Dichotomisierung in der Theorie und Philosophie des Rechts [1 ed.] 9783428478040, 9783428078042

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Dichotomisierung in der Theorie und Philosophie des Rechts [1 ed.]
 9783428478040, 9783428078042

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JOSÉ LLOMPART Dichotomisierung in der Theorie und Philosophie des Rechts

Schriften zur Rechtstheorie Heft 158

Dichotomisierung in der Theorie und Philosophie des Rechts

Von José Llompart

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Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Llompart, José: Dichotomisierung in der Theorie und Philosophie des Rechts / von José Llompart. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 158) ISBN 3-428-07804-7 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-07804-7

Vorwort Jedes wissenschaftliche Werk muß einen existentiellen Dasseinsgrund haben.' Die vorliegende Untersuchung kann als eine weitere Bearbeitung des Referats betrachtet werden, das ich 1987 in Kobe bei dem 13. Weltkongreß für Rechtsund Sozialphilosophie gehalten habe. Die hier behandelte Problematik hat mich aber seit vielen Jahren beschäftigt und mir Sorge bereitet. In diesem Sinne ist dieses kleine Werk das Ergebnis einer jahrelangen Reflexion, die durch meine Forschungs- und Lehrtätigkeit in Japan angeregt worden ist und dessen Veröffentlichung in deutscher Sprache ich nicht nur für opportun, sondern auch für notwendig halte. Als Adressaten dieser Schrift habe ich nicht nur den Fachmann im Auge gehabt. Die Rechtstheorie und Rechtsphilosophie müßten an und für sich interessanter sein als ζ. B. Zivilrecht, Strafrecht, Wirtschaftsrecht und ähnliche Gebiete; denn die Hauptprobleme der Rechtsordnung und Rechtsbegründung gehen alle an und sollten alle nachdenklichen Menschen dazu bewegen, sich auch tatsächlich mit ihnen auseinanderzusetzen. Leider ist dies aber nicht der Fall. In Japan, in Europa und auch anderswo werden rechtsphilosophische Probleme ganz im Gegensatz zur Vergangenheit heute so fachlich behandelt, daß ihr Verständnis selbst demjenigen Juristen versperrt bleibt, der sich mit der Materie nicht speziell befaßt. Dadurch hat die Rechtsphilosophie ihre Anziehungskraft verloren. Deshalb habe ich mich bemüht, meine Gedanken so auszudrücken, daß sie allen rechtsphilosophisch interessierten Lesern verständlich sind, und so kann diese Schrift auch als eine Einführung in das rechtsphilosophische Denken betrachtet werden. Selbstverständlich habe ich auch an den Fachmann gedacht und an die Kritik, der jedes wissenschaftliche Werk ausgesetzt ist. Kritik fürchte ich nicht. Sie ist besser als Schweigen und gibt Anlaß zu weiterem Nachdenken; auch sollte man immer bereit sein, seine Meinung zu ändern, falls die Kritk zutrifft. Vielleicht wird mir entgegengehalten, daß die Grundthese dieses Werkes eine Selbstverständlichkeit sei. Diese Meinung teile ich. Ich meine aber auch, daß diese Selbstverständlichkeit nicht genügend wahrgenommen wird und daß aus ihr nicht die gebotenen Folgerungen gezogen werden. Darin sehe ich den Hauptgrund für die Verwirrung und Verzweifelung, die heute auf dem Felde der Rechtsphilosophie herrschen. Das ist dann auch der existentielle Daseinsgrund dieser Arbeit gewesen und was mich ermutigt hat, sie zu veröffentlichen und zur Debatte zu stellen.

Vorwort

6

Diese Arbeit enthält selbstverständlich keinen Vorschlag für eine neue Methode der Rechtsphilosophie und noch weniger einen Entwurf für eine Systematisierung der rechtsphilosophischen Probleme, wie ich schon längst auf japanisch und aus pädagogischen Gründen versucht habe.1 Mit dem Problem der Dichotomisierung wird nur ein Thema angesprochen, das mit allen Methoden und mit allen rechtsphilosophischen Problemen zu tun hat und das gerade deswegen wichtig ist und somit nicht einfach ignoriert werden kann. Mit dieser Untersuchung habe ich auch nicht versucht, zu entwirren, was in der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie an Verwirrung herrscht. Wenn das jemandem gelänge, so könnte auch die wissenschaftliche Diskussion um das Recht für tot erklärt werden. Im übrigen ist es mir nicht leicht gefallen, dieses kleine Werk zu vollenden, und zwar aus zwei Gründen: Wenn ich meine Gedanken auf japanisch ausdrücke, fühle ich mich mit dem Adressaten eng verbunden, weil ich schon lange in Japan forsche und lehre. Wenn ich dagegen in Japan eine Schrift in deutscher Sprache verfasse, bedeutet es eine große psychologische Umstellung, den Kontakt mit einem deutschen Leser zu suchen. Zum zweiten hat, je mehr meine Kentnisse des Japanischen zugenommen haben, mein Deutsch darunter gelitten. Um so dankbarer bin ich meinem langjährigen Freund, Herrn Professor Dr. Wolfgang Schöne, der mir in dieser Hinsicht und trotz der Entfernung geholfen hat. Mein Dank gilt auch ganz besonderes Herrn Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. Werner Krawietz, dessen Hilfe mit Tat und Rat die Publikation dieser Arbeit ermöglicht hat. Frau Andrea Freund habe ich auch zu verdanken, daß sie druckfertig werden konnte. Ein besonderer Dank gebührt schließlich Herrn Professor Norbert Simon und dem Verlag Duncker & Humblot für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe „Schriften zur Rechtstheorie". Tokyo, Mai 1993

Der Verfasser

1 Rechtsphilosophie. Die dualistische Struktur des Rechts (Mitverfasser: Fumio Kanazawa), Tokyo 1971; 2. Aufl. 1974. Ferner: Einführung in die Rechtsphilosophie, Tokyo 1975; 6. Aufl. 1984. Und: Allgemeine Rechtsphilosophie, Tokyo 1986; 3. Aufl. 1991.

Inhaltsverzeichnis Erster Abschnitt

Fortschreitende Dichotomisierung in den rechtlichen Institutionen § 1 Dichotomisierung unter den Bedingungen der Geschichte sowie der Geschichtlichkeit allen Rechts und seiner Prinzipien

11

§ 2 Dichotomische Entwicklung der rechtlichen Institutionen

17

§ 3 Dichotomisierung in Politik, Staat und Familie

20

Zweiter Abschnitt

Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft § 4 Ausdifferenzierung und Abspaltung von Teilgebieten in der Philosophie

23

§ 5 Eigenständigkeit der Rechtsphilosophie

24

§ 6 Rechtsphilosophie als Rechts Wertbetrachtung

31

§ 7 Natur- oder Geisteswissenschaft: ein Problem der Akzentsetzung?

34

§ 8 Rechtsdogmatik und Rechtssoziologie nach Pachmann: Geburtswehen einer neuen Wissenschaft

39

§ 9 Zweck und Funktion, Finalismus und Funktionalismus, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie — Versuch einer Differenzierung

42

§10 Naturrechtslehre — Rechtspositivismus: eine überwundene Dichotomie?

49

1. Suche nach etwas Neuem: der „dritte Weg"

49

2. Wo ist der „dritte Weg" zu finden?

51

3. Theoretische Unmöglichkeit eines „dritten Weges"

54

§ 11 Methode und ihre Dichotomisierung: Methodendualismus

56

§12 Sehnsucht nach der wissenschaftlichen Reinheit und ihre dichotomisierende Funktion

57

§13 Subjektives und objektives Strafrecht: eine vergessene Dichotomie?

61

1. Unterscheidung von subjektivem und objektivem Strafrecht und ihre geschichtliche Enstehung

49

2. Probleme der Beziehung zwischen subjektivem und objektivem Strafrecht

51

8

Inhaltsverzeichnis

§ 14 Funktion der Dichotomisierung im modernen Systemdenken

66

§15 Rechtstheorie und Rechtsphilosophie: eine mißlungene Dichotomie?

71

Dritter Abschnitt

Dichotomisierung des Untersuchungsgegenstandes § 16 Setzt jeder Gegenstand der Forschung eine Dichotomisierung voraus?

77

§17 Positives Recht (nomo dikaion) und Naturrecht (physei dikaion)

78

§18 Recht und Sittlichkeit: eine uralte Unterscheidung im fernen Osten

84

§19 Recht und Gesetz: eine uralte Dichotomie im Westen

85

§ 20 Mensch und Person

89

§21 Recht und Sittlichkeit in der abendländischen Rechtskultur

93

§ 22 Naturzustand — geschichtliche Tatsache, theoretisches Hilfsmittel oder undurchdachte Denkkonstruktion?

100

1. Zur Geschichte des Naturzustandsbegriffs

100

2. Naturzustand als theoretisches Hilfsmittel

102

3. Naturzustand als eine nicht durchdachte Denkkonstruktion 105 § 23 Is and ought, Sein und Sollen — eine Dichotomie von weitreichender Bedeutung 106 § 24 Kein Sollen aus dem Sein versus Normativität des Faktischen

109

§25 Naturalistischer Fehlschluß — ein Zirkelschluß in der Naturrechtslehre?

112

1. Von Moore bis zur heutigen nonkognitiven Ethik

112

2. Setzt die dem Naturrecht zugrundeliegende Dichotomie („Recht" aus „Natur") notwendigerweise einen Zirkelschluß voraus?

115

§ 26 Ist und Soll bei Julius von Kirchmann

Vierter

116

Abschnitt

Dichotomisierung im rechtlichen Gemeinschaftsleben und im lebenden Recht § 27 Unterscheidung von öffentlich und privat im Westen

120

§ 28 Unterscheidung von öffentlich (ôyake) und privat (watakushi) in der japanischen Tradition 122 § 29 Staat und Gesellschaft

128

§ 30 Gemeinschaft und Gesellschaft

134

Inhaltsverzeichnis

§31 Staat und Kirche im Westen — Staat und Religion in Japan

140

1. Staat und Kirche in Europa

140

2. Andere Länder, andere Sitten oder andere Probleme?

142

3. Konkrete Probleme der Trennung von Staat und Religion

144

4. Inhaltliche Bestimmung des Religionsbegriffs

147

5. Ergebnis: Trennung von Recht und Tradition statt Trennung von Staat und Religion

149

§ 32 Rechtsfreier Raum: nur ein Problem des Denkansatzes?

149

1. Sprachgebrach und convensio ad phantasma bei der Formulierung des Problems

149

2. Aporien des rechtlichen Raums

152

3. Theoretische und praktische Bedeutung dieser Problematik und Suche nach dem richtigen Denkansatz

156

§ 33 Form und Materie, Formalismus und Materialismus

159

1. Unentbehrlichkeit der Form im philosophischen Denken

159

2. Formalismus als rechtsphilosophisches Problem

162

§ 34 Können Schuld und Verantwortlichkeit dichotomisiert werden?

165

§ 35 Determinismus und Indeterminismus in der Strafrechtswissenschaft — Dilemma oder undurchdachte Dichotomie?

171

§ 36 Inwieweit kann die Rechtsgeltung dichotomisiert werden?

179

1. Was ist Rechtsgeltung?

179

2. Einfluß der Dichotomie Sein — Sollen auf die moderne Geltungslehre ....

182

3. Letzter Grund der Geltung

184

4. Rückblick

186

Fünfter Abschnitt

Erkenntnistheoretische Dichotomisierung § 37 Erkenntnis und Dichotomie

189

§38 Verstand und Vernunft: Dichotomisierung des Erkenntnisvermögens

190

§ 39 Rechtsbegriff und Rechtsidee — Verstrickungen des begrifflichen Denkens 193 1. Einleitende Bemerkungen

193

2. Beginn der begrifflichen Verstrickung: Rechtsbegriff und Rechtsidee bei Kant 196 3. Weitere Entwicklung der begrifflichen Kunst: Stammler, Binder, Radbruch

199

10

Inhaltsverzeichnis

§ 40 Leistungsfähigkeit der Dichotomisierung am Beispiel der Menschenwürde 1. Was ist mit Menschenwürde gemeint? 2. Trotz Hypostasierung ist Menschenwürde weder ein „Ding" noch eine „Sache" 3. Menschenwürde oder Würdenorm? 4. Welchen Inhalt hat die Würdenorm?

203 203 205 205 208

§41 Von der Objektivation zur Personifikation und zurück: die Umgehung des erkenntnistheoretischen Problems 210 Sechster Abschnitt

Stärken und Schwächen der Dichotomisierung § 42 Dichotomisierung und dichotomische Rechtsphilosophie

215

§ 43 Stärken und Schwächen der rechtspositivistischen und der naturrechtlichen Position 218 § 44 Dichotomisierungstendenzen im europäischen und östlichen Denken 223 1. Widerspruch zweier Kulturen oder Denkweisen? 223 2. Im Ergebnis doch kein Widerspruch zwischen beiden Kulturen? 226 3. Auswirkungen der im Osten seit jeher gebräuchlichen Trennung von Recht und Sittlichkeit 228 Siebenter Abschnitt

Rechtssystem und Systemdenken: Systematisierung als Begleiterin der Dichotomisierung § 45 Dichotomisierung und Systematisierung

232

§ 46 Systema und dessen erkenntnistheoretische Voraussetzungen

234

§ 47 Traditionelles System und modernes Systemdenken

238

§ 48 Stärken und Schwächen von Systematisierung und Systemdenken

243

Achter Abschnitt

Entscheidender Faktor im rechtsphilosophischen Denken § 49 Vier Elemente der Erforschung des Rechts 1. Theorie und Lehre 2. Rechtswirklichkeit 3. Geschichte 4. Sprache

245 245 245 246 246

§ 50 Entscheidender Faktor in der rechtsphilosophischen Diskussion

247

Sach- und Personenregister

250

Erster

Abschnitt

Fortschreitende Dichotomisierung in den rechtlichen Institutionen Historia vero testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae Cicero



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§ 1 Dichotomisierung unter den Bedingungen der Geschichte sowie der Geschichtlichkeit allen Rechts und seiner Prinzipien Ein Arzt braucht nicht die Geschichte der Medizin zu kennen, um als guter Arzt seine Patienten zu heilen und ihnen zu helfen. Auch der Astronom braucht nicht die ganze Geschichte der Astronomie zu untersuchen, um eine neue Entdekkung zu machen. Das kann aber nicht von einem Juristen und noch weniger von einem guten Rechtsphilosophen gesagt werden. Sicher haben auch die Naturwissenschaften als gelungene oder mißlungene Forschungsversuche ihre eigene Geschichte; sie ist aber nicht die Geschichte ihres Gegenstandes, d. h. die Geschichte dessen, was sie zu erklären versuchen. Der Gegenstand der Naturwissenschaften mag auch — mehr als der Mensch — zeit- und ortsbedingt sein; er ist aber nicht — wie der Mensch — Träger der Geschichte, sondern einfach geschichtslos. Nur der Mensch und alles, was direkt mit ihm in Beziehung steht, ist mit Geschichtlichkeit behaftet. Dazu gehört in erster Linie das Recht. Das Recht kann als eine positive Ordnung verstanden werden, die nur ein Menschenwerk ist, sowie als eine Ordnung, deren Grundprinzipien aus der Natur des Menschen heraus begründet sind und von ihr bestimmt werden. Nach beiden Auffassungen von Recht hat dies aber unmittelbar mit dem Menschen zu tun. Aus diesem Grund sind alle Grundbegriffe der Rechtsphilosophie und die genannten juristischen Prinzipien ohne Berücksichtigung ihrer Geschichte und ihrer Geschichtlichkeit1 nicht zu verstehen. Im folgenden wird daher besonderer 1 Geschichte und Geschichtlichkeit des Rechts dürfen nicht verwechselt werden — ebenso wenig, wie die Anerkennung der Geschichtlichkeit des Rechts und der Rechtsprinzipien eine Anerkennung des Historizismus und Relativismus bedeutet. Vgl. dazu: José

12

. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung

Wert darauf gelegt, die genannte Tatsache nicht zu vergessen. Dabei muß man sich dessen bewußt sein, daß eine geschichtliche Rechtsbetrachtung besondere Schwierigkeiten aufweist. Der Ausgangspunkt einer geschichtlichen Betrachtung der Rechtsbegriffe, der Rechtsprinzipien und ihrer Bewertung kann nur unsere Gegenwart sein, weil wir in der Gegenwart leben und denken und die Gegenwart uns besser bekannt ist als die Vergangenheit. Es ist zu hoffen, daß der Leser keinen Anstoß daran nehmen wird, daß hier auch von Bewertung die Rede ist. Wie der erfahrene Historiker Edwart Hallett Carr gezeigt hat 2 , ist selbst eine reine Geschichtsschreibung ohne Wertung nicht möglich. Die Geschichtsschreibung setzt nämlich immer eine Auswahl der Ereignisse und Tatsachen voraus, die durch die Wertung ihrer Wichtigkeit entschieden wird — nicht anders als die Suche nach bestimmten Kausalzusammenhängen, die immer von einer vorausgehenden Wertung geleitet wird. Das gilt eodem modo auch für die geschichtliche Rechtsbetrachtung, die von Menschen unternommen wird. W i l l man also die Ideengeschichte untersuchen und wissen, was in einem bestimmten Zeitalter charakteristisch gewesen ist und wie das Recht und sein Verständnis sich geändert haben, so muß man zunächst klare Begriffe über den Gegenstand seiner Forschung haben. Die Begriffsbildung muß, wie erwähnt, nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung geschehen, wenn die Forschung für uns einen Sinn haben soll. Erst wenn mit klaren Begriffen gearbeitet wird, ist es möglich festzustellen, daß in anderen Zeiten oder in anderen Ländern die Sache gleich, nicht gleich oder ganz anders gewesen oder verstanden worden ist. Auch die Sprache gehört zu dem, was uns mit der Vergangenheit in Verbindung setzt. Ohne Sprache könnten wir nicht einmal denken. Aber Sprache wird nicht nur mit den Ohren oder Augen bzw. dem Gehirn wahrgenommen. Sie setzt immer auch einen Sinn oder eine Bedeutung voraus, der nicht mit den ausgesprochenen oder geschriebenen Worten identisch ist. Außerdem bedarf es einer mitwirkenden psychischen Tätigkeit, die nicht etwa mit laut oder leise sprechen zu verwechseln ist. Trotzdem ist eine Ausdrucksweise notwendig, um unsere Gedanken und Begriffe durch die Sprache zu übermitteln. Im Normalfall sind die Wörter — und in der Wissenschaft ist es die technische Terminologie — , die Mittel unserer Verständigung; sie sind damit zugleich für die geschichtliche Forschung unentbehrlich. Nun darf nicht vergessen werden, daß ein und dasselbe Wort (oder ein terminus technicus) keineswegs immer dieselbe Bedeutung oder Konnotation gehabt hat wie in unserer Zeit. Daher muß man sich vor Augen halten, daß auch eine

Llompart, Die Geschichtlichkeit in der Begründung des Rechts im Deutschland der Gegenwart, Frankfurt am Main — Berlin 1968; ders., Die Geschichtlichkeit der Rechtsprinzipien, Frankfurt am Main 1976. 2 Eingehend hierzu: Edward Hallet Carr, What ist History? London 1961.

§ 1 Dichotomisierung unter den Bedingungen der Geschichte

13

einwandfreie Übersetzung Anlaß zu einem groben Mißverständnis bieten kann. Man lese ζ. B. heute die folgenden schönen Worte Ciceros: „Die Magistrate sind Diener der Gesetze, die Richter ihre Ausleger, letztlich aber sind wir alle Knechte der Gesetze, damit wir alle frei sein können."3 Hier könnte man meinen, daß mit diesen Worten nicht nur der moderne Rechtsstaat oder Rule of Law, sondern auch die Gleichheit

aller Menschen ( „ w i r

alle") proklamiert wird. Ob Cicero mit dem Ausdruck „wir alle" auch an die zahlreichen Sklaven jener Zeit gedacht hat, die nicht Träger von Bürgerrechten waren, erscheint fraglich, und so müssen diese schönen Worte mit Vorsicht verstanden werden. Es kann weiterhin auch sein, daß es ein uns geläufiges Wort (oder einen terminus technicus) in alten Zeiten überhaupt nicht gab, obwohl sein Inhalt schon vorhanden war und im Rechtsbewußtsein wirkte. Hier wird die Untersuchung der Ideenge schichte schwieriger, weil der Worigebrauch und die Begriffsgeschichte uns im Stich läßt. Es besteht aber kein Zweifel daran, daß die Wortund Begriffsgeschichte mit der Ideengeschichte nicht identisch ist. So wird zum Beispiel behauptet, und zwar mit Recht, daß der Gedanke der Gewaltenteilung schon in der Lehre von Althusius anzutreffen ist. 4 Dagegen ist nach meiner Auffassung der Gedanke der Volkssouveränität bereits bei den Römern zu finden und nicht erst bei Althusius, wie oft behauptet wird. Die Geschichte der noch namenlosen Begriffe und der mit ihnen verbundenen Rechtsprinzipien ist, wie mir scheint, noch nicht hinreichend untersucht worden. Eine solche Untersuchung könnte uns viele Überraschungen bringen. Eins aber bleibt sicher: Oft wird im Laufe der Geschichte die Notwendigkeit empfunden, einen neuen terminus technicus zu prägen, weil die in dieser Zeit gebrauchten Worte nicht mehr passen. Das bedeutet, daß der Inhaltsbegriff schon ins Bewußtsein getreten ist, lange bevor der entsprechende Ausdruck vorhanden war. Das gilt auch für die Geschichte der Grundbegriffe der Rechtsphilosophie. Eine letzte Bemerkung über die geschichtliche Betrachtung des Rechts sollte ebenfalls zur Vorsicht mahnen. Wir können die geschichtliche Entwicklung des Rechts und des Rechtsdenkens nur anhand derjenigen Materialien untersuchen, die uns zugänglich sind. Leider sind viele und nicht unwichtige Materialien verloren gegangen, und was uns zur Verfügung steht, ist oft auch eine Sache des Zufalls, wie die Entdeckung bisher unbekannter Materialien und auch Neudrucke von bisher nicht zugänglichen Materialien zeigen. Der Zufall sollte eigentlich in der Wissenschaft keine Rolle spielen; aber die genannte Tatsache kann unsere Forschung nicht nur unvollständig machen, sondern auch unausgewogen 3

Cicero, Pro A. Cluentio, 53, 146 („Legum ministri magistratus, legum interprétés iudices, legum denique idcirco omnes servi sumus, ut liberi esse possimus"). 4 Vgl. Norbert Achterberg, Gewaltenteilung bei Althusius, in: RECHTSTHEORIE Beiheft 7 (1988), S. 497-512.

14

. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung

und sogar einseitig. Außerdem hat nicht jeder Forscher Kenntnis von allen oder Zugriff auf alle derartigen Materialien, die unvollständig erhalten sind. In Japan ist zum Beispiel der aus der Zeit der Aufklärung stammende Gedanke der Volkssouveränität allen Gelehrten bekannt, nicht aber dessen frühere Entwicklung in der spanischen Spätscholastik. In Spanien wiederum mag diese Lehre sehr bekannt sein; dagegen ist dort wie auch in anderen europäischen Ländern die Rechtsentwicklung des Ostens auch heute noch ziemlich unbekannt. Der Rahmen unserer Kenntnisse wird immer durch unsere Unkenntnis bestimmt, und so ist auch unser Wissen immer ergänzungs- und korrekturbedürftig. Wie schon angedeutet, sollten Aussagen anderer Zeiten über das Recht so verstanden werden wie damals auch. Dazu ist die Berücksichtigung des damaligen Sozialmilieus unabdingbar. Schließlich geben auch die Aussagen eines Gelehrten oder eines Theoretikers keine hinreichenden Informationen über das damals geltende Recht und seine Entwicklung. Mit anderen Worten: Die Rechtswirklichkeit bewegt sich — damals wie heute — nicht nach den schönen Theorien der Gelehrten. In diesem Sinne ist die Geschichte der Rechtsideen und Rechtstheorien mit der Geschichte des Rechts und der Rechtsinstitute nicht identisch. Folglich ist auch eine soziologische Untersuchung notwendig, um das ganze Recht und seine Entwicklung zu erfassen. Bei der vorliegenden Untersuchung habe ich die angedeuteten Schwierigkeiten einer geschichtlichen und soziologischen Betrachtung des Rechts und des Rechtsdenkens nicht nur nicht überwinden können, sondern sogar so stark empfunden wie nie zuvor. Der einzige Trost ist nur, daß es aus den angegebenen Gründen niemandem gelingen wird, die Entwicklung des Rechts und der Rechtsideen genau so zu erfassen, wie sie objektiv verlaufen ist. Aber alle Wissenschaft ist eben nur ein Streben, das durch unsere Unwissenheit angeregt wird und immer besserem Wissen gilt. Auf der Suche nach besserem Wissen um das Recht scheint es mir zweckmäßig zu sein, das Problem einer Dichotomisierung des Rechtsdenkens bzw. einer dichotomischen Rechtsphilosophie zur Debatte zu stellen; denn gerade die geschichtliche Entwicklung des Rechtsdenkens ist nur durch eine immer weiter fortschreitende Dichotomisierung möglich gewesen. Was hier mit dem Ausdruck „dichotomische Rechtsphilosophie" gemeint ist, wird dem Leser im jeweiligen Zusammenhang leicht ersichtlich sein und braucht jedenfalls nicht im voraus definiert zu werden. Auch geht es nicht um eine neue Rechtsauffassung, sondern um die Rechtsphilosophie überhaupt. Dabei ist es das Hauptanliegen dieser Untersuchung, auf Stärken und Schwächen dieser Materie hinzuweisen. Die Untersuchung berücksichtigt gelegentlich auch Elemente der ostasiatischen, insbesondere der japanischen Rechtskultur. Ein Anlaß dafür ist die Tatsache, daß ich schon lange Zeit in Japan lebe — länger als in meiner Heimat Spanien — und vor allem in Japan wissenschaftlich tätig bin. Das allein wäre jedoch noch kein hinreichender Grund.

§ 1 Dichotomisierung unter den Bedingungen der Geschichte

15

Hauptgrund dafür ist vielmehr mein Anliegen zu zeigen, daß der Prozeß einer Dichotomisierung auch in anderen Rechtskulturen eine unentbehrliche und wichtige Rolle spielt. Die Erforschung anderer, uns fremder Rechtskulturen ist nämlich eine zwar mühsame, aber doch zugleich lohnende Arbeit, weil man oft mit Überraschung entdecken kann, daß viele Elemente, die bisher als Monopol einer bestimmten Rechtskultur galten, sich in anderem Gewand auch in anderen Rechtkulturen finden. Nur das für uns fremde Gewand läßt diese Inhalte uns und selbst den einheimischen Kulturträgern nicht sofort erkennbar werden. Das ist aber noch nicht alles: Da die Rechtstheorie oder Rechtsphilosophie als solche wie eh und je nicht an eine bestimmte positive Rechtsordnung gebunden ist, hat man oft geglaubt, daß sie — auch wenn in einem bestimmten Lande geboren — den Reisepaß der Universalität für alle Rechtskulturen hat. So hat zum Beispiel Kelsen gemeint, daß die Reine Rechtslehre die Lehre des positiven Rechts überhaupt sei. Der Anspruch auf Universalität ist aber nicht nur hier, sondern in allen abendländischen Rechtsphilosophien leicht zu entdecken. Mag die sogenannte Begriffsjurisprudenz auch nur eine heute kritisierte Art abendländischer Rechtsphilosophie sein, so ist unsere Rechtsphilosophie doch immer stark intellektuell gewesen. Das bedeutet, daß alles in gegenständlicher Hinsicht Gemeinte stets durch Begriffe fixiert worden ist. Diese Fixierung bedeutet zweierlei. Zunächst wird der Inhalt eines Begriffs klar bestimmt: Unter Begriff A verstehen wir das und das und nur das und das. Und zugleich werden solche Begriffe als allgemeine Begriffe verstanden; denn sonst wären sie für die Wissenschaft unbrauchbar. Damit aber haben wir ipso facto unserer Rechtsphilosophie den Reisepaß der Universalität erteilt und brauchen uns nicht mehr um andere Rechtskulturen zu kümmern. Ich bin der Meinung, daß alle Menschen wesentlich gleich sind und daß es folglich möglich ist, einige Thesen aufzustellen, die allgemeingültig sind. Daß aber eine bestimmte Rechtsphilosophie in gleicher Weise Allgemeingültigkeit und Universalität beanspruchen kann, ist eine andere Sache. Soll die Rechtsphilosophie eine Philosophie des lebenden Rechts sein und nicht bloß eine Theorie oder Philosophie bestimmter Rechtsbegriffe, und soll die Geschichtlichkeit des Rechts ernst genommen werden, so kann eine Rechtsphilosophie, die das lebende Recht aller Völker dieser Welt und seine Geschichte nicht kennt, nicht universal sein. In diesem Sinne und beim heutigen Stand der Forschung kann keine Rechtsphilosophie als eine Philosophie des lebenden Rechts den Anspruch erheben, universal zu sein. Sie kann sich aber mit der Berücksichtigung fremder Rechtskulturen immer mehr anreichern und unter Umständen sogar ihre begrifflichen Kategorien revidieren. Deswegen lohnt es sich, auch andere Rechtskulturen zu erforschen 5 — selbst wenn das kein leichtes Unternehmen ist. 5 Rechtstheorie oder Rechtsphilosophie ist ein Teil der Rechtskultur, darf aber nicht mit der ganzen Rechtkultur verwechselt werden. Als geschichtliche Tatsache ist nicht

16

. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung

In dieser Untersuchung werden nicht alle möglichen Dichotomien, sondern nur einige der wichtigsten berücksichtigt. 6 Ihre Abfolge ist nur eine methodische Gliederung, die uns bei der Erreichung des Zwecks dieser Untersuchung helfen soll. Im ersten Abschnitt wird kurz auf eine geschichtliche Wirklichkeit aufmerksam gemacht: Alle rechtlichen Institutionen haben sich im Laufe der Geschichte und der gesellschaftlichen Entwicklung unter immer weiter fortschreitender Dichotomisierung entwickelt. Der zweite Abschnitt befaßt sich dagegen mit der fortschreitenden Dichotomisierung der Wissenschaft oder der einzelnen Fachgebiete, die im Laufe der Zeit immer mehr und mehr gewachsen sind. Selbstverständlich werden wir uns nur mit jenen Wissenschaften beschäftigen, die mit dem Recht zu tun haben. Im dritten und vierten Abschnitt gehen wir einen Schritt weiter, um davon Kenntnis zu nehmen, daß auch bei den einzelnen Disziplinen eine immer weiter fortschreitende Dichotomisierung der Untersuchungsgegenstände zu verzeichnen ist. Diese Art Dichotomisierung ist oft so einflußreich gewesen, daß sie zugleich Grund oder Anlaß für die Entstehung der im zweiten Abschnitt behandelten einzelnen Fachgebiete der Rechtsphilosophie geworden ist. Im fünften Abschnitt wird das Phänomen der Dichotomisierung vom erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt aus betrachtet. Unser Wissen um das Recht ist heute so gewachsen, daß es als solches für das erkennende Subjekt auch ein Objekt der Erkenntnis geworden ist. Hier geht es oft nicht mehr darum, was das Recht in sich ist, sondern vielmehr darum, welche Rechtstheorie die leistungsfähigste ist. Im sechsten Abschnitt werden wir die Unentbehrlichkeit einer Dichotomisierung für den Fortschritt der rechtsphilosophischen Forschung untersuchen und zugleich auf die Gefahren hinweisen, die eine radikale Dichotomisierung zu leugnen, daß die Rechtsphilosophie samt ihrer Fachterminologie und Begriffsbildungen westeuropäischen Ursprungs ist und als solche westeuropäische Züge trägt. Nur ein Teil der Rechtskultur dieser Welt ist aber westeuropäisch, und wenn auch viele Länder ein von Europa rezipiertes Rechtssystem haben sollten, so ist doch zum Beispiel das in Japan lebendige Recht nicht so europäisch, wie der Wortlaut der japanischen Rechtsnormen und die gesamte Rechtsdogmatik oder Rechtsphilosophie der japanischen Rechtsgelehrten es sind. Hier gilt auch das alte Prinzip: quidquid recipitur, ad modum recipientis recipitur. 6 Es darf nicht übersehen werden, daß neben der Zweiteilung, die aller Dichotomie und allem Dualismus eigen ist, auch eine Dreiteilung oder Trichotomie möglich ist. Nicht nur in der christlichen Theologie haben Dreiteilungen eine besondere Bedeutung (ζ. B. bei der Trinitätslehre). Auch im Bereich der Rechtsphilosophie wird eine in allen iberoamerikanischen Ländern sowie in Spanien und Portugal sehr bekannte „Teoria Tridimensional do Direito" (Miguel Reale) oder „teoria trialista del mundo juridico" (Goldschmidt) vertreten, die gerade das komplexe Phänomen des Rechts durch eine Trichotomie zu erhellen versucht: Norm und ihre Geltung; Fakten oder Wirklichkeit und ihre Effektivität; Wert als sozialkulturelle Begründung der juristischen Legitimation unter Berücksichtigung der Gerechtigkeit (vgl. dazu: Miguel Reale, Teoria Tridimensional do Direito, Sao Paulo 1968; Werner Goldschmidt, Introducción filosófica al Derecho. La teoria trialista del mundo juridico y sus horizontes, 4. Aufl., Buenos Aires 1973). Auch wenn in dieser Untersuchung nur die Dichotomie in Angriff genommen wird, sollte nicht vergessen werden, daß eine Trichotomie auch eine „Teilung" oder „Unterscheidung" von verschiedenen Elementen enthält; in diesem Sinne ist ihre Problematik gleich.

§ 2 Dichotomische Entwicklung der rechtlichen Institutionen

17

immer mit sich bringt. Der siebente Abschnitt befaßt sich mit einem weiteren Phänomen, das nicht übersehen werden darf. Die Systematisierung ist so alt wie die Dichotomisierung und immer ihre ständige Begleiterin gewesen. Sie versucht, die einzelnen Elemente der Dichotomisierung wieder in eine Einheit zu bringen, aber eben oft auf ganz verschiedene Weise. Im achten und letzten Abschnitt wird auf einen Faktor hingewiesen, der zwar oft übersehen wird, aber in der rechtsphilosophischen Diskussion die entscheidende Rolle spielt. Was in der Diskussion wirkt, ist nicht so sehr die Konfrontation verschiedener, von ihren Autoren hypostatisierter Rechtstheorien, die alle „objektiv" zu sein beanspruchen, sondern — und das nicht erst seit heute — die Konfrontation verschiedener Rechtstheoretiker, die oft nur unter dem Namen der Objektivität einseitig für Teilwahrheiten plädieren. Es ist dann nicht die Wissenschaft oder die Theorie, sondern vielmehr der Denkansatz des jeweiligen Theoretikers, der wirkt und letztendlich alles entscheidet.

§ 2 Dichotomische Entwicklung der rechtlichen Institutionen Wenn im folgenden von rechtlichen Institutionen die Rede ist, so sind diese nicht im rechtstechnischen Sinne gemeint. Auch geht es uns nicht darum, wie einzelne Institutionen rechtlich zu verstehen sind. Es gibt hierzu eine Fülle von einschlägigem Schrifttum, auf das wir hier nicht einzugehen brauchen. Mit dem Ausdruck Institutionen

(aus dem Lateinischen „ instituere

d. h. „einrichten ")

sind hier diejenigen rechtlichen Gebilde oder Einrichtungen gemeint, die, wie beispielsweise Ehe, Familie oder Eigentum, in jeder mehr oder weniger organisierten Gesellschaft zu finden sind. Die sozialen Institutionen sind nicht, wie Pflanzen und Tiere, ein Naturerzeugnis, sondern werden von den Menschen geschaffen und sind ohne den Menschen nicht zu denken; sie sind aber zugleich von den einzelnen Menschen zu unterscheiden und haben sozusagen ihr eigenes Leben und ihre eigenen Entwicklungsgesetze. Daß es so etwas gibt, ist eine feststehende geschichtliche und soziale Tatsache, mit der sich die Geschichtswissenschaft, die Soziologie und eine Reihe sozialer Handlungswissenschaften unter Einschluß der Rechtswissenschaft zu befassen haben. Vom Standpunkt des Evolutionismus aus gesehen, haben Pflanzen und Tiere sich in den letzten viertausend Jahren kaum fortentwickelt. Die gesellschaftlichen und rechtlichen Institutionen habe sich dagegen in einem solchem Grade verändert, daß — um nur ein Beispiel zu nennen — unsere moderne Staatsauffassung gewiß nicht mehr jener der griechischen „polis" oder der mittelalterlichen „civitas u entspricht. Man braucht nur die verschiedenen Etymologien der je nach Zeit und Ort gebrauchten Bezeichnungen zu berücksichtigen, um zu verstehen, daß das, was wir heute „Staat" nennen, nicht immer denselben Inhalt gehabt hat und dementsprechend nicht immer gleich verstanden worden ist. Man kann, wenn man will, die Staatsauffassung bei den Griechen, Römern usw. untersuchen, 2 Llompart

18

. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung

aber die Termini polis, res publica,

civitas, commonwealth

und der japanische

Ausdruck kokka (Landesfamilie) haben, auch etymologisch gesehen, nicht denselben Inhalt wie der moderne Staatabegriff. Aber auch wenn die Bezeichnung gleich bleibt, sind alle rechtlichen Institutionen doch einer ständigen Veränderung unterworfen. Diese Veränderung ist nicht allein daraus zu erklären, daß neue Rechtsinstitute entstanden oder alte Rechtsinstitute abgeschafft worden sind; vielmehr geht es einfach um eine Trennung dessen, was früher verbunden und als solches wirksam war. Hier sollen im folgenden nur einige Beispiele angeführt werden. In alten Zeiten konnte der Herrscher zugleich Gesetze erlassen, herrschen, die Rechtsprechung ausüben und sogar der oberste Priester des Volkes sein.7 Heute ist die Gewaltente//w«g eine Selbstverständlichkeit. 8 Aber auch in den verschiedenen Bereichen der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung ist wieder eine Kompetenzzuteilung oder eine Organisationsaufteilung notwendig geworden. So wird heute die gesetzgebende Gewalt von verschiedenen Organen ausgeübt, die je nach Ländern ihre entsprechenden und verschiedenen Namen erhalten haben (Bundestag und Bundesrat in der Bundesrepublik Deutschland, wo die Landesgesetzgebung ihre eigene Zuständigkeit und Organisation hat; Senate und House of Representatives in den USA, House of Lords und House of Commons in England, Oberhaus und Unterhaus in Japan usw.). Die richterliche Gewalt hat die Unabhängigkeit erlangt; zugleich ist auch eine Einteilung in verschiedene Instanzen (erste, zweite und letzte Instanz) und Sachgebiete (Zivil-, Straf-, Verwaltungsgerichtsbarkeit usw.) notwendig geworden. 9 Auch die Staatsverwaltung 7 Der Sakralcharakter des Herrschers oder Leiters des Volkes ist nicht nur im Alten Testament oder im alten Rom zu beobachten, sondern auch im germanischen Staat der Frühzeit (Vgl. Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Band 1,2. Aufl., Karlsruhe 1962, S. 17). Noch in unserem Jahrhundert ist in Japan der Tenno nicht nur als oberster Priester, sondern auch als eine Inkarnation Gottes (Akitsumikami) betrachtet worden. Erst nach dem Verlust des Zweiten Weltkriegs hat Kaiser Hirohito in einer am 1. Januar 1946 über den Rundfunk gehaltenen Rede letztere Eigenschaft geleugnet. 8 Bekanntlich soll Montesquieu der erste Theoretiker der Gewaltenteilung gewesen sein; seine Theorie beruht jedoch, wie er selber sagt, auf einer ewigen Erfahrung, die uns gelehrt hat, daß jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu mißbrauchen. Der Sieg gegen den Gewaltmißbrauch sei nur durch die Gewaltenteilung möglich, auf daß „die Macht die Macht bremse" (Vom Geiste der Gesetze, XI. Buch, 4. Kap.). 9 Die Einrichtung eines Verfassungsgerichts ist ein Beispiel, das nicht für alle Länder gilt. In Japan etwa werden alle Streitigkeiten, auch verfassungsrechtlicher Art, von dem Obersten Gerichtshof (saiko-saibansho) endgültig erledigt; es ist aber bekannt, daß der OGH oft eine Entscheidung getroffen hat, ohne zur — an sich einschlägigen — Frage der Verfassungsmäßigkeit Stellung genommen zu haben (so ζ. B. bezüglich der Selbstverteidigungskräfte oder des japanisch-amerikanischen SicherheitsVertrags). Die Entscheidungen, die mit der Verfassung in Beziehung stehen, sind verständlicherweise im Laufe der Zeit weniger geworden; ihre gesamte Zahl ist jedoch weitaus niedriger als ζ. B. diejenige der Entscheide des Verfassungsgerichts der Bundesrepublik Deutschland. Nach einer Untersuchung des Verfassers sind in den bis 1990 veröffentlichten Entscheidungen des japanischen OGH nur 794 zu finden, die mit verfassungsrechtlichen Fragestellungen zu tun haben. In Deutschland dagegen sind in 79 Bänden der Rechtsprechung des

§ 2 Dichotomische Entwicklung der rechtlichen Institutionen

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wird durch verschiedene Minister und ihre entsprechenden Ministerien wahrgenommen, deren Zahl im Laufe der Zeit stark zugenommen hat. Selbstverständlich ist das von Menschen gesetzte Recht denselben Weg der Dichotomisierung gegangen. Seit in der Welt der Theorie schon sehr früh und mehr oder weniger erfolgreich das nomo dikaion von dem physei dikaion unterschieden worden ist, hat in der Welt der Wirklichkeit das von Menschen gesetzte Recht sich immer weiter und mit Erfolg differenziert. Schon die Römer wußten, daß nicht alles nach dem ius civile behandelt werden kann, und so ist schon in jener Zeit das ius gentium entstanden. Dann entstand neben dem ius civile und dem ius gentium auch das ius canonicum. In der modernen Zeit ist das sogenannte bürgerliche Recht — neben dem Verfassungsrecht, dem Strafrecht usw. — zu einem bloßen Teil des alten ius civile geworden. Mit der Eroberung neuer Kontinente wurde ein Meeresrecht notwendig, und heute ist mit der Eroberung des Weltraums auch eine entsprechende Rechtsordnung fällig geworden. Auf dem Erdball haben wir zwar nichts mehr zu entdecken; aber diesen Erdball zu erhalten, ist eine Frage des Überlebens geworden, und so brauchen wir heute ein internationales Umweltschutzrecht. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat das sog. Europarecht sich einen eigenen Platz erobert, der in der herkömmlichen innerstaatlichen und internationalen Rechtsordnung nicht vorgesehen war. Jean Bodin hatte das Dogma der Unteilbarkeit der Souveränität proklamiert und untermauert, aber die Wirklichkeit der europäischen Gemeinschaft unserer Zeit hat auch die staatliche Souveränität einfach dichotomisiert. 10

Bundesverfassungsgerichts nicht weniger als 2.284 Entscheidungen zu finden, und bis zum 31.12.1988 wurden nicht weniger als 72.341 Verfahren erledigt (nach Robert Alexy, Die immanente Moral des Grundgesetzes. Bericht über ein Forschungsprojekt, in: Rechtsethik und Rechtspraxis, hrsg. von F . Bydlinsky und T. Mayer-Maly, Innsbruck — Wien 1990, S. 102, 117). Über die nicht veröffentlichten Entscheidungen des japanischen OGH gibt John M. Maki folgende Informationen: „Between 1947 and 1957 the Supreme Court handed down just under 1.100 constitutional decisions, representing only about 3 per cent of all decisions; the rest dealt with matters of criminal and civil law not bearing directly with the Constitution" (Court and Constitution in Japan. Selected Supreme Court Decisions, 1948-1960, Univ. of Washington Press 1964, S. VII). Diese — im Vergleich mit der Bundesrepublik Deutschland — niedrigen Zahlen sind aber nicht nur dadurch bedingt, daß es in Japan keinen eigenen Gerichtshof für die Verfassungsgerichtsbarkeit gibt, sondern auch und vielmehr durch die allgemeine Tatsache, daß man sich in Japan nicht gern auf eine Prozeß einlassen will und auch hier möglichst eine Lösung durch Schlichtung oder Versöhnung der Parteien versuchen wird. 10 Es darf nicht vergessen werden, daß, als Bodin im 16. Jahrhundert seine „Sechs Bücher über den Staat" publizierte, die von ihm französisch als „souverainité" und lateinisch als „maiestas" bezeichnete Staatsgewalt schon zum Gegenstand einer Dichotomie gemacht worden war. Der Jurist und Professor an der Marburger Universität, Hermann Kirchner, war allem Anschein nach der erste, der in jener Zeit schon zwischen einer „maiestas realis" (so genannt, weil sie dem Staat, der res publica, dauernd anhaftet) und einer „maiestas personalis" (so genannt, weil sie auf eine Person übertragen wird) unterschieden hatte. Die Schlußfolgerung (These), die Kirchner aus dieser Dichotomie zieht, ist folgende: „Die maiestas personalis hängt von der maiestas realis ab und ist 2*

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. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung

§ 3 Dichotomisierung in Politik, Staat und Familie Die souveränen Staaten unseres Erdballs haben sich seither ständig weiter vermehrt. Nur 29% der 510,1 Millionen Quadratkilometer, die die Oberfläche der Erde umfaßt, sind Landmasse; das übrige ist Meer. Die Zahl der Staaten hat ohne Ausdehnung der Landmasse oder der Oberfläche der Erde ständig zugenommen. Das mag eine Folge der Entkolonialisierung sein; das Phänomen ist aber auch in den letzten Jahrzehnten zu verzeichnen. 11 Die Schweiz ist 1129 durch einen Bund zwischen drei Kantonen entstanden; die Zahl der Kantone hat sich später und ohne Ausdehnung des Territoriums dieses Landes wiederholt vermehrt. Als Jean Bodin im 16. Jahrhundert sein berühmtes Werk „Les Six Livres de la République" schreibt, erwähnt er die dreizehn Kantone der Schweiz; heute aber hat die Schweiz 19 Ganz- und 6 Halbkantone. Auch die politische Willensbildung scheint uns heute ohne eine Trennung oder Teilung nicht möglich zu sein. Rousseau war noch der Meinung, daß die politischen Parteien die unbedingt notwendige „volonté générale" vernichten würden; heute aber wird proklamiert, daß „die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken" (Bonner Grundgesetz, Art. 21 Abs. 1). Hier zeigt uns selbst das Wort „Partei" (ursprünglich aus dem lateinischen „partire" oder „partili"), daß eine Teilung oder Trennung notwendig geworden ist. Weitere Beispiele sind leicht zu finden, so etwa die Trennung von Staat und Kirche — im fernen Osten von Staat und Religion — oder die uralte Trennung von Recht (fa) und Sittlichkeit (Ii) in China. Eines ist bei diesem Prozeß sofort ersichtlich: Die Novität dieser Entwicklung besteht nicht darin, daß etwas ex nihilo hinzugefügt worden wäre, sondern nur darin, daß aufgeteilt wurde, was zuvor bereits vorhanden und am Leben war. Dabei geht es zunächst nur darum, daß gerade eine Dichotomisierung die weitere Entwicklung möglich gemacht hat. Dagegen brauchen wir für die Zwecke dieser Untersuchung nicht die Frage zu behandeln, ob auch ohne einen solchen Prozeß völlig neue rechtliche Institute entstehen können. Selbstverständlich ist diese Entwicklung letzten Endes nicht Sache des Zufalls, sondern auf das Nachdenken der Menschen zurückzuführen, die in einem bestimmten rechtlichen Milieu geboren sind und dies zu verbessern getrachtet haben. Es ist zu vermuten, daß dieser Prozeß auch in Zukunft weitergehen wird. Auch hier gilt die alte Wahrheit: divide et vinces. Rechtspolitisch ausgedrückt: divide et impera.

dieser untergeordnet" (vgl. Rudolf Hohe, Althusius und die Souveränitätstheorie der realen und der personalen Majestät, in: Rechtstheorie Beiheft 7 (1988), S. 235 ff., bes. S. 237). h Vergleicht man z. B. in Meyers Enzyklopädischem Lexikon die Angaben über die Flaggen aller Staaten, so ist deren Zahl von 155 im Jahre 1973 (vgl. Bd. 9) im Jahre 1980 schon auf 162 gestiegen (vgl. Nachträge Bd. 26).

§ 3 Dichotomisierung in Politik, Staat und Familie

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Es gibt auch andere Arten von Dichotomisierungen, die sicher nicht bewußt vorgenommen wurden, aber auch nicht bloß zufälligerweise entstanden. Als Beispiel dafür kann die Umwandlung der großen Familien in kleine Familien genannt werden, ein Prozeß, der auf die Industrialisierung und die Verstärkung des Individualismus in unserer Zeit zurückzuführen ist. Sogar heute noch hat das Wort „Familie" nicht in allen europäischen Ländern ganz dieselbe Bedeutung. So sind ζ. B. mit diesem deutschen Ausdruck normalerweise nur die Eltern und ihre Kinder gemeint; wenn aber ein Spanier von seiner „familia" spricht, denkt er auch an seine Großeltern und sogar an alle seine Verwandten, also an die „Großfamilie". Noch besser kann die Umwandlung dieser Institution im Fernen Osten beobachtet werden. Im alten China wurden sogar die Ahnen in ihrer Gesamtheit als die wichtigsten Familienangehörigen betrachtet. Im modernen Japan dagegen werden normalerweise nur die drei letzten Generationen verehrt; die Beibehaltung des Familiennamens (wenn notwendig auch durch Adoption) wird deshalb als sehr wichtig empfunden. Der Prozeß der Auflösung der großen Familien in Japan ist besonders eindrucksvoll. Noch 1936 — also vor dem Zweiten Weltkrieg und vor der Abschaffung des patriarchalischen Familiensystems (ie-seido) — wurde in Japan in einem vom Kultusministerium herausgegebenen Textbuch für Schulkinder die ideale Familie so geschildert: „Wir sind in unserer Familie sieben Personen. Es ist wirklich so schön, wenn wir alle zusammen das Abendessen einnehmen!" Unter diesen Worten sind in einem Bild die Eltern, die Großeltern und drei Kinder, also drei Generationen, zu sehen, die um den niedrigen Tisch hocken und gemütlich die Reisschale in den Händen halten. Das ist heute in Japan kaum mehr zu sehen. Daß der Vater wegen seiner Anstellung bei einer Firma getrennt von seiner Familie leben muß, ist keine Seltenheit und hat — fast wie eine soziale „Institution" — auch einen eigenen Namen erhalten: „tanshin-funin" (allein und ohne Familie beim Arbeitsplatz leben). Es muß noch hinzugefügt werden, daß die durch Dichotomisierung getrennten Einheiten nicht herrenlos geworden sind und isoliert nicht weiterleben konnten. Der japanische „salary man", der heute sogar von seiner kleinen Familie getrennt leben muß, ist nicht bloß ein Angestellter, sondern Mitglied einer großen Familie, nämlich seiner Firma (kaisha). Auch Gesetzgebung hätte keinen Sinn ohne Verwaltung. Eine Gerichtsentscheidung der zweiten Instanz setzt notwendigerweise die Entscheidung der ersten Instanz voraus, und eine politische Willensbildung durch nur eine Partei ist schon etymologisch gesehen ein Widerspruch in sich. Sicher ist in unserem Jahrhundert die Zahl der unabhängigen Staaten gewachsen. Zugleich sind erst ein Völkerbund (1920 — 1939) und dann die jetzige Organisation der Vereinten Nationen entstanden — was uns zeigt, daß ein friedliches Zusammenleben auch eine organisierte Zusammenarbeit notwendig macht. Nicht nur nach, sondern zugleich mit der Dichotomisierung ist ein Phänomen zu beobachten, das wir hier nur annäherungsweise mit Integration bezeichnen

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. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung

möchten. Wäre die Entstehung und Entwicklung der rechtlichen Institutionen nur im Sinne einer Trennung dessen zu verstehen, was früher verbunden und als solches am Leben war, dann hätten wir nur eine Fragmentierung, ein Auseinandergehen, eben eine Desintegration zu verzeichnen, doch ist dies durchaus nicht der Fall. Diese vorbereitenden Überlegungen versetzen uns in den Stand, zum nächsten und ersten Hauptproblem unserer Untersuchung überzugehen, nämlich auf die Betrachtung der Bemühungen und Versuche, die die Wissenschaft von alters her unternommen hat, um das Recht besser zu verstehen und zu erklären. Auch wenn die Wissenschaft als solche nicht vollauf institutionalisiert und noch weniger Monopol einer bestimmten Institution werden kann, so ist doch ihr Leben und ihre weitere Entwicklung ohne weitergehende soziale Differenzierung und Dichotomisierung einfach nicht möglich.

Zweiter

Abschnitt

Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft Even an expert is a person who chooses to be ignorant about many things so that he may know all about one. Ε. E. Schattschneider

Die Wissenschaft denkt nicht. M. Heidegger

§ 4 Ausdifferenzierung und Abspaltung von Teilgebieten in der Philosophie Ein großes Verdienst von Aristoteles war sein Versuch, die Philosophie, d. h. das Wissen seiner Zeit 1 2 , in verschiedene Gebiete einzuteilen. Dies impliziert, daß eine solche Einteilung zuvor nicht existiert hatte. Was herauskam, war nur eine anfängliche Klassifikation; denn Aristoteles hat unter dem Titel „Nikomachische Ethik" nicht nur Fragen der Ethik, sondern auch der Anthropologie, der Theologie, der Staats- oder Rechtslehre usw. behandelt. Auch im Mittelalter gab es noch keine radikale Spezialisierung verschiedener Fachgebiete, und so konnten die Theologen der Scholastik sich weiterhin auf den „Philosophen" — gemeint war Aristoteles — berufen („ut ait philosophus . . . " ) . Der Philosoph unserer Zeit ist aber nicht mehr der „philosophus" alter Zeiten, der über alle Fragen Auskunft geben kann. Oft kennt unser Philosoph nur eine, nämlich seine Philosophie und kann in Verlegenheit geraten, wenn er über eine andere Philosophie befragt wird. Solange die Philosophie nur als „ancilla theologiae" betrachtet wurde, hatte sie noch nicht jene Unabhängigkeit erlangt, die sie heute genießt. 12 Heute wird ein klarer Unterschied zwischen Philosophie und Wissenschaft (scientia, science) sowie zwischen Weisheit (sapientia) und bloßem Wissen gemacht; in alten Zeiten ist das nicht immer so gewesen. Noch Cicero, zum Beispiel, konnte folgende Definition der Weisheit geben: „Sapientia autem est, ut a veteribus philosophis definitum est, rerum divinarum et humanarum causarumque, quibus eae res continentur, scientia" (De officiis, II, 2, 5). In dieser Denkweise — die auch auf das Rechtsverständnis einen großen Einfluß gehabt hat — werden nicht nur die sapientia und scientia, sondern auch die res divinae und humanae ad modum unius behandelt.

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

Jedoch schuf sich allmählich die Einsicht Raum, daß beide Disziplinen zu unterscheiden sind. Auch die Rechtsphilosophie ist ihrem Inhalt nach eine sehr alte Wissenschaft; nur hat sie in der modernen Zeit einen eigenen Namen erhalten und ist zu einem Fachgebiet geworden. Ein neuer Name scheint die unerläßliche Bedingung zu sein, um bei der Unabhängigkeitserklärung Erfolg zu haben. Nachdem Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie durch die Abtrennung von anderen Fachgebieten selbständig geworden sind, ist eine innere Aufteilung von weiteren Fachgebieten zu verzeichnen, die ebenfalls Ansprüche auf Unabhängigkeit geltend gemacht haben. Ob das immer endgültig geglückt ist, läßt sich oft nicht leicht feststellen. Das zeigt sich etwa im Fall der modernen Rechtstheorie im Verhältnis zur klassischen Rechtsphilosophie. Trotzdem wurde die Geburt der Rechtstheorie so gefeiert, daß mit Recht und nicht ohne Besorgnis gefragt wurde, was jetzt noch der Rechtsphilosophie übrigbleibe. Auch wenn man die Autonomie der Rechtstheorie zugibt, sollte nicht übersehen werden, daß das, was heute unter diesem Namen betrieben wird, recht verschiedene Gebiete umfaßt, wie etwa Rechtslogik, juristische Hermeneutik juristische Semantik, Rechtsinformatik, Rechtskybernetik, Rhetorik usw. So könnte man — ebenso mit Recht, aber vielleicht ohne Besorgnis — fragen, was heute von der Rechtstheorie übriggeblieben ist. Wird das Haus leer, wenn alle Kinder ausgeflogen sind? So ist auch auf dem Gebiet der Wissenschaft zu vermuten, daß die Spezialisierung oder Zersplitterung in verschiedene Fachwissenschaften niemals zu einem Ende kommen wird. Jedoch muß noch auf ein weiteres Phänomen der Dichotomisierung hingewiesen werden, das uns im fünften Abschnitt dieser Untersuchung besonders beschäftigen wird. Das hier einschlägige Wissen ist anscheinend im Laufe der Zeit so sehr gewachsen, daß es als solches ebenfalls Unabhängigkeit erlangt hat und schon längst selbst zu einem Objekt von neuen Fachwissenschaften, wie der Wissensphilosophie und der Wissenssoziologie, geworden ist. Eine Wissens- Wissenschaft gibt es noch nicht, wenngleich zum Beispiel die Soziologie der Wissenssoziologie selbst eine Wissenschaft sein soll.

§ 5 Eigenständigkeit der Rechtsphilosophie Nachdem wir die Tatsache einer immer weiter wachsenden Dichotomisierung der Wissenschaft und der Disziplinen, die es mit dem Recht zu tun haben, festgestellt haben, ist es zweckmäßig, bevor wir zu den einzelnen Problemen übergehen, einen Blick auf die Maßstäbe zu werfen, die bei diesem Phänomen eine entscheidende Rolle spielen. Im allgemeinen und allem Anschein nach herrscht über dieses Problem Übereinstimmung, auch wenn insofern die Terminologie nicht immer die gleiche ist. Der erste Maßstab für die Differenzierung der einzelnen Wissenschaften ist die Berücksichtigung des sog. Materialobjekts (nach der scholastischen Termino-

§ 5 Eigenständigkeit der Rechtsphilosophie

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logie obiectum materiale d. h. des ganzen konkreten Seienden, auf das sich das Subjekt mit seiner Aufmerksamkeit richtet. So ist es klar, daß beispielsweise die Astronomie, die die Himmelskörper zum Gegenstand der Forschung hat, grundverschieden ist von der Ethik, die einen völlig anderen Gegenstand hat. Aber nicht immer reicht die Berücksichtigung des Materialobjekts aus, um alle Fachgebiete zu unterscheiden. Dann wird das sog. Formalobjekt (obiectum formale der Scholastiker), d. h. die besondere Rücksicht oder der Gesichtspunkt, unter dem das Materialobjekt erforscht, der entscheidende Maßstab für die Differenzierung. Anthropologie, Geschichte, Ethik, Medizin und viele andere Disziplinen haben alle mit dem Menschen zu tun, aber der Blickwinkel ist bei jeder dieser Disziplinen grundverschieden. Formalobjekt einer Wissenschaft ist also, trotz der gegenständlichen Inbezugnahme, nicht so sehr ein „Objekt", sondern vielmehr jene Perspektive, die allen Gegenständen gemeinsam ist und unter der sie betrachtet werden. Diese Maßstäbe werden ebenfalls bei der Differenzierung der verschiedenen Disziplinen angewandt, die mit dem Recht zu tun haben. Auch wenn Rechtsdogmatik, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und ähnliche juristische Disziplinen sich mit dem Recht als ihrem gemeinsamen Materialobjekt befassen, werden sie doch als verschiedene Disziplinen betrachtet; denn der jeweilige Ausgangspunkt der Betrachtung ist verschieden. Ist das Material- und das Formalobjekt gleich, so ist eine Differenzierung nicht möglich. In gleicher Weise wird auch die Methode nach dem jeweiligen Materialobjekt oder mindestens nach dem jeweiligen Formalobjekt entschieden. So weit scheint alles unproblematisch zu sein, und man kann sagen, daß für die Differenzierung der einzelnen Wissenschaften immer auch eine Dichotomisierung — schon im Bereich des Materialobjekts oder mindestens im Bereich des Formalobjekts — notwendig ist. Es sei noch hinzugefügt, daß die Unterscheidung zwischen Material- und Formalobjekt auch eine gedankliche Dichotomie ist, die ihre guten Gründe hat und auf die wir nicht verzichten können. Dennoch geraten wir in Schwierigkeiten, wenn wir diese gedankliche Dichotomie bei der konkreten Differenzierung der verschiedenen Disziplinen weiter untersuchen; darüber können, wie mir scheint, die Meinungen auseinandergehen. Wie später zu zeigen sein wird, enthalten alle Dichotomien — so plausibel und unentbehrlich sie sein mögen — etwas, das uns im Dunkeln läßt, oder doch mindestens etwas, das genau auszudrücken und zu erklären unser Sprachgebrauch nicht völlig imstande ist. Meiner Meinung nach sind Material- und Formalobjekt korrelative Begriffe; denn ein Begriff setzt notwendigerweise den anderen voraus. Materialobjekt bedeutet nur den konkreten Gegenstand, den wir als schon vorhandenen betrachten, und zwar unter Abstraktion von allen möglichen Gesichtspunkten seiner Betrachtung. Es geht also sozusagen um den Bruttogegenstand unserer Wahrnehmung; und genau das ist der Sinn seiner Ganzheit. Formalobjekt bedeutet dagegen

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

eine Entscheidung des Subjekts über die Betrachtungsweise oder den Gesichtspunkt in bezug auf das Materialobjekt und ist somit ein korrelativer Begriff. Nun wäre es falsch zu denken, daß die Differenzierung der einzelnen Wissenschaften nur auf das Formalobjekt zurückzuführen ist; denn es ist durchaus möglich, daß mehrere Wissenschaften sich schon nach dem jeweiligen MaterialPobjekt klar und adäquat unterscheiden (ζ. B. Astronomie, Ehtik, Theologie, Psychologie usw.). Sicher wird auch in diesem Fall das jeweilige Formalobjekt sowie die Methode verschieden sein; aber daran brauchen wir nicht zu denken, um diese Wissenschaften zu unterscheiden. Wir können auch sagen, daß in diesem Fall der Grund der Unterscheidung ganz objektiv ist und nicht nur durch den Blickwinkel des Subjekts zu erklären ist. Allerdings ist bei denjenigen Disziplinen, die mit dem Recht zu tun haben, die Berücksichtigung des Formalobjekts unentbehrlich; denn sie alle haben ein gemeinsames Materialobjekt: das Recht. Dabei ist das Formalobjekt der entscheidende Faktor der Differenzierung. Es darf aber nicht vergessen werden, daß auch hier das gemeinsame Materialobjekt Recht das Resultat einer vorhergehenden und schon vollzogenen Differenzierung ist insofern, als wir nur das Recht — und nicht etwas anderes — gerade als gemeinsames Material betrachten und voraussetzen. Diese implizite Voraussetzung, die die weitere Differenzierung der juristischen Disziplinen möglich macht, mag unproblematisch scheinen. Das ist aber nur eine Täuschung. Wenn wir nämlich sagen, daß wir es hier nur mit dem Recht — und nicht mit etwas anderem — zu tun haben, so fragt es sich, ob damit schon die Welt des Rechts wirklich scharf abgegrenzt ist. Gibt es eine Welt, die nur die Welt des (reinen) Rechts ist? Ist auch diese Welt schon differenziert und entspricht diese Differenzierung unserer gedanklichen Vorstellung vom Recht? Hier wollen wir vorerst nur auf dieses Problem hinweisen, das uns später noch weiter beschäftigen wird. Das Formalobjekt kann nie rein formal werden, weil es immer einen Bezug auf das Materialobjekt hat, und das Materialobjekt kann nie formlos werden, weil es durch die vorhergehende Abgrenzung von anderen Materialobjekten schon eine Form erhalten hat. Das Materialobjekt kann bei der Differenzierung nach dem Formalobjekt in den Hintergrund treten; es kann aber bei einer weiteren Differenzierung wieder in den Vordergrund treten und die entscheidende Rolle spielen. Zugegeben sei, daß ζ. B. die Differenzierung von Rechtsdogmatik, Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie vor allem auf die Berücksichtigung der jeweiligen Gesichtspunkte zurückzuführen ist. Wenn in der Dogmatik weiter zwischen Zivilrecht, Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Strafrecht usw. differenziert wird, wo liegt dann das entscheidende Merkmal für die Unterscheidung? Arthur Kaufmann sieht das Unterscheidungsmerkmal „im jeweiligen Formalobjekt" dieser Disziplinen. 13 Es fällt mir sehr schwer zu verstehen, wie sich in diesem Fall 13

Arthur Kaufmann und Winfried

Hassemer (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphiloso-

phie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl., Heidelberg 1985, S. 3; zum folgenden vgl. dort S. 1-7.

§ 5 Eigenständigkeit der Rechtsphilosophie

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die Formalobjekte — formal gesehen — unterscheiden. Leichter ist der Unterschied zu begreifen, wenn wir wieder auf den Maßstab des Materialobjekts zurückgreifen. Daß so etwas möglich ist, wird auch von Kaufmann bestätigt; denn in dem nächsten Satz spricht er von der in der jüngsten Zeit zu beobachtenden „Aufspaltung des Materialobjekts in immer weitere Formalobjekte". Wo fängt aber die Aufspaltung an? In der Betrachtung des Materialobjekts oder in derjenigen des Formalobjekts? Ist sie ein Phänomen materieller oder vielmehr formeller Art? Ich bin der Meinung, daß beides möglich ist; denn es geht hier, wie schon gesagt, um korrelative Begriffe. Welcher von beiden Begriffen den Vorrang hat, muß von Fall zu Fall in concreto entschieden werden. Ein schwierigeres Problem ist es, wie nach den angegebenen Maßstäben die Differenzierung oder das Anderssein von Philosophie und Rechtsphilosophie zu erklären ist. Das Problem ist mit dem Abwandern der Rechtsphilosophie aus der Philosophie (oder aus der Allgemeinen Rechtslehre?) nicht zu verwechseln. Das erste Problem ist theoretischer, das zweite dagegen geschichtlicher Natur — eine Sache des „Wie ist das geschehen?". Da das zweite Problem leichter zu lösen ist, werden wir es zuerst behandeln. Die Rechtsphilosophie unserer Zeit hat eine (noch immer relative) Autonomie erlangt, die sie früher nicht gehabt hat. Ist sie de facto aus der Philosophie oder vielmehr aus anderen juristischen Disziplinen „abgewandert"? Hier ist eine Antwort nur möglich, wenn wir an die Menschen denken, die sich im Laufe der Geschichte mit dem beschäftigt haben, was wir heute Rechtsphilosophie nennen. Es fällt sofort auf, daß in alten Zeiten diese Gelehrten (mit nur wenigen Ausnahmen) keine Fachjuristen, sondern Philosophen waren, die sich auch mit dem Recht beschäftigt haben; ihre Namen sind bekannt. In der modernen Zeit dagegen wird die Rechtsphilosophie von Gelehrten betrieben, die meistens — auch hier sind Ausnahmen zu verzeichnen — nur eine juristische Ausbildung (und nur selten auch eine philosophische Fachausbildung) haben.14 Wenn das so ist, hat die geschichtliche Abstammung unserer Rechtsphilosophie sowohl mit der Philosophie als auch mit den juristischen Disziplinen zu tun, auch wenn eine interessante Akzentverschiebung spürbar ist. (Selbstverständlich ist es auch heute noch dem ,/einen Philosophen" keineswegs verboten, recÄtephilosophische Fragen zu stellen, dies zugunsten auch der Rechtsphilosophie!)15 Die theoretische Unter14 Arthur Kaufmann ist darin zuzustimmen, daß es im Bereich der Rechtsphilosophie „gleich schlimm ist", nur reiner Philosoph oder nur reiner Jurist zu sein. Sollen wir dem zukünftigen Rechtsphilosophen empfehlen, zunächst Philosophie und dann Jura zu studieren oder umgekehrt? Ich lasse die Frage offen; aber beides dürfte Vor- und Nachteile haben. 15 Wie mir scheint, ist die (bis vor wenigen Jahrzehnten sicher einflußreichste) deutsche Rechtsphilosophie in bezug auf ihre Thematik von der Rechtswissenschaft oder Rechtslehre und in bezug auf ihre Methode von der kantianischen Philosophie stark beeinflußt worden. Das gilt aber nicht von allen „Rechtsphilosophien „ dieser Welt.

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

Scheidung zwischen Rechtsphilosophie und Philosophie ist dagegen nicht so leicht zu erklären. Ich bin wie Kaufmann der Meinung, daß die Rechtsphilosophie ein Zweig der Philosophie und nicht ein Zweig der Rechtswissenschaft ist. 16 Sicher ist Kaufmann auch darin zuzustimmen, daß die Rechtsphilosophie sich von anderen Zweigen der Philosophie nicht dadurch unterscheiden kann, „daß sie spezieller wäre, sondern daß es juristische Grundsatzfragen, juristische Grundprobleme sind, die auf philosophische Manier reflektiert, diskutiert und, sofern möglich, beantwortet werden". Hier geht es aber nicht darum, wie die Rechtsphilosophie sich von anderen Zweigen der Philosophie unterscheidet, sondern um den Unterschied zwischen Rechtsphilosophie und Philosophie überhaupt. Es wäre leicht, eine Antwort auf diese Frage zu geben, wenn wir schon wüßten und darüber einig wären, was Philosophie ist. Das ist aber nicht der Fall. Über die Gegenwartsphilosophie sagt Heinrich Henkel, daß sie „von Grund aus »fragwürdig 4 geworden oder gar ,am Ende angelangt4 sei". 17 Wenn das zutrifft und wenn zugegeben wird, daß die Rechtsphilosophie ein Zweig der Philosophie ist, so ist die logische Folge, daß der Zweig genauso fragwürdig geworden oder am Ende angelangt ist wie der Baum, dem er angehört. Alle Rechtsphilosophen sind sich der Fragwürdigkeit der modernen (und alten! ) Philosophie bewußt. Die Frage ist, wie wir aus der Sackgasse herauskommen; denn noch heute „philosophieren" wir im Recht und über das Recht. Auch ist es eine Tatsache, daß unsere Rechtsphilosophie eine relative Autonomie erlangt hat, die sie früher nicht hatte. Für Erich Fechner ist die Rechtsphilosophie „ein Ast am Lebensbaum der jeweiligen Epoche, mit dieser aufs engste verbunden und Geist von ihrem Geiste". 18 Er warnt uns auch, daß hier Philosophie nicht „leicht gemacht" werden soll und zugleich, daß sie „nicht bloße Übertragung und Anwendung allgemeinphilosophischer Ergebnisse auf den Sonderfall des Rechts ist". Henkel zufolge sollte man „statt von einer 'Auflösung' der modernen Philosophie besser von einem Prozeß der Differenzierung reden, in welchen die Philosophie hineingeraten ist". „Es geht, nachdem die umfassende Einheit der Fragestellung verloren ist, nicht mehr um die Stellungnahme zu den in einer universalen Weltdeutung enthaltenen, durch die Jahrhunderte im wesentlichen gleich gebliebenen Problemen, sondern um jeweils ganz verschiedene Anliegen, durch die das Philosophieren unterschiedliche Richtungen einschlägt und ebenso ι 6 Kaufmann (FN 13), S. 1. So auch Gustav Radbruch gleich am Anfang seiner bekannten „Rechtsphilosophie", § 1 : „Rechtsphilosophie ist ein Teil der Philosophie. Es ist deshalb unerläßlich, zunächst die allgemeinen philosophischen Voraussetzungen der Rechtsphilosophie aufzuzeigen". Und vor ihm schon Cicero: „Ex intima philosophia haurienda est iuris disciplina" (De legibus, I, 5), auch wenn hier die „iuris disciplina" nicht nur als Rechtsphilosophie im engeren Sinne verstanden werden darf. 17 Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., München 1977, S. 3. 18 Erich Fechner, Rechtsphilosophie. Soziologie und Metaphysik des Rechts, 2. Aufl., Tübingen 1962, S. 5.

§ 5 Eigenständigkeit der Rechtsphilosophie

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unterschiedliche Aufgaben zugewiesen erhält." Im Ergebnis bleiben also nur die „Teilaspekte und Fragmente dessen, was man einst unter »Philosophie4 verstand". Dieser Differenzierungsprozeß wird von Henkel positiv bewertet; denn er hat „zu einer reicheren, vielseitigen Entfaltung und zu einer Vertiefung philosophischer Fragestellungen geführt", und das gilt auch für die Rechtsphilosophie.19 Dieser Versuch, aus der Sackgasse herauszukommen, ist zu loben; ob er ganz befriedigt, möchte ich in Frage stellen. Zunächst: Ist mit dem Differenzierungsprozeß der Philosophie in ihre „Fragmente" die Philosophie überhaupt aus dieser Welt verschwunden? Und dann: Zugegeben, daß „die umfassende Einheit der Fragestellung (heute) verloren ist", haben wir in den „Fragmenten", hier in der Rechtsphilosophie, eine — mindestens für dieses Fachgebiet — umfassende Einheit der Fragestellung gewonnen? In dieser Hinsicht bin ich pessimistisch. Wir können von unserer modernen Rechtsphilosophie sprechen und auch rechtsphilosophische Kongresse abhalten. Finden wir aber im Bereich der Rechtsphilosophie nur eine, d. h. die Rechtsphilosophie, oder nicht vielmehr so viele Rechtsphilosophien, wie es Rechtsphilosophen gibt? Man könnte meinen, daß die Einheit, nach der wir uns sehnen, nur in der Fragestellung, nicht aber in den verschiedenen Antworten vorhanden zu sein braucht. Diese Unterscheidung erscheint mir als trügerisch. Jede Fragestellung setzt nämlich schon ein Vorverständnis voraus, das keineswegs gemeinsam ist; denn nur wenn das Vorverständnis gemeinsam wäre, wäre auch eine gleiche Fragestellung möglich (oder vielleicht nicht mehr nötig). Man kann sicher auch die moderne Rechtsphilosophie als ein Diskussionsforum verstehen, auf dem jeder fragt, was er will, und jeder antwortet, wie er kann, und auf dem jeder auch schweigen kann. So, glaube ich, muß es verstanden werden, wenn wir von „unserer" oder von „der" modernen Rechtsphilosophie (im Singular) reden. Die Einheit aber, die damit gewonnen wird, ist auch nicht größer, als wenn wir die Rechtsphilosophie als ein Diskussionsforum verstehen, auf dem keine Einheit zu finden ist. Auch Arthur Kaufmann hat wiederholt auf das Abwandern bzw. die Loslösung verschiedener Wissenschaften von der Philosophie hingewiesen.20 Wenn ich ihn richtig verstehe, ist dabei die Philosophie in sich unangetastet geblieben und soll es auch weiter bleiben. Kaufmann bedient sich in diesem Zusammenhang ebenfalls der hier angegebenen Maßstäbe Materialobjekt — Formalobjekt, um die Philosophie zu charaktierisieren und zu identifizieren, wenngleich er behauptet, daß die Doppelbindung an Material- und Formalobjekt hier anders zu verstehen sei als im Fall der Differenzierung der konkreteren Wissenschaften, die aus der Philosophie abgewandert sind. Der Philosophie soll nämlich kein bestimmtes Materialobjekt zugrunde liegen. Hier bestehe vielmehr eine ausschließliche Bindung an ein Formalobjekt: „So ist das Wesen der Philosophie durch die Totalität 19 Henkel (FN 17), S. 4.

20 Arthur Kaufmann, Wozu Rechtsphilosophie heute? Frankfurt a. M. 1971, S. 19.

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

ihres Formalobjekts gekennzeichnet."21 Dieses Formalobjekt wird von Kaufmann als das Ganze, die Zusammenhänge, das Grundlegende, „das Ganze des Seins", das „Sein überhaupt" verstanden. Ich bin ebenfalls der Meinung, daß auch nach der Differenzierung die „Philosophie in sich" weiter bestehen geblieben ist; nur scheint mir eine solche Charakterisierung der Philosophie allzu formalistisch zu sein. Zumindest bleibt zunächst folgendes unklar: Wenn der Philosophie kein bestimmtes Materialobjekt zugrunde liegt, müßte sie doch ein unbestimmtes Materialobjekt haben. Welches? Wenn bei der Philosophie nur eine „ausschließliche Bindung" an ein Materialobjekt bestehen soll, so wird die Berücksichtigung des Materialobjekts irrelevant, und so sind wir nur auf die Totalität des Formalobjekts angewiesen. Wie aber — das ist meine zweite Frage — ist diese Totalität rein formal zu verstehen? Kaufmann definiert das Formalobjekt als „die besondere Rücksicht, unter der sie (die Wissenschaft) dieses Ganze (das Materialobjekt in seiner Ganzheit) erforscht". Wie ist also die Totalität der „besonderen" Rücksicht zu verstehen? Sicher ist, daß die Totalität der besonderen Rücksicht die verschiedenen Wissenschaften charakterisiert; aber das kann nicht nur und exklusiv von der Philosophie gesagt werden. Man könnte auch daran denken, daß mit dem Begriff Totalität die Summe aller möglichen besonderen Rücksichten gemeint ist; aber dann brauchten wir nur Philosophie zu studieren, um alles zu wissen, was nach dem heutigen Stand der Wissenschaft gewußt werden kannn. Wie schon angedeutet, erscheint mir eine vollkommene Trennung zwischen dem Material- und Formalobjekt als unmöglich. Das gilt auch für die Philosophie in sich, falls man sie durch diese Maßstäbe charakterisieren will. Sicher ist, daß die Begriffe „Material-" und „Formalobjekt" analog gebraucht werden. Diese Termini können aber nicht einfach so verstanden werden, als ob es bei dem einen um die „Materie" und bei dem anderen bloß um die „Form" ginge. Kaufmann rechnet das „Sein überhaupt" ausschließlich dem Formalobjekt der Philosophie zu. Das ist vollkommen richtig. Die Frage aber, ob die Philosophie als solche kein Materialobjekt hat, ist eine ganz andere. Ein Scholastiker beispielsweise würde hier einfach sagen, daß „alles Sein" (omne ens) das Materialobjekt der Ontologie ist und daß die besondere Berücksichtigung „als Sein" (ut ens, sub aspectu entis) ihr Formalobjekt ist. Nach dieser Konzeption ist der Gedanke der „Totalität" auch im Materialobjekt {„alles Sein", d. h. alles, was nicht Nichts ist) zu finden. Das mag sehr abstrakt klingen. Es ist aber gerade die immer fortschreitende Abstraktion, die uns von den einzelnen (oder Teil-)Wissenschaften zur ontologischen Betrachtung führt. Ende dieses Prozesses mag eine allgemeine Metaphysik oder „erste Philosophie" sein, die aber dennoch nie zu einer reinen Form unseres Denkens werden kann.

21 Kaufmann (FN 13), S. 4.

§ 6 Rechtsphilosophie als Rechtswertbetrachtung

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Wir lassen offen, wie die Philosophie als solche am besten charakterisiert werden kann. Aus der in diesem Abschnitt behandelten Problematik ergibt sich aber, daß, auch wenn die gedankliche Dichotomie von Material- und Formalobjekt zweckmäßig und notwendig ist, eine vollkommene Trennung dieser beiden Elemente nicht möglich ist. Wie auch bei anderen Arten von Dichotomien noch zu zeigen sein wird, kann man vorübergehend unterscheiden oder trennen. Bei weiterem Nachdenken darüber müssen jedoch die gegenseitigen Beziehungen der unterschiedenen oder getrennten Elemente wieder berücksichtigt werden.

§ 6 Rechtsphilosophie als Rechtswertbetrachtung Auch Gustav Radbruch bedient sich — freilich ohne diese Termini zu benutzen — des traditionellen Denkschemas Materialobjekt — Formalobjekt, um Rechtswissenschaft, Rechtsphilosophie und Religionsphilosophie des Rechts zu charakterisieren oder zu differenzieren. Gemeinsam ist diesen Disziplinen das Recht (Materialobjekt); verschieden dagegen sind aber die jeweiligen Betrachtungsweisen (Formalobjekt). Die dreiteilige Differenzierung Radbruchs ist sehr bekannt und auch von vielen anerkannt worden. Am Ende des ersten Kapitels seiner Rechtsphilosophie stellt Radbruch fest: „Drei mögliche Betrachtungen des Rechts haben sich uns ergeben: die wertbeziehende Betrachtung, die Betrachtung des Rechts als Kulturtatsache — sie macht das Wesen der Rechtswissenschaft aus; die bewertende Betrachtungsweise, die Betrachtung des Rechts als Kulturwert — durch sie wird die Rechtsphilosophie gekennzeichnet; schließlich die wertüberwindende Betrachtung des Rechts, die Betrachtung seines Wesens oder denn seiner Wesenlosigkeit — das ist die Aufgabe einer Religionsphilosophie des Rechts."22 Im folgenden Kapitel geht Radbruch auf die Methode der „Rechtsphilosophie als Rechtswertbetrachtung" über, die durch zwei Wesenszüge gekennzeichnet ist: Methodendualismus und Relativismus. Was Methodendualismus bedeutet, wird ebenfalls verdeutlicht: „Die Kantische Philosophie hat uns über die Unmöglichkeit belehrt, aus dem, was ist, zu erschließen, was wertvoll,

was richtig ist, was sein soll. "

„Wertbetrachtung und Seinsbetrachtung liegen als selbständige, je in sich geschlossene Kreise nebeneinander. Das ist das Wesen des Methodendualismus," 23

Da aber für Radbruch die letzten Sollenssätze unbeweisbar und nicht der Erkenntnis, sondern nur der Bekenntnis fähig sind, ist die logisch notwendige Folge der Relativismus, der in gleicher Weise auch ein Wesenszug der Rechtsphi22 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 6. Aufl., Stuttgart 1963, S. 96. 23 Radbruch, ebd., S. 97.

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

losophie ist — wobei Radbruch allerdings darauf aufmerksam macht, daß der Relativismus nicht der praktischen, sondern der theoretischen Vernunft angehört. Nun ist klar: Die ganze Konzeption Radbruchs in bezug auf die Rechtsphilosophie und ihre Abgrenzung von anderen Disziplinen, die sich auch mit dem Recht befassen, beruht auf der zu seiner Zeit schon längst vollzogenen Dichotomie von Sein und Sollen und wird mit ihr begründet. Wie auch sonst besteht das Problem darin, wie diese Dichotomie zu verstehen ist, welche Voraussetzungen sie hat und zur Aufstellung welcher Thesen sie herangezogen wird. Zu der ersten Frage sagt Radbruch ganz klar, daß die Wertbetrachtung und die Seinsbetrachtung als selbständige, je in sich geschlossene Kreise nebeneinander liegen und daß deshalb das, was wertvoll, was richtig ist, was sein soll, nie aus dem zu erschließen sei, was ist. Das wäre leicht zu verstehen, wenn Radbruch nicht zugleich behauptete, daß das Recht immer eine „weitbezogene Wirklichkeit" ist. Dann stellt sich nämlich die Frage: Wie kann bei einem Recht mit einer Bezogenheit auf Wirklichkeit und Wert die Geschlossenheit beider Kreise unangetastet sein? Kaufmann zufolge hat Radbruch sich in seiner Frühperiode zu einem strengen Methodendualismus bekannt. 24 Ist er aber diesem strengen Methodendualismus treu geblieben? Gibt es auch einen nicht-strengen Methodendualismus? Interessanterweise benutzt Radbruch in einer im Jahre 1925 veröffentlichen Buchbesprechung den Ausdruck „schroff methodendualistisches Dogma", der mit „strenger Methodendualismus" gleichbedeutend sein sollte. Ich gebe hier die ganze Stelle wieder, weil sie, wie mir scheint, die Antwort auf die gestellte Frage enthält: „Aber je länger ich nach der Methode schroffer Trennung des Sollens vom Sein arbeite, um so mehr drängt sich mir die noch nicht völlige Unberührtheit des Wertes durch die Wirklichkeit auf, die,Stoffbestimmtheit der Idee4, die für einen bestimmten Stoff gilt, auf diesen Stoff hingeordnet ist und also von ihm irgendwie beeinflußt sein muß; um so mehr erweicht sich mir das schroff methodendualistische Dogma und erweist sich mir für die Erkenntnis von Wertideen eine unablässige Hin- und Herbewegung des Gedankens zwischen Idee und Erfahrung als notwendig."25 Wenn ich recht sehe, bedeutet dieses Zugeständnis Radbruchs nicht so sehr die Anerkennung eines nicht-strengen Methodendualismus, sondern vielmehr die Preisgabe des Methodendualismus überhaupt. Denn wenn die völlige Unberührtheit des Wertes durch die Wirklichkeit verneint wird und die Notwendigkeit einer unablässigen Hin- und Herbewegung des Gedankens zwischen Idee und Erfahrung behauptet wird, warum soll die Methode das ignorieren? Sicher können wir weiter zwischen Sein und Sollen unterscheiden; die Frage ist aber, ob es im 24

Arthur Kaufmann in: Gustav Radbruch, Gesamtausgabe, Band ^Rechtsphilosophie

I, Heidelberg 1987, S. 74. 25 Radbruch, Rezension von Leonar Nelson, System der philosophischen Rechtslehre und Politik, 1924, in: JW 1925, 1252, 1253. Jetzt auch in: Gustav Radbruch, Gesamtausgabe, Band 1, S. 540.

§ 6 Rechtsphilosophie als Rechtswertbetrachtung

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Bereich des Rechts überhaupt möglich ist, die Sollensfrage frei von allen Seinsfragen zu behandeln. Allem Anschein nach verneint Radbruch das hier. Die zweite Frage nach den Voraussetzungen sowohl des Methodendualismus als auch der Konzeption der Rechtsphilosophie als Rechtswertbetrachtung ist leicht zu beantworten. Die einzige Voraussetzung ist die Dichotomie von Sein und Sollen oder von Wert und Wirklichkeit. Mit diesem Problem werden wir uns später beschäftigen. Hier sei nur daran erinnert, daß, wie oben erwähnt, Radbruch selbst diese Voraussetzung das „schroff methodendualistische Dogma " genannt hat; beruht also diese Charakterisierung der Rechtsphilosophie auf einem Dogmal

Die Schlußfolgerungen aus der hier zugrundeliegenden Dichotomie — die dritte und letzte Frage — hat Radbruch teilweise selbst gezogen. Zunächst wird die Rechtsphilosophie auf eine Rechtswerfbetrachtung eingeengt. Ob damit im Bereich der Rechtsphilosphie der Methodendualismus in einen Methodenmonismus umschlägt, ist schon eine Frage in sich, die ich hier offen lassen möchte. Sicher ist aber, daß die Rechtstatsachenbetrachtung, die der Rechtswissenschaft zugewiesen wird, aus der Rechtsphilosophie vertrieben wird. Das mag auch dem Idealismus Kants entsprechen. Es darf aber nicht vergessen werden: Das Problem von Sein und Sollen ist nach diesem Denkansatz nicht mehr ein „rechtsphilosophisches", sondern ein „vor-rechtsphilosophisches" Problem; denn nur durch die Einengung auf die Rechtswertbetrachtung erlangt die Rechtsphilosophie erst ihre (relative) Autonomie. Die zweite notwendige Folge ist der Relativismus. Da Rechtsphilosophie Rechtswertbetrachtung ist, wird jede Rechtsphilosophie ihrem Inhalt und ihrer Methode nach relativ, wobei zu bemerken ist, daß dieser Relativismus nicht der praktischen, sondern nur der theoretischen Vernunft angehört. Hier wird also (auch) eine Dichotomie von praktischer und theoretischer Vernunft vorausgesetzt. Und erst durch die Ignorierung der praktischen Vernunft kann der rechtsphilosophische Relativismus unangetastet bleiben. Da Radbruch, nachdem er Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie als die Betrachtung von Yjxilxxxtatsachen und von Kulturwerf charakterisiert hat, auf die wertüberwindende Betrachtung des Rechts (Religionsphilosophie des Rechts) übergeht, könnte man meinen, daß er die Rechtssoziologie übersehen hat, die schon zu seiner Zeit in voller Blüte stand. Das ist keineswegs so. Aber wenn die Betrachtung von Kulturtatsachen der Rechtswissenschaft zugewiesen wird, kann dann in Radbruchs System für die Rechtssoziologie noch ein freier Platz übrig bleiben? In Radbruchs „Rechtsphilosophie " finden wir eine Antwort auf diese Frage, wobei allerdings die „Sozialtheorie des Rechts" (Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung, Rechtssoziologie) der Rechtswissenschaft gegenübergestellt und so charakterisiert wird: 3 Llompart

34

2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

„Rechtswissenschaft ist Wissenschaft vom objektiven Sinn, nicht vom subjektiven Sinn des Rechts. Sie stellt fest, wie das Recht zu verstehen ist, nicht notwendig, wie es gemeint war. Vom Sein des Rechts, von den Gedanken, die seine Urheber hineinlegen wollten, und von den Gedanken, die die Ausleger ihm wirklich entnahmen, von dem Rechte als verursachte und ursächliche weiterwirkende Tatsache handelt nicht die Rechtswissenschaft im engeren Sinne, sondern die ,Sozialtheorie des Rechts' (Georg Jellinek): Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung, Rechtssoziologie." 26 Hier tritt wieder das Erbe Kants hervor, weil nämlich eine Differenzierung zwischen „Rechtswissenschaft" und „Sozialtheorie des Rechts" nur möglich wird durch eine weitere Dichotomie zwischen „Wissenschaft vom objektiven Sinn" und „Wissenschaft vom subjektiven Sinn des Rechts". Es gibt also nicht nur eine Betrachtung des Rechts als Kulturtatsache im objektiven Sinne (Rechtswissenschaft), sondern auch Tatsachen im subjektiven Sinne, deren Betrachtung der „Sozialtheorie des Rechts" zugewiesen wird. Bei weiterem Nachdenken stellt sich dann die Frage, ob die Aufgabe der Rechtswissenschaft — die Feststellung, wie das Recht zu verstehen ist, nicht notwendig, wie es gemeint war oder ist — so sublimiert wird, daß ihre Erfüllung unmöglich wird. Hat die Rechtswissenschaft im engeren Sinne uns immer gelehrt, wie das Recht — objektiv gesehen — zu verstehen ist? Wenn das nicht der Fall gewesen ist, dann ist sie ex definitione keine Rechtswissenschaft, sondern nur eine „Sozialtheorie des Rechts" gewesen. Wann und wie können wir also sicher sein, daß wir Rechtswissenschaft und nicht bloß Sozialtheorie des Rechts betreiben? Ich habe nicht vor, alle diese Fragen zu beantworten. Es geht hier nämlich nur darum zu zeigen, wie alle auf den ersten Blick klaren Differenzierungen bei einer eingehenderen Untersuchung fragwürdig werden. Auch im Bereich der Differenzierung der verschiedenen Wissenschaften, die es mit dem Recht zu tun haben, glauben wir, mit scharf „differenzierten" Begriffen zu arbeiten und damit alles erledigt zu haben. Das ist aber oft nur eine Täuschung; denn unsere vereinfachten Begriffe können nicht immer die komplexe Wirklichkeit wiedergeben.

§ 7 Natur- oder Geisteswissenschaft: ein Problem der Akzentsetzung? Die im deutschen Sprachgebrauch bekannte Einteilung der Erfahrungswissenschaften in „Natur- und Geisteswissenschaften" ist relativ neu und typisch deutsch. Sie ist „made in Germany" und konnte bis heute — zumindest terminologisch gesehen — nicht in andere Länder exportiert werden. 27 Die Unterscheidung mag allgemein bekannt sein; sie ist aber auch ausdrücklich oder implizit abgelehnt 26 Radbruch (FN 22), S. 210.

27 Soweit mir bekannt ist, wird in Japan die buchstäbliche Übersetzung von „Geistesund Naturwissenschaften" (seishinkagaku — shizenkagaku) nur von den Fachleuten gebraucht, aber normalerweise nur bei der Darstellung des deutschen Rechtsdenkens.

§ 7 Natur- oder Geisteswissenschaft: ein Problem der Akzentsetzung?

35

worden. Es darf nicht übersehen werden, daß ihre Anerkennung oder Ablehnung in der rechtsphilosophischen Diskussion nicht unwichtige Folgen gehabt hat. Die philosophische Problematik dieser Dichotomie ist von Theodor Βodammer sehr eingehend behandelt worden. 28 Ich werde hier nur auf die wichtigsten Probleme hinweisen, die mit der Gegenüberstellung von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften gestellt sind: Wann ist diese Dichotomie

entstanden?

Ist sie adäquat zu verstehen? Wie können ihre entsprechenden Gegenstände und Methoden

unterschieden

werden? Ist sie überhaupt

brauchbar?

1. Bekanntlich werden vor allem seit Dilthey (1833-1911) die Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften gegenübergestellt, wenngleich der Ausdruck „Geisteswissenschaft" selbst schon in der 1849 erschienenen deutschen Übersetzung von John Stuart Mills „A System of logic, ratiocinative and inductive" (1843) zu finden ist. Der Übersetzer, Johannes Schiel, übertrug — wie vermutet wird, unter dem Einfluß der Philosophie Hegels — die Überschrift des 6. Buchs „On the logic of moral sciences" mit „Von der Logik der Geisteswissenschaften oder moralischen Wissenschaften". Damit wurde der Fachausdruck geprägt, der sich im deutschen Sprachgebrauch durchsetzen sollte. Der Inhalt ist also ironischerweise auf die „Moral Sciences" des großen Empirikers Mill zurückzuführen, und es sollte nicht übersehen werden, daß schon bei Hegel der Ausdruck „Wissenschaft des Geistes" zu finden ist. 29 Die genannte Dichotomie wurde aber nicht immer im Sinne Hegels verstanden. Schon lange vor Hegel ist eine Unterscheidung zu finden, die, auch wenn sie nicht zwei verschiedene Wissenschaften hat hervorbringen können, den Keim der modernen Gegenüberstellung enthält. Hier ist nicht nur die Lehre von Samuel Pufendorf{ 1632-1694) über die „entia moralia — entia physica" zu erwähnen, die besonders von Hans Welzel bekannt gemacht worden ist 3 0 , sondern auch und noch mehr die von Albertus Magnus (um 1000-1280) gemachte Unterscheidung von philosophia

rationalis,

philosophia

realis (physica, mathematica,

metaphy si-

ca) und philosophia moralis 31 , die ihrerseits wieder nicht ohne aristotelischen Einfluß ist. Damit wird klar, daß auch diese Dichotomie — wie alle — ihre Vorund Urgeschichte hat. Diese ideengeschichtliche Frage soll hier aber nicht weiter verfolgt werden. 2. Die schwierigsten Probleme entstehen, wenn wir heute die beiden Komponenten der Dichotomie zu präzisieren versuchen. Zunächst scheint einmal die zweigliedrige Unterscheidung Geisteswissenschaft — Naturwissenschaft gar nicht alle Arten von Wissenschaften zu erfassen; denn sie wird normalerweise 28

Theodor Bodammer, Philosophie der Geisteswissenschaften, München 1987.

29 Bodammer, ebd., S. 24 ff.

30 Hans Welzel, Die Lehre Samuel Pufendorfs, Berlin 1958, bes. S. 19 ff. 31 Diese Einteilung setzt aber die alles umfassende Einteilung „philosophia" und „theologia" voraus. Vgl. dazu: P. G. Meersseman O.P., Introducilo in opera omnia Β. Alberti Magni Ο. P., Grugger 1931. 3*

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

als eine Einteilung im Gesamtbereich der Erfahrungswissenschaften verwendet. 32 Diese Dichotomie setzt also schon eine andere im voraus vorgenommene Dichotomie (Erfahrungs- und Nicht- Erfahrungswissenschaften) voraus, die wieder sehr schwer zu präzisieren ist. 33 Damit stellt sich die Frage: Wie sind, inhaltlich und methodologisch gesehen, Geistes- und Naturwissenschaften zu unterscheiden? Ist hier eine adäquate Unterscheidung möglich oder bleibt zwischen beiden immer eine Zone, deren Zugehörigkeit nicht präzis festzustellen ist? Die Schwierigkeiten tauchen schon in der Terminologie auf; denn der Gegenstand der sog. „Gewieswissenschaften" ist nicht der reine „Geist" oder „spiritus purus". Und wenn wir glauben, „geistige" Gegenstände nur mit „geistigen Augen" zu betrachten, benutzen wir schon ein Bild („Augen"), das von der sinnlichen und physikalischen Welt entliehen worden ist. Dasselbe gilt von „betrachten" oder „sehen", „einsehen" usw. Es kann uns auch nicht viel helfen, wenn wir mit Bodammer die Geisteswissenschaften nur im engeren Sinne verstehen und damit eine weitere Dichotomie (gegenüber Geisteswissenschaften im weiteren Sinne) vornehmen, die später kurz erörtert werden wird. Trotzdem ist sicher, daß diese Dichotomie nicht ganz sinnlos sein kann; denn die Naturwissenschaften beschäftigen sich mit etwas, in dem der Mensch nicht als Mensch anwesend ist — was in gleicher Weise von den Geisteswissenschaften nicht behauptet werden kann. Wenn das so ist und wenn man daran denkt, daß in anderen Sprachen Ausdrükke, wie ζ. B. „humanities" (englisch), „sciences humaines" (französisch), „jinbunkagaku" (japanisch: jin = Mensch), gebraucht werden, wäre es dann nicht besser, einfach und schlechthin von „Menschen-" und „Naturwissenschaften" zu sprechen?34 Ich bin nicht dieser Meinung, weil wir weder die Ideengeschichte noch die Verwirrung ignorieren können, die die deutsche Terminologie mit sich gebracht hat. Die terminologische Verwirrung kann nun einmal nicht geleugnet werden, und so ist es verständlich, daß Heinrich Richert (1863-1936), Vertreter 32

Bodammer (FN 28), S. 119; Johannes Lötz, Stichwort „Geisteswissenschaften" in:

Walter Brugger, Philosophisches Wörterbuch, 14. Aufl., Freiburg — Basel — Wien 1976, S. 127. 33 Mit der Negation (Mc^Erfahrungs Wissenschaften) umfaßt diese Dichotomie alle möglichen Wissenschaften. Es gibt aber andere Unterscheidungsmaßstäbe, um auch mit der Negation alle Wissenschaften erschöpfend zu umfassen, wie ζ. B. die aristotelische Unterscheidung zwischen „theoretischen" und „nicht theoretischen Wissenschaften" (vgl. Bodammer, FN 28, S. 184). Aber die bloße Negation vermag die Grenzlinie nicht zu klären, wenn die frühere Affirmation noch nicht genügend feststeht. 34 Selbstverständlich wäre dann unter der Bezeichnung „Menschenwissenschaften" alles zu verstehen, was mit dem Menschen als solchem zu tun hat und nicht nur die philosophische Anthropologie. Da aber auch der Mensch seine „Natur" hat, so müßte auch in diesem Fall der Begriff „Natur" weiter differenziert werden. Der „philosophische" oder „ontologische" Natur-Begùff darf nämlich mit dem „naturalistischen" Afatar-Begriff der sog. Naturwissenschaften nicht verwechselt werden. Hier zeigt sich übrigens die Armut und Unzulänglichkeit unserer Fachterminologie; denn zwei verschiedene Begriffe können nur mit ein und demselben Wort (Natur) ausgedrückt werden. Die damit entstandene Verwirrung dürfte ebenfalls bekannt sein.

§ 7 Natur- oder Geisteswissenschaft: ein Problem der Akzentsetzung?

37

des südwestdeutschen Neukantianismus, Ernst Cassirer , Vertreter der Marburger Schule, Gustav Radbruch (1878-1949) und viele andere Autoren auch den Ausdruck „Kulturwissenschaften" benutzt haben. 35 Der entscheidende Grund für die Beibehaltung der Bezeichnung „Geisteswissenschaften" ist aber dieser: Mit der Namensänderung würde auch das Spezifische der deutschen Dichotomie verloren gehen, wie später noch zu erklären sein wird. Indessen ist auch in Deutschland der Versuch einer Einteilung der Wissenschaften abgelehnt und die Gegenthese, nämlich die These von der „Einheitswissenschaft", vertreten worden mit der Begründung, daß es nur eine Wirklichkeit gebe (Moritz Schlick, Rudolf Carnap) und daß der Dualismus von Natur- und Geistes-

wissenschaften „letzten Endes Restbestand der Theologie" ist (Otto Neurath). 36 Dieser Monismus ist jedoch nicht uniform verstanden worden, und so sind neben den erwähntnen Auffassungen auch die „kritisch-rationalistische" Auffassung von Hans Albert 37 und nicht zuletzt die marxistisch-leninistische Wissenschaftskonzeption zu erwähnen. 38 Die letztere ist besonders interessant, weil in der Welt des Materialismus zwar die „Geschichte" noch bleibt, der Geist aber spurlos verschwindet. Was der wissenschaftliche Monismus mitgebracht hat, dürfte bekannt sein: den scientistischen

Wissenschaftsbegrijp

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und den totalen Objektivis-

mus. Totaler Objektivismus bedeutet hier Verabsolutierung des Objekts unter totaler Preisgabe des Subjekts, d. h. des Menschen. 3. Wenn ich recht sehe, ist in dem Begriff der „GeistesWissenschaften im engeren Sinne", wie von Bodammer verstanden, das Spezifische der deutschen Konzeption oder des Denkansatzes zu sehen. Bodammer unterscheidet zwischen „den sog. »GeistesWissenschaften 4 als der Gesamtheit aller Wissenschaften, die sich mit den von Menschen geschaffenen unterschiedlichen Phänomenen der geschichtlich-gesellschaftlichen Lebenswelt befassen, und den ,Geisteswissenschaften' in einem durch bestimmte Zielsetzungen vorgegebenen engeren Sinn". 4 0 Das sagt dem Leser sicher nicht viel, aber am Ende des Werkes wird deutlich gemacht, was mit den „bestimmten Zielsetzungen" gemeint ist. Bodammer w i l l 35

Bodammer (FN 28), S. 65 ff.; Zong Uk Tjong, Der Weg des rechtsphilosophischen

Relativismus bei Gustav Radbruch, Bonn 1967. 36 Bodammer (FN 28), S. 145 ff. Nebenbei gesagt, wurde auch in Japan (und zwar um 1970) die monistische Auffassung der Wissenschaft (kagaku-shugi, Scientismus) als die einzige wissenschaftliche Methode hoch geschätzt; sie ist aber besonders von dem Strafrechtler Shigemitsu Dando scharf kritisiert worden (so z. B. in seiner — auch veröffentlichten — Abschiedsvorlesung an der Tokyo-Universität). Heute aber scheint auch in Japan der „Glaube" an den Scientismus nicht mehr so stark zu sein wie damals. 3

7 Bodammer (FN 28), S. 151 ff. Bodammer, ebd., S. 161 ff.

38

39 Vgl. Arthur Kaufmann, Gedanken zu einer ontologischen Grundlegung der juristischen Hermeneutik, in: Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Norbert Horn in Verbindung mit Klaus Luig und Alfred Söllner, München 1982,

S. 537 ff.

40 Bodammer (FN 28), S. 10.

38

2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

sich nämlich dem „Ziel der menschlichen Selbsterkenntnis, Daseinsorientierung oder auch der persönlichen und kollektiven Identitätsbildung der geschichtlichgesellschaftlichen Wirklichkeit des Menschen in sowohl erfahrungswissenschaftlicher wie zugleich philosophisch-reflektierender Art zuwenden".41 Es geht also bei dieser Art Wissenschaften um „faktische" wie auch um „praktische Wahrheit" und ihre Bedeutung für die „Beförderung der Humanität". 42 Deshalb läßt sich sagen, daß hier—im Unterschied zu den Naturwissenschaften — das „ Erkenntnisinteresse" selbst ein Bestandteil der Wissenschaft ist 4 3 , was übrigens auch von dem japanischen „jinseiron" u gesagt werden kann — freilich mit dem wesentlichen Unterschied, daß das japanische jinseiron mehr subjektiv und ohne „wissenschaftliche" Ansprüche verstanden wird. Selbstverständlich ist nichts dagegen einzuwenden, daß damit die sog. Geisteswissenschaften im engeren Sinne nicht mehr bloße Wissenschaften (reines „Wissen") sind; denn die Wissenschaft als solche kann nicht verbieten, daß das reine Wissen zugleich für andere Zwecke (ζ. B. das Handeln oder, wie schon bei Aristoteles, das „gute Leben") benutzt wird. Das gilt in gleicher Weise für die Wissenschaften, die sich mit dem Recht beschäftigen. So dürfen auch „phronesis" (Klugheit) oder „prudentia" als Bestandteil der Jurisprudenz und ihrer Philosophie nicht ignoriert werden, auch wenn man den irreführenden Ausdruck „Rechtswissenschaft" weiter benutzen will. 4. Damit sind wir imstande, eine Antwort auf die letzte Frage nach der Brauchbarkeit dieser Dichotomie zu geben. Die Dichotomie kann auch hier nicht als ein adäquates Entweder-oder verstanden werden; denn auch der Mensch ist als Organismus ein Teil der Natur und der physischen Welt und nicht reiner Geist. Hier geht es vielmehr um eine Akzentsetzung. Der Akzent kann aber allgemein oder bei den konkreten Fragen falsch gesetzt werden. Das kommt besonders deutlich im Bereich der Rechtsphilosophie vor, die oft nicht als eine Philosophie des lebenden Rechts verstanden wird, sondern nur als ein System von Normen, die gleichsam automatisch gelten, oder die — genau umgekehrt — mit einer bloßen Beschreibung der physischen oder psychischen Kausalität das Phänomen Recht zu erklären sucht. Alles, was in unserer Wahrnehmung unterscheidungsfähig ist, kann auch begrifflich „getrennt" werden; denn die Begriffe als solche haben in unserem Kopf eine erstaunliche Bewegungsfähigkeit und leisten keinen Widerstand. Auch die Buchstaben einer Schreibmaschine lassen sich „bewegen", wie man will. Die 41 Bodammer, ebd., S. 232; vgl. auch S. 239. 42 Bodammer, ebd., S. 247, 248. 43 Auch die Naturwissenschaften werden nur von „Menschen" betrieben, und zwar nicht ohne Erkenntnisinteresse; das Interesse bleibt aber sozusagen außerhalb der Wissenschaft. 44 Dieser japanische Ausdruck kann, wie viele andere, nicht vollkommen in fremde Sprachen übersetzt werden. Annäherungsweise: Suche nach dem Sinn des Lebens.

§ 8 Rechtsdogmatik und Rechtssoziologie nach Pachmann

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Frage ist nur, ob das, was geschrieben worden ist, noch einen Bezug zur Wirklichkeit hat und kommunikationsfähig ist. Begriffsverwechslung bedeutet wissenschaftliche Unvernehmbarkeit, und so ist die begriffliche Unterscheidung immer geboten, wo sie möglich ist. Eigentlich ist die Erfahrung und nur die Erfahrung die Mutter der Entdeckung einer bisher übersehenen Unterscheidung. Aber man sollte nicht für immer trennen, was in der Welt der Wirklichkeit gar nicht endgültig getrennt werden kann: Norm von Wertung, Geltungsinhalt und Geltungsgrund, Sein und Sollen und nicht zuletzt Menschen und Recht. Ein gemäßigter, d. h. ein nicht trennender Methodendualismus im Bereich der Rechtsphilosophie ist berechtigt und entspricht auch der gemäßigten Differenzierung von Naturund Geisteswissenschaften; der reine Methodendualismus im Sinne von zwei getrennten Methoden übersieht die Komplexität des Rechts, des Menschen und der Welt überhaupt. Auch hier scheint die Tendenz der vollkommenen Trennung so gefährlich zu sein wie die der vollkommenen Identifizierung. Die erste Tendenz endet mit zwei geschlossenen „Einheiten", die zweite Tendenz mit einer einzigen „Einheit". Aber beide Tendenzen „vereinfachen" die uns noch nicht ganz bekannte Wirklichkeit. § 8 Rechtsdogmatik und Rechtssoziologie nach Pachmann: Geburtswehen einer neuen Wissenschaft Der im Jahre 1882 erstmals erschienene Vortrag von Semen V. Pachmann „Über die gegenwärtige Bewegung in der Rechtswissenschaft" 45 hat noch heute — wie Rehbinder behauptet — eine wichtige Bedeutung, die für uns vor allem darin besteht, konkret zu zeigen, welche Schwierigkeiten mit der Entstehung einer neuen Disziplin verbunden sind, auch wenn ihre Unabhängigkeit später vollkommen anerkannt worden ist. Pachmann soll anscheinend als erster die Bezeichnung Rechtssoziologie in die Literatur eingeführt haben 46 , auch wenn er sie meist „ soziale Theorie des Rechts" oder „ historisch-philosophische Richtung der Rechtswissenschaft" und auch „neue Wissenschaft", „neue Lehre", „neue

positivistische Disziplin" nennt. Staunenswert ist allerdings, daß schon in dieser Schrift ein „Plädoyer gegen die Monopolisierung der Rechtswissenschaft durch die Rechtssoziologie" zu finden ist 4 7 ; denn das Hauptanliegen des Autors ist 4 5 Semen Vikentévic Pachmann (1825-1910), in Odessa geboren, besuchte die Moskauer Universität und ist an den Universitäten Kazan, Charkow und St. Petersburg tätig gewesen. Die deutsche Übersetzung der genannten Schrift ist unter Mitwirkung des Autors im selben Jahr (1882) in Berlin erschienen. Den Neudruck (Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung, Bd. 62, Berlin 1986) mit überarbeiteter sprachlicher Fassung haben wir Manfred Rehbinder zu verdanken. 46 Der Ausdruck „Soziologie" ist schon bei August Comte im 5. Band seines Werkes „Cours de Philosophie positive" (1839) zu finden. 47 So lautet der Titel des letzten Abschnitts dieser Schrift. 92 Jahre später wurde die „Rechtssoziologie als usurpatorische Rechtstheorie" zum Problem gemacht. Vgl. Hans

40

2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

gerade, den Wissenschaftscharakter und die Unabhängigkeit der Rechtsdogmatik sicherzustellen und zu betonen. Für Pachmann ist der Hauptvertreter der „neuen Lehre" Rudolf von Jhering, der Autor des allbekannten Werkes „Geist des römischen Rechts" und der groß angelegten Untersuchung „Der Zweck im Recht" (daher vielleicht die Bezeichnung „historisch-philosophische Richtung"), auch wenn dabei zugegeben wird, daß für Jhering der Gedanke einer Vernichtung oder Negierung der selbständigen Bedeutung der Rechtsdogmatik vollständig fremd gewesen ist. Für Pachmann ist das eigentliche Problem, wie Rechtsdogmatik und Rechtssoziologie unterschieden werden können. Interessanterweise spricht Pachmann in diesem Zusammenhang von „Unterscheidung", nicht von „Trennung", und vergißt auch nicht, die „Berührungspunkte" dieser beiden Disziplinen zu erörtern. 48 Inhaltlich gesehen, bedient der genannte Autor sich einer alten Methode, die wieder eine gedankliche Dichotomie enthält und deren Elemente in der Scholastik die Namen obiectus materialis und obiectus formalis erhalten haben. Der materiale Gegenstand ist, was untersucht wird, der formale dagegen, wie und aus welchem Gesichtspunkt untersucht wird, d. h. was der Untersuchung die „Form" gibt. Freilich benutzt Pachmann die scholastische Terminologie nicht. Er sagt aber wiederholt, daß beide Disziplinen einen „gemeinsamen Forschungsgegenstand" haben oder daß der Gegenstand „der nämliche ist", d. h. das Recht. 49 „Das Recht selbst ist das Maß der menschlichen Freiheit im Sozialleben, darin besteht das Wesen des Rechts, seine innere Natur." 5 0 Aber da der Gesichtspunkt beider Disziplinen verschieden ist, so haben sie auch einen selbständigen und vollständig verschiedenen Inhalt. 51 Der Gegenstand ist also gleich, aber der Inhalt verschieden. Leider ändert Pachmann später seine Terminologie und behauptet, daß „die Klassifikation der einzelnen juristischen Wissenschaften nicht so sehr aufgrund der Verschiedenheit der Aufgaben der Wissenschaft als vielmehr nach der Verschiedenheit der Forschungsgegenstände erfolgt". 52 Hier wird somit — ganz im Gegenteil — behauptet, daß beide Disziplinen keinen gemeinsamen oder keinen gleichen Gegenstand haben, was dem Leser verwirrend erscheinen mag. Das ist aber nur eine terminologische Ungereimtheit, die überwunden werden kann, weil Pachmann ganz konkret auf die Unterscheidungsmerkmale beider Disziplinen eingeht, die in der Tat nur unter dem Gesichtpunkt ihrer formalen Gegenstände gewonnen werden können. Es handelt sich um folgende Merkmale: Die Rechtssoziologie „ w i l l die »Gesetze der rechtlichen Erscheinungen 1 überhaupt Ryjfel, Rechtssoziologie. Eine systematische Orientierung, Neuwied-Berlin 1974, S. 78114 (Emile Durkheim , Uppsala- Schule, Theodor Geiger, Niklas Luhmann).

48 S. 28 ff., 57 ff. 49 S. 21, 61, 71. 50 S. 30. 51 S. 50. 52 S. 60, Hervorhebung von mir.

§ 8 Rechtsdogmatik und Rechtssoziologie nach Pachmann

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klarlegen". 53 Wenn in der Rechtssoziologie von Zwecken die Rede ist, die das Recht verfolgt, so sind Zwecke „nur in ihrer Bedeutung als Ursachen oder Motive, welche die Rechtsgebilde hervorrufen, nicht aber im Sinne von zu erreichenden Zielen" 5 4 gemeint. Die Rechtssoziologie betrachtet die äußere, dem Leben zugewandte Seite des Rechts; die Rechtsdogmatik beschäftigt sich dagegen mit dem inneren Gebiet des Rechts.55 In der Rechtssoziologie wird das Recht objektiv betrachtet, d. h. unabhängig von seinem Zusammenhang mit einem bestimmten Subjekt (Beispiel: Erbrecht als Institut); in der Dogmatik dagegen subjektiv, d. h. in seinem Verhältnis zu einem bestimmten Subjekt (Erbrecht als einzelnes Rechtsverhältnis). 56 Rechtsdogmatik und Rechtssoziologie sind etwas wie Anatomie und Physiologie, Statik und Dynamik. 57 Da diese Schrift ein Plädoyer für die Rechtsdogmatik ist und in jener Zeit die Rechtssoziologie noch nicht vollständig geboren war, ist verständlich, daß weitere Merkmale angegeben werden, die nur der Rechtsdogmatik eigen sind. „Die Veränderlichkeit der Normen des positiven Rechts ist für ihn (den Rechtsdogmatiker) ganz gleichgültig." 58 „Es gibt viele Gesetzgebungen, die positiven Normen sind verschiedenartig und wandelbar, aber es gibt nur eine Wissenschaft (d. h. die Dogmatik)" 59 , die das Recht „nur in der logischen Konstruktion der Rechtsbegriffe" untersucht 60 und deren Gesetze die Regeln des juristischen Denkens sind. 61 Kurz: Die Rechtsdogmatik betrachtet das Recht „als Maß, als Schranke, als Größe", als „Mathematik" (Rechnen mit Begriffen). 62 Ihre Trockenheit wird nicht abstoßen, im Gegenteil: „Ihre strikten und bestimmten Prinzipien werden, auch ohne jede Bemischung sozialen oder politischen Charakters, auf ihn (den Juristen) eine gleiche Anziehungskraft ausüben wie die aus Zahlen gebildeten Formeln auf den Mathematiker". 63 Heute wäre weder ein Rechtsdogmatiker noch ein Rechtssoziologe mit einer solchen Charakterisierung zufrieden; daß ihr aber eine höchst problematische 53 S. 13. 54 S. 17. 55 S. 29, 50. An einer anderen Stelle weist Pachmann aber darauf hin, daß die Rechtssoziologen in ganz umgekehrter Weise denken: „So beschäftigen sich die Forscher auf dem Gebiete der »sozialen4 Theorie nach ihrer Ansicht mit der inneren (dem Leben zugewandten) Seite des Rechts, während die Juristen sich der äußeren (formalen) Seite desselben zuwenden" (S. 32). Damit stellt sich die Frage, welche Auffassung die richtige ist und nach welchen Maßstäben entschieden wird, was die innere Seite (inneres Gebiet) des Rechts und die äußere Seite (äußeres Gebiet) des Rechts ist. 56 S. 50, 51. 57 s. 14, 32, 50. 58 S. 47. 59 S. 47. 60 S. 55. 61 S. 44. 62 S. 31, 32. 63 S. 72.

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

Differenzierung und Dichotomisierung des Verhältnisses von Rechtsdogmatik und Rechtssoziologie zugrunde liegt, kann nicht geleugnet werden. Und bemerkenswert ist auch der von Pachmann schon klar proklamierte Methodendualismus (obwohl er diesen Ausdruck nicht benutzt): , Jede der beiden Wissenschaften behält ihre selbständige Aufgabe, und daher können die auf dem Felde der einen entstehenden Fragen nicht nach den Prinzipien der anderen entschieden werden. Wenngleich die Grundsätze beider Wissenschaften in ein und demselben System bei Darstellung verschiedener Fragen Platz finden können, so dürfen doch dieselben nur parallel — ohne innere wissenschaftliche Verschmelzung — dargestellt werden." 64 Besser kann der Methodendualismus nicht definiert werden. Hier schlägt die Unterscheidung in eine Trennung um, und die bleibende Frage ist, ob der reine Methodendualismus fruchtbar und überhaupt durchführbar ist. M i t dieser Frage werden wir uns wieder zu beschäftigen haben.

§ 9 Zweck und Funktion, Finalismus und Funktionalismus, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie — Versuch einer Differenzierung Seit Aristoteles und auch im Bereich der traditionellen Rechtsphilosophie ist der Zweckgedanke ein Grundbegriff gewesen, der eine entscheidende Rolle gespielt hat und bis auf den heutigen Tag spielt. Wollte man ζ. B. wissen, was Recht und Gesetz ist, so mußte zunächst klargemacht werden, was der „finis legis" ist. Wollte man wissen, was der Mensch ist, so mußte auch klargemacht werden, wozu der Mensch da ist. In der modernen Rechtstheorie wird dagegen nicht nur vom Zweck, sondern auch von der Funktion gesprochen. Damit stellt sich die Frage, inwieweit und warum das Funktionsdenken das Zweckdenken ersetzt hat. Um auf diese beiden Fragen eine Antwort geben zu können, müssen wir zunächst wissen, wie Zweck und Funktion sich unterscheiden und ob in dem Inhalt beider Begriffe notwendige Beziehungen zu entdecken sind. Folgendes Beispiel kann uns vielleicht dabei helfen. Nehmen wir an, daß Fritz Landwirtschaft betreibt und am Ufer eines Flusses ein großes Gemüsefeld besitzt. Leider ist es oft vorgekommen, daß er wegen starken Regens und wegen Überschwemmung des Flusses erheblichen Schaden erlitten hat. M i t dem Zweck, in der Zukunft solchen Schaden zu vermeiden, läßt er sich von einem Sachverständigen beraten, der ihm empfiehlt, eine feste Mauer zu errichten. Diese Mauer muß so und so hoch sein, wird ihn so und so viel kosten, ist aber ohne Zweifel zweckmäßig und wird auf die Dauer sehr nützlich sein. Die Mauer wird plangemäß errichtet, und es vergehen mehrere Jahre. Jetzt wird Fritz die Erfahrung zeigen, ob er Erfolg gehabt hat, d. h. ob diese Mauer 64 S. 62.

§ 9 Zweck und Funktion, Finalismus und Funktionalismus

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in Wirklichkeit die Funktion erfüllt, sein Gemüsefeld vor Überschwemmungen zu schützen. Es könnte nämlich sein, daß sie zu niedrig gebaut worden ist. Es kann aber auch vorkommen, daß die Mauer andere nicht bezweckte und nicht beabsichtigte, erwünschte oder unerwünschte Funktionen erfüllt, an die Fritz überhaupt nicht gedacht hatte: zum Beispiel Schutz gegen unbefugtes Betreten des Gemüsefeldes und gegen Diebstähle, aber auch Verhinderung des Einfalls der Sonnenstrahlen und, damit verbunden, Verminderung des jährlichen Ertrages. An solche Folgen oder Wirkungen hatte Fritz bei der Planung überhaupt nicht gedacht (das war sicher nicht sein Zweck). Es kann aber nicht geleugnet werden, daß die Mauer nunmehr auch solche Funktionen erfüllt; denn das ist eine Tatsache. Dieses einfache Beispiel kann uns helfen, die wichtigsten Merkmale von Zweck und Funktion und deren gegenseitige Beziehung zu verstehen. Sie sind folgende: 1. Streng genommen ist Zweck oder Zielsetzung (oder Aufgabe) immer nur Sache des Menschen, der mit seinem Verstand und Willen die Zukunft zu gestalten versucht. Die Funktion dagegen ist im weiteren Sinne immer Sache der Dinge selbst: Die von Menschen gebauten Maschinen sind Dinge, die „funktionieren" oder „nicht funktionieren"; auch in der organischen oder anorganischen Natur entdecken wir Elemente, die nach unserer Denkweise zwar eine „Funktion", aber mit unseren „Zwecken" nichts zu tun haben. 2. Die ZwecAbetrachtung ist der Funktion gegenüber zeitlich gesehen eine ex ùwte-Betrachtung ( finis est prius in mente), wenngleich zukunftsbezogen. Die Funktion ist der Zielsetzung gegenüber eine Sache ex post, die aber nur in der Gegenwart „funktioniert" oder etwas leistet. 3. Der Zweck als solcher ist immer gewollt, intendiert und als solcher Sache der menschlichen Absichtlichkeit. Nicht aber notwendigerweise die Funktion: Es gibt nämlich zweckrationale und nicht-zweckrationale, erwartete und unerwartete, erfreuliche und unerfreuliche Funktionen. 4. Folglich setzt der Zweck oder die Zielsetzung eine Wertung immer voraus. Die Funktion ist dagegen eine reine Wirklichkeit, eine Tatsache oder eine Leistung, die als solche völlig wertblind oder wertindifferent ist, auch wenn sie aus der Sicht des Zwecks „bewertet" werden kann. In diesem Sinne bedenkt eine sog. „Dysfunktionalität" nur die Feststellung einer Tatsache und nicht unmittelbar eine Wertung. 5. Die Empirie kann aufzeigen, ob eine Rechtsordnung Ordnung bringt; sie kann aber nicht — oder zumindest nicht in der gleichen Weise — zur Feststellung führen, ob diese Ordnung die intendierte gerechte Ordnung ist oder nicht. 6. Da der Zweck immer eine Wertung voraussetzt, kann er mit einem Sollen verbunden sein oder zu einem Sollen erhoben werden (z. B. Zweckmäßigkeit bei der Gesetzgebung). Die Funktion dagegen ist immer nur eine Semsfrage.

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

Wenn man rein funktionell denkt, kann ζ. B. nicht gesagt werden: „die Funktion, die dieses Gesetz erfüllen soll", sondern nur: „ . . . erfüllen wird". 7. Der Zweck kann etwas Einmaliges intendieren (ζ. B. Aufhebung dieser Störung), und auch etwas Fortdauerndes intendieren (so ζ. B. haben fast alle Gesetze einen solchen Zweck). Dagegen gehört es zum Wesen der Funktion, eine bestimmte Dauer und Kontinuität zu haben (ζ. B.: Winterreifen erfüllen ihre Funktion nicht nur einmalig). 8. Die inhaltliche Beziehung von Zweck und Funktion zum herkömmlichen (aristotelischen) philosophischen Denken ist deutlich: Zweck gehört zur causa finalis, Funktion dagegen zur causa efficiens — wobei letztere der „Kausalität" im modernen, d. h. naturwissenschaftlichen Sinne entspricht. Bleibt nur anzumerken, daß in der aristotelischen Denkweise auch die Finalität als Ursache (causa), d. h. kausal verstanden wird. Was die Terminologie im Bereich des Rechts angeht, mag der Ausdruck „Funktion" im Vergleich zu „ Z w e c k " modern sein; sein Inhalt aber — der Begriff — ist es nicht. So finden wir, daß ζ. B. Suarez — übrigens ganz kurz — von dem „finis legis" und — eingehend — von dem „effectus legis" spricht und beide Probleme getrennt behandelt.65 Was also die Scholastiker mit dem Ausdruck „effectus legis" behandelt haben, entspricht mutatis mutandis dem, was heute mit „Funktion des Gesetzes" verbunden wird. So weit zu den wichtigsten Unterscheidungsmerkmalen von Zweck und Funktion, die, wie wir gesehen haben, nicht kontradiktorische Begriffe sind und die ohne Berücksichtigung ihrer Beziehung zueinander nicht ganz zu verstehen sind. Aus dem Gesagten wird auch klar, daß in der Rechtssoziologie, die vor allem mit den sog. „Rechtstatsachen " zu tun hat, der Begriff der Funktion ein ebenso wichtiger Grundbegriff ist wie in der Rechtsphilosophie der Begriff des Zwecks. Warum wird aber heute in der modernen Rechtsphilosophie und der modernen Rechtstheorie wenig vom Zweck, dafür aber viel von Funktion gesprochen? Ein Grund dafür könnte der große Einfluß sein, den die Rechtssoziologie auf die Rechtsphilosophie und die Rechtstheorie gehabt hat. Bekanntlich und nicht ohne Grund ist die moderne Rechtssoziologie von Hans Ryffel als eine „usurpatorische Rechtstheorie" bezeichnet worden 66 ; so ist leicht zu verstehen, daß der 65 Schon Thomas von Aquin hat beide Probleme getrennt behandelt: Vgl. Summa Theol. I, II, que. 90, art. 2; qu. 92. Francisco Suàrez widmet in seinem Werk „De legibus et legislatore Deo" ein Kapitel der Frage des bonum commune oder finis legis (Lib. I, cap. 7) und nicht weniger als fünf Kapitel der Frage des effectus legis (Lib. I, cap. 13-17). Interessanterweise behauptet Suârez, daß die Erklärung des „finis legis" noch um die Erklärung des „effectus legis" zu ergänzen ist; denn „finis cum effectu coincidit" (Lib. I, cap. 13, η. 1). Er behauptet auch: „ . . . finis humanae reipublicae est vera félicitas politica, quae sine moribus honestis esse non potest; per leges autem civiles dirigitur in earn felicitatem" (Lib. I, cap. 13, n. 7). Die Moralisierung der Bürger ist also nur eine conditio sine qua non für die Erreichung des „finis legis civilis"; der „finis" ist aber die „vera félicitas politica".

§ 9 Zweck und Funktion, Finalismus und Funktionalismus

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naturwissenschaftlich-soziologische Funktionalismus auch die Domäne der Rechtsphilosophie und der Rechtstheorie usurpiert hat. Wissenssoziologisch gesehen kann das, wie mir scheint, nicht in Frage gestellt werden. Das ist aber noch nicht alles und auch nicht das Wichtigste. Wenn man nicht nur den Rechtsbegriff (wie in der neukantianischen Rechtsphilosophie), sondern vielmehr die geschichtliche Entwicklung des Rechts und des Rechtssystems berücksichtigt und eine Philosophie des „lebenden Rechts" betreiben will, so muß anerkannt werden, daß die funktionelle Rechtsbetrachtung heute wichtiger und unentbehrlicher als in früheren Zeiten ist. Daher kann sie nicht bloß als eine vorläufige Mode oder nur als Resultat einer unbefugten Einmischung der Rechtssoziologie in die Rechtsphilosophie abgetan werden. Die Funktion des Rechts ist eines der allerwichtigsten Probleme und muß von den Rechtsphilosophen ernstgenommen werden, ohne jedoch in den sog. „Funktionalismus " zu verfallen. Mit Funktionalismus ist dabei der Versuch gemeint, alles nur „funktionell" verstehen und erklären zu wollen. 67 Das muß aber etwas näher erklärt werden. In alten Zeiten war das Rechtssystem weniger institutionalisiert und mehr „menschenbezogen" als heute. Damals gab es kein „ Organ " der Gesetzgebung; Gesetzgeber war vielmehr ein Mensch (der princeps oder Fürst), der sich bemühen sollte, Gesetze zum Zweck der Verwirklichung des Gemeinwohls (bonum commune) zu erlassen. Die Staatsverfassung war nicht eine Demokratie, sondern eine Monarchie, und die Untertanen sollten einem Menschen, dem Monarchen, gehorchen, der allein und persönlich die höchste Gewalt innehatte und ausübte, und zwar nur deswegen, weil sein Vater auch Monarch gewesen war. Demgegenüber hat sich in unserer Zeit das Recht stark „verdinglicht", und die Staatsgewalt hat sich von bestimmten Personen unabhängig gemacht. Statt eines „Herrschers" haben wir heute den „Staatsapparat" mit allen seinen „Organen", die die Arbeit der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung machen. Die Bürger sind nicht mehr einem bestimmten Menschen, sondern nur und ausnahmslos dem Gesetz und dem Recht unterworfen, die beide als etwas ganz „Objektives" gelten und der Willkür der Menschen entzogen sind. Selbstverständlich kann auch unser Rechtssystem ohne Menschen nicht funktionieren; das Rechtssystem hat aber eine Selbständigkeit erlangt, die es früher nicht hatte. In der Welt des Rechts ist ein Phänomen zu beobachten, das auch in der Welt der Technik und in den von Menschen erdachten und gebauten Maschinen zu beobachten ist: Der Mensch hat immer leistungsfähigere Maschinen gebaut. Mit viel Zeit und nicht ohne 66 Hans Ryffel, Rechtssoziologie. Eine systematische Orientierung, Neuwied-Berlin 1974, S. 78 ff. 67 Auch wenn im funktionalistischen Denken der Zweck nicht geleugnet wird, hat doch die Funktion das letzte Wort: Primat der Funktion dem Zweck gegenüber. Auch im Zweckdenken kann die Funktion nicht geleugnet werden; der Zweck hat aber den Vorrang (so letzten Endes: Primat des Menschen dem funktionierenden System gegenüber). Beide Positionen setzen selbstverständlich eine unterschiedliche Weltanschauung voraus.

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

große Anstrengung hat er ζ. B. auch eine „Flug-Maschine" gebaut und kann nun ohne Mühe von Flugzeugen getragen werden, die heute sogar automatische Steuerungssysteme haben können. In diesem Sinne hat die moderne Technik mehr und mehr die Arbeit des Menschen übernommen und den Menschen fast verdrängt. Aber nur fast. Sie hat nicht solche Vollkommenheit erlangt, daß wir ganz sicher sein könnten, daß nichts passiert, wenn wir in den modernsten Flugzeugen fliegen. Noch immer ist die menschliche Überwachung notwendig, und wenn etwas „passiert", dann ist der Mensch oft hilflos und wird blitzschnell Opfer seiner eigenen, mit Mängeln behafteten Technik. Auch unser Rechtssystem hat sich so entwickelt, daß wir heute bequem von ihm „getragen" werden. Auch das ist ein Ergebnis der menschlichen Erfindungskraft und der Erfahrung und Bemühungen vieler Jahrhunderte. Das Rechtssystem scheint heute nahezu selbständig zu funktionieren und hat den einzelnen Menschen fast verdrängt. Aber nur fast. Auch in diesem Fall können wir nicht sicher sein, daß unsere „ legal machinery " — dieser Ausdruck konnte übrigens in alten Zeiten nicht gebraucht werden — immer reibungslos funktioniert und daß Menschen nicht zum Opfer werden. Deswegen ist auch hier die ständige Überwachung durch den Menschen ebenso notwendig wie in der Welt der naturwissenschaftlichen Technik. An dieser geschichtlichen Veränderung des Rechtssystems wird deutlich, wie unentbehrlich die Funktionsbetrachtung

auch für die Rechtsphilosophie

unserer

Zeit geworden ist. Um zu wissen, ob alles „richtig funktioniert", ob alles „funktioniert, wie es funktionieren soll", oder um zu wissen, ob unser Rechtssystem noch ein „Menschenrecht" und nicht schon ein „Maschinenrecht" ist, bedarf es des Wissens, wie das Rechtssystem de facto funktioniert und wie es entsprechend unserer Menschlichkeit und den Bedürfnissen der Gerechtigkeit funktionieren soll. Infolgedessen ist die Betrachtung der Funktion des Rechts im Bereich der Rechtsphilosophie nicht als eine vorübergehende Mode oder eine unzulässige Einmischung des soziologischen Funktionalismus anzusehen. Die nötige Funktionsbetrachtung darf aber nicht mit dem Funktionalismus verwechselt werden. Unsere Rechtsphilosophie muß alles das zur Kenntnis nehmen, was die Rechtssoziologie als Fachdisziplin an Rechtstatsachen erforscht und verdeutlicht hat. Dagegen kann und will die Funktionsbetrachtung des Rechts allein aber keine Informationen darüber geben, wie das Recht funktionieren soll, weil dann nämlich schon eine Wertung vorausgesetzt wird. Selbstverständlich übersieht die Rechtssoziologie nicht, daß die Menschen sich de facto nur durch eine Wertung entscheiden und entsprechend handeln, und so kann und muß sie auch von einem sog. „non-empirical referent" Kenntnis nehmen. Sie vermag uns aber als solche nicht zu sagen, welche Wertung die richtige oder gerechte ist. 6 8 Es gibt nicht nur eine 68 Wollte man rein rechtssoziologisch denken und „Rechtstheorie" und,»Rechtssoziologie" nicht unterscheiden, so kann folgendes mit Krawietz behauptet werden: „Die Wertungen selbst werden von der Rechtstheorie nicht aufgestellt, sondern als geltend

§ 9 Zweck und Funktion, Finalismus und Funktionalismus

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Rechtssoziologie, sondern auch eine Unrechtssoziologie. Recht und Unrecht, beide haben ihre Geschichte und ihre Soziologie (auch ihre Philosophie). Die Soziologie kann uns mittels eines „non-empirical referent " sogar sagen, was de facto als Recht und was als Unrecht betrachtet wird; sie ist aber nicht in der Lage zu erklären, warum das Unrecht nicht sein soll, das Recht verwirklicht werden soll. Das ist aber die entscheidende Frage. Das „dynamisch-funktionale kraft. 69 So wird proklamiert:

Denken " genießt heute eine große Anziehungs-

„Das dynamische Recht ist das funktionale Recht. Es stellt auf die Wirkung ab. Es formt seine Sätze und Begriffe nach den Funktionen, die sie zu erfüllen haben und nach den Wirkungen, die sich daraus ergeben. Man kann es in diesem Sinne Wirkungsrecht nennen."70 Das ist aber nur und nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit und Wiederholung davon, was hier in anderen Worten schon gesagt wurde: Funktion ist „causa ejficiens"; ohne Wirkung keine Funktion. Aber die fortdauernde Wirkung des von Menschen gesetzten Rechts ist Ergebnis einer Zielsetzung, die — auch wenn sie einmalig und schon vergessen sein mag — alles in Bewegung gebracht hat. In folgendem ist Werner Krawietz

völlig beizupflichten:

„Die Rechtstheorie kann es sich heute nicht mehr erlauben, die allgemeinen Beziehungen zwischen dem positiven Recht und der sozialen Wirklichkeit zu vernachlässigen und als metajuristisch zu ignorieren. Mehr als anderswo ist hier allerdings eine enge Kooperation mit den ErfahrungsWissenschaften vonnöten."71 Es darf aber auch nicht vergessen werden, daß die Rechtsphilosophie wie auch die Rechtstheorie (wenn sie nicht bloße Theorie der Dogmatik oder nicht bloße Rechtssoziologie sein soll) sich nicht auf die Feststellung der sozialen Wirklichkeit beschränken kann; denn dann könnte sie nur wiederholen, wie das Recht funktioniert. Es ist nicht zu leugnen, daß die hier befürwortete Notwendigkeit der menschlichen Überwachung (Primat des Zwecks der Funktion gegenüber!) für die Vertreter der modernen Systemtheorie keine Überzeugungskraft haben kann. Denn nach dieser Auffassung geht es gerade um ein autopoietisches Rechtssystem, das selbst lernen und sich auch korrigieren kann. Das System legitimiert sich auch selbständig und braucht keinen deus ex machina , um weiter zu funktionieren. Ich will hier nicht zur Debatte stellen, ob die Systemtheorie die Leistungsfähigkeit besitzt, um alles erklären zu können. Die Frage bleibt aber, ob der Mensch oder ob das Rechtssystem das letzte Wort hat: Es geht darum, ob die Gerechtigkeit vorausgesetzt" (Werner S. 120). 69 Vgl. Krawietz,

Krawietz,

Das positive Recht und seine Funktion, Berlin 1967,

ebd., S. 39 ff.

70 F ehr, Fortschritte, S. 31 f. Zitat nach Krawietz 71 Krawietz

(FN 68), S. 120.

(FN 68), S. 44.

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

nur funktionell als „adäquate Komplexität des Rechtssystems" verstanden werden kann oder ob sie als solche erst und nur leistungsfähig ist, wenn sie vielmehr als Zielsetzung oder Aufgabe verstanden wird in bezug auf etwas, das noch nicht verwirklicht und folglich noch nicht funktionsfähig ist. Ob Funktion oder Zweck, ob das entscheidungsfähige System oder der entscheidungsfähige Mensch den Vorzug erhält, kann letzten Endes weder die Funktionsbetrachtung noch die Zweckbetrachtung, sondern nur eine weltanschauliche Bewertung entscheiden. Eine klare und durchdachte Unterscheidung von Zweck und Funktion kann aber helfen, diese Entscheidung zu treffen und einige noch nicht geklärte Probleme besser zu verstehen. M i t Blick darauf sei noch ein Beispiel aus dem Gebiet des Strafrechts gegeben. Bekanntlich hat Hans Welzel die Auffassung vertreten, daß die primäre

Aufga-

be (also der Zweck) des Strafrechts nicht der aktuelle Rechtsgüterschutz (Schutz der Person, ihres Eigentums usw.) sei; denn dazu komme das Strafrecht regelmäßig zu spät. Die „tiefste Aufgabe" (also: Zweck) des Strafrechts ist vielmehr — für Welzel — positiv-sozialethischer Natur, nämlich die Verstärkung der rechtstreuen Gesinnung. 72 Diese Auffassung ist nicht ohne Grund auf Widerstand gestoßen; denn hier wird zweifellos ein moralisierendes und Gesinnungsstrafrecht vertreten, das heute schwer anzuerkennen ist. Es muß leider gesagt werden, daß Welzel in diesem Abschnitt den Zweck- und Funktionsbegriff vollkommen identifiziert und konfundiert und nur aus dieser Konfusion heraus eine solche Behauptung aufstellen kann. Daß er Zweck und Funktion des Strafrechts überhaupt nicht unterscheidet und sie ad modum unius behandelt, ist klar zu sehen, denn während er nicht weniger als sechsmal den Ausdruck „Aufgabe" (also: Zweck) des Strafrechts benutzt, lautet der Titel des hier in Frage stehenden Abschnitts dagegen: „Die sozialethische Funktion des Strafrechts" (Hervorhebung von Llompart). Wenn aber beide Begriffe sich unterscheiden, kann es, wie mir scheint, nicht geleugnet werden, daß auch dann, wenn der Zweck oder die primäre (tiefste) Aufgabe des Strafrechts nicht ethischer Natur, d. h. nicht die Moralisierung der Bürger ist, das Strafrecht dennoch de facto eine sozialethische Funktion besitzt, weil es tatsächlich auch auf die „ethische Gesinnung" der Bürger Einfluß hat. Das folgt notwendigerweise aus dem Inhalt des Strafrechts selbst, der als solcher auch ethischer Natur ist und dessen ethische Elemente mit der Positivierung ja nicht verloren gehen. 73 Das ist aber etwas anderes als die Behauptung, daß der Gesetzgeber primär und vor allem die Moralisierung der Bürger bezweckt. Es spricht nämlich nichts dagegen, daß der Gesetzgeber aus präventiven Motiven tätig wird; dann hat das Strafrecht als primäre Aufgabe de facto den Rechtsgüterschutz und 72 Hans Welzel, Das deutsche Strafrecht. Eine systematische Darstellung, 10. Aufl., Berlin 1967, Einleitung: Das Strafrecht, § 1. 73 So hört beispielsweise ein Wirtschaftsgesetz mit der Positivierung nicht auf, wirtschaftlichen Charakter zu haben.

§10 Naturrechtslehre — Rechtspositivismus

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übt trotzdem auch eine ethische Funktion aus. Eine Funktion als solche braucht nämlich nicht unbedingt „gewollt" zu sein.

§ 10 Naturrechtslehre — Rechtspositivismus: eine überwundene Dichotomie? 1. Suche nach etwas Neuem: der „dritte

Weg "

Bis zum zweiten Weltkrieg ist der Rechtspositivismus die herrschende — wenn auch nicht die einzige — Theorie im Bereich der Rechtsphilosophie gewesen. Der zweite Weltkrieg brachte eine große Umwälzung. Auch das rechtsphilosophische Panorama veränderte sich völlig, indem die Naturrechtslehre in der Welt der Rechtsphilosophie — wenn auch nicht ohne Opposition — die Herrschaft übernahm. Nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten und den ibero-amerikanischen Ländern und — mit etwas Verspätung — auch in Japan wurde der Sieg der Naturrechtslehre mit Begeisterung gefeiert. Es wurde sogar behauptet, daß alle Übeltaten der Vergangenheit Ergebnis des Rechtspositivismus gewesen seien, der in Deutschland, der Ursache der Katastrophe, durch die Slogans „Gesetz ist Gesetz" und „Befehl ist Befehl" Form angenommen hatte. Das Ewige und Unveränderliche wurde wieder auf den Thron gehoben, und so wurde, um nur einige Beispiele zu erwähnen, das Werk von Heinrich Rommen, „Die ewige Wiederkehr des Naturrechts", dessen erste Auflage vor dem Krieg unbeachtet geblieben war, ein Bestseller, der in vielen Sprachen, auch ins Japanische74, übersetzt wurde. Um die Nachfrage zu befriedigen, wurde in den USA das „Natural Law Forum" und in Japan das „Annual of Natural Law Study" herausgegeben. Kotaro Tanaka, der in Japan vor dem Krieg vergeblich die Naturrechtslehre befürwortet hatte, wurde jetzt als die höchste Autorität der Jurisprudenz angesehen. Im Laufe der Zeit wurde der Rechtspositivismus zwar nicht rehabilitert, aber die naturrechtliche Euphorie begann sich zu legen. Der 1974 verstorbene Professor Tanaka wurde weiter hoch verehrt, aber wenige sind seinen Weg gegangen. Im selben Jahr ist der siebente, gleichzeitig aber auch letzte Band des japanischen „Annual of Natural Law" erschienen. In den USA ist die angesehene Zeitschrift „Natural Law Forum" zwar am Leben geblieben, änderte aber ihren Namen in: „The American Journal of Jurisprudence". In Deutschland veröffentlichte Hans Welzel, der vor dem Krieg die Inkongruenzen des Rechtspositivismus scharf kritisiert hatte, im Jahre 1951 sein bekanntes Werk „Naturrecht und materiale Gerechtigkeit", das eine scharfe Kritik der damaligen naturrechtlichen Euphorie 74 Die 1971 in Japan erschienene Übersetzung von Seiichi Anan trägt den Titel „Shizenho no rekishi to riron" (Geschichte und Theorie des Naturrechts) und enthält auch die in der englichen Übersetzung (1949) hinzugefügten Anmerkungen. 4 Llompart

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

enthielt und rasch ein vielbeachteter Bestseller der rechtsphilosophischen Literatur wurde. 75 Meines Erachtens war Welzel kein Gegner der Naturrechtstheorie und hat auch nach dem Krieg seine kritische Position gegenüber dem Rechtspositivismus in keiner Weise geändert. In seiner ideengeschichtlichen Untersuchung machte er lediglich klar, daß das sog. Naturrecht trotz seiner viel betonten Unveränderlichkeit und Allgemeingültigkeit de facto ganz verschiedene Formen angenommen hat, die nicht auf einmal und für immer die Lösung aller sozialrechtlichen Probleme bieten können. Seitdem ist der Rechtspositivismus unverändert in Verruf geblieben. Auf der anderen Seite konnte die Naturrechtslehre einfach nicht geben, was von ihr erwartet wurde: die Lösung aller unserer Probleme durch bloße Anwendung einiger unveränderlicher und allgemeingültiger Prinzipien! Folglich mußte Enttäuschung die naturrechtliche Euphorie ersetzen. Der Verlust des Ansehens der Naturrechtslehre ist nicht ihren Gegnern, den Rechtspositivisten, zuzuschreiben, deren Stimme in jener Zeit kaum zu hören war. Er geht vielmehr auf die große Zahl von Naturrechtlern zurück, die mit gutem Willen, aber in naiver Weise die Niederlage des Rechtspositivismus ausnutzten und den Sieg der Naturrechtslehre proklamierten, ohne jedoch diese Lehre weiter zu verarbeiten und sie für die neuen Bedürfnisse fruchtbar zu machen. Ich kann nicht umhin zu glauben, daß es evidente, ewige, unveränderliche und überall geltende Axiome gibt. Ich glaube aber auch, daß die Probleme, die zu lösen sind, je nach Zeiten und Ländern verschieden sind. Was uns nottut, ist deshalb, nicht zu wiederholen, was evident ist, sondern eine Naturrechtstheorie im juristischen Sinne zu erarbeiten, die — ohne in den geschichtlichen Relativismus zu verfallen — die Geschichtlichkeit nicht als einen Fremdkörper ansieht. Gerade das aber hat in jener Zeit gefehlt. 76 Es darf daher nicht wundernehmen, daß die Enttäuschung gegenüber der Naturrechtslehre allgemein geworden ist. Wie dem auch sei, so ist die Naturrechtslehre heute nicht mehr die herrschende Theorie unserer Zeit. Heute herrscht der theoretische Pluralismus. Wir sind erwachsene Denker und brauchen nicht mehr in einer führenden Partei mitzuarbeiten. Die Möglichkeiten einer Stellungnahme haben sich erstaunlich vermehrt, und jeder ist frei, auf dem Markt der Theorien zu wählen, was er will. Ohne diese Möglichkeiten erschöpfen zu wollen, seien hier nur die folgenden erwähnt: 75 Weitere Auflagen: 1955, 1960 und 1970. Eine Übersetzung des Werkes ins Japanische ist zwar in Angriff genommen worden, aber nicht zur Veröffentlichung gekommen. Allerdings hat Heikichi Ohno eine japanische Version des 5. Teils vorgelegt, die in der Zeitschrift der juristischen Fakultät der Kumamoto-Universität erschienen ist. Kritisch dazu: José Llompart, Die Geschichtlichkeit in der Begründung des Rechts im Deutschland der Gegenwart, Frankfurt am Main 1968, S. 39-50. (Dieses Werk ist übrigens meine der Bonner Universität vorgelegte Doktorarbeit gewesen, deren Korreferent Welzel war und die ganz unverändert veröffentlicht worden ist.) 76 Das ist so gewesen, auch wenn in jener Zeit die Notwendigkeit eines neuen Denkansatzes empfunden wurde, nämlich eines „nicht mehr abstrakten, sondern konkreten, nicht mehr zeitlos gültigen, sondern geschichtlich werdenden Naturrechts" (Werner Maihof er (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, Darmstadt 1962, Einleitung, S. X).

§ 10 Naturrechtslehre — Rechtspositivismus

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a) Der Rechtspositivismus ist Sache der Vergangenheit und falsch; er ist also tot. b) Die Naturrechtslehre ist Sache der Vergangenheit und falsch; sie ist also tot. c) Der Rechtspositivismus ist noch lebendig, aber falsch. d) Die Naturrechtslehre ist noch lebendig, aber falsch. e) Der Rechtspositivismus ist nach wie vor die einzig richtige Theorie. f) Die Naturrechtslehre ist nach wie vor die einzig richtige Theorie. g) Beide Theorien sind sich so nahe gekommen, daß sie nicht mehr unterschieden werden können (Fusionstheorie). h) Die Alternative „Naturrechtslehre oder Rechtspositivismus" hat sich als falsch erwiesen und ist als solche Sache der Vergangenheit. Man muß sich von dieser Vergangenheit freimachen und einen dritten Weg jenseits von Rechtspositivismus und Naturrechtslehre gehen. Trotz des Pluralismus scheint die letzte Position, die einen dritten Weg befürwortet, eine große Popularität zu genießen und die Mehrzahl der Anhänger zu haben. Nicht ohne Grund: Diese Position kann nämlich sowohl die Gegner der Naturrechtslehre [b), d)] als auch diejenigen des Rechtspositivismus [a), c)] befriedigen; sie steht nicht im Widerspruch mit der „Fusions-Theorie" [g); wenn die feindlichen Brüder sich versöhnt haben, warum sollen wir noch weiter darüber diskutieren!], und vor allem und ganz besonders hat diese Theorie den Vorteil, etwas Neues zu versprechen. Die Neuheit ist groß; denn es geht nicht nur um die Entdeckung eines neuen Kontinents, sondern vielmehr um die Entdeckung des einzigen Kontinents, auf dem die Rechtsphilosophie noch weiterleben kann. Es mag merkwürdig sein, daß alle unsere rechtsphilosophischen Vorfahren bisher auf dem Holzweg gewesen sind. Jetzt — in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts — werden wir aber nunmehr die Freude haben, als erste dieses neue Land zu betreten. Die Entdeckung kann aber auch eine große politische Bedeutung haben; denn auch die Vertreter der marxistischen Rechts- und Staatstheorie sind sich darin einig, daß die Alternative Naturrechtslehre — Rechtspositivismus nur ein Scheinproblem der Vergangenheit ist. 2. Wo ist der „dritte

Weg " zu finden?

Es darf nicht übersehen werden, daß es den zahlreichen Entdeckern oder Befürwortern eines dritten Weges — wir werden nur einige erwähnen — noch nicht gelungen ist, dem entdeckten Kontinent einen eigenen oder konkreteren Namen zu geben. Die bisher gepflegten Bäume der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus sollen von nun an Phantastereien der Vergangenheit sein; wie der Baum des rechtsphilosophischen Lebens heißt, wissen wir noch nicht. Mit Klarheit wird lediglich behauptet, daß Naturrechtslehre wie Rechtspositivismus tot sind. 4*

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

So hat zum Beispiel Werner Krawietz, der sicherlich kein Positivist ist, im Jahre 1979 erklärt: „Das klassische Naturrecht ist t o t . . . Auch ist heute deutlicher als bisher, daß die vermeintliche Alternative zwischen Naturrecht oder Rechtspositivismus trügerisch gewesen ist". 7 7 Dies ist weder die erste noch die letzte Todeserklärung der Naturrechtslehre. Man sollte aber vielleicht, falls diese Meinung zuträfe, die Toten endlich in Ruhe lassen. Im selben Jahr (1979) veröffentlichte Ota Weinberger den Aufsatz , Jenseits von Positivismus und Naturrecht", dessen Titel die Position des Verfassers klar zum Ausdruck bringt. 78 Es ist jedoch verblüffend, daß Weinberger zur Bezeichnung des von ihm gewählten Weges keinen besseren Namen als „institutionalistischen Rechtspositivismus" findet. Das bedeutet, daß der Rechtspositivismus sogar ohne Änderung seines Namens weiter lebt und eben nicht tot ist. Selbstverständlich ist der erwähnte Pluralismus nicht von allen Rechtstheoretikern anerkannt worden. „Die marxistisch-leninistische Rechtstheorie" — sagt Hermann Klenner — „ist aber keine Spielart unter Spielarten; sie spielt das Spiel eines dialogischen Pluralismus nicht mit". „Der Gegensatz zwischen den verschiedenen Richtungen innerhalb der bürgerlichen Rechtsphilosophie mag zuweilen als absolut erscheinen, im Wesen ist er immer relativ. Der Gegensatz zwischen der marxistischen und der bürgerlichen Rechtsphilosophie mag manchmal als relativ erscheinen, im Wesen ist er immer absolut!" 79 Hier wird also für einen anderen dritten Weg plädiert, der schon längst einen eigenen Namen erhalten hat, und zugleich wird die Alternative „Naturrechtslehre — Rechtspositivismus" durch die Alternative „marxistische — bürgerliche" Rechtsphilosophie ersetzt. Trotzdem darf nicht übersehen werden, daß, worauf unter anderen Georg Brunner aufmerksam gemacht hat, diese Theorie sowohl naturrechtliche als auch positivistische Wurzeln hat. 8 0 Der ökonomische Faktor übernimmt nämlich die Rolle des Naturrechts und der voluntaristische Faktor, der Wille des Proletariats, die des Rechtspositivismus. Von einem vollkommen anderen Denkansatz aus ist auch Arthur Kaufmann ein Verfechter des dritten Weges. Interessant in dieser Hinsicht ist der Aufsatz „Durch Naturrecht und Rechtspositivismus zur juristischen Hermeneutik" 81 , in

77 Werner Krawietz, Die Ausdifferenzierung religiös-ethischer, politischer und rechtlicher Grundwerte, in: Begründung des Rechts, II. Juristen-Theologen-Gespräch in Hofgeismar, hrsg. von Konrad von Bonin, Göttingen 1979, S. 57. 78 Ο ta Weinberger, Jenseits von Positivismus und Naturrecht, in: ARSP, Supplementa, Vol. 1, Part 1, Contemporary Conceptions of Law, Berlin 1979, S. 43-56. 79 Hermann Klenner, Rechtsphilosophie in der Krise, Berlin 1976, S. 20 (vgl. auch S. 105 und 113 ff.). so Georg Brunner, Naturrecht und Sowjetideologie, in: Anales de la Câtedra Francisco Suârez, Granada, Nr. 11, fasciculo 1°, 1971, S. 47-68. 8i Arthur Kaufmann, Durch Naturrecht und Rechtspositivismus zur juristischen Hermeneutik, in: Juristenzeitung 11/12 (1975), S. 337-341 (erste Veröffentlichung schon 1973 in: Rivista internazionale di Filosofia del Dirritto, Anno L, fase. 4, S. 712-722).

§ 10 Naturrechtslehre — Rechtspositivismus

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dem gerade der konkrete Name desjenigen Weges angegeben wird, dem zu folgen sein soll: die juristische Hermeneutik. Dieser Aufsatz ist wirklich in der Euphorie der Entdeckung eines neuen Weges geschrieben worden und enthält wertvolle Gedanken. Dennoch legt Kaufmann einige Jahre später, als er im Jahre 1984 auf das zentrale Problem der Gerechtigkeit zu sprechen kommt, folgendes Geständnis ab: „An dieser Stelle zeigt sich, daß die Hermeneutik allein nicht ausreichen kann, um eine materiale Theorie der Gerechtigkeit zu entfalten. Die Hermeneutik benennt ja nur die transzendentalen Bedingungen für das Verstehen von sprachlichem Sinn, mehr aber nicht". 82 Wenn das so ist — und dieser Meinung bin ich auch —, so kann die juristische Hermeneutik nicht der gesuchte dritte Weg sein. Kaufmann hat übrigens die Meinung vertreten, daß Gustav Radbruch und sogar Anselm von Feuerbach schon zu ihrer Zeit eine Position jenseits von Rechtspositivismus und Naturrecht eingenommen hatten. Es kann aber nicht gesagt werden — und wird auch von Kaufmann nicht behauptet —, daß der von Radbruch und Feuerbach gewählte Weg gerade die juristische Hermeneutik gewesen ist. Was Feuerbach angeht, sucht Kaufmann seine These mit dem überzeugenden Hinweis darauf zu erhärten, daß in der Lehre des Begründers der modernen Strafrechtswissenschaft positivistische und naturrechtliche Elemente abwechselnd auftreten. Damit hält Kaufmann seine These für bewiesen: „Der Standort Feuerbachs liegt jenseits der Alternative Naturrecht — Positivismus". 8 3 Dazu ist aber zu sagen, daß der gesuchte dritte Weg ein neuer Weg sein soll und daher als solcher nicht bloß eine Mischung von Rechtspositivismus und Naturrecht sein kann. Es mag sein, wie Kaufmann am Ende seiner Untersuchung sagt, daß Feuerbach mit seiner Wendung zu einem „empirischen Naturrecht" viel moderner gewesen ist, als man das lange Zeit angenommen hat. Aber auch „empirisches Naturrecht" liegt nicht jenseits von Naturrecht und Rechtspositivismus, sondern ist eine Mischung von beiden. Damit befinden wir uns wieder am Anfang unserer Suche nach einem dritten Weg. Fassen wir zusammen: Die allgemeine Tendenz unserer Zeit scheint zu sein, sich weder zum Rechtspositivismus noch zur Naturrechtslehre zu bekennen, zumindest nicht unter Benutzung dieser Namen. Besser ist es, für einen dritten Weg zu plädieren. Wenn wir aber fragen, wo dieser Weg zu finden ist, ist eine klare Antwort nicht zu finden. Wir haben sicher nicht alle denkbaren Vorschläge eines dritten Weges untersucht. Folglich bleibt noch die Möglichkeit bestehen, 82 Arthur Kaufmann, Theorie der Gerechtigkeit. Problemgeschichtliche Betrachtungen, Frankfurt am Main 1984, S. 36. 83 Arthur Kaufmann, Paul Johann Anselm v. Feuerbach. Jurist des Kritizismus, in: Land und Reich. Stamm und Nation, hrsg. von Andreas Kraus, München 1984, S. 188.

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

daß es doch noch einen solchen Weg gibt, auch wenn ihn bisher noch niemand gefunden hat. Im nächsten Abschnitt werden wir aber noch einen Schritt weiter gehen, indem ich schon eine solche Möglichkeit verneine und dies zu beweisen versuche. 3. Theoretische

Unmöglichkeit

eines „dritten

Weges "

Ich gehe davon aus, daß der Markt der rechtsphilosophischen Theorien ein freier Markt ist, auf dem ein jeder wählt, was ihm am besten scheint. Ich gebe auch zu, daß ein jeder frei ist, die Naturrechtslehre oder den Rechtspositivismus so zu verstehen, wie es ihm am besten scheint. Unter der Voraussetzung dieser akademischen Freiheit werde ich hier nicht versuchen zu beweisen, welche von beiden Theorien die richtige ist, sondern nur zeigen, daß es theoretisch

gesehen

durchaus möglich ist, einen dritten Weg auszuschließen und damit die herkömmliche Alternative

Naturrechtslehre

— Rechtspositivismus

weiter bestehen bleibt.

Daß sie de facto weiter bestehen bleiben wird, das wird auch die Zukunft zeigen. Wie immer hat die Logik einer Beweisführung bestimmte Voraussetzungen, die nicht in Frage gestellt werden. Sie werden anerkannt oder nicht anerkannt, und die Logik der Beweisführung fängt erst an, wenn die Prämissen anerkannt sind. Die wichtigste und zugleich einzige Voraussetzung unserer Beweisführung ist in der Antwort auf die Frage zu erblicken, wie das Grundaxiom der Naturrechtslehre oder des Rechtspositivismus zu verstehen ist. Damit entscheidet sich bereits, ob nach den Regeln der Logik eine dritte Möglichkeit bleibt oder nicht. Man kann nach den Regeln der Logik nicht beweisen, wie die beiden Grundpositionen eigentlich zu verstehen sind. Ich behaupte also nur, daß ein dritter Weg ausgeschlossen ist, wenn mein Ausgangspunkt anerkannt wird. Die Richtigkeit unseres Ausgangspunkts d. h. wie die Naturrechtslehre und der Rechtspositivismus zu verstehen sind, steht nämlich jenseits der Logik und ist folglich allein dem freien Ermessen jedes Denkers überlassen. Bekanntlich können zwei Sätze, die nur konträr sind (das ist grün; das ist blau), zugleich falsch sein, und damit ist eine dritte Möglichkeit gegeben (das ist rot; das ist farblos usw.). Wenn aber zwei Sätze kontradiktorisch sind (das ist grün; das ist nicht grün), muß notwendigerweise unter Ausschluß einer weiteren Möglichkeit einer richtig und der andere falsch sein (entweder es ist grün oder es ist nicht grün). Nun ist es eine Tatsache, daß die Naturrechtslehre und der Rechtspositivismus nicht immer als kontradiktorische, sondern nur als konträre Grundpositionen verstanden worden sind. Damit bleibt — logisch gesehen — eine dritte Möglichkeit (der dritte Weg). Uns scheint es aber zweckmäßiger zu sein, diese zwei Grundpositionen als kontradiktorisch (und nicht einfach als konträr!) zu verstehen in folgendem Sinne: Das Grundaxiom, das allen Naturrechtslehren bewußt oder unbewußt, aber eben immer zugrunde liegt, kann mit folgenden Worten ausgedrückt werden:

§10 Naturrechtslehre — Rechtspositivismus

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„Nicht alles positive Recht ist bedingungslos geltendes Recht". Wer dieser Behauptung (A) zustimmt, kann als Naturrechtsanhänger, wer ihr widerspricht (nicht A), als Rechtspositivist betrachtet werden. Man kann umgekehrt vom Grundaxiom des Rechtspositivismus ausgehen, das am besten Bergohm formuliert hat: „Das niederträchtigste Gesetz muß als verbindlich anerkannt werden, sofern es nur formell korrekt erzeugt ist." Wer dieser Behauptung (B) zustimmt, kann als Rechtspositivist, wer ihr widerspricht (nicht B), als Naturrechtsanhänger betrachtet werden. Wenn man die Naturrechtslehre oder den Rechtspositivismus in dieser Weise nicht konträr,

sondern kontradiktorisch

( A — nicht Α ; Β — nicht B ) definiert,

so haben wir eine Unterscheidung, die logisch adäquat ist. Da auch das, was die Naturrechtslehre behauptet, sich mit dem, was der Rechtspositivismus verneint, deckt (A = nicht B), so ist damit auch die Möglichkeit eines dritten Weges ausgeschlossen. Das ist alles, was wir hier beweisen wollten. Es ist zuzugeben, daß nicht alle Autoren, die von einem dritten Weg sprechen, das Grundaxiom der Naturrechtslehre oder des Rechtspositivismus in derselben Weise verstehen oder präzisieren. Damit ist, logisch gesehen, Platz für eine dritte Möglichkeit. Um es nochmal zu wiederholen: alles hängt davon ab, wie die Grundaxiome beider Theorien verstanden werden. So wollte ζ. B. nach Auffassung von Karl Larenz „Stammler mit seiner Lehre vom »richtigen Recht4 einen dritten Weg gehen zwischen dem Gedanken eines aus sich selbst gültigen, von Raum und Zeit unabhängigen ,Naturrechts 4 auf der einen Seite und dem zu seiner Zeit vorherrschenden juristischen und rechtsphilosophischen »Positivismus' auf der anderen Seite". 84 Da hier aber dem Rechtspositivismus nur ein ungeschichtliches Naturrecht entgegengesetzt wird, so bleibt noch die Möglichkeit einer Naturrechtslehre, die die Geschichtlichkeit durchaus berücksichtigt und sie nicht als systemfremd ansieht. Diese Position kann nur dann als ein dritter Weg bezeichnet werden, wenn man glaubt, daß die Ungeschicklichkeit zum Grundaxiom der juristischen Naturrechtslehre gehört, nicht aber, wenn anerkannt wird, daß die Berücksichtigung der Geschichtlichkeit mit diesem Grundaxiom nicht im Widerspruch steht. Da aber gerade die Anerkennung oder Ablehnung solcher Grundaxiome im Grunde genommen eine Frage des Denkansatzes und nicht der Logik ist, dürfte ein consensus über diese Problematik nicht zu erwarten sein. Deswegen ist zu vermuten, daß die dichotomische Alternative Naturrechtslehre — Rechtspositivismus auch in Zukunft weiter auf dem freien Markt der rechtsphilosophischen Theorien gehandelt wird. Aber auch die Suche nach einem dritten Weg wird nicht enden.

84

14.

Karl Larenz, Richtiges Recht. Grundzüge einer Rechtsethik, München 1979, S. 13,

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

§ 11 Methode und ihre Dichotomisierung: Methodendualismus Das anscheinend seit dem 17. Jahrhundert in der deutschen Sprache gebräuchliche Wort Methode ist eine gelehrte Entleihung aus dem griechischen Méthodus, ein Wort, das als solches „der Weg zu etwas hin" bedeutet. Der Sache nach ist aber die Methode so alt wie die Philosophie selbst. Sie wird als ein geregeltes Verfahren (also: nicht als ein zufälliges Vorgehen) im Verfolgen eines bestimmten Zieles (ζ. B.: Unterricht, Forschung, Suchen der Wahrheit usw.) verstanden. Sie ist als solche nur ein Mittel, das in der Wissenschaft und Theorie zum Zweck hat, etwas zu klären, auch wenn sie im Laufe der Zeit und wegen ihrer Wichtigkeit zum Gegenstand einer selbständigen Wissenschaft erhoben worden ist (Methodologie).

Da sowohl das Ziel als auch das Verfahren selbst ganz verschieden sein können, gibt es auch ganz verschiedene Arten von Methoden. Ich werde hier aber nur den sog. Methodendualismus betrachten, der im Bereich der Rechtsphilosophie zunächst von Heinrich Richert (1863-1936) und Emil Lask (1875-1915) vertreten wurde und dann besonders von Radbruch propagiert worden ist. Auch wenn jede Methode „ein Weg zu etwas hin" ist, hat dieser Weg stets einen Anfang, der nicht in Frage gestellt wird. So geht es ζ. B. bei einer rein pädagogischen Methode nur darum, das schon vorher erworbene Wissen in einer planmäßigen und verständlichen Weise weiter zu vermitteln. Was zu vermitteln ist, wird dabei als etwas Gesichertes betrachtet und nicht zum Problem gemacht. In der Forschungsmethode dagegen liegt die Sache ganz anders. Das Ziel ist hier, etwas Neues oder ein Mehr an Wissen zu erlangen. Die Methode soll der richtige Weg sein, um dieses Ziel zu erreichen. In diesem Fall ist aber noch völlig unbekannt, was endgültig gesucht wird. Damit stellt sich die Frage, ob überhaupt eine Forschungsmethode möglich ist; denn wie kann der Weg zu etwas im voraus gezeigt und dogmatisch vorgeschrieben werden, wenn noch niemand ihn begangen hat? Deswegen bin ich der Meinung, daß die in der Rechtsphilosophie oft betonte reine Methode nicht so sehr eine Forschungsmethode, sondern nur eine pädagogische Methode von Rechtsphilosophen ist, die schon am Ziel angelangt sind oder angelangt zu sein glauben. Dann wird die ,»richtige" und „einzige" Methode vorgeschrieben, die unbedingt angewendet werden muß. Ohne die Reinheit der Methode ist es nicht möglich, die Reinheit der Forschungsgegenstände zu entdekken. Die Erfahrung zeigt uns aber, daß in der Welt der Naturwissenschaften viele wichtige Entdeckungen oft Produkt des reinen Zufalls und nicht Ergebnis der strengen Befolgung von bisher bekannten Methoden gewesen sind. Das hat auch im Bereich der Geisteswissenschaften seine Parallele. Eine tiefere Einsicht oder, wenn man will, eine wissenschaftliche „Erleuchtung" ist oft Sache des Zufalls und der Inspiration und nicht an eine bestimmte Methode gebunden. Hier spielt die Reinheit der Methode keine Rolle. Viele Wege können nach Rom führen, aber in der Forschung im echten Sinne, d. h. auf der Suche nach etwas Neuem

§12 Sehnsucht nach der wissenschaftlichen Reinheit

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oder nach einem Mehr an Wissen wissen wir noch nicht, wo die Roma aeterna der Wahrheit liegt und wie sie aufgebaut ist. Deswegen dürfte es hier unmöglich sein, im voraus eine strikte Forschungsmethode vorzuschreiben. Was bei dem sog. Methodendualismus von Anfang an vorausgesetzt und dann vorgeschrieben wird, ist die Trennung von Wirklichkeit und Wert (Rickert, Lask %5 und Radbruch in seiner Frühperiode 86 ) sowie die Trennung von Sein und Sollen (Kelsen 87). Dies sind die Thesen, die nicht in Frage gestellt werden sollen, aber zugleich die Methode vorschreiben. Kelsen hat lange Jahre jeden Methodensynkretismus entschieden abgelehnt. Später mußte er jedoch zugestehen, daß der wirkliche Wille nicht ignoriert werden kann. Radbruch hat später einen Methodentrialismus befürwortet, indem er das Recht nicht bloß als Wirklichkeit und nicht bloß als Wert, sondern als eine wertbezogene Wirklichkeit, als eine Kulturerscheinung, betrachtet: „So wird der Übergang von einem Dualismus zu einem Trialismus der Betrachtungsweisen vollzogen (wenn man hier von der vierten, der religiösen Betrachtungsweise, einmal absieht)". 88 Damit wird praktisch der vielversprechende Methodendualismus nicht mehr dualistisch verstanden. Wir brauchen diese Problematik hier nicht weiter zu verfolgen. Ich glaube aber feststellen zu können: Auch in der Rechtsphilosophie ist die pädagogische Methode entsprechend zu berücksichtigen. Die Forschungsmethode sollte aber nicht so wichtig sein; denn es ist schwer zu sagen, daß irgendwann die „Entdekkung" neuen Landes im Bereich der Rechtsphilosophie der getreuen Befolgung einer bestimmten Methode zu verdanken ist. Die Sehnsucht nach Dichotomisierung läßt sich auch in der Methode deutlich bemerken. Ihre Wurzeln liegen aber anderswo: in einer schon im voraus vollzogenen Dichotomie, die keineswegs in Frage gestellt werden darf.

§ 12 Sehnsucht nach der wissenschaftlichen Reinheit und ihre dichotomisierende Funktion Reinheit bedeutet Unvermischtheit. So sprechen wir von der Reinheit des Weines, des Wassers, der Luft usw. In vergangenen Zeiten wurde viel Wert auf die Reinheit der Rasse, der Sprache usw. gelegt. Der Begriff hat sich schon längst auch in der Welt der Wissenschaft einbürgert, so daß „reine Wissenschaft" treiben zu wollen fast eine Tautologie zu sein scheint. Die Kategorie der Reinheit enthält notwendigerweise eine Negation (Unvermischtheit) und setzt als solche eine Dichotomie voraus. Die starke Betonung 85 Vgl. Zong Uk Tjong, Der Weg des rechtsphilosophischen Relativismus bei Gustav Radbruch, Bonn 1967, S. 19 ff., 44 ff. 86 Vgl. Arthur Kaufmann, in: Gustav Radbruch, Gesamtausgabe, Bd. 1, Heidelberg 1987, S. 74. 87 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 1 und passim. 88 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 6. Aufl., Stuttgart 1963, S. 118.

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

der Reinheit im Bereich der Wissenschaft ist sicher typisch deutsch, nicht aber das Verlangen nach wissenschaftlicher Reinheit. Schon Anaxagoras hat von dem „ reinen nous" (νους καθ αρός) gesprochen, und die Neoplatoniker haben eine reine Erkenntnis befürwortet, d. h. eine Erkenntnis, die von jeglichen sinnlichen Elementen gereinigt ist. Die Scholastiker haben sich nicht viel für die wissenschaftliche Reinheit interessiert; aber Begriffe wie „actus purus", „potentia pura", „forma pura", „materiapura" u. dgl. waren für sie eine Selbstverständlichkeit. Später wird Descartes auf die „intellectio pura " und Wolff auf die „ratio pura" zu sprechen kommen. Kant ist aber zweifellos der einflußreichste Befürworter der Reinheit im philosophischen Bereich: „Reine Vernunft" und „reine praktische Vernunft" werden von nun an scharf unterschieden, und die oft auch als a priori bezeichneten „reinen Verstandesbegriffe" (Kategorien) werden nach der kopernikanischen Wende die entscheidende Rolle spielen. Deswegen konnte schon Theodor Schmalz unter dem Einfluß von Kant von einem „reinen Naturrecht" sprechen 89 und Richard Avenarius zwei Bände über die „Kritik der reinen Erfahrung" (1888, 1890) verfassen. Um nur einige weitere Beispiele zu geben, seien hier die „Ethik des reinen Willens" und die „Logik der reinen Erkenntnis" von Hermann Cohen erwähnt 90 und im Bereich der Rechtsphilosophie — selbstverständlich! — die erfolgreiche, wenn auch jetzt kritisierte, „Reine Rechtslehre". Es sollte jedoch nicht übersehen werden, daß lange, bevor die immer mit Großbuchstaben geschriebene „Reine Rechtslehre" von Kelsen allgemein bekannt wurde, die (klein geschriebene) „reine Rechtslehre" schon am Leben war. Bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts avancierte sie zum Titel eines Werkes bei G. E. A. Mehmel, Die reine Rechtslehre, Erlangen 1815. Auch Rudolf Stammler hat für eine „reine Rechtslehre" plädiert, als er 1913 „Die Zukunftsaufgaben des Rechts und der Rechtswissenschaft" 91 anzugeben 89 Theodor Schmalz, Das Recht der Natur, 2. Aufl., Königsberg 1795, vgl. 1. Teil: „Das reine Naturrecht". Es sei nebenbei bemerkt, daß der Reinheitsbegnff nicht immer gleich verstanden wird, und so wird hier dem „reinen Naturrecht" das „angewandte Naturrecht" gegenübergestellt. Aber interessanterweise ist für Schmalz das „reine Naturrecht" — trotz seiner Reinheit — noch einer weiteren Unterscheidung oder begrifflichen Dichotomisierung („absolutes" und hypothetisches Naturrecht") fähig. 90 Hermann Cohen, Ethik des reinen Willens, 3. Aufl., Berlin 1921. Vgl. bes. S. 29: „Dem Reinen stellt man das Unreine entgegen, das Gemischte. Die Empirie aller Art enthält die Mischungen der Elemente, welche die Logik, und demzufolge die Ethik zu sondern hat, um die Grundlage als das Reine von den Nebenbestimmungen zu unterscheiden". Vgl. auch: Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 1922, bes. S. 5 ff. Das sog. „logisch Nackte" von Emil Lask (Logik der Logik, die von allen inhaltlichen Fragen frei und selbst Philosophie ist) ist auch ein interessanter Versuch gewesen, die Logik von fremden Elementen zu bereinigen. Vgl. dazu: Wilhelm Szilasi (Das logisch Nackte. Bemerkungen zu einem Grundbegriff des Philosophen Emil Lask, in: Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1967, S. 333-341), der aber zum Ergebnis kommt: „Auch Lask kann das logisch Nackte nicht rein zurückbehalten" (S. 338).

§ 12 Sehnsucht nach der wissenschaftlichen Reinheit

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versuchte. In diesem Aufsatz beklagt sich Stammler, daß von Kirchmann im Jahre 1848 die „Wertlosigkeit unsers Fachs als Wissenschaft" proklamiert hat, ohne jedoch den Oberbegriff Wissenschaft zu bestimmen. Stammler ist der Meinung, daß mittels „einer methodischen Einsicht in die reinen Formen" eine „einheitliche Erfassung des objektiv richtigen Rechts" durchaus möglich ist, „denn die Eigenart der Rechtsphilosophie liegt in der Frage nach dem, was sich als unbedingt allgemein für alles denkbare Recht lehren läßt". Die methodische Einsicht in die reinen Formen ist selbstverständlich nur durch die Trennung von dem „besonderen Stoff dieser oder jener einzelnen Satzung" möglich. Deshalb ist auch „die Rechtsphilosophie auf der scharfen Trennung von formalen Methoden einer rechten Einsicht und von materialen Besonderheiten aufzubauen, die nach jenen bearbeitet sind". Wenn man so vorangeht, dann ist es möglich, „die reine Rechtlehre kritisch zu begründen und systematisch auszuführen". 92 So wird durch die Dichotomisierung die verlangte Reinheit gewonnen und unter der systematischen „Einheit" sichergestellt. Wenn Stammler auf „die Idee des freien Wollens", also auf das immer noch nicht geklärte Problem der Willensfreiheit, zu sprechen kommt 9 3 , ist es auch die Reinheit, die ihm (wohlgemerkt: in der Welt der Ideen oder der Begriffe) die magische Lösung gibt. Ihm ist klar, daß es sich hier nicht um eine ursächliche (genetische oder psychologische) Freiheit handelt, sondern um ein „inhaltlich freies Wollen". Er schlägt vor, „nur von der Idee des reinen Wollens " oder von der „ Willensreinheit " zu sprechen, und damit sei das Problem schon gelöst; denn dann ist der Willensbegriff frei von jeglicher „Notwendigkeit". Allerdings scheint mir der Reinheitsbegriff sehr problematisch, d. h. sehr unrein zu werden, wenn Stammler z.B. auf die „reine Gemeinschaft" zu sprechen kommt. 9 4 Sie wird von ihm so definiert: „Eine reine Gemeinschaft ist ein Verbinden der Zwecke verschiedener Menschen, wobei der letzte bestimmende Gedanke nicht ein nur subjektiv gültiges Begehren eines Verbundenen ist." In der Anmerkung zu dieser Definition macht Stammler klar, was ihn allein interessiert, nämlich der „unbedingte Gedanke eines reinen Verbindens" (im Unterschied zu „bedingten Begehrungen"). Man sollte dann aber nicht die „ reine Gemeinschaft" mit dem hybridischen Ausdruck „ i s t . . . , nicht ein nur . . . " definieren. Auf diese Weise wird nur die in der Welt der Wirklichkeit existierende Gemeinschaft, nicht aber die nur in unserem Kopf existente, „gereinigte" Gemeinschaft definiert. Das zeigt gleichzeitig, daß es nicht leicht ist, die begriffliche Reinheit immer ganz rein aufrechtzuerhalten. Jetzt in: Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie? Hrsg. von Gerd Roellecke, Darmstadt 1988, S. 167 ff. 92 Stammler (FN 91), S. 183.

93 Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, Halle 1911, S. 443 ff., bes. S. 448 und 449. 94 Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Berlin und Leipzig 1923, S. 197, 198.

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

Hermann Heller hat demgegenüber schon im Jahr 1929 darauf hingewiesen95, daß der Imperialismus einer einzigen Methode sich in allen Geisteswissenschaften als unfruchtbar erweist. Er kritisiert entschieden die „Reinheit" oder „Einheit" einer Methode; denn er ist der Meinung, daß das Objekt jeder Geisteswissenschaft nur „ methodensynkretistisch " richtig erfaßt werden kann. Seine Kritik trifft den Kern der idealistischen Auffassung Stammlers: „Von der denkwissenschaftlichen ist aber die Geistessystematik dadurch unterschieden, daß sie ein Historisches in seiner relativen Rationalität, also niemals ,rein\ sondern mit einem Erdenrest behaftet erfaßt, den zu tragen nur dem peinlich bleibt, dem sich Lust und Sinn historisch-individueller Schöpfung nie erschlossen hat." 96 Und trotzdem sollte die Blütezeit der von Hans Kelsen mit einem Großbuchstaben geschriebenen „Reinen Rechtslehre " erst noch kommen. Was für Stammler die Welt des richtigen Rechts darstellt, ist für Kelsen die Welt der Normativität, nicht diejenige der Richtigkeit. Sein bekanntes Werk „Reine Rechtslehre" (2. Aufl. 1960) fängt mit einem Untertitel an, der das Entscheidende zum Ausdruck bringt: „Die Reinheit" — eine Reinheit, die auch mit Hilfe der Dichotomisierung erlangt wird und die einzige und einheitliche Rechtslehre von selbst zum Leben bringt. „Die Reine Rechtslehre ist eine Theorie des positiven Rechts; des positiven Rechts schlechthin, nicht einer speziellen Rechtsordnung." „Wenn sie sich als eine ,reine4 Lehre vom Recht bezeichnet, so darum, weil sie nur eine auf das Recht gerichtete Erkenntnis sicherstellen und weil sie aus dieser Erkenntnis alles ausscheiden möchte, was nicht zu dem exakt als Recht bestimmten Gegenstand gehört." „In völlig kritikloser Weise hat sich Jurisprudenz mit Psychologie und Soziologie, mit Ethik und politischer Theorie vermengt." Wichtig ist es, den Methodensynkretismus zu vermeiden, „der das Wesen der Rechtswissenschaft verdunkelt und die Schranken verwischt, die ihr durch die Natur ihres Gegenstandes gezogen sind". Was die Reine Rechtlehre abgetrennt und ausgesondert hat, ist bekannt 97 : die Besonderheiten der speziellen Rechtsordnungen, die Kausalität, den Geltungsinhalt, die Welt des Seins, die Wertung, die Moral, die Gerechtigkeit, die Ideologie usw. Was geblieben ist, ist auch bekannt: die Zurechnung, das Sollen, die Normativität, die Geltung mit der Konstruktion der Grundnorm und folglich ein Rechtspositivismus, Relativismus und Formalismus. 98 Interessant ist allerdings zu be95 Hermann Heller, Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, jetzt in: Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie? (FN 91), S. 184 ff. 96 Heller, ebd., S. 215.

97 Vgl. bes. Hans Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre?, auch in: Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie? (FN 91), S. 232 ff. 98 Im Formalismus liegt gerade für Kelsen die „Sachlichkeit", und dazu zitiert er auch die folgende Stelle der „Logik der Reinen Erkenntnis" von Hermann Cohen: „Nur das Formale ist sachlich, je formaler eine Methodik ist, desto sachlicher kann sie werden. Und je sachlicher in der ganzen Tiefe der Sache ein Problem formuliert wird, desto formaler muß es fundamentiert sein" (Was ist die Reine Rechtslehre?, S. 250). Über die

§ 13 Subjektives und objektives Strafrecht: eine vergessene Dichotomie?

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merken, daß das scharfe Messer der Dichotomisierung zugleich nicht wenige herkömmliche Dichotomien zum Erlöschen gebracht hat. So ζ. B.: Rechtsordnung und Zwangsordnung, Recht und Staat, privates und öffentliches Recht, staatliches Recht und Völkerrecht, Rechtspflicht und Sanktion usw. Das aber ist die notwendige und unvermeidliche Folge jedes radikalen Monismus. Der Monismus ist die Verneinung des Dualismus, aber bevor er Monismus wird, muß alles, was ihm nicht paßt, abgeschnitten und verworfen werden." Fassen wir zusammen: Die wissenschaftliche Reinheit ist sicher wünschenswert, hat aber ihre Grenzen und kann nur durch begriffliche Dichotomien gewonnen werden. Die Dichotomisierung wird aber immer unter einem bestimmten Gesichtspunkt vorgenommen, der oft verabsolutiert wird. Damit werden alle fremden („unreinen") Elemente ausgeschaltet, und so entsteht von selbst eine sowohl methodische als auch inhaltliche „Einheit", zu der die neue Theorie Zuflucht nimmt und ungestört monistisch werden kann. Allerdings bleibt die Frage, ob dieser Prozeß der Welt der Wirklichkeit entspricht oder nur eine scharfsinnige und verabsolutierte Konstruktion im Kopf des Theoretikers ist.

§ 13 Subjektives und objektives Strafrecht: eine vergessene Dichotomie? 1. Unterscheidung von subjektivem und objektivem und ihre geschichtliche Entstehung

Straf recht

Wenn wir etwas sagen wollen, passiert es nicht selten, daß unser Wortschatz nicht ausreicht. Wir beginnen dann mit einem „Wie soll ich sagen". Ganz genauso ist es auch in der Welt der Wissenschaft: Unsere Fachterminologie reicht nicht immer aus, um angemessene wissenschaftliche Begriffe zu formen. Auch ist es eine Tatsache, daß oft gleiche Wörter benutzt werden, um ähnliche, aber nicht gleiche Begriffe zu benennen. Erst wenn man sich dessen bewußt wird, daß mit ein und demselben Ausdruck nicht immer derselbe Begriff gemeint ist, kann man versuchen, auch die Terminologie — oft mit Hinzufügung eines entsprechenden Adjektivs — zu differenzieren. So hat ζ. B. schon Suârez darauf aufmerksam gemacht, daß der oft benutzte lateinische Ausdruck „ius" (Recht) mehrdeutig ist und deswegen differenziert Grenzen und die Problematik des Formalismus vgl. José Llompart, Gleiche Denkformen in ungleichen Rechts- und Staatsauffassungen. Rechtfertigung und Kritik des Formalismus, in: Formalismus und Phänomenologie im Rechtsdenken der Gegenwart. Festgabe für Alois Troller zum 80. Geburtstag, hrsg. von Werner Krawietz und Walter Ott, Berlin 1987, S. 201 ff. 99 Selbst Kelsen konnte anscheinend die vollkommene oder reine „Reinheit" nicht bewerkstelligen. Vgl. dazu: Victor Arévalo Menchaca, Die »Unreinheit' der Reinen Rechtslehre; limar Tammelo, Von der reinen zu einer reineren Rechtslehre, Rechtstheorie Beiheft 5 (1984), S. 131 ff.; S. 245 ff.

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

werden muß. 1 0 0 lus kann nämlich als eine Befugnis zu etwas („moralis facultas ad rem aliquam vel in re") verstanden werden, aber auch als Gesetz (lex), als Norm der Handlung („regula honeste operandi"). Nachdem Suârez diese zwei Begriffe klar unterschieden hatte, versuchte er mit Hilfe eines Adjektivs, ihnen einen entsprechenden Namen zu geben (ius als Befugnis: „ius utile" oder „ius reale"; ius als Gesetz: „ius honestum" oder „ius legale"). Dazu muß freilich gesagt werden, daß die Benennung nicht sehr glücklich ist, d. h. den inhaltlichen Unterschied nicht genügend zum Ausdruck bringt. Vielleicht konnte sie sich deshalb auch nicht durchsetzen. Wie dem auch sei, die deutsche Benennung hat mehr Erfolg gehabt: Die Unterscheidung ist heute als Recht im subjektiven Sinne („subjektive Rechte ") und Recht im objektiven Sinne („objektives Recht") allgemein bekannt und hat sich durchgesetzt. Auch im Bereich der Strafrechtswissenschaft hat Berner 1857 darauf aufmerksam gemacht: „Der Ausdruck ,Strafrecht 4 enthält eine doppelte Bedeutung, welche erst in ihrer Einheit dem vollen Begriffe des Strafrechts entspricht 44 . 101 Auch das Strafrecht kann nämlich als „Strafrecht im subjektiven Sinne44, als iuspuniendi verstanden werden, d. h. als die Befugnis des Staates zu bestrafen; aber auch als „Strafrecht im objektiven Sinne44, als ius poenale, oder — nach Berner — als „Inbegriff der Grundsätze, welche der Staat bei der Ausübung jener Befugnisse zu beobachten hat44. Es ist mir nicht bekannt, wer als erster im Bereich der Strafrechtswissenschaft diese begriffliche und terminologische Dichotomie eingeführt hat, die vor etwa hundert Jahren für sehr wichtig gehalten wurde, die aber heute in der deutschen Literatur kaum berücksichtigt wird. 1 0 2 Warum wird sie heute in den Textbüchern, wenn überhaupt erwähnt, nur als eine Art geschichtliches Kuriosum behandelt? Ein Grund dafür mag sein, daß die heute stark anwachsende deutsche Strafrechtsdogmatik, die eben eine Dogmatik des Strafgesetzes ist, sich als solche nicht mehr für das Recht der Bestrafung zu interessieren braucht. Letzteres ist infolgedessen sehr weitgehend Sache des Staatsrechts und der Rechtsphilosophie. Das entspricht auch dem modernen Trend zur Spezialisierung. Da aber Staatsrechtler und Rechtsphilosophen mit anderen Problemen beschäftigt sind, scheint das subjektive Strafrecht ein in Vergessenheit geratenes Problem zu sein, um das sich fast niemand kümmert. 103 100 Francisco Suârez , De legibus, Lib. II, cap. XVII, η. 2. Suârez sagt ausdrücklich: „Quia vero haec vox (ius) aequivoca est, opportet illam distinguere." ιοί Albert Friedrich Berner, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, Leipzig 1857, S. 3. 102 in Spanien und Iberoamerika dagegen wird auf diese Unterscheidung nach wie vor viel Wert gelegt (vgl. z. B. Eugenio Cue Ilo Calón, Derecho Penal conforme al nuevo „Código Penai, texto refundido de 1944", Tomo I, Parte General, octava ed., Barcelona 1974, S. 7 ff.); für die Gegenwart vgl. ζ. B. José Maria Rodriguez Devesa, Derecho Penal Espanol, Parte General, séptima ed., Madrid 1979, S. 4-43). In der japanischen Strafrechtswissenschaft scheint diese Unterscheidung unbekannt zu sein. 103 Selbstverständlich gibt es immer Ausnahmen, die die Regel bestätigen. So ζ. B.: Peter Klose, ,Ius puniendi' und Grundgesetz, in: ZStW 86 (1974), S. 33-67.

§ 13 Subjektives und objektives Strafrecht: eine vergessene Dichotomie?

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Wie wichtig diese Dichotomie auch heute ist, habe ich bei anderer Gelegenheit zu zeigen versucht. 104 Hier w i l l ich nur auf einen Bedeutungswandel der Bezeichnungen „subjektives" bzw. „objektives Strafrecht" hinweisen, der, soweit mir bekannt, unbemerkt geblieben ist. Anschließend werde ich einige der Thesen untersuchen, die gewöhnlich an diese Dichotomie geknüpft werden. 2. Probleme der Beziehung zwischen subjektivem und objektivem Straf recht

Wie schon erwähnt, hat in früheren Zeiten auch in Deutschland die Unterscheidung von subjektivem und objektivem Strafrecht eine wichtige Rolle gespielt. Sie wurde von der Strafrechtswissenschaft als Mittel der systematischen Gliederung benutzt. Ein Beispiel unter anderen ist der „Grundriß des Deutschen Strafrechts. Allgemeiner Teil" von Karl Binding 105, der sich — nach einer geschichtlichen „Einleitung" — in zwei Teile gliedert. Sie tragen den Titel „Das objektive Strafrecht" und „Das Strafrechtsverhältnis". Im ersten Teil werden die „Strafgesetze" und „Normen" besprochen, im zweiten Teil wird dagegen ausführlich behandelt, was heute den Kern des allgemeinen Teils des materiellen Strafrechts ausmacht und trotz des Titels („Das subjektive Strafrecht") als „ objektives Strafrecht" angesehen wird. In der „ Einleitung " gibt Binding nicht weniger als sechs verschiedene Bedeutungen von „Strafrecht" an. Darunter findet sich als fünfte Bedeutung „das subjektive Recht des Staates auf Strafe", ohne jedoch definiert zu werden. Hier wird aber interessanterweise das „ objektive Strafrecht " überhaupt nicht erwähnt. Im zweiten Teil wird der „Gegensatz der Straftheorien" vom Standpunkt des subjektiven Strafrechts behandelt. Binding kommt zum Ergebnis, daß „die Pflicht zur Bestrafung keineswegs schon durch Entstehung des Strafrechts begründet wird". Auch August Finger widmet in seinem Lehrbuch 106 dem objektiven Strafrecht den 1. Abschnitt des allgemeinen Teils, der sehr kurz gefaßt ist. Im 2. Teil behandelt er eingehend das subjektive Strafrecht. Dabei werden ζ. B. folgende Probleme thematisiert: Schuld, Vorsatz, Fahrlässigkeit, Handlung, Versuch, Strafe, Verjährung usw. — also das, was heute und trotz des Titels („Das subjektive Strafrecht") als objektives Strafrecht angesehen wird. Weitere Beispiele sind leicht anzuführen. Sehr viel wichtiger ist jedoch die Frage: Wie ist das zu erklären? Warum haben diese Autoren die skizzierten Fragen der Strafrechtsdogmatik als „subjektives Strafrecht" behandelt? Oder umgekehrt: Warum werden sie heute als Probleme des Strafgesetzes, also als Probleme des „objektiven Strafrechts" angesehen? 104 José Llompart, Subjektives und objektives Strafrecht als Anfang und Ende der Strafrechtsdogmatik. Eine ideengeschichtliche und rechtsvergleichende Skizze, in: Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, Köln 1989, S. 95 -111. 105 Ich habe die 8. Aufl., Leipzig 1913 benutzt. 106 August Finger, Das Strafrecht. Erster Band, Berlin 1902.

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

Ich lasse die Frage hier offen — eine Antwort soll später versucht werden — und gehe gleich zu den Thesen über, die in bezug auf diese Dichotomie aufgestellt worden sind. Ein altes und noch nicht geslöstes Problem scheint zu sein, wie die innere Beziehung zwischen dem objektiven und subjektiven Strafrecht zu verstehen ist: Entspringt das ius puniendi aus dem ius poenale, oder ist das umgekehrt zu verstehen? Robert von Hippel ζ. B. hat folgende Auffassung vertreten: „Aus dem objektiven Recht entspringen subjektive Rechte, in unserem Falle das subjektive Recht des Staates auf Bestrafung im Einzelfall, anders ausgedrückt der öffentlich-rechtliche Strafanspruch des Staates gegenüber dem Verbrecher". Dann fügt er hinzu: „Dies Strafrecht im subjektiven Sinne ist heute regelmäßig zugleich Strafpflicht des Staates", und als Begründung für die Strafpflicht des Staates macht er darauf aufmerksam, daß die Staatsanwaltschaft zum Einschreiten wegen aller strafbaren Handlungen verpflichtet ist (sog. Legalitätsprinzip). 107 Maurach dagegen scheint die These zu vertreten, daß das ius poenale „ein Ausfluß des ius puniendi " ist, und verweist auf den Wertwandel, den der letzte Begriff in bezug auf das Legalitätsprinzip in den letzten 100 Jahren durchgemacht hat. 1 0 8 Meiner Meinung nach ist das Problem der Priorität beider Strafrechtsbegriffe nicht sehr wichtig für die Praxis, weil sie de facto und auch in der Theorie untrennbar sind: Ein ius puniendi ohne ein ius poenale ist unmöglich und umgekehrt, und beide müssen sich völlig decken. Der Rechtsstaat hat nur die Befugnis,

d. h. das Recht zu bestrafen, wo er nach dem Strafgesetz dazu berechtigt ist, und das Strafgesetz ist eben der objektivierte Rahmen dieser Berechtigung, der nicht überschritten werden darf. Wenn das so ist, so können wir gleich eine Antwort auf die zunächst offengelassene Frage geben. Auch wenn nicht zu leugnen ist, daß viele konkrete Probleme, die für uns heute Probleme des objektiven Strafrechts zu sein scheinen, früher umgekehrt unter dem Titel „ subjektives Strafrecht " behandelt worden sind, dürfte das — inhaltlich gesehen — völlig gleichgültig sein. Denn — um es nochmals zu wiederholen — das inhaltlich konkretisierte ius puniendi ist das ius poenale und kann nichts anderes sein. Nach dem Grundsatz „nulla poena sine lege" müssen beide sich vollkommen decken.

107 Robert v. Hippel, Deutsches Strafrecht, 1. Band, Allgemeine Grundlagen, Berlin 1925, S. 4 und Anm. 5. Schon Suârez hat die Meinung vertreten, daß (modern ausgedrückt) das subjektive Recht aus dem objektiven Recht entspringt: „Ius . . . interdum significat moralem facultatem . . . Aliquando vero ius significat legem, quae est régula honeste operandi... et est ratio ipsius iuris priori modo sumpti, ut dixit divus Thomas" (Suârez, FN 100).

los Reinhard Maurach, Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 1965, S. 4, 5.

§ 13 Subjektives und objektives Strafrecht: eine vergessene Dichotomie?

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Wichtiger ist mir ein anderes Problem, das in diesem Zusammenhang anscheinend unbemerkt geblieben ist. M i t Grund wird von Maurach und anderen Autoren darauf hingewiesen 109 , daß früher die Staatsgewalt aufgrund der Souveränität des Staates als selbstherrlich angesehen worden ist, und es mag sein, daß diese Tatsache auch bei der Auslegung und Anwendung des Legalitätsprinzips eine wichtige Rolle gespielt hat. Wenn man dabei nur den totalitären Staat in Betracht zieht, der unbeschränkt alles bestrafen kann, dann ist es sicher notwendig zu zeigen, welche Grenzen dem ius puniendi des Staates durch die Würde des Menschen, das Schuldprinzip usw. gezogen sind und vom modernen Rechtsstaat nicht überschritten werden dürfen. Dieser Denkansatz erscheint mir jedoch nicht nur als altmodisch, sondern sogar als theoretisch verfehlt. Seine Voraussetzung ist nämlich ein Staat, der alles bestrafen kann (was gerade zu beweisen wäre!). Dann wird durch die Berücksichtigung der Menschenwürde und andere Erwägungen das Strafrecht des Staates in der Tat „begrenzt". Geht man dagegen davon aus — wie es vor der Zeit des Nationalismus

und des totalitären

Staates allgemeine Meinung war —,

daß der Staat zunächst verpflichtet ist zu bestrafen und daß er nur und insoweit ein Recht dazu hat, als er verpflichtet ist, so ist damit dieses ius puniendi des Staates schon immanent beschränkt und braucht folglich

nicht weiter beschränkt

zu werden. Selbstverständlich ist der Verfolgungszwang oder das Legalitätsprinzip die unmittelbare und notwendige Folge dieses Denkansatzes, und wenn jemand um die Mitte des 19. Jahrhunderts gemeint haben sollte, wie Maurach behauptet 110 , daß aus dem subjektiven Strafrecht des Staates auch die staatliche Strafpflicht erwachsen ist, die im Verfolgungszwang in Erscheinung trat, so müßte das umgekehrt verstanden werden: Aus der staatlichen Strafpflicht ist das staatliche Straf recht, d. h. das subjektive Strafrecht erwachsen, und dieser Denkansatz wurde durch das Legalitätsprinzip in Deutschland — nicht aber in allen Ländern 111 — positiviert und institutionalisiert. Der alte Gedanke, daß die staatliche Gewalt zunächst verpflichtet und dann berechtigt, ist auch im Bonner Grundgesetz positiviert worden und sollte heute in Deutschland allgemein anerkannt sein: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Wie schon erwähnt, wäre ein subjektives Strafrecht ohne das objektive Strafrecht nicht zu verstehen, es sei denn, daß der Staat alles bestrafen darf. In diesem Sinne und nach dem Grundsatz „nulla poena sine lege" macht das Strafgesetz 109

Maurach, ebd.; Hans-Heinrich Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Berlin 1972, S. 8. no Maurach (FN 108), S. 5.

m So gilt ζ. Β. für Japan bei der Strafverfolgung das Opportunitätsprinzip. Über die Probleme des freien Ermessens im japanischen Strafrecht vgl. José Llompart (FN 104), S. 107 ff. 5 Llompart

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

deutlich, was bestraft werden kann und soll. Friedrich-Christian Sehr oeder hat treffend gezeigt, daß das Legalitätsprinzip die Kehrseite des Grundsatzes „nulla poena sine lege" ist. „Während letzteres ein Überschreiten der gesetzlichen Tatbestände verhindert, verhindert das Legalitätsprinzip deren Unterschreiten". 112 Dam i t ist auch gesagt, daß das subjektive Strafrecht Strafrechts

die Kehrseite

des objektiven

ist und umgekehrt.

Zum Schluß sei noch eine wichtige Bemerkung hinzugefügt. Wenn das subjektive Strafrecht, d. h. die Befugnis des Staates zur Bestrafung, zunächst und vor allem eine Pflicht des Staates ist, folgt daraus, daß der Staat kein Strafrecht hat, das über die Erfüllung seiner Strafpflicht hinausgeht. Das entspricht der allgemeinen These, daß die Rechte des Staates — im Unterschied zu den Menschenrechten — nicht über die Erfüllung seiner Pflichten hinausgehen können. 113 Nur die Menschen können reine Rechte haben, d. h. Rechte, die nicht zugleich Pflichten sind (Freiheit der Religion, der Meinungsäußerung, der Eheschließung usw.). Sollte auch der Staat Rechte haben, die beliebig ausgeübt werden können, dann wäre eine Tür für die staatliche Willkür geöffnet, was das Ende der Rechtsstaatlichkeit bedeutete. Die Gegenthese lautet: Der Staat hat das Recht, nicht aber die Pflicht, dies oder jenes zu tun, und, wenn er will, auch sich selbst zu verpflichten. Die Geschichte zeigt, daß der Staat oft so gehandelt hat und daß diese These sogar im Jahr 1927 von der Rechtsprechung anerkannt und proklamiert worden ist: „Der Gesetzgeber ist selbstherrlich und an keine anderen Schranken gebunden als diejenigen, die er sich selbst in der Verfassung oder in anderen Gesetzen gezogen hat." 114 Auch von diesem Denkansatz aus bleibt das objektive Strafrecht kann jede Willkür objektiviert werden.

bestehen und

Da aber die Geschichte sich immer wiederholen kann, sollte das subjektive Strafrecht und seine Problematik nicht nur als eine Sache der Vergangenheit angesehen, sondern immer wieder aufs Neue durchdacht werden.

§ 14 Funktion der Dichotomisierung im modernen Systemdenken Es ist heute nicht mehr möglich, das moderne Systemdenken zu ignorieren, auch wenn dieser neue Denkansatz als eine Störung des traditionellen und klassischen Rechtsdenkens empfunden werden mag und auch wenn seine Fachtermino112 Friedrich-Christian Sehr oeder, Legalitäts- und Opportunitätsprinzip heute, in: Einheit und Vielfalt des Strafrechts. Festschrift für Karl Peters zum 70. Geburtstag, Tübingen 1974, S. 422. 113 Ausführlicher zu dieser These José Llompart, Ningen no songen to kokka no kenryoku (Menschenwürde und Staatsgewalt), Tokyo 1990, bes. S. 163 ff. 114 RGZ 118, 325.

§ 14 Funktion der Dichotomisierung im modernen Systemdenken

67

logie dem nicht Eingeweihten schwer verständlich ist. 115 Die Fachterminologie der modernen Systemtheorie zu verstehen, mag so schwer sein, wie eine fremde Sprache zu beherrschen. 116 Das Wichtigste aber ist ein totales Umdenken, wenn man sich in der Welt der Systemtheorie zurechtfinden will. Gelingt dieses Umdenken, so wird man mit Freude erfahren, daß in der neu entdeckten Welt der Systemtheorie alles — auch Widersprüche und noch ungelöste Probleme — nach wie vor funktioniert; denn Widersprüche und ungelöste Probleme werden nicht nur in das System integriert, sondern sie gehören zur Essenz der Welt wie des Systems. Im klassischen Systemdenken bedeutete die Entdeckung eines Widerspruchs und die Entdeckung eines Problems, das vom System nicht vorausgesetzt und nicht gelöst werden konnte, den totalen Zusammenbruch des Systems. In diesem Sinne konnten sich alle bisherigen Systeme nicht bewähren; denn es gibt in dieser Welt nichts, das nicht theoretisch in Frage gestellt werden kann. Das moderne Systemdenken braucht sich aber nicht mehr vor solcher Gefahr zu fürchten. Das Rechtssystem braucht nicht mehr eine Dogmatik, eine Philosophie, eine Ontologie und eine Metaphysik, um „funktionieren" zu können, und ist sogar jenseits jeglicher beunruhigender Erkenntnistheorie verortet. Widersprüche und Unkenntnis braucht das Systemdenken nicht zu fürchten, weil es eigene Mechanismen besitzt, um Widersprüche zu überwinden, und auch fähig ist zu lernen (Lernen setzt Unkenntnis voraus). Was im klassischen Systemdenken Selbstdestruktion bedeutete, ist gerade das, was im modernen Systemdenken Leben und Dynamik gewährt. Was bleibt, sind nicht mehr ewige Wahrheiten oder dergleichen, sondern ein immer funktionierendes System. Das System leistet alles; aber um das richtig zu verstehen, muß man in das Systemdenken hineintreten und alles ausschließlich

vom Gesichtspunkt

des Systems aus beobachten.

Im folgenden soll lediglich gezeigt werden, wie wichtig und unerläßlich die Dichotomisierung auch im modernen Systemdenken ist. Es ist zuzugeben, daß wir es hier mit einem neuen Denkansatz zu tun haben. Seine Neuheit besteht aber in der Entdeckung und Anerkennung von neuen Dichotomien, die bisher noch nicht berücksichtigt oder thematisiert worden sind. Selbstverständlich wer115 Aus diesem Grund ist in Japan die Systemtheorie Luhmanns lange Zeit fast unbekannt geblieben, wenngleich in diesem Land sonst überraschend schnell von allen neuen Rechtstheorien Kenntnis genommen wird. Heute sind jedoch einige Werke Luhmanns ins Japanische übersetzt. Der Einfluß seiner Theorie auf die allgemeine Rechtslehre kann aber nicht als sehr entscheidend betrachtet werden. Π6 Abgesehen von der Prägung neuer Fachausdrücke kann die oft vorkommende Ersetzung deutscher Terminologie durch Wörter lateinischen, gelegentlich auch griechischen Ursprungs als ein Charakteristikum der Systemtheorie bezeichnet werden (z. B. Konformität, Absorption, akzeptieren, kognitive Dissonanz, soziale Distanz, Selektivität, kongruente Generalisierung, Indifferenz, relative Invarianz, Kapazität, Stabilisierung, Kontroversen, Potential, expressiv, instrumenteil, latent / manifest, repressiv / restitutiv, binär, primär, segmentär usw.). Dem native speaker einer romanischen Sprache macht eine solche Terminologie keine Schwierigkeiten, wohl aber zum Beispiel einem Japaner.

5*

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

den auch hier zugleich mit der Entdeckung verschiedener Dichotomien bestimmte Thesen hinzugefügt, die als evident angesehen werden, und auch hier werden althergebrachte Dichotomien entweder verneint oder praktisch entwertet. Die wichtigste Voraussetzung des Systemdenkens ist die Unterscheidung (sprich: Dichotomie) von System und Umwelt. Ohne Differenzierung (sprich: Dichotomisierung) ist kein System möglich. Systemthœùe ist trotz der Verwendung des Namens System eine Theorie. M i t diesem Denkansatz werden die Welt der Realität und die Welt der Theorie nicht in einem einzigen System erfaßt. Es gibt nämlich viele Arten von Systemen, die auch entsprechend differenziert (dichotomisiert) werden: politische Systeme, ökonomische Systeme, soziale Systeme, Rechts-, Persönlichkeitssysteme usw. sowie alle damit verbundenen Subsysteme. Zum Glück wird von Luhmann die Dichotomie nicht notwendigerweise als Trennung verstanden, wenngleich sein Sprachgebrauch nicht immer klar ist. So ζ. B.: „Die Trennung von Sein und Sollen oder von Wahrheit und Recht ist keine a priori vorgegebene Weltstruktur, sondern eine evolutionäre Errungenschaft." 117 Hier wird die in unserer Zeit klassisch gewordene Dichotomie von Sein und Sollen, von Wahrheit und Recht (von Kognitivität und Normativität) einfach als eine „evolutionäre Errungenschaft" eingestuft; aber das kann von allen neu entdeckten Dichotomien auch behauptet werden. Komplexität (es gibt stets mehr Möglichkeiten, als aktualisiert werden können) und Kontingenz (die angezeigten Möglichkeiten weiteren Erlebens können auch anders ausfallen als erwartet) 118 sind die unentbehrlichen Voraussetzungen des Selektionsprozesses, aber sogar die Kontingenz wird in „einfache" und „doppelte Kontingenz" weiter dichotomisiert, so wie auch „Erwartungen" und „Erwartungen von Erwartungen" weiter unterschieden werden können. 119 Die systeminterne Differenzierung (sprich Dichotomisierung) ist das Leben des Systems, und so markiert die Unterscheidung von konformem und abweichendem Verhalten nicht mehr die Grenze des Systems seiner Umwelt gegenüber. 120 Das Recht reduziert die Komplexität durch seine eigenen Selektionsprozesse, und das Rechtssystem ist nicht kognitiv, sondern nur normativ geschlossen. Auch darf nicht vergessen werden: Es geht immer um „selbstreferentielle autopoietische Systeme". Der Protagonist der Dichotomisierung ist also nicht der Mensch, sondern das System, auch wenn der Mensch aus der Theorie nicht verbannt wird. Auch die Swn-Kategorie 121 spielt in der Theorie Luhmanns eine bedeutende Rolle; denn dem Bereich sinnkonstituierter Gegenstände wird ein sinnfreier „Rea117

Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, Bd. 1, Hamburg 1972, S. 44.

us Luhmann, ebd., S. 31. h 9 Luhmann, ebd., S. 33. 120 Luhmann, ebd., S. 124. 121 Jesus Ignacio Martinez Garcia bezeichnet mit Recht den Sinn-Begriff der Luh-

mannschen Auffassung als „etwas mysteriös". Vgl. seinen interessanten Aufsatz: Justicia

§ 14 Funktion der Dichotomisierung im modernen Systemdenken

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litätsunterbau" (ζ. B. physische oder chemische Systeme) gegenübergestellt. Damit ergibt sich die (sinnvolle?) Unterscheidung von „Sinnsystemen" und „NichtSinnsystemen". Diese Unterscheidung mag beim ersten Anschein eindeutig sein. Sie beweist aber zugleich, daß das Systemdenken sogar die Kategorie des Sinns transzendiert, und damit wird der Sinn als ein bloßes Instrument des allumfassenden Systems geweitet. Ob durch epistemologisch-systemtheoretische Überlegungen eine Überwindung der Dichotomie von „Sinn" und „Natur" möglich ist, oder ob „Sinn und Natur nicht länger eine Dichotomie, sondern Äquivokationen ein und derselben Sache sind" 1 2 2 , mag hier dahingestellt bleiben. Wenn das letztere zutrifft, ist nur zu bewundern, wieviel dichotomische Akrobatik notwendig ist, um zu diesem einfachen Ergebnis zu gelangen. Von den den systemtheoretischen Dichotomien hinzugefügten Thesen sind einige sicher neu; aber auch wenn einige von ihnen schon bekannt sind, wie ζ. B. „Legitimation durch Verfahren" 123 , Gerechtigkeit als adäquate Komplexität des Rechtssystems"124, verneinen bzw. lehnen sie die meisten hergebrachten Thesen ab. Das ist verständlich; denn wenn neue Dichotomien proklamiert werden, können manche alten Dichotomien nicht weiterleben oder verlieren, indem der Blickwinkel geändert wird, einfach ihren Sinn. Aber nichts von dem, was in der Welt der Kultur und der Wirklichkeit zu finden ist (Religion, Wahrheit, Gerechtigkeit, Recht, Politik, Ökonomie usw.) geht verloren; es wird von dem funktionierenden System einfach nur anders verortet und integriert und folglich auch anders „aufgeweitet" („entwertet" für den Außenstehenden, d. h. für den Nicht-Systemtheoretiker). So bleibt in der Systemtheorie auch die Wahrheit durchaus erhalten; wichtig ist dabei aber nur ihre „Funktion". 125 Nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch Zweck — Mittel,

Ursache — Wirkung, Subjekt — Objekt, Persönlichkeit,

rechte, Staat — Gesellschaft,

Politik

— Verwaltung,

Gewaltenteilung,

Grundbonum

commune und andere Begriffe werden in der „Evolutionstheorie" Luhmanns nicht mehr so verstanden wie in der klassischen Theorie (d. h. Nicht-Systemdenkentheorie). Deshalb ist es nötig, alle Definitionen umzuformulieren und umzulernen. e igualdad en Luhmann, in: Anuario de Filosofia del Derecho, Tomo IV, Madrid 1987, S. 43 ff. (S. 47, 48). 122 Gertrud Brücher, Epistemologisch-systemtheoretische Überlegungen zur Überwindung der Dichotomie von ,Sinn' und Natur, in: ARSP 75 (1989), S. 515. 123 Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2. Aufl., Darmstadt und Neuwied 1975. Diese These ist von Arthur Kaufmann oft in Frage gestellt worden: „Es fragt sich ,nur\ ob das Recht einzig »durch Verfahren 4 (wie Niklas Luhmann annimmt) zustande kommt, oder ob es seine Konkretheit wohl ,im Verfahren 4 erlangt, dieses Verfahren aber »sachlich' (was nicht heißt: substantiell) fundiert ist" (Rechtsphilosophie in der Nach-Neuzeit [AbschiedsVorlesung], Heidelberg 1990, S. 26). !24 Niklas Luhmann, Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, in: Rechtstheorie 4 (1973), S. 131 ff., 142. Zur Kritik der Auffassung Luhmanns von der Gerechtigkeit vgl. Martinez Garcia (FN 121); ferner Llompart, Gerechtigkeit als geschichtliches Rechtsprinzip, in: ARSP 67 (1981), S. 39 ff., 50 ff. 125 Luhmann (FN 123), S. 25.

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

Das ist verständlich; denn alle Theorien haben bewußter- oder unbewußterweise eine bestimmte Weltanschauung zur Voraussetzung und sind immer auf einen bestimmten Denkansatz zurückzuführen, der den konkreten Inhalt jeder Theorie entscheidend beeinflußt. Auch der Denkansatz ist Ergebnis der Ausbildung des Theoretikers und seiner eigenen Erfahrung. Die reine Erfahrung ist aber nicht fähig zu beweisen, daß ein bestimmter Denkansatz der eine und einzig mögliche und zugleich für alle Menschen verbindliche ist. Das gilt uneingeschränkt auch für die moderne Systemtheorie, selbst wenn zuzugeben ist, daß diese Theorie — im Vergleich mit allen hergebrachten Systemen — widerstandsfähiger und kritikimmun ist, weil ihre Ansprüche nicht so radikal formuliert werden. Ihr Ansatz aber und die Verneinung aller hergebrachten Theorien ist radikal. Im Europa des Mittelalters waren sowohl die Weltanschauung als auch der Denkansatz vorwiegend theologisch, auch wenn Vernunft und Erfahrung nicht völlig ignoriert wurden. In der Zeit der Aufklärung und mit der Säkularisation des Naturrechts übernahm die Vernunft (ratio) die zentrale Rolle, wenngleich es nicht als unbedingt notwendig enpfunden wurde, Gott und die Theologie zu vertreiben. Deswegen ist es kein Zufall, daß gerade in dieser Zeit die „Theodize" entstanden ist. Hobbes, Locke und Rousseau haben — wenn auch in ganz verschiedener Weise — mit Hilfe der Vernunft und auch mit dem vernünftigen Konsens ihre Sozial- und Staatstheorien aufgebaut. Mit Kant wird bereits die Vernunft dichotomisiert (praktische und reine Vernunft), aber das Sittengesetz und die Würde des Menschen bleiben noch bestehen. Hegel konnte nicht mehr an den Konsens und an die Vertragstheorien glauben und versuchte die Sittlichkeit und die Welt des Geistes zu objektivieren. Marx und Engels sind den entgegengesetzten Weg gegangen und haben den entfremdeten Menschen und die unterdrückte Gesellschaft durch den dialektischen Materialismus zu retten versucht. In unserer Zeit ist es schwieriger geworden, ganz neue Theorien aufzustellen. Immerhin ist versucht worden, in gewisser Weise wieder die Vertragstheorie zu beleben (Rawls) und auf die Notwendigkeit des Dialogs und der Kommunikation aufmerksam zu machen (Habermas). Schließlich wurde die moderne Systemtheorie proklamiert, die wieder einen anderen Denkansatz hat und der eine neue Weltanschauung — Anschauung durch die Brille des Systems! — eigen ist. Um es zu wiederholen: Jede neue Theorie setzt einen neuen Denkansatz voraus. Daß man im Laufe der Geschichte und noch heute die Welt und das Recht unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten kann und betrachtet hat, ist nichts Neues und braucht uns nicht zu beunruhigen. Jeder Mensch kann hier frei wählen. Soweit mir bekannt ist, gibt es noch keine Metatheorie des Ansatzdenkens, die uns diese Wahl erleichtern kann. Hier hat allein der Mensch das letzte Wort und nicht die Theorie. Es ist natürlich möglich, die verschiedenen Denkansätze und die damit aufgebauten Theorien zu unterscheiden und kritisch zu prüfen, ohne daß man sich mit einem Denkansatz identifiziert. Normalerweise ist es jedoch so, daß man nur für eine bestimmte Theorie plädiert und alle anderen als vollkom-

§ 15 Rechtstheorie und Rechtsphilosophie: eine mißlungene Dichotomie?

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men falsch oder irreführend betrachtet. Diese Haltung ist nicht nur typisch für den alten positivistischen Denkansatz von August Comte , sondern auch für die moderne Systemtheorie, die bekanntlich beansprucht, sowohl die Welt als auch das Recht besser verstehen zu können: „Man muß also vom Systemcharakter des Rechts ausgehen, wenn man die einzelnen Grundeinheiten des Rechts angemessen untersuchen will. Erst wenn man nach den Eigenschaften und Prozessen des Rechtssystems als eines Ganzen fragt, werden der stetige Systemwandel und die Interdependenzen mit Umweltereignissen verständlich." 1 2 6 Wenn das so wäre, dann hätten wir bis zum Zeitalter der Systemtheorie vergebens das gesucht, was uns nur die Systemtheorie geben kann. Sicher ist aber, daß auch im modernen Systemdenken die Dichotomie eine unentbehrliche Rolle spielt; denn ohne sie kann das System einfach nicht funktionieren.

§ 15 Rechtstheorie und Rechtsphilosophie: eine mißlungene Dichotomie? „Die Rechtsphilosophie ist tot, es lebe die Rechtstheorie! Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn man die Situation der rechtswissenschaftlichen Grundlagendisziplinen an den juristischen Fakultäten in der Bundesrepublik betrachtet." So fängt die 1975 veröffentlichte Schrift „Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie?" von Ralf Dreier an, einem unter vielen, die dieses Thema kritisch behandelt haben. In der Tat scheint 1970 das Jahr gewesen zu sein, in dem die Fahne der Unabhängigkeit der Rechtstheorie gegenüber der Rechtsphilosophie gehißt worden ist. Wie Dreier bemerkt, wird der Unterschied zwischen beiden Disziplinen von vielen zugleich als Differenz zwischen Wissenschaftlichkeit und Unwissenschaftlichkeit aufgefaßt; und es kann nicht geleugnet werden, daß alles, was neu ist, sich auch auf dem Markt der Wissenschaft gut verkauft. Was die Terminologie angeht, soll aber nicht übersehen werden, daß der Ausdruck „Rechtstheorie" schon längst bekannt war. 1 2 7 Die Neuheit war nur die 126 Τ or stein Eckhoff

und Nils Kristian Sundby, Rechtssysteme. Eine systemtheore-

tische Einführung in die Rechtstheorie, Berlin 1988, S. 13. 127 Um nur ein Beispiel zu erwähnen, wurde von Rudolf Stammler die „Rechtsphilosophie" auch „kritische Rechtstheorie " genannt: „Wir nennen die Rechtsphilosophie, die sich in der hier dargelegten Weise auf ihre Aufgabe, ihren Gegenstand und ihre Methode besinnt, die kritische Rechtstheorie" (Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Berlin und Leipzig 1923, S. 10). Aber schon im Jahr 1667 hat Leibniz in seinem Werk „Nova methodus discendae docendaeque Iurisprudentiae" zwischen einer „Iurisprudentia Theoretica" und einer „Iurisprudentia Practica" unterschieden. Was den deutschen Ausdruck „Rechtsphilosophie " angeht, ist bekanntlich der Göttinger Rechtshistoriker Gustav Hugo (1764-1844) einer der ersten und am nachhaltigsten wirksamen Autoren gewesen, die den Namen „Rechtsphilosophie" aufbrachten. Er veröffentlichte 1798 das — auch dem Titel nach — interessante „Lehrbuch des Naturrechts als einer Philosophie des positiven Rechts" (2. Bd. seines „Lehrbuchs eines civilistischen

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

Entdeckung eines Fachgebiets, das anscheinend von der traditionellen „Rechtsphilosophie" nicht nur unterschieden, sondern sogar getrennt behandelt werden konnte und mußte. Aufgrund der Tatsache, daß diesem neu entdeckten Land kein neuer Name gegeben worden ist, liegt die Vermutung nahe, daß von Anfang an nicht klar gewesen ist, was mit Rechtstheorie gemeint sei. Klar war nur ihr Anspruch auf Unabhängigkeit der Rechtsphilosophie gegenüber. Das ist aber wieder nichts Neues, denn schon im Vorwort zum Band 1 der im Jahr 1926 von Kelsen, Duguit und Weyr gegründeten „Internationalen Zeitschrift für Rechtstheorie" ist zu lesen: „Wenn von einer »Theorie des Rechts' und nicht von Rechtsphilosophie gesprochen wird, so soll damit angedeutet werden, daß das Problem der Gerechtigkeit, des richtigen, gerechten, des natürlichen oder absoluten Rechts in den Kreis jener Erörterungen nicht einbezogen werden soll, denen die neue Zeitschrift gewidmet ist . . . Ihr Arbeitsgebiet ist jene Theorie des Rechts, die nur eine Theorie des positiven Rechts sein kann und will." In der Einführung zum Band 1 der im Jahr 1970 — also 44 Jahre später — von Engisch,

Hart,

Kelsen, Klug

und Popper

begründeten Rechtstheorie ist

Cursus"). Auch die Variante „Philosophie des Rechts" wurde geläufig (z. B.: Christian Weiss, Lehrbuch der Philosophie des Rechts, 1804; Wilhelm Traugott Frug, Aphorismen zur Philosophie des Rechts, 1880). Zugleich wurde um diese Zeit, wie bei Kant, die Bezeichnung „Rechtslehre" gebraucht (z. B.: J. Chr. G. Schaumann, Kritische Abhandlungen zur philosophischen Rechtslehre, 1795; Jacob Friedrich Fries, Philosophische Rechtslehre und Kritik aller positiven Gesetzgebung, 1803; G. E. A. Mehmet, Die reine Rechtslehre, 1815). Interessant ist aber, daß zu dieser Zeit „Rechtsphilosophie" und „Naturrecht" (und auch oft „Rechtswissenschaft") als gleichbedeutende Bezeichnungen verstanden wurden: K. H. Gros, Lehrbuch der philosophischen Rechtswissenschaft oder des Naturrechts, 1802; L. H. Jacob, Philosophie, Rechtslehre oder Naturrecht, 1821; CL A. DrosteHülshoff, Lehrbuch des Naturrechts oder der Rechtsphilosophie, 1832; die von Eduard Gans im Wintersemester 1832/33 wiederaufgenommene Hauptvorlesung „Naturrecht oder Rechtsphilosophie in Verbindung mit Universalrechtsgeschichte" (1981 von Manfred Riedel herausgegeben unter dem Titel: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte); C. L. Michelet, Naturrecht oder Rechtsphilosophie als die praktische Philosophie, enthaltend Rechts-, Sitten- und Gesellschaftslehre, 1866. Es sollte aber nicht übersehen werden, daß der lateinische Ausdruck „philosophia iuris" eine ältere Geschichte hat als der deutsche Ausdruck „Rechtsphilosophie". So hat z. B. F. J. Chopius 1650 ein Werk unter dem Titel „De vera philosophia iuris" veröffentlicht, das auch von Leibniz erwähnt wurde (Nova methodus discendae docendaeque Iurisprudentiae, 1667, P. II, 13), und Leibniz selbst benutzt auch den Ausdruck „philosophia legalis" (ebd., P. II, 100; vgl. auch 43), worauf schon Giorgio del Vecchio (Lezioni di Filosofia del Diritto, 11. Aufl., Milano 1920, S. 191) hingewiesen hat. Auch in Japan hat — mit Verspätung gegenüber Europa — der Name dieser Fachwissenschaft eine ähnliche Umwandlung erfahren. Zunächst wurde sie „seihôgaku " (alter Ausdruck für „Naturrechtslehre") genannt, dann „horigaku" (etwa: Lehre von den Vernunftprinzipien des Rechts, die aber empirisch orientiert war), in der Taisho-Ära „ hôritsutetsugaku" — („Gesetzesphilosophie; von Kant stark beeinflußt), und erst 1935 wurde das Wort „hotetsugaku" (Rechtsphilosophie) von Tomoo Odaka als Titel eines Buches benutzt. Diese Bezeichnung hat sich durchgesetzt, obwohl das Wort „horigaku" noch nicht ganz außer Gebrauch gekommen ist. Für die moderne „Rechtstheorie" wird das Wort „höriron" gebraucht.

§ 15 Rechtstheorie und Rechtsphilosophie: eine mißlungene Dichotomie?

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dagegen keine ausdrückliche Ablehnung der Rechtsphilosophie zu finden. Der Untertitel ist jedoch symptomatisch: „Zeitschrift für Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts". Diesem Untertitel entsprechend werden nämlich in der Einführung Logik, Wissenschaftstheorie, Linguistik, Allgemeine Rechtslehre, Systemtheorie, Rechtssoziologie, Kybernetik und sogar elektronische Datenverarbeitung erwähnt. Es wird auch darauf hingewiesen, „daß vorhandene analytische Ansätze, etwa in der Reinen Rechtstheorie Kelsens, nicht fortentwickelt worden sind". Was Rechtstheorie eigentlich sei, wird nicht weiter erläutert. Es wird lediglich angekündigt, daß die in Frage kommende Zeitschrift „interdisziplinär" sein wird, was später auch in die Tat umgesetzt wurde. Man könnte daher meinen, daß die moderne Rechtstheorie als „Eintopfwissenschaft" betrieben werden kann. Diese Meinung wird aber anscheinend nicht allgemein geteilt. 128 Man könnte auch meinen — ich selber bin jahrelang dieser Auffassung gewesen —, daß etwa um das Jahr 1970 die Rechtstheorie sich endlich von der Rechtsphilosophie unabhängig gemacht hat — ob mit Erfolg, ist eine andere Sache. Aus diesem Grunde ist verständlich, daß die getreuen Rechtsphilosophen nicht nur die Rechtssoziologie, sondern auch die moderne Rechtstheorie als eine usurpatorische Theorie betrachtet und sich mit Sorge gefragt haben, was eigentlich der Rechtsphilosophie geblieben sei. Selbstverständlich kann man sich demgegenüber—angesichts der immer weiter fortschreitenden Dichotomisierung der Rechtstheorie in einzelne Fachgebiete — heute auch mit oder ohne Sorge fragen, was eigentlich der Rechtstheorie geblieben ist. Heute können wir sicher sein, daß die Rechtsphilosophie noch längst nicht tot ist, und auch, daß die Rechtstheorie nicht im Sterben liegt. Wenn wir aber genau zurückblicken, kann, wie mir scheint, festgestellt werden, daß die Rechtsphilosophie keineswegs die Mutter der modernen Rechtstheorie gewesen ist oder daß die Rechtstheorie kein Kind gewesen ist, das von jener Mutter Unabhängigkeit erlangt hat. Die wirkliche Mutter der modernen Rechtstheorie ist der Scientismus, d. h. die bewußte oder unbewußte Ablehnung des philosophischen Denkens, und das setzt ohne Zweifel eine trennende Dichotomie voraus. Der Inhalt der Rechtstheorie aber ist von Anfang an nicht das Produkt einer Dichotomisierung, sondern vielmehr ein unklarer Inbegriff schon erwachsener Fachgebiete gewesen.129 Wenn man sich diese Tatsachen vor Augen hält, fällt es leichter, die Problematik zu verstehen, die um die moderne Rechtstheorie entstanden ist. Zunächst: ι 2 8 So ζ. B. von Ralf Dreier, Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie? Tübingen 1975, S. 18, 19. 129 Dreier spricht davon, „ . . . daß sich die Rechtstheorie zunehmend in Teildisziplinen und Teiltheorien aufgespalten hat" (ebd., S. 19). Ich bin früher auch dieser Meinung gewesen. Richtiger dürfte aber sein, daß die moderne Rechtstheorie von Anfang an außer der Ablehnung des philosophischen (besonders des metaphysischen und naturrechtlichen!) Denkansatzes keine inhaltliche Einheit hatte; denn ihr mannigfaltiger Inhalt hat erst durch die Absorbierung von klar differenzierten und dem Gegenstand nach spezialisierten Fachgebieten Form angenommen.

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

Aus der Ablehnung oder Vertreibung der Philosophie folgt unmittelbar die Proklamation der „Neutralität" der Rechtstheorie gegenüber der Rechtsphilosophie und die Anlehnung — so ζ. B. nach Jürgen Schmidt — an die Sprache: „Rechtstheorie ist vielmehr zu verstehen als deskriptive Theorie einer Sprache, in der juristische Werturteile wesentlich vorkommen. Nur mit diesem Inhalt ist Rechtstheorie als eigenständige Disziplin neben Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Juridik möglich." 130 Aber um die Eigenständigkeit und Neutralität der so verstandenen Rechtstheorie aufrechtzuerhalten, muß Schmidt weiter die Schere der Dichotomisierung benutzen: „Über Werturteile als Wer/urteile kann man nur reden, wenn man auch über ihre Richtigkeit mitredet; Werturteile sind aber auch Wert urteile, gehören einem Sprachsystem an. Hierüber kann man reden — ohne damit zu ihrem Kern als Wertarteile vorzudringen —, auch ohne daß man sich über die Richtigkeit der Inhalte Gedanken machen muß." 131 Die juristischen Werturteile, die als solche anerkannt werden, müssen also von ihrem Wertcharakter bereinigt werden, damit sie Gegenstände der naturalistischen Rechtstheorie werden können. Deswegen muß es nicht wundernehmen, daß man, nachdem so viel abgeschnitten worden war, auch von einer Rechtstheorie ohne Recht reden konnte. 132 Was in die Eintopf-Rechtstheorie hineingetan werden kann, ist ein weiteres Problem, über das die Meinungen auseinandergehen. So wird ζ. B. vertreten, daß die Rechtstheorie weder mit der Methodenlehre noch mit der Allgemeinen Rechtslehre gleichzusetzen ist. 1 3 3 Die Logik scheint heute unbestritten Sache der Rechtstheorie zu sein. Sie war aber von alters her ein Fachgebiet der Philosophie, und noch heute wird sie an den philosophischen — nicht naturwissenschaftlichen — Fakultäten doziert. Plädiert man für die Neutralität der Rechtstheorie, so muß jede Art „kritische Rechtstheorie" in einem anderen Topf gekocht werden. Und auch das soll nicht übersehen werden: Abgesehen von den schon groß gewordenen Kindern, die unter dem Dach der Rechtstheorie untergebracht worden sind, gibt es eine Rechtstheorie nicht. Sie sind Legion: „Die analytischen Theorien" — 130 Jürgen Schmidt, Die Neutralität der Rechtstheorie gegenüber der Rechtsphilosophie. Zwölf Thesen, in: Rechtstheorie 2 (1971), S. 95.

131 Schmidt, ebd., S. 98. 132 Vgl. Hans-Peter Schneider, Rechtstheorie ohne Recht? Zur Kritik des spekulativen Positivismus in der Jurisprudenz, in: Mensch und Recht. Festschrift für Erik Wolf, Frankfurt a. M. 1972, S. 108-136; Karl- Ludiwg Kunz, Die analytische Rechtstheorie: Eine „Rechts"-Theorie ohne Recht? Systematische Darstellung und Kritik, Berlin 1977. Sogar eine „Gerechtigkeit ohne Gerechtigkeit" scheint heute möglich zu sein: Vgl. Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt a. M. 1987, S. 183 ff. 133 So ζ. B. Werner Maihof er, Rechtstheorie als Basisdisziplin der Jurisprudenz, in: Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, hrsg. von H. Albert,

N. Luhmann, W. Maihofer und O. Weinberger,

Düsseldorf 1972, S. 75.

§ 15 Rechtstheorie und Rechtsphilosophie: eine mißlungene Dichotomie?

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Mehrzahl! — „erblicken die Hauptaufgabe der Rechtstheorie in logischen und sprachlichen Analysen, die realistischen Theorien" — Mehrzahl! — „sehen sie in soziologischen und psychologischen Untersuchungen des Rechts und der Rechtswissenschaft". 134 Man kann also noch in dem vermeintlichen Eintopfgericht der Rechtstheorie wählen, was am besten schmeckt. Ein Versuch, Rechtstheorie und Rechtsphilosophie — neben anderen Basisdisziplinen der Jurisprudenz — klar zu unterscheiden, ist von Werner Maihofer unternommen worden. 135 Seine Charakterisierung dieser vier Disziplinen kann mit folgenden Stichworten wiedergegeben werden: a) „Rechtsdogmatik" (Juridik oder Rechtswissenschaft im engeren Sinne) ist die Reflexion des Rechts auf seine Gesetzlichkeit. Hier kommt die formale Positivität des Rechts in Frage. b) „Rechtstheorie " ist die Reflexion des Rechts auf seine Wissenschaftlichkeit. Maihofer erwähnt hier das Rationalitätspostulat und das Intersubjektivitätskriterium. c) „Rechtssoziologie " ist die Reflexion des Rechts auf seine Gesellschaftlichkeit. d) „Rechtsphilosophie " ist die Reflexion des Rechts auf seine Menschlichkeit. Diese Einteilung hat eine gewisse Überzeugungskraft; denn sie ist das Ergebnis der Differenzierung von vier Begriffen (Gesetzlichkeit oder formale Positivität, Wissenschaftlichkeit, Gesellschaftlichkeit und Menschlichkeit), die sicher nicht gleich sind. Damit wird auch bestätigt, was ich schon behauptet habe: Die moderne Rechtstheorie kann nicht einfach als ein Kind der traditionellen Rechtsphilosophie, sondern vielmehr nur als eine Art Autonomieerklärung der „Wissenschaftlichkeit" angesehen werden. Aber gleich danach stellt Maihofer ebenfalls vier Thesen auf, die die inneren Beziehungen dieser vier Fachdisziplinen zeigen und gewährleisten. Sie sind folgende: a) Die Rechtsdogmatik ist der Garant der Gesetzlichkeit von Recht in bezug auf die juristische Argumentation der Rechtstheorie, Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie. b) Die Rechtstheorie ist der Garant der Wissenschaftlichkeit von Recht in bezug auf die juristische Argumentation der Rechtsdogmatik, der Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie. c) Die Rechtssoziologie ist der Garant der Gesellschaftlichkeit von Recht in bezug auf die juristische Argumentation der Rechtsdogmatik, der Rechtstheorie und Rechtsphilosophie. 134 Dreier (FN 128), S. 10. 135 Werner Maihofer, Zum Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtstheorie, in: Rechtstheorie. Beiträge zur Grundlagendiskussion, hrsg. von Günther Jahr und Werner Maihofer, Frankfurt a. M. 1971, S. 247-302.

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2. Abschn.: Fortschreitende Dichotomisierung der Wissenschaft

d) Die Rechtsphilosophie ist der Garant der Menschlichkeit von Recht in bezug auf die juristische Argumentation der Rechtsdogmatik, der Rechtstheorie und Rechtssoziologie. Es geht also nicht, wie Maihofer selbst sagt, um ein „unverbundenes Nebeneinander spezieller Disziplinen", sondern um ein „arbeitsteiliges Zusammenwirken innerhalb einer und derselben Disziplin: Rechtswissenschaft im weiteren Sinne". Hat aber die moderne Rechtstheorie nun wirklich und endlich die vollkommene Unabhängigkeit gegenüber der Rechtsphilosophie erlangt? Schon vor der vollen Blüte dieses neuen Fachgebietes hat Werner Krawietz im Jahr 1967 bemerkt: „Als rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung ist die Rechtstheorie, welche heute unabhängig von der traditionellen Rechtsphilosophie als eigenständige Disziplin betrieben wird, weit davon entfernt, einen Anspruch auf absolute Autonomie zu erheben, und versteht—wie die Rechtswissenschaft überhaupt—ihre Autonomie nur als eine relative." 136 Arthur Kaufmann hat im Jahr 1971 zunächst Zweifel daran geäußert, ob das Formalobjekt der Rechtstheorie einerseits von der Rechtsdogmatik, andererseits von der Rechtsphilosophie abgehoben werden könne („vielleicht hat sie — die Rechtstheorie — gar kein spezifisches Formalobjekt?") 137 , aber wenige Jahre später (1977) behauptete er ganz entschieden: „In Wahrheit besteht auch kein Wesensunterschied von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie. Insbesondere hat die Rechtstheorie kein anderes Formalobjekt als die Rechtsphilosophie."138 Im Ergebnis kann, wie mir scheint, folgendes gesagt werden: Die Ablehnung des philosophischen Denkens ist nicht so neu wie die moderne Rechtstheorie. Rechtstheorie ist, auch als eine Theorie des positiven Rechts, nichts Neues. Ihre Eigenständigkeit und ihr konkreter Inhalt sind unklar geblieben. In diesem Sinne ist die Unterscheidung zwischen Rechtstheorie und Rechtsphilosophie eine mißlungene Dichotomie. Rechtsphilosophie, aber auch Rechtstheorie werden bestehen bleiben. Es steht jedem frei, ein Gebiet der Forschung zu wählen und dort zu verharren. Jedoch ist zu bedauern, daß in der Welt der Theorien, MetaTheorien und Meta-Meta-Theorien so viel Zeit und Energie investiert worden ist, während das lebende Recht, das in seiner Ganzheit vor unseren Augen steht, oft vernachlässigt wird. 136 Werner Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion. Kategoriale und methodologische Überlegungen zu einer funktionalen Rechtstheorie, Berlin 1967, S. 20, 21. 137 Rechtstheorie, Ansätze zu einem kritischen Rechtsverständnis, hrsg. von Arthur Kaufmann, Karlsruhe 1971, Einleitung, S. 1. 138 Artur Kaufmann, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik, in: Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtsheorie der Gegenwart, hrsg. von Arthur Kaufmann und Winfried

Hassemer, Karlsruhe 1977, S. 10. Auch für Hans-Peter Schneider

verfügt die moderne Rechtsheorie nicht nur über ein eigenes Formalobjekt, sondern birgt zudem in sich völlig heterogene Richtungen (FN 132, S. 131).

Dritter

Abschnitt

Dichotomisierung des Untersuchungsgegenstandes Dsi Lu sprach: „Der Fürst von We wartet auf den Meister, um mit ihm Regierungsfragen zu besprechen. Was würde der Meister zuerst in Angriff nehmen?" Der Meister: „Auf jeden Fall die Richtigstellung der Begriffe". Adolf Grabowsky

Wo die Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. Goethe

§ 16 Setzt jeder Gegenstand der Forschung eine Dichotomisierung voraus? Es gibt keine alles umfassende Wissenschaft, die uns hinsichtlich aller möglichen Probleme eine Antwort geben kann. Je nach der Einteilung verschiedener Gegenstände sind verschiedene Wissenschaften und auch differenziertere Fachgebiete entstanden. Es wäre aber falsch zu glauben, daß jede Wissenschaft und jedes Fachgebiet sich nur mit einem Gegenstand der Forschung beschäftigt. Wenn dies der Fall wäre, so wäre mit der Wahrnehmung eines solchen Gegenstandes alles schon getan. Trotz der Einheitlichkeit des Gesichtspunkts und trotz der eigenen Methodologie, die jedem Fachgebiet eigen ist, werden immer eine Fülle komplexer Probleme erforscht, die mindestens begrifflich gesehen verschiedene „Gegenstände" voraussetzen und dementsprechend auch unterschieden werden müssen. Das gilt für die sog. Natur- wie für die Geisteswissenschaften, für die alte Philosophie wie auch für die moderne Rechtstheorie. Interessant ist allerdings, daß die Entdeckung derartiger Gegenstände, die zugleich thematisiert werden, immer Ergebnis einer begrifflichen Dichotomie gewesen zu sein scheint. Das ist auch der Grund dafür, daß jeder Gegenstand der Forschung auch ein Korrelat hat, das selbst dann, wenn es verneint wird, zumindest nicht hinweggedacht werden kann. Dafür lassen sich mit Leichtigkeit alte und moderne Beispiele geben. Unter den alten Dichotomien haben besonders folgende das philosophische und rechtsphilosophische Denken bis zum heutigen Tag belebt:

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3. Abschn.: Dichotomisierung des Untersuchungsgegenstandes

Essenz und Existenz; Akt und Potenz; Ursache und Wirkung; nomos und physis; Gott und Geschöpf; Diesseits und Jenseits; Materie und Form; Substanz und Akzidenz; Teil und Gesamtheit; Episteme und Doxa; Gutes und Böses; Wahres und Falsches; Bewegliches und Unbewegliches; Veränderliches und Unveränderliches; Verstand und Wille; Individualität und Universalität; Mensch und Person; Zweck und Mittel; Materie und Geist; Freiheit und Notwendigkeit; Öffentliches und Privates und dergleichen mehr. Unter den — mindestens dem Namen nach — modernen Dichotomien: Dasein und Sosein; Sein und Sollen; Naturgesetz und Norm; Ursächlichkeit und Zurechnung; Rechtsnorm und Rechtssatz; Geltungsinhalt und Geltungsgrund; Wert und Wirklichkeit; Wert und Werturteil; Kognitivität und Normativität; Materie und Energie; Autonomie und Heteronomie; materiale und formale Gerechtigkeit; subjektives und objektives Recht; Moralität und Legalität; Theorie und Metatheorie; Ethik und Metaethik; System und Umwelt; In-put und Out-put; Autopoiesis und Heteropoiesis u. v. m. Sicher haben nicht alle von diesen — alten oder modernen — Dichotomien denselben Einfluß ausgeübt. Manchen werden einige von diesen Dichotomien auch als obsolet erscheinen. Indessen ist sicher, daß die Geschichte und Entwicklung der Rechtsphilosophie ohne eine solche Dichotomisierung nicht zu verstehen ist. Im folgenden Abschnitt werden wir einige Dichotomien untersuchen, die besondere Bedeutung für das noch nicht geklärte Problem haben, was Recht ist. Noch mehr als bei der Betrachtung der Dichotomisierung der Rechtswissenschaften in einzelne Fachgebiete werde ich nunmehr recht verschiedene Probleme behandeln, die inhaltlich gesehen nicht alle in direktem Zusammenhang stehen. Folglich kann auch ihre Reihenfolge nicht als wichtig angesehen werden. Aber dank dieser bunten Varietät der Thematik wird sich zeigen, was immer wirksam ist: der Prozeß der Dichotomisierung. Genau darum aber geht es hier.

§ 17 Positives Recht (nomo dikaion) und Naturrecht (physei dikaion) Um von der „ersten" Dichotomisierung des Rechts sprechen zu können, müßten uns zunächst alle Rechtskulturen dieser Welt bekannt sein. Das ist aber nicht der Fall. Deswegen werde ich hier nur von der uns als „erste" bekannten Dichotomie sprechen, und zwar so, wie sie in der abendländischen Rechtstradition zu finden ist. Ein weiteres Problem macht bei dieser Untersuchung Schwierigkeiten. Es ist wohl anzunehmen, daß dort, wo Menschen zusammen gelebt haben, eine bestimmte „Rechtsordnung" vorhanden gewesen ist, die uns aber im Fall Griechenlands wenig bekannt ist. Was wir kennen, sind vielmehr die Gedanken, die einzelne Gelehrte jener Zeit sich über das Recht gemacht haben. Indessen können diese sporadischen Meinungsäußerungen kein exaktes Bild davon geben, wie die

§ 17 Positives Recht (nomo dikaion) und Naturrecht (physei dikaion)

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damalige Rechtsordnung eigentlich beschaffen gewesen ist und funktioniert hat. 139 Sicher scheint allenfalls zu sein, daß zunächst eine positive Rechtsordnung vorhanden war, die erst anschließend zum Gegenstand der Diskussion der Gelehrten gemacht worden ist. Das ist aber — worauf Welzel hingewiesen hat 1 4 0 — erst geschehen, als diese Rechtsordnung gerade fragwürdig geworden war. Es ist nämlich in der Zeit der Krise, daß die Menschen anfangen nachzudenken und etwas Neues suchen. Die Suche nach der Einheit in der Verschiedenheit scheint ein natürliches Verlangen der Menschen zu sein. So haben die ionischen Naturphilosophen versucht, den „Urstoff 4 aller Dinge zu klären, ohne dabei zum selben Ergebnis zu gelangen: Für Thaies von Miletus war dieser Urstoff das Wasser, für Anaximenes die Luft, für Heraklit das Feuer. Ihnen allen ist aber gemeinsam, Monisten gewesen zu sein und von der Antithese „Materie — Geist" noch nichts gewußt zu haben. Wenn aber diese Naturphilosophen als „Materialisten" bezeichnet werden, bedeutet das keineswegs, daß sie „Materialisten" im modernen Sinne gewesen sind; denn sie haben die Welt des Geistes nicht verneint. 141 Entweder war die Dichotomie „Materie — Geist" ihnen nicht bekannt, oder sie haben sich nicht für dieses Problem interessiert. Allmählich wurde der Begriff der Natur der Dinge und der kosmischen Ordnung auf die Welt des Menschen und der polis übertragen. Schon in der frühen Stufe des sophistischen Denkens wurden die Begriffspaare Physis und Nomos, Natur und Satzung zwar unterschieden, aber noch nicht als Gegensätze voneinander geschieden, wie Welzel sagt. 142 Damit war aber schon eine Dichotomie vorhanden, und so konnten auch ihre beiden Elemente einen entsprechenden Namen erhalten: „nomo dikaion" (auch „thesei dikaion" genannt) und „physei dikaion". Die Namensgebung ist die Krönung einer neu entdeckten Dichotomie; aber dann wird fast immer eine These aufgestellt, die Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion wird. Diese Diskussion setzt voraus, daß auch die Gegenthese formuliert und vertreten wird. Das ist auch in diesem Fall geschehen. Die Sophisten haben nicht verneint, daß eine menschliche Satzung vorhanden war — das war ein Faktum, das nicht geleugnet werden konnte —, sondern die radikale These vertreten, daß eine solche Satzung mit dem „dikaion", mit der Gerechtigkeit, nichts zu tun habe. Sie haben also nicht die Dichotomie „physis — nomos" 139

Die Gesetze Hammurabis dagegen, die im Jahr 1902 in fast vollständiger Form entdeckt worden sind, sind uns bekannt, nicht aber die Weise, wie sie interpretiert und angewandt wurden. 140 Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., Göttingen 1962, S.9. hi Vgl. Frederick Copleston, A History of Philosophy, Vol. I (Greece and Rome), London 1946, S. 20. 142 Welzel (FN 140), S. 12.

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3. Abschn.: Dichotomisierung des Untersuchungsgegenstandes

als solche verneint, sondern vielmehr die Wertlosigkeit jeglicher menschlichen Satzung in Frage gestellt und damit im Ergebnis die Dichotomie „nomo dikaion — physei dikaion" zugunsten des „physei dikaion" geleugnet. Die Gegenmeinung verneinte dagegen die Möglichkeit eines „physei dikaion" überhaupt. Für die Vertreter diese Meinung — wir nennen sie heute „Positivisten" — war diese Dichotomie nur Sache einiger Gelehrter, also Sache der Theorie, und zwar einer falschen Theorie. Ein Grund für die Ablehnung des „physei dikaion" war unter anderen einfach die Behauptung, es gebe unter dem Himmel nichts, was nicht der Veränderung unterworfen sei, und daß es folglich ein Naturrecht nicht geben könne. 143 Dann aber hat Aristoteles diese Dichotomie verteidigt und sie weiter präzisiert. Nach ihm gibt es beides, sowohl ein nomo dikaion als auch ein physei dikaion, die nicht identisch sind. Seitdem sind die Meinungen der Gelehrten über dieses Problem divergent geblieben. Gerade diese Meinungsverschiedenheit hat die Entwicklung der Rechtsphilosophie bis heute tief beeinflußt. Ob diese Dichotomie heute endlich ihren Sinn verloren hat und ganz überwunden ist, haben wir schon untersucht (§ 10). Hier sei noch bemerkt, daß noch in der letzten Hälfte unseres Jahrhunderts Hans Kelsen diese Diskussion wieder aufgenommen und sich für den Rechtspositivismus entschieden hat, ohne einen „dritten Weg" zu fordern. Sein Argument ist im Grunde genommen genau dasselbe wie dasjenige des alten Positivismus und zugleich eine eingehende Kritik der Auffassung von Aristoteles und aller seiner Anhänger. Es ist hier nicht möglich, den Gedankengang Kelsens eingehend zu verfolgen, der in seinem bekannten Aufsatz „Die Grundlage der Naturrechtslehre" 144 von einem „wissenschaftlichen rationalen Standpunkt" aus die Geltung des Naturrechts verneint. Es soll hier lediglich gezeigt werden, daß die Kritik eine Reihe von Dichotomien voraussetzt, die von Kelsen vollzogen wurden und gerade von ihm als unbestrittene und ewig gesicherte wissenschaftliche Wahrheiten angesehen werden. Ausgangspunkt und Gegenstand der Kritik ist Kelsens eigene Konzeption des Naturrechts: Das „echte" Naturrecht ist und kann nur sein ein ewig unveränderliches Naturrecht. 145 Auch für Kelsen ist ein geschichtliches oder 143 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 5. Buch 1134 Β. 144 Hans Kelsen, Die Grundlage der Naturrechtslehre, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 13 (1963), S. 1-37. 45 1 Nicht nur der Positivist Kelsen, sondern auch viele Naturrechtler haben das Naturrecht so verstanden. Um ein Beispiel aus Japan zu geben: Der bekannteste Vertreter der Naturrechtslehre in diesem Land, Kotarô Tanaka, der interessanterweise schon 1934 Kelsen und besonders seinen Relativismus scharf kritisierte, hat — genau wie Kelsen — das wichtigste Merkmal des auch im juristischen Sinne verstandenen Naturrechts folgendermaßen beschrieben: „Das positive Recht ist veränderlich, das Naturrecht dagegen unveränderlich". Ausführlich zur Auffassung Tanakas: José Llompart, Tanaka Kotaro no shizenhô (Die Naturrechtslehre von Kotaro Tanaka), in: The Annual of Legal Philosophy 1979, Tokyo, S. 1-23. Eine kurze Skizze enthält: ders., Natural Law in Japan and Kotaro Tanaka, in: Vera Lex, 1985, Vol. V, N. 1, p. 7 ff.

§ 17 Positives Recht (nomo dikaion) und Naturrecht (physei dikaion)

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veränderliches Naturrecht undenkbar. Folglich braucht man diese Art von Naturrecht auch nicht zu widerlegen. Kelsen bringt uns zunächst eine Reihe von Dichotomien in Erinnerung, die in der Welt der Wissenschaft nicht als bloße Unterscheidungen, sondern als Trennungen verstanden werden sollen: „Eine Norm ist keine Aussage, eine Vorschreibung ist keine Beschreibung. Der Unterschied ist offenkundig: Die Norm ist der Sinn eines Willensaktes, eines auf das Verhalten eines anderen gerichteten Willensaktes. Die Aussage ist der Sinn eines Denkaktes." Hier spricht Kelsen von „Unterschied", gemeint ist aber eine „Trennung" oder „Spaltung". „Daher ist eine Aussage wahr oder unwahr. Eine Norm aber ist weder wahr noch unwahr, sondern gilt oder gilt nicht." 146 Das ist ganz richtig. Es bleibt nur die Frage, ob eine Norm ohne Aussage möglich ist und ob die Norm die Wahrheit der Aussage ignorieren kann oder nicht. Selbstverständlich wiederholt Kelsen, daß das Sein nicht auf ein Sollen reduziert werden kann. 1 4 7 Kelsen übersieht nicht, daß schon Aristoteles die denkende (theoretische) und die wollende (praktische) Vernunft unterschieden hatte. Hier wird diese „Unterscheidung" aber nicht nur als eine „Spaltung" interpretiert, sondern auch als ein „innerer Widerspruch" getadelt. „Der innere Widerspruch, der in dem Begriff einer denkenden und zugleich wollenden Vernunft liegt, kommt deutlich dadurch zum Ausdruck, daß Aristoteles die Vernunft in eine theoretische und eine praktische Vernunft (den nous theoretikós und den nous praktikós) spaltet." Dann zieht Kelsen die letzten Folgerungen aus seiner eigenen Interpretation: „Eine Vernunft, die befiehlt und der gehorcht wird, kann nur eine denkende und zugleich wollende, das ist eben eine praktische Vernunft sein. Das kann aber nur eine göttliche Vernunft oder die göttliche Vernunft im Menschen sein. Das hat allerdings Aristoteles selbst nicht behauptet. Die Konsequenz der aristotelischen Vernunftlehre hat erst Thomas von Aquino, sein getreuer Schüler, gezogen."148 Hier setzt Kelsen eine These voraus, die normalerweise nur den Theologen bekannt ist. In Gott gibt es keine distinctio realis zwischen Willen und Vernunft. Verblüffend ist aber Kelsens Interpretation der aristotelischen Auffassung. Einerseits soll Aristoteles die Vernunft in eine theoretische und eine praktische, in eine denkende und eine wollende Vernunft „gespalten" haben, andererseits soll für Aristoteles die denkende und wollende Vernunft der Menschen — genau wie bei Gott — identisch sein. Damit wird aber klar, daß nach der Reinen Rechtslehre alle Dinge und alle Begriffe nur entweder vollkommen „getrennt" werden können oder vollkommen „identisch" sind. Medium non datur. Ein „vernünftiges Wollen" ist also nicht möglich. 146 Kelsen (FN 144), S. 2. 147 Kelsen, ebd., S. 3. 148 Kelsen, ebd., S. 9. 6 Llompart

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3. Abschn.: Dichotomisierung des Untersuchungsgegenstandes

Nun hat Thomas von Aquin, der „getreue Schüler" des Aristoteles, den Willen einfach und schlechthin als „appetitus rationis" definiert. 149 Damals war auch schon längst bekannt, daß ein Wollen ohne Denken unmöglich ist: „ignoti nulla cupido" (Ovidius, Die Kunst der Liebe, III, 397). Im allgemeinen kann gesagt werden, daß jede Dichotomie als eine begründete „Unterscheidung" (distinctio cum fundamento in re) oder auch als eine „Trennung" (distinctio in re) verstanden werden kann. Wird sie als „Unterscheidung" verstanden, so braucht sie nicht als eine adäquate Unterscheidung verstanden zu werden. Es ist immer möglich, bezüglich der selben Elemente, aber unter anderen Gesichtspunkten weitere Unterscheidungen zu treffen. Die „Trennung" ist dagegen etwas Endgültiges, und ihre Elemente werden immer als solche adäquat getrennt und unterschieden. Ein Beispiel dafür ist die auch von Kelsen übernommene These der Trennung von Recht und Sittlichkeit. Deswegen ist es auch für Kelsen nicht möglich, Aristoteles zu verstehen, der behauptet: „Ich meine, daß denn doch vielleicht ein guter Mensch sein und ein guter Bürger in jedem betreffenden Staate sein nicht ganz dasselbe ist." 150 Hier „unterscheidet" Aristoteles — soweit mit bekannt ist, zum ersten Mal in der Geschichte des Abendlandes — zwischen dem „guten Bürger" (dem Menschen, der bloß alle Gesetze beobachtet) und dem „guten Menschen" schlechthin, also zwischen Gesetzmäßigkeit und Gerechtigkeit, Recht und Moralität. Da aber für Kelsen alles nur entweder „getrennt" oder „identisch" sein kann, fährt er fort: „Es scheint, daß dem Autor der Nikomachischen Ethik vor der Konsequenz der Identifikation von Gerechtigkeit und Gesetzmäßigkeit doch etwas bange geworden ist. Aber daran, daß nach dem uns vorliegenden Text das positive Recht mit der Gerechtigkeit identifiziert wird, kann nicht gezweifelt werden." 151 Eine „Identifikation" der Gerechtigkeit mit dem positiven Recht wäre nun sicher gegeben, wenn die ganze Gerechtigkeit vollkommen positiviert wäre. Das wird aber hier von Aristoteles nicht behauptet. Wenn man fähig ist, Begriffe zu „unterscheiden", darf nicht behauptet werden, daß die „positivierte Gerechtigkeit" oder ein „gerechtes positives Recht" mit der „Gerechtigkeit" schlechthin identisch ist. 1 5 2 Aber für Kelsen kann die Gerechtigkeit auch nicht teilweise (inadäquat) positiviert werden; denn sie ist immer, ganz genau wie die Moralität, ein „Fremdkörper", den das immer rein positive Recht als solches nicht vertragen kann.

14 9 Thomas Aquinas, Summa theologiae, I, qu. 78, art. 1; qu. 80, art. 1; qu. 81, art. 1 et passim. 150 Zitat nach Kelsen (FN 144), S. 15. 151 Ebd. 152 Deswegen ist es richtig, was Alfred Verdross (Statisches und dynamisches Naturrecht, Freiburg 1971, S. 13) sagt: „Da sie (das nomo dikaion und das physei dikaion) also zwischen zwei Zweigen des Rechts unterscheiden, wird der Sinn dieser beiden Arten nicht richtig wiedergegeben, wenn „physei dikaion" mit „Gerechtigkeit" übersetzt wird."

§ 17 Positives Recht (nomo dikaion) und Naturrecht (physei dikaion)

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Also ist auch hier außer dem „entweder — oder" von Identifikation und Trennung eine dritte Möglichkeit ausgeschlossen. Was die Kritik am „physikön dikaion" und „nomikön dikaion" betrifft 1 5 3 , so ist zunächst zu bemerken, daß Kelsen die Problemstellung richtig gesehen hat. Die von Aristoteles stammende Unterscheidung ist nicht diejenige von Naturrecht und positivem Recht, sondern nur, wie Kelsen sagt, die zweier Arten des positiven staatlichen Rechts, des Rechts der polis. Sowohl das „nomikön dikaion" wie auch das „physikön dikaion" sind also positives Recht; sie werden jedoch „unterschieden". Man könnte heute sagen, daß das „physikön dikaion" das gerechte positive Recht ist kraft seiner Natur und nicht nur dadurch, daß die Menschen es dafür halten oder nicht dafür halten. Das „nomikön dikaion" dagegen soll nur gerechtes positives Recht kraft der menschlichen Satzung sein. Es ist ferner zuzugeben, daß Aristoteles an dieser Stelle nicht klar unterschieden hat, was wir heute „Unveränderlichkeit" oder „Allgemeingültigkeit" und „Unbeliebigkeit" nennen. Diese weitere Dichotomie bezüglich des juristischen Naturrechts ist eine Entdeckung unserer Zeit, von der Aristoteles noch nichts gewußt hat. Deshalb konnte er auch nicht den schon damals gemachten Einwand eindeutig widerlegen, daß bei uns Menschen (im Gegensatz zu den Göttern) alles der Veränderung unterworfen ist und es folglich kein Naturrecht gebe. Er konnte nur behaupten, daß trotz der Veränderung „es allerdings zwar auch ein Naturrecht gibt; allein ein solches Naturrecht ist doch immer auch veränderlich". Deswegen ist auch die Empörung Kelsens nicht unbegründet: „Veränderlich aber nur bis zu einem gewissen Grade!" 1 5 4 Sicher scheint die Erklärung des Aristoteles widersprüchlich zu sein, da ihm — und anscheinend auch Kelsen — die weitere Dichotomie „Unveränderlichkeit" oder „Allgemeingültigkeit" und „Unbeliebigkeit" unbekannt geblieben ist. Sicher ist bei Aristoteles an dieser Stelle aber der „Gedanke" der Unbeliebigkeit zu finden, und zwar in bezug auf das juristische Naturrecht; denn Aristoteles behauptet ganz klar, daß das „physikön dikaion" nicht davon abhängt, ob die Menschen es dafür halten oder nicht. Das wird aber von ihm nur nebenbei gesagt und nicht thematisiert, d. h. zum Grundaxiom der juristischen Naturrechtslehre gemacht, wie es heute der Fall ist. Aber wie schon bemerkt, konnte auch für Kelsen das juristische Naturrecht nur als ein unbedingt ungeschichtliches, unveränderliches und von Gott gewolltes Naturrecht verstanden werden. Folglich mußte für ihn jede Naturrechtslehre auch eine und nur eine Glaubensfrage sein, die mit der Wissenschaft und mit dem Dogma der Reinen Rechtslehre nichts zu tun hat.

153 Kelsen (FN 144), S. 16 ff. 154 Kelsen, ebd., S. 16, 17. 6*

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3. Abschn.: Dichotomisierung des Untersuchungsgegenstandes

§ 18 Recht und Sittlichkeit: eine uralte Unterscheidung im fernen Osten Die in der modernen Zeit mehr oder weniger radikal betonte Trennung von Recht und Sittlichkeit wird oft als eine große Leistung der abendländischen Rechtskultur gefeiert. Noch Hegel glaubte, in bezug auf China feststellen zu dürfen: „Der Mangel des ganzen Prinzips der Chinesen liegt darin, daß bei ihnen das Moralische nicht vom Rechtlichen geschieden ist." 155 Indessen trifft diese Feststellung nicht zu. Genau das Gegenteil dürfte richtig sein. Die scharfe Unterscheidung von fa (Recht) und Ii (sittliche und rituale Ordnung) ist nämlich ein wichtiges Charakteristikum der alten chinesischen Rechtskultur, das sogar in anderen Ländern wie Japan großen Einfluß gehabt hat. Ob in der fernöstlichen Rechtkultur ursprünglich keine Unterscheidung zwischen Recht und Moral gemacht wurde, mag denkbar sein, ist aber nach den überlieferten Quellen geschichtlich nicht festzustellen. Selbstverständlich ist die altchinesische Unterscheidung von fa und Ii nicht mit der modernen und europäischen Dichotomie von Recht und Sittlichkeit gleichbedeutend. Sie ist aber eine echte Dichotomie, deren praktische Folgen auch im nächsten Abschnitt gezeigt werden sollen. Es ist nicht leicht, die Termini fa und Ii in europäische Sprachen zu übersetzen, weil jede fremde Sprache etwas enthält, das nicht übersetzbar und nur nach langer Einfühlungszeit zu verstehen ist. Nach Escarra, der auf Französisch ein bekanntes Werk über das chinesische Recht geschrieben hat 1 5 6 , soll das deutsche Wort „Sittlichkeit" die beste Übersetzung für Ii sein. Das bedeutet aber nicht, daß darunter dann Sittlichkeit à idi Hegel oder im Sinne der abendländischen Kultur zu verstehen ist. Gemeint ist nämlich eine moralische und rituale Ordnung der zwischenmenschlichen Beziehungen, die spontan, d. h. nicht durch Befehl des Machthabers, vom Volk respektiert wird. Fa ist demgegenüber das von dem Machthaber gesetzte Recht, das interessanterweise als Strafrecht und ursprünglich nur als Strafe verstanden wurde. Auf diese Weise wurden fa und Ii klar unterschieden. Sie wurden aber nicht als beziehungslos aufgefaßt; denn wenn das Ii verloren geht, muß das/