sachsen 576 Johann Wilhelm, Herzog von Sachsen-Altenburg 489 Johannes Damascenus 100 Johannes Chrysostomus 100, 380

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Register der Personennamen

Johannitius (Abu Zayd Hunayn ibn Ishaq al-Ibadi) 305 John, Martin 142–144 José von Kastilien 60 Josephus, Flavius 100 Jozeffy, Paul 697f. Juchen (Jüchen), Cornelius von 406 Jud, Leo 58, 64 Jugler, Johann Friedrich 648 Julius, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel 371 Jungius, Joachim 297, 457f., 506, 544 Jung-Stilling, Johann Heinrich 380 Junius, Melchior 513 Junker, Siard von 654f. Juvenal 571 Kager, Joannes 349 Kager, Matthias 358 Kállai Kopis, János 512, 519, 525–532, 535– 537 Karadzic, Vuk 699 Karl August, Herzog von Sachsen-WeimarEisenach 262, 685, 690 Karl der Große, röm. Kaiser 162 Karl IV., röm.-dt. Kaiser 4f., 7, 9 Karl V., röm.-dt. Kaiser 45, 627 Karl VI., röm.-dt. Kaiser 158 Karl I. von Anjou, König von Sizilien 175–179 Karl II., König von England 548, 550f., 557 Karl XI., König von Schweden 547 Kasimir der Große, König von Polen 5 Katharina II., Zarin von Russland 246 Keckermann, Bartholomaeus 326, 360, 492 Keeß, Jacob Konrad 623, 629 Keiling, Guarinus (Johannes) 650, 652–659, 661f., 664 Keiling, Johann Jakob 653 Keiling, Magdalena 653 Keiling, Martin 654 Keller, Dionysius 323, 338, 353 Keller, Johann Heinrich 407 Kellerus, Jacobus 343, 351 Kentzler, Johann 402 Kepler, Johannes 376, 483, 492, 497, 500– 502, 505, 508

Kern, Georgius 332, 350 Kesler, Andreas 457f. Kiffin, William 139 Kirch, Gottfried 505, 509 Kirchbach, Petrus 421 Kircher, Athanasius 597 Kirchmaier, Georg Wilhelm 566 Kis, Johann 687, 694, 697f., 700 Klainer (Clainerus), Georgius 323f., 333f., 338, 343, 351, 353f. Klamp, Albert 363f., 366 Klauer, Martin Gotllieb 268 Kleanthes 592 Klein, Friedrich August 688 Klein, Joseph Traugott 678f., 693, 700 Kleist, Heinrich von 223 Klettenberg, Susanne Catharina Freiin von 206–210, 225f., 229f. Klier, Augustin 653, 656 Klinge (Clinge), Konrad 100, 108–110 Klitzing, Hans Caspar von 550 Klopper, Barthold 398 Klopstock, Friedrich Gottlieb 713f. Knapp, Albert d. Ä. 197, 202f., 219, 227, 229 Knell, Paulus 337, 359 Knigge, Adolph Freiherr von 363 Knobloch, Johannes 113f. Knorr von Rosenroth, Christian 594 Knutzen, Matthias 587 Kober, Tobias 126 Kodericus, Christophorus 374 Köhler, Johann David 641 Kollár, Johann 690, 699 Konrad III., röm.-dt. König 159 Konrad IV., röm.-dt. König 159, 170–173, 175, 178f., 181 Konradin, König von Sizilien 159, 175–179 Konstanze, Königin von Sizilien 165 Korndorfer, Johannes 298–301, 303, 309 Kortholt, Christian 458 Köstlin, Gotthilf 218 Kováznai, Péter 513 Krafftius, Joannes 351 Krapf (Crapff), Johann Georg 396 Kratz, Joachim 396

Register der Personennamen

Kratzerus, Emericus 319, 349 Krause, Johann Gottlieb 638 Krausen, Friedrich 126 Kriegel, Abraham 645, 648 Kromayer, Hieronymus 483 Kuhlmann, Quirinus 617, 634 Kullen, Anna Katharina 197 Kullen, Barbara 198 Kullen, Jakob Friedrich 198 Kullen, Johannes 198, 226 Kurchemius, Christophorus Hermannus 374 Kyburz, Abraham 182–195 Kyper, Albert 466f. L’Hopital, Michel 281 La Peyrère, Isaac 602 La Roche, Maximiliane von 198 La Roche, Sophie von 198, 246 Labadie, Jean de 627 Labbeus, Philippus 610 Lairuelz, Servatius de 657 Lamparter (Lampardus), Henricus 336, 357 Lampe, Friedrich Adolf 513 Landauus, Fridericus 330, 346f. Lande, Jacques de la 400 Lang, Joannes 317, 330, 346 Lange, Joachim 458 Langenheim, Johann Christian 647 Langer, Ernst Theodor 206, 208 Langius Caesaremontanus, Joseph 458 Latil, Casparus de 327, 351 Latius, Johannes 110 Latz, Symon 307 Lavater, Heinrich 244, 251, 254f., 257 Lavater, Johann Caspar 241–268 Lavater, Johannes 522, 527, 531, 534, 536 Laymannus, Paulus 322f., 333, 338, 351–353 Le Clerc, Jean (Johannes) 34, 47, 535 Le Fèvre, Tanneguy 617 Lechnerus, Casparus 333, 335, 352, 354 Leeuwenhoek, Anton van 469, 476 Lefèbvre, François 374 Leferer (Lefrer), Guilielmus 336, 358 Lehner, Johann Georg 654 Leibniz (Leubnitz), Friedrich 588

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Leibniz, Gottfried Wilhelm 448, 459, 545, 559, 561, 577, 588, 591, 595, 631, 638, 650, 670 Leibniz, Johann Friedrich 575, 577, 586 Lembruch, Johannes 427 Lener, Rupertus 336, 357 Lenz, Johann Georg 673 Leo X., Papst 71 Leo, Johannes 278 Leonardus, Ignatius 335f., 356f. Leopold I., röm.-dt. Kaiser 511, 513, 517f., 530 Leopold III. Friedrich Franz, Herzog von Anhalt-Dessau 241–268 Leopold III., Herzog von Österreich 7, 13 Leopoldine Marie, Prinzessin von Anhalt 241 Lerchefeldt, Maximilianus 336, 358 Lerchenfeldt, Leonhardus 336, 358 Lernutius, Janus 573 Leschenbrandt, Gotthard 424 Leß, Gottfried 668 Lessing, Gotthold Ephraim 448, 459, 631, 650 Leusden, Johannes 524f., 535 Leyser, Wilhelm 557 Liddel, Duncan 363f., 366 Lidner, Bengt 713 Liebbald, Julius Thomas 684, 694, 697, 700 Lieblein, Dominikus von 654, 656 Liebler, Georgius 317, 329, 344, 361 Liebrecht, Christian 655 Ließberger, Theodor 557 Lilburne, John 139 Lindanus, Wilhelm 101 Linde, Adolf Heinrich 401 Linder, Thomas 327, 357 Lingelsheim, Georg Michael 279f. Linné, Carl von 708 Lipsius, Justus 280, 592f. Liptay, Matthias 677f., 693, 697f. Livius 71, 99 Lobkowitz, Juan Caramuel 657–659 Lochau, Henning 404 Locher, Joannes Georgius 327, 354 Lodron (Latrono), Paris Comes de 322f., 338, 352 Loefen, Agnes 280

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Register der Personennamen

Loefen, Michael 280 Lohenschild, Christian Otto von 159 Lombardi, Bartolomeo 570 Longinus 71 Lorichius, Joannes 344 Löscher, Valentin Ernst 142 Louise Wilhelmine Henriette, Herzogin von Anhalt-Dessau 241–268 Louwerman, Gerhard 405 Lower, Roger 473, 475, 477 Luben, Christian Friedrich 403 Lubinus, Eilhardus 605f., 610f., 616 Lucan 61, 592 Luchis, Andreas 350 Ludwig, König von Ungarn 5 Ludwig XIV., König von Frankreich 156, 391, 557, 605 Ludwig XVIII., König von Frankreich 607 Ludwig, Herzog von Württemberg 373f. Ludwig V., Landgraf von Hessen-Darmstadt 425 Luere, Simon de 111 Luise, Herzogin von Sachsen-Weimar 262 Lukian 14, 19, 35, 56 Lundelius, Benjamin 702, 707–715 Lundius, Carolus 548 Lussy, Johann Melchior 235 Luther, Martin 14f., 20, 31f., 58–61, 80, 103, 105, 108, 119, 127, 220, 375, 417, 422, 435, 445, 559, 625–627, 662 Lüttringhausen, Cornelius Caspar 393, 408 Lutz, Samuel 183 Lyprandus, Georgius 335f., 356, 358 Lyresius, Joannes 318, 347 Macarius, Joseph 73 Macer, Caspar 318, 326, 330, 344f. Machiavelli, Niccolò 22, 175, 180, 546, 559f., 593, 597f. Maggi, Vincenzo 570 Magnus, Mathaeus 396 Maickler, Georg Konrad 374 Maierus, Theodorus 318, 320, 345 Maillitur, Claudius 113 Malpighi, Marcello 468, 476 Malus, Matthias 330, 344

Mancinus, Georg Andreas 400 Manfred, König von Sizilien 159, 170–175, 177–179 Manhart, Joannes 351f. Manilius 488 Manlius, Johannes 76f., 80–84, 87 Mantuanus, Baptista 63 Manutius, Paulus 618 Marberger, Johannes 101 Marcelius, Henricus 448, 458 Marcus Antonius, röm. Feldherr 49 Marcus Eremita 101 Marets (Maresius), Samuel de 522 Maria, Königin von Ungarn und Böhmen 44f. Marinella, Lucretia 44, 596 Marle, Johann von 397 Marnix, Philipp de 281 Marsilius von Ingen 71 Marsilius von Padua 59 Martial 61 Martini, Cornelius 363f., 366–371, 448, 450, 452–459 Martinis, Octavianus de 66 Martinus, Fridericus 330f., 346, 348 Márton, Stephan 676, 693, 699 Martonfalvi Tóth, György 515, 519, 522, 528, 533f. Marx, Johann Christoph 487 Masecovius, Christian 604 Masen, Jacob 525, 564, 585 Matfeldt, Bernhard 403 Matt, Venantius von 236 Matthisson, Friedrich 242, 247 Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de 607 Maximilian I., röm.-dt. Kaiser 11 Maximilian II., Herzog von Bayern 291 Mayer, Andreas 697f. Mayoral, Andrés 619f. Mechtl, Joannes Albertus 327, 357 Medgyesi, Pál 513 Megerlin, David 374 Meglinus, Joachimus 332, 350 Melanchthon, Philipp 31, 80, 287, 365–370, 377–379, 445, 451 Melczer, Jacob 683, 693, 700 Melius Juhász, Péter 536

Register der Personennamen

Memmius, Isaac 280 Mencke, Otto 638 Mendelssohn, Moses 711 Mener, Andreas 334f., 343, 354, 356f. Mensing, Peter 402 Mentelin, Johannes 104 Mentzel, Philippus 318, 345 Mentzer, Balthasar 416 Merck, Johann Heinrich 200 Merici, Angela 42 Mermannus, Maximilianus 354 Mestrezat, Philipp 537 Metternich, Clemens Wenzel Fürst von 672– 674 Metz, Johann Friedrich d. Ä. 224 Metz, Johann Friedrich d. Ä. 224 Metz, Franz Christian 224, 226 Meurer, Peter 402 Meyfart, Johann Matthäus 430–447 Michaelis, Johann David 583 Michel, Johannes 462–467, 469–481 Mihály Apafi I., Fürst von Siebenbürgen 513, 524 Milag, Martin 543 Milton, John 136, 142 Mislenta, Cölestin 419f. Mohr, Johanna Elisabeth 690f. Molière (Jean-Baptiste Poquelin) 239 Molitor, Isaias 336, 359 Molitor, Romanus 357 Möllenbeck, Johannes 416 Molsberg, Magdalene Louise von 215 Molsberg, Philipp Adam von 215 Monnich (Mönnich), Johann Gerhard 398 Montaigne, Michel de 618 Montanus, Jacobus 72 Montfort, Georgius Comes a 319, 348 Morel, Apollinaris (Jean Jacques) 231–240 Morel, François Joseph 232 Morel, Jean Baptiste 231 Morel, Marie-Elisabeth 231 Morhof, Daniel Georg 604f., 608, 611f., 615– 617, 627 Möring, Hartmann 458 Moritschius, Nicolaus 350 Morus, Margarete 15

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Morus, Thomas 15, 32, 35, 50 Moser, Friedrich Carl Freiherr von 206, 209 Moser, Henricus 335f., 356f. Moser, Martin 121, 127 Mosheim, Johann Lorenz 126 Motschenbach, Pancratius 349 Motzfeldt, Franz 398 Motzfeldt, Friedrich Wilhelm 405 Motzfeldt, Heinrich 405 Motzvelt, Johannes 398 Mozelius, Volpertus 327, 355 Muggleton, Lodowick 142 Mulert, Johann 401 Müller, Agnes Maria 218 Müller, Berthold 428 Müller, Conrad 396 Müller, Gottfried Polycarp 212 Müller, Johann Georg 218 Müller, Johann Jacob 150, 152, 558 Müller, Johannes 516, 521f., 526f., 529, 533, 536–538 Müller, Philipp 483f., 487f., 491f., 494, 499f., 502, 504, 508 Mundbrot (Mundbrott), Walter (Gualterus) 334, 351, 353 Munstermann, Johannes 428 Muntz (Müntz), Anton Werner 408 Muralt, Anna Barbara von 242, 244, 248f., 267 Muratori, Ludovico Antonio 156f. Murer, Josias 242 Murner, Thomas 120 Mürschel, Israel 424 Musäus, Johann Karl August 76, 78, 91–93 Myconius, Oswald 72 Mylaeus, Christophorus 61 Mylius, Christian Otto 644 Mylius, Cornelius 281 Napoleon I., Kaiser der Franzosen 697 Nauclerus, Johannes 100 Naundorff, Matthias 546 Nausea, Fridericus 101f. Nayler, James 137, 142 Neander, Christoph 557 Neander, Johann Christoph 557

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Register der Personennamen

Neander, Samuel 557 Nedergordius, Emmichius 388 Nero, röm. Kaiser 6 Nestor, Dionysius 72 Nettesheim, Christian Rutger 405 Neuenhahn, Carl Ludwig 645 Neuhaus, Franciscus L. Baro a 332, 359 Neuhoff, Theodor Stephan 405 Neumann, Johannes 307 Nicephorus, Hermann 364 Niclaes, Hendrick 137 Nicolaus, Philibertus 335, 354 Niklaus, Johannes 524, 526, 537 Nikolaus von Kues (Cusanus) 137 Nikolaus von Lyra 64 Nitzen, Ernst 416 Nitzschke, Christian Gottlieb 680, 682 Nógrádi, Mátyás 528 Nonnos von Panopolis 375 Norbert von Xanten 655 Norcopensis, Andreas 547 Noris, Enrico 661 Northmann, Konrad 415 Nothold, Anton 369f. Numagen, Petrus 62 Nünning (Nunning), Jodokus Hermann 391, 404 Nusler, Constantin 543 Oberreit, Jacob Hermann 245 Oberstainer, Paulo 307 Occhino, Bernardino 72 Oekolampadius, Johannes 72, 627 Oetinger, Christiane Dorothea 197 Oetinger, Friedrich Christoph 131, 196–201, 203, 210, 221–230 Ogilvie, James 159 Okolicsányi, Pál 512 Olevian, Ludwig 280 Oliva, Joannes Paulus 347 Olmo, Miguel Maria del 606f., 616, 619 Olpe, Severus Christoph 549–550, 559f. Öman, Jonas Eric 547f. Onadi, Márton B. 538f. Opitz, Martin 270f., 278, 704f., 712 Oporin, Johannes 59

Origenes 380, 593f. Orth, Hermann Philipp 421 Osius, Franciscus 397 Osorius, Hieronymus 101 Ott, Christianus 655 Otto (Ott), Christophorus 337, 359 Otto (Otte), David 403 Ottokar II. Przemysl, König von Böhmen 5 Ovid 84, 194, 377, 592 Paganus, Theobaldus 113 Pagenstecher, Werner 397 Pagnini, Sante 60 Pain, John 136 Palazzo, Giovan Antonio 544 Pannach, Johannes Gottlob 404 Pápai Páriz, Ferenc 516, 519–521, 523f., 527f., 530–532, 536 Papinus, Clemens 335, 356 Paracelsus (Theophrastus von Hohenheim) 375, 636 Parent, Johannes 393, 408 Pareus, Johann Philipp 280 Pary, Gabriel Aloysius (Macarius) 654 Pary, Johann Edmund 654 Passeratus, Johannes 281 Pastorius, Joachim 611, 615f. Pataki, István 514, 517 Pauli, Reinhold 520 Paulsen, Johann Christoph Jakob 680, 682 Paulus de Heredia 60 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 645 Paumgartner, Caspar 349 Pázmándy, Anton von 676f. Pechlin, Johann Nicolas 627 Pecquet, Jean 474f. Pelargus, Ambrosius 15 Pelbárt von Temesvár 115f. Pellikan (Kürschner), Konrad 58–75 Pellikan, Samuel 61, 64, 66, 68 Perikles 632 Perius, Joannes 349 Periwig, Nicholas 138 Perotti, Niccolò 73 Perrot, John 137 Petrarca, Francesco 6

Register der Personennamen

Petzold, Adam Friedrich 645 Peyer, Johann Conrad 528 Peyrère, Isaac de le 668 Pfaffrad, Kaspar 364 Pfedersheimer, Paul 58 Pfeiffer, August 588 Pfenninger, Johann Konrad 245, 253, 256, 264 Pflaumer, Christoph 335, 355 Pfyffer, Johann 98 Pfyffer, Kaspar 95f., 98, 103f., 119 Phederus (Feder), Georgius 349 Philipp von Schwaben, röm.-dt. König 159 Philipp der Schöne, König von Kastilien und León 45 Philipp der Großmütige, Landgraf von Hessen 80f., 86 Philipp, Herzog von Pommern 605 Philippus, Bischof von Regensburg 319, 332, 350 Piccartus, Michael 280 Pichler, Sigismund 543 Pietsch, Fridericus 651 Pihelmair, Joannes Baptista 331, 348 Pihelmair, Wolfgang 331, 348 Pilatus, Fridericus 352 Pinedanus, Alphonsus 318, 345 Piper, Ulrich Christian 546 Pirckheimer, Willibald 25, 73 Pisanski, Georg Christoph 613, 616 Pisonet, Anianus 327, 357 Pistorius Niddanus, Johannes d. J. 594f. Pithaeus, Nicolaus 281 Pittoni, Giovanni Battista 652 Pius XI., Papst 232 Placcius, Vincentius 399 Planck, Johann 396 Platel, Jakob 657–659 Platina, Bartolomeo 100 Platon 19, 22, 130, 378, 602, 624, 626f., 632, 711 Platter, Felix 391 Plautus 48 Plemp, Vobiscus Fortunatus 466, 469 Plessen, Volrad von 280 Plinius d. J. 608, 711

751

Plinius d. Ä. 128f., 594, 608 Plitt, Johann Jacob 373 Plitz, Johann Konrad 484 Plotin 611 Plutarch 46, 100 Poedver, Georg 687, 694, 697f. Poiret, Pierre 635 Polemann, Johannes 419 Pompeius 49 Pontanus, Jacobus 564, 576, 618 Pordage, John 137 Porta (Portzen), Arnold Hermann von 406 Portia, Cyrus Comes de 350 Pósaházi, János 512, 514, 516f. Postel, Guillaume 30 Pötker, Bernhardus 427 Prache, Hilarius 142–144 Praetorius, Bernhard 280 Praetorius, Johannes 491, 508 Praun, Joannes 317, 330, 346 Pretten, Johann 458 Preyss, Johannes 298 Pribenius, Sylvester 414f. Prockelius, Daniel 330, 346 Pröläus, Immanuel 566 Pröläus, Johann Samuel 566 Pronay, Johann 677 Pronay, Maximilian 677 Pronnerus, Ludovicus 319, 348 Prott, Barthold 412 Pruckner, Johann 458 Pruckperger, Wolfgangus 317, 330, 346 Prudentius 64 Prutenus, Johannes 307 Prutz, Robert 639, 641 Ptolemaios 168 Puchaymer, Iodocus 299, 307 Puelinger, Wilhelm 307 Pufendorf, Esaias 588 Pufendorf, Samuel 535, 588, 591, 597, 599 Pulhamer, Johannes 307 Puteanus, Claudius (Claude Dupuy) 280f. Pyrker von Felsö-Eör, Johann Ladislaus 698 Qimhi (Kimchi), Dawid 60, 74 Quentel, Heinrich, 105

752

Register der Personennamen

Quentel, Johann 105f., 114 Quintilian 568 Rabener, Justus Gotthard 639 Rackelmann, Joannes 334, 354 Rademacher, Bertram 407 Ramus, Petrus 366–370, 457, 515 Randall, Giles 137 Randekk, Johannes de 12 Ranft, Michael 639, 641 Rappolt, Friedrich 564, 575–577 Rauch, Joannes 335, 356 Rauffseysen, Philipp Ernst 586 Razenreidt, Gebhardus 334, 353 Razer, Eberhard 653, 656f. Reber, Gaudentius 655 Rechenberg, Adam 148 Rechlinger, Franciscus 336, 358 Rechlinger, Sebastianus Christophorus 353 Reeb, Georg 326, 358f. Reichardt, Johann Friedrich 246 Reihing, Conradus 333, 343, 351–353 Reimarus, Hermann Samuel 593 Reindelius, Robertus (Rupertus) 332, 350 Reinelius, Johann-Michael 595 Reinhardus, Georgius 336, 358f. Reinmann, Ferdinandus 335, 354 Reisacherus, Guilielmus 350 Reisacherus, Sebastian 318, 330, 343f. Reisch, Gregor 58 Rem, Matthias 337, 359 Reneccius, Jacob 449f., 452, 458 Rennemann, Henning 449–452, 455, 458 Rescius, Stanislaus 610 Restiarius, Bartholomaeus 331, 347 Restiarius, Johannes 331, 347 Reuchlin, Johannes 595 Reuter, Conrad 298 Reyff, Franciscus Josephus 360 Rhazes 305 Rhenanus, Beatus 59, 70 Rhodolphus (Rudolphus), Casparus 326, 344 Rhöne, Johann Sebastian 560 Rhotius, Nicolaus 394 Ribbeck, Hans Georg d. Ä. von 412 Riccioli, Giovanni Batista 502

Richard I., König von England 165 Richter, Gregorius 121–130, 133f., 136, 626 Ricius, Paulus 595 Rickers (Rickärs, Richartz), Wilhelm 406 Rieger, Christian Friedrich 218 Rieger, Christiane Elisabeth Frederike 217 Rieger, Eberhard Heinrich 217, 225 Rieger, Eberhardine Dorothea 217 Rieger, Friederike Veronika 203, 214, 217f. Rieger, Georg Cunrad (Konrad) 216 Rieger, Gottlieb Heinrich 203, 213f., 217f., 225 Rieger, Immanuel 216 Rieger, Karl Heinrich d. Ä. 197, 202f., 213f., 216–218, 227 Rieger, Karl Heinrich d. J. 217 Rieger, Magdalena Sibylla 216 Rieger, Maria Sophia Beata 217 Rieger, Regine Dorothea 216 Risi (Rissy), Leonhard 96–98, 100, 103–115, 117, 119f. Ritter, Johann Friedrich von 558 Ritter, Stephan 373 Rittershusius, Cunrad 280f. Rivet, André 596 Robbe, Nikolaus 397 Rockenbach, Abraham 499 Rödel, Norbert 656 Roger I., Graf von Sizilien 165 Roger II., König von Sizilien 163, 178 Röhrensee, Christian 543 Roleman, Johannes 397 Rolfink, Werner 461 Röller, Gottfried Günther 580 Roos, Magnus Friedrich 197f., 203, 219, 222 Rörentorph, Johannes 416 Rosenhamer, Matthias 332, 355 Rosler, Jacobus 336, 358 Roßbecher, Johannes Adam 421, 423f. Rotenbach, Johannes 430, 433 Roth (Rott, Rot), Hugo 332f., 350, 352 Rothius, Caspar 573 Rothmann, Christoph 492 Rotmarus, Valentinus 319, 348 Röttinger, Christoph 543 Rudbeck, Jacob 605

Register der Personennamen

Rudbeck, Olaus 469, 474, 479 Rudolf von Habsburg, röm.-dt. König 5 Rudolf II., Herzog von Österreich und Steiermark 5 Rudolf IV., Herzog von Österreich 5–10, 12 Rupprecht, Franz Joseph von 656 Ruprecht I., Kurfürst von der Pfalz 5 Rütinger, Johannes 60 Ryman, Johannes 115 Saale, Margarethe von der 80 Sachs, Hans 123, 128, 145 Sagittarius, Thomas 574 Saladin, Sultan von Syrien und Ägypten 163 Salicelus, Nicolaus 101 Salius, Johannes 300 Sallier, Claude 580–582, 585 Salmon, Joseph 137 Salomo ben Isaak (Raschi) 60 Saltmarch, John 137 Salzhuber, Georg 458 Santen, Johannes von 407 Santes, Johannes 458 Sauerbrei, Johann (Johannes) 566, 596 Scaliger, Joseph Justus 573 Scaliger, Julius Caesar 564, 570f., 573–576, 580 Schachner, Christophorus 333, 353 Schaffarik, Paul 691–695, 700 Scharf, Johann 455, 458 Schaz, Johannes 355 Schedding, Ernst Wilhelm 404 Schede Melissus, Paul 280, 372f., 375, 380, 565, 573 Scheiner, Christoph 327f., 343, 354f. Schenck, Johann Theodor 506 Schenckel, Lambert Thomas 617 Scheuchzer, Johann Jakob 183 Scheuermann, Berthold 653, 656 Schiller, Friedrich 218, 580, 705f., 711 Schilter, Johann 487 Schilter, Johann Benjamin 482, 486–494, 496–505, 507f. Schimpffer, Bartholomäus 483f., 500, 504, 508 Schlegel, August Wilhelm 705f., 711

753

Schlegel, Friedrich 702–705, 710 Schlegel, Johann Adolf 705f., 711, 714 Schlegel, Paul Marquard 461 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 220 Schlosser, Johann Friedrich („Fritz“) Heinrich 209 Schlosser, Johann Georg 209 Schlüsselburg, Georg 421 Schmaltz, Jacob 565–578, 585 Schmidgall, Johann Georg 224 Schmidt, Johann Heinrich 403 Schmidt, Johannes 424 Schmiet (Schmidt), Erich 402 Schmitner, Ahasver 465 Schmuck, David 546 Schnaf, Johann Caspar 396 Schneider, Johann Fridemann 458 Schnobel, Joachim 398 Schoffl (Schöffl), Michael 318, 347 Schönauer, Salome 275 Schönburg, Georg Ernst von 492 Schönperger, Joannes Georgius 327, 354 Schoppe, Kaspar 603 Schopping, Christoph Bernhard 401 Schorn, Johann Wilhelm 409 Schott, Johannes 59 Schöttgen, Christian 639 Schrautenbach, Ludwig Carl Freiherr von 200 Schreiber, Georg Ludwig 217 Schröer, Tobias Gottfried 691 Schröter, Wilhelm von 540f., 548–562 Schrötteringk, Adolf 404 Schrötteringk, Georg 402 Schubert, Gotthilf Heinrich 223 Schulthess, Anna Barbara 248f., 266 Schulthess, Bäbe 248 Schultze, Daniel 553 Schurmann, Anna Maria von 596, 627 Schuska, Paul 682f., 693, 700 Schütz, Christian Gottfried 676 Schwaiger, Ubaldus 358 Schwarz, Johann Nikolaus 610 Schweizer, Johann Caspar 530f., 536 Schweizer, Johann Heinrich 522, 527, 531, 536 Schwenckner, Christian Wilhelm 697

754

Register der Personennamen

Scipio, Conradus 427 Scriverius, Joachim 551 Scultetus, Urbanus 424 Seberinyi, Johann 684–687, 694, 696, 698, 700 Sebes Zilahi, József 538f. Seckendorf, Veit Ludwig von 147, 556 Sedwick, William 137 Seemiller, Adamus 335, 356 Seher, Reinhold 418, 427 Seiz, Johann Christian 683 Sejanus 551 Selchow, Johann Heinrich Christian von 640 Selden, John 601 Seldener, Johann 544 Sella, Christophorus 331, 349 Seller, Peter 406 Seneca d. J. 48, 72, 224, 608 Senftleben, Andreas 573 Serranus, Ludovicus 326f., 340f., 351f., 357 Servet, Michael 468 Severin, Christian (Longomontanus) 500–502 Severus Alexander, röm. Kaiser 42 Seyttenthaler, Wolfgangus 344 Sichard, Johann 374 Sidericus, Jacob 280 Sidney, Philip 281 Sigismund von Luxemburg, röm.-dt. Kaiser 5 Sigmaringen, Fidelis von 107, 109f., 112, 114, 117 Sigonius, Carolus 618 Sigwardt, Johann Georg 373 Simon Atheniensis Coriarius 631–634 Simon Magus 592 Simon VI., Reichsgraf zur Lippe 414 Simon, Samuel 684 Simoni, Simone 550 Simonyi, Andreas 684, 694, 700 Singriener, Johannes 308 Sixtus von Siena 99, 107 Skytta, Benedikt 153f. Slüter, Matthaeus 401 Smalcius, Jakob 596 Snell, Wilebrord 492, 502 Snellius, Rudolph 450, 457 Socin, Emmanuel 275

Sokrates 600, 626, 631–634 Sonnenberger, Rodolphus 332, 350 Sophia Charlotta, Königin von England 246 Sophokles 592 Sozzini, Lelio 601 Spalding, Johann Joachim 265 Sparrow, John 136, 142 Specius, Joannes 332, 350 Spener, Philipp Jacob 147–155, 192, 199 Spengler, Jakob 394 Spengler, Nikolaus 597 Speroni, Sperone 35 Spinoza 591, 593, 600f., 627 Spizel, Gottlieb 151f., 154 Sporn, Martin 298 Stadler von Beromünster, Moritz 231–233 Stahl, Daniel 591 Stahl, Georg Ernst 590 Stallbaum, Gottfried 589 Standish, Henry 15 Staphylus, Friedrich 101 Stattler, Benedikt 660f., 664f. Steber, Bartholomäus 298 Steborius, Christoph 334, 353f. Steelsius, Johannes 110 Stegmann, Josua 425 Steiger, David 394, 408 Stein, Andreas 129–131 Stein, Carolus 335, 356 Stein, Charlotte von 261 Steiner, Werner 71f. Steinhofer, Catharina Christina 215, 217 Steinhofer, Christina Justina 215 Steinhofer, Dorothea Wilhelmine 200f., 215, 226 Steinhofer, Friederike Charlotte 215 Steinhofer, Friedrich Christoph d. Ä. 196–214, 216f., 221, 224–229 Steinhofer, Friedrich Christoph d. J. 215 Steinhofer, Johann August 215 Steinhofer, Johann Jakob 199, 214 Steinhofer, Johann Ulrich 215, 217 Steinhofer, Ludwig Christoph d. Ä. 196, 214 Steinhofer, Ludwig Christoph d. J. 215f. Steinhofer, Maria Margaretha 214 Steinhofer, Sibylla Dorothea 201, 214

Register der Personennamen

Stengel, Georgius 333f., 353 Stenius, Olaus 469 Stensen, Niels 473, 477 Stephan I., Papst 659 Stephanus, Robert 59f., 64 Stettin, August Lebrecht 222 Steuco, Agostino 592 Steudel, Johann Christian Friedrich 219 Steudel, Luise 219 Steudel, Paul Gottlob 219 Steudel, Wilhelmine 219 Stevart, Peter 333, 352 Stieffel, Esaias 635f. Stille, Johannes 413 Stöckle, Katharina 280 Stoeffler, Johannes 306f. Stolberg, Friedrich Leopold von 78f. Stolz, Johann Jakob 243, 258, 264 Storchenau, Sigismund von 652 Storck, Johann Wilhelm 398 Stratius, Nicolaus 337, 359 Strauss, Hugo 654, 658 Streuffius, Theodoricus 319, 347 Striedacher, Andreas 318, 347 Strigelius, Michael 322, 353 Ströhl, Engelbert 664 Strubberg, Johann Anton 641 Strube, Heinrich Julius 412 Stuhr, Johannes 402 Stürler, Albert 394 Sturm, Johann 422, 590 Sturm, Karl Christoph Gottlieb 684 Sturmius, Melchior 352 Succow, Lorenz Daniel 674 Succow, Lorenz Johann Heinrich 677 Sueton 618 Sulla, röm. Feldherr 49 Sulzer, Johann George 580, 583 Summenhart, Conrad 74 Summonte, Giovanni Antonio 164, 171 Surgant, Johann Ulrich 113 Sutorius, Leo Julius 403 Svedelius, Petrus 566, 578–582, 585f. Swaiger, Jacobus 335, 355 Swedenborg, Emanuel 621 Swift, Jonathan 91

755

Syllems (Sylm), Johann 401 Sylm (Sillm), Helwig 401 Szathmárnémeti, Mihály 512 Szegedinus, Stephanus 513 Szilágyi Tönkő, Márton 515f., 522, 528, 531– 534 Tacitus 543f. Tacitus, röm. Kaiser 553 Tampach, Gottfried 374 Tannstetter, Georg 299, 301f., 307 Tankred von Hauteville 165 Tany, Thomas 137, 142 Tartaretus, Petrus 74 Tasso, Torquato 35 Taubmann, Friedrich 569, 571, 573 Tauler, Johannes 245 Teller, Wilhelm Abraham 223, 226 Tertullian 64, 99 Tesmar, Johannes 393, 399, 407 Tetzel, Heinrich 415 Teuber, Gottfried 490, 509 Teutsch, Georg Daniel 698 Thaumandrus, Jakob 424 Thenigh, Christian 406 Ther Stegen, Johannes 407 Tho Bucop, Theodor 405 Thomas von Aquin 101 Thomas, Johann 587, 589 Thomas, Michael 587 Thomasius, Christian 18, 56f., 448, 459, 588– 592, 597–599, 612, 621–636, 650 Thomasius, Gottfried 587f. Thomasius, Jakob 458, 551f., 559, 569, 587– 603 Thorild, Thomas 707 Thormann, Huldreich (Ulrich) 407 Thory, Georg 462–467, 469–481 Thou, Jacques Auguste de 280 Thurmann, Caspar 543, 552 Tiling, Johann 638 Timotheus von Milet 713 Timpler, Clemens 361, 459 Titel, Basilius 491 Tittelmans, Franziskus 102, 111–113 Titz, Johann Peter 618

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Register der Personennamen

Tocht, Cornelius van der 408 Tofeus, Mihály 514 Tornow, Friedrich Joachim von 407 Tradel, Caspar 395 Treuer, Gottlieb Samuel 560, 641 Trieu, Philippe du 326, 356 Tronchin, Luis 537 Tschech, Johann Theodor von 131f. Tschirnhaus, Ehrenfried Walther von 598, 617 Turisanus, Petrus 315 Turrettini, François 537 Udri, Petrus 335, 356 Ulhardus, Philippus 345 Ulrich, Prinz von Holstein 278 Ulrich, Abraham 543 Ulrich, Johann August Heinrich 680, 682f. Urban IV., Papst 175 Urban VI., Papst 12 Urne, Christian 543 Ursinus, Carolus 318, 347 Usteri, Leonhard 261 Utenheim, Christoph von 114 Utinus, Leonhard 101 Vadian, Joachim 297f., 301f., 305–309, 311f., 314f. Vaeck, Alardus 428 Valerí, Alardo di S. (Erard de Valéry) 176f. Valla, Lorenzo 48, 308 Vandrák, Andreas 698 Vane, Henry 137 Varnbüler, Anna Maria 373 Varnbüler, Antonius 374 Varnbüler, Nikolaus 374–376, 382 Vegesack, Nikolaus 400 Vehelen, Melchior 396 Veiel, Elias 131, 147–155 Veihelin, (Jacob) Servilianus 337, 359 Veihelin, Sebastian 319, 332 Veltmann, Heinrich Caspar 408 Veltmann, Jakob 428 Veltwyck von Ravenstein, Gerhard 60, 74 Vemars, Barberius 606 Venantius Fortunatus 62 Venhoeven, Hermann 400

Verdunck (Verdugk), Georgius 334, 353 Veresegyházi, Tamás 512, 519–538 Veresmarti, Gáspár 513 Vergil 373, 375, 441, 572f., 575, 711 Verpoorten, Jacob 404 Vesalius, Andreas 468, 475 Vetten, Eberhard 397 Via, Johannes a 118 Vicaeus, Joannes 331, 347 Vico, Giovanni Battista 157f. Vida, Marco Girolamo 375 Vigilius, Papst 655 Villani, Giovanni 175, 177, 179 Vincent, Humfrey 139 Vischer, Johannes 373 Viterbo, Gottfried von 164 Vives, Ludovicus (Joan Lluís) 451, 455, 596 Vizanus, Paulus 318f., 347f. Vlierden, Daniel 75 Voetius, Gisbert 513 Vogel, Johann Augustin 640 Vogelius, Joannes 319, 349 Vogler, Caspar 374 Voigt, Johann Heinrich 684, 693 Volnhals, Marcus 347 Voltaire (François Marie Arouet) 15, 159 VomCampe, Lucas 403 Vonberth, Theodor 400 Voß, Johann Heinrich 441 Vossius, Gerhard Johannes 387, 564, 576, 592 Vries, Gerard de 545 Vulpius, Heinrich 415 Waeyen, Jan van der 534 Wagner, Christian 546 Wagner, Dominicus 651 Wagner, Gabriel 598 Wagnerus, Joannes 318, 348 Waizeneggerus, Ferdinandus 327, 357, 359 Walaeus, Johannes 465f., 469, 471–475, 477– 479 Walch, Johann Georg 639 Waldersee, Franz von 248, 262, 265 Waldkirch, Joannes Jacobus 330, 347 Wallenius, Jacobus 708

Register der Personennamen

Wallenstein, Albrecht Wenzel Eusebius, Herzog von Friedland 551 Wallis, Ralph 133–135, 137 Walper, Otto 421 Walther, Barthold 404 Wangerecks, Henricus 335, 354 Warr, John 137 Wascherus, Joannes 318, 346 Webster, John 137 Wegelin, Daniel 525 Wegner, Gottfried 613 Wehner, Thomas 419, 421, 427 Weigel, Erhard 482–510 Weigel, Valentin 625, 627, 636 Weilhamerus, Joannes 318, 344 Weirauch, Christian 559 Weise, Christian 588, 598, 607–609 Weishaupt, Casparus 334, 353 Weiß, Christian 216 Weiß, Johann 483f. Weiß, Katharine 216 Weiße, Christian Heinrich 618f. Weißensee, Philipp Heinrich 200, 214, 216 Welser, Anton 333, 351 Wenckh, Casparus 334, 354 Wendeler, Michael 458 Wendler, Johann Christoph 610 Wentzelhuser, Johannes 307 Wenzel II., König von Böhmen 3 Werdea, Johannes 298 Werdenstein, Georg Heinrich von 546 Werich, Heinrich Werner 406 Wernike, Arnold 404 Wettstein, Johann Rudolph 521, 523f., 537 Weyerstraß, Johann 386, 398 Wicelius (Witzel), Georgius 100 Widemann, Jodocus 423 Widemann, Justus 413 Wieland, Christoph Martin 56, 198 Wiese, Hinrich Diederich 404 Wiest, Stephan 664–671 Wild, Johann Michael 663 Wild (Ferus), Johannes 101, 116–118 Wild, Otto 651, 663f., 666–671 Wildeshausen, Erich 400 Wilhelm I., König von Sizilien 162

757

Wilich (Wilik, Wild), Thomas 405 Wilhelm IV., Herzog von Sachsen-Weimar 485 Wilhelm von Auvergne 113 Williams, Roger 141 Willms, Jacob 403 Wimpfeling, Jakob 114 Winckel, Lucas 401 Winckel, Theodor 397 Winckel, Ulrich 403 Winckelmann, Johannes 416 Winckler, Tobias 546 Windheim, Christian Ernst von 641 Winkler, Johann Peter Siegmund 199, 214 Wintzler, Johann 61 Wirker, Nigel 596 Wirsing, Nicolaus 335, 356 Wispeckius, Guilhelmus 317f., 330, 346 Witmayr, Andreas 349 Witt (With), Johannes de 406 Witte, Nicolaus 465–467, 481 Witten, Alexander 397 Wittichus, Christopher 534 Wittmann, Georg Michael 664 Wittmann, Wilhelm 651, 664f., 671 Witzgall, Roger 654 Witz, Susanna 275 Wolf, Johannes 67 Wolff, August 483, 508 Wolff, Christian 652, 661, 665 Wolke, Christian Heinrich 245 Wolleber, Alexander 275 Wood, Anthony 601 Wordenhoff (Wördenhoff ), Erich 401 Wördenhoff, Laurentius 402 Wülffing, Werner 405 Wunder (Wonder), Michael Heinrich 407 Wüsthausz, Adolph 397 Wyl, Bernhardus 334, 353 Wysing, Nicolaus 336, 358f. Xenophon 633 Ysengrin, Martin 101 Zabarella, Jacopo 364–367, 452–454 Zaff, Nikolaus 530f.

758

Register der Personennamen

Zainer, Günther 104 Zamponius, Joannes 317, 332 Zanchius, Hieronymus 513 Zedler, Johann Heinrich 79, 87, 144, 446, 625, 648 Zeisold, Johannes 458 Zenon d. J. 592 Zettelius, Wolfgang 330, 345 Ziegler, Conrad 524f. Ziglerus, Hieronymus 345 Zimmermann, Johann Georg 214, 246, 264, 266

Zinzendorf, Erdmuthe Dorothea von 200 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 196, 199– 201, 207, 212, 225, 228f. Zisich, Johannes 415 Zobel, Charlotte Elisabeth 223 Zobel, Heinrich August 223f. Zobel, Johann Adam 223, 226 Zollikofer, Georg Joachim 246, 254 Zuberus, Matthaeus 374 Zwicker, Daniel 600f. Zwinger, Johannes 520f., 534, 538 Zwingli, Huldrych 58, 64, 73, 75, 627

Hanspeter Marti Manfred KoMorowsKi (Hg.)

die Universität Königsberg in der früHen neUzeit

Nach dem Untergang Königsbergs am Ende des Zweiten Weltkriegs war die Beschäftigung mit der Geschichte der Stadt durch Quellenverluste für Jahrzehnte behindert. Das wissenschaftliche Interesse für die Albertus-Universität ist erst mit dem 450. Gründungsjubiläum im Jahr 1994 neu erwacht. Der interdisziplinär angelegte Band vereinigt Aufsätze zur Geschichte der Albertina von ihrer Gründung bis etwa 1800. Behandelt werden Forschungsstand und -perspektiven, einzelne Gelehrte, Fakultäten und Fächer (Medizin, Poetik, Rhetorik, Geschichte), philosophische Denkrichtungen (Aristotelismus, Kantsche Philosophie) und theologische Positionen, die Baugeschichte sowie die auswärtigen Beziehungen der Universität. Der Forschung vermitteln die Beiträge Anregungen und Erkenntnisse auf einer breiten quellenkundlichen Basis. 2008. X, 467 S. 3 farb. abb. auf Taf. und 12 S/w-abb. im TeXT. br. 155 X 230 mm. iSbn 978-3-412-20171-5

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Gerd Schwerhoff (hG.)

Stadt und Öffentlichkeit in der frühen neuzeit (StädteforSchunG. reihe a: darStellunGen, Band 83)

»Öffentlichkeit« ist einer der zentralen neuzeitlichen Grundbegriffe, dessen Entstehung, Ausprägungen und Wandlungen die Geschichtswissenschaft seit einiger Zeit intensiv beschäftigt. Die Rolle der Stadt ist bislang in diesem Zusammenhang wenig gewürdigt worden. Der vorliegende Band möchte die moderne Stadtgeschichtsforschung an dieses Forschungsfeld heranführen. Seine Autorinnen und Autoren beschäftigen sich mit den Funktionen öffentlicher Orte, z. B. von Wirts- und Kaffeehäusern, und sie untersuchen die Medien und Träger der Öffentlichkeit. Dabei fragen sie nach dem spezifischen Charakter städtischer Öffentlichkeit und nach deren Beitrag für einen möglichen »Strukturwandel«, wie er vor rund fünfzig Jahren von Jürgen Habermas postuliert wurde. 2011. X, 219 S. 18 S/w-Abb. Gb. 170 X 240 mm. ISbN 978-3-412-20755-7

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Antje MiSSfeldt (Hg.)

gottfried Arnold r Adik Aler PietiSt und geleHrter jubil äuMSgAbe von und für dietricH bl AufuSS und HAnSPeter MArti

Das Buch versammelt im ersten Teil sieben Aufsätze von Hanspeter Marti über Werk und Wirken des radikalen Pietisten Gottfried Arnold (1666–1714) sowie die Edition von Arnolds lange verschollener Dissertation über die Engelsprache. Der zweite Teil enthält das von Dietrich Blaufuß erstmals edierte und kritisch kommentierte »Offenhertzige Bekäntniß« Arnolds (Erstausgabe 1698), das ein bedeutsames autobiografisches Zeugnis darstellt. Thematische Schwerpunkte des interdisziplinär angelegten Bandes sind Arnolds Verhältnis zu Sprache, Rhetorik und Gelehrsamkeit, sein Beitrag zur Geschichte der Utopie und seine Offenheit für Einflüsse frühneuzeitlicher, auch katholischer Mystik. 2011. 274 S. Mit 16 FakSiMileS. Br. 155 x 230 MM. iSBN 978-3-412-20689-5

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HANNS CHRISTOF BRENNECKE DIRK NIEFANGER WERNER WILHELM SCHNABEL (HG.)

AKADEMIE UND UNIVERSITÄT ALTDORF STUDIEN ZUR HOCHSCHULGESCHICHTE NÜRNBERGS (BEIHEFTE ZUM ARCHIV FÜR KULTURGESCHICHTE, BAND 69)

Am 24. September 2009 jährte sich zum 200. Mal die Auflösung der Universität Altdorf. Das bietet einen Anlass, an die Bedeutung dieser neben Straßburg einzigen reichsstädtischen Hochschule zu erinnern. Seit ihrer Fundierung 1578, dem Ausbau zur Akademie, vor allem aber seit ihrer kaiserlichen Privilegierung als Universität 1622 kam der Altdorphina eine Schlüsselrolle für die akademische Bildung in den südöstlichen Reichsteilen und Nachbargebieten zu. Wegen ihrer naturwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen galt sie zeitweilig als eine der modernsten Universitäten Europas. Die Rolle der Altdorphina interdisziplinär und hinsichtlich ihrer Wirkungsgeschichte auch international zu diskutieren, ist Ziel der hier versammelten Beiträge. 2011. VI, 464 S. 17 S/W-ABB. IM TEXT. 23 S/W-ABB. AUF 8 TAF. GB. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-20640-6

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MARTHA FRIEDENTHAL-HAASE, EVA MATTHES (HG.)

UNIVERSITÄTSKULTUREN IN DEUTSCHLAND UND DEN USA UNIVERSITY CULTURES IN GERMANY AND THE UNITED STATES (BILDUNG UND ERZIEHUNG, BAND 65,2)

Ist die Universität vor allem Ort der Wissenschaft oder auch Ort der Bildung, Weiterbildung und sozialen Erfahrung? Bewegt sie sich vom Elfenbeinturm zum Marktplatz? Soll sie der nationalen Elitebildung dienen oder international den Trägern einer neuen weltbürgerlichen Verantwortung? Kann sie die Forderung hochdifferenzierter Leistungserbringung mit dem Ziel einer neuen kulturellen Integration verbinden? Die amerikanische und die deutsche Universität standen im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte in einem wandlungsreichen Verhältnis wechselseitiger Wahrnehmung und Beeinflussung zueinander. Die Beiträge dieses Heftes präsentieren Stimmen aus beiden Ländern und beleuchten, gleichsam in einem Gespräch über den Atlantik hinweg, Fragen von gemeinsamem Interesse. 2012. II, 121-249 S. BR. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-20884-4

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HANSPETER MARTI, KARIN MARTI-WEISSENBACH (HG.)

REFORMIERTE ORTHODOXIE UND AUFKLÄRUNG DIE ZÜRCHER HOHE SCHULE IM 17. UND 18. JAHRHUNDERT

Die „Carolinum“ genannte Zürcher Hohe Schule ist die Vorgängerinstitution der Universität Zürich. In der Zeit der Reformation als theologische Ausbildungsstätte gegründet, erfüllte sie diese Aufgabe hauptsächlich für angehende Pfarrer der Nord- und Ostschweiz. An ihr unterrichteten europaweit bekannte Gelehrte. Die Beiträge dieses Bandes befassen sich unter anderem mit den Theologen J. H. Hottinger und J. H. Heidegger, dem Cartesianer J. H. Schweizer sowie J. K. Lavater und seiner konfliktreichen Beziehung zum Zürcher Gelehrtenmilieu. Weitere Aufsätze widmen sich den ungarischen Studenten, den Kontakten zu reformierten Schulen Westfalens, der Bedeutung des Carolinums für Glarus sowie schulreformerischen Bestrebungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 2012. 452 S. 24 S/W-ABB. BR. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-20929-2

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