Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft: Eine systematische Analyse des Verbrechens- und des Strafbegriffs in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts [1 ed.] 9783428472161, 9783428072163

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Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft: Eine systematische Analyse des Verbrechens- und des Strafbegriffs in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts [1 ed.]
 9783428472161, 9783428072163

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DIETHELM KLESCZEWSKI

Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft

Hamburger Rechtsstudien herausgegeben von den Mitgliedern des Fachbereichs Rechtswissenschaft I der Universität Hamburg Heft 81

Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft Eine systematische Analyse des Verbrechens- und des Strafbegriffs in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts

Von Diethelm Klesczewski

DUßcker & Humblot . Berliß

Gedruckt mit Unterstützung der Universität Hamburg

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Klesczewski, Diethelm: Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft: eine systematische Analyse des Verbrechens- und des Strafbegriffs in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts / von Diethelm Klesczewski. - Berlin : Duncker und Humblot, 1991 (Hamburger Rechtsstudien ; H. 81) Zug!.: Hamburg, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-428-07216-2 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0072-9590 ISBN 3-428-07216-2

Meinen Eltern

Vorwort Vorliegende Arbeit behandelt die Hegeische Straftheorie vornehmlich in der Gestalt, die sie im Rahmen seiner Sozialphilosophie annimmt. Ein Großteil der Anziehungskraft, den Hegels Rechtsphilosophie ausübt, geht von der dort entfalteten Theorie der bürgerlichen Gesellschaft aus. Gerade hier trachtet der Philosoph danach, die Dynamik einer Gesellschaft, die auf Privateigentum und dem Streben nach Wohlstand grundet, aus seiner Philosophie der Freiheit zu begreifen. Vorliegende Schrift bemüht sich darum, dieser ungebrochenen, Wirklichkeits nähe der Hegeischen Sozialphilosophie auch Eingang in die Straftheorie zu verschaffen. Angezielt wird so eine wohlbegrundete Lehre von der Strafe, die nicht Verzicht leisten muß auf unmittelbar für die Praxis bedeutsame Rechtssätze. Vorliegende Arbeit wendet sich daher nicht nur an philosophisch Interessierte; sie richtet sich auch an diejenigen, die vor der Frage stehen, wie hier und jetzt gerecht zu strafen sei. Vorliegende Schrift wurde im Juni 1990 am Fachbereich Rechtswissenschaft I der Universität Hamburg als Doktorarbeit angenommen. Für die freundliche Betreuung meiner Promotion bin ich meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. Köhler, zu großem Dank verpflichtet. Zu danken habe ich ferner Herrn Prof. Dr. Fezer für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe Hamburger Rechtsstudien. Der Universität Hamburg danke ich für den gewährten Druckkostenzuschuß. Aus dem Kreis meiner vielen Gesprächspartner aus den Seminaren von Herrn Prof. Dr. Köhler, Herrn Prof. Dr. Seelmann und Herrn Prof. Dr. Bartuschat möchte ich Herrn Wolf-Rüdiger Molkentin meinen besonderen Dank abstatten. Danksagen will ich schließlich Frau Patricia Krause und meinem Vater für ihren Einsatz bei der Schlußredaktion. Hamburg, im August 1990

Diethelm Klesczewski

Inhaltsverzeichnis

Einführung

1. Das Anliegen der Arbeit

19

11. Die Vorgehensweise ........................................................

20

1. Kapitel

Hegels Verbrechenslehre A. Einführung in die Verbrechenslehre: Die Deduktion des Rechtsbegriffs

26

1. Die Konstitution des Selbstbewußtseins als Vernunft ....................

26

11. Der freie Wille als Prinzip des Rechts ....................................

32

B. Das Verbrechen im abstrakten Recht ...........................................

45

1. Eigentum und Vertrag ......................................................

46

1. Der Personenbegriff Hegels ............................................

46

2. Vorvertragliches Eigentum ........... . . . . . . . .. . . .. . .. . . . . . . . . . . . .. . . .. .

49

3. Der Vertrag ..............................................................

55

4. Hegels Rechtsgutsbegriff •..............................................

59

5. Der Übergang zum Unrecht ............................................

60

II. Das Unrecht .................................................................

63

1. Unbefangenes Unrecht und Betrug.....................................

63

2. Das Verbrechen .........................................................

68

a) Der Erfolgsunwert: Die Verletzung des Rechts als Recht ........

69

b) Der Handlungsunwert: Die Geltungsbehauptung der Unrechtsmaxime ...............................................................

72

c) Vergleich mit der Gewalt des natürlichen Willens ................

75

d) Zusammenfassung ...................................................

77

III. Der Übergang zur Moralität ...............................................

77

C. Verbrechenslehre und Moralität.................................................

78

I. Die allgemeine Fragestellung ..............................................

79

10

Inhaltsverzeichnis 11. Die Folgen für den Verbrechensbegriff ...................................

82

1. Modifizierung des Erfolgsunwertes der Tat ...........................

82

a) Relativierungen ......................................................

83

b) Schärfungen ..........................................................

84

c) Zusammenfassung ...................................................

86

2. Die Handlungslehre .....................................................

86

a) Der aktuelle Verschuldensprozeß ...................................

87

aa) Die Aristotelische Schuldauffassung ..........................

87

bb) Hegels Verständnis von Willensschuld ........................

93

cc) Das affirmative Moment am bösen Willen ...................

101

b) Der habituelle Verschuldensprozeß .................................

105

aa) Hexis als zweite Natur des Menschen.........................

105

bb) Gewohnheit als geistiger Mechanismus .......................

114

aaa) Die anthropologische Seite ..............................

114

bbb) Habituelle Willens schuld ................................

120

ccc) Die Ausdifferenzierung des Grundmodells .............

126

ddd) Haltungsbildung und aktuelle Entscheidung ............

133

eee) Systematische Einordnung des Willensschuldkonzepts ..

133

cc) Zusammenfassung ..............................................

134

3. Folgerungen für das Verständnis des natürlichen Willens ............

135

IH. Zusammenfassung ..........................................................

137

D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft ...................................

138

I. Die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft im Streit der Interpretationen

139

11. Kriminalität in der ständisch integrierten Gesellschaft ...................

155

1. Die konkrete Person im System der Bedürfnisse ......................

156

2. Die Institutionalisierung der Rechtspflege .............................

162

3. Der Gestaltwandel des Verbrechens ...................................

166

a) Erfolgsunwert ........................................................

169

aa) Die Verletzung des Opfers.....................................

169

bb) Die Dimension des verletzten Allgemeinen ...................

171

cc) Strafwürdiges Unrecht..........................................

173

dd) Zusammenfassung ..............................................

175

b) Der Handlungsunwert ...............................................

176

aa) Allgemeine Charakteristik ......................................

176

bb) Die Negation der eigenen Gewohnheit zur Rechtschaffenheit ..

179

cc) Intensitätsgrade .................................................

181

c) Korrespondenzverhältnisse ..........................................

185

Inhaltsverzeichnis III. Die Aufhebung des natürlichen Willens in der Sittlichkeit

11

186

1. Die Rolle der familiären Erziehung ....................................

186

2. Pädagogische Fehlentwicklungen .......................................

191

a) Übererziehung .......................................................

192

b) Vernachlässigung ....................................................

197

c) Pädagogische Überforderung ........................................

199

d) Zwischenergebnis....................................................

200

3. Reaktionen der bürgerlichen Gesellschaft .............................

201

4. Folgerungen für die Verbrechenslehre .................................

203

IV. Die Folgen der Krise der bürgerlichen Gesellschaft für das Verbrechen ....

207

1. Die Erzeugung des "Pöbels" ................ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207

2. Die Überforderung der "Polizei" .......................................

211

3. Die soziale Desintegration der Armen .................................

214

4. Folgen für die Verbrechenslehre .......................................

219

a) Wandel im Erfolgsunwert ...........................................

219

b) Wandel im Handlungsunwert .......................................

222

5. Vergleich des Verbrechens mit der Gewalt des natürlichen Willens . . . . . 227 6. Zusammenfassung .......................................................

230

2. Kapitel Verbrechensreaktion in der Rechtsphilosophie A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht.......................................

232

1. Wiedervergeltung als Grundkategorie der Strafe .........................

232

1. Die Selbstaufhebung der Unrechtsmaxime ............................

232

2. Das Grundrnaß von Strafe und Rache .................................

237

3. Reaktion auf die Gewalt des natürlichen Willens .....................

246

11. Die Form der Vergeltung im abstrakten Recht ...........................

247

1. Die Rache der unmittelbaren Person ............................ . ......

249

2. Die Rache der in sich reflektierten Person ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 3. Die Formalisierung der Rache..........................................

255

4. Vergleich mit dem natürlichen Willen.................................

260

III. Der Übergang in die moralische Wiedergutmachung ....................

262

12

Inhaltsverzeichnis

B. Verbrechensreaktion und Moralität.................................... . .........

265

I. Moralische Wiedergutmachung ............................................

1. Das Prinzip des freiwilligen Schadensersatzes ........................ 2. Die Modifizierung der Belastung durch die Sanktion .................

265 266 267

3. Die immanente Schranke der moralischen Wiedergutmachung ...... a) Die Grenzen des praktischen Wissens .............................. b) Die Mißachtung der Subjektivität des Opfers......................

268 268 270

11. Die Idee der guten, gerechten Strafe ...................................... 1. Das Prinzip der guten, gerechten Strafe ...............................

272 272

2. Die Verkehrung der Strafidee .......................................... 3. Der Übergang in ein sittliches Verständnis von Strafe ...............

274 279

C. Verbrechensreaktion in der bürgerlichen Gesellschaft .........................

283

I. Strafe in der ständisch integrierten Gesellschaft ..........................

284 1. Grundprinzip und Erscheinungsformen der Strafe ............ . . . . . . . . 285 a) Das Grundprinzip der Strafe ........................................ 285

b) Erscheinungsformen der Strafe ..................................... 2. Die Form der Strafverwirklichung .....................................

288 290

a) Das Strafverfahren................................................... b) Die Strafvollstreckung ............................................... aa) Allgemeine Charakteristik ...................................... bb) Die Form der objektiven Seite der Strafe ..................... cc) Die Form der subjektiven Seite der Strafe.................... 3. Das Strafmaß: Strafzumessung und Strafarten ........................ a) Die Faktoren der Strafzumessung .................................. b) Strafarten ........................................ . .................... aa) Die Bewährungsstrafe ..........................................

291 297 298 300 301 304 305 308 308

bb) Die Geldstrafe und ihre möglichen Surrogate .... . . . . . . . . . . . . cc) Weisungen ...................................................... dd) Die Freiheitsstrafe .............................................. 4. Zusammenfassung .......................................................

309 311 315 322

11. Reaktion auf die Gewalt des natürlichen Willens ........................ 1. Die Doppelschichtigkeit des Unrechts ................................. 2. Einzelne Maßnahmen gegen Unfreie................................... a) Die primäre Zuständigkeit der Familie .............................

323 323 325 325

b) Die Vormundschaft.............. ........ ......................... ... c) Die Unterbringung in einer Anstalt................................. 3. Zwischenergebnis .......................................................

326 327 328

4. Reaktion auf Gewalttätigkeit aus verschuldeter Unfreiheit ...........

329

5. Zusammenfassung.......................................................

330

Inhaltsverzeichnis III. Verbrechensreaktion unter den Bedingungen der Krise

13 331

1. Der Wandel der Verbrechensreaktion ..................................

333

a) Veränderungen der objektiven Seite der Strafe....................

333

b) Veränderungen der subjektiven Seite der Strafe...................

339

c) Die Auflösung eines am Schuldausgleich orientierten Strafsystems

341

d) Die Notwendigkeit der Zweispurigkeit von Strafe und Maßregel....

349

2. Die Funktionalisierung des Sanktionensystems ........................

352

3. Zwischenergebnis .......................................................

352

4. Die Aufhebung der institutionellen Verkehrung der Strafidee ........

354

a) Der allgemeine kategoriale Rahmen des Rückfallzirkels ..........

355

b) Der Funktionsverlust der Strafrechtspflege ........................

362

3. Kapitel Strafrecht unter der Herrschaft des substantiellen Staates I. Korporationen als Zwischenstufen staatlicher Integration ................

369

H. Aufgaben des Staates .......................................................

372

1. Die allgemeine Aufgabe des Staates ...................................

372

2. Die Bedeutung für die Erneuerung des Strafrechts ...................

373

a) Verbrechensreaktion als Wiederherstellung des sittlich konkreten Rechtsverhältnisses ..................................................

374

b) Das Maß der Maßregel..............................................

377

3. Zur Wiederherstellung des sittlich konkreten Rechtsverhältnisses bei Hegel ............................................................ .........

383

III. Zusammenfassung

384

Zusammenfassung

386

Literaturverzeichnis

400

Abkürzungsverzeichnis a. a. A.

abI. Abs. AE

=

AE-StVollzG

=

a. F. allg. A. a.M. Anm. Arch. f. Begriffsgesch.

=

Arch. Gesch. Phil.

=

ARSP

=

Art. Aufl. Ausf. BayOblG Bd. bezügl. BGB BH Bsp(e) bzw. ca. d.

=

= = =

=

= =

= = =

= = =

= =

=

aber andere Ansicht ablehnend Absatz Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Tübingen 1969; hrsg. v. Jürgen Baumann, Anne-Eva Brauneck, Ernst-Walter Hanack, Arthur Kaufmann, Ulrich Klug, Ernst-Joachim Lampe, Werner Maihofer, Peter Noll, Claus Roxin, Rudolf Schmitt, Hans Schultz, Günther Strathenwerth, Walter Stree unter Mitarbeit von Stephan Quensel Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, vorgelegt von einem Arbeitskreis deutscher und schweizerischer Strafrechtslehrer, Tübingen 1973, bearbeitet von Jürgen Baumann, Anne-Eva Brauneck, Rolf-Peter Callies, Ernst-Walter Hanack, Stephan Quensel, Claus Roxin, Rudolf Schmitt, Horst Schüler-Springorum, Günther Strathenwerth alte Fassung allgemeine Auffassung andere Meinung Anmerkung Archiv für Begriffsgeschichte, zitiert nach Band, Jahrgang und Seite Archiv für die Geschichte der Philosophie, zitiert nach Jahrgang und Seite Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, zitiert nach Band, Jahrgang und Seite Artikel Auflage ausführlich Bayerisches Oberstes Landesgericht Band bezüglich Bürgerliches Gesetzbuch vom 18. 8. 1896 in der Fassung der Bekanntgabe vom 12. September 1990 Beiheft Beispiel(e) beziehungsweise circa der, die, das, des

Abkürzungsverzeichnis dass. ders. d. h. d. i. dies. Diss. Ein!. Erg. et. a!. etc. f. ff. Fn. FS GA gern. HegeIJb h.M. Hrsg. HS i. e. Ill. insbes. Internat. Phil Quarterly i. V. m. J. Hist. Phi!.

J. Phän. Res. JuS JZ Krit. KS M. m. M.E. MS MSchrKrim.

m.w.N.

15

= dasselbe = derselbe = das heißt = das ist = dieselbe(n) = Dissertation = Einleitung = Ergebnis = et altera = et cetera = folgende = fort folgende = Fußnote = Festschrift = Goltdammers Archiv für Strafrecht, zitiert nach Jahrgang und Seite = gemäß = Hegel Jahrbuch, zitiert nach Jahrgang und Seite = herrschende Meinung = Herausgeber, herausgegeben = Hegel Studien, zitiert nach Band, Jahrgang und Seite = im einzelnen = Illinois = insbesondere = International Philosphical Quarterly, zitiert nach Band, Jahrgang und Seite = in Verbindung mit = Journal for the History of Philosophy, zitiert nach Band, Jahrgang und Seite = Journal for Phenomenological Research, zitiert nach Band, Jahrgang und Seite = Juristische Schulung, zitiert nach Jahrgang und Seite = Juristenzeitung, zitiert nach Jahrgang und Seite = kritisch = Kant Studien, zitiert nach Jahrgang, Band und Seite = Meinung, Main = mit = meines Erachtens = Marxismus Studien, zitiert nach Band, Jahrgang und Seite = Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform, (1904/1905 - 1936), Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform, (1937 -1944), Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, zitiert nach Jahrgang und Seite = mit weiteren Nachweisen

16 Nachw. Nr. N. Y. o. o. V. Phil and Soeial Criticsm PhilJb. prALR Proc. Arist. Soc. Randbem. Rdnr(n). Rev. of Metaphysics Rev. Philos. de Louvain RuP S. s. Schw. Monatshefte seil. Sp. StGB StPO str. StVollzG

u.

u. a. u. ä.

umfass. u. ö.

usf. usw. u. U. v. Verf. vgl. VoL

Abkürzungsverzeichnis Nachweis(e) Nummer New York oben ohne Vornamen Philosophical and Soeial Criticism, zitiert nach Band, Jahrgang und Seite Philosophisches Jahrbuch, zitiert nach Band, Jahrgang und Seite Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 Proceedings of the Aristotelian Soeiety, zitiert nach Band, Jahrgang und Seite Randbemerkung Randnummer(n) Review of Metaphysics Revue Philosophique de Louvain, zitiert nach Band, Jahrgang und Seite Recht und Politik, zitiert nach Jahrgang und Seite Seite siehe Schweizer Monatshefte, zitiert nach Band, Jahrgang und Seite scilicet Spalte Strafgesetzbuch. In der Fassung der Bekanntgabe vom 10. März 1987, zuletzt geändert am 12. September 1990 Strafprozeßordnung. In der Fassung der Bekanntgabe vom 7. April 1987, zuletzt geändert am 5. November 1990 streitig Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung vom 16. März 1976, zuletzt geändert am 31. August 1990 und, unten unter anderem und ähnliches umfassend und öfter und so fort und so weiter unter Umständen von, vom Verfasser vergleiche Volume

AbkÜfzungsverzeichnis

w.

weiter Wiener Jahrbuch für Philosophie, zitiert nach Band, Jahrgang und Seite = zahlreich(en) zahlr. z. B. zum Beispiel Z. f. deutsche Kulturphil. Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie, zitiert nach Band, Jahrgang und Seite ZfRsoz. Zeitschrift für Rechtssoziologie, zitiert nach Jahrgang und Seite zitiert zit. Zeitschrift für philosophische Forschung, zitiert nach ZphF Band, Jahrgang und Seite Zeitschrift für Rechtspolitik, zitiert nach Jahrgang und ZRP Seite Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, zitiert ZStaatswiss. nach Band, Jahrgang und Seite Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, ZStW zitiert nach Band, Jahrgang und Seite = Zusatz, Zusammenfassend, zusammen Zus. = Zustimmend Zust. Wiener Jb. f. Phil.

2 Klesczewski

17

Einführung I. Das Anliegen der Arbeit

Zweck der vorliegenden Untersuchung ist es, nachzuprüfen, inwiefern das Hegeische Verständnis von Strafe, "Wiederherstellung des Rechts" zu sein 1, auch in allen von ihm geschilderten Entwicklungsstadien der bürgerlichen Gesellschaft 2 Geltung beanspruchen kann. Damit wird gleichzeitig der Aufweis angezielt, daß die ungebrochene Wirklichkeitsnähe, die man der Hegeischen Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft im allgemeinen zuschreibt 3 , auch auf seine Straftheorie in diesem Kontext zutrifft. Die hier verfolgte Absicht ist damit zum einen eine philosophiehistorische, weil der inneren Konsistenz der Hegeischen Straftheorie im Gesamtsystem seiner praktischen Philosophie nachgegangen wird; sie ist zum anderen aber wirklichkeitsbezogen, indem es um die dem Strafrichter sich immer wieder neu stellende Frage geht, wie hier und jetzt gerecht zu strafen sei. Die Arbeit reiht sich damit in die Versuche ein, dieses Problem einer Lösung zuzuführen. Sie geht insofern neue Wege, als sie sich um die Ausformulierung der Straftheorie gerade im Rahmen der Hegeischen Sozialphilosophie bemüht. Bei der Explikation des Verbrechensbegriffs kann zwar auf eine große Zahl an Vorarbeiten zurückgegriffen werden 4. Dabei steht aber das Bemühen um den Begriff des Verbrechens und die Zurechnungslehre im Vordergrund. Auch die Hegeische Straftheorie hat häufig das Interesse auf sich gezogen 5 • Selten beachtet wurde aber der Aspekt, Strafe als ein Rechtsverhältnis kenntlich zu machen 6 , Rph. § 99, S. 187. Rph. §§ 182 - 256, S. 339 - 398. 3 Dazu nur Dreier, Recht, 1980, S. 321 m. w. N. 4 Einen Überblick über die Hegel-Rezeption im 19.Jh. gibt Sulz, Hegels philosophische Begründung, 1910, S. 16 ff. und v. Bubnoff, Entwicklung, 1966, S. 56 ff. Zu den Neuhegelianern vgl. Marxen, Kampf, 1975, S. 239 f. und R. Schmidt, Rückkehr zu Hegel, 1913. Die gegenwärtige Renaissance ist namentlich abzulesen in den folgenden Arbeiten: M. Köhler in: FS Lackner, 1987, S. 11 ff.; Seelmann JuS 1979, S. 684 ff. und Schild, ARSP 70, 1984, S. 88 ff. In die angelsächsische Diskussion führt Primoratz ein, in: HS 15, 1980, S. 187 ff. m. w. N. Zu russischen Juristen, die sich als Hegelianer verstanden, s. Piontkowski, Hegels Lehre von Staat und Recht, 1960, S. 181 ff. 5 Neben den eben Genannten sind hier namentlich Flechtheims Arbeiten zu nennen, die vornehmlich der Entwicklung der Hegeischen Straftheorie in den verschiedenen Schriften nachgeht, s. ders., Von Hegel zu Kelsen, 1963, S. 9 ff.; ARSP 54, 1968, S. 539 ff. und namentlich Hegels Strafrechtheorie, 1975, S. 29 ff. 6 s. zunächst Enzykl. § 495, S. 308 f. 1

2

2*

20

Einführung

an dem neben abstrakt-rechtlichen Kriterien auch moralische und sittliche Aspekte aufgezeigt werden können 7. Letzteres soll hier dagegen im Mittelpunkt stehen, um der inneren Stimmigkeit der Straftheorie im Rahmen der Hegeischen Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft nachzuspüren.

11. Die Vorgehensweise

Probierstein der Überprüfung, ob Strafe in allen i~ren Gestalten Wiederherstellung des Rechts ist, kann gemäß dem Wesen der Hegeischen Straftheorie, dem Prinzip der Wiedervergeltung 8 , nur die Handlungsmaxime des Verbrechers selbst sein. Es ist also namentlich für die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft herauszuarbeiten, welche Rolle und welche Bedeutung Kriminalität hier gewinnt. Ob Strafe in der Lage ist, die Geltung des Rechts zu restituieren, ist am anspruchsvollsten Maßstab zu ermitteln. Dieser kann aber allein in der schwersten Form des Verbrechens gesehen werden, der gewohnheitlichen Tatbegehung. In einem ersten Schritt ist danach zu klären, wie sich im Rahmen der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft der Begriff des Gewohnheitsverbrechens definiert. In einem zweiten Schritt muß dargelegt werden, wie nach Hegel darauf angemessen reagiert werden kann und muß. Beidesmal stößt man jedoch auf Schwierigkeiten, die es zum einen angezeigt sein lassen, die Entfaltung der Verbrechenslehre im Ganzen der praktischen Philosophie Hegels der Darstellung der Straftheorie voranzustellen. Zum anderen bedarf es auch einer Auseinandersetzung mit dem Problem, welche Stellung die Hegeische Analyse der bürgerlichen Gesellschaft in seinem Gesamtsystem einnimmt. Methodisch müssen nämlich die Merkmale von Verbrechen und Strafe durch eine systematische Auslegung derjenigen Textstücke ermittelt werden, in denen Hegel innerhalb der Abhandlung über die bürgerliche Gesellschaft auf sie zu sprechen kommt. Hegel entfaltet seine Theorie der bürgerlichen Gesellschaft im Rahmen seiner praktischen Philosophie, deren Kernstück die Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1821 (Rph.) bildet. Zu ihrem näheren Verständnis können mehrere, mittlerweile veröffentlichte Vorlesungsnachschriften herangezogen werden 9. Kurzfassungen dieses epochalen Werkes finden sich in den einzelnen Ausgaben der Enzyklopädie 10. Neben einigen anderen Werken sind ferner ebenso zu berück7 Paradigmatisch aber in diese Richtung der Beitrag von M. Köhler (Fn. 4); Ansätze auch in den Aufsätzen von Schild und Seelmann (Fn. 4). 8 Rph. § 101, S. 192. 9 Es sind dies die Nachschriften von Wannenmann 1817/18, von Homeyer 1818/ 19, von einem Unbekannten 1819/20, von Hotho 1822/23 und von Griesheim 1824/ 25. Zur Veröffentlichung und Zitierweise s. das Literaturverzeichnis.

11. Die Vorgehensweise

21

sichtigen das System der Sittlichkeit (SdS) und die einschlägigen Passagen der Jenaer Realphilosophie (JR) bzw. der Phänomenologie des Geistes (Phän.). Geht man diese Arbeiten durch, so fällt zweierlei auf: Zum einen fehlt eine ausführliche Stellungnahme zum eben angesprochenen Fragenkreis der gewohnheitlichen Tatbegehung fast völlig; darin eingeschlossen ist, daß die Auffassung Hegels, wie darauf angemessen zu reagieren sei, im Grundsätzlichen verharrt. Zum anderen müssen auch für Verbrechen und Strafe diejenigen Folgerungen gezogen werden, die aus der von Hegel geschilderten inneren Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft erwachsen. Auch hierzu sind in den angeführten Texten nur Ansätze zu finden. Vorliegende Arbeit will die Lösung dieser beiden Problempunkte über zwei Wege erreichen: Zum einen soll getrennt für Verbrechen und Strafe verfolgt werden, wie sich die im ersten Abschnitt der Rph., dem abstrakten Recht, aufgeführten Grundkategorien stimmig im Gesamtsystem bis zur Sittlichkeit fortentfalten. Zum anderen wird der Analyse der Verbrechenslehre im Rahmen der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft eine eigene Stellungnahme in der Kontroverse um die Frage der Einordnung dieser Theorie in das Gesamtsystem vorangestellt. Dieses Vorgehen begründet sich wie folgt: Was den ersten Problempunkt angeht, so werden die Erscheinungsformen, welche Verbrechen und Strafe innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft annehmen, in den §§ 218, 220 Rph. zwar allgemein herausgestellt. In einer Vorlesung hat Hegel diese Grundbestimmungen auch folgendermaßen auf das Gewohnheitsverbrechen bezogen: ,,Es gibt auch andere Rücksichten, die die Strafe ·schärfen, z. B.... wenn einer nicht zum erstenmal ein Verbrechen begeht. Zur Handlung gehört wesentlich die Seite des Willens, und in dem Willen, der handelt, treten quantitative Unterschiede ein . . . Ebenso ist es, wenn der Wille mehrere Stufen überwunden hat. So zeigt die Wiederholung des Verbrechens, daß das Verbrechen, das Böse, zum Allgemeinen, Bleibenden, zur Gewohnheit geworden ist, und auf alles dieses muß bei der Ahndung gesehen werden." 11 Doch schon dieses Zitat zeigt überdeutlich, daß ohne eine Klärung der Grundbegriffe von Recht und Unrecht der Stellenwert des (gewohnheitlichen) Verbrechens, wie ihn Hegel innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt, nicht aufgehellt werden kann. Zur Vorbereitung hierauf bietet es sich daher an, in einem systematischen Durchgang durch diejenigen Abschnitte der Rph., welche der Sozialphilosophie vorausgehen, denjenigen kategorialen Rahmen zu sichten, auf den Hegel sich bei seiner Darstellung des Verbrechens innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft 10 Herangezogen wird die dritte Auflage aus Berlin (EnzykI.) und die erste Auflage aus Heidelberg (HE). Zur Veröffentlichung und Zitierweise s. das Literaturverzeichnis. 11 Nachsehr. Wannenmann, in Ilting, S. 132.

22

Einführung

augenscheinlich stützt. Aus dem abstrakten Recht sind die Grundkategorien des Verbrechens zu entnehmen, während der Moralitätsteil namentlich danach befragt werden muß, wie gewohnheitlich verfestigtes Verhalten zugerechnet werden kann. Freilich findet sich hier nur eine kurze Bemerkung dazu 12. Bringt man sie aber in Zusammenhang sowohl mit dem Grundsatz der Willensschuld, der dort entwickelt wird, als auch mit der Schilderung der Gewohnheit in der Lehre vom subjektiven Geist, so kann hinreichend präzise herausgearbeitet werden, worin Hegel habituelles Verschulden erblicken würde. Dabei erweist es sich als störend, wenn für jeden Systemteil sofort auch die Folgerungen für die Straftheorie gezogen würden. Denn der Leser würde so von der Fortbestimmung des Verbrechensbegriffs abgelenkt werden. Aus diesem Grund wird die Verbrechenslehre in ihrer Gesamtheit vor die systematische Darstellung der Straftheorie gezogen. Am Ende des ersten Kapitels steht dann die Vollform gewohnheitlicher Tatbegehung in der konkreten Gestalt, den sie in der bürgerlichen Gesellschaft einnimmt. Sie ist damit erst der Problemfall, an dem sich die Strafe beweisen muß. Dieses Vorgehen ist auch für die Beantwortung der Frage nach der angemessenen Sanktion sinnvoll: Gemäß der noch näher zu begründenden Ausgangsthese wird Strafe als ein spezifisches Rechtsverhältnis begriffen. An ihm müssen neben abstrakt - rechtlichen Kriterien auch moralische und sittliche Aspekte aufgezeigt werden können. Dieser Aufweis kann innerhalb Hegels System nicht anders geschehen als durch Übertragung derjenigen Kriterien, die in der dialektischen Fortentwicklung des Rechts zur Sittlichkeit im allgemeinen bei Hegel abgeleitet werden. Weniger noch als bei der Erarbeitung des Hegeischen Begriffs des Gewohnheitsverbrechens kann sich vorliegende Untersuchung hier auf ausdrückliche Stellungnahmen Hegels stützen. Umso größer ist die Gefahr, daß ihm bei der begrifflichen Rekonstruktion die Gedanken des Interpreten unterlegt werden 13. Dies trifft ebenso auf den zweiten Problempunkt zu, der oben angesprochen worden ist: Hegel schildert die bürgerliche Gesellschaft nicht nur im Status einer stabilen ständischen Integration; vielmehr zeigt er auch den Zustand auf, den sie in der Krise annimmt 14. Welche Auswirkungen diese Krise für das Strafrecht zeitigt, wird dort nicht ausdrücklich reflektiert. Dadurch ist jedoch die Eignung des Textes für die hier angestrebte Problemlösung noch nicht in Frage gestellt. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die eben angeführte Textstelle allein auf eine Erscheinungsform der bürgerlichen Gesellschaft zugeschnitten wäre. Dagegen spricht schon die doppelsinnige Formulierung im Corpus des § 218 Rph. 15 : 12 13

14

Rph. § 140 Anm., S. 266 f. Fn. Darauf mach insbesondere R. Brandt, Interpretation, 1984, S. 11 ff., aufmerksam. s. einerseits Rph. §§ 199 ff., S. 353 ff., und andrerseits Rph. §§ 241 ff., S. 387 ff.

11. Die Vorgehensweise

23

"Indem Eigentum und Persönlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft gesetzliche Anerkennung und Gültigkeit haben, so ist das Verbrechen nicht mehr nur Verletzung eines subjektiv Unendlichen, sondern der allgemeinen Sache, die eine in sich feste und starke Existenz hat. Es tritt damit der Gesichtspunkt der Gefährlichkeit der Handlung für die Gesellschaft ein, wodurch einerseits die Größe des Verbrechens verstärkt wird; andrerseits aber setzt die ihrer selbst sicher gewordene Macht der Gesellschaft die äußerliche Wichtigkeit der Verletzung herunter und führt daher eine grössere Milde in der Ahndung desselben herbei."

Des weiteren steht der Übertragung des unmittelbaren Sinngehaltes der Textstelle auch nicht entgegen, daß er sich auf eine grundsätzliche Aussage beschränkt. Vielmehr ist eine problemorientierte Interpretation in philosophischer Absicht legitimerweise fast stets mit der konstruktiven Fortführung der ermittelten Grundgedanken verbunden 16. Sie kann dabei auch an Überlegungen Hegels anknüpfen: Denn Hegel schildert eindringlich die Folgen geistiger Verelendung, die materielle Not nach sich zieht, namentlich den Verfall des Rechtsbewußtseins 17. Zwar zieht Hegel keine Konsequenzen für das Strafrecht. Dennoch spricht dieser Befund bereits auf den ersten Blick dafür, daß kein fremdes Gedankengut an Hegel herangetragen wird. Denn der Gedanke der geistigen Verelendung läßt sich auf die Problematik des Verbrechens aus Gewohnheit oder Willensschwäche etc. übertragen. Trotzdem stellt sich auch hier die Frage der korrekten Methode mit besonderer Dringlichkeit. Nachstehende Ausführungen dienen daher dem Ausweis und der Rechtfertigung der eingeschlagenen Vorgehensweise. Was die Entfaltung der Grundkategorien von Verbrechen und Strafe bis hin zur Sittlichkeit angeht, so soll folgende Methode angewandt werden: Damit die Einstellung des Autors nicht unbewußt den Ertrag der Untersuchung verfälscht, soll das hier leitende Interesse, eine Antwort auf das praktische Problem der gerechten Strafe zu geben, bewußt eingebracht werden. Dies soll dadurch geschehen, daß bei der Konkretisierung der Hegeischen Verbrechens- und Straftheorie folgendermaßen verfahren wird: Die Resultate der Textexegese werden stets mit vergleichbaren Thesen aus der heutigen Kriminologie und Strafrechtsdogmatik konfrontiert, um so den Standpunkt Hegels in dieser Auseinandersetzung zu präzisieren. Mit dieser Methode der bewußten Einführung fremder Gedankenwelten, die der aktuellen Auslegungssituation des Verfassers entstammen, soll einer unreflektierten Horizontverschiebung entgegengewirkt werden. Dabei steht das Bemühen im Vordergrund, dieses Interpretationsverfahren in einer Weise zu handhaben, die der Hegels nicht widerstreitet 18. Aus diesem Grund ist das Vorgehen der von Hegel Ebda., S. 371 f. So Gatzemeier in: Kambartel I Mittelstraß, 1973, S. 311,316; ähnlich auch Betti, Allgemeine Auslegungslehre, 1967, S. 432 ff. 17 Rph. § 244, S. 389 f. 15

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Einführung

verwendeten Methode nachgebildet: Auch er gewinnt seinen philosophischen Standpunkt in der Auseinandersetzung mit Strafrechtslehrern seiner Zeit 19. Zwar konnte er noch nicht auf eine empirische Theorie des Verbrechens zurückgreifen, die sich erst nach seinem Tode entwickelt hat 20 • Wie die Auswertung der zeitgenössischen Staatsökonomie jedoch zeigt, war Hegel bestrebt, empirische Theoriebildung seiner Sozialphilosophie einzuverleiben, wo dies für ihn möglich war 21 • Er hätte demnach sicherlich auch kriminologische Erkenntnisse kritisch verwertet, wenn es sie zu seiner Zeit bereits gegeben hätte 22 • Ist die so vorgenommene Entwicklung der Grundkategorien von Verbrechen und Strafe bis zum Systemabschnitt "Bürgerliche Gesellschaft" vorangetrieben worden, so stellt sich das zweite, oben angesprochene Problem: Voraussetzung für die hier namentlich im Bereich der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft erforderliche Rekonstruktion ist nämlich die genaue Herausarbeitung der Stellung dieses Abschnittes im Gesamtsystem der praktischen Philosophie Hegels. Dies gilt besonders für den Teil, in dem auf die krisenhafte Entwicklung der Gesellschaft eingegangen wird. Hier wird wie folgt vorgegangen: Der Analyse der Verbrechenslehre im Rahmen der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft wird eine eigene Stellungnahme in der Kontroverse um die Frage der Einordnung dieser Theorie in das Gesamtsystem vorangestellt. Angesichts des Ausmaßes der Meinungsverschiedenheiten in der Sekundärliteratur, das bei der Einordnung von Hegels Sozialphilosophie in sein Gesamtwerk besteht 23, wäre die Lösung dieser Aufgabe eine eigene Arbeit wert. Um die hier hauptsächlich angestrebte Detailarbeit am Strafrecht nicht unter diesem Grund18 Damit sollen die Spannungen zwischen der unausweichlichen Aktualität jeden Sinnverstehens und der Forderung nach einem werkimmanenten hermeneutischen Maßstab nach Möglichkeit gemildert werden. Vgl. zu dieser Problematik Betti, Allgemeine Auslegungslehre, 1967, S. 216 ff., 226 ff., 229 ff., 233 ff. jeweils m. w. N.; Brandt, Interpretation, 1984, S. 63 ff. Die Diskussion um den wissenschaftstheoretischen Status der Hermeneutik kann hier noch nicht einmal annähernd aufgenommen werden. Ein Hinweis auf die informative Bestandsaufnahme Gadamers (Artikel Hermeneutik, in: Ritter, Historisches Wörterbuch, Band 3, Sp. 1061 ff. m. w. N.) muß genügen. 19 s. Rph. § 99 Anm., S. 187, wo auf E. F. Klein, dem Schöpfer des prALR, eingegangen wird und Rph. § 99 Zus., S. 190, der eine Kritik von P. J. A. Feuerbach enthält. 20 Überblick bei Kaiser, Kriminologie, 1988, S. 38 ff., insb. S. 41 ff., 43 f., 46 ff. m. w. N. Immerhin setzt sich Hegel mit den kriminalpolitischen Thesen Beccarias auseinander, vgl. Rph. § 100 Zus., S. 192. Der Italiener gilt ja als einer der ersten, der die Ursachen von Verbrechen in einer rückständigen Rechts- bzw. Gesellschaftsverfassung erblickt hat, so Pilgrim, Art. Kriminalitätstheorien, ökonomische, in: Kaiser, et. al.: KKW, 1985, S. 215 ff., 216. 21 Ausdrücklicher Verweis bei Hegel in Rph. § 189 Anm., S. 346 f. Eingehend dazu Riedei, Studien, 1969, S. 75 ff. 22 M. E. werden diese anderen Forschungsansätze hier auch nicht instrumentalisiert. Ihnen geht es ja ebenfalls um die mit Wahrheitsanspruch auftretende Frage, ob und wie gerecht gestraft werde. 23 Vorzügliche Einführung bei Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 23 ff. u. ö.

11. Die Vorgehensweise

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satzstreit verschwinden zu lassen, wird folgender Ausweg aus diesem Dilemma beschritten: An den Anfang desjenigen Kapitels, das die Verbrechenslehre im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft ausarbeitet, wird ein Abschnitt gestellt, der den Standort der hier gewählten Interpretation offenlegt und in der Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen in einem hier angemessenen Umfange begründet. Dabei kann diese Stellungnahme deshalb umso kürzer ausfallen, weil der vorangegangene systematische Durchgang durch Hegels praktische Philosophie ja nicht nur die Grundkategorien des Verbrechens als solches Abschnitt für Abschnitt weiterentwickelt; vielmehr sind dessen Bestimmungen nach der Eigenart der Hegeischen Methode der fortschreitenden Begriffsexplikation ihrerseits ja abhängig von der Klärung der Frage, welcher Stand der Entfaltung des Rechts, gegen das sich das Verbrechen ja stets richtet, im jeweiligen Systemabschnitt von Hegel geschildert wird. Aus diesem Grund kann auch bei der Einordnung der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft auf diese Vorarbeiten zurückgegriffen werden. Voraussetzung für ein derartiges Nachzeichnen der Entfaltung des Rechts ist jedoch die Beantwortung der Frage, wie Hegel das Recht begrifflich faßt und was er unter der Entwicklung des Rechts versteht. Denn nur so kann begründet zwischen Recht und Unrecht unterschieden werden. Deshalb führt die Deduktion des Rechtsbegriffs in die Hegeische Verbrechenslehre ein.

1. Kapitel

Hegels Verbrechenslehre Die Rph. geht auf das Verbrechen zuerst im abstrakten Recht ein 1. Ein näheres Verständnis des Begriffs des Verbrechen, "Verletzung des Rechts als Recht" zu sein 2 , setzt daher nicht nur die Erläuterung dessen voraus, was Hegel allgemein als Recht auffaßt. Zugleich müssen die ersten Entwicklungsformen des Rechts geschildert werden. Denn nur ihnen ist das Verbrechen in seiner Grundkategorialität ja entgegengesetzt. A. Einführung in die Verbrechenslehre: Die Deduktion des RechtsbegritTs Hegel definiert Recht allgemein als ein "Dasein der Freiheit" bzw. als "die Freiheit, als Idee" 3. Dasein heißt hier näher, etwas" ... sich Gegenüberstehendes zu sein ..."4. Man kann hieraus schließen, daß Recht damit ein Sich-Gegenüberstehen freier Willen meint5, also eine Beziehung freier Willen aufeinander, wie es das Rechtsgebot der Rph befiehlt 6 : "sei eine Person und respektiere andere als Personen." In Anlehnung an andere Schriften käme man so zu einer Identifikation von Recht und gegenseitiger Anerkennung 7• Folgende Ausführungen nehmen diese Interpretation zum Ausgangspunkt und versuchen zu zeigen, daß schon der Prozeß der Anerkennung selbst, wie ihn Hegel vornehmlich in seiner Phän. schildert 8, zu einer Relativierung dieser Ausgangs these zwingt. I. Die Konstitution des Selbstbewußtseins als Vernunft Anerkennung erwirbt man sich nach Hegel über einen Kampf: Ein Bewußtsein ist sich seiner selbst gewiß, wenn es sich in der Vernichtung dessen, was es 1 2

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Rph. § 95 ff., S. 181 ff. Rph. § 97, S. 185. Rph. § 29, S. 80. Rph. § 23, S. 75. So Seelmann JuS 1979, S. 688. Rph. § 36, S. 95. Text im Original gesperrt. IR, S. 226 f. Phän., S. 137 ff.

I. Die Konstitution des Selbstbewußtseins

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nicht ist, ex negativo definiert 9 .Dieser Gedanke führt folgerichtig dazu, sich gegen ein anderes Selbstbewußtsein zu wenden 10. Die Tötung des Anderen vereitelt aber jede Anerkennung durch ihn. Die Einseitigkeit dieser Maxime ist auch nicht dadurch behoben, daß man sein Alter Ego leben läßt und zur Anerkennung zwingt: Zum einen rührte dieser Respekt von der Unselbständigkeit des Verknechteten her 11 ; zum anderen stünde er auf schwankendem Grund: Während der Herr weiterhin in seiner Selbstsucht befangen ist, führt die Furcht des Todes beim Knecht dazu, von seiner Begierde zugunsten des Dienstes für den Herrn ablassen zu müssen 12. Wird seine Eigensucht damit zwar zunächst von außen gebrochen, so ermöglicht dies dem Knecht dennoch, sich in seiner Arbeit selbst zu vergegenständlichen 13. Falls er in ihr seiner Macht über die Natur gewahr wird 14, kommt ihm auch die wachsende Selbständigkeit gegenüber seinem Herrn zu Bewußtsein. Dies ist nun eine Unabhängigkeit, die nicht wie bei diesem durch die Erfüllung der Begierde bedingt ist 12. Der Knecht hat es so in seiner Hand, mit der gewonnenen Macht auch äußerlich seine Selbständigkeit zu behaupten und so die Furcht des Herrn vor dem Verlust seiner Anerkennung durch einen Unselbständigen zu erzeugen. Der Herr weiß von der Unmöglichkeit, im Kampf knechtische Anerkennung zurückzugewinnen. Den Knecht hindert aber sowohl das Wissen von der Einseitigkeit des Willens, einen anderen in Knechtschaft zu halten, als auch die innere Überwindung der Selbstsucht daran, lediglich einen Wechsel in der Herrschaft vorzunehmen. Stattdessen kann sich der Herr seiner Anerkennung gewiß sein, wenn er in der Arbeit für den Anderen die Eigensucht ebenfalls besiegt und so diesen auch anerkennt. Trotz der mit der eigenen Arbeit erworbenen Selbständigkeit beider gegeneinander führt die darüber vermittelte Aufhebung der Begierde dazu, daß sich die Seiten des Verhältnisses in dieser Fähigkeit einander angleichen, so daß sie sich jeweils in ihrem Anderen ihrer selbst gewiß sein können 14. Arbeit hat danach eine doppelte Bedeutung für Hegel: Zum einen ist sie Garant der Eigenständigkeit des Einzelnen gegen Andere. Zum anderen liegt ihr wesentlicher Wert nicht in der Bedürfnisbefriedigung, sondern gerade in der Überwindung der Abhängigkeit von der Begierde 15. Darin ist positiv gesetzt die Konstitution eines beiden SubjekEnzykl. § 428, S. 218. Enzykl. §§ 431 f., S. 219 ff. 11 Phän., S. 152. 12 Phän., S. 153. Auf diese Verschränkung von psychologischer und sozialer Perspektive, der inneren und äußeren Unabhängigkeit, weist zurecht Kelly hin, in: Fulda I Henrich, 1973, S. 191 ff. 13 Auf diesen Bewußtwerdungsprozeß hebt Gadamer ab, in: Fulda/Henrich, 1973, S. 238. Es reicht, wenn man ihn auf die jeweilige Arbeit beschränkt, so daß nicht die Gefahr besteht, ihn zur Aufhebung der Natur schlechthin hochzustilisieren; so aber Fetscher in FS Schulz, 1973, S. 140. 14 Enzykl. § 435, S. 224. 9

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1. Kap. A. Einführung: Die Deduktion des Rechtsbegriffs

ten gemeinen Selbstbewußtseins, welches sie als objektiv daseiend je an der Tätigkeit des anderen anschauen. Hier ist die Stelle, an der eine, im Rahmen dieser Arbeit lediglich knapp zu haltende Auseinandersetzung mit K. Marx Hegelkritik erfolgen kann: Indem K. Marx Arbeit auf, wenn auch gattungsallgemeine, Bedürfnisbefriedigung beschränkt, unterbestimmt er ihre Rolle, zur Bildung der Selbständigkeit der Individuen beizutragen, so daß letztere distanzlos in der Gattung aufzugehen drohen 16. Damit bleibt die Alternative einer Gesellschaft ausgeblendet, die sich aus eigenständigen Individuen konstituiert mit einem allgemeinen Bewußtsein, daß ihre Selbständigkeit je durch die anderen mitbedingt ist. Diese Verkürzung der Resultate von Arbeit führt auch zu einem Mißverständnis der Hegeischen Idee. Wo Objektivation instrumental auf Naturauseinandersetzung begrenzt wird, ist Arbeit immer in Gefahr, sich nur in Fremden zu verdinglichen. Eine subjektgleiche Verfaßtheit des hervorgebrachten Objekts kann dann nicht mehr gedacht, das gesetzte Objekt nicht mehr als ein anderes Selbstbewußtsein, sondern nur als Mystifikation begriffen werden 17. Wie noch näher zu zeigen sein wird, sind am Marxschen Anliegen jedoch zwei Aspekte in ihrer relativen Berechtigung im Auge zu behalten: Zum einen ist (bei der Staats begründung) auf das Problem zurückzukommen, inwiefern nicht das eine selbstbewußte Wesen in seiner Objektivation in einem anderen noch der Gefahr ausgesetzt sein kann, sich von sich zu entfremden. Zum anderen mangelt es dem hier vorgestellten Konzept der Selbständigkeit, wie sogleich erörtert wird, noch an einer Vermittlung mit dem Bedürfniswesen des Subjekts. Von der Beziehung allgemeiner Anerkennung sagt Hegel, sie sei "die Form des Bewußtseins der Substanz jeder wesentlichen Geistigkeit", also auch der Familie, des Staates und des Rechts 18. Es ist deshalb nicht gänzlich falsch sie ebenso wie den Kampf um Anerkennung in bestimmten historischen oder sozialen Erscheinungen wiederfinden zu wollen 19. Unrichtig wird eine derartige InterpretaSo Pöggeler, Hegels Idee, 1973, S. 252 f. So Bubner, Theorie und Praxis, 1971, S. 23 ff., Habermas, Erkenntnis und Interesse, 1973, S. 59 ff.; Ottmann Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 70 ff. 17 So K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW EB 1, S. 573 f., 583 f. Kritisch zum Vorwurf der Mystifikation, Kittsteiner, Naturabsicht, 1980, S. 65 ff. Bedenken gegen die Marxsche Rezeption des Hegeischen Arbeitskonzepts auch bei E. M. Lange, Prinzip Arbeit, 1980, S. 24 ff. u. ö. Zur Genese des Arbeitsbegriffs im Denken Hegels, den verschiedenen Bedeutungen, die der Arbeit zugewiesen werden, vgl. Amdt, Archiv f. Begriffsgesch. 29, 1988, S. 99 ff., 107 ff., 113 ff. 18 EnzykI. § 436 Anm., S. 226. 19 Kojeve setzt Herrschaft mit dem griechischen Adel gleich, den Kampf um Anerkennung mit dem seitherigen Geschichtsverlauf. Dieser münde im Napoleonischen Imperium in ein Verhältnis allgemeiner Anerkennung, so in: Hegel, 1975, S. 48 ff., 51 f., 61 f., 87 ff. Eine vorsichtige, weil lediglich exemplarische Eingliederung in die historische Entwicklung auch bei W. Marx, Selbstbewußtsein, 1986, S. 81 f. Ottmann identifiziert Herrschaft und Knechtschaft mit einem vorpolitischen Naturzustand, s. ZphF. 35, 1981, 15 16

I. Die Konstitution des Selbstbewußtseins

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tion aber dann, wenn sie eine empirische Ausprägung gegen andere ausspielen würde. Es finden sich zwar in einigen Schriften Indizien für derartige Festlegungen. Namentlich die Phän. selbst orientiert sich mit ihrer Abfolge von Bewußtseinsgestalten augenscheinlich am Gang der Geschichte. Andere Beispiele zeigen aber, daß sich eine derartige, eindeutige Zuordnung nicht durchhalten läßt 20 • Dies liegt darin begründet, daß das allgemeine Selbstbewußtsein eben nur die F ormseite der Substanz repräsentiert, die darum von bestimmten Objektivationen abstrahiert 21 • Nur wenn man diesen formalen Aspekt betont, verliert man nicht den oben beschriebenen universalen Aussagegehalt der Hegeischen Anerkennungslehre aus den Augen.

In solchen einseitigen Zuweisungen liegen nämlich zwei Gefahren begründet: Zum einen wird das Prinzip Anerkennung auf bestimmte historische oder gesellschaftliche Phänomene begrenzt, wodurch das Potential des Konzepts Anerkennung für eine allgemeine begriffliche Bestimmung von Recht ungenutzt bliebe. Es ist eben versucht worden zu zeigen, daß sich dies aus dem Gesamtsystem Hegels kaum rechtfertigen läßt. Zum anderen kann aber umgekehrt eine vorschnelle Identifizierung von bestimmten Verhältnissen und Institutionen mit einer Anerkennungsbeziehung dazu führen, daß die spezifische Eigenart der ersteren nicht mehr begriffen wird. Folgende Ausführungen dienen dazu, dieser Gefahr zu begegnen. Die Thesen, Recht sei gegenseitige Anerkennung, bzw., Anerkennung stelle (allein) ein praktisches Prinzip dar, stehen in der Gefahr einen, noch näher zu erklärenden, fundamentalen Unterschied zu verwischen, der zwischen dem Status der Bewußtseinsphilosophie in Hegels System einerseits und der Lehre vom praktischen, bzw. freien Geist (dem Prinzip des Rechts) andrerseits besteht. Hegel selbst geht auf diese Differenz ein, wenn er den Trieb des praktisches Geistes mit der Begierde des Selbstbewußtseins vergleicht: "Der Trieb muß von der bloßen Begierde unterschieden werden. Die letztere gehört, wie wir in § 426 (Enzykl., D. K.) gesehen haben, dem Selbstbewußtsein an und steht somit auf dem Standpunkt des noch nicht überwundenen Gegensatzes zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven.... Der Trieb hingegen, da er eine Form der wollenden Intelligenz ist, geht von dem aufgehobenen Gegensatze des Subjektiven und des Objektiven aus ... "22 S. 365 ff., während Fetscher hierin den Zustand der vorrevolutionären bürgerlichen Gesellschaft beschrieben sieht, vgl. FS Schulz, 1973, S. 140. Man hat darin auch gesellschaftliche Rollen erblicken wollen, so Janke, Historische Dialektik, 1977, S. 295 ff. 20 Gegen Kojeve daher überzeugend Ottmann, in Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 96 ff. Treffend aber auch die Kritik an diesem und an Janke von Gloy in: ZphF. 39, 1985, S. 193 f., 196 f. Kritisch auch Pöggeler, Hegels Idee, 1973, S. 263 ff. 21 So Gadamer in: Fulda / Henrichs, 1973, S. 230 f. Ähnlich Pöggeler, Hegels Idee, 1973, S. 248. Instruktiv auch W. Marx, Selbstbewußtsein, 1986, S. 63 ff. 22 Enzykl. § 473 Zus., S. 295 f. Ausf. zur Unterscheidung dieser Begriffe, Kozu, HS BH 30, 1988, S. 167 ff. u. 232 ff.

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1. Kap. A. Einführung: Die Deduktion des Rechtsbegriffs

Nun zeichnet sich zwar das allgemeine Selbstbewußtsein dadurch aus, daß es sich über die Brechung der Begierde konstituiert. Dennoch ist auch hier der Gegensatz zwischen Subsjekt und Objekt noch nicht gänzlich aufgehoben, wie es Merkmal des praktischen und des freien Geistes ist. Die Individuen erkennen aneinander lediglich die einheits stiftende Seite ihres Tuns an: ihr allgemeines Selbstbewußtsein, wie es sich in der Überwindung der Eigensucht manifestiert. Ebenso wesentlich wie dieses besteht hier jedoch der Unterschied jeder Seite als je andere: "Diese Einheit des Bewußtseyns und Selbstbewußtseyns hat zunächst die Einzelnen als für sich seyende gegeneinander bestehen. "23 Dieses U nterscheiden voneinander ist im Verhältnis gegenseitiger Anerkennung jedoch noch nicht in das allgemeine Selbstbewußtsein aufgenommen. Die notwendig vorhandene Differenz der Individuen voneinander wird von ihnen eben noch nicht als anerkennenswert betrachtet, vielmehr als etwas zu Überwindendes angesehen. Es ist also nicht ganz richtig, daß im Verhältnis gegenseitiger Anerkennung eine symmetrische Beziehung zwischen Einzelnem und Allgemeinen VOfherrscht 24 .Das Selbstbewußtsein als Einzelnes, sich von anderen unterscheidendes, ist als solches hier eben nicht respektiert. Anerkannt ist lediglich seine Allgemeinheit, wie sie sich in der Überwindung der Begierde konstitutiert. Von Symmetrie kann hier nur insoweit gesprochen werden, als daß dies auf beiden Seiten der Anerkennungsbeziehung geschieht. Wegen dieser verbleibenden Andersheit des Gegenübers, die nicht von mir mitgesetzt ist, kann das allgemeine Selbstbewußtsein noch nicht rein für sich (als den Unterschied umgreifende Vernunft) begriffen werden. Vielmehr gehen die Individuen noch davon aus, daß das Allgemeine ihres Selbstbewußtseins noch an etwas anderem erscheint. Hierin liegt nach Hegel der Grund der Möglichkeit, Anerkennung zu verfalschen 25 • Dies zeitigt Auswirkungen selbst auf das Recht: Wie betrügerisches Unrecht offenbart, kann deshalb gegenseitige Anerkennung als solche kein hinreichendes Merkmal für Rechtlichkeit sein 26. Um das Prinzip des Rechts, den freien Willen 27, ausreichend präzise zu bestimmen, muß deshalb über die Beziehung gegenseitiger Anerkennung hinausgegangen werden. Einen ersten Fingerzeig für den Grundsatz der inhaltlichen Ausfüllung bildet die Autbebung des allgemeinen Selbstbewußtseins in die Vernunft:

23 So deutlich die HE § 359, S. 256. W. Marx betont ebenfalls, daß das allgemeine Selbstbewußtsein noch der Vertiefung bedarf, in: Selbstbewußtsein, 1986, S. 99 f. Auch Peperzak warnt davor, das allgemeine Selbstbewußtsein ohne weiteres mit der Liebe gleichzusetzen, in: Selbsterkenntnis, 1987, S. 41. 24 So aber Siep, Anerkennung, 1979, S. 121 f. u. ö. 25 Enzykl. § 436 Anm., S. 226. 26 Enzykl. § 498, S. 309 f. Näher dazu unten. 27 Vgl. vorläufig Rph. § 4, S. 46.

I. Die Konstitution des Selbstbewußtseins

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Damit das allgemeine Selbst ungetrübt ins Bewußtsein treten kann, bedarf es der Setzung der Andersheit des Anderen aus einem gemeinsamen Prinzip. Die Verschiedenheit der sich gegenüberstehenden Subjekte muß sich aus ein und demselben Grundsatz erklären lassen 28. So ist es aber - genau besehen - hier: Ich bin mir im Anderen meiner selbst gewiß, gerade weil dieser ein selbständiges Wesen ist. Er wird aber (genauso wie Ich) nur dadurch eigenständig, daß er sich mir in der wachsenden Beherrschung der Natur entgegensetzt. Nur weil er also in dieser Weise zu mir Distanz wahrt, kann ich meine Selbständigkeit in ihm anschauen 29. Das Abscheiden voneinander geht also ebenso wie das gemeinsame Bewußtsein auf ein allgemeines Prinzip zurück, das sich, ins Verhältnis gesetzt, dann als wechselseitiges Entgegensetzen darstellt. Damit löst sich auch der Streit auf, inwiefern der Kampf um Anerkennung eine interne Verdoppelung darstellt oder von einer Pluralität selbstbewußter Wesen ausgeht 30 • Letztere Ansicht betont die Seite des Gegensatzes, in welches das Prinzip gesetzt ist, und ist einseitig darin, die Voraussetzung einer einheitlichen Maxime der Entgegensetzung zu verschweigen. Erstere hebt den allgemeinen Grundsatz hervor und hat Unrecht zu meinen, eine Verdoppelung ohne sich real voneinander abscheidender Individuen sei möglich. Dagegen versucht Becker diese einheitliche Subjektivität sowohl in Identität und Gegensatz aufzuspüren 31. Dem Einwand Gloys hiergegen, die absolute Identität des Begriffes könne nicht als Selbstbezüglichkeit gedacht werden 32 , steht dabei entgegen, daß die sich auf sich beziehende Negativität desselben von Hegel in eben dieser Weise konstruiert wird 33 • In der Tätigkeit des anderen hat das eine Selbstbewußtsein somit ein Objekt, das ihm nicht nur äußerlich gegenübersteht und so Inhalt seines Bewußtseins wird, sondern wegen seiner subjekthaften Verfaßtheit mit der eigenen Subjektivität identisch ist 34 • Zur Allgemeinheit des Selbstbewußtseins im Sinne von Vernunft gehört danach wesentlich auch seine Objektivität (Wirklichkeit etc.). Diese Überlegung wird später bei der näheren Bestimmung der Idee des Rechts (Dasein 28 EnzykI. § 437 Zus., S.228. Zur logischen Struktur dieses Überganges gut zusf. EnzykI. § 120, S. 247. Adomo wittert hierin bereits den Untergang des Individuums, in: Negative Dialektik, 1970, S. 17 ff. In der Phän., S. 155 ff. ist dieser Übergang breiter angelegt. Er umfaßt im Stoizismus und Skeptizismus Bewußtseinsformen, welche diese Andersheit des Anderen noch nicht in einem einheitlichen Grundsatz aufueben können, während für das "unglückliche Bewußtsein" (Hegels Bezeichnung für das mittelalterliche Denken) dieser Grundsatz ein unbestimmt Jenseitiges ist. Näheres bei W. Marx, Selbstbewußtsein, 1986, S. 107 ff., 111 ff., 124 ff., 132 ff., Pöggeler, Hegels Idee, 1973, S. 253 ff. und Schulz in: Phi!. Jb. 91, 1984, S. 10 f. 29 EnzykI. § 437 Zus., S. 228. 30 Ausf. Gloy ZphF. 39, 1985, S. 198 ff. m. w. N. 31 In: HS BH 11, 1974, S. 429 ff. Ähnlich Schulz in: Phi!. Jb. 91, 1984, S. 9 f. 32 In: ZphF. 39, 1985, S. 199 f. 33 So Henrich in: FS Marx, 1976, S. 208 ff. 34 EnzykI. § 437, S. 227 f.

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1. Kap. A. Einführung: Die Deduktion des Rechtsbegriffs

der Freiheit) wieder bedeutsam werden. Ist aber das Ich des Anderen nicht bloß Gegenstand meiner Anschauung sondern zugleich auch Subjektivität, so bin Ich ebenfalls nicht allein Subjekt sondern auch Objekt. Objektivität (Wirklichkeit etc.) des Selbstbewußtseins im Voll sinne enthält danach nicht nur den Aspekt der Vergegenständlichung im Anderen; genauso gehört dazu das eigene Bemühen, sich dem Anderen angemessen zum Objekt zu machen. Durch den "Umweg" über das Verhältnis zum Anderen erfaßt das Selbstbewußtsein so seine Vernunft: Genau wie die Beziehung zu ihm die Form einer Subjekt / Objekt-Identität, der Idee im HegeIschen Verständnis, annimmt, so läßt das Gegenüber die eigene Verfaßtheit zu Bewußtsein kommen, die ebenfalls darin besteht, Subjektivität und Objektivität in einer Einheit zu fassen. Ein Bewußtsein von der eigenen Subjektivität, die sich zugleich auch in der Gegenständlichkeit wiederfindet, nennt Hegel aber die Vernunft 35. Von der Warte der Vernunft betrachtet sich das Individuum nicht mehr nur als Element einer Zweierbeziehung; vielmehr versteht es sich (und die ihm gleichen anderen) als die konkret einheitsstiftende Instanz, die ein Verhältnis gegenseitiger Anerkennung erst dauerhaft möglich macht. Die eigene Existenz (wie die des anderen) als selbstbewußtes Wesen in der Beziehung zueinander ist danach nur die eigene besondere Daseinsweise, die erst dann anerkannt werden kann, wenn sie in die Einheit der allumfassenden Vernunft aufhebbar ist. Es deutet sich schon hier an, was erst später zu entfalten ist: In noch zu bestimmender Weise ist auch das ,,zur-Vernunft-Bringen" eines Anderen ein Anerkennungsverhältnis, auch wenn dessen sich widersprüchlich gerierende Selbständigkeit in actu partiell negiert wird. Man respektiert so gerade seine Vernunftnatur. Mit dem Erfassen der eigenen Vernunft als der Fähigkeit, sich seiner eigenen Subjektivität in der Gegenständlichkeit bewußt zu sein, ist somit der Boden bereitet, auf dem für Hegel menschliche Praxis, mithin auch die Bestimmung des Prinzips des Rechts als den freien Willen, diskutiert werden kann. Hier geht es um die Reformulierung des Verhältnisses der Subjektivität zur Objektivität, wie es als gegensätzliches ja auch der Bewußtseinsphilosophie zugrunde liegt. Jetzt wird diese Beziehung allerdings von dem Standpunkte der grundsätzlich aufgewiesenen Einheit des Subjekts mit dem Objekt betrachtet. 11. Der freie Wille als Prinzip des Rechts

Der freie Geist ist nach Hegel eine Einheit von theoretischer und praktischer Betätigung 36 • Erstere beansprucht, im Objekte die eigene Subjektivität wiederzu35

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EnzykI. § 437 Anm., S. 227. Vgl. w. EnzykI. § 438, S. 228 f. Enzykl. § 481, S.300.

H. Freiheit als Prinzip des Rechts

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finden, indem es alle Bestimmungen des Objektes in Bestimmungen der eigenen Subjektivität auflöst und sich so als Selbstbestimmendes, mithin Praxismächtiges, erfaßt 37 • Letztere hat zum Ziel, der Subjektivität dieser Selbstbestimmung Objektivität und Allgemeinheit zu verleihen 38 • Eine ausführliche Darstellung des theoretischen Geistes ist hier nicht angezeigt. In aller Kürze muß folgende Überlegung genügen, die aus der Intelligenz als Denken den praktischen Geist als Willen deduziert: Im Denken wird die Wahrheit der in der Anschauung gegebenen Gegenstände nicht mehr bloß als gewiß angenommen. Stattdessen werden sie von der Subjektivität nach den allgemeinen Kategorien beurteilt, die sie an jenen zuvor als vorauszusetzende Denkformen isoliert hat. Solche Urteile prädizieren den einzelnen Gegenstand als einen allgemeinen, den Kategorien entsprechenden Anschauungsinhalt. Dies führt die Subjektivität schließlich dahin, in der Einzelheit das Allgemeine als gegeben und das Einzelne, welches diesen Kategorien entspricht, als von dieser Allgemeinheit abgeleitetes Gegebenes zu erschließen 39. Die Bestimmungen des Objekts sind somit Bestimmungen der Denkkategorien der Subjektivität; sie bestimmt sich mit ihnen selbst. Als sich selbst bestimmende, bzw. sich Inhalt gebende Subjektivität ist sie praktischer Geist, Wille 4O • Den Übergang von der theoretischen Weltbestimmung der Intelligenz zum praktischen Betätigen vollzieht dies letzte Setzen: Die seiende Einzelheit ist der Subjektivität nicht mehr vorgegeben, sondern in ihr setzt sich das Subjekt selbst als existierend, als realitätsbestimmendes, schöpferisches Tun, das allein in denkender Subjektivität gründet 41 • Die Lehre vom theoretischen Geist führt so zu EnzykI. § 443, S. 236 ff. EnzykI. §§ 467 f., S. 285 ff. Vgl. w. EnzykI. §§ 213 ff., S. 367 ff., WdL. H, S. 462 ff. 39 Enzykl. § 467, S. 285 ff. Darin liegt die Hegeische These beschlossen, nach der alles Seiende logos ist, vgl. nur Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 186 f. u. Ö. Zu Hegels Hochschätzung des griechischen Verständnisses von der Selbstgenügsamkeit der Theorie vgl. w. Gray, Hegel, 1968, S. 82. Daß Hegels Theorie Konzept dem der Antike näher steht als demjenigen der kritischen Theorie heben auch Fulda, Recht der Philosophie, 1968, S. 1 ff. und Riedei, Theorie und Praxis, 1965, S. 193 ff. hervor. Allerdings verschiebt sich bei Hegel der Sinn der theoria als Schau des Göttlichen mit ihrer Auflösung in Subjektivität zugleich auch auf die christliche Vorstellung vom Schöpfungsakt, der in jeder Erkenntnis subjektiv nachvollzogen wird, s. W dL. I, S. 44; dazu gut Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 334 ff. m. w. N. Erst diese Deutung macht plausibel, wieso der, sogleich abzuhandelnde, praktische Geist und damit die Bewegung der Geschichte gegenüber dem unwandelbaren Kosmos zum ausgezeichneten Erkenntnisgegenstand Hegels avancieren kann, vgl. Riedel aaO. 1965, S. 204 ff. 40 EnzykI. § 468, S. 287 f. Darin äußert sich zunächst ein Primat der praktischen Vernunft, wie es auch von Kant (KpV, 1788, A 215 ff., WW VII, S. 249 ff.) und Fichte ( Wissenschaftslehre, 1794, § 5, S. 246 ff.) gefordert wird. Auch damit verläßt Hegel den Boden antiken Denkens, dem die theoretische Anschauung das Höchste gewesen ist, vgl. nur Riedei, Theorie und Praxis, 1965, S. 228 ff. m. w. N. Bei Hegel wird dieses Primat jedoch, wie noch zu zeigen ist, in der Lehre vom freien Geist wieder mit der Theorie in ein spezifisches Gleichgewicht gebracht, so Fetscher, Lehre vom Menschen, 1970, S. 190. 37

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einem erstaunlichen Resultat: Unter allen Gegenständen der Erkenntnis kann nur einem der Titel wahrhafter Wirklichkeit verliehen werden: dem schöpferischen Willen, der wegen seiner Eigenschaft, seiende Einzelheit der sich selbst setzenden Subjektivität zu sein, allein dieses Prädikat verdient 42 • Als Gewißheit, eine in dieser Weise ausgezeichnete Realität zu haben, steht der Wille im Verhältnis zu anderen Gegenständen der Anschauung, die für ihn damit als etwas Unwirkliches gesetzt sind. Der Wille versteht sich somit aus einem praktischen Sollen heraus, nach dem nur diejenigen Gegenstände Wirklichkeit besitzen, die seiner Selbstbestimmung angemessen sind. Aus diesem Grund müssen die Ausführungen Hegels zum praktischen und zum freien Geist als eine Grundlegung einer Ethik verstanden werden, die das letztbegründende Prinzip allen Handeins entwickelt 43 • Der Wille ist als Empfinden von Lust und Unlust zunächst ein praktisches Gefühl, das die Außenwelt nach seinen subjektiven Maßstäben bewertet 44 • Die Selbstbestimmung besteht hier mithin darin, diese Außenwelt nur nach den eigenen Maximen zu beurteilen. Die Äußerlichkeit wird aber noch so hingenommen, wie der Wille sie vorgefunden hat. Empfindet er Unlust an ihr, entspricht sie nicht seinen eigenen Maßstäben. So entsteht der Trieb, durch Umgestaltung der Außenwelt dieses innere Unlustgefühl zu beheben. Mithin stellen die Triebe, Begierden und Neigungen weitere Inhalte praktischen Sollens bereit, welche der Wille in seiner Innerlichkeit vorfindet 45 • Ihnen ist die Äußerlichkeit erst dann gemäß, wenn die Triebe nicht im Inneren unbefriedigt bleiben, sondern über die Außenwelt ihre Erfüllung finden. Selbstbestimmung des Willens tritt hier also auf als die Tätigkeit des Subjekts, welche diese Befriedigung, notfalls durch Verzehren und Vernichten einzelner Dinge, herbeiführt 46 • Sie beschränkt sich hier noch darauf, dem Triebe zum subjektiven Genusse zu verhelfen. Selbstbestimmung muß sich aber nicht zwingend in diesem subjektiven Geniessen verlieren. Weil die Befriedigung der Neigungen sich notwendig über eine Umgestaltung der Außenwelt vermittelt, ist es immerhin möglich, daß diese Form der Selbstbestimmung nicht nur dem praktischen Sollen (dem Streben nach Genuß) des handelnden Subjekts, sondern auch der Subjektivität anderer entspricht, mithin ihr Objektivität und Allgemeinheit zukommt 47. Enzykl. § 469, S. 288. WdL. 11, S. 542; dazu Riedei, Theorie und Praxis, 1965, S. 152 f. 43 So Fetscher, Lehre vom Menschen, 1970, S. 188, und Peperzak, Selbsterkenntnis, 1987, S. 46 ff. 44 Enzykl. §§ 471 f., S. 290 ff. Dazu auch Peperzak, Selbsterkenntnis, 1987, S. 50 f. 45 Enzykl. § 473, S. 295; Rph. § 11, S. 62. Wie die Beispiele Hegels zeigen (Enzyld. §§ 474 f., S. 296 ff.), sind darunter nicht nur natürliche Anlagen zu verstehen sondern auch Willensinhalte, die durch unreflektierte Gewöhnung den Willen bestimmen, wie z. B. Traditionen etc. 46 Enzykl. § 475, S. 297 f. Vgl. Peperzak, Selbsterkenntnis, 1987, S. 51 f. 47 Enyzkl. § 470, S. 290 unter Punkt 2. Genauso Rph. § 11, S. 62. 41

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Die nur vorgefundenen Inhalte eines praktischen Sollens widersprechen jedoch insofern der Selbstbestimmung des Willens, wie sie nicht durch ihn selbst gesetzt sind. Weil aber die Triebe zu ihrer Befriedigung auf die realitätsbestimmende Macht des Subjekts angewiesen sind, ist dieses von ihnen nicht zur Ausführung genötigt, sondern in der Lage, sich einen ihr gemäßen Inhalt auszuwählen 48 • Diese bei jeder Triebbefriedigung gleichbleibende Entscheidungsmacht stellt sich den mannigfaltigen Strebungen als einfache und allgemeine Identität des Willens gegenüber. Der vorgefundene Willensinhalt gilt ihr so nicht mehr unmittelbar als eine Bestimmung ihrer selbst; vielmehr erhält er erst dann diesen Charakter, falls sich die Subjektivität in ihrer Spontaneität zur Ausführung einer der vielen Neigungen entschließt 49 • Hegel nennt dies die Willkürlichkeit des Willen. Als gleichbleibende Identität aller Willensverwirklichung besitzt die Willkür jedoch für sich keinen eigenen Inhalt, mit dem sie sich selbst bestimmen kann; um sich einen Inhalt zu geben, ist sie demnach auf das Material angewiesen, das ihr im unmittelbaren Willen vorgegeben ist 50 • Diese Vorfindlichkeit des Stoffes, mit dem sich die Willkür zu bestimmen sucht, widerspricht aber ihrer Spontaneität, sich durch sich selbst verwirklichen zu wollen 51. Die Auswahl einer besonderen Neigung unter vielen verengt nämlich die einfache Identität des Willens mit sich ebenso auf einen Punkt wie die Befriedigung, die er darin erlangt, stets eine partikuläre bleiben muß 52. Die Willkür findet sich deshalb nur in dem sich stets erneuerenden Bemühen wieder, die Erfüllung des einen Triebes unentwegt mit der anderer abzuwechseln. Sie ist ein haltloser Prozeß des Zerstreutseins, deren praktische Maxime die Beliebigkeit zum Prinzipe erhebt. Der erste Versuch, dieser gleichbleibenden Identität des Willens mit sich einen angemessenen Inhalt zu geben, liegt in dem Bestreben, sich das Gemeinsame aller besonderen Willensinhalte zum Zwecke zu machen: allgemeine Befriedigung zu erreichen 53. Wer so Glückseligkeit anzielt, hat nicht mehr ein praktisches Sollen vor Augen, dessen Inhalt sich aus den Trieben und Neigungen bildet, wie sie vereinzelt im Willen vorgefunden werden. Stattdessen setzt er die einzelnen Regungen als Momente eines übergreifenden Zieles. So gilt deren Inhalt nicht mehr um seiner selbst willen, sondern nur in dem Rahmen, in dem er zum Erreichen der allgemeinen Befriedigung beiträgt.

Enzykl. §§ 476 f., S. 299 u. Rph. § 14 f., s. 65 ff. Rph. § 12, insbes. die Anm., S. 63. 50 Enzykl. § 478, S. 299 u. Rph. § 15 Anm., S. 66. 51 Diese Problematik hat Hegel ausführlich im Naturrechtsaufsatz behandelt, S. 434 ff. insbes. S. 476 ff. Eine kritische Analyse namentlich der im strafrechtlichen Schrifttum vertretenen Auffassungen, die Willkür mit Freiheit identifizieren, bei M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 172 ff. m. w. N. 52 Enzykl. § 478, S. 299. 53 Enzykl. § 479, S. 299 f. 48

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Als praktisches Sollen den einzelnen Strebungen gegenübergehalten enthält die Vorstellung einer allgemeinen Befriedigung nur die Maßgabe, alle Neigungen in gleicher Weise zu berücksichtigen. Wie diese untereinander zu gewichten sind, läßt sich ihr nicht entnehmen. Demnach muß auch hier das Belieben den Ausschlag geben, welcher Inhalt anderen vorgeordnet werden soll, zugunsten dessen die anderen dann aufzuopfern sind. Ersterer ist seiner Natur nach aber ebenfalls nur eine besondere Willensbestimmung und gilt damit nicht für sich selbst sondern genauso nur als Moment im ganzen Konzept Glückseligkeit. So muß auch noch der höchstbewertete Willensinhalt seinerseits wieder dem Anspruch auf allgemeine Befriedigung untergeordnet werden. Auf diesem Punkt erhellt es, daß die vormals positive Vorstellung eines glückseligen Lebens in die Tätigkeit des Subjekts umschlägt, jeglichen partikulären Wunsch abzuweisen. Diese Verkehrung im Willensziel deutet Hegel in der Enzykl. nur an, wenn er davon spricht, alle einzelnen Neigungen seien dem allgemeinen Ziel aufzuopfern. Klarer wird diese immanente Kritik am Glückskalkül, wenn man andere Schriften Hegels hinzuzieht: In den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie sieht Hegel in dem eben angesprochenen Phänomen den Umschlagpunkt vom epikuräischen Eudämonismus in die asketische, stoische Tugendlehre 54 • Den gleichen Übergang wählt Hegel, wenn er von den Glückseligkeitslehren der Aufklärung zur praktischen Philosophie Kants fortschreitet 55. Am schärfsten hat Hegel diesen Umschlag jedoch in einer Vorlesung herausgestellt 56: "Durch diesen Widerspruch hebt sich der zufällige Wille überhaupt auf indem der Wille nicht mehr den unmittelbaren Inhalt will sondern die negativ gewordene Totalität desselben." In dieser negativen Totalität gegenüber der Gesamtheit aller partikulären Strebungen legt das Konzept Glückseligkeit allen Schein eines positiven Gehaltes ab und erweist sich in Wahrheit als "die schrankenlose Unendlichkeit der absoluten Abstraktion"57. Das Mißlingen des Ideals der Glückseligkeit offenbart für Hegel nicht nur das Ungenügen eines solchen praktischen Sollens. In ihm kündigt sich vielmehr das erste Moment aller wahrhaften Selbstbestimmung an: die Fähigkeit des Willens, in seinem Tun sich gegen die Gesamtheit seiner besonderen Inhalte stellen zu können. In diesem Punkt unterscheidet sich das jetzt erreichte Verständnis von Selbstbestimmung auch von der Willkür. Während diese die vorgegebenen Willensinhalte zur eigenen Bestimmung positiv aufnimmt, bezieht sich jenes auf alles Vorgegebene gerade negativ, Damit erreicht das einzelne Subjekt einen Standpunkt, auf dem sein Selbstverständnis, sein Ich, durch keine vorgefundene, besondere Bestimmung mehr von dem Willen anderer, zu ihm äußerlich in Beziehung stehender Subjekte, denen ja dieselbe Fähigkeit zur Abstraktion zuGesch. d. Philos. 11, S. 325 f. Glauben und Wissen, S. 295 f. 56 So die Randbem. in der Nachsehr. Hotho, in: Ilting I1I, S. 145. Zu dieser Frage gut Ehlert, in: Pleines, 1986, Bd. II, S. 11. 57 Rph. § 5, S. 49. 54 55

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kommt, unterschieden ist: die reine Identität des Willens mit sich, die sich daher nicht nur negativ gegen die partikulären Triebe bestimmt, sondern sich positiv als eine alle Subjekte umfassende Willensallgemeinheit begreift 58. Diese Fähigkeit zur Verallgemeinerung des eigenen Ich hat hier zwar erst die Bedeutung, trotz der Abstraktion von der eigenen Besonderheit sich selbst noch eine eigene Identität zuschreiben zu können 59. In ihr liegt aber die Reformulierung des allgemeinen Selbstbewußtseins zu einem praktischen Prinzip 60. Diese Allgemeinheit des Ich darf nicht als "Überindividuelles" in dem Sinne verstanden werden, daß darin ein dem Einzelnen transzendentes Wesen angesprochen ist, das gar seiner Individualität entgegengesetzt ist 61 • Weil das einzelne Subjekt selbst es ist, das über sich denkt und reflektiert, setzt es selbst sich allgemein. Der Willens begriff als Allgemeinheit ist so ein dem individuellen Willen innewohnendes Prinzip, das selbst in der Religionsphilosophie nicht aufgegeben wird 62 • Eine Auffassung, die befürwortend oder kritisierend Individuum und Denken in Allgemeinbegriffen unvermittelt in einen Gegensatz zueinander bringt, beruht stets auf einer Vorstellung, welche die Individualität des Reflektierenden diesem in irgendeiner Weise als Seinsfaktum vorgegeben sein läBt, ohne es selbst als Denkkategorie auszuweisen. Dann aber ist die Überlegung nicht weit, daß Hegel gegen diesen unverdauten Brocken das Denken, den Begriff etc., hypostasiere 63 • Wendet man dies kritisch gegen Hegel, so setzt man Individualität ungefragt als legitimes Willensziel voraus, ohne es aus dem Denken zu rechtfertigen. Bezieht man sich ohne weiteres positiv auf ihn, wenn man sein Verständnis von Allgemeinheit anspricht, so darf man jedoch nicht die sogleich zu schildernde, immanente Negativität des Allgemeinen unterschlagen 64 • 58 Rph. § 4 Zus., S.47. Instruktiv Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. III, S. 487 ff. Man vergleiche auch die Explikation des Begriffs am Beispiel des Ich in der WdL. 11, S. 253. 59 Rph. § 5, S. 49 ff. 60 Zu diesem Zusammenhang Siep, Anerkennung, 1979, S. 110 f. 61 In diese Richtung aber Häring, Hegel, Bd. I, 1929, S.21 u. ö. Ähnlich Lukacs, Der junge Hegel, 1954, S.36. Kritisch wenden dies gegen Hegel Adorno, Negative Dialektik, 1970, S.17ff., Fetscher, ZphF. 7,1953, S.532, Litt, Hegel, 1953, S.118, Theunissen, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 332; sehr zurückhaltend auch Vogel, Hegels Gesellschaftsbegriff, 1925, S. 82, 94, 97. Den Vorwurf der Subjekttranszendierung erhebt auch Wildt, in: Autonomie, 1982, S. 390 f. Aus empirisch psychologischer Sicht kritisiert die Einzwängung des empirischen Ichs letztlich auch Drüe, Psychologie, 1976, S. 183, 205. Ausf. zur Rezeptionsgeschichte dieser These, auch wo sie kritisch gegen Hegel gerichtet worden ist, Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 3 f., 124 ff. m. w. N. 62 So auch Fetscher, Lehre vom Menschen, 1970, S. 204 f. 63 Z. B. Theunissen, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 332. 64 Vgl. Marcuse, Vernunft und Revolution, 1962, S. 168. Daß es Hegel um eine rationale Erfassung von Individualität zu tun ist, heben Lask (GS I, 1923, S. 65 ff.) und Schmitz (Hegel, 1957, S. 17) hervor. Zu den logischen Implikationen instruktiv De Vries, in: J.Hist.Phil. XXVI, 1988, S. 297 ff., und Haag, Philosophischer Idealismus, 1962.

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Dieses Bewußtsein der Allgemeinheit des eigenen Ich ist nicht nur ein das einzelne Subjekt verpflichtendes praktisches Sollen; vielmehr findet es hier erstmals seine Freiheit: Anders als bei Willkür und Glückseligkeit, deren praktische Prinzipien inhaltlich an vorgefundene Willensinhalte gebunden waren, ist diese Willensallgemeinheit Ausgangspunkt einer Selbstbestimmung, die nicht mehr auf den positiven Bezug zu einem vorgegebenen Stoff angewiesen ist. Das Moment der Allgemeinheit des Willens gilt als das revolutionäre Prinzip der Rph., welche die Identität aller selbstbewußter Wesen an den Anfang jeder Rechtsbegrifflichkeit setzt 65 • Als Gestalten, die von dieser Seite des Willens dominiert sind, werden sich später das Rechtsgebot, das Vergeltungsprinzip und das abstrakte Gute zeigen. Obwohl die jetzt erreichte Willensallgemeinheit der Ausgangspunkt jeder wahrhaft freien Selbstbestimmung für Hegel ist, so hat sie dennoch kein Fürsich-Bestehen. Gerade der Übergang zum Element der Besonderheit des freien Willens stellt in Hegels Selbsteinschätzung einen entscheidenden Schritt über Kant und Fichte hinaus dar, mit denen er sich jedoch in der Anerkennung der Allgemeinheit des Willens einig weiß 66. Für Hegel liegt der Mangel der Allgemeinheit darin, daß sie nur auf Kosten der totalen Negation der Besonderheit des einen wie des anderen Individuums zustande kommen kann. Als Vemeinungsform der Besonderheit bezieht sie den Gehalt, den sie negiert, aus dieser Besonderheit und ist dadurch ebenfalls bestimmt, begrenzt, endlich und diesem Sinne etwas besonderes 67 • Ihre immanente 65 So Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. III, 1966, S. 487 ff. Allgemein zum revolutionären Prinzip in Hegels Philosophie, Bloch, Subjekt / Objekt, 1971, S. 60 ff.; Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 192 ff., 227. Welche Stellung Hegel zur Französischen Revolution eingenommen hat, ist strittig, vgl. den zuverlässigen Überblick bei Ottmann Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 25, 63, 73, 95, 102, 111, 136, 139 ff., 155 ff., 171,215,237,241,254,268,271,287 f., 301, 338 ff., 365 m. w. N. Einerseits betonen vornehmlich die Rechtshegelianer, daß Hegel die Ideale der Französischen Revolution Sitte, Volk, Nation und organischem Staat unterordnet, so Binder, in: 1. Hegelkongreß, 1931, S. 146 ff.; Häring, Hegel, Bd. I, 1929, S. 20 ff., 39, 49, 139 ff., 183, 216, 263, 295, 434 ff. und Larenz, Rechtsund Staatsidee, 1934, S. 163 f., 167. Ähnlich auch Kojeve, Heget 1975, S. 58. Andererseits sehen die Linkshegelianer hierin gerade die vom autoritären Staate ausgehende Gefahr, s. Bloch, Subjekt/Objekt, 1971, S. 60 ff., 253 und Marcuse, Vernunft und Revolution, 1962, S. 192 ff. Schließlich wird noch die Auffassung vertreten, daß Hegel die Ideale der Französischen Revolution in den Institutionen seiner Theorie der bürgerlichen Gesellschaft aufbewahre, Cassirer, Myth ofthe State, 1955, S. 341; Fleischmann, Philosophie politique, 1964, S. 6,16,23, 176, 371; Habermas, Theorie und Praxis, 1971, S. 132, 162 ff.; Löwenstein, Hegels Staatsidee, 1927, S.33, 42 f., 45, 47; Pelczynski, Hegel's Political Writings, 1964, S. 36 ff.; Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 192 ff., 227, 231 f.; Rößler, System, 1857,326, 339 f., 342, 350 f., 359 ff.; Rosenzweig, Hegel und der Staat, Bd. I1, 1920, S. 164, 190 ff. und Suter, in: Pelczynski, 1971, S. 52 ff. 66 Ausdrücklich in Rph. § 6 Anm., S. 52 f. Einordnung bei Peperzak, Selbsterkenntnis, 1987, S. 55 und Riedei, in: Riedei, 1975, S. 118 f. 67 Rph. § 6 Anm., S. 52.

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Negativität muß sich deshalb letztlich auch gegen sich selbst richten, um der eigenen Form der Besonderheit zu entfliehen. Die Dynamik eines derartigen Willensinhaltes offenbart diesen selbstzerstörerischen Charakter 68 : Gegen andere gewendet nivelliert er jeden Unterschied aus Natur, Tradition etc. zu anderen, was letztlich nur ein für alle gleicher Tod gewährleisten kann, wie die Schreckenszeit der Französischen Revolution gezeigt hat. Gegen sich selbst gerichtet äußert sich ein solches Bestreben in mönchischer Askese, buddhistischer Selbstverneinung, schließlich im Freitod. Auch die mit einem derartigen Verhalten beförderten Ziele, z. B. Institutionen, welche die allgemeine Gleichheit gewähren sollen, sind als Besonderungen ebenfalls, wie geschehen, zu vernichten. Es ist also ein Streben nach permanenter Revolution, das letztlich die eigenen Akteure frißt. Bestimmtes Resultat dieser Selbstnegation ist aber nicht die totale Vernichtung alles Seienden, obwohl sie immer in dieser Möglichkeit steht. Bestimmt richtet sich eine Selbstnegation gegen den Charakter desjenigen Selbstkonzepts, das zu verneinen ist. Der ist aber durch eine Allgemeinheit geprägt, die ihren kennzeichnenden Gehalt aus der Negation der vorfindlichen Besonderheit schöpft. Diesen spezifischen Gehalt bestimmt verneinen, bedeutet demnach, die Negation dieser Besonderheit zu negieren, sie zu affirmieren. Die Allgemeinheit des Ich kann demnach ihre eigene Besonderheit nur dann erfolgreich auf sich beziehen, wenn sie die vorfindliche Besonderheit setzt 69. Weil sich in ihr das Allgemeine als wesentlich negativ auf sich selbst bezieht, besondert und bestimmt es sich darin 70. Die vormals unmittelbaren Willensinhalte erweisen sich jetzt über die Negation der abstrakten Allgemeinheit, einem Reflexionsprozeß, vermittelt und werden so nicht mehr aufgenommen, sondern vom Willen selbst gesetzt. Daraus erhellt, daß es wahre Selbstbestimmung ohne Anerkennung auch der Besonderheit des Willens nicht dauerhaft geben kann. Ohne sie würde die oben beschriebene Fähigkeit, trotz Abstraktion von der eigenen Besonderheit sich eine Ich-Identität zuschreiben zu können, letztlich in sich zusammensinken 71. Schon hier geht Hegels Konzept des Rechts, der freie Wille, über den Gehalt der Anerkennung im allgemeinen Selbstbewußtsein, das ja nur über die Überwindung der Begierde zustande gekommen war, hinaus 72. Anders als dort beinhaltet der freie Wille, der Begriff des Rechts, also auch eine Anerkennung der Seite der Bedürftigkeit des Menschen. 68 Rph. § 5 Anm., S. 50 und § 5 Zus., S. 51 f. Ausf. die Phän., S. 431 ff. Siep setzt dies zur Anerkennungstheorie in Beziehung, in: Anerkennung, 1979, S. 110 f. 69 Rph. § 6, S. 52. Vgl. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. III, 1966, S. 487 ff. 70 Rph. § 7, S. 54. Instruktiv dazu der parallele Gang in der WdL. II, S. 280 ff. 71 So deutlich Phän., S.438; Dazu Siep, Anerkennung, 1979, S. 110 f. und Wildt, Autonomie, 1982, S. 391 f. 72 Zum Fortgang von der Selbstzerstörung des Allgemeinen zur Anerkennung der Besonderheit, wie sie in der Phän. geschildert wird, vgl. Siep, Anerkennung, 1979, S. 111 ff., 121 ff.

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Bestand die Allgemeinheit des Ich in ihrer höchsten Form darin, die Totalität der Besonderheit jeden Individuums zu verneinen, so setzt sich jetzt jedes Individuen in seiner Gänze durch seine Vernunftnatur als eine Besonderung des Allgemeinen 73. Die eigene Individualität ist damit nicht mehr ein anthropologisch vorgegebenes Faktum, sondern vielmehr zeigt sie sich jetzt als eine aus Freiheit gesetzte Existenzform des Geistes: "Durch das Aufueben der Vermittlung ... ist er (der freie Wille, D. K.) die durch sich gesetzte unmittelbare Einzelheit ••• "74 Für das Verhältnis der einzelnen Individuen zueinander heißt das, an die Stelle des Strebens nach Verwirklichung identitärer Gleichheit die mannigfaltige Verschiedenheit der Subjekte, wie sie sich naturwüchsig entwickelt hat, zu setzen. Aus diesem Grunde müßte man dem zweiten Willensmoment die Rolle zuweisen, als Aufuebung des revolutionären Prinzips das Anliegen der Restauration abstrakt zu reformulieren, gegen den Bruch mit der Geschichte in der Folge der Durchsetzung abstrakter Ideale das Recht der hergebrachten Lebensformen zu behaupten 75. Zwar findet sich auf dem hier thematischen Stand der Willensdialektik bei Hegel anders als bei dem ersten Merkmal des freien Willens keine derartige Explikation. Wie gezeigt liegt sie aber im Duktus der Begriffsentfaltung und wird zudem durch die nahezu unbestritten vorgetragene These untermauert, nach der Hegel insbesondere in der Sittlichkeit eine Vereinigung dieser beiden Geisteshaltungen versucht hat 76 • Formen dieser Seite des Willens finden sich namentlich in allen Daseinsweisen des moralischen Subjekts, dem Wohl, dem Gewissen, dem Anspruch aufbessernden Strafzwang. Die Affirmation der Besonderheit ist gegenüber dem ersten Willensmoment insofern die reichere Bestimmung, als in der Aufnahme des Gegebenen und Seienden die Gefahr völliger Vernichtung gebannt ist. Auf der anderen Seite droht auch hier ein Selbstverlust: "Das, was wir eigentlich Willen nennen, enthält So Rph. § 13, S. 64. Erläuternd Bartuschat ZphF. 41, 1987, S. 25. Enzykl. § 481, S. 300. Die Selbstproduktion des Ich konstatiert auch Drüe, Psychologie, 1976, S. 234, 363. Man sieht, Hegel verfällt nicht der Denkfaulheit, Individualität als Faktum hinzunehmen, ohne es aus dem Denken als ein legitimes Willensziel zu rechtfertigen. Zu dieser Reintegration der Seite der Besonderheit, der Bedürfnisgeleitetheit des Menschen, in den freien Willen vgl. w. Peperzak, Selbsterkenntnis, 1987, S. 55. 75 Eine verläßliche Abhandlung über Vertreter der Restauration und verwandter Geistesströmungen bei Rößler, System, 1857, S. 326 ff. 76 So positiv: Rößler System, 1857, S. 326, 333, 339 f., 342, 350 f., 354, 357; Rosenkranz, Hegel, 1870, S. 162; Rosenzweig, Hegel und der Staat, Bd. 11, 1920, S. 189 ff. und vor allem Ritter Metaphysik und Politik, 1969, S.212, 226 ff.; auch Vaughan, Studies, 1960, S. 149. Kritisch konstatiert dies Bloch, Subjekt / Objekt, 1971, S. 60 ff., 67. Daß die Restauration von Hegel abgelehnt werde, vertreten Weil (Hegel et I' E'tat, 1950, S. 19,22) und d'Hondt, Hegel, 1973, S. 36 ff. Dagegen Ilting, in: Ilting I, S. 96. Als bloßen Befürworter der Restauration würdigt Erdmann (Grundriß, Bd. 11, 1866, S.594) Hege!, während Haym (Hegel und seine Zeit, 1857, S. 359, 364,456) ihn als solchen denunzierte. Ähnlich Hook, in: W. Kaufmann, 1970, S. 88 ff. 73

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die beiden vorigen Momente in sieh. Ich ist zuvörderst als solches reine Tätigkeit, das Allgemeine, das bei sich ist; aber dieses Allgemeine bestimmt sieh, und insofern ist es nicht mehr bei sich, ... hört auf, das Allgemeine zu sein." 77. Die Besonderheit als Selbstnegation des ersten Begriffsmomentes in seiner Gänze verneint also zugleieh auch die Allgemeinheit des Ich in der Gleichsetzung mit anderen. Hat das individuelle Vorverständnis zwar häufig das Gefühl, nur in seinen Unterschieden zu anderen sein ureigenes Selbstbild zu erblicken, so erweist sieh diese Annahme von der auf das Denken gegründeten Freiheit als ein Trugschluß. Denn es fehlt eine Voraussetzung wahrer Selbstbestimmung, die Allgemeinheit des Ich. Sie geht nun in eine Vielheit sich voneinander absondernder Subjekte verloren, denen damit lediglich die Entfaltung der eigenen Individualität als Akt der Selbstbestimmung vorkommt. Das Verhalten Anderer kann ihnen so nicht mehr als ein Ausdruck ihres freien Geistes gelten. An jenem muß sieh das sich auf die eigene Besonderheit konzentrierende Subjekt demnach begrenzt fühlen. Es ist daher hier - genau wie die abstrakte Allgemeinheit - bestimmt, beschränkt und endlich. Die Rückkehr zur Allgemeinheit des Ich, in der auch die Gefahr der totalen Zerstörung der Besonderheit gebannt ist, sieht Hegel im rechten Begreifen der Einzelheit des individuellen Willens. Er unterscheidet nämlich die bloß partikuläre Einzelheit von der konkreten Einzelheit des Begriffs 78. Erstere sei die Einzelheit der Vorstellung, das Eins, in dem unter Abstraktion aller Bezüge zu Anderem es bloß zum Für-sieh-Gelten der eigenen Besonderheit kommt 79 • Für Hegel hat man in diesem Ausschließen und Abschließen von allem anderen sich jedoch nur zum Schein unter Verneinung der Beziehung auf Anderes nur aus sieh heraus bestimmt 80. Wenn sich die Einzelheit ihrer Besonderheit nur dadurch gewahr werden will, daß sie sich von anderen abkapselt, so bedarf dieses, in diesem Isolieren und Abweisen von anderen zu Tage tretende Verhalten gerade einer, wenn auch negativen Beziehung auf Anderes, um zu sich zu finden. Begreift man den Anderen aber ebenfalls als eine ausschließende Einzelheit, so beziehen sieh die voneinander absondernden Individuen, obwohl sie meinen, es nur mit sich zu tun zu haben, in ihrem wechselseitigen Ausschließen nicht mehr nur negativ aufeinander. Denn dasjenige, was die eine ausschließende Einzelheit von sich abhalten will, stellt selbst eine ausschließende Einzelheit dar 81 • Beide setzen Rph. § 7 Zus., S. 57. Zuerst in Rph. § 7 Anm., s. 55, dann § 13 Anm., S. 64, schließlich § 24, S. 75. Ausf. WdL. II, S. 296 ff. Zu dieser Konstruktion des freien Willens aus der konkreten . Einzelheit instruktiv Peperzak, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 115. Kritisch aber Theunissen, in: Henrich / Hortsmann, 1982, S. 329 ff. Dagegen ist das bereits oben Gesagte zu erwidern. 79 Rph. § 7 Anm., S. 55; ausf. in der Enzykl. §§ 96 ff., S. 203 ff. und WdL. I, S. 182 ff. 80 WdL. I, S. 190 ff. mit Erläuterung an praktischen Phänomenen, insbes. dem Bösen, in der Anm., S. 192. 81 So Enzykl. § 98, S. 206. 77 78

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1. Kap. A. Einführung: Die Deduktion des Rechtsbegriffs

so ihre Besonderheit aus einem einheitlichen Prinzip, soweit sie in der Konzentration auf die eigene Besonderheit nicht dem Schein erliegen, von jeder Beziehung zu anderen losgelöst zu sein. Ein Wille, dessen Setzungen in dieser Identität der Individuen erfolgen, die sich über die Unterscheidung und Absonderung derselben erhebt, entwickelt die eigene wie die fremde Besonderheit aus einem beide umfassenden, allgemeinen Grundsatz heraus. Denn die Beschränkung auf die eigene besondere Einzelheit ist aufgehoben 82. Hier geht die Allgemeinheit des Willens also nicht mehr in der Partikularität eines individuellen Willens verloren, sondern spiegelt sich in einer Besonderung des Willens, der sich in einem Gleichheitsverhältnis zu Anderen bestimmt. Weil die eigene Besonderheit so der Allgemeinheit des diese Beziehung konstitutierenden Prinzips gemäß ist, liegt hier die Vollform der Freiheit, das sich selbst bestimmende Allgemeine, vor 83, der freie Wille als Begriff des Rechts. Indem ein derartiger Wille, im Setzen der eigenen Besonderheit zugleich auch die Beziehung zu anderen zum Gegenstand hat, ist der Wille in diesem seinen Gegenstand nicht mehr durch andere beschränkt, mithin wahrhaft unendlich 84• Weil das Setzen dieser Beziehung jetzt den eigenen Willen ausmacht, verhält man sich in dieser Beziehung nur zu sich selbst 85. Als seiende Einzelheit des sich selbst bestimmenden Allgemeinen sind die ihm gemäßen Individuen nicht bloß die Möglichkeit von Freiheit, sondern vielmehr ihre wahrhafte Wirklichkeit 86 • Jedes Dasein, das ein Dasein eines einzelnen Willens ist, der sich aus dieser Allgemeinheit heraus bestimmt, ist mithin ein Dasein der Freiheit, die Idee des Rechts 87 • Weil ein derartiger besonderer Wille sich in seinen Objektivationen stets zu anderen besonderen Willen verhält, ist es nicht falsch, das Dasein der Freiheit als ein Sich-Gegenüberstehen freier Willen zu bezeichnen 88. Vorausgesetzt ist jedoch zweierlei: Zum einen leitet sich dieses Verhältnis besonderer Willen zueinander aus dem einen einheitlichen Willen der sich selbst bestimmenden Allgemeinheit ab, dessen Dasein sie gerade sind 89 • Nur so läßt sich erklären, wie aus dem Dasein des einen allgemeinen und freien Willen nunmehr eine Rph. § 24, S. 75. Rph. § 21, S. 71 f. Zum Freiheitsbegriff in der Logik instruktiv W. Marx, HS 11, 1976, S. 125 ff. 84 Rph. § 22, S. 74. 85 Rph. § 23, S. 74 f. Weil und soweit nur diejenige Selbstbestimmung wahre Freiheit ist, welche die eigenen Willensinhalte über die Reflexion auf das Gleichheitsverhältnis zu anderen wählt, ist es keine Leerformel, wenn Hegel davon spricht, man bleibe bei sich in der Beziehung auf Andere, so aber Baum, Arch. f. Gesch. Phil. 60, 1978, S. 177 ff. 86 Vgl. Rph. §§ 22 f., S. 74 f. 87 So die HegeIsche Definition in Rph. § 29, S. 80. Ausdifferenzierend dazu Dulckeit, Rechtsbegriff, 1936, S. 27, 29, 34 Anm., 42 f. 88 So Seelmann JuS 1979, S. 688. 89 Vgl. nur die Fn. zu den Randbem. zu Rph. § 29, S. 81. 82 83

II. Freiheit als Prinzip des Rechts

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Mehrzahl sich gegenüberstehender, besonderer freier Willen werden kann. Es liegt hier eine ähnliche Relation vor wie bei der Konstruktion des Gegensatzes verschiedener selbstbewußter Wesen aus einem Vemunftprinzipe 90 • Zum anderen kann das Dasein der Freiheit nicht mit dem Verhältnis gegenseitiger Anerkennung völlig gleichgesetzt werden. Denn dort erkennen die einander gegenüberstehenden, selbstbewußten Wesen nur die Seite der Allgemeinheit aneinander an, während es hier zur Bestimmung des wahrhaft freien Willens nur über die Anerkennung auch der Besonderheit kommt, welche die selbstzerstörerische Tendenz des bloß allgemeinen Willens aufhebt.

Die allgemeine Definition der Idee des Rechts, das Dasein der Freiheit, reformuliert demnach in spezifischer Weise das Anerkennungsverhältnis 91: Voraussetzung aller wahren Selbstbestimmung ist die Anerkennung eines allgemeinen Selbstbewußtseins. Diese ist jedoch nur dann nicht selbstzerstörerisch, soweit sie auch die Besonderheit der einzelnen Individuen gelten läßt. Deren Dasein kann aber nur dann als ein Akt der Freiheit verstanden werden, in der es nicht zu einem Selbstverlust kommt, wenn in ihm die Anerkennung anderer auch nach der Seite ihrer Besonderheit mitgesetzt ist. In dieser Rückwendung zum Anerkennen des Allgemeinen sieht Siep die Möglichkeit einer asymmetrischen Anerkennungsbeziehung angelegt, in der die Seite der Besonderheit letztlich nur dann Geltung beanspruchen kann, soweit sie der jeweils übergeordneten Sphäre der Allgemeinheit dienlich ist. Was sich in der Selbstbeschränkung der selbstbewußten Wesen zugunsten einer Selbstbestimmung mit Allgemeinheitsanspruch bereits angedeutet habe, verschärfe sich dort unerträglich, wo dieses Allgemeine in Institutionen objektive Gestalt annehme. Dann werde der Besonderheit ihre Sphäre nur noch umwillen der organischen Einheit des Ganzen, das sich als Telos den Einzelnen vorordne, eingeräumt. So würden diese aber nicht mehr als Selbstzwecke gelten 92 • Die Methode der Rph. (und anderer Schriften Hegels), die Besonderung des Allgemeinen in ein konkret Allgemeines zurückzunehmen, soll hier nicht in Abrede gestellt werden. Zu bestreiten ist jedoch, daß darin die Gefahr der Instrumentalisierung der Individuen zu suchen ist. Nach dem Duktus der Hegeischen Begriffsgenese, wie sie hier exemplarisch am freien Willen vorgeführt worden ist, darf nur dasjenige Moment als defiziente und aufzuhebende Besonderheit bezeichnet werden, dessen Für-Sich-Gelten als beschränkt und sich selbst negierend erwiesen worden ist. Dies gilt sowohl für das bloß abstrakt Allgemeine als auch für das Partikuläre. Siep zeigt in seiner Interpretation der Phän. sehr schön den praktischen Aspekt der Selbstprüfung von Bewußtseinsgestalten durch HeÄhnlich Peperzak, Selbsterkenntnis, 1987, S. 56 f. Vg!. Ein!. i. d. Gesch. d. Philos., bei Hoffmeister und Nicolin, S. 234. Hinweis bei Fetscher, Lehre vom Menschen, 1970, S. 203 f. Ähnlich auch der Rekonstruktionsversuch Wildts, in: Autonomie, 1982, S. 391 f. 92 Siep, Anerkennung, 1979, S. 278 ff. 90 91

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1. Kap. A. Einführung: Die Deduktion des Rechtsbegriffs

ge1 93 • Die Einzelheit des Begriffs als das konkret Allgemeine erweist in der Hegeischen Intention seine Überlegenheit gegenüber anderen Momenten der Analyse dadurch, daß es als ihre Einheit ihnen diejenige Stabilität verleiht, die den Momenten dann nicht zukommt, wenn sie gegeneinander absolut gesetzt werden. In der Kritik Sieps steckt allerdings ein wahrer Kern: Begreift man nämlich - wie Hegel - das institutionalisierte Allgemeine nicht als ein subjektloses Substrat, sondern als eine bestimmt geartete intersubjektive Beziehung 94, in der die eine Seite, das eine Subjekt, das Allgemeine repräsentiert, so liegt hierin allerdings die Gefahr der Asymmetrie in bestimmter Weise: Wo das eine Subjekt (bzw. ein Inbegriff von Subjekten) einer Beziehung in ausgezeichneter Weise das Allgemeine darstellt, können andere Subjekte aktuell nicht mehr (in gleichem Umfang) ebenfalls Repräsentanten des Allgemeinen sein. So können sich unterschiedliche Stände von Freiheitsverwirklichung in asymmetrischer Verformung gegenüber stehen, ohne daß die Rechtsform der intersubjektiven Beziehung beeinträchtigt ist. In Parenthese kann m. E. gesagt werden, daß Hegel durch die Stufung verschiedener Verhältnisse der Rechtsverwirklichung (abstraktes Recht, Moralität und Sittlichkeit) auch versucht, gerade der Möglichkeit dieser Verformungen vorzubeugen. Sein Anspruch ist der Aufweis, daß diese Desorganisation intersubjektiver Beziehungen, die spätestens in der bürgerlichen Gesellschaft Realität gewinnt 95 , in seiner Staatstheorie im Prinzip dadurch behoben wird, daß einseitige Repräsentanz des Allgemeinen sich aus dem subjektiven Willen Aller rechtfertigen lassen muß 96. Von diesem Blickwinkel wäre eine institutionelle Verformung daran zu erkennen, daß sich die Seite der Allgemeinen gegen die Seite der Besonderheit absolut setzt oder zur Partikularität herabfällt, so daß entweder in ihr das erste oder das zweite Willensmoment fixiert wird - mit den allgemein dargelegten Konsequenzen. Es wäre danach als kritische Fragestellung an alle Erscheinungsformen des Willens, auf welche die Rph. eingeht, die Überlegung heranzutragen, inwiefern sie dieser Gefahr erliegen oder nicht. Falls dann unter derart ausgesonderten Phänomenen sich Gestalten finden lassen, die von Hegel nicht in irgendeiner Weise als defizient, unrechtlich oder unsittlich bezeichnet werden, so bietet der Willensbegriff das kritische Korrektiv für eine immanente Ausbesserung der praktischen Philosophie Hegels.

93 Siep, Anerkennung, 1979, S. 205 ff. Eine unmittelbare Übertragung dieser Methode der Phän. auf die Rph. bei Ilting, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 225 ff. Dagegen aber kritisch Siep, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 255 ff. 94 Dazu vorläufig Rph. § 144, S. 293 f. Erläuterungen bei Peperzak, HS 17, 1982, S. 97 ff. 95 Vgl. nur Rph. § 255 Anm., S. 396. 96 Deutlich vor allem in Rph. § 260, S. 406 f.

H. Freiheit als Prinzip des Rechts

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Methodisch bedeutet das jedoch nicht, die Vorgehensweise der Hegeischen Bewußtseinsphilosophie zu kopieren. Zwar geht es auch jetzt um die Prüfung der Dynamik bestimmter (praktischer) Bewußtseinsformen. Denn auch die Rph. schildert ja selbstbewußte Individuen, die ihrem Begriff von Freiheit ein Dasein geben wollen 97. Dennoch darf die Analyse jetzt nicht mehr allein aus dem so bestimmten Erfahrungshorizont der Einzelnen betrieben werden 98. Vielmehr muß als treibendes Moment hinter der Entwicklung dieser Bewußtseins- und Daseinsformen stets der Maßstab des an und für sich freien Willens, dessen Struktur soeben aufgewiesen worden ist, stehen. Denn nur er erlaubt es, einerseits zu klären, inwiefern einzelne Willensäußerungen noch ein Defizit an Freiheitsverwirklichung aufweisen; und andrerseits versetzt er in die Lage, in Anwendung der aufgezeigten, allgemeinen Dynamik sich verabsolutierender Willensmomente die Richtung anzugeben, in die eine Aufhebung von Defiziten in der Freiheitsverwirklichung schreiten muß. Das Verbrechen als eine "Existenz, die ... in sich nichtig ist", stellt für Hegel die Vollform der ersten Gestalt einer von ihm selbst als defizient charakterisierten Existenz des Willens dar. Als solches soll es hier gemäß dem entwickelten begrifflichen Schema ausführlich in allen Bezügen analysiert werden. Der vergeltende Rechtszwang nimmt für Hegel dagegen als Wiederherstellung des Rechts eine ausgezeichnete Rolle unter den Daseinsformen der Freiheit ein. Hier ist eingehend zu untersuchen, inwieweit das in der Anwendung von berechtigtem Zwang notwendig nur auf der einen Seite des Rechtsverhältnisses gesetzte Allgemeine der Gefahr entgeht, sich gegenüber der anderen Seite absolut zu setzen.

B. Das Verbrechen im abstrakten Recht Hegel geht auf das Verbrechen erstmals am Ende des ersten Systemabschnitts der Rph., dem abstrakten Recht, ein. Nur den hier geschilderten Formen der Freiheitsverwirklichung, Eigentum und Vertrag, setzt er das Unrecht in seiner Grundbegrifflichkeit entgegen. Gemäß der Eigenart der Hegeischen Methode kommt dem Verbrechen und seiner Aufhebung somit nicht nur die Bedeutung zu, das Recht im Sinne des abstrakten Rechts zu negieren; vielmehr wird damit zugleich in die höhere Sphäre der Moralität übergeleitet. Folgender Abschnitt soll deshalb drei Fragen klären: Zum einen dient er der Aufgabe, in gebotener Kürze das besondere Gepräge herauszuarbeiten, welches das Dasein der Freiheit in Eigentum und Vertrag erhält. Zum zweiten bedarf es der Analyse, weswegen diese Art der Freiheitsverwirklichung noch der Aufhebung in Moralität (und später Sittlichkeit) bedarf. Schließlich und eigentlich ist die Rolle aufzuhellen, die das Verbrechen in diesem Kontext einnimmt. 97 98

Das betont zurecht Ilting, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 225 ff. So richtig die Kritik von Siep, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 255 ff.

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1. Kap. B. Das Verbrechen im abstrakten Recht

I. Eigentum und Vertrag Eigentum und Vertrag sind nur dann und nur insofern eine Rechtsform, soweit sie sich als ein Dasein des freien Willen, dem Begriff des Rechts, verstehen lassen. Am Anfang der Freiheitsverwirklichung muß daher der Begriff des Rechts stehen, wie er noch vor jeder Realisation seiner soeben abstrakt hergeleitet worden ist. Genau damit hebt aber das abstrakte Recht an, indem es anhand des Personenbegriffs den Begriff des abstrakten Rechts erläutert 1.

1. Der Personenbegriff Hegels In der Persönlichkeit finden sich alle Momente des an und für sich freien Willen wieder: "Die Allgemeinheit dieses für sich freien Willens ist die formelle, die selbstbewußte, sonst inhaltslose einfache Beziehung auf sich in seiner Einzelheit ..."2 Hier wird also das allgemeine Moment des Willensbegriffes, die Fähigkeit, sich trotz Abstraktion von der eigenen Besonderheit eine eigene Identität zuschreiben zu können, reformuliert. Auch jetzt löst dieses Vermögen zugleich jeden Unterschied zu anderen Subjekten in ein und dieselbe "abstrakte Identität" auP. Dieses Moment der Allgemeinheit der Persönlichkeit enthält mithin die Rechtsfähigkeit aller Menschen, also, wie man definieren kann, die Fähigkeit von jedermann, der Freiheit ein Dasein zu geben. Daraus fließt folglich auch das Rechtsgebot: ,,sei eine Person und respektiere die anderen als Personen."4 Aber auch hier hebt sich das Moment der Allgemeinheit auf, indem es sich auch in der Seite der Besonderheit des Willens, in jeglichen innerlichen und äußerlichen Bestimmungen, als das durchgängig Allgemeine weiß5. Die Seite der Besonderheit des Willens ist daher Moment desselben. Dennoch kommt es bei der Person nicht auf die Besonderheit als solche an. Mithin sind insbesondere moralische Bestimmungen, namentlich, das Recht des Wohls, der Einsicht und Absicht zu achten etc., hier als solche noch nicht vom Rechtsgebot gewährleistet 6 • Rph. §§ 34 ff., S. 92 ff. Dazu Larenz, in: Reichelt, 1972, S. 773 ff. Rph. § 35, S. 93. Ebenso Folkers, ARSP 71, 1985, S. 252. 3 So die Parallele in Rph. § 34 Zus., S. 93 u. § 35 Zus., S. 95. Auch hier grenzt sich Hegel sofort von dem noch der Besonderheit verhafteten Selbstbewußtsein der Phän. ab, in: Rph. § 35 Anm., S. 94 f. Dazu Bartuschat, ZphF. 41, 1987, S. 30 f. und Siep, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 258, gegen Ilting, in: Henrich / Horstmann, 1982, 1

2

S. 240 ff.

4 Rph. § 36, S. 95. Kritisch zur Verwendung der Kategorie der Rechtsfähigkeit, Ilting, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 230. Wenn er Hegel jedoch zubilligt, einen eigenen philosophischen Begriff der Person zu entwickeln, warum soll dies nicht auch für den der Rechtsfähigkeit gelten? 5 Rph. § 35, S. 93. 6 So deutlich Rph. § 37, S. 96.

1. Eigentum und Vertrag

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Jedoch enthält das Rechtsgebot immerhin eine Grundbefugnis, ohne deren Einräumung die Konstitution von moralischen und sittlichen Verhältnissen unmöglich wäre? Diese Möglichkeit, auch moralisch und sittlich handeln zu können, bezeichnet hier die spezifische Form, wie sich das Allgemeine der Person als Allgemeines in besonderen Bestimmungen wiederfinden kann. Schließlich gehört zur Person auch das Moment der ausschließenden Einzelheit s. Darin ist wiederum zunächst eine negative Beziehung zum Ausgeschlossenen gesetzt, über welche die Person zu ihrem subjektiven Selbstbezug gelangt. Die Person hebt daher auch hier die Beschränkung auf die eigene, subjektive und besondere Einzelheit erst auf, wenn sie sich zu dem von ihrer Subjektivität Ausgeschlossenen in ein Verhältnis bringt, mithin sich auch in ihm als freier Wille setzt und als Person zur Geltung bringt 9. Es macht dabei die Eigentümlichkeit der Rph. aus, daß diese Aufhebung der subjektiven Einzelheit sich zunächst in einem Verhältnis des einzelnen Menschen zur Welt äußert, ohne daß es sogleich ausdrücklich zu einer Beziehung zu anderen Personen kommt. Deshalb wird häufig - unter Zustimmung oder Kritik - die These vertreten, daß die Rph. einen individualistischen Ausgangspunkt habe 10. Das individualistische Kennzeichen des Anfanges ist allerdings nach zwei Richtungen präzise zu bestimmen: Weil es im abstrakten Recht der Person zunächst nur darum geht, sich der Äußerlichkeit zu bemächtigen, kann zum einen kein Individualismus im emphatischen Sinne gemeint sein, der auf die Einmaligkeit des Charakters jedes Menschen, sein unverwechselbares Antlitz etc. abhebt ll. Dies sind moralische bzw. ästhetische Bestimmungen, die als solche im abstrakten Recht noch nicht thematisch sein können. Am besten trifft noch eine Deutung zu, die Hegels Lehre vom abstrakten Recht in die Nähe zu Macphersons Schilderung des "possessive individualism" stellt 12. Zum anderen wäre es verfehlt, alle Systemteile der Rph. allein als Ausprägungen dieses Individualismus anzusehen. Wie noch näher zu zeigen sein wird, entfaltet Hegel nicht nur diese individualistische Ausgangsposition seiner praktiRph. § 38, S. 96 f. Vgl. Bartuschat, ZphF. 41, 1987, S. 32 f. Rph. § 34, S. 92. 9 Rph. § 39, S. 98. 10 So Ilting, in: Riedel, 1975, S. 53 f.; Landau, in: Riedel, 1975, S. 178; Siep, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 255 ff.; schließlich Theunissen (in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 332, 351), der diesen Anfang gar solipsistisch nennt; Bartuschat betont, daß die Personalität nicht Intersubjektivität zur Voraussetzung hat, in: ZphF. 41, 1987, S. 31 f. II Zu verschiedenen Auffassungen von Individualität in der Neuzeit vgl. Borsehe, Art. Individuum, Individualität, in: Ritter, et. al., Historisches Wörterbuch, Bd. 4, 1976, Sp. 310 ff. m. w. N. 12 In: Besitzindividualismus, 1973, S. 11 u. ö. Zu dieser Parallele Ilting, in: Riedei, 1975, S. 54; Davis, ZphF. 43, 1989, S. 111 ff. ?

S

1. Kap. B. Das Verbrechen im abstrakten Recht

48

schen Philosophie. Ebensovielliegt ihm daran, ihre inneren Widersprüche aufzuweisen. In Anwendung der allgemeinen Willensdialektikermöglicht ihm dieses Verfahren, den Individualismus des Anfanges fortschreitend in allgemeinere Zusammenhänge einzuordnen, die seinen Geltungsanspruch relativieren 13. Diese Methode der Universalisierung der Freiheitsbegrifflichkeit darf jedoch nicht dazu verleiten, unter Berufung auf die Sittlichkeit den Individualismus des Anfangs wegzudefinieren 14. Stellt die Beschreibung des Verhältnisses der einzelnen Person zur vorgefundenen Welt den Ausgangspunkt der Rph. dar, so erhebt sich die Frage, wie darin ein begründetes Dasein des freien Willens gesehen werden kann 15. Als letzterer kann ja nur derjenige Wille gelten, dessen Allgemeinheit sich in einem konkreten Gleichheitsverhältnis zu Anderen bestimmt. Nun scheint es so zu sein, daß Hegel hier von einer Beziehung zu anderen gerade abstrahiert. Dieser Schein trügt jedoch. Zur Welt, welche die Person vor sich sieht, gehört nicht nur die vernunftlose Natur; vielmehr enthält die äußerliche Objektivität auch" ... das Verhältnis von einzelnen zu einzelnen Willen, die ein Selbstbewußtsein ihrer als verschiedener und partikulärer sind ..." 16 Bevor die Person nicht als Person agiert hat, kann diese Beziehung zwar noch nicht als freiheitliches, d. h. dem an und für sich freien Willen gemäßes, Willensverhältnis verstanden werden. Die Person muß also nicht notwendig in der Aneignung von Welt von vom herein gerade diese Beziehung zu anderen anstreben. Das hindert jedoch nicht anzunehmen, daß die Person fähig ist, eine andere als ohne Differenz mit ihr identisch zu denken 17. Schließlich enthält der reine, sich über den negativen Bezug zur Realität herstellende Selbstbezug der Person nicht nur die Reflexion auf die eigene Einzelheit. Zugleich denkt Hegel in dieser Abstraktion von aller vorfindlichen Bestimmtheit auch die unterschiedslose Gleichheit der Einzelnen mit. Damit wird die Einzelheit allgemein gesetzt 18. Indem sich die einzelne Person in der Welt ein Dasein sucht, tritt diese daher notwendig in eine erste, intersubjektive (Anerkennungs-)Beziehung zu anderen 19. Allerdings muß diese einen spezifischen Charakter aufweisen, welcher der AbVgl. die allgemeinen methodischen Vorbemerkungen in Rph. §§ 30-32, S. 83 ff. Stark in diese Richtung aber Binder, System, 1937, S. 152 u. ö.; Larenz, Deutsche Rechtserneuerung, 1934, S. 40 ff. Überhaupt ist diese Tendenz ein Charakteristikum vieler Rechtshegelianer, vgl. Ottrnann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 29 ff., 124 ff. IS Kritisch daher Ilting, in: Henrich / Horstrnann, 1982, S. 229 ff. u. Theunissen, in: Henrich / Horstrnann, 1982, S. 331 ff. 16 EnzykI. § 483, S. 303. Hinweis bei Siep; in: Henrich / Horstrnann, 1982, S.261. Dies spricht auch gegen die These Iltings, Hegel habe in den Schriften, die nach der HE erschienen sind, jegliche intersubjektiven Bezüge eliminiert, in: Henrich / Horstrnann, 1982, S. 243 ff. Wie Ilting auch Theunissen, in: Henrich / Horstrnann, 1982, S. 352. 17 So SdS, S. 40. Nach Siep, in: Henrich / Horstrnann, 1982, S. 263. 18 Einleuchtend Siep, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 258. 19 Vgl. Rph. § 48 mit Anm., S. 111 f. 13

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I. Eigentum und Vertrag

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straktheit des Anfanges der Begriffsentfaltung geschuldet ist und in dem sich der Ansatz im Besitzindividualismus augenscheinlich spiegelt. Denn im Anfang der Rph. wird zwar nicht von intersubjektiven Beziehungen abgesehen. Wohl aber beschränkt sich das praktische Selbstbewußtsein der Personen, deren Verhalten Hegel schildert, auf das Streben bloß nach Vereinzelung. Sie versuchen, von intersubjektiven Beziehungen zu anderen zu abstrahieren; sie sind einander gleichgültig 20. Weil dies aber für alle Personen zu gelten hat, stellt sich im Verhältnis zueinander an sich die Allgemeinheit dieses Strebens nach Verwirklichung der Einzelheit her. Denn, soweit die Person in der Weltbemächtigung sich radikal nur auf sich beschränkt, läßt sie gerade Raum für andere, ebenfalls ihrer Einzelheit in Abgeschiedenheit nachzugehen 21. Zu Kollisionen kann es hier noch vor jeder Begegnung in der Welt gar nicht kommen. Erst wenn die Personen sich in der Äußerlichkeit als einzelne bereits gesetzt und identifiziert haben, ist dies möglich. Die radikale Vereinzelung aller Personen verbürgt hier daher die Allgemeinheit und Gleichheit des Verhältnisses zueinander, das sich in der Welt nun herstellt. Die Selbstverwirklichung einer rein auf sich bezogenen Person in der Äußerlichkeit stellt mithin die unmittelbarste Form dar, wie sich die absondernde Einzelheit in ein Gleichheitsverhältnis zu anderen Personen aufheben kann. Als solches muß es das erste Dasein der Freiheit darstellen, das Hegel Eigentum nennt.

2. Vorvertragliches Eigentum Um sich ein Dasein geben zu können, ist die Person auf die Aneignung der vorgefundenen Äußerlichkeit angewiesen 22. Zwar besteht diese nicht nur aus vernunftloser Natur. Aber allein in diesen Sachen kann die einzelne Person zu einem, von keiner Verwicklung mit anderen Vernunftwesen getrübten Selbstbezug im Dasein kommen. Zu diesen Sachen gehört daher auch die körperliche Existenz des Menschen als Gattungswesen 23. Eigentum im Hegeischen Sinne hat deshalb einen viel weiteren Anwendungsbereich als z. B. der Eigentumsbegriff des BGB. Gegenüber den Sachen als vernunftlosen und damit rechtlosen Gegenständen besitzt die Person ein absolutes Zueignungsrecht 24 • Damit ist nicht gesagt, daß die eine Person in jedem Akt der Aneignung gegenüber anderen ausdrücklich einen Rechtstitel geltend macht 25 • Vielmehr entspricht es der oben geschilderten So mit kritischer Intention Theunissen, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 350. Vgl. zu dieser Figur auch Theunissen, in: Henrich / Horstrnann, 1982, S. 346, 352. 22 Rph. § 41, S. 102. Allgemein zur Einordnung des HegeIschen Eigentumsverständnis Dreier, ARSP 73, 1987, S. 169 ff.; Schild; in: Schwartländer, 1983, S. 33 ff. 23 Rph. §§ 43,47 f., 57, S. 102, 110 ff., 122 f. 24 Rph. § 44, S. 106. 25 Vgl. Ilting, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 232. 20 21

4 Klesczewski

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1. Kap. B. Das Verbrechen im abstrakten Recht

Unmittelbarkeit des ersten Daseins der Freiheit, daß jeder Akt der Inbesitznahme an sich der Allgemeinheit der Aneignung aller Personen keinen Abbruch tut. Soweit dieses Kriterium objektiv erfüllt ist, schadet es nicht, wenn die Person nicht im Bewußtsein handelt, einen Rechtsanspruch gegenüber anderen geltend zu machen. Insofern ist auch das vorvertragliche Eigentum nicht von intersubjektiven Vermittlungen abhängig 26 . Wo die einzelne Person in Ausübung ihres Zueignungsrechts ihren radikal selbstbezüglichen Willen ein Dasein gibt, tritt sie zwar notwendig in ein Seinsverhältnis zu anderen 27. Darin ist enthalten, daß die Person wahres Dasein nur für sich gewinnt, soweit der Akt der Aneignung nicht nur subjektive Absicht bleibt, sondern auch objektiv als primam occupationem für andere erkennbar ist 28 . Aber auch hier brauchen diese Elemente der Aneignung, welche die Beziehung zu anderen Personen bestimmen, nicht notwendig vom Selbstverständnis der Person mitgetragen zu sein. Sie müssen nur an sich vorhanden sein, um ein Handeln als 'persönliches Handeln begreifen zu können. Der Person geht es vielmehr nur darum, ihren freien Willen in seiner abstrakt selbstbezüglichen Vereinzelung zu vergegenständlichen. Daraus begründet sich die Notwendigkeit von Privateigentum, auf das jede gemeinschaftliche Vermögensform rückführbar sein muß29. Dieses ist für die Person somit nicht bloßes Mittel, ihre spezifischen Triebe zu erfüllen. Als erste Daseinsform der Freiheit muß es die Person wesentlich als Selbstzweck ansehen 30. Diese Eigenschaft kommt einer Sache auch dann zu, wenn ihr Nutzen für die eigenen Bedürfnisse unbedeutend ist. Ob Art und Umfang des privaten Eigentums jeder Person ausreicht, ihre besonderen Interessen zu befriedigen, ist daher von der Funktion des Privateigentums, selbstzweckhaftes· Dasein der Person zu sein, unabhängig. Die isoliert erfolgende Aneignung der Welt durch die Vielzahl der Personen kann daher schon dann als vernünftiges Gleichheitsverhältnis beschrieben werden, soweit gewährleistet ist, daß die Personen überhaupt Eigentümerinnen werden, selbst wenn deren Bedürfnisse dabei zu kurz kommen 31 • Die Anerkennung der Seite der Bedürftigkeit des Willens ist demnach im abstrakten Recht nur insoweit garantiert, als das private Eigentum unhintergehbare Bedingung der Möglichkeit ist, daß jeder unabhängig von anderen sein Glück verfolgen kann 32 • Allerdings 26 So Bartuschat, ZphF. 41, 1987, S. 36f., Siep, in: Henrich/Horstrnann, 1982, S. 255 f. Vgl. w. Folkers ARSP 71, 1985, S.252 und Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 256 ff. Kritisch konstatiert dies Theunissen, in: Henrich / Horstmann, 1982, S.347 mit Fn. 36. 27 Rph. § 48 Anm., S. 111 f. 28 Rph. § 51, S. 114 f., § 50, S. 114. Vom Ansatz Iltings ist das unverständlich, vgl. Henrich / Horstmann, 1982, S. 233 f. Wie hier aber Siep, in: Henrich / Horstmann, 1982, S.265. 29 Rph. § 46, S. 107 f. 30 Rph. § 45 Anm., S. 107; Enzykl. § 489, S. 307. 31 So deutlich Rph. § 49 mit Anm., S. 112 f.

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wird damit, wie noch zu zeigen ist, ein Grundbestand bestimmter Arten von Sachen, nämlich Leben und Arbeitskraft, als Voraussetzung freien Eigentumserwerbs gewährt. Hegel schildert mehrere Formen des vorvertraglichen Eigentumserwerbs, Besitznahme, Gebrauch und Entäußerung 33. Sie sind hier nicht im einzelnen aufzunehmen. Nachgezeichnet werden soll hier nur eine innere Dynamik der Vergeistigung der Außenwelt durch die Person, wodurch diese fortschreitend auch für sich das Eigentum (im Vertrag) als Mittler eines intersubjektiven Verhältnisses setzt 34. Die Besitznahme schildert die Arten der Aneignung durch eine einzelne Person, wie diese sich in ein positives Verhältnis zur Außenwelt setzt, weil sie dort ihrem freien Willen ein selbstzweckhaftes Dasein gibt 35 • Die einzelnen, der Natur entrissenen Sachen gelten so nicht mehr selbständig für sich; vielmehr dienen sie der Person als Zeichen ihrer Individualität 36. So wird sich die Person als freies Wesen in ihnen gegenständlich. Da aber der Person noch nicht gegenwärtig ist, daß sich über die Sache ein (Anerkennungs-) Verhältnis zu anderen vermittelt, ist sie noch nicht in der Lage, sich in deren subjekthafter Verfaßtheit wiederzuerkennen. Die Sache als solche weist aber einen entscheidenden Mangel auf. Als vernunftlose Substanz ist sie der Subjektivität der Person nicht vollständig angemessen. ,,Aber die Sache ist eine abstrakt äußerliche und Ich darin abstrakt äußerlich." 37 Die Subjektivität der Person muß sich daher gegenüber der Sache als das Substantielle zur Geltung bringen, indem es diese im Gebrauch verzehrt 38 • Hier kommt daher die Seite der Bedürftigkeit des Willens zu ihrem Recht. Allerdings tritt hier folgende Problematik auf: Mit der Konsumtion des Gutes verschwindet auch das Dasein der Freiheit in ihm. Es droht hier diesem Selbstzweck des Eigentums die Mediatisierung durch partikuläre Interessen der Person. Das negative Verhältnis zur Sache verneint implizit auch die darin anwesende Wirklichkeit des Rechts.

32 s. Rph. § 38 Randbem., S. 97. Dies betont besonders Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 256 ff. 33 Rph. § 53, S. 117 f. Wie später beim Unrecht gliedert er es nach den logischen Formen des Daseinsurteils, vgl. WdL. II, S. 311 ff. und Enzykl. §§ 172 f., S. 323 ff. Dazu Theunissen, in Henrich/Horstmann, 1982, S. 342. 34 Vgl. zur Vergeistigung Bartuschat, ZphF. 41, 1987, S. 34; zur inneren Dynamik besonders Ilting, in Henrich / Horstmann, 1982, S. 236 ff. 35 Vgl. Rph. §§ 54 ff., S. 119 ff. 36 Vgl. Bartuschat ZphF. 41, S. 34. Instruktiv auch Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 256 ff. 37 So Enzykl. § 490, S. 307. Zu der darin enthaltenen Spannung vgl. Bartuschat, ZphF. 41, 1987, S. 33 ff. 38 Rph. § 59 Zus., S. 129.

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Den Ausweg aus diesem Dilemma weist die Überlegung, daß der Verbrauch einer Sache immerhin noch der Erhaltung des Lebens dient, das ja ebenfalls ein Dasein der Freiheit vorstellt 39 • Trotzdem stellt sich die Frage, wie die dennoch vorhandene Minimierung der eigenen Rechtssphäre behoben werden kann. Dies gelingt dann, wenn sich die Person die Fähigkeit der Dinge des natürlichen Milieus (namentlich Flora und Fauna) zu Nutze macht, sich selbst (im Gattungsprozeß) zu erhalten. Hier kann man, ohne die eigene Existenzbasis zu schmälern, einzelne Exemplare der Gattung verbrauchen. Die Substanz der Sachenwelt äußert sich hier bereits als die sich erhaltende Möglichkeit eines spezifischen Gebrauches 40 • Ein Vergleich aller Sachen miteinander enthüllt jedoch einen noch grundlegenderen Zusammenhang, auf den ausführlich eingegangen werden soll, weil er später auch für die Frage nach der Bemessung der Schwere eines Verbrechens bedeutsam werden wird: Ebenso wie verschiedene Sachen dasselbe Bedürfnis befriedigen können, so sind ja auch die einzelnen unterschiedlichen Bedürfnisse selbst miteinander quantitativ verrechenbar. Damit lassen sich aber auch alle Sachen untereinander danach in eine Gleichung bringen, was sie zur allgemeinen Bedürfnisbefriedigung beitragen. Dieses innere Allgemeine, das sich in allen Sachen wiederfindet, ist der Wert derselben 41. Es scheint nach dem bisher Gesagten daher so zu sein, daß Hegel mit dieser Gebrauchswertabstraktion sich als Anhänger einer subjektiven Wertlehre ausweist 42 • Fraglich ist, inwiefern in einem derartigen Verständnis von Wert noch ein freiheitliches Verhältnis des Menschen zu Sachen gesehen werden kann. Die Brauchbarkeit einer Sache beurteilt sich zwar stets nach den Bedürfnissen, die eine Person besitzt. Die Wertkategorie jedoch allein aus dieser Bedürftigkeit des Menschen zu definieren, hieße aber, erstere als ein Zeichen für eine umfassende Abhängigkeit des Menschen von seiner natürlichen Umwelt zu verstehen. Dies widerspräche jedoch aufs schärfste dem Diktum Hegels, daß die Aneignung von Sachen zeige, daß der "Mensch Herr über alles in der Natur" sei 43 • Genauer besehen, stellt die allgemeine Wertsubstanz aber eine Qualität vor, die den Sachen nicht von Natur aus zukommt. Denn die bisherige Analyse setzt voraus, daß die Sache bereits von sich aus tauglich ist, ein Bedürfnis befriedigen 39 Rph. §§ 59 f. mit Randbem., S. 129 f. Gehaltreicher SdS, S. 22 ff. und JR, S. 218 f. Instruktiv Göhler, Dialektik und Politik, in: Göhler, 1974, S. 483 m. w. N. 40 Vgl. Rph. § 64 Randbem., S. 139. 41 Rph. § 63, S. 135 f. Vgl. W. Flickinger, ARSP 62, 1977, S. 536 f. 42 So insbesondere D. Wolf, Hegels Theorie, 1980, S. 117 ff. Vgl. w. Landau, in: Riedei, 1975, S. 182, der den Akzent letztlich auch auf die subjektive Seite setzt. In Bezug auf die eben zitierte Stelle auch Heinen ARSP 63, 1977, S. 418 f. Eine Abstraktion von ökonomischen Sachverhalten wird Hegel auch von Flickinger vorgeworfen, in: ARSP 62, 1976, S. 597. 43 Rph. § 39 Randbem., S. 98. Auf diese Voraussetzung einer freiheitlichen Eigentumsverfassung weist zurecht Ritter hin, in: Metaphysik und Politik, 1969, S. 256 ff.

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zu können. Zwar entfällt die Brauchbarkeit einer Sache für das eine Subjekt dort, wo dieses kein ihr entsprechendes Bedürfnis besitzt. Dennoch gilt nicht die Umkehrung, daß stets dort, wo eine Person begierig ist, sie immer auch ein taugliches Mittel findet. Vielmehr muß die Sache partikularisiert werden, um einem Triebe dienen zu können 44 • Sie muß dem Naturzusammenhang entrissen werden, um der Person als einzelner Gegenstand zur Verfügung stehen zu können. "Ohnehin ist die Gattung und das Elementarische als solches nicht Gegenstand der persönlichen Einzelheit; um dies zu werden und ergriffen werden zu können, muß es erst vereinzelt werden (ein Atemzug der Luft, ein Schluck Wasser)."45 Hier zeigt sich, daß erst über menschliche Arbeit an der Natur alle Sachen ihren Gebrauchswert erhalten. Arbeit stellt mithin das innere Allgemeine, den Wert einzelner Sachen von unterschiedlicher Brauchbarkeit, dar. So sieht es auch Hegel an einer anderen Stelle der Rph.: "Diese Formierung gibt nun dem Mittel den Wert und seine Zweckmäßigkeit, so daß der Mensch in seiner Konsumtion sich vornehmlich zu menschlichen Produktionen verhält ... "46 Nach dieser Auslegung reiht sich Hegel also in die objektiven (Arbeits-) Wertlehren ein 47. Den einzelnen Gütern kommt somit ein Wert nur zu, soweit sie durch die Arbeitskraft brauchbar gemacht worden sind. Auch dann können sie zwar aus der Perspektive einer einzelnen Person in deren subjektiver Wertschätzung sinken 48. Die Arbeitskraft trägt ihren "Wert" dagegen in sich 49 . Weil ihre (Re-) Produktion durch Lebensmittel ihrerseits über deren Herstellung vermittelt ist, gründet die Existenz der Arbeitskraft in sich selbst. Ihr Gebrauch verzehrt nicht ein Dasein der Freiheit sondern vermehrt es sogar noch 50. In Anwendung auf sich selbst, bildet sie das Individuum fort 51 . Aus diesem Zusammenhang erhellt der Sinn der Definition der Wertkategorie durch Hegel: Nur der Arbeitskraft kommt die Fähigkeit zu, eine "sich erhaltende Möglichkeit, ein Bedürfnis zu befriedigen", zu sein 52.

44 Rph. § 59, S. 128. 45 Rph. § 52 Anm., S. 116 46 Rph. § 196, S. 351. Erste Hervorhebung vom Verf. Die zentrale Bedeutung des Arbeitsbegriffs bereits für das abstrakte Recht hebt auch Angehrn, Freiheit und System, 1977, S. 188 f., hervor. 47 Zu dieser Einteilung s. Heinen, ARSP 63, 1977, S. 414 ff. m. w. N. Vgl. auch dessen im Ergebnis gleiche, von der Methode her aber zweifelhafte, Ableitung einer Arbeitswertlehre dort, S. 423 f. 48 Rph. § 64 Randbem., S. 139. 49 Dies gilt nur in einem übertragenen, nicht-ökonomischen, sondern normativen Sinne. Denn genaugenommen kann sie als Quelle von Wert selbst nicht nach der Wertkategorie beurteilt werden, s. K. Marx, Kapital, MEW 23, S. 559. 50 Rph. § 53 Randbem., S. 118 und SdS, S. 33. 51 Rph. § 57, S. 122 f. Hieraus erhellt auch, warum Hegel der Bildung einen absoluten Wert zuschreiben kann, Rph. § 20, S. 71. Dazu Heinen, ARSP 63, 1977, S. 52 Rph. § 63 Randbern., S. 136.

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Sie stellt eben deshalb für die Persönlichkeit ein ihrem Begriffe gemäßes Dasein dar. Denn die wertschöpfende Arbeit ist nicht nur ein individuelles Vermögen. Ebenso repräsentiert es eine allgemeine Eigenschaft, der jeder Mensch teilhaftig ist, in der also die an sich seiende Identität derselben existentiell wird. So sagt Hegel, die Substanz der Arbeitskraft sei die Persönlichkeit selbst 53 • Im Wert einer Sache spiegelt sich daher nicht die Abhängigkeit des Menschen von der Natur, sondern vielmehr ihre Beherrschung durch den freien Willen 54. Die Arbeitskraft ist daher der Person ebenso wesenseigen wie ihr Leben, welches ja Voraussetzung jeglicher Weltaneignung ist. Leben und Arbeitskraft sind demnach unveräußerliche Rechtsgüter der Person 55. Der Akt ihrer Entäußerung ist für Hegel daher nicht-rechtlich. Er kann nicht als Dasein der Freiheit anerkannt werden, weil es eine Vernichtung desselben darstellen würde. Denn die Person verlöre mit ihm faktisch ihre Rechtsfähigkeit, die Bedingung der Möglichkeit jeder Rechtlichkeit ist. Demgegenüber haben alle anderen Dinge nur eine partikuläre Bedeutung für die Person. Sie sind ein Dasein der Freiheit nur solange, wie ihr Ich seinen Willen in sie legt 56. Es kann seine Unabhängigkeit von ihnen umfassend dadurch beweisen, daß es sich ihrer entledigt. Dennoch führt die Entäußerung des Eigentums auch in dieser Form zu einem Widerspruch: Die Person kann sich eine Vorstellung von der Ungebundenheit an partikuläre Sachen nur dadurch machen, daß sie sich ihrer erleichtert. Damit geht ihr aber ebenfalls ein Dasein der Freiheit verloren 57. Dessen Negation ist dabei noch umfassender als bei dem vernichtenden Gebrauch: Während dort die Person nur implizit mit dem Verzehr ein Dasein der Freiheit aufgehoben hat, gibt das Derelinquieren, welches eine Sache herrenlos werden läßt, ausdrücklich das Recht an der Sache auf, negiert also das einzelne Recht als Recht. Es scheint daher so zu sein, daß jede Entäußerung als rechts vernichtendes Tun nicht als freiheitsverwirklichender Akt angesehen werden kann. Damit wäre die Person jedoch auf andere Weise in die Abhängigkeit zur angeeigneten Natur versetzt. Auch so höbe sich die Freiheit im Dasein letztlich auf. Die Auflösung dieses Gegensatzes kann von einer einzelnen Person nicht mehr allein geleistet werden. Der Akt des Derelinquierens ist nämlich nicht nur negativ; Rph. § 67, S. 144 f. Vgl. w. Rph. § 66 Anm., 141 f. Vorsichtiger Bartuschat, der bloß von einer Relativierung der Abhängigkeit spricht, in: ZphF. 41, 1987, S. 34. 55 Rph. §§ 67, 70, S. 144 f., 151. Kritisch hierzu Kiesewetter, Von Hegel zu Hitler, 1974, S. 90. Dazu im folgenden Text. Daß die unveräußerlichen Rechtsgüter Voraussetzung der freien Verfügung über andere Sachen ist, betont auch Angehm, Freiheit und System, 1977, S. 191 f. 56 Rph. § 65, S. 140. 57 Rph. § 71 Randbem., S. 154. Von einer Verschärfung der Problematik spricht auch Bartuschat, in: ZphF. 41, 1987, S. 35. 53

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die Aufgabe des eigenen Eigentumsrechts impliziert ja die Möglichkeit der Aneignung durch andere. An diesem Punkt tritt für das besitzende Individuum die Notwendigkeit ein, sich in seinem Dasein in einen intersubjektiven Zusammenhang einzufügen 58. Denn es kann nur dort eine Entäußerung einer Sache geben, die dennoch Eigentum bleibt, wo das eine Ich diesen Gegenstand einem anderen zuwendet, womit es mithin dessen Eigentum wird. In dieser Veräußerung bleibt die Freiheit der Person ihr auch weiterhin gegenständlich, da das Eigentum des anderen ja durch ihren Willen vermittelt begründet worden ist. Gleichzeitig kann die Sache nur dann Eigentum des anderen werden, soweit auch er vorher dem zugestimmt hat. Mithin kommt im Akt der Veräußerung eine Einheit im Willen zur Erscheinung, die vorher nur an sich bestand 59. Diese Einheit ist der Vertrag.

3. Der Vertrag Der Vertrag behebt also den Widerspruch der vereinzelten Person, indem diese sich ihrer partikulären Dinge entäußern darf, um der Abhängigkeit von ihnen entfliehen zu können, ohne dabei aber ein Dasein der Freiheit als solches negieren zu müssen 60. Zugleich konstituiert sich in der Übereinkunft ein gemeinsamer Wille zweier Personen, die sich wechselseitig als Eigentümer anerkennen. Es kommt daher nun auch den Personen selbst zu Bewußtsein, was ihrem Tun auch bisher schon zugrunde lag: ihre an sich seiende Identität 61. Existent wird hier daher in Hegels Worten "die Idee des reellen ... Daseins der freien Persönlichkeit"62. Formell besteht hier daher in diesem, beiden Personen allgemeinen Bewußtsein eine positive Beziehung der derselben aufeinander. Materiell regelt der Vertrag jedoch weiterhin das gegenseitige Ausschließen verschiedener Privateigentümer von ihrem jeweiligen Besitz, mithin die negative Beziehung aufeinander 63 . Vgl. § Rph. § 73, S. 156. Rph. § 81, S. 169. In dieser Richtung ist auf die Kritik Kiesewetters zu antworten, in: Von Hegel zu Hitler, 1974); S. 90 f. Er moniert, daß Hegel die Entäußerung des Lebens an die sittliche Idee delegiere. Unterstellt wird dabei augenscheinlich, daß letztere für das Individuum eine transzendente Macht sei; dagegen spricht schon das oben Ausgeführte. Eine Begründung dessen kann nur so erfolgen, daß eben jede Entäußerung nur dann nicht widersprüchlich ist, soweit sich die in ihr aufgeopferte Freiheit, in der Erhaltung anderer Freiheit aufhebt, vgl. für den Lebensnotstand z. B. Hegel, in: Nachsehr. Wannenmann ,in: Ilting, S. 84 f. Dabei sind jedoch konkretere intersubjektive Beziehungen, letztlich das Staatsrecht, vorauszusetzen, deren Regelungsgehalt sich nicht nur auf Sachen beziehen. 60 Vgl. dazu auch Flickinger, in: ARSP 62, 1976, S. 538 f. 61 Dazu Ilting, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 237 f. Siep, in: Henrich / Horstrnann, 1982, S. 266. Theunissen, in: Henrich / Horstrnann, 1982, S. 349 f. 62 Rph. § 71 Anm., S. 153. 63 So ist wohl Rph. § 113 Anm., S. 211 zu verstehen, s. Rph. § 81 Randbem., S. 171. Ebenso Theunissen, in: Henrich / Horstrnann, 1982, S. 349 f. und Folkers, in: ARSP 71, 1985, S.252. Allgemein zum Vertrag bei Hegel, Binder, in: 3. Hegelkongreß, 1934, S. 4 ff. und Schnädelbach, HS 22, 1987, S. 111 ff. 58 59

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Fraglich ist, ob durch den Vertrag eine nachträgliche Legitimierung der einseitigen Besitznahme erreicht werden soll64. Wenn das so verstanden werden muß, daß der Vertrag die Rolle einnimmt, sich wechselseitig den bisherigen Besitzstand zuzusichern, trifft das nicht das HegeIsche Verständnis. Dagegen spricht schon die Beschränkung des Vertrages auf die Übertragung einzelner Sachen 65 • Zudem will es nicht recht einleuchten, wie man durch die Entäußerung einer Sache den eigenen Besitzstand sichern will. Schließlich besteht nach der hier ausgeführten Interpretation gar kein Bedarf einer nachträglichen Rechtfertigung. Wie gezeigt, wird nur derjenige Besitz als Eigentum angesehen, in der die Allgemeinheit der Aneignung nicht unmöglich gemacht wird. Zuzugeben ist allerdings, daß das jeweilige, vertraglich erworbene Eigentum nun durch den intersubjektiven Akt eine größere Festigkeit aufweist. Das Wesen des Kontrakts kennzeichnet eine weitere Vergeistigung 66; Das Gelingen der Veräußerung setzt die Zustimmung des Erwerbers voraus. Diese Übereinkunft macht demnach jetzt die substantielle Seite des Daseins der Freiheit aus. Ihre Sphäre ist nun allerdings nicht mehr die der natürlichen Güter sondern die der Vorstellung 67 • Sie ist die Stufe "der aus dem Verhältnis zur Einzelheit des Objekts sich in sich zurücknehmenden und das Objekt auf eine Allgemeines beziehenden Intelligenz ..."68. Das unvermittelt sprachliche Hervorrufen einer bestimmten Vorstellung von Eigentumsverhältnissen gilt jetzt bereits selbst als das Dasein der Freiheit, in dem schon alles gesagt und geregelt ist. Mithin gibt der Ausruf; "Diese Sache ist dein!", selbst schon - unabhängig von der physischen Besitzverschaffung, der Leistung - das Eigentums an den anderen auf 69 • Nur so kann der Adressat der Erklärung ja den Sinn des Veräußerungsakts nachvollziehen, um sich selbst als Eigentümer zu verstehen, was ja erst den Erfolg der Übertragung sicherstellt. In der von einem gemeinsamen Konsens getragenen, auf der eigenen, wie der Willkür des anderen beruhenden Annahme einer Sache zu seinem Eigentum wird mir so mein Wille in dem Willen des Vertragspartners als subjektverfaßter Äußerlichkeit gegenständlich 70. Dies gilt sowohl für die Schenkung als auch für den Tausch, den Grundformen des Vertrages 71 • Letzterer ist jedoch der Idee der 64 Dazu Ilting, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 234 ff. Ähnlich Bartuschat, ZphF. 41, 1987, S. 36 ff. Kritisch Siep, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 266 f. 65 Rph. § 75, S. 157. 66 Vgl. Rph. § 81 Randbem., S. 171. 67 So Rph. § 78, S. 161, mit Verweis auf HE §§ 379 f., S. 268 ff. 68 Definition nach Enzykl. § 445 Zus., S. 245. 69 Rph. § 79, S. 162. 70 So Rph. § 73, S. 156. 71 Zu dieser Grundunterscheidung bei Hegel s. Rph. § 76, S. 159. Beide Formen sind in ganz weitem Sinne zu verstehen, weil sie sich ja auf den weiten Sachbegriff Hegels beziehen. In heutiger Terminologie könnte man von entgeltlichen und unentgeltlichen Verträgen sprechen.

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Rechtsvernunft angemessener, weil in ihm beide Teile sowohl Erwerben als auch Veräußern wollen, jedem Vertragspartner mithin am jeweils anderen die Totalität der den Vertrag konstituierenden Willensmomente objektiv wird. Nur im Tausch findet sich die positive Seite, die jeder Entäußerung innewohnt, in der Sphäre beider Vertragspartner wieder: Denn beide Seiten übertragen nicht nur Eigentum, sondern erwerben es auch. Um jedoch von einer Identität der Erwerbsakte sprechen zu können, müssen einander gleiche Leistungen erbracht werden. Spezifisch gleiche Sachen zu tauschen, z. B. zwei Paar Schuhe, wäre jedoch unsinnig. Somit bleibt, um in verschiedenen Sachen etwas Gleichbleibendes zu finden, nur die Gleichsetzung im Werte der zu tauschenden Gegenstände übrig, die oben bereits erörtert worden ist 72 • Der Abschluß eines Tauschvertrages impliziert also die Forderung, daß nur wertgleiche Sachen übertragen werden dürfen. Nur so können die Individuen (der Quantität nach) Eigentümer bleiben. Wie in der Übereinkunft die an sich bestehende Identität des Willens der Vertragspartner schon in Erscheinung tritt, so bildet sich nun dieses gemeinschaftlich Allgemeine auch in deren privatem Dasein ab: Zwar verhalten sich die Vertragspartner in ihren erworbenen Sachen weiterhin wie ausschließende Eigentümer zueinander . Für die Personen sind diese äußerlich verschiedenen Sachen aber durch den Tauschakt in ihrem Werte gleich gesetzt. Über das einzelne Privateigentum vermittelt sich so die Teilhabe an der allgemeinen Sache, wie Hegel im Vorgriff auf die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft sagt 73 • Reines Symbol dieser Teilhabe ist das Geld 74 • Wie die an sich seiende Identität aller Personen die Legitimation der Aneignung an deren objektiv gegebene Allgemeinheit gebunden hat, so machen sich die Vertragspartner bereits in der Übereinkunft einander die beiderseitige Leistungspflicht an sich verbindlich 75. Denn mit der Übereinkunft sind die Vertragspartner ja schon Eigentümer der neuen Sache geworden. Die Leistungspflicht zu erfüllen, also auch den Besitz an der zu Eigentum übertragenen Sache zu verschaffen, folgt für Hegel mithin lediglich aus einer Anwendung des allgemeinen Rechtsgebotes. Alle anderen Deutungen der Übereinkunft führen nach Hegel zu einem 72 Rph. § 77, S. 159 f. Dazu Landau, in: Riedei, 1975, S. 182. Flickinger ist der Ansicht, indem Hegel den Vertrag als reine Willensbeziehung konstruiere, müsse er notwendig vom ökonomischen Gehalt der Tauschbeziehung absehen, in: ARSP 62, 1976, S.538. M. E. nimmt Hegel letzteren auf, um die Forderung der Wertgleichheit zu konkretisieren. 73 In Enzykl. § 494, S. 308. Zur Parallele in der bürgerlichen Gesellschaft, s. Rph. §§ 199,218, S. 353, 371 f. Ähnlich Theunissen, in: Henrich/Horstmann, 1982, S. 361. 74 Vgl. JR, S. 235 f. Etwas anders in Rph. § 63 Zus., S. 137, wo, m. E. fälschlicherweise, von der notwendig intersubjektiven Vermittlung der Genese des Geldes abstrahiert wird. Dazu auch D. Wolf, Hegels Theorie, 1980, S. 117 ff. 75 Rph. § 79 mit Anm., S. 162 ff. Dazu gut Ilting, in: Henrich / Horstmann, 1982, S.237.

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infiniten Regreß, indem immer weitere Verträge die Verbindlichkeit vorhergehender Kontrakte garantieren sollen. Ihr gemeinschaftlicher Wille ist daher an sich auch ihr allgemeiner Wille. Dies bedeutet aber nicht, daß die kontrahierenden Personen bereits dann, wenn sie im Tausche überein kommen, schon in dem praktischen Bewußtsein handeln müssen, daß ihre willkürliche Willensübereinstimmung nicht nur an sich, sondern auchfür sie einen allgemeinen, sie verpflichtenden und ihre Willkür einschränkenden Willen darstellt 76 • Wie es am Handkauf deutlich wird, können wechselseitige Entäußerung und Besitzverschaffung unmittelbar zusammenfallen, ohne daß auf eine Pflicht reflektiert zu werden braucht 77. Genauso kann es aber auch dann sein, wenn Übereinkunft und Erfüllung zeitlich nacheinander erfolgen. Denn im Vertrage will sich die Person ja gerade ihre Freiheit von partikulären Gegenständen durch die Entäußerung derselben beweisen. Sie stellen damit für sie, wandelt sie ihre Sinne nicht, recht eigentlich nur eine ihr gleichgültige Äußerlichkeit dar. Die Ergreifung dieser Sache durch den Vertragspartner läßt sie daher ebenso unberührt. Die Erfüllung der Leistungspflicht wird hier somit noch unmittelbar in eins gesetzt mit einem, als Ausübung eigener, persönlicher Freiheit verstandenen Akt der Entäußerung. Mit dem Akt der Entäußerung der Sache nimmt sich der Wille des einen Vertragspartners jedoch, im Aufgeben des eigenen Eigentums, aus seiner Beziehung zu einem einzelnen Objekt zurück und bezieht dasselbe Objekt nunmehr auf etwas Allgemeines, nämlich den gemeinschaftlichen Willen, den er mit der anderen Vertragspartei gebildet hat. 78. Diese Subsumtion einer Einzelheit unter die Allgemeinheit nennt Hegel in der Logik ein positives Urteil 79 • Gleiches gilt für den Erwerbsakt, der im Rahmen des Vertrages ja die Entäußerung als Voraussetzung der eigenen Aneignung nachvollziehen muß. Anders als beim vorvertraglichen Eigentum 80 spricht Hegel diese Urteilsform im Vertragsrecht nicht ausdrücklich an. Er gliedert jedoch die sogleich näher zu behandelnden Formen des Unrechts ebenfalls in Anlehnung an die Logik der Daseinsurteile 81 • Deren Reihe beginnt aber mit dem positiven Urteil, das dem negativen Urteil notwendig vorausgehen muß 82, in der Rph. damit nur in der Erfüllung des Vertrages erblickt werden kann. An der logischen Form des positiven Urteils lassen sich daher sehr gut zwei Fragen beantworten: Zum einen gibt So Ilting, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 237 f. Vgl. JR, S. 236 f. u. 237 ff., wo die unmittelbare Form des Handtausches als Vorform einer expliziten Vertragsregelung angesehen wird; ähnlich auch Rph. § 78 Zus., S. 162. Dazu auch D. Wolf, Hegels Theorie, 1980, S. 122 ff. 78 Definition wie oben nach Enzykl. § 445 Zus., S. 245. 79 Enzykl. § 172, S. 323, WdL. 11, S. 311 ff. 80 In Rph. § 53, S. 117 f. Dazu Theunissen, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 342 f. 81 Rph. § 83, S. 173 f. 82 Vgl. Enzykl. §§ 172 f., S. 323 ff., WdL. 11, S. 311 ff. 76 77

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es Aufschluß darüber, welcher Grundkategorialität der Rechtsgutsbegriff Hegels folgen muß. Zum anderen läßt sich der Übergang vom Dasein der Freiheit, wie es vom Vertrag gesetzt wird, in die fortschreitende Negation des ersteren im Unrecht an Hand der immanenten Dynamik der Urteilsformen nachvollziehen.

4. Hegels Rechtsgutsbegrijf Der Rechtsgutsbegriff Hegels wurde bisher (in einem etwas zweifelhaften Verfahren) aus dessen Verbrechensdefinition rückgeschlossen 83 • Diese lautet: "Der erste Zwang als Gewalt von dem Freien ausgeübt, welche das Dasein der Freiheit in seinem konkreten Sinne, das Recht als Recht verletzt, ist Verbrechen, - ein negativ-unendliches Urteil in seinem vollständigen Sinne ( ... ), durch welches nicht nur das Besondere, die Subsumtion einer Sache unter meinen Willen (... ), sondern zugleich das Allgemeine, Unendliche im Prädikate des Meinigen, die Rechtsfähigkeit, und zwar ohne die Vennittlung meiner Meinung ( ... ) ebenso gegen diese negiert wird ..." 84 Wendet man dasjenige positiv, was hier als spezifisch verbrecherische Verletzung des Rechts bestimmt wird, dann läßt sich daraus der Rechtsgutsbegriff Hegels gewinnen: Rechtsgut ist für Hegel danach seiner Grundkategorie nach ein Dasein der Freiheit, in dem sowohl in der Subsumtion einer Sache unter den Willen einer einzelnen Person ihre besondere Seite des Willens als auch die allgemeine Seite des Willens, die abstrakte Identität der Personen, ihre Rechtsfähigkeit, gesetzt worden ist 85 • Bei diesem Verfahren, sich den Rechtsgutsbegriff Hegels zu verdeutlichen, ist allerdings vorausgesetzt, daß dieser sich aus den bisher im abstrakten Recht gegebenen Bestimmungen begründen läßt. Diese positive Konstruktion des Rechtsgutsbegriffs soll im Folgenden geleistet werden, um auch die Grenzen desselben einsehen zu können. Er muß aus der vertraglichen Übertragung von Eigentum ableitbar sein. Das positive Urteil, das im vertraglichen Übertragungsakt von Veräußerer und Erwerber gesprochen wird, bezieht den Besitz einer Sache durch eine einzelne Person nicht nur auf deren besonderen Willen sondern gerade auch auf den s. Sina, Dogmengeschichte, 1962, S. 29 f. Dort auch weitere Nachweise, S. 31 ff. Rph. § 95, S. 181 f. 85 s. Sina, Dogmengeschichte, S. 30. Ähnlich auch M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 325 f. m. w. N. Die von Hegel beeinflußten Strafrechtler des 19. Jh. betonen meist die Seite der Besonderung des Allgemeinen im Rechtsgutsbegriff, s. Abegg, Lb., 1836, S. 93 f., Berner, Lb., 1898, S. 93, Hälschner, System I, 1858, S. 94 f. Ahnlich auch Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, 1975, S. 70 f. Gegen diese Überpointierung trifft die Kritik E. A. Wolffs zu, in: Hassemer, 1987, S. 145. Sie folgt m. E. jedoch nicht zwingend aus dem Text der Rph. 83

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gemeinschaftlichen Willen, den jene mit ihrem Vertragspartner gebildet hat. Umgekehrt wird natürlich mit diesem positiven Urteil auch der gemeinschaftliche Wille der Vertragsparteien auf das Eigentum einer einzelnen Person in ihrer Unterscheidung von anderen bezogen. Demnach muß das positive Urteil als eine gedoppelte Struktur betrachtet werden, die nach Form und Inhalt unterschieden werden kann 86 : Nach der Seite der Form lautet es: "Das Einzelne ist allgemein." Nach der inhaltlichen Seite heißt es dagegen: "Das Allgemeine ist einzeln." Während die formelle Seite des positiven Urteils sich zwanglos aus dem Akt der Übertragung von Eigentum ergibt, dessen Gelingen, wie ausgeführt, ja des Konsenses beider Parteien bedarf, ist die damit zugleich ausgesprochene, inhaltliche Seite des Urteils noch näher zu erläutern. In vertraglich vermitteltem Eigentum kommt nicht nur eine Subsumtion des besonderen Willens unter den gemeinschaftlichen Willen zum Ausdruck. Gleichzeitig versteht die Person das vertraglich erworbene Eigentum nicht mehr nur nach seiner privativen Seite gegen andere Personen; vielmehr sieht es darin auch eine Teilhabe an der allgemeinen Sache, mithin auch eine Individuation des allgemeinen Willen der Vertragspartner. Nach dieser Analyse stellt sich das Rechtsgut, wie es nach Hegel zu bestimmen ist, nicht mehr nur als ein Dasein der Person dar, in dem diese sich ihrer andere ausschliessenden Einzelheit bewußt wird, wie es im vorvertraglichen Eigentum der Fall ist. Das vertraglich vermittelte Eigentum macht jetzt vielmehr den Vertragsparteien auch ihren gemeinschaftlichen Willen gegenständlich. Die hier dem Rechtsgut gegebene Definition ist jedoch aus zwei Gründen zu beschränken: Zum einen gilt sie nur für ein Dasein der Freiheit, das allein auf Sachen bezogen ist. Zum anderen ist seine Existenz noch allein über die Willkür der Vertragspartner vermittelt 87 •

5. Der Übergang zum Unrecht Im vertraglich vermittelten Eigentum (dem Rechtsgut im Sinne des abstrakten Rechts) setzen die Personen zwar ihr einzelnes Willensdasein ebenso allgemein wie sie den gemeinschaftlichen Willen auf eine individuelle Existenz beziehen. Diese Einheit von einzelnem und allgemeinen Willen kommt aber um den Preis zustande, daß sowohl die unmittelbare Einzelheit der Person auf die bloße Übereinstimmung mit dem Allgemeinen reduziert wird, wie sich das Dasein des allgemeinen Willens nur auf das private Eigentum der je einzelnen Person beschränkt 88. WdL. 11, S. 315. Rph. § 82, S. 172. Instruktiv Ilting, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 239, und Siep, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 267 f. 88 Parallel zur logischen Analyse des positiven Urteils, vgl. WdL. 11, S. 312,314 f. Dazu Eley, Logik, 1976, S. 169. Die Enzykl. § 172, S. 323, nennt diese Einheit des Einzelnen mit seinem Allgemeinen das Besondere. Dazu Lakebrink, Hegels Logik, Bd. 11, 1985, S. 103 f. 86 87

I. Eigentum und Vertrag

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Der Mangel in der formellen Seite des positiven Urteils besteht aber darin, daß das Einzelne nicht nur allgemein ist, sondern seine Mannigfaltigkeit auch noch anderes umfaßt. Vor der Erfüllung der Leistungspflicht hat der Wille des Veräußerers ja nicht nur (als Teil des gemeinschaftlichen Willens) Dasein in der Vorstellung der Vertragsgültigkeit. Vielmehr ist er sich daneben zugleich noch als bloß besonderer Wille in der zwar schon übertragenen, aber noch nicht übergebenen Sache gegenständlich. "Der Wille hat als solcher Gültigkeit, er ist befreit von der Wirklichkeit. Eben darin ist das Gegenteil: einzelner und gemeinsamer Wille trennen sich ..."89 Im positiven Urteil enthält das Prädikat somit noch nicht die konkrete Allgemeinheit des Begriffs, die auch die Seite der Besonderheit einbezieht. Stattdessen beinhaltet es nur eine abstrakte Allgemeinheit, die als Negation des Besonderen selbst etwas Partikuläres darstellt 9O • "Dieser identische Wille ist aber nur relativ allgemeiner, gesetzter allgemeiner Wille und somit noch im Gegensatz gegen den besonderen Willen."91 Es gilt hier nur die Allgemeinheit, seine Freiheit allein dadurch zu manifestieren, daß man sich einer Sache entäußert. Diese Allgemeinheit richtet sich, indem sie auch die Besitzverschaffung an der veräusserten Sache verlangt, gerade gegen das Dasein des bloß besonderen Willens des Veräußerers in dieser Sache. Da der gemeinschaftliche Wille der Vertragsparteien diese besondere Seite des Willens nicht respektieren kann, sie vielmehr ausschließt, so kommt ihm also keine konkrete Allgemeinheit zu, sondern nur eine relative 92. Im positiven Urteil der Veräußerung steckt daher zugleich ein negatives 93. Indem ich eine Sache als die seinige meines Vertragspartners setzte, setze ich es zugleich als die nicht-meinige. Auch die inhaltliche Seite des positiven Urteils weist einen Mangel auf. Das Allgemeine findet sich nicht bloß in einer Einzelheit wieder, sondern umgreift die Allheit derselben. Nicht nur im Willen der einen Person ist das Allgemeine existent, sondern auch in dem seines Vertragspartners. Im praktischen, positiven Urteil der Eigentumsübertragung wird der allgemeine Wille jedoch in seinem Dasein auf den Willen des Erwerbers vereinzelt. Denn mit dem Ausspruch: "Diese Sache ist dein!", wird nicht nur die Allgemeinheit der Aneignung durch den Erwerber ausgesprochen; zugleich wird damit der Wille des Veräußerers von dieser Einheit der Einzelheit mit der Allgemeinheit ausgeschlossen. Auch hier impliziert das positive Urteil ein negatives. In der JR ist dieses Setzen dessen, was an sich schon im Vertrage enthalten ist, deutlich ausgeführt: "Hier aber (tritt) diese Trennung ein, die ebensosehr in So die JR, S. 238. Vgl. Flickinger, ARSP 62, 1976, S. 540 f. EnzykI. § 172 Anm., S. 323. Erläuternd Lakebrink, Hegels Logik, Bd. II, 1985, S.103. 91 Rph. § 81 Zus., S. 172. 92 Vgl. Rph. §§ 82, 84, S. 172, 174 f. 93 WdL. II, S. 316 f. Dazu Eley, Logik, 1976, S. 169. 89

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1. Kap. B. Das Verbrechen im abstrakten Recht

das Gegenteil umschlagen kann: das Insichgehen.... Ich kann den Vertrag einseitig brechen, denn mein einzelner Wille gilt als solcher, nicht nur insofern er gemeinsamer ist, sondern der gemeinsame Wille ist ja selbst nur, insofern mein einzelner gilt. Es ist beides gleich wesentlich, mein einzelner so sehr wesentlich (als) die Gleichheit ... Die Unterschiedenheit wirklich setzend, so breche ich den Vertrag."94 Mit anderen Worten, auch die Bezugnahme des leistungspflichtigen Vertragspartners auf sich in der veräußerten, aber noch nicht übergebenen Sache stellt ein positives Urteil dar. Aber auch diesem inhäriert ein negatives Urteil, in dem die Sache nicht mehr dem Eigentum des anderen zugeschlagen wird. Abstrakt-rechtlich gesprochen beinhaltet also jeder Vertrag das unbefangene Unrecht. "In dem Vertrage, in der Übereinkunft liegt allerdings das Recht, die Leistung zu verlangen; diese ist aber wiederum Sache des besonderen Willens, der als solcher dem an sich seienden Recht zuwiderhandeln kann. Hier also kommt die Negation, die früher schon im an sich seienden Willen lag, zum Vorschein, und diese Negation ist eben das Unrecht."95 Dabei stellt es nicht lediglich eine Schwäche des vertragsbrüchigen Teils dar, wenn er die Leistung verweigert 96. "Den Übergang zum Unrecht macht die logisch höhere Notwendigkeit, daß die Momente des Begriffs, hier das Recht an sich oder der Wille als allgemeiner, und das Recht in seiner Existenz, welche eben die Besonderheit des Willens ist, als tür sich verschieden gesetzt seien, was zur abstrakten Realität des Begriffs gehört."97 Im unbefangenen Unrecht kommt demnach der Anspruch zur Sprache, die Eigenständigkeit der besonderen Seite des Willens auch gegen den allgemeinen Willen zu behaupten 98. Sie war ja bisher nur so weit anerkannt gewesen, als sie der Allgemeinheit der Person gemäß war. Dieses Phänomen läßt sich auch als ein weiterer Schritt der Vergeistigung begreifen: Statt der subjekthaften Äußerlichkeit des Vertragspartners ist mir nunmehr mein eigener besonderer Wille im Gegensatz zum allgemeinen, meine eigene Vorstellung von mir selbst, ein Dasein der Freiheit. Damit erhält aber auch der allgemeine Wille für die Personen eine andere Existenzform, die selbständig neben der des besonderen Willens besteht. Erstere ist die reine Vorstellung vom Gelten der gemeinschaftlich im Vertragswerk gesetzten Identität der Willen, der Anerkennung des Rechts an sich 99. Letztere dagegen ist die Existenz der einzelnen Personen in ihren Sachen als Zeichen ihrer bloßen Individualität. 94 JR, S. 238 f. Ähnlich Rph. § 81 Zus., S. 172. 95 Rph. § 81 Zus., S. 172. Erste Hervorhebung vom Verf. Weiter: Rph. § 85, S. 175. Kritisch zu dieser Ableitung Aechtheim, in: Hegels Strafrechtstheorie, 1975, S. 53, 77. Aechtheim macht dabei aber die unausgewiesene Voraussetzung, nach der sich jedes Unrecht gegen eine objektive Rechtsordnung richten müsse. 96 In diese Richtung Bartuschat, ZphF. 41,1987, S. 41, und Marcic, in: Kaltenbrunner, 1970, S. 204. Anders aber Aechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, 1975, S. 87. 97 Rph. § 81 Anm., S. 170. 98 So Ellrich, ZphF. 41, 1987, S. 184.

Ir. Das Unrecht

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Hegel dient das Unrecht also dazu, einen Weg zu öffnen, der die Personen aus der Fixierung von Sachen löst und sie hinbewegt zu einer weiteren Sphäre der Freiheit, der moralischen Subjektivität 100. Sie ist die Affirmation, auf welche die sogleich zu schildernde Negativität des Unrechts zielt. Sie darf demnach bei seiner Darstellung nicht aus den Augen verloren werden 101.

11. Das Unrecht Der Gegensatz zwischen besonderem und allgemeinen Willen tritt in drei Gestalten auf: Unbefangenes Unrecht, Betrug und Verbrechen 102. Letzteres macht für Hegel das eigentliche, "wirkliche" Unrecht aus, auf das die ersten beiden Formen hinführen 103.

1. Unbefangenes Unrecht und Betrug Der letzte Abschnitt hat bereits gezeigt, wie das positive Urteil in das negative umschlägt, bzw. die Wahrheit des Vertrages im abstrakten Recht darin besteht, dem Rechtsstreite ausgesetzt zu sein. Um das Wesen des strafwürdigen Unrechts, dem Verbrechen, klar herauszuarbeiten, soll auf das unbefangene Unrecht näher eingegangen werden, während der Betrug nur am Rande Erwähnung findet. Aus dem Mangel sowohl der formellen wie der materiellen Seite des positiven Urteils hat sich der Übergang in das negative Urteil ergeben. Auch dieses hat zwei Seiten 104: Die formelle Seite lautet nun: "Dieser einzelne Wille ist nicht 99 Daß das Recht an sich seinen Platz nun in der Vorstellung hat, läßt sich Rph. § 86, S. 175, entnehmen. 100 Rph. § 106, S. 204. Zu diesem Übergang in die Moralität als Kennzeichen der Rph. gut Ilting, in: Riedei, 1975, S.59; vgl. w. Angehrn, Freiheit und System, 1977, S. 198, Bartuschat, ZphF. 41, 1987, S. 41 f. und Siep, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 271. Auch Ritter und seine Schule heben hervor, daß die Versachlichung der menschlichen Beziehungen nur ein Moment in Hegels Freiheitsverständnis darstellt. Dabei wird jedoch die Verdinglichung als Bedingung der Möglichkeit innerer Freiheit in allen ihren Formen angesehen, so Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 256 ff., Rohrmoser, Subjektivität, 1961, S. 17, R. K. Maurer, HS BH 11,1974, S. 403, Lübbe, in: Kaltenbrunner, 1970, S. 132. Ähnlich, wenn auch deutlich kritischer, Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, 1970, S. 443 ff. Meist wird dieses Spannungsverhältnis aber im Rahmen der Beziehung des objektiven Geistes zum absoluten bei Hegel diskutiert. Allgemein zu dieser Diskussion üttmann, Indiviuum und Gemeinschaft, 1977, S. 299 ff. m.w.N. 101 Zur Grundstruktur der Negation bei Hegel vgl. instruktiv Henrich, in: FS Marx, 1976, S. 208 ff. Wie hier M. Köhler, in: FS Lackner, 1987, S. 17 ff. 102 Rph. § 83, S. 173 f. In früheren Werken nennt Hegel nur zwei Arten des Unrechts, s. WdL. 11, S. 324 f. und HE §§ 412 f., S. 284 f. Zu dieser Unterscheidung s. auch Abegg, Lb., 1836, S. 96 f. und Köstlin, Neue Revision, 1845, S. 30 f. 103 Vgl. Rph. § 90 Randbem. und Zus., S. 178. 104 Vgl. WdL. 11, S. 318.

1. Kap. B. Das Verbrechen im abstrakten Recht

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allgemein." Die inhaltliche Seite drückt folgender Satz aus: Das Allgemeine ist. nicht dieser einzelne Wille." Beide Seiten des negativen Urteils sind nun näher zu analysieren. Im unbefangenen Unrecht ist die Beziehung des allgemeinen zum besonderen Willen noch nicht völlig aufgehoben. Denn in beiden Formen des negativen Urteils wird das Prädikat derselben noch nicht vollständig negiert 105. Der Satz, welcher aussagt, daß dieser einzelne Wille nicht allgemein sei, hebt nur die Bestimmtheit des letzteren durch einen einzelnen Willen auf: in der Nichterfüllung des Kontraktes liegt allein die Auffassung des einen Vertragspartners, daß dies kein Dasein der Freiheit sei. Über andere Gestalten des Rechts trifft er keine Aussage. Das Recht soll mithin nicht total negiert werden; nur die Subsumtion der geschuldeten Sache unter das Eigentum der anderen Vertragspartei wird nicht vorgenommen 106. Folglich bleibt es möglich, daß für den säumigen Schuldner etwas anderes ein Dasein der Freiheit ist, z. B. der Verbrauch der veräußerten Sache. Darin liegt ja ebenfalls eine Bezugnahme auf eine Form des Daseins. der Freiheit, also die Geltendmachung eines Rechtsgrundes 107. Darin kommt zum Ausdruck, daß die Person, welche die Leistung verweigert, dennoch die Geltung des Rechts an sich ebenso anerkennen will wie die Personalität des Gegenübers 108. Anders als im positiven Urteil, das den in einer Sache anwesenden, einzelnen Willen lediglich auf einen einzelnen Rechtsgrund bezieht, liegen jetzt im Bewußtsein der Parteien eine Vielheit sich einander ausschließender, möglicher Rechtsgründe an ein und derselben Sache vor 109. Der einheitliche Rechtsgrund des Vertrages, an dem die Allgemeinheit des Rechts für die Vertragsparteien in Erscheinung getreten ist, löst sich jetzt in dieser Kollision besonderer Rechtsgründe in einen objektiven Schein des Rechts auf. Diejenige Partei, welche diesem Schein erliegt, begeht mithin lediglich unbefangenes Unrecht 110. Eine ähnliche Aussage trifft die inhaltliche Seite des negativen Urteils: Daß das Allgemeine nicht dieser einzelne Wille ist, raubt letzteren zwar die Bestimmung, die ihm im positiven Urteil noch zugewiesen worden ist. Dieser Punkt, an dem er sich mit dem Allgemeinen getroffen hat, ist jetzt verneint: Aus der Vertragserfüllung wurde Vertragsbruch. Dennoch sagt diese Leistungsverweigerung des einen Vertragspartners nur etwas über seinen besonderen Willen aus. Es bleibt daher noch möglich, daß ein anderer besonderer Wille, z. B. der seines Kontrahenten, durch das Allgemeine bestimmt geblieben ist, mithin sich vertragstreu verhält 111. Aus dem im Kontrakte noch vorhandenen Rechtsverhältnis ist WdL. II, S. 321 f. Anschaulich Eley, Logik, 1976, S. 170. Rph. § 85, S. 175; WdL. 11, S. 324 f. 107 Vgl. den Verweis in Enzykl. § 496, S. 309 auf die §§ 491, 493 f. 108 Rph. § 85, S. 175. Ähnlich Piontkowski, Hegels Lehre über Staat und Recht, 1960, S. 131 f., Seelmann, JuS 1979, S. 689. 109 So Enzykl. § 496, S. 309. 110 Rph. § 83, S. 173 f. Dieses darf jedoch nicht, wie noch zu zeigen sein wird, mit fahrlässigem Unrecht gleichgesetzt werden. 105

106

II. Das Unrecht

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deshalb keine Unrechtsbeziehung geworden; vielmehr ist nun ein Verhältnis vom Recht zum Unrecht entstanden, in dem der Schein vorherrscht, das Recht an sich sei in der Personifizierung durch den Gläubiger selbst bloß ein besonderes Recht 1l2 • In der Beziehung der Parteien zueinander spiegelt sich somit äußerlich der Gegensatz wieder, der den innerlichen Willen des säumigen Schuldners kennzeichnet. Affirmatives Resultat der beiden Seiten des negativen Urteils bildet danach die Feststellung, daß das Recht an sich den Schein hat, lediglich als besonderes Recht einer Person zu sein 113. Darin kommt die Trennung der beiden Elemente des Willens (jeder am Streit beteiligten Person) zustande: Die Einheit der vorgestellten Identität der Willen mit dem sachlichen Dasein der besonderen Willen ist aufgehoben. In diesem Gegeneinander erweisen sich diese beiden Momente des Willens als zwei besondere Formen des Willens selbst. Beide Momente des Willens erhalten zugleich auch ein spezifisches, eigenes Dasein. Diese Abstraktion der jeweiligen Existenzweisen des Willens voneinander zerstört nun in Hegels Augen nicht die Verwirklichung der Freiheit; vielmehr macht es die abstrakte Realität derselben aus 114. In dieser realen Abstraktion der Willensmomente voneinander geht jedem Element die Bestimmtheit durch die andere verloren. Wo die eine Person das Eigentum der anderen verneint, ist noch ebenso offen, wem die Sache jetzt gehören soll, wie der allgemeine Wille nur noch an sich gilt, ohne sich in konkreten Eigentumszuweisungen wiederfinden zu können. Für die besonderen Willen der streitenden Parteien ist somit nicht mehr auszumachen, welche von beiden im Recht ist 1l5 • Dennoch liegt im wechselseitigen Entzug der Bestimmung weiterhin eine Beziehung der beiden Willensmomente vor 116. Die Relation zwischen Subjekt und Prädikat des negativen Urteils bleibt hier deshalb erhalten, weil das Prädikat neben der Vereinzelung auf ein Subjekt noch einer allgemeinen Sphäre angehört. Das Allgemeine ist in allen besonderen Daseinsformen ebenso enthalten, wie es abstrakt davon schlechthin die Rechtlichkeit der Sachzuteilung befiehlt 117. Im negativen Urteil wird nur die Vereinzelung zu einer Daseinsweise der Freiheit, hier die Veräußerung, verneint, nicht aber der Bezug zur allgemeinen Sphäre, die allgemeine Geltung des Rechts. Umgekehrt ist es nach der inhaltlichen Seite des Urteils so, daß auch hier der Bezug zu einem besonderen Willen erhalten bleibt, die Vereinzelung auf ein spezifisches Individuum jedoch verneint ist. Vgl. das Bsp. in Enzykl. § 172 Zus., S. 324. Gut dazu Eley, Logik, 1976, S. 169. So Rph. § 82, S. 172 und Enzykl. § 495, S. 308 f. 113 Rph. § 82, S. 172. Analog verläuft die logische Analyse in WdL. II, S. 322 und Enzykl. § 173, S. 324. 114 Rph. § 81 Anm., S. 170. 115 Rph. § 86, S. 176. 116 Genauso ist es bei der logischen Struktur des verneinenden Urteils, s. WdL. II, S. 321 f. 117 Rph. § 84, S. 174 f. und Enzykl. § 496, S. 309. III

112

5 Klesczewski

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1. Kap. B. Das Verbrechen im abstrakten Recht

Aber auch die Verneinung der Bestimmtheit des Prädikates im negativen Urteil stellt keine adäquate Relation zum Subjekt her. Vielmehr entspricht dieses unbestimmt allgemeine Gelten des Rechts zum einen dem Dasein des einzelnen Willens noch weniger. Dieser strebt ja nicht die abstrakte Geltung des Rechts an sich an; stattdessen geht es ihm um die Anerkennung seines besonderen Daseins als zu achtendes Recht. Zum anderen widerspricht das unbestimmte Gelten dem allgemeinen Willen aber selbst: In ihm ist vielmehr die Geltung des Eigentums als Rechtsinstitut in jedem personalen Dasein ausgesprochen. Ein einzelner Wille einer Person, die (auf dem jetzigen Stand) weder willens noch fähig ist, dies zu verwirklichen, ist ihm daher schlechthin unangemessen. Wo diese beiderseitige Unangemessenheit von einzelnem und allgemeinen Willen ausgesprochen wird, fällt man ein positiv unendliches Urteil. In dessen formeller Seite bezieht sich das Einzelne (unter Ausschluß des Allgemeinen) bloß auf Einzelnes, während das Allgemeine sich (unter Abstraktion von der Einzelheit) nur auf sich bezieht 1l8. Dies macht das Unrecht des Betruges aus 1l9. In ihm kommt es zwar zu einer vom gemeinschaftlichen Willen zweier Personen getragenen Austauschbeziehung. In dieser wird jedoch von einer Seite das Allgemeine, das Recht an sich bzw. die Wertgleichheit, nur zum vorgetäuschten Scheine anerkannt 120. Weil im Betrug noch die Zustimmung des Getäuschten erschlichen wird, ist dieses Unrecht noch über dessen Willen vermittelt. Anders als das sogleich zu behandelnde Verbrechen, für welches der den eigenen Willen ausschaltende Zwang kennzeichnend ist, liegt daher hier noch keine Vollform des Unrechts vor. Bevor näher auf das Verbrechen eingegangen werden, soll aufgezeigt werden, wie es sich aus den anderen Formen des Unrechts entwickelt:

In der WdL wird das negativ unendliche Urteil, das am Verbrechen exemplifiziert wird, als Aufhebung des einfach negativen Urteils vorgestellt 121. Die Konsequenzen dieser logischen Analyse für das Recht sind in der JR besonders deutlich behandelt worden 122. Der Vertragsbruch lädiert das besondere Recht des Gläubigers auf die geschuldete Sache 123. In dieser Vorenthaltung einer Sache liegt an sich ein Zwangs- bzw. Gewaltakt vor, weil einer Person gegen ihren Willen der Besitz an einer ihr gehörenden Sache verwehrt wird l24 • Weil der Schuldner 118 Enzykl. § 173, S. 324. In der großen Logik ist das positiv-unendliche Urteil noch nicht als solches eingeführt worden. Es wird dennoch mehrfach angesprochen, vgl. WdL. H, S. 315, 323 f. 119 Rph. § 88, S. 177. 120 Enzykl. § 498, S. 309 f., Rph. § 88, S. 177. 121 WdL. II, S. 323 f. Instruktiv zum Übergang Eley, Logik, 1976, S. 171 f. Fn. 69 und Lakebrink, Hegels Logik, Bd. H, 1985, S. 104 f. 122 JR, S. 239 ff. Auch die Rph. geht am Rande auf diese Problematik ein, vgl. Rph. §§ 81 Zus. und 93 Anm., S. 172 und 179. 123 JR, S. 239 f. 124 So Rph. § 93 Anm., S. 179.

H. Das Unrecht

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unbefangen unter Berufung auf einen Rechtsgrund die Sache in seiner Herrschaft beläßt, ist ihm jedoch die Zwangswirkung seines Verhaltens nicht bewußt. Er erkennt die Persönlichkeit des anderen ebenso noch an wie das Recht an sich, von dem er glaubt, daß es die weitere Anwesenheit seines besonderen Willens in der veräußerten Sache rechtfertigt. Der Versuch, den Schuldner zu überreden, stellt deshalb ein unzureichendes Mittel dar. Zur Durchsetzung seines Eigentumsrechts bleibt dem Gläubiger daher nur der Zwang als sicheres Mittel übrig. Dabei beugt er nunmehr als erster bewußt den Willen des Schuldners, allerdings ebenfalls (und zu Recht) unter Berufung auf Rechtsgründe. Damit wird der Schuldner erstens in seinem besonderen Willen verletzt, der die veräußerte Sache für sich behalten will. Hierdurch wird jedoch das Dasein des besonderen Willens, das er in der Entgegensetzung zu dem gemeinschaftlichen Willen des Vertrages gerade setzen wollte, verneint. Der gezielt eingesetzte Zwang läßt aber zweitens bewußt auch das vom Schuldner angesprochene Allgemeine, seinen Rechtsgrund, nicht mehr gelten. Der Schuldner wird in der zwangsweisen Entziehung der von ihm vorenthaltenen Sache nicht mehr als eigenständige Person geachtet. Dieser Angriff auf das Allgemeine im Willen des Schuldners steht in einem ungleichen Verhältnis zu dessen bloß unbefangenem Unrecht, das nur die besondere Seite im Willen des Gläubigers nicht respektierte l25 • Um die Eigenständigkeit seiner selbst wahren zu können, muß der Schuldner nun seinerseits Zwang anwenden, um den Eingriff in seine Ehre abzuwehren. Er muß seine Einzelheit bewußt in der Verneinung des sich in der Person des Gläubigers geltend machenden gemeinschaftlichen Willens behaupten. Damit begeht er ein Verbrechen. Hegel zieht daraus den Schluß: "Die innre Quelle des Verbrechens ist der Zwang des Rechts."126 Mit dieser Feststellung will Hegel jedoch nicht ausdrücken, daß jeder Zwang zur Sicherung eigener Rechte unzulässig sei. Im Gegenteil ist er der Ansicht, daß die Durchsetzung des abstrakten Rechts im Falle des bürgerlichen Rechtsstreits letztlich notwendig durch Zwang erfolgen muß 127. Grund dieser Befugnis ist die Erkenntnis, daß das Recht ohne Zwangsmöglichkeit sich nicht gegenüber dem willkürlichen Willen als notwendig behaupten kann 128. Nur wird diese Restitution des Rechts in der bisher geschilderten Art und Weise durch die Verletzung der Personalität des Schuldners erkauft, worin sich das Dilemma des abstrakten Rechts äußert: Zur Rettung eines besonderen Rechts muß es die Person eines anderen mißachten. Dies ruft den Willen hervor, unter Verneinung des Rechts des anderen im Verbrechen, sich die eigene Einzelheit zu bewahren. Damit ist aber die Sphäre des abstrakten Rechts, das Dasein der Freiheit in Eigentum und Vertrag, schlechthin negiert. 125 JR, S. 242 f. Vgl. auch Piontkowski, Hegels Lehre über Staat und Recht, 1960, S.185. 126 JR, S. 243. 127 Rph. § 93, S. 179. 128 JR, S. 239. Vgl. w. Rph. §§ 86,89, S. 175, 177 f. S*

1. Kap. B. Das Verbrechen im abstrakten Recht

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Damit erweist sich das abstrakte Recht als endlich 129. In ihm hat die Freiheit nur in der Äußerlichkeit und nur in der Übereinstimmung mit der abstrakten Identität aller Personen ein Dasein. Die Innerlichkeit des Willens, seine besonderen Interessen etc., sind hier nur insoweit berechtigt, wie sie dieser abstrakten Identität nicht zuwider sind. Diese unmittelbare Identität von einzelner Willensregung und Allgemeinen ist jedoch nicht notwendig. Die Trennung beider voneinander gehört ebenso zur Realität des Willens. Das abstrakte Recht muß von dieser Wirklichkeit jedoch abstrahieren. In der Ausübung der Zwangsbefugnis kommt die Abstraktion von der Freiheitspotenz des besonderen Willens, seiner subjektiven Selbstbestimmung, zum Ausdruck. Denn dort, wo sie sich eigenständig im Gegensatz zum gemeinschaftlichen Willen zur Geltung bringen will, muß sie aus abstrakten Rechtsgründen heraus unterdrückt werden. Dieser Zwang ruft aber das Verbrechen herauf, welches das Dasein der Freiheit in Gestalt des abstrakten Rechts gänzlich verneint. 2. Das Verbrechen

Verbrechen definiert Hegel, wie bereits angesprochen, folgendermaßen: "Der erste Zwang als Gewalt von dem Freien ausgeübt, welche das Dasein der Freiheit in seinem konkreten Sinne, das Recht als Recht verletzt, ist Verbrechen, - ein negativ-unendliches Urteil in seinem vollständigen Sinne (... ), durch welches nicht nur das Besondere, die Subsumtion einer Sache unter meinen Willen (... ), sondern zugleich das Allgemeine, Unendliche im Prädikate des Meinigen, die Rechtsfähigkeit, und zwar ohne die Vermittlung meiner Meinung (... ) ebenso gegen diese negiert wird ..." 130 An dieser Begriffsbestimmung soll zunächst untersucht werden, worin das Spezifische der Verletzung zu sehen ist, die das Verbrechen hervorruft. Dies macht die negative Existenz des Verbrechens aus. Zum zweiten wird darauf eingegangen, worin das kennzeichnende Defizit des vom Verbrecher vollzogenen, praktischen Urteilsaktes zu sehen ist, die positive Existenz des Verbrechens 131. Zur näheren Präzisierung soll schließlich das Unrecht des Verbrechens mit dem des gewalttätigen, natürlichen Willen verglichen werden, um Verwechselungen zu vermeiden. Die ersten beiden Schritte werden nun und im Folgenden in die der Strafrechtslehre geläufigen Kategorien des Erfolgs- und Handlungsunwertes unterteilt, um das Verständnis für die systematische Entfaltung des Verbrechensbegriffes zu erleichtern 132. Dabei ist anzumerken, daß damit bisher nur das negative Moment Zum folgenden gut Schild, ARSP 70, 1984, S. 89 f. Rph. § 95, S. 181 f. Allgemein zum Verbrechen vgl. Baermann, Sittlichkeit und Verbrechen, 1980, und Wildt, Autonomie, S. 100 ff., 161 ff., 322 ff., 363 ff. 131 Zu beidem s. Rph. § 99, S. 187. 132 Zu dieser Klassifizierung von Unrecht und Schuld vgl. einführend nur Jescheck, AT, 1988, S. 44 f. m. w. N. Häufig wird als drittes Element noch der Gesinnungsunwert 129 130

Il. Das Unrecht

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des Verbrechens hervorgehoben ist, auf das es in der Dogmatik auch reduziert zu werden pflegt. Wie noch näher zu entfalten sein wird, vennittelt sich über diese negative Seite des Verbrechens auch etwas Affinnatives 133. a) Der Erfolgsunwert: Die Verletzung des Rechts als Recht Jedes Verbrechen verletzt das Recht als Recht. Dies ist die bestimmte Negation im negativ unendlichen Urteil, dessen allgemeine Fonnel folgendennaßen lautet: "Dieser besondere Wille ist nicht jener besondere Wille." 134 Im Prädikat dieses Urteils ist somit ein positives Urteil enthalten, das als solches in seinem ganzen Umfang negiert wird. Für die Sphäre des Rechts bedeutet dies, daß das negativ unendliche Urteil des Verbrechens das angegriffene Rechtsgut nach beiden seiner Seiten erfaßt: In ihm wird nicht nur der sich allgemein setzende, einzelne Wille verneint; zugleich wird auch der sich individuierende allgemeine Wille verletzt. Gewalt oder Zwang richten sich dabei lediglich gegen das Dasein, das sich der allgemeine und der besondere Wille gegeben haben 135. Es ist deshalb für beide Daseinsfonnen einheitlich die spezifische Verletzung herauszuarbeiten, die durch das Verbrechen eintritt. Der besondere Wille findet sich in der einzelnen Sache als Zeichen seiner Individualität wieder. Gewalt vernichtet oder entzieht das materielle Substrat desselben 136. Dadurch ist auch seine Funktion beseitigt, Zeichen der Individualität seines Trägers zu sein. Darin kommt mithin zugleich eine Mißachtung des besonderen Willens des Opfers zum Ausdruck: ,,Meinem Körper von anderen angetane Gewalt ist Mir angetane Gewalt." 137 Dieser einzelne Wille stellt jedoch keine bloß partikuläre Existenz dar. Vielmehr hat sich der einzelne Wille in ihrem Erwerb unter den allgemeinen Willen subsumiert, so daß auch dieser in der Zeichenbedeutung der Sache (als Teilhabe an der allgemeinen Sache) anwesend ist. Schon an diesem Punkt wird der allgemeine Wille also auch betroffen. hinzugenommen, der die Mißachtung von Grundwerten des sozialen Zusammenlebens zum Ausdruck bringen soll, Jescheck ebda., Gallas, Beiträge, 1968, S. 6 ff., 46, 48,51 f., 56, 68 f. Diese Kategorie geht vorliegend in der des Handlungsunwerts auf. Für eine entsprechende Zweiteilung auch Hellm. Mayer, AT, 1953, S. 50 ff. Die Unterteilung des Verbrechens in verschiedene Unwertarten geht wohl auf Schelers Ausdifferenzierung von Wertsphären zurück, vgl. Formalismus, 1954, S. 121,131 ff. Sie wird hier vornehmlich der Übersichtlichkeit wegen übernommen, ohne daß damit der Ansatz der Wertphilosophie in irgendeiner Weise rezipiert werden soll. Ausf. Darstellung und Kritik der Rezeption der Wertphilosophie bei Zaczyk, Unrecht des Versuchs, 1989, S. 61 ff. m.w.N. 133 Vgl. vorläufig Rph. § 101, S. 192 ff., wo vom Wert der Verletzung des Verbrechens gesprochen wird. 134 Vgl. entsprechend Eley, Logik, 1976, S. 170 f. 135 So Piontkowski, Hegels Lehre über Staat und Recht, 1960, S. 138. 136 Rph. § 90, S. 178. Zum Gewaltbegriff Hegels allgemein s. Bienenstak, HS 18, 1982, S. 139 ff. 137 So das Beispiel in Rph. § 48 Anm., S. 112

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1. Kap. B. Das Verbrechen im abstrakten Recht

Gleiches gilt für das Erleiden von Zwang. Zwar ist hier die Verneinung eines Daseins über den besonderen Willen des Opfers vermittelt 138; dennoch wird auch hier die Sache in ihrer Funktion, Zeichen der Individualität des Opfers zu sein, aufgehoben. Diese abgenötigte Entäußerung der Sache verletzt aber zugleich auch den dort anwesenden allgemeinen Willen, weil und soweit hier eine Sache ohne Gegenleistung aufgegeben werden muß. Schon die Negation dieser Seite des Rechtsgutes, in der sich der besondere Wille unter den allgemeinen subsumiert, vermittelt demnach bereits eine Verletzung des allgemeinen Willens. Noch deutlicher tritt dieser Zusammenhang hervor, wenn man die andere Seite des Rechtsgutes mit heranzieht: Jeder Eigentümer ist nicht nur eine Person unter anderen, sondern zugleich auch eine Individuation des Allgemeinen. Wenn der Verbrecher sich also gegen das sachliche Dasein seines Opfers richtet, so setzt er sich nicht nur dessen besonderem Willen entgegen; gleichzeitig begibt er sich in Widerspruch zu dem darin besonderten allgemeinen Willen 139. Folglich wird auch die Vorstellung vom schlechthinnigen Gelten des Rechts an sich durch Gewalt oder Zwang gegen eine vom Willen beseelte Sache negiert. Denn die rechte Eigentumsverteilung gilt nun nicht mehr für alle Personen. Das bedeutet jedoch nicht, daß der an sich seiende Wille selbst als solcher verletzt worden wäre. Vielmehr ist er, weil für sich nicht äusserlich existierend, unverletztbar l4O • Der Verbrecher kann lediglich ein Dasein negieren, das sich der allgemeine Wille gegeben hat. Dies war jedoch oben bestimmt worden als das Gelten des allgemeinen Willen in der Vorstellung der Parteien 141. Mithin besteht die Verletzung des allgemeinen Willens in der Aufhebung seiner Geltung in der Vorstellung des Opfers und des Verbrechers (und Dritter) 142. Der Verbrecher macht sich somit in gewisser Weise selbst ebenfalls zum Opfer, indem er die Geltung des allgemeinen Willens auch in seiner Vorstellung verneint 143. Häufig wird jener Aspekt der Hegeischen Verbrechenslehre, die Negation des Allgemeinen in der Vorstellung der Personen, erst als eine durch die Sittlichkeit eintretende Modifikation angesehen 144. Der Textzusammenhang zeigt aber, daß auch schon im abstrakten Recht die Geltung des allgemeinen Willens in der Vorstellung der Personen das Angriffsobjekt des Verbrechens ist. Sieht man dagegen den allgemeinen Willen selbst als vernichtet an, dann steigert sich die s. Rph. § 91, S. 178 f. Zur logischen Form gut Eley, Logik, 1976, S. 171 und Lakebrink, Hegels Logik, Bd. 11, 1985, S. 104 f. 140 Rph. § 99,96, S. 187, 183. Genaue Analyse bei Seelmann, Jus 1979, S. 689. 141 Vgl. nur Rph. § 99, S. 187. 142 Rph. § 96 Randbem., S. 185. 143 So Seelmann, Jus 1979, S. 689. 144 S9 namentlich Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, 1975, S. 100 ff. Ähnlich auch Seelmann, JuS 1979, S. 690 f., und Schild, ARSP 70, 1984, S. 94 ff. 138 139

II. Das Unrecht

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Faktizität der Tat zu einem irreparablen Schaden, wogegen auch eine Strafsanktion sinnlos wäre 145. Obwohl das Verbrechen auch das "Unendliche im Prädikate des Meinigen" trifft, so kann damit aber nur das Allgemeine in der gegenständlichen Äußerlichkeit verletzt sein, die sich die Person ihrem Begriffe nach gegeben hat. Als Daseinsbestimmung der Person ist damit auch diese unendliche Negation an sich der qualitativen und quantitativen Einschätzung zugänglich. So unterscheidet Hegel bereits im abstrakten Recht verschiedene Schweregrade an Delinquenz 146. Danach macht es einen Unterschied, ob die Idee der Person, ihr Leben, ihre freie Arbeitskraft, in Mord bzw. Sklaverei vernichtet werden, oder ob nur das Dasein der Person in einzelnen Sachen von akzidenteller Bedeutung betroffen ist. Schließlich müssen die verschiedenen Arten von Verbrechen entsprechend zu den unterschiedlichen Stufen der Realisierung von Freiheit auch in eine systematische Reihe gebracht werden können 147. Auf dem jetztigen Stand der Begriffsentfaltung ist jedoch festzuhalten, daß das Verbrechen sich nur gegen das bisher verwirklichte Dasein der Freiheit in Form von Eigentum und Vertrag richten kann 148. Schon daraus ergibt sich eine Begrenzung des Verletzungsumfanges des Verbrechens. Das Recht in seiner konkreten (sittlichen) Gestalt ist hier noch nicht thematisch. Folglich kann die Verletzung des Rechts als Recht nur erst in dem Sinne der Verletzung des abstrakten Rechts als Recht verstanden werden. Bereits diese Überlegung öffnet den Blick dafür, daß dem Verbrechen nicht nur eine schlechthin negative Rolle zugewiesen werden kann; vielmehr steht es in seiner Grundkategorialität in einem bestimmten Negationsverhältnis nur zu den Gestalten des abstrakten Rechts, nicht aber schon notwendig zur Freiheit im Sinne von Moralität und Sittlichkeit. Weil sich aber in diesen verschiedenen Daseinsformen einer einzelnen Person ebenso auch der allgemeine Wille individuiert, so hat die Schwere der Rechtsgutsverletzung unmittelbaren Einfluß auf die Intensität, mit der die Geltung des allgemeinen Willens in der Vorstellung aufgehoben worden ist. Hegel setzt diese beiden Formen, in denen sich die Verletzung des Rechts durch das Verbrechen äußert, parallel 149. Je näher somit das einzelne, durch das Verbrechen beeinträch145 So aber Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, 1975, S. 92; Moberly, Proc. Arist. Soc. 25, 1924/1925, S. 303. Dagegen aber allgemein M. Köhler, in: FS Lackner, 1987, S. 13 und E. A. Wolff, ZStW 97, 1985, S. 786 ff. 146 Rph. § 96, S. 183 ff. 147 So Rph. § 95 Anm., S. 182 und besonders SdS, S. 48 ff. Kritisch hiergegen Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, 1975, S. 40. Dies erlaubt daher auch, wie später zu zeigen ist, die HegeIschen Grundbestimmungen zum strafwürdigen Unrecht, zu bestimmten geschichtlich-gesellschaftlichen Formationen in Beziehung zu setzen, mithin einen materiellen Verbrechensbegriffs zu bilden, der nicht von Unrechtsbestimmungen, die sich aus diesen Verhältnissen herleiten, absieht und so droht, nichtssagend zu werden. Anders aber Abegg, Lb., 1836, S. 93 ff. 148 Genauso Schild, ARSP 70, 1984, S. 90.

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1. Kap. B. Das Verbrechen im abstrakten Recht

tigte Gut der Idee der Person kommt, desto eher ist die Geltung des allgemeinen Willens in seinem ganzen Umfang aufgehoben. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Hegel den Erfolgsunwert des Verbrechens im abstrakten Recht als eine Rechtsgutsverletzung definiert, in der sowohl der besondere Wille des Opfers als auch der allgemeine Wille in seinem Dasein verletzt wird. Dabei weist der Erfolgsunwert gewissermaßen zwei Stufen auf: Auf der ersten Stufe liegt eine Beschädigung oder ein Entzug privaten Eigentums vor, durch welche die Bedeutung der Sache, Zeichen der Individualität des Opfers zu sein, verneint wird. Auf der zweiten Stufe wird der sich vereinzelnde allgemeine Wille in seinem Geltungsanspruch negiert. Erst diese Einheit beider Verletzungsmomente macht für Hegel die bestimmte Verneinung des Rechts durch das Verbrechen aus. b) Der Handlungsunwert: Die Geltungsbehauptung der Unrechtsmaxime Die Verletzung des Rechts als Recht stellt keinen Prozeß dar, der ohne den subjektiven Urteilsakt des Verbrecherwillens denkbar wäre. Nur ein Zwang der von einem Freien ausgeübt wird, in dem die formelle Vernünftigkeit desselben enthalten ist, verdient Verbrechen genartnt zu werden 150. Dies verweist bereits "auf die Zurechnungs lehre des Moralitätsteils 151, in der nach dem Grundsatz der Willensschuld diese Formseite des Verbrechens näher ausgearbeitet wird. Aber auch schon mit den Kategorien des abstrakten Rechts muß sich der spezifisch Unwert festhalten lassen, der das Verbrechen von anderem Unrecht inhaltlich unterscheidet. Dabei ist nicht allein erheblich, ein bestimmtes Individuum als Grund des im Verbrechen ausgesprochenen negativ unendlichen Urteils identifizieren zu können. Der spezifische Unwert der Straftat offenbart sich vielmehr erst dartn, wenn man die in der Logik geschilderte innere Dynamik des negativ unendlichen Urteils auch auf das Verbrechen bezieht: Beiden wohnt eine Selbstaufhebungstendenz inne l52 • Der spezifische Unwert des Verbrechens liegt darin, daß der Täter zwar das negativ unendliche Urteil über sein Opfer spricht, nicht aber dessen Selbstaufhebung gelten lassen will. Die Selbstaufhebungstendenz des negativ unendlichen Urteils leitet Hegel aus der Reflexion der Urteilsbestimmungen desselben in sich ab l53 • Dies ist nicht nur ein Akt des besonderen Willens, sondern ebenso des allgemeinen 154. S. Rph. § 96 Randbem., S. 184 f. S. Rph. §§ 95, 100, S. 181, 190. 151 So M. Köhler, in: FS Lackner, 1987, S.20, ders., in: Begriff der Strafe, 1986, S. 57; ähnlich Schild, ARSP 70, 1984, S. 92 ff. 152 WdL. II, S. 325 f.; Rph. § 97, S. 185. 153 WdL. II, S. 325 f. Unverständlich deshalb Theunissen, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 342. Zum folgenden instruktiv Henrich, in: FS Marx, 1976, S. 208 ff. 154 Marcuse, Vernunft und Revolution, 1962, S. 168. 149

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11. Das Unrecht

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Das Einzelne als Subjekt der formellen Seite des Urteils definiert sich als Einzelnes, indem es sowohl die Allgemeinheit des Prädikates als auch dessen Bestimmtheit verneint. Gerade in der Verletzung des besonderen Willen seines Opfers, in dem sich der allgemeine Wille individuiert hat, findet der Täter sein durch keinen anderen Willen vermitteltes Dasein seiner Einzelheit, in dem er sich mithin nur noch auf sich bezieht: "Die positive Existenz der Verletzung ist nur als der besondere Wille des Verbrechers." 155 Aber dies zeigt lediglich die eine Seite des Urteils auf. Zugleich liegt auch eine Reflexion des Allgemeinen (im Willen des Verbrechers) in sich vor. Auch das Allgemeine hebt seinen Bezug zur Einzelheit völlig auf und definiert sich in dieser Negation als Allgemeines: "Das Allgemeine setzt sich als eine Bestimmtheit, indem es sich als andere nicht setzt." 156 Das bedeutet, daß sich der Täter allein dadurch ein nur durch ihn gesetztes Dasein verschaffen kann, wenn sein allgemeiner Wille gerade dieses Dasein als die Einzelheit bestimmt hat, die von ihm zu negieren ist. Wo der Verbrecher das Rechtsgut eines anderen verletzt, um seiner Einzelheit Realität zu geben, dort setzt sein eigener allgemeiner Wille dieses Dasein zugleich als ein nichtiges 157. "Denn in seiner als eines Vernünftigen Handlung liegt, daß sie etwas Allgemeines, daß durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, (... ) unter welches er also als unter sein Recht subsumiert werden darf." 158 Der Handlungsunwert des Täters liegt nun darin begründet, daß er nur die erste Seite des negativ unendlichen Urteils, die Reflexion der Einzelheit in sich, gelten lassen will, nicht aber die andere Seite 159. Dann aber stemmt er sich gegen die in diesem Urteil ausgesprochene Selbstaufhebungstendenz. Er verabsolutiert damit den Geltungsanspruch seiner Einzelheit, wie sie in der Verletzung des besonderen Willens des Opfers in Erscheinung tritt und hebt so durch das durchgängig widersprüchliche Behaupten seiner Unrechtsmaxime die Geltung des allgemeinen Willens in der Vorstellung auf, worin ja der Erfolgsunwert des Verbrechens gesehen worden ist 160. Wo eine Person diese Konsequenz des eigenen Tuns antizipiert bzw. im Nachhinein auf dasselbe reflektiert, dort kommt ihr noch ein weiteres Resultat dieser Selbstaufhebungstendenz des Verbrechens zu Bewußtsein: Über den unmittelbaren Widerspruch hinweg, in dem sich das Allgemeine und das Einzelne begeben haben, scheint eine fundamentalere Beziehung beider aufeinander auf l61 • Rph. § 99, S. 187. Plastisch JR, S.243. Eley, Logik, 1976, S. 171. 157 Rph. §§ 97,99, 101 f., S. 185, 187, 192 ff. 158 Rph. § 100, S. 190. Dazu gut M. Köhler, in: FS Lackner, 1987, S. 18 ff. Kritisch Oppenheimer, Punishment, 1913, S. 213 f.: Der Verbrecher strebe nach einem Privileg gegenüber anderen, er stelle daher in seiner Tat kein Gesetz auf. Oppenheimer verkennt dabei den Verschuldensprozeß, dazu s. u. 1. Kapitel C H. 2. a). So auch Primoratz, Banquos Geist, 1986, S. 51. 159 Ähnlich M. Köhler, in: FS Lackner, 1987, S. 18 ff. In diese Richtung auch Seelmann, JuS 1979, S. 689. 160 Dazu auch M. Köhler, Begriff der Strafe, 1986, S. 56. 155

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1. Kap. B. Das Verbrechen im abstrakten Recht

Denn das Einzelne kann sich ja nur dadurch und solange als Einzelnes definieren, wie es sich ex negativo noch auf das Allgemeine bezieht. Wo es aber dasselbe vernichtet, dort hebt es auch die eigene Bestimmung auf. Wer das Recht als Recht verletzt, um seiner Einzelheit ein Für-sich-Sein zu verschaffen, der zerstört gerade dasjenige, was ihm die Selbstdefinition ermöglicht hat. Es zerstört sich folglich selbst. Diese Aufkündigung der Beziehung ist mithin widersprüchlich 162. Gleiches gilt aber auch für die Reflexion des Allgemeinen in sich. Würde auch dieses die Einzelheit schlechthin vernichten, so entfiele auch für sie dasjenige, worüber es sich via negationis bestimmt. Der allgemeine Wille, der das Dasein des besonderen Willens des Verbrechers schlechthin nichtig setzt, beraubt sich ebenfalls der Beziehung, der er seine Bestimmung verdankt, ein Allgemeines zu sein 163. Das Allgemeine kann sich als Allgemeines daher ohne Bezug zur Einzelheit ebenfalls nicht erhalten. Im Verbrechen wird somit zwar die unmittelbare Einheit zwischen einzelnem und allgemeinen Willen, wie sie für das abstrakte Recht kennzeichnend ist, verneint. Andere Formen der Identitätsbestimmung beider sind damit aber noch nicht aufgehoben 164. Denn zu dieser Identitätsfindung, die sich auf die Unaufhebbarkeit des wechselseitigen Bezogenseins gründet, gesellt sich eine zweite: Der einzelne Wille des Delinquenten beansprucht für die Unrechtsmaxime seiner Straftat allgemeine Achtung 165, die es ohne den Willen anderer Personen nicht geben kann. Dieser wird aber gerade durch das Verbrechen verletzt. Umgekehrt gilt dasselbe auch für den allgemeinen Willen: Da er das für sich nicht äußerlich existierende ist, bedarf er eines einzelnen Willens, um Dasein gewinnen zu können. Auch aus dieser Erwägung heraus ist der allgemeine Wille auf den Einzelnen angewiesen 166. Aus dieser Notwendigkeit heraus, den allgemeinen Willen, das Recht als Recht, nur über und im besonderen Willen wiederherstellen zu können, leitet Hegel deshalb auch den Übergang zur Moralität her: "Die Forderung, daß dieser Widerspruch ... , der hier an der Art und Weise des Aufhebens des Unrechts vorhanden ist, aufgelöst sei, ist die Forderung einer ... strafenden Gerechtigkeit. Darin liegt zunächst die Forderung eines Willens, der als besonderer subjektiver Wille das Allgemeine als solches wolle. Dieser Begriff der Moralität aber ist nicht nur ein Geforderter, sondern in dieser Bewegung selbst hervorgegangen." 167 161 Diese Einheit versteht Hegel als die Einheit des (gesetzten) Begriffs, s. WdL. 11, S. 326. Erläuterungen dazu bei Lakebrink, Hegels Logik, Bd. 11, 1985, S. 106 f. 162 Der Übergang gleicht dem in der kleinen Logik geschilderten, s. Enzykl. § 120, S. 247. Erinnert sei auch an die oben erläuterte, allgemeine Willensdialektik. 163 Dieser Zusammenhang, der ebenfalls bereits oben in der Willensdialektik angesprochen worden ist, steht hinter der negativen Dialektik der Blutrache, s. u. 2. Kapitel A 11. 164 Vgl. in der logischen Analyse, WdL. 11, S. 325 f. 165 So Primoratz, Banquos Geist, 1986, S. 51. 166 s. Rph. §§ 128, 106, S. 241, 204.

11. Das Unrecht

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Wie in der Logik das affinnative Resultat des negativ unendlichen Urteils seine Aufhebung zum Reflexionsurteil darstellt, so bildet das Erfassen seiner selbst als moralisches Subjekt den positiven Abschluß des abstrakten Rechts durch das Verbrechen. Der Handlungsunwert ist somit seinem Inhalte nach um eine zweite Dimension zu erweitern: Der Verbrecher sträubt sich nicht nur gegen die Verallgemeinerungstendenz seiner Unrechtsmaxime, durch die auch die eigene Existenz des Verbrechers als nichtig gesetzt wird; zugleich verhindert er damit, seiner moralischen Selbstbestimmung eine Existenz zu verleihen, die als reflexive Bezogenheit der Willensmomente seinem negativ unendlichen Urteil bereits immanent ist. In der bisherigen Hegeldiskussion wird meines Wissens lediglich auf den ersten Aspekt der Widersprüchlichkeit im Verbrechen, dessen Selbstnegation, abgestellt 168. Dies geht zurück auf ein Defintion des Rechts als statisches, gegenseitiges Anerkennungsverhältnis, welches das abstrakte Recht, in sonderheit den Vertrag, zum Modell nimmt. Damit wird aber, wie bereits oben schon allgemein gezeigt worden ist, eine Seite im Begriff des Rechts, die der Allgemeinheit, ein Vorrang vor der Besonderheit eingeräumt. Wo diese sich selbständig geltend macht, kann sie dann nur noch als negativ verstanden werden. So geht das zu Bewahrende am Moment der Besonderheit verloren, woraus zweierlei folgt: Zum einen entkleidet man die Tat des Verbrechers letztlich jeder Vernünftigkeit: Er wird zu einer bloß negativen Existenz herabgestuft, eine Gegenwelt des Bösen etc. 169 • Zum anderen bleibt auch das allgemeine Gesetz der Selbstnegation letztlich nur negativ. Dann ist es aber nicht weit, dem Prinzip der Wiedervergeltung jeglichen Sinn zu rauben, es als bloße zweckfreie Übelszufügung anzusehen 170. Die weiteren Konsequenzen einer solchen Verbrechens auffassung für das daraus folgende Strafverständnis werden unten näher analysiert. c) Vergleich des Verbrechens mit der Gewalt des natürlichen Willens Hegel kennt nicht nur den Zwang, der von einem Freien ausgeübt wird. Vielmehr unterscheidet er schon auf der Ebene des abstrakten Rechts zwei Fonnen der Zwangs- bzw. Gewaltanwendung l71 • Es ist oben bereits gezeigt worden, daß schon die Verweigerung der schuldigen Leistung als das unbefangene Unrecht Rph. § 103, S. 197 f. So Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, 1975, S. 95 f., Seelmann, JuS 1979, S. 690; letztlich auch Schildt, ARSP 70, 1984, S. 92 f. 169 In diese Richtung z. B. Schild, ARSP 70, 1984, S. 92 f. Dezidiert anders dagegen Marcic, in: Kaltenbrunner, 1970, S. 204. 170 So z. B. Klug, in: Baumann, 1968, S. 36 ff. Gegen ihn Seelmann, JuS 1979, S. 689. Wie hier schon Köhler, in: FS Lackner, 1987, S. 19 f. Ähnlich auch Primoratz, HS 15, 1980, S. 190. 171 Rph. § 93 Anm., S. 179. 167

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1. Kap. B. Das Verbrechen im abstrakten Recht

kennzeichnender Zwang angesehen wurde. Ebenfalls als eine Form des bloß an sich seienden, unrechten Zwanges versteht Hegel die Gewalt, die aus Wildheit und Rohheit einem anderen zugefügt wird. für das Verständnis Hegels vom strafwürdigen Unrecht ist es von größter Wichtigkeit, diese Form der Gewalt vom Verbrechen abzugrenzen. Beide Formen der Gewalt weisen zunächst folgende Gemeinsamkeit auf: Auch der gewalttätige, natürliche Wille begibt sich in einen Gegensatz zum allgemeinen Willen. Desgleichen wohnt ihm, als an sich vernünftigem Wesen 172, die Bestimmung ein, seinen jetzigen Zustand (der Rohheit) in eine höhere Sphäre (der Freiheit) zu verlassen. Dennoch ergeben sich aber zwei wesentliche Unterschiede: Die Wildheit und Rohheit, in der sich der gewalttätige, natürliche Wille befindet, stellt zum einen einen Widerspruch zum allgemeinen Willen dar, in den er sich nicht durch ein negativ unendlichen Urteilsakt selbst versetzt hat, wie es beim Verbrecher der Fall ist. Der natürliche Wille ist noch nicht fähig, sich eine Vorstellung vom Gelten des allgemeinen Willens zu machen. Vielmehr ist sein Selbstbewußtsein noch in die eigene, besondere Einzelheit versenkt 173. Folglich kann er sein eigenes ebenso wie fremdes Dasein nur in der auf sich bezogenen Partikularität erfassen. Er ist dagegen nicht in der Lage, wie vernünftige Wesen dasselbe (auch) als eine über den gemeinschaftlichen Willen vermittelte Existenz zu begreifen. In seiner Gewalt gegen andere ringt er daher noch um die Anerkennung seines besonderen Selbstbewußtseins, ohne schon zu wissen, daß dies ohne die Erhebung zum Allgemeinen nicht möglich ist. Der Verbrecher dagegen weiß sich schon in der abstrakten Identität mit anderen anerkannt. Ihm geht es jetzt in der bewußt ausgeführten, unendlichen Negation des Allgemeinen darum, auch seiner für sich seienden Einzelheit Anerkennung zu verschaffen. Daraus leitet sich auch der zweite Unterschied zwischen Verbrecher und rohem Willen ab: Ersterer ist, wie gezeigt, im Begriffe, seinem moralischen Wesen Existenz zu verleihen, während letzterer erst zur Vorstellung seiner Geltung als allgemeines, personales Wesen gelangen muß. Aus diesem Gefalle an vorhandener Vernunftwirklichkeit ergibt sich im Verhältnis vernünftiger Wesen zu einem in Wildheit und Rohheit verfallenen Willen eine asymmetrische Beziehung zueinander, die sich augenscheinlich von der Gleichheit, mit denen sich vernünftige Wesen untereinander begegnen, unterscheidet. Gegen den gewalttätigen natürlichen Willen darf sich das Opfer nicht nur, wie bei jedem Angriff, in Schutz nehmen; zugleich ist es ihm auch nicht verboten, im Bewußtsein des natürlichen Willen die sittliche Idee zur Geltung zu bringen 174. 172

173 174

s. Rph. § 11, S. 62. Vgl. Rph. §§ 35 Anm., 57 Anm., S. 93 f., 123 f. So Rph. § 93 Anm., S. 179 f.

III. Der Übergang zur Moralität

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Diese Unterschiede zum Verbrechen sind im Folgenden immer im Auge zu behalten. d) Zusammenfassung Das Verbrechen hat für Hegel sowohl eine negative als auch eine positive Existenz. Diese Einheit von Erfolgs- und Handlungsunwert tritt auf zwei Stufen in Erscheinung: In der Rechtsgutsverletzung ist das sachliche Dasein des besonderen Willens (eines konkreten Opfers) verneint. Anders als bei Gewalttätigkeiten eines natürlichen Willens vennittelt sich darüber die Aufhebung des Geltungsanspruches des allgemeinen Willens. Der Handlungsunwert liegt seiner Fonn nach darin, daß der Täter allein es ist, der als Urteilssubjekt das Verbrechen in die Welt gesetzt hat. Inhaltlich ist der Handlungsunwert darin zu finden, daß der Verbrecher (anders als der in Rohheit verfallene, natürliche Wille) die Selbstaufhebungstendenz seiner Unrechtsmaxime nicht auf sich selbst bezieht. Dadurch ist für den Täter zum einen die Nichtigkeit seiner bloß für sich sein wollenden Einzelheit nicht im Dasein anwesend; zum anderen versäumt es der Verbrecher, den an sich in seinem Urteilsvollzug bereits geleisteten Übergang zu moralischer Selbstbestimmung existentiell werden zu lassen. III. Der Übergang zur Moralität

Dem Verbrechen ist die Aufhebung zur Moralität immanent. Die Schritte des Überganges zur Moralität sind in Anlehnung an die Willensdialektik folgende: Zunächst ist der allgemeine Wille in der Reflexion in sich die Negation der unmittelbaren Beziehung zum bloß für sich seienden, besonderen Willen. Die darin drohende Selbstverneinung des Allgemeinen ist eine doppelte: Sie hebt nicht nur dasjenige auf, über dessen Entgegensetzung es zu einem Selbstverständnis als Allgemeines kommt; zugleich wird mit der Vernichtung des besonderen Willens auch der Boden zerstört, auf dem der allgemeine Wille einzig zur Existenz, zu seinem Gelten kommen kann. Die Negation dieser drohenden Selbstverneinung führt zur Affinnation des besonderen Willen; dieser ist aber nicht mehr ein unmittelbarer Wille, sondern er ist ebenfalls in sich reflektiert. Er findet seine Einzelheit daher gleichennaßen zum einen erst darin, daß er sich dem Allgemeinen als Einzelnes entgegensetzt 175. Zum anderen ist ihm bewußt, daß sein Streben, gerade als Einzelheit anerkannt zu sein, nur dann gelingt, soweit sie im Willen anderer allgemein anerkannt werden kann 176. 175 176

Rph. § 105, S. 203. Rph. § 112, S. 209 f.

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1. Kap. C. Verbrechenslehre und Moralität

Mit diesem Bewußtsein allein ist diese allgemeine Anerkennung der Einzelheit ebensowenig verwirklicht, wie der allgemeine Wille in diesem Bewußtsein schon eine seinem Begriffe vollständig angemessene Realität gewonnen hat. Die Moralität ist daher noch nicht die konkrete Einheit von einzelnem und allgemeinem Willen, sondern sie fordert vom moralischen Subjekt mit seinen Handlungen dieser in seiner Subjektivität anwesenden Einheit Objektivität zu verleihen 177. Hege1 schildert daher im Moralitätsteil den Weg, wie das Subjekt in seinen Handlungen zu einer immer konkreteren Vorstellung von der Einheit seines einzelnen und allgemeinen Willens und deren Wirklichkeit gelangt 178.

C. Verbrechenslehre und Moralität Der Moralitätsteil soll hier vornehmlich unter den Aspekten betrachtet werden, mit denen der aus dem abstrakten Recht gewonnene Grundbegriff des Verbrechens präziser gefaßt werden kann. Es wird sich zeigen, daß die negative wie die positive Existenz des Verbrechens, sein Erfolgs- und Handlungsunwert, durch die Aufnahme des Rechts des moralischen Subjekts in das Dasein der Freiheit eine vertiefte Bestimmung erfahren wird. Um eine Handlungslehre herauszuarbei ten, wurde der zweite Teil der Rph. schon mehrfach herangezogen 1. Dagegen fand der Umstand, daß auch der Erfolgsunwert des Verbrechens durch moralische Bestimmungen dem Wandel unterliegt, bisher nur wenig Beachtung 2 • Beides soll hier in angemessener Weise seine Darstellung finden, wobei gemäß dem hier leitenden Erkenntnisinteresse die Frage im Vordergrund steht, wie nach Hegel gewohnheitlieh verfestigte Verhaltensweisen zugerechnet werden können. Um an das Problem einer habituellen Willensschuld in der richtigen Weise herangehen zu können, sind in zwei Richtungen Vorarbeiten zu leisten: Weil die Ausführungen zu gewohnheitlichen Verhaltensweisen in der Rph. sehr knapp ausfallen 3, sollen die Ausführungen Hegels zur Willensschuld zum einen auf der Grundlage der Aristotelischen Tradition, auf der sie beruhen4, und zum anderen unter Einbeziehung einschlägiger Passagen aus der Lehre vom subjektiven Geist entwickelt werden. Da die Entfaltung der Kategorien der Hegeischen HandlungsRph. § 108, S. 206 f. Rph. §§ 106 Anm., 107 Anm., S. 204 f., 205. 1 Vgl. v. Bubnoff, Entwicklung, 1966, S. 36 ff. und M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 200 ff., Piontkowski, Hegels Lehre über Staat und Recht, 1960, S. 224 ff. jeweils m. w. N. 2 s. a. Bockelmann, Hegels Notstandslehre, 1935, S. 21 ff., 45 ff. 3 Darin liegt wohl auch begründet, daß diejenigen Strafrechtler des 19. Jahrhunderts, die sich als Hegelianer verstanden, gewohnheits- und gewerbsmäßige Delinquenz bzw. RückfaIligkeit nur nebenbei behandeln, repräsentativ Bemer, Lb., 1898, S. 309 ff., 471, 579, 616, 626 m. w. N. 4 Vgl. nur Hegels Würdigung der Leistung des Aristoteles, in Gesch. d. Philos. H, S.221. 177

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I. Allgemeine Fragestellung

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lehre in die gesamte Darstellung des Rechts des moralischen Subjekts in seiner Auseinandersetzung mit dem allgemeinen Willen eingebettet ist, soll diese Frage zum anderen in einem knappen Überblick über den Moralitätsteil in ihren unmittelbaren Gesamtzusammenhang eingeordnet werden. I. Die allgemeine Fragestellung Positives Resultat der unendlichen Negation der Sphäre des abstrakten Rechts im Verbrechen bildet ein in bestimmter Weise in sich reflektierter Wille. Dieser Wille findet seine Einzelheit, anders als die Person, gerade in der Beziehung des Entgegensetzens zum Allgemeinen und dem bloß unmittelbaren Dasein der Freiheit in einer äußerlichen Sache 5 • In diesem Abscheiden von der Objektivität bestimmt sich das moralische Wesen als subjektiver Wille. Es besitzt in seiner Innerlichkeit, seinen Interessen und besonderen Absichten etc., ein spezifisches Dasein seiner selbst 6. Hier kommt also erst das Individuum im emphatischen Sinne als einzigartiges und unverwechselbares Wesen in den Blick. Dieses Bewußtsein der Einzelheit ist jedoch nicht nur die Vorstellung derselben als bloßem Gegensatz zum Allgemeinen. Vielmehr ist sie ja bereits derart auf das Allgemeine bezogen, daß es dasselbe als Voraussetzung der allgemeinen Anerkennung der Einzelheit durch andere gelten läßt 7 • In diesem Reflexionsverhältnis macht die Innerlichkeit des subjektiven Willens auch ein Dasein des Begriffs des allgemeinen Willens aus: "Nur im Willen, als subjektivem, kann die Freiheit oder der an sich seiende Wille wirklich sein." 8 Die Selbstbestimmung des subjektiven Willens ist danach zugleich die Bestimmung des Begriffs 9 • Der allgemeine Wille kann sich in diesem Dasein des subjektiven Willens aber nur dann vollständig wiederfinden, soweit dieser nicht bloß in der Stellung der subjektiven Besonderheit gegen die Objektivität verharrt. Dasein gewinnt der allgemeine Wille in der Innerlichkeit des besonderen Willens daher lediglich als ein Sollen, diesen Gegensatz zwischen Subjektivität und Objektivität aufzuheben 10. Zugleich ist aber das moralische Wesen aus eigenem Interesse bestrebt, sich in der Welt, d. h. jetzt im Willen anderer, zur Geltung zu bringen. Seine spezifische Einzelheit verhält sich demnach auch hier nicht nur negativ zur Objektivität; Rph. § 105, S. 203; Enzykl. § 503, S. 312. Rph. § 109, S. 207; Enzykl. § 503, S. 312. 7 Vgl. § 111, S. 209. 8 Rph. § 106, S. 204. 9 Rph. § 107, S. 205. 10 Rph. § 108, S. 206 f. Zum Status des Sollens bei Hegel vgl. Bitsch, Sollensbegriff, 1977, Krumpel, Moralphilosophie, 1972, S. 60 ff., O. Marquardt, Phi!. Jb. 72, 1964/65, S. 110 f., der zurecht auf den positiven Gehalt im Hegeischen Sollensbegriff hinweist. 5

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1. Kap. C. Verbrechenslehre und Moralität

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vielmehr bezweckt das Subjekt (insoweit anders als die Person) ausdrücklich, sich in ein positives Verhältnis zu anderen Subjekten zu setzen ll. So macht es zum einen das Recht der eigenen Besonderheit geltend 12. Weil dieses nur dann verwirklicht werden kann, wo andere es anerkennen können, sucht das moralische Wesen aber zugleich die eigene Einzelheit zu verallgemeinern: "Indern ich meine Subjektivität in Ausführung meiner Zwecke erhalte (... ), hebe ich darin als [in] der Objektivierung derselben diese Subjektivität zugleich als unmittelbare, somit als diese meine einzelne auf." \3 Gelingt diese Erhebung der Einzelheit zum Allgemeinen in der Äußerlichkeit vollständig, so findet sich die bloß vorgestellte reflexive Einheit dieser beiden Willensmomente nicht mehr nur in der Beschränkung auf die Innerlichkeit wieder. Dann aber verwirklicht das moralische Subjekt die Idee (des Guten). In dieser Tätigkeit ist die Subjektivität ein angemessenes Dasein des Begriffs: ,,Dasein und Bestimmtheit ist im Begriff identisch (... ), und der Wille als subjektiver ist selbst dieser Begriff - , beides und zwar für sich zu unterscheiden und sie als identisch zu setzen." 14 Eine solche Äußerung des subjektiven Willens nennt Hegel Handlung ls . Seine Handlungstheorie steht damit in dem sich entwickelnden Spannungsverhältnis, einerseits das Recht des subjektiven Willens zu verwirklichen, andrerseits die subjektive Einzelheit desselben fortschreitend allgemein zu setzen. Die gegenseitige Integration dieser beiden Seiten der Handlung verläuft dabei über verschiedene Stufen, die hier nur kurz anzuführen sind: Zuerst macht es das Recht der Subjektivität aus, daß sie, obwohl sie in ihren Taten stets an mannigfaltigen Veränderungen der Außenwelt teilhat (Schuld hat), nur diejenigen unter ihnen anzuerkennen, die sie zuvor im innerlichen Vorsatz eines Zweckes als einzelne Bedingungen seiner Verwirklichung weiß 16. Die mannigfaltigen Veränderungen in der Äußerlichkeit beruhen aber auf allgemeinen Zusammenhängen. Es macht demnach auch das Recht des subjektiven Willens aus, in seinen Absichten von ihnen zu wissen, um den eigenen Zweck überhaupt zuverlässig realisieren zu können 17. Weil der subjektive Zweck seiner Absicht nur dann Objektivität gewinnt, soweit er von anderen Subjekten anerkannt werden kann, macht es deren Recht (der Objektivität) aus, daß er diese allgemeinen Zusammenhänge in seine Absicht aufnimmt. Rph. § 112 f., S. 209 f. Dazu Ilting, in: Riedei, 1975, S. 60. Rph. § 107, S. 205. In dieser Fonnel verallgemeinert Hegel nach Ritter das Autonomieprinzip Kants, s. Metaphysik und Politik, 1969, S. 281 ff. Ausf. Amengual, HegelJb 1987, S. 207 ff. Vgl. w. Schnädelbach, Hegels Theorie, 1965. 13 Rph. § 112, S. 209 f. 14 Rph. § 109, S. 207. IS Rph. § 113, S. 211. Dazu Giusti, HS 22, 1987, S. 51 ff. und Schneider, Hegels Lehre, 1965. 16 Rph. § 114, S. 213; §§ 115 ff., S. 215 ff. 17 Rph. § 114, S. 213; §§ 119 f., S. 223 ff. Zu diesem Zusammenhang auch Krumpel, Moralphilosophie, 1972, S. 79 ff. 11

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1. Allgemeine Fragestellung

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Dem Inhalte nach macht es das Recht des subjektiven Willens aus, daß nicht nur sein Eigentum geachtet wird, sondern gerade auch sein besonderes Interesse in seiner ganzen Breite, sein Wohl, Befriedigung findet 18. Hier kommt es zu der eigentümlichen Vertiefung des Freiheitsverständnisses: Während der einzelne Wille im abstrakten Recht seine Individualität ausreichend im bloßen Besitz privater Sachen repräsentiert sah, macht es jetzt das Verlangen des besonderen Willens aus, gerade auch in seiner Bedürftigkeit als berechtigt anerkannt zu werden. Wo dies nicht gewährleistet ist, ist mithin das Recht des besonderen Willens nicht mehr anwesend, selbst wenn es sich in einzelnen Sachen von anderen unterscheiden kann. Dies gilt natürlich auch für das moralische Selbstverständnis der anderen Subjekte. Weil die Verwirklichung des eigenen Wohles ebenfalls von deren Anerkennung abhängt, gebietet dies, auf deren Recht und deren Wohl Rücksicht zu nehmen. In dieser Einheit hat der allgemeine Wille nur Dasein, wo er auch das Recht der Besonderheit respektiert. Ist letzteres im Leben als Ganzes geflihrdet, steht damit nicht nur das Wohl auf dem Spiel, sondern auch die Existenz des Rechts. Der vom Tode Bedrohte hat daher ein Notrecht, sein Leben auf Kosten des Eigentums an partikulären Sachen anderer zu erhalten. In der Anerkennung des Notrechts wird die Besonderheit als Recht anerkannt und deshalb allgemein gesetzt. Damit wird die Seite der Besonderheit in die Sphäre des Rechts, des allgemeinen Willens, mit aufgenommen. Die konkrete Form des allgemeinen Willens stellt daher die Einheit desselben mit der Totalität der Besonderheit, dem Wohl aller, dar, das Gute l9 • Dessen Verwirklichung ist auch weiterhin von der Tätigkeit des subjektiven Willens, seinen Trieben und Neigungen, abhängig. Es macht daher dessen höchstes Recht aus, daß sein Gewissen nur dasjenige anerkennen muß, was es als gut einsehen kann, wie es dessen vornehmste Pflicht darstellt, das Gute zu tun. Ein bestimmtes Dasein hat das Gute somit aber zunächst nur im Gewissen des Einzelnen. Dieses ist daher die Macht, selbst zu bestimmen, welchen Inhalt die Pflicht hat. Darin kommt die Autonomie des subjektiven Willens als unaufhebbares Freiheitsmoment zum Ausdruck. Das Recht der Besonderheit ist aber nur insoweit anerkannt, wie es aus der subjektiven Befindlichkeit des Einzelnen herausgelöst und zu einem verallgemeinerbaren Pflichtinhalt gemacht werden kann. Die Pflicht soll um der Pflicht willen, nicht aus Neigung erfüllt werden 20. Insofern der subjektive Wille bloß aus Neigung handelt, steht er aber noch im Gegensatz zur Allgemeinheit des Guten 21. Zugleich ist er die Instanz, die der Pflicht erst einen Inhalt gibt. In Rph. § 114, S. 213; §§ 121 ff., S. 228 ff. Rph. § 114, S. 213; §§ 129 ff., S. 243 ff. Dazu Bartuschat; in. Hösle 1989, S. 77 ff.; Enskat, Theorie des praktischen Bewußtseins, 1986, S. 63., Krumpel, Moralphilosophie, 1972, S. 74 ff., 83 ff. 20 So Rph. § 133, S. 250. 21 Rph. §§ 131, 134 ff., S. 244 f., 251 ff. 18

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diesem Gegensatz hat daher das Gute für sich noch keinen anderen Inhalt, als den, den das einzelne Subjekt ihm verleiht. Verharrt das Einzelne in diesem Gegensatz zum Allgemeinen, so ist es fähig, jeden eigenen Zweck als Inhaltsbestimmung des Guten auszugeben, auch wenn dieser nicht verallgemeinerbar ist. Erhebt es das Besondere in dieser Weise zum Prinzipe, so handelt es böse. Dieser Gegensatz zwischen einzelnem und allgemeinen Willen wird erst dort behoben, wo der subjektive Wille einen Zweck erstrebt, der gerade auf die Überwindung der eigenen Besonderheit zielt. Unmittelbar begegnet dem Menschen als Gattungswesen ein solcher Wille in der Erfahrung der Liebe 22. Darin liegt der Übergang zur Sittlichkeit. Diese allgemeinen Bestimmungen sind nun auf den Verbrechensbegriff zu beziehen. 11. Die Folgen für den Verbrechensbegriff

In der Moralität setzt Hegel also zunächst neben das Dasein der Freiheit in äußerlichen Dingen die Existenz der Freiheit in der Innerlichkeit des Subjekts. Damit tritt zum Recht des an sich seienden Willens das Recht des subjektiven Willens hinzu. Dieses vertiefte Freiheitsverständnis muß zu einer veränderten Betrachtung der negativen und positiven Existenz des Verbrechens, seinem Erfolgs- und Handlungsunwert führen. Es modifiziert einerseits die Verletzungsbedeutung der Straftat: Wesentlich ist jetzt, wie das Recht des subjektiven Willens getroffen wird. Andrerseits führt das Recht der Besonderheit dazu, daß der Handlungsunwert des Verbrechens dem moralischen Wesen nur dort zugerechnet werden kann, wo die Untat von seinem subjektiven Willen getragen ist.

1. Modijizierung des Erfolgsunwertes der Tat Da zum Dasein der Freiheit nun eine weitere Sphäre hinzukommt, die der (Geltendmachung der) Innerlichkeit, entstehen daraus zwei Richtungen der Modifikation des Erfolgsunwertes: Weil das Verbrechen nur die Äußerlichkeit angreift, diese aber nur noch ein Element des ganzen Daseins der Freiheit darstellt, reduziert sich dadurch der Umfang der Verletzungsbedeutung eben auf ein Moment. Auf der anderen Seite reflektiert das moralische Subjekt in ganz anderer Weise auf diese Äußerlichkeit als die Person: Während dort das Moment der Besonderheit noch keine Rolle spielte, geht es hier gerade um die Realisierung dieses Anspruches. Wo als subjektives Recht eines Opfers nicht nur dessen äußerliche Existenz im Eigentum sondern zugleich auch dessen Bedürftigkeit anerkannt ist, dort wird in der Verletzung der darin gesetzte allgemeine Wille in diesen beiden Ebenen erfaßt. Dies impliziert die Möglichkeit einer schwerwiegenderen Rechtsgutsverletzung. 22 Rph. § 7 Zus., S. 57, § 158 mit Zus., S. 307 f.; Enzykl. § 436 mit Zus., S. 226 f. Vgl. w. Entwürfe, S. 239 ff., 242, 244 ff.; WdL. 11, S. 277.

H. Die Folgen für den Verbrechensbegriff

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a) Relativierungen Gemäß der Zweistufigkeit des Erfolgsunwerts, wie er schon im abstrakten Recht zu finden ist, modifiziert sich die Verletzungsbedeutung der Tat auch nach diesen beiden Seiten. Zum einen setzt die Innerlichkeit den Rang der einzelnen Sache, Zeichen der Individualität des Opfers als alleiniges Dasein des besonderen Willens herab: Das moralische Subjekt kann sich aus ihnen herausziehen, ohne seine Existenz als Ganzes zu verlieren. Vielmehr findet gewissermaßen ein Wechsel in der Daseinsweise statt. Aus der äußerlichen Realität in einer Sache wechselt es in die innerliche Welt, in der es sich weiterhin als berechtigt weiß, Privateigentum an dieser Sache zu haben 23. Diese Innerlichkeit kann der Zwang aber nicht erreichen 24 • Allerdings stößt auch diese Modifikation an einem Rechtsgut an ihre Grenze: Weil das Leben nicht bloß das klarste Abbild der Persönlichkeit, sondern zugleich die Totalität des besonderen Willens darstellt, so wäre auch seine Innerlichkeit in toto bedroht 25 • Hier findet also keine Relativierung des Umfanges des Erfolgsunwertes statt. Gleiches gilt für Verletzungen der Totalität der Selbsttätigkeit, die ureigenstes Prinzip der moralischen Subjektivität ist. Der Erfolgsunwert erzwungener Sklaverei und Leibeigenschaft bleibt ungeschmälert. Bei allen anderen Rechtsgütern tritt aber eine Modifizierung ein. Die Bestimmungen, die Hegel anführt, um diese qualitative und quantitative Beschränkung des Erfolgsunwertes vorzunehmen, können demnach genaugenommen von einem Individuum, was sich noch nicht als moralisches Wesen, sondern bloß als Person versteht, noch gar nicht geleistet werden. Es würde auch in der bedeutungslosen Sache stets darauf abstellen, daß darin seine Unendlichkeit schlechthin negiert sei, wodurch eine Maßbestimmung unmöglich wäre 26 • Zum anderen relativiert die innerlich vorhandene und als solche unangreifbare Identität des einzelnen Willens mit dem allgemeinen auch die Gefahr, die vom Geltungsschein der Unrechtsmaxime ausgeht. Auch diese betrifft jetzt nur noch die Gefährdung der äußeren Geltung im Miteinander der Menschen, nicht mehr die Totalität des eigenen Dafürhaltens schlechthin. Während die Person sich noch allein über die Geltung als Allgemeines in der Vorstellung Anderer allgemeines Dasein verschaffen konnte, steht dem moralischen Subjekt noch die unangreifbare Sphäre der eigenen Gewißheit von der Richtigkeit des Rechten zur Verfügung 27 • 23 Nur so wird m. E. der Rph. § 91, S. 178 verständlich. Auch das Notrecht setzt voraus, daß das Eingriffsopfer nicht in jede einzelne Sache die unendliche Bestimmung seiner selbst legt. Dazu auch Schild; in: Hösle, 1989, S. 146 ff. 24 Rph. § 94 Zus., S. 181. 25 Rph. § 127 S. 239 f., vgl. die Bem. dort vom Notrecht. 26 Dazu Rph. § 96 Anm., S. 183. 27 Vgl. Rph. § 96 Randbem., S. 185: Was Hegel dort von einem moralischen Volke sagt, gilt auch für seine Teile, den einzelnen moralischen Subjekten.

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Neben diese Modifizierung des Erfolgsunwertes der Tat, die sich daraus ableitet, daß für das Opfer lediglich das äußere Moment im Gesamtumfange seines Daseins verletzt wird, tritt eine weitere, die zur Begründung eines Notrechtes führt. Schon das abstrakte Recht räumte demjenigen, der durch Gewalt bedroht wurde, eine Zwangsbefugnis ein, um sein Recht wiederherzustellen. Strafrechtsdogmatisch handelt es sich hier um die Rechtfertigungsgründe der Notwehr bzw. des Defensivnotstandes 28 • Sie setzen aber eine Gefährdung für Rechtsgüter voraus, die von einer anderen Person zu verantworten sind. Dagegen stellt die Moralität bei Gefahren für das Leben, wie gezeigt, auch dann ein Notrecht bereit, falls der Betroffene keine Verantwortung für die Gefahr trägt, keinen Zwang ausgeübt hat. In Ausübung dieses Notrechts begeht man demnach kein Verbrechen 29 • Die Erweiterung des Daseins der Freiheit um die Dimension der Innerlichkeit des Willens bringt folglich in doppelter Weise eine Relativierung des Erfolgsunwertes mit sich. Zum einen reduziert sich - mit Ausnahme der Verletzung unveräußerlicher Rechtsgüter - die Verletzung auf die Verletzung eines Momentes des Daseins, dem der Äußerlichkeit, wodurch die Zwangseinwirkung auch für die Subjekte quantifizierbar wird. Zum anderen vermindert sich die Gefahr für die Geltung des Rechtsgebotes auf die Beeinträchtigung seiner äußeren Anerkennung, neben der die innere Gewißheit von der Richtigkeit der Rechtsgeltung unangetastet bleibt. b) Schärfungen Anders als der Person geht es dem moralischen Wesen nicht mehr allein darum, sich über Sachen ein äußerliches Dasein der Freiheit zu verschaffen. Jedes Individuum gab zwar bereits im abstrakten Recht seinem besonderen Willen eine Existenz, indem es sich von anderen in seinem privaten Vermögen unterschied. Als Recht ist aber hier nur anerkannt, daß jede Person sich überhaupt im Eigentum von einer anderen unterscheiden kann. Ob Art und Umfang dieses Daseins der Freiheit dem Wohle jeder einzelnen Person dienlich ist, wird im abstrakten Recht noch nicht garantiert. Dagegen geht es dem moralischen Wesen gerade darum, dem Recht seines subjektiven Willens Gestalt zu verleihen 30. Daher kann eine Gewaltanwendung, die sich notwendig gegen eine äußere Sache richten muß31, nicht nur dazu führen, daß dieses äußerliche Dasein der Freiheit 28 Zu diesen dogmatischen Figuren Jakobs AT, 1983, 11/3 m. w. N. und Jescheck, AT, 1988, S. 300 ff., 318 ff. 29 Rph. § 127, S. 239 ff. Dazu Bockelmann, Hegels Notstandslehre, 1935, S. 21 ff., 45 ff.; neuerdings Schild; in: Hösle, 1989, S. 146 ff. 30 Vgl. Rph. § 107, S. 205. 31 Rph. § 91, S. 178 f.; Enzykl. § 501, S. 310 f.

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beschädigt oder dem Eigentümer entzogen wird, sondern zudem noch das moralische Recht des Individuums beeinträchtigen, seine subjektiven Zwecke, sein Woh1 32 , verwirklichen zu dürfen. Zunächst erhöht sich das Unrecht dort, wo eine äußerliche, einem anderen gehörende Sache bloß als solche Objekte des Vertrauens ist, sondern der Eigentümer im Augenblick der Verletzung subjektiv darin anwesend ist: Während im Diebstahl z. B. mein Wille nur ganz äußerlich verletzt wird, werde ich im Raube zugleich noch in meiner aktuellen Gegenwart und Beschäftigung mit der Sache ergriffen 33. Das Unrecht der Willensbeugung durch Irrtum und Zwang findet erst in der Verletzung dieses besonderen Daseins der Freiheit sein fundamentum in re: Das durch Zwangsakte bewirkte Unrecht war oben als eine abgenötigte Form der Entäußerung geschildert worden. Durch sie wurde einer einzelnen Sache die Bedeutung genommen, auf die Person des Opfers hinzuweisen. Gleichzeitig wurde die Entäußerung ihres freiheitlichen Sinnes beraubt, der darin zu sehen ist, sich die eigene Unabhängigkeit von partikulären Dingen widerspruchsfrei zu beweisen. Dennoch haftet diese Vorstellung des Unrechts noch zu sehr an der Oberfläche. Sie sieht den Schaden allein im Verlust oder dem Vorenthalten eines äußerlichen Daseins der Freiheit. So würde sich die Schwere einer Nötigung allein nach dem Wert desjenigen Gegenstandes bemessen, dessen Veräußerung abgezwungen worden ist. Erst der Einbezug der moralischen Perspektive erlaubt es, die Willensbeugung selbst als das strafwürdige Unrecht anzusehen. In ihr wird gerade das Recht des subjektiven Willens auf die Geltendmachung seiner individuellen Besonderheit in der Objektivität verletzt. Nicht nur daß sein Eigentum ihm entzogen wird; zudem ist in der abgezwungenen Verhaltensweise auch der Anspruch des Opfers mißachtet, sein Wohl selbsttätig zu verfolgen. Daß das Opfer entgegen den Ansprüchen, die sein Wohl an !!s stellt, unter den Willen eines anderen gebeugt wird, macht jetzt das spezifische Unrecht der Nötigung aus. Bei allen Verbrechen, zu deren Ausführung die Anwendung von Zwang gehört, z. B. Erpressung, erweitert sich daher die Unrechtsdimension durch den Einbezug der Verletzung des Rechts des subjektiven Willens 34 • Aus diesem Blickwinkel erhellt auch das Spezifische am Unrecht der Versklavung bzw. des Arbeitszwanges. Es ist nicht bloß so, daß die Totalität bzw. Partikularität meiner Körperkräfte im "Eigentum" eines anderen stehen. Vielmehr wird hier auch dem Recht der Subjektivität die Verwirklichungschance genommen. 32 Vgl. Rph. § 123, S. 230. Der Unterschied zwischen Wohl und Glückseligkeit besteht darin, daß ersteres unter dem Gesichtspunkt berechtigter Ansprüche betrachtet wird, so Enzykl. § 505, S. 314. 33 Rph. § 96 Anm., S. 183 f. 34 Rph. § 96 Anm., S. 183 f.

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Gleiches gilt für den Betrug. Diese in Bereicherungsabsicht erfolgende Täuschung eines anderen, kann jetzt - wie das Verbrechen - als strafwürdiges Unrecht angesehen werden: Nicht nur der allgemeine Wille wird verneint, sondern auch das Recht der Subjektivität, in allen seinen Handlungen als Wissender anwesend zu sein, ist verletzt. Auch der Anspruch auf Befriedigung der Besonderheit ist unter moralischen Wesen als eine Besonderung ihrer allgemeinen Willen zu verstehen 35 , ist also ein eigenständiges Rechtsgut neben den in der äußerlichen Sphäre daseienden Rechtsgütern. Wo Zwang gegen eine Person ausgeübt wird, ist daher nicht nur ihre äußere Rechtsgutssphäre betroffen, sondern zugleich wird darin der Anspruch des subjektiven Willen, seine Besonderheit zu objektivieren, ebenfalls negiert. Dadurch erhöht sich in diesen Fällen der Erfolgsunwert des Verbrechens. c) Zusammenfassung Wo das Opfer eines Verbrechens sich als moralisches Wesen versteht, modifiziert sich der Erfolgsunwert der Tat. Die Herabsetzung der Äußerlichkeit zu einem Moment im Dasein des Subjekts führt eine Milderung herbei. Sowohl die Verletzung des Daseins des besonderen Willens als auch diejenige des allgemeinen Willens bedeutet nicht mehr die totale Negation der Existenz des Opfers; sie wird auch für das Opfer der Quantifizierung zugänglich. Umgekehrt kann die Erweiterung des Daseins der Freiheit auf das Moment der Innerlichkeit zu einer Erhöhung des Erfolgsunwertes führen. Dies liegt darin begründet, daß für das moralische Subjekt die in der Innerlichkeit entdeckten, subjektiven Zwecke den Anspruch erheben, vom Subjekt selbsttätig in die Objektivität transformiert zu werden. Überall dort, wo die Verletzung des äußerlichen Daseins der Freiheit über die Willensbeugung des Opfers vermittelt wird, ist damit auch dieses Recht des moralischen Wesens verneint.

2. Die Handlungslehre Umfangreicher als die eben geschilderten Modifikationen im Unrecht sind die Ausführungen, die Hegel zur Handlung des moralischen Subjekts macht. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Darstellung eines aktuellen Verschuldensprozesses, der in Aufnahme der Aristotelischen Tradition verstanden wird. Dagegen treten die Ausführungen zur Frage der habituellen Verhaltensweisen deutlich zurück 36 • 35 Dies aber nur, weil und soweit sich auch der besondere Wille unter das Allgemeine subsumiert, vgl. Rph. § 126, S. 236 ff.; Enzykl. § 506, S. 314. 36 Vgl dazu Rph. § 140 Anm., S. 266 ff. Fn.; Enzykl. § 409 f. S. 182 ff. Die Fruchtbarkeit des Moralitätsteils der Rph. bezügl. des aktuellen Verschuldens betonen Derbolav in: Riedei, 1975, S. 201 ff., M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 200 ff. und passim, sowie Schild, ZphF. 34, 1981, S. 445 ff.

II. Die Folgen für den Verbrechens begriff

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Um auch sie zur Geltung zu bringen, ist es hilfreich auf die Aristotelische Kategorie der Phronesis näher einzugehen, um auf ihrer Grundlage die HegeIschen Ausführungen zu rekonstruieren. Es empfiehlt sich, kurz den aktuellen Verschuldungsprozeß darzustellen, um auf seiner Basis die habituelle Schuldform zu erläutern. Dabei wird der HegeIschen Analyse jeweils die des Griechen vorangestellt. a) Der aktuelle Verschuldensprozeß Gemäß dem leitenden Erkenntnisinteresse der Arbeit wird die Handlungslehre vornehmlich unter dem Aspekt betrachtet, der eine Tat zu vorwerfbarem, kriminellen Unrecht macht. Es soll aber eingangs darauf hingewiesen werden, daß die folgenden Ausführungen gleichzeitig auch eine Analyse jeglicher menschlicher Praxis darstellen. Sowohl die Handlungslehre des Aristoteles als auch die von Hegel sind in diesem Horizont zu sehen.

aa) Die Aristotelische Schuldauffassung Aristoteles erkennt nur Unfreiwilligkeit des Tuns als Entschuldigungsgrund an 37 • Neben vis absoluta begründet auch die Unwissenheit des Subjekts von dem, was es tut, die Exkulpation 38 • Auf diesen Entlastungsgrund konzentriert sich die folgende Darstellung. Nicht jede Form des Nichtwissens wirkt für den Griechen entschuldigend. Nur dort, wo das bewegende Prinzip, das Grund des Wissensmangels ist, außerhalb des Täters liegt, stellt sich nach Aristoteles Bedauern ein, wird dem Subjekt mithin seine Tat nicht vorgeworfen 39 • Kann der Grund der Unwissenheit aber im Subjekt lokalisiert werden, so handelt es zwar in actu nicht-frei; dennoch bleibt die Möglichkeit bestehen, das Subjekt selbst als Ursache seiner Unkenntnis anzusehen, wodurch sein Tun in causa dennoch als freiwillig gewertet werden kann: "Und selbst auf Unwissenheit steht Strafe, wenn angenommen werden kann, daß jemand an dieser Unwissenheit nicht unschuldig iSt."4O.

NE III,1 II09b 23 ff. NE III,1 1110a 1 f. 39 NE III, 2 11 lOb 30 ff., 11l1a 35 ff., 39 f. 40 NE III, 7 1113b 41 ff.: Loenings Ausführungen verkennen diesen Zusammenhang bereits im Ansatz, in: Zurechnungslehre, 1903, S. 173 ff.,175. Gegen ihn M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 105 f. Fn 8 u. 13 m. w. N. u. Kraus, Lob, Lohn, Tadel, 1905, Rdnr. 62 - Der im Text verwendete Sprachgebrauch lehnt sich an eine Differenzierung an, die Pufendorf eingeführt hat, vgl. Hruschka ZStW 96, 1984, S. 662 ff. Fn. 5.; der heutige Sprachgebrauch ist enger ebda. S. 668 f. 37 38

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Die aktuell vorliegende Nicht-Freiwilligkeit der Handlung kann nun auf verschiedenen Formen der Unwissenheit beruhen. Zum einen mag dem Betreffenden die Kenntnis des Konkret-Einzelnen fehlen. Trotz deren Kenntnis kann er weiterhin die wesentlichen Faktoren seines Verhaltens mißdeutet haben, die Aristoteles als Inhalt und Ziel der Handlung definiert 41 . Zum anderen ist es möglich, daß dem Akteur selbst bei Kenntnis der Tatumstände das Bewußtsein fehlt, gegen eine gesetzliche Bestimmung zu verstoßen, weswegen er der Ansicht ist, nichts sittlich Anstößiges zu tun 42 . Für den Philosophen beruht demnach nicht nur eine unsorgfältige Verhaltensweise, sondern jedes Tun, das die Verwirklichung des Guten verfehlt, stets auf einem Wissensmangel 43 . Auch der absichtlichen Schädigung eines anderen liegt also eine Form der Unwissenheit zugrunde, die im Verkennen der Gesetzeswidrigkeit des eigenen Tuns zu finden ist. Der Wissensmangel als solcher reicht aber nicht aus, um gegenüber dem Subjekt einen Tadel zu begründen. Gerade dort, wo es die Folgen seines unwissenden Tuns bedauert, zeigt sich für Aristoteles, daß ihm der Irrtum wohl unvermeidbar gewesen ist. Umgekehrt indiziert die Gleichgültigkeit des Täters bezüglich des hervorgerufenen Schadens, daß das den Wissensmangel begründende, bewegende Prinzip vermutlich im Täter zu suchen ist 44 • Für die Schuld kommt es demnach entscheidend auf den Verfehlungsprozeß an, der zu der sich in der Tat auswirkenden Unwissenheit geführt hat. Verfehlt wird dabei eine ausgezeichnete Form des Wissens, die den Namen Phronesis trägt 45 . Auf sie ist daher zunächst einzugehen. Nach Aristoteles besteht Praxiswissen in der erworbenen Kenntnis des sittlich Richtigen, das im Einzelfall auch angewendet wird 46 • Von dieser Höchstform pragmatischer Einsicht grenzt er zwei andere Arten ab: Zum einen die bloße Möglichkeit von Wissen, also die Fähigkeit, die z. B. einem Kind zukommt, richtiges Wissen erst zu erlernen. Zum anderen ein bereits erworbenes (damit aktualisierbares) Wissen, das aber zur Zeit nicht auf die konkrete Einzelsituation bezogen wird: "Realwissen"47. Der Verfehlungsprozeß, der zu einem Status 41 NE III, 2 lllla 32 ff. 42 NE III, 7 1113b 46 f.-1114a 1. 43 M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 107. Das ist gegen die derzeit herrschend Strafrechtslehre zu betonen. Sie geht davon aus, daß beim Vorsatzdelikt grundsätzlich ein volles Unrechtsbewußtsein schon dann vorliegt, wenn der Täter ein nicht praktisch gewordenes Wissen vom Rechte hat, vgl. Jescheck, AT, 1988, S. 408 ff. Was "Unrechtsbewußtsein" nach der hier vorgestellten Konzeption bedeutet, dazu sogleich. 44 NE VII, 9 1150b 44 ff. 45 Zum Begriff vgl. M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 110 f. Fn. 14 m. w. N., Schollmeier, ZphF. 43, 1989, S. 124 ff. 46 NE VII, 5 1146b 50 ff. Dazu Höffe, Praktische Philosophie, 1970, S. 66 ff. 47 Vgl. die Differenzierungen in De an. 417 a 21 b - 29. Die Terminologie wurde in Anlehnung an Cassirer, Von der Seele, 1932, S. 46, gewählt, der von "Wissen in Realpotenz" spricht.

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verschuldeter Unwissenheit führt, betrifft nun gerade den Mangel der Applikation des Realwissens vom sittlich Richtigen auf die vorliegende Handlungssituation 48 • Die Anwendung des Realwissens stellt sich Aristoteles in Form eines Syllogismus vor 49 • Praxiswissen zeichnet sich dadurch aus, daß eine Norm der sittlichen Einsicht als Obersatz auf die konkreten Tatumstände als Untersatz appliziert wird, so daß im Handlungsvollzug eine tugendhafte Tat erscheint. Zur Anschaunng für diesen, einen Anwendungsfall des praktischen Syllogismus kann folgendes Beispiel aus der Magna Moralia dienen: Wer Fieberkranke heilen kann und erkennt, daß ein bestimmter Mensch fieberkrank ist, der kann denselben auch kurieren 50. Die Phronesis wird aber dort nicht erreicht, wo das erlernte Wissen nicht (oder nicht richtig) auf das Einzelgegebene angewendet wird. Ursache dafür, daß jemand zwar Realwissen parat hat, es aber nicht in seiner Handlung gebraucht, kann "Unbeherrschtheit" sein 51 • Sie führt dazu, daß dem handelnden Subjekt zwar der allgemeine Obersatz im Wissen anwesend ist, es auch die Symptome der Fieberkrankheit erlernt hat, diese aber z. B. aus Flüchtigkeit im vorliegenden Fall nicht wiedererkennt. Es kann dann keinen Untersatz bilden, somit diesen auch nicht unter den Obersatz subsumieren, so daß es die angezeigte Heilbehandlung unterlassen wird. Diese erste Form des Verfehlungsprozesses besteht also darin, daß Unwissenheit im praktischen Handeln dadurch entsteht, daß das Subjekt sein Realwissen nicht richtig anwendet. An die Stelle der geforderten Heilung tritt ein anderes Verhalten, in dem der Obersatz nicht anwesend ist; folglich erscheint dem Subjekt im Konkreten nicht sein Realwissen vom Tugendhaften wieder, so daß es nicht zur Phronesis gelangt. Die Handlung wurde mithin in nicht-freiwilliger Unwissenheit begangen. Es lag aber im Subjekt selbst, der eigenen Flüchtigkeit bei der Behandlung durch Bedachtsamkeit entgegenzuwirken. Die Unwissenheit ist also durch das Subjekt selbst begründet und folglich schuldhaft. Freilich wirkt nach Aristoteles die "Unbeherrschtheit" hier häufig ungestüm, so daß die Unkenntnis von Tatumständen eher Nachsicht verdient 52. Eine zweite Art der Einwirkung von "Unbeherrschtheit" auf den praktischen Vollzug des Syllogismus findet sich im Austausch der Obersätze 53 • Man stelle s. M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 110 f. NE VII, 5 1147a 1 ff. 50 MM 11, 6 1201 b 34 ff. 51 NE VII, 1, 1145a 1 ff. Daneben kennt der Grieche noch Minderwertigkeit und tierisches Wesen, die beide habituelle Verschuldensfonnen darstellen; s. u. 1. Kapitel C. 11. 2. b) aa). Trotz des diskriminierenden Charakters der Tenninologie wird sie im Folgenden unter Verwendung von Anführungszeichen weiterbenutzt. 52 NE IIl, 2 1110b 53 ff.-1111a 1 ff. Dies betont auch U. Wolf, ZphF. 39, 1985, S. 21 ff. Allerdings neigt sie dazu, darin den einzigen Ausfall des praktischen Wissens zu sehen. Vgl. a. Welzel, Vom irrenden Gewissen, 1949, S. 7. 53 NE VII, 5 1147 a 41 ff. - 1147b 1 ff. Zur Interpretation vgl. Dirlmeier, NE, Erläuterungen, 1979, 147, 2, S. 481 f. m. w. N. und kritischen Untertönen zum griechischen 48

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sich einen Menschen mit dem Willen vor, alles Gesundheitschädliche zu meiden, dem nun etwa ein Stück Kuchen o. ä. gereicht wird 54. Als Besonnener müßte er diese Eßware wegen ihrer Eigenschaft meiden, der Gesundheit abträglich zu sein, es sei denn ihn treibt die Begierde. Diese steht als solche zunächst im unmittelbaren Gegensatz zum sittlichen Obersatz, weil sie das Verlangen nach Süssem, also Krankheitsförderndem, artikuliert. So könnte sie aber gegen die als Maxime im Willen vorhandene, sittliche Einsicht nicht bestehen. Vielmehr ist es erforderlich, daß auch die Begierde mit dem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit auftreten muß, um einen tauglichen Obersatz abgeben zu können. Dies geschieht dadurch, daß die eigensüchtige Strebung sich die menschliche Fähigkeit des Denkens zu Nutze macht, das Subjekt mithin nicht mechanisch motiviert wird, sondern vielmehr unter die" ... Wirkung, wenn man so will, eines üherlegenden Elementes ... " gerät 55 • Dies ist in der Lage, am Drang nach Süßigkeiten einen allgemeinen Aspekt zu identifizieren, der dann als ein prämissengeeignetes Postulat fungiert, das man folgendermaßen bestimmen kann: "Alles Süße ist angenehm." Die Reflexionsfahigkeit des Subjekts hat so aus dem unmittelbaren Widerspruch zwischen Begierde und sittlichem Wissen einen "akzidentellen ... Gegensatz" gemacht. Denn die Planung des Betroffenen, Gesundheitsschädliches zu meiden, widerspricht nicht mehr der Meinung, das eigene Wohlbefinden durch den Verzehr von Süßem zu steigern. Dadurch kommt das Subjekt, das solche Überlegungen anstellt, in die Lage, zwischen zwei Obersätzen wählen zu können; es kann mithin dem Angenehmen den Vorrang einräumen. So verdrängt es aber sein sittliches Wissen, indem es den aus der Begierde entwickelten Grundsatz anwendet. In der daraus resultierenden Handlung verfehlt es demnach die Phronesis und gelangt damit auch hier in einen Status nicht-freiwilliger Unwissenheit. Da es aber an ihm lag, aufgrund der krankheitsfördernden Eigenschaft der Süßigkeit diese als gesundheitsschädlich einzustufen, handelt es in selbstverschuldeter Unwissenheit. Aristoteles macht es demnach für die Folgen seines Tuns verantwortlich. Einer Exkulpation stimmt er nur in Ausnahmefällen zu. Denn die Verdrängung richtigen Normwissens stellt einen Überlegungsprozeß dar, der grundsätzlich beherrschbar ist 56. Intellektualismus. Dazu auch Roche, J. Hist. Phi\. 26, 1988, S. 175 ff. und Charles, Aristole's Philosophy, 1984, A. W. Müller, Praktisches Folgern, 1982. 54 Zur Konstruktion des Obersatzes für das in der NE gegebene Beispiel siehe M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 116 m. w. N. 55 NE VII, 5 1147b 1 ff. Hervorhebung vom Verf. Zum Verhältnis von Handlung und Begierde bei Aristoteles vg\. allgemein Bostock, Phronesis 23, 1988, S. 251 ff., Charles, Aristotle's Philosophy, 1984. 56 NE I1I, 2 1110b 53ff.; I1I, 7 1113b 46ff.-1114a 1. Hierzu gut Welzel, Vom irrenden Gewissen, 1949, S. 7. Neben der dort genannten Ausnahme, die Komplexität der gesetzlichen Regelungsmaterie, kennt der Grieche noch eine weitere, die er mit dem Handeln im plötzlichen Affektsturm kennzeichnet, NE VII 5, 1147a 20 ff. Hier mangelt es aber bereits an der Möglichkeit der Applikation des richtigen Wissens, eingehend dazu Rassow, Nikomachische Ethik, 1874, S. 128. Aktuell befindet sich die betreffende Person daher in einer Lage, die dem Zustand eines Kindes vergleichbar ist.

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Die bisherige Darstellung setzt voraus, daß der nicht oder nicht richtig angewandte Obersatz das Realwissen vom sittlich Richtigen enthielt. Eine bis ins einzelne gehende Ableitung, ob dies zutrifft, kann hier nicht geleistet werden. Es soll im folgenden nur deutlich gemacht werden, daß die Applikation von Normwissen auf Tatumstände, die zu einem Untersatz aufbereitet worden sind, nur ein Teilstück in der ganzen Pragmatik des handelnden Menschen darstellt 57. Alle Prämissen der vorgestellten Schlußfigur verweisen zurück auf andere Syllogismen, die ihre Richtigkeit verbürgen 58. Bezüglich des Obersatzes, der eine konkrete Norm enthält, bedeutet dies, daß er auf der Ableitung aus einer fundamentaleren Norm beruht. Letzten Halt gewährt dieser Deduktion demnach nur eine nicht hintergehbare Grundnorm, die Aristoteles im Bereich der Ethik im Streben nach sich selbst genügendem Glück findet 59. Diesen Endzweck menschlicher Tätigkeit differenziert der Philosoph in eine Reihe unterschiedlicher Tugenden aus. Neben anderen Einteilungen ist die Unterscheidung wichtig, die von denjenigen Tugenden, die sich im Selbstbezug erschöpfen, diejenige absondert, die das Verhältnis zu Anderen regelt: Gerechtigkeit 60 • Zu den ersteren ist die Besonnenheit zu zählen, welche die Mitte herstellt zwischen den notwendigen Bedürfnissen des Menschen und übermäßigem Lustempfinden 61. Einen Unterfall bildet dabei die Beförderung der eigenen Gesundheit, also der oben geschilderte Obersatz 62 • Gleiches gilt nun aber auch für die Herstellung des eigenen Wohlbefindens 63 • Für das Verdikt, das oben über die Wahl dieser Maxime gesprochen wurde, ist nun erforderlich, daß aus der Perspektive der hier einschlägigen Tugend, die Entscheidung für den Obersatz, alles Süße sei angenehm, sich als Nicht-Applikation der Grundnorm, stets besonnen zu handeln, ausweisen muß. Der Vermeidung von Schäden an der Gesundheit kommt ein höherer Allgemeinheitsanspruch zu, weil die Befolgung dieses Planes die Abwesenheit krankheitsbedingter Schmerzen bewirkt, die ja dem Wohlbefinden abträglich sind. Der Drang nach Süßigkeiten verstellt aber mit dem Verweis auf den angenehmen Geschmack diese negativen Folgen der betreffenden Eßware. Er beruht so auf der fehlerhaften Anwendung des Prinzips der Besonnenheit. In der Wahl der Maxime, man dürfe durch Süßigkeiten sein Wohlbefinden steigern, liegt nun selbst die mangelnde Konkretisierung der Grundnorm sittlichen Wissens. Schon hier wird daher die Phronesis verfehlt, weil bereits in dem als handlungsleitend angenommenen Obersatz das Tugendwissen verneint wurde 64 • 57 So M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 112. Ausgearbeitet findet sich dieser Gedanke bei Thomas v. Aquin. 58 Nach Windelband, Lb., 1980, S. 112. 59 NE I, 5 1097b 30 ff. 60 Die Grundeinteilung ist die in ethische und dianoetische Tugenden, vgl. NE II, 1 1103a 14 f. Zur Gerechtigkeit vgl. NE V 1129a 3 -1138b 14. 61 NE III 13 1117b 17-11l8b 33. 62 NE VII, 13 1153a 30 ff. 63 NE I1I, 13 1118a 29 f.

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Die Applikation auf den konkreten Fall ist als notwendige Folge praktischen Schließens eine Bestärkung dieser Korrumpierung sittlicher Einsicht; die Handlung ist als Einzelfall der gewählten Maxime zwar nur Exempel für die Verfehlung der Phronesis im pragmatischen Tätigsein des Subjekt. Wo eine einzelne Tat aber den Ausfluß einer unrichtig gewählten Maxime bildet, wird die sittliche Einsicht in ihrem Bezug auf den Einzelfall umfassend negiert. Dies ist so, weil und soweit ein normativer Teilbereich der Tugend, hier: Beförderung der Gesundheit, außer Kraft gesetzt wird. Ein solcher Verdunkelungsprozeß liegt der Verfehlung richtiger Einsicht beim Vorsatzdelikt im strafrechtsdogmatischen Sinne zugrunde. Anders ist der Fall zu beurteilen, wo das Subjekt seine Pflicht, Fieberkranke zu heilen, nicht befolgt. Hier liegt bei der Wahl der Maxime kein Verfehlen des sittlich Richtigen vor 65 • Erst die Applikation auf die einzelnen Tatumstände führte hier den Ausfall der Phronesis herbei. Die eigensüchtige Strebung bewirkte hier die bloß flüchtige Betrachtung des Gegenübers, von der das Subjekt meinte, damit genüge es seiner Pflicht. Der Tugend, anderen helfen zu wollen, ist als praktischer Haltung aber die Forderung immanent, gerade für das Handeln leitend zu sein: "Alles denkbare Handeln vollzieht sich im Bereich der Einzelfälle ... , denn auch wer sittliche Einsicht hat, muß das Einzelne kennen ... "66. Sie befiehlt damit auch den Einbezug des Einzelgegebenen, worin allein Handeln sich realisiert 67 • Wo das Subjekt glaubt, ohne näheres Hinsehen bestimmen zu können, ob die tatsächlichen Voraussetzungen seiner Hilfspflicht gegeben sind, dort verstellt es sich gerade einen wesentlichen Aspekt des sittlich Richtigen, nämlich sein Bezogensein auf die je einzelne Situation. Stattdessen wählt es eine Verhaltensweise, die darauf ausgerichtet ist, die Konkretisierung des sittlich Richtigen zu hintergehen. Solch einem Handeln begegnet man beim fahrlässigen Delikt. Trotz des eben hervorgehobenen Unterschiedes zwischen den beiden Verfehlungsprozessen muß hier aber ebenso auf ihre grundlegende Identität hingewiesen werden. Beiden Verschuldensarten liegt als Resultat eine Form der Unwissenheit zugrunde, das auf der mangelnden Applikation des Realwissens vom sittlich Richtigen beruht. Beim Vorsatzdelikt führte dies bereits schon zur Negation eines allgemeinen Normwissens, aus dem dann die konkrete Tat folgte. Aber 64 Diese Voraussetzung wird in der NE nicht ausgesprochen. Es war Th. v. Aquin, der sie explizierte, in: S. Th. I-IIqu 76a 1, a4. Vgl. w. M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 124 f. 65 Aristote1es thematisiert die Hilfspflicht als Folge eines ungleichen Verhältnisses von Freunden zueinander, NE VIII 16 1163b 1 ff. Darin sieht er eine Verwirklichung der Gerechtigkeit, NE VIII 14 1162a 43 ff., wie er auch dieses Verhältnis auf die Polis erweitert, NE VIII 1163b 7 ff. Auch hier folgt also die Pflicht zur Heilung von Kranken als Obersatz des tatmächtigen Syllogismus aus vorangehender Ableitung aus allgemeineren Schlüssen. 66 Vgl. NE VIII 1143a 32 ff., Dieses Müssen hat normative Kraft, vgl. NE VIII 1143a 11 67 Auch hier ist es Th. v. Aquin gewesen, der diesen Ansatz näher entfaltet hat.

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auch beim fahrlässigen Vergehen findet sich letztlich das Verstellen eines Nonnwissens. Denn das Realwissen von einer Tugend implizierte ja die Forderung nach Einbezug der konkreten Tatumstände. Aus der allgemeinen Nonn ließ sich die konkrete Nonn deduzieren, die Voraussetzungen ihres Vorliegens in jedem Einzelfall zu untersuchen. Durch die Vorstellung des Subjekts, ein flüchtiger Blick genüge, wurde gerade dieses konkrete Nonnwissen verdrängt. Dadurch kam es zur mangelnden Applikation des Obersatzes, der die Hilfspflicht beinhaltete. Allerdings deutet sich auch die Differenz zum Vorsatzdelikt an: Sie liegt nicht darin begründet, daß einmal wissentlich verbrochen wurde, das andere Mal unwissentlich, wie es die zeitgenössische strafrechtliche Dogmatik Glauben macht. Vielmehr macht es die Einheit von Vorsatz und (bewußter) Fahrlässigkeit aus, daß beidesmal in verschuldeter Unwissenheit gehandelt wird. Stattdessen unterscheiden sich Vorsatz und Fahrlässigkeit nach dem Grad der Unwissenheit, das durch den Verfehlungsprozeß bewirkt wurde. Während einmal das Wissen von einer Nonn gänzlich im praktischen Vollzug verdrängt wird, liegt im anderen Fall bloß eine partikuläre Negation der allgemeinen Nonn vor, nämlich ihrer Ausprägung in einer Aufmerksamkeitsnonn 68. Daraus ergibt sich allerdings eine weitere Ähnlichkeit zum Vorsatzdelikt: Da in diesem stets ein bestimmtes Verbot negiert wird, z. B. nicht zu stehlen, wird in der tatbezogenen Unrechtsmaxime nie die totale Vemeinung des Rechts erstrebt, s. o. 1. Kapitel B. 11. 2. a). Wo nur eine (unmittelbare) Gestalt verletzt wird, bleibt immer noch der Bezug zum Recht als sich entwickelnder Idee erhalten. Versteht man dieses als die Fundamentalnonn menschlicher Praxis, so fällt lediglich ein spezifischer praktischer Schluß aus, nämlich der, der auf die Anerkennung von Eigentum an Sachgütem ausgerichtet ist. Gegenüber der Fahrlässigkeit liegt dennoch eine grundlegendere Nonnwissensnegation vor. Auf der Grundlage dieses Ansatzes, der Schuld als ein handlungsleitendes Verdrängen der richtigen Einsicht begreift, ist der Hegeische Text zu befragen.

bb) Hegels Verständnis von Willensschuld Hegel versucht im Moralitätsteil der Rph. die aus der Tradition aufgenommene Vorstellung des Verschuldensprozesses mit dem neuzeitlichen Verständnis moralischer Subjektivität zu vereinigen 69. Letzteres wurde oben als ein Wille begriffen, der durch Reflexion in sich die Wechselbezüglichkeit von allgemeinem und besonderen Willen erfaßt und beseelt ist, dieser inneren reflexiven Einheit Objektivität zu geben. Objektivität gewinnt seine Tätigkeit dabei nicht mehr wesentlich Nach M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 336 f. Wie dies Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 281 ff., vorbildlich herausgearbeitet hat. In diese Richtung auch Ilting, Phil Jb. 71, 1963/64, S. 38 ff., 59 ff. Anders die neuhegelianischen Deutungen, dazu Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 175 m. w. N. 68

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in der Natur, sondern in der Subjektivität anderer moralischer Wesen: "Objektivität - ist hier allgemeine Subjektivität _"70. Daraus ergibt sich ein spezifisch moralisches Verständnis von Rechten und Pflichten, die den einzelnen Subjekten obliegen bzw. zustehen und Auswirkungen auf den Begriff der Handlung zeitigen: Dem Recht des subjektiven Willens, daß sein subjektiver Zweck ihm gegenständlich sei, korrespondiert die Pflicht der anderen moralischen Wesen, sein Handeln als normorientierte Tätigkeit zu verstehen. Zugleich entspricht dem Recht der als Objektivität aufgefaßten Subjektivität der Anderen eine Pflicht des einzelnen, moralischen Wesens, seine Zwecke gemäß der Norm zu wählen und zu verwirklichen. Wo beiderseits die Handlung vollständig als eine Verwirklichung der Norm verstanden werden kann, dort findet die Idee des Guten ihr Dasein nicht mehr nur in der Innerlichkeit, sondern im Leben selbst. Allerdings beruht diese Realität auf beiden Seiten noch auf dem besonderen Willen der Subjekte, nur aus Pflicht tätig werden zu wollen. Als ein Sollen kann es eben deshalb von der Willkür bzw. der Endlichkeit des subjektiven Willen von beiden Seiten verfehlt werden. Nicht nur der Handelnde kann sich in Unwissenheit über die Angemessenheit seines Zweckes mit dem Sollen bewegen, sondern auch die Subjekte, die für die einzelne Tat die Objektivität bilden, können die in ihm zum Ausdruck kommende Normrealisierung verkennen 71. Dadurch kann dem Guten die Wirklichkeit versagt bleiben. Im Folgenden wird nur der Verschuldensprozeß im Handelnden untersucht 72 • Die erste Form der Unwissenheit besteht darin, daß die Vorstellung von der Äußerlichkeit bei der innerlichen Wahl eines Zweckes nicht mit den realgegebenen Einzelumständen übereinstimmt. Obwohl Hegel dem Subjekt für jede Bedingung einer Veränderung der Außenwelt, die es durch seine Tätigkeit gesetzt hat, Schuld gibt, so ist dennoch nicht jede Tat zur Willensschuld zurechenbar 73 • Vielmehr markiert es das Recht des Wissens, daß das einzelne Subjekt nur dasjenige als seine Handlung ansehen muß, was seine Vorstellung, sein "Vorsatz" enthielt 74 • Dem entspricht ein Zurechnungsverbot der anderen moralischen WeRph. § 112 Randbem., S. 210. Diese doppelte Kontingenz wird in der Rph. nicht besonders expliziert, folgt aber aus der Vorstellung von Objektivität, die in Rph. § 112, S. 210 ihren Ausdruck findet. Deutlich dagegen Enzykl. § 510, S. 316. 72 Es wird daher unterstellt, daß die anderen Subjekte seine Taten stets richtig deuten. Die Komplikationen die eintreten, wo auch sie fehlgehen, werden im zweiten Kapitel aufgezeigt. 73 Rph. § 115, S.215. Vgl Rph. §§ 117f., S. 217 ff. Ästhetische Einordnung bei Derbolav, in: Riedei, 1975, S. 206 f. 74 Hegels Begriff des "Vorsatzes" entspricht nicht dem der heut~gen Strafrechtsdogmatik; ersterer umfaßt lediglich das Wahrnehmungswissen von der Außerlichkeit, dem der Einbezug erfahrungsgesetzlicher Zusammenhänge noch abgeht, vgl. Rph. § 119, S. 223. Dagegen kommt Hegels Verständnis von ,,Absicht" dem dogmatischen Verständnis nahe, 70

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sen, diejenigen Folgen einer Tätigkeit des Subjekts nicht mehr als seiner Handlung zugehörig zu betrachten, die nicht mehr die Gestalt des zu verwirklichenden Zweckes enthält75 • Ein Beispiel: Wußte der Jäger nicht, daß ihm der Treiber in die Schußbahn springt, so ist er nicht dafür verantwortlich, wenn der abgegebene Schuß den Treiber tötet7 6 • Der Ausfall des Wahrnehmungswissens wird folglich von Hegel stets exkulpiert 77 • Die Wahl eines Zweckes bedeutet aber nicht ein gleichgültiges Einbeziehen der äußeren Realität in die eigene Vorstellung. Vielmehr wird dieses Wahrnehmungswissen unter der Perspektive betrachtet, ob die in ihm repräsentierte Außenwelt die Objektivierung des Zweckes erlaubt. Dies führt zum einen zum Herausnehmen einer besonderen Seite aus der Mannigfaltigkeit der äußeren Umstände. In diesem Sinne bestimmt sich der "Vorsatz" des Subjekts zur "Absicht" fort. In ihr ist enthalten, daß es den äußerlichen Gegenstand - im Absehen von allen sonstigen Eigenschaften - spezifisch nur im Hinblick auf seine Zwecktauglichkeit betrachtet78 • Besteht das Ziel darin, ein Tier zu erlegen, so ist es für das Subjekt z. B. uninteressant, länger über die wahrgenommenen Eßgewohnheiten desselben zu reflektieren. Der Sachverhalt wird eben nur danach betrachtet, wo sich das Tier aufhält und wie es arn besten zu überlisten ist. Umgekehrt enthält dieses Herausnehmen einer besonderen Seite der Außenwelt aber gleichzeitig die Abstraktion von allen anderen Eigenschaften derselben, die nicht im Zusammenhang mit dem vorgesetzten Zweck stehen. So erteilt das Subjekt den Einzelumständen das Prädikat, alle hinreichenden Voraussetzungen für eine erfolgreiche Jagd des Tieres zu enthalten. Damit wird aber zweierlei ausgesprochen: Zum einen werden die mannigfaltigen Einzelheiten auf ihr Allgemeines zurückgeführt; zum anderen wird dieses Allgemeine als die für das handlungsbereite Subjekt gültige Situationsbeschreibung beurteilt19 • Erst ein derartiger Einbezug der Außenwelt macht es dem in seiner Subjektivität noch eingeschlossenen moralischen Wesen möglich und bietet ihm den Anreiz, die Beschränkung seiner Innerlichkeit aufzuheben. Denn erst hier bezieht es sich nicht mehr gleichgültig auf eine vorgefundene Realität, sondern erteilt ihr das Prädikat, an sich eine mögliche Objektivität der eigenen Subjektivität zu sein. Wo es den Zweck in diesem Wissen ausführt, erhält dieses Situationsverständnis allgemeine, auch für andere moralische Wesen zutreffende Gültigkeit. vgl. dazu M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 250 f. Allerdings findet sich selten der Bezug des Vorsatzbegriffs auf die Kategorie des Praxiswissens, vgl. M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 271ff, 269 ff. Ungenau demnach auch Schild ZphF. 35, 1981, S. 463. Die Anführungsstriche verweisen auf Hegels Terminologie. 75 Vgl. Rph. § 118, S. 218. 76 Nachsehr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 315 77 In diesem Abschnitt wird nämlich ein Recht der Objektivität nicht thematisiert. 78 Rph. § 119 Anm., S. 223, § 122, S. 230 79 Vgl. Rph. § 114 Randbem. S. 214. Dazu ausführlich M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 234 ff., 247 ff.

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In dieser Identität macht es zum einen das Recht der "Absicht" aus, nicht nur an sich das Allgemeine der Handlung ausgeführt zu haben, hier die Tötung des Tieres; vielmehr weiß sich das Subjekt in dieser Tat als sich selbst, weil die Tötung gerade die Ausführung des ihm innerlichen Zweckes bedeutet 80. Für andere moralische Wesen bedeutet dies die Anerkennung der Tötung als (alleinige) Tat des Jägers. Zum anderen ist insofern auch das Recht der Objektivität gewahrt, weil der Täter das Allgemeine der Tatumstände in seinem handlungsbestimmenden Wissen parat hatte. "Vorsatz" und "Absicht" thematisieren erst eine notwendige Bedingung der subjektiven Zweckrealisation, die in der adäquaten Kenntnis der Außenwelt besteht, ohne die eine Objektivierung des Willensinhalts von vornherein unmöglich wird. Wesentlich kam es dabei darauf an, der wahrgenommenen Äußerlichkeit vermittels eines Reflexionsurteils das allgemeine Prädikat zu verleihen, taugliches Mittel zu sein 81 • Dieses Urteil bereitet somit den Untersatz für den praktischen Syllogismus auf, dessen Obersatz noch aussteht. Seine Formulierung geschieht in einem zweiten Schritt, in dem der subjektive Zweck selbst danach befragt wird, ob er dem hier als Norm auftretenden Begriffe des Willens angemessen ist. Nur dann (und stets dann) kommt dem innerlichen Zweck die Wirkmacht zu, in der allgemeinen Subjektivität der anderen moralischen Wesen Anerkennung zu finden 82. In der "Absicht" lag das innerliche Setzen eines Zweckes. Wo ein Subjekt seinen inneren Willen auf diesen Inhalt beschränkt, bestimmt es sich erst als subjektiv Besonderes gegen die unmittelbar äußerlich-objektive Besonderheit, aus der es sich herausreflektierte 83 • So kann Hegel daher auch anmerken: "Hier treten wir auf das Bestimmtere des moralischen Bodens."84 Möglicher Zweck ist so neben dem Interesse, selbsttätig die Objektivität zu gestalten, die eigene natürliche Befindlichkeit, die Glückseligkeit. Als Wohl erfaßt er die Erfüllung des eigenen Glücks als Recht des subjektiven Willens. Dieser spezifische Inhalt, der nur dem jeweiligen Subjekt zugehörig ist, enthält aber nur die Möglichkeit, sich im Willen Anderer wiederzufinden. Will sich aber das Subjekt objektivieren, so ist der Gegenstand seiner Handlung die Subjektivität Anderer - nicht dagegen der innerliche Selbstbezug. Diese Reflexion auf die bloße isolierte Gültigkeit des eigenen Wohlbefindens führt zur universalierenden Beurteilung des Wohls. Es wird das 'Wohl anderer, letztlich das Wohl Aller, in die eigene Z weckperspektive einbezogen 85 • Nur wo ich auch das Wohl Ander.er in meiner ZweckverwirkliNach Rph. § 120, S. 225 f. Rph. § 122, S. 229 f. 82 Vgl. Rph. § 114 unter c., S. 213. M. E. besteht darin auch die wahrhafte Verknüpfung des Wohls des einen mit dem des anderen moralischen Wesen, vgl. Rph. § 126 Randbem., S. 235 f. Damit erübrigen sich auch die Bedenken von Siep, HS 17, 1982, S. 79. 83 Rph. § 121, S. 228 f. 84 Rph. § 119 Randbem., S. 224. 80

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chung mit anstrebe, dort kann ich auf die Anerkennung meines Ziels in der intersubjektiven Objektivität rechnen. Mit dem Erfassen der Endlichkeit der Allgemeinheit des Rechts ohne Existenz im besonderen Willen bzw. der Endlichkeit des partikulären Willens ohne universellen Willensinhalt in der Not gelangt man im Guten zu einem Maßstab, an dem der subjektiv gewählte Zweck eines einzelnen moralischen Individuums umfassend gemessen werden kann 86. Die Verwirklichung desselben stellt demnach für Hegel den Ort da, wo das einzelne Subjekt zum Praxiswissen gelangt 87. Aber auch hier ist es so, daß vor der Ausführung dieses Zweckes seine Setzung in der Innerlichkeit des moralischen Wesens erforderlich ist. So kommt es dazu, daß das Bestimmen zur Aufgabe des einzelnen Subjekts wird. Es selbst hat die Aufgabe zu meistern, in jeder einzelnen Situation das konkret Richtige festzulegen: Sein Gewissen muß entscheiden 88 • Zwar erfährt es als Pflicht, das Gute zu verwirklichen 89 • Allein hat das Gute bisher nur die negative Bestimmung, nicht bloß das Recht bzw. allein das Wohl zu sein. Positiv erschöpft es sich in der Abstraktion von beidem 90. Seine Aufgabe ist darin zu finden, daß es den jeweiligen Absolutheitsanspruch von abstraktem Recht und besonderem Wohl abwehrt und beide harmonisiert. Allerdings gibt es noch nicht an, was dies in Bezug auf den Einzelfall zu bedeuten hat. Hier den Obers atz für den praktischen Syllogismus zu bilden, ist und bleibt die Aufgabe des moralischen Subjekts. Die Bestimmungsleistung des Subjekts hat allerdings mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie diejenigen, die in der Willensdialektik im Übergang vom besonderen Moment des Willens zur Einzelheit bereits geschildert wurden: Über die Notwendigkeit, seinen Willen zu bestimmen, droht der Selbstbezug der Allgemeinheit sich in der Besonderheit zu verlieren. Denn für das moralische Subjekt sind als mögliche Bestimmungsgründe des Handeins nur die Triebe, Begierden und Neigungen seines natürlichen Willens vorhanden. Es weiß von der relativen Allgemeinheit des Wohles, daß es dennoch partikulär bleibt. Für den hier interessierenden Zusammenhang heißt das, daß sie als möglicher Zweck nicht für sich geeignet sind, sich in der allgemeinen Subjektivität Anderer zu objektivieren. Als in sich reflektierter besonderer Wille verhält sich demnach auch das sein 85 Rph. § 125, S. 236. Dieser § ist in Anlehnung an die Urteilslogik gegliedert, vgl. WdL. II, S. 326 ff. Vom Wohle der singulären Person wird fortgeschritten zur Gemeinschaft Aller, was ein universelles Urteil darstellt. Dazu auch Rph. § 114 Randbem., S. 214. Zur einen Seite, der partikulären Bedeutung vom Subjekt, Rph. § 26 Zus., S. 78. 86 Rph. § 128, S. 241. Zur logischen Struktur der darin zum Ausdruck kommenden hypothetischen und disjunktiven Urteile, vgl. WdL. II, S. 337 ff., 339 ff. Zum Ganzen auch Bartuschat; in: Hösle, 1989, S. 77 ff. 87 Dazu EIsigan, in: Wiener Jb. f. Phil. 5, 1972, S. 190 ff., M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 255 ff. 88 Rph. § 136, S. 254. 89 Rph. §§ 133, 135, S. 250, 252. 90 Rph. § 135, S. 252. 7 Klesczewski

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Gewissen befragende moralische Wesen bloß negativ zu seinen besonderen Bestimmungsgründen: "Diese Subjektivität, als die abstrakte Selbstbestimmung und reine Gewißheit nur ihrer selbst, verflüchtigt ebenso alle Bestimmtheit des Rechts, der Pflicht und des Daseins in sich, als sie die urteilende Macht ist, für einen Inhalt nur aus sich zu bestimmen, was gut ist ..."91 Hier kommt es zu einer ersten Identität zwischen Gutem und Gewissen: Das Gute als der allgemeine Wille reduziert sich ebenso auf eine Abstraktion wie das Gewissen als der in sich reflektierte besondere Wille 92. In einem ersten Schritt wird so der gewissenhafte Wille, selbst in der Verfehlung, als eine besondere Existenzweise des abstrakten Guten ausgewiesen 93 • Allerdings mangelt es diesem Selbstbezug an Bestimmtheit. Weil aber das Gewissen stets einem einzelnen subjektiven Willen angehört, ist hier insoweit ein Mehr an Bestimmung gegenüber dem bloß abstrakten Guten enthalten: Als Abstraktion von den spezifischen eigenen Willensregungen ist das Gewissen immerhin noch eine Abstraktion innerhalb der Besonderheit selbst und enthält mithin noch die Selbstgewißheit, das Wollen seiner selbst als besonderen Willen: "Hier auf dem formellen Standpunkte der Moralität ist das Gewissen . .. für sich die unendliche formelle Gewißheit seiner selbst, die eben darum zugleich als die Gewißheit dieses Subjekts ist." 94 Wo die Wirklichkeit des Guten vom individuellen moralischen Wesen gesetzt werden soll, dieses aber immer auch die eigene Partikularität zur Geltung bringen will, dort entsteht die Möglichkeit, " ... die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzipe zu machen und sie durch Handeln zu realisieren - böse zu sein." 95 Es fragt sich nun, wie es dem besonderen Willen möglich ist, sich die Partikularität der eigenen Triebe als etwas Positives mit seiner inneren Allgemeinheit des Gewissens Übereinstimmendes vorzustellen. Man könnte ja annehmen, daß für dieses alle spezifische Neigung ein ebenfalls schlechthin Unverträgliches ist. Daraus würde dann folgen, daß entweder gar nicht mehr gehandelt werden kann, oder entweder unwissend oder gar in vollem Wissen des Bösen 96 • Bereits die Analyse der Willensmomente hatte jedoch ergeben, daß jedem partikulären Bedürfnis zugleich ein allgemeines Moment innewohnt: Im Entschluß muß sich jeder Wille auf eine Willensregung beschränken, damit alle anderen ausschließen. Der Wahl eines spezifischen Bedürfnisses kommt so neben der Befriedigung der Rph. § 138, S. 259. Rph. § 141, S. 286. 93 Dazu vgl. Siep, HS 17, 1982, S. 85 f. Hier liegen Bezüge zum problematischen Urteil vor, s. WdL. 11, S. 347 ff. 94 Rph. § 137, S. 255. 95 Rph. § 139, S. 261. 96 Zu dieser Möglichkeiten instruktiv, Phän., S. 464 ff. Dazu Derbolav, in: Riedei, 1975, S. 211 mit Fn. 11 f., S. 215, unter Verweis auf Litt. 91

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Partikularität auch noch die Negation aller anderen Partikularität zu, mit der sich das Gewissen des moralischen Subjekts zusammenschließen kann, um so den gewählten Trieb selbst als etwas (negativ) Allgemeines zu behaupten 97. Auch nach Hegels Verständnis bedeutet böses Handeln demnach nicht, sich zum Teufel zu machen. Vielmehr liegt auch hier die Vorstellung zugrunde, daß von einem Status ursprünglichen Wissens, hier der Kenntnis der Partikularität des Triebes, ein Überlegungsprozeß ausgeht, der im Hervorheben der allgemeine Seite der Regung zu finden ist. Dieser Reflexionsprozeß führt dann zu einem Status der handlungs wirksamen Unwissenheit, in der das spezifische Bedürfnis nicht mehr als etwas Partikuläres, sondern als das Gute gilt 98 • Es macht aber das Recht des subjektiven Willens aus, zur (konkreten) Einsicht in das Gute zu gelangen, wie es das Recht der Objektivität beinhaltet, daß der subjektive Wille das Gute verwirkliche 99. Umgekehrt ist es das Recht des subjektiven Wissens, daß ihm seine Handlung nur nach seiner Kenntnis von ihr als rechtlich oder unrechtlich bzw. gut oder böse zugerechnet wird. Entgegen der Auffassung von Schild darf auch dieser Zurechnungsschritt in der Sittlichkeit nicht aufgegeben werden 100, weil der Vorwurf bösen Handeins sonst zu einer heteronomen Zuschreibung denaturiert. Zwar ist es richtig, daß in der Sittlichkeit nicht mehr die willkürliche Meinung eines Subjekts vom Guten maßgeblich sein kann. Doch aus diesem Grund muß auf die Voraussetzung bösen Handeins nicht verzichtet werden. Denn dieses ist ja gerade dadurch gekennzeichnet, daß der Täter selbst von der Unrechtlichkeit seiner Handlung weiß, in diesem Sinne seine Meinung die Sittlichkeit als solche nicht in Frage stellt. Dabei bedeutet Kenntnis nicht - wie gezeigt - die volle sittliche Einsicht im emphatischen Sinne, sondern das (verstellte) Realwissen von der Partikularität des gewählten Zweckes. Kenntnis ist hier nur im Sinne von "Bekanntschaft" gemeint 101, die nach Hegel nicht die Vollform des Wissens darstellt 102. Dem entspricht die Pflicht einmal des subjektiven Willens, sich positiv das Praxiswissen vom Guten anzueignen, andermal der anderen moralischen Wesen, ihm erstens dabei behilflich zu sein, zweitens ihm nicht Folgen zuzuschreiben, die nicht im "Unrechtsbewußtsein" des Täters lagen 103. 97 Rph. § 140, S.265 mit eingehender Phänomenbeschreibung in der Anmerkung, S. 265 ff., insbes., S. 270 f. 98 Dazu M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 214 ff. 99 Rph. § 132, S. 245. 100 In ZphF. 35, 1981, S. 463. Seelmann (in: Hösle, 1989, S. 108) verweist auf eine Stelle, die das zu belegen scheint: Gemeint ist die Nachschrift Hotho; in: Ilting III, S. 663. Dazu unten 1. Kapitel D. II. 3. b) bb). 101 s. Rph. § 132 Anm., S. 246. 102 Nach dem berühmten Diktum in der Phän., S. 35. 103 Dazu Böning, Unrechtsbewußtsein, 1978, S. 69 ff., 74 ff., der die Problematik aber sehr verkürzt, wenn er Hegel unterstellt, dieser nehme bei Vernünftigen stets an, sie hätten bei Begehung von Straftaten qua Vernunft stets Unrechtsbewußtsein. Seelmann

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Wo das moralische Wesen sich unmittelbar das Gute als Grundnorm seines Handeins durch dessen Nichtanwendung im praktischen Syllogismus verstellt, dort liegt ein vorsätzliches Vergehen gegen das moralisch Richtige vor. Es läßt sich aber ebenso auch ein vermittelter Verschuldensprozeß denken: Genauso wie sich das Subjekt die Partikularität seines Zweckes dadurch verdunkeln kann, daß es auf seine negative Allgemeinheit abstellt, so kann es in der Absicht die Realität auf eine bestimmte Perspektive verkürzen: "Aber die Wesentlichkeit der Absicht ist zunächst die abstrakte Form der Allgemeinheit, und an der empirisch-konkreten Handlung kann die Reflexion diese und jene besondere Seite in diese Form setzen und damit als wesentlich zur Absicht machen oder die Absicht auf sie einschränken, wodurch die gemeinte Wesentlichkeit der Absicht und die wahrhafte der Handlung in den größten Widerspruch (wie eine gute Absicht bei einem Verbrechen) gesetzt werden können." 104 Um schnell schießen zu können mag der Schütze davon abstrahieren, daß zu einer Jagd auch Treiber gehören, die sich in der Nähe der Tiere aufhalten müssen 105. So blendet er die Verletzungsbedeutung seines Tuns für diese aus der Betrachtung der Realität aus. Die Reflexion auf die Außenwelt führte mithin beim Jäger zur Reduktion derselben auf sein Verhältnis zum Tier. Dies war für ihn auch insoweit notwendig, als nur die sofortige Reaktion das Erlegen des Tieres ermöglichte. Damit geht jedoch einher, was hier bedeutsam ist: die Negation der Perspektive, die den Sachverhalt nach der Tötungsmöglichkeit betrachtete. Nur über diese Verneinung ist es dem Schützen hier möglich, sein Tun als mit der Grundnorm des Guten in Einklang vorzustellen. Hier vermittelt sich also das Unwissen um die Unrechtlichkeit des Tuns über die Unwissenheit der Verletzungsgefahr für einen anderen Menschen. Sie beruht ihrerseits nicht auf einem Ausfall der Wahrnehmungsleistung, sondern auf einer unzureichenden Reflexion auf die Außenwelt, mithin einem Überlegungsprozeß 106. Dieser Mangel bedeutet nun für sich noch nicht das Verschulden. Genau wie beim Verstellen der Partikularität des gewählten bösen Zweckes muß für den Schuldvorwurf des weiteren ein gleichgearteter Verdunkelungsprozeß angenommen werden. Dieser unterscheidet sich von dem oben geschilderten dadurch, daß in ihm nicht unmittelbar die Grundnorm guten Handeins durch einen partikulären Zweck ersetzt wird. Vielmehr setzt er hier am Untersatz an. Wo es beim Vorsatzdelikt zur Wahl zwischen zwei Obersätzen kam, liegt hier ein gedoppelter Prozeß vor: Die eine Situationsbeschreibung, welche die Lebensgefahr für den Treiber einbezieht, konkurriert hier mit der anderen, in der es nur auf das Erlegen des Tieres ankommt. Diese beiden Untersätze subsumieren sich unter unterschiedliwendet diese Vorstellung kritisch gegen Hegel, in: Hösle, 1989, S. 106. M. E. wird dies nicht der Hegeischen Rekonstruktion der moralischen Entscheidung in der (praktischen) Anwendung der Urteilslogik gerecht. 104 Enzykl. § 506, S. 314. 105 Fallbeispiel aus der Nachschr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 315. 106 s. M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 259 ff.

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ehe, mögliche Obersätze. Der eine wäre derjenige, in dem der Tod des Treibers der Zweck ist, im anderen dagegen befindet sich der Zweck im Rahmen des Rechtlichen. Wo nun der Schütze trotz seiner Wahrnehmung der Einzelheiten des Falles die Gültigkeit der Lagebeurteilung, die auf Lebensgefahr verweist, zugunsten des Jagderfolges verdunkelt, verstellt er sich zugleich die Unrechtsbedeutung seines Tuns. Dadurch erscheint dieses - nun mittelbar - als rechtlich. Wirksam wird hier also ebenfalls eine Unwissenheit, die sich letztlich auf die mangelnde Applikation des sittlich Richtigen auf den einzelnen Fall gründet 107. Darin liegt die in Fahrlässigkeit bestehende Schuld 108. Mit dieser Entfaltung des Begriffs der Willensschuld wird präzisierbar, wie die negative und die positive Existenz des Verbrechens auch im Bewußtsein des Täters anwesend ist. Indem er sich das rechtlich Richtige verstellt, verneint er in sich die Geltung des allgemeinen Willens, was die negative Seite des Verbrechens ausmacht, s. o. 1. Kapitel B 11. 2. a). Die positive Existenz Verbrechens liegt dagegen darin, die Unrechtsmaxime als Obersatz in den praktischen Schluß einzuführen.

ce) Das affirmative Moment am bösen Willen Genau wie das Verbrechen nicht eine schlechthin nur negative Willensäußerung darstellt, kann auch am bösen Willen das Moment der positiven Besonderheit aufgezeigt werden. Es liegt zum einen darin begründet, daß in ihm der Widerspruch des Willens mit sich nicht nur an sich vorliegt, sondern zugleich auch im Inneren des Subjekts als selbstgesetzter Selbstwiderspruch anwesend bleibt. Zum zweiten enthält der böse Wille gegen dem bloß abstrakt gebietenden Guten die Spitze der für sich seienden Subjektivität 109. Weil das Gute als unbedingte Pflicht notwendig von der Subjektivität des Einzelnen abstrahieren muß, ist es gezwungen, von jenem zu fordern, ohne jegliche subjektive Beteiligung nur aus Pflicht das Gute zu erfüllen. "Die abstrakte Reflexion fixiert aber dies Moment in seinem Unterschiede und Entgegensetzung gegen das Allgemeine und bringt so eine Ansicht der Moralität hervor, daß diese nur als feindseliger Kampf gegen die eigene Befriedigung perenniere ..." 110 Im bösen Handeln setzt sich der subjektive Wille dieser Anmaßung entgegen und enthält als positives Moment mithin die Forderung, daß im Pflichtengehorsam das Prinzip der Besonderheit, wie es Hegel unter anderen als Liebe identifiziert 111, nicht untergehen darf. 107 Anders Schild, der den Vorwurf der Fahrlässigkeit unter Abstraktion von einem Verschuldensprozeß auf die Vorhersehbarkeit der Tat bezieht, in: ZphF 35, 1981, S. 463 f. Ähnlich auch schon Larenz, Hegels Zurechnungslehre, 1927, S. 75 ff. 108 Es ist häufig bestritten worden, daß Hegel ein fahrlässiges Delikt anerkennt, vgl. die kritische Auseinandersetzung bei M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 200 ff. m. w. N. Seine positive Begründung (ebda., S. 259 ff.) wurde hier übernommen. 109 Rph. § 140 mit Anm., S. 265 ff. 110 So die berühmte Stelle in Rph. § 124 Anm., S. 233.

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1. Kap. C. Verbrechenslehre und Moralität

Erst wenn man diese Urteilsvollzüge zugrundelegt, wird recht verständlich, wie beim Verbrechen der Übergang stattfindet von einem unmittelbar dem Rechte konformen, einzelnen Willen zu einem solchen, der sich in den Gegensatz zum an sich seienden Willen stellt. Die Moralität zeigt nun, daß hinter diesem Wechsel der Willensinhalte die Reflexionsleistung und -freiheit des autonomen, moralischen Subjekts steht, das aus sich heraus den Bestimmungen seines Strebens Allgemeinheit zuweist 112. Daß der subjektive Wille böse sein kann, markiert somit ebenfalls einen Fortschritt an Freiheit gegenüber einem naturwüchsig rechtschaffen handelnden Willen 113. Man darf daher den bösen Willen, die Innenseite des Verbrechens, ebenfalls nicht als Rückfall hinter den Stand der Freiheitsverwirklichung interpretieren. Vielmehr kommt hier das Moment der für sich seienden Besonderheit zur vollen Entfaltung, in dem sich die Reflexion über ein nur abstraktes Gebot des Guten notwendig setzen muß, um zu einer das praktische Leben bestimmenden Macht zu werden 114. Jeden Entschluß zu handeln erkauft sich das moralische Subjekt also bisher dadurch, daß es sich selbst den verfolgten partikulären Zweck als etwas Allgemeines vorgaukelt. War es im abstrakten Recht noch so, daß nur für den allgemeinen Willen der verbrecherische Wille ein Widerspruch in sich gewesen ist, so setzt der subjektive Wille sein böses Handeln jetzt auch für sich als einen Selbstwiderspruch. Darin kommt die moralische Seite der Selbstaufhebungstendenz zum Ausdruck, die dem Verbrechen an sich anhaftet 115. Für das Subjekt selbst stellt nunmehr die eigene partikuläre Besonderheit etwas Nichtiges und zu Überwindendendes dar. Schon vor seinem inneren Auge muß daher das Subjekt sich diesen Mangel seines Tuns zugestehen. Zwar kann die Reflexion ihm diese Seite des eigenen Willens verdunkeln. Doch spätestens dort, wo sich sein böses Handeln im Verhalten anderer gegen ihn verallgemeinert, steht ihm die eigene Verfehlung objektiv gegenüber 116. Die Alternative zum bösen Handeln liegt aber nicht darin, mit dem Handeln aufzuhören 117. Damit würde das Subjekt nicht nur für sich verschwinden, denn es gilt folgendes: "Was das Subjekt ist, ist die Reihe seiner Handlungen. "118 Mit dem Subjekt ginge auch dem allgemeinen Willen diejenige Existenz verloren, Rph. § 124 Anm., S. 233. Vgl. Enzykl. § 502, S. 311, M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 260. 113 Rph. § 139 Anm. u. Zus., S. 262, 265. 114 Rph. § 139 Anm., S. 262. Logische Parallele ist das problematische Urteil, WdL. II, S. 347 ff. 115 So dezidiert M. Köhler, in: FS Lackner, 1987, S. 21. 116 Eingehend zu diesem immanenten Prozeß der Aufhebung des Bösen die Phän., S. 485 ff. Erhellende geschichtsphilosphische Bezüge bei G. Heintel, in: FS E. Heinte!, 1972, S. 141 ff. Zur Einordnung in die Anerkennungstheorie s. Siep, Anerkennung, 1979, S. 111 ff. 117 Dazu Phän., S.487. 118 Rph. § 124, S. 233. 111

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H. Die Folgen für den Verbrechensbegriff

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in der er allein ein angemessenes Dasein haben kann 119. Genau wie in der allgemeinen Willensdialektik kommt es jetzt darauf an, die Negativität, die der bloßen Besonderheit im Gegensatze zur Allgemeinheit anhaftet, gegen sie selbst zu kehren. Für das moralische Wesen bedeutet dies, nach denjenigen Neigungen zu handeln, deren Inhalt gerade die Aufhebung der eigenen bloß für sich seienden Besonderheit intendiert. Eine solche Neigung kommt dem Menschen unmittelbar als Gattungswesen in der Liebe zu 120. Liebe als unmittelbare Einheit von einzelnem und allgemeinem Willen ist danach nicht nur ein Natursachverhalt l21 , sondern sie ist einer moralisch-reflexiven Begründung als Pflichinhalt zugänglich. In der Liebe reduziert sich das Streben des subjektiven Willens nicht mehr auf die Befriedigung seiner selbst. Denn als solche würde er in der Partikularität verharren, die für ihn selbst als zu überwindende Willensregung gesetzt ist. Vielmehr verlangt die Empfindung der Liebe gerade die personale Einheit mit einem anderen selbstbewußten Wesen, in welcher der eigene besondere Wille nur noch Moment des Ganzen ist. In der Liebe bezwecke ich gerade durch die vollständige Anerkennung meines Gegenübers, in ihm dieselbe Neigung hervorzurufen. In seiner (wohl-)tätigen Subjektivität ist mir daher ein Wille gegenständlich, der dem meinen in der Achtung von Personalität und Bedürftigkeit des anderen vollständig gleicht. Aus Liebe zu handeln, bedeutet demnach die eigene Individualität als Besonderung eines gemeinschaftlichen Geistes zu verstehen, die sich dadurch in der Welt zur Geltung bringt, daß man sich als ein Glied der gemeinschaftlichen Beziehung empfindet 122. Der Wille, diese Beziehung aufrechtzuerhalten, tritt vor das Ziel, die eigene Selbständigkeit gegen den anderen zu behaupten. In der erwiderten Liebe ist daher das Gute nicht nur eine abstrakte Grundnorm des menschlichen Verhaltens, sondern eine lebendige Realität 123. Daraus wird deutlich, daß die Realität dieses sittlichen Verhältnisses in höchstem Maße vom Zusammenstimmen der individuellen Verfaßtheit der miteinander kommunizierenden Individuen abhängt. Ein Moment der Kontingenz und Endlichkeit schwingt hier mit 124. Höchstes Gebot ist es zwar, anderen mit Liebe Rph. § 106, S. 204. Rph. § 161, S. 309 f. Näher dazu EIsigan, Sittlichkeit, 1972, S. 113 ff., 169 ff. 121 So aber Blasehe, in: Riedei, 1975, S. 328. 122 Rph. §§ 158,162 Anm., S. 307,311. Die Leistung der Familie, Einsicht in das Sittliche zu verschaffen, betont auch Nusser, ZphF. 35, 1981, S. 559. 123 Zur Hochschätzung, die Hegel der Liebe entgegenbrachte vgl. Rph. § 7 Zus., S. 57. § 158 mit Zus., S. 307 f.; Enzykl. § 436 mit Zus., S. 226 f. Vgl. w. Entwürfe, S. 239 ff., 242,244 ff.; WdL. 11, S. 277. Blasehe, in: Riedei, 1975, S. 312 ff. m. w. N. u. EIsigan, Sittlichkeit, 1972, S. 86 ff., 113 ff., 132 ff., 169 ff. 124 Dem entspricht in der Logik das apodiktische Urteil, weIchem dem Subjekt Partikularität als diejenige Eigenschaft zuweist, die es kennzeichnet, sie aber als durch den im Prädikate enthaltenen Begriff gesetzt faßt, s. WdL. H, S. 349 ff. Vgl. Lakebrink, Hegels Logik, Bd. H, 1985, S. 122. Zur Problematik im Gewissen, dieses Wissen von der eigenen Endlichkeit zu überwinden, instruktiv, G. Heintel, in: FS E. Heintel, 1972, S. 132 ff., 141 ff. 119

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1. Kap. C. Verbrechenslehre und Moralität

zu begegnen. Wo Liebe herrscht, kann diese an Hand dieser Grundnorm auch als zu pflegende Ursache substantiell-sittlicher Verhältnisse in der Welt identifiziert werden 125. Dennoch kann die Erfüllung dieser Pflicht schwerlich vom bloßen moralischen Selbstzwang abhängig gemacht werden; wenn nicht auch eine emotionale Bindung, eine Neigung für den anderen, handlungsleitend ist, würde es gerade an der Beteiligung auch der eigenen Subjektivität, dem wahren Boden der Freiheit, bei der Konstitution dieser Beziehung zu anderen fehlen. Weil der an sich seiende Wille dieser Subjektivität bedarf, um Wirklichkeit zu gewinnen, macht es das Recht der Subjektivität aus, wie man formulieren könnte, daß der an sich seiende Wille diese Verfassung derselben anerkennen muß 126. Die Natur des liebenden Willens ist nicht die eines zielstrebigen Gestaltens, " ... sondern die eines fast unbewußten, jedenfalls nicht künstlichen Lebens und Webens."127 Mit der Liebe als Ausgangspunkt der substantiell guten Gestaltung des Lebens beginnt die Sittlichkeit bei Hegel daher erstaunlicherweise mit einem Phänomen, dessen Wirklichkeit von Zufällen abhängig bleibt. Diese Kontingenz der Realität des Guten relativiert sich allerdings schon darin, daß alle moralischen Subjekte als Gattungswesen notwendig erzeugt und erzogen worden sind, somit selbst immer schon in einem Zusammenhang leben, in dem Liebe zumindest dem Idealtype nach das leitende Handlungsprinzip bildet: Als Kind war jedermann Gegenstand der elterlichen Liebe 128. Von dieser Zufälligkeit, die der Verwirklichung von Liebe anhaftet, ist jedoch scharf die Schlüssigkeit der Deduktion zu trennen, welche die Liebespflicht als dasjenige Gebot ableitet, dessen Befolgung das Böse aufheben kann. Es zeigt sich damit, daß es nicht der Inhalt des natürlichen Willens als solcher ist, der eine Handlung böse werden läßt. Vielmehr bedarf es eines Willküraktes des subjektiven Willens, ihn in den Gegensatz zum allgemeinen zu bringen. Dort, wo der subjektive Wille sich in Überwindung seiner eigenen Besonderheit mit der Subjektivität anderer verbindet, dort erlaubt der Rückgriff auf die natürlichen Triebe eine Entfaltung auch der Besonderheit der einzelnen Subjekte, die auch im Willen anderer allgemein anerkannt werden kann 129. Die Besonderheit zum Prinzipe zu erheben, heißt folglich, den natürlichen Willensinhalt nicht als eine Besonderung allgemeiner Subjektivität zu behaupten, sondern als Ausdruck der eigenen partikulären Einzelheit. Nicht nur die Wahl eines bloß besonderen Zweckes macht demnach das Handeln böse, sondern auch 125 Allgemein zu dieser positiven Funktion des Sollens, O. Marquardt, Phil. Jb. 72,

1964/65, S. 110 f. 126 Vgl. Rph. § 141 Zus., S. 291. 127 So Bloch, Subjekt / Objekt, 1971, S. 66 f., der die Aufnahme dieses romantischen

Motives als allgemeines Kennzeichen der Hegeischen Philosophie herausstellt. 128 s. Rph. § 173, S. 325 f. 129 Dazu gut Rph. § 141 Randbem., S. 288 f. Instruktiv Siep, HS 17, 1982, S. 86. Zur inhaltlichen Identität von Tugenden und Trieben s. Rph. § 150 Anm., S. 300.

11. Die Folgen für den Verbrechensbegriff

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das Festhalten der Zufalligkeit des natürlichen Willensinhaltes, sowohl gut als auch böse sein zu können 130. Man kann deshalb zwei Seiten des bösen Willens unterscheiden: Zum einen liegt das Böse im Inhalt des Willens selbst, dem keine konkrete Allgemeinheit zukommt 131; zum anderen ist es aber die bloße Form des Willens, nur seine Willkür gelten zu lassen, die den Grund des Bösen darstellt. Letzteres tritt äußerlich in der Gestalt unsteten Lebenswandels auf, das eine Mal das Gute, das andere Mal das Böse zu tun. Hierin liegt die Spitze des sich in sich verschließenden, moralischen Wesens, das die eigene Haltlosigkeit zum Prinzipe ausbildet 132. Auf dieser Grundlage werden sich auch zwei unterschiedliche Formen habituellen Verschuldens auseinanderhalten lassen: Einmal erschöpft sich der böse Wille nicht in der einmaligen Ausführung seines Zweckes, sondern vertieft sich derart in ihm, daß er zum Leitstern seiner Lebensführung wird. Andermal lehnt das Subjekt jegliche Bindung an andere ab und habitualisiert Haltlosigkeit. In ihr entpuppt sich das moralische Wesen, das seine Subjektivität als Willkür verabsolutiert, selbst als eine Form eingewohnter Lebensweise. b) Der habituelle Verschuldensprozeß Sowohl bei Aristoteles als auch bei Hegel nimmt die Gewohnheit für das Verständnis von Sittlichkeit eine herausragende Rolle ein 133. Dagegen bildet die eingeübte Schlechtigkeit nur eine Sonderform besonders intensiver Abkehr vom sittlichen Leben. Deshalb bietet es sich an, zunächst den Prozeß zu schildern, in dem sich das Wissen vom Tugendhaften im Wollen zur festen Haltung ausprägt, um dann auf das habituelle Verschulden näher einzugehen.

aa) Hexis als zweite Natur des Menschen Die Wichtigkeit der Hexis, der Haltung, im Rahmen des tugendhaften Handeins entwickelt sich schlüssig aus dem Aristotelischen Konzept des Praxiswissens: Denn schon dort war es so, daß nicht das Realwissen vom sittlich Richtigen als hinreichende Bedingung guten Handeins angesehen wurde, sondern vielmehr erst seine Anwendung auf den Einzelfall. Ist aber die Applikation der Ort, an dem man zum sittlichen Wissen im Einzelfall gelangt, so ist es nur konsequent anzunehmen, daß, je öfter man Realwissen anwendet, desto intensiver das Praxiswissen wird. Auf die Rolle der Hexis geht Aristoteles im Rahmen seiner Nikomachischen Ethik deshalb auch an herausgehobener Stelle ein: 130 131 132

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Rph. § 139 Anm., S. 261. Deutlich in EnzykI. § 511, S. 317. Vgl. Rph. § 139 Anm., S. 261 f. Eingehend zu beiden Funke, in: Arch. f. Begriffsgesch. 3, 1958, S. 46 ff., 496 ff.

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1. Kap. C. Verbrechenslehre und Moralität

"Die Tüchtigkeit ist also zweifach: es gibt Vorzüge des Verstandes ... und Vorzüge des Charakters ... Die ersteren nun gewinnen Ursprung und Wachstum vorwiegend durch Lehre, weshalb sie Erfahrung und Zeit brauchen, die letzteren sind das Ergebnis von Gewöhnung ... Somit ist auch klar, daß keiner der Charaktervorzüge uns von Natur eingeboren ist ... Die sittlichen Werte dagegen gewinnen wir erst, indem wir uns tätig bemühen." 134 Es fragt sich nun, wie einer tugendhaften Handlung über ihre unmittelbare Wirkung hinaus, dem Subjekt im Einzelfall zum Praxiswissen zu verhelfen, noch die Kraft zukommt, eine auf Wiederholung ausgerichtete Grundhaltung zu erzeugen. Aristoteles begründet dies mit einer Analogie: " ... die wiederholten Einzelhandlungen bewirken einen entsprechenden Grundzustand. Dies sieht man an Menschen, die sich für irgendeinen Wettkampf oder eine Tätigkeit üben: sie wiederholen fortwährend denselben Krafteinsatz. "135 Was für das Erlernen von Geschicklichkeiten gilt, muß nach ihm auch für die Ausübung der Tugenden wichtig sein. Denn beides sind Tätigkeiten der menschlichen Seele 136. Die Evidenz dieses Sachverhaltes ist demnach für den Griechen so groß, daß er keine weiteren Argumente anführt. Es läßt sich aber dem Aristotelischen Verständnis von Praxiswissen selbst schon entnehmen, wieso die Wiederholung von Einzelakten besondere Bedeutung erlangt, wo es um den Erwerb sittlicher Einsicht geht. Anders als theoretische Erkenntnis erfaßt Phronesis nicht lediglich das Allgemeine und Unwandelbare der Dinge: "Das Wesen sittlicher Einsicht ist Handeln. Man muß also beide Formen haben (die auf das Allgemeine und die auf das Besondere gerichtete Einsicht) oder die letztere in höherem Grade als die erstere." 137 Für das Tugendwissen ist es mithin weniger entscheidend, sein Grundprinzip, für Aristoteles das Streben nach sich selbst genügendem Glück, zu kennen, denn in diesem Vorsatz stimmen eigentlich alle Menschen überein 138. Die praktische Erkenntnisleistung besteht vielmehr in der Konkretisierung dieses Gedankens und dabei insbesondere in der sicheren Entscheidung in der jeweiligen Handlungssituation. Hier steht die sittliche Einsicht in einem gewissen Gegensatz zu demjenigen intuitiven Verstand, der die letzten Prinzipien des Seins erfaßt 139 • Dennoch 134 NE 11, 1 1103a 14 ff. Zu diesem Verhältnis von Tugend und Hexis s. Hutchkinson, Virtues, 1986; Walker, Philosophy 64, 1989, S. 349 ff. l35 NE m 7 1114a 11 ff. 136 NE 11 1 1103a 32 ff. 137 NE VI 8 1141b 36 ff. Hervor. v. Verf. 138 NE I 2 1095a 23 ff. 139 NE VI 9 1142a 27 f. Zum komplizierten Verhältnis beider zueinander bei Aristoteles, s. Bien, Grundlegung, 1973, S. 163 ff., Höffe, Praktische Philosophie, 1970, S. 66 ff., Joachim, Nichomachean Ethics, 1951, S. 24 ff., Riedei, Phi!. Jb. 77, 1970, S. 2 ff. Um Vermittlung von Theoria und Ethik bemüht ist Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 9 ff.

11. Die Folgen für den Verbrechens begriff

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ist aber auch im Praktischen eine spezifische Form der Intuition erforderlich: nur geht sie umgekehrt auf den adäquaten Einbezug der Mannigfaltigkeit empirischer Einzelheiten 140. Während der intuitive Verstand Grundkategorien liefert, dient die praktische Anschauung dazu, induktiv, derart konkrete Prämissen zu ermitteln, die geeignet sind, den unmittelbaren Handlungsentschluß zu motivieren 141. Wer so aus den verschiedenen Entscheidungssituationen Gemeinsames und Trennendes herausarbeitet, kann zu praktischen Sätzen gelangen, mit denen er das jeweils Wesentliche am Einzelfall schnell und zuverlässig erschließen kann, wie folgendes Beispiel veranschaulicht: "Wenn jemand nämlich (ganz allgemein) wüßte, daß Fleisch, wenn es leicht ist, gut verdaulich und somit gesundheitsfördemd ist, jedoch nicht wüßte, welches Fleisch leicht ist, so könnte er keinen Heilerfolg erzielen. Wer dagegen weiß, daß Geflügelfleisch leicht und gesund ist, kann eher zu einem Heilerfolg kommen." 142 In Entsprechung zum Vorgehen der Naturwissenschaft, wo der Wahrheitsanspruch einer These mit dem Umfang desjenigen empirischen Materials steigt, auf das sie sich stützt, führt auch wachsende praktische Erfahrung im Bereich der Ethik dazu, daß Obersätze sittlichen Realwissens mit größerer Sicherheit in praktischen Schlüssen konkretisiert werden 143. Das ist ohne weiteres einsichtig bei der Einübung in die praktische Geschicklichkeiten, Körper und Geist zu beherrschen. Hier gehen die erlernten Fertigkeiten ja unmittelbar über in die Anwendung auf die einzelne Situation, einen sorgfältigen Einbezug der maßgeblichen Sachverhaltselemente gewährleistend. Dem steht nicht entgegen, daß Aristoteles an anderer Stelle behauptet, der Besitz von Wissen bedeute für den Erwerb sittlicher Vorzüge wenig 144. Dort meint er die rein theoretische Erkenntnis, nicht aber technische Verhaltensregeln 145. Es gilt aber in gleicher Weise für die Normkonkretisierung, die auf Ableitung des unmittelbar handlungsmotivierenden Obersatzes abzielt. Erfahrungen mit Vor-und Nachteilen verschiedener Maximen erlauben es, hier auch den akuten Ansturm einer Strebung zu bändigen. Dies ist die eigentliche Stelle, an der sich ein besonnener Mensch auszeichnet 146. Der Hinweis auf den drohenden Zahnschmerz vermag so auch die Lust auf Süßigkeiten auf das rechte Maß zu beschränken. Schließlich geht Aristoteles auch davon aus, daß auch das zwischenmenschliche Verhalten ebenfalls durch eine Reihe gelungener Kontakte gefestigt wird: 140 NE VI 12 1143a 54 f. Dazu E. A. Schmidt, NE, 1969, Anm. VI. 51, S. 334, der zu recht darauf hinweist, daß Aristoteles seinen zunächst nur für die theoretische Erkenntnis gebrauchten Begriff jetzt in einem erweiterten Sinne versteht. 141 NE VI 12 1143b 2 ff. 142 NE VI 8 1141b 21 ff. 143 Zu Aristoteles Vorstellung von der Rolle der Induktion s. Analytica posterioria 71a 1 f., 71b 21 f., NE VI 3 1139b 40 ff. 144 NE 11 3 1l05b 1 ff. 145 Vgl. dazu Dirlmeier, NE, Erläuterungen, 1979, 33, 2, S. 307 m. w. N. 146 NE VII 2 1145b 16 ff.

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l. Kap. C. Verbrechens lehre und Moralität

"So ist es denn auch bei den sittlichen Werten. Denn durch das Verhalten in den Alltagsbeziehungen zu den Mitmenschen werden die einen gerecht, die anderen ungerecht." 147 Die Tauglichkeit der guten Einzelhandlungen, situativ ausgerichtete Entscheidungsmaximen für mögliche Untersätze praktischer Syllogismen zu verfestigen und zu verallgemeinern, ist jetzt aufgewiesen worden. Es ist nun näher auf den Prozeß einzugehen, in dem sich eine Gewohnheit herausbildet. Für jeden Menschen, der ein besonnenes Leben führen will, erweitert sich die Pflicht, sein sittliches Realwissen stets anzuwenden, zu dem Gebot, sich eine tugendhafte Grundhaltung einzuüben. Denn nur so kann das Schwanken in der jeweiligen Situationsanforderung eingedämmt werden 148. Grundnorm der Ethik ist also genaugenommen, ein wertvoller Mensch zu werden 149. Keine höheren Rang, sondern eine abgeleitete Stellung nimmt also dagegen die Pflicht ein, in jedem Einzelfall besonnen und gerecht zu handeln. Der Obers atz im unmittelbar entscheidungsrelevanten praktischen Schluß erweist sich demnach auch in diesem Sinne rückbezogen auf einen allgemeineren Syllogismus, dessen erste Prämisse das Habitualisierungsgebot ist. Aus ihm folgt nicht nur, an sich ständig gute Handlungen vorzunehmen, sondern dies zudem im Realwissen um die Tugendhaftigkeit des eigenen Verhaltens zu tun 150. Denn nur eine solche Handlung führt zur Phronesis und ist also fähig, eine entsprechende Grundhaltung aufzubauen. Letztlich verdient auch nur eine derartige Verhaltensweise uneingeschränktes Lob, weil nur sie im Vollsinne aktuell freiwillig ist l51 • Am Beginn eines solchen Gewöhnungsprozesses steht also ein durch Belehrung oder Nachahmung etc. erworbenes Realwissen vom sittlich Richtigen. Zu ihm gehört auch die Überzeugung, es ständig einzuüben. Dennoch wird in der Anfangsphase das betreffende Subjekt noch häufig der mehr oder minder starken Erregung seiner sinnlichen Lüste ausgesetzt sein, die ihm bei der jeweiligen Prämissenbildung eine Handlungsalternative vorgaukelt. So wird sich der Prozeß der Haltungsbildung anfänglich schwankend vollziehen. Mit der Zeit schwindet aber die Anfälligkeit des Subjekts für die durch die niederen Gelüste motivierten Überlegungen: "Als Anzeichen, ob man bereits eine feste Grundhaltung erlangt hat, muß man das Gefühl von Lust und Unlust nehmen, das sich bei den einzelnen Akten einstellt. Wer Sinnengenuß von sich femhält und eben darüber Freude empfindet, der ist besonnen; wer sich nur widerwillig überwindet, ist haltlos." 152 NE II 1 l103b 17 ff. Vgl. NE II 9 l109a 30 ff. u. VII 11 1152a 12 ff. Dazu Dirlmeier, NE, Erläuterungen, 1979,42,4, S. 317 f. 149 So die berühmte Stelle in NE II 2 l103b 26 ff. 150 Zu den Elementen einer sittlichen Handlung vgl. NE II 3 1l05a 47 ff. -1105b l. 151 NE III 2 lllOb 28 ff. mit NE VII 5 1147a 18 ff. 152 NE II 2 II04b 6 ff. 147

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11. Die Folgen für den Verbrechensbegriff

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Schließlich gerät die Affizierung durch sinnliche Antriebe fast gänzlich aus dem Bereich praktischer Relevanz. In diesem Stadium stützen sich erworbene allgemeine Gewohnheit und ausgeführte Einzelhandlung gegenseitig: Der einzelne sittlich-richtige Akt bestätigt die Haltung, diese erleichtert dagegen die überlegte Entscheidung. Der treffliche Charakter verleiht dem Verhalten der Menschen so eine Schwerkraft, die einem naturgesetzlichen Zusammenhang ähnelt. Da dessen Herstellung jedoch über eine Tätigkeit der Seele vermittelt ist, kann nur im übertragenen Sinne von einer zweiten Natur des Menschen gesprochen werden 153. Erst diejenigen Handlungen, die aus dieser Verfassung heraus erfolgen, tragen für Aristoteles zu recht das Prädikat gut: "Er (der Mensch, D. K.) muß erstens wissentlich, zweitens auf Grund einer klaren Willensentscheidung ... und drittens muß er mit fester und unerschütterlicher Sicherheit handeln." 154 Wie die Applikation des sittlichen Wissens auf die Situation so ist auch die Einübung einer Gewohnheit anfällig für aktuelle Unwissenheit des handelnden Subjekts. Entsprechend der Stufung im Schlußverfahren ergeben sich mehrere Möglichkeiten, an denen die Unkenntnis sich auswirken kann. Zunächst kann dem Handelnden das Gebot unbekannt sein, durch stetiges Einüben ein wertvoller Mensch zu werden. Dann kann das Wissen fehlen, daß der Einzelakt nicht die Kriterien eines Verhaltens erfüllt, aus dem sich ein trefflicher Charakter entwikkein läßt. Dies kann nun einmal daran liegen, daß dem Betroffenen allgemein das Erfahrungswissen fehlt, daß sich aus einer Reihe von Handlungen ein entsprechende Grundhaltung ergibt. Zum anderen kann er in den oben beschriebenen Weisen über die sittliche Qualität seiner konkreten Verhaltensweise irren. Jeder Fehler innerhalb einer Prämisse des einen Syllogismus wirkt fort auf den anderen Schluß. Wo sowohl der Obersatz des Habitualisierunsgebotes als auch der Untersatz des Erfahrungswissens der haltungsbildenden Kraft sittlicher Einzelakte vorliegt, dort kann dennoch ein Mangel im Syllogismus der konkreten Handlung dazu führen, daß keine Verfestigung des sittlichen Wissens erfolgt. Umgekehrt kann eine Tat, isoliert betrachtet, zwar gut sein, obwohl eine Prämisse in demjenigen Syllogismus fehlt, der über die Haltungsbildung befindet. Dennoch ermangelt diesem Verhalten das volle Aufscheinen der Phronesis, weil das Habitualisierungsgebot nicht angewandt worden ist. Es liegt im letzen Fall eine unmittelbare Verfehlung der Grundnorm der Vervollkommnung vor, während im ersteren Fall diese nur mittelbar negiert wird. Das Faktum der Unwissenheit sagt aber auch hier noch nichts aus über das Verschulden. Der Wissensmangel muß bei der habituellen Verfehlung ebenfalls in causa freiwillig gewesen sein. Zwar findet sich bei Aristoteles auch die Überlegung, der Schuldige sei möglicherweise ein Mensch, dem es nicht gegeben sei, 153 So Funke, in: Arch. f. Begriffsgesch. 3, 1958, S. 49. Dazu auch Rassow, Nikomachische Ethik, 1874, S. 128 f. 154 NE 11 3 l105a 47 ff. -l105b 1.

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1. Kap. C. Verbrechenslehre und Moralität

achtsam zu sein 155. Daraus folgt aber nicht, daß der Grieche dem Menschen sein "So-Sein" vorwerfen will 156. Denn er fügt sofort an: "Gewiß, aber daß es soweit gekommen ist, das haben sie selbst verschuldet, und zwar durch ihr unbeherrschtes Leben ... " Als mögliche Gründe, die dazu führen können, daß das Realwissen vom sittlich Geforderten nicht appliziert wird, nennt Aristoteles neben der "Unbeherrschtheit" noch die habituellen Verschuldensformen "Minderwertigkeit" und "tierisches Wesen" 157. Während letztere nur die Extremform dauernden Einsichtsverlustes bezeichnet, setzt die "Minderwertigkeit" einen Prozeß habituellen Verschuldens voraus, der seinerseits auf fortwährendem, freiwilligen "unbeherrschten" Leben beruht 158. Dieser Weg zum selbstvermittelten verfestigten Einsichtsverlust ist nun nachzuzeichnen. Wo sich das Subjekt entschließt, eine unsittliche Maxime auszuführen, negiert es zunächst die Geltung des Guten für den Einzelfall. Das Verdrängen des sittlichen Wissens aus dem Obersatzes macht aber zugleich die Anwendung des Habitualisierungsgebotes im vorausgehenden Syllogismus unmöglich. Dies kann einerseits ausdrücklich geschehen, indem der Handelnde zugleich auch sein Realwissen von der Einübungspflicht verdrängt.Dann läge auch auf der zweiten Ebene ein vorsätzliches Verstellen des sittlichen Wissens vor, so daß man im Voll sinne von einer vorsätzlichen "unbeherrschten" Lebensführung sprechen kann. Es kann jedoch das Unwissen vom Verstoß gegen das Habitualisierungsgebot auch im Verdrängen der Tatumstände beruhen. Allerdings ist dieses jetzt komplexer strukturiert als beim Irrtum bezüglich des Einzelaktes. War es dort nur ein Aspekt in der Situationserfassung, der die Unkenntnis über Tatumstände begründet hat, so ist es hier die ganze Tat selbst, die das Faktum darstellt, über das sich der Täter irrt. Zwar führt er bewußt eine unsittliche Maxime aus; dies geschieht für ihn aber in dem Schein, sie sei eine Konkretisierung der sittlichen Grundnorm im Einzelfall. Folglich enthält jeder vorsätzliche Verstoß gegen eine Norm per se die Vorstellung, auch dem Habitualisierungsgebot zu genügen! Wie bei der Fahrlässigkeit im Untersatz die eine Sachverhaltsbeschreibung mit einer anderen konkurriert, so bildet sich der Kampf der Obersätze im einzeltatbezogenen Schluß auf den allgemeinen Syllogismus ab, der das Habitualisierungsgebot konkretisiert. Das Verstellen des richtigen Normwissens bezüglich der einzelnen Tat vermittelt demnach die mangelnde Applikation der Einübungspflicht. Es fragt sich nun, ob dies ausreicht, dem Betreffenden auch einen Vorwurf hinsichtlich der fehlenden Eingewöhnung in das Gute zu machen. Mir scheint, daß Aristoteles diese Frage bejahen würde: Er geht nämlich grundsätzlich davon aus, daß jedermann weiß, daß die Wiederholung haltungs bildend im Guten wie NE III 7 1114a 7 ff. So aber Liepmann, ZStW 39, 1918, S. 126 ff. Gegen ihn auch Welzel, Vom irrenden Gewissen, 1949, S. 8. 157 NE VII 1 1145a 15 ff. 158 NEIII71114a7ff. 155

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H. Die Folgen für den Verbrechensbegriff

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im Schlechten wirkt. Denn er nennt denjenigen, der sich auf ein diesbezügliches Unwissen beruft, stupide 159 • Versteht man dies wohlwollend, so erlaubt er nur Schuldunfähigen diese Ausrede. Nur Leute also, die wie Kinder oder Kranke nur eine Möglichkeit von Wissen haben, sind also entlastet. Bei allen anderen bleibt es mithin bei der Praesumtioni doli 160. Aristoteles unterstellt folglich, daß in der Regel der Handelnde den Zusammenhang zwischen der Annahme einer Unrechtsmaxime im Einzelfall und der Negation des Habitualisierungsgebotes kennt. Man kann daher sein Konzept der Zurechnung von Habitualität mit der Doktrin der Lebensführungsschuld vergleichen 161. Setzt man diese These voraus, bleibt der Schuldvorwurf schlüssig. Allerdings ist eine solche Voraussetzung in höchstem Maße begründungsbedürftig. Unter den Bedingungen einer guten Verfassung des Gemeinwesens ließe sich in diese Richtung sicherlich argumentieren 162. So legt Aristoteles größten Wert darauf, daß die Polis durch Erziehung der Kinder und angemessene (Straf-)Gesetze ihren Bürgern zu einer praktischen Haltung zum Guten verhilft 163. Mag im antiken Griechenland diese Voraussetzung noch unmittelbar erfüllt gewesen sein, so ist sie für die heutigen Verhältnisse in äußerster Form problematisch geworden. Auf diese Frage wird in der vorliegenden Arbeit noch in angemessener Weise einzugehen sein. Vorher soll hier jedoch die Entwicklung zum Zustand der "Minderwertigkeit" weiterverfolgt werden. Bisher wurde nur die Verschuldensform behandelt, die durch das Verfehlen der Anforderungen entsteht, die das Habitualisierungsgebot stellt und die den Status der "Unbeherrschtheit" perpetuiert. Darin liegt allerdings der Keim für den jetzt zu schildernden Weg, an dessen Ende eine in causa freiwillig begründete "Minderwertigkeit" des Betroffenen steht 164. Wer von der Erfahrungsregel weiß, daß die Wiederholung haltungsfördernd wirkt, der verstellt sich bei der Entscheidung für eine unsittliche Maxime nicht nur die Einsicht, einen vortrefflichen Charakter ausbilden zu sollen. Vielmehr kann darin zugleich noch verborgen liegen, daß er nunmehr ausdrücklich oder vermittelt diese schlechte Maxime zu seinem Lebensprinzip machen will. Auch NE III 7 1114a 14 f. Ähnlich Loening, Zurechnungslehre, 1903, S. 257. 161 E. Wolf rezipiert ausdrücklich Aristoteles, in: Vom Wesen des Täters, 1932, S. 14 ff., Mezger, ZStW 57, 1938, S. 675 ff. 688 f., bildete den Begriff. Vgl. w. R. Lange, ZStW 62, 1944, S. 192 ff., 196 ff. und Welzel, ZStW 60, 1941,428 ff., 458 ff., in deren Phänomenbeschreibungen allerdings unter der Hand doch wieder dem Handelnden sein "So-Sein" zum Vorwurf gemacht wird. - Zum heutigen Stand in der Strafrechtsdogmatik vgl. die Überblicke bei Jakobs, AT, 1983 17/26 ff., 34 ff. und Jescheck AT, 1988, S. 380 ff. m. w. N. 162 M. Köhler, in: FS Lackner, 1987, S. 24. 163 Dazu NE X 10 1179b 46 ff., NE H 1 1103b 4 ff., NE H 2 1104b 13 ff. u. 21 ff. Zur Rolle der Politik, einen Rahmen für gute Praxis zu schaffen, sehr instruktiv H. Arendt, Vita activa, 1981, S. 189 f. Vgl. w. Garren, J. Phän. Res. 1988, S. 261 ff. 164 Zum folgenden M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 108 f. 159

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hier müssen die oben eingeführten Differenzierungen im Grade der handlungsrnächtigen Unwissenheit auf die Stufung im Schlußverfahren bezogen werden: Der vorsätzlichen Einzeltat entspricht hier die direkte, also ebenfalls vorsätzliche Entscheidung gegen das Gebot, einen guten Charakter zu erwerben. Davon kann ein zweiter Fall unterschieden werden, in dem zwar Vorsatz bezüglich des Einzelaktes konstatiert werden kann, ohne daß es zu einer unmittelbaren Negation auch des Habitualisierungsgebotes kommt. Stattdessen agiert das Subjekt in der Vorstellung, diese konkrete Tat bilde eine Ausnahme für seine sonstige pflichttreue Lebensführung 165, wie es etwa beim Ausnutzen jeder sich bietenden Gelegenheit zum Stehlen zum Ausdruck kommt. Hier negiert der Täter für sich auch die Geltung des Erfahrungswissens, das von der Gefahr spricht, daß die Wiederholung zu einem unsittlichen Hang führen kann. Auch hier liegt bereits in der Annahme einer Unrechtsmaxime, die dem Verhalten des Täters den Schein der Richtigkeit verleiht, die mittelbare Verneinung des Habitualisierungsgebotes hier allerdings in der Gestalt, daß es auch befiehlt, die Verfestigung unsittlichen Gebahrens zu vermeiden. Für den Prozeß der HangbegTÜndung ist nun aber folgender Zusammenhang wichtig 166: In der Annahme einer Unrechtsmaxime liegt nicht bloß die mangelhafte Anwendung des sittlichen Wissens, sondern zugleich die Applikation unsittlichen Scheinwissens, in dem etwa die Verletzung des Eigentums eines anderen als richtig beurteilt wird. Findet nun diese Applikation im Einzelfall ihre Bestätigung, indem das angestrebte Ziel ohne Einbußen erreicht wird, so affirmiert sich das Scheinwissen in der Konkretisierung am Einzelfall. Der Täter sammelt die Erfahrung, daß seine abstrakt geurteilte Maxime auch im Einzelfall in Geltung bleibt. Damit wird er aber in seiner Selbsttäuschung bestärkt. Erlag er zunächst dem Schein, die moralische Grundnorm konkretisiert zu haben, so führt die Anwendung auf den Fall zur Affirmation dieser Auffassung. Weil für Aristoteles das Gute nur im Veränderlichen, Situativen und Zufälligen in Erscheinung tritt, so birgt jede menschliche Praxis die reale Möglichkeit, daß statt des sittlichen Wissens ein Scheinwissen in der Applikation seine Bestätigung erfährt. Daran liegt es, daß zwischen der Einübung des Tugendwissens und der Verfestigung eines Hanges zum Bösen eine formale Ähnlichkeit besteht. Die Endlichkeit des Täters wie des Opfers und Dritter, nicht jedes unrechte Handeln als Unrecht identifizieren und darauf angemessen reagieren zu können, schafft Raum für die Möglichkeit unsittlichen Lebenswandels. So beginnt der Weg, eine Unrechtsmaxime durch fortschreitende Anwendung auf weitere Gelegenheiten derart in ihrer Geltung zu affirmieren, daß der anfängliche Kampf derselben mit dem Prinzip des sittlich Richtigen zugunsten der ersteren beständig abnimmt bis letztlich die Anforderungen der Tugend keine praktisch relevante HandlungsalterDazu Gadamer, in: Sein und Ethos, 1963, S. 15. Zum Folgenden vgl. w. Husserl, Erfahrung und Urteil, 1948, S. 130 ff., M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 407 ff., E. A. Wolff, Handlungsbegriff, 1964, S. 24 ff. 165

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II. Die Folgen für den Verbrechensbegriff

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native für den Täter darstellt. Dann hat er in Aristoteles Augen den Zustand der "Minderwertigkeit" erreicht, in dem ihm auch das Realwissen vom sittlich Richtigen abgeht: "Unbeherrschtheit und Schlechtigkeit sind total verschiedene Gattungen: die Schlechtigkeit ist der Zustand, der (dem Träger) gar nicht mehr zum Bewußtsein kommt, wohl aber ist dies bei der Unbeherrschtheit der Fall." 167. Für die Taten, die in diesem Status habitueller Verderbnis erfolgen, ist zwar zu konstatieren, daß sie aktuell in nicht-freiwilliger Unwissenheit erfolgen. Auch liegt hier eine noch intensivere Form der Unkenntnis vor, da dem Handelnden sogar das Realwissen vom Guten fehlt. Zugleich lebt er in einer selbst gebauten Scheinwelt, die sich für ihn gar als Konsequenz der Befolgung des Habitualisierungsgebotes darstellt. So ist er weder willens noch fähig, von heut auf morgen von dieser eingewurzelten Einstellung in der Praxis abzugehen. Deshalb bezeichnet Aristoteles die Handlungen, die aus einem solchen Zustand hervorgehen, als in einem noch geringerem Maße freiwillig als eine einzelne Verfehlung 168. Mithin geht er davon aus, daß ein "minderwertiger" Charakter ohne langdauernde, gegenteilige praktische Erfahrung der Überzeugungskraft sittlicher Argumente für das eigene Handeln nicht mehr zugänglich ist, so daß er immer wieder seinem Hang nachgeben wird 169. Aristoteles geht sogar so weit, daß er Zuchtlose als unverbesserlich ansieht, die deshalb aus der Gemeinschaft auszustoßen seien 170. Hierbei ist allerdings zweierlei problematisch, worauf nur hingewiesen sei: Zum einen stellt sich die Frage, wie dies mit dem Prozeß des (Wieder-)Erlernens von Realwissen zusammenhängt, den Aristoteles ja kennt; zum anderen ist offen, wie sich dies mit der Kategorie der Wiedervergeltung verträgt 171. Eine Einschränkung der Zurechnung dieser aktuell nicht-freiwilligen Handlungen, die ein "minderwertiger" Charakter ausführt, ergibt sich für Aristoteles daraus nicht: Dies liegt nicht daran, daß der Erwerb des Hanges zum Bösen auf einer Reihe von Akten beruht, in denen mit abnehmender Stärke noch ein aktueller Prozeß des VersteIlens zum Ausdruck kommt. Gegen diese Annahme wendet der Grieche ein, daß" ... der allmähliche Fortschritt in seinen Einzelstadien sich unmerklich vollzieht, wie z. B. beim Siechtum." Stattdessen begründet sich die Zurechnung hinreichend aus der Ausgangsentscheidung: "Weil es aber in unserer Macht gestanden hat, den Anfang so oder anders zu nützen, deshalb sind die festen Grundhaltungen etwas Freiwilliges."172 Dabei ist jedoch daran zu erinnern, daß Aristoteles jedem prinzipiell unterstellt, von den Gefahren für die eigene Haltung zu wissen, die von einer einmaligen Verfehlung ausgehen. Insoweit So deutlich NE VII 9 1150b 53 ff. Ähnlich schon NE III 7 1114a 5 ff. NE III 7 1114a 5 ff. Eingehend Loening, Zurechnungs1ehre, 1903, S. 263, 328 und v. d. Meulen, Aristoteles, 1968, S. 254 f. 169 NE VII 9 1150b 47 ff. 170 So in NE X 10 1180a 5 ff. 171 Zu ihr NE V 8 1132b 31 ff. 172 Beide Zitate in NE III 7 1115a 1 ff. 167 168

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1. Kap. C. Verbrechenslehre und Moralität

genügt es dem Philosophen, wenn er "Minderwertigkeit" auf einen einzigen, auf einen Einzelfall beschränkten Korrumpierungsprozeß gründen kann. Läßt sich allerdings auch dieser nicht nachweisen, so liegt kein Fall sittlicher "Minderwertigkeit" vor I73 • Das Aristotelische Konzept der Lebensführungsschuld erklärt die Entstehung eines "minderwertigen" Charakters aus einer Reihe "unbeherrschter" Einzelhandlungen. Die aus diesem Charakter folgenden Taten rechnet er dann an, falls die am Anfang stehende, auslösende Handlung freiwillig vorgenommen worden ist. Dies liegt grundsätzlich schon dann vor, soweit der "Unbeherrschte" das richtige Wissen dadurch aus den Augen verliert, daß er an dessen Stelle einmal eine Maxime der Begierde setzt. Wer solche Handlungen in diesem Geiste wiederholt, baut selbstbegründet eine "minderwertige" Disposition auf. Diese seelische Haltung besteht nun relativ unabhängig vom aktuellen Willen weiter, so daß der Betreffende auch weiterhin ein lasterhaftes Leben zu führen geneigt ist, solange er nicht in einem stetigen Prozeß seiner Fehlhaltung entgegenstehende praktische Erfahrungen sammeln kann. Vom Vorwurf der sittlichen Minderwertigkeit sind nur Kinder und "Stupide" ausgenommen. Alle anderen trifft die Alleinverantwortung für den durch ihre Praxis hervorgerufene Charakterart. Auf diese Vorstellung von habituellem Verschulden bezieht sich Hegel in seiner Rph., dessen Verständnis jetzt darzulegen ist.

bb) Gewohnheit als geistiger Mechanismus Anders als Aristoteles, der dem intellektuellen Element bei der Bildung eines trefflichen Charakters eine herausragende Rolle zumißt, weist Hegel der Gewohnheit zunächst eine Stelle innerhalb der noch naturbefangenen, auf ihre Leiblichkeit bezogenen Tätigkeit der Seele an, die erst die Bedingung der Möglichkeit ist, ein (Selbst-)Bewußtsein herauszubilden. Zwar ist bei dem Griechen das Begehrungsvermögen in der Mitte der Seele angeordnet, hat neben der rationalen also auch eine irrationale Seite. Dennoch überwiegt die Vorstellung, daß bei der Einübung einer Haltung das intellektuelle Moment dominiert 174, während Hegel von dem ruhigen Wachsen einer rechtschaffenen Haltung im Gegensatz zu sittlicher Virtuosität ausgeht 175. aaa) Die anthropologische Seite In der Gewohnheit kommt die Seele nach Hegel zu ihrem Selbstgefühl, indem sie sich in allen partikulären Empfindungen als das durchgängig Anwesende NE VII 6 1148b 57 -1149a 1 f. NE I 13 1102b 39 ff. -1103a 17. Vgl. w. Dirlmeier, NE, Erläuterungen, 1979,27, 1, S. 294 m. w. N. 175 Deutlich so in Rph. § 150 Zus., S. 300 f. 173 174

11. Die Folgen für den Verbrechensbegriff

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erfaßt 176. Neben der besonderen Seite, die jeder Empfindung (etwa Leid, Begierde, Enttäuschung) weiterhin zukommt und die das Moment der Leiblichkeit repräsentiert, identifiziert die Seele diese mannigfaltigen Zustände ebenso als verschiedene Formen der Verfaßtheit ihrer selbst. Das einzelne Gefühl nach dieser Seite betrachtet macht die abstrakt allgemeine Seite der Empfindung aus, indem die Seele ihr formelles Für-Sieh-Sein hat. Dieses Für-Sich-Sein ist deshalb formell, weil es bei ihm nicht auf den Inhalt des Gefühls ankommt, sondern nur auf den Formunterschied zweier Zustände ein und derselben Seele: einmal die partikuläre Verfassung der Leiblichkeit, deren Substanz die Seele ist, andermal die einfache allgemeine Form, sich als das im Wechsel mit sich identisch Bleibende zu empfinden. Das Einfangen des Selbst in jedem einzelnen Gefühl darf nun nicht statisch verstanden werden, sondern muß als ein prozeßhaftes Aneignen der Vielheit begriffen werden: Als solches besteht es nicht nur im Hineinbilden des Allgemeinen in jedes individuelle Gefühl, worin die Selbstvergegenwärtigung der Seele an jeder Empfindung zu sehen ist. Zugleich findet auch ein Hereinnehmen des leiblich Besonderen in das Sein der Seele statt 177. Dem entspricht Hegels Betrachtung dieser Struktur nach der formellen und materiellen Seite der Urteilslogik, die auch hier in Anspruch genommen wird 178. Dieses Vorgehen bildet Gewohnheiten aus und erscheint, weil es ein Fortschreiten am Mannigfaltigen ist, als eine Wiederholung immer derselben Tätigkeit. Da es seinen Ausgang am natürlich Partikulären nimmt, ist die Allgemeinheit, zu der es gelangt, nur die Form der Gemeinschaftlichkeit, der Reflexionsallgemeinheit 179. Ähnlich wie Aristoteles weist also auch Hegel der Gewohnheit die Rolle zu, die empirische Vielfalt zu verarbeiten. Auf der anderen Seite sieht er darin lediglich einen Ausdruck der fühlenden Seele, der sich hinreichend klären läßt, ohne auf deren Verhältnis zur Intelligenz einzugehen. Dennoch darf man die anthropologische Sphäre des Geistes den Verstandeskräften nicht scharf entgegensetzen; vielmehr hat der Geist selbst in seinen höchsten Formen immer noch die Seelenfunktionen an sich. Menschliches Denken ist so nicht von der Leiblichkeit losgelöst, wie es das Kopfweh anzeigt, daß man durch angestrengte Geistestätigkeit bekommen kann 180. Zudem besagt die Gewohnheit als Formzustand der Seele nichts über die Qualität des darin befindlichen Inhaltes aus, die durch andere Instanzen des Geistes erschlossen werden muß 181. Es ist wichtig, dies festzuhalten, um einen 176 Enzykl. § 409, S. 182 f. Funke, Arch. f. Begriffsgesch. 3, 1958, S. 502 f. Zur Einordnung ins System, Enzykl. § 387 Zus., S. 40 f. Dazu Funke ebda., S. 496 f. und Fetscher, Lehre vom Menschen, 1970, S. 86 ff. 177 So Fetscher, Lehre vom Menschen, 1970, S. 90. 178 Enzykl. §§ 407, 410, S. 160, 184. 179 Enzykl. § 410, S. 184. 180 Vgl. Enzykl. § 410 Anm., S. 186.

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Begriff dafür zu bekommen, was Hegel unter Sitte versteht l82 • Weil aber die Seele ein Moment in der gesamten Selbstorganisation des Geistes bleibt und er gerade bei der Frage der Umsetzung seiner vernünftigen Inhalte auf ihre vermittelnde Rolle zur Leiblichkeit angewiesen ist, so sind für Hegel diejenigen Auffassungen zur Gewohnheit fehlerhaft, die sie als etwas Unwesentliches oder Schlechtes ansehen 183. Es läßt sich zwar nach Hegelohne Einbezug der rationalen Geisteskräfte sagen, was Gewohnheit ist. Ihre wahre Rolle weist ihr aber letztlich erst die Vernunft zu, wie es insbesondere die Sittlichkeit verdeutlichen will 184. Wo die Seele das Allgemeine an der Empfindung herausarbeitet, dort kommt sie zu einem bemerkenswerten Resultat: Zum einen eignet sie sich das Substantielle am jeweiligen Gefühl an. Darin besteht erst einmal die Hinwendung der Seele zu ihrem spezifischen Zustand, den es so als Besonderung ihrer selbst erfährt 185. Umgekehrt trennt sie damit das Wesentliche in ihm vom Partikulären, so daß trotz Eingehens auf die Einzelheit für die Seele gerade das Spezifische an dem Gefühl, in das sie sich hineingebildet hat, ihr mehr und mehr als unwesentlich aus dem Auge verschwindet. Das Herausarbeiten des Allgemeinen am Gefühl bedeutet zugleich Interesseverlust für das Partikuläre. Hierin entdeckt Hegel in zweierlei Hinsicht eine Befreiung des Geistes: Einmal ermöglicht diese Gleichgültigkeit gegenüber dem bloß Besonderen eine relative Unabhängigkeit von plötzlichen oder intensiven Gefühlsregungen. Man spürt sie zwar noch, ist etwa tief unglücklich; dennoch erhält man darin zugleich sein Selbst, das gegen diese Empfindung fest bestehen bleibt und damit nicht mehr von ihm getrieben wird. Zum zweiten erlaubt der Interesseverlust für das Partikuläre dem Menschen, seine Aufmerksamkeit auf das Wesentliche am Empfundenen zu richten. Wer z. B. die Schreibregeln internalisiert hat, der kann sich, ohne der rechten Form seiner Aussagen noch Aufmerksamkeit schenken zu müssen, auf den Inhalt derselben konzentrieren 186. Dies eröffnet zudem die Chance, in fortwährender Abstraktion von spezifischen Inhalten das jeweils Besondere dem Allgemeinen unterzuordnen und so eine Hierarchie an eingeübten Verhaltensweisen zu bilden. Dies gibt dem einzelnen Individuum erst die Möglichkeit, seine ganze Kraft auf die Betätigung seiner Vernunft zu lenken 187 Das andere Element in diesem Prozeß besteht dagegen im Hereinnehmen der Besonderung in das Sein der Seele 188. Sie begreift die Leiblichkeit als Zeichen Enzykl. § 409, S. 182 f. Dazu Funke, Areh. f. Begriffsgeseh. 3, 1958, S. 500 f. 183 Enzykl. § 410 Anm., S. 187. 184 Enzykl. § 410 Anm., S. 184 f. Einordnung bei Funke, Arch. f. Begriffsgeseh. 3, 1958, S. 509 ff. 185 Enzykl. § 410, S. 183 f. Funke, Areh. f. Begriffsgeseh. 3, 1958, S. 500 f., 514. 186 Enzykl. § 410 Zus., S. 191. Funke, Areh. f. Begriffsgeseh. 3, 1958, S. 507 f. 187 Vgl. § 410 Anm., S. 185 f. 188 Enzykl. § 410 S. 183 f. Funke, Archiv f. Begriffsgeseh. 3, 1958, S. 500f, 514. 181

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H. Die Folgen für den Verbrechensbegriff

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ihrer selbst, als ihr besonderes Dasein 189. Damit ist sie aber auch angewiesen auf die Naturhaftigkeit derselben. Ihre Aneignung muß demnach auf ihre spezifische Geartetheit Rücksicht nehmen. Wer mönchische Entsagung übt, der beschwört den Körper gegen sich herauf, wodurch seine Eignung als Zeichen der Seele verlorengeht 190. Stattdessen muß sich die Seele den Gesetzen ihres Leibes gemäß verhalten. Darin bewegt sie sich erst frei, weil zum einen der Körper nun ihre Zwecke nicht konterkariert, zum anderen die Seele im Erfassen dieser Gesetze das Allgemeine des Leibes vorstellt l91 . Auch diese Seite der Gewohnheit weist einen bedeutsamen Aspekt auf: Die Verleiblichung der Seele erfolgt um den Preis der Mechanisierung ihrer Tätigkeit. Gerade weil sich das Interesse der Seele nun bloß noch auf das Substantielle der einzelnen Gefühlsregungen richtet, führt sie die einzelnen spezifischen Elemente desselben in naturhaft bewußtloser Automatik aus, die dem instinktgeleiten Tun eines Tieres vergleichbar ist. Deshalb nennt Hegel die Gewohnheit mit Recht eine zweite Natur; denn einmal ist sie als Existenzweise der Seele eben körperhaft unmittelbar, andermal ist es jedoch nicht die vorgefundene Natürlichkeit des eigenen Leibes. Vielmehr ist es eine Besonderung des Geistes in seiner Form als Seele; es ist der Geist selbst, der sich naturalisiert hatl 92 . Auch hier entspricht die Analyse weitgehend dem Aristotelischen Verständnis. Dort führte die Aneignung des Fallwissens ebenfalls zu festen Entscheidungsprämissen, die sich in der Praxis gleichsam von selbst anwenden. Dennoch lag der Akzent auf der Vorstellung einer Wissensanreicherung, nicht auf einer empfindungsgeleiteten, "magischen" Tätigkeit der Seele 193. Weil Hegel dagegen den Schwerpunkt auf das leibliche Verhältnis legt, entgeht ihm auch nicht ein kritischer Zug an der Gewohnheit. Das Mechanische an der Gewohnheit beinhaltet zugleich ein Moment der Unfreiheit. Zwar bleibt die Befreiung von den einzelnen natürlichen Gefühlen stets erhalten. An deren Stelle tritt nun aber die Abhängigkeit vom selbstgesetzten Automatismus der eingeübten Disposition. Die fortschreitende, in sich gestufte Habitualisierung aller Verhaltensweisen der Seele wird erkauft mit dem zunehmenden Interesseverlust an den untergeordneten, bloß noch spezifischen Tätigkeiten der Seele, so daß letztlich das Dasein derselben aus der einmal vorhandenen Ausdifferenzierung in eine gegensatzlose Identität zurückzufallen droht. Die Seele verliert sich in der selbstgesetzten Äußerlichkeit 194.Der Seele bleibt keine 189 Enzykl. § 411, S. 192. 190 Enzykl. § 410 Anm., S. 185, Zus., S. 190. 191 Enzykl. § 410 Zus., S. 190. Funke Archiv f. Begriffsgesch. 3, 1958, S. 505. 192 Die Besonderung durch Naturalisierung ist die eine Seite dieses Prozesses. Gleichzeitig resultiert aus dem Hereinbilden der Seele in ihren Körper eine Vergeistigung desselben, vgl. Enzykl. § 412 Zus., S. 198. Gut Funke, Archiv f. Begriffsgesch. 3, 1958, S. 508. Parallel dazu im objektiven Geist: Rph. § 57, S. 122 f. 193 Enzykl. § 410 Zus. S. 191. 194 Eingehend dazu Funke, Archiv f. Begriffsgesch. 3, 1958, S. 513 f. m. w. N.

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1. Kap. C. Verbrechenslehre und Moralität

geistige Lebensphäre mehr erhalten, wo sie alles mit dem Mechanismus der Gewohnheit überzogen hat. In diesem Sinne ist die Bemerkung von Hegel zu verstehen, daß die Gewohnheit letztlich den Tod des geistigen Lebens der Seele bedeutet 195. Diese Unfreiheit ist aber keine totale; sie ist vielmehr nach zwei Seiten beschränkt: Zum einen betrifft sie nur das Sein der Seele, wie es noch nicht zur konkreten Allgemeinheit gelangt ist, sondern auf dem formellen Reflexionsstandpunkt stehen bleibt 196. Das heißt: Für das Selbstbewußtsein bildet diese Unfreiheit lediglich ein Moment der eigenen Existenz. Darüber hinausgehend begreift hier das Ich sich selbst als Objekt seiner Tätigkeit, was der fühlenden Seele noch nicht möglich ist. Auch das selbstbewußte Wesen hat zwar die eingeübten Verhaltensweisen zu seiner Voraussetzung. Dennoch erlaubt die Gewohnheit hier die Konzentration auf die im Objekt anwesende, für sich seiende Allgemeinheit, die die Seele selbst noch nicht erfaßt hat. Wo aber dies geleistet ist, dort kann sich die Entlastungsfunktion, die der Gewohnheit zukommt, voll entfalten. Hier ist die Haltung nicht mehr Seins weise der Subjektivität des Geistes, sondern sie ist Basis für eine höhere Existenz- und Erkenntnisform 197. Die Unfreiheit bezieht sich demnach nur auf die Form, die sich der Geist gibt. Über deren Inhalt ist also noch nichts ausgesagt. Hier herrscht dann Unfreiheit, wenn der mit der Gewohnheit realisierte Zweck lediglich einen partikulären Gehalt aufweist, mithin dem Begriffe der Selbstbestimmung nicht vollständig gemäß ist. Zum einen sind innerhalb der Hierarchie der habitualisierbaren, geistigen Tätigkeiten die niederen noch weniger frei als die höheren: Erst die selbstbewußte Vernunft erfaßt schließlich das Prinzip der Freiheit in seinem Begriffe genau, so daß nur hier die völlige Unabhängigkeit erreicht ist. Dennoch bleiben alle ihr untergeordneten geistigen Prozesse die Grundlage dieser Selbstbestimmung. Äußeres Anzeichen dafür, daß sich die Vernunft in den Handlungen eines Individuums mit Festigkeit verwirklicht, bildet für Hegel daher die Übereinstimmung seiner Haltung mit der allgemeinen Handlungsweise (seines Volkes)198. Damit will Hegel auf den Umstand verweisen, daß das Gute als einzige letztbegründete, universal-verallgemeinerbare Norm, seine Realität nicht bloß in einzelnen Handlungen einzelner Menschen sondern in einer wahrnehmbaren Sitte haben muß, in der als gesetzmäßiger Gewohnheit alle Widersprüchlichkeit menschlichen Verhaltens im Verhalten Aller aufgehoben ist 199. Nur in dieser Ausprägung kann 195 Ebenda. Nicht aber des Geistes selbst; er schreitet zum Selbstbewußtsein fort. 196 Vgl. Enzykl. § 410 u. Anm., S. 184 f. 197 Vgl. für die Charakterisierung der Seele, Enzykl. § 409 Anm., S. 183. Für das Selbstbewußtsein dagegen: Enzykl. § 412 Zus., S. 198. 198 Rph. § 151, S. 301. Dazu Funke, Archiv f. Begriffsgesch. 3,1958, S. 500 ff. Dazu auch Randbem. zu Rph. § 142, S. 292. 199 Zu dieser Definition von Sitte s. Enzykl. § 485, S. 303 f. Zum Zusammenhang zwischen der Grundnorm des Guten, deren Wirklichkeit als Sittlichkeit abhängig ist

H. Die Folgen für den Verbrechensbegriff

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Sitte nach Hegel in der Neuzeit Anspruch auf die Bezeichnung erheben, zweite Natur (der Freiheit) zu sein 2°O. Es deutet sich hier schon an, daß innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft das sich über die wechselseitige Arbeit füreinander vermittelte Anerkennungsverhältnis seine durch Gewohnheit verfestigte Existenz erhält 201 • Zum anderen aber herrscht auch dort Unfreiheit in der eingeübten Haltung, wo das Individuum eine üble Verhaltensweise verfestigt, sei es, daß es das Prinzip der Freiheit gar nicht erst erfaßt, sei es, daß es sich dessen Geltungsanspruch selbsttätig verstellt. Wer z. B. auf der formellen Seite seiner Unrechtsmaxime stehen bleibt, die eigene Einzelheit gegen andere und den eigenen allgemeinen Willen zum Prinzipe erhebt, der übt in der Wiederholung einen bloß partikulären Zweck ein und bildet so eine in sich unfreie Gewohnheit heraus. Es ist von größter Wichtigkeit für die folgenden Ausführungen, im Auge zu behalten, daß die Verstetigung von Verhaltensweisen ihren Ausgangspunkt in der Tätigkeit der Seele nimmt, was sich für das agierende selbstbewußte Wesen zunächst unmerklich vollziehen kann. Um ihm einen Vorwurf an dem erworbenen Charakter zu machen, muß demnach sein eigener Wille als Grund dieser sich herausbildenden Haltung aufgewiesen werden können, wie er durch Bestätigung bzw. Gegensteuerung die Haltungsbildung beeinflußt. Die Handlungslehre des Moralitätsteils muß daher auf diesen Prozeß übertragen werden, soweit die Frage nach der moralisch / rechtlichen Verantwortung des Subjekts für die sich wiederholenden Einzelakte gestellt wird. Anders als bei Aristoteles, der dem intellektuellen Element bei der Haltungsbildung von vornherein die Rolle des treibenden Prinzipes zuspricht, sieht sich der subjektive Wille im Hegeischen Verständnis zunächst dem untergründig wirkenden Einfluß seiner fühlenden Seele ausgesetzt, der auf die Mechanisierung der einzelnen Verhaltensweisen drängt. Dies ist in Bezug auf einen freiheitlichen Zweck, der dadurch zum Eigentum des Individuums wird, eine Chance, wie es ein Fluch werden kann bei der Abwehr schlechter Gewohnheiten 202 • Erst wo dem Betreffenden diese Wirkmacht der Seele bewußt wird, aus wiederholten Willensakten eine feste Disposition zu erzeugen, dort steht er in einem freien Verhältnis zu ihr und kann sich ihrer (zur eigenen Entlastung) bedienen. Dann aber wird es dem subjektiven Willen auch möglich, Verantwortung für seinen guten wie schlechten Charakter zu übernehmen. Hier stellt sich also erst die Frage nach der Zurechnung 203 • vom stetigen, autonomen Handeln, s. Rph. § 150 f., S. 298 ff.; instruktiv Ilting, in: Riedei, 1975, S. 63 f. und Ritter, Metaphysik und Politik, S. 281 ff. 200 Rph. §§ 4, 151, S. 46, 301. 201 Vgl. dazu vorläufig Rph. § 207, S. 359 f. 202 Rph. § 151 Zus., S. 302, wo allerdings der Schwerpunkt auf der Möglichkeit liegt, durch Gewohnheit am sittlichen Leben teilzuhaben und damit zugleich die eigene Unabhängigkeit zu erringen. Vgl. w. Rph. § 149 S. 297. Zur Einleitung in die Sittlichkeit vgl. w. Peperzak HS 17, 1982, S. 97 ff.; Rameil, HS 16, 1981, S. 123 ff.

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bbb) Habituelle Willens schuld Dennoch darf das unbewußte Wirken der Seele in Bezug auf verfestigte Handlungsentscheidungen nicht vernachlässigt werden. Es läßt sich auch ohne Zwang in die Handlungslehre des Moralitätsteils einbauen, der ja seinen Ausgang bei der Kategorie der "Schuld" nimmt. Danach trifft den Willen an jeder Veränderung seiner Existenz eine Verantwortung, zu der seine Tätigkeit eine Bedingung gesetzt hat. Für den vorliegenden Zusammenhang bedeutet dies, daß auch die Mechanisierung einer bestimmten Verhaltensweise auf den Willen als ihren Grund zurückverweist, weil und soweit die einzelnen Akte durch ihn wiederholt hervorgerufen worden sind. Erst dadurch wird es möglich, die Einübung in eine vorgefundene Sitte, (in der sich Selbstbestimmung konkretisiert hat), als eine Willensrealität auszuweisen. Dabei ist es nicht notwendig, daß die einzelne Tat in ihrer Bedeutung erkannt wird, eine rechtmäßige oder gute Verhaltensweise zu sein. Desgleichen ist es nicht erforderlich, daß das agierende Individuum von der verstetigenden Macht der Wiederholung weiß. Vielmehr reicht es für die Zuschreibung von Rechtschaffenheit nach Hegel aus, daß die Lebensweise des Betreffenden äußerlich denjenigen Tugenden angemessen ist. die für die Verhältnisse gelten, in denen es sich vorfindet 204. In diesem Sinne führt auch das Kind im Rahmen seiner Familie durch seine unmittelbare Empfindung von Liebe ein sittliches Leben 205. Aber auch für den erwachsenen Bürger gilt im Zusammenhang mit vielen Verhaltensweisen Ähnliches. Die meisten alltäglichen Lebensvollzüge, seine Arbeit und Freizeit, befragt er nur selten danach, inwiefern sie dem Rechte angemessen sind 206. Auch über die verstetigende Kraft sich wiederholender Daseinsgestaltung legt man sich erst dann Rechenschaft ab, falls sie einmal als zwanghaft empfunden wird. Dennoch blickt man auf diese eingewohnte Übung so, daß man den Willen (mit) als Grund der eigenen charakterlichen Besonderheiten ansieht. Wenn trotzdem das eigene Selbstverständnis sich dem Mechanismus erworbener Neigungen (gelegentlich) widersetzt, so kommt darin der Anspruch zur Geltung, auch als moralisches Wesen in seinen Handlungen anwesend zu sein.

203 Auf diesem Standpunkt bleibt ein Teil des gegenwärtigen strafrechtlichen Schrifttums stehen, das der Charakter- bzw. Dispositionsschulddoktrin anhängt, nach der das So-Sein der Persönlichkeit Grund des Tatvorwurfes ist, vgl. Engisch, ZStW 66, 1954, S. 359. Ähnlich auch Burckhardt, in: Lüderssen / Sack, 1980, S. 87 ff. und Maihofer, in: Gesellschaftliche Wirklichkeit, 1964, S. 15 ff. Neuerdings Figueirdo Dias, ZStW 95, 1983, S. 238 ff. 204 Rph. § 150, S. 298. 205 Rph. § 175, S. 327. 206 Wo eine gute Sitte sich eingebürgert hat, reflektieren die Bürger im praktischen Leben nicht (mehr) über ihre Voraussetzungen und Folgen, vgl. dazu Rph. § 268 Zus.,

S.414.

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Hier zeigt sich dann, daß die Kategorie der "Schuld", wie sie Hegel an den Anfang des Mittelteils der Rph. stellt, noch nicht dem Recht des subjektiven Willens gerecht wird, nur dasjenige als die Tat des Seinigen anzusehen, was in seinem Wissen gelegen hat. Mag sie es erlauben, dem Individuum Rechtschaffenheit zu bescheinigen, so fehlt doch darin stets das Moment des Selbstbewußtseins, das zur vollen Wirklichkeit der Idee dazugehört. So ist z. B. die unmittelbare Sittlichkeit des Kindes ein Ausgangspunkt, der durch die Erziehung zur eigenständigen Person aufgehoben werden muß. Gleiches gilt aber für eine Rechtsbefolgung nur aus dem Gefühl des Hergebrachten heraus. Dieser Lebensweise kann zwar das Prädikat der rechtlichen Richtigkeit zukommen; ihr mangelt es aber an der vernünftigen Form, die erst vorhanden ist, wo das Gewohnheitsrecht durch Kodifizierung aufgehoben worden ist, die den Bürgern in ihren Gesetzen das Recht bewußt werden läßt 207. Dieser Anspruch des moralischen Wesens wird bei der Erzeugung einer Disposition dort nicht eingelöst, wo sein "Recht des Wissens" nicht erfüllt ist. Entsprechend seiner Stufung im einzelnen Handlungsvollzug kann auch hier die Unkennt nis an verschiedenen Stellen eingreifen. Ebenso wie die Folgen einer wiederholten Übung gar nicht wahrgenommen werden können, so ist es auch möglich, daß ihre Elemente und ihr Resultat lediglich in ihrer gegenseitigen Isolierung als Facta zu Bewußtsein kommen. So richtet sich das Kleinkind in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung ständig auf, um seinem Streben nach verschiedenen Gegenständen nachzukommen. Diese freiwilligen Anstrengungen werden von ihm als solche erfaßt, ebenso wie es am Ende wahrnimmt, daß es aufrecht gehen kann. Eine solche unmittelbare sinnliche Anschauung, zu der es bereits fähig ist, führt aber nur zu dem Erfassen des Prozesses der Gewohnheitsbildung nach seinen partikulären Aspekten. Es macht so zwar die Tat seines besonderen Willens aus, eine gerade Haltung erworben zu haben. Bezüglich der Einzelakte kann man zudem auch sagen, daß sie in seinem "Vorsatze" lagen, weil und soweit es die Außenwelt nach seiner Vorstellung von den Umständen derselben gestaltet hat. Aber schon in Bezug auf den sich darüber entwickelnden Aufbau einer ständigen Neigung, aufrecht zu gehen, fehlt es bereits - trotz Wahrnehmung der isolierten Elemente - an ihrer praktischen Orientierung an einem vorgenommenen Zweck. Vielmehr verwirklicht sich dieses Ziel unbewußt über die jeweiligen Aktionen, die das Kind vornimmt 208 • Es fehlt hier also bereits an fundamentalen Voraussetzungen einer Willensschuld. Einen tieferen Einblick hat bereits dasjenige Subjekt, das sich darauf konzentriert, eine bestimmte Geschicklichkeit zu erwerben 209. Hier werden nicht nur 207 208

Rph. § 211 Anm., S. 361 ff. In Enzykl. § 410 Anm., S. 186 findet sich das Beispiel des aufrechten Ganges. Es

erübrigt sich, darauf hinzuweisen, daß damit auch ein Reflexionswissen, das auf die eigene Verhaltenspragmatik gerichtet ist, (noch) nicht vorhanden ist. 209 s. dazu den Verweis in Rph. § 197, S. 352 auf die gewohnheitsbildende Macht theoretischer und praktischer Bildung.

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1. Kap. C. Verbrechenslehre und Moralität

die Umstände jeder Handlung für sich sowohl nach dem Wahrnehmungswissen erfaßt als auch nach ihrer Allgemeinbedeutung, etwa die Gruppierung von einzelnen Buchstaben zu Wörtern beim Schreibenlernen. Vielmehr wird die Reihe der einzelnen Handlungen auch ihrerseits in ihrem allgemeinen Prädikat gewußt, ein Aspekt in der Einübung schriftlicher Kommunikation zu sein. Hier deutet sich eine Parallele zwischen der logischen Struktur der "Absicht" beim Einzelakt und der logischen Struktur der Haltungsbildung an, der meines Erachtens die Erstreckung der ersteren auf die Habitualisierung plausibel macht: Beidesmale handelt es sich um die logische Form des Reflexionsurteils. Es macht damit auch bei der Gewohnheitsbildung das Recht der "Absicht" aus, daß das Subjekt ein Wissen von den allgemeinen Wirkungszusammenhang hat, der sich wiederholenden Einzelhandlungen innewohnt. Nun kann allerdings auch diesbezüglich Unwissen herrschen und zwar nach zwei Richtungen: Zum einen kann eine mangelhafte Übungsorganisation den Schein entstehen lassen, daß man substantiell gleiche Lernschritte vornähme. Ein ähnliches Resultat führt die Vorstellung herbei, man sei als Naturtalent nicht zum zeitraubenden Erwerb technischer Fertigkeiten verbunden. Zum anderen kann eine falsche Erfassung der allgemeinen Aspekte einer angezielten Geschicklichkeit dazu führen, daß deren Zweckbezug unter der Ablenkung von Nebensächlichkeiten zu verschwinden droht. So ist es nicht selten, daß Schüler, die schreiben lernen sollen, sich mit Verzierungen der Schriftzeichen aufhalten und so das Ziel, einen Text für andere verständlich aufschreiben zu können, aus den Augen verlieren. Dabei kann entweder der Gedanke wirksam sein, nur Schönschrift sei auch lesbar, oder die Vorstellung, es komme beim Schreiben vor allem auf die zeichnerische Gestaltung an. Im ersten Fall wird der innere Sinn von Übung, die Beherrschung des eigenen Körpers, schlechthin geleugnet bzw. in der Anwendung verkannt, so daß das Resultat die Nichtentstehung der beständigen Fertigkeit ist, - entgegen dem vorgesetzten Zweck, diese Geschicklichkeit mit Festigkeit ausüben zu wollen. Im zweiten Fall bezieht sich das Subjekt durchaus positiv auf sein Wissen von der mechanisierenden Kraft wiederholter Einzelakte. Nur hebt der reflektierende Verstand einen partikulären Aspekt als vermeintlich wesentlichen in die Form abstrakter Allgemeinheit und gelangt so zu einer Haltung, die vom vorausgesetzten Zweck als unzureichend zu beurteilen ist. Die gleiche Analogie ist auch zu der Reflexionsurteilsstruktur der Gewohnheitsbildung und der Ausrichtung partikulärer Zwecke am Wohl eines Subjektes zu ziehen. Wo dem Betreffenden bereits ein hinreichendes Repertoire an sicher handhabbaren technischen Fähigkeiten zur Verfügung steht, dort ist noch nicht ausgemacht, inwiefern er die Wahl seiner einzelnen Handlungsziele mit der gleichen Beständigkeit ebenfalls zu einer Gesamtheit integriert. Auch hier bedarf es der Einübung, zwischen den verschiedenen sich aufdrängenden Neigungen jeweils die richtige in angemessener Proportion auszuwählen und auf ein gemeinsames Ziel auszurichten. Faßt man dieses (vorläufig) in seiner Totalität als die

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Entfaltung des eigenen Lebens, so hängt dessen Erhaltung nicht von Instinkten ab, sondern beruht auch hier auf einer Regulierungsleistung des Subjektes. Allerdings kann dabei das Reflexionswissen ebenfalls in eine nicht-substantielle Allgemeinheit verfallen. Zum einen mag das Genießen der Willkür in jeder Entscheidung dazu führen, daß das Subjekt sich dagegen sträubt, durch beständige Bevorzugung fundamentaler Zwecke diesen gegen den Geltungsanspruch anderer Neigungen eine dauerhafte und stetige Existenz in der Reihe seiner Handlungen zu verschaffen. Wer z. B. den Bestand der eigenen Gesundheit von der je augenblicklichen Befindlichkeit seines natürlichen Willens abhängig macht, wird es schwer haben, drohende Krankheit durch vorbeugende Hygiene abzuwehren. Zum anderen kann aber auch das Herausheben einer bloß abstrakten Allgemeinheit zum Leitstern des persönlichen Lebens dazu führen, daß es einem moralischen Wesen gerade darauf ankommt, ihm durch Mechanisierung Beständigkeit zu verleihen. Man findet diese Art fatalen Unwissens häufig bei Drogenkranken, die in das intensive Erleben eines Rauschzustandes ihre ganze Glückseligkeit legen. So verfallen sie durch beständige Wiederholung der Sucht, in der sich nimmt man auch nur den Fall der psychischen Abhängigkeit - in schrecklichster Weise die Verselbständigung der Mechanisierungswirkung einer Gewohnheit manifestiert. Auch hier bleibt die Krankheit Tat des Willens und kann sogar als Handlung zugerechnet werden, wo das Unwissen, das in der Berauschung handlungsmächtig geworden ist, auf einem Selbstbegründungsprozeß im Subjekt beruht. Wie dieser geartet ist, soll aufgezeigt werden, nachdem auch noch die letzte Ebene geschildert worden ist, an der Unkenntnis die Zurechnung einer Haltung hindern kann: Wie die Realisierung des Wohles, so ist auch die Verwirklichung des Guten an eine Integration verschiedener Handlungsvollzüge gebunden. Es war oben ja bereits gezeigt worden, wie das Ausrichten partikulärer Zwecke an einem übergeordneten Ziel zu einer Grundnorm aller menschlichen Praxis fortschreitet, die den Namen "das Gute" trägt. Hier findet das Subjekt eine unhintergehbare Entscheidungsprämisse, die folglich in ihrem Allgemeinheitsanspruch für jede Verhaltensweise Geltung beansprucht und so ihrerseits den Maßstab für die Beurteilung des eigenen oder fremden Wohles bildet. Sie geht als letztbegründeter Obersatz also allen praktischen Syllogismen voran. Dies bedeutet dann aber nicht nur, daß sie in der jeweiligen Entscheidungssituation Anerkennung verlangt, sondern zudem beansprucht sie Geltung für die gesamte Lebenspraxis. Man soll nicht hier und da, mithin bloß partikulär das Gute verwirklichen, sondern ständig. Daraus folgt zweierlei: Zum einen ist bei der Subsumtion einer einzelnen Handlung unter das Prädikat des Guten auch die darin angelegte Allgemeinbedeutung zu beachten, daß sie sich in den Gesamtzusammenhang einer tugendhaften Lebensführung einordnen muß. So hebt man an der jeweiligen Verhaltensweise erst ihr wahrhaft Allgemeines heraus. Zum anderen trägt man dadurch zugleich

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die Kontinuität der Identität in der eigenen Pragmatik, eben die Ausrichtung an einem Endzweck, in die einzelnen Handlungsweisen hinein. Es zeigt sich hier folglich die gleiche Struktur wie bei der Gewohnheitsbildung. Das bedeutet, daß man durch die Grundnorm menschlicher Praxis auch zur Habitualisierung verbunden ist. Die allgemeine Fassung dieser Pflicht bedeutet mithin, sich um den Erwerb eines tugendhaften Charakters zu bemühen 21O • Da diesem nur dann vollständige Selbstbestimmung inhäriert, wenn er der allgemeinen Handlungsweise intersubjektiver Interaktion entspricht, konkretisiert sich diese Pflicht in den Augen Hegels zu dem Gebot, sich in sittliche Verhältnisse einzuordnen 211 , in denen die Grundnorm des Guten nicht nur Programm, sondern gelebte Wirklichkeit ist. Jede Handlung, die im Widerspruch zu diesen Formen des lebendigen Guten steht, ist demnach zunächst einmal nicht-gut 212. Beruht dieser Gegensatz auf bloßem Unwissen über die Richtigkeit, das eigene Verhalten als Glied bestimmter sittlicher Interaktion zu verstehen, so läßt sie sich dem subjektiven Willen nicht als böse zurechnen. Entsteht aus der Wiederholung derartiger Akte eine Haltung, so verhindert auch hier das bestehende Unwissen einen Vorwurf an das betreffende Subjekt. Es zeigt sich hier, daß innerhalb des habituellen Verschuldens Unwissen auf zwei Ebenen handlungs bestimmend werden kann: Zum einen kann dem Subjekt schon die Kenntnis von der Unrichtigkeit seines Einzelaktes fehlen; dann entfällt schon die Zurechnung dieser Handlung, so daß im Hinblick auf die Einübung derartiger Tätigkeiten ebenfalls eine Willensschuld verneint werden muß. Zum anderen mag dem betreffenden Subjekt das Erfahrungswissen von der habitualisierenden Wirkung wiederholter Einzelakte fehlen, wodurch ihm auch die Ableitung einer Pflicht zur Gewohnheitsbildung aus der Grundnorm des Guten nicht möglich ist. Dann kann es möglich sein, daß man dem Handelnden einen Vorwurf machen kann, trotz der Einsicht in die Grundnorm des Guten einem partikulären Zweck den Vorrang eingeräumt zu haben. Die Ausführung dieses Zweckes erhält so das Prädikat des Bösen. Dennoch hindert aber das fehlende Normwissen von der umfassenden, auf Habitualisierung gehenden Allgemeinbedeutung des Guten hier die Zurechnung derjenigen Taten, die aus der Gewöhnung an eine Lebensweise folgen, die aus der Vornahme für sich genommen böser Einzelakte einsteht. Denn die Handlungen, welche die Reihe der Einübung bilden, weisen in ihrer Unrechtsmaxime lediglich einen So deutlich in § 150, S. 298 ff. insb. der Zus. Daraus leitet sich die Zustimmung Hegels zu dem Wahlspruch der Pythagoreer ab, daß sittliche Erziehung bedeute, das eigene Kind zu einem guten Bürger eines guten Staates zu machen, s. Rph. § 153 Anm., S.303. Genauso Rph. § 258, S.399. Sehr einseitig, weil das Eigenrecht des subjektiven Willens letztlich nivellierend, hebt Busse hierauf ab, in: Hegels Phänomenologie, 1931, S. 58 ff. 212 Vgl M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 254 f. 210

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Geltungsanspruch auf, der für das Bewußtsein des Subjekts auf die Entscheidungssituation beschränkt bleibt 213 • Dabei kommt hinzu, daß mit fortschreitender Wiederholung gleichartiger Akte gerade eine Abstumpfung des ursprünglich vorhandenen richtigen Normwissens eintritt. Dies beruht auf dem Mechanismus der Seele, seiner logischen Struktur gemäß das allen Momenten dieses Prozesses Gemeinschaftliche dem Subjekt als Allgemeines vorzustellen. Folglich führt die sich verfestigende Existenz des ausgeführten schlechten Zweckes im handelnden Subjekt zur Bestätigung des Geltungsanspruches der einmal vorgesetzten Unrechtsmaxime. In ähnlichen Situationen, wie die der Ausgangstat, wird sich dann am Ende des Gewöhnungsprozesses die gesammelte Geltungserfahrung wie von selbst durchsetzen 214 • Da es hier an einem aktuellen Verschuldensprozeß gerade fehlt, können auch diese Handlungen nicht zugerechnet werden. Wo es an einem Erfahrungswissen von den Zusammenhängen der Gewöhnung und damit von der Habitualisierungspflicht mangelt, dort ist folglich ein Vorwurf nur für diejenigen einzelnen Akte möglich, bei denen noch ein aktueller Verschuldensprozeß stattfindet. Die sich total setzende Boshaftigkeit ist mithin zudem durch die Korrumpierung des Wissens um die Pflicht zur Haltungsbildung bedingt. Hat man dies vor Augen, so erklärt sich meines Erachtens auch die Hegeische Bezugnahme zum Aristotelischen Verständnis der Gewohnheitsschuld: Dort nimmt er Stellung zum verhärteten Sünder, der bei seinen Taten nicht mehr bewußt das Böse ausführt. Er konstatiert, daß dieses aktuelle Unwissen sie nicht vor dem Vorwurf schützen könne, es sei denn sie sei in causa unfreiwillig. Dabei zitiert er die NE (Ill. 7 1110b 27), wo Unfreiwilligkeit dort vorliegt, wo es dem Handelnden schlechthin am Wissen von dem mangelt, was er tut, und wie dies bewertet wird. In diesem Verweis liegt also eine Zustimmung zu dem Aristotelischen Verständnis der Haltungsbildung. Danach ist letztere nur zurechenbar, soweit dem Betreffenden bei der auslösenden Handlung ein Verschulden trifft, er also die richtige Erkenntnis verdrängt. Dabei operierte der Grieche bezüglich des Wissens um die allgemeinen Zusammenhänge des Aufbaues einer Disposition mit einer Vorsatzunterstellung. Statt dieser findet sich bei der angezogenen Stelle der Rph. ein Verweis auf die eigene Zurechnungslehre 215 • Der Paragraph, auf den er sich bezieht, handelt allerdings nur von der Zurechnungskategorie des "Vorsatzes"; er beschreibt noch nicht das Wissen von der Allgemeinbedeutung der Handlungsrnomente, die "Absicht". Das läßt die Frage offen, ob Hegel die Wahrnehmung vereinzelter Aspekte der Haltungsbildung ohne ihren erfahrungsgesetzlichen Zusammenhang für den Vorwurf genügen läßt. Dann aber 213 Auch für die eigene Lebenspraxis macht der Handelnde ja die Dialektik der Ausnahme geltend, vgl. Gadamer, in: Sein und Ethos, 1963, S. 15. 214 Dazu M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 408 f. m. w. N. 215 Hegel verweist in der Fn. zur Anm. d. § 140 Rph., S. 266 f. auf den § 117 Rph., S. 217. Vgl. zum folgenden auch M. Köhler, FS Lackner, 1987, S. 24 Fn. 40.

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läge auch bei ihm diesbezüglich eine Vorsatzunterstellung vor. Diese Reduktion der Zurechnungskategorien für den Fall habituellen Verschuldens wäre aber gegenüber dem Grundsatz der Willensschuld beim aktuellen Verfehlungsprozeß arg systemwidrig. Folglich kann es in Hegels Verständnis vom Recht des subjektiven Willens nicht bei dieser Praesumtioni doli bleiben. Vielmehr ist in diesem Rückbezug eine Stütze für die hier gewählte Vorgehensweise zu finden, die Zurechnungslehre auch auf den gesamten Prozeß der Haltungsbildung zu beziehen. Diese führt zu dem Ergebnis, daß ein habitueller Verschuldensprozeß stets auch die Korrumpierung des Wissens von der Habitualisierungspflicht beinhalten muß216. Im strafrechtlichen Schrifttum steht die Doktrin von der Lebensentscheidungsschuld dem hier vorgestellten Konzept am nächsten. Ihr kommt es für die Hangkonstitution wesentlich auf die in einzelnen Handlungen bekräftigte Lebensentscheidung zugunsten einer als unrecht erkannten Maxime an 217. ccc) Die Ausdifferenzierung des Grundmodells Dieses Grundmodell habituellen Verschuldens läßt sich in verschiedene Erscheinungsformen ausdifferenzieren: Erstens kann auch hier eine Unterscheidung in der Schuldschwere danach getroffen werden, ob der Handelnde sich unmittelbar das Normwissen (vom Habitualisierungsgebot) verstellt oder es vermittelt verdrängt. Zum zweiten läßt sich die von vornherein aktive Gestaltung der eigenen Haltung einem Gewöhnungsprozeß gegenüberstellen, dessen verfestigende Kraft dem Subjekt erst allmählich zum Bewußtsein kommt. Schließlich kann diese Konstitution eines Hanges drittens inhaltlich unterschiedlich gestaltet sein, je nachdem, ob das Subjekt nur sittlichen Bindungen entfliehen und damit haltlos werden will, oder sich in eine Gegenwelt zum Guten begibt, habituell böse werden will. Diese drei Kriterien sind näher zu entfalten: Die Negation der Geltung dieses Wissens für die eigene Lebenspraxis kann also erstens in zwei Formen unterschiedlicher Schuldschwere erfolgen: Zum einen kann das Subjekt unmittelbar der Pflicht zur Bildung bestimmter sittlicher Gewohnheiten die Anerkennung versagen, indem er an deren Stelle ein anders geartetes Lebensmodell setzt und ausführt. Darin liegt die Parallele zur Vorsatzschuld bei einer Einzeltat. Zum anderen kann es aber auch die Geltung 216 Kritisch gegen jegliche Frage nach Lebensführungs- oder gar Lebensentscheidungsschuld ist die überwiegende Meinung in der strafrechtsdogmatischen Literatur eingestellt. Dazu sogleich Maurach/Zipf, AT 1, 1987, S. 457 ff. m. w. N. Sie neigt allerdings dazu, dieses Problem durch normative Zuschreibung zu lösen. Dazu sogleich. 217 Bockelmann, Studien 2, 1940, S. 152 ff., wo auch dieser Begriff geprägt worden ist. Für die strukturell gleich liegende Frage nach der Willens schuld bei unbewußten Fahrlässigkeitstaten gehen M. Köhler (Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 405 ff., 408 f.) und E. A. Wolff (Handlungsbegriff, 1964, S. 24 ff.) von der impliziten Negation des Wissens um die habitualisierende Macht der Wiederholung aus.

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des Erfahrungssatzes für seine Verhaltensweise negieren, daß wiederholte Einzelakte einen entsprechenden Grundzustand bewirken. So gelangt er zu der handlungsleitenden Vorstellung, es bleibe bei dem einmaligen Vergehen gegen die Grundnonn des Guten. Dies entspricht der Fahrlässigkeitsschuld.

Zweitens ist schuldtheoretisch eine von vornherein aktiv aufgebaute kriminelle Karriere von der allmählichen Verstrickung zu unterscheiden: Denn bisher zeichneten sich die eben geschilderten Gestalten eines Habitualisierungsprozesses dadurch aus, daß davon ausgegangen worden ist, an ihrem Anfang finde bereits eine Korrumpierung auch des Wissens um die Pflicht zur Bildung von bestimmten sittlichen Gewohnheiten statt. Es lassen sich aber Fälle aufweisen, wo am Beginn der kriminellen Karriere eben kein derartiger Verschuldensprozeß vorgelegen hat. Die Konstruktion der Unrechtsmaxime beschränkt sich vielmehr zunächst auf ein einzelnes Delikt, das aber die Kette der sich wiederholenden Einzelakte begründet. Entsprechend der von Hegel vertretenen Ansicht würde ein derart beschränkter Verdrängungsprozeß für die Zurechnung einer Hangkonstitution (allein) nicht ausreichen 218 • Dennoch läßt sich auch hier unter folgenden Voraussetzungen ein habituelles Verschulden begründen: Dem Recht der Objektivität an den subjektiven Willen entspricht dessen Pflicht, daß er das Gute verwirkliche. Diese Pflicht verlangt zudem, eine entsprechende Haltung auszuarbeiten. Gegen diese Pflicht hat das Subjekt mit seiner bösen Einzeltat objektiv verstoßen. Daraus leitet sich das weitergehende Gebot ab, das eigene, von der gänzlichen Verdrängung bedrohte Wissen von der Grundnonn des Guten durch Akte, welche die sittliche Haltung fördern, in praktischer Geltung zu halten. Der einmal gesetzten Gefahr der totalen Negation sittlichen Wissens durch schleichende Habitualisierung korrespondiert die intensivierte Pflicht des Subjekts, weitere Schritte auf diesem Weg mit besonderem Nachdruck zu venneiden. In Analogie zum strafrechtlichen Begriff der Ingerenzpflicht, die sich auf pflichtwidrig gesetzte Rechtsgutsgefährdung bezieht, kann man hier von einer ähnlichen Pflicht auf der Ebene der pflichtwidrig gesetzten Gefährdung des eigenen Nonngeltungswissens sprechen 219. Allerdings reicht die bloß objektiv pflichtwidrige Gefahr der Konstitution einer unsittlichen Disposition für den habituellen Schuldvorwurf nicht aus. Vielmehr bedarf es auch hier eines selbstbegründeten VersteIlens der Einsicht in die nun intensivierte Pflicht zur Einübung in sittliche Lebenspraxis während der Vornahme einer weiteren bösen Tat. Das Subjekt muß sich irgendwann einmal z. B. 218 Aus dieser beschränkten Sicht handelt die Doktrin der Lebensführungsschuld das Problem ab, explizit so Jakobs, AT, 1983 17/26ff. Vgl. w. Mezger, ZStW 57,1938, S. 675 ff., 688 f., R. Lange, ZStW 62, 1944, S. 192 ff., 196 ff. und Welzel, ZStW 60, 1941, 428 ff., 458 ff. 219 Zum strafrechtlichen Begriff der Ingerenz vgl. instruktiv Hruschka, JuS 1979, S. 385 ff. und ders., Lb., 1988, S. 124 ff. Für die Rückfallstrafschärfung des § 48 a. F. StGB vertrat Mir Puig eine ähnliche Konstruktion, s. ZStW 86, 1974, S. 197 ff.

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sagen: "Wenn ich so weitermache, werde ich zu einem gewerbsmäßigen Hehler". Es muß die selbstgesetzte Anfälligkeit für derartige Lebensvollzüge erfaßt haben. Denn anderenfalls mangelt es an der Korrumpierung der verstärkten Pflichtenmahnung. Dabei tritt jedoch folgende Schwierigkeit zutage: Das urspünglich einmal vorhandene Wissen von der Pflicht zur Habitualisierung innerhalb sittlicher Bezüge ist durch das erste Vergehen schon derart gelockert, daß es dem Betreffenden mit jeder Fortsetzung immer schwerer wird, seinen weiteren Werdegang zu stoppen. Diese erste Erosion der Geltung sittlichen Wissens kann aber bezüglich der Pflicht zur Gewohnheitsbildung nicht zugerechnet werden. Umgekehrt mindert das sich auflösende Normwissen gerade die Fähigkeit, den sich verfestigenden Neigungen mit dem eigenen Gewissen entsprechend gegenzusteuern. Eine Vollform eines Korrumpierungsprozesses wird hier also nicht mehr aufweisbar sein, so daß hier - wenn überhaupt - ein geminderter Schuldvorwurf angebracht ist. Dasselbe Problem stellt sich auch dort, wo dem Betreffenden zwar nicht die Selbstgefährdung des bestehenden Wissens von der Pflicht zum Aufbau einer bestimmten sittlichen Disposition nachweisen läßt, wohl aber sein bisheriges Leben im Widerspruch zur Pflicht gestanden hat, das Gute zu verwirklichen, bzw. sich in sittliche Zusammenhänge einzugliedern. Denn auch dort, wo dieser Zustand nicht durch habituelles Verschulden herbeigeführt worden ist, mahnt ihn das Gebot weiterhin, eine sittliche Haltung auszubilden. Bei Hegel findet sich eine explizite Formulierung dieser Pflicht zwar nicht im Zusammenhang mit der Moralität. Es ist aber oben gezeigt worden, wie sie aus dem universellen Gebot, das Gute dauerhaft zu verwirklichen, notwendig folgt. Ihm steht die Pflicht zur Seite, sich in Institutionen einzugliedern, in den das Gute in den gesetzmäßigen Gewohnheiten aller Beteiligten lebendig ist 220 • Wegen dieser Funktion der Gewohnheit, in Hegels praktischer Philosophie den subjektiven Wendepunkt von der Moralität zur Sittlichkeit darzustellen, kann diese Pflicht daher für Hegel erst im dritten Teil der Rph. angesprochen werden. Diese Pflichtenmahnung durchzieht daher die gesamte Abhandlung über die Sittlichkeit, in deren einzelnen Einrichtungen Hegel das Gute verkörpert sah 221. Inwiefern diese Annahme berechtigt ist, ist bisher erst im Ansatz für die Familie als dem Ort der Liebe aufgewiesen worden; für die anderen Institutionen kann dies erst in den nächsten Abschnitten der Arbeit problematisiert werden. Für den hier maßgeblichen Zusammenhang reicht es aber aus, soweit man nur die Pflicht zur Herausbildung einer allgemeinen Handlungsweise, wie sie aus der Grundnorm des Guten folgt, zugrunde legt. 220 Diese Pflicht zur Institutionenbildung (im folgenden institutionelle Pflicht) wird grundlegend in Rph. §§ 144, 148, S. 293 f., 296 f. angesprochen. Vgl. Nusser, ZphF. 35, 1981, S. 555 ff. 221 Für die Familie sagt dies Rph. § 162 Anm., S. 311, für die bürgerliche Gesellschaft, Rph. § 207, S. 359 f. und für den Staat Rph. §§ 153 Anm., 258, S. 303, 399.

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Wer in einem inneren oder äußeren Zustand lebt, der durch den Verfall der Einsicht in das Gute gekennzeichnet ist, den trifft daher die Pflicht, diesen Zustand zu verlassen, auch wenn er unverschuldet in ihn gelangt ist. Wo aus dem Verbleiben in diesem Zustand unrechte Taten folgen, dort sind diese dann zurechenbar, wo über den selbstgesetzten Einsichtsverlust bezüglich des Einzelaktes hinaus auch ein Verhalten vorliegt, welches zum Verstellen dieser Pflicht zum Eintritt in sittliche Bezüge geführt hat 222 • Allerdings ist bei einem derartigen Täter davon auszugehen, daß er von vornherein lediglich ein nicht vormals selbst gelebtes, sondern völlig ungefestigtes Wissen von dieser Pflicht zur Einübung in sittliche Lebensvollzüge besitzt, so daß bei ihm eine Konstitution vorliegt, in dem eine Kontrolle über diejenigen Kräfte nahezu ausgeschlossen sein muß, die in diesem Zustand beharren wollen und deren wirkmächtige Existenz der Betreffende nicht zu vertreten hat. Einem Heranwachenden z. B., in dessen sozialen Umfeld starker Alkoholkonsum zum Alltag gehört, der bei ihm jedoch häufig zu Aggressivitäten führt, kann nur unter folgender Voraussetzung ein Vorwurf habituellen Verschuldens gemacht werden: Er muß den Zusammmenhang zwischen seinen Gewalttätigkeiten und dem schlechten Einfluß seiner Mitmenschen zwar erkannt, aber für sein zukünftiges Leben in den Wind geschlagen haben. Nur wo er das aufkommende Gefühl der Verpflichtung zur Vermeidung derartiger Kontakte als Vorbedingung für ein gewaltfreies Leben verspürt hat und dennnoch sich mit einschlägigen Folgen diesem Einfluß weiterhin aussetzt, dort kann die Möglichkeit eines habituellen Schuldvorwurfes in Erwägung gezogen werden, wenn sein Hang zur Aggressivität sich in erneuten Taten manifestiert. In diesem Zusammenhang wird es überdeutlich, wie wichtig die Befolgung der Pflicht anderer moralischer Subjekte ist, ihrem Kosubjekt zur Einsicht in das Gute, d. h. zur Eingliederung in sittliche Lebensvollzüge zu verhelfen. Die stete Möglichkeit, in deformierten sozialen Zuständen unverschuldet einen Hang herauszubilden, kann nur dann an der Realisierung gehindert werden, wenn Außenstehende den Fehlenden auf sein Versäumnis hinweisen. Das kann dort, wo dies unverschuldet geschehen ist, sanktions los erfolgen. Aber auch das Strafverfahren, das ja auf Wahrheit und Gerechtigkeit angelegt ist, zielt darauf, dem Angeklagten durch Nachweis seiner Schuld es möglich zu machen, nicht nur rückblickend sein Vergehen zu verarbeiten, sondern auch zukunftsgerichtet die Gefährdetheit seiner praktischen Einsicht in das sittlich Richtige zu erfassen 223. Zwar erlaubt es die Reflexionsfreiheit des moralischen Subjekts auch hier, der institutionell erfolgten Pflichtenmahnung in seinem eigenen Gewissen keine Geltung zu verschaffen. So bleibt auch dann habituelles Verschulden nicht ausgeschlossen. 222 Ähnlich R. Lange, ZStW 62, 1944, S. 192 ff., 196 ff., der diese Fonn habituellen Verschuldens jedoch allein auf die Überwindung schlechter natürlicher Anlagen bezieht. 223 In diese Richtung auch M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 408 f. Zum Hegeischen Verständnis der Rolle der Strafrechtspflege s. u. 2. Kapitel C. II. 2. a).

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1. Kap. C. Verbrechenslehre und Moralität

Dennoch erfordert eine derart intersubjektiv erfolgte Kritik an der eigenen Verhaltensweise einen deutlich höheren Aufwand an Verdrängungstechniken. Mithin wird es erst unter dieser Voraussetzung auch plausibel, demjenigen, dessen Wissen von der Habitualisierungspflicht unverschuldet gelockert ist, dennoch eine Korrumpierung dieser nun intensivierten Pflicht in nachfolgenden Taten vorzuwerfen 224. Weil und soweit alle Straftaten, die im Zustand konstitutionellen Unwissens von der Grundnorm des Guten erfolgen, aus einem einzigen habituellen Verschuldensprozeß hervorgehen, werden sie - trotz der Vielheit, in der sie in der Erscheinung auftreten - zu einer Einheit zusammengeschweißt 225. Es liegt mithin materiell nur eine (fortgesetzte) Tat vor. Dabei ist zu beachten, daß sich der Täter innerhalb einer "fahrlässigen" Verstellung seiner Habitualisierungspflicht am Anfang seiner Hangkonstitution nur beschränkt Gedanken über den Umfang des Unrechts macht, das aus seiner Habitualität folgt. Dann kann er aber nur nach dem bestraft werden, was in seiner Vorstellung lag. Drittens kann der Widerspruch zur Eingliederung in sittliche Verhältnisse inhaltlich zwei verschiedene Gestalten annehmen:

Zum einen kann das moralische Wesen sich vornehmen, seine eigene Willkürlichkeit zum Lebensprinzipe zu machen. Dann muß es sich konsequenterweise einer ständigen Einbindung in die haltungsbildenden Mechanismen (sittlicher) Institutionen entziehen. So kann es aber nicht an derjenigen allgemeinen Handlungsweise teilhaben, die nach Hegel sich dort einstellen, wo das Gute in den Beziehungen der Individuen zueinander fest verwurzelt ist. Diese verschaffen in den Gebräuchen der Menschen deren allgemeinem Willen eine feste Existenz, in der sich die Geltung der Gesetze zur Notwendigkeit fortbestimmen 226. Stattdessen macht das sich isolierende moralische Wesen die Realisierung der Grundnorm des Guten von der zufalligen Befindlichkeit seines eigenen subjektiven Willens abhängig. Gerade diese Beliebigkeit erhebt es zu seiner alles beherrschenden Lebensmaxime. Das bedeutet im Verhältnis zu anderen, daß die Verwirklichung des Rechten und Guten bei ihm von der Zufälligkeit abhängig gemacht wird. Trifft sein besonderer Wille in seiner jeweiligen Konstitution den rechten Maßstab, so bleibt es bei dem bloß subjektiven Mangel, daß es seine eigene Innerlichkeit nicht richtig beherrscht. Wo die schwankende Konstitution seines natürlichen 224 Auch das institutionelle Gebot bzw. die Ingerenzpflicht können mittelbar ihrer Geltung beraubt werden, so daß auch diesbezüglich eine "fahrlässige" Habitualisierung möglich ist. 225 Wie hier M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S.409, Welzel Lb., 1969, S. 226 f. 226 Deutlich wird dieser Zusammenhang von subjektiver Konstitution und Verwirklichung der Freiheit in der Enzykl. §§ 484 f., S. 303 f. ausgesprochen. Für Hegel ist diese Einheit von besonderem Interesse, wie auch Rph. § 150 Zus., S. 300 f. zeigt: Dort hält er diejenige Tugend, die sich auf die sittliche Virtuosität einzelner Individuen beschränkt, der Idee der Freiheit nicht vollständig angemessen; ein durchaus demokratischer Gedanke.

H. Die Folgen für den Verbrechensbegriff

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Triebsystems jedoch zu einem Verbrechen führt, kann das Subjekt zu seiner Entlastung nicht angeben, es mangele ihm anders als Anderen an der Beherrschung seiner Dispositionen. Vielmehr trifft ihn dort der Vorwurf habituellen Verschuldens, wo er sich die Kenntnis von der verstetigenden Funktion einer Einbindung in eine allgemeine Sitte (unmittelbar oder vermittelt) verstellt hat. Ich nenne eine derartige Gewohnheit, die das eigene Belieben zum Lebensprinzip erhebt, habituelle Haltlosigkeit. Zum anderen kann es dem se1bstgesetzten Schein einer vernünftigen Lebensform erliegen. Dann gliedert es sich allmählich oder im bewußten Übertritt in eine unsittliche Institution ein. So gehört es zum kriminologischen Erfahrungsschatz, daß viele Täter, die ihr Handwerk gewerbsmäßig betreiben, aus der ihnen von ihren Komplizen entgegengebrachten Anerkennung in gemeinsamer Arbeit zu der Vorstellung gelangen, einen richtigen Lebenswandel zu führen 227. Hier liegt dann die Vollform der Boshaftigkeit vor, wenn der Betreffende dem Wissen von der Grundnorm des Guten nicht nur für den Einzelfall seine Unrechtsmaxime entgegensetzt: Er muß ihr darüber hinaus für sein weiteres Leben derart Geltung verschaffen, daß er - um ihre Realisierungschancen zu erweitern - sie auf das Verhältnis zu anderen in der Weise ausdehnt, daß sie zu einem gemeinsamen Lebensplan wird. Meist wird die Entscheidung für das eigene Leben vorhergehen; doch läßt sich diese Maxime häufig nur durchhalten, wo sie durch die Interaktion mit anderen Verbrechern in ihrer Geltung und ihren Erfolgen bestärkt und gesichert wird. Wo ein Mensch diesen Plan in sein Unrechttun beständig mit aufnimmt, dort liegt im engeren Sinne das habituell Böse vor. Hier zielt schon der erste Ausführungsakt über sich hinaus auf eine die eigene Subjektivität übergreifende und so einbindende Handlungsweise, deren Objektivation im Handeln Anderer wiederum die eigenen Entschlüsse bestärkt und so zur tiefsten Einwurzelung einer üblen Gewohnheit führt. Diese Vernetzung erlaubt es auch - trotz der Konfrontation mit rechtlicher Kritik an dem Geschehen in verfahrensmäßiger Form - , subjektiven Verdrängungstechniken eine Erfolgschance einzuräumen, weil und soweit sie von Anderen ein feedback erhält. Hier liegt daher am häufigsten jener Teufelskreis einer kriminellen Karriere vor. Diese sich aus handlungstheoretischen Überlegungen ergebende Unterscheidung zweier inhaltlich verschiedener Konstitutionsformen habitueller Delinquenz weist eine gewisse Ähnlichkeit mit einer tätertypologischen Unterscheidung in der Kriminologie auf 228 : 227 Vgl. dazu Sutherland in: Sack / König, 1968, S. 395 ff. Ders. Professional Thief, 1957, S. 140 ff., 154 ff., 197 ff., 229 ff.; Cloward / Ohlin, Delinquency, 1960, S. l3 ff., 40 f., 104 ff., 110 ff., l30 ff., 144 ff., 188 ff. Hier finden sich auch Ausführungen zum Doppelversager, dem sowohl der Aufstieg im legalen sozialen Milieu als auch unter Kriminellen verschlossen bleibt. 228 s. die Darstellung eigener empirisch kriminologischer Forschungen bei Hellmer, Gewohnheitsverbrecher, 1961, S. 53 ff., 118 ff., l33 ff., 193 ff., 200 ff.; ders., ZStW 72, 1960, S. 397 ff. und ZStW 73, 1961, S. 441 ff. Zust. Hellm. Mayer, Strafrechtsreform,

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1. Kap. C. Verbrechenslehre und Moralität

Dort wird dem Hangtäter aus Willensschwäche der aktiv chronisch Kriminelle (Berufsverbrecher) gegenüber gestellt. Ersterer erweise sich als eine haltlose Persönlichkeit, der schlechtem Einfluß von Außen erliegend über einzelne Gelegenheiten zum Verbrechen eine diesbezügliche Gewohnheit ausbilde 229. Bei letzerem trete dagegen die willentliche Gestaltung eines kriminellen Lebens deutlich zutage. In Ausführung eines selbstgewählten Konzeptes spezialisiere dieser sich auf die Begehung bestimmter, gleichartiger Delikte. Dabei organisiere er seine Tätigkeit häufig in einer Bande oder durch Anknüpfung an andere persönliche Beziehungen, meist unter Ausnutzung eigener Überlegenheit 230 • Trotz auffallender Ähnlichkeit dieser kriminologischen Forschungsergebnisse mit den hier sich aus der handlungstheoretischen Analyse ergebenen Resultaten sind folgende Unterschiede zu beachten: Nach der hier gegebenen Ausdifferenzierung muß es nicht so sein, daß derjenige, welcher habituell haltlos ist, in diesen Zustand lediglich durch äußere Einflüße getrieben worden ist. Vielmehr ist es prinzipiell auch denkbar, daß sich darin eine bewußte Entscheidung zu bindungs losem Leben äußert. Dann aber hat man es nicht mit einem Täter aus Willensschwäche zu tun. Umgekehrt kann nach obiger Analyse sehrwohl das Verbrechen zum Beruf geworden sein, obwohl die Entscheidung zu diesem Lebenswandel erst allmählich und schon unter dem Einfluß der sich anbahnenden Einbindung durch andere Kriminelle getroffen worden ist. Hier hat man daher eher eine Hangbildung vor sich, die sich auch der Schwäche des Betreffenden verdankt. Wenn also auf die angeführte kriminologische Forschung Bezug genommen wird, so geschieht dies daher nicht unter unkritischer Übernahme von deren typologischen Einteilungen verschiedener Persönlichkeitsbilder. Wie gezeigt, gehen die idealtypischen Gegensätze der Willensschwäche und der aktiv kriminellen Lebensgestaltung auf dem Hintergrund der handlungstheoretischen Analyse durchaus ineinander über. Werden derartige Klassifikationen unter Abstraktion von den wirklich vorliegenden habituellen Verschuldensformen auf den Delinquenten angewandt, so besteht die Gefahr normativer Zu schreibung von Verantwortung für den eigenen kriminellen Lebensweg 231. Nur wenn man das Grundmodell habituellen Verschuldens, wie es hier nach drei verschiedenen Ebenen ausdifferenziert worden ist, zugrunde legt, können meines Erachtens am Einzelfall die wesentlichen Unterscheidungskriterien in der 1962, S. 156 ff., ders., ZStW 80, 1968, S. 139 ff. Vgl. w. Göppinger, Kriminologie, 1980, S. 418 f., 441 ff., Mergen, Kriminologie, 1967, S. 383 ff. 229 So Hellmer ZStW 73, 1961, S. 452; vgl. a. Mergen, Kriminologie, 1967, S. 384. 230 So Hellmer, ZStW 73, 1962, S. 452 f., Göppinger, Kriminologie, 1980, S. 418 f., 441 ff. 231 Deutlich so Mergen, Die Kriminologie, 1978, S. 169 ff. Zu diesem Problem s. w. Schöch, Artikel Klassifikation und Typologie, in: Kaiser, et. al., KKW, 1985, S. 187 ff. m.w.N.

II. Die Folgen für den Verbrechens begriff

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Schuldschwere herausgearbeitet werden. Es ist also nicht nur auf den Gegensatz zwischen Haltlosigkeit und habitueller Boshaftigkeit einzugehen, sondern zugleich auch die Frage zu beantworten, wie sich das Subjekt diese Konstitutionsformen aufgebaut hat: Danach macht es einen Unterschied, ob es sich unmittelbar derartige Lebensgestaltungen als gut vorgaukelt oder in vermittelter Weise bzw., ob es anfänglich eine diesbezügliche Entscheidung trifft oder erst allmählich zu ihr findet. ddd) Haltungsbildung und aktuelle Entscheidung Das hier vorgestellte Modell habituellen Handeins erzwingt daher auch eine differenzierte Betrachtung des aktuellen Verschuldensprozesses bezüglich einer Einzeltat. Schon dort hatte sich gezeigt, daß bestimmte, aktuell unverfügbare Dispositionen ein Verfehlen des Praxiswissens im Augenblick der Tat dem Subjekt unvermeidbar machen können. Von einem konsequent durchgeführten Ansatz der Willensschuld dürften derartige Verhaltensweisen dem Subjekt demnach nicht zugerechnet werden, es sei denn, es läßt sich ein habituell vermitteltes Verschulden begründen. Kurzum, die Frage nach dem Einfluß einer aktuell bestehenden, schädlichen Neigung des Delinquenten auf seine Tat muß auch hier nach Grund und Maß stets unter dem Aspekt habitueller Willensschuld beantwortet werden. Aus diesem Grund ist es nicht möglich, Einzeltatschuld unter Abstraktion von den Haltungen des Betreffenden zu begründen, ohne das Prinzip der Willensschuld zu verlassen, und damit den Schuldbegriff zu verflachen. In diesem Falle könnte "Lebensführungsunschuld" nicht eingebracht werden 232 • Einwände gegen ein Konzept der Lebensentscheidungsschuld, welche dieser vorwerfen, sie könne nicht zwischen Schuld und Schicksal differenzieren, fallen daher letztlich auf ihre Vertreter zurück 233. eee) Systematische Einordnung des Willensschuldkonzepts Schließlich läßt sich an Hand der eben dargestellten Arten der Gewohnheitsbildung noch näher klären, was unter der Vorstellung zu verstehen ist, daß der Verbrecher noch in der Unmittelbarkeit verhaftet bleibt. Diese unmittelbare Bedürfnisgeleitetheit erweist sich nun über die Willkür des subjektiven Willen des Täters vermittelt. Bei der Einzeltat ist die Geltungsbestätigung in der Äußerlichkeit nur beschränkt dieses konkrete (bisher ungesühnte) Verbrechen, während 232 Darauf weist zu recht Jakobs hin, der dieses Wort prägte, in: AT, 1983, 17/35 und 17/26 ff., wo dieses Konzept unter den Vorbehalt gestellt wird, daß in der Praxis bessere (Re-)Sozialisierungsbedingungen bestehen. Dazu s. das Schlußkapitel. 233 So die überwiegende Meinung im Anschluß an Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, 1976, S. 149 f., 187 ff., im strafrechtlichen Schrifttum, vgl. nur Lenckner, in: Schönke / Schröder, 1988, Rdnr. 105 f. vor §§ 13 ff. m. w. N. Gegen sie zutreffend insoweit Jakobs AT, 1983, 17/35 ff. und M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 406 f., Fn. 25 m.w.N.

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1. Kap. C. Verbrechenslehre und Moralität

bei den habituellen Arten des Verschuldens ein anderer Zusammenhang zu beachten ist: Zwar ist auch hier die Willkür Grund der sich festsetzenden, schädlichen Neigung. Sie hebt sich aber förmlich in der entstehenden Haltung auf, die für die Willkürlichkeit des Subjekts auf Dauer unverfügbar wird 234. Dies gilt in besonders schwerwiegender Weise für die habituell Bösen, bei denen der Geltungsschein ihrer eingewurzelten Unrechtsmaxime auf langer Praxis und intersubjektive Anerkennung beruht. Es gilt aber auch für die habituell Haltlosen, die sich dem gemeinschaftlich geübten Leben in sittlichen Institutionen entfremdet haben und die daraus resultierende Schwäche in der eigenen Normhaltung als Grund anführen, sich von der eigenen Tat zu distanzieren. Hier erwächst die Bindung an die Unmittelbarkeit aus der mangelnden Arbeit am eigenen natürlichen Willen, dessen Befindlichkeit man sich nun ausgeliefert fühlt. Negative und positive Existenz des Verbrechens im Bewußtsein des Täters haben bei habituellen Schuldformen nunmehr eine ganz besondere Schwerkraft: Insbesondere bei einer habituell bösen Einstellung ist die praktische Geltungskraft des allgemeinen Willens gänzlich geschwunden, während die verfestigte Unrechtsmaxime die ganze Lebensgestaltung beherrscht und schließlich sogar zur Ausbildung unsittlicher Institutionen führt. ce) Zusammenfassung

Im Unterschied zu Aristoteles legt Hegel bei der Darstellung der Gewohnheit den Schwerpunkt darauf, sie als Funktion der fühlenden Seele zu begreifen, deren Wirken dem Selbstbewußtsein zunächst vorgeordnet ist. Er versteht die Haltungsbildung auf allen ihren Stufen demnach zunächst als eine unbewußte Leistung der Seele, die aus der Mannigfaltigkeit ihrer Zustände das Gemeinsame ebenso herausarbeitet, wie sie deren Partikularitäten mittels der Mechanisierung ihrer Tätigkeiten beherrschen lernt. Darin liegt sowohl ein Moment der Befreiung von der Befangenheit in die Vereinzelung als auch die Gefahr, sich im selbstgesetzten Automatismus zu verlieren. Diese unreflektiert erfolgende Einübung in bestimmte Verhaltensweisen findet sich auch im Felde des objektiven Geistes wieder. So macht sie es einerseits möglich, daß in gelungenen sozialen Verhältnissen den Beteiligten eine rechtschaffene Handlungsweise angelernt wird, ohne daß diese von vornherein die sich darin verkörpernde Freiheitsgesetzlichkeit selbständig deduziert haben müssen. Andererseits liegt darin das Risiko, daß sich (zunächst) unbewußt eine üble Gewohnheit einschleifen kann. Soll dem Subjekt aus den daraus folgenden (unrechten) Taten ein Vorwurf gemacht werden, reicht es allerdings nicht aus, seinen Willen bloß als Mitursache dieses Hanges herauszustellen. Vielmehr gelten hier 234 Es ist die Figur der Unmittelbarkeit, die durch Aufhebung der Vermittlung vermittelt ist, s. Enzykl. § 122, S. 252. Gut auch Rph. § 149 Zus., S. 298 i. V. m. § 150 Zus., S. 300 f.

II. Die Folgen für den Verbrechensbegriff

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dieselben Kriterien, die auch bei der Zurechnung einer einzelnen Handlung aufgestellt sind, um das Recht des subjektiven Willens zu wahren. Folglich muß über den Verschuldensprozeß hinaus, der zur Konstruktion einer bösen Maxime für die konkrete Entscheidungssituation führt, eine übergreifende Korrumpierung auch des Wissens von der Pflicht zu bestimmter sittlicher Haltungsbildung stattfinden. Dieser Verdrängungsprozeß kann dabei unmittelbar an der Geltung der Grundnorm des Guten für die gesamte Lebenspraxis ansetzen oder mittelbar über die Negation des Erfahrungswissen von der mechanisierenden Kraft wiederholter (schlechter) Einzelakte verlaufen. Dabei kann der entstehende Hang zwei unterschiedliche Gestalten annehmen: Einmal führt die Negation der Pflicht zur sittlichen Charakterbildung bloß zur Isolierung des Betreffenden aus gelungenen sozialen Bezügen, woraus sich in letzter Konsequenz als Handlungsmaxime lediglich die Berufung auf die Erhaltung der eigenen willkürlich wechselnden Befindlichkeit ergibt. Ein Mensch mit einer derartigen Konstitution wird als habituell Haltloser bezeichnet. Zum zweiten kann die beständige Verdrängung dieser sittlichen Maxime auch dazu führen, daß über die Herauslösung aus sittlichen Verhältnissen hinaus der Betreffende sich in unsittliche Institutionen eingliedert oder diese gar gründet, indem er sie durch fortgesetztes Verbrechen am Leben erhält. Aus der festen Einbindung in solche Zusammenhänge erwächst eine Disposition, die ich habituell böse nenne.

3. Folgerungenjür das Verständnis des natürlichen Willens Wie die Handlungslehre der Moralität zur Persönlichkeit des Verbrechers die besondere Seite seiner Subjektivität hinzufügt, so wandelt sich von dieser Warte aus auch der Blick auf dasjenige, was als Gewalt von einem natürlichen Willen ausgeht. Das Resultat der Hegeischen Handlungslehre besteht darin, nur diejenige Tat auch nach der subjektiven Seite als eine freie Handlung zu verstehen, in der die eigene Pragmatik als Aufbereitung praktischen Wissens innerhalb eines Syllogismus nachvollziehbar ist. Wo eine Verhaltensweise nicht aus der Reflexionsleistung des Subjekts erklärbar ist, dort kann und darf sie nicht als eine Existenzform seines besonderen Willens aufgefaßt werden. In diesen Tätigkeiten ist es mithin nicht anwesend. Weil aber die Moralität das Verständnis dessen, was Dasein der Freiheit bedeutet (1. Kapitel A. II.), um das Recht des subjektiven Willens anreichert, sind die Taten, von denen dieser nicht als Grund angegeben werden kann, im spezifisch moralischen Sinne unfrei. Daraus folgt, daß solche Veränderungen der Außenwelt nicht als das Werk der Subjektivität der Individuen angesehen werden dürfen. Zwar ist es möglich, sie ihrem Willen als der Einheit seiner Momente zuzuschreiben, wie es in der Kategorie der Schuld ja intendiert ist. Dennoch fehlt es stets bei Akten, die weder aktuell noch habituell auf die Schlußtätigkeit des subjektiven Willens TÜckführbar sind, an der Beteiligung des Selbstbewußtseins.

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1. Kap. C. Verbrechenslehre und Moralität

Dies gilt sowohl für rechtskonforme Tätigkeiten als auch für solche, bei denen Unrecht getan wird. Allerdings tritt hier bezüglich der Bewertung derselben eine fundamentale Differenz ein: Bei der Darstellung des Prozesses der Gewohnheitsbildung wurde versucht herauszustellen, daß Hegel der Auffassung ist, daß auch das unreflektierte Nachahmen vorgefundenerJreiheitlicher Gebräuche eine Betätigung der eigenen Vernunft darstellt, wie sie an sich in jedem Menschen schlummert. Solche Handlungsweise kann daher nicht schlechthin unfrei sein, auch wenn ihr (noch) das Moment der Reflexion fehlt. Hier wird der Wille von seiner zweiten Natur angetrieben, die ihren Ursprung im Geiste hat, an dem alle Individuen teilhaben 235. Daraus folgt im Umkehrschluß, daß dort, wo sich das Verhalten eines unreflektiert Agierenden im Gegensatz zu den Regeln gelungener sozialer Verhältnisse bewegt, sein bloß natürlicher Wille am Werke ist. Es ist aber in Parenthese darauf zu verweisen, daß zur institutionellen Entfaltung der Freiheit ebenfalls auch der Widerspruch seine bestimmte Rolle hat, nämlich daß er auf die Beschränktheit einer Späre hinweist. So führt z. B. die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft, wie noch näher zu entfalten ist, zu einem Zustand, in dem das gemeinschaftliche Band am Zerreißen ist 236 • Es steht auf der einen Seite das Wohlstand, auf der anderen die Armut, was von den Betroffenen als Unrecht empfunden wird 237 • Eine solche Lage treibt einen beständigen Gesinnungsverfall hervor, der nicht einem Individuum zurechenbar ist und dennoch das Produkt des sich selbst widersprechenden objektiven Geistes darstellt, also als eine zweite Natur angesehen werden muß. Inwiefern Unrecht, das aus dieser zweiten Natur hervorgeht, einem einzelnen Subjekt allein zurechenbar bleibt, kann dann mit moralischen Kriterien allein nicht mehr gesagt werden. Kurzum: Objektiv pflichtwidriges Tun, das dem subjektiven Willen des Betreffenden nicht zurechenbar ist, ist in den bisher entwickelten Kategorien ein Akt des nur natürlichen Willens 238. Solche Verhaltensweisen stellen danach kein strafwürdiges Unrecht dar. Daraus folgt eine erhebliche Ausweitung des Bereichs bloß äußeren Unrechts zuungunsten des Verbrechens (und Betruges): Plötzlicher Ausfall der Wahrnehmung, Affektsturm und unbewußt gewachsene natürliche Dispositionen verhindern es, dem Betreffenden sein Unrecht vorzuwerfen. So ist hier auch eine wiedervergeltende Reaktion unangebracht. So unterscheidet sich auch der Widerspruch, in den sich ein böse Handelnder setzt, von dem Gegensatz, im dem sich der abweichende natürliche Wille befindet: Die (Gewalt-)Tat des Letzteren gehört noch zur vorrechtlichen Sphäre des inneren oder äußeren Naturzustandes. Dagegen hat der böse handelnde, besondere Wille sich nicht nur an sich in Widerspruch zum allgemeinen Willen gesetzt (wie im Nach Rph. § 4, S. 46, § 151, S. 301. Rph. § 245, S. 390 f. 237 Rph. § 241, S. 388. 238 In der Moralität wird es unter der Kategorie der Zurechnungsflihigkeit zusammengefaßt: Rph. § 120 Anm., S. 226; Rph. § 132 Anm., S. 247 f. 235

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111. Zusammenfassung

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Verbrechen), sondern dieser Gegensatz ist auch für ihn selbst ein Widerspruch mit sich. Der böse Agierende ist so auf dem Sprung, sein wahres Wesen in dieser seiner totalen Negativität zu erfassen und aufzulösen, d.h. in reflektierter Weise zu einem sittlichen Wesen zu werden 239. Folglich liegt hier ein Akt der Reflexionsfreiheit des Subjekts vor, das die eigene Innerlichkeit gegen die Welt kehrt, während dort noch Unfreiheit herrscht, der Begriff der Selbstbestimmung in diesem Willen (zur Zeit) keine Existenz hat 240 • III. Zusammenfassung

Blickt man zurück, so weist der Verbrechensbegriff eine außerordentliche Tiefenschärfe auf, wo er mit moralischen Kategorien angereichert wird. Die Ergänzung des Daseins der Freiheit um das Moment der Subjektivität führte dazu, daß der Boden des Rechts um die höhere Ebene der Innerlichkeit erweitert wurde. Das Verständnis der Äußerlichkeit erfährt eine Vertiefung: Es ist nicht nur Dasein der Persönlichkeit in ihrer ununterscheidbaren Gleichheit mit dem Dasein anderer Eigentümer; vielmehr ist es zudem Medium für den subjektiven Willen, seine Besonderheit Anderen gegenüber zur Geltung zu bringen. Wie das Beispiel des Raubes verdeutlicht, nimmt dort die Schwere der Verletzung zu, wo über die Negation des Eigentums hinaus auch die subjektive Gegenwart des Besitzers angegriffen wird. Umgekehrt führt aber die Ergänzung des Daseins der Freiheit um die Seite der Innerlichkeit dazu, daß das Moment der Äußerlichkeit in seiner endlichen, begrenzten und damit berechenbaren Natur erkannt wird. Hieraus folgt, daß seine Verletzung der quantitativen Betrachtung auch für das Opfer selbst zugänglich wird, wie durch das Verbrechen nicht mehr das Ganze der Freiheitsrealisation betroffen ist. Das gleiche Verhältnis herrscht auch auf der Ebene der Normgeltungsnegation. Daß das Rechtsgesetz in der Äußerlichkeit negiert ist, hindert nicht seine Anerkennung in der Innerlichkeit. Dadurch wird der Eindruck relativiert, die Norm als Ganze bestehe nicht mehr als Handlungsmuster. Besonders erhält aber der Handlungsunwert Farbe durch den Moralitätsteil der Rph. Hier wird herausgearbeitet, wie das Verbrechen nicht nur ein Widerspruch zwischen allgemeinem und besonderen Willen darstellt, sondern daß seine schuldhafte Verwirklichung einen Korrumpierungsprozeß voraussetzt, in dem der besondere Wille sich die Einsicht verstellt, daß er sich mit seiner Unrechtsmaxime in einem Selbstwiderspruch befindet. Dieser liegt darin begründet, daß 239 Über diese Rolle des Bösen als Wendepunkt in der Entwicklung des Geistes, s. Enzykl. § 386 Anm., S. 35. 240 Mit dem Zusatz soll darauf hingewiesen werden, daß auch der noch so Vernünftige in kurzzeitige Zustände geraten kann, wo sein Verhalten nicht mehr Ausdruck seines Geistes sondern seiner Natur ist, wie es die plötzliche Affekttat verdeutlicht. Vgl. a. in diesem Zusammenhang auch Rph. § 132 Anm., S. 247.

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

das Subjekt die eigene Besonderheit zum Prinzip erhebt. Dies geschieht, indem das Individuum sich gegenüber dem (abstrakten) Guten für eine spezifische Neigung entscheidet, in der die Aufhebung der eigenen Besonderheit nicht angezielt ist. Wo das Subjekt das Gute in der Ausführung eines konkreten Bedürfnisses realisiert, das den Handelnden in ein Verhältnis zu Anderen integriert, dem gesetzmäßige Gewohnheiten zugrunde liegen, verwirklicht es das Gute. Anschaulich ist dies in der gegenseitigen Liebe. Von dieser Warte aus gebietet die Grundnorm des Guten die Einordnung in sittliche Zusammenhänge, für Hegel also in Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat. Sinn dieser Einordnung ist zudem, das Individuum zu befähigen, zu einer festen Haltung bezüglich der Einsicht in die praktische Geltung des Guten zu kommen. Dies wird hier dadurch möglich, daß wohlgeordnete Institutionen allgemeine Handlungsweisen aufweisen, in den sich das Gute konkretisiert. Die beständige Erfahrung der Befolgung der Grundnorm des Guten führt zur Erfahrung der Selbstverständlichkeit der Nachahmung derartiger Verhaltensweisen, wodurch im Subjekt unvermittelt eine Gewohnheit der Rechtschaffenheit entsteht. Diese Neigung behält im Feld des Praktischen auch dann ihre relative Schwerkraft, wo das Subjekt, zur Reflexion fähig, seine Handlungsmaximen willkürvermittelt bilden kann. Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei unterschiedliche Verschuldensprozesse aufzeigen: Zum einen kann sich das Individuum punktuell in Widerspruch zum lebendigen Guten setzen, indem seine Reflexionsfreiheit sich gegenüber den eigenen Gewohnheiten in einem Einzelfall durch Bildung und Ausführung einer Unrechtsmaxime durchsetzt. Zum anderen kann das Subjekt jedoch auch die relative Allgemeinheit seiner Unrechtsmaxime nicht auf den Einzelfall beschränken, sondern für die gesamte Lebenspraxis durch wiederholte Einzelakte in Geltung halten. Diese beständige Negation des lebendigen Guten bestimmter Institutionen führt zumindest zur Selbstisolierung des Täters oder darüberhinaus zur Eingliederung in unsittliche soziale Verhältnisse, aus denen heraus immer wieder Straftaten erfolgen. Für den Betroffenen bedeutet das, daß an die Stelle seiner unmittelbaren Gewöhnung an sittliche Pflichten ein Hang zum Bösen getreten ist. Dieser kann entweder in der Pflege der eigenen Willkürlichkeit bestehen, worin das Individuum habituell haltlos handelt, oder zur Totalsetzung der Boshaftigkeit einer beständigen Kriminalität neigen, worin sich habituell böses Verhalten zeigt.

D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft Um die Rolle, die Verbrechen (und Strafe) in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft einnehmen, angemessen klären zu können, ist dessen Sozialphilosophie als ganze in ihren Grundzügen vorzustellen. Wie kaum ein anderer Teil von Hegels Denken wird seine Theorie der bürgerlichen Gesellschaft jedoch

I. Interpretationen der Theorie

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unterschiedlich interpretiert. Diese Meinungsvielfalt kann hier nicht umfassend wiedergegeben werden, ohne das leitende Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit aus dem Auge zu verlieren. Bevor die eigene Interpretation entfaltet wird, soll deshalb folgender Weg beschritten werden: Zunächst werden in Thesenform die Gesichtspunkte dargelegt, die der hier vorgenommenen Auslegung zugrunde liegen. Dann wird diese Interpretation in das bestehende Meinungsspektrum eingeordnet, das herkömmlicherweise in Hegel anhänger der Rechten, der Linken und der Mitte eingeteilt wird 1. Schließlich wird versucht, in knapper Form mögliche Einwände abweichender Deutungen gegen das hier gegebene Verständnis zu entkräften, das weitgehend einer liberalen Hegeldeutung entspricht. I. Die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft im Streit der Interpretationen

Die hier gegebene Deutung von Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft geht von folgenden Überlegungen aus: Kennzeichen der Hegeischen Sozialphilosophie ist ihre Dreiteilung: Neben der Familie trennt Hegel die Gesellschaft vom eigentlichen Staate ab 2 • Als erster Philosoph bringt Hegel damit die Folgen einer geschichtlichen Entwicklung auf den Begriff, die in der Französischen Revolution ihren Höhepunkt fand 3• In der Abspaltung der Gesellschaft vom Staat erblickt Hegel die institutionelle Verwirklichung des Prinzips der modemen Welt, dem Recht der Besonderheit, das in der Antike und in der Feudalzeit noch keine Anerkennung erfahren hatte 4 • Damit bricht Hegel mit einer Tradition im bisherigen politischen Denken, in dem der Mensch über die Hausgemeinschaft (Oikos) unmittelbar im Staate (Polis) als vergesellschaftet angesehen worden ist 5 • 1 Auf diese übliche Einteilung der Hegelschüler und ihrer Problematik wird unten noch näher eingegangen. Vgl. vorläufig W. R. Beyer, Hegel-Bilder, 1967, S. 47 ff.; Habermas, Theorie und Praxis, 1971, S. 140 f., 169; Kiesewetter, Von Hegel zu Hitler, 1974, S. 173 ff., 203 ff., 257 ff.; Löwith, in: Löwith, 1962, S. 31 ff., ders.: Von Hege! zu Nietzsche, 1969, S. 163 ff.;, Lübbe, in: Lübbe, 1962, S. ; ders.: Politische Philosophie, 1974, S. 27 ff. und Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 16 ff. Einführung in die gegenwärtigen Diskussion bei Göhler!Roth, ZphF 35, 1981, S. 501 ff. m. w. N. 2 Dazu nur Rph. § 157, S. 306. Die Entwicklungsstufen des Hege!schen Denkens zu diesem Konzept von Sittlichkeit zeichnet Horstmann nach, in: Riedel, 1975, S. 276 ff. 3 Diese Feststellung gehört zum Allgemeingut aller verständigen Hege!deutungen, s. Cassirer, Myth of the State, 1955, S. 341; Fleischmann, philosophie politique, 1964, S.6, 16, 23, 176, 371; Habermas, Theorie und Praxis, 1971, S. 162 ff., v. Henning, 1861, S. 76 ff.; Löwenstein, Hegels Staatsidee, 1927, S. 42 ff.; Peiczynski, in: Kaufmann, 1970, S. 29 ff. Riede!, in Riedei, 1975, S. 247 ff., Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 192 ff.; Rößler, System, 1857, S. 359 ff.; Rosenzweig, Hege! und der Staat, Bd. H, 1920, S. 190 ff.; Suter, in: Peiczynski, 1971, S. 52 ff. Vgl. w. Benhabib, Philos. and Socia! Criticism 8, 1981, S. 153 ff. 4 Rph. § 185, S. 341 ff.

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

Gleichzeitig bewahrt Hegel jedoch ein Grundanliegen der alten Sozialphilosophie: Indem er den Staat als eine Instanz über die Gesellschaft stellt, welche allein die in ihr liegende Gegensätzlichkeit aufheben kann, weist er ihn als die bonum commune aus, in der Freiheit erst in ihrem konkreten Sinne wirklich werden kann 6. Damit meidet er einen Fehler, der in der modemen Sichtweise des Staates angelegt ist: Wer das Prinzip der Besonderheit verabsolutiert, der gibt die Gesellschaft selbst als substantiellen Staat aus und macht schließlich den Staat zum Instrument von Privatinteressen 7 • Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft will nun diesen beiden Elementen des Prinzips der Neuzeit gerecht werden. Das Recht der Besonderheit soll einen eigenständigen Platz in der Wirklichkeit erhalten. Dies schließt die Ausbildung gewisser staatlicher Einrichtungen (wie Rechtspflege und Polizei) mit ein 8 • Hier werden daher von Hegel modeme sozial philosophische Ansätze aufgenommen. Gleichzeitig zeigt die Verabsolutierung des Prinzips der Besonderheit, daß es allein nicht fähig ist, stabile gesellschaftliche bzw. politische Institutionen auszubilden 9. Es ist daher auf einen Staat rückzubeziehen, der als Einrichtung umfassender Allgemeinheit sich nicht allein aus dem Prinzip der Besonderheit ableitet 10. Die Analyse der bürgerliche Gesellschaft stellt sich so als ein notwendiger Zwischenschritt heraus, den Hegel nehmen muß, um sein Verständnis von Sittlichkeit als lebendiger Einheit von Recht und Wohl zu entfalten. In ihm wird die Seite der Besonderheit im Willen, wie sie in eigenständigen Institutionen Gestalt annimmt, entfaltet und ihre Grenze bestimmt. Ihr spezifischer Charakter ist nun in Abschichtung von anderen sittlichen Einrichtungen herauszuarbeiten. Die Familie als Ort der Liebe wurde bereits oben als sittlich konkretes Rechtsverhältnis ausgewiesen, in der Personalität und Wohl ihrer Glieder nicht nur aus Pflicht, sondern aus Neigung geachtet werden. Liebe kann jedoch ihrem Begriff nach nur ungeteilt zugewandt werden, weil sie die völlige Hingabe an den Partner zur Voraussetzung hat. Unter Menschen ist sie als personales Verhältnis daher nur als Zweierbeziehung denkbarlI. Im Verhältnis zu Dritten kann Recht und Dazu gut Riedei, Studien, 1969, S. 80 ff., ders., in: Riedel, 1975, S. 247 ff. m. w. N. Rph. § 260, S. 406 f. Ähnlich Avineri, Hegels Theorie, 1976, S. 211 ff.; Barion, Hege!, 1963, S. 131; Aeischmann, philosophie politique, 1964, S. 255 ff.; Gregoire, 1962, S. 248; Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 300 ff. 7 Abgrenzung in diese Richtung in: Rph. §§ 182 Zus., 258 Anm., S. 339 f., 399 ff. Die Instrumentalisierung des Allgemeinen durch den einzelnen Bürger wird allgemein angesprochen in Rph. § 187, S. 343. 8 Vgl. Rph. §§ 209 ff., 230 ff., S. 360 ff., 382 ff. 9 S. Rph. §§ 243 ff., S. 389 ff. 10 Rph. § 258, S. 399 ff. Dazu Gregoire, 1962, S.248 und Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 300 ff. 11 So Rph. § 167, S. 320 f. Anders bei der christlichen Nächstenliebe. Sie soll zwar allen Menschen dienen, ist aber nur Ausdruck des personalen Verhältnisses zu Gott, vgl. Geist des Christentums, S. 351 u. Ö. 5

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1. Interpretationen der Theorie

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Wohl daher nicht mittels gegenseitiger Zuneigung verwirklicht werden. Beherrschendes Handlungsmotiv ist hier vielmehr - wie man mit Kant sagen kann 12 - die Selbstliebe 13. Darin kommt die bestimmte Negation der unmmittelbaren Sittlichkeit der Familie zum Ausdruck. Insoweit ist die bürgerliche Gesellschaft durch den Verlust der Sittlichkeit geprägt 14. Dennoch ist die bürgerliche Gesellschaft von Hegel nicht als die bloße Naturbasis des Staates konzipiert, sondern offenbart sich in bestimmter Weise als Dasein der Freiheit: In ihr vollzieht sich, worauf sowohl Hegelianer der Linken wie der Mitte stets hingewiesen haben IS, die Emanzipation des einzelnen Bürgers aus eigener Naturbefangenheit und der Unselbständigkeit in feudalen bzw. patriarchalischen Ordnungen 16. Diese Befreiung durch die Bildung in der gegenseitigen Arbeit füreinander beschränkt sich aber nicht auf die Optimierung (gattungsallgemeiner) Bedürfnisbefriedigung 17. Vielmehr konstitutiert sie, nun in institutioneller Entfaltung, eine Selbständigkeit der Bürger, die sich gerade in der Überwindung der Macht der Begierde ausprägt 18. In gesellschaftlicher Objektivität wiederholt sich die Entwicklung vom Selbstbewußtsein zum freien Willen: Es bildet sich in habitualisierter, gegenseitiger Anerkennung eine kollektive Identität, ein allgemeines Selbstbewußtsein, aus, als Personen in gleicher Weise frei zu sein 19. Gleichzeitig führt der die bürgerliche Gesellschaft beherrschende Grundsatz der Besonderheit zu einer Ausdifferenzierung verschiedener Bewußtseinsstände, die Prinzipien dieses allgemeinen, personalen Selbstbewußtseins zu erfassen: Durch arbeitsteilige Spezialisierung fällt es in den Beruf eines Teils der Gesellschaft, des allgemeinen Standes, die Grundsätze des Rechts in Gesetzen zu formulieren, durchzusetzen und so in den Einrichungen der Rechtspflege und der Polizei eine gewisse Eigenstaatlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft auszuKpV § 3, A 40 f., WW VII, S. 128 f.; GMS, BA 42 f., WW VII, S. 44 f. Rph. §§ 182 ff., S. 339 ff. u. ö. 14 Rph. § 181, S. 338. Sie bleibt insofern jedoch erhalten, wie die Sittlichkeit sich jetzt in ihre Extreme, den einzelnen Bürger, verliert, in deren Streben sowohl nach dem eigenen Wohl als auch nach Achtung ihrer Person sich in partiku[arisierter Form die Momente der Idee des Guten brechen, Rph. § 184, S.340. Die Idee der Sittlichkeit, Rph. § 142 f., S. 292 f., auf dem Standpunkt ihrer Entzweiung, Rph. § 157, S. 306. Dazu allgemein Barisic, PhilJb 96, 1989, S. 314 ff. 15 Vgl. statt vieler nur K. Marx, Kritik, MEW I, S. 283 ff., ders., Judenfrage, MEW I, S. 363 ff. und Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 271 ff. 16 Rph. § 187, S. 343 ff. Dazu Hauser, in HegelJb 1987, S. 293 ff. 17 s. dazu die Kritik an Marx 1. Kapitel A. 1. 18 Rph. § 194, S. 350. 19 So Rph. § 209 Anm., S. 360 f. Dies hat Ritter stets betont, in: Metaphysik und Politik, 1969, S. 271 ff. Es macht die spezifisch gesellschaftliche Identität von objektiver Sittlichkeit (Rph. § 144 f., S. 293 f.) und Individuum als Subjekt des Sittlichen (Rph. § 146 f., S. 294 ff.) aus, vgl. Rph. § 150 f., 153, S. 298 ff., 303 f. Vgl. dazu Chronis, HegelJb 1987, S. 250 ff. 12

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

prägen 20. Damit ist nicht nur eine institutionelle Festigung der einzelnen subjektiven Rechte auf personale Freiheit und Privateigentum verbunden 21. Zugleich findet auch eine gewisse Verselbständigung der in einem Stand der Gesellschaft konzentrierten Staatsgewalt statt: Nur die Akte des allgemeinen Standes gelten jetzt noch als Äußerungen der allen gemeinen Rechtsvemunft 22 , während die Glieder anderer Stände auf den subjektiven Nachvollzug dieser Akte beschränkt sind. Dabei legitimiert sich staatliche Machtausübung (noch) nicht demokratisch; vielmehr ist es das berufsständische Prinzip der Verteilung der gesellschaftlichen Rolle nach den besonderen Fähigkeiten, das hier das Handeln des allgemeinen Standes rechtfertigt. Das Problem sich verselbständigender staatlicher Macht wird in der vorliegenden Arbeit daher schon in Bezug auf den Not- und Verstandesstaat der bürgerlichen Gesellschaft diskutiert, ohne diesen mit dem substantiellen Staat Hegels zu konfundieren 23. Die Konstitution der Eigenstaatlichkeit wird hier als ein Prozeß der Institutionalisierung derjenigen subjektiven Rechte auf Eigentum und Teilhabe am allgemeinen Wohl verstanden, die als Dasein der Freiheit einzelner Subjekte schon im abstrakten Recht und in der Moralität abgeleitet worden sind 24. Dabei sind die einzelnen Stadien in der fortschreitenden staatlichen Anerkennung des (abstrakten) Rechts und des Wohles nicht in einem einheitlichen Zugriff darstellbar. Vielmehr sind die einzelnen Funktionen des Not- und Verstandesstaates aus der dialektischen Entwicklung abzuleiten, die oben schon beim Übergang vom abstrakten Recht zur Moralität angesprochen worden ist 25 • In diesem Prozeß bekommen dann Verbrechen (und Strafe) ihre eigene Rolle in der Sittlichkeit: Die Straftat macht jetzt in partikulärer Weise das Wohl als ein Eigenrecht geltend, das institutionell anzuerkennen ist. Strafe dient dem Anspruche nach dazu, die Herstellung eines sittlich konkreten Rechtsverhältnisses, indem Recht und Wohl in gegenseitiger Verknüpfung wirklich sein können, zur öffentlichen Aufgabe zu machen. Institutionell leitet sich daraus der Übergang von der Einrichtung der Rechtspflege, die dem abstrakten Recht dient, zur Polizei ab 26 , die im altdeutschen Sinne als umfassende Wohlfahrtsstaatlichkeit verstanden wird 27 •

s. Rph. §§ 205,287, 303, S. 357, 457, 473. Rph. §§ 217,222, S. 370,375. 22 Dies folgt aus Rph. §§ 211 f., S. 361 ff. Zur darin enthaltenen Problematik, Enskat, Theorie des praktischen Bewußtseins, 1986, S. 74 ff. 23 Rph. §§ 183,258 Anm., S. 340,399 ff. Inwiefern Hegel überhaupt an eine demokratische Legitimation denkt, s. sogleich. 24 s. o. 1. Kapitel B. I. und C. I. Sie werden in Rph. § 154, S.304, in das sittlich Gute aufgenommen. 25 Allgemein zur dialektischen Notwendigkeit des Negativen in Hegels Ethik, s. Wandschneider, HegelJb 1987, S. 185 ff. 26 So Rph. § 229, S. 381 f. 27 H. Maier, Staats- und Verwaltungslehre, 1980, S. 92 ff., 105 ff., 207 ff. und insbes. S. 236 ff.; Naucke, in: FS Erler, 1986, S. 177 ff. 20

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I. Interpretationen der Theorie

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Eine Verschärfung in der Problemstellung, mit der die Gesellschaft zu kämpfen hat, rührt daher, daß gemäß ihren Maximen die Teilhabe am allgemeinen Wohl über das Privateigentum an Kapital und Arbeit vermittelt ist 28 • Nach dem sich aus dem Prinzip der Besonderheit ergebenden Konkurrenzmechanismus führt dies zu einer unterschiedlichen Verteilung der Chancen, an der Erwirtschaftung gesellschaftlichen Reichtums zu partizipieren 29. Hegel nimmt zwar mit der Gliederung der Gesellschaft in nach Berufszugehörigkeit organisierte Schichten 30 die historische Entwicklungsstufe der ständischen Struktur auf, welche die einzelnen Gemeinschaften nach der Abschaffung der feudalen Ordnung in der Folge der Französischen Revolution aufwiesen 31 • Danach waren im Prinzip alle Bürger selbständige Wirtschaftssubjekte 32 , die also alle in beschränkten Umfang produktives Kapital besaßen 33. Hegel zeigt aber sogleich die ökonomische Dynamik einer derartigen Gesellschaftsformation auf, die über den Konkurrenzmechanismus einerseits zur Konzentration des Kapitals in der besitzenden Klasse und andrerseits zur Herausbildung einer wachsenden Schicht unselbständiger Wirtschaftssubjekte, dem Arbeiterstand, führt 34. Mechanisierung und Industrialisierung führen dabei dazu, daß der Bedarf, Arbeiter zu verdingen, schwindet. So sinkt eine wachsende Anzahl an Bürgern in Armut und Verelendung herab 35. Damit gerät die bürgerliche Gesellschaft in die Krise, die sich auf allen Ebenen, also auch im Verfall des Rechtsbewußtseins und der höheren Anfalligkeit für Verbrechen niederschlägt. Dadurch sind alle Stabilisatoren für die einzelnen subjektiven Rechte ebenso bedroht wie die Geltung der objektive Rechtsordnung. Dementsprechend verschärfen sich die Strafen. In dieser und auch in anderer Weise instrumentalisiert dann die besitzende Klasse das Recht und den Staat, um das eigene Eigentum, das eigene Wohl zu sichern. Trotz der Geltung allgemeiner Gleichheit und Freiheit setzt sich jetzt im Not- und Verstandes staat doch der So Rph. § 200, S. 353. Zum Konkurrenzmechanismus vgl. Rph. § 193, S. 349 f. Zu der notwendigen Folge sozialer Ungleichheit, Rph. § 200 Anm., S. 354. 30 Hegel bezeichnet sie dem Sprachgebrauch seiner Zeit gemäß als Stände, Rph. § 201 f., S. 354 f. Damit ist aber nicht das feudale System gemeint, das durch Beitrittsregeln die gesellschaftlichen Gruppen gegeneinander abschottet, s. Rph. §§ 206,303 Anm., S. 358, S. 473 f. Zu diesen Unterscheidungen in der Soziologie vgl. v. Nell-Breuning, Art. Stand und Ständewesen, in: Bemsdorf, Wb. d. Soz., 1969, S. 1122 f. 31 Vgl. dazu Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 1983, S. 255 ff. Anachronistisch daher Bülow, Ständestaat, 1934, S. 14 ff. 32 Wegen der Beschränkungen der Anzahl der Gesellen durch Zunftordnungen, s. Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 1983, S. 264 ff. 33 In diesem spezifisch ökonomischen Sinne werden die Kategorien Selbständigkeit/ Unselbständigkeit im folgenden gebraucht, wenn sie als Prädikat zur Kennzeichnung von Wirtschaftssubjekten verwandt werden. Davon unabhängig ist die Kategorie der Selbständigkeit im Sinne der Konstitution von Selbstbewußtsein zu betrachten. Für sie reicht es aus, wenn das betreffende Subjekt überhaupt für andere arbeitet, s. o. 1. Kapitel A.I. 34 Rph. § 243 ff., S. 389 ff. Dazu Lübbe-Wolf, ARSP 68, 1982, S. 249 f. 35 Rph. § 244 f., S. 389 ff. 28

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

Privatbürger mit seinen egoistischen Interessen durch. Insoweit ist die Auslegung in Marxistischer Tradition daher berechtigt 36 • Der Not- und Verstandesstaat erweist sich dabei als unfähig, dieses Elend zu beseitigen. Damit wird er nicht mehr dem selbstgesetzten Anspruch gerecht, das sittlich konkrete Rechtsverhältnis, Recht und Wohl, für jedermann zu gewährleisten. Weil die Teilhabe am allgemeinen Wohl in der bürgerlichen Gesellschaft über Arbeit und Eigentum vermittelt sein muß, so müßte der Not- und Verstandesstaat, um das Wohl der Armen zu sichern, in das Eigentum der Reichen eingreifen. Er kann daher nach seinem Stand der Verwirklichung des sittlich konkreten Rechtsverhältnisses das eine Unrecht somit nur über ein anderes aufheben. Dennoch liegt hier kein unauflöslichlicher Widerspruch vor 3? Vielmehr führt die für alle drohende Gefahr der Verelendung dazu, sich in berufs ständischen Korporationen gegen diese Not zu versichern 38 • Das dieser sittlichen Einrichtung zugrunde liegende Prinzip ist entgegen den historistischen Verkürzungen Hegels auch auf die Selbstorganisation des Arbeiterstandes verallgemeinerbar. So führt es zu einer Reintegration desselben in sittliche Bezüge. In den Korporationen machen sich daher die Bürger aus eigenem Interesse wieder das sittlich konkrete Rechtsverhältnis zu ihrem Zweck 39 • Wenn auch beschränkt auf die korporativen Ziele, so handeln sie dennoch insoweit politisch 40. Allerdings geschieht dies um den Preis, daß nun die Korporationen in ihrem Gegeneinander den Konkurrenzmechanismus in ungeheurer Potenzierung reproduzieren. Es bedarf daher gewissermaßen einer Korporierung der Korporationen, einer übergreifenden Regulierungsinstanz, die fähig ist, in gesellschaftlicher Allgemeinheit das sittlich konkrete Rechtsverhältnis durchzusetzen. Darin sieht Hegel die Aufgabe seines substantiellen Staates: "Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit; die konkrete Freiheit aber besteht darin, daß die persönliche Einzelheit und deren besondere Interessen sowohl ihre vollständige Entwicklung und die Anerkennung ihres Rechts für sich (im Systeme der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft) haben, als sie durch sich selbst in das Interesse des Allgemeinen teils übergehen, teils mit Wissen und Willen dasselbe und zwar als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und für dasselbe 36 Vgl. statt vieler K. Marx, Kritik, MEW 1, S. 281,283 ff., 295, 319, ders., Judenfrage, MEW 1, S. 355,363 ff., 388; Lukacs, Der junge Hegel, 1954, S. 419 ff.; 3? So aber K. Marx, Kritik, S. 291 ff.; Popitz, Der entfremdete Mensch, 1968, S. 80 ff. 38 Rph. § 252, S. 394 f. Dazu Avineri, Hegels Theorie, 1976, S. 193 ff.; Heimann, in: Pe1czynski, 1971, S. 111 ff.; Hocevar, Hegel, 1973, S. 38 ff., 88 ff.; Allgemeine Einordnung bei Di1cher, in: FS Erler, 1986, S. 114 ff.; Hendler, Selbstverwaltung, 1984, S. 7 ff. 39 Rph. §§ 249, 255, S. 393, 396. 40 Denn das Handeln als Korporationsmitgliedes entspricht dem, was Hegel die politische Tugend nennt, das Wollen an und für sich seiender Zwecke, so Rph. § 257 Anm., S. 398. Daß die Korporation die Privatperson in diesem Sinne gewissermaßen "politisiert'" spricht Hegel in der Nachsehr. Hotho an, in: Ilting III, S. 713. Wie hier auch Avineri, Hegels Theorie, 1976, S. 199 f. Dazu auch O'Malley, ZphF 34, 1987, S. 75 ff.

1. Interpretationen der Theorie

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als ihren Endzweck tätig sind, so daß weder das Allgemeine ohne das Besondere Interesse, Wissen und Wollen gelte und vollbracht werde, noch das die Individuen bloß für das letztere als Privatpersonen leben ... "41 Die Durchführung dieses Konzepts eines Staates, der nicht mehr allein das Mittel darstellt, die subjektiven Rechte der Einzelnen zu erhalten, sondern der als Regulierungsinstanz Selbstzweck ist 42 , ist Hegel allerdings nach nahezu übereinstimmender Auffassung aller gegenwärtigen Interpretationsrichtungen nur bruchstückhaft gelungen 43 • Diese Diskussion kann hier nur im Ansatz aufgenommen werden. Soviel ist jedoch m. E. sicher: Hegel hat das Problem, die Maxime der Neuzeit, das Recht der Besonderheit, mit einer politischen Verfassung zu vermitteln, sowohl in seinem affirmativen Gehalt als auch in seiner Negativität unterschätzt. Die beiden Teile des Staatsrechts, in denen Hegel über den schon im Not- und Verstandesstaat entwickelten politischen Beitrag von Verwaltung und Rechtspflege hinausgeht 44 , verkürzen das Problem durch unvermittelten Rekurs auf eine naturgegebene Ordnung 45: Zwar ist an der Deduktion der Erbmonarchie richtig, daß die Einheit der universalen Rechtsvernunft aller Bürger nur in einer Person als verkörpert angesehen werden kann 46 • Das Umschlagen des Begriffs, der im Felde des objektiven Geistes kein anderer als der des freien Willens sein kann, führt schon seiner allgemeinen Struktur nach zum Setzen der unmittelbaren Einzelheit aus der Allgemeinheit, s. o. 1. Kapitel A. 11. Dennoch ist damit nicht die Erbfolgeregelung abgeleitet. Mit ihr soll die staatliche Konstitution durch Verweis auf eine natürliche Ordnung für den subjektiven Willen unverfügbar gesetzt werden 47 • Die Natur Rph. § 260, S. 406 f. Dazu Gregoire, Rev. Philos. de Louvain, Tome 60, 1962, S. 248 und Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 300 ff. 43 Für die Linkshegelianer vgl. K. Marx, Kritik, MEW I, S. 232, 251 ff., 260, 264 ff., 288,300,321, 384f. u. ö.; Ruge, in: H. u. I. Pepperle, Die Hegeische Linke, 1985, S. 147 ff.; Marcuse, Vernunft und Revolution, 1969, S. 181 f., 190 f. Die Mitte vertritt Rohrrnoser, Subjektivität, 1961, S. 111 f. Rosenzweig, Hegel und der Staat, 1920, Bd. I, S. 88 ff., 115, 145, 185, Bd. II, S. 242. ; Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, 1970, S. 443 ff. Zu Michelet vgl. Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 238 Fn. 46. Bei den Rechtshegelianern ist eine Kritik eher versteckt bzw. auf Teile des Staatsrecht beschränkt, z. B. Busse, Hegels Phänomenologie, 1931, S. 128 f.; Larenz, ZStaatswiss., 98, 1938, S. 135; Schönfeld, Geschichte, 1943, S. 510. Daß die verschiedenen Hegelschulen dabei häufig je andere Aspekte kritisieren, muß nicht besonders hervorgehoben werden. 44 Der Abschnitt über die Regierungsgewalt reformuliert die Aufgabe des allgemeinen Standes im Rahmen des substantiellem Staates, vgl. Rph. §§ 287,303, S. 457,473. 45 So schon Ruge, in: H. u. 1. Pepperle, Die Hegeische Linke, 1985, S. 147 ff. 46 Rph. § 279, S. 444. Zur Monarchielehre vgl. Becchi, ARSP 72, 1986, S. 231 ff. 47 Rph. § 280, S. 449 f. Dazu Haym, Hegel und seine Zeit, 1857, S. 383; Marcuse, Vernunft und Revolution, 1969, S. 193; K. Marx, Kritik, MEW I, S. 218 ff.; Ruge, in: H. u. I. Pepperle, Die Hegeische Linke, 1985, S. 147 ff. Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 383 ff.; Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, 1970, S. 440 ff. Zu Michelet vgl. Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 238 Fn. 46. 41

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

kann aber ebensowenig klären, wer der erste Monarch sein soll, noch hält sie eine Regel bereit, die eingreifen kann, wenn das Geschlecht ausstirbt. Hier liegen die Einbruchstellen für den Kampf der subjek~iven Willen. Nur eine zweite Natur, der geistige Mechanismus gesetzmäßiger Gewohnheit, in dem sich der subjektive Wille in gelebter politischer Wirklichkeit bestimmte Regeln der Wahl des Staatsoberhauptes selbst unverfügbar gemacht hat, kann hier das Tragende sein 48. Ohne ein solches allgemeines Selbstbewußtsein eines Staatsvolkes hängt die Legitimation staatlicher Gewalt, wie sie bei Hegel vom Monarchen ausgeht 49 , gegenüber dem subjektiven Willen ebenso in der Luft wie die allgemein akzeptierte Ausübung des Gnadenrechts 50 • Auch die Begründung der politischen Funktion des natürlichen Standes hilft sich mit dem Verweis auf die Natur: Die Abhängigkeit von Grund und Boden sollen den Bauernstand zu einer Stütze des Staates adeln 51. Die Majorate, welche die Auflösung des auf Grundbesitz ruhenden Vermögens der jeweiligen Familie der Willkür des Einzelnen entziehen, sollen rechtlich diese Stabilität verbürgen 52. Damit unterschätzt Hegel aber die negative Dynamik des aus dem Prinzip der Besonderheit fließenden Konkurrenzmechanismus, der die bürgerliche Gesellschaft beherrscht und vor keinem Stand Halt macht 53. Wo Grund und Boden unproduktiv werden, dort kann auch das Majorat den Verfall des Vermögens nicht verhindern. Einzig die Repräsentation des Gewerbestandes durch Abgeordnete der einzelnen Korporationen ist im Ansatz gelungen. Hier liegt keine unaufhebbare Aporie in der Vermittlung zwischen dem staatlichen Allgemeinen und dem Besonderen 54. Die Privatstände werden nicht unvermittelt zu politischen Organisationen transsubstantiiert 55 • Denn in den Korporationen bildet sich, wenn auch auf die eigenen Ziele beschränkt, bereits ein politisches Bewußtsein heraus, da hier das individuelle Ziel nur in Zusammenhang mit dem allgemeinen Zweck der eigenen Korporation durchgesetzt werden kann 56. Problematisch ist hier allerdings nicht nur, daß In diese Richtung Ruge, in: H. U.1. Pepperle, Die Hegeische Linke, 1985, S. 147 ff. Rph. § 283, S. 455. 50 Rph. § 282, S. 454. 51 Rph. § 305 ff., S. 474 ff. 52 Rph. § 306, S. 475 f. Dazu ausf. K. Marx, Kritik, MEW I, S. 303 ff. Ferner Avineri, Rev. Metaphysics 21, 1967, S. 42 ff. Ähnlich schon Ruge, H. u. I. Pepperle, Die HegeI48 49

sche Linke, 1985, S. 147 ff. Für sinnvoll hält die Majorate dagegen Erdmann, Vorlesungen über den Staat, 1851, S.29, 57, 119 ff. Vgl. w. Lübbe, Schw. Monatshefte, 47, 1967, S. 240 ff. 53 Von Hegel selbst angesprochen in Rph. § 238, S.386. Auch hier erhält daher in Fonn des Genossenschaftswesens die Idee der Korporation Einzug, vgl. Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 1983, S. 151. 54 So aber K. Marx, Kritik, S. 291 ff.; Popitz, Der entfremdete Mensch, 1968, S. 80 ff.; Riedei, Studien, 1969, S. 69 ff. 55 So K. Marx, Kritik, MEW 1, S. 280, 282; Riedei, Studien, 1969, S. 69 ff. Wie hier Avineri, Hegels Theorie, 1976, S. 199 f.

1. Interpretationen der Theorie

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nach Hegels Konzeption der Arbeiterstand ausgeblendet wird. Fragwürdig ist auch, ob sich der subjektive Wille der Einzelnen durch die Abgeordneten seiner Organisation wirklich in seiner Allgemeinheit repräsentiert fühlen kann: Denn sie sind ja nicht als Vertreter des ganzen Volkes gedacht. Zudem ist nicht ausgemacht, wie die Abgeordneten durch die Korporationsmitglieder ausgewählt werden sollen. Auch hier rekurriert Hegel augenscheinlich unmittelbar auf die Mechanismen der in der Gesellschaft naturwüchsig entstandenen, intermediären Gruppen 57. Ohne eine Demokratisierung der gesetzgebenden Gewalt, die sich gerade aus der Notwendigkeit ableitet, die besonderen Interessen in ein auf umfassende Allgemeinheit ausgerichtetes, politisches Selbstbewußtsein zu erheben, hinkt daher die Vermittlung zwischen Bürger und Staat. Nicht das Fehlen einer Politisierung der Privatstände bildet m. E. die Aporie aus; vielmehr stellt die sich bloß aus dem Gruppenegoismus speisende Politisierung des Einzelnen die Problematik dar, die Hegel in ihrer Schärfe nicht erkannt hat. Die hier gegebene Interpretation der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Bezügen zum Staatsrecht reiht sich damit in die Auslegungsversuche der Hegeischen Mitte ein 58. Diese sind davon gekennzeichnet, die bürgerliche Gesellschaft nicht bloß als Naturbasis des Staates, sondern auch als Sphäre einer Emanzipation anzusehen, die nicht bei der Optimierung der Bedürfnisbefriedigung Halt macht. Zugleich erkennt sie das Problem der Verselbständigung staatlicher Macht an, hält aber das Grundkonzept, das Hegel vom Staat entwickelt, für tauglich, der Freiheit ein institutionelles Dasein zu geben 59. Die hier versuchte Auslegung unterscheidet sich jedoch in drei Punkten von der üblichen liberalen Hegeldeutung: Zum einen versucht sie, die Eigenstaatlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft nicht mit dem Staatsrecht des dritten Teils der Sittlichkeit zu konfundieren. Zum anderen bemüht sich die vorliegende Arbeit darum, auch die negative Seite des gesellschaftlichen Emanzipationsprozesses vollständig zu entfalten. Schließlich soll belegt werden, daß nur eine genetische Entwicklung der einzelnen Stadien von Staatlichkeit die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft zu dem Punkt führt, an dem versucht werden kann, die Richtung hin zu einer allgemeinen Problemlösung anzugeben. 56 Aus diesem Blickwinkel ist m. E. daher die Anm. Hegels zu Rph. § 303, S. 474 zu verstehen. Vgl. w. Nachschr. Hotho, in: Ilting III, S. 713. 57 Deutlich in Rph. § 309, S. 478, wo allein das Geschick den Auschlag geben soll, wer abgeordnet wird. Zur Problematik auch Stratton, ARSP 74, 1988, S. 33 ff. 58 Zusf. Darstellung dieser Interpretationsrichtung bei Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 224 ff. m. w. N. Vgl. w. W. R. Beyer, Hegel-Bilder, 1967, S. 47 ff.; Habermas, Theorie und Praxis, 1971, S. 140 f., 169; Löwith, in: Löwith, 1962, S. 31 ff., ders.: Von Hegel zu Nietzsche, 1969, S. 163 ff.;, Lübbe, in: Lübbe, 1962. 59 Zu diesen Kriterien, die Hegelschulen einzuteilen, vgl. Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 23 ff. Ottmann zeigt dort auch, daß die unaufhebbare Willkürlichkeit, die sonst der Zuordnung einzelner Autoren zu einer Schule anhaftet, bei der Gruppierung verschiedener Einstellungen zur Theorie der bürgerlichen Gesellschaft deutlich herabgemindert werden kann.

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

Die liberale Interpretationsrichtung ist dabei Angriffen sowohl der Rechtswie der Linkshegelianer ausgesetzt. Abschließend soll daher kurz auf ihre, für den vorliegenden Zusammenhang relevanten Argumente eingegangen werden. Die Linkshegelianer sehen in der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft das heimliche Zentrum des Systems, dessen Widersprüchlichkeit Hegel nur mit Hilfe einer Mystifikation auflösen könne, in der die Idee (Gottes, des Staates) zum Subjekt erklärt werde, die einzelnen Menschen (der bürgerlichen Gesellschaft) dagegen zu Objekten herabgewürdigt worden seien 60. Mit diesen metaphyischen Überhöhungen (des Staates) komme Hegel zu einer Rechtfertigung des Bestehenden, zu einer Akkommodation 61. Für Marx stellt Hegeische Rechtsphilosophie dabei eine gültige Beschreibung der modemen Welt dar 62 • Sie schildere, wie sich das Individuum von den Fesseln des feudalen Staates befreie 63. Die Kehrseite dieser Emanzipation sei aber die Entpolitisierung der Gesellschaft. Sie trenne sich als Kampfplatz der egoistischen Privatinteressen vom Staate ab 64 • Nur in dieser Abstraktion von der Gesellschaft finde er jetzt seine Rolle als Garant der Menschenrechte 65 • Sie könnten daher auch nur abstrakte Freiheit, Gleichheit und Sicherheit für alle verbürgen 66 • Dadurch werde der Interessenwiderstreit der Privat bürger nicht in konkreter Gleichheit aufgehoben, sondern gerade erst freigesetzt. Gesellschaft und Staat, der Mensch als egoistisches Wesen und als (abstrakter) Staatsbürger ständen in einem kontradiktorischen Verhältnis zueinander 67 • Damit müßten alle Versuche Hegels scheitern, diese beiden Seiten miteinander zu versöhnen. Diesem Dilemma versuche er durch eine sich an der schlechten Realität orientierenden Angleichung der beiden, einander ausschließenden Widerspruchspaare, also einer Akkomodation, zu entgehen 68, Statt den wirklichen Menschen zum Subjekt der Aufhebung zu 60 K. Marx, Kritik, MEW 1, S. 206, 231, 241, 244, 216, 250, 263, 267, u. ö. Ähnlich schon Ruge, in: H. u. I. Pepperle, Die Hegeische Linke, 1985, S. 443 ff. Diese Argumentationsform geht zurück auf L. Feuerbach, s. Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 43 ff., 62 f. Vgl. w. Brandt, HS 14, 1979, S. 225 ff. 61 Ruge, in: H. u. I. Pepperle, Die Hegelsche Linke, 1985, S. 443 ff.; K. Marx, Kritik, MEW 1, S. 232, 251, 260, 266, 300, 321 u. ö. Ähnlich Adomo, Drei Studien, 1966, S. 44, 41; Haym, Hegel und seine Zeit, 1857, S. 365 ff.; Marcuse, Vernunft und Revolution, 1969, S. 162. 62 Einleitung, MEW 1, S. 383. In diese Richtung auch Marcuse, Venunft und Revolution, 1969, S. 161. 63 K. Marx, Kritik, MEW 1, S. 283 f.; Judenfrage, MEW 1, S. 351,388. 64 K. Marx, Kritik, MEW 1, S. 285 u. Ö. 65 K. Marx, Kritik, MEW 1, S. 283, 363 ff. 66 K. Marx, Judenfrage, MEW 1, S. 363 ff. 67 K. Marx, Kritik, MEW 1, S. 291 ff. Ähnlich Popitz, Der entfremdete Mensch, 1968, S. 80 ff.; Erhellende Zusammenfassung bei Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 65 f. mit Fn. 137, 139. 68 K. Marx, Kritik, MEW 1, S. 232, 251, 260, 291 ff. Ähnlich Adorno, Drei Studien, 1966, S.44, 41; Marcuse, Vernunft und Revolution, 1969, S. 162; Haym, Hegel und seine Zeit, 1857, S. 365 ff. Allgemein zum Akkomodationsvorwurf, Ottmann, ZphF 33, 1986, S. 227.

1. Interpretationen der Theorie

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machen, verkläre Hegel dabei die Idee des Staates zum mystischen Subjekt der Vereinigung 69. Diese Kritik von K. Marx, die einflußreichste in der linkshegelianischen Tradition 70, weist mit ihrer Gestalt des Akkomodationsvorwurfs auf eine Leerstelle in der Vermittlung des allgemeinen Willens mit dem besonderen im Staate hin, auf die oben bereits eingegangen wurde. Dennoch können m. E. damit aber nur historistische Züge in der Rph. kritisiert, die Akkomodation aber nicht schlüssig als Systemtendenz erwiesen werden 71. Zunächst steht die Behauptung eines kontradiktorischen Gegensatzes im Widerspruch zur Prämisse, nach der die Rph. zutreffend die Wirklichkeit beschreibe. Denn Aporien können nie beanspruchen, die Realität gültig wiederzugeben 72 • Nach der eigenen Voraussetzung von Marx kann es sich daher lediglich um einen konträren, mithin prinzipiell aufhebbaren Gegensatz zwischen Gesellschaft und Staat handeln. Dann reduziert sich die Kritik darauf, die Weise zu beanstanden, in der Hegel versuchte, den Widerspruch zu beheben. Hier kehrt nun bei K. Marx das oben bereits im Ansatz zurückgewiesene Argument wieder: Danach sei es eine MystifIkation Hegels, die Idee (des Staates) zum Subjekt zu erheben. Dahinter steht (für den hier relevanten Bereich) die Kritik der Vorstellung, Subjektivität anderer könne als Objektivation des eigenen Selbstbewußtseins begriffen werden. Insoweit kann auf die schon geleistete Gegenkritik verwiesen werden. Danach beruhen die Einwände vom Marx auf einer nicht zwingenden Reduktion von Praxis auf Bedürfnisbefriedigung. Die Gegenkritik ist jetzt aber in einem Punkt zu vertiefen: Die Einschränkung von Praxis auf Bedürfnisbefriedigung geht bei Marx einher mit der soziologischen Reduktion des Staates auf die Wirtschaftsgesellschaft 73 • Damit verfehlt Marx die Ganzheit des menschlichen Handelns 74 • Dessen einheitliches Prinzip, das erst den Antagonismus der Privatinteressen konstituiert, liegt darin, durch Arbeit individuelle Selbständigkeit zu erreichen, s. o. 1. Kapitel A. I. Institutionell folgt daraus, daß die Behauptung, es gebe eine reale Entgegensetzung im Konkurrenzkampf, zur Voraussetzung hat, eine Einrichtung anzuerkennen, die als Garant 69

K. Marx, Kritik, MEW 1, S. 206,231,241,244,216,250,263,267, u.

Ö.

Alle wichtigen Versuche auf der Linken, namentlich mit Verweis auf die Frühschriften Hege1s, dessen Gedankengut aufzuwerten, arbeiten sich dennoch an der von Marx behaupteten Aporie ab. Zusf. bei Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 86 ff. m.w.N. 71 So aber Adomo, Drei Studien, 1966, S. 44, 41; Haym, Hegel und seine Zeit, 1857, S. 365 ff.; Marcuse, Vernunft und Revolution, 1969, S. 162; K. Marx, Kritik, MEW 1, S. 232, 251, 260, 266, 300, 321 u. ö.; Ruge, in: H. u. 1. Pepperle, Die Hegeische Linke, 1985, S. 443 ff. 72 Vgl. Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 66, Fn. 139. 73 Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 177, S. 71 f.; Habermas, Erkenntnis und Interesse, 1971, S. 79 ff.; W. Schmidt, Hegel und die Volksordnung, 1944, S. 131,138 ff. 74 Habermas, Erkenntnis und Interesse, 1971, S. 59 ff.; W. Schmidt, Hegel und die Volksordnung, 1944, S. 131, 138 ff. 70

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

von Eigentum und personaler Freiheit der haltende Grund dieses Gegensatzes ist: der Staat, wie ihn Hegel der Idee nach konstruiert 75 • Mit dem Vorwurf der Mystifikation unterschätzt Marx den Wirklichkeits gehalt dieser Rolle des Staates 76. Dessen Abschaffung hebt somit gerade die institutionellen Bindungen auf, welche diejenige Emanzipation der Individuen ermöglicht, die auch Marx als Fortschritt der modemen Welt preist. Dennoch spricht Marx in seiner Kritik des Hegeischen Staatsrechts ein Problem an, dem sich die hier gegebene Interpretation ebenfalls stellt: Der Staat darf nicht bloß als eine äußere Notwendigkeit erscheinen, welche die Gegensätze der Interessen zusammenzwingt; er muß darüber hinaus auch mit dem subjektiven Willen seiner Bürger (namentlich deren Bedürftigkeit) vermittelt sein 77. Wie dargestellt, hat Hegel die Aufgabe des Staates gerade in dieser Weise formuliert, ohne sie jedoch bruchlos in der systematischen Entfaltung seines Staatsrechts bewältigt zu haben. Dies ermöglichte den Versuch, aus der Rph. eine Machtstaatslehre abzulesen 78. Sie sieht das Wesen des Staates letztlich nicht darin, die einheitsstiftende Funktion staatlicher Ordnung mit dem Recht der Bürger an ihre Besonderheit zu versöhnen. Stattdessen hebt sie am Hegeischen Staatsrecht die universalistischen Aspekte hervor, in denen das Prinzip der Subjektivität der staatlichen Einheit geopfert zu werden scheint. Die Versöhnung von Individuum und Allgemeinem werde bei Hegel in der Weise vollzogen, daß die Freiheit des Einzelnen lediglich im Namen der Lebendigkeit des Ganzen gefordert werde 79. Dies zeige Hegels Kritik des Liberalismus, dessen Atomismus und Vertragstheorie, des Kosmopolitismus 75 So Avineri, Hegels Theorie, 1976, S. 123; Barion, Hegel, 1963, S. 131; zustimmend Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 73. Vgl. a. Vogel, KS EH 41, 1925, S.95. 76 So Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 181 f.; ähnl. W. Schmidt, Hegel und die Volksordnung, 1944, S. 135. 77 So das Programm in Rph. §§ 260 f., S. 406 ff. 78 So Häring, Hege!, Bd. 1,1929, S. 598; Bd. 11,1938, S. 328; A. Lasson, Rechtsphilosophie, 1882, S. 37 f.; Rößler, System, 1857, S. 207, 210, 353 f.; Kritisch wenden dies gegen Hegel Apelt, Hegelscher Machtstaat, 1948, S. 11 ff.; Carrit, in: W. Kaufmann, 1970, S.35, 38; Cassirer, Myth of the State, 1955, S. 347 ff.; Heller, Hegel und der nationale Machtstaatgedanke, 1921, S. 34; Hobhouse, Staatstheorie, 1924, S. 107, 109; Hook, From Hegel to Marx, 1958, S. 22; Kiesewetter, Von Hegel zu Hitler, 1974, S. 21, 47 f., 94, 96, 107 ff.; Marcuse, Vernunft und Revolution, 1969, S. 158 ff., 181 f.; v. Martin, Geistige Wegbereiter, 1948, S. 18 ff.; Meinecke, Die deutsche Katastrophe, 1946, S. 28; Plamenatz, Man and Society, Volume 2, 1968, S. 267; Sabine, Political Theory, 1962, S. 645; Topitsch, Sozialphilosophie Hegels, 1967, S. 76 ff. Zu Droysen s. Kiesewetter, ebda., S. 170ff. und Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 147, Fn. 80. 79 Vgl. mit unterschiedlicher Radikalität: Erdmann, Vorlesungen über den Staat, 1851, S. 19 ff.; A. Lasson, Kulturideal, 1868, S. 13; Rößler, System, 1857, S. 320 f., 354; Spranger, Bildungsideal, 1916, S. 7 ff. Zu nationalsozialistischer Vereinnahmung kommen letztlich Binder, System, 1937, S. 35, 43; Häring, Hege!, Bd. I, 1929, S. 20 ff., 93, 139 ff., 434 ff., Larenz, Rechts- und Staatsidee, 1934, S. 147 f., 158; Spann, Geschichtsphilosophie, 1928, S. 12 f.; W. Schmidt, Hegel und die Volksordnung, 1944, S. 14,21 f., 28,31,39.

I. Interpretationen der Theorie

151

und des subjektiven Idealismus Kants und Fichtes 80 • Als einziger in der klassischen deutschen Philosophie habe Hegel ein Eigenrecht des Politischen, damit des Staates, betont. Dies müsse gegenüber der Marxschen Reduktion auf Gesellschaft bzw. seiner Instrumentalisierung für absolute Zwecke der Kultur in der Hegeischen Mitte herausgestrichen werden 81. Es ist nicht zu leugnen, daß im politischen Denken Hegels der Machtstaat immer wieder eine Rolle gespielt hat, deren Kontinuität nicht unterschätzt werden darf 82 • Genauso durchgängig steht aber Hegel das Ideal der konstitutionellen Monarchie vor Augen 83, das sich ebenso deutlich vom Preußen seiner Zeit unterscheidet 84, wie aus ihm weder ein Nationalstaat 85 noch eine totalitäre Diktatur abgeleitet werden kann 86 • Das wechselseitige Vorhalten unterschiedlicher Text80 So die Deutung der Kritik liberaler Ideen bei Binder, 1926, S. 42 ff.; Busse, 1931, S. 111 f.; Häring, Hegel, Bd. II, 1938,47 ff., 324 ff.; Larenz, 1934, S. 156, 158; Rößler, System, 19857, S. 323 ff.; W. Schmidt, Hegel und die Volksordnung, 1944, S. 13,21 ff. Zur Auseinandersetzung Hegels mit Kant und Fichte vgl. Binder, Staatsraison, 1929, S. 12; Erdmann, Grundriß, 1866, Bd. II, S. 594; Häring, Hegel, 1929, S.637; Bd. II, 1938, S. 47 ff., 397; Larenz, in: Reichelt, 1934, S. 41 f.: Rößler, System, 1857, S. 320 ff. 81 Pointiert Larenz, Rechts- und Staatsidee, 1934, S. 167. 82 Zu diesem sogenannten Kontinuitätsargument vgl. Larenz, Hegelianismus, 1940, S. 9 ff.; Rosenkranz, Apologie, 1858, S. 35, 46, 51 f.; Rosenzweig, Hegel und der Staat, Bd. II, S. 148 f., 163, 165. 83 Zu dieser Hegelschen Staatsvorstellung vgl. A vineri, Hegels Theorie, 1976, S. 220 ff.; Bloch, Subjekt/Objekt, 1971, S.249; Findlay, Philosophy of Hegel, 1966, S. 328 f. Aeischmann, philosophie politique, 1964, S. 297 ff.; Rosenkranz, Hegel, 1870, S. 153; Pelczynski, in: Pelczynski, 1971, S. 64, 97 ff., 137. Zu Michelet vgl. Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 234 ff. m. w. N. 84 Dieses Differenzargument hat eine logische und eine historische Seite: Einmal behauptet Hegel mit der These von der Wirklichkeit (des Vernünftigen im Staate) nicht, daß sie mit der reellen Existenz (der Staatenwelt) identisch sei, Enzykl. § 6, S. 47 ff., Rph. § 1 Anm., S.29; deutlich auch in Nachsehr. Hotho, in: Ilting III, S.727. Dazu Avineri, Hegels Theorie, 1976, S. 150 ff., Emge, Vernunft, 1926, S. 8 ff.; Giese, Hegels Staatsidee, 1926, S. 28 f., Gregoire, Etudes Hegeliennes, 1958, S. 333 Fn.; 314 ff.; W. Kaufmann, ZphF, 1956, S. 204 f.; Pelczynski, in: Pelczynski, 1964, S. 115; Taylor, Hegel, 1975, S.422; Weil, Hegel et l'tat, 1950, S.25. Zum anderen beschreibt das HegeIsche Staatsrecht nicht die bestehenden preußischen Zustände seiner Zeit, Aeischmann, philosophie politique, 1964, S. 297 ff.; Gregoire, Etudes Hegeliennes, 1958, S. 313; Pelczynski, in: Pelczynski, 1964, S. 16; Rosenkranz, Apologie, 1858, S. 38,51 f.; Rosenzweig, Hegel und der Staat, 1920, Bd. I, S. 108, 114 f., 116 f., 186, 212, Bd. II, S. 164 ff., 190 ff., 228 ff., Taylor, Hegel, 1975, S. 423 ff. Zum diffizilen Verhältnis der Rph. zum prALR vgl. Hocevar, Staat 11, 1972, 189 ff. 85 Der Zeit gemäß wurde Hegel aber in diese Richtung ausgelegt von Rößler, System, 1857, S. 547 ff. und A. Lasson, Kulturideal, 1868, S. 3 ff., aber auch von Rosenkranz, Hegel, 1870, S. 150 ff. Kritisch wird Hegel vorgeworfen, den Nationalismus befördert zu haben, von Cassirer, Myth of the State, 1955, S. 344; Heller, Hegel und der nationale Machtstaatgedanke, 1921, S. 34; Hobhouse, Staatstheorie, 1924, S. 15, 17; Hook, From Hegel to Marx, 1970)., S. 61, 64, 100, 102; Plamenatz, Man and Society, Volume 2, 1968, S. 208; Popper, Die offene Gesellschaft, 1970, Bd. II, S. 64 ff., 74, 81 ff. 86 In dieser Weise beuteten Hegels Denken aus: Bülow, Ständestaat, 1934, S. 17, 20 f.; Häring, Hegels Lehre, 1940, S. 25 f.; Dulckeit, Z. f. dtsch. Kulturphil., 4, 1937, S.49; Larenz, in: Reichelt et. al., 1934, S. 44, 168. Als Ahnherm des Dritten Reiches

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

stellen verschiedener Werkphasen kann daher kaum die Antwort auf die Frage geben, welches Staatsmodell dem Hegeischen System am nächsten kommt 87. Nur mit einem Rückgriff auf die Elemente des Rechtsbegriffs, des freien Willens, läßt sich sagen, wie der Staat bei Hegel konsistent deduziert werden kann und welche Wirklichkeit dem entspricht. Nach dem oben Gesagten ist es daher zum einen ausgeschlossen, den Staat universalistisch auf eine Allgemeinheit zu gründen, die dem Individuum transzendent ist; zum anderen darf der Staat die Allgemeinheit aller seiner Bürger nicht in einer Weise repräsentieren, die deren Recht der Besonderheit, namentlich deren Bedürftigkeit, mißachtet. Wie die Auseinandersetzung mit Marx ergeben hat, kann aber auch nur dasjenige Selbstbewußtsein der Menschen als rechtlich richtig gelten, die den Staat seiner Idee nach als Institution anerkennen, der in der realen Ausdifferenzierung und Entgegensetzung der Individuen deren Selbständigkeit garantiert. Dem entspricht eine Konstruktion des Verhältnis von Staat und Bürgern als wechselseitig aufeinander bezogener Selbstzwecke, die sich in ihrem Handeln gegenseitig hervorbringen und bestätigen 88 • Nur so kann der Staat als geistiger Organismus verstanden werden. Soweit Hegel dieses Konzept in der Entfaltung seines Staatsrechts nicht (immer) durchgehalten hat, liegen darin nach hiesiger Auffassung systemwidrige, aus den Grundsätzen des objektiven Geistes zu korrigierende Fehler. Sie sind oben bereits ansatzweise aufgezeigt worden. In diesem Rahmen muß auch die Kritik Hegels an Liberalismus, Atomismus, Vertragstheorie, Kant und Fichte gesehen werden. Trotz der Betonung der Personalität des Menschen wohnt dem Liberalismus mit seinem atomistischen Gesellschaftsbild selbst eine freiheitsfeindliche Tendenz inne. Sie äußert sich darin, auf unterschiedlicher Geschicklichkeit ruhende, konkrete Ungleichheit zu legititadeln Hegel: Meinecke, Die deutsche Katastrophe, 1946); Popper, Die offene Gesellschaft, Bd. 11, 1970, S.79, 93 ff.; Topitsch, Hegels Sozialphilosophie, 1967, S.92; Kiesewetter, Von Hegel zu Hitler, 1974, S. 19, 21 u. Ö. 87 Dies zeigt eindrucksvoll Gregoire, Etudes Hegeliennes, 1958, S. 221 ff. Zustimmend üttmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 267,275. Erst recht ist damit ausgeschlossen, durch isolierte Textstücke die Rph. hin auf eine Rechtfertigung eines (deutschen) Nationalstaates oder gar des Dritten Reiches auszulegen. Gegen eine nationalistische Deutung auch Avineri, Hegels Theorie, 1976, S. 201 ff.; Märcker, in: Der Gedanke 2, 1861, S. 242 f.; Pe1czynski, in: Pe1czynski, 1964, S. 16; Ablehnung einer nationalsozialistischen Vereinnahmung bei Avineri, Hegels Theorie, 1976, S. 201 ff.; Lukacs, Der junge Hegel, 1954, S. 37 ff., 66; Marcuse, Vernunft und Revolution, 1969, S. 11, 163, 193. Es ist allerdings zuzugeben, daß namentlich die Hegeische Kriegslehre (Rph. §§ 323 ff., 334 ff., S. 491 ff., 500 ff.) als relativ geschlossener Block zu einer universalistischen Interpretation reizt. Darauf kann hier nicht eingegangen werden, vgl. üttmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 146ff. mit Fn., 90ff., 150f., 177, 191 f., 195,269,285,293 f. mit Fn., 300, 311 f. mit Fn., 373. 88 So Gregoire, Etudes Hegeliennes, 1958, S. 250 f., ders., Rev. Philos. de Louvain, Tome 60, 1962, S. 246 f.; Heimsoeth, KS EH, 82, 1961, S. 26 f., 39; Taylor, Hegel, 1975, S.386; Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 300 ff. Dazu auch Bogdandy, Hegels Theorie des Gesetzes, 1989, S. 122 ff.; M. Wolff, HS 19, 1983, S. 147 ff.

1. Interpretationen der Theorie

153

mieren, Armut und Verelendung der Schwachen zuzulassen 89. An Kant und Fichte kritisiert Hegel grundsätzlich, die Allgemeinheit des Individuums zwar als Ausgangspunkt der Freiheit richtig hervorgehoben zu haben; dennoch stehe sie dort als uneingeschränkt positives Prinzip da. In seiner Willensdialektik versucht Hegel dagegen die immanente Negativität dieser Allgemeinheit des Einzelnen herauszuarbeiten, die in der (totalen) Entrechtung der Besonderheit des Menschen, namentlich seiner Bedürftigkeit, zu enden droht 90. Es kann hier nicht diskutiert werden, inwiefern Hegel damit Kant und Fichte wirklich trifft. Für das Argument gegen eine universalistische Interpretation ist es ausreichend, darauf hinzuweisen, das mit dieser Kritik Hegel seinen Vorgängern gerade nicht vorwirft, sie blieben bei der Besonderheit des Einzelnen stehen; vielmehr wendet er gegen sie ein, ihre Verallgemeinerung des Individuums bliebe zu abstrakt, weil sie der Besonderheit in einem unauflöslichen Dualismus entgegengesetzt werde. Wenn die Rechtshegelianer das Eigenrecht des Politischen bei Hegel betonen, so heben sie damit in der Tat einen kennzeichnenden Charakterzug des HegeIschen Staatsrechts hervor 91 • Das komplizierte Verhältnis zwischen absolutem Geist und Staat darf sicherlich nicht auf die Formel reduziert werden, dieser erschöpfe sich darin, den kulturellen Zwecken des ersteren dienlich zu sein 92 • Im übrigen ist diese These für sich genommen wenig tauglich, eine universalistische Deutung der (politischen) Philosophie Hegels zu widerlegen 93. Selbst wenn Kunst, Religion und Philosophie in dieser Weise den Staat zweckhaft binden sollten, so muß man doch behaupten, hier seien universalistische Interpretationen ausgeschlossen. Schon der historische Ausgangspunkt der Schulenspaltung widerlegt diese Annahme 94. Das Problem, inwiefern Hegel das Individuum und 89 Vgl. die Auseinandersetzung in Rph. § 236 Zus., S. 385. Auf Hegels Befassung mit dem Liberalismus wird in ähnlicher Weise positiv eingegangen bei Avineri, Hegels Theorie, 1976, S. 121 ff.; Ilting, in: Riedei, 1975, S. 60 ff.; üttmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S., 314 f., Fn. 383. 90 Dazu Rph. § 6 Anm., S. 52 f.; s. o. 1. Kapitel A. 11. 91 So auch üttmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 180 ff. 92 Zu dieser kulturstaatlichen Deutung vgl. Giese, Hegels Staatsidee, 1926, S. 109, 122; Leese, Geschichtsphilosophie, 1922, S. 111; Löwenstein, Hegels Staatsidee, 1927, S. 29; Meinecke, Staatsräson, 1924, S. 436 f., 457, 459; Rosenkranz, Hegel, 1870, S. 160; Rosenzweig, Hegel und der Staat, Bd. H, S. 180 ff. 93 Denn sie geht meist einher mit einer theologisch-politischen Deutung, für die, so läßt sich zusammenfassen, im Leben Jesu die Vernunft wirklich zu werden beginnt. Seine Verkündigung des Gottesreichs auf Erden sei sowohl der Maßstab, die Freiheit als daseiend zu erkennen, als auch revolutionäres Gebot, die Verhältnisse diesem unhintergehbaren Ideal immer weiter anzunähern. Es war Rosenzweig, der als erster diese Interpretation ausarbeitete, in: Hegel und der Staat, Bd. H, S. 79, 176 ff., 182 f.; vgl. w. Böckenförde, Säkularisation, 1967, S. 75 ff.; Giese, Hegels Staatsidee, 1926, S. 28 f., 119 ff., 124 f.; R. K. Maurer, HS BH 11, 1974, S. 392 ff.; Rohrmoser, Subjektivität, 1961, 35ff., 72ff., 94f., 107, 111 ff.; Scheit, Geist und Gemeinde, 1973, S.212ff.; Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, 1970, S.348, 372, 379 f., 392, 396, 423, u. Ö.

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

das Allgemeine miteinander vermitteln konnte, muß daher spezifisch auf dem jeweils thematischen Feld beantwortet werden. Deshalb ist zu versuchen, diese Frage aus der politischen Philosophie selbst zu beantworten. Dies kann hier nur in Kurzform geschehen. Das Eigenrecht des Staates muß als solches von der hier vertretenen Auffassung nicht bestritten werden. Wichtig sind die Inhalte, die damit transportiert werden. Bei den Rechtshegelianern herrscht eine Tendenz vor, mit dem Eigenrecht des Politischen zugleich zu einer Relativierung oder gar Aufhebung der Freiheitsrechte der Individuen zugunsten der Machtausübung des Staates zu kommen 95. Wie oben ausgeführt widerspricht eine solche Deutung dem freiheitlichen Willensbegriffs, welcher der Rph. zugrunde liegt. Die Alternative besteht danach aber nicht darin, staatliche Macht zugunsten der gesellschaftlichen völlig abzubauen. Dies führt letztlich zurück zur Marxschen Reduktion von Staat auf Gesellschaft, die den oben beschriebenen Einwänden ausgesetzt ist. Danach bedarf es neben der in modernen Zeiten notwendig individualistisch strukturierten Gesellschaften einer von den dort herrschenden Eigeninteressen unabhängigen Institution, die sowohl die Selbständigkeit der Bürger als auch deren Wohl garantiert. Darin liegt das Eigenrecht des Politischen begründet. Hierin findet aber staatliche Macht aber auch ihre immanente Grenze. Zusammenfassend ist zu sagen: Vorliegende Arbeit will sich in die Tradition der Hegeischen Mitte einordnen, die sowohl die Reduktion des Staates auf Gesellschaft als auch die unbegrenzte Stärkung des Staate gegenüber dem privaten Leben als freiheitsbedrohend ablehnt. Gleichzeitig versucht der hier in Grundzügen vorgetragene und noch zu entfaltene Ansatz, sowohl die negative Eigendynamik der bürgerlichen Gesellschaft als auch die Gefahren der Verselbständigung 94 Dazu nur Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 16 ff. m. w. N. insbes. Fn. 2. Hinter diesem Streit steht die allgemeine Frage, wieweit die Versöhnung schon wirklich geworden ist und wieweit die Säkularisierung des christlichen Glaubens gehen darf, ohne aufzuhören, Glauben zu sein. So schon die Problemformulierung bei Rosenzweig, Hegel und der Staat, 1920, Bd. II, S. 178, 182 f. Zwar kann nur der Staat, der die Religionsfreiheit respektiert, anerkannt werden. Hat er aber die christlichen Ideale verwirklicht, so kann die Religion ihm gegenüber auf dem Felde der Praxis keine eigenständige Rolle mehr spielen, so Weil, MS IV, 1962, S. 149 ff. Mit dieser Säkularisierung des Christentums hebt Hegel eher den Absolutheitsanspruch dieser Religion auf, an deren Stelle nunmehr die (praktische) Philosophie zu treten hat, vgl. Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 358 ff., 382 ff. Kritik der theologisch-politischen Deutung auch bei Kimmerle, HS 3,1965, S. 359 f.; Lübbe, Säkularisierung, 1965, S. 28, 38; Peperzak, Hegel, 1960,45, 88 f. 95 Die Unterordnung des Individuums unter die staatliche Macht seiner Geistigkeit wegen fordern noch Erdmann, Vorlesungen über den Staat, 1851, S. 19 ff.; A. Lasson, Kulturideal, 1868, S. 13; Rößler, System, 1857, S. 320 f., 354; Spranger, Bildungsideal, 1916, S.7 ff. Vgl. w. Giese, Hegels Staatsidee, 1926, S. 102 ff.; Heimsoeth, KS EH, 82, 1961, S. 26. Zu nationalsozialistischer Vereinnahmung kommen letztlich Binder, System, 1937, S. 35,43; Häring, Hegel, Bd. 1,1929, S. 20 ff., 93,139 ff., 434 ff., Larenz, Rechts- und Staatsidee, 1934, S. 147 f., 158; Spann, Geschichtsphilosophie, 1934, S. 12 f.; W. Schmidt, Hegel und die Volksordnung, 1944, S. 14,21 f., 28, 31, 39.

II. Die ständisch integrierte Gesellschaft

155

des Staates gegenüber seinen Bürgern anband der Willensdialektik durchzubuchstabieren und einer Lösung zuzuführen. Dies zeitigt auch Folgen für das Strafrecht, in dem sich wie in einem Mikrokosmos alle eben angerissenen Probleme wiederfinden werden. Hegel hat den Verbrechens- bzw. Strafbegriff im Rahmen seiner Theorie der bürgerlichen Gesellschaft vornehmlich im Blick auf die ständisch strukturierte Gesellschaft entwickelt, die von selbständigen Wirtschaftssubjekten ausgeht. Hierauf ist daher die Verbrechenslehre zuerst zu beziehen. Schließlich sind die Modifikationen zu erörtern, die eine sich in Klassen spaltende Gesellschaft für das Strafrecht zeitigen. In einem Zwischenschritt soll jedoch kriminelles Unrecht von der Gewalt des natürlichen Willens abgegrenzt werden. Dabei liegt der Schwerpunkt auf darauf, den Erziehungsprozeß in der Familie darzustellen. Er befahigt die Kinder nicht nur dazu, selbstbewußte, vernünftige Wesen zu werden. In seiner asymmetrischen Struktur liegt zugleich die Gefahr, daß die Kinder verzogen werden können. 11. Kriminalität in der ständisch integrierten Gesellschaft

Hegel konkretisiert seine allgemeine Verbrechens- und Straflehre in Rph. §§ 218,220 1 an einer Stelle innerhalb seiner Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, an der er die krisenbaften Folgen der ökonomischen Dynamik des Systems der Bedürfnisse noch nicht entfaltet hat. Damit bezieht er die Kategorien von Verbrechen und Strafe zunächst auf eine historische Entwicklungsstufe der ständischen bürgerlichen Gesellschaft, in der im Prinzip alle Bürger als selbständige Wirtschaftssubjekte gedacht werden. Zwar basiert die Mitgliedschaft in dieser ständisch-integrierten Gemeinschaft auf dem Privateigentum und dem Recht des einzelnen, durch eigene Anstrengungen zu Wohlstand zu gelangen. Insoweit ähnelt das geschilderte Modell in seiner Grundstruktur modernen Industriegesellschaften westlicher Prägung 2 • Dennoch sieht Hegel auf dieser Stufe der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft sowohl von den Modifikationen ab, die durch die Ausdifferenzierung der Gemeinschaft in Arme und Reiche entsteht, als auch von den Abwandlungen, die zu beachten sind, wenn man die umfassende Regulierungsleistung des substantiellen Staates berücksichtigt. Wenn daher hier in einem ersten Schritt das Strafrecht unter den Bedingungen einer ständisch-integrierten Gesellschaft betrachtet wird, so wird daher noch von dem vollen Wirklichkeitsgehalt konkreter Freiheit abstrahiert. Er kann in Hegels System erst eingeholt werden, wenn man zwei weitere Entwicklungsschritte hinzufügt: Zum einen ist theoretisch aufzubereiten, welche Gestalt die Gesellschaft und ihr Strafrecht Ebda., S. 371 ff., 374 f. Ähnlich Avineri, Hegels Theorie, 1976, S. 170 ff.; Pelczynski, in: Pelczynski, 1971, S. 235; Ritter, Art. Hegel, in: Staatslexikon, 1959, S. 29 ff., Ver Eecke, ARSP 69, 1983, S. 195 ff. 1

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

annimmt, wenn sie in die Krise gerät, s. u. 1. Kapitel D. IV.; zum anderen muß darauf die Regulierungsleistung des substantiellen Staates bezogen werden, s. u. das Schlußkapitel. Wenn im nachstehenden Abschnitt streng am Text der Rph. orientiert die allgemeine Verbrechenslehre erst einmal im Rahmen des Modells einer ständisch-integrierten Gemeinschaft entfaltet wird, so ist folgendes stets im Hinterkopf zu behalten: Die positiven Elemente in der zu schildernden Verwirklichung des sittlich konkreten Rechtsverhältnisses tragen in gewissem Grade den Charakter der Vorläufigkeit. Zum einen wohnt der zu beschreibenden Bewegung, Recht und Wohl des Einzelnen institutionell abzusichern, eine Tendenz inne, seine subjektive Entscheidungsmacht, ein Element des Rechts seiner Besonderheit, zu beschneiden. Zum anderen wird noch von der negativen Dynamik abgesehen, die das Prinzip der Besonderheit in Gestalt des Konkurrenzmechanismus hervorbringt. Aus diesem Grund muß das Verbrechens innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft wie schon im abstrakten Recht nicht nur in seiner negativen Rolle gesehen werden. Vielmehr soll es hier auch danach befragt werden, ob ihm ein produktives Element im Prozeß der Entwicklung der ständisch-strukturierten Gemeinschaft eignet.

1. Die konkrete Person im System der Bedürfnisse Den Ausgangspunkt der bürgerlichen Gesellschaft bildet die konkrete Person 3. Lebte das Familienmitglied innerhalb einer Einheit, wo das Band der Liebe die gemeinschaftliche Identität ausmachte, so tritt es hier in das Verhältnis zu Außenstehenden, für die dieser Zusammenhalt nicht gilt. Hier fehlt es also (zunächst) an einer die Individuen übergreifenden Identität; stattdessen machen sie im Verhältnis zueinander jeweils die eigene Besonderheit, ihre subjektiven privaten Rechte, ihr partikuläres Wohl, geltend 4 • In dieser Weise verliert sich die Sittlichkeit in ihre Extreme. Deswegen spricht Hegel auch von der bürgerlichen Gesellschaft als der Sphäre der Entzweiung s. Auf der anderen Seite unterscheidet sich die konkrete Person aber dadurch vom moralischen Subjekt, daß sie ihr Leben nicht bloß auf ihre Besonderheit bauen will, sondern die Erfüllung derselben nur im Arbeits- und Lebenszusammenhang mit anderen Menschen als möglich und realistisch ansieht. Die Entzweiung prägt so nicht nur das Verhältnis der Individuen zueinander, sondern sie findet sich ebenso als innere Zerrissenheit in den einzelnen Bürgern wieder, einerseits nur auf Privatbesitz und eigenes Wohl aus zu sein, andererseits zu wissen, daß dessen Verwirklichung nur über die Vernetzung mit anderen Menschen möglich ist. In dieser wechselseitigen Abhängigkeit Rph. § 182, S. 339. Rph. § 187 S. 343. s. o. 1. Kapitel D. I. 5 Rph. §§ 184, S.340; Rph. § 157, S. 306. Dazu Lukacs, Der junge Hege!, 1954, S. 263,277 ff., 385 f.; Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 231 f., 273, 316; relativierend aber Häring, Hegel, Bd. I, 1929, S. 597; Nusser, Hegels Dialektik, 1973, S. 19 Fn.; Rohrmoser, Subjektivität, 1961, S. 86 Fn. Allgemein Barisic, PhilJb 96,1989, S. 314 ff. 3

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II. Die ständisch integrierte Gesellschaft

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der Bedürfnisbefriedigung an sich selbständiger Wesen steckt somit das alle Bürger verbindende Allgemeine 6, so daß die Sittlichkeit in intersubjektiven Beziehungen nicht völlig verloren geht, mag es dem einzelnen auch so erscheinen 7• Es bedarf näherer Erläuterung, warum die Notwendigkeit, das eigene Wohl zu realisieren, den Integrationspunkt der bürgerlichen Gesellschaft darstellt. Schließlich zeigte die Analyse des moralischen Subjektes in erster Näherung das Gegenteil (s. o. 1. Kapitel C. I.): Wo es nur das eigene Bedürfnis im Auge hatte, stieß es nicht zur Objektivierung seiner selbst vor, sondern die eigene Tätigkeit blieb nur subjektiv. Der Grund, durch den die Verfolgung der eigenen Glückseligkeit den Menschen auf andere verweist, liegt im unstesten Charakter des eigenen Begehrungsvermögens: Das Triebsystem des Menschen erweist sich als unerschöpflich und wandel bars; es unterliegt seIbst der Gestaltung des eigenen freien Willen. Damit transzendiert es aber auch die Fähigkeiten des Subjekts, durch sein eigenes Vermögen die Verwirklichung des Wohles zu gewährleisten 9 • Hierin liegt der Grund der Abhängigkeit von den Leistungen anderer, die alIerdings eine allseitig gegenseitige ist, da es alIen Bürgern ähnlich geht 10. Daraus erwächst der Zwang, sich auch für andere nützlich machen zu müssen, will man nicht in Selbstgenügsamkeit und Askese verfalIen, worin Hegel weder eine realistische noch eine gelungene Form der Freiheitsverwirklichung sieht 11. Es fragt sich, wie in dieser Notwendigkeit zur VergeselIschaftung in einem Arbeits- und Lebenszusammenhang noch ein Dasein der Freiheit gesehen werden kann. Auf den ersten Blick scheint in der bürgerlichen GeselIschaft nur die nackte Not die Menschen zusammenzuführen. Dies mag auch den Ausgangspunkt bilden; sie ist aber nicht der Inhalt des geselIschaftlichen Prozesses. Vielmehr zeichnet sich dieser gerade dadurch aus, daß eine Befreiung von der eigenen natürlichen Unmittelbarkeit eintritt l2 • Die Notwendigkeit, für andere arbeiten zu müssen, war bereits oben (1. Kap. A. 1.) schon als Bildungsprozeß beschrieben worden. Im System der Bedürfnisse reflektiert Hegel diese Dynamik im gesellschaftlichen Kontext. Die Befreiung hat damit eine doppelte Seite: Zum einen arbeitet sich der Einzelne aus seiner Natürlichkeit heraus, bricht seine Begierde. Zum anderen Dazu Rotenstreich, HS 19, 1983, S. 179 ff. Rph. § 181 Zus., S. 338 f. Zu dieser Vorstellung vom "Atheismus der sittlichen Welt", vgl. Rph., Vorrede, S. 16; dazu Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 218 ff.; Rößler, System, 1857, S. 326 ff. S Rph. § 190, S. 347 f.; s. o. 1. Kapitel A. II. Ilting zeigt, daß Hegel dies von Aristoteles gelernt hat, Phil. Jb. 71, 1963/64, S. 45. 9 Rph. § 187, S. 343. 10 Rph. § 192, S. 349. II Dies wird deutlich in Rph. § 194, S. 350 und in der Schilderung der Charakterrolle des Diogenes in Rph. § 195 Zus., S. 351, dessen Enthaltsamkeit selbst noch als Produkt einer Wohlstandsgesellschaft gedeutet wird. Vgl. w. Rph. § 190 Zus., S. 348. 12 Rph. §§ 187, 194 f., S. 343 ff., 350 f. 6

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

erwirtschaftet er sich damit ein Stück Selbständigkeit von anderen. Die bürgerliche Gesellschaft zeichnet sich mithin auch dadurch aus, daß sie überkommene soziale Strukturen, in denen das Recht der Besonderheit noch nicht vollständig zur Geltung kommt, auflöst. Dies gilt sowohl für den Makrobereich, wo feudale Ordnungsprinzipen weichen müssen, wie für den Mikrobereich, in dem die Einzelnen sich gegen die naturwüchsige Vereinnamung (familiär) patriarchalischer Gebilde zur Wehr setzen. Diese Funktion der bürgerlichen Gesellschaft, in alltäglicher Mühsahl das Werk zu vollenden, das die Französische Revolution begonnen hat, Freiheit und Gleichheit für jedermann, hat J. Ritter stets besonders hervorgehoben 13. Erst hier wird die objektive Seite des Konstitutionsprozesses des subjektiven Geistes in der Weise thematisch, in der sie dessen Bildung zum freien Geist durch Eingliederung in einen institutionellen Zusammenhang stützt 14. Hier wird auch klar, worin das Bewegungselement steckt, welches hinter der Aneignung der Umwelt durch die Person steht. Schließlich macht der Arbeits- und Lebenszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft auch den Übergang plausibel, in welchem das moralische Subjekt von der Beschränkung auf das eigene Wohl zur Berücksichtigung des Wohls anderer gelangt 15. Die institutionelle Seite dieses Bildungsprozesses der einzelnen Menschen verändert aber auch die Form desselben. Er ist nicht mehr nur ein punktuelles und intern-subjektives Ereignis sondern eine beständige und gesellschaftliche Erscheinung. So zeigt sich, daß durch die tägliche Interaktion mit anderen das Subjekt bei der eigenen Befreiung aus der Natürlichkeit nicht mehr auf sich zurückgeworfen ist. Stattdessen teilt sich ihm die Fortbildung des eigenen Selbst im Eingebundensein in die Arbeits- und Lebensordnung der bürgerlichen Gesellschaft quasi wie von selbst mit. Zudem führt es dazu, daß die Arbeit für andere, weil sie dauernde Einrichtung ist, zur Gewöhnung und damit zur Vereinfachung führt 16. Ist es zwar richtig, die Rolle der Arbeit als Bildungsphänomen bei Hegel nicht gegenüber anderen Formen der Bildung zu verabsolutieren 17, so ist folgendes aber von noch größerer Bedeutsamkeit: Arbeit bildet den individuellen Geist zur Freiheit für Hegel nur dort, wo sie beständig und in intersubjektiver Allgemeinheit erfolgt. Des weiteren bin ich in meiner Bedürfnisbefriedigung auf die Leistung anderer angewiesen. Ich muß mich danach richten, was am Markt angeboten wird, d.h. was andere als sinnvolle Produkte ansehen 18. Dadurch wird die Abhängigkeit 13 In: Metaphysik und Politik, 1969, S. 183 ff., 256 ff. Vgl. w. K. Marx, Kritik, MEW 1, S. 283 f.; Judenfrage, MEW 1, S. 351,388. 14 Explizit in Rph. § 187 Anm., S. 345. Vgl. a. Nusser, Hegels Dialektik, 1973, S. 19 Fn.; Allgemein dazu auch Haller, System und Gesellschaft, 1981, S. 79 ff. 15 Dazu Bem. in Rph. § 207, S. 359. 16 Rph. §§ 197 f., S. 352 f. 17 So pointiert Nusser, PhilJb. 77, 1970, S. 280 ff. 18 Rph. § 192 S. 349

11. Die ständisch integrierte Gesellschaft

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vom natürlichen Milieu durchbrochen. An die Stelle der Befriedigung gerade derjenigen Neigungen, die mir die Umwelt hier und jetzt gestattet, richten sich die Bedürfnisse nach gesellschaftlichen Maßstäben: eine Vergeistigung des eigenen Trieblebens. Äußerlich führt dies zudem zur Angleichung der Individuen aneinander in ihren partikulären Interessen 19. Die moralischen Subjekte behaupteten sich qualitativ gegeneinander als Besondere. Jetzt wird das Streben der Bürger nach Selbstverwirklichung als graduierbar empfunden: Jeder will sich anderen gegenüber als der Bessere erweisen. Dieser Kern des Prinzips der Besonderheit setzt den Konkurrenzmechanismus frei. Die Orientierung an gesellschaftlichen Bedürfnissen regt dann zur beständigen Bereitstellung entsprechender Produkte an, so daß die Befriedigung solcher Neigungen grundsätzlich stets gewährleistet ist. Damit erhalten diese an sich partikulären Interessen jedoch eine allgemeine, gesellschaftliche Anerkennung. In der Auswahl verschiedener Triebregungen ist das Subjekt mithin nicht auf sich allein gestellt, sondern kann sich in Arbeit und Konsum an den Meinungen anderer ausrichten 20. Auch hier erhält der Prozeß der Gewohnheitsbildung seine Verstärkung durch die Orientierung am institutionellen Brauch. Zwar garantiert dies noch nicht, daß das allgemein Übliche auch das (für das jeweilige Subjekt) Gute wiederspiegelt. Vielmehr bleibt die Wertigkeit der gesellschaftlichen Konventionen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ambivalent 21 • Dennoch breitet sich vor jedem Subjekt ein reicher Erfahrungsschatz an unterschiedlichen Lebensweisen aus, an dem es erkennen kann, welche Lebensform am ehesten geeignet ist, eine stabile Verwirklichung des eigenen Wohles zu garantieren. In diesem Sinne ist die Nachahmung eingebürgerter Verhaltensweisen ein Indiz für eine bewährte Form sicherer Bedürfnisbefriedigung. In Parenthese ist zu sagen, daß sie daher bei der Vertragsauslegung ebenso eine Rolle spielen wird wie bei der Bemessung der Geldstrafe.

In noch viel stärkerem Maße ist aber die Arbeit für andere geeignet, die Bildung des Individuums zu befördern. Nicht nur, daß sie dazu antreibt, theoretische und praktische Kenntnisse zu erwerben. Dies ist ja gleichbedeutend damit, den Umfang an Erfahrungswissen, der für die Beherrschung des eigenen Verhaltens von größter Wichtigkeit ist (1. Kapitel C. 11. 2. a), zu erweitern. Zudem bewirkt die Arbeit für Andere auch wechselseitige Anerkennung der Produzenten als selbständige Wesen 22. Die institutionelle Seite dieses Anerkennungsprozesses vermittelt ihm auch hier die Beständigkeit. Daraus folgt, daß über den Produktionszusammenhang, in dem alle Bürger eingeordnet sind, die Respektierung des Gegenübers als selbstbewußten Wesen nicht in einem punktuellen Kontakt erschöpft; sondern er erweitert sich zu einem allseitigen Verhältnis, in welchem Rph. § 193 Rph. § 192 21 Das bringt Ausdruck. 22 Rph. § 207 19

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S. 349 f. Zus., S. 349 Hegel im § 185 Rph., S.341 und Rph. § 195, S.351 deutlich zum S. 359.

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

jeder geht und steht, so daß die Anerkennung des Anderen ebenfalls zur Gewohnheit wird. Dadurch erhält die Geltung der Individuen als Person eine feste Existenz im praktischen Interaktionszusammenhang. Zwar bleibt es auch hier möglich, daß die Reflexion dem Subjekt die Vernunftnotwendigkeit der Anerkennungsleistung verstellen kann. Dennoch muß die Willkür sich jetzt gegen die Schwerkraft einer allgemein eingebürgerten Praxis behaupten. Das System der Bedürfnisse bildet demnach nicht nur die Fähigkeiten des Subjekts aus und sichert seine Subsistenz. Vielmehr bewirkt diese Vernetzung zudem die Habitualisierung von Anerkennungsleistungen gegenüber dem jeweiligen Mitbürger 23 • Daß ich als Person geachtet werde, hat so im Verhalten Anderer die Schwerkraft eines geistigen Mechanismus. Dieser setzt sich in allen Individuen, die innerhalb der ständisch integrierten bürgerlichen Gesellschaft leben, mehr oder minder stark als handlungsleitend in der täglichen Praxis auch gegen zeitweilige Erregung oder subjektives Belieben durch. Es ist also vollbracht, was der abstrakte Begriff des Rechts, die Person, aussagt: die Identität aller Individuen in ihrem abstrakten Ich hat sich verwirklicht, nicht nur im punktuellen Kontakt bei einem Vertragsschluß, sondern in der Totalität der Handlungsvollzüge aller Glieder der bürgerlichen Gesellschaft 24 : "Geht jemand zur Nachtzeit sicher auf der Straße, so fällt es ihm nicht ein, daß dieses anders sein könne, denn diese Gewohnheit der Sicherheit ist zur andem Natur geworden, und man denkt nicht gerade nach, wie dies erst die Wirkung besonderer Institutionen sei. Durch die Gewalt, meint die Vorstellung oft, hänge der Staat zusammen; aber das Haltende ist allein das Grundgefühl der Ordnung, das alle haben". 25 Die Verfolgung der eigenen Bedürfnisse und die Beachtung des (abstrakten) Rechts verwachsen in diesem Arbeits- und Lebenszusammenhang mithin zu einer unmittelbaren Einheit 26 • Der Respekt vor dem Recht kann so zu einem bewußtlosen Automatismus werden, der die Befriedigung der einzelnen Neigungen begleitet. Es fehlt aber noch an dem Bewußtsein der Individuen, daß sich in ihrem alltäglichen Leben auch die Anwendung von Gesetzen vermittelt, welche die praktische Vernunft aufstellt. Denn aus der Perspektive der Interaktionspartner, die sich als je besondere zum Zwecke haben und folglich sich von anderen unterscheiden und abgrenzen wollen, ist die Anerkennung des Gegenübers (zunächst) ein unvermeidliches, 23 Darin kommt die spezifisch gesellschaftliche Identität von objektiver Sittlichkeit (Rph. § 144 f., S. 293 f.) und Individuum als Subjekt des Sittlichen (Rph. § 146 f., S. 294 ff.) aus, vgl. Rph. § 150 f., 153, S. 298 ff., 303 f. 24 HE § 432 f. In diesem Rahem ist wohl auch Rph. § 156, S. 305, zu verstehen. 25 Rph. § 268 Zus., S.414. Es ist bemerkenswert, daß Hegel das Grundgefühl ein "Haltendes" nennt, damit die Beziehung zur Haltung der Bürger herstellt. 26 Zu dieser gesellschaftlichen Form der Identität von Recht und Pflicht s. Rph. § ISS, S. 304 f. Ähnlich wie hier Nusser, PhilJb 77, 1970, S. 277 Fn. und Larenz, ZStaatswiss. 98, 1938, S. 129.

H. Die ständisch integrierte Gesellschaft

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gar lästiges Nebenprodukt, das zur eigenen Erhaltung jedoch unentbehrlich ist 27 • Auf diesem Bewußtseinsstande erliegen sie aber dem Schein der Entzweiung. Sie haben noch nicht für sich realisiert, was im Prozeß des gegenseitigen Anerkennens substantiell ausgesagt ist: Das einheitlich formulierbare Prinzip aller Interaktionspartner besteht nicht darin, Arbeit für andere als Mittel zur eigenen Bedürfnisbefriedigung aufzufassen. Vielmehr dient individuelle Arbeit - jetzt in gesellschaftlicher Perspektive gesehen - zur Konstitution eines allseitigen Verhältnisses, in der jeder Bürger sich ebenso eine eigene Selbständigkeit erwirtschaften und erhalten kann, wie er dieses an der Arbeit anderer anschauen kann. So erkenne ich in allen anderen eine mir gleiche Subjektivität. Sie erlaubt es, aus dem das Versunkensein in das Relative der gegenseitigen Bedürfnisbefriedigung hinauszugehen \Ind die sich darin manifestierende Entzweiung in einen einheitlichen Punkt aufzuheben: in die allgemeine Anerkennung jedes in seiner Personenwürde 28 • Wo sich dieses Prinzip im Denken der Handelnden in Geltung setzt, dort wird als substantielle Leistung der gesellschaftlichen Interaktion nicht mehr nur die Subsistenzsicherung angesehen. Wesentlich wird jetzt die Vermittlung des Bewußtseins, als Einzelner eine Gestalt des Allgemeinen zu sein, d. i. Person. Von dieser Warte aus erhellt auch, warun das, was im Vertrag nur eine punktuelle Realität erlangt, nun ein Dasein erhalten hat, welches seinem Begriffe angemessen ist: Erst die Anerkennung Aller durch Alle verschafft dem Begriff der Persönlichkeit objektive Realität. In einer Gesellschaft, wo sich das Recht nur gewohnheitsmäßig verwirklicht, fällt es allerdings in den Bildungsstand des jeweiligen Subjektes, inwiefern es hinter dem Schein der Entzweiung die allumfassende Vernunftsubjektivität als einheitliches Handlungsprinzip aller Personen erkennt 29 • Je nach deren Fähigkeiten und Lebenspraxis kommt den in ihrer empirischen Existenz unendlich unterschiedlichen einzelnen Personen ein verschiedenstufiges Verständnis von ihren alltäglichen Handlungsvollzügen zu. So mag der eine die Anerkennung anderer weiterhin abhängig davon denken, ob sie seinen spezifischen Interessen förderlich ist. Der andere sieht dagegen bereits die Achtung des Gegenübers als das Wesentliche und für die eigene Handlungsentscheidung Gültige auch dann an, wenn es nicht vollständig mit der Verwirklichung eigener Bedürfnisse harmoniert. Schließlich kann die Pflicht zum Respekt des Interaktionspartners einerseits als etwas zwanghaftes empfunden werden. Anderseits kann man aber sogar in der In diese Richtung geht der Zusatz zu Rph. § 209 S. 361. Rph. § 209 S. 360 f. Insbes. Ritter hat stets darauf hingewiesen, daß die bürgerliche Gesellschaft der geschichtliche Ort ist, an dem abstraktes Recht bzw. die Personenwürde ihre beständige Existenz erlangt, Metaphysik und Politik, 1969. S. 277 ff.; s. o. 1. Kapitel 27 28

D. I.

29 So lautet die Kritik des Gewohnheitsrechtes in Rph. § 211 Anm., S. 361 f. Daß die bloße Gewohnheit der Rechtsbefolgung nur die subjektive Allgemeinheit der Rechtsgeltung gewährleistet, betont auch Funke, in: Archiv f. Begriffsgeschichte 3, 1958, S. 512 f.

11 Klesczewski

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

Anerkennung der Subjektivität anderer sich selbst (als abstraktes Ich) wieder finden. Um den Geltungsgrund für jedermann von der Zufälligkeit des subjektiven Bewußtseinsstandes zu reinigen und ihn für alle auf eine einheitliche Basis zu stellen, ist für Hegel demnach auch die Institutionalisierung des Rechts erforderlich, in welcher sich (zum ersten Mal) die allumfassende Vernunft, die bisher ja auch am Werke war, in Gesetzen und in einer, ihnen verpflichteten, einheitlichen Organisation, der Rechtspflege, verkörpert 30.

2. Die lnstitutionalisierung der Rechtspflege Die Analyse des Systems der Bedürfnisse hatte bisher ergeben, daß ihr substantielles Produkt die allgemeine Anerkennung der Personenwürde darstellt. Allerdings unterscheiden sich Art und Weise der Auffassung dieses Produktes durch die einzelnen Subjekte je nach deren individueller Konstitution, die sie von Natur und familiärem Herkommen mitbringen. Hegel geht davon aus, daß die mannigfaltigen Fähigkeiten in allen Menschen nicht im gleichen Umfange angelegt sind. Dies gilt trotz der die natürlichen und sozialen Unterschiede nivellierenden Wirkung, die der Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft zukommt 31 . Demgemäß differenziert sich die Arbeitssphäre in verschiedene Stände aus, die jeweils unterschiedliche Aufgaben für das Gemeinwesen erfüllen und demgemäß einen unterschiedlichen Bewußtseinsstand bezüglich ihrer praktischen Tätigkeiten aufweisen 32. Bedeutsam daran ist, daß Hegel davon ausgeht, diese naturwüchsige Arbeitsteilung lasse neben dem Agrar- und Gewerbestand auch eine Gesellschaftsschicht entstehen, welche die Verwaltung der allgemeinen Interessen zu ihrer Aufgabe habe 33 . Aus ihnen rekrutieren sich diejenigen Subjekte, die beruflich als Organe der Rechtspflege handeln. Ihnen muß mithin die spezifische Fähigkeit, das Rechtliche und Vernunftnotwendige an der gesellschaftlichen Interaktion zu erkennen, in besonderem Maße zukommen. Neben dem eben schon dargestellten, empirischen Argument, hat sich Hegel in der JR auch um eine spekulative Ableitung bemüht, welche die Vernunftnotwendigkeit dieses Prozesses begründen so1l34: Dort geht er davon aus, daß der Prozeß gesellschaftlicher Bedürfnisbefriedigung im Handelsstand eine herausgehobene Form annimmt: Dem Kaufmann geht es nicht mehr um die Produktion von Gebrauchgegenständen. Vielmehr interessiert ihn lediglich, sein Geldvermögen zu mehren. Im Geld vergegenständ30 Enzykl. § 531 S. 326 f. 31 Vgl. die deutlichen Ausführungen in Rph. § 200 S. 353 f. 32 Näher Rph. §§ 203 ff., S. 355 ff. In der JR S. 271 ff. werden die Stände mit unterschiedlichen Bewußtseinsformen in Verbindung gesetzt. Dies betont auch Avineri, Hegels Theorie, 1976, S. 129. 33 Rph. § 201, S. 354 f. u. § 205, S. 357. 34 JR, S. 274. Auch die folgenden, wörtlichen Zitate werden dorther entnommen.

II. Die ständisch integrierte Gesellschaft

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licht sich aber Arbeit als Vernunftpotenz nicht mehr in ihrer konkret nützlichen Form; stattdessen tritt Arbeit als abstrakte Tätigkeit in Erscheinung, in der die eine individuelle Arbeit mit jeder anderen individuellen Arbeit identisch ist. Folglich hat Geld als Gegenstand die Bedeutung, eine allgemeine Vernunftpotenz aller Bürger zu verkörpern, s. o. l. Kapitel B. I. 3. Wessen wirtschaftliches Streben aber allein darauf aus ist, das eigene Geldvermögen zu vergrößern, bei dem schlägt die Arbeit als Bedürfnisbefriedigung in eine Tätigkeit um, die eigene Begierde in höchstem Maße hintan zu stellen, s. o. 1. Kapitel A 11. In gleicher Weise und gleicher Härte tritt der Kaufmann nun gegenüber anderen auf: "Die Gesinnung [des Kaufmanns] ist diese Härte des Geistes, worin der Besondere, ganz entäußert, nicht mehr gilt, [nur] striktes Recht." Wenn man diese Gesinnung allgemein als Handlungsprinzip eines ganzen Standes setzt, dann muß man von dem jeweiligen individuellen Motiv der Profitmaximierung absehen: Dann bleibt als Handlungsgrundsatz nur noch das Wollen des (abstrakten) Rechts als Recht übrig. So abgetrennt von dem Streben, das eingesetzte Kapital amortisieren zu müssen 35, erfaßt man einen Beruf, dessen Tätigkeit darin besteht, Recht zu produzieren, also Gesetze zu formulieren, in denen das Wesen der abstrakten Persönlichkeit verkörpert ist: "Die Gestalt des Innern ist nicht das tote Ding: Geld , sondern ebenfalls Ich. Oder dem Geist ist der Staat überhaupt Gegenstand seines Tuns und Bemühung, und Zweck." So gebiert die gewöhnliche Tätigkeit des Kaufmannsstandes aus sich heraus einen neuen Beruf, der nur das Allgemeine will, den allgemeinen Stand 36. Dieses Phänomen ist Ausprägung des allgemein die bürgerliche Gesellschaft beherrschenden Vernunftprinzips, die Zuweisung der jeweiligen Stellung des einzelnen Bürgers im Arbeitsleben von dessen Fähigkeiten abhängig zu machen. Allerdings zeitigt die Herausbildung des allgemeinen Standes eine spezifische, für die folgende Entwicklung sehr bedeutsame Folge: Was äußerlich verbindlich sein soll, wird jetzt allein und ausschließlich durch die Organe der Rechtspflege festgelegt 37 • In einem ersten Schritt bedeutet dies, den Ausschluß aller derjenigen Bürger von dieser Kompetenz, die nicht dem allgemeinen Stand angehören 38. Die Legitimation dieser Machtfülle des allgemeinen Standes beruht zunächst nur auf deren ausgezeichneten Fähigkeiten auf dem 35 Daß der allgemeine Stand nicht selbst ein Gewerbe zu betreiben braucht, steht in Rph. § 205, S. 357. Wie eine unabhängige Instanz der Rechtsdurchsetzung durch das allgemeine Prinzip einer kapitalistischen Wirtschaft bedingt ist, vgl. w. Tuschling, Rechtsform, 1976, S. 40. 36 JR, S. 247 ff. und Rph. §§ 205,209 ff., S. 357,360 ff. Zur aprioristischen Ableitung im Naturrechtsaufsatz vgl. Bohnert, ZphF 35, 1981, S. 546. 37 Vgl. dazu Rph. § 211 f., S. 361 ff. 38 Es gibt mehrere Stellen, an denen sich Hegel kritisch mit der sich verselbständigenden Rolle des Juristenstandes u. ä. auseinandersetzt: Z. B. Rph. § 215 Anm. u. Zus., § 211 Anm., § 228 Anm., S. 368, 362, 381. Zum Legitimationsproblem s. o. 1. Kapitel D. I. Eingehend, Enskat, Theorie des praktischen Bewußtseins, 1986, S. 74 ff.

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

Gebiet der Gesetzgebung, Verwaltung und Jurisdiktion, wie sie sich in der ungeplanten Arbeitsteilung der bürgerlichen Gesellschaft durchsetzt. Als solches ist sie zwar als Produkt der gesamtgesellschaftlichen Interaktion anzusehen. Diese darf aber nicht als beständig bewußter Akt der Institutionalisierung von jedermann verstanden werden. Vielmehr liegt sie lediglich latent bereits in jedem Tauschverhalten vor, ohne das alle Bürger dieses Ziel bei ihren Handlungen vor Augen haben. Eine im emphatischen Sinne staatsrechtliche, gar demokratische Legitimierung steht noch aus und kann überhaupt erst unter den Voraussetzungen einbezogen werden, die dem dritten Teil der Sittlichkeit zu Grunde liegen, s. o. 1. Kapitel D. I. Was bisher nur geleistet ist, besteht in dem Nachweis, daß für das Funktionieren der bürgerlichen Gesellschaft das Gewaltmonopol des Notund Verstandesstaates, ausgeübt durch den allgemeinen Stand als Organ der Rechtspflege, erforderlich ist. Auf diesem Stand der gesellschaftlichen Entwicklung tritt nun ein, was Siep zutreffend ein asymmetrisches Anerkennungsverhältnis genannt hat, 1. Kapitel A. 11.: Auf der subjektiven Seite nehmen alle Individuen an der einheitlichen Tätigkeit der ihnen gemeinsamen Vernunft teil; auf der objektiven Seite differenzieren sich dagegen die Beiträge derselben aus. Während die Mitglieder des allgemeinen Standes beruflich als institutionalisierter allgemeiner Wille agieren, verhalten sich Agrar- und Gewerbestand zu ihm wie besondere Sphären des Willens 39. Die besonderen Fähigkeiten des allgemeinen Standes wirken sich nun auf mehreren Ebenen aus: Die erste Leistung besteht schon in der Verallgemeinerung des substantiellen Resultates der gesellschaftlichen Interaktion zu einfachen, generell-abstrakten Bestimmungen allein durch das publizierte Denken (einiger weniger)4O. Um für alle Bürger als verbindlich angenommen werden zu können, bedarf es aber der Bekanntgabe in bestimmter Weise: Nicht nur, daß die Gesetze öffentlich zugänglich sein müssen; hinzukommen muß auch, soll die allgemeine Akzeptanz gesichert sein, daß sie in einer übersichtlichen Kodifizierung enthalten sind, die sich auf die Festsetzung einfacher Grundprinzipien beschränkt 41 • Weil das Recht als Gesetz das wahrhaft Allgemeine des gesamtgesellschaftlichen Handlungszusammenhanges zum Inhalt haben soll, sind ihre Ausgangsmaximen die Sicherung von personaler Freiheit und privatem Eigentum 42 • Dies führt

39 Dazu auch Bohnert, ZphF 35, 1981, S. 549 ff. Horstmann, in: Riedei, 1975, S. 276 ff.; Kiesewetter, HegelJb 1971, S. 97 ff. ; erhellend Enskat, Theorie des praktischen Bewußtseins, 1986, S. 46 ff., 74 ff. 40 So ist wohl Rph. § 211, S. 361 zu verstehen. Deutliche Einbeziehung des Gelehrten in den allgemeinen Stand in der JR, S. 277. 41 Rph. §§ 215 f., S. 368 ff. Instruktiv Bogdandy, Hegels Theorie, 1989, S. 63 ff., 67 ff., 76 ff.

11. Die ständisch integrierte Gesellschaft

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nicht nur dazu, daß das Eigentumsrecht und die Personenwürde als Grundsätze zum allgemeinen Gelten im Bewußtsein aller Bürger gelangen 43 • Es kommt auch zur Affirmation der jeweiligen Einzelrechte, deren formalisierter und einfach beweisbarer Erwerb es möglich macht, prinzipiell jedermann die Berechtigung des eigenen Besitzes darzustellen 44 • So wird es allen Bürgern möglich, die Anerkennung der Person sowohl nach ihrer allgemeinen Seite als Prinzip zu wissen, als auch ihr Gefordertsein in der jeweiligen Einzelsituation. Demnach muß das Dasein des Rechtes in einer gedoppelten Struktur gedacht werden: Auf der allgemeinen Ebene verschafft sich das Recht als Gesetz Anerkennung dadurch, daß es als abstrakter Rechtssatz zur Geltung im gemeinschaftlichen Bewußtsein der Bürger gekommen ist. Dies beinhaltet ebenfalls eine doppelpolige Struktur: Zum einen kommt das Gesetz dort zum objektiven Dasein, wo es, nachdem es durch Mitglieder des allgemeinen Standes als allgemeine Regel öffentlich formuliert worden ist, in das Rechtsbewußtsein aller tritt; zum anderen erhält es durch die allgemeine Anerkennung im Bewußtsein jedes einzelnen Bürgers sein subjektives Dasein 45 • Auf der besonderen Ebene dagegen führt es zur Bestärkung des jeweiligen einzelnen (Eigentums-)Rechts, weil und soweit es für jedermann nachvollziehbar erworben worden ist. Seine (endgültige) allgemeine Bestätigung erhält es, wo es nicht nur im Bewußtsein des Prätendenten als ein Recht angesehen wird, sondern - im Streitfalle - auch von der Rechtspflege als dem objektiven Rechte entsprechend anerkannt werden kann. Auch der Nachweis der Geltung des Rechts im Einzelfall fällt somit nicht in die Kompetenz des einzelnen Bürgers, soweit er nicht gerade beruflich im allgemeinen Stande tätig ist. Vielmehr spricht die etablierte Anerkennung der besonderen Begabungen der Glieder des allgemeinen Standes auch dafür, daß ihnen die Streitentscheidung im Einzelfall gebühren soll, weil nur sie sich in ihrem besonderen Willen zur Allgemeinheit erhoben haben 46 Wo zwischen zwei Parteien die Zuordnung einer Sache im Streite ist, obliegt es demnach den Mitgliedern des allgemeinen Standes als Gericht, eine endgültige Eigentumszuweisung vorzunehmen 47 • Hierdurch wird das unbefangene Unrecht des bürgerlichen Rechtsstreits getilgt und dem Einzelrecht zur objektiven Wirklichkeit verholfen, weil es nun zur allgemeinen Anerkennung emporgestiegen ist. 42

Das steht wohl hinter Rph. § 217 S. 370 f. Deutlich Nachschr. Hotho, in Ilting III,

s. 658. Kritisch Binder, in: 3. Hegelkongreß, 1934, S. 41 f.; Larenz, in: 2. Hegelkongreß,

1932, S. 147. 43 So Rph. § 218, S. 371 f. 44 Rph. § 217 S. 370 und § 222, S. 375. 45 Vgl. Rph. § 211, S. 361 einerseits, wo vom objektiven Dasein die Rede ist und § 215, S. 368 wo vom Recht des Selbstbewußtseins gesprochen wird. 46 So Rph. § 219, S. 373. Dazu Bogdandy, Hegels Theorie, 1989, S. 103 ff. 47 Rph. § 214, S. 366 u. Nachschr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 556 f.

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

Weil aber bei einem Verbrechensverdacht neben der Negation eines individuellen Eigentums zudem der allgemeine Wille in seiner Existenz in Frage steht, so muß auch hier eine Streitentscheidung im Gerichtsverfahren erfolgen 48 • Dort tritt nun nicht (mehr) das individuelle Opfer als Verletzter auf, sondern allein noch das verletzte Allgemeine 49 • Denn nur noch dieser Teil der Rechtsverletzung steht offen. Sachwalter der Geltendmachung eines Gesetzesbruches kann ebenfalls nur ein Mitglied des allgemeinen Standes wegen seiner besonderen Fähigkeiten sein. Auf diese Frage wird im Kapitel über die Verbrechensreaktion in der bürgerlichen Gesellschaft noch näher eingegangen.

3. Der Gestaltwandel des Verbrechens Bisher wurde von den Elementen, aus denen die konkrete Person ihr Selbstverständnis zusammensetzt, nur die Seite herausgehoben, die zu ihrer Vergesellschaftung und Verallgemeinerung ihres Bildungsstandes führt. Aber ihre Seele ist entzweit und weist zudem auch den Anspruch auf, ihre eigene Besonderheit zur Geltung zu bringen. Sie will ihr eine ebenso feste Objektivität geben wie ihrem allgemeinen Willen. Dabei zeigt sich, daß bisher die Realisierung des eigenen Wohles von der Kraft der eigenen Willkür und der Opportunität günstiger Umstände abhängt 50. Von ihrem individuellen Dasein ist nur die Seite geschützt, daß sie überhaupt als Eigentümerin an der gesellschaftlichen Interaktion teilhaben darf. Darin liegt eine Beschränkung in der institutionellen Absicherung des Rechts, die eigenen Bedürftigkeit aufzuheben: Sie ist nur in dem Umfange gestattet, in dem man das eigene Vermögen dazu einsetzen kann. So kann es für bestimmte Bürger im System der Bedürfnisse zum Problem werden, über die Sicherung ihrer abstrakten Eigentumstitel hinaus auch ihre individuellen Bedürfnisse zu verwirklichen. Dann tritt in gesellschaftlicher Perspektive ein, was oben bei der Analyse des abstrakten Rechts als Trennung des allgemeinen vom besonderen Willen das gestellt wurde: Deren unmittelbare Einheit stellt hier wie dort nur eine Möglichkeit dar, deren Gegenteil noch mit der gleichen "Berechtigung" auftreten kann. Allerdings ändert sich die Bedeutung des Unrechts im Verhältnis zum abstrakten Recht: Dort wurde mehr oder minder die ganze Beziehung zweier Personen zueinander in Frage gestellt, während hier eine solche Beziehung nur ein Moment in der gesamtgesellschaftlichen Vernetzung aller Individuen ist. Prinzipiell beschränkt sich die Negation des Rechts folglich auf einen relativen Bereich. Auch für das konkrete Opfer heißt das, daß grundsätzlich nur eine Beziehung innerhalb 48 Rph. § 218, S. 371 f. u. § 220, S. 347 f. u. Nachsehr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 556 f. 49 Alles andere ist für Hegel nur eine sublimierte Form der Rache: Rph. § 102 Anm., S.197. 50 Deutlich Rph. § 200, S. 353 f. u. § 206, S. 358 f. Weiter: Rph. § 237, S. 385 f. u. § 241, S. 387 f.

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seines Anerkanntseins beeinträchtigt ist. Bevor daraus Folgerungen für die Einschätzung der Unrechtsschwere eines Verbrechens gezogen werden, soll auch für die bürgerliche Gesellschaft der Widerspruch zwischen allgemeinem und besonderem Willen herausgearbeitet werden, wie er bereits im abstrakten Recht Kennzeichen des Unrechts gewesen ist. Die Trennung von allgemeinem und besonderem Willen geht darauf zurück, daß bisher das einzelne Individuum nur als abstraktes Ich anerkannt ist, die Seite seiner Besonderheit dagegen, auf die es ihm ja wesentlich ankommt, noch von dem eigenen Vermögen und äußerer Zufälligkeit abhängt. Gesichert wird nur der Besitz und die freie Verfügung über das erworbene EigentumsI. Dies schützt nicht davor, daß auch der ursprüngliche Bestand verloren gehen kann. Denn zum einen können Naturereignisse, unverschuldete Unfalle den Vermögensumfang dezimieren, wie zum anderen auch der abstrakt wertgleich Vertrag wegen seines willkürlichen Momentes nicht vor graduellen Fehleinschätzungen schützt, s. o. 1. Kapitel B.I. 3. Die Festlegung des Vertrags inhaltes nach dem Verkehrs üblichen mag hier als Korrektiv wirken; solche Gwohnheiten sind aber wegen der bestehen bleibenden Willkürsubjektivität kein sicheres Gegenmittel. Allein schon aus diesem Befund ist es möglich, daß für bestimmte Personengruppen die Anerkennung ihrer Rechtsfähigkeit nur noch den Schutz vor dem Verlust unveräußerlicher Rechtsgüter, wie Leben und Arbeitskraft, bedeutet, ihr eigenes Wohl dagegen sich auf das Fristen ihres Daseins reduziert 52. Obwohl die bürgerliche Gesellschaft also eine sittliche Einrichtung ist, in der das Gute als Einheit von Recht und Wohl lebendig sein soll, fehlt es bisher an der institutionellen Absicherung des Wohles. Dies ist die eine Gestalt, die der Gegensatz zwischen allgemeinem und besonderen Willen annehmen kann. Gleichzeitig läßt sich aber auch noch ein zweites Phänomen ausmachen, in dem dieser Widerspruch zum Ausbruch kommt: Das besondere Wohl hatte sich als in sich unendliche Mannigfaltigkeit der Triebregungen erwiesen, deren Umfang und Wandelbarkeit beim Menschen unerschöpflich ist. Damit wird aber auch das Streben nach den Mitteln zu seiner Befriedigung zu einem Fortschreiten in die schlechte Unendlichkeit 53. Deutlich wird dies insbesondere in derjenigen Form des Willens, bei dem die Vermehrung des eigenen Reichtums auf die Anhäufung von Geld- und Kapitalmassen ausgerichtet ist. Dies führt dazu, daß dieser besondere Wille, um seinem Ziele näher zu kommen, die rechtlichen Bedingungen der Aneignung ständig geneigt ist zu transzendieren, die aber doch Voraussetzung seines freien Eigentums sind. Auch hier beschränkt das abstrakte Rph. § 230, S. 382. Enzykl. § 530, S. 326. Rph. §§ 241 ff., S. 387 ff.; Ausführlich Nachschr. Griesheim, in: IIting IV, S. 494 f., 609 f. Es ist dies die negative Seite der abstrakten Freiheit, die Marx in MEW 23, S. 181 ff., 189 f. anspricht. 53 So SdS, S. 93 f. und der Kommentar von Göhler, Dialektik und Politik, 1974, S. 538 ff.; vgl. w. Riedei, Stuiden, 1969, S. 80 ff. 51

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Recht dieses Streben nach schlechter Unendlichkeit, so daß auch hier die Tendenz wirksam werden kann, durch Gesetzesumgehung sein besonderes Wohl zu verwirklichen. Schließlich kann noch eine dritte Form der Trennung des allgemeinen vom besonderen Willen aufgewiesen werden: Die Gewöhnung an bestimmte Formen von Arbeit und Konsumtion brachte den Individuen zwar sowohl eine Befreiung von den natürlichen Affekten ein als auch die Anerkennung dieser ihrer Selbständigkeit; dennoch geschieht dies um den Preis, daß sich die subjektive Entscheidungsmacht in eine, ihr äußerliche Routine auflöst. Aus ihr kann sich das Individuum zurückziehen, ohne daß dieser geistige Mechanismus Schaden nehmen würde 54 • Das bedeutet aber ebenso, daß sich das Subjekt in diesen Automatismen nicht mehr nach seiner spezifischen Eigenheit wiederfindet. Anerkannt ist nur die abstrakt äußerliche Tätigkeit als Person, wogegen die Seite der Besonderheit im Verhältnis der Menschen zueinander zunehmend auf Desinteresse stößt, folglich das gegenseitige Verhältnis zueinander immer abstrakter und anonymer wird: "Die Abstraktion ... wird auch eine Bestimmung der gegenseitigen Beziehung der Individuen aufeinander ..."55 Da zwischen subjektiver Haltung und öffentlicher Gewohnheit aufgrund des Arbeits- und Lebenszusammenhanges eine unmittelbare Einheit besteht, führt ein Aufbegehren des Subjektes gegen seine eingeschliffenen Neigungen immer auch zum zumindest partiellen Verstoß gegen sozial übliche Verhaltensweisen. Darin muß nicht notwendig sofort ein Verbrechen begründet liegen. Die willkürliche Negation eingelebter Rechtsregeln bietet aber am besten die Gewähr, ex negativo sich selbst die eigene Einzelheit zu vergegenständlichen, s. o. 1. Kapitel B. 11. 2. Wo daher die Eingliederung in das System der Bedürfnisse als notwendiges Übel, ja als zwanghaft wirkendes Gesetz der (zweiten) Natur empfunden wird, dort tritt eine ähnliche Lage für das Individuum im gesellschaftlichen Interaktionszusammenhang ein, wie bei der zwangsweisen Durchsetzung von Vertragspflichten im abstrakten Recht (s.o.): Um weiter in seinem äußerlichen Dasein als Person anerkannt zu bleiben, wird man genötigt, auf das Recht der eigenen Besonderheit Verzicht zu leisten. In diesem Zwang läge zwar keine Verletzung der abstrakten Person. Wohl aber fühlt sich die konkrete Person negiert, denn ihr geht es ja wesentlich um die Realisierung ihrer eigenen Besonderheit. Aus diesem Dilemma gibt es für sie innerhalb des jetzigen Entwicklungsstandes der bürgerlichen Gesellschaft nur zwei Auswege: Zum einen kann sie sich in ihre Innerlichkeit zurückziehen, wie die gesellschaftlichen Erscheinungen von Romantik und Restauration bezeugen 56. Zum anderen bleibt Vgl. Funke, in: Archiv f. Begriffsgeschichte 3, 1958, S. 513 f. Rph. § 192, S. 349. Zur Janusköpfigkeit von Versachlichung und Verdinglichung des Lebens dezidiert Ritter, in: Metaphysik und Politik, 1969, S. 272 ff. und Rohnnoser, Subjektivität und Verdinglichung, 1961, S. 17,22 ff., 111 ff. Vgl. w. Lukacs, Der junge Hegel, 1954, S. 107 ff., 614 ff. 56 Zu dieser politischen Bedeutung der Romantik vgl. Hegels Schrift Friedrich Heinrich Jacobis Werke. Dritter Band, S. 450. Den Bezug zur Moralität stellt Hegel in Rph. 54 55

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ihr nur der Bruch mit der Konformität, wo sie sich in der Äußerlichkeit zur Geltung bringen will. Es ist dann nur eine Frage der Radikalität des eigenen Selbstverständnisses, ob und wie der Betreffende delinquiert. Das Verbrechen stellt hier jedoch ebenso beim Übergang vom abstrakten Recht ins moralische Verhältnis zunächst lediglich die rein negative Seite desjenigen Prozesses dar, der zu einer vertieften Konstitution des (sittlich konkreten) Rechtsverhältnisses führt, s. o. 1. Kapitel B. III. Ein Verbrechen erfolgt nun aber in einem institutionell verfestigten Anerkennungzusammenhang. Wie schon angedeutet, leiten sich daraus neue Gewichtungen bei der Einschätzung der einzelnen Momente der Unrechtssschwere ab. Erfolgs- und Handlungsunwert sind jetzt präziser zu bestimmen. a) Erfolgsunwert Wie bei der Abhandlung des Verbrechens im abstrakten Recht schon herausgearbeitet wurde, muß man beim Erfolgsunwert zwei Ebenen der Verletzung unterscheiden, die des allgemeinen und die des besonderen Willens, s. o. 1. Kapitel B. 11. Was für eine vereinzelte Rechtsbeziehung zweier Personen gilt, wird auch in der Interaktion der bürgerlichen Gesellschaft beibehalten. Nur werden diese Rechtsverhältnisse nicht mehr isoliert und abstrakt betrachtet, sondern als Moment des gesellschaftlichen Lebens, das von institutionellen Bezügen überformt ist. Der allgemeine Wille existiert so nicht nur im Anerkennungsverhältnis zweier Individuen, sondern auch in der gewohnheitlichen Geltung des gesetzten Rechts im Bewußtsein Aller. Desgleichen erhält das, was das Dasein des besonderen Willen vorstellt, einen doppelten Boden. Zum einen bleibt die Funktion des Eigentums erhalten, Zeichen für eine individuelle Existenz einer Person zu sein. Zum anderen führt die Aufnahme in einer der Stände dazu, daß die betreffende Person eine konkrete soziale Identität erhält 57. Neben ihrer Privatsphäre ist ihr der eigene besondere Wille auch in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht anwesend. Beidesmal wandelt sich dadurch die Verletzungsbedeutung des jeweiligen Verbrechensaktes.

aa) Die Verletzung des Opfers Weil im Arbeits- und Lebenszusammenhang die Sicherung der eigenen Subsistenz mit der Entwicklung des allgemeinen Vermögens auf engste verwoben ist 58 , so kommt es beim Eigentum nicht mehr wesentlich darauf an, einen konkre§ 124 Anm., S. 233 her. Dieses Problem steht auch hinter den Ausführungen der Anm. zu § 140, Rph., S. 265 ff. 57 Rph. § 207 insb. Zus., S. 359 f. In der Anmerkung wird die Problematik des SichBeschränkens auf eine Möglichkeit der eigenen Besonderheit angesprochen, ebenfalls ein Entfremdungsphänomen. 58 So Rph. §§ 199 f., S. 353 f.

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ten Bestand an Gütern zu garantieren. Wie schon beim Vertrag wandelt sich der Schwerpunkt der rechtlich gesicherten Sachherrschaft von der Möglichkeit der Ausgrenzung anderer zur Befugnis der Teilhabe am gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozeß. Der Verlust einzelner Sachen trifft den Bürger mithin dann nicht mehr so schwer, wenn weiterhin die Teihabe an der Interaktion möglich ist. Daraus folgt, daß neben der Verletzung unveräußerlicher Rechtsgüter auch der Verlust solcher Vermögenswerte eine empfindliche Einbuße darstellt, die für sich oder in ihrer Gesamtheit für das betreffende Opfer Grundlage des eigenen wirtschaftlichen Daseins sind. 59 Umgekehrt kann die Vernichtung oder Beschädigung von bestimmten privaten Sachen eine über das konkrete Opfer hinausgehende Bedeutung haben. Dies ist dann der Fall, wenn der Bestand dieses Gutes eine notwendige Voraussetzung für die Subsistenz auch anderer Bürger darstellt, wie z. B. allgemeine Stromversorgung, öffentlicher Beförderungsdienst, funktionierende Gesundheitsvorsorge, etc. Auf der Ebene des allgemeinen Willens des unmittelbaren Opfers treten ebenfalls Modifikationen dadurch ein, daß es in einen stabilen Lebenszusammenhang eingeordnet ist. Neben der Geborgenheit in der Familie führt auch die gewohnheitliche Anerkennung im Arbeitsprozeß dazu, daß sich der Verlust der Geltung als Person, der durch das Verbrechen eintritt, auf das Verhältnis zum Täter reduziert. Hatte das moralische Wesen als Existenzform nur noch die eigene Innerlichkeit, so steht der konkreten Person weiterhin eine Äußerlichkeit zur Verfügung, in der sie ihr spezifisches Dasein der Freiheit grundsätzlich behält. Umgekehrt bedeutet das, daß Delikte, die sich gerade gegen die Anerkennung durch andere Subjekte richten, hier ihr spezifisches Handlungsobjekt erst erhalten, wie Verleumdung und üble Nachrede zeigen 60 • Zwar entfaltet die in der Tat objektivierte Unrechtsmaxime weiterhin ihren Geltungsschein auch für andere Bürger. Mithin bleibt es möglich, daß die an sich bestehende Verläßlichkeit Dritter dadurch beeinträchtigt wird, insofern sie sich von diesem Schein verführen lassen können. Also destabilisiert die Gefahr für die allgemeine Geltung des Rechtsgesetzes stets auch das entsprechende Normvertrauen jedes Einzelnen. Dennoch mindert sich dieses Risiko im gesellschaftlichen Kontext, weil die durch gegenseitige Arbeit füreinander eingeübte Anerkennung der sittlichen Haltung der Mitbürger eine Festigkeit verleiht, die - nach einem Beispiel aus der JR - die Tat wie einen Tropfen absorbiert 61. 59 Die Wichtigkeit solcher Gegenstände zeigt Rph . § 127 Anm., S. 240. Anzumerken ist, daß der Verlust der wirtschaftlichen Existenz auch die Zugehörigkeit zu einem Stand gefährdet. 60 Dies wird deutlich, wenn man die Feststellung Hegels, in der bürgerlichen Gesellschaft verletze die Strafe immer auch noch die Ehre, auf das Verbrechen rückbezieht, Nachsehr. Wannenmann, in: Ilting, S. 130. Warum die Achtung des allgemeinen Willens einer einzelnen Person für sich genommen in der bürgerlichen Gesellschaft auch die Negation einer Besonderheit enthält, erhellt daraus, daß sie das Allgemeine Aller in der Form der Einzelheit darstellt, s. dazu Rph. § 209 Anm., S. 360 und sofort im Text. 61 JR, S. 260.

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bb) Die Dimension des verletzten Allgemeinen Bisher sind lediglich die Modifikationen betrachtet worden, die innerhalb einer isolierten einzelnen Rechtsbeziehung dadurch eintreten, daß sie vom gesellschaftlichen Kontext überformt wird. Vertrag und Eigentum stellen jedoch nicht mehr die einzigen Formen dar, in welcher die Freiheit ihr Dasein hat. Vielmehr reihen sie sich als Elemente in die gesamtgesellschaftliche Interaktion ein, die zu ihrem gemeinschaftlichen Resultate auch die Freiheit als geltendes positives Gesetz und als (Not-)Staat in der Form der Rechtspflege in Erscheinung treten läßt. Der allgemeine Wille hat jetzt nicht nur Existenz in der vertraglichen Übereinkunft, sondern er findet sich außerdem wieder in der (Gesetze formulierenden und anwendenden) Tätigkeit des allgemeinen Standes. Deren Handeln besteht aber darin, in allen Bürgern das allgemeine Bewußtsein vom Gelten der Gesetze hervorzurufen. So hat jetzt der allgemeine Wille seinerseits eine gedoppelte Existenz: In der Form der Allheit ist er das einheitliche Bewußtsein vom Gelten der Gesetze, in der Form der Einzelheit das jeweilige individuelle Selbst- und Rechtsbewußtsein 62 • Weil letzteres die Besonderung des ersten vorstellt, so ist dessen Negation stets auch eine Verneinung des institutionalisierten Willen, dessen allgemeine Anerkennung durch jedes Vergehen in seiner Geltung ebenfalls gemindert wird. Aus dem Blickwinkel der bürgerlichen Gesellschaft stellt demnach selbst die totale Negation einer einzelnen Rechtsbeziehung durch ein Tötungsdelikt immer nur einen Teil der gesamten Existenz der Vernunft in Frage, wogegen die in der Alltagspraxis verfestigte Anerkennung der Gesetze durch die anderen Mitbürger bestehen bleibt. Was jetzt die Existenz dieses Verbrechens ausmacht, ist nicht mehr die Verletzung, sondern nur noch die Gefährdung des allgemeinen Normgeltungsbewußtseins, die von dem Geltungsschein der Unrechtsmaxime ausgeht 63 • Je nach Stärke der Vergesellschaftung der Individuen nimmt dieses Risiko einen mehr oder minder großen Umfang an, weil und soweit dies sich auf die Haltung der Bürger unterschiedlich auswirkt. Liegt ein stabiler Arbeits- und Lebenszusammenhang vor, hat das Verbrechen für die Allgemeinheit eine geringere Bedeutung als dort, wo er sich noch im Aufbau oder in der Krise befindet. So macht es auch für den institutionalisierten Gemeinwillen einen Unterschied, ob im Bewußtsein aller die Tat eine inakzeptable Verhaltensweise darstellt, oder ob sich andere in ihrem Rechtsbewußtsein durch sie beeinflussen lassen. Daher beeindruckt eine Serie von Delikten, die sich gegen eine Vielzahl von Individuen richtet, stärker als eine einmalige Gelegenheitstat. Schließlich beeinflußt auch die Wichtigkeit, die dem Bestand des verletzten Rechtsgut für eine Vielheit von Bürgern zukommt, den Grad der Erschütterung des allgemeinen Normvertrauens. Dazu auch Seelmann, JuS 1979, S. 690 f. Dieses Element am Strafunrecht haben wieder ins Gedächtnis gerufen: M. Köhler Stratbegriindung und Strafzumessung, 1983, S. 47 ff., 54, ders. Begriff der Strafe, 1986, S. 56 ff. und E. A. Wolff ZStW 97, 1983, S. 786 ff. 62 63

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So wurde oben bereits aufgezeigt, daß diejenigen Güter, deren Funktionieren für eine große Menge an Bürgern erforderlich ist, eben wegen ihrer Bedeutung über den Rechtskreis des betroffenen Eigentümers hinaus auch die Lebenszusammenhänge anderer mitkonstituieren. Schließlich bilden die unveräußerlichen Rechte, insbesondere Leben und freie Verfügung über die eigene Arbeitskraft, nicht bloß Momente in der gesellschaftlichen Interaktion; vielmehr stellen sie die Grundbedingungen dar, unter denen konkrete Personen sich vergemeinschaftet haben, weil sie Voraussetzungen der Teilhabe sind. Die Verletzung derartiger Güter stellen mithin nicht nur für den Einzelnen seine gesamte personale Existenz in Frage; zudem beeinträchtigen sie auch Grundprinzipien des gesellschaftlichen Lebens. So kommt ihrer Verneinung selbst dort eine hohe Bedeutung zu, wo die Festigkeit der intersubjektiven Interaktion gewöhnlich die Achtung dieser Werte garantiert. Allerdings bleibt festzuhalten, daß die Verletzung dieses Rechtsgutes tür sich nicht das spezifische Strafunrecht darstellt, s. o. 1. Kapitel B. 11. 2. Vielmehr geht es nur um die Verneinung des allgemeinen Willens des Opfers, die in der Tat über die Negation des unmittelbaren Handlungsobjektes hinaus zum Ausdruck kommt. Dies gilt umso mehr, wenn man nach der Art und Weise der Verletzung des institutionalisierten allgemeinen Willen fragt. Die Beeinträchtigung eines einzelnen subjektiven Rechtes vermittelt zwar für das konkrete Opfer weiterhin die Negation auch seines allgemeinen Willens. Für das verletzte Allgemeine kommt es darauf jedoch nicht mehr wesentlich an: Es ist nur dann und stets dann beeinträchtigt, insofern die Verneinung des allgemeinen Willen im Opfer (als nunmehrige besondere Existenz) dazu führt, daß auch der allgemeine Wille in Form des gemeinschaftlichen Bewußtseins vom Gelten der Gesetze (als allgemeine Existenz) in Frage gestellt ist. Das negativ unendliche Urteil, das das Verbrechen auszeichnet, wird jetzt in gedoppelter Weise gefällt: Einmal bleibt es innerhalb der einzelnen abstrakten Rechtsbeziehung zweier Personen dabei, daß nur dort ein derartiges Urteil vorliegt, wo sowohl der besondere als auch der allgemeine Wille des Opfers in seinem Dasein verletzt ist. Auf der anderen Seite kommt es für den institutionalisierten Allgemeinwillen nurmehr darauf an, daß seine Besonderung, die nicht mehr ein einzelnes Rechtgut darstellt, sondern das subjektive Selbst- und Rechtsbewußtsein des Opfers in einer Weise negiert wird, daß auch seine allgemeine Existenz beeinträchtigt ist. Diese Doppelung macht es einerseits möglich, negativ unendliche Urteile auf der abstrakten Rechtsebene dort nicht mehr als gesellschaftsrelevantes Strafunrecht anzusehen, wo das allgemeien Bewußtsein vom Gelten der Gesetze nicht mehr tangiert ist. Dies kann zum Ableben bestimmter Strafnormen bzw. zu einer milderen Betrachtung des Unrechtsgehaltes eines bestimmten Rechtsbruchs führen 64. Auf der anderen Seite reicht nun jede Verletzung des Achtungsanspruches, 64 Ein Beispiel dafür bietet die Strafrechtsreform von 1973, wo weite Teile der Sittlichkeitsdelikte eliminiert wurden. Vgl. Jescheck AT, 1988, S. 80.

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der jeder einzelnen Person zukommt, aus, soweit seine Erfüllung im allgemeinen Bewußtsein als notwendige und positiv rechtlich geforderte Bedingung gesellschaftlicher Interaktion zu verstehen ist. Diese Ausdifferenzierung des negativ unendlichen Urteils in eine individuell abstrakt rechtliche und in eine intersubjektiv gesellschaftliche Ebene führt außerdem eine Ausdifferenzierung der Rechtspflege mit sich, 2. Kapitel C. I.

cc) Strafwürdiges Unrecht Weil für den institutionalisierten Gemeinwillen nicht mehr jedes negativ unendliche Urteil im abstrakten Rechtsverhältnis ein Verbrechen im konkreten Sinne bezeichnet, kann er Verfolgung derartiger Unrechtsarten nicht mehr als Aufgabe der Strafrechtspflege verstehen 65. Je nach der historisch-konkreten Gewichtigkeit einzelner Rechtsverletzungen erfolgt ihre Bereinigung in unterschiedlichen Bahnen: Dabei kommt demjenigen Teil der Rechtspflege, der für die Formulierung der Gesetze zuständig ist, zunächst einmal eine Einschätzungsprärogative zu, welche Vergehen es im gesellschaftlichen Kontext als derart gering ansieht, daß es ausreichen würde, sie allein mit Schadensersatz zu belegen 66. Gleiches gilt aber dann recht eigentlich auch auf der Ebene der Einzelfallbehandlung: So lassen sich Regelungen denken, bei denen im Bagatellbereich erst dann ein relevantes Strafunrecht bejaht wird, wenn festgestellt worden ist, daß über den Rechtskreis des unmittelbaren Opfers hinaus auch das Normvertrauen in der Allgemeinheit beeinträchtigt ist 67 • Was für den spezifischen Bereich der Strafrechtspflege aber am wichtigsten ist, ist nun der Wandel in den Strafschwerekriterien. Auch dies gilt zunächst für die Festlegung des gesetzlichen Strafrahmens; es gilt aber auch und gerade für die Würdigung des Einzelfalls: Art und Gewicht der Rechtsgutsverletzung, das Ausmaß der Erschütterung des individuellen Normvertrauens sind jetzt nurmehr noch Indizien für die Bemessung des Schadens, der am allgemeinen Normgeltungsbewußtsein eingetreten ist. Erst wenn man das durch Strafe zu bereinigende Unrecht auf gerade diesen Konflikt reduziert, wird man sie nicht mit hypertrophen Aufgaben betrauen, zu der sie nach Hegels Verständnis nichts taugt 68 •

Zu Einzelheiten s. u. 2. Kapitel C. I. Darauf beschränkt sich eigentlich der unmittelbare Aussagewert des Rph. § 218, S. 371 ff. 67 Eine Erweiterung auf die Einzelfallbetrachtung nimmt M. Köhler, Strafbegründung und Strafzumessung, 1983, S. 47ff, 54 f., vor. 68 Weil jetzt nur noch das strafgesetzwidrige Delikt ein Verbrechen darstellt, müßte eine ähnliche Formalisierung bei den Merkmalen der Straftat eintreten, wie bei den Voraussetzungen des Eigentumserwerbs, s. o. 1. Kapitel D II. 2. 65

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Dabei können drei Grundtypen von Verletzungsschwere unterschieden werden:

Erstens: Die Straftat richtet sich gegen ein Rechtsgut, dessen Bestand zu den Grundbedingungen der Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft gehört, wobei die in dem Verbrechen objektivierte Unrechtsmaxime situationsbezogen gebildet wurde. Hier ist neben der Verletzung des allgemeinen Willens des unmittelbaren Opfers stets auch das kollektive Rechtsbewußtsein betroffen, ohne daß in dem Delikt eine Tendenz zum Ausdruck kommt, daß auch andere Rechtsverhältnisse real beeinträchtigt sind. Dies macht auch das beobachtbare Phänomen der gesellschaftlichen Reaktion auf derartige Verhaltensweisen deutlich: Wo ein tyrannischer Ehemann von seiner Frau getötet wird, weil ihre persönlichen Verhältnisse für sie keine andere gangbare Form der Konfliktlösung zuließen, dort ist die Allgemeinheit in ihrem Normgeltungsbewußtsein auch dann erschüttert, wenn die Einzigartigkeit der Tatsituation eine Verallgemeinerungswirkung der Unrechtsmaxime in ähnlichen Delikten (derselben Person oder Dritter) verhindert. Zweitens: Wo ein Verbrechen dagegen Ausdruck einer sich in der Gesellschaft verbreitenden Handlungsweise ist, für die sich eine beachtliche Anzahl von Individuen in ihrer subjektiven Haltung als anfällig erwiesen, dort erhöht sich der Grad der Ingeltungsetzung der eigenen Unrechtsmaxime erheblich. Die durch Gewohnheit der Rechtsbefolgung sonst fraglose Sicherheit der Gesetzesanerkennung liegt hier nicht mehr vor, weil eben beständig auch andere Beziehungen in gleicher Weise in Frage gestellt worden sind. Was sonst den Geltungsschein der Unrechtsmaxime absorbierte, ist nun mehr oder minder hinfällig geworden. Hier liegt ein Bereich vor, in dem sonst generalpräventiv gefaßte Erwägungen die Strafe auch nach dem Vergeltungsprinzip schärfen können 69 • Schließlich kann eine einzelne Tat, indem sie sich gegen eine Vielzahl von Personen richtet (Seriendelikt), ebenfalls dazu führen, daß neben dem beträchtlichen Gesamtschaden, der damit angerichtet worden ist, gleichzeitig auch eine erhebliche Verunsicherung des Rechts- und Selbstbewußtseins der betroffenen Kreise eintritt. Ohne daß die Tat nun ihren Geltungschein für Dritte entfaltet, führt auch diese beharrliche Wiederholung der einmal aufgestellten Unrechtsmaxime durch einen einzelnen Täter dazu, daß ebenfalls die allgemeine Akzeptanz einer bisher gültigen gewohnheitlichen Rechtsbefolgung in Frage gestellt ist. Es greift demnach wachsende Verunsicherung um sich, welche Prinzipien allgemein gelten und dem Handeln zugrunde zu legen sind. Darin ist eine Erhöhung des Unrechts zu sehen, der nicht aus spezialpräventiver Sicht, sondern auch aus dem Vergeltungsprinzip heraus zu einer schärferen Strafe führen muß70. Die größere Schwere des Verbrechens beruht hier also nicht auf einer mangelhaften Persönlichkeitsartung o. ä., wie es das Verständnis der Vertreter eines Täterstrafrechtes ist 7!; stattdessen wird hier nach dem Grad der Lockerung der SelbstverNachsehr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 549. Einzelheiten s. u. 2. Kapitel C. 11. 2. a). 70 Einzelheiten s. u. 2. Kapitel C. 11. 2. a).

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ständlichkeit gewohnheitlicher Rechtsbefolgung in der Allgemeinheit gefragt, wie sie durch den Einfluß sich akkumulierender Tatbegehung eines Einzelnen hervorgerufen wird.

dd) Zusammenfassung Dadurch, daß das abstrakte Rechtsverhältnis nun vom gesellschaftlichen Zusammenhang überformt wird, modifiziert sich auch die Bedeutung der einzelnen Rechtsgutsverletzung und die darüber vermittelte Mißachtung der eigenen Personenwürde beim konkreten Opfer. Insbesondere mindert die Verläßlichkeit auf die sittlichen Gewohnheiten Anderer den Anerkennungsverlust. Weil das einzelne Rechtsverhältnis nur noch Moment im gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitszusammenhang ist, wird durch die Negation des allgemeinen Willens des unmittelbaren Opfers zwar immer auch der institutionalisierte Gemeinwille beeinträchtigt. Ein negativ unendliches Urteil liegt auf dieser Ebene aber nur dann vor, wenn die Mißachtung der Person des Opfers auch zu einer Gefahr für das allgemeine Bewußtsein vom Gelten der Gesetze führt. Auch in dieser Hinsicht führt die Stabilität einer allgemeinen Handlungsweise der Anerkennung zur Milderung des durch Strafe zu bereinigenden Konfliktes. Die Strafrechtspflege ahndet nur noch diejenigen Unrechtsformen, in denen neben dem allgemeinen Willen des Opfers auch das kollektive Rechtsbewußtsein gefährdet ist. Dies erlaubt dem Gesetzgeber generell bzw. der Justiz im Einzelfall, anders geartetes Unrecht ohne Strafe zu lassen. Auch die Unterscheidung von Schweregraden der einzelnen Verbrechensgattungen voneinander bzw. ihr Vorliegen im Einzelfall bedarf jetzt einer Bemessung an Hand des Grades der Gefährdung der gewohnheitlichen Anerkennung der Gesetzesverbindlichkeit in der Allgemeinheit. Dabei bildet die Wertigkeit des betroffenen Rechtsgutes nurmehr ein Indiz für das Ausmaß des in der Tat gesetzten Risikos für die Normgeltung. Größere Bedeutung erlangt dagegen der sich verbreitende Geltungsschein der in dem Delikt objektivierten Unrechtsmaxime. Dies kann einmal dadurch geschehen, daß die Tat Ausdruck einer allgemein in der Gesellschaft vorhandenen Tendenz ist, die Selbstverständlichkeit sittlicher Gewohnheiten der Rechtsbefolgung in Frage zu stellen; oder es wird dadurch hervorgerufen, daß dies durch wiederholte Einzelakte ein und desselben Täters in ähnlicher Weise ebenso eintritt.

71 Einen Überblick über diese gibt Lenckner in: Schönke / Schröder, 1988, Rdnr. 3 ff. vor §§ 13 ff. ffi. w. N.

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b) Der Handlungsunwert Bei der letzteren Form des Erfolgsunwertes, in der sich die Normgeltungsgefährdung auf die Delinquenz einer einzelnen Person zurückführen läßt, wird deutlich, daß die Modalität des Erfolgsunwertes in direktem Zusammenhang mit der Art und Weise der Deliktsbegehung steht. Mithin kann sich der Erfolgsunwert einer Straftat auch dann steigern, weil und soweit ihr Handlungsunwert intensiver ist. Dies ist im folgenden näher auszuarbeiten.

aa) Allgemeine Charakteristik Auch jetzt ist der Handlungsunwert nach Form und Inhalt zu unterscheiden. Dabei sind die im abstrakten Recht und der Moralität entwickelten Kriterien zugrunde zu legen. Handlungsunwert heißt also weiterhin der Form nach, daß die Beeinträchtigung der Geltung des gesetzten Rechts ein freier Akt dieses spezifischen Subjektes ist. Nur die Beachtung aller in der Moralität entwickelter Handlungskategorien macht es folglich möglich, eine Tat dem Betreffenden als Unrecht zuzurechnen 72. Namentlich bedarf es des Nachweises eines Verschuldensprozesses im Täter. Man muß ihm vorwerfen können, daß er sich das Wissen von der Partikularität der aus einer bestimmten Neigung entwickelten Handlungsmaxime verstellt hat, s. o. 1. Kapitel C. 11. 2. a) bb). Es wäre ein Mißverständnis, würde man aus der Sittlichkeit ableiten, von diesem Kriterium bösen Handeins dürfe man Abstriche machen 73 • Was sich im Verhältnis zum in sich verschlossenen moralischen Wesen geändert hat, ist der inhaltliche Maßstab, an dem die Partikularität der in Rede stehenden Neigung zu messen ist. Hier spricht die Aufnahme des Individuums in den Arbeits- und Lebenszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft dafür, daß es nicht mehr das abstrakte Gute als Meßlatte zugrunde legt, sondern sich nach den Bestimmungen richtet, welche die dafür spezialisierten Kräfte des allgemeinen Standes aufgestellt haben. Zwar hat in diesen Regeln bisher nur das Prinzip der Persönlichkeit Eingang gefunden, so daß das besondere Interesse nur in seinem Rahmen berechtigt verfolgt werden kann. Doch bringt die Ausrichtung an den positiven Gesetzen auch eine Vereinfachung der Entscheidungssituation mit sich, weil eine bestimmte Klasse an Willensregungen nun eindeutig als allgemein qualifiziert und von Allen als solche anerkannt ist. Einer Lähmung des Handelnden wie in der Moralität ist insoweit vorgebeugt. Der für das Vorliegen einer zurechenbaren 72 Deutlich in Rph. § 227, S. 378, wo pauschal auf den ganzen Mittelteil des Werkes verwiesen wird. Weiter: Rph. § 220, S. 374, § 225, S. 377. Dazu auch Bogdandy, Hegels Theorie, 1989, S. 95 ff. 73 Nachsehr. Griesheim, Ilting IV, S.552. Anders aber Schild, ZphF 35, 1981, S. 461 ff.

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Handlung erforderliche Korrumpierungsprozeß ändert sich also lediglich dahingehend, daß der Aufweis ausreicht, der Täter habe sich seine Kenntnis von der Ungesetzlichkeit seiner Handlungsmaxime verstellt. Dabei kommt ein weiteres hinzu: Strafwürdiges Unrecht ist in der bürgerlichen Gesellschaft nur noch die Gefährdung des allgemeinen Normgeltungsvertrauens, wie es sich über die Verletzung bestimmter Rechtsgüter vermittelt. Gerade diese Ebene des Erfolgsunwertes, die Minderung der Gesetzesgeltung durch das Verbrechen, muß nun in den Willensbildungsprozeß, der zum Unrecht führt, miteinbezogen werden. Der Täter muß auch und gerade sein praktisches Wissen verdrängen, daß die konkrete Rechtsgutsverletzung zugleich auch die Bedeutung hat, die Festigkeit sowohl der objektiven sittlichen Konstitution (des Gemeinwesens) als auch der subjektiven sittlichen Konstitution (seiner selbst) in Frage zu stellen. Darin liegt jetzt die negative Existenz des Verbrechens im Bewußtsein des Täters. Kurz, der Täter muß nicht nur wissen, daß sein Handeln ebenso Rechtgutsverletzung wie der Bruch einer konkreten intersubjektiven Beziehung ist; er muß vielmehr auch um das positiv gesetzwidrige seines Tuns wissen. Die Feststellung, die Tat ist dem Beschuldigten nach dem Maßstab der geltenden Strafgesetze zurechenbar, enthält aber nur die eine Ebene, in denen die inhaltlichen und formalen Momente des Handlungsunwertes auseinander zu halten sind. Genau wie im abstrakten Recht besteht das spezifisch Unwerthafte des negativ unendlichen Urteilsvollzuges darin, daß der Verbrecher die Seite der Einzelheit fixiert, nicht dagegen auch die Seite des allgemeinen Willen ausführt. In einem ersten Schritt liegt der Handlungsunwert der Tat auch hier darin, sich dagegen zu sträuben, die Unrechtsmaxime auf das eigene Dasein zu verallgemeinern. Schließlich verbaut sich der verbrecherische Wille aber noch ein Zweites: Wo sich der Wille des Täters in seine Einzelheit einhaust, dort entgeht ihm das affirmative Resultat des negativ-unendlichen Urteils des Verbrechens: In der Negation des (abstrakten) Rechts als (abstraktes) Recht liegt positiv die Behauptung des eigenen Wohles als ebenfalls originär eigenes Recht des Subjekts, s. o. 1. Kapitel B. I. 5. Indem der Verbrecher aber sein Wohl nur als sein partikuläres Interesse verfolgt, mangelt es seinem Tun an einem Allgemeinheitsanspruch, der allein es legitimieren kann, ein Handeln als berechtigt auszuweisen. Dieses affirmative Resultat der Negationsbewegung, die das Verbrechen im abstrakten Recht einleitet, stellt dort den Übergang zum moralischen Wesen dar. Was die konkrete Person betrifft, so wandelt sich bei ihr dieser Überschritt dahingehend, daß nun neben der gesellschaftlichen Anerkennung der eigenen Personalität auch das eigene Wohl eigenständig zur Geltung gebracht wird. Dieser Prozeß hat jedoch innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft auch eine institutionelle Ebene: Weil jedes Delikt einen Mangel anspricht, unter dem die gesamtgesellschaftliche Interaktion bisher leidet, reicht es nicht aus, daß sich die Wirklichkeit des (abstrakten) Rechts dadurch beweise, daß die Strafe lediglich - wenn auch gegebenenfalls in gemilderter Form - die Unrechtsmaxime auch 12 Klesczewski

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

gegen den Täter wendet, s. u. 2. Kapitel A. 11. 1. 74 Stattdessen ist das institutionelle Defizit nur dadurch zu beheben, daß auch die Organisationsform des Gemeinwillens seinen Auftrag ändert. Dies bestätigt auch der Fortgang innerhalb der Rph. von der Rechtspflege zur Polizei, s. o. 1. Kapitel D. I. 75 Hegel führt aus, daß das Ungenügen der Rechtspflege darin besteht, daß sie nur einzelfallbezogen die Einheit von allgemeinem und besonderem Willen herstellt, die noch dazu lediglich eine Einheit im Sinne des abstrakten Rechts bildet. Dagegen besteht der Fortschritt in der Polizei darin, nun auch das besondere Wohl institutionell als ein berechtigtes Interesse anzusehen, für das der (Not-)Staat Sorge zu tragen hat. Der institutionalisierte Gemeinwille restituiert also nur dann das verletzte Recht, soweit er das vom Verbrecher eingeklagte Wohl ebenfalls als ein eigenständiges Dasein anerkennt, in dem sich Freiheit manifestiert. Dann aber muß er die bisherigen staatlichen Funktionen zu einer umfassenden Wohlfahrtssicherung erweitem 76 • Dieser Vorgriff auf dasjenige, was zur Wiederherstellung des vom Verbrecher verletzten Rechts zu leisten ist, war erforderlich, um aufzuzeigen, was innerhalb institutionellen Bezügen an affirmativer Substanz dem negativ unendlichen Urteil des Verbrechens inhäriert. Innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nimmt der Übergang von der rächenden Person zum moralischen Subjekt also die Gestalt an, daß sich die Rechtspflege als Teil einer umfassenden Administration versteht, die als Ganzes neben der Realisierung des abstrakten Rechts sich auch die Sicherung der allgemeinen Wohlfahrt vorgenommen hat. Es mag auf den ersten Blick bedenklich stimmen, dies alles in das negativ unendliche Urteil eines Täters hineinzuinterpretieren. Dazu ist zunächst einmal anzumerken, daß, was die objektive Seite des Verbrechens betrifft, nur so der dialektische Fortgang in der Sittlichkeit verständlich wird. Aber auch die subjektive Seite des Delikts weist durchaus diese Entsprechung auf. Was fürs erste diese Auffassung des Verbrechens so wenig plausibel macht, ist die Tatsache, daß es dem Betroffenen lediglich um die Verwirklichung des eigenen Wohles geht. Schon das aber hindert es nicht, ihn im Hegeischen Verständnis zu einem Subjekt zu machen, das den Fortschritt in der Realisierung der Freiheitsidee einleitet, wie das Beispiel des weltgeschichtlichen Individuums zeigt77 • Um aber den Vorwurf zu entkräften, so würdige man den Täter zu einer Marionette in der gesellschaftlichen Entwicklung herab 78, kann auf Folgendes verwiesen werden: Der Fortschritt in der Verwirklichung der Freiheit liegt bereits in der Negation der bisher bloß abstrakten Einheit von gewohnheitlicher InteresEinzelheiten s. u. 2. Kapitel C. 11. 2. a). Deutlich die §§ 229 f., S. 381 f. Rph. Enzykl. §§ 532 f., S. 328 f. 76 s. die Rph. §§ 231 ff., S. 382 ff. 77 Philos. d. Gesch., S.45, Rph. § 124, S. 232 ff. Krit. Derbolav in: Riedel, 1975, S. 210 ff. 78 Zuerst Meinecke, Staatsräson, 1924, S. 436. Die Wirkungsgeschichte zeichnet Ottmann (Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 182 ff.) nach. 74 75

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senverfolgung und eingeübter Rechtskonformität. Diesen Bruch führt der Täter bewußt als Ausdruck eines Mangels herbei, so daß er auch nach dieser Weise in seiner Subjekthaftigkeit anwesend ist. Schließlich erfaßt er als moralisches Wesen zugleich auch die Partikularität und damit die Negativität der eigenen eigensüchtigen Strebung. Mithin ist ihm auch bewußt, daß diese noch nicht das affirmative Resultat in der Entwicklung der Freiheit darstellen kann. Vielmehr stellt es gerade den Gehalt des Verdunkelungsprozesses dar, daß der Täter die Partikularität seines Bedürfnisses mit dem Schein der Allgemeinheit umgibt. Erst dort, wo der Betroffene ein positives Gesetz zu brechen beabsichtigt, um einer Willensregung nachzugehen, in der die Aufhebung der eigenen Besonderheit intendiert ist, antizipiert er die affirmative Substanz, die in jedem negativ unendlichen Urteil enthalten ist. Innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet das aber nicht, wie der heilige Crispinus für die Armen zu stehlen, sondern letztlich die Beseitigung der Armut im öffentlichen Bewußtsein als allgemeine Aufgabe zur Geltung zu bringen 79. Agiert der Täter aber, ohne dieses affirmative Resultat vor Augen zu haben, so verwirklicht er den spezifischen Handlungsunwert des Verbrechens 80. Wie beim Erfolgsunwert des Verbrechens die objektive sittliche Konstitution das Maß abgab, die Schwere des Unrechts zu bestimmen, so läßt sich dem entwickelten Grundprinzip des Handlungsunwerts nunmehr ein ähnlicher Maßstab entnehmen: Mit ihm kann herausgefunden werden, wie stark die subjektive sittliche Konstitution des Täters durch das Verbrechen beeinträchtigt worden ist.

bb) Die Negation der eigenen Gewohnheit zur Rechtschaffenheit Wie allgemein entwickelt, hat das Verbrechen auch Auswirkungen auf die subjektive sittliche Konstitution. Diese subjektive Seite der Negativität, die dem negativ unendlichem Urteil innewohnt, liegt darin, daß der Täter die Kraft seiner Reflexion gegen die eingeübte Befolgung der (abstrakten) Rechtsregeln wendet, ohne daß daraus allein eine neue und konkretere allgemeine Gewohnheit entstehen kann. Er fixiert nur seine Willkürsubjektivität gegenüber der sich in seinem Charakter niederschlagenden allgemeinen Handlungsweise Aller. Das bedeutet, daß dieser Verschuldensprozeß wegen der Schwerkraft der eigenen Neigung zur Rechtlichkeit nun eines besonders hohen Aufwandes an sophistischen Vorspielungen bedarf, damit sich die Scheinallgemeinheit der eigenen Unrechtsmaxime 79 s. Rph. § 126 Zus., S. 239 einerseits und Rph. § 242, S. 388 f. andererseits. Dazu Lübbe Wolf, ARSP 68, 1982, S. 252 f. 80 Dem Täter braucht demnach nicht bewußt zu sein, daß die Geltendmachung seines eigenen, zu unrecht nicht anerkannten Wohls die immanente Bedeutung enthält, für Alle in ähnlicher Lage dieses Defizit zu fordern. Wo eine Vielzahl ähnlicher Delikte zur Erkenntnis führen, daß in ihnen ein allgemeiner Mangel angesprochen wird, dort wird sich langsam das dem Verbrechen innewohnende, reformerische Potential durchsetzen.

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

handlungsrnächtig durchsetzt. Anders als bei einem Wesen, dessen praktische Normkenntnis (noch) locker ist, setzt der Erfolg des Verschuldensprozesses nun ein um ein Vielfaches intensiveres Bemühen voraus, zu dem nicht jeder Mensch zu jeder Zeit fähig ist 81 • Dieses subjektive Gegenstück zur Stärke der Gesellschaft als Ganzer macht es erst plausibel, daß das Verbrechen innerhalb der Sittlichkeit dahin tendiert, eine Randexistenz zu werden 82. Daraus folgt aber auch, daß für die Lebenspraxis des Täters selbst das Delikt den Charakter einer vereinzelten Episode annimmt. Bei der abstrakten Person verhielt es sich so, daß sie dadurch, daß sie der Unmittelbarkeit ihrer natürlichen Antriebe verhaftet war, am Geltungsschein der Unrechtsmaxime kleben blieb. Dem moralischen Subjekt, das sich als die vermittelnde Instanz vom (abstrakt) guten Willen zum unrechtlich-bösen erwies, stellte sich diese Unmittelbarkeit prinzipiell als verfügbar dar, so daß die Annahme einer falschen Maxime ebenso beliebig wurde wie die Reue über sie. Anders liegt der Sachverhalt nun bei der konkreten Person rechtschaffenen Charakters: Der geistige Mechanismus, als welcher der Nachvollzug der allgemeinen Handlungsweise wechselseitiger Anerkennung wirksam ist, ruft die Rechtsgeltung dem Täter beständig wieder ins Gewissen. Dadurch wird der schleichenden Verallgemeinerungstendenz der Unrechtsmaxime auf die ganze Pragmatik des Subjekts wie von selbst entgegengewirkt. Bei einer Person mit einer solchen Konstitution ist die Preisgabe der einmal angenommenen Unrechtsmaxime eher wahrscheinlich als deren weitere Aufrechterhaltung. Dies gilt insbesondere dort, wo dies dazu führt, daß die Objektivationen der eigenen Gewohnheit der Rechtschaffenheit auf dem Spiel stehen, wie sie sich im familiären Halt und der festen Anstellung exemplarisch ausprägen. Auch innerlich wird der Geltungsschein der Unrechtsmaxime von der Stärke der anwesenden allgemeinen, sittlichen Verhaltensweise wie ein Tropfen absorbiert 83. Die Einordnung des Täters in sittliche Bezüge mit ihrer habitualisierenden Wirkung können dem Täter demnach zugute gehalten werden, wodurch sich auch der Handlungsunwert seiner Tat mindert. Ebenso wie das Verbrechen sich äußerlich mit der allgemeinen Handlungsweise Anderer in den Gegensatz setzte, ge81 Dies steht dahinter, wo Hegel konstatiert, daß in der bürgerlichen Gesellschaft das Verbrechen mehr und mehr zu einer Angelegenheit der Leidenschaft wird, Nachsehr. Hotho, in: Ilting I1I, S. 662 f. Insoweit favorisiert Hegel in der Sittlichkeit gegenüber der Moralität m. E. kein anderes Zurechnungsmodell, so aber Seelmann; in: Hösle, 1989, S. 106. Hegel zieht damit eher die Konsequenz aus der sich auch in der subjektiven Konstitution niederschlagenden Stärke der Gesellschaft. 82 Nachsehr. Griesheim, in: Ilting IV, S.550. VgI. w. M. Köhler, in: FS Lackner, 1983, S. 34 f. 83 JR, S. 260. Daraus folgt aber auch, daß die zur Gewohnheit gewordene abstrakte Anerkennung ebenso fast immun geworden ist, gegen einen innovativen Aspekt der Delinquenz. Mithin gewinnt die Strafe auch eine Funktion als konservierende Bestätigungsinstanz. Zudem wird sich der reformerische Aspekt des Verbrechens erst in einer Reihe (gleichartiger) Delikte offenbaren.

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nauso bleibt es dabei, daß die Unrechtsmaxime innerlich einen Bruch mit der eigenen haltungsmäßig verfestigten Handlungsweise bedeutet. Wo sich der Vollzug des negativ unendlichen Urteils auf diese verneinende Rolle beschränkt, tritt an die Stelle der allgemeinen Neigung zur Rechtlichkeit eine besondere Verhaltensweise. Diese Vorgehensweise, das Besondere zum Prinzipe zu machen, kann nun die im folgenden Abschnitt behandelten, drei verschiedenen Intensitätsgrade annehmen. cc) Intensitätsgrade Zunächst kann die Verneinung des geIstIgen Mechanismus, beständig der allgemein eingebürgerten Handlungsweise zu folgen, im praktischen Handlungsvollzug allein darin bestehen, daß seine Wirkkraft für eine Entscheidungssituation außer Kraft gesetzt wird. Gegen das eingeübte Pflichtgefühl setzt sich die eigensüchtige Strebung durch. Das Subjekt gewährt sich die "Dialektik der Ausnahme", aber eben auch nur der Ausnahme. Dies bedeutet, daß - entgegen der Verallgemeinerungstendenz der Unrechtsmaxime für die ganze Lebenspraxis des Subjektes - der Anwendungsbereich der Maxime auf den Einzelfall beschränkt wird. Ungeachtet der in Rechnung gestellten äußeren Verallgemeinerungswirkung der in die Tat umgesetzten Maxime (s.o.) vertraut das Individuum darauf, daß sich innerlich die Schwerkraft der eigenen Haltung gegen die Transformierung der Unrechtsmaxime auf weitere Entscheidungssituationen behauptet. Zwar konterkariert das Subjekt schon mit der nur einmaligen Ausführung der Unrechtsmaxime den Allgemeinheitscharakter seiner habitualisierten sittlichen Lebensweise. Mithin liegt auch auf dieser subjektiven Ebene das Unwertige seiner Tat in der Gefährdung der Festigkeit des eigenen rechtschaffenen Charakters. Je nach der Stärke der eigenen Haltung und der Tiefe des ausgeführten Normwiderspruches nimmt dieses Risiko aber unterschiedliche Grade an. Dabei spielt auch der drohende Verlust der Aussenstabilisierung der inneren Neigung, wie sie die Einordnung in sittliche Bezüge gewährleistet, eine gewichtige Rolle: Verletzt das begangene Verbrechen zugleich auch berufliche Pflichten oder offenbart es den Verlust der Zuneigung zu den Gliedern der Familie, so liegt die Gefahr für die Festigkeit der rechtschaffenen Gewohnheit nicht nur darin, daß die Allgemeinheit und Selbstverständlichkeit der bisherigen Lebensweise im Innern untergraben wird. Vielmehr wird dieser Prozeß nun noch dadurch beschleunigt, daß mit der Desorganisation dieser sittlichen Bezüge durch die Tat zugleich auch der äußere Halt für die innere Disposition verloren geht. Aus der Sicht des Täters wird nun auch äußerlich die Allgemeinheit der bisher üblichen Handlungsweise dadurch aufgehoben, daß die Umgebung des Täters ihre Einstellung zu ihm ändert.

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

Allerdings ist das Ausmaß dieses haltungs stürzenden Anerkennungsverlustes abhängig von der Gewichtigkeit des Rechtgutes, gegen das sich der Täter entschieden hat, für die jeweilige intersubjektive Beziehung. So kann für einen Prokuristen bereits die Veruntreuung eines geringen Geldbetrages zum Verhängnis werden, während ein Diebstahl unter Verwandten nicht stets den familären Zusammenhalt beeinträchtigt. Ebenso unterschiedlich sind demnach auch die selbstgesetzten Gefahren für die Neigung des Täters zur Rechtschaffenheit. Jedenfalls indiziert die in einer bestimmten, zurechenbaren Rechtsgutsverletzung üblicherweise enthaltene Desintegration des Täters aus bestimmten sittlichen Verhältnissen eine dementsprechende Intensität des vorgenommenen Verschuldensprozesses. Wem vor Augen steht, daß die Tat seine bisherige berufliche oder familäre Sozialisation in Frage stellt, der zeigt an, daß seine ausgeführte Umechtsmaxime für ihn eine über die momentane Situation hinausgehende Bedeutung für seine Lebenspraxis angenommen hat. Wo diese Aspekte in der ausgeführten Tat jedoch nicht aufgefunden werden können, dort hat man es mit dem Grundfall des Handlungsunwertes zu tun. Hier geht es um eine Umechtsmaxime, deren Anwendung nur die Betätigung einer umechten Einzeltatgesinnung darstellt, wie man es in der Aufnahme eines strafrechtsdogmatischen Begriffes nennen kann 84. Aber auch hier liegt die spezifische Form des Handlungsunwertes in der Gefahr für die Festigkeit der rechtschaffenen Haltung des Täters. Wo sich der Handlungsunwert auf die Einzeltatschuld beschränkt, dort kann diese zwei Formen annehmen: Einmal kann es die situationsbezogene Reflexion der Willkür sein, die das lebendige Gute der sittlichen Bezüge zu einer abstrakten Norm verdünnt, wogegen dann eine beliebige besondere Neigung ausgespielt wird. Hier liegt der Handlungsunwert also darin, daß sich der Täter in dieser Lage von einem sittlichen Wesen zu einem im schlechten Sinne bloß moralischen reduziert. Zum anderen kann die Willkür sich dahingehend auswirken, daß eine Abneigung domestiziert wird, die eigene Unbeherrschtheit des natürlichen Willens unter Kontrolle zu bringen (s.o.). Um den Zwängen einer eingefahrenen Lebensweise zu entgehen, gibt man sich den Leidenschaften und Affekten des eigenen Triebsystems hin. Hier besteht die Reduktion sogar im Rückfall auf den Stand eines (gewalttätigen) natürlichen Willens. Diese Formen markieren schon den Übergang zu den weiteren und intensiveren Arten des Handlungsunwertes: Besteht der Handlungsunwert darin, die eigene Gewohnheit der Rechtschaffenheit zu negieren, so heißt deren bestimmte Negation nicht der einmalige Verstoß gegen das Recht, sondern der beständige: Die sittliche Gewohnheit verneine ich nur als Gewohnheit durch die Annahme einer anderen, unsittlichen Gewohnheit 85 ! 84 85

Dazu Schmidhäuser, AT, 1975, 10 / 3. Dazu ausführlich Nachschrift Wannenmann, in: Ilting, S. 132.

II. Die ständisch integrierte Gesellschaft

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Diese letztere Gestalt des Handlungsunwertes kann nun wiederum zwei verschiedene Formen annehmen: Zum einen findet man sie dort, wo sich der Täter zu einem habituell Haltlosen entwickelt hat, s. o. 1. Kapitel C. 11. 2. b) bb) ccc). An die Stelle des geistigen Mechanismus, welcher die beständige Konformität zum Recht sichert, tritt hier das Selbstverständnis, ohne jegliche Bindung jeweils aus sich heraus wissen zu wollen, was im zur Entscheidung stehenden Sachverhalt das Rechte ist. Ein solche Verhaltensweise bringt es mit sich, daß der Betrefffende sich aus dem Arbeits- und Lebenszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft ebenso weitestgehend zurückziehen muß, wie er auch der familiären Banden fliehen wird. Dann aber führt seine Lebensweise dazu, daß sich für ihn das in diesen Zusammenhängen vorfindliche lebendige Gute, das sich am Charakter der in ihm tätigen Individuen wiederspiegelt, zu einem in seiner eigenen Lebenspraxis nur sporadich aufscheinenden, abstrakten Norm entleert. Blieb bei jemanden, der in sittliche Bezüge integriert ist, die rechtschaffene Haltung trotz des Verbrechens prinzipiell erhalten, so führt die hier in Rede stehende Lebensweise dazu, daß dem Täter diese subjektive Stärke der sittlichen Konstitution abgeht. Folglich arbeitet sie dem Geltungsschein der angenommenen Unrechtsmaxime auch nicht stillschweigend entgegen. Mithin erhöht sich die Gefahr, die von dieser ausgeht, dadurch, daß sie auf ein geschwächtes subjektives Normgeltungswissen trifft, das ihr nur schwer Widerstand leisten kann. Das, was das bloß moralische Wesen auszeichnet, hat der Täter hier zu seiner Lebensform gemacht: Bei ihm ist zufällig, ob er sich an das Recht hält oder nicht, wie es in seinem Belieben liegt, inwiefern er Reue empfindet etc. Seiner gesamten Handlungspragmatik mangelt es so an der Stetigkeit der Normbefolgung, die durch Habitualisierung eintritt. So wird sie weder die Stabilität aufweisen, die der Lebensweise eines in den Arbeitsund Lebenszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft integrierten Bürgers zukommt, noch werden seine Gelegenheitstaten den Täter in eine professionelle kriminelle Karriere treiben. Aus diesem Grund darf die Gefahr, die der Geltungsschein einer einzelnen Unrechtsmaxime für ihn entfaltet, auch nicht zu hoch veranschlagt werden. Der Taumel zwischen Legalität und Delinquenz, in dem ein solcher Mensch lebt, verhindert eine Verfestigung derselben ebenso wie das eigene Selbstverständnis, dem eine derartige Selbstbindung zuwider ist. Dennoch ist das Risiko der Verallgemeinerung der Unrechtsmaxime auf die weitere Lebenspraxis hier größer als bei demjenigen, der in sittlichen Bezügen fest verankert ist. Weil und soweit die Kriminalität die beständige Alternative im gesamten Lebensplan darstellt, erstreckt sich der Geltungsanspruch der Unrechtsmaxime über die Entscheidungssituation hinaus. Die Erhöhung des Handlungsunwertes ist hier darin zu sehen, daß die Haltlosigkeit dazu führt, die Gefahren für das Rechtsbewußtsein des Täters zu vergrößern. Zum anderen liegt der vollständige Widerspruch zur sittlichen Gewohnheit erst dort vor, wo nicht nur ein besonderer Anwendungsfall der eigenen guten

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

Haltung negiert wird, andererseits aber sich die Verneinung der Neigung zur Rechtlichkeit nicht bloß auf die Beseitigung dieser Disposition beschränkt. Der vollständige Widerspruch tritt erst dort auf, wo an dessen Stelle eine Lebensweise gesetzt wird, die in ihrem Wesen auf die beständige Anwendung der einmal gefaßten unrechtlichen Gesinnung drängt. Dann haben wir die Fallgruppe vor uns, in welcher der Handlungsunwert des habituell Bösen verwirklicht ist, s. o. 1. Kapitel C. 11. 2. b) bb) ccc). Hier fußt die eigene Lebensorganisation nicht nur auf dem Ausscheiden aus sittlichen Bezügen, sondern es werden außerdem unsittliche Lebens- und Arbeitsvollzüge geschaffen. Dies mag seinen Ausgangspunkt dort nehmen, wo man sich anderen zur Vollstreckung von deren finsteren Plänen verdingt, und sein Ende finden im Aufbau oder der Unterhaltung einer ständig sich kriminell betätigenden Vereinigung. Bewegendes Prinzip ist stets das Bemühen, über die Flucht vor der habitualisierenden Macht sittlicher Verhältnisse hinaus sich durch beständiges Delinquieren ein festes kriminelles Selbstkonzept anzutrainieren, das die Regeln der Unterwelt vollständig verinnerlicht. Dabei dient die Einübung in verschiedene Verbrechenstechniken nicht nur der Vervollkommnung der eigenen subjektiven Fähigkeiten, Beute zu machen. Vielmehr kommt es auch dadurch zu einer Außenstabilisierung der entstehenden kriminellen Neigung, daß der Täter sich in einen arbeitsteiligen Zusammenhang einbinden läßt, um seine Möglichkeiten zu delinquieren zu erweitern und zu sichern. Gerade wegen dieses sich selbst verstärkenden Prozesses kommt bei Taten, die in diesem Zusammenhang stehen, dem Geltungsschein der Unrechtsmaxime das höchste Gefährdungspotential zu. Hier ist es für die Sicht des Täters nicht mehr nur so, daß sein kriminelles Handlungsprinzip innerlich den Schein der Allgemeingültigkeit für die gesamte individuelle Handlungspragmatik entfaltet. Vielmehr wird dieser Schein noch durch die relativallgemeine Akzeptanz verstärkt, die der Unrechtsmaxime des Täters in seinen Kreisen widerfahrt. Eine Steigerung des Scheins der Allgemeingeit der Unrechtsmaxime ist also nicht mehr möglich. Demgemäß liegt hier die Vollform des Handlungsunwerts vor, welches nur noch danach graduierbar ist, welches "Gewerbe" der Betreffende betreibt (ob er ein Killer ist oder sich mit der Hehlerei begnügt). Zusammenfassend ist zu sagen, daß genauso wie die objektive Seite des Verbrechens in der Gefährdung der objektiven sittlichen Konstitution ihr Maß findet, die subjektive Seite das ihrige in der subjektiven sittlichen Konstitution. Dies bedeutet zum einen, daß ein Handlungsunwert erst bejaht werden kann, wo über den Einzelfall hinaus die betätigte Unrechtsmaxime ihren Geltungsschein auch gegenüber der eigenen Haltung behauptet. Insbesondere Schwächungen der eigenen sittlichen Gewohnheiten erhöhen so das Risiko, daß die einmal angenommene Unrechtsmaxime zum dauernden Lebensprinzip aufsteigt. Wo der Täter im Wissen um die Schwächungen der eigenen subjektiven sittlichen Konstitution delinquiert, dort ist seine Tat mit einem höheren Handlungsunwert behaftet.

II. Die ständisch integrierte Gesellschaft

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c) Korrespondenzverhältnisse Eine Serie von Rechtsgutsverletzungen ein und desselben Täters steigert demnach nicht nur den Erfolgsunwert des Verbrechens. Vielmehr manifestiert sich darin zugleich auch ein gesteigerter Handlungsunwert. Daraus lassen sich folgende Korrespondenzverhältnisse zwischen Erfolgs- und Handlungsunwert einer Straftat ableiten:

Grund/all des Verbrechens in seiner Einheit von subjektiver und objektiver Seite stellt mithin diejenige Verletzung eines einzelnen Rechtsverhältnisses dar, in der - ohne Beispielwirkung für Andere und ohne Schwächung der subjektiven sittlichen Konstitution des Täters - lediglich ein Rechtsgut verletzt wird, das den Schutz der Strafgesetze genießt. Die Strafwürdigkeit im Einzelfall hängt jedoch dann davon ab, ob dieses Rechtsgut von derart hoher Gewichtigkeit ist, daß seine Negation als solche Grundfesten der Interaktion innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft berührt. Ist dies nicht der Fall, müssen andere, unrechtserhöhende Momente hinzutreten. Die Schwere eines Rechtsbruchs kann sich einmal dadurch erhöhen, daß sie sich in eine Reihe von Taten einordnet, die in ihrer Gesamtheit zu einer Schwächung der allgemeinen Geltung der Gesetze im Bewußtsein der Mitbürger beigetragen haben. Dabei kann es sich zum einen um Vergehen handeln, die von einer Vielzahl von Personen begangen worden sind. Hierin liegt mithin der ,,klassische Fall", den man mit generalpräventiven Mitteln zu bekämpfen pflegt. Dasselbe Problem stellt sich aber nach dieser Seite der Schwächung der sittlichen Konstitution in der Objektivität auch dort, wo das einzelne Delikt lediglich eines in einer Serie von Verbrechen ein und desselben Täters darstellt. Hierin war man bisher geneigt, nur ein Problem einer Delinquenz zu sehen, die spezialpräventiv anzugehen sei. Es zeigt sich aber, daß die spezifische Form, die der Erfolgsunwert innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft annimmt, dazu nötigt, nur dort eine spezialpräventiv anzugehende Kriminalität anzunehmen, wo auch eine nennenswerte Gefährdung der sittlichen Stärke der Objektivität zu konstatieren ist. Alles andere liefe auf eine Subjektivierung der Deliktskategorien hinaus, letztlich auf Gesinnungsstrafrecht. Nur wo sich die schwache subjektive Normhaltung des Delinquenten in einer Reihe von Taten objektiviert hat, kann sie daher als unrechtserhöhendes Element berücksichtigt werden. Die erste Abwandlung des Grundfalles ohne erhöhten Handlungsunwert ist also darin zu sehen, den Erfolgsunwert der Tat dadurch zu steigern, daß sich das Vergehen des Täters in eine Reihe von Taten anderer Delinquenten einordnet, ohne daß dies zu einer Schwächung seiner subjektiven sittlichen Haltung führt. Die zweite Abwandlung des Grundfalles liegt darin, daß sich die Tat in eine Serie eigener Verbrechen einordnet, so daß neben der Gefährdung des Rechtsgeltungsbewußtseins in der Allgemeinheit auch die subjektive sittliche Haltung

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

beeinträchtigt oder partiell negiert ist. Erst bei diesen Formen erhöhten Erfolgsunwertes kommen die intensivierten Arten des Handlungsunwertes unrechtserhöhend ins Spiel. III. Die Aufhebung des natürlichen Willens in der Sittlichkeit

Nicht nur der bürgerlichen Gesellschaft schreibt Hegel die Rolle zu, den besonderen Willen zu bilden 1, sondern auch die Familie dient wesentlich dem Zweck, die gemeinsamen Kinder zu erziehen 2. Handelt es sich dort um einen Bildungsprozeß selbstbewußter Wesen, so geht es hier dagegen darum, den natürlichen Willen zu vernünftiger Selbstständigkeit zu führen. Hier stellt sich daher erstmals die Frage, wie in institutionell ausgearbeiteter Form pädagogischer Zwang angewandt werden muß. Um diese Art der Zwangsanwendung von der im vorherigen Kapitel abgehandelten Strafe abschichten zu können, soll im folgenden in einer Skizze sowohl die erzieherische Rolle der Familie vorgestellt als auch deren Problematik aufgezeigt werden, selbst Bedingung im Prozeß der Erzeugung von Gewalttätigkeit zu werden.

1. Die Rolle der familären Erziehung Bei Hegel stellt die Familie für ihre Glieder einen Freiraum sittlicher Intimität bereit, in dem sie sich aus der Anonymität und Kälte der bürgerlichen Gesellschaft zurückziehen können 3. Dabei hat er die moderne Kleinfamilie vor Augen, wie sie sich unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft herausbildet. Dieser Familientyp ist dadurch gekennzeichnet, daß er auf der gegenseitigen Liebe der Ehepartner gründet. Hierdurch grenzen sie sich von den sonstigen verwandtschaftlichen Beziehungen ab. So schrumpft diese soziale Institution zur Gatten- bzw. Kernfamilie zusammen. Begünstigend wirkt hier, daß die Reproduktion der eigenen Subsistenz nicht mehr eine Gesamtleistung eines in sich fast autarken und großen Familienverbandes ist, sondern Aufgabe des Systems der Bedürfnisse 4. Die Beschränkung der familiären Interaktion auf dieses innige Liebesverhältnis der Eltern zueinander, das sich in gemeinschaftlichen Kindern ebenbildlich wird, zeichnet diese intersubjektive Beziehung gegenüber anderen gesellschaftlichen Einrichtungen, namentlich der bürgerlichen Gesellschaft, besonders aus.

Rph. § 187, S. 343 ff. Rph. §§ 174 f., S. 326 ff.; vgl. w. Enzykl. § 390 Zus., S. 81 f. 3 Dazu ausführlich Blasche in: Riedel, 1975, S. 312 ff., 326 u. passim. Vgl. w. Avineri, Hegels Theorie, 1976, S. 168 ff.; Erdmann, Vorlesungen über den Staat, 1851, S.25; M. Köhler, GA 1988, S. 460 ff. m. w. N. 4 Blasche, in: Riedel, 1975, S. 316 ff. 1

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III. Autnebung des natürlichen Willens

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Im familiären Rahmen können die einzelnen Glieder insbesondere ihre eigene ("moralische") Individualität im Prinzip ungehindert zur Geltung bringen, da die Verfolgung des eigenen Wohles in den anderen Gliedern auf eine konstitutionell vorhandene Zuneigung stößt 5. Diese wechselseitige Sorge für das Wohl des anderen prägt grundsätzlich auch das Verhältnis der Eltern zum Kind 6 • Hier bietet die elterliche Liebe dem Kind den Boden, auf dem es seine eigene Individualität entwickeln kann. Denn die Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit gehört ja zu den wesentlichen Interessen der Eltern. Allerdings zeichnet sich diese Beziehung durch eine asymmetrische Verteilung der aktualisierbaren Vernunft aus: Während die Eltern bereits selbstbewußte, sittliche Wesen sind, ist dem Kinde die eigene Subjektivität noch weitgehend verborgen 7. Deshalb geht Hegel auch davon aus, daß das Verhältnis der Eltern zu ihrem Kind keine Beziehung intersubjektiver Gleichheit vorstellt. Zwar kommt ihm mit der Zeugung bereits Personenwürde zu, weil es als Lebendiges schon ein eigenständiges Dasein gegenüber Anderen erworben hat 8 • Ihm fehlt es aber am Anfang noch daran, die eigene Individualität zu erfassen und diese als Ausprägung der Vernunft zu verstehen. Solange es daher noch nicht volljährig ist, bleibt es demnach im abnehmenden Maße Objekt der Liebe seiner Eltern 9 • Ihr Handeln muß allerdings darin bestehen, diesem Objekt zu gleichwertiger Subjektivität zu verhelfen. Erziehung heißt der Prozeß, an dessen Ende dies erreicht ist. In ihm wird u. a. dem Umstand Rechnung getragen, daß der natürliche Wille des Kindes noch nicht diejenige Stetigkeit aufweist, die bei anderen Familiengliedern schon zur natürlichen Disposition geworden ist 10. Der Bildungsprozeß weist zwei Phasen auf, die sich gegenseitig überlappen 11: Zunächst erhält das noch ganz passive Kleinkind durch die Empfindung des Geliebtseins einen ersten, unmittelbaren Eindruck von einem gelungenen sittlichen Verhältnis. Diese gefühlsintensive, positive Urerfahrung einer von gegenseitiger Zuneigung getragenen personalen Einheit mit einem anderen Menschen ist von großer Wichtigkeit für die spätere moralische Entwicklung des Kindes 12: 5 Rph. §§ 163, 167, s. 313 ff., 320 f. Ebenso Blasche, in: Riedei, 1975, S. 326 und passim. 6 Rph. §§ 173, 175, S. 325 f., 327 ff. Blasche, in: Riedei, 1975, S. 324 f. 7 Vgl. die Abfolge der Lebensalter in Enzykl. § 396, S. 75, die merkwürdigerweise nur am männlichen Geschlecht orientiert ist. Vgl. Easton, in: Lamb, 1987, S. 30 ff. 8 Das folgt aus Rph. § 175 i. V. m. § 48, S. 327 ff., S. 111 f. 9 Instruktiv dazu Weber, Theorie der Familie, 1986, S. 95. 10 So Rph. § 93 Anm., S. 179 f. 11 Rph. § 175, S. 327 f., Enzykl. § 396 Zus., S. 81 f. Zur Hegeischen Bildungstheorie auch Pöggeler, in: HS 15, 1980, S. 241 ff. 12 In diese Richtung gehen auch die Untersuchungen der empirischen Psychologie und ihrer Nachbarwissenschaften; Überblick bei Rauchfleisch, Dissozial, 1981, S. 193 ff. und Toman, in: Lösei, 1983, S. 41 ff. jeweils m. w. N.

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

"Das Gewissen ist ein Abkömmling der Liebe." 13 Allerdings verhält sich das Kind nur rezeptiv. Sein Wohl, das von anderen besorgt wird, ist noch nicht durch eigene Subjektivität befördert. Der zweite Abschnitt der Erziehung besteht dagegen darin, im Kinde das Gefühl der Eigenständigkeit zu einem vernünftigen Selbstverständnis zu entwikkein. In dieser Phase der Bildung geht es namentlich darum, im Kinde die Idee der Freiheit zur Geltung zu bringen 14. Sie knüpft dabei nach Hegel an ein eigenes Bedürfnis des Kindes an, groß werden zu wollen 15. Zwei Erfahrungen aus diesem Wachstumsprozesses stehen dabei im Vordergrund: Zum einen lernt es den Besitz anderer zu achten, um eigenen haben zu können, wie es die Bekanntschaft mit der Regel macht, nach der die Gewährung fremder Leistungen von eigenen abhängt 16. Zum anderen beginnt es, auf die eigene Geschlechtlichkeit zu reflektieren. In allem erfährt das Kind, daß die Behauptung der eigenen Selbständigkeit konfliktträchtig ist, was das Handeln nach einvernehmlichen Regeln erfordert. Allerdings fehlt es ihm häufig an der Kraft, aus sich heraus solche Regeln aufzustellen und zu befolgen. Dies macht die Anwendung pädagogischen Zwanges notwendig, dessen Mittel zum einen in der Sicherung des bestehenden Daseins der Freiheit vor der Wildheit des natürlichen Willens sowie die Internalisierung sittlicher Grundsätze in das Selbstverständnis des Kindes 17. Diese Zwangbefugnis der Eltern wird wie oben dargelegt begründet: Der unbotmäßige natürliche Wille steht innerlich und äußerlich mit seinem Begriffe (der Freiheit) im Widerspruch, wenn er auch diesen Gegensatz nicht selbstbegründet hat, 1. Kapitel C. H. 2. a) bb) und 3. Man würde eine bestehende Freiheitsrealisation seinem Belieben aussetzen, wo man verbietet, diese vor ihm in Schutz zu nehmen. Gleichzeitig liefe das Gewährenlassen auf eine erste Verwirklichung dieses an sich nichtigen Willens hinaus, wodurch im Kinde das Gefühl entstehen kann, seine Gewalttätigkeit sei ein berechtigtes Tun. Die sichernde Aufsicht über das Kind gehört so zu jeder Erziehung mehr oder minder dazu. Nicht nur die Beschränkung der Fortbewegungsmöglichkeit bzw. des Zuganges zu bestimmten Gegenständen dient ihr, sondern auch die dosierte Erlaubnis des Ausganges bei Jugendlichen geht u. a. auf den Zweck unmittelbarer Kontrolle ihrer Lebensweise zurück. Allerdings weist auch diese Methode noch ein Defizit auf, weil sie letztlich darauf hinausläuft, nur auf Gefahren zu reagieren, die aus der noch fortbestehenden Unselbständigkeit erwachsen. Die Erziehung

Zulliger nach Rauchfleisch in der vorherigen Fußnote. Vgl. Rph. § 93 Anm., S. 179 f. 15 Enzykl. § 396 Zus., S. 80 f. Dazu Derbolav, in: Pleines II, 1986, S. 280 ff. Anschaulich die Ergebnisse empirischer Forschung hierzu bei Rauchfleisch, Dissozial, 1981, S. 193 ff. m. w. N. und R. Spitz, Psyche, 14, 1960/61, S. 400 ff. 16 Dazu gut Toman, in: Lösei, 1983, S. 44 ff. 17 Rph. § 93, S. 179 f. 13

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zur selbstbewußten Persönlichkeit erfordert aber mehr: Es muß im Kind selbst die Fähigkeit zur moralisch-sittlichen Selbststeuerung geweckt werden. In dem Interesse des Kindes, es den Erwachsenen gleichzutun, liegt ja nicht nur die Möglichkeit des Gehorsams. Vielmehr geht sein Nachahmungsdrang substantiell darauf, dieselbe Eigenständigkeit als Person zu erwerben, wie sie den Eltern zukommt. Darin liegt in einem ersten Schritt aber die Geltendmachung seiner Unabhängigkeit vom elterlichen Regime. Um sich selbst als Individuum zu erfahren, muß es einen Widerspruch zum geforderten Gehorsam artikulieren. Zwar kommt hier schon zum Ausdruck, daß sich das Kind zu einer selbstbewußten Persönlichkeit entwickeln will. Dennoch trifft das noch unerfahrene Kind hier nur zufällig aus sich heraus das sittlich Gesollte. Viel eher ist es möglich, daß es der Natürlichkeit seines unmittelbaren Willens verfällt. Dann aber verharrt es in der bloßen Negation des elterlichen Willens, ohne daß darin die eigene Vernunftteilhabe anwesend ist. Wegen dieses Mangels lebt es noch im Gegensatz zur sittlichen Welt. Die Aufgabe der Erziehung besteht jetzt nicht mehr nur darin, die drohende Widerspenstigkeit zu unterbinden. Stattdessen bedarf es jetzt einer Maßnahme, die dem Kind zudem sittliche Normen als Orientierungsmuster vor Augen führt und von ihm Gehorsam in der Befolgung derselben verlangt. Wichtiges Mittel in diesem Prozeß ist für Hegel die Abschreckung des unmittelbaren Willens von dieser seiner Natürlichkeit. Man darf damit nicht grausame Bestrafungen assoziieren. Überhaupt geht es bei pädagogischen Sanktionen darum, im Kind das moralische Selbstbewußtsein erst aufzubauen und zu stärken 18. Hegel spricht hier eine Verhaltensweise an, die das Kind veranlaßt vor der wildwüchsigen Natürlichkeit seiner geäußerten Begierde zurückzuschrecken. Durch Mißachtung oder deutliche Kritik an dem von ihm gewählten selbstsüchtigen Ziel soll ihm vermittelt werden, daß ein solcher Zweck keine Anerkennung in der Subjektivität Anderer findet. Nur so kann ja verdeutlicht werden, wodurch sich spezifisch moralisches Handeln auszeichnet, s. o. 1. Kapitel C. I. Indem man in dieser Weise einen solchen partikulären Zweck an seiner Objektivierung hindert bzw. dieselbe konterkariert, demonstriert man dem Kinde äußerlich, daß ein solches Ziel keine Beachtung im allgemeinen Willen findet. So reicht häufig schon ein bestimmt dosierter Liebesentzug aus, um das Kind zur Vernunft zu rufen 19. Es zeigt sich hier eine Parallele zur Konstitution des Selbstbewußtseins 20 : Genau wie dort der Knecht durch seine Arbeit der Begierde entsagen muß, sich dann aber in seinem Gegenstand wiederfindet, genauso soll der Gehorsam im Kinde die eigensüchtige Strebung brechen, indem ihr die Vergegenständlichung Rph. § 174, S. 326. Darauf hebt König, in: Art. Familie und Familiensoziologie, in: Bemsdorf, Wb. d. Soz., 1969, S. 258, ab. 20 Auf diese Ähnlichkeit weist Ricoeur, Interpretation, 1969, S. 473 ff.,480 ff., 484 ff., 489 ff., hin. Genauso ders.: Hermeneutik und Psychoanalyse, 1974, S. 322 ff. 18 19

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im Bewußtsein Anderer versagt wird. Halten die Eltern diesen Erziehungsstil konsequent durch, so verleihen sie nur denjenigen Willensregungen des Kindes Objektivität, die (ihrem) allgemeinen Willen angemessen ist, so daß das Kind in dieser Willensrealität die eigene Vernunftteilhabe rein erscheint. Die wachsende Selbstbeherrschung des Kindes, die sich im Gehorsam äußert, führt zur Belohnung mit steigender Zuneigung, in der das Kind nicht mehr nur das ihm entgegengebrachte Urvertrauen erblickt, sondern seine eigene Leistung. Nur diejenigen pädagogischen Maßnahmen, die dieses Ziel vor Augen haben, können aus dem Elternrecht auf die Sorge für ihre Kinder legitimiert werden. Nur wo es den Eltern gelingt, ihr Kind mit einem sittlichen Selbstbewußtsein auszustatten, objektivieren sie sich wirklich 21. Neben der Endlichkeit und Willkürlichkeit jedes elterlichen Erziehungsbemühens findet sich bei Hegel auch ein versteckter Hinweis auf ein strukturelles Problem des pädagogischen Umganges mit dem Kinde: Die erzieherische Zwangsausübung reagiert zwar ihrem Wesen nach auf die Gewalttätigkeit der Naturbefangenheit, sie erscheint aber dem Kinde als erster Zwang, sprich, als eine nicht legitimierte Freiheitseinbuße. Soweit dasselbe noch nicht fähig ist, die Phänomene richtig zu deuten, wird es sich - um seiner Selbständigkeit willen - einer solchen Behandlung widersetzen. Daraus entspringt die Gefahr, daß es in fortschreitendem Maße für die elterlichen Ermahnungen unzugänglich wird. Was einzig geeignet ist, diesen Prozeß zu stoppen, scheint allein die nackte Übermacht der Eltern zp sein 22 , die eine solche Entwicklung durch immer strengere Verbote oder gar einschneidendere Sicherungsmaßnahmen unterbinden kann. So wird das Kind letztlich vor die Wahl gestellt, entweder gehorsam zu sein oder aber an der eigenständigen Verfolgung seines Wohles immer weitergehende Abstriche zu machen. Dennoch mißt Hegel diesem, den Prozeß der Bockigkeit abschließenden Machtspruch nicht nur eine repressive Funktion zu. Vielmehr geht ein diffiziler Gedankengang in eine andere Richtung: Jede Sanktion kommt deshalb nicht bloß äußerlich an das Kind, weil sie Ausdruck gerade der (elterlichen) Selbständigkeit ist, die für das Kind das geliebte Ideal darstellt. Das Erlebnis der Macht der elterlichen Vernunft versinnbildlicht dem Kinde, daß die Anerkennung der eigenen Selbständigkeit von dem Grade des selbstauJerlegten Gehorsams abhängt. Selbst die härteste Maßnahme ermöglicht so noch die Internalisierung des sittlichen Gebotes, das die eigene Anerkennung mit der Anerkennung Anderer verknüpft. 21 So Rechts-, PfIichten- und Religionslehre, § 21, S. 227. Dazu gut Schaaf, in: Pleines 11, 1986, S. 298 ff., der ebenfalls das Schwergewicht darauf legt, Erziehung als Frei Entlassen zu verstehen. 22 Rph. § 174 Randbem., S. 326 f., Enzykl. § 396 Zus., S. 81 f. Derbolav in: Pleines H, 1986, S. 280 ff.1n diese Richtung auch R. Spitz, in: Psyche 14, 1960/1961, S. 400 ff.

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All diese Verhaltensweisen der Eltern sind durch den Zweck ihres Erziehungsrechtes beschränkt, der von ihnen fordert, ihre Kinder zu mündigen Personen heranzuziehen. So darf ihre Autorität nicht dazu entarten, die Kinder in ihrem Bestreben zu entmutigen, sich selbständig zu machen. Gerade hierin liegt aber eine institutionelle Schwäche jedes Eltern/Kind-Verhältnisses.

2. Pädagogische Fehlentwicklungen Zu Anfang ist darauf hingewiesen worden, daß das Kind noch Objekt der Liebe der Eltern ist. Ihre Tätigkeit wurde so beschrieben, daß sie sich dadurch in ihrem Nachfahren vergegenständlichen, indem sie ihn zu einem selbständigen Wesen erziehen. Damit tritt es ihnen aber als vollkommen freies Subjekt gegenüber und ist nicht mehr in gleichem Sinne Objekt der Handlungen seiner Eltern. Zwar lebt die gemeinsame Liebe weiter; sie trifft jetzt allerdings auf einen anderen Boden. Genauso wesentlich ist dem Kinde nun die Wahrung seiner Unabhängigkeit, wodurch es kein tauglicher Gegenstand von elterlichen Erziehungsbemühungen mehr ist. Die ihm entgegengebrachte Liebe beschränkt sich jetzt auf die Achtung seiner Ebenbildlichkeit. Die pädagogischen Anstrengungen der Eltern transzendieren also das konkrete Familienverhältnis dadurch, daß sie in ihrer Vollendung eine konkrete Person ausbilden, die nicht mehr Objekt der Liebe der Eltern sein will 23 ! Für die Eltern ist damit nicht nur die Erfüllung ihrer Erwartungen verbunden; mit der Volljährigkeit des Kindes schwindet auch der gemeinschaftliche Gegenstand des ehelichen Liebesverhältnisses selbst. Dieses fallt wieder in die einzelnen Subjekte zurück und geht damit seinem Ende entgegen 24 • "Das Heranwachsen der Kinder bedeutet den Tod der Eltern", drückt es Ricoeur drastisch aus 25 • Hieraus können sich vielfältige Probleme in der Eltern/Kind-Beziehung ergeben, die unter dem Stichwort Übererziehung zusammengefaßt worden sind und in der psychologischen, pädagogischen und soziologischen Literatur eine herausragende Rolle einnehmen 26. Diese kann hier nicht annähernd ausgewertet werden: Es soll im folgenden nur in einer Richtung auf den Grund und die Folgen von dieser Deformation des Eltern/Kind-Verhältnisses und die Bildung des natürlichen Willens eingegangen werden: Verdeutlicht werden soll, daß auch im Rahmen der Hegeischen Sozialphilosophie die Erkenntnisse der Psychoanalyse ihren Platz erhalten können 27. Neben der Übererziehung soll auch die Frage der Vernachlässigung bzw. der pädagogischen Überforderung angesprochen werden. 23 Zu dieser Paradoxie eingehend Enskat, Theorie des praktischen Bewußtseins, 1986, S. 80 ff. 24 Vgl. Rph. § 177 f., S. 330 f. u. Enzykl. § 522, S. 320 f. 25 In: Hermeneutik und Psychoanalyse, 1974, S. 324. 26 Glänzender Überblick bei König, in: König, Hdb. d. emp. Soz. Bd. 7,1976, S. 150 ff. 27 Neben den Arbeiten von Ricoeur kann namentlich noch Haerlin, Recht und Anerkennung, 1976, empfohlen werden.

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a) Übererziehung Das Problem, was sich in der ganzen Breite des Erziehungsprozesses für die Eltern stellt, liegt darin, daß die erfolgreiche pädagogische Tätigkeit den Eltern ihr ganz spezifisches Betätigungsfeld raubt. Die Eltern machen sich als Eltern überflüssig, verläuft die Erziehung ihrem Zwecke angemessen! Diese immanente Dialektik der ureigensten Ausübung der elterlichen Gewalt kann dazu führen, daß sie (oder ein Elternteil) beginnen, das Kind in seiner untergeordneten Rolle festzuhalten, um das asymmetrische Verhältnis zu ihm zu perpetuieren 28. In der ersten Erziehungsphase werden kaum Probleme auftauchen, geht es in ihr doch hauptsächlich um die allein von den Eltern bewerkstelligte Sorge für das Kind und um die Vermittlung der gefühlsmäßigen Erfahrung, von Anderen geliebt zu werden. Allerdings können bestimmte in dieser Phase eingelebte Verhaltensweisen für die spätere Eltern/Kind-Beziehung zur belastenden Hypothek werden: Häufig ist nämlich schon hier ein aus übermäßigem Verantwortungsdrang um das Kind ebenso wie aus narzißtischem Interesse heraus gespeistes Suchen nach Nähe zum Kind zu beobachten 29 • Wo sich solche Umgangsformen eingespielt haben, mögen sie die natürliche Unselbständigkeit der Heranwachsenden künstlich verlängern, den Trieb zur Nachahmung der Unabhängigkeit können sie nicht am Entstehen hindern. Allerdings erschweren solche Gewohnheiten den notwendigen Wandel im Erziehungsstil. So wird jedes Elternteil versuchen, das Kind in der ursprünglichen emotionalen Einheit festzuhalten, wodurch es aber in der Rolle des passiven Empfängers fremden Wohlwollens fixiert wird. Alle Äußerungen seines heranreifenden Willens, denen der Hang zur Selbständigkeit innewohnt, sind aus dieser Erziehungsperspektive verdächtig, weil sie sich eben (auch) gegen diese unmittelbare Identität gegenseitiger Empfindung richten muß. Schon durch sie wird, zunächst nur partiell und in langsamen Fortschritt, die Objektrolle, die das Kind für die so disponierten Eltern spielen soll, unterminiert. Je nach dem Grade ihrer Betroffenheit werden sie sich mit unterschiedlicher Konsequenz dagegen zur Wehr setzen. Sie werden den Anspruch, den das Kind kundtut, eigenen Besitz, z.B. ein Zimmer für sich zu haben, durch Vorenthaltung der betreffenden Gegenstände oder ständige Kontrolle vereiteln wollen. Gleiches gilt für den Wunsch des Kindes, durch eigene Leistungen nach seinem Willen Gegenleistungen anderer zu erlangen. In all dem treffen sie erste Zeichen der Selbständigkeit des Menschen 30. Sie verhindern, daß sich ihr Kind in solchen Willensäußerungen 28 In der Kriminologie hat auf dieses Phänomen zuerst wohl Aichhom, Verwahrloste Jugend, 1951, S.46, 50 f. und Alexander / Healy, Roots of Crime, 1969, S. 163 ff., 204 ff., 273 ff., 292 ff., aufmerksam gemacht. Weitere Nachw. bei Lösei, in: Art. Kriminalitätstheorien, psychologische, in: Kaiser et. al., KKW, 1985, S. 221 f. 29 König, in: König, Hdb. d. emp. Soz. Bd. 7, 1976, S. 152 f. 30 Vgl. die Aufzählungen in Rph. §§ 124 Anm., 185 Anm., S.233, 342 bezüglich derjenigen Gestalten, die das Prinzip der Besonderheit für Hegel annimmt.

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seine keimende Selbständigkeit erfahrbar macht. Damit ist aber bereits der erste Schritt getan, das Kind in der anfanglichen Abhängigkeit zu den Eltern zu halten. Noch schärfer wirken die Einflüsse, die eine derart restriktive Erziehung auf die beginnende moralische Selbstreflexion des Kindes hat 3l : Die Macht, die den Eltern bei der Internalisierung von Geboten zukommt, wird hier dahingehend mißbraucht werden, alle selbständigen Regungen des Kindes vor seinem eigenen naiven Gewissen zu verdammen. Dadurch wird es auch in seinen eigenen Augen an die Sorge für sein Wohl allein durch seine Eltern ausgeliefert. Für es selbst stellt nun seine natürliche Neigung, durch die eigenen Handlungen Befriedigung zu finden 32, eine verbotene Verhaltensweise dar. Sein eigenes moralisches Selbstverständnis geht nun dahin, in der Objektrolle zu verharren. Es ist dadurch aber mit einem Selbstwiderspruch konfrontiert: Einerseits spürt es den immer drängenderen Wunsch, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, zum anderen definiert es ein solches Streben nach Unabhängigkeit, auch wo es sich im Rahmen der sozial üblichen Freiheit bewegt, als eine ihm untersagte Tätigkeit. Wo es einem solchen Drange nachgibt, sind es nicht nur die erzieherischen Sanktionen, die es fürchtet. Vielmehr spricht es sich jetzt vor sich selbst "schuldig". Eine solche Disposition macht dann Selbstbestrafungstendenzen und Geständniszwänge wahrscheinlich 33 • Alles in allem begünstigt ein solcher Erziehungsstil die Entstehung eines neurotischen Charakters 34. Dieser Zusammenhang tritt noch deutlicher hervor, wo man die Dimension der sexuellen Selbsterfahrung des Kindes mit hinzu nimmt 35 • Wo die Liebe der Mutter vom Kinde auch in dieser Sphäre (in mehr oder minder symbolischen Akten) beantwortet wird, dort kreuzt sich das institutionelle Problem der Elternrolle, sich selbst als Erziehungsinstanz überflüssig zu machen, mit einem konstitutionellen Konflikt im Kinde selbst 36: Der Nachahmungsdrang äußert sich, was den Sohn betrifft 3?, nun darin, daß der Vater in seiner Rolle als Liebespartner zum Beispiel genommen wird. Das bedeutet aber zugleich, daß dessen personale Einheit mit seiner Frau vom Sohne in Frage gestellt werden muß, wodurch für den Ehemann nicht nur die Objektrolle des Kindes aufgehoben wird, sondern auch seine Vergegenständlichung im Willen seiner Frau. Der Ödipus-Komplex 3l Nachw. bei Lösei, in: Art. Kriminalitätstheorien, psychologische, in: Kaiser et. al., KKW, 1985, S. 221 f. 32 Nach Rph. § 121, S. 229 ein wesentliches Moment im moralischen Selbstverständnis. 33 So Reik, Geständniszwang, 1925, in: Moser, 1974, S. 48 ff., 48 ff. In der heutigen Diskussion tritt dies zuriick, so Lösel in: Art. Kriminalitätstheorien, psychologische, in: Kaiser et al., KKW, 1985, S. 221. 34 Vgl. Alexander / Staub, Der Verbrecher und sein Richter, 1929; in: Moser, 1974, S.268. 35 Dazu und zum folgenden Toman, in: Lösei, 1983, S. 46 ff. 36 Vgl. Ricoeur, Henneneutik und Psychoanalyse, 1974, S. 322 ff. 3? Wie die Vaterfigur auf die Tochter wirkt, ist leider noch wenig erforscht, vgl. a. Freud Stud. A. Bd. V., S. 253 ff.

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erwächst also aus einem noch tiefergehenden Konflikt zwischen dem Vater und dem Sohne, bei dem auf der Seite des ersteren seine ganze Existenz als Familienglied aufgehoben ist, während bei letzterem die erste unreflektierte Äußerung der eigenen sexuellen Selbstbestimmung vorliegt. Die Augenfälligkeit dieses Phänomens mag einen Gutteil dazu beigetragen haben, daß sich die Psychoanalyse zunächst fast ausschließlich mit ihm beschäftigte 38 • Diese Konstellation findet seine Entschärfung in intakten Familienverhältnissen dadurch, daß dem Kinde behutsam bei der Überwindung seiner ersten ungelenkten Begierde nach der Zuwendung vom anderen Geschlecht geholfen wird. Ricoeur sieht in der Meisterung dieser Begierde eine große kulturelle Leistung des Kindes, die er genauer darin erblickt, daß er seine Eltern als Liebespaar anerkennt, indem es lernt, auf diesen Liebestrieb Verzicht zu leisten 39. Wie empirische Forschungen ergeben haben 4O , findet dieser Lernprozeß seine Unterstützung durch eine annähernd gleichmäßige Verteilung der Erziehungsverantwortung auf Mann und Frau, wodurch einerseits die Fixierung des Sohnes auf die Mutter unterbrochen wird und andererseits ein etwaiges unterschwellig vorhandenes Mißtrauen der Ehepartner untereinander abgebaut werden kann. Entlastend wirken auch Geschwister des anderen Geschlechts. Allerdings ist die Tiefendimension des Vater / Sohn-Verhältnisses auch besonders anfällig dafür, das Kind in seiner Objektrolle zu fixieren. Die Möglichkeit, daß gerade hier sich Formen der Übererziehung einschleichen, ist umso größer. Pädagogisches Fehlverhalten trifft hier zudem beim Kinde auf einen sensiblen Bereich des eigenen Selbstverständnisses. Wo der Vater die Abwendung des Kindes zu ihm übermäßig ahndet, dort rührt er an einem besonders verletzlichen Teil der kindlichen Seele. Außerdem erfolgt hier - anders als bei der Vorenthaltung eigenen Besitzes - keine Kompensation durch verstärkte Zuwendung eines Elternteils. Mithin ist er in einer solchen Situation für das Kind noch dringender, sich das Wohlverhalten seines Vaters durch Zugeständnisse und Verzichte zu erkaufen. Diese konstitutionelle Schwäche des Heranwachsenden kann daher in besonderem Maße dazu ausgenutzt werden, restriktive Verhaltensnormen im Kinde zu verinnerlichen 41 • Dann aber tritt auch hier der (geistige) Mechanismus in Kraft, der alles Streben nach Selbständigkeit auf diesem Gebiete mit dem Makel des Verbotenem belastet und aus dem ein neurotischer Charakter entspringen kann. 38 Vgl. Freud Stud. A. Bd. V., S. 129 Anm. 2, 175,276.- Einen Hinweis darauf, daß auch Hegel den Konflikt geahnt hat, bietet Rph. § 173 Zus., S. 326. 39 Nach Ricoeur, Hermeneutik und Psychoanalyse, 1974, S. 329 f. 40 Überblick bei Toman, in: Lösei, 1983, S. 46 ff. 41 Als Gefühlsphänomen hat Freud es mit dem Begriff der Kastrationsangst umschrieben, Stud. A., Bd. V, S.66, Anm. 4, 177, 250 f., 258 ff. M. E. geht die kindliche Ergriffenheit und der Umfang des Verzichtes noch weiter: Es muß ein wesentliches und affektiv starkes Element des Wunsches au/personale Einheit mit einem anderen Subjekt (eigentlich ein sittliches Motiv) aufgegeben werden. Vgl. Ricoeur, Hermeneutik und Psychoanalyse, 1974, S. 329 f.

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Es ist dabei aber festzuhalten, daß der Erwerb einer solchen Disposition nicht wesentlich eine pathologische Erscheinung darstellt 42 , also keine Krankheit der (ersten) Natur. Stattdessen verdankt sich ein solches Persönlichkeitsbild einer fehlgeleiteten moralischen Reflexion, deren Ursache allerdings nicht im Betroffenen selbst zu suchen sind, sondern im Verhalten übermächtiger Eltern. Insbesondere Haerlin hat in seiner Arbeit versucht herauszuarbeiten, daß neurotische Verhaltensweisen in moralischen Diskursen des Handelnden gründen. Deren Defizienz besteht darin, bestimmte Verhaltensalternativen mit einem Argumentationsverbot zu belegen, dessen Entstehung auf fehlgeleitete Erziehungsstile oder andere frühkindliche Erlebnisse zurückgeführt werden können 43. Es sind also wesentlich geistige Akte, die im Willen einer Person diesen unlöslichen Gegensatz produzieren. Demgemäß versteht Hegel die Geisteskrankheit auch als einen Widerspruch des natürlichen Geistes mit sich selbst 44 • Alle diese Formen der Übererziehung erzwingen im Kinde einen Triebverzicht, der über das gewöhnliche Maß hinausgeht, was von Heranwachsenden erwartet wird. Dabei kommt wesentlich hinzu, daß mit der Einschränkung der Begierde von ihm außerdem auch noch verlangt wird, seinen Anspruch auf Selbständigkeit aufzugeben. Durch Internalisierung dieser elterlichen Erwartungshaltung wird der Drang nach Eigenständigkeit auch für das Kind selbst zu einer verbotenen Verhaltensweise. In ihm wächst nun auch die Einstellung, daß es derartige Ansprüche in sich zu bekämpfen habe. Auf der anderen Seite wird ihm spätestens die Bekanntschaft mit Gleichaltrigen vor Augen führen, daß ein Leben in Abhängigkeit von anderen Menschen dem Selbstverständnis seiner Mitmenschen widerspricht. Die Mißachtung des Prinzips der Besonderheit wächst sich so zu einem innerlich wirkenden Zwang gegen diese Hälfte der eigenen Persönlichkeit aus. Genau wie der Verbrecher im abstrakten Recht steht der so Sozialisierte vor dem Problem, wie er seinen besonderen Willen für sich darstellbar machen kann (s. o. 1. Kapitel B. I. 5.). Dabei sind prinzipiell zwei Wege denkbar 45 : Zum einen kann das Kind sich in seine, den Eltern verborgene Innerlichkeit zurückziehen und in einem Phantasieleben das selbständige Ich zur Existenz bringen. Dabei dienen natürlich bestimmte äußere Dinge zur Unterstützung der eigenen Traumwelt. Ihnen kommen dann aber Bedeutungen zu, die auf den ersten Blick für einen Außenstehenden unverständlich sind. Einen solchen Lebensstil nennt man autoplastisches Verhalten, und er zeichnet den eigentlichen neurotischen Charakter aus. 42 Eine sich aus organischen Defekten speisende geistige Schwäche des Kindes mag hier mit eine Rolle spielen, - Urgrund der Neurose ist sie nicht. Dazu umfassend Rauchfleisch Dissozial, 1981, S. 44ff m. umfass. N. 43 Rauchfleisch, Dissozial, 1981, S. 57 ff., insbes. S. 57 f., 61 ff., 69 ff. S. 82 ff. 44 Enzykl. § 408 Anm., S. 163. 45 Zu der folgenden Einteilung grundlegend Alexander / Staub, Der Verbrecher und sein Richter, 1929, in: Moser, 1974, S.258, 265. Die modeme Diskussion referiert Rauchfleisch, Dissozial, 1981, S. 164 ff. m. zahlr. N. u. Bsp.

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Zum anderen kann sich der Konflikt auch in Handlungen wiederspiegeln, in denen der Betroffene seinen internen Widerstreit inszeniert. Dies macht häufig die Fallgruppe neurotischer Delinquenz aus, nämlich dort, wo sich die Gewalt dieses Willens gegen andere richtet. Ein solches Symptom wird gewöhnlich als alloplastisches Handeln bezeichnet. Neben den sich im unmittelbaren Ausbruch befriedigenden Neigungen enthält ein solcher Akt aber zugleich eine symbolische Mitteilung der inneren Zwangslage: Häufig geht es bei der hier angesprochenen Delinquenz nicht bloß um die Beseitigung eines übermächtig gewordenen Triebstaues. Denn viele Delinquenten haben häufig gerade Bezugspersonen, die den angesprochenen Bedürfnissen durch eigene Zuwendung abhelfen könnten 46. Leider manifestiert sich aber in der Annahme solcher Leistungen häufig die bekannte Abhängigkeit von Anderen, die, von den Eltern erworben, meist auch auf andere übertragen wird. So stellt sich die Tat stattdessen als eine Möglichkeit dar, Selbständigkeit in der Verfolgung des eigenen Wohles zu demonstrieren. Sie verweisen mit dem, was sie zu erreichen suchen oder was sie anderen zu entziehen beabsichtigen, zurück auf eine in der Kindheit erfahrene (traumatische) Situation. In ihr wurde dem Täter in besonders intensiver und nachhaltiger Weise die Entwicklung der eigenen Unabhängigkeit versagt: So können bestimmte Schädigungen fremden Vermögens häufig auf die Verneinung eigenen Besitzes und der Chance zurückgeführt werden, fremde Leistungen nach eigenem Gutdünken einzutauschen 47 • Aggressionen gegen das andere Geschlecht, insbesondere Vergewaltigungen, können dagegen auf die mangelnde Bewältigung ödipaler Konflikte zurückgehen 48. In der vaterzentrierten Form der Übererziehung deutet sich eine für die heutige Zeit (noch) sehr typische Art der familiären Überorganisation an 49 • Damit ist nicht so sehr das Phänomen gemeint, daß ein überlebter Patriachalismus sich in der Erziehung zum Schlechten auswirkt. Stattdessen geht es hauptsächlich um das Problem, daß die in der bürgerlichen Gesellschaft noch vorherrschende familiäre Arbeitsteilung den Mann zumeist mit der Aufgabe betraut, den Lebensunterhalt zu verdienen. Für seine Rolle innerhalb der Familie führt dies dazu, daß er die Kinder bei seiner Frau in einer "vaterlosen Gesellschaft" zurückläßt 50 • Dies hat eine zweifache Auswirkung auf die pädagogischen Bemühungen der Familie. Auf der einen Seite wird die Mutter zur dominierenden Bezugsperson für die Kinder, was eine frühkindliche Fixierung begünstigt und verstärkt. Zum 46 Eingehend Zulliger, Symbolische Diebstähle, 1960, S. 6 ff. Deutlich auch in den Bspen. bei Rauchfleisch, Dissozial, 1981, S. 152 ff. m. w. N. 47 Dazu gut Toman, in: Lösei, 1983, S. 45 f. 48 Toman, in: Lösei, 1983, S. 47 f. 49 Vgl. die Einteilung von König, in: König, Hdb. d. emp. Soz. Bd. 7, 1976, S. 151 f. 50 So die Wortprägung A. Mitscherlichs, Weg zur vaterlosen Gesellschaft, 1968, S. 341 ff. - Auch Hegel hatte diesen Typ von Familie vor Augen vgl. Rph. § 171, S.324, § 166, S. 318 ff. Das weist sein Verständnis von ihr in gewissem Umfang als historisch aus, vgl. Blasche in: Riedel, 1975, S. 322.

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anderen gerät dadurch der Vater noch eher in den oben beschriebenen, konstitutionellen Konflikt mit seinen Söhnen. Eine Verhärtung in ihrem Verhältnis zu ihm wird sich daher unter diesen Umständen um so eher einstellen. In einem Rückschlag bedeutet dies wiederum, daß sich die Kinder in noch größerem Umfang zu ihrer Mutter ausrichten 51. Die eine Form väterlicher Übererziehung begünstigt so zugleich eine andere Form mütterlicher Dominanz als Fluchtreaktion. Beidesmale gerät das betroffene Kind aber in eine Abhängigkeitsposition. Steht hier noch die Auswirkung der Abwesenheit des Vaters vom Erziehungsprozeß in Gestalt von Überorganisation im Vordergrund, so verbirgt sich dahinter schon ein zweites Phänomen familiärer Desorganisation: das Vorliegen einer unvollständigen, desolaten Familie bzw. das gänzliche Fehlen einer derartigen Primärgruppe. Die Folgen, die sich spezifisch aus diesen Arten der Fehlerziehung ergeben können, werden im folgenden Abschnitt erörtert.

b) Vernachlässigung Kindliche Verwahrlosungserscheinungen müssen nicht auf dem völligen Fehlen eines familiären Verbandes beruhen. Wesentliches Merkmal einer desorganisierten Primärgruppe ist eine in spezifischer Weise gestörte Kommunikation der einzelnen Familienglieder untereinander 52. Dabei zielt die jetzt zu besprechende Desorganisation anders als die Übererziehung schon auf die erste Phase der kindlichen Entwicklung. Schon die Herstellung der ursprünglichen emotiomalen Einheit von Eltern und Kind scheitert hier, was sich dann auch auf die späteren Phasen der Erziehung auswirkt 53. Das bedeutet, daß das Kind nicht nur in seinen materiellen Interessen vernachlässigt wird, sondern auch und gerade in seinem Verlangen nach liebender personaler Einheit mit einer festen Bezugsperson. Durchgehendes Problem der Betroffenen stellt mithin der Wegfall oder die Störung eines Handlungsfeldes dar, welches von gegenseitigem, affektiv aufgeladenem Wohlwollen gekennzeichnet ist. Hatte das Kind in einer überorganisierten und erst recht in einer "normalen" Familie die Chance, in seinem Gegenüber die eigene heranwachsende Subjektivität zu vergegenständlichen, so rallt diese Möglichkeit innerhalb einer desorganisierten Familie mehr oder minder weg. Es kommt hinzu, daß dieser Verlust häufig noch durch materielle Einbußen verstärkt wird. Der frühe Verlust der Mutter kann meist durch andere Personen nicht aufgewogen werden. Zu den Gründen dieses Verlustes zählt nicht nur ihr Tod, die Trennung der Eltern oder eine Insuffizienz in ihrer Person, sondern auch die Notwendigkeit, den Lebensunterhalt alleine verdienen zu müssen, kann hierher 51 52 53

König, in: König, Hdb. d. emp. Soz. Bd. 7, 1976, S. 157 f., S. 136 f. Dazu zusammenfassend Rauchfleisch, Dissozial, 1981, S. 64 ff. s. Toman, in: Lösei, 1983, S. 41 ff.

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gehören 54. Nicht nur der Heimaufenthalt bedeutet einen Wechsel des Ansprechpartners; Probleme ergeben sich eigentlich bereits bei jeder neuen Bezugsperson: Sei es, daß der Vater nun die mütterlichen Aufgaben auch übernehmen muß, sei es, daß eine neue Lebenspartnerin an die Stelle der leiblichen Mutter tritt bzw. eine andere erziehungsbereite Person. Schon die mangelnde Stetigkeit in der Zuwendung kann dazu hinreichen, daß dem Kinde es nicht (mehr) gelingt, ein Grundvertrauen zu den ihn unmittelbar umgebenden Personen aufzubauen. Zugleich geht aber sein natürlicher Trieb dahin, eine derartige auf gegenseitiges Zutrauen aufbauende Beziehung zu einem festen Partner herzustellen 55 • Auch Kinder, die in einer desorganisierten Familie aufwachsen, stehen so vor einem existentiellen Grunddilemma. Auf der einen Seite spüren sie den Drang, eine personale Einheit mit einem anderen Menschen eingehen zu wollen, auf der anderen Seite fehlt ihnen der stabile Ansprechpartner, in dem sie diesen Wunsch verkörpern können. Personen mit derartigen frühkindlichen Erfahrungen können daher zu extremer Selbstbezogenheit (Narzißmus) neigen, weil sie nur ihre Innerlichkeit als eine für sie kontrollierbare und überschaubare Handlungssphäre erfahren haben, ihre intersubjektive Außenwelt in ihrem Horizont dagegen wechselhaft ist und der personalen Nähe entbehrt 56. Umgekehrt stellt sich ihr äußeres Verhalten für Andere als rätselhaft und unstetig dar, wobei insbesondere die Kontaktarmut bzw. der häufige Wechsel von Bezugspersonen hervorsticht 57. Die narzißtische Einstellung steht dabei häufig einer beständigen sozialen Beziehung entgegen, weil sie andere hoffnungslos überfordern: Es herrscht in ihnen die Vorstellung, daß ihr Gegenüber sich ohne größere Gegenleistung für sie aufopfern, Mutter- bzw. Vaterersatz spielen soll. Weil andere sich dann meist ausgenutzt fühlen, wird die innere Kontaktarmut des Betroffenen so noch von Außen verstärkt. Mit diesem überzogenen Anspruchsdenken gegenüber Anderen paart sich häufig die Unfähigkeit, bestehende Bedürfnisse über einen längeren Zeitraum aufschieben zu können (sog. Frustrationsintoleranz), wodurch auch die Mühen eigener Arbeit gescheut werden 58. Als besonders wirksames Mittel der Flucht in die Innerlichkeit bei gleichzeitigen Glücksgefühlen stellt sich die übermäßige Verwendung von Rauschmitteln dar 59 • Damit sind gewöhnlich die einschlägigen Konflikte mit dem Gesetz verknüpft. Die Delinquenz der hier angesprochenen Personengruppe läßt sich ansonsten schwer kategorisieren. Sie sind aber häufig ebenfalls Abbilder des inneren Konfliktes: Auf der einen Seite ist dieser gekennzeichnet von dem Gefühl, verlassen Dazu König, in: König, Hdb. d. emp. Soz. Bd. 7, 1976, S. 132 ff. Dazu interessant Ricoeur, Interpretation, 1969, S. 489 ff. 56 Toman, in: Löse!, 1983, S. 42; Rauchfleisch, Dissozial, 1981, S. 64 ff. m. w. N. 57 Toman in: Lösei, 1983, S. 42; Rauchfleisch, Dissozial, 1981, S. 91 ff. m. w. N. 58 Toman, in: Lösei, 1983, S. 42 f. 59 Dazu Toman, in: Löse!, 1983, S.42, Rauchfleisch, Dissozia!, 1983, S. 89 ff. m.w.N. 54 55

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zu sein, was zu einem depressiven Charakterzug beiträgt mit massiver Selbstentzweiung. Auf der anderen Seite geht es doch immer auch um die Realisierung des ursprünglichen Wunsches auf personale Einheit mit einem anderen Menschen, deren Herstellung und Ausgestaltung allerdings von sehr stark narzistisch geprägten, die Interessen des Anderen verneinenden Wunschvorstellungen geleitet wird 60. Alles in allem liegt hier in Grundzügen das Gegenbild zu dem zuerst dargestellten inneren Konflikt vor: Dort führte eine zu starke Internalisierung zu einem restriktiven Gewissen, das die eigene Subjektivität unterdrückte, woraus Delinquenz einen Ausweg darstellte. Hier ist von mangelnder Über-Ich-Bildung auszugehen, wodurch schon der reflektierte Umgang mit dem eigenen Triebsystem bedeutend erschwert wird 61. Ein in einer desorganisierten Familie aufgewachsener Mensch ist mithin noch stärker der Natürlichkeit seines Willens verhaftet, was sich auch häufig in der eruptiven Art seiner Delinquenz manifestiert 62 • c) Pädagogische Überforderung Schon die beiden eben geschilderten Formen der kindlichen Verzogenheit hatten zum Hintergrund, daß die pädagogischen Bemühungen scheiterten. Dabei lag der Grund dieser Fehlentwicklung auf der Seite der Eltern. Die natürliche Beschaffenheit des Kindes liegt aber auch, was seine Seelenkräfte betrifft, dem Erziehungsprozeß immer voraus, wodurch sich bei deren mangelhafter Ausstattung 63 ein Problem für jeden stellt, der mit Erziehung betraut ist: Trotz weitgehender Erforschung von Natur und Psyche des Menschen sind bestimmte Defekte für den Geist mehr oder minder unaufhebbar. Dies führt dazu, daß insbesondere die familiäre Sozialisation von vornherein überfordert ist, wodurch sich zum einen eine Perpetuierung der vorfindlichen Mangellage einstellen kann und zum anderen eine höhere Anfalligkeit des Kindes für pädagogisches Fehlverhalten der Eltern. Obwohl im Einzelnen noch nicht alles geklärt ist, kann man davon ausgehen, daß exogene Psychosen in diesen Bereich fallen 64. Nicht mehr mit der gleichen Sicherheit läßt sich dies für endogene Psychosen postulieren 65. Bei allen anderen 60 Vgl. Toman, in: LöseI, 1983, S. 42 f. u. LöseI, Art. Kriminalitätstheorien, psychologische, in: Kaiser et. al. KKW, 1985, S. 221, dort auch nähere Nachweise zu dem dahinterstehenden Verwahrlosungskonzept, das die heutige Diskussion beherrscht. Krit. Rauchfleisch, Dissozial, 1981, S. 64, der meint, der Begriff sei zu diffus. Vergegenwärtigt man sich aber die durchgehende Linie in all der angesammelten Empirie, so stößt man immer wieder auf das Grundphänomen, daß dem Kinde die erste personale Einheit versagt wird. 61 Bowlby, Maternal Care, 1951. 62 Toman, in: LöseI, 1983, S. 42 f. Hier zeigt sich eine Nähe zu endogenen Psychosen. 63 Gleiches gilt, wo durch spätere Außeneinwirkung ein ursprünglich gesundes Kind geistig erkrankt. 64 Dazu Göppinger, Kriminologie, 1980, S. 184ff m. w. N.

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Fonnen der Persönlichkeitsveränderung 66 fehlt ein nachgewiesener organischer Ursachenzusammenhang mehr oder minder völlig, so daß ein Verirrungsprozeß, der seinen Schwerpunkt in der geistigen Entwicklung hat, an Bedeutung gewinnt 67 • Wichtig ist, daß die elterlichen Erziehungsleistungen hier einen erheblichen Funktionsverlust erleiden. Häufig kann schon die Herstellung der emotionalen Einheit mit dem Kinde nur mit Abstrichen erfolgreich durchgehalten werden 68. Die zweite Phase der Erziehung wird sich hier weitestgehend auf kontrollierende Sicherungsmaßnahmen beschränken müssen. Auch hier kann es sein, daß die elterlichen Zwangsmittel an ihre Grenze stoßen, staatliche Hilfen erforderlich werden. Weil und soweit die Geistesschwäche sich aus organischen Ursachen speist, können diese auch nur mit medizinischer Unterstützung aufgehoben werden, so daß auch hier die elterlichen Fähigkeiten auf fremde Leistungen angewiesen sind. Die Gruppe derjenigen Menschen, die mit einer solchen Krankheit zu kämpfen haben, stellen also den "reinen" Fall eines zur Gewalttätigkeit veranlagten natürlichen Willens dar. Die frühkindliche Befangenheit in die eigene Unmittelbarkeit prägt hier mehr oder minder ihr ganzes Leben. Umgekehrt stellen die anderen Fälle dagegen Resultate verfehlter geistiger Objektivationen dar. Die elterliche Fehlerziehung affinniert hier auf der einen Seite die Natürlichkeit des Kindes, indem diesem die Entwicklung zur Selbständigkeit versagt wird. Auf der anderen Seite (ver-)bilden sie aber auch den heranwachsenden Geist des Kindes, indem das Selbstverständnis desselben darauf dressiert worden ist, das asymmetrische Verhältnis der Eltern zu ihm als zu bewahrenden Idealzustand zu erstreben. d) Zwischenergebnis Man kann also drei verschiedene Fonnen unterscheiden, in denen ein Wille in seiner Unmittelbarkeit verhaftet bleiben kann. Auf der ersten Stufe liegt eine (organisch begründete) Mangellage des Geistes vor, die für den Geist nicht aufhebbar ist. Hier spielen pädagogische Fehlentwicklungen - wenn überhaupt - eine untergeordnete Rolle. Eine aus einem solchen Zustand erwachsende Gewalttätigkeit ist also im ursprünglichen Sinne natürlich. Auf der zweiten Stufe geht es um Personen, die während ihrer Erziehung vernachlässigt worden sind. Das erzieherische Defizit findet sich hier in einer 65 Göppinger, Kriminologie, 1980, S. 190ff mit ausführlicher Darstellung des Streitstandes. 66 Göppinger, Kriminologie, 1980, S. 195 ff., 210 ff. m. w. N. 67 Göppinger, Kriminologie, 1980, S. 197 ff. 68 Dazu Rauchfleisch, Dissozial, 1981, S. 142.

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mangelhaften Herstellung der unsprünglichen Einheit in der Empfindung. Dadurch wird im Willen ein unstillbarer Hang gepflanzt, einmal ein solches Verhältnis des einseitigen Umsorgtseins zu erleben, wodurch es zum positiven Selbstbild wird, sich in die Abhängigkeit Anderer zu begeben. Hier liegt also - nun aber mehr oder minder geistig reflektiert - eine deutliche Nähe zum Zustand des natürlichen Willens vor 69 , der in einem solchen Menschen nun zum Ideal wird. Die dritte Stufe der Affirmation ist dagegen die komplizierteste: Sie unterscheidet sich von der vorhergehenden dadurch, daß es dem Betroffenen nach einer Seite seines Wesens darum geht, Selbständigkeit zu erlangen. Dieses Streben wird allerdings vor seinem eigenen restriktiven Gewissen als verbotenes Tun qualifiziert. Dadurch bezieht es sich mittelbar ebenfalls positiv auf das kindliche Abhängigkeitsverhältnis zu den Eltern. Hier treten organische Bedingungen dieser Charakterveränderung - so sie überhaupt vorliegen - deutlich hinter die Auswirkungen von Erziehungsmängeln zurück, so daß sich die Gewalttätigkeit, die sich aus diesem Willenszustande entwickelt, als eine auf der zweiten Natur begründete Handlungsweise darstellt. Es liegt also - in strafrechtsdogmatischen Sinne - kein Fall der Schuldunfahigkeit vor sondern ein Fall des für den subjektiven Willen des Betroffenen unverfügbaren und konstitutionell verfestigten Fehlens des Unrechtsbewußtseins. Einen derartigen Hang zu Delinquenz kann man dem Betroffenen jedoch deshalb nicht zurechnen, weil und soweit sein moralisches Wesen während der Zeit des Erwerbes dieser Gewohnheit noch im Entstehen begriffen war. Das gilt allerdings nur vorbehaltlich der Unmöglichkeit, ihm eine Verfehlung der Pflicht nachzuweisen, sich aus diesem Zustand (eventuell unter Zuhilfenahme Dritter) zu befreien 70 •

3. Reaktionen der bürgerlichen Gesellschaft Die Folgen der Willensschwäche für die Betroffenen laufen, was ihre gesellschaftliche Integration angeht, alle mehr oder minder darauf hinaus, sie aus dem Kreis derjenigen auszuschließen, die am Arbeits- und Lebensprozeß des Systems der Bedürfnisse teilheben. Das hat mehrere Gründe: Je nachdem, wie intensiv das Erziehungsdefizit oder ihre natürlichen Fehlanlagen ausgefallen sind, desto mehr wird es ihnen unmöglich, selbständig die eigene Subsistenz zu sichern. Damit fallen sie aber aus dem auf dieser Grundlage organisierten System heraus und werden von der einseitigen Zuarbeit Dritter abhängig. Auch von der Seite der bürgerlichen Gesellschaft wird mithin ihre Abhängigkeit von ihrem verwandtschaftlichen Lebenskreis verstärkt. Im übrigen 69 Das wird auch dadurch deutlich, daß Personen dieser Stufe häufig zu endogenen Psychosen neigen, vgl. Toman, in: Lösei, 1983, S. 42. 70 Zu der außerordentlichen Problematik dieser Zurechnungsform vgl. o. 1. Kapitel C. H. 2. b) bb) ccc). Ähnlich wie hier Köhler, FS Lackner, 1986, S. 33f, R. Lange, ZStW 62, 1944, S. 178 ff., 205 ff.

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fallen die Betreffenden ihren Angehörigen weiter zur Last entgegen der zeitlichen Grenze, die der Erziehungsphase in der Familie an sich zukommt. Dadurch wird die Familie ihrem Wesen nach umfunktioniert, weil zumindest ein Ehepartner sein Handlungsfeld auf die Familie begrenzen muß, seine Persönlichkeitsentfaltung im gesellschaftlichen Bereich dagegen verkümmert. Die nur mangelhafte Partizipation am Lebens- und Arbeitszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft erschwert ihnen aber des weiteren, gegenüber jedermann sich in beständigen Anerkennungsleistungen zu üben. Umgekehrt reduziert sich die Anerkennung, die ihnen gezollt wird, ebenfalls auf eine Reihe punktueller Ereignisse. Damit mindert sich aber auch ihre Teilhabe am gemeinschaftlich geübten Bewußtsein, in sozialer Interaktion wechselseitig die Personalität des anderen in umfassende Geltung zu setzen, s. o. 1. Kapitel D. 11. 1. Schließlich führt der Ausschluß aus diesem Zusammenhang sogar dazu, daß in ihnen eine feste Neigung zu unmittelbar rechtlichem Tun nicht entstehen kann, weil sie dieser unmittelbaren Einheit von eigenem Wirtschaften und eingefleischter Rechtsbefolgung nicht teilhaftig geworden sind. Wo Personen, die mit einem solchen Mangel behaftet sind, aus der Familie heraustreten und eine selbständige Stellung innerhalb der Gesellschaft anzustreben versuchen, wird ihre Lebensweise nicht nur für sie und ihre Angehörigen, sondern auch für alle anderen Bürger zum Problem 71. Für den Betroffenen werden die Gefahren der anonymen und abstrakten Gleichheit der gesellschaftlichen Interaktionspartner zum Verhängnis. Nicht nur, daß sie anfällig sind für Übervorteilung u.ä. Auch beim autonomen Aushandeln von Verträgen sind sie der prinzipiell schwächere Teil, so daß sie ihren Entscheidungen umealistische Einschätzungen zugrunde legen können. Auf der anderen Seite widerstrebt die Gegenseitigkeit der Tauschgesellschaft dem eigenen Ideale einer gelungenen intersubjektiven Beziehung: Ihr Ziel ist es ja mehr oder minder, sich einseitiger Leistungen Anderer dadurch würdig zu erweisen, daß sie sich seinem Willen unterordnen. (Umgekehrt kann es für jemanden, der mit seinen Eltern um seine Eigenständigkeit ringen mußte, aber auch eine Befreiung darstellen, im gesellschaftlichen Leben aktiv zu sein. Allerdings findet man hier dann häufig einen übermäßigen Freiheitsdrang, dem jeder Zwang ein Greuel ist.) Für Dritte, die der betreffenden Person nicht nahe stehen, kann ein solches Verhalten den Eindruck machen, daß Andere ausgenutzt werden sollen. Auch im Bereich der bürgerlichen Gesellschaft wird sich daher die oben beschriebene Problematik fortsetzen: Wegen seiner übersteigerten Wünsche an Dritte wenden diese sich vom Betreffenden ab, so daß er unter Kontaktarmut zu leiden hat. Auch im öffentlichen Leben werden so seine Tendenzen zu übermäßiger Selbstbezogenheit verstärkt. Die so beförderte Neigung, in die Innerlichkeit zu fliehen, ist wiederum nicht dazu dienlich, sich auf die allgemeine Handlungsweise unmittelbaren Rechtsge71

Von Hegel angedeutet in Rph. § 240, S. 387.

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horsams Anderer einzulassen. Der Betreffende findet sich mithin in einer Lage vor, in der äußere und innere Umstände gegenseitig einen Ausschluß aus dem gesellschaftlichen Gesamthandlungsprozeß mit seiner bewußtseinsbildenden Kraft bedingen: Der Mangel an familiärer Sozialisation, den er mitbringt, bewirkt eine Plazierung seiner am Rande des Systems der Bedürfnisse. Dieses verstärkt nur noch seinen Hang zur Selbstbezogenheit, der ihn wiederum in Opposition zu den eingelebten Verhaltensweisen der bürgerlichen Gesellschaft bringt. Es liegt ein wahrer circulus vitiosus vorn. Für die Problematik einer Delinquenzneigung ist es wesentlich, daß dem Betreffenden über den Ausschluß aus dem gesellschaftlichen Interaktionsgefüge auch die Bildung einer unmittelbaren Gewohnheit der Rechtsbefolgung erschwert oder unmöglich gemacht wird. Führte die Eingliederung einer Person, deren familiäre Sozialisation gelungen ist, quasi mechanisch (im geistigen Sinne) dazu, daß er unmittelbar eine praktische Haltung zur Rechtlichkeit entwickelte, so wird demjenigen, der unter einem Erziehungsdefizit o. ä. zu leiden hat, dieses Benefiz nicht oder nur unzureichend zuteil. Es fällt dann in seine Subjektivität allein, einen entsprechenden Habitus aufzubauen! Dies wird ihm ungleich schwerer fallen als jemandem, der nicht mit einer solchen biographischen Hypothek belastet ist wie er. Folglich hat sein allgemeiner Wille noch nicht diese Schwerkraft über die eigenen Triebe erlangt, wie es bei einem in guten Verhältnissen Sozialisierten der Fall ist. Die mangelnde Festigkeit seines Charakters erschwert es nun aber gerade, die inneren Konflikte angemessen zu verarbeiten. Eine Neigung, sie in alloplastischen Verhalten zu inszenieren, bricht hier eher aus. Das bedeutet aber auch eine tendenziell höhere Anfälligkeit für Delinquenz. Der betreffende befindet sich zumindest in einer Situation, die demjenigen des habituell Haltlosen ähnelt, s. o. 1. Kapitel D. 11. 3. b) cc). Sein innerer Konflikt kann sich aber gar zu einer beständigen Disposition auswachsen, die ihn dazu führt, sein Problem in immer gleichen Akten zu lösen.

4 . Folgerungen für die Verbrechens lehre Es fragt sich nun, in welchem Verhältnis die Gewalttätigkeit einer Person, die unter pädagogischen Fehlentwicklungen zu leiden hatte (im folgenden Unfreier genannt), zum Umecht steht, das ein Vernünftiger begeht. Beiden ist zunächst einmal gemeinsam, daß sie sich mit ihrem Tun im Gegensatz zum gesetzlich verfaßten, gewohnheitlich befolgten Allgemeinwillen befinden. Dies äußert sich auf verschiedenen Stufen:

72 Vgl. dazu Rauchfleisch, Dissozial, 1981, S. 84 ff., wo allerdings die gesellschaftlichen Bedingungen dieses Prozesses kaum beachtet werden.

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Sowohl die Gewalt des Unfreien als auch die des Verbrechers vernichten oder entziehen einer anderen Person ein materielles Substrat, auf das sich ein subjektives Recht bezieht. In einer solchen Tätigkeit manifestiert sich eine Abweichung von der gewohnten Übung, sich wechselseitig in seiner rechtlich erworbenen Lebenssphäre nicht zu stören. Schließlich finden sich bei einem Teil der Täter eine Ähnlichkeit mit dem, der habituell böse handelt. Sowohl der natürliche Wille des Unfreien als auch der des habituell Bösen sind der Unmittelbarkeit verhaftet. Allerdings zeigt sich hier auch gleich der Unterschied: Die sich wiederholenden Handlungen des habituell Bösen sind durch seine, sich darin verfestigende willkürliche Reflexion vermittelt; sie sind durch seinen subjektiven Willen selbst gesetzt. Der Widerspruch, in dem sich der habituell Böse befindet, ist ein selbstgesetzter Selbstwiderspruch. Zwar lebt der Unfreie auch in einem Gegensatz. Dieser beruht aber zum einen auf Natur, wo er mit schlechten Anlagen zu leben hat. Zum anderen ist er zwar durch den Geist gesetzt. Der Betroffene nahm aber an diesem geistigen (Ver-)Bildungsprozeß noch nicht (im vollem Umfang) als moralisches Wesen teil, so daß ihm der daraus erwachsene Charakter nicht als selbstbegründet zugerechnet werden kann. Auch der äußere Widerspruch zur allgemeinen Handlungsweise unmittelbaren Rechtsgehorsams erscheint nun jeweils in einem anderen Licht. Die mangelnde Konformität des Unfreien zu den eingefleischten Verhaltensweisen der bürgerlichen Gesellschaft zeigt nur auf, daß er sich mehr oder minder außerhalb der Grenzen dieses Interaktionszusammenhanges befindet. Es offenbart zugleich die Grenze der Geltungsmacht, die der in den von den Eltern vermittelten und eingeübten Gesetzen verkörperten Vernunft noch zukommt. Einmal fehlte ihr die Kraft, sich gegen eine natürliche, aber gewalttätige Disposition durchzusetzen. Andermal verirrte sich ihre Tätigkeit darin, lediglich die Unmittelbarkeit des Willens zu affirmieren. Beidesmal ist jedoch die Vernunft im Unfreien nicht oder nur unzureichend zur Existenz gekommen. Er hat damit aber auch nicht oder nur am Rande an den Vernunftobjektivationen teil, wie sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft verwirklichen. Die in jeder gesellschaftlichen Formation noch übrig bleibende Gewalt eines nur natürlichen Willens zeigt mithin keinen durch den Handelnden gesetzten Selbstwiderspruch auf, sondern weist nur die Schranken auf, in welche die Vernunft in der Erzeugung eines wirklich allgemeinen, d.h. wirklich alle Menschen umfassenden Bewußtseins vom Gelten der Rechtsgesetze gewiesen ist. Im Verbrechen äußert sich dagegen die (formelle) Vernünftigkeit selbst, indem sie sich - zunächst nur negativ - gegen die Verabsolutierung einer ihrer Daseinsformen richtet, s. o. 1. Kapitel B. 11. 2. b). Es markiert damit nicht die Ohnmacht der Vernunft vor bestimmten natürlichen Gegebenheiten u. ä., sondern ihre Unabhängigkeit von eingespielten Formen der Freiheitsrealisation. Der Verbrecher zeigt, daß die bloße Gewährung abstrakter Gleichheit ebenso ungenügend

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ist wie die nur unmittelbare, bloß mechanische Einheit zwischen allgemeinem und besonderem Willen. Seine Tat setzt sich damit aber in Widerspruch zu dieser unmittelbaren Einheit von Rechtsgehorsam und alltäglicher Lebenspraxis. Dieser Widerspruch unterscheidet sich von dem des natürlichen Willens einmal dadurch, daß er durch die Subjektivität des Verbrechers selbst gesetzt ist. Zum anderen stellt er aber die alltägliche Übung unmittelbaren Rechtsgehorsams als Vernunftobjektivation in Frage. Es ist so Verletzung des Rechts als Recht. Sein Selbstwiderspruch besteht darin, nur eine Lösung für die eigene besondere Lebenssphäre gesucht zu haben, ohne zu einer institutionalisierbaren Alternative durchgedrungen zu sein. Damit ist aber auch das allgemeine Rechtsbewußtsein in einer anderen Weise berührt: Die Gewalttätigkeit des natürlichen Willens zeigt nur die Grenze an, ab der eine Teilhabe an einem habitualisierten allgemeinen Rechtswissen nicht mehr umfassend möglich ist, während das Verbrechen sich gerade gegen den Anspruch des allgemeinen Rechtsbewußtseins richtet, die letztgültige Realisierung der Vernunft zu sein. Sicherlich ist für das konkrete Opfer in beiden Fällen die Selbstverständlichkeit alltäglichen Rechtsgehorsams in Frage gestellt. Dieser Eindruck mag auch weitere Kreise ziehen. Nur im letzten Fall wird aber die Vernünftigkeit desselben problematisch. Vor seinem eigenen allgemeinen Willen stellt sich mithin die Erschütterung des Normgeltungsvertrauens für das Opfer nicht als Angriff auf seine Vernünftigkeit dar, wenn der Gewaltakt, unter dem es leidet, von einem natürlichen Willen ausgeht. Es bleibt zwar möglich, daß das konkrete Opfer sich diesen Sachverhalt verstellt oder über ihn irrt; dennoch vermittelt diese Überlegung nicht ohne weiteres auch eine dementsprechende Beurteilung des Falles in den Augen des Rechtsbewußtseins Aller. Dann aber tritt keine Gefährdung des allgemeinen Geltens der Gesetze ein, so daß kein Fall strafwürdigen Unrechts vorliegt. Gleiches gilt auch für die Vernichtung oder Entziehung eines materiellen Substrates, auf das sich ein besonderes subjektives Recht des Opfers bezieht. Zwar geht dieses Dasein der Freiheit mit seinem natürlichen Träger ebenfalls unter; es lebt aber weiter im Anspruch auf Schadensersatz 73 • Zudem fehlt bei Taten des natürlichen Willens der Sinn, daß in dem Gut des Anderen das Recht als Recht verletzt werden soll, s. o. 1. Kapitel B. 11. 2. c) und C. 11. 3. All das macht deutlich, daß in der Abwehr und Bereinigung der Gefahren, die vom natürlichen Willen ausgehen, kein Problem der Straftechtspflege zu sehen ist, vielmehr diese Aufgabe den Zivilgerichten zufällt, 1. Kapitel D. 11. 2. Wie der nächste Abschnitt verdeutlichen wird, liegt der Schutz vor der Gewalttätigkeit des natürlichen Willens zugleich auch im allgemeinen Interesse. Wo dieses als institutionelle Aufgabe anerkannt wird, dort wird es zugleich auch von einem selbständigen Organ des Verstandesstaates, der Wohlfahrtsverwaltung, verfolgt, 73 Dazu Rph. § 98, S. 186. Vorgelagert hat jeder Einzelne das Recht, sich zu verteidigen, Rph. § 93 Anm., S. 179 f. u. § 94, S. 180.

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1. Kapitel D. IV. 2. Sie sind die Organe, die neben der elterlichen Gewalt den Schutzanspruch gegenüber dem Betroffenen durchsetzen. Allerdings bleibt erst einmal noch offen, in welcher Weise dies geschehen kann, s. u. 2. Kapitel C. 11. 2. Die verschiedenen Stufen des Verzogenseins lassen natürlich in ihrer Dynamik eine Unzahl von Zwischenformen der Unvernünftigkeit zu. Gleiches gilt selbstverständlich auch für die Erfassung delinquenten Verhaltens Jugendlicher. Das macht es dann im Einzelfall erforderlich, jeweils festzustellen, ob in der Tat bereits (formelle) Vernünftigkeit anwesend ist oder nicht. In der prinzipiellen Unterscheidung zweier wesensverschiedener Unrechtsformen mit der entsprechenden Kompetenzverteilung ändert dies aber nichts. (Formelle) Vernünftigkeit kann sich in zwei verschiedenen Weisen in einem gewalttätigen Handeln wiederfinden, dessen Ausführung durch die Unmittelbarkeit des Willens mitbedingt ist. Zum einen kann darin ein Versagen vor der schon erfahrenen Pflicht zum Ausdruck kommen, sich aus diesem Zustand der Natürlichkeit (wieder) zu befreien. Entweder beruht dies dann darauf, daß man die eigene Wildheit als positives Selbstbild übernimmt oder man verstellt sich die Chancen, ernsthaft gegen diese Befangenheit anzugehen. (Wie schon mehrfach betont, muß diese Zurechnungsform äußerst vorsichtig gehandhabt werden.) Zum anderen ist es auch möglich, daß ein aktuell vernünftiger Erwachsener, der am Arbeits- und Lebensprozeß der bürgerlichen Gesellschaft teilhat, die Entscheidung trifft, sich in einen Zustand der Unvernünftigkeit zurückzubegeben: Insbesondere die vielfältige Delinquenz, die mit der Alkohol- und Betäubungsmittelabhängigkeit zusammenhängt, bietet hierfür ein erschreckendes Beispiel 74 • Dann aber ist die Unmittelbarkeit, aus der die Straftaten hervorgehen, über die willkürliche Reflexionsleistung des Betroffenen vermittelt, so daß sich das Tun als ein Verbrechen darstellt. Dabei ist ausdrücklich anzumerken, daß die selbstgesetzte Regression in den inneren Naturzustand für sich prinzipiell kein strafwürdiges Unrecht darstellt 75 • Für diese Tätergruppe lebt damit die Zuständigkeit der Strafgerichte wieder auf, weil in solchen Akten ebenfalls der Anspruch des allgemeinen Rechtsbewußtseins, eine letztgültige Realisierung der Vernunft zu sein, in Frage gestellt ist 76 • Zusammenfassend ist zu sagen, daß die Gewalt des Willens, der (noch) der Unmittelbarkeit verhaftet ist, kein strafwürdiges Unrecht darstellt, soweit diese Unmittelbarkeit nicht über den subjektiven Willen des Betreffenden vermittelt ist.

74 Überblick bei Kerner, Art. Alkohol und Alkoholismus, in: Kaiser et. al. , KKW, 1985, S. 5 ff. u. Art. Rauschgift, Rauschgiftkriminalität, in: Kaiser et. al., KKW, 1985, S. 346 ff. 75 Ausgeklammert sei die Frage, inwiefern die reine Selbstschädigung durch Rauschmittelmißbrauch ein Verbrechen darstellt. 76 Zu Einzelheiten s. u. 2. Kapitel C. 11. 2.

IV. Folgen der Krise der Gesellschaft

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IV. Die Folgen der Krise der bürgerlichen Gesellschaft für das Verbrechen

Schon bei der Behandlung der Verbrechenselemente im ersten Abschnitt dieses Kapitels offenbarte sich, daß innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft die Verwirklichung des individuellen Wohles von vielen Zufälligkeiten abhing. Zum einen kommt es darauf an, was der Einzelne mit seinem Eigentum und seinen Fähigkeiten macht. Es bleibt ihm als freie Person ebenso unbenommen, seine Vermögen zu verschwenden und verkommen zu lassen, wie er mit seiner Hände Arbeit sich Reichtum und Ansehen erkämpfen kann 1. Schon dieser Tatbestand führt dazu, daß das Vermögen der einzelnen Bürger sich nicht nur qualitativ verschieden in unterschiedlicher Standeszugehörigkeit ausprägt, sondern auch quantitativ nach der Menge der zuhandenen Wertmasse ausdifferenziert 2. Der eine kann so zur Wohlhabenheit aufsteigen, wie der andere der Armut verfällt. Dann aber reduziert sich die Verwirklichung seines Wohles darauf, sein Dasein zu fristen. Solche Einkommensunterschiede hätten gesellschaftlich betrachtet allerdings nur marginale Bedeutung, wären sie nicht eingebettet in einen allgemeinen Trend: Die Wirtschaftsstruktur der bürgerlichen Gesellschaft erzeugt systemisch eine alle Bürger involvierende Aufspaltung der Bevölkerung in Reiche und Arme 3 • Mit diesem konstitutionellen Problem und seinen Auswirkungen auf das Verständnis vom Verbrechen soll sich der nächste Abschnitt vornehmlich beschäftigen. Auch die folgende Analyse muß zunächst von dem vollen Wirklichkeitsgehalt konkreter Freiheit abstrahieren. Die Entwicklung der Krise innerhalb der ständisch strukturierten Gesellschaft sieht noch von der Integrationsleistung der Korporationen und des substantiellen Staates ab. Diese können die hier angezeigte Problematik relativieren. Ihre wahre Aufgabe entsteht aber erst, wenn man ihre Regulierungsleistung auf diejenige gesellschaftliche Struktur bezieht, die durch die Krise entsteht.

1. Die Erzeugung des "Pöbels" Auszugehen ist von dem Gesellschaftsmodell, das oben bereits geschildert worden ist, die ständisch integrierte Gemeinschaft. In ihr nimmt im Prinzip jeder als selbständiges Wirtschaftssubjekt teil: Man bestellt den eigenen Acker oder betreibt ein eigenes Gewerbe etc. Hegel schildert hier einen Produktionszusammenhang, der sich nur über den Tausch der hergestellten Güter vermittelt, nicht auch über den Ankauf von Arbeitskraft als solcher 4 • Allerdings wohnt diesem Rph. § 237, S. 385 f. Im Grunde schon in Rph. § 200, S. 353 f. angesprochen. Es ist das Prinzip der Besonderheit selbst, das diese Ausdifferenzierung unterhalb der wechselseitigen Anerkennung als Personen erzwingt, Rph. § 185, S. 341. 3 Rph. § 241, S. 387 f. 1

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

Modell ein immanentes Bewegungsprinzip inne, das es von diesem Ausgangszustand in einen Gesellschaftstyp transformiert, in dem die Aufspaltung der Bevölkerung in einen Teil, der seine Arbeitskraft auf dem Markte anbietet, und einen anderen Teil, der diese in seinen Produktionsstätten tätig werden läßt, das kennzeichnende Strukturmerkmal ist 5 • Eine explizite Ausformulierung dieses Bewegungsgesetzes liefert Hegel zwar nicht. Der ihm vor Augen stehende Gesamtzusammenhang läßt sich jedoch aus seinen einzelnen Äußerungen zu diesem Thema rekonstruieren. Trotz der relativ festen Fassade, die eine sich in Stände gliedernde Gemeinschaft aufzuweisen hat, herrscht in ihrem Inneren keine Ruhe. Vielmehr ist ihr Wirtschaftsleben von gegenseitiger Konkurrenz der einzelnen Gewerbetreibenden geprägt 6. Ihnen kommt allen der Trieb zu, den Umfang ihres Vermögens zu erhöhen. Dabei setzt sich derjenige am ehesten durch, der seine Waren am wohlfeilsten anbieten kann 7. Dies erfordert einen Vorsprung an technischen Wissen und Fähigkeiten, der eine preiswertere Produktion von Waren ermöglicht. Auf diesem Punkt erhellt es, daß die unterschiedliche Verteilung der Geschicklichkeiten bzw. des innovativen Elans für den einen zum Vorteil, dem anderen zum Nachteil gereicht. Letzterer wird damit zunehmend als selbständiges Wirtschaftssubjekt in Frage gestellt, bis einmal der Punkt erreicht ist, an dem er seinen Betrieb nicht mehr gewinnbringend führen kann. Dann ist die Wendemarke erreicht, an dem er als Gewerbetreibender aus dem Wirtschaftsleben ausscheiden muß, um als einfacher und damit wirtschaftlich unselbständiger Arbeiter sich Anderen zu verdingen 8. Nimmt dieser Ausdifferenzierungsprozeß größere Konturen an, so bilden sich tendenziell zwei Schichten (Hegel nennt sie Klassen 9)heraus, wovon die eine weiterhin, jetzt zu Fabrikanten aufgestiegen, ökonomisch Selbständige sind, die anderen aber von deren Arbeitsplatzangeboten abhängen 10. Dann aber bezeichnet eine ständisch strukturierte Gesellschaft nur noch einen Teilbereich der sozialen Realität nach, nämlich die Gruppe der Bürger, die noch selbständige Wirtschaftssubjekte, sprich Unternehmer und Bauern sind. Für den 4 Das ist schon deutlich spürbar in der Weise, wie Hegel die Stände schildert, vgl. Rph. §§ 203 ff., S. 355 ff. Explizit dann Rph. § 243, S. 389, SdS, S. 93 f. Dazu Göhler, Dialektik und Politik, 1974, S. 538 ff. 5 Ebda. Zum folgenden hervorragend Ritter, Art. Hegel, in: Staatslexikon, Bd. IV, S. 32 in. 6 Nach Rph. §§ 193,236, S. 350, 384. Zum folgenden auch Avineri, Hegels Theorie, 1976, S. 170 ff.; Lübbe-Wolf, ARSP 68, 1982, S. 223 ff.; Ver Eecke ARSP 69, 1983, S. 209 f., Göhler / Roth, ZphF. 35, 1981, S. 507. 7 Dazu Göhler / Roth ZphF 35, 1981, S. 509 f. 8 Marx hat diesen Prozeß der ursprünglichen Akkumulation im Kapital, MEW 23, 741 ff. ausführlich geschildert. Die kriminellen Auswüchse, die sie erfahrungsgemäß annehmen kann, sind keine notwendige Bedingung dieses Prozesses. - Der Begriff "Arbeiter" wird im folgenden zur Bezeichnung eines unselbständigen Wirtschaftssubjekts im oben dargestellten Sinne verwendet. 9 Rph. § 245, S. 390 f. 10 Rph. § 243, S. 389.

IV. Folgen der Krise der Gesellschaft

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anderen Teil der Bevölkerung gilt diese Form ständischer Integration nicht mehr in gleicher Weise. Ihnen geht damit auch ein Teil der sittlichen Bindungen mit deren bewußtseinsbildender Kraft ab, so daß auch die Art und Weise des Anerkanntseins sich in ihrem Verhältnis modifiziert. Durch diesen Prozeß der Klassenbildung entsteht allerdings noch nicht per se für alle Arbeiter ein Zustand der Armut, weil und soweit sie für die geleistete Arbeit Anspruch auf angemessenen Lohn haben. Dennoch inhäriert dem Zwange, seine Arbeitskraft auf Zeit einem Anderen verkaufen zu müssen, die Tendenz zu fortschreitender Verelendung breiter Bevölkerungskreise 11. Um herauszufinden, warum dem so ist, bedarf es einer Rückbesinnung auf die Rolle der Arbeit in Hegels Philosophie. Schon bei der Darstellung des Herrschafts-/Knechtschaftsverhähnisses geht Hegel davon aus, daß der Knecht zur Rettung seines Lebens der Begierde entsagen und stattdessen für sich und seinen Herrn den Lebensunterhalt erarbeiten muß, s. o. I. Kapitel A. I. Dann aber kommt ihm die Fähigkeit zu, mehr zu produzieren, als für die Erhaltung des eigenen Lebens erforderlich ist. Zwar wird durch die Untätigkeit des Herrn dieser Überfluß stets aufgebraucht; im Verhältnis wechselseitiger Anerkennung führt dies dagegen zur Produktion von Überfluß. Wenn aber der Mensch diese Fähigkeit in sich kultiviert hat, so partizipiert er solange an dem erwirtschafteten Gewinn, wie er seine Arbeit an Sachen vergegenständlicht, die in seinem eigenen Eigentum stehen. Wo er aber darauf angewiesen ist, sich einem Anderen zu verdingen, dort veräußert er mit seiner Arbeit auch deren Kraft, mehr Wert zu produzieren als sie selbst zur eigenen Reproduktion bedarf. Diesen Mehrwert erhält der Arbeiter aber unter den in der bürgerlichen Gesellschaft abstrakt-rechtlich geregelten Verhältnissen (s. o. I. Kapitel B. I. 3.) deswegen nicht vergolten, weil es bei Verträgen nur auf die Gleichheit der Wertmassen ankommt, die in den zu tauschenden Leistungen verkörpert sind 12. In der veräußerten Arbeit sind aber lediglich ihre Reproduktionskosten vergegenständlicht und machen demgemäß ihren Wert aus. Die Ermittlung von deren Umfang ist zwar von historischen, sozialen und persönlichen Bedingungen abhängig, s. o. 1. Kapitel B.I. 3.; die Konkurrenz mit anderen Arbeitssuchenden und der Zwang, nur noch durch unselbständige Arbeiten am Wirtschaftsleben teilnehmen zu können, grenzen aber das Feld willkürlicher Entscheidungsfreiheit des einzelnen Arbeiters erheblich ein. So kommt es für die Gültigkeit eines Arbeitsvertrages und das bedeutet für der darin herrschenden Wertgleiehheit der Leistungen, wesentlich auf die Einwilligung zum Kontrakte und der darin getroffenen Äquvivalenzregelung an. Diese muß nach abstrakt-rechtlichen Kriterien solange noch als vertrags gerecht angesehen werden, wie die Gegenleistung der Arbeit es erlaubt, diese zu regenerieren, es sei denn das sich positiv rechtlich oder nach 11 Von Hegel selbst gesehen in Nachsehr. Griesheim, Ilting IV, S. 609 f. Dazu LübbeWolf, ARSP 68, 1982, S. 245 f. 12 So auch Flickinger, ARSP 62, 1976, S. 538 ff.

14 Klesczewski

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1.

Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

geschäftlicher Übung ein strengeres Maß eingebürgert hat 13. Allerdings darf dieser wiederum nicht so weit gehen, daß für den Unternehmer der Anreiz zur Einstellung entfällt, der in der Aneignung der mehrwertproduzierenden Kraft der Arbeit liegt. Nur in diesem Rahmen besteht jetzt ein Lohnverteilungsspielraum 14. Damit ist aber diese Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen im Prinzipe sanktioniert, wobei dieses Prinzip eine dynamische Macht inhäriert: Die weiterbestehende Konkurrenz unter den verbleibenden selbständigen Wirtschaftssubjekten drängt immer weitere Teile der Bevölkerung in die Schicht der Arbeiterschaft herab und konzentriert das Kapital in immer weniger Händen. Schließlich führt die fortschreitende Industrialisierung der einzelnen Wirtschaftszweige zu einer immer intensiveren Mechanisierung der Arbeitsabläufe l5 , wodurch zum einen der Anteil an zu leistender Arbeit immer geringer, somit aber auch der dem Arbeiter zu vergeltende Betrag immer niedriger wird. Zum anderen aber macht es die Arbeit vieler anderer überflüssig 16, so daß sie vollends der Armut verfallen 17. Die Armut ist davon gekennzeichnet, daß den davon betroffenen Bürgern es an dem Maße der Subsistenzweise mangelt, die - als Mindestgröße - zur realen Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft erforderlich ist. Man wird sie nicht erst dort ansetzen können, wo es dem einzelnen unmöglich wird, sein Leben zu erhalten, sondern schon da, wo ihm die Reproduktion der eigenen Arbeitskraft nicht mehr gelingt 18. Dieses materielle Defizit bringt aber auch eine geistige Verarmung mit sich: Arbeitslosigkeit führt zum Ausschluß an der Teilhabe sich weiterentwickelnder theoretischer und praktischer Bildung, zu dem Gefühl, daß die eigenen Fähigkeiten, weil nicht gebraucht, auch nichts taugen. Letztlich findet auch eine Entwöhnung von den Regeln der sozialen Interaktion statt. Dies hat dann zur Folge, daß die dort anwesende ständige Anerkennung den Betroffenen in schwindendem Maße zuteil wird, was bis zum Ausschluß aus dem Stande führen kann 19. Schließlich ruft die Lage, in der sich die Armen befinden, in ihnen ein Gefühl des Unrechts hervor, weil sie nicht ein naturgegebenes Los darstellt, sondern ein Zustand ist, der auf gesellschaftlicher-geistiger Setzung beruht 20. 13 Letzteres, weil eine allgemeine Handlungsweise Indiz für ein sittliches Verhältnis ist, s. o. 1. Kapitel C. 11. 2. b) bb) u. Rph. § 214, S. 366, über den rechtlichen Spielraum bei Bestimmung des Wertverhältnisses. 14 Die hier gegebene Ableitung ähnelt der Marxschen Analyse, in: Kapital, MEW 23, S. 181 ff., 741 ff. Es ist aber eine hegelimmanente Deduktion. Sie stützt sich auf obige Thesen. 15 Rph. § 198, S. 352 f. Dazu weiter Marx, Kapital, MEW 23, S. 657 ff. 16 Rph. § 198, S. 352 f. mit der sozialen Folge in Rph. § 244, S. 389 f. 17 Rph. § 241, S. 387 f. 18 Rph. § 244, S. 389 f. Hinzu kommt, daß die Familie als Stammeseinheit in der bürgerlichen Gesellschaft als soziales Netz aufgelöst wird, Rph. § 238, S. 386. - Zur Reproduktion gehört auch die Fortbildung und die Erhaltung der Gattung über das Aufziehen der eigenen Kinder, vgl. Marx, Kapital, MEW 23, S. 184 ff. 19 Rph. § 253 Anm., S. 395 f.

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Wo sich unter den Annen die Einstellung verbreitet, in der sich die Scheu, die eigene Arbeitskraft einem anderen noch anzubieten, mit dem Gefühl verbindet, von der Gesellschaft ungerecht behandelt worden zu sein, dort entsteht eine soziale Schicht, der Hegel den Namen "Pöbel" gegeben hat 2l • Die Existenz dieser Schicht wird nun zum Kardinalproblem der bürgerlichen Gesellschaft: Zum einen zeigt sich in ihr das Scheitern ihres nonnativen Anspruches, jedennann am allgemeinen Wohl teilhaben zu lassen, s. o. 1. Kapitel D. 11. 1. Zum anderen bedroht sie aber, soweit sich ihre breite Basis in der Bevölkerung verfestigt, die Grundlagen der Prosperität: Diese ruht darauf, die erwirtschafteten Güter auch absetzen zu können. Wenn aber weite Kreise aus dem Produktions zusammenhang herausfallen, andere in immer abnehmenderen Umfang an ihm teilhaben, dann häuft sich auf der einen Seite sinnloses, weil nicht konsumtives Kapital an, das den Massen der Verbraucher dagegen in wachsendem Umfang abgeht 22 • Dadurch schwinden gleichzeitig die Absatzmärkte, so daß die produzierten Güter vergebens hergestellt worden sind, mithin der anvisierte Gewinn nicht realisiert werden kann. Folglich geraten auch die kapitalmächtigen Unternehmen in die Krise. Dieser Prozeß kann zeitweilig über die Erweiterung der Absatzmärkte durch Kolonisation aufgehalten werden 23. Da sich aber auch dort das gesellschaftliche Leben letztlich nach denselben Prinzipien bestimmen muß, so wiederholt sich dieselbe Krisenentwicklung erneut. Am Ende steht folgende ernüchternde Feststellung 24: "Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerlichen Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern." Hegel ist bekanntlich der Ansicht, daß sein substantieller Staat (in Verbindung mit den Korporationen) in der Lage ist, dieses Übel zu beheben 25. Diese These setzt aber den Aufweis voraus, daß der Not- und Verstandesstaat in der Fonn der Wohlfahrtsverwaltung (Polizei) dazu allein nicht in der Lage ist.

2. Die Überforderung der "Polizei" Es ist schon bei der Darstellung der Verbrechenskategorien, wie sie sich in der ständisch integrierten Gemeinschaft herausbilden, aufgezeigt worden, daß das negativ unendliche Urteil eine institutionelle Seite erhält, deren affinnatives Eindringlich Rph. § 244 Zus., s. 389 f. Rph. § 244, S. 389. Trotz des diskriminierenden Wortgebrauchs wird der Begriff in Anführungszeichen der Klarheit wegen weiterverwendet. 22 Rph. § 245, S. 390. 23 Rph. §§ 246-248, S. 391 ff. Dazu Serequeberhan, Internat. Phil. Quarterly 39,1989, S. 301 ff. 24 Rph. § 245, S. 390. 25 Das liegt der Formel von Rph. § 260, S. 407 f. zugrunde. Vgl. dazu Rosenkranz, Hegel, 1870, S. 160, der darauf wohl als erster hingewiesen hat. 20

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

Resultat den Übergang von der Rechtspflege zur Polizei markiert 26 • Das bedeutet, daß die Organe des Verstandesstaates ihren Aufgabenkreis um zwei Funktionen erweitern: Zum einen wird es jetzt institutionelles Programm, nicht nur im Falle der Verunmöglichung ( sprich Verletzung) einzelner Eigentumsrechte einzuschreiten, sondern auch bereits die Bedingungen des Erwerbs und der Erhaltung des Vermögens nicht mehr dieser Zufälligkeit auszusetzen, d. h. sie vorbeugend vor dem Eintritt des Verletzungs falles zu sichern 27 • Zum anderen aber soll auch das besondere Wohl des Einzelnen als institutionelle Berechtigung gehandhabt werden. Es soll von den Zufällen freigehalten werden, die in der Person oder dem Umfeld ihres Handeins liegen und welche von ihr nicht vollständig beherrscht werden können. Die gute Ordnung des Umfeldes wird dadurch hergestellt, daß die verallgemeinerbaren Interessen der Bürger auch Aufgabe staatlicher Organe werden 28. Grundsätzlich geht es hier um den reibungslosen Austausch von Gütern. Das allgemeine Interesse aller Verbraucher an sinnvollen Produkten führt zur Gewerbeüberwachung. Diese soll gewährleisten, daß nur Waren angeboten werden, die für den Einzelnen ungefährlich sind 29. Den Interessen der Produzenten nimmt sich die Wohlfahrtsverwaltung dadurch an, daß sie ihnen öffentlichen Zugang zu Verkehrswegen und Kommunikationsmitteln verschafft. Schließlich soll der Notstaat den Gesamtzusammenhang im Auge behalten, indem er wechselseitige Abhängigkeiten der Wirtschaftszweige untereinander bzw. zu den Konsumenten oder zu Auswärtigen unter Kontrolle nimmt. Den Zufälligkeiten der persönlichen Konstitution wirkt die Wohlfahrtsverwaltung dadurch entgegen, daß sie die eventuell vorhandene Familiensorge durch ein öffentliches Bildungswesen ebenso unterstützt wie durch die Absicherung vor den Wechselfällen des Lebens 30 • Insbesondere entlastet sie die Familie auch von der Aufgabe, Unmündige ihr ganzes Leben lang zu versorgen, indem sie sie unter Vormundschaft stellen kann 31 •

26 s. o. 1. Kapitel D. 11. 3. b). Dabei verwendet Hegel den Begriff im altdeutschen Sinne, wo er als "gute policey" die rechte Ordnung des Gemeinwesens bedeutet, s. H. Maier, Staats- und Verwaltungs1ehre, 1980, S. 92 ff., 105 ff., 207 ff. und insbes. S. 236 ff.; Naucke, in: FS Erler, 1986, S. 177 ff. 2? Rph. § 230, S. 382. Eine Theorie des Sozialstaates entdeckt hier Dreier, Recht, 1980, S. 335. 28 Rph. § 235, S. 384. Damit ist nicht die Verallgemeinerbarkeit i. Sinne d. Kategorischen Imperativs gemeint, sondern in Kantischer Perspektive eine empirische Gemeinschaftlichkeit. Partikuläre Bedürfnisse des Einzelnen verbleiben dagegen im alleinigen Verantwortungs bereich desselben. 29 Rph. § 236, S. 384 f. 30 Rph. § 239, S. 386 f. zur staatlichen Erziehung. Rph. § 241, S. 388 zur Armenhilfe. 31 Rph. § 240, S. 387. Neben dem Interesse des Betroffenen und seiner Familie verfolgt der Staat zugleich auch noch das Sicherungsinteresse Dritter. Näheres s. u. 2. Kapitel eil. 2.

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Trotz dieser weitergehenden Eingriffs- und Lenkungsbefugnisse der staatlichen Orgene, die alle der Sicherung gleichmäßiger Austauschverhältnisse dienen, sind mindestens zwei Bedingungen ihrer Kontrolle entzogen, die zu den Voraussetzungen der (Re-)Produktion eines großen Reichtumsgefälles gehören: Zum einen bleibt die natürliche Ungleichheit der Menschen, wie sie sich auch über die unterschiedliche familiäre Herkunft ausprägt, im Grundsatz unaufhebbar 32 • Daran ändert auch das für jedermann öffentliche Bildungswesen im Grunde nichts, weil und soweit ihm sowohl die natürliche Konstitution als auch die primäre Erziehung voraus liegen, s. o. 1. Kapitel D. III. Viel gewichtiger aber ist zum zweiten, daß die privatwirtschaftliche Struktur des Systems der Bedürfnisse selbst zu den Gütern gehört, die der Verstandesstaat sichern will (s. o. 1. Kapitel D. I. und 11.). Damit sanktioniert er aber im Prinzipe die Aneignung von Mehrwert dort, wo sich eine Arbeiterschicht herausbildet 33. Aus seinen eigenen Grundsätzen heraus, ist die Wohlfahrtsverwaltung daher nicht in der Lage, der Entstehung von Armut und "Pöbel" entgegenzuwirken. Es bleibt ihr nur die Möglichkeit, sich zur Aufgabe zu machen, derartige Mangellagen zu lindern. Darunter fällt für Hegel nicht nur eine materielle Mindestsicherung, sondern auch Sorge um die geistige Rehabilitierung der Betroffenen, damit sie weder in ihrem Gefühl der Minderwertigkeit (und der Scheu Arbeit anzunehmen) verharren, noch sich das Bewußtsein verfestigt, daß man ungerecht behandelt worden ist. Aber auch bei dieser Aufgabe stößt die Wohlfahrtsverwaltung an die Grenzen ihres Gestaltungsspielraumes: Denn die Behebung der Armut ist nicht kostenlos zu haben und so bedarf es der Finanzierung dieser Tätigkeit. Dabei können zwei verschiedene Wege eingeschlagen werden, die aber beide mit den Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft nicht in Einklang stehen 34 : Wo man den Unterhalt der Armen durch Besteuerung der Reichen aufbringt, verstößt man gegen das eine Grundprinzip und Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft: Die Subsistenz der Bürger soll über ihre eigene Arbeit vermittelt, ein Produkt wechselseitiger Anerkennung sein. Der Prinzipienwiderstreit drängt hier dazu, dem privaten Eigentum den Vorrang einzuräumen zuungunsten von Eingriffen, die dazu dienen, das allgemeine Wohl zu sichern. Folglich stößt eine derartige Beschränkung des Eigentums bei den Reichen auf wenig Gegenliebe; vielmehr fühlen sie sich dafür "bestraft", daß sie innerhalb des Systems der Bedürfnisse eigene Leistungen erbracht haben. Zugleich tut man den Armen nur vordergründig einen Gefallen: Wo ihre eigene Subsistenz nicht in eigener Arbeit gründet, dort hält man sie weiterhin außerhalb des Lebens- und Arbeitszusammenhanges. Dadurch affir32 Rph. § 200, S. 353 f., wo in der Anm, davor gewamt wird, dagegen mit der Programmatik nivellierender Gleichheit vorzugehen. Krit. dazu Riedei, in: Riedei, 1975, S. 123 f. - Zur sozialen Plazierung durch die Familie einschränkend Blasche, in: Riedei, 1975, S. 325 f. 33 Dazu ausführlich Tuschling, Rechtsform, 1976, S. 102 ff. 34 Rph. § 245, S. 390 f.

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

miert man die Neigung zu Arbeitsscheu u. ä. ebenso, wie den Anerkennungsverlust, den sie in den Augen der Anderen erlitten haben. Gibt man ihnen stattdessen Arbeit, so löst sich das Problem auch nicht: Wo sie als Selbständige tätig werden, sind sie der Verdrängung durch andere, bereits etablierte Unternehmen ausgesetzt, was tendenziell wieder dazu führt, daß sie ihren eigenen Betrieb aufgeben müssen. Stellt man sie als Arbeiter an, so reproduzieren sie das Elend, das sie in die Armut getrieben hat: Es werden, um der Gewinnerzielungsabsicht ihres Arbeitgebers willen Produkte erstellt, die zunehmend keine einkommenskräftigen Käufer finden, wodurch sich die bestehende Absatzkrise erneut verschärft. Es zeigt sich hier, daß eine Lösung der gesellschaftlichen Krise über bürokratische Maßnahmen allein nicht möglich ist. Hier offenbart sich, daß eine Bewältigung dieser sozialen Problematik in dieser Weise an der Ohnmacht der Wohlfahrtsverwaltung scheitert. Deshalb setzt Hegel auch auf eine nichtverstandesstaatliche Alternative, die Korporationen, die sich gerade aus der Gesellschaft heraus entwickeln: "Indem nach der Idee die Besonderheit selbst dieses Allgemeine, das in ihren immanenten Interessen ist, zum Zwecke und Gegenstand ihres Willens und ihrer Tätigkeit macht, so kehrt das Sittliche als ein Immanentes in die bürgerliche Gesellschaft zurück; dies macht die Bestimmung der Korporation aus."35 Bevor auf den Gewinn eingegangen wird, den diese Institution erbringen kann, sollen zunächst die Auswirkungen geschildert werden, die die Krise der bürgerlichen Gesellschaft auf das Strafrecht hat. Dazu ist zuvor nötig, sich die Lage der Armen in der bürgerlichen Gesellschaft zu vergegenwärtigen, wie sie sich insbesondere in ihrem Verhältnis zu denjenigen wiederspiegelt, die in den Lebens- und Arbeitszusammenhang des Systems der Bedürfnisse weiterhin integriert sind. 3. Die soziale Desintegration der Armen

Wie schon mehrfach angedeutet, löst sich das konkrete Rechtsverhältnis, wie es die ständisch integrierten Bürger miteinander verbindet, durch das Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß in eine abstraktere Beziehung auf. Hegel hat dies selbst einmal angesprochen: "Darunter, daß der Mensch etwas sein müsse, verstehen wir, daß er einem bestimmten Stande angehöre; denn dies etwas will sagen, daß er alsdann etwas Substantielles ist. Ein Mensch ohne Stand ist eine bloße Privatperson und steht nicht in wirklicher Allgemeinheit." 36 Die Armen und der "Pöbel" werden mithin nicht völlig rechtlos gestellt. Vielmehr bleiben sie als abstrakte Personen weiterhin geachtet. Allerdings fehlt es ihnen an den Vorzügen, die eine konkrete Eingliederung in einen Stand mit 35 Rph. § 249, S. 393. 36 Rph. § 207 Zus., S. 360.

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sich bringt, s. o. S. 1. Kapitel D. I. Es findet bei ihnen mithin ein Regreß in ihren Lebensverhältnissen in bereits überwunden geglaubte Verhältnisse statt, die sich nur noch über die Mechanismen des abstrakten Rechts integrieren lassen, ohne daß eine sittliche Potenz ihnen Rückgrat verleiht! Die Stadien dieses Prozesses sind noch einmal summarisch anzugeben: Am Anfang dieser Entwicklung steht der Fall in die Arbeitslosigkeit. Dadurch ist zugleich der Ausschluß aus dem Stand mitgesetzt, soweit dieser Zustand länger andauert, was unter den Verhältnissen der Krise wahrscheinlich ist. Das naheliegendste Resultat besteht in dem Verlust der Teilhabe an der gemeinschaftlich vermittelten Subsistenzsicherung. Schon diese materielle Ebene kann dazu führen, daß die Erhaltung der Fähigkeiten und Geschicklichkeiten, die zur Eingliederung in einen bestimmten Stand berechtigten, mit der Geschwindigkeit der Innovation im Produktionsprozeß nicht Schritt halten kann. Dadurch verschlechtern sich die Chancen, sich wieder einem Stande anschließen zu können. Dieser Prozeß der materiellen Verelendung kann zwar zum Teil durch die eigene Familie aufgefangen werden. Allerdings bürdet man ihr dann zum einen eine Aufgabe auf, zu der sie nach Hegelschem Verständnis nur bedingt geeignet ist, s. o. 1 Kapitel D. III. Zum anderen ist die Familie in dieser sozialen Rolle selbst der Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft ausgesetzt, wodurch die einzelnen Glieder sich gegeneinander entfremden und nur noch als abstrakte Personen miteinander verkehren. Die Folge ist, daß die Familie zwar als sittliches Intimverhältnis bestehen bleibt, den Prozeß der Verarmung allerdings nicht aufheben kann. Der Mangel an eigenem Vermögen wirkt sich unmittelbar auch auf die geistigen Potenzen des Betroffenen aus: Es wird ihm schwieriger, an derartigen Leistungen der gesellschaftlichen Interaktion zu partizipieren 37. Mit dem Ausschluß aus dem Lebens- und Arbeitszusammenhalt ist noch ein weiterer geistiger Verlust verbunden. Weil sich die ökonomische Teilhabe über beständige Tauschvorgänge vermittelt, die jedesmal zu wechselseitiger Anerkennung zwingen, geht mit dem Fall in die Arbeitslosigkeit auch ein rapider Schwund sonst garantierter und eingelebter Anerkennung einher. Lebte man vorher in der Sicherheit einer konkreten Standesehre, so reduziert sich jetzt die Achtung, die man erhält, auf die der anonymen Personalität. Zudem löst die über die Eingliederung bewirkte Habitualisierung gegenseitiger Achtung sich auf in punktuelle Kontakte ohne institutionelle Beständigkeit, wie sie sich zufallig in alltäglichen Geschäften herstellt. Dabei verstärken das Gefühl des Verlassenseins auf Seiten des Arbeitslosen und die Abneigung vor der sich entwickelnden Scheu zu arbeiten auf Seiten des Integrierten im Wechselspiel diese Tendenz des Geltungsverlustes für den Ersteren 38. 37 Dazu Rph. § 241, S. 388. Hegel nennt Gesundheit, Bildung, Rechtsrat, Religion als Beispiele. 38 Die Familie als intimer Nahbeziehung ermöglicht es aber immerhin, sich dem sonst allseitigen Achtungsverlust zu entziehen, vgl. Blasche, in: Riedei, 1975, S. 327.

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

Schließlich führt der Ausschluß aus dem Produktionsprozeß des Systems der Bedürfnisse auch zu einer Entwöhnung von den allgemein akzeptierten Handlungsweisen. Die mangelnde Fortbildung im Bereich des technischen Wissens und beruflichen Fertigkeiten wurde ja schon dargestellt. Gleiches gilt auch für die eben geschilderte Gewohnheit, im Arbeits- und Tauschprozeß den anderen stetig anzuerkennen. Darüber vermittelt sich aber noch ein Drittes, was für die Problematik des Strafrechts von größter Bedeutung ist: Die tägliche Zusammenarbeit mit anderen übt zugleich auch unmittelbar in Rechtsgehorsam ein, der unreflektiert und über institutionelle Bindungen gesichert die rechte Form im Geben und Nehmen trifft, s. o. 1. Kapitel D. IL 1. Gegen die so erworbene Schwerkraft des eigenen Rechtsbewußtseins hat es die räsonierende Willkür dann schwerer, eine Unrechtsmaxime handlungsleitend durchzusetzen. Wo eine solche Teilhabe am Arbeits- und Lebensprozeß der bürgerlichen Gesellschaft fehlt, dort verkümmert auch die einmal erworbene rechtschaffene Haltung. Das bedeutet nicht, daß dem Betroffenen das Wissen von Recht und Unrecht abhandenkommt; dieses reduziert sich aber auf eine praktische Einsicht, die ohne Unterstützung eines eingefleischten geistigen Mechanismus wirken muß. Gegen eine derart abstrakte Kenntnis des Guten und Richtigen ist es viel leichter, eine Unrechtsmaxime praktisch in Geltung zu setzen. Folglich findet auch hinsichtlich des haltungsmäßig verfestigten Rechtsbewußtseins eine Entwöhnung statt. Dabei spielt das Gefühl, von der Gesellschaft als einer Entwicklungform des verfaßten Allgemeinwillens allein gelassen zu sein, eine erhebliche Rolle. Hegel konstatiert auch, daß das Gefühl, entrechtet zu sein, unter den Armen eine Gesinnung hervorbringt, in der sie die Mängel ihrer Lage allein den Anderen oder dem System anlasten, woraus Arbeitsscheu und Bösartigkeit erwachsen. Die desolate Lage des Arbeitslosen stellt dabei nur die Extremposition der Verelendung dar, die in der krisengeschüttelten Gesellschaft vorkommt. Gemessen an den Integrationskräften der ständisch integrierten Gemeinschaft fällt aber bereits die Arbeiterschicht aus dem System der Bedürfnisse heraus. Dabei wird im jetztigen Zusammenhang noch ein gesellschaftlicher Zustand geschildert, in dem von den Möglichkeiten, Chancen und Problemen der Korporation für die Aufhebung der Not abgesehen wird. Das bedeutet aber, daß auch die Arbeiter hier zunächst typisierend als (gewerkschaftlich) nicht-organisierte Subjekte verstanden werden. An dieser Stelle prägt sich das im folgenden zu analysierende Grundproblem am schärfsten aus. Es soll vorher nur kurz darauf hingewiesen werden, daß unter Einbezug der reintegrierenden Kräfte der Korporation (und des substantiellen Staates) sich diese Frage in einer anderen Perspektive stellt, s. u. Schlußkapitel. Schon mit dem Verlust eines selbständigen Gewerbes paßt der Einzelne nicht mehr in die ständische Gliederung hinein. Es kommt hinzu, daß der Arbeiter, weil er auf die Veräußerung seiner Arbeit angewiesen ist, die eigene Naturbeherrschung quasi im fremden Namen ausführt. Dem korrespondiert, daß er am von

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ihm mitproduzierten Überfluß nicht partizipiert. Er kann somit seine äußere Daseinssphäre nicht in gleicher Weise erweitern, wie es bei einem Selbständigen der Fall ist. Schließlich bringt es die zunehmendere Mechanisierung der Arbeitsabläufe mit sich, daß die einzelnen Tätigkeiten immer einfacher und geistig abstumpfender werden 39. Auch das mindert ihren Wert in den Augen der Selbständigen - sowohl was ihre ökonomische Größe betrifft als auch was ihre moralische Qualität angeht. Denn nach der äußerlichen Gegenständlichkeit sieht es ja so aus, als ob sich die Fähigkeiten des Arbeiters auf die Reproduktion seines status quo beschränken, während auf der anderen Seite der Arbeitgeber dem Schein erliegt, daß die von ihm erzielten Zuwächse allein seinem Vermögen zuzuschreiben sind. Liegt bei einem Arbeiter zwar noch kein vollständiger Ausschluß aus dem System der Bedürfnisse vor, so modifiziert sich aber dennoch der Gehalt der wechselseitigen Anerkennungsleistungen: Er wird nur geachtet als Eigentümer (seiner Arbeitskraft), nicht aber als Inhaber eines bestimmten Gewerbebetriebes o. ä., als selbständiges Mitglied eines Standes. Die ihm gezollte Achtung reduziert sich also auch hier auf eine solche, die in einem abstrakten Rechtsverhältnis üblich ist. Im Unterschied zum Arbeitslosen behält der Arbeiter jedoch die Vorteile beständiger Teilhabe am Arbeits- und Lebensprozeß der bürgerlichen Gesellschaft, wodurch er noch Adressat habitualisierter Anerkennungsleistungen (wenn auch abstrakteren Gehaltes) bleibt, wie er noch in die bewußtseinsbildende Macht der gesamtgesellschaftlichen Interaktion eingebunden ist. Allerdings wandelt sich diese Teilhabe an den geistigen Bildungspotenzen der bürgerlichen Gesellschaft ebenfalls. Die wachsende Mechanisierung führt zur steigenden Zersplitterung des gesamten Arbeitsprozesses in einzelne Zwischenschritte. Die vom Arbeiter zu leistende Tätigkeit nimmt so ebenfalls den Charakter der Vereinzelung an. Seine theoretische und praktische Bildung beschränkt sich nun auf einen partikulären Bereich und ist gekennzeichnet von repetitiven, monotonen Arbeitsakten. Die Macht der Gewohnheit wirkt hier nicht bewußtseinserweiternd, sondern isoliert eine abstrakte Seite an einem technischen Vorgang, dessen Vornahme sich dann durch Wiederholung vereinfacht. Nimmt man noch hinzu, daß diese Automatisierung der täglichen Arbeit dem Angestellten durch Organisations akte des Unternehmers vorgeschrieben werden, so schwindet in weiten Bereichen der alltäglichen Lebenspraxis für den Arbeiter die Möglichkeit, sein Tun als Akt der moralischen Selbstbestimmung seines eigenen subjektiven Willens zu betrachten. Neben der inhaltlichen Beschränkung der Verwirklichung des eigenen Wohles auf die Reproduktion des eigenen Daseins kommt hier noch dazu, daß sich der Betroffene in dieser äußerlichen Routine nicht mehr wiederfinden kann. Sein besonderer Wille hat hier also noch einen Grund mehr, sich gegen diese Zwänge zu wehren, s. o. 1. Kapitel D. 11. 3. b). 39 Rph. § 198, S. 352 f. SdS, S.94, spricht gar von Verrohung durch Fabrikarbeit! Dazu ausführlich Göhler, Dialektik und Politik, 1974, S. 536 ff.

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

Die rohe Mechanisierung aller Lebensbereiche beim Arbeiter zeitigt aber noch eine andere Konsequenz 40: Dem Fabrikantenstand ist es über den Ankauf von Arbeit möglich, selbst nicht mehr physisch tätig sein zu müssen. Die Segnungen des technischen Fortschritts erlauben ihm, sich in Beruf und Freizeit immer vergeistigteren Aufgaben zu widmen: Er handelt Verträge aus, entwirft neue Geräte oder organisiert den Betrieb um etc. Seine Lebensform gestattet es ihm weitgehend, auch die Freiheitsansprüche seiner Subjektivität zu realisieren 41 • Die Erfahrung einer unmittelbaren Einheit von rechtschaffenem Handeln und eigener Bedürfnisbefriedigung wird sich hier am ehesten zu einer überzeugenden Gewohnheit verfestigen 42 • Anders sieht die Lage des Arbeiters aus. Er wird an immer primitivere Arbeitsmuster gebunden, ohne das sie von seinem subjektiven Willen mitbestimmt sind. Seine Lebenspraxis verliert sich immer mehr im Vereinzelten, im Kampf mit der Physis. Folglich dient auch seine Freizeit vornehmlich der einfachen natürlichen Erholung von solchen Tätigkeiten. Eine Hinwendung zu geistigen Aufgaben ist beruflich und sonst kaum möglich. So nimmt auch das Erlernen einer unmittelbaren Einheit zwischen subjektiver Interessenverfolgung und rechtschaffenem Gesinnungswandel für den Arbeiter keine überzeugende, d.i. unmittelbar erlebbare Form an. Vielmehr läßt sich dieser Zusammenhang bei ihm - wenn überhaupt - nur über mehr oder minder praxisferne Reflexion erfassen, der dann nicht von vornherein eine unmittelbar handlungsleitende Kraft zukommt. Tendenziell wird daher der Sinn für einen rechtschaffenden Lebenswandel innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft sich nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit zu einer Haltung verfestigen. So kommt Hegel zu dem traurigen Resultat 42a : Das ". . . absolute Band des Volks, das Sittliche, ist verschwunden, und das Volk aufgelöst. " Als Resümee läßt sich festhalten: Die materielle Lage derjenigen, die von der ständischen Integration ausgeschlossen werden, färbt auch auf ihren Bewußtseinsstand ab: Die fehlende oder mangelhafte Teilhabe an der sonst üblichen gesellschaftlichen Interaktion lockert die praktische Geltungskraft des in dieser Gesellschaft gültigen, gesetzten Rechts im individuellen Bewußtsein der Betroffenen auf: Es hat nicht mehr das Schwergewicht einer eingewohnten Haltung, sondern reduziert sich auf ein abstraktes, reflexiv erfaßtes Wissen, demgegenüber es sophistische Vorspiegelungen des eigenen besonderen Willens weniger schwer haben. Als so geartete gesellschaftliche Realität hat die Lage der nicht Integrierten auch Auswirkungen auf die Existenzform des Verbrechens 43. 40 Die folgenden Ausführungen gelten als Paraphrase von SdS, S. 94. Vgl. dazu w. Göhler, Dialektik und Politik, 1974, S. 539 f. 41 Gleichzeitig besteht natürlich auch hier die Gefahr, zum Knecht seiner Gewinnsucht zu werden, vgl. SdS, S. 94, oder sich gänzlich unproduktiv und schmarotzerisch zu gerieren, s. Rph. §§ 185, 195, S. 341, 350 f. 42 Vgl. JR, S. 272 f. zur Charakterisierung des Geschäftsmannes. 42a SdS, S. 94.

IV. Folgen der Krise der Gesellschaft

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4. Folgen tür die Verbrechenslehre

Die Aufspaltung eines Volkes in einen Teil, der in einer ständisch organisierten Gemeinschaft lebt, und einen anderen Teil, der sich dort nicht wiederfinden kann, führt eine verschiedenartige Strukturierung der je eingegangenen intersubjektiven Beziehungen herbei. Unter denjenigen, denen die Zuordnung zu einem Stand erhalten bleibt, erhält sich das konkrete Rechtsverhältnis, wie es oben geschildert worden ist. Dagegen regredieren ihre Verhältnisse zu der anderen Klasse (bzw. die Beziehungen ihrer Mitglieder untereinander) auf eine abstraktere Stufe: Sie bleiben weiterhin als Eigentümer und Personen geachtet, es mangelt ihnen aber an der konkreten Anerkennung im Stand. Zudem fehlt es in den Beziehungen untereinander an der Herstellung einer allgemeinen Handlungsweise, in der sich eine unmittelbare Einheit zwischen Rechtsförmigkeit und eigenen Interessen abbildet. Kurz, ihre Rechtsverhältnisse, ihr Dasein der Freiheit, ist gekennzeichnet von der Punktualität und Zufälligkeit des abstrakten Rechts, sowie der institutionell nicht gestützten moralischen Integrität der jeweiligen Interaktionspartner. Die gesellschaftliche Totalität weist so ein Gefalle an Vernunftwirklichkeit auf: Auf der einen Seite diejenigen, die in stabilen Verhältnissen leben, die ihnen ein relativ festes Rechtsbewußtsein vermitteln; auf der anderen Seite diejenigen, die mit den abstrakten Daseinsformen des formellen Rechts vorlieb nehmen müssen, in denen der Erwerb einer vortrefflichen Haltung von der Subjektivität der Einzelnen allein abhängt. Auch hier liegt also - nun im Verhältnis Bürger zu Bürger - eine asymmetrische Beziehung vor 44 • Dieser partielle Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft in niedere Formen der Freiheitsrealisation bringt einen partiellen Verlust der Vorteile mit sich, den die allgemeine Milderungstendenz der Verbrechensbedeutung für die einzelnen Bürger bedeutete, s. o. 1. Kapitel D. 11. 3. b) aa). Dies ist nun im einzelnen auszuführen. a) Wandel im Erfolgsunwert Durch die ökonomische Krise der bürgerlichen Gesellschaft verliert die Funktion des Privateigentums, zur Teilhabe am Produktionsprozeß befähigt zu sein, an Bedeutung. Dies liegt daran, daß gerade die sich über den wechselseitigen Tausch vermittelnde, gegenseitige Bedürfnisbefriedigung in Schwierigkeiten geraten ist. Bestimmte Güter sind jetzt nicht mehr erhältlich, weil ihre Produktion keinen Gewinn mehr verspricht usw. Zudem ist nicht jeder Schuldner ohne weiteres noch zahlungsfähig, da seine Erwerbsquellen auch unter der allgemeinen Not leiden. Durch all dies bekommt die ursprüngliche Rolle des privaten Eigentums, einen konkreten Bestand an Sachgütern rechtlich zu garantieren, wieder Vgl. Rph. § 218 Anm., S. 372, was hier kritisch aufzunehmen ist. Anders s. o. 1. Kapitel D. II. 2., wo es um eine asymmetrische Beziehung zwischen Bürger und Staatsorgan ging. 43

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

eine Bedeutung. Die einzelnen Bürger sind wieder angewiesen auf das, was sie unmittelbar haben. Eine an sich austauschbare Sache ist mangels Markt nicht mehr hinreichend ersetzbar. Damit verliert auch die oben eingeführte Differenzierung der Rechtsgüterverletzungen nach ihrer Schwere, je nachdem, ob sie notwendige Teilhabevoraussetzung ist oder nicht, ihren Sinn. Vielmehr trifft es das Opfer beidesmale gleich schwer. Eine Herabsetzung der Verbrechenswichtigkeit aufgrund milderer Beurteilung des eingetretenen Erfolgsunwerts ist nicht mehr möglich. Auch die Geltungsstabilität des allgemeinen Willens des unmittelbaren Opfers leidet unter dem desolaten Zustand der bürgerlichen Gesellschaft. Anders als in der allgemein ständisch integrierten Gemeinschaft ist die Habitualität von Anerkennungsleistungen nicht mehr selbstverständlich vorauszusetzende allgemeine Handlungsweise. Sie findet sich nur noch im Verhältnis der ständisch Integrierten zueinander 45 • Sowohl in den Beziehungen der Armen bzw. der Arbeiter zueinander als auch in ihren Verhältnissen zu den Integrierten lockert sich diese Haltung zur Rechtschaffenheit merklich auf. Insbesondere wenn das Opfer aus ihren Kreisen kommt, so fehlt es ihm häufig an der Breite des Haltes in anderen stabilen Anerkennungsbeziehungen. Aber auch der Integrierte kann eine solche Disposition nicht mehr in allen seinen Interaktionspartnern voraussetzen. Kurz, jedem Opfer einer Straftat mangelt es mehr oder minder an einem festen Dasein seiner Personalität im Bewußtsein Anderer. Es kann demnach den Anerkennungsverlust im Verhältnis zum Täter nicht mehr so leicht zu einer Randerscheinung herabsetzen. Diese Problematik verschärft sich noch dadurch, daß wegen der Auflockerung der subjektiven sittlichen Konstitution in vielen Mitbürgern die Unrechtsmaxime von Dritten eher als Verhaltensalternative akzeptiert wird. Wie im Mikrokosmos des einzelnen Rechtsverhältnisses so wandelt sich auch die Stabilitat der Geltung des institutionalisierten allgemeinen Willens. Das konstatiert Hegel selbst, wenn er auch diesen Fall auf den Beginn eines Vergesellschaftungsvorganges beschränkt: "Ist die Gesellschaft noch an sich wankend, dann müssen durch Strafen Exempel statuiert werden, denn die Strafe ist selbst ein Exempel gegen das Exempel des Verbrechens."46 Der Geltungsschein der Unrechtsmaxime, der vorher nicht nur vom festen Rechtsbewußtsein des Opfers sondern auch von dem Dritter absorbiert wurde (s. o. 1. Kapitel D. 11. 3. a), entfaltet nun eine größere Wirkung. Das Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit gewohnheitlicher Rechtsbefolgung ist insoweit geschwächt, wie weite Kreise der Bevölkerung nicht mehr an der habitualisierenden 45 Aber auch hier nagt natürlich Gewinnsucht und Konkurrenz im Inneren eingelebter Gewohnheiten. 46 So Rph. § 218 Zus., S. 373. Nachsehr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 549. Näheres s. u. 2. Kapitel C. I. 1. und 2. Im Übrigen offenbart sich im Rph. § 218 bei Hegel eine Tendenz, die Schwierigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft zu verklären, weil sie auf ein Gründungsproblem reduziert werden, die Auflösungsdynamik, was den Bereich staatlichen Strafens u. ä. angeht, aber unterbewertet wird, s. u. 2. Kapitel C. III.

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Kraft des Arbeits- und Lebenszusammenhanges der bürgerlichen Gesellschaft teilnehmen können. Wie beim konkreten Opfer, so fühlt sich jetzt auch das allgemeine Rechtsbewußtsein in höherem Grade gefährdet, weil allen nun die Sicherheit eines eingelebten unmittelbaren Rechtsgehorsams fehlt. Auch hier ist es so, daß die Armen und die Arbeiter darunter schwerer zu leiden haben als eine ständisch integrierte Person. Aber letztere spürt die wachsende Normgeltungsunsicherheit ebenfalls, weil sie ja im steten Kontakt zu ersteren steht. Auch hier verschärft sich diese Problematik dadurch, daß aufgrund der sich verbreiternden Schwäche in der subjektiven sittlichen Konstitution der Einzelnen gleichzeitig der Anteil derjenigen wächst, die dem Geltungsschein der Unrechtsmaxime erliegen und sie als Verhaltensalternative annehmen. Die Gewichtigkeit, die einem Rechtsgut in den Augen der Öffentlichkeit zukommt, bestimmt auch jetzt weiterhin den Grad des allgemeinen Nonngeltungsvertrauens. Nur kommt jetzt hinzu, daß der Kreis der Rechtsgüter, die allgemein als unverzichtbar und unersetzbar angesehen werden, sich aufgrund der krisenhaften Entwicklung erweitert. Dabei kann es sein, daß für das unmittelbare Opfer selbst die erlittene Verletzung eine zu vernachlässigende Größe darstellt, nicht aber für die Allgemeinheit. Zum einen kann dies an seinem Reichtum liegen, zum anderen an der individuellen Festigkeit seiner sittlichen Konstitution. Stellt seine Lage aber eine atypischen Sonderfall dar, so wird sich das verletzte Allgemeine dennoch gefährdet fühlen, soweit für die übrigen Bürger eine derartige Rechtsgüterverletzung im Durchschnitt eine schwerere Beeinträchtigung darstellt, sei es daß der Vermögensstand im Allgemeinen geringer ist, sei es daß die subjektive sittliche Konstitution der Einzelnen im Schnitt schwächer ausgebildet ist. Die Auflockerung eingefleischter Sitten in weiten Kreisen der bürgerlichen Gesellschaft führt des weiteren dazu, daß diejenigen institutionell-habituellen Sicherungen mehr und mehr verfallen, die Verbrechen zu einer gesellschaftlichen Randerscheinung werden ließen. So wird ein Zustand wahrscheinlich, in dem ein beständiges Budget an Kriminalität besteht und durch noch so intensive Strafverfolgung nicht recht beseitigt werden kann 47. In allen diesen Deliktsklassen werden so zum einen Rekriminalisierungen notwendig und zum anderen wird im Einzelfall eine tendenziell höhere Einschätzung der Unrechts schwere erforderlich. Schließlich wird in einem solchen Klima auch das Durchhalten einer einmal gesetzten Unrechtsmaxime einfacher, woraus sich eine gesteigerte Anzahl an Rückfallkrimimalität entwickeln kann, deren Serienverbrechen ebenfalls den be47 Zu diesem Budget z. B. die Bundesrepublik Deutschland, in der jährlich 7 Mio. Straftaten amtlich registriert werden, Kaiser, Art. Kriminalität, in: Kaiser et. al., KKW, 1985, S.205. Damit soll allerdings nicht behauptet werden, daß dieses Budget eine stabile Größe ist, s. dazu Sack, Art. Dunkelfeld, in: Kaiser et. al., KKW, 1985, S. 80, über das fragwürdige Gesetz der konstanten Verhältnisse des belgischen Kriminologen Quetelet.

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

reits bestehenden Geltungsschein der Unrechtsmaxime genauso erhöhen, wie sie die Stabilität eines eingelebten Rechtsgeltungsgehorsams vermindern. b) Wandel im Handlungsunwert An den allgemeinen, formellen Merkmalen des Handlungsunwertes treten keine Veränderungen auf: Das Verbrechen muß auch weiterhin als Akt eines Freien verstehbar sein, wie er in der Einheit aller Zurechnungselemente am Ende der Moralität Gestalt angenommen hat. Hinzukommt des weiteren auch der Nachweis, daß auch das spezifisch strafwürdige Unrecht, der Bruch eines positiven Gesetzes, damit eine Gefährdung des allgemeinen Rechtsgeltungsbewußtseins zu sein, von subjektiven Urteilsvollzügen mitgesetzt sind. Schließlich bleibt es auch dabei, daß der spezifische Unwert des Verbrechens in der Fixierung der Einzelheit besteht, die sich sowohl gegen die Verallgemeinerungstendenz der Unrechtsmaxime auf sein eigenes Dasein wehrt als auch gegen das affirmative Resultat, den Mangel in der Realisierung des Wohles als institutionelle Aufgabe ins öffentliche Bewußtsein zu heben. Anders liegt es mit der inhaltlichen Seite der Negativität, die dem negativ unendlichen Urteil des Verbrechens inhäriert: Je nach dem Grad der Eingliederung in den ständisch organisierten Arbeitsund Lebenszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft liegt auch eine unterschiedliche Intensität der Gewöhnung an eine eingebürgerte Form unmittelbaren Rechtsgehorsams vor: Derjenige, welcher weiterhin in dieses System vollständig integriert ist, wird auch künftig eine starke subjektive sittliche Konstitution aufweisen, wogegen eine situationsbezogen gebildete Unrechtsmaxime ihren Geltungsschein nur partikulär entfalten kann, s. o. 1. Kapitel D. 11. 3. a). Anders sieht es dagegen bei denjenigen aus, die diesem Zusammenhang ständischer Eingliederung nicht mehr angehören: Hier lockert sich das eingelebte Bewußtsein von der Geltung der Gesetze zu einer nicht mehr unmittelbar erlebten, sondern nur reflexiv - theoretisch erfaßbaren Einheit auf, der nicht mehr von vornherein die Schwerkraft eines geistigen Mechanismus zukommt. Im Zustand der Verarmung kann dies sogar zur völligen Auflösung sittlicher Bindungen sowohl innen wie außen führen. Dadurch kann das Subjekt dem Geltungsschein einer Unrechtsmaxime keinen Widerstand entgegensetzen, der sich aus einer erworbenen Haltung speisen läßt. Das Risiko, daß die einmal angenommene Unrechtsmaxime sich in weiteren Taten verfestigt, ist hier also ungleich größer. Dabei kommt hinzu, daß auch das persönliche Umfeld des Täters wegen seiner ebenfalls schwachen subjektiven sittlichen Konstitution dem in die Realität gesetzten Geltungsschein eher erliegen und mithin von außen den Betroffenen in seinem Tun bestätigen kann. Dabei kann man zwei Formen unterscheiden, wie sich die äußere Lage auf die innere Einstellung der Betreffenden auswirken kann:

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Zunächst einmal kann der Verlust der äußeren Bindungen, die sonst in Familie und Arbeitsverhältnis gründeten, einen Zustand der Haltlosigkeit erzeugen. In ihm hängt es vom Zufall ab, ob sich der Betreffende legal verhält oder nicht, bzw. auf seiner Unrechtsmaxime beharrt oder zur Einsicht gelangt, daß ihr ein Mangel anhaftet 48 • Dem korrespondiert häufig eine Unfähigkeit, sich aus eigenen Kräften aus einer solchen Lage befreien zu wollen. Anders als in den oben beschriebenen Fällen beruht diese Haltlosigkeit nun aber nicht mehr (allein) auf einer vom subjektiven Willen des Täters autonom gesetzten Entwöhnungsprozesses. Vielmehr sind die Bedingungen, die zu dieser Haltlosigkeit führen, was die äußeren Umstände betrifft, durch die krisenhafte Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft diktiert. Ohne die externe Stabilisierung im Arbeits- und Lebenszusammenhang der ständisch integrierten Gemeinschaft fällt es nun allein in die Subjektivität des Betroffenen, dem Verlust des inneren Haltes durch Handlungen entgegenzuwirken, die den schwindenden Charakter der Rechtschaffenheit festigen 49 • Es gilt dabei zu bedenken, daß dem Betroffenen dafür innerhalb einer desorganisierten Gesellschaft weitgehend das objektive Handlungsumfeld fehlen wird, weil seine Arbeit eben nicht gefragt ist oder seine Familie unter der Last der widrigen Umstände zerbricht etc. Dennoch führt dies nicht dazu, daß sich aus diesem Grund der Handlungsunwert seiner Straftat mindert. Dies liegt einmal daran, daß der Eindruck, den die von ihm in Kraft gesetzte Unrechtsmaxime auf seine schwache sittliche Konstitution ausübt, nun einmal größer ist als bei demjenigen, der innerhalb gelungener sittlicher Verhältnisse lebt. Zum anderen agiert der Betreffende, wenn seine Handlung zurechenbar sein soll, ja gerade in dem Bewußtsein dieser seiner eigenen Labilität, nimmt also in seinen Willen auf, daß der situationsbezogen gebildeten Unrechtsmaxime in ihm keine Gewohnheit der Rechtschaffenheit quasi automatisch entgegenarbeitet. Weil aus diesen Gründen das konkrete Rechtsverhältnis weder objektiv noch subjektiv in seinem Lebensumkreis eine Realität gewonnen hat, vielmehr das Dasein der Freiheit sich bei ihm auf ein abstraktes Rechtsverhältnis reduziert, deshalb kann das Verbrechen nicht dieselbe, relativ unbedeutende Existenzform annehmen, die es innerhalb gelungener sittlicher Bezüge erhält. Man sieht, daß das Unheil einer desolaten materiellen Lage sich nicht nur in denjenigen Formen auf das geistige Leben der Betroffenen auswirkt, die Hegel angesprochen hat. Darüberhinaus bewirkt sie noch einen Rückschritt bezüglich der geistigen Teilhabe der Betroffenen an der an sich schon vorhandenen Realisierung der Vernunft in sittlich vortrefflichen Objektivationen. Diesem partiellen Verfall an Vernunftwirklichkeit in einem Teil der 48 Vgl. dazu Rph. § 244 Zus., S. 389 f., wo vom "Pöbel" gesagt wird, daß ihm Menschen angehören, die auf die Zufälligkeit angewiesen seien, wodurch in ihnen das Böse entstehen könne. 49 Zur Problematik dieser Zurechnungsform, die hier besonders hervorsticht, s. o. 1. Kapitel C. H. 2. b) bb) ccc).

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

Bevölkerung entspricht eine Regression in dem Vernunftfortschritt, der eine mildere Betrachtung des Verbrechens erlaubte. Stattdessen steigt seine Bedeutung wieder auf das Niveau, das es im abstrakten Recht hatte 50 • Des weiteren kann der Betroffene sich über den Zustand der Haltlosigkeit hinaus seine Randseiterexistenz als positives Selbstbild aufbauen. Damit ist der Prozeß gemeint, den Hegel vor Augen haben muß, wenn er von der Entstehung einer "Gesinnung der Bösartigkeit" spricht. Diese Haltung ist nun dadurch gekennzeichnet, daß der Betreffende sich den Sitten der ständisch integrierten Gesellschaft nicht nur entwöhnt, sondern darüber hinaus einen Hang zu beständigem, von diesen Sitten abweichenden Verhalten entwickelt. Dies muß nicht automatisch zu einer kriminellen Karriere führen. Vielmehr kann sich seine Nonkonformität allein darin äußern, daß er - im Gegensatz zum Grundprinzip der bürgerlichen Gesellschaft sowie dem gleichlautenden Selbstverständnis ihrer Mitglieder - nicht nur nicht mehr arbeiten kann, sondern auch nicht mehr arbeiten will. Zugleich spricht er dabei aber als eigenes Recht an, daß ihm seine Subsistenz vermittels des Vermögens Dritter gesichert werde. Schon diese Einstellung beruht allerdings ebenfalls auf Bedingungen, die ihm durch die Krise aufgezwungen worden sind. Gerade weil der Betreffende seine äußere Lage als Produkt des Systems der Bedürfnisse, also als Akt des sich in der Vielheit der Handlungen der Bürger manifestierenden objektiven Geistes versteht, spricht er diesen Zustand nicht als naturgegeben an, sondern als Unrecht 51 • Als Reflexwirkung darauf kann er dazu gelangen, dagegen seine Einzelheit als Recht zu behaupten. Mit dieser Entscheidung begibt er sich dann auf die Bahn, die ihn zur Gesinnung der Bösartigkeit treiben kann. Begünstigt wird ein solcher Weg durch das desolate Umfeld, in dem der Betreffende lebt. Nicht nur, daß äußere sittliche Bindungen verfallen; des weiteren erhöht sich hier die Gefahr, daß andere ihn in seiner Einstellung bestärken, weil sie aus einer ähnlichen Lage heraus argumentieren. Solche Kreise bieten dann ein nahezu ideales Terrain, in dem sich unsittliche Maximen intersubjektiv in Geltung halten können. Von außen wird dem Betroffenen die eigene schlechte Haltung als scheinbar allgemeine Handlungsweise zurückgespiegelt. Die depravierten Zustände stabilisieren jetzt sogar den sich herausbildenden schädlichen Hang. Hier ist es dann nur eine Frage der Radikalitat und Konsequenz im Verhalten, ob eine solche Disposition in den illegalen Bereich umschlägt 52. Ferner gilt, daß 50 Zur Möglichkeit eines regressiven Effekts der gesellschaftlichen Dialektik bei Hegel gut Kriele, HegelJb 1968/1969, S. 267. 51 Anonyme Nachsehr., in: Henrich, S. 195 f. Vgl. die Einleitung von Henrich dazu, S. 20. Insbes. die Subkulturtheorie hat auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht, vgl. nur die bahnbrechenden Arbeiten von Cohen, Delinquent Boys, 1955, S. 49 ff. und Whyte, Street Corner Society, 1967, S. 94 ff., 255 ff. Im Hinblick auf seine Prämissen besonders interessant Matza, Delinquency and Drift, 1964, S. 1 ff., 33 ff., 181 ff.

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sich der Handlungsunwert der Tat - trotz der von außen diktierten Umstände - nicht mindert. Vielmehr liegt es hier gerade so, daß wegen der Verstrickung in übler Gesellschaft die in Geltung gesetzte Unrechtsmaxime eine noch intensivere Wirkung entfaltet, weil sie den entstehenden Hang um ein weiteres festigt. Anders als beim Haltlosen handelt der Betroffene nun zwar allenfalls am Beginn seiner kriminellen Karriere im Bewußtsein seiner inneren Labilität. Mit fortschreitender Einbindung in die Unterwelt schwindet das praktische Wissen, für den Geltungsschein einer Unrechtsmaxime in besonderem Maße anfällig zu sein. Stattdessen nimmt diese jetzt die Gestalt und scheinbare Dignität einer allgemein akzeptierten Übung an, zumindest was den Bereich des unmittelbaren Umfeldes des Betroffenen angeht. Für die Zurechnung von unrechten Taten, die aus einer solchen Lebensweise hervorgehen, bedarf es demnach des Nachweises, daß die Entscheidung für eine derartige Laufbahn von dem Bewußtsein getragen ist, daß die einmal gewählte Unrechtsmaxime über den Einzelfall hinaus die ganze Lebenspraxis bestimmt. Die Einzelheiten wurden bereits oben geschildert. Auch hier führt der Wegfall sittlicher Bindungen nicht dazu, aus diesem Grund allein die Taten und die kriminelle Karriere des Betroffenen zu entschuldigen. Stattdessen setzt sich hier die Reduktion des konkreten Rechtsverhältnisses auf ein abstraktes fort. Die jetzigen desolaten Existenzbedingungen führen mithin nicht per se dazu, dem Betroffenen den Status eines Freien zu rauben, auch wenn in Extremsituationen es dazu kommen kann. Solange er noch als Eigentümer (seiner Arbeitskraft) anerkannt wird und seine Subjektivität in der Lage ist, das darin bereits entfaltete Dasein der Freiheit reflexiv in seinem praktischen Wissen zu erfassen, geht man fehl, ihn als unzurechnungsfähig zu bezeichnen. Danach bleibt sein moralisches Wesen prinzipiell intakt, weswegen die Imputation einer freien Entscheidung zu gewohnheitlicher Delinquenz nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Soweit daher die Bedeutung dieser Entscheidung in ihrem Umfang vom subjektiven Willen des Täters nachvollzogen wird, bleibt sie genauso zurechenbar wie der gleiche Akt desjenigen, der sie noch innerhalb sittlich gelungener Formationen trifft. Sicherlich wird bei diesem seine subjektive sittliche Konstitution und seine objektive Einbindung es unwahrscheinlich machen, ob er überhaupt sich zu einem solchen Weg entschließt, wie es für ihn sicherlich auch schwieriger ist, diese Laufbahn konsequent durchzuhalten. Das begründet aber prinzipiell keine mildere Beurteilung desjenigen, der gleich ihm in depravierten Zuständen handelt. Eher ist es umgekehrt: Solange bei demjenigen Täter, der sittlich sozialisiert ist, noch Reste seiner eingeübten Haltung vorhanden sind, bzw. seine äußeren institutionellen Stützen noch nicht völlig eingestürzt sind, erlauben sie es in der Regel, seinen 52 Hierher gehören auch die Fälle neurotischer Persönlichkeitsveränderung und des Rauschmittelabusus, die andere Formen abweichenden, jedoch nicht notwendig kriminellen Verhaltens darstellen können, s. o. 1. Kapitel D. III. 2.

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Handlungsunwert geringer zu taxieren. Auch hier ist es mithin so, daß der von sozialer Desintegration Betroffene nicht über das im abstrakten Recht mögliche Maß hinaus geahndet wird. Sondern die relativ schärfere Bestrafung im Verhältnis zu demjenigen, der sich noch (rudimentär) innerhalb sittlich gelungener Beziehungen bewegt, ergibt sich daraus, daß ersterer an der dort allein möglichen strafrechtlichen Milderungstendenz nicht mehr teilnimmt. Würde man konkrete sittliche Maßstäbe zugrunde legen, so müßte man diese spezifische Form der Ungleichbehandlung, die unterhalb des abstrakt - rechtlich erlaubten Maßes einreißt, verurteilen. Innerhalb der sich in der Krise befindenden bürgerlichen Gesellschaft sind aber diese Maßstäbe partiell unanwendbar geworden, eben weil das sittliche Band des Volkes aufgelöst ist. Sie setzen eine Daseinsform der Vernunft voraus, in der sich die Gemeinschaft allgemein ständisch integrieren läßt, s. o. 1. Kapitel D. 11. 3. b). Verschlechtert sich die Existenzform, welche die Freiheit eingenommen hat, so vergröbern sich zugleich auch die Maßstäbe, mit denen die Schwere des Verbrechens festgestellt wird. Wo diese Regression der Vernunftrealität systemisch produziert ist, dort geschieht den davon Betroffenen nach den Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft aus diesem Grunde Unrecht. Das gilt auch und gerade für die unterschiedliche Ahndung von Vergehen, obwohl die Umstände, die das Gewicht des Handlungsunwertes erhöhen, nicht vom subjektiven Willen des Täters gesetzt wurden. Hierin spiegelt sich aber nur der Widerspruch dieser sittlichen Formation mit sich selbst, wie er durch die ökonomische Krise der bürgerlichen Gesellschaft entstanden ist. Solange aber den von sittlicher Depravation Betroffenen noch Achtung als Personen und Eigentümer zukommt, geschieht ihnen nach den Kriterien des abstrakten Rechts, die in der Krise den Stand der intersubjektiv verwirklichten Vernunft angeben, kein Unrecht. Dies setzt sich auch fort in der Bestimmung des Maßes, das zur Vergeltung eines Verbrechens erforderlich ist. Deshalb bedeutet auch die Versagung der Milderungstendenz nach diesen Kriterien kein Unrecht. Das Unrecht der bürgerlichen Gesellschaft besteht also nicht darin, jetzt unter diesen Umständen schärfer strafen zu müssen, sondern darin, daß sie es zu solchen Zuständen entgegen ihren Prinzipien hat kommen lassen. Die Verantwortung beruht also darauf, ihre eigenen Maximen unanwendbar gemacht zu haben. Folglich kann die Wiederherstellung eines konkreten Rechtszustandes nicht darin bestehen, innerhalb solch desolater Verhältnisse milder zu bestrafen. Im jetzt herrschenden Bezugsrahmen wäre das vielmehr willkürlich. Stattdessen muß die Restitution der Geltung der Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft auf andere Weise erfolgen: Es müssen Bedingungen gesetzt werden, die es verhindern, daß Gewinnstreben und Konkurrenz die Bevölkerung in zwei Klassen spaltet. Dabei reicht es nicht hin, daß die Form, wie diese Voraussetzungen gemacht werden, allein auf administrativem Wege verfügt werden. Daß dieser Weg scheitert, ist oben bereits vorgeführt worden. Stattdessen bedarf es (auch) einer institutionell

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fruchtbaren Überwindung dieser Krise durch die Vielheit der Bürger selbst. Sie müssen die Aufhebung der Quellen, aus denen die Krise entsprungen ist, zu ihrem eigenen Interesse machen, soll die Wiederherstellung sittlicher Zustände gelingen. Hegel sah dies durch die Einrichtung von Korporationen verwirklicht 53. Die Leistungsfähigkeit dieser Organisationen liegt in der Vorbereitung der Bürger auf das allgemeine Leben, das sie im Staate führen sollen 54. Sie muß sich mithin auch in einer Erneuerung des Strafrechts auswirken, die in der Rph. aus den Augen verloren wurde 55. Aus all dem ergibt sich aber, daß hier ein Prinzip am Werke ist, das die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft tranzendiert und in einer höheren Ordnung aufhebt. Aus diesem Grunde ist es auch nicht hier weiterzuverfolgen, s. u. 3. Kapitel. So kehrt die Analyse der Hegeischen Verbrechenslehre also in gewisser Weise zu ihrem Ausgangspunkt zurück: Art und Schwere des Delikts bemißt sich (bei bestimmten Tätergruppen) wieder nach den Kriterien, die sich aus dem abstrakten Recht gewinnen lassen. Der mildere Blickwinkel, den feste sittliche Bezüge erlauben, kann dort nicht wirksam werden, wo der Täter aus desorganisierten sozialen Verhältnissen kommt. Dieser ernüchternden Bilanz, die aber die Zusammenfassung des ersten Kapitels erleichtert, steht nur die eben kurz geschilderte Perspektive entgegen, die das Korporationsprinzip zu eröffnen scheint. Seine Entfaltung wird Gegenstand des dritten Kapitels sein, das auf die Schilderung der Rolle der Strafe in der bürgerlichen Gesellschaft folgt. Bevor die Verbrechenslehre Hegels resümiert wird, soll noch kurz ein Vergleich mit dem natürlichen Willen gezogen werden. 5. Vergleich des Verbrechens mit der Gewalt des natürlichen Willens

Kehrt die Verbrechenslehre, wo es um die Beurteilung der Delinquenz derjenigen geht, die sozial desintegriert leben müssen, zu den abstrakten Kategorien des formellen Rechts zurück, so bleibt dennoch ein wesentlicher Unterschied erhalten: Diese Art der Bewertung von Kriminalität ist nur eine Weise der Vgl. Rph. §§ 249,250 ff., S. 393 ff. Rph. § 256, S. 397 f. 55 M. E. betreibt Hegel, zumindest was das Strafrecht betrifft, mit der Schilderung von Verbrechen und Strafe allein unter den Bedingungen intakter ständischer Vergesellschaftung eine ungeheure "Prozeßbremsung" in derjenigen Problemlage, die eine ökonomische Krise mit sich bringt. Dies ist umso erstaunlicher, als er ja ansonsten die Auswirkungen der Krise auf die geistige Teilhabe der Armen und der Arbeiter am Vemunftfortschritt sehr weitsichtig erfaßt hat. Deshalb glaube ich nicht, fremdes Gedankengut an die Rph. herangetragen zu haben, indem ich diese Einsichten auf den Bereich des Strafrechts übertragen habe. Dies führt allerdings dazu, daß man die Euphorie, die sich im Rph. § 218 verbreitet, auf einen späteren Zeitpunkt verschieben muß. Folglich ist diese Stelle innerhalb des Bezugsrahmens der bürgerlichen Gesellschaft in seiner ganzen, ausdrücklich so fonnulierten Ambivalenz zu betrachten. - Zur Prozeßbremsung Hegels allgemein ausführlich Bloch Subjekt/Objekt, 1971, S. 247,444 und passim. 53

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1. Kap. D. Verbrechen in der bürgerlichen Gesellschaft

Betrachtung innerhalb der krisengeschüttelten bürgerlichen Gesellschaft. Daneben bleibt die Perspektive milderer Einschätzung des Unrechts dort bestehen, wo aus sittlich gelungenen Verhältnissen heraus gehandelt wird. Daraus ergibt sich eine merkwürdige Gemengelage in der Betrachtung des Verbrechens sozial Desorganisierter: Zwar sind sie grundsätzlich weiterhin als Freie und Vernünftige anzusehen, mit der Fähigkeit begabt, ein negativ unendliches Urteil durch ihren eigenen Willen selbst zu fällen. Auf der anderen Seite handeln sie in einer niederen Stufe der Vernunftwirklichkeit als es sittlich Sozialisierte tun. In diesem Punkt stehen Erstere nun wieder der Lage des natürlichen Willens näher als Letztere. Bei beiden erfolgt ein Ausschluß aus dem System der Bedürfnisse mit all den Folgen, die das zeitigt: Beide werden bei ihrer Subsistenzsicherung abhängig von Dritten; beiden geht der Verkehr innerhalb des Arbeits- und Lebenszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft mit se}ner Habitualisierung von Anerkennungsleistungen ab. Resultat ist beidesmale das Fehlen oder die mangelhafte Einübung in eine unmittelbare Gewohnheit des Rechtsgehorsams. Allerdings beruhen diese Folgen auf unterschiedlichen Prozessen: Während beim nur natürlichen Willen, es zu einer fortschreitenden Verfestigung seiner Unmittelbarkeit durch Dritte kommt, sei es, weil sie unfähig sind, sie aufzuheben, sei es, weil eine Erziehung nicht oder aber verfehlt stattfindet, so steht bei den Armen und den unselbständigen Arbeitern dagegen ein Entwöhnungsprozeß in Rede, der zum einen prinzipiell nicht zum Ausschluß der Zurechnungsfähigkeit führt, zum anderen aber einen ursprünglich vorhandenen Status sittlicher Stärke minimiert. Allerdings sind hier natürlich Mischformen anzumerken, die die Grenzen verschwimmen lassen. Es ist obenja bereits dargestellt worden, daß der gewalttätige natürliche Wille sich in mehreren Stufen vorfinden läßt, die zwar von steigender Kompetenz moralischer Reflexion gekennzeichnet sind, aber dennoch in einem entscheidenden Punkt, nämlich was die eigenständige Organisation eines sittlichen Gewissens angeht, verformt sind. Umgekehrt kann natürlich auch die soziale Desorganisation zu Verwahrlosungen führen, die sich in der Deformation der moralischen Kompetenz auswirken, wenn dies auch eine atypische Fallgruppe bildet. Außerdem führt eine sich über Generationen fortschleppende soziale Mangellage ebenfalls dazu, daß die davon betroffenen Personen auf dem Stande fixiert werden, den schon ihre Vorfahren eingenommen haben. Schließlich werden auch die Fälle der psychischen Deformation aufgrund fehlender oder mangelhafter Erziehung unter solchen Verhältnissen häufiger anzutreffen sein, in denen die Familie starken sozialen Spannungen ausgesetzt ist. Dennoch ändert dies alles nichts am prinzipiellen Unterschied dieser beiden Prozesse: Die soziale Desorganisation stellt in ihrer Grundstruktur nur die sittliche Eingliederung und den daraus folgenden, haltungsmäßig stabilisierten Bewußtseinsstand in Frage, erhält dem Einzelnen aber seine Anerkennung als Person

IV. Folgen der Krise der Gesellschaft

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und Eigentümer ebenso, wie dessen innerliche Stärke jenseits ihres Wirkungsfeldes liegt. Nur fällt es jetzt in die Subjektivität, die erworbene Gewohnheit zu kultivieren bzw. den Gefahren für deren Festigkeit zu wehren. Dabei muß der Einzelne sich allerdings gegen widrige äußere Umstände durchsetzen: Es hängt nun vom Zufall ab, wie er sich ohne äußeren Halt entwickeln wird, so daß sowohl Verfall wie Innenstabilisierung gleich wahrscheinlich sind, sich mithin in der vorfindlichen Welt beide Lebensfonnen in ähnlicher Breite wiederfinden werden. Zu bedenken ist aber die negative Dynamik solcher Verhältnisse: Wo sich kriminelle Verhaltensweisen institutionell verfestigen, können sie eine Sogwirkung auf noch unentschlossene Personen ausüben. Viel grundlegender wirkt aber die familiäre Desorganisation: Schon der Aufbau einer se1bstbewußten Persönlichkeit wird verhindert. Ungeachtet späterer Anerkennung des Betreffenden durch die Glieder der bürgerlichen Gesellschaft ist hier bereits das innere Selbstbild lädiert, was ein reflexives Erfassen des geleisteten Standes an Vernunftwirklichkeit von vornherein verhindert oder erschwert. Kurz: Der sozial nicht integrierte Bürger lebt seinem Bewußtseinsstand nach grundSätzlich im Einklang mit den Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft, nur deren äußere Realisierung fehlt ebenso wie ihre innere haltungsmäßige Verfestigung. Dagegen steht das Selbstverständnis des Unfreien in all seiner Gegensätzlichkeit im Widerspruch zu jenen Maximen: Ihn treibt seine psychische Konstitution immer wieder dazu, sich in Abhängigkeit zu anderen begeben zu wollen etc., wo die bürgerliche Gesellschaft ein selbständiges (Wirtschafts-)Subjekt verlangt. Schon dies verhindert eine Einübung in die dort herrschenden Handlungsweisen. Als gemeinsames Merkmal bleibt mithin nur noch die Tatsache, daß beiden - allerdings aus unterschiedlich tiefliegenden Gründen - eine stabile Gewohnheit unmittelbaren Rechtsgehorsams fehlt bzw. nur in gelockerter Fonn eigen ist. In diesem Punkte unterscheiden sie sich beide von denjenigen, die in sittlich vortrefflichen Fonnationen leben. Das ennöglicht eine zweideutige Einstellung zu der Delinquenz, die aus depravierten Zuständen heraus erfolgt: Hebt man hervor, daß der Täter typischerweise frei und vernünftig bleibt, ähnelt sein Unrecht dem Verbrechen, wie es in der bürgerlichen Gesellschaft Gestalt annimmt. Setzt man dagegen den Schwerpunkt auf das Element der mangelnden oder unzureichenden Habitualisierung in die Sitten, die das System der Bedürfnisse tragen, dann gleicht das Verhalten des Betroffenen eher der Gewalttätigkeit eines natürlichen Willens. Gerade bei der letzteren Perspektive kommt eine weitere Strukturanalogie zum Vorschein: Genauso wie die Gewalt des natürlichen Willens die Ohnmacht der universellen Rechtsvernunft anzeigt, genauso beruht auch die ökonomische Krise auf einer Unfähigkeit des bisher institutionalisierten allgemeinen Willens. Dem Verfall der inneren und äußeren sittlichen Konstitution in einem Teil der Bevölkerung muß der Not- und Verstandesstaat machtlos zuschauen. Hinzu kommt, daß Delinquenz in Reaktion auf die Unterdrückung der Ver-

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wirklichungschancen des individuellen Wohles verstanden werden muß. Verkürzte man diese auf einen einseitigen Kausalnexus, so hätte man die Kriminalität fast gänzlich der Gewalttätigkeit eines natürlichen Willens angeglichen, worunter dann die frei gesetzte Unrechtsmaxime des Täters zu verschwinden droht. Weil aus dem Blickwinkel der sittlich sozialisierten Bevölkerungskreise sowohl der Unfreie als auch der Verarmte bzw. der Arbeiter mit den Mitteln des Systems der Bedürfnisse nicht mehr hinreichend vergesellschaftet werden kann, liegt in ihren Augen eine Pathologisierung des Verbrechens besonders nahe 56 .Das aber hätte zur Folge, daß dem sozial Desorganisierten nun auch noch die Freiverantwortlichkeit als Teil seiner selbstbewußten Persönlichkeit abgesprochen würde. Auch hierin liegt eine Gefahr, die aus der asymmetrischen Verteilung an Vernunftwirklichkeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft folgt, deren Konsequenzen jedoch erst deutlich werden, wenn man die Seite der Verbrechensreaktion hinzugenommen hat.

6. Zusammenfassung Die ökonomische Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft führt nicht nur im Bereich der materiellen Versorgung in eine Krise, sondern auch in der geistigen Teilhabe weiter Bevölkerungskreise. Die Spaltung des Volkes in zwei Schichten schließt die eine Klasse weitgehend vom Arbeits- und Lebenszusammenhang einer ständisch integrierten Gemeinschaft aus, wodurch auch ihre subjektive sittliche Konstitution vom Verfall bedroht und gekennzeichnet ist. Dies hat Auswirkungen auf Art und Schwere der Kriminalität. Sowohl was den Verlust an Rechtsgütern als auch an stabiler, eingelebter Normorientierung angeht, wird das Verbrechensopfer empfindlicher getroffen als in einer Gemeinschaft, in der Anerkennungsleistungen allgemein im alltäglichen Umgang eingeübt werden. Aus diesem Grund weist auch der institutionalisierte allgemeine Wille nicht mehr dieselbe feste Existenz im Rechtsbewußtsein aller auf, wodurch sich der Erfolgsunwert des Vergehens erhöht. Gleichzeitig nimmt der Anteil derjenigen Täter zu, die keine starke subjektive sittliche Konstitution mehr aufweisen, weil und soweit sie in unsittlichen Bezügen leben müssen. Dadurch steigt auch der Intensitätsgrad des Handlungsunwertes grundsätzlich an, da Haltlosigkeit oder kriminelle Karrieren eher möglich sind. Das asymmetrische Verhältnis unterschiedlicher Vernunftrealität in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen bildet sich somit auch in der unterschiedlichen Deliktschwere ab. Unterhalb des abstrakt - rechtlichen Maßes führt dies zu großen Differenzen in der Beurteilung der einzelnen Vergehen, je nachdem, ob sie aus sittlich intakten Verhältnissen heraus begangen werden oder nicht. 56 Zu Ansätzen, Kriminalität als sozialpathologische Erscheinung aufzufassen, aufschlußreich Sack, Art. Kriminalitätstheorien, soziologische, in: Kaiser et. al. , KKW,

1985, S. 239 ff. m. w. N.

IV. Folgen der Krise der Gesellschaft

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Ein Vergleich mit der Gewalttätigkeit des natürlichen Willens ergab als fundamentalen Unterschied, daß der sozial desorganisierte Bürger im Prinzip auf dem Bewußtseinsstand einer selbstbewußten Persönlichkeit verharrt, allerdings ohne die Maximen der bürgerlichen Gesellschaft habitualisieren zu können. Dennoch weist letzteres auf eine Ähnlichkeit zum gewalttätigen Willen des Unfreien hin, dem die Einübung in diese Handlungsweise ebenfalls abgeht. Für den Personenkreis, der sittlich vortrefflich sozialisiert ist, mangelt es daher beiden an einem entscheidenden Merkmal für eine feste Existenz der Rechtsgeltung. Daraus kann sich eine Tendenz zur Pathologisierung sozial depravierter Täter ableiten, unter welcher deren noch vorhandene Vernünftigkeit zu verschwinden droht.

2. Kapitel

Verbrechensreaktion in der Rechtsphilosophie Auch für die Darstellung der Rolle, die die Strafe in der bürgerlichen Gesellschaft spielt, ist es erforderlich, zunächst die beiden vorangehenden Abschnitte der Rph. danach zu befragen, was sie über die Verbrechensreaktion aussagen. Dabei ist stets der Unterschied im Auge zu behalten, der zwischen dem Verbrechen und der Gewalt des natürlichen Willens aufgewiesen worden ist.

A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht Der erste Abschnitt der Rph. entfaltet die Grundkategorien der Verbrechensreaktion. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Begriff der Wiedervergeltung, der es erlaubt, Art und Ausmaß der Sanktion grundsätzlich der in der Tat verwirklichten Unrechtsmaxime zu entnehmen. Deshalb wird auf ihn zuerst eingegangen. Es folgt der Vergleich mit der Auffassung Hegels, wie auf die Gewalt des natürlichen Willens reagiert werden soll. Schließlich wird ausführlich auf die Form der Wiedervergeltung eingegangen, die sie im formellen Recht einnimmt. Dabei offenbart sich die grundlegende Problematik der Rache, die in der Fremdsetzung der Sanktion zu finden ist.

I. Wiedervergeltung als Grundkategorie der Strafe

Daß dem Täter das geschehen solle, was er selbst getan habe, folgt für Hegel aus der Selbstaufhebungstendenz des im Verbrechen ausgesprochenen negativ unendlichen Urteils (s. o. 1. Kapitel B. 11. 2. b), auf die noch einmal kurz eingegangen werden soll I.

1. Die Selbstaufhebung der Unrechtsmaxime Es wurde bereits oben ausführlich dargestellt, wie im negativ unendlichen Urteil der Täter diejenige Existenz, die er durch seine Verletzung des Opfers geschaffen hatte, durch die Reflexion seines allgemeinen Willens in sich selbst I Mitias konstatiert diesen Zusammenhang zwischen Verbrechen und Strafe / Rache ebenfalls, in: HS 13, 1978, S. 179; unverständlich ist daher, warum er die Strafzumessung dann vom Verbrechensbegriff abkoppeln will, vgl. ebda., S. 180.

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als etwas Nichtiges gesetzt hatte. Gleichzeitig hatte sich ergeben, daß der verbrechende, besondere Wille in seinem Wohl ein vom an sich seienden Willen anzuerkennendes Recht anspricht, allerdings in einer nicht verallgemeinerbaren Weise. Die Selbstnegation des negativ unendlichen Urteils beinhaltet demnach ebensowohl ein affinnatives Resultat, das Fortschreiten der Person zum moralischen Subjekt. Allerdings ist dieses doppelte Ergebnis nur an sich in der Unrechtsmaxime angesprochen. Es fehlt noch der zweite Akt, diese Wahrheit des negativ unendlichen Urteils zu manifestieren, bzw. die Nichtigkeit der Unrechtsmaxime in die Existenz zu setzen 2 , wodurch auch der Überstieg zum moralischen Wesen Wirklichkeit erhält. Die Kategorie der Wiedervergeltung spricht diesen Zusammenhang aus: "Die geschehene Verletzung des Rechts als Recht ist zwar eine positive, äußerliche Existenz, die aber in sich nichtig ist. Die Manifestation dieser ihrer Nichtigkeit jener Verletzung ist die ebenso in die Existenz tretende Vernichtung jener Verletzung die Wirklichkeit des Rechts, als seine sich mit sich durch Aufhebung seiner Verletzung vermittelnde Notwendigkeit"3.

Dabei ist die Wiedervergeltung als dieser gedoppelte Prozeß zu sehen, zum einen Negation der nichtigen Existenz, zum anderen - affirmativ - Eröffnung der moralischen Sphäre. Für das erste Element innerhalb des Prozesses, der Aufhebung des Verbrechensunrechts, muß noch genau spezifiziert werden, welche Verletzung durch Strafe / Rache wiedergutgemacht werden soll. Denn die Analyse des Verbrechens hatte ja ergeben, daß nicht nur der besondere Wille des Opfers verneint wurde, sondern vielmehr auch der allgemeine Wille beeinträchtigt ist. Demnach müssen zwei verschiedene Arten der Rechtsrestitution auseinandergehalten werden: Zwar bedarf es des Ersatzes des Schadens, der dem Opfer dort zugefügt worden ist, wo ihm eine ihm gehörige Sache lädiert oder entzogen worden ist. Diese zivile Genugtuung ist aber nicht mit der eigentlichen Wiedervergeltung zu verwechseln 4 • Die Rolle der Strafe bzw. der Rache ist vielmehr in der Restitution der Verletzung des allgemeinen Willens zu sehen 5. Sie bestand in der Verneinung seines Daseins durch den Geltungsschein der Unrechtsmaxime, der von der formalen Richtigkeit des in ihr ausgesprochenen, negativ unendlichen Urteils ausgeht 6 •

2 Rph. § 97, S. 185; WdL. H, S. 325 f. 3 Rph. § 97, S. 185, vgl. w. Rph. § 101, S. 192. 4 Rph. § 98, S. 186. 5 Rph. § 99, S. 187. 6 WdL. H, S. 324 ff., Rph. § 99, S. 187. Vgl. dazu auch Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, 1975, S. 98; M. Köhler, Begriff der Strafe, 1986, S. 55 f.

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2. Kap. A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht

Dennoch dürfen diese beiden Formen der Wiederherstellung des Rechts ebensowenig unabhängig voneinander gedacht werden, wie die ihnen entsprechenden Elemente des Verbrechens. Genauso wie dieses durch die Verletzung des allgemeinen Willens gerade in einer seiner Individuationen definiert ist, genauso bliebe auch die Wiederherstellung des Rechts unvollständig, würde man nur eine der Verletzungen wiedergutmachen. Daraus folgt auch, daß Straf- und Zivilrechtspflege sich in diesem Bereich in ihren Funktionen wechselseitig stützen 7. Die Wiederherstellung der Geltung des allgemeinen Willens erfolgt nun (zunächst) dadurch, daß das, was durch die Reflexion des allgemeinen Willens in sich ausgesprochen ist, auch ausgeführt wird: Für den allgemeinen Willen des Täters wie des Opfers und aller anderen Personen ist die durch die Tat geschaffene Existenz als zu vernichtende gesetzt. Die Ausführung dieser, in der Unrechtsmaxime enthaltenen Aussage bedeutet (zunächst nur) die Anwendung der Unrechtsmaxime in ihrer Geltung auch auf dasjenige Dasein, das der besondere Wille des Täters sich gegeben hat: "Wie er getan, soll ihm geschehen - ... - sein Wille, sein Gesetz. ( ... ) Dies argumentum ad hominem - aus seinen Prinzipien "8

Alle anderen Bestimmungsgründe, der Strafe / Rache, die etwa unvermittelt auf die sich aus inneren oder äußeren Quellen speisenden Gefahrlichkeit des Täters ergeben mögen, sind demnach ausgeschlossen, weil und soweit sie nicht in der Unrechtsmaxime zum Ausdruck kommen 9 • Sie dennoch für den Umfang oder die Art der Sanktion heranzuziehen, käme einer Verachtung der im Verbrechen zum Vorschein gekommenen Vernünftigkeit des Täters gleich und wäre mithin als Reaktion auf eine Tat eines Freien unrecht 10. So begründeten Theorien der Strafe / Rache, die allein und unmittelbar general- oder spezialpräventive Argumente anbringen, erteilt Hegel eine deutliche Abfuhr 11. Demgegenüber bleibt aber noch offen, inwiefern Art und Grad der Gefährdung der Geltung des Rechtsgebotes etc. nicht insoweit zu berücksichtigen sind, wie sie ihren Niederschlag in der Unrechtsmaxime des Täters gefunden haben. Des weiteren können sich Modifikationen in der Sanktionsstruktur daraus ergeben, daß Täter und Näheres s. u. 2. Kapitel C. I. Rph. § 101 Randbem., S. 195. Die Richtung, wogegen sich die Sanktion richtet, bestimmt Rph. § 99 Randbem., S. 189 als" aa) daseiender Wille des Verbrechers etwas, das der Verbrecher als das Seinige haben und behalten will ..." 9 Vgl. Rph. § 99 Anm., S. 188, § 218 Anm., S. 372, § 139 Anm., S. 261 f., Nachsehr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 552 f. Paradigmatisch vorgezeichnet für die Generalprävention bei M. Köhler, Strafbegründung und Strafzumessung, 1983, S.54; E. A. Wolff, ZStW 97, 1983, S. 786 ff. Vgl. w. Piontkowski, Hegels Lehre von Staat und Recht, 1960, S. 185 ff. 10 Rph. § 99 Anm., S. 187 f. Zu den Straftheorien im heutigen strafrechtlichen Schrifttum, Jakobs, AT, 1983, 1/4 ff., leseheck, AT, 1988, S. 58 ff.; E. A. Wolff, ZStW 97, 1983, S. 786 ff. jeweils m. w. N. 11 Rph. § 99 Anm. und Randbem., S. 187 ff. Dazu M. Köhler, Begriff der Strafe, 1986, S. 55 f.; Mitias, HS 13, 1978, S. 178.; ähnlich Seelmann, JuS 1979, S. 689 f. 7

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1. Wiedervergeltung als Grundkategorie

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Verletzter in einem asymmetrischen Rechtsverhältnis zueinander stehen, das sich dadurch auszeichnet, daß der Verletzte bzw. derjenige, der das Verbrechen ahndet, auf einer höheren Entwicklungsstufe in der Verwirklichung der Vernunft steht als der Täter. Festzuhalten ist aber, daß das negative, freiheitsmindernde Moment der Verbrechensreaktion sich nicht auf die Gewährleistung von Schadensersatz erstreckt, sondern lediglich die Verletzung des allgemeinen Willens, die in der Beeinträchtigung seiner Geltung zu sehen ist, zu beseitigen hat. Es fragt sich nun, wie die Anwendung der Unrechtsmaxime auch auf den Täter zur Restitution des Rechts führen soll. Damit ist nicht das auch von Hegel zitierte Argument gegen die Vergeltungstheorie gemeint, daß es unvernünftig sei, das Strafübel bloß deswegen zu wollen, weil der Verbrecher in seiner Tat ein erstes Übel in die Welt gebracht habe 12. Denn hier wird allein auf den äußeren Schaden abgestellt, der - so gesehen durch die Sanktionierung des Verbrechens wirklich nur vergrößert wird. Hier fehlt es bereits an der Einsicht, daß durch das Verbrechen selbst der Täter sein Dasein als nichtiges für seinen eigenen allgemeinen Willen setzt. In der Ausführung der Unrechtsmaxime liegt bereits ihr Anspruch auf allgemeine Geltung, die durch die Vergeltung nur ihr (negatives) Dasein erhält 13. Vielmehr ist hier die Frage aufzuwerfen, inwiefern die Verallgemeinerung der Unrechtsmaxime von der Beeinträchtigung der Opfersphäre auf das Ganze der Rechtsbeziehung, also auch auf die Rechtsgüter des Täters als solche in der Lage ist, Recht in dieser Beziehung wiederherzustellen. Zwar herrscht in diesem Verhältnis der Personen zueinander nach vollzogener Vergeltung Gleichheit zwischen den Beteiligten. Doch ist es recht betrachtet die Gleichheit im Unrecht, wechselseitig sich zum Opfer gemacht zu haben. Würde der Sinn der Vergeltung sich wirklich darin erschöpfen, sich gegenseitig im Dasein zu verneinen, behielten ihre Kritiker Recht, die darin eine nicht zweckmäßige Bekämpfung des Unrechts erblicken 14. Denn unabhängig davon, daß die Anwendung der Unrechtsmaxime auf den Täter das bestehende Übel vermehrt, liegt darüberhinaus auch eine Erweiterung des In-Geltung-Setzens der Unrechtsmaxime vor. Wenn aber der Geltungsschein der Unrechtsmaxime gerade das spezifische Unrecht darstellt, das durch die Sanktion aus der Welt geräumt werden soll, dann kann sie durch ihre bloße Verallgemeinerung auf die Sphäre des Täters schlechterdings nicht Vgl. Rph. § 99 Anm., S. 187. Er verweist auf E. F. Klein. s. o. 1. Kapitel B. 11. 2. b). M. Köhler in: FS Lackner, 1986, S. 19; ders., GA 1987, S.156. 14 Vgl. nur F. v. Liszt, Strafr. Aufsätze Bd. I, S. 126 ff., S. 154 f. Dazu Roxin, in: ZStW 81, 1969, S. 613 ff. Ähnlich Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, 1975, S. 86. Auch wenn man die Wiederherstellung der Gleichheit zwischen Täter und Opfer bloß als Reduktion von Anerkennung faßt, so ist m. E. dieses Problem noch nicht behoben, so aber Seelmann, JuS 1979, S. 690. 12

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2. Kap. A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht

aufgehoben werden. Die Verwirklichung des Allgemeinheitsanspruches der Unrechtsmaxime allein nach ihrer verletzenden Seite kann daher nicht der innere Sinn der Wiedervergeltung sein. Vielmehr ist dies m. E. der tiefere Grund der sich forterbenden Blutrache 15, s. u. 2. Kapitel A. 11. Ohne den Einbezug des affirmativen Elements im negativ unendlichen Urteil des Verbrechens, das Recht der Besonderheit auch gegen den allgemeinen Willen zu behaupten, ermangelt es daher jeder vergeltenden Sanktion an der Kraft, Recht zu restituieren. Genau genommen geht es daher nicht (allein) um die Wiederherstellung des Rechts, sondern um seine vertiefte Konstitution im moralischen, normgeleitet handelnden Subjekt 16. Die Möglichkeit des Zwanges offenbarte die Zufälligkeit der Daseinsformen des abstrakten Recht, die zu ihrer Realisierung auf gleichlaufende, individuelle Bedürfnisse angewiesen sind. Aber auch die Eindämmung des ersten Zwanges durch den zweiten, rechtlichen Zwang löste allein dieses Problem nicht. Vielmehr beschwor er das Verbrechen herauf. Gleiches gilt nun auch für die Bekämpfung des Verbrechens allein mit den Mitteln äußeren Zwanges. Als Verallgemeinerung der Unrechtsmaxime stellt er selbst ein erneutes Verbrechen dar, worauf nun der Täter als Racheopfer reagieren muß 17. Die freiheitsmindernde Anwendung der Unrechtsmaxime auch auf den Täter kann daher nur Moment in einem tiefergreifenderen Prozeß sein, der Recht nicht mehr nur als abstraktes Recht restituiert, sondern zugleich Recht als Dasein der Freiheit des moralischen Wesens konstituiert. Die Negation, die als Reaktion auf die Tat an den Verbrecher kommt, muß daher diesen affirmativen Bezug in sich enthalten 18. Sie darf daher nicht - wie die Tat - darauf ausgehen, die Beziehung zum einzelnen Willen des Verbrechers durch (totale) Negation seiner Existenz gänzlich aufzuheben, weil und soweit dann der sich darin ausdrückende allgemeine Wille dasjenige zerstören würde, wodurch er sich ex negativo selbst als Allgemeines bestimmt, s. o. 1. Kapitel B. 11. 2. b). Vielmehr muß das Allgemeine im Willen dahin gehen, die nun zwar von ihm getrennte und von ihm verschiedene Subjektivität zu bewegen, aus sich heraus das Gesetz anzuerkennen. Gleichzeitig besteht die Forderung, dem besonderen Willen zur Einsicht zu verhelfen, daß er sein partikuläres Dasein nur über die allgemeine Anerkennung sichern kann 19. Rph. § 102, S. 196. So deutlich zu Hegel E. A. Wolff, ZStW 97, 1985, S. 788 Fn. 4. 17 So Rph. § 102, S. 196. 18 Vgl. hierzu insbes. Henrich, in: FS Marx, 1976, S. 208 ff., wo gerade der gegen sich selbst gerichtete Charakter der zweiten Negation als Träger des Affirmativen gekennzeichnet wird. In der Rph. entspricht dem z. B. die Forderung nach Minimierung der Zwangsanwendung, so Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, 1975, S.68. Vgl. dazu auch den Rph. § 218, S. 372 f., s. u. 2. Kapitel C. I. 19 s. O. I. Kapitel B. 11. 2. b). In Rph. § 132, S. 245 wird dies demnach als Recht des subjektiven Willen definiert. 15

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I. Wiedervergeltung als Grundkategorie

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Erst innerhalb dieses Rahmens kommt der Manifestation der Nichtigkeit der Existenz, die durch die Ausführung der Unrechtsmaxime herbeigeführt wurde, eine sinnvolle Bedeutung zu. Die Negation des besonderen Daseins des Verbrecherwillens sagt dann nämlich aus, daß die angemaßte Allgemeingeltung der bloß für sich seienden Einzelheit dann einen (Selbst-)Widerspruch enthält, soweit sie sich allein über die Verneinung des allgemeinen Willens durchsetzen will. Rechtszwang als Strafzwang ist demnach darauf angewiesen, daß die in sich reflektierende Einzelheit des Täters ihn als widespruchsauflösende, praktische Kritik erfahrt. Er darf diese Einzelheit daher nicht eliminieren, will er nicht selbst sich auf eine rein negative Existenz reduzieren. Aus der Selbstaufhebungstendenz des im Verbrechen enthaltenen, negativ unendlichen Urteils leitet sich der Begriff der Wiedervergeltung ab. Er gebietet die Verallgemeinerung der Unrechtsmaxime auf das Dasein des besonderen Willens des Täters - allerdings in einer Weise, die es der Einzelheit des Täters erlaubt, in der Innerlichkeit seines Willens sein moralisches Wesen zu entdekken. Das bedeutet, daß es nicht (allein) auf die Wiederherstellung des abstrakten Rechtsverhältnisses ankommt, sondern um die Konstitution einer umfassenderen Beziehung der Menschen zueinander, die von normgeleitet handelnden, moralischen Subjekten aufrechterhalten wird und in der die äußere Sphäre der Freiheit lediglich ein Moment der Wirklichkeit darstellt. 2. Das Grundmaß von Strafe und Rache Aus der Natur des Verbrechens leitet sich nicht nur der Begriff der Wiedervergeltung ab, der als die Verletzung der Verletzung definiert ist. Vielmehr folgt daraus auch, daß er bestimmt angeben muß, wie zu reagieren ist, um der Gerechtigkeit genüge zu tun. "Allein der Begriff selbst muß überhaupt das Grundprinzip auch für das Besondere enthalten. Diese Bestimmung des Begriffs ist aber eben jener Zusammenhang der Notwendigkeit, daß das Verbrechen, als der an sich nichtige Wille, somit seine Vernichtung - die als Strafe erscheint - in sich selbst enthält. Die innere Identität ist es, die am äußerlichen Dasein sich für den Verstand als Gleichheit reflektiert."20 Die qualitative Grundeinheit von Rache / Strafe wird mit dem Terminus" Verletzung" umschrieben. Auch die Sanktion stellt folglich einen Eingriff in die Rechte des Verbrechers dar. Allerdings muß dem bereits eine Einschränkung hinzugefügt werden. Verletzt werden darf nur das äußere Dasein der Freiheit, nicht dagegen die Rechte, die z. B. aus der Moralität des Betroffenen folgen 21 . Dies beruht darauf, daß Zwang sich nur gegen die Außensphäre der Person richten kann; auch die innere Realität 20 Rph. § 101 Anm., S. 193. 21 Rph. § 94 Zus., S. 181.

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2. Kap. A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht

des Willens in sich durch Anwendung von nötigender Gewalt erreichen zu wollen, ist eine Illusion, die nichts von der unendlichen Fähigkeit jedes Menschen weiß, sich in sich selbst zurückzuziehen 22. Eine Zwangsanwendung, welche die Verletzung dieser Rechte intendierte, wäre demnach ein nutzloser Gewaltakt und deshalb als überflüssiges Bewirken einer Einbuße an Freiheit beim Verbrecher nicht vom Begriff der Wiedervergeltung gedeckt. Daraus folgt des weiteren, daß ein Versuch, allein vermittels äußerer Zwangsanwendung den Täter zu einem Gesinnungswandel zu nötigen, fehlschlagen muß und deshalb ebenfalls vom Begriff der Wiedervergeltung nicht umfaßt ist. Davon ist jedoch die sich im Entzug äußerer Freiheitsrechte beschränkende Sanktion zu unterscheiden, die dem Betroffenen die Möglichkeit einräumt, sich auch als moralisches Wesen im Dasein zu bewähren. Denn hier wird eben nicht das Vorspielen einer lauteren Gesinnung angestrebt, sondern vielmehr erschöpft sich die Maßnahme in der Negation einer äußeren Freiheitssphäre des Täters, welcher der Anstoß immanent ist, sie durch normgeleitetes Verhalten ohne Gefährdung der Rechtsgüter Dritter überflüssig zu machen. Es macht schon einen Unterschied aus, ob etwa durch die Verhängung der Sanktion, das Grab des Getöteten zu pflegen, ein Gefühl der Trauer und des Bedauerns erzeugt werden soll, oder ob durch Entzug bestimmter Gegenstände z. B. eines Messers, deutlich gemacht werden soll, daß die Tat Ausdruck eines zu sorglosen Umganges mit dieser Sache ist 23 • Im ersteren Fall wird der Betroffene förmlich zur Heuchelei gezwungen, die eher eine weitere Verdunkelung der richtigen Einsicht darstellt. Im zweiten Fall liegt es am Täter selbst, ob er durch den praktischen Aufweis des verantwortungsbewußten Umganges mit gefahrlichen Werkzeugen sich äußerlich als normgeleitetes Wesen darstellt oder nicht. Dabei wird von ihm nicht ein Handeln allein um der Pflicht Willen verlangt, sondern es reicht hin (bzw. ist sogar wünschenswert), wenn der Betroffene sich allein deshalb anstrengt, um sein Messer wiederzuerlangen. Als Qualität der Rache / Strafe ist somit festzuhalten, daß sie sich im Entzug von Rechten erschöpfen, die auf ein äußere Sphäre der Freiheit bezogen sind. Damit bleibt aber zunächst die ganze Palette äußerer Rechtsgüter als mögliche Eingriffsobjekte erhalten. Auch das Leben fällt unter diese Kategorie. Hegel selbst erkennt die Möglichkeit einer Todesstrafe an 24 • Es ist zu fragen, inwiefern dies systematisch einleuchtend begründet werden kann. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß es die Identität der Verletzungen sein soll, welche die Gleichheit zwischen Tat und Sanktion ausmacht. Durch das Verbrechen wird jedoch das Recht als Recht beeinträchtigt. Es liegt also in jeder Gewaltausübung eines Freien stets eine Verletzung des Unendlichen in der Person 22 23 24

s. o. l. Kapitel A. 11. und Rph. § § 5, 91, S. 49 ff., 178 f., Enzykl. § 501, S. 31l. Man beachte die gesetzliche Regelung des § 56c Abs. 2, NT. 4 StGB. Rph. § 101 Zus., S. 196.

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seines Gegenübers. Hieraus würde folgen, daß alle Verbrechen als Negation der Rechtsfahigkeit des Opfers gleich schwer wiegen, unabhängig von dem Rechtsgut, welches sie vernichten 25. Auch die Zerstörung oder der Entzug einer Sache wäre eine Verletzung der ganzen Person und nicht anders zu ahnden als mit der völligen Eliminierung der Person des Täters, was für ihn letztlich den Tod bedeutet 26. Hegel ordnet eine solche Vorstellung " ... dem abstrakten Denken ... der Persönlichkeit ..." zu. Daraus geht nicht allein hervor, daß eine solche Auffassung in der Fortentwicklung der Freiheit zur Idee aufzuheben ist, sondern genauso auch als Ausgangspunkt (innerhalb der Institutionen des abstrakten Rechts) eine relative Berechtigung hat. Sie fallt in einen Zustand von intersubjektiven (gesellschaftlichen) Beziehungen, in dem die Freiheit nur als äußerliche Seite der Person Realität hat. Damit geht einher ein Verständnis von Strafe als Privatrache 27 • Hier ist die Grundeinheit aller quantitativen Bestimmung die Verletzung der Unendlichkeit in der Person des Opfers, die keine Begrenzung der Sanktion nach einzelnen Quanten erlaubt. Stets lautet das Urteil auf Tod. Die Beschränktheit dieser Vorstellung fällt allerdings sofort ins Auge: Sie verabsolutiert die äußere Seite der Freiheit zur Wirklichkeit der Idee. Damit wird ein Moment in der Realisierung der Freiheit derart überhöht, daß die Bestimmung und Beschränkung, die in ihm liegt, aus dem Blick gerät. Doch bereits das unbefangene Unrecht hatte gezeigt, daß sich der allgemeine Wille immer nur über einen einzelnen Rechtsgrund Existenz gibt - unter Ausschluß anderer. Er tritt damit in der Sphäre des abstrakten Rechts stets nur vereinzelt und begrenzt ins Dasein, hat noch nicht die dem Begriff vollends gemäße Realität erreicht. Er kann folglich stets nur in diesem bestimmten und beschränkten Dasein ergriffen und verletzt werden. Damit ist auch das Verbrechen immer nur eine beschränkte Läsion des allgemeinen Willens, die Sanktion daher der Bemessung zugänglich 28 • Gleichheit im Wiedervergelten muß sich daher aus dem Dasein, das beeinträchtigt wurde, bestimmen. Dieser Gedanke führt zunächst zum Richten nach spezifischer Gleichheit: Auge um Auge, Zahn um Zahn 29 • Rechtsgeschichtlich geht dieser Wandel auf den Einfluß der christlichen Kirche zurück, die mit dem mosaischen Talionsprinzip die ungezügelte Rache einzudämmen versuchte 30. Rph. § 96 Anm., S. 183. Rph. § 96 Randbem., S. 184, verweist auf England, wo zur damaligen Zeit Wilddiebstahl noch als Kapitalverbrechen galt. 27 Wie der Bezug zur stoischen Tugend zeigt, meint Hegel wohl das Römische Reich, Rph. § 96 Anm., 102 Anm., S. 183, 197. Vgl. w. Philos. d. Gesch., S. 340, 342, 383 f. Zur Ausgestaltung des römischen Strafrechts eingehend Mommsen Röm. StrafR., S. 938 f. Zur deutschen Rechtsgeschichte ist Eb. Schmidt, Geschichte, 1965, §§ 8, 38, S. 25 f., 53 ff. heranzuziehen. 28 Rph. §§ 96, 101, S. 183, 192. 29 Rph. § 101 Anm., S. 193 f. 30 Eb. Schmidt, Geschichte, 1965, § 52, S. 66. 25

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2. Kap. A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht

Dieses materielle Talion ist es auch, woraus Hegel bei Tötungsdelikten, näher beim Mord, die Berechtigung der Todesstrafe ableitet. Allerdings will er sie auch auf diese Fallgruppe beschränkt wissen. Denn dem Leben als unveräußerlichem Rechtsgut könne kein Äquivalent anderer Art entgegengesetzt werden, so daß es in diesem Falle beim Richten nach spezifischer Gleichheit bleiben müsse. Ähnlich müßte die Argumentation demnach bei den anderen unveräußerlichen Rechtsgütern, namentlich der Arbeitskraft und der moralischen Freiheit, lauten. Auf der anderen Seite lehnt Hegel das materielle Talion als Prinzip der Strafzumessung ab. Neben einer sehr polemischen Kritik (dem Versagen des Talion bei Einäugigen und Zahnlosen) wendet er auch ein Argument ein, das auf die unmittelbare Verschiedenheit aller vereinzelten, äußerlichen Existenz hinweist, über die die Betrachtung der spezifischen Gleichheit hinweggeht 3 !. Die Behauptung, diese einzelne partikuläre Sache entspreche jenem individuellen Gegenstand, kann ebenso die Behauptung derjenigen Eigenschaften der Sachen entgegengehalten werden, in denen sie sich voneinander unterscheiden. Auf dem Felde der Endlichkeit läßt sich demnach in gleicher Weise keine Gleichheit konsistent behaupten. Um bei dem unappetitlichen Beispiel Hegels zu bleiben: Für einen Einäugigen stellt der Verlust seines letzten Auges einen höheren Schaden dar als für jemand, der noch beide besitzt. Dennoch sind die Augen für sich "spezifisch gleich". Es kommt hinzu, daß die Strafe ja gerade die Verletzung des allgemeinen Willens bereinigen soll. Dieser läßt sich aber in der Partikularität der Sache als solcher nicht wiederfinden. Wie bereits oben bei der Analyse von Eigentum und Vertrag gezeigt, wird das einzelne Ding nur dadurch zum Abbild des allgemeinen Willens, indem auf dasselbe als Träger der allgemeinen Wertsubstanz reflektiert wird. In der Sache als Arbeitsprodukt scheint so eine Potenz jeder individuellen Person auf, die sie mit allen anderen Personen verbindet, - die Fähigkeit, Herr über alles in der Natur zu sein. Als Wertträger wird die Sache so eine Chiffre für diese allgemeine Potenz in allen Menschen. Folgerichtig muß auch bei der Strafe / Rache die Sanktion nach diesem inneren Allgemeinen bemessen werden: "Diese auf dem Begriffe beruhende Identität ist aber nicht die Gleichheit in der spezifischen, sondern in der an sich seienden Beschaffenheit der Verletzung nach dem Werte derselben··32 • Man kann daher noch schärfer formulieren: Wie beim Tausch nicht zwei Gegenstände derselben Gattung gegeneinander veräußert werden, so kann auch die Verbrechensreaktion nur dann als Restitution des allgemeinen Willens in seinem Dasein erscheinen, soweit sich Tat und Sanktion in ihrer spezifischen Qualität voneinander unterscheiden. Denn nur in diesem Falle kann die Maßnahme nach dem inneren Allgemeinen bestimmt werden.

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Rph. § 101 Anm., S. 193 f. Rph. §. 101, S. 192.

I. Wiedervergeltung als Grundkategorie

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Von dieser Warte aus macht dann auch das materielle Talion bei Delikten gegen unveräußerliche Rechtsgüter, insbesondere Mord, wieder Sinn: In jedem einzelnen Leben findet sich die Person " ... in der ihrem Begriffe gleichen Unendlichkeit ... verletzt ..."33 Hier ist die Realität unmittelbar auf die Ebene des Allgemeinen gehoben, wodurch eine Wertgleichsetzung unnötig wird. Auf diesem Gedanken beruht m. E. Hegels Rechtfertigung der Todesstrafe 34 . Hegel vertritt mithin eine Theorie der Vergeltung dem Werte nach. Es ist nun, auch um andere Strafarten zu bestimmen, näher darauf einzugehen, wie er den Wertbegriff in diesem Zusammenhang versteht. Naheliegend ist zunächst der Gedanke, daß er lediglich derselbe Terminus wie der beim Tausch ist - nun mit negativem Vorzeichen. Dafür spricht vor allem die Verweisung auf diesen Abschnitt, der sich in Rph, § 101 Anm. findet 35. Zudem hatte sich aus der Funktion der Strafe / Rache, Wiederherstellung des allgemeinen Willens zu sein, ergeben, daß er auch als Allgemeines in die Existenz treten müsse, diese Allgemeinheit sich aber an den Sachen allein in ihrem Werte wiederspiegelt. Demnach tritt der allgemeine Wille im Vergelten dem Werte nach als negative Größe auf. Ein so verstandener Wertbegriff im Zusammenhang der Straftheorie stellt daher lediglich die Fortsetzung des negativen Momentes der Vergeltung in Zumessungsbestimmungen dar. Würde man ihn auf diese Bedeutung reduzieren, so würden die quantitativen Kriterien der Strafe das mit ihr intendierte affirmative Ziel unterlaufen, weil und soweit sie sich nur als negative Saldierungsposten verstehen ließen. Im Naturrechtsaufsatz findet sich daher auch eine kritische Stellungnahme zu solchen Vorstellungen: " der Staat hält als richterliche Gewalt einen Markt mit Bestimmtheiten, die Verbrechen heißen und die ihm gegen andere Bestimmtheiten feil sind, und das Gesetzbuch ist der Preiskourant"36. Für eine systematische Rekonstruktion der Hegeischen Straftheorie kann dies demnach nicht das letzte Wort sein. Im Schrifttum wird diese Ansicht von Piontkowski vertreten, der sich als einziger näher mit dem Wertbegriff im Zusammenhang der Verbrechenslehre befaßt hat 37 . Er weist auf die Parallele hin, die zwischen dem Wertbegriff in der Straftheorie und dem der Vertragsäquivalenz besteht. Er sieht darin die Übertragung ökonomischer Begrifflichkeit auf den Strafzumessungsvorgang 38 . Wie in der wirtschaftlichen Sphäre sich bloß formale Freiheit und Gleichheit verwirklichen lasse, so komme es auch bei der Ahndung des Verbrechens nicht auf reale Freiheitsunterschiede an. Wie das Verhältnis der Privateigentümer im Austausch sich demnach 33 34 35 36 37 38

Rph. § 96, S. 183. Rph. § 101 Zus., S. 196. Dieser verweist auf § 77, wo auf den § 63 Bezug genommen wird. Naturrechtsaufsatz, S. 480. Piontkowski, Hegels Lehre von Staat und Recht, 1960, S. 171 ff. Ebda. S. 173 f.

16 Klesczewski

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2. Kap. A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht

nur als Beziehung sachlicher Gleichheit konstruieren lasse, so führe die Übertragung der Wertkategorie auf die Strafe dazu, daß auch hier die Menschen hinter dem dinglichen Zusammenhang der Abfolge Tat/ Sanktion verschwänden 39 • Daher sei auch hier der von Marx kritisierte Warenfetischismus in modifizierter Form wiederzufinden. Obwohl Hegel die gesellschaftlichen Voraussetzungen dieser Betrachtungsweise geahnt habe, habe ihn seine idealistische Dialektik daran gehindert, den wahren Sachverhalt aufzuspüren 4O • Diese verleite ihn, den Zusammenhang zwischen dem Wert der Ware und dem der Arbeitskraft zu verkennen, und stattdessen den Wert über eine Abstraktion vom Gebrauchswert zu gewinnen. Wie hier der Blick auf den menschlichen Produktionsprozeß fehle, so blende auch die Strafzumessung den wirklichen Zusammenhang aus 41. Zwar sei sich Hegel des Unterschiedes zwischen Vertrag und Strafe bewußt. Bei ersterem gehe es um den Austausch von Leistungen, bei letzterer um die Restitution der Geltung des allgemeinen Willens. Dessen ungeachtet glaube Hegel, daß es dennoch möglich sei, die Quantität der Sanktion allein im Abwägen der Schwere der äußeren Verletzung zu bestimmen. Obwohl diese Untersuchung von Piontkowski die bisher eingehendste Darstellung der Wertproblematik bei Hegels Straftheorie darstellt, so enthält sie neben ihren Verdiensten auch Mängel. Denn es ist bereits der Ansatz fraglich, inwiefern Hegel einem Warenfetischismus erlegen ist, der ihn die wertbildende Macht der Arbeitskraft verkennen ließ. Die vorliegende Arbeit hat oben bereits den Nachweis zu bringen versucht, daß, trotz des ersten Anscheins, Hegel eine Arbeitswertlehre vertritt. Die Formel von der sich erhaltenden Möglichkeit, ein Bedürfnis zu befriedigen, verweist eben auf das Beharrende in aller Konsumtion. Sie verweist auf die sich regenerierende Substanz, die eben in der (Selbst-)Reproduktion der Arbeitskraft zu finden ist, die allein wertschöpfend ist. Der Vergeistigungsprozeß, der die Dynamik des abstrakten Rechts ausmacht, zeigt m. E., daß Hegel sich sehr wohl der Defizienz eines Daseins der Freiheit bewußt war, das sich allein in der Äußerlichkeit gegenständlich wird. Dennoch bleibt er sich ihrer relativen Berechtigung bewußt, woraus auch die Auffassung folgt, daß Zwang sich nur gegen äußerliche Rechtsgüter richten kann und darf. Daraus geht aber auch hervor, daß ein Rache- / Strafe-Verhältnis immer auch eine Seite aufweist, die auf die Vermittlung über die dingliche Sphäre angewiesen ist. Insoweit behält auch die Bemessung der Eingriffe in derartige Güter nach dem ökonomischen Kriterium des Wertes seine beschränkte Gültigkeit. Allerdings darf man dabei ebensowenig stehen bleiben, wie bei der Ableitung des Wertes aus der Brauchbarkeit der Sache. Es ist Piontkowski zuzugeben, daß die Abfolge Tat/ Sanktion sich nicht in einem sachlichen Verhältnis erschöpft. Vielmehr hatte die Analyse des Verbrechens gerade gezeigt, daß nur ein Zwang, der 39 40

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Ebda. S. 171 ff. Ebda. S. 175 f. Ebda. S. 179.

1. Wiedervergeltung als Grundkategorie

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von einem Freien als Resultat eines Urteilsaktes ausgeübt wird, echte Kriminalität ist. Auch hier eröffnet erst der Blick auf die "Produktionssphäre" der Verletzung des Rechts den wahren Zusammenhang zwischen Tat und Sanktion, der sich aus der inneren Natur des Verbrechens selbst ergibt. Das negativ unendliche Urteil enthält aber nicht nur die Selbstnegation der bloß für sich seienden Einzelheit durch den allgemeinen Willen des Täters, sondern vielmehr wesentlich die, freilich unzureichende, Geltendmachung des Wohls als Recht gegen den abstrakt-allgemeinen Willen. Darin kommt der wahre Wert des Verbrechens zum Ausdruck, daß in ihm an sich bereits der Übergang zum moralischen Wesen stattgefunden hat. Als inneres Allgemeines der Tat hat die Sanktion gerade diesen Zusammenhang im Dasein darzustellen. Die volle Bedeutung der Redeweise Hegels vom Wert des Verbrechens ist also erst gefunden, wo man ihn als das Bestimmtsein zur moralischen Subjektivität versteht. Der Wertbegriff als rein negative Größe bleibt daneben bestehen, weil und soweit Zwang sich an die Äußerlichkeit richtet und auch hier ein annäherndes Gleichmaß zu erstreben ist, was aber nie absolut möglich ist. Die Festlegung von Wertquanten auf dieser Ebene wird jedoch korrigiert durch das affirmative Moment im Vergeltungsbegriff. Im folgenden wird der Wert i. S. einer negativen Größe als negativer Wert bezeichnet, der Wert des Verbrechens, in sich die Bestimmung zur Moralität zu enthalten, heißt nun affirmativer Wert. Der Differenz zwischen dem Wert als negativer Größe und der affirmativen Bedeutung von Wert entspricht die Unterscheidung von Erfolgsunwert und Handlungsunwert auf deren zweiter Stufe: Zum einen bildet der positive Geltungsanspruch der Unrechtsmaxime das Gegenstück zur Geltungsnegation des allgemeinen Willens. Zum anderen weigert sich der Täter, die Unrechtsmaxime sowohl nach ihrer negativen Seite auf sein Dasein anzuwenden als auch ihre moralische Bestimmung einzusehen. Schwierigkeiten bereitet jedoch auch hier die Berechnung des angemessenen Wertäquivalentes. Beim Eigentum hatte sich gezeigt, daß die Größe der in einer Sache verkörperten Wertmenge auch von der subjektiven Wertschätzung des Inhabers abhängt. Ebenso hing die Quantifizierung der Wertgleichheit beim Tausch von der Einschätzung der Leistungen durch die Parteien ab. Es fragt sich nun, aus welcher Perspektive die Sanktion bemessen werden soll. Dabei scheidet der subjektive Standpunkt des Opfers aus, weil ansonsten zur Festlegung der Strafe / Rache ein Bestimmungskriterium herangezogen würde, das nicht aus der Unrechtsmaxime des Täters abgeleitet ist. Ebenso entfällt eine sich über Konsens herstellende Wertbemessungsgrundlage, da für den Bereich des abstrakten Rechts das Verbrechen gerade den Kulminationspunkt des Konfliktes darstellt 42. Es bleibt folglich nur die Wertschätzung des Täter selbst als Kriterium über 43 • Damit 42 Das bedeutet jedoch nicht, daß Sühnemöglichkeiten unter moralischen Wesen bzw. in sittlichen Zuständen unmöglich sind; Hinweise dazu in Rph. § 223, S. 376.; s. u. 2. Kapitel C. 1. 2. a).

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2. Kap. A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht

ist nicht gemeint, daß der Verbrecher nach seiner subjektiven Meinung angeben dürfe, wie hoch er den angerichteten Schaden wohl einschätze. Ebenso wie eine selbständige Einwilligung in die Strafe nicht erforderlich ist 44 , genauso liegt schon in der Tat selbst die Anerkennung eines spezifischen Wertmaßstabes. Es ist also danach zu fragen, wie hoch er den Schaden seiner Tat einschätzen würde, wäre er selbst Opfer des Verbrechens. In diesem Punkt wird dann nach einem Maßstab geurteilt, der auch im Vorgang der Strafzumessung die Opferperspektive mit einbezieht. Zunächst wäre gemäß der Arbeitswertlehre darauf abzustellen, wie hoch der Täter die Reproduktionskosten des angerichteten Schadens taxiert. Auch hier ist die Bestimmung des Straf- bzw. Rachequantums von historischen und gesellschaftlichen Bedingungen abhängig 45 , bzw. von der individuellen Konstitution des Täters. Zum zweiten hat sich der Täter gegen ein konkretes Opfer in dessen spezifischer Eigentumssphäre vergangen. Fraglich ist, inwiefern er nach rein abstrakt rechtlichen Kategorien auch in der Weise in die Opferrolle zu versetzen ist, daß er den Umfang des Schadens in demjenigen prozentualen Anteil auch auf sich beziehen muß, in dem seine Verletzung das Opfervermögen betroffen hat. Im abstrakten Recht sind Täter wie Opfer lediglich nach ihrer personalen Seite gleichgesetzt. Es wird unterstellt, daß der Verlust von wertgleichem Eigentum jede Person gleich betrifft. Dies ist der abstrakte Maßstab des Vertragsrechts, s. o. 1. Kapitel B. I. 3. Eine konkrete Angleichung der Vermögens lagen bzw. deren Berücksichtigung im Strafzumessungsvorgang kann daher mit abstrakt rechtlichen Kriterien nicht hergestellt werden 46 • Wie sogleich zu zeigen sein wird, lassen sich lediglich Grenzwerte ableiten. Die auf dieser Grundlage gewonnene Eingrenzung der Strafhöhe unterliegt jedoch noch der Korrektur anhand des affirmativen Wertes des Verbrechens, an sich bereits die Fortbestimmung zum moralischen Subjekts in sich zu enthalten. Jede Sanktion muß auf ihre Leistungsfähigkeit geprüft werden, wie sie dem Täter sein moralisches Wesen vergegenständlicht. Es muß in der Verbrechensreaktion mithin zum Ausdruck kommen, wie sich das in der Tat in widersprüchlicher Weise geltend gemachte Wohl in rechtlich verallgemeinerbarer Form auf die intersubjektive Beziehung von Täter und Opfer auswirkt. Hieraus lassen sich weitere Bestimmungen und Begrenzungen einzelner, möglicher SanktionsfofIl\en vornehmen. 43 In Rph. § 132, S. 245, wird diese Konsequenz auch gezogen: Zurechnung der Tat nach der Kenntnis von ihrem Werte. 44 So Hegels Ablehnung der Straftheorie Beccarias in Rph. § 100 Zus., S. 192. 45 Rph. § 96 Randbem. u. Zus., S. 184 f., § 218 Anm., S. 372. Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, 1975, S. 107. 46 Dies ist lediglich eine Anwendung des Gedankens aus Rph. § 49, S. 112 ff.; s. o. 1. Kapitel B. I. 2.

I. Wiedervergeltung als Grundkategorie

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Zum einen scheidet aus diesem Grund die Todesstrafe endgültig als gerechte Ahndung aus, weil hier das Allgemeine sich unter totaler Verneinung der Einzelheit wiederherzustellen versucht, somit gerade die Beziehung zum besonderen Willen gänzlich aufgelöst wird 47 • In einer solchen Sanktion kann es daher nicht mehr darum gehen, daß das Allgemeine von der Subjektivität auch anerkannt werde, da letztere ja vernichtet wird. Gleiches gilt für den Eingriff in andere unveräußerliche Rechte. Sklaverei und "Strafknechtschaft" sind ebenfalls keine angemessenen Sanktionen 48 • Daraus folgt allerdings noch nicht, daß der Arbeitszwang als mögliche Sanktion ausgeschlossen ist, soweit sich dieser auf eine zeitlich oder gegenständlich beschränkte Konsumtion der Arbeitskraft bezieht. Denn so ist der Arbeitszwang im abstrakten Recht der Entäußerung eines beliebigen anderen Sachgutes gleichgestellt 49 • Auch Leibesstrafen, die nicht irreparable Schäden an Leben und Arbeitskraft hervorrufen, können hier noch nicht kritisiert werden. Zum zweiten hat die zu verhängende Sanktion insofern ein gemeinnütziges Element aufzuweisen, daß sie das Wohl in verallgemeinerbarer Weise, also für Täter und Opfer, als anerkannt setzen muß. Aus dieser Perspektive wird möglich, was oben zunächst ausgeschlossen wurde: Als Grenzwert ist einmal zu berücksichtigen, wie das Verbrechen auf das Gesamtvermögen des Opfers gewirkt hat. Hat es dessen Funktion gefährdet bzw. zerstört, Grundlage der Ernährung des Opfers gewesen zu sein, so ist die Verletzung als konkret schwerwiegender anzusehen. Gleiches gilt aber auch für den Verbrecher: Eine abstrakt wertgleich bestimmte Geldeinbuße, die ebenfalls das Vermögen des Täters (nahezu) eliminieren würde, ist gleichermaßen aus diesem Gedanken heraus zu korrigieren so. Dennoch ist damit noch nicht eine Bruchteilsgeldstrafen abgeleitet. Zu ihrer Deduktion bedarf es m. E. sittlicher Bestimmungen. Es ist demnach nicht richtig, wenn man Hegel vorwirft, daß er bei der Strafbemessung in kruden Ökonomismus abgleitet, wenn auch die eine oder andere Bemerkung seinerseits dazu Anlaß bietet 51 • Vielmehr ist die Wertkategorie bei der Vergeltung an der Konstitution eines moralischen Verhältnisses der Subjekte zueinander ausgerichtet, innerhalb dessen das abstrakte Recht als Moment erhalten bleibt. Die Festlegung von einzelnen Strafquanten ist danach an der Restitution des Rechtsverhältnis orientiert, die für den Anstoß zu normgeleiteten Verhalten 47 Hegels Begründung der Todesstrafe kann daher nur sehr beschränkte Gültigkeit beanspruchen. Schon für die Vollfonn der Rache ist sie defizient. 48 F. v. Liszt, StrafR. Abh. Bd. 1., S. 170. 49 Vgl. Rph. § 67, S. 144 f. Unten wird sich zeigen, daß moralische und sittliche Kriterien dennoch den Arbeitszwang aus der Reihe möglicher Sanktionen ausscheiden lassen. so Diese Überlegung leitet sich aus Hegels Begründung von Pfandungsfreigrenzen ab, vgl. Rph. § 127 Anm., S. 240. 51 Namentlich der Rückverweis auf die Benutzung der Wertkategorie bei den Verträgen in Rph. § 101 Anm., S. 194.; s. o. 1. Kapitel B. I. 2. und 3.

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2. Kap. A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht

des betroffenen Subjektes erforderlich ist. Dabei sind Rechte, die sich nicht auf äußere Gegenstände richten (moralische Gesinnung etc.), ebensowenig taugliches Eingriffsobjekt wie unveräußerliche Rechtsgüter, namentlich Leben.

3. Reaktion auf die Gewalt des natürlichen Willens Wie sich das Verbrechen von der Gewalt des natürlichen Willens unterscheidet, so auch die Art und Weise der Verarbeitung dieser Beeinträchtigung des Rechts von Rache / Strafe. Dem natürlichen Willen mangelt es noch an der Kraft des praktischen Urteilens. Es fehlt hier also ein selbstgesetzter Widerspruch, dem eine Selbstaufhebungstendenz immanent ist. Dennoch liegt auch hier eine Gefahr bzw. eine Störung des bestehenden Daseins der Freiheit vor, die auf den an sich seienden Widerspruch zurückzuführen ist, der zwischen der realen Existenz des natürlichen Willens und seiner Bestimmung zur Vernunft zu finden ist 52 • Aus diesem Grund ist jede Person berechtigt, durch Zwang ihr bisher begründetes Dasein der Freiheit in Schutz zu nehmen vor der Zerstörung durch den natürlichen Willen 53. In Anlehnung an den strafrechtlichen Sprachgebrauch wird dieses Moment im folgenden als Sicherung bezeichnet 54. Dies rein negative Element in der Zwangsanwendung unterläge aber einer ähnlichen negativen Dialektik wie der Zwang des Gläubigers an den Schuldner, den bestrittenen, vertraglichen Anspruch zu erfüllen. Folgerichtig ergänzt Hegel auch hier die Zwangsbefugnis um eine positive Seite: Neben die Sicherung vor dem natürlichen Willen muß das Bemühen treten, in ihm das Rechtsgebot, das eigene Personsein, ja sogar die sittliche Idee zur Geltung zu bringen. Dieses Moment, das den Zwang erst zu einem pädagogischen macht, soll im Folgenden Besserung genannt werden. Das, was als unmittelbarer Bestimmungsgrund der Strafe / Rache von Hegel ausgeschlossen wurde, die Sicherung vor der Gefährdung einzelner Güter, führt er hier als Legitimation des Zwanges ein. Dies beruht darauf, daß im natürlichen Willen noch keine Selbstaufhebungstendenz zum moralischen Wesen angelegt ist, der Anstoß zu normgeleitetem Verhalten hier mißverstanden werden müßte. Dennoch würde der durch den Ausschluß des natürlichen Willens herbeigeführte Zustand ebenfalls dem Begriffe des Rechts widersprechen, weil in diesem Verhältnis sich die eine Seite (noch) nicht als Person versteht. Daraus leitet sich dann der Anspruch auf Besserung dieser Lage ab. Rph. § 11, S. 62, § 57 Anm., S. 123 f. Rph. § 93 Anm., S. 179 f. 54 Sie wurden von F. v. Liszt in die modeme Diskussion eingeführt, StrafR. Abh. Bd. I, S. 126 ff. Er verstand sie jedoch stets als Moment der Strafe, was hier hinterfragt wird. Im übrigen soll hier lediglich die Terminologie übernommen werden, nicht deren instrumentalisierende Bedeutung. Wie Stärkung der Normgeltung, Abschreckung, Sicherung und Besserung auch Elemente der Strafe werden können, dazu vgl. vorläufig, Nachschr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 552 f.; s. u. 2. Kapitel C. 1. 2. a). 52

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11. Fonn der Vergeltung

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Wie dies im einzelnen durchgeführt werden kann, hat Hegel erst bei der Abhandlung zur Familie und zur bürgerlichen Gesellschaft ausgeführt 55. Dennoch kann hier schon gesagt werden, daß genau wie bei dem sich als Person verstehenden Individuen die Vorstellung von der Geltung eines allgemeinen Willen sich nur dadurch vermitteln läßt, daß hier dem Betroffenen Gelegenheit zur Selbstvergegenständlichung in Eigentum und Vertrag gegeben wird 56. Auch beim pädagogischen Element dieses Zwanges differiert also der Bestimmungsgrund von dem der Strafe / Rache wesentlich. Neben die Gemeinsamkeiten zur Rache oder Strafe, Reaktion auf Zwang zu sein, der einen Widerspruch des individuellen Willen zu seinem Begriffe offenbart, welcher durch die Zwangsanwendung aufgehoben werden soll, treten daher ebenso wesentliche Unterschiede: Das Verbrechen stellt einen Zwang dar, der von einem Freien verübt wurde, enthält mithin einen selbstgesetzten Widerspruch. Dem entspricht die Auflösung des Gegensatzes: Sie soll die äußere Existenz der Selbstaufhebungstendenz sein, die zum moralischen Wesen hinführt. Dagegen ist der natürliche Wille nicht wirklich frei, der Widerspruch von ihm nicht selbstgesetzt. Hier dient der Zwang dazu, die äußere Existenz der Unfreiheit an ihrer weiteren Entfaltung zu hindern, um dadurch den Weg zur eigenen Personalität zu eröffnen. 11. Die Form der Vergeltung im abstrakten Recht

Bisher wurden lediglich die inhaltlichen Kategorien der Rache / Strafe erläutert. Dabei wurde davon abgesehen, daß sie sich allein über die Tätigkeit von Individuen verwirklicht, die in einem Verhältnis zu mindestens einer anderen Person stehen. Hieraus ergeben sich jedoch Komplikationen, die im folgenden den Schwerpunkt der Abhandlung bilden. Für das abstrakte Recht ist es dabei charakteristisch, daß das Subjekt der Sanktionierung das konkrete Opfer der Tat ist, nicht etwa der Täter oder ein Richter 57 • Daß das Opfer anstelle des Richters auf das Verbrechen reagiert, beruht auf der noch fehlenden Ableitung von (sittlichen) Institutionen 58. Schwieriger zu beantworten ist schon die Frage, wieso nicht der Verbrecher das Unrecht von sich aus sühnt. Hegel sucht die Lösung dieses Problems im Hinweis auf die Unmittelbarkeit, der die Personen und also auch der Täter im 55 Rph. § 174, S. 326 f.; § 239, S.386; Vgl. w. Rph. § 240, S.387; Enzykl. § 408 Zus., S. 163 ff. 56 Rph. § 81 Randbem., S. 172 f.: Was hier in Bezug auf einzelne Völker von Hegel ausgesagt wird, muß auch für deren Teile, die Personen, gelten. Verträgeschließen bedeutet eben auch ein Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, vgl. dazu Ilting, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 227 f. 57 Rph. § 102, S. 196. Eine Erweiterung erfährt hier der Kreis der Subjekte der Rache durch Einbezug des Sippenverbandes. Geschichtlich dazu instruktiv Eb. Schmidt, Geschichte, 1965, § 4, S. 22 f., § 52 f., S. 65 ff. 58 s. dazu nur Ilting, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 237.

2. Kap. A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht

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abstrakten Recht noch verhaftet sind 59. Darunter versteht er die Zufalligkeit, mit welcher der Begriff des (abstrakten) Rechts in Eigentum und Vertrag noch ins Dasein tritt. Denn im Selbstverständnis der Personen ist allein ihre Befriedigung der Bedürfnisse das Maßgebliche. In Aufnahme der optimistischen Linie in der Naturrechtstradition dient das abstrakte Recht zunächst dem Nachweis, daß ein Gleichklang zwischen dem Begriffe des Rechts und der Bedürftigkeit der Individuen möglich und fähig ist, der Freiheit ein Dasein zu verleihen 60 • Das Unrecht zeigt jedoch die Grenzen einer solchen Vorstellung auf. Der Möglichkeit der Harmonie von Trieb und allgemeinem Willen steht die Möglichkeit zur Seite, daß beide ebenso nicht übereinstimmen. Wo allein die Neigung den Ausschlag geben soll, ob sich das Recht verwirkliche, dort wird die Realisation der Freiheit zufallsabhängig. Folgendes macht nun den Bewußtseinsstand eines Subjektes, das sich bloß als Person versteht, aus: Es hat zwar den Begriff seines Willens vor Augen, seine Realisierung macht es aber vom Gleichklang mit dem als Maßstab zugrundeliegenden Bedürfnis abhängig 61 • Differiert nun das eine vom anderen, so ist es der Trieb, der die Entscheidung fallt, welche Verhaltens alternative verwirklicht wird 62. In dieser noch bestehenden Bindung drückt sich die Unmittelbarkeit aus, in der die Person im abstrakten Recht noch lebt. Diese Neigungsgeleitetheit unterfüttert auch die formale Richtigkeit der Unrechtsmaxime, die ihren Geltungsschein hervorruft. Dort, wo man sich den Verbrecher derart konstituiert vorstellt, ist es dann nur folgerichtig, von ihm nicht zu erwarten, daß er von sich aus, das Verbrechen aufheben werde. Es muß daher nach einer anderen Person gesucht werden, aus deren Bedürfnisstruktur sich der Wille zur Durchsetzung der Verbrechensreaktion ableitet. Dies kann allein das Opfer sein, das aus dem Affekt des Verletztseins heraus handelt 63. Für das abstrakte Recht ist es demnach konsequent, wenn Hegel dem Opfer die Subjektrolle bei der Verwirklichung der Rache zuweist. Daraus ergeben sich aber Konflikte, die zunächst alle damit zusammenhängen, daß sich die dem Verbrechen immanente Selbstaufhebungstendenz in eine Fremdaufhebungstendenz verwandelt. Diese verschiedenen Formen der Rache sind nun näher zu betrachten.

Vgl. Rph. § 81, S. 169. Ilting, in: Henrich/Horstmann, 1982, S. 239. Vgl. Bobbio, in: Riedei, 1975, S. 98, Ilting, in: Riedei, 1975, S. 53 ff. 61 Hierzu gut Ilting, in: Henrich / Horstrnann, 1982, S. 237. Siep, in: Henrich / Horstmann, 1982, S. 270 f., stellt dagegen mehr auf die Begriffsentwicklung ab; s. o. 1. Kapitel 59

60

B. 1. I. 62 63

Rph. § 81 Randbem., S. 170 f. Rph. § 102, S. 196.

11. Fonn der Vergeltung

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1. Die Rache der unmittelbaren Person Inhaltlich gerecht nennt Hegel nur diejenige Verbrechensreaktion, welche das Verbrechen dem Werte nach vergilt 64 • Er unterscheidet davon die Form, in der sich dieses (Rache-)Recht ins Dasein übersetzt. Darunter versteht er die Notwendigkeit, daß innerhalb des abstrakten Rechts allein das Opfer die Subjektrolle bei der Antwort auf Kriminalität spielen kann. Gegen diese Art und Weise der Bewältigung von Delinquenz erhebt er zwei Einwände: Zum einen unterliegt die Person des Opfers ebenfalls noch dem Einfluß der Unmittelbarkeit, wodurch es zufällig wird, ob die tatsächlich geübte Rache den inhaltlichen Kriterien der Vergeltung genügt. Zum anderen bleibt das Opfer im Verhältnis zum Verbrecher für diesen ein besonderer Wille, was dem Allgemeinheitsanspruch seiner Verbrechensreaktion abträglich ist. Zunächst soll nur auf den ersten Einwand eingegangen werden 65. Als unmittelbare Person hält auch das Racheopfer sein Bedürfnis für das praktisch Maßgebliche. Das bedeutet aber, daß der Zorn, Unrecht erlitten zu haben, es in seiner Reaktion auf das Verbrechen leitet. Dann aber ist sie anfällig für das abstrakte Denken der Persönlichkeit, die in jeder auch noch so geringen Verletzung nur die Verletzung ihrer Unendlichkeit sieht, ohne auf ihr konkretes Dasein zu schauen 66. Dann aber wird die Wahl des Sanktionsmittels sich nicht mehr an der Wertgleichheit ausrichten. So wird aber die inhaltlich gerechte Rache verfehlt. Dies führt beim Verbrecher zu dem Gefühl, selbst Opfer eines Verbrechens zu sein, worauf auch er sich berechtigt fühlt, nun seinerseits Rache zu üben. Weil sich die inhaltlich ungerechte Rache nicht am affirmativen Element der Vergeltung ausrichtet, bleibt sie auf die reine Negativität reduziert, die im Verbrecher eben den Willen zur Gegenreaktion hervorruft. Wo auch er als unmittelbare Person die Sanktion nicht an der Wertgleichheit ausrichtet, dort bleibt auch sein Racheakt allein negativ, so daß sich die Rache als Blutrache ewig forterbt 67 • Aber selbst dort, wo das Opfer inhaltlich gerecht vergolten hat, haftet dieser Realisierung des Rechts an sich der Charakter der Zufälligkeit an 68 • Weil eben das Rachebedürfnis das leitende Prinzip seiner Tat ist, treffen sich hier Neigung und an sich seiender Wille bloß zufällig. Für den Täter erscheint daher die Sanktion allein als Ausdruck des Begehrens des Opfers, sein Mütchen zu kühlen. Rph. § 102, S. 196. Häufig wird in der Literatur Hegels Kritik auf diesen ersten Einwand reduziert. Vgl. z. B. Marcic, in: Hegel und die Folgen, 1970, S. 205, Schild, ARSP 70, 1984, S. 89 f. 66 Rph. § 102, S. 196, § 96 Anm., S. 183. Sehr schöne Ausführung zu den Folgen dieser Ehrenkränkung finden sich auch in der Ästhetik 11, S. 180 ff. 67 Rph. § 102, S. 196. Dieses Phänomen beherrschte lange Zeit die Rechtsgeschichte. Dazu anschaulich Eb. Schmidt, Geschichte, 1965, §§ 34 ff., S. 47 ff. 68 Rph. § 102, S. 196. Des weiteren kommt noch hinzu, daß dem Opfer u. U. die Macht fehlte, die Rache gegenüber dem Verbrecher durchzusetzen, Enzykl. § 501, S. 310. 64

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2. Kap. A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht

Dadurch fühlt sich der Täter auch in diesem Falle als Opfer eines erneuten Verbrechens, ähnlich dem Schuldner, der dem Erfüllungszwang unterworfen wird. So führt auch hier die Rache zum infiniten Regreß der Blutrache. Soweit daher Täter und Opfer mit dem Bewußtseinsstand von unmittelbaren Personen aufeinander einwirken, reduziert sich der Eindruck, den die Rache erweckt, auf ihre negative Seite, wodurch die Blutrache unvermeidlich wird. Dem infiniten Regreß, der sich hier äußerlich darstellt, liegt aber innerlich die wechselseitige Negation des allgemeinen Willens durch den besonderen und umgekehrt zugrunde. Das Affirmative dieser negativen Beziehung war aber in der oben geschilderten Einheit zu suchen, in der das Recht nicht ohne den besonderen Willen, dieser aber selbständig nur in rechtlicher Allgemeinheit bestehen kann. Wo zumindest eine Seite des Verhältnisses diesen tieferen Sinn der inhaltlich gerechten Rache nachvollzieht, dort findet der Übergang zu einem modifizierten Verhältnis der Rache statt, das nicht mehr dem ersten Einwand Hegels ausgesetzt ist.

2. Die Rache der in sich reflektierten Person Unter einer in sich reflektierten Person wird hier dasjenige Subjekt verstanden, das den Sinn von Rache nicht allein in ihrer Negativität, sondern gerade in ihrem affirmativen Moment erfaßt, Übergang zur Moralität zu sein. Für das Tatopfer bedeutet dies den Versuch, sich an der Forderung nach einer strafenden Gerechtigkeit zu orientieren. Damit tritt ein Problem ein, das Hegel in seinem zweiten, oben angegebenen Einwand gegen die Rache formuliert hat: Das rächende Opfer bleibt für den Täter stets ein anderer besonderer, von ihm unterschiedener Wille. Auch hier kann die Endlichkeit dieses besonderen Willens dazu führen, daß die Erfüllung dieses Sollens verfehlt wird. Dies beruht dann aber nicht mehr notwendig auf der unmittelbaren Vorordnung der eigenen Bedürfnisse bei der Verwirklichung des Rechts. Vielmehr kann darin entweder die Leistungsfähigkeit des besonderen Willens an ihre Grenze gestoßen sein, weil er sich z. B. unvermeidbar geirrt hat, oder es liegt eine selbstbewirkte Verstellung der richtigen Einsicht vor. All dies sind spezifisch moralische Probleme, die erst im nächsten Abschnitt behandelt werden sollen. Auch wenn man von diesen möglichen Fehlerquellen absieht, bleibt die grundlegende Problematik erhalten. Sie ist nicht damit zu verwechseln, daß etwa der Täter als unmittelbare Person den tieferen Sinn der Rache verkennt. Wo dies der Fall ist, tendiert das Verhältnis erneut zur Blutrache - allerdings in modifizierter Form: Es ergibt sich eine Minimierung der Sanktionsschärfe dadurch, daß jetzt die eine Seite der Beziehung, das Tatopfer, durch seinen Fortschritt zum moralischen Wesen seine Äußerlichkeit zu einem Moment seines Dasein reduziert hat, s. o. 1. Kapitel C. I. und 11. 1. Dadurch vermindert sich für das Opfer der Grad der Verletzung und damit die Höhe der angemessenen Verbrechensreaktion.

11. Fonn der Vergeltung

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Es soll hier nur dasjenige Verhältnis betrachtet werden, in dem auch der Verbrecher prinzipiell empfänglich ist, die inhaltlich gerechte Rache als Existenzform der Aufhebungstendenz zu verstehen, die seiner Unrechtsmaxime immanent ist. Die hier zum Ausbruch kommende Problematik hängt damit zusammen, daß wegen der Notwendigkeit, das Opfer zum Subjekt der Rache zu machen, die im Verbrechen enthaltene Selbstaufgebungstendenz äußerlich in eine Fremdaufhebungstendenz umschlägt. Es ist jetzt diese Beziehung von Tat und Sanktion in der Rache näher zu betrachten; in ihr spielen zwei verschiedene, spezifische Verletzungen zwei unterschiedliche Rollen. Man nehme den Fall, in dem eine Körperverletzung mit einer Geldbuße geahndet wird. Das innere Allgemeine der Körperverletzung, ihr affirmativer Wert drückt sich jetzt für die Beteiligten im Wert der Geldentziehung aus. Was vorher im Verbrechen nur verhüllt vorhanden war, erhält in der Buße ein Material, an dem es äußerlich erscheinen kann. Allerdings tritt das Affirmative der Körperverletzung nur im Verhältnis zur Sanktion in die Existenz; sie bildet daher einen relationalen Wertausdruck. Umgekehrt ist die Rache ebenfalls lediglich Äquivalent für die Körperverletzung. In der Geldbuße offenbart sich demnach das Spezifische der Körperverletzung, eine Mißhandlung einer einzelnen Person zu sein. Aber auch die Gleichheit, die beide Verletzungen in ihrem negativen Wertbegriff aufweisen, ist nur eine scheinbare: Denn während das Verbrechen wesentlich Verneinung des be sonderten allgemeinen Willens ist, stellt die rächende Verletzung dagegen die Vernichtung des bloß einzelnen Willens dar. Die Identität, die diese Daseinsformen in der Äußerlichkeit aufweisen, verdeckt hier die unterschiedliche Bedeutung, die ihnen zukommt: Einmal ist es Ausdruck des bloß für sich seienden, einzelnen Willen des Verbrechers, andermal Erscheinungsform des sich über den besonderen Willen des Opfers manifestierenden allgemeinen Willens. Das innere Allgemeine der Tat, das Bestimmtsein zu moralischer Subjektivität, kann daher allein die Gleichheit zwischen den Verletzungen herstellen. Denn sowohl das Verbrechen als auch die Rache stellen Verletzungen von Rechten dar, die sich auf äußere Güter beziehen 69. In beiden Zwangsakten betätigt sich ein negativ unendliches Urteil. Beiden Verletzungen ist demnach die Tendenz zur Selbstnegation immanent. Beide weisen als inneres Allgemeinen daher das Bestimmtsein zur moralischen Sphäre auf. Nicht nur dem Täter kommt dies zu, sondern auch dem Rächenden. Durch die Form der Rache tritt das innerliche Allgemeine jedoch nur an der Sanktion in die Existenz. In ihr drückt das Verbrechen seine innere Natur aus, die ihm in seinem isolierten Dasein für sich selbst nicht äußerlich zukommt. Es ist daher die erste Eigentümlichkeit der rächenden Verletzung, daß ihr negativer Wert Erscheinungsform des affirmativen Wertes wird. Das bedeutet aber für die 69

Rph. § 101 Anm., S. 194.

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2. Kap. A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht

Existenz des Verbrechens, daß sie äußerlich auf die reine Negativität reduziert wird: "Ebenso ist die Verletzung für den besonderen Willen des Verletzten und der übrigen nur etwas Negatives."70 Denn das in ihr verhüllt schon vorhandene affirmative Element, das Bestimmtsein zum moralischen Wesen, nimmt im Verhältnis der Rache eine von der Tat verschiedene äußere Existenz an, die der Geldbuße. Ein weiteres kommt hinzu. Beide Verletzungen, Tat wie Rache, sind Äußerungen verschiedener Willen. Das vom Willen des Verbrechers aber bereits Geurteilte, das Übergehen in die Moralität, erhält in seiner Tat keine äußerliche Existenz. Erst in der Form der Rache nimmt dieses innere Allgemeine auch Realität an in der auferlegten Sanktion der Geldbuße. Nur in diesem Vehältnis zu seiner gerechten Vergeltung steht dem Verbrecher der affirmative Wert seiner Tat im Dasein gegenüber. Dieses Dasein beruht aber auf der Tätigkeit eines anderen besonderen Willens, nämlich dem des Opfers. Es ist folglich eine zweite Eigenschaft der rächenden Verletzung, daß sie als Tätigkeit eines besonderen Willens Erscheinungsform der Tätigkeit des allgemeinen Willens ist. Dagegen reduziert sich die Aktuosität des besonderen Willens des Verbrechers in diesem Verhältnis auf die Betätigung seines besonderen Willenselementes, also auf seine Partikularität. Darüber vermittelt sich ein Drittes: Durch die Beschränkung der Existenz des Verbrechens auf die Rolle der Negativität erhält auch der darin sich realisierende besondere Wille eine rein negative Bedeutung: Sein Willensinhalt erschöpft sich in dieser Beziehung auf die Brechung des Rechts. Das bedeutet, daß im Verhältnis zur rächenden Verletzung die Reflexion der Willensbestimmungen des Täters - entgegen obiger Analyse - auf die Reflexion der Einzelheit in sich beschränkt wird. Die Reflexion des allgemeinen Willenselementes in sich erscheint jetzt als Tat eines anderen Willens. Dagegen wird die ebenso negative Tätigkeit des Rächers durch das Hervortreten des immanenten, affirmativen Elementes überformt: Sein besonderer Wille ist wesentlich Wiederherstellung des Rechts. Eine dritte Eigentümlichkeit der rächenden Verletzung liegt folglich darin, daß sie als ein Wille, der das Dasein eines (anderen) Willens verneint, dennoch Restitution des Rechts bleib!,l. Für das Verhältnis der Personen zueinander hat dies einschneidende Konsequenzen: Zwar herrscht in der Innerlichkeit der jeweiligen Willen des Täters und des Opfers ein identischer Grundzug vor: Beide sind bestimmt zu moralischer Subjektivität. Diese Gleichheit spiegelt sich aber nicht in der Äußerlichkeit wieder. Während das Opfer durch die Sanktion als ein Wesen in die Existenz tritt, das seinen besonderen Willen nach einem allgemeinen Sollen ausrichtet, wird dem Verbrecher diese Möglichkeit, sich als moralisches Wesen zu zeigen, verwehrt. 70 Rph. § 99, S. 187. 71 Vgl. dazu Rph. § 92, S. 179, wo auf den Widerspruch hingewiesen wird, der darin enthalten ist.

11. Fonn der Vergeltung

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Dennoch war es notwendig, daß die Geldbuße dem Täter durch das Opfer auferlegt wurde, da dieser wegen seines Zustandes, noch der Unmittelbarkeit verhaftet zu sein, von sich aus nicht dazu in der Lage war. Trotzdem führt der Nachvollzug des Sinnes der Rache dazu, daß der Täter sich nunmehr als moralisches Wesen versteht: Die Sanktion offenbart ihm ja gerade die Aufhebungstendenz, welche seinem Urteil zugrundelag. Er muß sie als vernunftnotwendige Folge seines Tuns begreifen, die vorzunehmen er verpflichtet gewesen wäre. Diese Reflexion auf den Sinn der Verletzung, die ihm als Rache zugefügt worden ist, führt ihn dahin, daß in seiner Unrechtsmaxime nicht nur die Negation des Rechts als Recht ausgesprochen ist, sondern auch der Anspruch erhoben wird, das abstrakte Recht als Moment innerhalb eines Verhältnisses neu herzustellen, in dem allgemeiner und besonderer Wille sich der Wechselbezüglichkeit ihrer Tätigkeit bewußt geworden sind. Kurz gesagt: Durch Reflexion auf sein moralisches Wesen entdeckt der Täter, daß er selbst eine Handlungspflicht gehabt hat, den Widerspruch, den er durch seine Tat gesetzt hat, aufzuheben. Er realisiert auch, daß er als unmittelbare Person, die sich diesem Schlusse noch verweigerte, dann zumindest duldungspflichtig gewesen ist, die rächende Verletzung auf sich zu nehmen 72. Dennoch bleibt der Eindruck, daß durch das bloße Erleiden der Sanktion ihm ein wesentliches Recht vorenthalten worden ist. Denn der Nachvollzug des Sinnes der Rache hat ja gerade zu seinem Resultate, daß der Täter sein moralisches Wesen erfaßt. Zu ihm gehört nicht nur die Pflicht, sich nach dem allgemeinen Sollen auszurichten. Vielmehr enthält es zugleich das Recht, " ... daß das Subjekt bei dem, was es als seinen Zweck ansehen und befördern soll, mit seiner Tätigkeit sei ..."73. Von dieser Warte reicht es (dem Täter) nicht mehr aus, daß das Unrecht (egal von wem) aufgehoben worden ist. Stattdessen kann diese Vergeltung ihm gegenüber nur noch Anerkennung beanspruchen, wenn er sich selbst als tätig darin wiederfindet. Durch die vom Opfer ausgeführte Rache ist ihm dieses Recht, das ihm als moralisches Wesen zukommt, jedoch endgültig versagt. Nur eine Selbstaufhebung des Verbrechens würde jetzt den Ansprüchen des Täters genügen. Die Vornahme der Rache durch das Opfer, die als letzter Akt innerhalb des abstrakten Rechtsverhältnisses noch notwendig und berechtigt war, führt also zu einem Resultat, dem Verhältnis moralischer Wesen zueinander, in dem die Fremdsetzung von Sanktionen notwendig Unrecht darstellt. Nur eine in moralischer Verantwortung selbstgesetzte Wiederherstellung des Rechts kann hier gegenüber dem Täter noch gerechtfertigt werden. Weil aber die Rache schon durchgeführt ist, ist diese Möglichkeit dem Täter endgültig verwehrt.

72

Zur fonnalen Ableitung von Duldungs- aus Handlungspflichten vgl. Hruschka, JuS

1979, S. 383 ff.

73 Rph. § 123, S. 230. Man beachte, daß im obigen Zitat Hegel auch dann von einem Recht der Absicht spricht, wo einer Pflicht genügt wird. Auch hier kommt dem Subjekt der Anspruch zu, durch seine Tätigkeit dem Sollen zu genügen.

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2. Kap. A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht

Das Resultat der Rache enthält zunächst ein Dilemma für den Verbrecher. Er ist innerlich zum moralischen Wesen bestimmt, ohne das seine äusserliche Existenz dem entspricht. Er hat damit keine Möglichkeit (im Verhältnis zum Rächenden), diese seine innerliche Bestimmung in der Objektivität zur Geltung zu bringen. Aber auch das äußere Verhältnis zum Rächenden enthält nun ein Ungleichgewicht: Während dieser eben durch die Rache sich als moralische Subjektivität gegenüber dem Täter manifestiert hat, gilt der Täter äußerlich weiterhin noch als unmittelbare Person. Das Verhältnis der Beiden ist also durch folgende Asymmetrie gekennzeichnet: Während sich das Opfer schon auf der Verwirklichungsstufe der Moralität befindet, verharrt der Täter in seinem Dasein auf dem des abstrakten Rechts. Beide Seiten der Beziehung stehen mithin auf unterschiedlichen Stufen in der Realisierung der Freiheit zur Idee: Dem einen ist seine Moralität bereits objektiv, beim anderen liegt sie nur in ihrer subjektiven Form vor. Die Unmittelbarkeit, welcher der Täter im abstrakten Recht noch verhaftet ist, macht also eine Fremdsetzung der Rache durch das Opfer notwendig. Die beiden Momente des Verbrechens spiegeln sich dadurch in zwei verschiedenen Verletzungen äußerlich wieder: Das Verbrechen hatte zwar für sich nur eine negative Existenz; innerlich enthielt es aber als Affirmatives den Fortgang zur Moralität. Im Verhältnis der Rache nehmen diese Momente der Tat zwei unterschiedliche Daseinsweisen an: Während an der rächenden Verletzung den Personen das innere Allgemeine des Verbrechens in Erscheinung tritt, beschränkt sich die Äußerlichkeit des Verbrechens weiterhin auf die bloß negative Bedeutung. Dem korrespondiert die Reduktion der Aktuosität des Willens des Verbrechers in diesem Verhältnis auf die Rolle des besonderen, das Recht verneinenden Willens, während die Tätigkeit des allgemeinen Willen - an der der Täter als Person ja teilhat - hier als Handlung des besonderen, das Recht restituierenden Willens des Opfers erscheint. Während dieses damit als moralisches Wesen in die Existenz tritt, bleibt der moralische Nachvollzug bei jenem auf die Innerlichkeit begrenzt. Daraus entwickelt sich für den Täter das Dilemma, für sich selbst bereits als moralisches Wesen zu gelten, dies jedoch nicht in der Objektivität darstellen zu können. Auch die Fremdgesetztheit der Sanktion, die innerhalb des abstrakten Rechts noch gerechtfertigt war, widerspricht so dem moralischen Anspruch des Täters auf Selbsttätigkeit. Die hier gegebene Analyse wurde in Analogie zur Wertformanalyse entwickelt, wie sie Marx im Kapital vornimmt 74 • Sie wird hier nicht auf ein ökonomisches Tauschverhältnis bezogen, sondern auf eine Rechtsbeziehung, die sich über Rech74 MEW 23, S. 63 ff. Dies gilt auch für den folgenden Abschnitt, zu dem des weiteren, Kapital. MEW 23, S. 83 ff., herangezogen werden kann. Ähnlich ging auch Piontkowski, Hegels Lehre von Staat und Recht, 1960, S. 174 f., vor. Vgl. w. Angehm, Freiheit und System, 1977, S. 196 ff.

II. Fonn der Vergeltung

255

te an Sachen konstituiert7 5 • So fügt es sich m. E. nahtlos in die Systematik der Rph. ein, beleuchtet ein rechtliches, nicht ein ökonomisches Problem, das mit der Beschränkung des Daseins der Freiheit auf das abstrakte Recht eintritt. Der Orientierung an der Wertfonnanalyse kommt daher nur ein heuristischer Sinn zu. Bevor näher darauf eingegangen werden kann, wie der Täter dennoch versucht, seine Subjektivität in der Äußerlichkeit zur Geltung zu bringen, soll zunächst auf eine Verschärfung seiner Situation eingegangen werden, die sich aus der Kanalisierung der Rache in bestimmten Fonnen ergibt.

3. Die Formalisierung der Rache Hegel trennt von der Privatrache eine andere Fonn der Vergeltung, der er die Kraft zuschreibt, zur Staatengründung beizutragen. Er nennt als Beispiel das Fehdewesen abenteuernder Ritter 76 • Über seine nähere Ausgestaltung läßt sich seinen Schriften wenig entnehmen. Sicher ist, daß den Subjekten dieser Fonn der Rache auf alle Fälle die Macht zukommen mußte, die sie in den Stand setzte, sich gegen Verbrecher und ihre Sippen befriedend durchzusetzen. Unter dem Titel der Macht versammelt Hegel aber nicht jede rohe Gewaltausübung 77 • Vielmehr muß Macht sich als geistiges Phänomen ausweisen. Für die Sphäre des objektiven Geistes bedeutet dies, daß nur demjenigen Subjekt letztlich Macht zukommt, der über seine äußeren Taten die geistigen Potenzen anderer Individuen anspricht 78. Er muß die Gewalt derart ausüben, daß sie nicht nur für seine Subjektivität Gültigkeit hat, sondern sie auch durch die Subjektivität aller anderen Anerkennung findet. Letztlich heißt dies, daß deren moralisches Bewußtsein angesprochen werden muß, um einer Sanktion diese Allgemeinbedeutung zuzuschreiben 79. Auf die äußere Kräftigkeit des Rächers kommt es also nicht wesentlich an bei der Verallgemeinerung der Geltung von Rache. Eher kann schon daran gedacht werden, daß der Fortschritt in der Fonn der Unrechtsaufhebung darauf beruht, Einbußen aufzuerlegen, deren wertgleiche Bemessung einfach möglich und intersubjektiv nachvollziehbar ist. Hier könnte sich die Bereitschaft ergeben, daß solche Ahndungen wegen ihrer Evidenz, angemessen zu sein, leichter auf allgemeine Akzeptanz rechnen können als andere Sanktionen. Damit steigt aber auch die Chance, daß sie nachgeahmt werden, um andere Konflikte mit anderen Tätern zu bereinigen.

75 76 77

78 79

Rph. § 33 A., S. 87.; s. o. 1. Kapitel B. I. Rph. § 102 Anm., S. 197, § 349 Anm., S. 507.

M. Bienenstak, HS 18, 1982, S. 141 f. Ebda., S. 152, 162, 171. Ebda., S. 152, 171.

256

2. Kap. A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht

Tatsächlich ist dies der Gang der Rechtsgeschichte gewesen. Zum einen wird die zügellose Rache durch ein Geldbußensystem ersetzt, dem mit der allmählichen Einführung der Geldwirtschaft prima facie die Fähigkeit zukam, Äquivalente in einheitlicher "Währung" ausmessen zu können. Zum anderen, namentlich bei schweren Delikten, kam es zur Einführung von Strafarten, die zum größten Teil den Talionsgedanken umsetzen konnten 8o • Es spricht also einiges dafür, daß durch Ausdifferenzierung bestimmter Verletzungsformen, denen damit allein die Funktion zugesprochen wurde, Rache verwirklichen zu dürfen, eine Verallgemeinerung der Akzeptanz der Rache auf alle Glieder einer Gemeinschaft möglich und historisch wirkmächtig gewesen ist. Allerdings ist zuzugeben, daß hier der Ableitungszusammenhang innerhalb des Hegeischen Systems schwach bleibt, weil er sich diesbezüglich nicht auf Textstellen stützen läßt. Dennoch läßt sich m. E. ein systematisches Argument angeben, das dieser Isolierung bestimmter Verletzungsarten als mögliche Rachesanktionen auch innerhalb der Rph. plausibel macht: Genau wie in der ökonomischen Sphäre, wo das innere Allgemeine aller Sachen, ihr Wert, dahin drängt, im Geld selbständige Existenz anzunehmen, genauso strebt auch das innere Allgemeine aller Verletzungen zu einer Erscheinungsform, in der ihr affirmativer Wert den Personen rein vor Augen tritt 81 • In beiden Prozessen drückt sich nur die Dynamik des Willens aus, seinem (unmittelbaren) Begriff ein möglichst adäquates Dasein zu verschaffen. Es sind nun die Folgen zu betrachten, die durch diese Fortentwicklung der Rache eintreten. In der Privatrache hatte die Beziehung der Verletzungen aufeinander nur vereinzelte Gültigkeit. Dieses Delikt der Person A drückte sein inneres Allgemeines in jenem vereinzelten Racheakt der Person X aus. Hier bestimmt sich die Reichweite der Verhältnisbestimmung nur aus der Beziehung dieser beiden Verletzungen zueinander. Über andere Verletzungsformen ist nichts ausgesagt. Ebenso beschränkt sich die Geltung der Privatsache nur auf Täter und Rächer. Der Ausdruck, den das innere Allgemeine des Verbrechens in dieser Form erhält, entspricht somit nicht dem Allgemeinheitsanspruch, der ihm innerlich zukommt. Vielmehr reduziert er sich in der Erscheinung auf die bloße Gemeinschaftlichkeit zweier beliebiger Arten von Verletzungen, die nach dem Vergeltungsprinzip jedoch notwendig miteinander verknüpft werden. Gleichermaßen gilt diese notwendige Verbindung nur für die besonderen Willen von Täter und Opfer. Dazu gut leseheck, AT, 1988, S. 72. Vgl. die ausführliche Schilderung bei Eb. Schmidt, Geschichte, 1965, §§ 41-53, S. 57 -68. Dort wird die Entstehung eines peinlichen Strafsystems geschildert, das von hoheitlichen Stellen angewandt wurde, ebda., §§ 37, 40, S. 51 ff., S. 56 f. Es scheint daher ungenau, hier noch von Rache zu sprechen. Dabei muß man sich aber vergegenwärtigen, daß der peinliche Prozeß noch lange Zeit durch eine Privatklage initiiert wurde, ebda., § 65, S. 76 ff. Darin sieht Hegel aber nur eine vermittelte Form der Rache, weil der Anstoß weiterhin vom konkreten Opfer ausgeht, Rph. § 102 Anm., S. 197. 80 81

11. Form der Vergeltung

257

Anders ist es bei der allgemeinen Rache. Ihr kommt Geltung für alle Personen zu, die miteinander in einem abstrakten Rechtsverhältnis stehen. Nicht nur dieses Delikt a der Person A drückt in ihr sein inneres Allgemeines in der für die allgemeine Rache vorbehaltenen Verletzungsart aus, sondern ebenso ist es mit allen anderen Vergehen x, y, z, der Personen X, Y, Z. Hier entspricht die Existenz, die das innere Allgemeine des Deliktes a in der allgemeinen Rache erhält, dem Allgemeinheitsanspruch, der ihm innerlich zusteht. In der allgemein anerkannten rächenden Verletzung spiegelt sich das Gemeinsame aller einzelnen Verbrechensformen in einer einheitlichen Erscheinung wieder. Die Existenz, die das innere Allgemeine des Deliktes a in der allgemeinen Rache annimmt, ist also einheitlich und gemeinschaftlich, mithin ihrerseits ebenfalls allgemein 82. Dasselbe läßt sich jetzt aussagen über die Geltung, die dieser Rache im Bewußtsein der einzelnen Individuen zukommt. Alle Individuen erkennen die Vornahme einer der allgemeinen Rache vorbehaltenen Verletzung als Restitution des Rechts an. Zudem achten sie aber auch nur noch diese Verknüpfung des Verbrechens mit einer zweiten Verletzung als Rache. Weitere Folge dieser Vorrangstellung einer spezifischen Verletzungsart ist die Reduktion aller anderen Verletzungen auf ihre negative Bedeutung: Sie können alle nur noch Verbrechen sein; als taugliches Rachemittel scheiden sie dagegen aus. Der affirmative Wert aller Verletzungen erscheint nur noch an derjenigen Zwangsanwendung, die für die allgemeingültige Rache vorbehalten wurde. Gleiches gilt jetzt aber auch für die Personen, deren Willen die Verletzungen bewirkt haben. Während jetzt die Handlung des besonderen Willens des Opfers zur Betätigung des allgemeinen Willens wird, beschränkt sich jetzt die Bedeutung, die einem Willen zukommt, der eine nicht als Rachemittel zugelassene Verletzung vornimmt, auf die reine Partikularität des Willens. Dies gilt aber nicht nur in den Augen von Rächer und Verbrecher. Vielmehr betrachten jetzt alle Personen deren Verhältnis zueinander in dieser Weise: Nicht nur für das Opfer bleibt daher der Täter in seiner Existenz auf der Stufe der unmittelbaren Person stehen, sondern für jedermann. Der Sanktion, die sich an das äußere Dasein richtet, das sich der Wille des Täters gegeben hat, kommt daher ein allgemein verständliches Zeichen zu: Eine in dieser Weise verletzte Person gilt in den Augen aller anderen als ein der Unmittelbarkeit verhafteter Krimineller, der von sich aus nicht in der Lage ist, einzusehen, daß er die Pflicht hat, das begangene Unrecht aufzuheben. Gleichzeitig bedeutet dieses Zeichen den Ausschluß des Täters aus dem Kreis der Individuen, die sich selbst als moralische Wesen verstehen. Dem Täter mangelt es daher gegenüber jedermann an der Anerkennung, ein Subjekt zu sein, das seinen Willen nach einem allgemeinen Sollen ausrichtet. Schließlich muß dieses Zeichen als Appell an jedermann gelesen werden, sich vor der rein bedürfnis geleiteten Dynamik einer unmittelba82 V gl. zu Hegels Verständnis von Allgemeinheit als Totalität der Besonderheit, W dL. 11, S. 274 ff.

17 Klesczewski

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2. Kap. A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht

ren Person in acht zu nehmen. Weil der Verbrecher äußerlich für jedermann noch nicht als moralisches Subjekt gilt, kann ihm noch nicht die Fähigkeit zugeschrieben werden, das Recht seiner Besonderheit von sich aus in allgemeinverträglicher Weise auszuüben: Ihm wird nicht zugute gehalten, er könne die Ansprüche, die seine Triebe an ihn stellen, durch Reflexion auf seinen allgemeinen Willen im Zaume halten. Folglich müssen alle anderen Personen davon ausgehen, der Täter sei durch Argumente nicht von der Umsetzung seiner ihn gerade bestimmenden Neigung abzuhalten, es helfe gegen ihn daher nur Zwang. Das Zeichen, das dem Dasein des Täters durch die allgemeingültige Rache zugefügt wird, ist daher letztlich auch ein Aufruf zur Inschutznahme vor dem Delinquenten für jedermann 83. Hier zeichnet sich bereits ab, wie der Modus der Sanktion im· Begriffe ist, sich mit Sicherungselementen anzureichern. Die hier geschilderten Funktionen der allgemeingültigen Rache weisen nicht nur kategorial die beschriebene, aufeinander aufbauende Stufung auf; auch in der Rechtsgeschichte läßt sich eine ähnliche Entwicklung ablesen: Die Zurückdrängung der (Privat-)Rache erfolgt durch Einführung des Talionsprinzipes. Es wirft Sanktionen aus, die die Funktionen des Ausschlusses oder der Brandmarkung erfüllen. Das materielle Talion erlaubte ja zum einen schon den Schluß von der Verletzung auf das konkrete Delikt 84. Allerdings war es zum anderen mit der Zufalligkeit behaftet, daß man nicht wußte, ob man Täter oder Opfer vor sich hatte. Mit der Konzentration der Sanktionsformen auf wenige Verletzungsarten erhöhte sich die Funktionalität ihrer Anwendung. Neben Sanktionen, die beiden Aspekten der Sicherung, Ausschluß und Warnung zu sein, gerecht wurden, wie z. B. das Ausreissen der Zunge beim Meineid, treten andere Maßnahmen. Sie spezialisieren sich auf die Erfüllung einer Funktion, z. B. die Acht und der Bann 85 bzw. die Brandmarkung durch Strafen an Haut und Haar 86• Auch die Todesstrafe schlägt letztlich in ein Mittel um, die Gemeinschaft endgültig von einem Verbrecher zu befreien 87. Aber nicht nur die Geschichte liefert empirisches Material, das den vorgeführten, begrifflichen Zusammenhang veranschaulicht; auch der zeitgenössischen (Kriminal-)Soziologie ist ein vergleichbarer Sachverhalt bekannt: Die Stigmatheorie geht davon aus, daß sich in der gesellschaftlichen Interaktion asymmetrische Verhältnisse herausbilden können. Dadurch kann einem Interak83 Nehmen die Anderen allerdings ihr moralisches Wesen ernst, so müssen sie auch das Wohl des Täters zu ihrem Zwecke machen, vgl. Rph. § 125, S. 236; s. u. 2. Kapitel

B. H.

Vgl. Eb. Schmidt, Geschichte, 1965, § 52, S. 66. Eb. Schmidt, Geschichte, 1965, § 49, S. 63 f. 86 Dazu Eb. Schmidt, Geschichte § 47, S. 62, § 48, S. 68. Allerdings muß das Ausreißen der Zunge wegen des damit einhergehenden, irreparablen Verlusts der Sprechfähigkeit schon zu den Sanktionen gezählt werden, in denen Rache nicht mehr als gerechte Vergeltung verstanden werden kann. 87 So ausdrücklich Larenz, Z. f. dtsch. Kulturphil. 2, 1935/1936, S. 40. 84

85

II. Fonn der Vergeltung

259

tionspartner aufgrund seiner Macht, seiner kulturellen Einordnung oder durch Zufall eine Chance eingeräumt sein, einen anderen dauerhaft zu diskreditieren 88 • Dies geschieht häufig dann, wenn dessen Körper eine Deformation aufweist oder sein äußeres Verhalten eine Schwäche offenbart 89 • Sie wird zum Anlaß genommen, sie als Zeichen für einen schlechten, moralischen Zustand der betroffenen Person zu deuten. Das Machtgefälle des Stigmatisierenden erlaubt es ihm jetzt, seine Interpretation allgemein durchzusetzen. Dadurch ändert sich die soziale Identität des Betroffenen 90. Jeder, der ihm begegnet, schließt nun von dem äußerlichen Zeichen auf seine (vermeintliche) moralische Defizienz. Dies geschieht auch dann, wenn sich aktuell die Schwäche des Stigmatisierten gegenüber dem anderen gar nicht betätigt hat 91 • Die Entschlüsselung des diskreditierenden Symbols reicht aus, den Betroffenen als gefährlich o. ä. anzusehen. Seine soziale Handlungskompetenz wird in latenter Rückschau bewertet, wobei sein Scheitern stets impliziert ist. Folglich wird der Betreffende in der Interaktion von anderen tunliehst gemieden, wodurch seine Betätigungschancen rapide sinken 92 • Weil der Stigmatisierte dieselben gesellschaftlichen Erwartungen internalisiert hat wie jedermann auch, kennt er ebenfalls den Grund seiner Ausgrenzung. Er ist daher bestrebt, soweit wie möglich sein abwertendes Merkmal zu beseitigen oder zumindest seine Folgen abzumildern 93 • Dabei kann es geschehen, daß seine Interaktionspartner darin gerade eine Bestätigung ihrer Meinung sehen, wodurch dem Betroffenen eine weitere Chance genommen wird, sich von seiner sozialen Identität zu befreien 94 • Nach Meinung einiger Autoren gehe auch die strafrechtliche Sozialkontrolle nach diesem Muster vor 95 • Die Verallgemeinerung der Geltung von Rache verläuft über die Aussonderung bestimmter Verletzungsarten, denen nun allein die Bedeutung zugeschrieben wird, Wiederherstellung des Rechts zu sein. Alle anderen Zwangsakte reduzieren sich so in der Erscheinung auf ihren negativen Gehalt, sind also per se nur Verbrechen. Ihre Existenz gilt nur noch als Handlungsresultat des partikulären Willens des Täters, während die Vornahme anerkannter Rachemaßnahmen nun für jedermann eine Betätigung des allgemeinen Willens ist. Durch das Erleiden dieser Art von Sanktion erhält das äußere Dasein jedes Verbrechers ein Zeichen, 88 G. Albrecht, Art. Stigmatisierung, in: Kaiser et. al., KKW, 1985, S. 433 ff. m. w. N., Sack, Art. Selektivität, Selektion, Selektionsmechanismen, in: Kaiser et. al., KKW, 1985, S. 387 ff. m. w. N.; Schur, Labeling Deviant Behaviour, 1971, S. 37 ff., 82 ff., 100 ff. 89 So G. Albrecht, Art. Stigmatisierung, in: Kaiser et. al. KKW, 1985, S. 433. 90 Goffmann, Stigma, 1967, S. 13 ff., 67 ff. 91 Goffmann, Stigma, 1967, S. 56 ff. 92 G. Albrecht, Art. Stigmatisierung, in: Kaiser et. al. KKW, 1985, S. 435. 93 Goffmann, Stigma, 1967, S. 116 ff., 128 ff. 94 So Lemert, Social Pathology, 1951, Merton, Social Theory, 1957, S. 421 ff. 95 V gl. dazu die Arbeiten in Brusten / Hohmeier, Stigmatisierung, 1975, Bde 1 u. 2. Namentlich G. Albrecht ebda. Bd. 1, S. 79 ff. ist dabei zu erwähnen. Interessante Analysen bietet auch das Buch von Amman / Peters, Stigma Dummheit, 1981.

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2. Kap. A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht

das ihn in den Augen aller Anderer zu einer der Unmittelbarkeit verhafteten Person stempelt. Darin ist impliziert, daß seine Äußerlichkeit zugleich den Ausschluß aus der Gemeinschaft moralischer Wesen signalisiert. Für diese dient daher das Symbol zudem dazu, sich vor der (vermeintlichen) Unmittelbarkeit des Delinquenten in Schutz zu nehmen. Hier lassen sich deutlich Parallelen zur gegenwärtigen Stigmatisierungsdiskussion in der Kriminalsoziologie ziehen.

4. Vergleich mit dem natürlichen Willen Vorliegende Arbeit hat mehrmals versucht, die Unterschiede der Gewalt des natürlichen Willens und ihrer Bekämpfung zum Verbrechen eines Freien und seiner Aufhebung herauszuarbeiten. Dabei wurde jedoch stets auch auf die bestehende Teilidentität hingewiesen. Durch die Form, die die Wiedervergeltung im abstrakten Recht als Rache annimmt, gleicht sich die Lage des Verbrechers und der Zustand des natürlichen Willens noch mehr an: Sollte die Wiedervergeltung gerade gewährleisten, daß dem Täter die Selbstaufhebungstendenz der von ihm in Geltung gesetzten Unrechtsmaxime objektiv wird, so führt die Form der Rache zu einer fremdgesetzten Aufhebung von Kriminalität. Der innerlich schon vom Täter geleistete Übergang in die moralische Sphäre nimmt jetzt eine für ihn fremde Existenz in einem Dasein eines von ihm verschiedenen Willens an: dem des rächenden Opfers. Dadurch entsteht ein Gefälle in der intersubjektiven Beziehung beider zueinander, die durch die allgemein anerkannte Rache noch auf alle anderen Personen erweitert wird: Während der Täter in seinem Dasein noch auf der Stufe des abstrakten Rechts verharrt, bewegen sich alle anderen Subjekte bereits auf moralischen Boden. Sie gehören einer höheren Entwicklungsphase in der Verwirklichung der Vernunft an als der Täter. Eine ähnliche Asymmetrie wies aber auch das Verhältnis des natürlichen Willens zur Person auf. Auch hier befinden sich die Seiten des Verhältnisses auf unterschiedlichen Ebenen der Vernünftigkeit. Wo der natürliche Wille bloß an sich vernünftig ist, dort stehen der Person in Eigentum und Kontrakt schon die ersten Gestalten der Vernunftrealität vor Augen. Dies führte dazu, daß der Zwang, der von einem natürlichen Willen ausgeht, nicht als Verletzung des daseienden Rechts als Recht angesehen wurde, sondern als eine mindere Form des Unrechts, der man anders als mit Strafe / Rache zu begegnen hat. Seine Bekämpfung erfolgt durch Sicherung vor der ungezügelten Gewalt des natürlichen Willens bzw. seiner Besserung in dem Sinne, daß er seine Existenz als Dasein der Persönlichkeit begreifen lernt. Genauso entwickelt sich aber das Verhältnis zwischen Delinquenten und allen anderen Individuen nach erfolgter allgemein anerkannter Rache: Auch hier ist die Existenz des Täters definiert als einer niederen Stufe der Vernunftrealität zugehörig. Daraus ziehen alle diejenigen, die sich in einer höheren Wirklichkeit

II. Fonn der Vergeltung

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der Vernunft wähnen, den Schluß, daß man dem Täter gegenüber sich vor dessen unmittelbarer Bedürfnisgeleitetheit in acht zu nehmen habe. Auch hier schlägt daher das Sicherungsmoment durch 96. Als Unterschied dieser Verhältnisse bleibt allerdings anzumerken, daß sich der natürliche Wille anders als der Verbrecher nicht in einem selbstgesetzten Widerspruch befindet, ihm die Differenz zwischen seiner inneren Bestimmung und seiner äußerlichen Existenz daher nicht bewußt ist. Folglich bedarf die Aufhebung seines Widerspruches zunächst der Integration in Verhältnisse des abtrakten Rechts, während es dagegen das Dilemma des Täters kennzeichnet, daß er bestrebt ist, sein ihm innerlich gegenständlich gewordenes, moralisches Wesen gegenüber anderen in die Objektivität zu übersetzen. Dennoch macht es die bestehende Teilidentität der Lagen des natürlichen Willens bzw. des Verbrechers möglich, daß auch gegenüber dem Verbrecher (bei erneuter Gewaltanwendung seinerseits) mit Sicherungszwang geantwortet wird. Daß es wirklich zur Anwendung der Strafe bzw. Rache als (reinem) Sicherungsmittel kommt, hängt allerdings noch von weiteren Bedingungen ab. Zu ihnen gehört die erneute Straffälligkeit des Verbrechers, dessen Gründe sogleich dargestellt werden sollen, und das Verkennen der moralischen Qualität der Rückfalltat durch das Opfer, wodurch sich das asymmetrische Verhältnis perpetuiert und intensiviert. Gleiches gilt für die Verwendung der Strafe I Rache als Besserungsinstrument, s. u. 2. Kapitel B. 11. 2. Auf alle Fälle führt das ihm durch die allgemeine Rache zugefügte Zeichen dazu, daß andere Subjekte die Beziehungen zu ihm abbrechen bzw. ihm nur mit äußerster Vorsicht begegnen. Dadurch wird ihm zwar nicht sein Eigentum entzogen. Dennoch führt diese Situation sicherlich dazu, daß die Vertragskontrakte mit anderen Menschen erheblich zurückgehen werden, weil man ihm einen Willen zur Pflichterfüllung nicht unterstellen kann. Dadurch mindert sich aber für den Betroffenen die Chance, (im Verein mit einem anderen) als reelle Rechtspersönlichkeit anerkannt zu werden. Es liegt also auch hier der Keim eines weiteren Regreßes von höheren Stufen des Vernunftdaseins zu niederen vor. Dies führt zu einer weiteren Annäherung zu den Verhältnissen des natürlichen Willens. Für den Täter stellen solche Verhaltensweisen der Anderen allerdings deswegen eine höhere Belastung dar, weil und soweit er ja innerlich auf seine Lage als moralisches Wesen reflektiert. Er fühlt sich demnach zum einen dadurch mißachtet, daß ihm nicht das Bemühen zu normgeleiteten Verhalten unterstellt wird; zum anderen dünkt er sich in seinem Anspruch auf moralische Selbsttätigkeit beeinträchtigt, welcher von seinem Gegenüber nicht anerkannt wird. Gerade dieses Dilemma, sich in der Objektivität nicht als subjektiver Wille anerkannt zu wissen, das sich durch den fortschreitenden Ausschluß von Kontakten zu 96

B. II.

Zugleich kann es zu dem Bemühen kommen, den Täter zu bessern; s. u. 2. Kapitel

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2. Kap. A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht

anderen noch verschärft, wird den besonderen Willen des Verbrechers zu einer gewaltsamen Lösung dieser Problematik drängen, wie der nächste Abschnitt zu zeigen versucht. III. Der Übergang in die moralische Wiedergutmachung

Das Fortschreiten zu einem moralischen Verhältnis zwischen Täter und Opfer beinhaltet den Weg, wie der erstere ebenfalls als subjektiver Wille für das letztere und für Dritte ins Dasein tritt. Dieses moralische Verhältnis zwischen Täter und Opfer soll im folgenden "Wiedergutmachung" genannt werden. Darunter ist nicht bloß die Erfüllung des Anspruches auf Schadensersatz zu verstehen. Vielmehr meint dieser Begriff ein Verhalten, in dem die Selbstautbebungstendenz des Verbrechens durch den eigenen, subjektiven Willen des Täters getragen wird. Er umfaßt daher das, was gewöhnlich unter dem Stichwort "Sühne" angesprochen wird 97 • Bevor aber eine Wiedergutmachung von Seiten des Delinquenten aus sinnvoll geschehen kann, bedarf es der Anerkennung seiner moralischen Kompetenz. Auf dem Abstraktionsniveau der bisher geleisteten Analyse, das gesellschaftliche oder institutionelle Bedingungen noch nicht einbeziehen kann, muß die Anerkennung der moralischen Kompetenz des Täters die sogleich zu schildernde Form annehmen. Zwei Wege zur moralischen Anerkennung sind dem Täter zunächst prinzipiell verbaut: Zum einen ist die Wiedergutmachung des geschehenen Verbrechens deswegen unmöglich, weil sie schlicht überflüssig ist: Der Täter hat die Sanktion bereits durch dritte Hand erlitten; sie war es ja, die ihn erst in das Dilemma führte, innerlich sich als moralisches Wesen zu verstehen, aber äußerlich nicht als solches zu gelten. Nun Reue zu zeigen, würde kaum als autonome Leistung honoriert, sondern als Folge der fremdgesetzten Sanktion angesehen werden. Im übrigen wird es dem Täter schwer fallen, seine Einsicht einem anderen gegenüber tätig zu beweisen, denn seine Lage ist, wie gezeigt, von Isolierung gekennzeichnet. Das leitet über zu dem zweiten, möglichen Zugang zur moralischen Sphäre: Der Täter könnte versuchen, in den legalen Bahnen des Austausches etc. seine moralische Kompetenz zu demonstrieren. Allerdings steht dem zum einen ebenfalls das abweisende Verhalten der anderen Personen im Wege. Alle möglichen Interaktionspartner werden die ihm auferlegte Verletzung als Symbol entschlüsseln, daß man sich vor dem Täter in acht zu nehmen habe. Daraus folgt nicht 97 Dazu nur Jakobs, AT 1/25 f. m. w. N.; Jescheck, AT, 1988, S. 57, 59. Meist wird in der strafrechtlichen Diskussion allerdings die Sühne auf den inneren Nachvollzug der Gerechtigkeit der fremdgesetzten Sanktion beschränkt. Diese Frage führt erst in das jetzt zu schildernde Problem.

III. Übergang in die moralische Wiedergutmachung

263

nur, daß man vertraglichen Verkehr mit dem Betreffenden meiden wird, sondern auch die Tendenz, wo ein Austausch von Leistungen unumgänglich ist, sich genügende Sicherungen auszubedingen, die den Vertrag leicht erzwingbar machen 98 • Will der Täter sich nicht selbstgenügsam auf sein Eigentum und in seine Innerlichkeit zurückziehen, sondern weiterhin den Anspruch verfolgen, sich den Anderen als moralisches Wesen zu zeigen 99, so bleibt ihm - so paradox es zunächst klingen mag - kein anderer Ausweg als erneut zu delinquieren! Nur mit einem solchen Verhalten ist es ihm möglich, die Aufhebung der Isolierung zu erzwingen; nur mit einem solchem Verhalten ist ihm per definitionem garantiert, daß sich ihm sein eigener besonderer Wille vergegenständlicht. Unter gesellschaftlichen Bedingungen, von denen hier noch abstrahiert werden muß, braucht sich das abweichende Verhalten zwar nicht notwendig in strafwürdigem Unrecht auszudrücken (selbst wenn dieses das Dilemma besonders deutlich werden läßt) H)(). Für den jetzigen Stand der Analyse ist dagegen kennzeichnend, daß der Täter sich nur mit einem Rückfall moralische Anerkennung verschaffen kann. Die jetzt begangene Tat stellt dabei etwas anderes als eine Blutrache dar. Diese setzt nämlich voraus, der Täter habe den inneren Sinn der Sanktion nicht erkannt bzw. nicht erkennen können, er verharre mithin auf dem Bewußtseinsstand einer abstrakten Persönlichkeit. Jetzt geht es aber dem Täter gar nicht mehr darum, die Verletzung seines allgemeinen Willens durch das Opfer zu ahnden, sondern darum, die Mißachtung seines besonderen Willens aufzuheben. Aus diesem Grund wird ein solches Vergehen im folgenden Rückfall genannt, weil in ihm dieselbe Konstellation handlungsleitend ist, wie beim Verbrechen selbst. Wie empirische Forschungen, die sich von dem Stigmatisierungskonzept leiten lassen, ergeben, beruht der eben geschilderte Zusammenhang nicht auf einer konstruktivistischen Ableitung, sondern findet sich im realen Geschehen durchaus wieder 101. Insbesondere die größere Studie von Kaplan macht deutlich, daß abweichendes Verhalten bis in den kriminellen Bereich hinein ein häufige Reaktion auf Stigmaerfahrungen ist, um sich ein positives Selbstwertgefühl zu erhalten 102. Damit sind Phänomene beschrieben, die in den oben dargelegten Zusam98 Vgl. dazu die Gestaltungsmöglichkeiten, die Hegel in Rph. § 80 unter C. anführt, S. 167 f. Vgl. w. Randbem. und Zus., S. 169. 99 Auch hier besteht ein Ausgangspunkt zu neurotischer Persönlichkeitsveränderung, wie sie als Prisionierungseffekt beschrieben wurde, vgl. Sieverts, Art. Haftpsychologie, in: Sieverts / Schneider, Hw. d. Krim. EB., S. 447 ff., insbes. 450 zur drastischen Situation der Einzelhaft. 100 Wie Konflikte mit den Strafvollzugsbediensteten dem Gefangenen dazu dienen, sich seiner Personalität zu versichern, dazu Sieverts, Art. Haftpsychologie, in: Sieverts / Schneider, Hw. d. Krim. EB, S. 450. 101 G. Albrecht, Art. Stigmatisierung, in: Kaiser et. al., KKW, 1985, S. 435 ff. m. w.

N.

102

Kaplan, Deviant Behaviour, 1980.

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2. Kap. A. Verbrechensreaktion im abstrakten Recht

menhang gehören, die aber auch der klassischen Dichtung nicht verborgen geblieben sind 103. Zu beachten ist nun aber, daß eine solche Straftat innerhalb eines neuen Bezugssystems erlolgt, weil sich das Opfer nun als moralisches Wesen versteht. Die Tat wirkt nun auf einen anderen Boden ein: Objekt des Verbrechens ist nicht mehr nur ein Dasein der Freiheit, wie sich es eine Person gibt, sondern ein solches, in dem sich ein moralisches Wesen verwirklicht. Dadurch wandelt sich auch Art und Umfang der verletzten Existenz, weil diese zu dem bloß äußerlichen Moment des ganzen Daseins des Subjekts herabgesetzt ist. So mindert sich die Schwere des Delikts im Grundsatz, es sei denn die subjektive Gegenwart des besonderen Willens wird verletzt, s. o. 1. Kapitel C 11. 1. b). Hieraus folgt - wie schon einmal angedeutet - eine Tendenz zur Minimierung des Verbrechens, sowohl was die Beeinträchtigung der privaten Sachen des Opfers angeht, als auch bezüglich des Geltungsscheins der Unrechtemaxime. Vergegenwärtigt sich das moralisch reflektierende Opfer diesen Sachverhalt unverstellt, so entspricht dem ein Trend zu milderen Ahndung der Straftat. Viel wichtiger ist aber, daß ein Opfer mit dem Bewußtseinsstand eines moralischen Wesens nicht nur den Wandel im Erlolgsunwert erlassen muß, sondern desgleichen den im Handlungsunwert. Daraus erwächst nun allerdings ein Wandel in der Sanktionierungsform selbst: Soll die Tat nun als Akt eines Freien gelten, so bedarl es der Zurechnung derselben zum subjektiven Willen des Täters. Gelingt dieses Beurteilungsverfahren, so impliziert sein Resultat die Anerkennung des Täters als moralisches Subjekt durch das Opfer selbst! Konsequenterweise führt dies dazu, dem Täter im Prinzip auch das Recht zuzugestehen, aus eigenen Kräften dazu in der Lage zu sein, die verletzte Rechtsgeltung wiederherzustellen. Das bedeutet aber die Aufgabe fremdgesetzter Sanktionen zugunsten der moralischen Wiedergutmachung. Mit dieser Forderung des Opfers an den Täter nach sich selbst strafender Gerechtigkeit 104 hat sich die Form der Verbrechensaufhebung, wie sie im abstrakten Recht durch fremdgesetzte Vergeltung bestimmt ist, auch in den Augen des Opfers als endlich erwiesen. Die Beschränktheit der Rache besteht nämlich in dem allgemeinen Mangel des formellen Rechts: In ihm wird der Stand der Freiheitsrealisierung so begriffen, daß noch von seiner Existenz im subjektiven Willen abstrahiert wird 105. Damit wird aber eine wesentliche Seite der umfassenden Wirklichkeit des objektiven Geistes ausgeklammert, die sich gerade aus diesem Grunde als berechtigt geltend macht, s. o. 1. Kapitel B. I. 5. Wie die Genese des Verbrechens die Sphäre des abstrakten Rechts als Ganzes negiert, 103 Gemeint ist F. Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre mit seiner vollendeten Verkörperung im Drama durch die Figur Karl Moor. Dazu Hegels Einschätzung in der Ästhetik III, S. 557. 104 So könnte man in Fortentwicklung des § 103 Rph. sagen, S. 197. 105 Vgl. dazu Rph. § 128, S. 241.

I. Moralische Wiedergutmachung

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so muß auch die Rache als einer dieser Sphäre verhafteten Sanktionsform noch einmal verneint werden. Dabei stellt der Rückfall nur einen ersten Schritt auf diesem Wege dar; seinen Abschluß findet diese Bewegung erst in der Anerkennung des moralischen Wesens des Täters gerade in der Art und Weise der Rechtsrestitution. In der Erfüllung der Forderung an den Täter, moralische Wiedergutmachung zu leisten, liegt der Übergang zur Ebene der Moralität auch im Rechtsverhältnis der Rache I Strafe, weil nun das Recht der Vergeltung sein Dasein als den besonderen Willen des Täters bestimmt hat 106. Wie von Hegel in Rph. § 106 gesagt, ist diese Forderung nicht als ein leeres Postulieren zu verstehen, sondern leitet sich aus der Überwindung des Ungenügens ab, das mit der fremdgesetzten Rache entstanden ist. B. Verbrechensreaktion und Moralität In der moralischen Wiedervergeltung ist der Widerspruch zwischen Form und Inhalt gelöst, der noch d1ls abstrakte Recht der rächenden Vergeltung beherrschte: Wie dort ihr substantieller Gehalt, Selbstaufhebung des Verbrechens zu sein, in der Erscheinung sich zu einer Fremdaufhebung verkehrte, so tritt beides jetzt als Einheit auf: Wo der Täter durch seine eigene Einsicht und Tat das negativ unendliche Urteil gegen sich selber kehrt, dort entsprechen sich Begriff und Realität der Vergeltung in größerem Umfange. Die moralische Wiedergutmachung stellt mithin einen Fortschritt in der Verwirklichung der Freiheit zur Idee dar. Dies ist sicherlich auch der tiefere Grund, warum man geneigt ist, der Sühne eines Täters einen höheren Stellenwert einzuräumen als dem passiven Erleiden einer noch so harten Sanktion. Rechtsgeschichtlich erlangte dieser Gedanke Wirkungsmacht mit dem Bestreben der christlichen Kirche, den Teufelskreis der Blutrache dadurch zu durchbrechen, daß sie die Betroffenen zum Abschluß von Sühneverträgen drängte 1. I. Moralische Wiedergutmachung

Im Folgenden werden zunächst die inhaltlichen Modifikationen betrachtet, die der Wandel von der Rache zur moralischen Wiedergutmachung mit sich bringt, um dann deren immanente Grenze aufzuweisen, die aus ihrer Abhängigkeit von der Endlichkeit des subjektiven Willens des Täters entspringt. Ebda. Vgl. w. Rph. § 103, S. 197 f. Dazu gut Eb. Schmidt, Geschichte, 1965, §§ 11, 34 ff., insb. § 39, S. 28 f., 47 ff., 55 f. Auch die Beschränkung der Fehde durch Gottes- und Landfriedensbewegung hat hierin ihren Grund. 106 1

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2. Kap. B. Verbrechensreaktion und Moralität

Das Prinzip der Wiedervergeltung bleibt auch in der moralischen Wiedergutmachung Grund und Maß dessen, was für die Aufhebung des Geltungsscheins des Verbrechens erforderlich ist. Allerdings ergibt sich - spiegelbildlich zu der gedoppelten Negation sowohl des besonderen als auch des allgemeinen Willens im Verbrechen - eine folgenschwere Abwandlung: Der Täter wendet schon dort das negativ-unendliche Urteil gegen sich, wo er dem Opfer freiwillig Schadensersatz leistet.

1. Das Prinzip des freiwilligen Schadensersatzes Im abstrakten Recht tritt die Rache neben die Gewährung von Schadensersatz, s. o. 2. Kapitel A. I. Dies geschah zu dem Zweck, sowohl das Dasein des besonderen Willens als auch dasjenige des allgemeinen Willens zu restituieren. Allein durch den Akt der zivilen Genugtuung war dies dort deshalb nicht möglich, weil diese dem Täter abgezwungen werden mußte. Darin kam seine mangelnde Anerkennung des allgemeinen Rechtsgebotes, das Eigentum anderer zu achten, augenscheinlich zum Ausdruck. Aus diesem Grunde bedurfte es einer zweiten Negation des fortexistierenden, bloß für sich seienden besonderen Willen des Verbrechers (s. o. 2. Kapitel A. III.), in der sich der allgemeine Wille rein Dasein verschaffte. Wo aber ein Delinquent aus der Erkenntnis heraus, daß seine Tat eine in sich nichtige Existenz darstellt, seinem Opfer autonom den Schaden vergilt, dort liegt ein Akt der Entäußerung vor, in dem nicht nur ausgedrückt ist, daß die gezahlte Summe in das private Vermögen des Opfers gehören soll. Vielmehr ist es auch die Anerkennung einer Pflicht, die das allgemeine Rechtsgebot dem Täter auferlegt. Die formelle und materielle Seite des negativ unendlichen Urteils treten also wieder zusammen auf. Die Möglichkeit dessen liegt darin begründet, daß der Entäußerung ebenfalls die Struktur eines negativ unendlichen Urteils zukommt 2 • Weil hier ein Handeln aus Pflicht erfolgt, unterscheidet sich der Akt freiwilliger Wiedergutmachung wesentlich vom privatrechtlichen Vertrage, der in dem Bewußtsein eingegangen wird, daß das Ob und Wie der Übereinkunft von der bloßen Willkür der Verhandlungspartner abhängt, s. o. 1. Kapitel B.I. 3. Freiwillige Schadenswiedergutmachung bezweckt demnach gerade nicht die Geltendmachung des besonderen Willens als solchen, sondern zielt vielmehr darauf ab, die Wiederanerkennung des allgemeinen Willen dadurch deutlich zu machen, daß man dem Opfer dasjenige zuwendet, was ihm gebührt. Dem heute geltenden Recht ist dieser Gedanke der Straffreiheit bzw. -milderung aufgrund freiwilliger Schadensbereinigung in den §§ 46 Abs. 2, letzte Fallgruppe, 24, 31 StGB und dem Institut der tätigen Reue 3 bekannt. Weil sich das 2

s. Rph. § 53, S. 117 f.

1. Moralische Wiedergutmachung

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Interesse des besonderen Willens des reuigen Täters darauf beschränkt, durch Wiedergutmachung dem Opfer Genugtuung zu verschaffen, tritt nun das Allgemeine in ihm rein auf, so daß es einer zweiten Negation seines Daseins nicht bedarf.

2. Die Modifizierung der Belastung durch die Sanktion Die Verfolgung autonomer Wiedergutmachung versinnbildlicht damit in anschaulicher Weise, wie die Sphäre der Äußerlichkeit für ein moralisches Wesen nur ein Moment seiner ganzen Existenz darstellt, s. o. 1. Kapitel C. 11. 1. Der Rückhalt in der eigenen Innerlichkeit erlaubt es ihm, mit dem Verlust äußerer Dinge nicht mehr den Entzug aller Freiheitsrealität zu erblicken. Auch für den Täter wird so die einseitige Weggabe einzelner Gegenstände nicht mehr zu der empfindlichen Freiheitseinbuße, die sie für die abstrakte Person noch war. Hierin besteht folglich das subjektive Gegenstück zu der in der Verbrechenslehre schon geschilderten objektiven Minderung der Verletzungsbedeutung für das Opfer, s. o. 2. Kapitel A. 11. 2. Zudem wird die Einbuße, die mit der Entäußerung von Sachen im Vermögen des Täters eintritt, durch den Gewinn der moralischen Freiheit kompensiert: Durch die Ersatzleistung kann sich der Täter als subjektiver Wille im allgemeinen Willen des Opfers (und Anderer) objektivieren. Weil sich moralische Wiedergutmachung über die freiwillige Gewährung von Schadensersatz vermittelt, bemißt sich die Sanktion nach dem für diesen Zweck erforderlichen Umfang 4 • Das bedeutet, daß sich die zu erbringende Leistung an dem positiven Werte dessen zu messen hat, was im Verbrechen negiert worden ist. Folglich ist eine Summe an Geld oder Gütern aufzubringen, die der Reproduktion derjenigen Arbeitskraft entspricht, die zur Wiederherstellung des beschädigten oder zerstörten Gegenstandes erforderlich ist, s. o. 2. Kapitel A. I. 2. Die Quantifizierung geschieht auch hier aus dem in der Straftat zum Ausdruck kommenden Horizont des Täters, wodurch seine individuellen Fähigkeiten, seine historische und soziale Lage zu Bedingungen der Sanktionsbemessung werden. Leitend ist dabei das Prinzip, daß der Täter durch seinen Schadensersatz - mit welchen Mitteln auch immer - das Opfer in die Lage versetzen muß, die vor dem Verbrechen geherrscht hat. Damit läßt sich aber bereits eine Grenze angeben, an welche die Verbrechensaufhebung in der Form moralischer Wiedergutmachung notwendig stößt: Weil und soweit sie sich über die materielle Schadensbereinigung vermittelt, ist sie 3 Zu dieser positiv-rechtlichen Ausprägung der Straffreiheit trotz formell vollendetem Tatbestand vgl. Jescheck, AT, 1988, S. 493 mit Beispielen. 4 Vgl. das zu Rph. § 98, S. 186, wo allerdings nur die zivile Genugtuung von Hegel ins Auge gefaßt wird; s. a. Randbem. ebda.: "Bei Völkern, wo für Totschlag nur ein Ersatz an Geld bezahlt wurde ... Sühne, daß der Friede gebrochen ... " Zur heutigen Diskussion um die Wiedergutmachung als Rechtsfolge der Straftat, eingehend Frehsee, Schadenswiedergutmachung, 1987.

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2. Kap. B. Verbrechensreaktion und Moralität

dort ausgeschlossen, wo die eingetretene Verletzung irreparabel ist. So versagen sich Verbrechen gegen unveräußerliche Rechte, Leben, freie Arbeitskraft, moralische und religiöse Freiheiten etc., dieser Form der Rechtsrestitution 5 • Gleiches gilt aber auch für den Fall der Vermögenslosigkeit des Täters. Wo es ihm unmöglich ist, mit seiner Fähigkeit, zu arbeiten, geldwerte Güter zu erwerben, und er auch sonst nur dasjenige besitzt, was zur Erhaltung seines Lebens erforderlich ist 6 , dort kann er seine innere Reue nicht angemessen in der Äußerlichkeit praktisch zur Geltung bringen. Die Grenze der moralischen Wiedergutmachung liegt in dieser Hinsicht in ihrer Abhängigkeit von der Äußerlichkeit als einem Medium der Objektivierung in dem Willen anderer Subjekte.

3. Die immanente Schranke der moralischen Wiedergutmachung Nicht nur nach der objektiven Seite stößt die moralische Wiedergutmachung an ihre Grenzen, sondern auch nach der subjektiven Seite: Es hängt jetzt alles vom subjektiven Willen des Täters ab, inwiefern er Art und Umfang seiner Verfehlung erkennt und daraus richtige praktische Folgen ableitet. Zum einen hängt nun das Gelingen freiwilliger Schadensbereinigung davon ab, daß der Täter nicht einem Unwissen über die Anwendungsnotwendigkeit des Vergeltungsgesetzes aus tatsächlichen oder normativen Gründen erliegt. Zum anderen kann auch das Beharren des Täters, alleinige Instanz der Rechtsrestitution zu sein, dazu führen, daß er im subjektiven Willen des Opfers mit seiner Entschädigung deswegen den allgemeinen Willen nicht wiederherstellen kann, weil dieses sich nun in seinem Anspruch auf Selbsttätigkeit ausgeschlossen sieht. Beides ist nun näher zu entwickeln. a) Die Grenzen des praktischen Wissens Genau wie Unwissenheit dazu führen kann, daß man einen anderen verletzt bzw. dessen Verletzung nicht hindert (s. o. 1. Kapitel C. 11. 2. a), genauso kann eine Fehlvorstellung auch bewirken, daß ein Täter sich seines Unrechts nicht bewußt wird. So kann z. B. derjenige, welcher einen anderen fahrlässig am Körper verletzt hat, eben aufgrund dieses Irrtums, in dem er sich befindet, dazu kommen, daß er die Verletzung nicht als seine Tat wahrnimmt. Er sieht sich dann natürlich auch nicht als vergeltungspflichtig an. Aber auch dort, wo jemand einen anderen vorsätzlich schädigt, kann er sich über den Umfang des von ihm bewirkten Schadens eine falsche Vorstellung machen. Schließlich ist es auch möglich, daß 5 Allerdings fällt darunter nicht derjenige irreparable Schaden, für den ein Gegenwert in Geld berechnet werden kann. Hier richtet sich der Schadensersatz dann auf Geldzahlung, so Rph. § 98 Anrn., S. 186. 6 Wie sich Rph. § 127 Anm., S. 240 entnehmen läßt, muß sich der Täter dieser Güter nicht entäußern. Aus Rph. § 70, S. 151 folgt, daß er sich diesen auch nicht entäußern darf. Gleiches gilt für andere unveräußerliche Rechtsgüter, s. Rph. § 66 f., S. 141 ff. Selbstentleibung oder -versklavung sind mithin als mögliche Sanktionsforrnen auch hier ausgeschlossen.

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trotz Kenntnis der Sachlage einem Täter nach der Tat das Normwissen fehlt, das ihn zur Wiedergutmachung des Schadens anhält. Dies liegt z. B. dort vor, wo der Delinquent unmittelbar nach der (verschuldeten) Tat in den Zustand der Zurechnungsunfähigkeit verfällt. Es gibt also mannigfaltige Möglichkeiten, wie der Täter in unverschuldetem Unwissen Art und Umfang der ihm durch seine Tat auferlegten Vergeltungspflicht nicht wahr haben will. Näher liegen aber die Beispiele, in denen ein praktisch wirksames Wissen von der Vergeltungspflicht deswegen fehlt, weil es sich der Täter verstellt hat. Schließlich setzt sie ein schuldhaft begangenes Verbrechen voraus, dessen Kennzeichen es ist, daß sich der Täter in ihm den Geltungsschein seiner Unrechtsmaxime, etwas Allgemeines zu sein, vergegenständlicht hat. Dies gilt sowohl für das vorsätzliche als auch für das fahrlässige Vergehen. Denn beidesmale wirft der Täter seinem Tun den Schleier des Richtigen um, der - durchgehalten - in letzter Konsequenz auch das Gefühl, zur Wiedergutmachung verpflichtet zu sein, verdrängt. Die Scheinallgemeinheit der Unrechtsmaxime impliziert so das Leugnen dieser Verpflichtung. Ihr fälschlicher Richtigkeitsanspruch kontinuiert sich demnach auch in die praktische Beurteilung von Situationen nach der Tat. Dies gilt im Prinzip für jede Straftat. Offensichtlich wird dieser Bedingungszusammenhang besonders in den Fällen des habituell Bösen, s. o. 1. Kapitel C. 11. 2. b) bb) ccc). Dort ist die Unrechtsmaxime bereits derart mit der gesamten Lebenspraxis verwachsen, daß dem Täter es nicht mehr in den Sinn kommt, wegen seiner Taten Anderen gegenüber einstehen zu müssen. Etwas anders liegt der Sachverhalt bei Habituell Haltlosen. Sie zeichnet ja gerade aus, daß sie ihre Willkürlichkeit verabsolutiert haben. Mit der gleichen Leichtigkeit, mit der sie eine Unrechtsmaxime annehmen, genauso zufällig geben sie diese wieder auf. Ihre Haltlosigkeit beinhaltet also auch die willkürliche Annahme einer Wiedergutmachungspflicht. Allerdings ist nun die Akzeptanz und Erfüllung dieser Pflicht und damit die Restitution des allgemeinen Willens von der bloßen Willkür des Delinquenten abhängig, für den das Handeln gemäß der Vergeltungspflicht eine mit anderen Formen des Tuns gleichwertige Tätigkeitsmöglichkeit darstellt. Das, was die moralische Wiedergutmachung ihrem Prinzipe nach charakterisiert, ein Handeln aus Pflicht zu sein, fehlt hier gerade. Stattdessen behandelt der Betreffende sein Verhältnis zum Opfer wie ein Verhandlungspartner, der das Eingehen der vertraglichen Verpflichtung von seiner bloßen Willkür abhängig sieht. In der moralischen Wiedergutmachung wird so die Wiederherstellung des Rechts als Recht von der subjektiven Konstitution des Täters abhängig. Das kann zum einen bedeuten, daß die Aussicht, der Täter leiste freiwillig Schadensersatz, praktisch illusorisch wird, wie im Fall des habituell Bösen. Zum anderen aber hängt es aber nun vom inneren Zufall, der Willkür, ab, ob und wie moralische Wiedergutmachung geleistet, der allgemeine Wille wieder in Geltung gesetzt wird. Dies widerspricht aber seinem begrifflichen Status, nach dem seine Geltung eine notwendige sein solP.

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2. Kap. B. Verbrechensreaktion und Moralität

Moralische Wiedergutmachung setzt daher eine Subjektkonstitution voraus, in der diese Zufälligkeit praktisch aufgehoben ist. Dies trifft auf diejenigen Personen zu, deren bisherige Lebenspraxis ihnen zu einer stabilen Gewohnheit zum Guten verholfen hat. In ihnen macht sich trotz des "Ausreißers" einer Straftat quasi mechanisch immer wieder die Pflicht geltend, anderen gegenüber sich rechtschaffen zu verhalten. Für den hier einschlägigen Fall bedeutet dies, daß sie sich ihres Einstehenmüssens gegenüber dem Opfer bewußt werden. Bei ihnen muß sich der Geltungsschein der Unrechtsmaxime gegen die Macht der eingelebten Haltung durchhalten. Aus dieser Schwierigkeit resultiert die Chance, daß hier moralische Wiedergutmachung mit dem Nachdruck des geistigen Mechanismus der erworbenen Gewohnheit geleistet wird. Wie die Analyse der Entstehung einer Haltung ergeben hat, setzt der Erwerb eines vortrefflichen Charakters nicht seine Steuerung durch den subjektiven Willen des Betreffenden voraus. Vielmehr hat der Wille desselben schon dort "Schuld" an seinen guten Gewohnheiten, wo er, was notwendig ist, sich über fortgesetzt wiederholte Einzelakte desselben vermittelt. Wo jemand demnach eine solche Haltung besitzt, dort weist sein subjektiver Wille eine Konstitution auf, die dem Anspruch des allgemeinen Willens gerecht wird, mit Notwendigkeit das verletzte Recht zu restituieren g. Wie die moralische Wiedergutmachung bei den unveräußerlichen Rechtsgütern an ihre objektive Grenze stößt, so stellt die subjektive Konstitution des Delinquenten ihre innere Schranke dar. Wo eine Straftat in einer habituellen Schuldform begangen wird, dort scheidet sie als Alternative zur gerechten, aber fremdgesetzten Rache / Strafe praktisch aus, weswegen es auch hier bei dieser Sanktionsform bleiben muß. Einen sinnvollen Anwendungsbereich hat die freiwillige Schadensbereinigung daher hauptsächlich bei dem Delikt von denjenigen Tätern, die eine stabile rechtschaffene Haltung aufweisen. Allerdings stößt die Leistungsfähigkeit der moralischen Wiedergutmachung auf ein weiteres Problem: Selbst dort, wo die gute Gewohnheit des Delinquenten mit Sicherheit eine angemessene Genugtuung verbürgt, führt diese Sanktionsform dazu, allein den Täter als Subjekt der Rechtsrestitution gelten zu lassen, wodurch das Opfer mit seinem subjektiven Willen ausgeschlossen ist. b) Die Mißachtung der Subjektivität des Opfers Als Mangel der inhaltlich gerechten Rache wurde oben die Mißachtung des Anspruches des Täters bezeichnet, selbsttätig sich sein eigenes moralisches Wesen zu vergegenständlichen. Insoweit stellt die moralische Wiedergutmachung Vgl. dazu Rph. § 97, S. 185. Zu diesem Zusammenhang von Allgemeinheit des Rechts an sich und seiner festen Existenz in einer guten Gewohnheit, vgl. Enzykl. § 485, S. 303 f. 7

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einen Fortschritt dar. In ihr hat das abstrakte Recht der Vergeltung keine von der Sphäre des subjektiven Willens des Täters getrennte Existenz. Allerdings bliebe diese Existenz eine subjektive, wo sie allein im Willen des Täters, nicht aber im Willen des Opfers (bzw. Dritter) zur Geltung kommt. Dies ist aber dann der Fall, soweit die Anerkennung der Vergeltungspflicht ohne praktische Folgen bleibt. Aber selbst dort wo der Täter in inhaltlich richtiger Weise vergilt, fehlt es an einem Aspekt der Wiedergutmachung, der ihr erst das Prädikat, moralisch zu sein, verleiht: Wenn der Täter darauf beharrt, allein festzulegen, ob und wie er verbrochen hat und daher zur Wiedergutmachung verpflichtet ist, dort kann er sich nicht in der allgemeinen Subjektivität Anderer verwirklichen. Zwar mag ihm diese Leistung Wohlwollen und Respekt einbringen. Beides bleibt aber solange subjektiv, wie es sich nicht in einem Verhalten anderer niederschlägt, das dem Täter die eigene Restitutionsleistung objektiv wiederspiegelt: dem Vergeben des Unrechts. Unter moralischen Wesen wird dieses solange ausbleiben müssen, wie sie in den Handlungen des Täters nicht ihrerseits ihren Anspruch auf selbsttätige Mitwirkung wiedererkennen, s. o. 2. Kapitel A. III. Das Festhalten am Monopol auf Rechtsrestitution entpuppt sich demnach (auch) als ein Insistieren auf der eigenen partikulären Subjektivität. Dem Allgemeinheitsanspruch des Rechts wird dadurch nicht ausreichend Genüge getan. Zugleich verfehlt eine so verstandene Wiedergutmachung auch das eigene Interesse an der Vergegenständlichung des eigenen subjektiven Willens, s. o. 1. Kapitel C.!., 2. Kapitel A III. 3. Wahrhaft moralische Wiedergutmachung verlangt daher vom Täter die gleiche Leistung, die das Oper bereits erbracht hat: Er muß ebenfalls zur Einsicht kommen, daß die Vergegenständlichung des eigenen subjektiven Willens angemessen nur in einer gemeinschaftlichen Interaktion erfolgen kann. Für die Rechtsrestitution bedeutet dies, daß sie nur unter folgender Bedingung sowohl inhaltlich als auch der Form nach gerecht ist: Dem Begriff der Strafe und ihrer Existenz ( d. h. ihrer Idee) angemessen ist eine Unrechtsfolge, in der die Feststellung, ob und in welchem Umfang aufgrund eines Verbrechens eine Vergeltungspflicht besteht, weder allein vom Täter noch allein vom Opfer gemacht und ausgeführt wird. Sowohl die abstrakte Vergeltung als auch die moralische Wiedergutmachung haben sich danach als endliche und unzureichende Erfüllung ihrer Aufgabe erwiesen, die Geltung des Rechts in intersubjektiver Allgemeinheit wiederherzustellen 9. Zugleich steht zum einen fest, daß sich die abstrakte Vergeltung von selbst zum Prinzip moralischer Wiedergutmachung fortentwickelt hat; zum anderen kann moralische Wiedergutmachung nur als Ausdruck allgemeiner Subjektivität Anspruch auf Anerkennung erheben. Beide Formen der Verbrechensreaktion 9 Dies und das Folgende gilt als Anwendung der Grundgedanken aus dem Rph. § 128, S.241.

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2. Kap. B. Verbrechensreaktion und Moralität

sehen daher ihre Einheit in einer übergreifenden Identität, in welcher sowohl der Begriff der Strafe / Rache, das Vergeltungsprinzip, als auch seine Existenz, die Wiederanerkennung des Rechts in intersubjektiver Allgemeinheit, einander entsprechen: die Idee der guten, gerechten Strafe 10. 11. Die Idee der guten, gerechten Strafe

Aus dem Ungenügen der moralischen Wiedergutmachung, in der Partikularität des Täters zu verharren, entsteht der Gedanke, daß dem Vergeltungsprinzip eine Realität entsprechen soll, in der die Tätigkeit von Täter und Opfer (und Dritten) den Geltungsschein der Unrechtsmaxime in gemeinschaftlicher Subjektivität aufhebt. Allerdings ist mit diesem Gedanken der Idee der guten und gerechten Strafe allein diese noch nicht Wirklichkeit geworden. Vielmehr ist das Streben nach einer solchen Form der Verbrechensreaktion bisher nur als innere Reflexion auf die Beschränktheit anderer Formen der Rechtsrestitution vorhanden. Seine Objektivation bedarf noch der Umsetzung in der gemeinschaftlichen Interaktion der einzelnen beteiligten Subjekte. Sie nimmt demnach ihren Ausgang in einem einzelnen Subjekte.

1. Das Prinzip der guten, gerechten Strafe Strafe ist im Vollsinne nur gerecht, wenn ihrem Begriffe (Wiedervergeltung) die von ihm gesetzte Existenz (Wiedergutmachung in intersubjektiver Allgemeinheit) entspricht. Daraus folgt zunächst dem Inhalte nach, daß die Sanktion die Selbstaufhebungstendenz der Unrechtsmaxime in die Wirklichkeit setzen soll. Das bedeutet nach der negativen Seite die Verallgemeinerung der Unrechtsmaxime auf das äußerliche Dasein des Täters. Nach der affirmativen Seite beinhaltet es dagegen die äußere Darstellung seiner selbst (und anderer) als moralisches, d. h. normorientiert handelndes Wesen. Schließlich beinhaltet die Idee der Strafe die Forderung, daß dem Prinzipe der Selbstaufhebung des Verbrechens auch die Form derselben entsprechen muß: Nur die selbsttätige Behebung des in der Tat gesetzten Geltungswiderspruches zum allgemeinen Willen verkehrt die Selbstnegation des Verbrechens in der Erscheinung nicht in eine Fremdnegation. Allerdings kann nur diejenige selbstgesetzte Aufhebung des Verbrechens Anspruch auf Anerkennung durch andere erheben, die ihnen das Recht zugesteht, ebenfalls an der Rechtsrestitution mitzuwirken. Die Idee der Strafe bezieht sich dabei auf den gesamten Prozeß der Unrechtsverneinung: Sowohl die Feststellung, ob und in welcher Weise verbrochen worden ist, als auch die Frage, ob und wie reagiert werden soll, müssen in intersubjektiver 10 Den hier ausgearbeiteten Zusammenhang zwischen moralisch motivierter Selbstnegation einer Unrechtsmaxime und der Kriminalstrafe hat zuerst in der angegebenen Richtung M. Köhler entfaltet, in: Begriff der Strafe, 1986, S. 26 ff., 50 ff. Vgl. w. E. A. Wolff, ZStW 97, 1985, S. 820 ff.

11. Die Idee der guten, gerechten Strafe

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Allgemeinheit einer Lösung zugeführt werden. Für den Vorgang der Erkenntnisgewinnung führt dies (unter moralischer Perspektive) zum Erfordernis des Geständnisses, an das der Beweis der Straftat notwendig zu knüpfen ist: "Die Forderung des Eingeständnisses von seiten des Verbrechers ... hat das Wahre, daß dem Recht des subjektiven Selbstbewußtseins dadurch ein Genüge geschieht; .•• " II Das führt zur moralischen Pflicht des Täters, wenn er verbrochen hat, zu gestehen, wie zu seinem Recht, nur diejenige Strafe anerkennen zu müssen, die darauf gründend verhängt worden ist. Gleichzeitig bindet sie die Opfer (und Dritte) in der Überzeugungsbildung an diese Einlassungen, wie es ihr moralisches Recht ist, vom Täter die Beichte verlangen zu können 12. Die gleiche dialogische Struktur muß nun auch den Prozeß der Verbrechensaufhebung prägen, was historisch dem Sühnevertrag entspricht 13: Art und Umfang der zu erbringenden Wiedergutmachungsleistungen dürfen weder vom Opfer noch allein vom Täter bestimmt werden. Dies gilt selbst dann, wenn sie sich um den Einbezug der Perspektive des Gegenübers bemühen. Insbesondere muß die Ausgestaltung der Sanktion Rücksicht auf das berechtigte Anliegen des Täters nehmen, die Selbstnegation der eigenen Unrechtsmaxime darstellen zu dürfen. Allerdings ist diejenige Macht, die dieser Idee der Strafe Wirklichkeit verleihen kann, weiterhin das je einzelne moralische Subjekt 14. Dies gilt sowohl für den Täter als auch für das Opfer (und Dritte). Von deren subjektiver Ernsthaftigkeit hängt es daher jeweils ab, ob die Idee der Strafe Wirklichkeit gewinnt. Auf der Seite des Täters kommt es weiterhin auf seine willkürliche Entscheidung an, ob er gesteht und den darin gefaßten Willen auch in der Selbstnegation angemessen durchhält. Zugleich kann er sich dabei aber nicht sicher sein, daß das Opfer sein Geständnis ebenso akzeptieren wird wie die daraus folgende Wiedergutmachung l5 • Denn auch das Opfer kann dem Irrtum erliegen oder sich die Einsicht dahin verdunkeln, der Täter leiste keinen angemessenen Beitrag zur Restitution des Rechts. Aus diesem Dilemma resultieren zwei Haltungen, denen bei den gemeinsam ist, daß die eigene, partikuläre Subjektivität als einzige Instanz der Verbrechensnegation festgehalten wird. Rph. § 227 Zus., S. 379 f. Auf dieser Einheit von Geständnis und Überzeugungsbildung baute der Inquisitionsprozeß im wesentlichen auf, s. Eb. Schmidt, Geschichte, 1965, §§ 73, 109, u. ö., S. 89 ff., 127. Instruktiv auch Schaffstein, ZStW 101, 1989, S. 493 ff. Vgl. w. Nachsehr. Hotho, in: Ilting III, S. 682 ff. und Nachsehr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 577 f. 13 s. Eb. Schmidt, Geschichte, 1965, §§ 11,24 ff., S. 28 f., 47 ff. Rph. § 98, S. 186 f. In strenger hegelianischer Terminologie kann man hier jedoch nicht mehr von einem Vertrag reden, da der oben beschriebene Kontrakt nicht aus bloßer Willkür, sondern wegen einer wechselseitig anerkannten Versöhnungspflicht geschlossen wird. 14 Vgl. Rph. § 136, S. 254. 15 Allgemein zur doppelten Kontingenz einer Handlung, deren Anerkennung auch von der subjektiven Sicht Anderer abhängt, Enzykl. § 510, S. 316. II

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18 K1esczewski

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2. Kap. B. Verbrechensreaktion und Moralität

2. Die Verkehrung der Strafidee Solange sich die einzelnen Subjekte (Täter wie Opfer) nicht als Teile in einem Gesamtzusammenhang der Verbrechensverneinung aufgehoben haben, solange stehen sie dem Gedanken der idealen Strafe noch äußerlich gegenüber 16. So besteht noch die praktisch reale Möglichkeit, daß eine Verweigerungshaltung die Verwirklichung der Strafidee verhindern kann. Für den Täter wurde diese Gefahr bereits oben aufgezeigt. Er kann aus schlichtem Unwissen oder aus Boshaftigkeit dazu gelangen, sich einer allseitig getragenen Rechtsrestitution zu widersetzen. Wie der zweite Pol eines Magneten korrespondiert dem eine Verfehlungsweise auf Seiten des Opfers: Wo der Täter deri Prozeß der Wiederherstellung des Rechts von seinen bloßen Willkür abhängig macht, dort reduziert er den Charakter des Rechts, mit Notwendigkeit zu gelten 17, in seiner Existenz auf eine zufällige Erscheinung. Damit fällt es nun in die Subjektivität des Opfers allein, die feste Geltung des Rechts sicherzustellen. Sein Handeln unterscheidet sich dabei aber in einem wesentlichen Punkt von der Rache: Das sich als moralisches Wesen verstehende Opfer wird namentlich aus der Pflicht heraus tätig, dem Täter wieder zur Einsicht in das Gute und Rechte zu verhelfen 18. Die Vergeltung soll nicht abstrakt bleiben, sondern im besonderen Willen des Täters Anerkennung finden. Anders als bei der Rache ist mit diesem Verständnis des Opfers von der Konstitution des Täters bereits ein asymmetrisches Verhältnis installiert, noch bevor die Sanktion überhaupt ausgeführt worden ist. Denn das Beharren des Täters auf alleinige Verbrechensaufhebung bedeutet einen selbstgesetzten Selbstwiderspruch zu der von ihm selbst als gut verstandenen Einheit von abstrakter Vergeltung und ihrer Durchsetzung vermittels eines autonomen Willens. Resultat dieses Verschuldensprozesses ist - wie beim Verbrechen selbst - ein Einsichtsverlust, der sich in der Äußerlichkeit als Rückgang in die Unmittelbarkeit darstellt. Sie hindert den Täter an eigenständiger Unrechtsnegation, s. o. 2. Kapitel A. III. Demgegenüber hält das Opfer für sich ja gerade an der Idee der guten, gerechten Strafe fest, was (in seinen Augen) eben den Vorsprung an praktischem Wissen und Gestaltungskraft ausmacht. Aus diesem Verständnis entwickelt sich eine folgenschwere Modifikation der Verbrechensreaktion. Anders als der Person, der es bloß um die Wiederherstellung ihrer verletzten Ehre geht, beansprucht das sich als moralisch verstehende Opfer, nicht nur sich, sondern auch den Täter als moralisches Wesen zu verwirklichen. Es liegt demnach in der Intention des Opfers, das eben beschriebene, asymmetriVgl. entsprechend Rph. § 131, S. 244. Vgl. Enzykl. § 484, S. 303, Nachsehr. Hotho, in: Ilting III, S. 163 f., Randbem. zu Rph. § 29, S. 81 ff. 18 Allgemein zu dieser Pflicht, die sich aus dem Recht eines jeden Subjekts herleitet, das Gute zu erkennen, vgl. Rph. § 132, S. 245. 16 17

H. Die Idee der guten, gerechten Strafe

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sche Verhältnis zum Täter aufzuheben. Weil dem aber auf Seiten des Täters Widerstand entgegengesetzt wird, die Restitution des Rechts im gemeinschaftlichen Bewußtsein aber eine beiderseitig geltende Pflicht ist, bleibt dem Opfer letztlich kein anderes Mittel als zu versuchen, dem Täter seinen Beitrag abzunötigen. Der Umfang des dazu erforderlichen Zwanges läßt sich dann aber nicht mehr vermittels des Vergeltungsprinzipes bestimmen. Zwar erwies es seine Tauglichkeit bei der Bestimmung des angemessenen Ausrnasses der freiwilligen Schadensersatzleistungen. Die jetzige Sachlage ist aber dadurch gekennzeichnet, daß ein solcher autonomer Wille des Täters gerade nicht vorhanden ist. Vielmehr muß dem Täter erst die Bereitschaft abgepreßt werden, sich am Prozeß der Verbrechensaufhebung angemessen zu beteiligen. Für den dazu erforderlichen Umfang an Zwangsmaßnahmen wird das Vergeltungsprinzip jedoch bestimmungslos. Es bleibt allenfalls darin erhalten, ein Verbrechen als Anlaß der Strafe zu fordern. Die Bemessung der nun erforderlichen Zwangsmittel richtet sich dagegen danach, wie am besten der Zweck erreicht wird, dem Täter die Einsicht in das Unrecht und seiner Konsequenzen abzunötigen. Demnach wird solange Gewalt angewandt, bis vom Täter das Geständnis erpreßt ist. "Der Verbrecher weiB, daß er in der Hartnäckigkeit des Läugnens eine Hülfe gegen die Strafe hat. Gegen diese Seite hat man vormals die Tortour zur Hülfe genommen, und dieB ganz consequent, wenn man als abstracten Grundsatz die Nothwendigkeit der Bestrafung aufstellt." 19 Desgleichen muß die Ahndung in Äußerungen tätiger Reue bestehen. Neben die Erzwingung von Handlungen, die einen Gesinnungswandel versinnbildlichen sollen (z. B. Abbitte, Widerruf, Pflege des Grabes des Getöteten etc.) 20, tritt hier meist die gewaltsam durchgesetzte Arbeitspflicht bzw. eine andere Form, den Täter auch gegen seinen Willen zu einer Besserung seiner moralischen Konstitution zu bringen. Maßgeblich ist dabei stets, vom Täter die subjektive Anwesenheit im Prozeß der Unrechtsaufhebung zu erzwingen, auf die somit neben dem Verlust äußerer Güter zugegriffen wird. Gerade dieser doppelte Aspekt der Zwangsarbeit, den Delinquenten sowohl zur Entäußerung geldwerter Eigenleistungen zu bringen, als auch die ständige Gegenwart seines subjektiven Willens im Sanktionsvorgang zu erreichen, macht sie für eine moralisierende Straftheorie attraktiv. Zugleich besteht die Tendenz, den letzteren Gesichtspunkt immer mehr in den Vordergrund zu drängen, ihn so gänzlich von dem anderen Moment zu lösen, 19 Nachsehr. Hotho, in Ilting III, S. 684. Aus diesem Grund ist der Inquisitionsprozeß untrennbar mit der Folter verbunden, vgl. Eb. Schmidt, Geschichte, 1965, §§ 74 ff., 109 f., 201 f., 253 f. 259 f., S. 91 ff., 127 ff., 207 ff., 269 ff., 279 ff. Zu Sicherungsmiueln näheres bei Schaffstein, ZStW 101, 1989, S. 493 ff. 20 So die bedenklichen Beispiele bei Holzschuh, in: Schaffstein / Miehe, 1968, S. 166 ff. Kritische Einordnung bei M. Köhler, JZ 1988, S. 752.

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2. Kap. B. Verbrechensreaktion und Moralität

in dem sich ja noch der Bezug zu wertgleicher Vergeltung spiegelt. So wurde Zwangsarbeit ursprünglich in calvinistischem Sinne als innerweltliche Askese gedeutet und motivierte so die Errichtung der ersten Zuchthäuser 21 • Aber selbst dort, wo als Ziel lediglich angegeben wird, zu ausdauernder Dienstleistung zu befahigen, schwingt dieser Gedanke noch mit 22 • "Mit kaltem Verstande die Menschen bald als arbeitende und produzierende Wesen, bald als zu bessernde Wesen zu betrachten und zu befehligen, wird die ärgste Tyrannei, weil das Beste des ganzen als Zweck ihnen fremd ist, wenn es nicht gerecht ist." Ferner: "Die moralische Wollust des Strafens und die Absicht der Besserung ist nicht viel verschieden von der Wollust der Rache, ... "23 Die Verkehrung der Strafidee tritt offen in der Dynamik zu tage, mit der das Prinzip der Besserung den Rahmen sprengt, den der Grundsatz der Vergeltung aufstellt: Zwar hat sich gezeigt, wie in der allgemein anerkannten Rache unter der Hand Sicherungselemente Eingang in die Sanktion fanden. Sie halten sich aber noch ausdrücklich in dem Spielraum, den das Prinzip der Wertgleichheit in der Wahl einzelner Rachearten offen läßt. Der verabsolutierte Besserungsgedanke transzendiert nun aber diesen Bezugspunkt: Die Sanktion knüpft jetzt allein an den im Täter fortexistierenden Einsichtsverlust an. Erst mit seiner möglichst vollständigen Behebung ist der Sinn der Ahndung erfüllt. An die Stelle der als Maßprinzip funktionslos gewordenen Wiedervergeltung tritt der Strafzweck der Besserung und, solange der Delinquent sich in den Augen des Opfers nicht weiterentwickelt hat, der der Sicherung. Begriff und Existenz der Strafe, Vergeltung und Aufhebung des Verbrechens durch den subjektiven Willen, treten in den schärfsten Gegensatz. Es fragt sich nun, wie es zu dieser Verkehrung der Strafidee kommen kann. Genau wie beim bösen Handeln schlechthin macht sich das Opfer auch hier das Besondere zum Prinzipe. Wie dort das Gute zu einer abstrakten, bestimmungslosen Pflicht wird, so reduziert sich das Vergeltungsprinzip bezüglich der zwangsweisen Durchsetzung des Rechts im Bewußtsein des Täters zu einer Leerformel. Wie dort die Bestimmung dessen, was gut ist, Aufgabe des individuellen Gewissens wird, so fällt die Entscheidung darüber, wie zu strafen sei, hier in die Subjektivität des Opfers. Das Opfer spiegelt sich demnach hier die Notwendigkeit seiner Pressionsmaßnahmen dadurch als etwas Gutes vor, daß es sie als Beitrag 21 Rechtsgeschichtlich: Eb. Schmidt, Geschichte, 1965, §§ 176 f., S. 187 ff. - Köstlin versucht, die Zucht in der Strafe aus einer Fortentwicklung der Hegeischen Straftheorie anband des Prinzips des Wohles zu begründen, in: System, 1855, § 123, S. 415 ff. Ähnlich Ewing, Punishment, 1929, S.22, 101 und Quinton, in: Acton, 1969, S.56. Kritisch Mitias, HS 13, 1978, S. 182 ff.; Primoratz, HS 15, 1980, S. 187 ff. 22 So die berechtigte Kritik von M. Köhler, in: GA 1987, S. 158 f. Zur Auseinandersetzung um "freiwillige Arbeitsleistungen" in neuerer Zeit vgl. w. H.-J. Albrecht / Schädler, ZRP 1988, S. 278 ff.; Gerken / Henningsen, MSchrKrim. 72, 1989, S. 222 ff. 23 So Hegel, in: Fragmente, Nr. 16, S. 443.

II. Die Idee der guten, gerechten Strafe

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dazu versteht, im Täter den bösen Willen aufzuheben, um so das Gute in ihm zur Geltung zu bringen 24 • Abschließend soll der Status der vorstehenden Ausführungen mit der HegeIschen Kritik an Präventionstheorien konfrontiert werden. Denn auf den ersten Blick mag es erscheinen, daß hier Elemente in die Strafidee eingebracht werden, die im Werk des Philosophen ausdrücklich von ihr ferngehalten werden sollten. In der Rph. formuliert er als Grundmangel einer derartigen Theorie folgenden Einwand: Durch sie ". .. wird die objektive Betrachtung der Gerechtigkeit, welche der erste und substantielle Gesichtspunkt bei dem Verbrechen ist, beiseite gestellt, und es folgt von selbst, daß der moralische Gesichtspunkt, die subjektive Seite des Verbrechens, vermischt mit trivialen psychologischen Vorstellungen von den Reizen und der Stärke sinnlicher Triebfedern gegen die Vernunft, von psychologischem Zwang und Einwirkung auf die Vorstellung ( ... ), zum Wesentlichen wird" 25. M. a. W.: Wo mit dem aus dem Handlungsprinzip des Täters begründeten Vergeltungsgrundsatz die intersubjektiv verallgemeinerbare Bewertungsrichtlinie verlassen wird, bleibt als Begründungshorizont nur die subjektive Perspektive des Opfers bestehen. So erscheint die Tat einseitig als Übel, wogegen die Strafe ebenso oberflächlich als gut bestimmt werden kann, weil sie sich darum bemüht, diesen Mißstand zu beheben. Mit dieser Kritik scheinen Präventionstheorien gänzlich aus dem Rahmen einer wissenschaftlichen Betrachtung von Strafe herauszufallen. Dem ist in Analogie zu einer anderen TextsteIle entgegenzuhalten 26: Hegel wendet sich hier nur dagegen, das Prinzip der Strafe allein aus der Gestalt abzuleiten, wie sie im gewöhnlichen Bewußtsein erscheint. Es geht ihm also nur darum, deutlich zu machen, daß sich aus der bloßen Betrachtung der Erscheinung allein kein allgemeines Begründungsprinzip für die Strafe herleiten läßt. Zugleich ist er aber genauso der Ansicht, daß nicht die andere Seite des Gegensatzes fixiert werden darf, selbst wenn ihr der Vorzug zukommt, mit dem Vergeltungsprinzip den rechtlichen Urgrund des Strafens angesprochen zu haben: "Diese Antinomie beruht, wie alle Antinomie, auf dem formellen Denken, das die beiden Momente einer Idee getrennt, jedes für sich, damit der Idee nicht angemessen und in seiner Unwahrheit, festhält und behauptet. Der freie Geist ist eben dieses ( ... ), nicht als der bloße Begriff oder an sich zu sein, sondern diesen Formalismus seiner selbst und damit die unmittelbare ... Existenz aufzuheben und sich die Existenz nur als die seine, als freie Existenz zu geben. Die Seite der Vgl. Rph. § 140 Anm., S. 270. Rph. § 99 Anm., S. 188. 26 Rph. § 57 Anm., S. 123 f. Zwar geht es dort um die Frage der Berechtigung der Sklaverei. Wie die allgemeinen Ausführungen des wörtlichen Zitats jedoch zeigen, können sie auch auf andere Rechtsprobleme angewandt werden. Im Kern dreht sich die Lösung der angegebenen Antinomie - wie stets - darum, die im Streit von Verstandesansichten getrennten Aspekte ein und desselben Sachverhaltes in der Idee zusammenzudenken. 24

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2. Kap. B. Verbrechensreaktion und Moralität Antinomie, die den Begriff der Freiheit behauptet, hat daher den Vorzug, den absoluten Ausgangspunkt, aber auch nur den Ausgangspunkt für die Wahrheit zu enthalten, während die andere Seite, welche bei der begriffslosen Existenz stehenbleibt, den Gesichtspunkt von Vernünftigkeit und Recht gar nicht enthält. ( ... ) Daß aber der objektive Geist, der Inhalt des Rechts, nicht selbst wieder nur in seinem subjektiven Begriffe und damit ... nicht wieder als ein bloßes Sollen aufgefaßt werde, dies findet allein in der Erkenntnis statt, daß die Idee der Freiheit wahrhaft nur als der Staat ist."

Auf die Strafe angewandt heißt das, wegen der Verkehrung der Strafidee in der Erscheinung sich nicht einfach auf den Begriff der Strafe, das Vergeltungsprinzip, zurückzuziehen. Was Hegel vom Bösen sagt, gilt auch hier: Es ist nicht so, " ... daß jener ... Standpunkt der Entzweiung überhaupt nicht hervortreten solle ( ... ), sondern daß nicht auf ihm stehengeblieben und die Besonderheit nicht zum Wesentlichen gegen das Allgemeine festgehalten, daß er als nichtig überwunden werde."27 Der Wert des Vergeltungsprinzips besteht darin, daß es in der Lage ist, sich in der Realität, im Bewußtsein der Menschen, gegen derartige wesenlose Existenzen, wie es die Erzwingung von Geständnis und Besserung etc. ist, durchsetzen kann. Dann aber muß es selbst sich in der Erscheinung behaupten können: "Die verschiedenen Rücksichten, welche zu der Strafe als Erscheinung und ihrer Beziehung auf das besondere Bewußtsein gehören und die Folgen auf die Vorstellung (abzuschrecken, zu bessern usf.) betreffen, sind an ihrer Stelle, und zwar vornehmlich bloß in Rücksicht der Modalität der Strafe, wohl von wesentlicher Betrachtung, aber setzen die Begründung voraus, daß das Strafen an und für sich gerecht sei."28 Kurz, General- und Spezialprävention können zwar nie für sich allein die Strafe rechtfertigen; sie gehören aber untrennbar zur Erscheinung derselben hinzu 29. Die Leistungsfähigkeit des Begriffs der Strafe, der Vergeltung, zeigt sich hier gerade darin, wie er im praktisch-institutionellen Handeln Verirrungen bei der Betrachtung der Strafidee und ihrer nichtigen Existenzen überwinden und vermeiden hilft. Die Hegeische Kritik der Präventionstheorien muß also in doppelter Perspektive verstanden werden: Zum einen wendet sie sich gegen die Behauptung, sie könnten letztbegründend Strafe legitimieren. Das impliziert zugleich den Aufweis ihrer freiheitsgefährdenden Maßlosigkeit 30. Hier ist gewissermaßen aus der Rückschau die Kritik geführt: Wie die Glückseligkeitslehren keine hinreichende Bestimmung des freien Willens sind, dem Begriff des Rechts, so scheitert auch ihre Applikation im Strafrecht; sie weisen sich als ein überwundener Standpunkt aus, den die Rph. bereits an ihrem Anfang hinter sich gelassen hat 31. Zum anderen 27 Rph. § 139 Anm., S. 262. 28 Rph. § 99 Anm., S. 188. 29 Deutlich in diese Richtung Nachschr. Griesheim, in Ilting IV, S. 549, 552 f. 30

s. nur Rph. §§ 99 f., S. 187 f.

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wohnt der Kritik ein prospektives Element inne, wie die Warnung deutlich zeigt, man dürfe die Freiheit nicht auf ein bloßes Sollen reduzieren. Dem läßt sich der Anspruch entnehmen, mit der Rph. u. a. auch eine Strafrechtstheorie zu liefern, die nicht vor widrigen Erscheinungen kapituliert, sondern ihnen ihren Platz im Ganzen zuweist, dessen Totalität, der Staat, sie in eine vernünftige Regulation der Strafpraxis aufhebt. Für die vorstehende Abhandlung war die letztere Sichtweise der Kritik leitend. Sie will demnach darauf hinweisen, wie böses Handeln auch zu bestimmten Formen in sich nichtiger Strafpragmatik führen kann und daß die Hauptaufgabe bei einer Begründung einer wirklich absoluten Straftheorie im Hegeischen Geiste darin besteht, diese innere Nichtigkeit solchen verirrten Strafhandelns offen zu legen und darzustellen, wie es sich von selbst aufhebt.

3. Der Übergang in ein sittliches Verständnis von Strafe Weil die Strafidee bisher abstrakt blieb, ermöglichte sie die Verkehrungen. Sie wurden mit bösem Willen gesetzt. Sowohl das handelnde Opfer als auch der sich verweigernde Täter haben ein, wenn auch nicht praktisch wirksames Wissen von der dem Allgemeinheitsanspruch des Guten nicht standhaltenden Partikularität der von ihnen verfolgten Zwecke. Allerdings sind sie beide noch dem von ihnen selbst geschaffenen Schein der Allgemeinheit erlegen, mit dem sie ihr Streben ausstatten. Die Zerstörung dieses Scheines setzt voraus, daß die Widersprüchlichkeit ihres Tuns ihnen selbst vor Augen geführt wird. Die Methode, wie dabei vorzugehen ist, hat Hegel in Rph. § 141 geschildert 32 • Er geht dort davon aus, daß alles Endliche, wozu er ebensowohl das nur sein sollende Gute als auch die nur gut sein sollende Subjektivität zählt, an sich selbst sein Gegenteil hat, wie es ihm als etwas anderes Endliches gegenübersteht. Indem es sich aber für sich selbst gegen sein Anderes als Totalität konstituieren will, wird es genauso wie sein ihm gegenüber stehendes Anderes einseitig. Diese Phase innerhalb der Entwicklung der Strafe auf moralischem Boden ist bereits geschildert worden. Die abstrakte Strafidee hat in der Verkehrung ihr Gegenteil an sich selbst, indem ihre Bestimmungslosigkeit keinen Maßstab für moralisches Strafhandeln mehr bietet. Aber auch die Subjektivität hat ihr Gegenteil an ihr selbst, indem weder Täter noch Opfer in der Ausführung ihrer Zwecke wirklich die Wiederherstellung des Rechts in intersubjektiver Allgemeinheit erreichen können. Um die Aufhebung zu vervollständigen, muß ihre eigene Einseitigkeit, die ihnen an sich zukommt, für sie selbst gesetzt werden. Dies geschieht dadurch, daß man die immanente Negativität ihres Tuns dadurch aufzeigt, daß man es zur ausschließenden Totalität steigert. Der Schein der Richtigkeit des Rph. § 57 Anm., S. 123 f. mit Verweis auf die Phän. Ebda., S. 286 f. Besonders instruktiv wird dieser Übergang in der Phän. veranschaulicht, ebda. S., 464 ff. 31

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2. Kap. B. Verbrechensreaktion und Moralität

eigenen Tuns verliert seinen Glanz dort, wo für die Subjekte selbst ihr Handeln als für sie negativ gesetzt ist. Beim Täter ist diese Konsequenz schon aufgezeigt worden: Sein Beharren auf alleinige Restitution des Rechts mißachtet das Recht des subjektiven Willens des Opfers und kann gerade wegen dieses Unrechts das Recht nicht allgemein in seine Geltung wiedereinsetzen. Dieser sein Widerspruch tritt für ihn am subjektiven Willen des Opfers in Erscheinung. Die immanente Negativität des Insistierens auf das Monopol in der Verbrechensnegation zeigt sich dabei nicht nur in dem Mangel der Anerkennung der Leistungen des Täters zur Wiederherstellung des Rechts. Vielmehr richtet sich diese Negativität auch aktiv gegen den Täter selbst, indem nun das Opfer versucht, in Anwendung des gleichen Gedankens, sich im Besserungszwang als einzige Instanz der Verbrechensaufhebung zu gerieren. Wo der Täter dieses Verhalten des Opfers als Konsequenz seines eigenen Handeins begreift, dort erkennt er die ihm eigene Negativität. Aus dieser Erfahrung ist es ihm dann möglich, sowohl die Pressionen als das ihm selbst Zugehörige zu verstehen, als auch dem Opfer für die Taten zu vergeben. Schließlich eröffnet sich dem Täter die Chance, nicht aus Zwang zu gestehen bzw. sich zu bessern, sondern aus der Einsicht in die eigene Negativität autonom Geständnis bzw. Besserung als notwendige Mittel allgemeiner Rechtsrestitution anzuerkennen .. Aber auch auf Seiten des Opfers bedarf es der Erfahrung, daß sich die an sich bestehende Negativität des eigenen Tuns gegen es selber richtet. Sinn der Zwangsbehandlung des Täters war, das Recht auch im subjektiven Willen des Täters wieder zur Existenz zu bringen. Indem es ihm aber das Geständnis bzw. Besserung abnötigte, ersetzte es den subjektiven Willen des Täters durch den eigenen. Darin kommt die Negativität des eigenen Tuns zum Vorschein. Sie wendet sich aber auch aktiv gegen das Opfer selbst. Wie oben bereits ausgeführt ruft die Mißachtung des subjektiven Willens in einem Individuum, das sich als moralisches Wesen versteht, schon aus Gründen vernünftiger Selbstachtung die Gegenreaktion hervor, mit Gewalt den eigenen besonderen Willen in der Äußerlichkeit zu behaupten. Für die hier zu betrachtende Sachlage bedeutet dies, daß der Täter entweder weiter delinquieren oder offen gegen das Opfer rebellieren wird, wenn er nicht den pathologischen Rückzug in die eigene Innerlichkeit antritt. In den beiden ersteren Fällen wendet er die dem Tun des Opfers innewohnende Negativität gegen es selbst: Dies ist offenbar, wo er direkt gegen den Zwang selbst aufbegehrt; es liegt aber ebenfalls vor, insofern er die einmal angenommene Unrechtsmaxime in fortschreitenden Handlungen verfestigt und so zur Quelle seiner weiteren Lebensplanung macht. Auch hier ist die Rechtsgeltung in einer Weise verneint, die das Dasein des Opfers unmittelbar betrifft. Falls es diese Negativität als Konsequenz des eigenen Tuns erkennt, kann es sie als etwas ihm nicht mehr Fremdes verstehen. Die Verletzung seiner selbst durch den Verbrecher kann es als eine Selbstverletzung begreifen, von der Alleinschuld des Täters an ihr kann es ihn ebenso distanzieren, wie ein Verzeihen möglich wird.

II. Die Idee der guten, gerechten Strafe

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Dieser Umstand markiert den Wendepunkt, an dem eine Verbrechensreaktion sowohl den Mangel bloß abstrakter Vergeltung als auch den Fehler moralisierender Besserung überwinden kann. Fällt das Begreifen der eigenen Negativität in beiden Subjekten im selben Zeitpunkt zusammen, eröffnet sich der Weg zur Versöhnung. Denn mit dem Erfahren dieser, die einzelnen Subjekte übergreifenden Negativität geht einher, daß in ihr sich eine einheitliche Subjektivität äussert, welche die beiden Seiten dieser negativen Beziehung in ihrer sich gegeneinander verkeilenden Besonderheit erst setzt. Die gegenseitige Abhängigkeit der wechselseitigen Verletzungen, die von den Subjekten selbst als nichtige Willensäußerungen gewußt werden, teilt den Individuen eine Identität ihrer Willen im Negativen mit. Diese negative Einheit überformt deren partikuläre Subjektivität in der Weise, daß erstere als gemeinschaftliches Zusammenwirken der Subjekte im Gegeneinander zum Vorschein kommt. Erkennen die Individuen diese negative Einheit, so erkennen sie zugleich auch ihre ihnen allgemeine Subjektivität, wenn auch im Status völliger Negativität. In Analogie zur Willensdialektik ist der nächste Schritt zur Versöhnung die Aufhebung dieser Negativität, die sich in der drohenden, gegenseitigen völligen Vernichtung abzeichnet. Die allgemeine Subjektivität bloß als negativ wäre noch widersprüchlich, weil und soweit sie sich gegen ihre eigene Quelle, die Interaktion der Subjekte, richtet. Versöhnung heißt mithin, die jeweilige besondere Existenz des Anderen in gemeinschaftlichen Geiste zu setzen. Sie bedeutet nicht mehr Strafe für den Täter - selbst dort nicht, wo er es übernimmt, sich zu bessern. Denn in ihr geht es nicht mehr um die Aufhebung eines Verbrechens, das allein durch den besonderen Willen des Täters begangen worden ist, sondern um das Verlassen eines (Natur-)Zustandes, den heide Seiten hervorgerufen haben. Einen Ort, an dem diese Versöhnung wirklich wird, hat Hegel in seinen Jugendschriften benannt 33 : Es ist die zur Vergebung fahige Liebe. Dort wird sie im Sinne des christlichen Gebotes der Nächstenliebe verstanden. Nach diesem religiösen Verständnis ist sie aus Liebe zu Gott ohne Einschränkung gegenüber jedermann zu üben, wie fremd dieser einem auch sonst sein mag. In der Sphäre des objektiven Geistes hat Liebe jedoch einen kleineren Wirkungskreis: Sie ist bestimmende Macht nur in der Familie. Dort gewährleistet aber die auf einen engen Personenkreis begrenzte und erwiderte Zuneigung den hier geschilderten Prozeß der Versöhnung nach einer Verfehlung des einen und entsprechender Überreaktion des anderen Partners: Man ist gewillt, selbst üble Gewohnheiten zu dulden, solange man sich der Liebe des Anderen noch sicher ist. Gleichzeitig fühlt man sich verpflichtet, ihm bei der Überwindung seiner Probleme zu helfen, wie seine Liebe zu einem selbst der Affekt ist, der ihn zu eigenen Bemühungen antreibt. 33

Geist des Christentums, S. 336 ff. Vgl. w. Phän., S. 464 ff. Dazu Rizzi, HegelJb

1987, S. 317 ff.

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2. Kap. B. Verbrechensreaktion und Moralität

Schwieriger ist die Sachlage, wo nur eine Seite die beide Subjekte vereinende Negativität erfaßt. Dabei liegt das Problem weniger dann vor, wenn der Täter zu dieser Erkenntnis kommt. Für ihn reicht die autonome Annahme dessen, was sein Opfer ihm abzwingen will, aus, um für sich und es das verletzte Recht wieder herzustellen. Kompliziert ist allein der Fall, in dem zwar auf Seiten des Opfers die betreffende Erkenntnis gereift ist, nicht aber beim Täter. Wo dieser auf seiner, eventuell bereits habituell verfestigten Unrechtsmaxime als Handlungsprinzip beharrt, dort fällt es allein in die Subjektivität des Opfers, ihm gegenüber die allgemeine Subjektivität beider zur Geltung zu bringen. Aber auch diese Form der Aufhebung kann sich an ein Vorbild anlehnen: Die gelungene Erziehung des Kindes zur Selbständigkeit ist oben bereits als ein derartiges asymmetrisches Verhältnis der Liebe geschildert worden, dessen immanente Dynamik auf die Überwindung in einer Beziehung Gleicher zielt. Allerdings muß auch hier der Unterschied betont werden: Anders als bei der Kindeserziehung stehen sich im hier angesprochenen intersubjektiven Verhältnis zwei Vernünftige gegenüber. Damit ist eine direkte Übertragung der Ausführungen zum pädagogischen Zwang nicht möglich. Vielmehr muß stattdessen der Vernünftigkeit des Täters dadurch Rechnung getragen werden, daß das Prinzip der Aufhebung seinen Handlungen entnommen wird, die zu dem jetztigen Zustand des wechselseitigen Verletzens beigetragen haben. Im Unterschied zum Prinzip des Strafens, der schuldausgleichenden Wiedervergeltung, sind die Handlungen des Täters nicht mehr nur als Ausdruck eines sich absondernden Einzelwillens, sondern auch als Erscheinungsformen der allen gemeinen Subjektivität in ihrer puren Negativität zu kennzeichnen. Es ist also nicht nur eine subjektive Schwäche des Täters zu beheben, wie sie sich in seinen schlechten Gewohnheiten manifestiert, sondern (darin) zugleich der bisherige Mangel der universal allen zukommenden Vernunftsubjektivität, nur in nackter Negativität gegeneinander tätig gewesen zu sein. Mithin ist die positive Existenz des Verbrechens nicht mehr nur der besondere Wille des Täters 34, sondern das Unrecht ist ebenso Resultat des Verhalten aller: "Es kann nicht [von der] Schuld dieses oder jenes Individuums - dieser oder jener die Rede sein ... - aber Aller, des Ganzen."35 Allerdings spricht Hegel auch in Bezug zur gerichtsförmig verhängten Strafe innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft in bestimmter Weise von einer Versöhnung 36 : "Statt der verletzten Partei tritt das verletzte Allgemeine auf ... und übernimmt ... die ... Ahndung des Verbrechens, welche damit ... sich in die wahrhafte Versöhnung des Rechts mit sich selbst, in Strafe verwandelt, - in objektiver Rücksicht als Versöhnung des durch Aufheben des Verbrechens sich selbst wiederherstellenden 34

Rph. § 99, S. 187.

35 So Hegel zu den Ursachen für die Sklaverei in Rph. § 57 Randbem., S. 125. 36 Rph. § 220, S. 374.

H. Die Idee der guten, gerechten Strafe

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und damit als gültig verwirklichenden Gesetzes, und in subjektiver Rücksicht des Verbrechers als seines von ihm gewußten und für ihn und zu seinem Schutze gültigen Gesetzes, in dessen Vollstreckung an ihm er somit selbst die Befriedigung der Gerechtigkeit, nur die Tat des Seinigen findet."

Wie sich aus dem Zitat unmittelbar ergibt, ist die Versöhnung hier allein auf die objektive Seite der Strafe bezogen, von dem die subjektive Seite der Strafe, ihre Anerkennung im Selbstbewußtsein des Täters, abgeschieden ist. Erstere meint daher das Gestimmtsein der verletzten Allgemeinheit, zum Vergeben bereit zu sein, ohne daß dem eine gleiche Verfassung im Täter selbst notwendig entsprechen muß. Voraussetzungen und Sinn dieser Redeweise sollen im folgenden Abschnitt systematisch geklärt werden, der von der Verbrechensreaktion in der bürgerlichen Gesellschaft handelt. Anzumerken bleibt nur noch, daß die Versöhnung auch in der Sittlichkeit als moralisches, damit nicht erzwingbares Gebot erhalten bleibt. Für die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft ergibt sich daher das Problem, wie, ohne die autonome Entscheidung zur Versöhnung zu mißachten, dennoch die ihr anhaftende Zufälligkeit in einen sich mit einer für das Recht erforderlichen Notwendigkeit vollziehenden Prozeß der Unrechtsaufhebung integrieren läßt 37 •

c. Verbrechensreaktion in der bürgerlichen Gesellschaft Um die Rolle der Strafe innerhalb Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft zu bestimmen, müssen andere institutionelle Rahmenbedingungen einbezogen werden als diejenigen, die eine Versöhnung durch Liebe ermöglichen. Die Grundpfeiler des Systems der Bedürfnisse sind daher kurz in Erinnerung zu rufen. Außerhalb des familiären Rahmens kann wechselseitige Liebe nicht als allgemeine Disposition vorausgesetzt werden, die eine Wiederherstellung des Rechts in der Versöhnung garantiert. Dies liegt daran, daß Liebe als unmittelbar sittliches Verhältnis noch nicht - wie im Verständnis der christlichen Religion - als personales Verhältnis zu Gott verstanden werden kann, das einen zur Vergebung der Verfehlungen anderer aus Nächstenliebe verpflichtet 1. Das personale Verhältnis definiert sich hier aus einer Beziehung von Menschen zueinander, die sich in ihrer Ganzheit im anderen anerkannt wissen wollen 2. Deshalb muß es sich auf das Zweipersonenverhältnis der Ehe beschränken, weil sich die Partner nur dann ungeteilt einander hingeben können 3. Hierzu steht die leitende Maxime der Glieder der bürgerlichen Gesellschaft in bestimmten Gegensatz: Als konkrete Personen, die sich als besondere von 37 Allgemein zur Formalität der Versöhnung im objektiven Geist instruktiv Rohrmoser, Subjektivität, 1961, S. 111 ff. 1 Dazu Geist des Christentums, S. 351 u. Ö. 2 So Rph. § 163, S. 313 ff. 3 Rph. § 167, S. 320.

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2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft

anderen sich unterscheidende Wesen als Zweck betrachten, sind ihre Handlungen, kantisch gesprochen, von Selbstliebe motiviert 4 • Allerdings geschieht dies in der Weise, daß die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse in Abhängigkeit von den Leistungen anderer gedacht wird 5 • Diese Interdependenz, das alle Bürger verbindende allgemeine Interesse, bringt daher einen Arbeits- und Lebenszusammenhang hervor, dessen erstes substantielles Resultat die Habitualisierung von Anerkennungs leistungen in einem allgemeinen Rechtsbewußtsein ist. Mit der Institutionalisierung der Rechtspflege wandelt sich die Existenz des Rechts ebenso wie die des Unrechts: Das Verbrechen als Verletzung des allgemeinen Willens in seiner Besonderung bedeutet jetzt die über die Negation des allgemeinen Willens des Opfers vermittelte Gefahrdung des institutionalisierten Gemeinwillens. Dem muß ein Gestaltwandel in der Strafe entsprechen, wie anhand der Verbrechensreaktion in der ständisch integrierten Gesellschaft aufgezeigt werden soll.

I. Strafe in der ständisch integrierten Gesellschaft Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft geht nur an zwei Stellen auf die Frage ein, welche Erscheinungsweise die Verbrechensreaktion hier einzunehmen hat. Den Fortschritt von der Rache zur Strafe sieht Hegel nicht im Prinzipiellen, denn an sich war auch die vergeltende Rache schon gerecht. Stattdessen verwandelt sich die Wiedervergeltung in einem gerichtlichen Verfahren der Form nach " ... in die wahrhafte Versöhnung des Rechts mit sich selbst, in Strafe ... , - in objektiver Rücksicht als Versöhnung des durch Aufheben des Verbrechens sich selbst wiederherstellenden und damit als gültig verwirklichenden Gesetzes, und in subjektiver Rücksicht des Verbrechers als seines von ihm gewußten und für ihn und zu seinem Schutze gültigen Gesetzes, in dessen Vollstreckung an ihm er somit selbst die Befriedigung der Gerechtigkeit, nur die Tat des Seinigen findet."6 Bevor auf diese Verbindung von der Verwirklichung der Strafgerechtigkeit und ihrer angemessenen Form näher eingegangen werden soll, müssen Aufgabe und Existenzweise der Strafe entsprechend des modifizierten Stellenwertes des Verbrechens in der bürgerlichen Gesellschaft spezifiziert werden. Daran schließt sich an, das Strafverfahren als denjenigen Ort herauszustellen, indem Hegel hauptsächlich eine auch der Form nach gerechte Verwirklichung der Vergeltung erblickt hat. Erst dann läßt sich ermitteln, welche Konsequenzen daraus für die Form des Rechtsverhältnisses des Bestrafungsvorganges zu ziehen sind. Anders Rph. §§ 182 f., S. 339 f. Rph. § 157 unter B., S. 306. 6 Rph. § 220, S.374, der in engem Zusammenhang mit Rph. § 218, S. 371 ff. zu lesen ist. Wie noch im einzelnen darzulegen ist, konkretisieren die §§ 221 ff. Rph. u. a. auch die Straftheorie Hegels, indem sie ein Verfahrensmodell der Strafrechtsanwendung beschreiben, s. dazu ausführlich H. P. Zimmermann, Freiheit und Gebundenheit der Staatsanwaltschaft, 1988, S. 37 ff., 43 ff. Vgl. w. Piontkowski, Hegels Lehre über Staat und Recht, 1960, S. 314 ff., 366 ff. 4

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I. Die ständisch integrierte Gesellschaft

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als es die Trennung der Rechtsmaterie im positiven Recht vorzugeben scheine, kann daher bei Hegel 8 nur unter Einbeziehung der Form der Strafvollstreckung genauer präzisiert werden, wie die vergeltend zugefügte Rechtseinbuße inhaltlich auszugestalten ist. Wegen dieser Schwerpunktsetzung Hegels, die angemessene Form der Vergeltung vornehmlich im Strafverfahren herauszuarbeiten, läßt sich erst nach diesem Durchgang näheres über Strafzumessung und Strafarten sagen.

1. Grundprinzip und Erscheinungsformen der Strafe Wie obiges Zitat ausweist, bleibt auch in der bürgerlichen Gesellschaft das Prinzip der Wiedervergeltung die einzige begriffliche Grundlage allen Strafens, wie es notwendig aus der Selbstaufhebungstendenz der Unrechtsmaxime folgt, s. o. 2. Kapitel A. I. 1. 9 Diese wirkt sich ebenso auf zwei Ebenen aus, wie der Unwert des Verbrechens in gedoppelter Weise sowohl auf der Stufe der einzelnen Rechtsbeziehung zum Opfer als auch auf der Stufe des institutionalisierten Allgemeinwillens in Erscheinung tritt, s. o. 2. Kapitel D. 11. 3. a). Aus diesem Grund muß die Selbstaufhebung der Unrechtsmaxime in der Strafe auch um eine institutionelle Seite erweitert werden. Ja, genaugenommen bildet der Widerspruch zur kodifizierten Rechtsnorm den Schwerpunkt dessen, was innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft als strafwürdiges Unrecht anzusehen ist 10. a) Das Grundprinzip der Strafe Der Wandel der Existenz des Verbrechens bedingt zugleich den Wandel der Erscheinung, den Wiedervergeltung in Gestalt der Strafe nach Voraussetzungen und Inhalt in der bürgerlichen Gesellschaft durchmacht. Hegel spricht diesen Konnex zwar nie deutlich aus; vielmehr beschränken sich seine Ausführungen auf den ebenso nicht unwichtigen Teil des Problems, was die rechte Form der Rechtsdurchsetzung sei 11. Sachlich-systematisch zieht aber der Gestaltwandel des Verbrechens, nunmehr Gefährdung der Geltung des Gesetzes im allgemeinen Bewußtsein zu sein, notwendig auch eine geänderte Existenzweise der Wiedervergeltung als Strafe nach sich 12. Das hat folgende Konsequenzen: 7 Überblick bei Jescheck, AT, 1988, S. 14 f. Allerdings ist zu bedenken, daß eine bestimmte Ausgestaltung des Verfahrens, einzelne Strafen zu vollstrecken, auch Art und Umfang des Eingriffs mitbestimmen. Deutlich wird dies z. B. bei den §§ 455,456, 456c, 459a, 459d, 459f StPO; §§ 2 ff. StVollzG. Insoweit ist auch hier die Frage nach dem gerechten Strafmaß zu stellen. 8 Rph. § 220, S. 374. 9 Anders Schild, der Präventionszwecke begrifflich neben die Vergeltung stellt, um beide in einer Vereinungstheorie zusammenzufassen, in: ARSP 70, 1984, S. 75, 103 f. Selbst bei Seelmann rückt Generalprävention in den ersten Rang auf, in: JuS 1979, S. 691. Dazu auch im folgenden Text. 10 Rph. § 218, S. 371 ff. II Rph. §§ 220 ff., S. 374 ff. 12 Beispielhaft angesprochen ist diese Folgebeziehung in Rph. § 218 Anm., S. 372.

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2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft

Die Strafe dient auch jetzt nicht dem Schadensersatze des Opfers, denn nur das verletzte Allgemeine tritt jetzt (in Form eines öffentlichen Anklägers) im Strafprozeß auf l3 • Vielmehr verschiebt sich die Perspektive nun vollständig auf die Verletzung des allgemeinen Willens, wie er als institutionalisiertes Gesetz im Bewußtsein aller Bürger als Handlungsnorm gilt l4 • In den Fällen, in denen zwar nach den Kategorien des abstrakten Rechts formell ein Verbrechen vorliegt, mangels Gefährdung des allgemeinen Rechtsbewußtseins aber für die Gesellschaft kein strafwürdiges Unrecht begangen wurde, beschränkt sich nämlich die Reaktion der Rechtspflege auf zivilen Rechtsschutz. Ob und wie innerhalb der einzelnen Beziehung zwischen Täter und Tatopfer konkret die wechselseitige Anerkennung wiederhergestellt wird, fällt jetzt allein in die moralische Kompetenz der Beteiligten. Die Strafe hat mithin nur noch dort eine legitime Funktion, wo sie denjenigen Widerspruch aufhebt, der zwischen dem vereinzelten Willen des Verbrechers und dem institutionalisierten Allgemeinwillen besteht. Diese Verletzung, die allein zu vergelten bleibt, benennt Hegel als die Gefährdung der im allgemeinen Bewußtsein (gewohnheitlich) verfestigten Geltung der Gesetze l5 • Sie macht nun die substantielle Daseinsweise des Verbrechens in der bürgerlichen Gesellschaft aus, die auch die Art und Weise der Strafe zu bestimmen hat. Für sie muß demnach ein Äquivalent in der Sphäre des Täters gefunden werden, an dem der mit der Strafe verbundene Eingriff in angemessener Weise vorgenommen kann. Auf den ersten Blick scheint die Existenz des besonderen Willens des Verbrechers keinen äußeren Gegenstand aufzuweisen, der dem entspricht. Richtig handfest tritt einem der Delinquent ja nur mit Leib und Leben und seinem privaten Vermögen gegenüber. Dieses äußere Dasein unterscheidet sich aber für sich genommen augenfällig von der mehr innerlichen Existenz des Allgemeinwillens im Bewußtsein Aller. Dennoch gibt es einen Punkt, an dem sich beide Seiten treffen: Die natürlichdingliche Eigensphäre jedes Bürgers vermittelt ihm nämlich die Teilhabe an der gesamtgesellschaftlichen Interaktion, die zu ihrem substantiellen Resultate nicht die wechselseitige Bedürfnisbefriedigung hat, sondern die Habitualisierung von Anerkennungsleistungen. Umgekehrt macht die Totalität der sich täglich erneuernden Bestätigungen von Anerkennung diejenige gesetzmäßige Gewohnheit aus, in dem der verfaßte Allgemeinwille seine Geltung manifestiert. Deren Sicherheit und Beständigkeit vermitteln wiederum den individuellen Freiheitsrechten ihre Stabilität: "Wie in der bürgerlichen Gesellschaft das Recht an sich zum Gesetz wird, so geht auch das vorhin unmittelbare und abstrakte Dasein meines einzelnen Rechts in die Bedeutung des Anerkanntseins als eines Daseins in dem existieren13 14

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Rph. § 220, S. 374. Rph. § 218, S. 371 f. Vgl. Rph. § 218 Anm., S. 372.

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den allgemeinen Willen und Wissen über." 16 Indem sich das Verbrechen gegen ein einzelnes Rechtsgut richtet, erfaßt es dort grundsätzlich auch den darin konkretisierten Allgemeinwillen 17. Seine Selbstverständlichkeit, gewohnheitsmäßig allgemein zu gelten, wird darin im Prinzip erschüttert. Folglich teilt sich dem einzelnen Bürger die Lockerung des sonst üblichen Gesetzesgehorsams in der Unsicherheit des Geltens seines individuellen Rechtes in den Augen anderer mit. Eine Unrechtsmaxime in ihrer Geltung auf das Dasein des Täters zu verallgemeinern, bedeutet in Konkretisierung dieser negativen Seite von Strafe, die Gefährdung von Normgeltung nicht nur auf die Güter des Opfers bzw. Dritter zu beschränken, sondern auch auf die des Täters zu erweitern. Dabei fragt sich, wie ein Eingriff in Rechte des Täters ein Äquivalent für die bloße Gefährdung sein kann, die ja der Erfolgsunwert des Deliktes ist. Prima facie scheint ja die Verletzung von Rechtsgütern des Täters stets eine intensivere Einbuße darzustellen, als die bloße Gefährdung. Auch hier ist es wichtig klarzulegen, daß die Schmälerung des Vermögens beim Täter nicht für sich die Ebene ausmacht, in der Strafe ihre Geltung entfalten soll. Vielmehr vermittelt der Eingriff in die Sachherschaft des Täters das Bewußtsein, daß auch seine Teilhabe am gesamtgesellschaftlichen Anerkennungsprozeß mit seiner Tat in Frage gestellt worden ist, wie sie sich eben auf eine äußere Sphäre privaten Eigentums gründet, s. o. 1. Kapitel D. 11. 1. Wo ich dem Delinquenten z. B. einen bestimmten Geldbetrag zur Strafe entziehe, dort mindern sich seine Chancen, im Arbeits- und Lebenszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft mitzuwirken, ohne daß damit zugleich die Zugehörigkeit zu ihr als Ganzes verneint wird. Die Einbuße auf Seiten des Täters muß mithin so bestimmt werden, daß sie dem realen Anerkennungsverlust entspricht, wie er durch die Tat im Bewußtsein Aller eingetreten ist. Indizien für dessen Höhe bilden Art und Schwere der Rechtsgutsverletzung ebenso wie die Häufigkeit, mit der das betroffene Rechtsgut in letzter Zeit bereits verbrecherischen Angriffen ausgesetzt gewesen ist, s. o. 1. Kapitel D. 11. 1. und IV. 4. Durch die Formalisierung des Verbrechensbegriffs kommt den Organen der Rechtspflege hier aber eine Einschätzungsprärogative zu, durch welche materielle Verbrechen zum Teil bereits gesetzlich, zum Teil erst im Einzelfall aus dem Kreis des strafwürdigen Unrechts ausgeschieden werden. Dies muß insoweit geschehen, wie eine Beschädigung eines Gutes nicht in der Lage ist, die Festigkeit der gewohnheitlichen Anerkennung solcher Rechte im Bewußtsein Aller zu erschüttern, s. o. 1. Kapitel D. 11. 3. a) cc). Allerdings bleibt es auch auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft fraglich, wie die bloße Erweiterung der Geltungsgefährdung durch die Unrechtsmaxime auch auf das Dasein des Täters fähig sein soll, ihren eigenen Geltungsschein zu 16 17

Rph. § 217, S. 370. Rph. § 218, S. 371 ff.

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vernichten und damit das gesetzte Recht zu restituieren. Mit den Worten der Rph. ist herauszuheben, daß der gesetzmäßige Eingriff in Freiheit oder Eigentum des Verbrechens allein nicht geeignet sein kann, ihm das Wissen zu vermitteln, es handele sich um die Anwendung des" ... zu seinem Schutze gültigen Gesetzes ••• " 18, die seine Freiheit und sein Eigentum sichern. Wie im abstrakten Recht muß auch hier diese negative Seite der Strafe um eine affirmative ergänzt werden. Im formellen Recht war es so, das die affirmative Seite der Sanktion darin bestand, das moralische Wesen des Täters, das dieser im negativ-unendlichen Urteil des Verbrechens implizit bereits angesprochen hatte, ausdrücklich existentiell werden zu lassen. Gemäß der gedoppelten Struktur, welche die Straftat in der bürgerlichen Gesellschaft aufweist, muß diese individuelle, auf die Täter / Opfer-Beziehung beschränkte Sicht auch hier um eine institutionelle Perspektive erweitert werden. Eine vertiefte Restitution des Rechts allein durch Konstitution einer Beziehung moralisch reflektierender, normgeleitet handelnder Menschen reicht hier nicht mehr aus. Vielmehr muß hinzukommen, daß dieses Geschehen auf der gesellschaftlichen Ebene von einem Prozeß begleitet wird, der die Sicherung des Rechts der Besonderheit (ihr Wohl, ihre Autonomie) auch zur öffentlichen Aufgabe macht. Wie bereits dargestellt, begründet Hegel ja den Übergang vom Systemabschnitt der Rechtspflege zu dem der Polizei gerade mit diesem Erfordernis. b) Erscheinungsformen der Strafe Zur umfassenden Wiederherstellung des Rechts gehört demnach zunächst auch die Anerkennung einer institutionellen Sorge um das Wohl aller, deren Mangel implizit im Verbrechen konstatiert wird, s. o. 1. Kapitel D. 11. 3. b). Zur vollständigen Verwirklichung der Freiheit im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft zählt deshalb nicht nur der Schutz des Eigentums sondern auch die Sicherung individueller Bedürfnisbefriedigung 19. Will Strafe wirklich Restitution des Rechts sein, so bedarf es der Konstitution eines institutionellen Rahmens, indem nicht nur das allgemeine Bewußtsein vom Gelten der Gesetze ein Dasein der Freiheit ist, sondern auch das Wohl aller als Recht anerkannt wird. Hegel hat diesen Zusammenhang von Recht und Wohl in der bürgerlichen Gesellschaft in dieser Grundsätzlichkeit nirgends deutlich auch auf die Rolle der Strafe bezogen. Weiter unten im Text soll aber gezeigt werden, daß sich einzelne general- bzw. spezialpräventive Aspekte der Strafe, die Hegel zu deren Wirklichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft hinzuzählt 20 , nur über dieses affirmative Element sinnvoll mit dem Vergeltungsbegriff vermitteln lassen.

18 19 20

Rph. § 220, S. 374. Enzykl. § 533, S. 328 f. Vgl. vorläufig Nachsehr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 548 ff.

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In der gesellschaftlichen Sicht des Verbrechens, welche für die staatliche Verbrechensreaktion die substantielle Seite der Unrechtsaufhebung darstellt, wächst der institutionellen Dimension der affirmativen Seite der Straftat die Hauptrolle zu. Dahinter tritt die Restitution der individuellen Täter / Opfer-Beziehung zurück und fällt in die moralische Kompetenz der Beteiligten. Die Wiederherstellung des kodifizierten Rechts steht dabei in der Weise im Vordergrund, daß sie Teilmoment einer umfassenden gesellschaftlichen Organisation (nämlich des Wohlfahrtsstaates) wird, in der die Sicherung des Rechts der Besonderheit, namentlich des Wohles, zur allgemeinen Aufgabe wird. Zum Recht der Besonderheit gehört aber auch das Recht des Wissens des subjektiven Willens, Einsicht in die Vernünftigkeit dessen zu erlangen, was man für sich als verbindlich ansehen soll, s. o. 1. Kapitel C. 11. 2. a) bb). Der Geltungsanspruch einer äußerlich gesetzten Norm soll vor dem eigenen Selbstbewußtsein Bestand haben können. Bisher beruhte aber die Geltung des Gesetzes typischerweise nur im allgemeinen Stand auf dieser Reflexionsleistung. In den anderen Ständen setzte sich die Anerkennung aller als Personen bisher lediglich über eine naturwüchsige Gewohnheit durch, wie sie sich zunächst in einem gegensatzlosem Gleichlauf von individuellem Interesse und rechtlicher Form herausgebildet hatte. Durch die Kodifikationsleistung des allgemeinen Standes wird zwar das Gesetzmäßige an dieser allgemeinen Handlungsweise allen bekannt. Aber: "Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt."21 Mit dem Rechtsbruch wird nun die Unmittelbarkeit der rechtschaffenen Gewohnheit als solcher in ihrer Funktion in Frage gestellt, Geltungsgrund des Gesetzes zu sein. Sie selbst kann nicht mehr Quelle der Anerkennung von Recht sein. Stattdessen wird es erforderlich, daß der subjektive Wille der Bürger, der von einem Verbrechen erfahren hat, die fraglich gewordene unmittelbar gelebte Geltung des Gesetzes vor seinem eigenen subjektiven Willen in ihrer Anerkennung affirmiert 22. Die Wiederherstellung des Rechts fordert also erstens, dieser individuellen Reflexionsleistung einen institutionellen Rahmen zu bieten 23. Der justizförmig durchgeführte Strafprozeß, der die Frage nach der Ahndung eines Rechtsbruchs öffentlich thematisiert, muß als eine derartige Einrichtung angesehen werden 24: Stärkung des Rechtsbewußtseins bedeutet demnach nicht, latente Rachebedürfnisse der Allgemeinheit zu befriedigen, sondern das Rechtsbewußtsein Aller in deren moralischer Reflexion vertiefen zu helfen. So sollen die Bürger befähigt werden, ihre eigene, unreflektiert erworbene Rechtschaffenheit vor ihren eigenen Augen als vernünftig einzusehen. So ordnet sich das Strafverfahren, wie es Hegel Phän., S. 35. Ähnlich Bosanquet, Suggestions in Ethics, 1918, S. 189 ff. 23 s. O. 2. Kapitel B. II. 3. Zur Formalität der Versöhnung im objektiven Geist, Rohrrnoser, Subjektivität, 1961, S. 111 ff. 24 So Rph. § 224, S. 376 f. und deutlich in Nachschr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 566 f. 21

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19 KJesczewski

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schildert, der objektiven Seite der Strafe unter, wie sie oben bereits herausgestellt worden ist: Der als Gesetz existierende Allgemeinwille wird dadurch mit sich versöhnt, daß das Recht in der Aufhebung des Geltungscheins des Verbrechens seine Bestätigung findet. Zweitens verlangt die Wiederherstellung des Rechts, auch institutionell dem Recht des subjektiven Willen des Täters gerecht zu werden, Einsicht in die Vernünftigkeit dessen zu erlangen, was ihm abverlangt werden soll. Denn nach der subjektiven Seite der Strafe soll auch der Täter das gebrochene Gesetz (wieder) anerkennen können. Auch hier setzt Hegel auf das in justizförmiger Weise durchgeführte Strafverfahren, das dem Angeklagten mit eigenen Rechten am Prozeß beteiligt, ein gerechtes Urteil zu fällen. Damit ist der Punkt erreicht, am dem für die weitere inhaltliche Bestimmung des Strafe die Form ihrer gerechten Verwirklichung bedeutsam wird.

2. Die Form der Strafverwirklichung In den Systemteilen Moralität und abstraktem Recht krankte die Verwirklichung von Strafgerechtigkeit namentlich an der ungenügenden Form, in der sie sich vollzog. Für die Strafe, wie sie in der bürgerlichen Gesellschaft geschildert wird, beansprucht Hegel eine dem Begriff der Vergeltung angemessene Verwirklichungsweise aufweisen zu können. Ins Zentrum seiner Überlegungen rückt dabei die ausführliche Schilderung des Strafverfahrens bis hin zur richterlichen Entscheidung. Die gerechte Form der Strafvollstreckung als solche wird dagegen nur am Rande erwähnt. Von ihr wird nur gesagt, in ihrer Anwendung auf den Verbrecher solle dieser selbst die Befriedigung der Gerechtigkeit und lediglich die Tat des Seinigen finden 25 • Augenscheinlich geht Hegel demnach davon aus, daß nach der Verurteilung des Angeklagten die Vollstreckung der verhängten Strafe an ihm auch von ihm als gerecht und durch ihn mitgesetzt gedacht werden kann 26. Deshalb bietet es sich m. E. an, die Hegeischen Vorstellungen über ein gerichtsförmiges Erkenntnisverfahren danach zu untersuchen, inwiefern in ihm allgemeine Kriterien enthalten sind, welche die oben angeführte Aussage über die angemessene Form der Strafvollstreckung, hier verstanden als Teil der Verwirklichung der Idee der guten, gerechten Strafe, konkretisieren helfen. Lassen sich derartige Kriterien ausmachen, so ist es möglich, die Frage zu beantworten, inwieweit die Strafe in der bürgerlichen Gesellschaft der Vergeltung eine angemessene Form bietet. Rückschließend können dann allgemeine Kriterien der Strafzumessung angegeben und ein System von Strafarten entwickelt werden.

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Rph. § 220, S. 374. Zustimmend Schild, Strafrichter, 1983, S. 79 ff., 86 ff.

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a) Das Strafverfahren Ausgangspunkt der Einrichtung von Gerichten als Spruchkörper 27 ist die Einsicht, daß die unmittelbare Geltung der Gesetze in ihrer naturwüchsigen Verwobenheit mit den üblichen Handlungsweisen der Bürger durch den Rechtsbruch in Frage gestellt ist. Es bedarf daher einer anderen Weise, Recht durchzusetzen, die auf der Erkenntnis dessen beruht, was im einzelnen Falle das Rechte sei. Sie setzt besondere Fähigkeiten voraus, wie sie innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung allein dem allgemeinen Stand zukommen, s. o. 1. Kapitel D. 11. 2. Dessen Haltung erlaubt es seinen Mitgliedern prinzipiell, sich ohne besondere Leidenschaften der Lösung eines Falles zu nähern. Auch können sie urteilen, ohne ein spezifisches Interesse am Ausgang des Verfahrens zu haben. Anders als im Zivilprozeß, indem Privatpersonen Parteien sind 28, bringt das Strafverfahren jedoch ein konstitutionelles Problem mit sich: Gemäß der Natur des Verbrechens tritt hier ja nicht mehr das Tatopfer als Ankläger auf, sondern das verletzte Allgemeine. Würde daher das Gericht als eine Einrichtung der Allgemeinheit auch diese Aufgabe übernehmen, so geriete es selbst in die Opferrolle und wäre nicht mehr davor gefeit, in den Interessenkonflikt des Falles verstrickt zu werden. Aus diesem Grund muß für Hegel auch das Strafverfahren wesentlich als Parteiprozeß ausgestaltet sein, der von einem öffentlichen Ankläger in Gang gesetzt wird, der als vom Gericht unabhängiges Rechtspflegeorgan auftritt 29. Seine spezifische Rolle besteht darin, im Prozeß das Allgemeine als Verletztes zu repräsentieren. Seine Pflicht ist, dort, wo zwischen ihm und dem Angeschuldigten keine Einigkeit erzielt werden kann, ob und wie ein bestimmtes Verbrechen begangen worden und zu ahnden ist, diesen Streit einem Gericht zur Entscheidung vorzulegen 30. Dem entspricht das Recht und die Pflicht des Angeklagten, nur dasjenige sich vorwerfen lassen zu müssen, was das Gericht als begründete Klage angesehen hat 31 • Schon hier zeigt sich, wie der subjektive Wille beider Seiten am Prozeß der Urteilsfindung beteiligt ist, ohne daß dies zu einer Verabsolutierung einer von bei den Seiten führt: " ... sie unterwerfen sich 27 Hegels Systemabschnitt "Gericht" handelt nicht allein von Gerichten im Sinne der urteilenden Richterkollegien. Vielmehr versteht er hierunter auch das Verfahren der Entscheidungsfindung selbst, d. i. den Inbegriff der Prozeßhandlungen der Beteiligten. Im folgenden wird das Wort "Gericht" allerdings lediglich in ersterer Bedeutung gebraucht. 28 Vgl. die Bemerkungen in Rph. §§ 222 f., 228, S. 375 f., 380. Unentschieden und bloß referierend dagegen in Nachsehr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 556 f., 570 f. Vgl. w. Nachsehr. Wannenmann, in: Ilting, S. 135. 29 Vgl. Rph. § 102 Randbem., S. 197. Eindeutig Nachsehr. Wannenmann, in: Ilting, S. 135. Zum Ganzen eingehend Schild, FS Heintel, 1982, S. 267 ff., ders., Strafrichter, 1983, S. 79 ff., 86 ff.; Applikation auf das geltende Recht bei H. P. Zimmermann, Freiheit und Gebundenheit der Staatsanwaltschaft, 1988, S. 56 ff. 30 Vgl. Rph. § 221, S. 375. 31 Vgl. Rph. § 221, S. 375.

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einem Richter, d. h. insofern sie feindselig sind, geben sie sich wehrlos ... ; sie tun auf ihre eigene Beherrschung der Wirklichkeit, auf Macht Verzicht und lassen ein Fremdes, ein Gesetz im Munde des Richters über sich sprechen." 32 Auch der Gang der Untersuchung bezieht beide Seiten mit prozessualen Rechten ein 33 . Ziel ist es hier, mit Beweismitteln, die Richter von einer bestimmten Sachverhaltsgestaltung zu überzeugen 34 . Auch hier kommt eine gelungene Interaktion zwischen Kläger und Angeklagtem nur dadurch zustande, soweit ersterer den eigenen Tatsachenvortrag nicht von vornherein außerhalb jeden Zweifels stellt und letzterer auch andere Beweismittel als das eigenhändige Geständnis gelten läßt 35. Allerdings bricht jetzt das Problem auf, wie sich den Beteiligten die Gewißheit von der Wahrheit der ermittelten Sachverhaltsbeschreibung mitteilt. Dabei ist zunächst folgendes festzuhalten: Als Akt eines freien Willens existiert die in Rede stehende Handlung des Angeklagten nicht in einer, dem Bewußtsein verborgenen Existenz. Auf dem Felde des Geistes hat Dasein nur, was für den Geist als existierend gilt. Dies hatte sich sowohl im abstrakten Recht als auch in der Moralität gezeigt: Besitznahme begründet nur Eigentum, wo sie für andere erkennbar ist; Handlungen sind nicht lediglich Veränderungen der Natur sondern haben wesentlich den Boden ihrer Existenz im Bewußtsein Dritter. So ist ihr Bestand und ihre Eigenart nun abhängig von der inneren Zufälligkeit willkürlicher Erlebnisverarbeitung. Für den hier thematischen Bereich bedeutet das, daß ein Verstoß gegen das Recht, der dem Richter nicht beweisbar ist, für den Geist nicht als Rechtsverstoß gilt: " ... aber das Recht ... muß zugleich ein gesetztes sein: ich muß es darstellen, erweisen können, und nur dadurch, daß das Ansichsei ende auch gesetzt wird, kann es in der Gesellschaft gelten."36 Auf der anderen Seite ist jede Handlung, weil sie sich auf dem Boden subjektiver Erlebnisse bewegt, nun auch Mißdeutungen ausgeliefert. Es kann so der Eindruck entstehen, daß ein rechtlich unanstößiges Verhalten widerrechtlich sei. Auch hier gilt, daß es einen derart belasteten Menschen zwar empören kann, wo er seine Unschuld nicht beweisen kann. Trotzdem muß er es jetzt hinnehmen, fall sich im Verfahren die Gewißheit herausgebildet hat, daß dem Scheine die Realität entspreche. Hegels Ausführungen zum Grundsatz, bei Zweifeln zugunsten des Angeklagten zu entscheiden, sind schwankend: Einerseits hebt er hervor, daß nur die subjektive Überzeugung des Richters von der Schlüssigkeit der 32 Geist des Christentums, S. 348 f., wo ausdrücklich eine Parallele zur Versöhnung in Liebe gezogen wird. 33 Rph. § 222, S. 375. 34 Vgl. nur Rph. § 227, S. 378, und Nachsehr. Hotho, in: Ilting III, S. 679. 35 So Rph. § 227 Zus., S. 379 f., Nachsehr. Hotho, in: Ilting III, S. 679 ff., und Nachsehr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 572 ff. 36 Rph. § 222 Zus., S. 375.

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Beweise zähle 37; andrerseits erwägt der Philosoph an mehren Stellen die Möglichkeit einer Verdachts strafe 38. Dem Recht des subjektiven Willens des Angeschuldigten entspricht es jedoch eher, soweit er als Beschreibung seiner Handlung nur denjenigen Sachverhalt gelten lassen muß, der sicher erwiesen werden kann. Um diese Erkenntnisgewißheit prozessual abzusichern, empfiehlt Hegel zweierlei: Zum einen muß sich der Richter von der Richtigkeit einer Aussage über den Eid vergewissern 39 • Zum zweiten sollen die Beweismittel möglichst unmittelbar demonstriert werden, um über das sinnliche Erleben Gewißheit für alle Verfahrensbeteiligte zu verbürgen 4o • Wo dies nicht möglich ist, muß die Gewißheit durch den Schluß (aus unmittelbaren Indizien) vermittelt werden 41 • Dadurch, daß bei diesem Verfahren die Prämissen der Überzeugungsbildung offengelegt werden, besteht hier zumindest die Möglichkeit für den Richter, für andere plausibel zu machen, wie die eigene Gewißheit zustande gekommen ist. Dennoch bleibt es auch hier möglich, daß ein Konsens aller Verfahrensbeteiligten über die zugrunde zu legende Sachlage, namentlich auch wegen der widerstreitenden Interessen, nicht erzielt werden kann. Dann muß der Richter aus seiner rein subjektiven, weil im Prozeß letztlich nicht vollständig vermittelbaren Überzeugung heraus entscheiden: "Die Vernunft ist es selbst, welche anerkennt, daß die Zufälligkeit ... ihre, aber beschränkte Sphäre und Recht hat ... ; hier ist es allein noch das Interesse ... , daß überhaupt bestimmt und entschieden sei ... Dieses Entscheiden gehört der formellen Gewißheit seiner selbst, der abstrakten Subjektivität an ... "42 Gleiches gilt auch für die Entscheidung rechtlicher Streitstände. Zumindest dort, wo der Richter die Strafbarkeit des Angeklagten bejaht, tritt das Gericht dem Angeklagten erneut als ihm fremder, äußerlicher Wille entgegen. Auch hier entsteht also eine Situation, in welcher der Delinquent sich dennoch einer fremdgesetzten Sanktion gegenüber sieht. Es scheint, daß sich damit der Strafprozeß ebenfalls stets in der Möglichkeit bewegt, hinter die Idee der guten, gerechten Strafe zurückzufallen. Dennoch stellt sich die Beziehung zwischen Angeklagtem und Gericht anders dar als das Verhältnis des Täters zum Opfer in der Rache bzw. beim moralischen Besserungszwang: So z. B. Rph. § 227, S. 378. Vgl. Enzykl. § 531 Anm., S. 328; Nachsehr. Hotho, in: Ilting III, S. 685. 39 Rph. § 227, S. 378, Nachsehr. Griesheim, in: Ihing IV, S. 578. 40 Dazu ausführlich Nachschr. Hotho, in: Ihing III, S. 679 f. Zu diesem beiden Elementen des Unmittelbarkeitspostulats eingehend Geppert, Unmittelbarkeit, 1979, S. 122 ff., 122, 127 ff., 127, 136 ff., 143 f., 144 f. 41 Nachsehr. Hotho,. in: Ilting III, S. 680. 42 Rph. § 214 Anm., S. 367. 37

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Zwar stehen die Richter dem Angeschuldigten ebenfalls als fremde Personen gegenüber. Anders als im abstrakten Recht und in der Moralität üben sie jedoch ihre Rolle, Urteile über andere zu sprechen, innerhalb einer Zuständigkeitszuweisung aus, die über den Willen aller Bürger vermittelt ist. Wie oben bereits dargestellt, ist sie Resultat der naturwüchsigen Arbeitsteilung, die den allgemeinen Stand hervorbringt, aus dem sich die Richter rekrutieren. Ihre Auswahl ist danach Ausprägung des allgemein die bürgerliche Gesellschaft beherrschenden Vernunftprinzips, die Zuweisung der jeweiligen Stellung des einzelnen Bürgers im Arbeitsleben von dessen Fähigkeiten abhängig zu machen. Indem jeder Bürger sich in dieser Weise in den Arbeits- und Lebenszusammenhang eingliedert, wirkt er damit, wenn auch nicht notwendig bewußt, so aber doch in Anwendung desselben Prinzips an der Konstitution eines Richterstandes mit. Im Grundsatz ist daher die Ausübung der Richterfunktion von seinem Willen anerkannt. Zwar bleibt es auch jetzt dabei, daß die aus Richterhand empfangene Strafe für den Verurteilten fremdgesetzt ist. Aber diese Fremdsetzung der Strafe ist gerade die Folge der Anerkennung einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung, welche die Ausübung der allen an sich zukommenden Rechtsvernunft dem allgemeinen Stand vorbehält. An diesem vorgeordneten Entäußerungsakt mangelte es noch in abstraktem Recht und Moralität, so daß sich dort die Selbstaufhebungstendenz der Unrechtsmaxime gänzlich in eine Fremdaufhebung verwandelte. Hier ist dieser Widerspruch von Prinzip und Form der Vergeltung insoweit aufgehoben, wie die Fremdsetzung der Strafe nun ihrerseits durch den Willen aller Bürger vermittelt ist, die an der gesellschaftlichen Arbeitsteilung teilhaben. Damit ist nicht gesagt, daß jeder Delinquent Strafe nunmehr als selbstgesetzt versteht. Denn es bleibt weiterhin möglich, daß sich der Angeklagte von der Ausübung der Rechtsvernunft nur deshalb entfremdet, weil sie nicht mehr in den eigenen Händen liegt. Daß die Richterrolle den Mitgliedern des allgemeinen Standes zugewiesen werden muß, ist ferner nicht notwendig von dem subjektiven Willen des einj1:elnen, vor Gericht stehenden Bürgers mitumfaßt. Aus diesem Grund ist der Bezug zum Willen des Angeklagten, der die Fremdsetzung der Strafe legitimiert, auch sehr formal. Er beruht allein darauf, daß jeder Bürger in der Reflexion auf dasjenige Prinzip, das er selbst bei der Eingliederung in die Gesellschaft geltend macht, dahin kommen muß, die durch spezialisierte Kräfte angewandte Rechtsvernunft als die eigene anzuerkennen. Dennoch hat Hegel erkannt, daß diese Form der Vermittlung des Richtspruchs mit dem Willen des Angeklagten noch nicht hinreichend sein kann. Denn er versucht das Urteil des Spruchkörpers mit dem Recht des Selbstbewußtseins des Angeklagten in Einklang zu bringen. Er soll den Richtern, die über die Tatfrage zu entscheiden haben, deshalb Vertrauen entgegenbringen können, weil sie nach ihrer besonderen persönlichen Verfaßtheit, namentlich ihrer Standeszugehörigkeit, Seinesgleichen sind 43. Hegel plädiert also für die Einrichtung von Geschworenengerichten.

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Dabei ist für Hegel nicht entscheidend, ob diese Institution eine höhere Gewähr bietet, die Wahrheit zu finden. Erst recht geht es ihm (im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft) nicht darum, die Ausübung der richterlichen Gewalt demokratisch zu legitimieren 44 • Muß man zwar den Mut bewundern, zu den Zeiten der Karlsbader Beschlüsse öffentlich für eine so "revolutionäre" Einrichtung wie die Schwurgerichte einzutreten, so trennt Hegel doch viel von den damals leitenden Motiven seiner Zeitgenossen, die sich für eine Judikatur unter Mitwirkung von Geschworenen ausgesprochen hatten 45 • Denn für den Philosophen zwingt allein das Recht des Selbstbewußtseins des Angeklagten dazu, Laienrichter zuzulassen. Gemäß einer eher ständestaatlichen Überlegung sollen diese aus denselben sozialen Verhältnissen kommen wie der Angeklagte auch; sie sollen seine Rechtsvernunft nicht nur nach der allgemeinen, sondern auch nach der besonderen Seite repräsentieren. Nur so ist es ihm möglich, die Verhängung der Strafe als "die Tat des Seinigen"46 zu empfinden. Trotz dieser weitestgehenden Angleichung von Richter und Gerichtetem bleibt natürlich auch hier eine bisher nicht überwundene Differenz zwischen den verschiedenen Subjekten bestehen. Der Angeschuldigte kann daher den Richtspruch auch weiterhin als etwas ihm Fremdes (v)erkennen 47 • Wie Hegel selbst bekennt, läßt sich die unmittelbare Einheit der Gewißheit, wie sie für den Angeklagten im Eingeständnis vorhanden ist, über den Wahrspruch der Geschworenen nicht herstellen 48. Das Recht des subjektiven Willen wäre erst dann gewahrt, wo die Geschworenenbank in ihrer Zusammensetzung auch unter Zustimmung des Beschuldigten ausgewählt wird. Dies setzt aber letztlich eine demokratische Legitimation voraus, die in der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht thematisch ist, s. o. 1. Kapitel D. I. So muß die Versöhnung durch Strafe in der bürgerlichen Gesellschaft in einem wesentlichen Punkt abstrakt bleiben: Im Urteil (und seinen Folgen) ist der subjektive Wille des Angeklagten praktisch nicht anwesend. Wie Hegel selbst formuliert, abstrahiert die Institution des Schwurgerichts aus guten Gründen von der Voraussetzung des Geständnisses 49 : "Wenn das Geschworenengericht allein, abstract als Gericht aufgestellt ist, kann dieß auch einseitig werden, und man hat empörende Beispiele davon in England, wo Verbrecher auf die stärkste Weise bis zum Tode ihre Unschuld betheuerten, 43 Rph. §§ 228 Anm., 227 Zus., S. 380 f., 379 f. Ebenso: Enzykl. § 531 Anm., S. 327 f. Ausführlich Nachsehr. Hotho, in: Ilting III, S. 685 ff. und Nachsehr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 568 ff., 580 ff. 44 So zurecht Haym, Hegel und seine Zeit, 1857, S. 378 ff. 45 Dazu Eb. Schmidt, Geschichte, 1965, §§ 290 ff., S. 332 ff. 46 Rph. § 220, S. 374. 47 Beispiele von Mißbräuchen verdeutlichen diese Gefahr, Nachsehr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 569 f. 48 Nachsehr. Hotho, in: Ilting III, S. 682; Nachsehr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 578 f. 49 Enzykl. § 531 Anm., S. 327. Zu den guten Gründen s. o. 2. Kapitel B. 11. 2.

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2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft und dies vergebens. Das abstracte Verfahren des Geschworenengerichts, ohne Eingeständniß des Verbrechers ist also ebenso verwerflich ... ,,50

Wie anspruchsvoll und filigran Hegel versucht, dem Recht des Selbstbewußtseins gegenüber der Rechtspflege, wie sie in der bürgerlichen Gesellschaft geübt wird, Rechnung zu tragen, er erkennt doch deutlich die Grenzen, die einer Versöhnung innerhalb einer Ordnung gezogen sind, welche die Sphäre der Entzweiung noch nicht verlassen hat Sl • Dies macht eigentlich schon die Definition der Strafe deutlich, indem sie den Verurteilten in Bezug auf die Vollstreckung in der passiven Rolle sieht 52 • Dennoch bleibt eine Ebene, in der sich der Beschuldigte als Verfahrenssubjekt durchgehend in der aktiven Position behaupten kann: Denn Hegel kennt eine Möglichkeit, ein Verbrechen auch ohne Beteiligung der Strafgerichte zu restituieren. Bevor ein Gericht eingeschaltet wird, macht es Hegel nämlich den Parteien zur Pflicht, Vergleichsverhandlungen durchzuführen 53. Die Terminologie deutet zwar darauf hin, daß bei dieser Überlegung der Zivilprozeß im Vordergrund steht. Dennoch unterscheidet Hegel in diesem Abschnitt seines Werkes nicht verschiedene Rechtswege 54. Auch sachlich-systematisch füllt die Idee vorgeschalteter Vergleichsverhandlungen eine Lücke im Ablauf des Strafprozesses dort, wo sich der Beschuldigte geständnis- oder kooperations bereit zeigt. Sein Anerbieten, moralische Wiedergutmachung zu leisten, hat hier seine sittliche Stelle 55. Aber auch der öffentliche Ankläger ist berechtigt und verpflichtet, trotz der Absolutheit des Strafanspruches in Vergleichsverhandlungen einzutreten: Wie bereits gezeigt worden ist, hängt die Feststellung strafwürdigen Unrechts davon ab, ob auch im Einzelfall nicht nur die abstrakten Kriterien des Verbrechens vorliegen, sondern auch dadurch die Geltung der Gesetze im allgemeinen Rechtsbewußtsein gefährdet worden ist. Liegt ein Gesetzesbruch vor, so kann dennoch von der Anklage abgesehen werden, soweit der Beschuldigte bereit und in der Lage ist, den Geltungsschein seiner Straftat dadurch aufzuheben, daß er freiwillig Schadensersatz leistet, s. o. 2. Kapitel B. I. 1. Denn in diesem Falle wäre die 50 Nachschr. Hotho, in: Ilting III, S. 688. Das durch diese (in gewisser Weise notwendige) Abstraktion sich die Selbstaufuebung des Verbrechens in eine fremdgesetzte Sanktion verwandelt, kommt Schild, Strafrichter, 1983, S. 79 ff., 86 ff., nicht in den Blick. Sl Allgemein zu der bloß abstrakten Versöhnung in der bürgerlichen Gesellschaft instruktiv Rohrmoser, Subjektivität, 1961, S. 111 f. 52 Rph. § 220, S. 374. 53 Rph. § 223, S. 375 f. 54 Vgl. w. Nachschr. Hotho, in: Ilting III, S. 674. 55 Im geltenden Recht erfüllt u. a. der § 153a StPO diese Aufgabe. Umfassend zu Theorie und Praxis dieser Vorschrift, insbesondere auch zu ihrer verfassungs- und verfahrensrechtlichen Problematik, Kausch, Der Staatsanwalt, 1980, S. 45 ff., 104 ff., 225 ff. m. w. N. Zur neueren Auseinandersetzung um die Wiedergutmachung als Rechtsfolge der Straftat, s. Frehsee, Schadenswiedergutmachung, 1987.

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Geltung des Gesetzes durch die Wiedergutmachung des Beschuldigten wiederhergestellt. Dabei müssen allerdings die Grenzen beachtet werden, die dieser Sanktionsform gezogen sind, s. o. 2. Kapitel B. I. 3.: Zwar werden die subjektiven Voraussetzungen in der Person des Beschuldigten, trotz seiner Tat weiterhin eine hinreichend wirksame rechtschaffene Haltung zu besitzen, in der ständisch integrierten bürgerlichen Gesellschaft typischerweise vorliegen. Bei einem gut sozialisierten Bürger ist es wahrscheinlich, daß er sich aus freien Stücken zur Wiedergutmachung entschließt, wenn er damit die Erhebung der Anklage abwenden kann. Dennoch kann dieses Verfahren nur einen beschränkten Anwendungsbereich finden: Weil und soweit sich Wiedergutmachung über freiwillige Schadensbereinigung vermittelt, vollzieht sie sich allein im Medium von Sach- und Geldleistungen. Folglich ist sie einmal dort nicht möglich, wo der Beschuldigte vermögenslos ist. Andermal kann sie dann nicht angewandt werden, wenn sich die Verletzung durch geldwerte Leistungen nicht beheben läßt. Wo aus diesen Gründen oder aufgrund der (auch aus Vernunftgründen möglichen) Weigerung des Beschuldigten zu gestehen bzw. zu kooperieren, der Vergleich nicht möglich ist, dort werden dem Angeklagten zwar alle Garantien des Schwurgerichtsverfahrens zuteil. Auf der anderen Seite endet dieser Prozeß unausweichlich mit einem aus fremden Mund gesprochenen und von fremder Hand vollstreckten Urteil. Wo sich dies während des gesamten Vollzuges der Strafe durchhält, dort wird die Idee der guten, gerechten Strafe nicht vollständig verwirklicht. An deren Stelle tritt erneut ein asymmetrisches Verhältnis, das dem der Rache bzw. dem moralischen Besserungszwang ähnelt. b) Die Strafvollstreckung Bevor die allgemeine Charakteristik der Strafe erläutert wird, sei kurz an die Form erinnert, welche die Vergeltung in der Rache annimmt: Die formalisierte Rache zeichnete sich dadurch aus, daß als Sanktionsform nur eine bestimmte Klasse von Verletzungen erlaubt waren, der in den Augen aller die Bedeutung zukam, Restitution des Rechts zu sein. Indem die Rache vom Opfer ausgeführt wurde, spiegeln sich die beiden Momente des Verbrechens in zwei von verschiedenen Personen gesetzten Verletzungen wieder: Obwohl das Verbrechen innerlich als affirmatives Element die Bestimmung zum moralischen Wesen enthielt, hat es für sich äußerlich nur eine negative, das Opfer verletzende Existenz. Im Verhältnis zur rächenden Einwirkung nehmen diese Momente der Tat allgemein zwei unterschiedliche äußerliche Daseinsweisen an: Während die Rache den Personen das innere Allgemeine der Straftat repräsentiert, beschränkt sich die äußerliche Erscheinung des Verbrechens weiterhin auf seine negative Bedeutung. Dies überträgt sich auch auf die Aktuosität der Willen zueinander: Der Verbrecher wird auf die Rolle eines partikulären, den allgemeinen

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2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft

Willen verneinenden Strebens reduziert, während die Bestätigung des allgemeinen Willens, an dem der Verbrecher ja weiterhin teilhat, hier als Akt eines von ihm geschiedenen besonderen Willens des Opfers in Erscheinung tritt. Letzteres kann sich äußerlich als moralisches Wesen behaupten, während ersterer nur innerlich dazu disponiert ist. In den Augen aller gilt er so nur als eine der Unmittelbarkeit verhaftete Person, die zur moralischen Reflexion noch nicht fähig ist. Indem jetzt Strafe von fremder Hand verhängt wird, überträgt sich diese Problematik auf ihre Verwirklichung.

aa) Allgemeine Charakteristik Strafe verleiht als dem Täter zugefügte Verletzung ebenfalls dem inneren Allgemeinen seiner Straftat eine von seinem besonderen Willen selbständige Existenz. Das äußerliche Dasein des Verbrechers wird so auch hier auf das negative Element beschränkt. Allerdings muß die Grundqualität des so reduzierten Verbrecherwillens nicht stets darin gesehen werden, daß er der Unmittelbarkeit verhaftet ist. Die negative Seite des Verbrechens, auf die der Täter im Verhältnis zur Strafe reduziert wird, besteht also wesentlich in der mit der ausgeführten Unrechtsmaxime gesetzten Tendenz, sich von einer unmittelbar rechtschaffenen Haltung zu entwöhnen, s. o. 1. Kapitel D. 11. 3. b) bb). An der Strafe tritt dagegen das innere Allgemeine des Verbrechens in Erscheinung. Gemäß der gedoppelten Struktur der Straftat in der bürgerlichen Gesellschaft enthält diese Existenz der Strafe wesentlich auch eine institutionelle Seite. Mit ihr vollzieht sich die Wiederherstellung des Rechts, indem das Recht der Besonderheit nicht nur moralisch, sondern auch als öffentliche Aufgabe anerkannt wird. Wie oben bereits ausgeführt, gehört zu dieser Aufgabe, die vormals gewohnheitliche Geltung des gebrochenen Gesetzes in der moralischen Reflexion aller zu vertiefen. Wegen des Verbots der Selbsthilfe erhält allerdings das innere Allgemeine der Straftat seine Wirklichkeit nun allein über die Tätigkeit der Strafrechtspflege. Die Ausübung der Rechtsvernunft aller wird hier an diese staatlichen Organe delegiert, wodurch die Teilhabe des Verbrechers und jetzt auch aller anderen Bürger sich auf den inneren Nachvollzug der Richtigkeit der Strafe beschränkt, ohne daß dies äußerlich in Erscheinung tritt. Die Wiederherstellung des Rechts, die ja allein durch die Vertiefung seiner Geltung im Rechtsbewußtsein aller Bürger bewerkstelligt werden kann, erscheint so als Resultat einer Tätigkeit der Strafrechtspflege ! Bei der allgemeingültigen Rache wurde der Verbrecher erst mit ihrer Vollstrekkung in die negative Rolle gedrängt. Denn sie ist der erste von fremder Hand vollzogene Akt. Die Verwirklichung der Strafe geschieht dagegen in zwei Schritten, die durch das Strafurteil voneinander getrennt werden. Da dieses aus fremdem Mund gesprochen wird, repräsentiert der Angeklagte schon mit der Verurteilung äußerlich nur einen partikulären, das Allgemeine verletzenden Willen, was sich über die Öffentlichkeit der Rechtspflege allen Bürgern mitteilt. Einerseits hat

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der Verurteilte sich nun als jemand erwiesen, der in seinem Verbrechen dokumentiert hat, der Handlungsmacht seiner rechtschaffenen Gewohnheit entfliehen zu können. Andrerseits ist ihm durch den Richterspruch gleichzeitig der Weg erschwert, sich aus freien Stücken als eine Person zu zeigen, die bereit und fähig ist, die erschütterte, naturwüchsige Geltung des Rechts in moralischer Reflexion zu vertiefen. Denn trotz Würdigung des moralischen Wesens des Täters in den Urteilsgründen ist die Möglichkeit freiwilliger Wiedergutmachung ausgeschlossen, sobald Anklage erhoben werden mußte. Offen bleibt allerdings, inwiefern eine durch die Straftat nicht gänzlich verneinte rechtschaffene Haltung bei der Strafzumessung graduell berücksichtigt werden kann.

Schon mit der Verurteilung gilt der Angeklagte jetzt als etwas "Unfestes"56, dem gegenüber alle anderen Glieder der bürgerlichen Gesellschaft aufgrund ihren rechtstreuen Lebenswandels auf einer höheren Stufe der Vernunftverwirklichung stehen 57. Mit dieser Feststellung wandelt sich demnach auch Art und Weise, in welcher der Straftäter in die bürgerliche Gesellschaft eingeordnet ist. Denn die in seinem Verbrechen zum Ausdruck kommende Lockerung seiner sittlichen Konstitution stellt ihn im Grundsatz in die Nähe derjenigen, die aus anderen Gründen (natürlicher oder ökonomischer Schwäche) nicht in das ständisch integrierte Gesellschaftssystem eingegliedert sind. M. a. W. macht die Verurteilung deutlich, daß der Täter in bestimmter Weise von dem sich über eingefleischte Übungen durchsetzenden Arbeits- und Lebenszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen ist, - ähnlich dem Verbrecher im abstrakten Recht, der ebenfalls nicht zum Kreis der moralischen Wesen gezählt wird. Schließlich bedeutet die Verurteilung noch, daß man bei dem Angeklagten nicht mehr mit derselben Selbstverständlichkeit wie vorher bzw. wie bei anderen Bürgern davon ausgehen kann, er erbringe die für die gesellschaftliche Interaktion erforderlichen Anerkennungsleistungen weiterhin mit der Sicherheit eines geistigen Mechanismus. Das Urteil wirft daher die Frage auf, mit welchen anderen Mitteln nunmehr die Achtung von Freiheit und Eigentum der Bürger durchgesetzt werden könne.

Ähnlich wie im abstrakten Recht, wo die allgemeingültige Rache ein Zeichen enthielt, sich vor der ungezügelten Dynamik des der Unmittelbarkeit verhafteten Verbrechers zu schützen, entsteht jetzt das Problem, wie der inneren Zufälligkeit des Gesetzesgehorsams vorgebeugt werden kann, die sich in der abgeurteilten Straftat offenbart hatte. Will die von den Gerichten verhängte Strafe wirklich die Geltung der Gesetze im allgemeinen Bewußtsein wiederherstellen, dann muß das Recht der Besonderheit jeden Bürgers in der Weise als öffentliche Aufgabe anerkannt werden, daß auch der Schutz der einzelnen subjektiven Rechte vor weiterer Kriminalität durch Strafe geWährleistet ist: 56 Rph. § 218 Zus., S. 373. 57 Aus diesem Grund ist schon die Verurteilung als solche in der bürgerlichen Gesellschaft mit Schande verbunden, vgl. Nachsehr. Wannenmann, in: Ilting, S. 130.

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2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft "Das in der Besonderheit wirkliche Recht enthält aber ... , daß die ... ungestörte Sicherheit der Person und des Eigentums bewirkt (sei), ... "58

Auch die vergeltende Strafe, will sie die Geltung der Gesetze restituieren, reichert sich also unter der Hand mit Sicherungselementen an. Diese Erkenntnis ist nun in Bezug auf die beiden Seiten der Strafverwirklichung zu entfalten. bb) Die Form der objektiven Seite der Strafe

Diese Ableitung einer sichernden Seite der Strafe scheint nicht von der Auffassung gedeckt zu sein, wie sie in Rph. §§ 218,220 ihren Niederschlag gefunden hat. Wie oben bereits ausgeführt, sollte sich doch der Sinn von Strafe darin erschöpfen, dem gebrochenen Gesetz wieder zu Anerkennung zu verhelfen. Nunmehr erscheint sie aber als präventives Mittel zum Rechtsgüterschutz. Die Geltungsrestitution bleibt auch ihre substantielle Aufgabe 59. Im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft vollzieht sie sich jedoch in einem Kontext, bei dem folgender Zusammenhang zu beachten ist: Bevor das Verbrechen sie zerstörte, gewährleistete die unreflektiert erworbene, rechtschaffene Gewohnheit im Alltag die unmittelbare Einheit von subjektivem Interesse und Wirklichkeit des Rechts, s. o. 1. Kapitel D. 11. 1. Mit dem Rechtsbruch entsteht für die Strafgerichte die Aufgabe, diese Identität von allgemeinem und besonderen Willen wiederherzustellen. Weil die Naturwüchsigkeit des gewohnheitlichen Gesetzesgehorsams durch die Straftat in Frage gestellt worden ist, muß das Recht in allseitiger moralischer Reflexion vertieft werden. Die Affirmation der Gesetzesgeltung in der Anerkennung des Selbstbewußtseins bliebe aber unvollständig, wenn mit ihr nicht auch die Seite der subjektiven Besonderheit mit ähnlicher Sicherheit wieder im gesellschaftlichen Leben geachtet wird wie vorher 60. Der besondere Wille ist mit seinem Dasein in Leben und Sacheigentum jedoch unaufhebbar in die Sphäre der Endlichkeit verwoben und damit der Zufälligkeit ausgesetzt, ob auch andere Bürger und insbesondere der Verurteilte ihre Gewohnheit der Rechtschaffenheit pflegen: "Daß mein Wille .. . sich ... in eine äußerliche Sache legt, darin liegt, daß er ... an ihr ergriffen .. . wird."61 Wenn also die Strafgerichte den Gesetzen eine feste Existenz im allgemeinen Rechtsbewußtsein wiedergeben wollen, so müssen die Strafen so ausgestaltet sein, daß der einzelne Bürger durch sie vor der im Verbrechen zum Ausdruck kommenden Zufälligkeit des Gesetzesgehorsams insoweit in Schutz genommen wird, wie er selbst dazu nicht in der Lage ist. Wiederherstellung des Rechts als Rph. § 230, S. 382. So auch Seelmann, JuS 1979, S. 691. 60 Dazu Rph. §§ 230, 232, S. 382 f. Enzykl. § 532 f., S. 328 f. 61 Rph. § 90, S. 178.

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Recht bedeutet also (Wieder-)Herstellung einer Einheit von subjektivem Interesse und Geltung des Rechts, in der beide Willensmomente, das besondere ebenso wie das allgemeine, mit ähnlicher Sicherheit verwirklicht werden können, wie dies unter den Bedingungen unreflektiert eingeübter Anerkennungsleistungen der Fall gewesen ist. Folglich ist das Sicherungselement in der Strafe nicht ein verselbständigter Strafzweck 62 , sondern es dient einzig und allein der Geltungsrestitution des allgemeinen Willens im Bewußtsein der Bürger. Nur so läßt sich die von Hegel angesprochene, generalpräventive Aufgabe der Strafe, der Gefährlichkeit des Verbrechens durch Affirmation allgemeinen Rechtsvertrauens vorzubeugen 63, mit dem Vergeltungsbegriff vermitteln. ce) Die Form der subjektiven Seite der Strafe

Wurde bisher nur ausgeführt, wie sich das Recht nach seiner objektiven Seite über die Anerkennung in der subjektiven Besonderheit aller Bürger wiederherstellt, so muß ebenso die subjektive Seite der Strafe, die Anerkennung des gebrochenen Gesetzes durch den Täter, auch für die Form der Vollstreckung der Strafe entfaltet werden. Hegel glaubt, sie allein dadurch gesichert zu haben, daß er den Beschuldigten mit eigenen Rechten am Erkenntnisverfahren teilhaben ließ. Wie bereits dargestellt, stößt diese Form der Vermittlung der Gesetzesgeltung gegenüber dem Straftäter jedoch an eine unüberwindbare Schranke dort, wo er von fremder Hand verurteilt werden muß. Aus dieser Notwendigkeit entwickelt sich ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Angeklagtem und der Allgemeinheit, in dem ersterer gegenüber den rechtstreuen Bürgern und erst recht den Organen der Strafrechtspflege auf einer niederen Stufe der Vernunftverwirklichung steht. Nun fragt sich, wie dieses mit dem Verbrechen in die Welt gesetzte Gefälle von unterschiedlicher Festigkeit der Normhaltung aufgehoben werden kann. Denn Hegel weist der Strafe auch diese spezialpräventive Aufgabe zu: "Insofern wir hier in der Sphäre der Vorstellung sind, des Gesetztseins, so liegt der Wille des Verbrechers im Reich der Vorstellung, in dem Reich des gesellschaftlichen Geltens, in dieser Sphäre in der sein Wille innerliche Existenz hat; so kann nun sein Wille wieder in diese Existenz aufgenommen werden, und daher kann die Strafe auf Besserung des Verbrechers gehen, d. h. sein böser Wille kann innerlich an ihm aufgehoben werden und dieB ist die höhere Weise der Vernichtung des bösen Willens."64

62 So aber Schild, der Präventionszwecke begrifflich neben die Vergeltung stellt, um beide in einer Vereinungstheorie zusammenzufassen, in: ARSP 70, 1984, S. 75, 103 f. Selbst bei Seelmann rückt Generalprävention in den ersten Rang auf, in: JuS 1979, S. 691. 63 Vgl. Nachsehr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 549. 64 Nachschr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 550. Hervorhebungen vom Verf.

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Zum einen kann die Besserung des Bösen sicherlich dadurch geschehen, daß die Pflichten, die dem Straftäter mit dem Urteils spruch auferlegt werden, vor seinem eigenen Gewissen anerkennt. Er kann die von ihm geforderte Rechtsstatusminderung autonom annehmen. Im Unterschied zum Verbrecher im abstrakten Recht kann der Verurteilte diesen Gesinnungswandel auch äußerlich (etwa durch Rechtsmittelverzicht, gute Führung etc.) darstellen, weil der Vollzug der Strafe hier ja noch aussteht. An einem nicht unproblematischen Beispiel macht Hegel dies deutlich: "Der Mensch kann so auf dem Schaffot als reuiger Sünder sterben, dem Bösen abgesagt, es in sich vernichtet haben."65 Allerdings fcillt diese Form der Aufhebung des asymmetrischen Verhältnisses allein in das Gewissen des Angeklagten und stellt somit keine institutionelle Leistung dar, wie sie von der Strafidee in sittlichen Bezügen zu fordern ist. In einem ersten Schritt hin zu einer institutionellen Lösung kann an die bereits abgeleitete Aufgabe der Strafe, die einzelnen Bürger vor den Gefahren des Verbrechens zu schützen, angeknüpft werden. Dies mag paradox klingen. Dem liegt aber folgende Überlegung zugrunde: Die Lockerung der subjektiven sittlichen Konstitution birgt ja nicht nur Gefahren für die Rechtsgüter Dritter in sich; vielmehr ist in ihr zugleich die Tendenz enthalten, das vormals festgefügte sittliche Wissen des Täters aufzulösen, s. o. 1. Kapitel C. 11. 2. und D. 11. 3. b) bb). Indem nun dem Täter in bestimmter Weise die Möglichkeit genommen wird, erneut seine für ihn subjektiv noch gültige Unrechtsmaxime auszuführen, vermeidet man zugleich, daß sich dieses Scheinwissen weiter in ihm verfestigt. So kann man zumindest negativ dazu beitragen, daß die Chancen für den Täter, die Geltung der Gesetze vor seinen eigenen Augen habitualisierend zu affirmieren, nicht noch geringer werden. Allerdings ist in der Sicherung ein relativ grobes Mittel zu sehen, dem Täter die Fähigkeiten zu erhalten, die ihm die Anerkennung des Gesetzes erlauben. Sie kann nur ultima ratio sein, was Grund und Maß ihres Einsatzes angeht. Denn isoliert angewandt, verliert die Sicherung den Bezug zu ihrer Funktion: Der Entzug von Handlungsmöglichkeiten, um deren Mißbrauch auszuschalten, ist immer auch partieller bis totaler Ausschluß aus der gesamtgesellschaftlichen Interaktion. Damit perpetuiert sich das asymmetrische Verhältnis unterschiedlicher Vernunftwirklichkeit. Strafe soll dieses Verhältnis aber gerade aufheben. Zwar dient der partielle bis totale Ausschluß vom Arbeits- und Lebenszusammenhang der anderen Bürger dem Ziel, deren Rechtsgüter zu schützen. Auf dieser Basis trägt er auch dazu bei, daß diese ein vertieftes Rechtsbewußtsein ausbilden. Dies geschieht aber um den Preis, daß der Delinquent gerade von derjenigen Interaktion ganz oder teilweise abgetrennt wird, in der sich das auf moralische 65 Nachsehr. Griesheim, in: Ilting IV, S. 553. Problematisch ist dieses Beispiel nicht nur wegen der Voraussetzung der Todesstrafe als gerecht. Vor allem ist die ausschließlich religiöse Deutung der Besserung ohne jeglichen Bezug zum Diesseits fraglich.

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Reflexion gegründete Rechtsbewußtsein in alltäglichen Vollzügen erst habitualisieren kann. M. a. W. venneidet die Sicherung - absolut gesetzt - nicht nur, daß die gelockerte sittliche Konstitution des Täters in weiteren Straftaten ausgehöhlt wird, sie verhindert zugleich auch, daß sich die Haltung des Verbrechers im gewöhnlichen Lebensvollzug mit anderen Menschen wieder festigt. Eine allein sichernde Strafe kann auch keinen Anspruch erheben, vom Straftäter als Vollstreckung eines auch in seinem Interesse geltenden Gesetzes anerkannt zu werden. Denn der Delinquent sieht sich durch den partiellen bis völligen Ausschluß aus dem Arbeits- und Lebenszusammenhang auf die Stufe eines in sich ungefestigten Subjekts zurückversetzt. Durch die Vollstreckung der Strafe von fremder Hand verkehrt sich auch hier die Selbstaufhebungstendenz, die im negativ-unendlichen Urteil des Verbrechens enthalten ist, in eine fremdgesetzte Verneinung des Unrechts. Wie das Dasein des Straftäters erneut auf eine negative Existenz beschränkt wird, nimmt die affinnative Seite des Verbrechens wiederum eine, nun auch institutionell überformte, selbständige Wirklichkeit an. Die den Täter bloß sichernde Strafe schließt ihn daher von der Konstitution eines gesellschaftlichen Zustandes aus, in dem das Recht der Besonderheit derart als öffentliche Aufgabe anerkannt ist, daß ihre Sicherung als Bedingung der vertieften Geltung des Gesetzes begriffen wird. Obwohl der Verbrecher innerlich dazu disponiert ist, ebenfalls an dieser Konstitution teilzuhaben, dient er einer allein sichernden Strafe bloß als Mittel, einen solchen Zustand aufrecht zu erhalten. Auch hier lebt der Delinquent also in einer Spannung zwischen seinem innerlichen Befinden und der Unmöglichkeit, dieses äußerlich darstellen zu können. In der bürgerlichen Gesellschaft heißt dies insbesondere, daß die Sicherung des Recht seiner Besonderheit nicht als institutionelle Aufgabe angesehen wird. Weil dieses Recht jedoch auch für den Verbrecher innerlich als Bedingung der Anerkennung der Gesetze gilt, dieses Recht ihm aber versagt wird, fehlt für den Delinquenten eine Voraussetzung, die Vollziehung einer rein sichernden Strafe als Vollstreckung eines Gesetzes zu begreifen, das auch in seinem Interesse besteht. Demnach mangelt es an einer Bedingung, die zur Besserung des Bösen erforderlich ist. Um dem entgegen zu steuern, bleibt kein anderer Ausweg, als die Art und Weise der Strafe, soweit es irgend möglich ist, an diejenigen Zustände anzugleichen, die eine Einübung der moralischen Reflexion auf die Vernünftigkeit des gebrochenen Gesetzes möglich machen 66. Nur dann besteht eine Chance, daß sich das asymmetrische Verhältnis zum Angeklagten, das mit dem Urteil installiert worden ist, nicht perpetuiert. Allerdings steht diese Vorgehensweise beim Strafen immer in der Spannung zwischen dem Status, der dem Delinquenten 66 Beschränkt auf den Vollzug freiheitsentziehender Sanktionen ist dieses Prinzip im positiven Recht in § 3 Abs. 1 StVollzG ausgesprochen. Es muß aber für jede Strafart gelten.

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innerlich zukommt, und dem äußerlichen Vertrauensverlust, der seine Beziehung zu den Mitbürgern prägt. Bildlich gesprochen, kommt es für den Umfang der Angleichung darauf an, wie weit der Delinquent im Urteil der Geschworenen noch als Ihresgleichen angesehen wird. Der Grad der Angleichung hängt danach davon ab, wie Art und Schwere des vorgeworfenen Delikts einzuschätzen sind. Je tiefer dieses die ursprüngliche Einheit von Gesetzesgehorsam und Eigeninteresse in Frage gestellt hat, desto weiter scheint der Angeklagte sich von der Einsicht entfernt zu haben, daß gesetzmäßige Gewohnheiten auch den Schutz der Besonderheit bewirken. Je höher also der Handlungsunwert, verstanden als die Negation der unmittelbar eingeübten Anerkennung des Rechts, ist, desto stärker tritt das Sicherungselement der Strafe in den Vordergrund. Es besteht daher ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Art und Weise der Deliktsbegehung und dem Modus der Strafe. Damit hat die vorliegende Untersuchung den Punkt erreicht, an dem aus der Form der Strafverwirklichung konkrete Folgerungen für das Strafmaß, die Zumessung der Strafe und ihre Arten, gezogen werden kann.

3. Das Strafmaß: Strafzumessung und Strafarten Im folgenden Abschnitt sollen aus den oben entwickelten Kriterien zur Form der Strafe und ihren Erscheinungsweisen Richtlinien für das Strafmaß abgeleitet werden. Darunter fallen sowohl allgemeine Kriterien der Strafzumessung als auch die Festlegung einzelner besonderer Strafarten. In jeder Strafe müssen gemäß dem Vergeltungsprinzip die bei den Momente des negativ-unendlichen Urteils des Verbrechens enthalten sein. Dem negativen Moment kommt dabei die Aufgabe zu, die Bedeutung der durch die Straftat hervorgerufenen Erschütterung der naturwüchsig verfestigten Rechtsgeltung auf die Sphäre des Täters auszudehnen. Auch dem Verbrecher soll deutlich gemacht werden, daß das Vertrauen auf das Wirken einer unreflektierten, rechtschaffenen Gewohnheit mit seiner Straftat nicht nur allgemein, sondern auch für seine Lebensplanung beeinträchtigt worden ist. Nur in Verbindung mit dem so verstandenen negativen Moment der Strafe kommt ihrem zweiten Element wirklich eine affirmative Bedeutung zu. Affirmation heißt nicht, an dem Schein des Fortbestehens unmittelbarer rechtschaffener Gewohnheiten festzuhalten. Vielmehr dient die Verallgemeinerung der Unrechtsmaxime auf das Dasein des Täters gerade dazu, den Verlust der festen Rechtsgeltung auch für ihn zu verdeutlichen. Ansonsten bestünde die Gefahr, daß der Verurteilte im Vertrauen auf die fortbestehenden familiären und sozialen Bindungen zur Tagesordnung übergeht. Affirmation muß demnach bedeuten, institutionelle Bedingungen für den Täter zu schaffen, in denen er die Vernünftigkeit der Gesetze in moralischer Reflexion vertiefen kann. Dabei kann durchaus auf innere

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und äußere Mechanismen gelungener sittlicher Sozialisation zurückgegriffen werden, soweit diese bei ihm trotz seines Verbrechens fortbestehen. Je schwerer aber das begangene Unrecht wiegt, desto einschneidendere Bedeutung wird dem negativen Moment der Strafe zukommen müssen. Je höher der Handlungsunwert der Straftat ist, desto intensiver wird die affirmative Seite der Strafe den Delinquenten in die Pflicht nehmen. Der Umfang der Rechtsminderung, der durch Strafe eintritt, muß daher aus differenzierender Betrachtung des begangenen Unrechts ermittelt werden. a) Die Faktoren der Strafzumessung Um die Strafhöhe bestimmen zu können, ist daher in einem ersten Schritt eine Quantifizierung des begangenen Verbrechens erforderlich. Es ist nach seiner extensiven wie nach seiner intensiven Größe zu bemessen 67. Der Schweregrad des Unrechts läßt sich zum einen nach extensiven Größen ermitteln. Dann kommt es nach der objektiven Seite des Verbrechens auf die Anzahl der verletzten Rechtsgüter bzw. vorgenommenen Rechtsbrüche an. Für die subjektive Seite des Delikts ist dagegen maßgeblich, wieviel Verschuldensprozesse sich in der Gesamtmenge abzuurteilender Straftaten wiederspiegeln 68 • Zum anderen kommt dem jeweiligen Vergehen auch eine intensive Größe zu. Dann wird es danach eingeschätzt, wie hoch das betroffene Rechtsgut bzw. die verletzte Rechtsnorm zu bewerten ist und wie stark beide durch das Delikt in ihrer konkreten Geltung negiert worden sind. Nach der einen Seite ist hier maßgeblich, ob das Verbrechen vollendet oder nur versucht worden ist; nach der anderen Seite kommt es darauf an, wie fundamental der Täter sich gegen die gebrochene Norm gestellt hat. Hiernach lassen sich Vorsatzdelikte von Fahrlässigkeitstaten unterscheiden etc. Schließlich kommt es hier auf den Grad an, in dem die Ausführung einer Unrechtsmaxime zur Gewohnheit geworden ist u. ä. Gerade in letzterem gehen intensive und extensive Größe augenscheinlich ineinander über: Intensives Verschulden liegt nicht nur dort vor, wo jemand (gar vorsätzlich) ein hohes Gut mißachtet; ebenso hat die Häufigkeit, mit der man sich vorgenommen hat, zu delinquieren, Einfluß auf den Grad mit dem der Täter dem Schein seiner Unrechtsmaxime verhaftet ist. Höhe und Schwere der Strafe müssen sich nun nach diesen Kriterien richten. Danach ist in vier Schritten vorzugehen: Erstens bedarf es der Bestimmung der Einbuße, die erforderlich ist, um die Gefährdung der Gesetzesgeltung, die mit dem Verbrechen realisiert worden ist, auch auf das Dasein des Täters zu erstrecken. Zweitens muß festgelegt werden, Zu diesen Begriffen vgl. WdL. I, S. 250 ff. Einzelheiten erläutert die Konkurrenz1ehre, vgl. nur Jakobs, AT, 1983, 31- 33; Jescheck, AT, 1988, S. 640 ff. jeweils ffi. w. N. 67 68

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wie mit ihr das affinnative Ziel der Strafe, die Vertiefung des Rechtsgehorsams im subjektiven Willen, angestrebt werden kann. Das evoziert zunächst die Frage, welchen Grad an Sicherung der Allgemeinheit vor dem Täter erforderlich ist und mit der Einbuße erreicht werden kann. Drittens ist darauf bedacht zu nehmen, daß in der zu verhängenden Einbuße Elemente angelegt sind, die es verhindern, daß sich das asymmetrische Verhältnis zum Täter verewigt. Schließlich sind diese Momente der Strafe zueinander in Beziehung zu setzen. Der Akt der Strafzumessung beginnt folglich mit der Schätzung des Erfolgsunwerts der Tat. Mit ihm ist im Prinzip der Umfang der negativen Auswirkung des Verbrechens ennittelt, in welchem Maße sie auch auf das Dasein des Täters zu verallgemeinern ist. Diese Übertragung der verwirklichten Unrechtsmaxime auf den Täter hängt in ihrem Umfang jedoch nicht allein von der Höhe des Erfolgsunwertes ab. Um dem Täter vennitteln zu können, daß sich die mit seiner Tat in die Welt getretene Erschütterung unmittelbar eingewohnter Rechtsgeltung auch auf seine Sphäre erstreckt, muß wesentlich folgende Frage beantwortet werden: Wie stellt sich dessen subjektive sittliche Konstitution infolge seiner Verfehlung dar? Je weniger jene betroffen ist, desto eher wird der Verurteilte von seinem geistigen Mechanismus dahin gebracht, die Strafe als richtig anerkennen zu können. Dabei können grundsätzlich zwei verschiedene Haltungen unterschieden werden: Erstens sind diejenigen Straftaten zu betrachten, von denen kein nennenswerter Einfluß auf die innere und äußere sittliche Konstitution des Täters ausgegangen ist. Hier müssen zwei Fallgruppen auseinandergehalten werden: Zum einen kann der Fall so liegen, daß der Verurteilte von selbst oder aufgrund des Erkenntnisverfahrens sich bewußt geworden ist, daß mit seiner Verfehlung die unmittelbare Einheit von Rechtsgeltung und individuellen Lebensvollzügen auch für ihn in gewisser Weise verletzt worden ist. Dann besteht kaum Gefahr, daß er nach dem Prozeß in den alten Trott zurückfallen wird. Für ihn wird daher die Verurteilung Einbuße genug sein 69 • Schon mit ihr ist ausgesprochen, daß es einer Restitution des Rechtsgehorsams im subjektiven Willen namentlich des Täters bedarf. Näheres ist sogleich bei den Strafarten abzuhandeln. Zum anderen kann der Sachverhalt davon gekennzeichnet sein, daß der Angeklagte wegen fortbestehender enger familiärer und sozialen Bindungen dem Schein erlegen ist, seine Straftat könne keine Auswirkungen auf das eigene, in naturwüchsigen Gewohnheiten ruhende Dasein haben. In diesem Falle wäre es keine Vergeltung, keine Wiederherstellung des Rechts, ihn ohne weiteres wieder in diese sozialen Bezüge zu entlassen. Denn er wird dem Schein der Nonnalität erliegen, nach dem die Maxime seiner Tat nur für das Opfer, nicht aber für ihn 69 Sie ist Einbuße, weil sie den Verurteilten als graduell haltlos kennzeichnet. Er fühlt sich in ein asymmetrisches Verhältnis versetzt.

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selbst gilt. Deswegen ist hier über die Verurteilung hinaus eine weitere Einbuße an äußerer Freiheit zur Ahndung erforderlich. Zweitens gibt es Verbrechen, in deren Ausführung die innere und äußere Konstitution des Täters nicht unberührt bleibt. Auch hier können mehrere, typologisch unterscheidbare Fallgruppen voneinander getrennt werden: Einmal kann das Nachtatverhalten verdeutlichen, daß der Täter sich mit seinem Verbrechen von seinen bisher noch fortbestehenden familiären und gesellschaftlichen Bindungen innerlich bereits losgesagt hat. Noch offensichtlicher liegt dieser Befund zutage, wo schon eine einzige Straftat den Verbrecher aus seinen bisherigen sozialen Bezügen herauslöst. Dies ist z. B. beim einem Prokuristen der Fall, der Geld veruntreut. Am deutlichsten tritt dieses Problem allerdings bei habituellen Verschuldensformen auf. Hier erhält die durch Strafe zugefügte Einbuße einen anderen Akzent: Es geht weniger darum vorzubeugen, daß der Täter dem Schein der Normalität erliegt. Stattdessen liegt die Gefahr hier darin, daß sich der Täter an die Ausführung seiner Unrechtsmaxime gewöhnt. Überspitzt gesagt, ist dem Betreffenden zwar klar, daß der unreflektierte Gesetzesgehorsam von ihm in Frage gestellt worden ist. Statt an dessen Stelle jedoch die Gesetzesgeltung in moralischer Reflexion zu vertiefen, erhebt der Täter seine Partikularität zum Lebensprinzip. Je nach dem Umfang des Einsichtsverlustes kommt der Einbuße weniger die Aufgabe zu, die Folgen des Unrechts für das Normvertrauen auf das Dasein des Täters zu erweitern. Dagegen tritt hier die Funktion der Strafe in den Vordergrund, ihn und Dritte vor der Begehung weiterer Straftaten zu sichern. Hinzuweisen ist schließlich darauf, daß die hier grob getrennten Grundhaltungen, die im Verbrechen zum Ausdruck kommen können, realiter immer ineinander übergehen: Denn zum einen kann der Eindruck der Unschädlichkeit des eigenen Vergehens Anreiz zur Wiederholung sein, während die eigene kriminelle Lebensweise dem Hangtäter bereits als Normalität erscheint. Um bei beiden Grundformen der Haltung zum Verbrechen zu verhindern, daß sich ein asymmetrisches Verhältnis zum Verurteilten verfestigt, sind diejenigen Einbußen, die zur Verallgemeinerung der Unrechtsmaxime auf das Dasein des Täters erforderlich sind, jedoch nicht nur mit dem Sicherungselement der Strafe in Verbindung zu setzen. Vielmehr muß jede Strafe Bedingungen enthalten, mit denen die Teilhabe des Verurteilten an einem gesellschaftlichen Zustand ermöglicht wird, in dem auch das Recht der Besonderheit eine öffentliche Aufgabe ist. Die Leistungen, die vom Verurteilten legitimerweise verlangt werden können, müssen in diesem Sinne gemeinnützigen Zwecken dienen, an deren Erfüllung der Straftäter mittelbar wieder partizipieren kann.

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2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft b) Strafarten

Aus diesen allgemeinen Grundsätzen lassen sich mehrere unterschiedliche Strafarten ableiten:

aa) Die Bewährungsstrafe Bei der Bestimmung einzelner Strafarten ist von dem Grundfall auszugehen, in dem die sittliche Konstitution des Verurteilten durch seine Straftat nicht nennenswert beeinträchtigt ist. Hier kann die Restitution des Rechts fast völlig in seine Hände gelegt werden, soweit nicht zu besorgen ist, daß er dem Schein erliegt, seine Verfehlung habe die unmittelbare Einheit von eigener Lebensgestaltung und Wirklichkeit des Rechts nicht tangiert. Läßt sich der Angeklagte bereits den Schuldspruch zur Warnung dienen, diejenigen Defizite in seiner unreflektiert erworbenen Haltung zur Rechtschaffenheit durch seine sich habitualisierende moralische Reflexion auszugleichen, so kann es der Schwerkraft seiner fortbestehenden sittlichen Disposition überlassen werden, sich im gewöhnlichen Leben als rechtstreuer Bürger zu bewähren. Das Exempel, das die Strafe hier statuiert, ist eben die Bewährung des Rechts in der alltäglichen Praxis des Einzelnen. Die Bewährungsstrafe ist demnach begrifflich eigenständig zu definieren und ganz weit zu fassen; anders als im geltenden Recht steht sie nicht in Abhängigkeit zur Aussetzung der Vollstreckung einer anderen Strafe und umfaßt auch den Fall des bloßen Schuldspruches (strafrechtliche Minimalsanktion)1°. Sichernd wirkt hier der geistige Mechanismus der fortbestehenden subjektiven sittlichen Konstitution, wie sie innerlich als rechtschaffene Haltung und äußerlich in familiären und sozialen Bindungen stabilisiert wird. Gemäß dem Grundprinzip der bürgerlichen Gesellschaft (s. o. 1. Kapitel D. I. und 11. 1.) steht bei der Einschätzung der sichernden Kraft der Rechtschaffenheit allerdings ihre Manifestation in der äußerlichen Seite der subjektiv sittlichen Konstitution, den familiären und gesellschaftlichen Bindungen, im Vordergrund. Zugleich ist mit dieser Strafart der Bewährung die größtmögliche Anpassung der Lage des Delinquenten an die seiner Mitbürger erreicht. Obwohl hier die Aufhebung des Strafunrechts als Tat des subjektiven Willens des Delinquenten in Erscheinung tritt, bleibt es zufällig, wieviele seiner Interaktionspartner sein Verhalten als Wiederherstellung des Rechts annehmen. Um volle Öffentlichkeit für den Erfolg seines Bemühens zu erzielen, bedarf es demnach eines Gerichtsentscheides, der nach einer im voraus zu bestimmenden Zeitspanne dieses Ergebnis bekräftigt7 1• Der Umfang dieses Zeitablaufes bemißt 70 Vgl. die §§ 56 ff., 59 f. StGB, § 153b Abs. 2 StPO. Durch die §§ 56 ff., 59 StGB wird aber die Bewährung gerade in Abhängigkeit zu einer anderen Strafe gesetzt, deren Vollstreckung ausgesetzt ist, vgl. Jescheck AT, 1988, S. 750 ff., 763 ff.

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sich nach dem Grad der Gefährdung der subjektiven sittlichen Konstitution durch die Straftat 72.

bb) Die Geldstrafe und ihre möglichen Surrogate Ist jedoch nicht auszumachen, ob der Täter dem Schein erliegt, sein Verbrechen habe die unmittelbar eingeübte Rechtsgeltung so gut wie gar nicht beeinträchtigt, so sind neben der Dauer der Bewährungszeit weitere Pflichten für den Verurteilten festzusetzen. Je nachdem, wie intensiv dieser Schein auf dem Beuwßtsein des Täters lastet, können hier differenziert einzelne Maßnahmen auferlegt werden. Wo dieser allein einen Schaden bestreitet, den seine Straftat erwiesenermaßen hervorgerufen hat, mag es hinreichen, den Angeklagten zur Wiedergutmachung zu verurteilen. Darin kann jedoch noch keine Geldstrafe erblickt werden, weil und soweit Wiedergutmachung hier allein den Sinn hat, über die Schadensbereinigung auch zur Bewährung des gebrochenen Gesetzes zu kommen. Deutet das Verhalten des Täters jedoch darüberhinaus darauf hin, daß er innerlich an der Richtigkeit der einmal gefaßten Unrechtsmaxime festhält, so kommt ein weiterer Eingriff in das Vermögen in Betracht, um die Geltung der Unrechtsmaxime nach ihrer negativen Seite auch auf das Dasein des Täters zu erstrecken. Hier liegt das Hauptanwendungsfeld der Geldstrafe. Dabei ist zu betonen, daß die Geldstrafe begrifflich recht eigentlich neben die Pflicht zur Bewährung tritt, es eine isoliert gedachte Geldstrafe ohne den Sinn, zu zukünftigem legalen Lebenswandel aufzurufen, nicht geben kann 73. Sonst würde sie auf den Stand zurückfallen, in dem bloß die Zufügung des Unwerts der Straftat gegenüber dem Täter wiederholt wird. Um den Bezug zum affirmativen Ziel der Strafe unter Partizipation des Verurteilten daran zu wahren ist des weiteren erforderlich, daß das mit der Strafe eingezogene Geld gemeinnützigen Zwecken dienen soll. Die Höhe der Geldstrafe bemißt sich gemäß dem Vergeltungsprinzip nach dem im Verbrechen wirksam gewordenen Handlungsprinzip des Täters. Im Unterschied zum abstrakten Recht, wo die in der Straftat zum Ausdruck kommende Perspektive des Verbrechers in Bezug auf sein Verhältnis zum konkreten Opfer allein den Maßstab bestimmt, ist jetzt nach dem negativen Wertbegriff als Richtlinie die übliche Vergütung heranzuziehen, die zur Reproduktion des betroffenen Gutes notwendig wäre; nach dem affirmativen Wertbegriff kommt es einmal 71 Vgl. § 56g StGB, dem allerdings wegen der andersartigen Ausgestaltung der Bewährung im geltenden Recht als Aussetzung der Vollstreckung einer anderen Strafe auch noch die Funktion des Straferlasses zukommt. 72 Vgl. § 56a StGB. Zu kriminologischen Befunden zu den Zeiträumen, in denen eine höhere Rückfallgefahr besteht, s. Kerner, Art. Rückfall, Rückfallkriminalität, in: Kaiser et. al., KKW, S. 361 ff., 362. 73 Begrifflich fallen daher die im positiven Recht unterschiedlich geregelten Geldbußenauflagen (vgl. § 56b Abs. 2 Nr. 2 StGB) und Geldstrafen (§§ 40 ff. StGB) zusammen.

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darauf an, den Umfang des mit der Strafe zuzufügenden Vermögensverlustes prozentual demjenigen Bruchteil des Vermögensverlustes anzugleichen, den das Verbrechen im Vermögen des Opfers hervorgerufen hat. Zum anderen ist zu berücksichtigen, wie die zu verhängende Geldsumme einzusetzen ist: Sie ist zur Behebung desjenigen Mangels an Achtung des allgemeinen Wohles in der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Rechts zu verwenden, der in der Straftat zum Ausdruck kommt. Ein Tagessatzsystem, das tatschuldunabhängig die Höhe der Tagessätze allein nach dem Vermögen des Straftäters bestimmt 74, ist daher nach diesen Kriterien nicht zu begründen. Fraglich ist, inwiefern auch andere gemeinnützige Leistungen als Strafe auferlegt werden dürfen. Zu denken ist hier hauptsächlich an die Verpflichtung zu unentgeltlicher Arbeit. Zur Beantwortung dieser Frage sind zwei Ebenen auseinanderzuhalten: Zum einen kann eine Arbeitsstrafe allein deswegen verhängt werden, damit der von ihr erwirtschaftete Wert gemeinnützigen Zwecken zukommt. Zum anderen kann sie auch dazu dienen, den Delinquenten in irgend einer Weise bessern zu wollen. Letzterer Aspekt wurde bereits oben als unrechtlich und kaum zweckmäßig kritisiert. Es bliebe demnach noch der erstere zu behandeln. Nur ein wenig hilfreich sind die Aussagen, die Hegel in diesem Zusammenhang zun GeHingniswesen unter dem prALR gemacht hat 75 . Ein sachlich-systematisches Argument läßt sich ihnen anders als dem Rph. § 299 jedoch nicht entnehmen: Dort werden nämlich öffentliche Lasten im Grundsatz auf Geldleistungen reduziert - mit folgendem Argument: "Das zu Leistende aber kann nur, indem es auf Geld, als den existierenden allgemeinen Wert der Dinge und der Leistungen, reduziert wird, auf eine gerechte Weise und zugleich auf eine Art bestimmt werden, daß die besonderen Arbeiten und Dienste, die der Einzelne leisten kann, durch seine Willkür vermittelt werden."76 Es sind also zwei Gründe, die Hegel bewegen, öffentliche Pflichten möglichst auf Geldschulden zurückzuführen: Einmal geht er davon aus, daß mit ihnen offen bleibt, wie der Einzelne sein Vermögen erwirbt. M. a. W. soll der subjektive Wille der Bürger nicht zu einer spezifischen Arbeit genötigt werden. Selbst in der erzwungenen Herausgabe von geldwertem Vermögen ist demnach der subjektive Wille des Einzelnen noch insoweit enthalten, als es von seiner Willkür abhängen soll, wie er zu dem zu entäußernden Geldbetrag gekommen ist. 74 So § 40 Abs. 2 StGB. Eingehend zur Problematik des Tagessatzsystems Grebing, ZStW 88, 1976, S. 1049 ff. m. w. N. und M. Köhler, JZ 1989, S. 697 ff. 75 Vgl. Fragmente Nr. 16, S. 443. 76 Rph. § 299, S. 466. Ausführlich zur Arbeitsstrafe M. Köhler, GA 1987, S. 147 ff. und JZ 1988, S. 749 ff. jeweils m. w. N. Zur gegenwärtigen Diskussion vgl. w. H.-J. Albrecht/ Schädler, ZRP 1988, S. 288 ff.; Gerken / Henningsen, MSchrKrim. 1989, S. 222 ff.

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Zum anderen ist Hegel der Auffassung, daß nur Geldleistungen gerecht und d. h. vor allem gleichmäßig auferlegt werden können. Dies bedarf näherer Erläuterung. Denn auch Arbeit ist nach Hegel veräußerbar und enthält einen Wert. Prinzipiell ist er ferner in gleicher Weise bestimmbar, nämlich nach dem Wert ihrer Reproduktionskosten. Dennoch beinhaltet der Zwang zu einer bestimmten Arbeit stets noch eine Einbuße über die Entäußerung von Wert hinaus: Anders als bei der Pflicht zur Geldleistung wird man hier zusätzlich noch dazu genötigt, die eigenen Kräfte in einer spezifischen, von fremdem Munde vorgeschriebenen Weise zu verausgaben. Je nach Individuum ist die dabei aufzuwendende Mühe aber unterschiedlich groß. Nicht alle sind zu denselben Tätigkeiten gleich geschickt. So muß sich der eine bei einer bestimmten Arbeit länger bzw. intensiver anstrengen als ein anderer. Nach dieser spezifischen Seite sind die Verausgabungen bei der Arbeit demnach von Person zu Person prinzipiell unvergleichbar, weil sie eben von deren subjektiver Konstitution abhängen. Mithin fallt auch die Belastung ungleich aus, wo zu vertretbaren Arbeitsleistungen gezwungen wird. Auch aus diesem Grund muß die Arbeitsstrafe daher abgelehnt werden.

cc) Weisungen Wo zu besorgen ist, daß die mit dem Verbrechen eingetretene Lockerung der subjektiven sittlichen Konstitution so groß ist, daß die Bewährung nicht mehr dem geistigen Mechanismus äußerer und innerer Bindungen des Täters allein überlassen werden kann, so bieten sich Maßnahmen an, die zumindest die erschütterten Außenstabilisatoren angemessen ersetzen oder ergänzen: Weisungen, die eigene Lebensführung bestimmten Beschränkungen zu unterwerfen 77. Weil die Erfüllung dieser Pflichten eine unvertretbare Leistung des Verurteilten darstellt, trifft sie nicht der Vorwurf ungleicher Belastung. Vielmehr besteht die Gleichheit der Belastung darin, daß jeder Delinquent diesen Pflichten nur höchstpersönlich nachkommen kann. Weil das mit dem Verbrechen in die Welt getretene Haltungsdefizit lediglich in einzelnen Straftaten aktualisiert worden ist, diese sich nur gegen bestimmte Rechtsgüter und Normen richten, ist auch die Lockerung der inneren und äußeren Bindungen des Verurteilten keine totale Aufhebung einer rechtschaffenen Gewohnheit. Vielmehr geht die Gefährdung der subjektiven sittlichen Konstitution immer in eine spezifische Richtung, wie sie durch das betroffene Rechtsgut und durch das es in bestimmter Weise schützende Strafgesetz festgelegt wird. Zudem steht nur die konkrete Tat in Rede, die noch eine viel partikulärere Schwäche des Verbrechers offenbaren kann: Wer z. B. zur Nachtzeit mit ungültigem Fahr77 Vgl. §§ 56c, 56d StGB. Nicht näher erörtert werden kann die Frage, inwiefern auch die in den §§ 44, 69, 70 StGB angedrohten Sanktionen strafbegrifflich als Weisungen zu verstehen und so in einem direkten Zusammenhang mit der Bewährungsstrafe zu sehen sind.

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ausweis angetroffen wird, bei dem liegt die Annahme nahe, daß er nur dann schwarzfährt, wenn das Risiko, erwischt zu werden, besonders gering ist. Läßt das konkrete Tatgeschehen Rückschlüsse auf eine derart spezifische Lockerung der subjektiven sittlichen Konstitution zu, so liegt es nahe, diejenigen Pflichten dem Täter ausdrücklich zu formulieren, die notwendig sind, um die besondere, im Vergehen zum Ausdruck gekommene und vom Täter hingenommene Gefährdung eines rechtschaffenen Lebenswandels zu vermeiden. So ließe sich der Schwarzfahrer anweisen, eine Monatskarte zu kaufen. Zweck dieser Maßnahme ist es nicht allein, für die Dauer der Bewährungszeit zu verhindern, daß der Betreffende weiter delinquiert; vielmehr wird darüber hinaus intendiert, ihm den Erwerb einer Monatskarte als einfaches Mittel gegen seine situationsgebundene Schwäche zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen 78. Läßt die Lockerung der sittlichen Konstitution des Täters besorgen, daß er auf sich allein gestellt nicht mit derselben Sicherheit wie andere die Pflichten erfüllen kann, die sich aus einer rechtschaffenen Lebensführung ergeben, so kann ihm zur Verstärkung bzw. als Ersatz von Außenstabilisatoren die Hilfe eines Dritten an die Seite gestellt werden 79. Dessen Aufgabe besteht einerseits darin, seinen Klienten zu betreuen; andrerseits soll er ihn aber auch überwachen, um den Gefahren weiterer haltungslockernder Verfehlungen, namentlich Straftaten, vorzubeugen. Hier zeichnet sich ein Konflikt zwischen diesen Aufgaben ab 80 • Denn damit schlägt bei der Anordnung dieser Weisung wieder das im Richtspruch aus fremder Hand bereits angelegte asymmetrische Verhältnis zum Verurteilten auch auf den Akt der Vollstreckung durch. Einerseits dient der Bewährungshelfer zwar seinem Klienten in dessen Bemühen, zu einer rechtschaffenen Haltung zurückzufinden. Andrerseits tritt diesem nun als maßgebliche Kontrollinstanz ein anderer Wille gegenüber, nach dessen Anweisungen sich der Verurteilte zu richten hat. Im Verhältnis zu Außenstehenden kommt dabei nun zum Ausdruck, daß der Verurteilte ein Mensch ist, dessen subjektive sittliche Konstitution, weil sie der Hilfe Dritter bedürftig ist, sich wesentlich von derjenigen Verfassung unterscheidet, die ein gut sozialisierter Bürger aufweist. Zwar kann und muß sowohl die soziale Sichtbarkeit der Bewährungshilfe als auch ihr vertrauensvolles Verhältnis zum Verurteilten dadurch gemindert werden, daß sie (wie im Urteilsspruch) von Seinesgleichen (Familienangehörigen oder Arbeitskollegen etc.) ausgeübt wird. Dennoch ist mit deren öffentlicher Bestellung im Urteil stets der publik gemachte Ausspruch verbunden, daß der Betreffende im Unterschied zu anderen Bürgern der besonderen Überwachung bedarf. Die Bewährung des Rechts im alltäglichen Lebensvollzug ist mit dieser Aufteilung Beispiel nach § 56c Abs. 2, Nr. 1 StGB. So die Befugnis aus § 56d StGB. 80 So Kerner, Art. Bewährungshilfe, in: Kaiser et. al., KKW, S. 67 ff., 68 f. Genauso Müller-Dietz, Art. Soziale Dienste in der Strafjustiz, in: Kaiser et. al. KKW, S. 402 ff., 406. 78

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der Verantwortung auf den Delinquenten und seinen Bewährungshelfer nicht mehr oder nur noch unzureichend als eigene Leistung des ersteren erkennbar. Der Verurteilte findet sich in dem bekannten Dilemma wieder, einerseits innerlich dazu bestimmt zu sein, an der Konstitution eines sozialen Beziehungsgefüges teilzuhaben, in dem sich der vormals unmittelbar gültige Gesetzesgehorsam in der Anerkennung durch den subjektiven Willen aller vertieft; andrerseits kann die Konformität der allgemeinen Handlungsweise des Delinquenten, solange Bewährungshilfe angeordnet bleibt, äußerlich nicht als Akt seines subjektiven Willens gelten, weil eben mit dieser Weisung der Täter als eine Person gekennzeichnet ist, die allein nicht zu einem rechtschaffenen Lebenswandel fähig ist. Sicher läßt sich diese Problematik im Innenverhältnis durch verständnisvolle Zusammenarbeit kompensieren. Trotzdem bleibt aber der Eindruck der Hilfsbedürftigkeit im Außenverhältnis bestehen. Um dieses Dilemma abzumildern, muß daher die Weisung so gestaltet sein, daß sie nur für den ersten Teil der Bewährungszeit angeordnet wird, ein zweiter Teil sich dann als eigenständige Bewährung daran anschließen muß. Schließlich sollte der die gesamte Bewährungszeit abschließende Gerichtsbeschluß hier insbesondere bekräftigen, daß die Bewährung des Rechts auch vom subjektiven Willen des Delinquenten mitgetragen war. Doch stößt auch diese Form der Öffentlichkeit, die Bemühungen des Delinquenten anzuerkennen, an Grenzen der Akzeptanz. Weil gemäß der gesellschaftlichen Arbeitsteilung allein Gericht und Bewährungshelfer zuständig sind, den Rückerwerb einer rechtschaffenen Haltung durch den Delinquenten zu beobachten, dürfen sich Außenstehende von der Aufgabe entbunden fühlen, diesen in seinen Anstrengungen unterstützen zu müssen. Gemäß dem Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, als konkreter Person den eigenen Interessen nachzugehen, haben unbeteiligte Dritte auch kein Bedürfnis, sich um den Delinquenten zu bemühen. Vielmehr geht das Recht an ihre Besonderheit sogar dahin, sich vor Gefahren für die eigenen Rechtsgüter aus Kriminalität, wie sie der Delinquent mit dem Urteil verkörpert, in acht nehmen zu dürfen. Aufgrunddessen wird der Täter ihnen gegenüber auf eine Mauer der Ablehnung stoßen. Mit dieser Interaktionsverweigerung bleibt er dann aber doch wieder mehr oder minder aus dem haltungsbildenden Arbeits- und Lebenszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen. Dann steht der Delinquent erneut in der Gefahr, daß sich das asymmetrische Verhältnis zu ihm seitens der anderen perpetuiert. Wegen des eben beschriebenen Dilemmas, die innerliche Bestimmung zur Teilhabe am Vernunftfortschritt anderem nicht demonstrieren zu können, liegt beim Täter auch eine andere Reaktion auf die Weisung der Bewährungshilfe nahe als die der vertrauensvollen Kooperation. Selbst dort, wo der Bewährungshelfer die Fortschritte seines Klienten billigt und seine Hilfs- und Kontrolltätigkeit dementsprechend auflockert, kann es im Außenverhältnis nicht zum Rückgewinn an verloren gegangener Anerkennung kommen. Dann aber wird dem Delinquenten in weiten Bereichen das Recht seiner Besonderheit genommen, an einer

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Ordnung teilzuhaben, in der die Sicherung des Wohles eine allgemeine Aufgabe geworden ist. Dann steht er aber erneut vor der Frage, wie er sein besonderes Wohl verwirklichen soll. Auch hier erwächst also die Gefahr, daß ihn dieser Zwiespalt dazu bringen kann, rüclifällig zu werden. Dies kann aus mehreren Motiven heraus geschehen: Einerseits kann es dem Verurteilten um die Erhaltung seines ursprünglichen Freiheitsraumes gehen. Dann wird er gegen die Weisungen der Bewährung(shilfe) rebellieren. Andrerseits kann der Verurteilte darauf aus sein, die ihm versagten Freiheitschancen für sein Wohl durch weitere Delinquenz zu kompensieren: Er kann einmal versuchen, sich fremdes Vermögen anzueignen; er kann zum zweiten darüberhinaus mit seinen Straftaten sich Anerkennung in kriminellen Kreisen verschaffen suchen. Während die Rebellion darauf hinausläuft, daß der Täter sich auf einen Status der Haltlosigkeit zubewegt, tendieren die anderen Verhaltensweisen sogar dahin, die einmal angenommene Unrechtsmaxime zu einer habituell bösen Disposition zu vertiefen. Beidesmal führt aber die Erkenntnis des Täters, in seinem Recht auf die eigene Besonderheit nicht anerkannt zu sein, nicht dazu, daß er die Beseitigung solcher Defizite im öffentlichen Bewußtsein zur allgemeinen Aufgabe erheben will, s. o. 1. Kapitel D. 11. 3. b) aa); er beschränkt sich dagegen darauf, lediglich die eigene Besonderheit zu befriedigen. Dann aber vertieft der Täter seine Fixierung auf die negative Seite des Handlungsunwertes in selbstverschuldeter Weise. Die Strafart der Bewährung stößt damit an ihre Grenze. Zwar mag es im Einzelfall möglich sein, den Verstoß durch Verlängerung oder Intensivierung der Bewährung zu korrigieren 81. Aber im Prinzip stellen sich dieselben Probleme hier erneut, mögen sie auch nicht bei jedem Rückfälligen auftreten. Folglich entsteht die Frage, wie angemessen auf Rezidivisten reagiert werden kann. Beruhte die Idee der Bewährungsstrafe zwar darauf, die Lage des Delinquenten in der Vollstreckung möglichst den normalen gesellschaftlichen Zuständen anzupassen, so offenbarte das in diesen Verhältnissen anwesende Handlungsprinzip gerade die Schranke für ein solches Vorgehens: Der Vorrang des Eigeninteresses der Bürger tendiert dazu, dann das asymmetrische Verhältnis zum Delinquenten zu verewigen, wenn dieser in der Öffentlichkeit als eine Person gekennzeichnet worden ist, die allein nicht mehr zu einem rechtschaffenen Lebenswandel in der Lage ist. Damit perpetuiert sich aber die vom Verbrechen ausgehende Gefahr, welche die Bewährungsstrafe aufheben sollte: Mit dem Rückfall tritt nach der objektiven Seite nicht nur eine erneute Gefährdung des allgemeinen Vertrauens in die Geltung der Gesetze ein, sondern auch der Schutz einzelner Rehtsgüter ist beeinträchtigt. Nach der subjektiven Seite führt der Rückfall zu einer weiteren Verwurzelung der Unrechtsmaxime in die Haltung des Täters. Damit stellt sich das Problem, wie sich Strafe als Wiederherstellung des Rechts im praktischen Bewußtsein eine feste und gesicherte Existenz verschafft, neu. 81

Diese Möglichkeit eröffnet § 56e i. V. m. § 56a Abs. 2, S. 2 StGB.

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dd) Die Freiheitsstrafe Jetzt geht es um das Problem, wie der Täter und die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten gesichert werden kann, wenn wegen der Schwere der Straftat(en) eine Bewährung des Rechts durch die habitualisierende Wirkung sozialer Interaktion nicht eintreten kann. Dann bleibt als Alternative nur noch der Ausschluß des Delinquenten aus dem gesamtgesellschaftlichen Lebensprozeß. Hierin liegt die Berechtigung der Freiheitsstrafe 82 • Sie setzt demnach voraus, daß sich die Konstitution des Straftäters durch seine kriminelle Karriere derart gelockert hat, daß seinem subjektiven Willen nicht mehr zugetraut werden kann, die sich aus der Strafe ergebenden Verpflichtungen an seine Lebensführung aus eigenen Kräften mit der Sicherheit eines geistigen Mechanismus zu erfüllen. Dies kann mehrere Gründe haben: Einmal kann es dadurch hervorgerufen werden, daß mehrere Verbrechen begangen worden sind. Insoweit ist die Lockerung allerdings nicht notwendig an eine vorausgegangene, mißlungene Bewährungsstrafe gekoppelt. Vielmehr ist die Bewährung des Rechts auch dort ausgeblieben, wo eine ganze Serie von Verbrechen als Ganzes erstmals zur Verurteilung ansteht. Zum zweiten kann sich die Intensität des Verschuldens auch in der Schwere eines einzigen Deliktes konzentrieren. Wer höchstwertige Rechtsgüter verletzt, der mußte mit besonders großer Energie gegen seine eingeübten Verhaltensweisen ankämpfen, um seinen Entschluß durchzuhalten, s. o. 1. Kapitel D. 11. 3. b) bb). Selbst wo trotz seines Verbrechens die familiären oder gesellschaftlichen Bindungen des Täters im Großen und Ganzen noch intakt geblieben sind, mußte er sich doch innerlich von ihnen weitestgehend distanzieren, um seine Tat ausführen zu können. Hier besteht für den Verbrecher der Schein fort, daß in seinem Umfeld das unmittelbar gelebte Recht ungebrochen sei, obwohl er dasselbe allgemein auf das Schwerste verletzt hat. Diese Diskrepanz zum wahren Sachverhalt ist umso größer, je schwerer das von ihm begangene Unrecht wiegt. Aus diesem Grund muß auch das negative Moment der Strafe umso intensiver auf die äußere Sphäre des Verbrechers zugreifen, um diese Konsequenz seines Tuns ihm vor Augen führen zu können. Ab einer gewissen Stufe, namentlich bei vorsätzlicher und irreparabler Verletzung unveräußerlicher Rechtsgüter, kann daher eine Einbuße an Geld neben der Bewährungsstrafe nicht mehr als wertgleiches Äquivalent angesehen werden. Die Freiheitsstrafe hat bei dieser Tätergruppe mithin vor allem die Aufgabe, die Intensität der negativen Seite ihrer Unrechtsmaxime auf die Sphäre des Verbrechers zu verallgemeinern. Sie dient aber zum zweiten nach diesem massiven Vertrauensbruch auch der Neubegründung eines sozialen Gefüges, in welchem dem Einzelnen die Unverletztlichkeit gerade derjenigen Rechtsgüter gesichert wird, die in besonderem Maße in die Endlichkeit verwoben und damit 82

Zum folgenden vgl. Scala, HegelJb 1987, S. 164 ff.

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angreifbar sind, s. o. 1. Kapitel B. 11. 2. a), C. 11. 1. und D. 11. 3. a). Problematisch ist allerdings, wie der Verbrecher trotz des Freiheitsentzuges an dieser Ordnung teilhaben kann. Zur Lösung ist in differenzierter Weise an die jeweils noch fortbestehenden Reste einer sittlichen Konstitution des Delinquenten anzuknüpfen. Ist die Einordnung in Familie und Gesellschaft durch die Straftat kaum berührt worden, so lassen sich deren affirmative Wirkungen dadurch in den Vollzugsprozeß einbeziehen, daß man in ihn durch seine offene oder gelockerte Gestaltung sowohl großzügig familiäre Kontakte als auch die weitere Tätigkeit im alten Beruf integrieren kann 83. Die Beschränkung der Freizügigkeit erfüllt hier den Sinn, den Zusammenhang zur negativen Seite der Unrechtsmaxime aufrechtzuerhalten und die Aufgabe an den Delinquenten wachzuhalten, die Erschütterung des vormals unmittelbar geübten Rechtsgehorsams aufzuheben. Je mehr allerdings äußere und innere Bindungen infolge der Straftat(en) des Verurteilten in Auflösung begriffen sind, desto weiter tritt das Sicherungselement, das dem Freiheitsentzug inhäriert, in den Vordergrund. Umso mehr verschärft sich das Legitimationsproblem. Wie bereits allgemein erläutert wurde, schützt Sicherung total gesetzt zwar davor, daß sich der Hang zu Verbrechen vertieft; zugleich verhindert sie aber auch, daß sich die sittliche Konstitution des Täters im gewöhnlichen Lebensvollzug festigen kann. Dieses Argument beansprucht allerdings volle Gültigkeit nur in dem Falle, in dem der Verurteilte durch den Freiheitsentzug von einer bisher geübten rechtschaffenen Lebensweise ferngehalten wird. Diese Voraussetzung trifft jedoch nicht auf jeden Delinquenten zu: Der habituell Böse, der wegen oben genannten, gravierenden Straftaten verurteilt worden ist, bewegt sich typischerweise seinem Schwerpunkt nach nicht in einem auf sittlicher Anerkennung ausgerichteten Arbeits- und Lebenszusammenhang, sondern er findet sich im Milieu der Unterwelt und ihren sozialen Regeln wieder. Der Freiheitsentzug entreißt ihn mithin insoweit nicht der gewohnheitsbildenden Kraft sittlicher Bezüge; stattdessen wird er Verhältnissen enthoben, in denen gewerbsmäßige Kriminalität o. ä. mit dem Schein einer allgemeinen Handlungsweise umgeben ist. So betrachtet stellt der Freiheitsentzug eine notwendige Bedingung dar, um eine weitere Verstrickung in diese Bezüge und damit eine noch größere Entfernung von der habitualisierenden Wirkung rechtlicher Verhältnisse aufzuhalten. Ähnlich ist die Lage bei demjenigen habituell Haltlosen, der ebenfalls schwerste Straftaten begangen hat. Auch hier fehlt wegen der systematischen Isolierung aus familiären und gesellschaftlichen Bindungen ein Zusammenhang, in dem sich ihre subjektive Konstitution festigen könnte und aus dem die Betreffenden entrissen werden würden. Allerdings liegt hier nicht (in gleichem Maße) eine Einbindung in kriminelles Milieu vor. Stattdessen wurzelt ihre Delinquenz vor83

Instruktiv dazu Müller-Dietz, Grundfragen, 1979, S. 45.

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nehmlich in einem Ideal schrankenloser Ungebundenheit, das sich auch mit der Einordnung in gewerbsmäßige Verbrechens organisationen etc. nicht verträgt. Freiheitsentzug ist also hier insoweit nicht notwendig, um diese Tätergruppe aus einer kriminellen Subkultur lösen zu können. Vielmehr geht es hier darum zu verhindern, daß habituell haltlose Delinquenten auf ihrem kriminogenen Stand verharren. Insofern bleibt Freiheitsentzug auch hier eine notwendige Bedingung, fürs erste weitere Straftaten zu verhindern. Er kann aber aufgrund der anders gearteten subjektiven Konstitution der Betreffenden weniger intensiv ausfallen. Schließlich gilt Gleiches auch für Straftäter, bei denen zwar keine Verbrechensserie zu beklagen ist, deren einmaliges Vergehen sich aber derart ausgewirkt hat, daß auch erhebliche Störungen in den inneren und äußeren Bindungen aufgetreten sind. Ebenso wie das Sicherungselement sich hier trotz der Möglichkeit, die Vertiefung eines Hanges zu verhindern, als Freiheitseinbuße nicht von selbst legitimiert, ebenso darf es allerdings auch hier nicht verabsolutiert werden. Herausgestellt werden sollte nur, daß die Beschneidung der Freizügigkeit zum einen nicht auch den sittlichen Wert verletzt, dem der Eingliederung in den gesellschaftlichen Arbeits- und Lebenszusammenhang zukommt; zum anderen sollte lediglich dargelegt werden, daß der Freiheitsentzug hier eine notwendige (nicht schon hinreichende) Bedingung gerechten Strafens ist. Als weitere Bedingung muß nämlich zum bloßen Freiheitsentzug hinzukommen, daß den Sträflingen nun auf dem Felde des Strafvollzuges Verhältnisse bereitet werden müssen, die denjenigen Bezügen nach Möglichkeit gleichen, die zur Bildung eines rechtschaffenen Charakters beitragen können 84. Dazu gehören neben der Hilfe, etwaig verschüttete familiäre Kontakte zu revitalisieren, auch Angebote, einen bestimmten Beruf auszuüben, zu erlernen oder sich in anderer Weise zu bilden. Da es hier um Maßnahmen geht, die subjektive Konstitution des Häftlings zu bessern, können und dürfen sie allerdings nicht gegen den subjektiven Willen des Betreffenden erzwungen werden 85. Haltungsbildende Leistungen sind folglich von Kooperation abhängig. Es bleibt jedoch möglich, den Gefangenen mit gewissen Anreizen zu animieren. Zunächst darf eine berufliche Tätigkeit nicht unverhältnismäßig geringer entlohnt werden als in Freiheit. Es geht nicht darum, öffentliche Gewinne zu erwirtschaften. Vielmehr steht der Zweck im Mittelpunkt, über Arbeit Anerkennungsleistungen zu habitualisieren. Dieses Ziel würde verfehlt werden, wo seitens des Leistungsempfängers keine sich dinglich vermittelnde Anerkennung erbracht werden würde. Zweck der Entlohnung ist also nicht wesentlich, das Wohl des Häftlings zu mehren. Substantiell an ihr ist dagegen, den Sträflings in Zusammenhänge einzubinden, in denen er die Wechselseitigkeit von personaler Achtung erfahren kann. So die Pflicht aus § 3 Abs. 1 StVollzG. Bedenklich daher die Arbeitspflicht aus § 41 Abs. 1, S. 1 StVollzG, die allenfalls bei einer gefangenenfreundlichen Auslegung des § 37 StVollzG haltbar ist. 84 85

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Die gegenwärtige Vollzugspraxis ist das genaue Gegenteil hierzu: Weder wird der Gefangene auch nur annähernd angemessen entlohnt, noch besteht der sonst übliche soziale Schutz 86 . Eine andere Frage ist allerdings, in welchem Umfang der Ertrag der Arbeit - notfalls zwangsweise - dazu verwandt wird, Schulden zu begleichen, die namentlich im Zusammenhang mit den Straftaten des Häftlings entstanden sind. Denn auch dann bleibt der Bezug zu einem Anerkennungsverhältnis erhalten. Bis zur Pfändungsfreigrenze 87 kann demnach das Entgelt dafür aufgewandt werden, Schadensersatz- bzw. Strafvollstreckungsschulden zu erfüllen. Einen weiteren Anreiz kann die Aussicht bieten, bei beständiger Mitarbeit den Freiheitsentzug in bestimmte Richtungen zu lockern 88 . Auch hier steht nicht das Wohl des Gefangenen im Vordergrund. Vielmehr ist der Gedanke leitend, daß eine gewisse Einübung in Anerkennungsleistungen zu dem Vertrauen berechtigt, der Häftling habe bereits genügend Sicherheit gewonnen, in bestimmten Grenzen wieder selbständig am sozialen Leben teilzunehmen. Durch Zusammenarbeit muß dem Sträfling daher nach gewisser Zeit eine Anwartschaft auf Vollzugslokkerungen erwachsen, deren Umfang sich je nach seiner individuellen Lage am Beginn des Vollzuges und der Intensität seiner Anstrengungen bemessen muß89. Letztlich ist der Gefangene, wenn er die eben genannten Voraussetzungen erfüllt, vor dem Strafende stufenweise in die Freiheit zur Bewährung zu entlassen 90. Fraglich ist, inwiefern diese rechtlich ja nicht gebotene Mitarbeit des Gefangenen mittelbar nicht doch dadurch erzwungen wird, daß Lockerungen in Aussicht gestellt bzw. versagt werden. Dies wäre dann der Fall, wenn jedem Häftling unabhängig von seinem konkreten Verhalten im Vollzug ein Anspruch auf diese Maßnahmen zukäme. Ein solcher Anspruch läßt sich allenfalls aus dem Rechtsstatus ableiten, in den der Sträfling mit dem Strafausspruch versetzt worden ist. Dieser ergeht aber in Würdigung der subjektiv sittlichen Konstitution des Angeklagten, wie sie sich infolge seines Verbrechens zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung darstellt. Das Urteil muß daher notwendig von einem Verhalten absehen, wie es sich in Zukunft entwickeln könnte. Kommt der Richter zu dem Ergebnis, daß bestimmte Pflichten dem Täter nach seiner derzeitigen Konstitution zur Ausübung in Freiheit anvertraut werden können, so muß der Verurteilte damit solange einen Anspruch auf Lockerungen erhalten, wie er diese nicht zu weiteren Straftaten oder zur Flucht mißbraucht. Weist dagegen die Konstitution des Täters zum Zeitpunkt des Urteils erhebliche Defizite infolge seiner Straftaten 86 Vgl. zu den §§ 43, 200 StVollzG nur Müller-Dietz, Strafvollzugsrecht, 1978, S. 153 f. Anders z. B. der Vorschlag § 87 Abs. 1 AE-StVolizG. 87 Vgl. dazu Rph. § 127 Anm., S. 240. 88 So, aber nach Ermessen: §§ 11, 13 StVollzG. 89 Daneben mögen nach pflichtgemäßen Ermessen aus besonderen Anlässen weitere Lockerungen dem Gefangenen gewährt werden, vgl. § 35 StVolizG. 90 So die §§ 57, 57a StGB. In diesem Zusammenhang ist auch § 15 StVollzG zu nennen.

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auf, so muß - unabhängig von seinem späteren Verhalten, das nicht Grundlage des Strafausspruches sein kann - zunächst auf eine Einweisung in eine geschlossene Vollzugsanstalt beschieden werden. Dann kann aus dem Urteil kein Anspruch auf Vollzugslockerungen abgeleitet werden. Folglich wird dem Häftling auch kein Recht vorenthalten, das aus seinem jetztigen Status folgen würde. Wer Lockerungen hier versagt, bestimmt daher lediglich den Vollzugsstatus näher, übt aber keinen unerlaubten Druck aus. Mithin kann auch das Inaussichtstellen von Lockerungen im Falle der Besserung kein verbotener Zwang sein. Die eben entwickelte These gilt aber nur solange, wie man die Voraussetzungen des Urteils bezüglich einer bestimmten subjektiven sittlichen Konstitution als unveränderbare Größe behandeln kann. Dann würde man aber einen Maßstab anlegen, der nur in der Abstraktion vom konkreten Vollzugs geschehen haltbar wäre. Unter ihm wären zwar alle Gefangenen generell gleichgeachtet; ihre konkret sich in täglicher Lebenspraxis wandelnde Haltungen ließen sich aber nicht berücksichtigen. Insbesondere müßte auch außer Betracht bleiben, inwiefern ein Sträfling Leistungen erbringt, zu denen er durch das Strafurteil nicht verpflichtet worden ist. Dann würden aber die von Häftling zu Häftling individuell unterschiedliche intensive Kooperation ("Absitzen" oder "Mitarbeit") nicht berücksichtigt werden können. Somit würden zwei Größen gleichgesetzt, die nach ihrer Intension einen unterschiedlichen Umfang aufweisen. Kurz, die einzelnen Gefangenen würden zwar abstrakt gleich, konkret aber ungleich behandelt. Soll aber der im Strafausspruch allgemein enthaltene Gedanke der Gleichbehandlung aller Verurteilten seine konkrete Fortführung erfahren, so bleibt keine andere Möglichkeit, als die zusätzlichen Anstrengungen, die eine freiwillig übernommene intensivere Vollzugsmitarbeit mit sich bringt, durch Minderung des abstrakt festgelegten Strafumfanges auszugleichen. In diesem Sinne dienen Lockerungen quasi zur Entschädigung für Leistungen, die rechtlich nicht zu erbringen sind. Hier wird gewissermaßen auf einer zweiten Ebene die Anstrengung gewürdigt, die vom Entgelt nicht umfaßt ist, das ja auf die Fortschritte bei der Bildung einer sittlichen Haltung nicht ausgerichtet werden kann. Je mehr sich die sittliche Konstitution des einzelnen Gefangenen in Beruf, Bildung und Freizeit festigt, desto höher ist daher der Anspruch auf eine freiere Vollzugsgestaltung 91 • Im Prinzip umfaßt diese Anpassung der Strafe allein betrachtet die konkret und individuell mitgesetzte Vollzugspraxis auch die Möglichkeit, ihren intensiven und extensiven Umfang zu erweitern. Allerdings kann es hier nicht darum gehen, irgendwe1che rechtlich nicht verbotenen Verhaltensweisen des Häftlings zu ahnden. Nur dort, wo er schuldhaft sich dem Strafvollzug entziehen will oder weitere 91 Weil zur subjektiven Konstitution des Häftlings auch seine äußeren Verhältnisse zählen, so müssen auch Besserungen in den familiären oder den gesellschaftlichen Beziehungen berücksichtigt werden, selbst wenn sie keine Eigenleistung des Gefangenen darstellen. Hier wäre ein Feld für Lockerungen nach Ermessen, was den zeitliche Rahmen des § 35 StVollzG allerdings sprengen würde.

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Straftaten begeht, ist es angebracht, von einer Vertiefung eines hier allein interessierenden Hanges zu Verbrechen zu reden. Ansonsten impliziert das Strafurteil eine Garantie, daß das in ihm festgelegte Strafmaß nicht überschritten wird. Im Extremfall völlig passiven oder gar ablehnenden Vollzugsverhaltens entspricht der konkret eintretende Umfang des Freiheitsentzuges genau dem im Strafausspruch unter Abstraktion von Vollzugsgeschehen ausgesprochenen Sanktion. Hier tritt allerdings das Problem auf, daß die Freiheitsstrafe zu einer rein sichernden Maßnahme reduziert wird. Allerdings beruht dies dann nicht nur auf dem von fremder Hand gefällten und vollstreckten Strafurteil, sondern es ist auch vom Willen des Häftlinges getragen, der ja die ihm angebotenen Alternativen bewußt ausgeschlagen hat. Ein solches Verhalten bringt zwar nicht notwendig die Gefahr mit sich, daß sich der Hang des Delinquenten zu Straftaten weiter vertieft. Wohl aber wird es meistens darauf hinaus laufen, daß seine gelockerte sittliche Konstitution sich in keiner Weise festigen kann. Dann fragt sich aber, wie mit derartigen Gefangenen mit Ablauf des abstrakt festgelegten Strafendes zu verfahren ist. Man könnte der Ansicht sein, der Freiheitsentzug müsse auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werden, weil und soweit die Gefahren, die von einer derart defizitären Haltung ausgehen, derzeit fortbestehen. Diese Prämisse ist aber so nicht richtig. Zunächst führt die selbstgewählte Isolierung im Vollzug beim habituell Bösen nicht notwendig dazu, daß er seinen kriminellen Lebensplan weiter verfolgt. Vielmehr kann er schon durch die entsprechend sichere Verwahrung im Gefängnis von seinem bisherigen kriminellen weitgehend Milieu abgeschnitten werden. Damit fehlt seiner Neigung zu Verbrechen aber über einen gewissen Zeitraum die aktuelle Betätigung, wodurch diese sich tendenziell in Richtung auf einen Status der Haltlosigkeit hin auflöst. Allerdings bildet dann diese das Problem, das sich noch dadurch verschärft, daß hier die Sogwirkung des äußeren personalen Umfeldes, auf das der Sträfling nach der Haft stößt, erhalten bleibt. Zu bezweifeln ist aber, ob die Gefahren, die von einer derartigen subjektiven Konstitution des Betreffenden ausgehen, noch im Zusammenhang mit den abgeurteilten Straftaten gesehen werden können. Richtig ist, daß die geahndeten Verbrechen sicherlich eine Bedingung gesetzt haben, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne welche die Schwäche in der subjektiven Konstitution entfiele. Gleiches gilt aber auch für das abweisende Verhalten des Gefangenen im Vollzuge. Es ist aber nicht nur die der Zeit nach letzte Ursache, sondern auch der wesentliche Grund, wie das Beispiel des habituell Bösen verdeutlicht. Zieht der Häftling - aus welchen Gründen auch immer es vor, sich jeglicher gesellschaftlicher Verbindungen im Großen und Ganzen zu versagen, dann beruht auf diesem Verhalten die Gefahr der Haltlosigkeit ebenso wie in den normalen Lebensbezügen auch. Soweit ein solches Verhalten aber nicht zu einem Verbrechen geführt hat, handelt der Betreffende rechtlich nicht vorwerfbar, mag er auch seine moralischen und sittlichen Pflichten mißach-

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ten. Da aber auch eine Freiheitsstrafe derartige Gebote nicht zur Rechtsverbindlichkeit erstarken lassen kann, stellt es kein Unrecht dar, Sozailisiationsmöglichkeiten auszuschlagen. Mithin läßt sich aus solchem Handeln ebensowenig ein (weiterer) Freiheitsentzug rechtfertigen wie bei demjenigen haltlosen Mitbürger, der sich bisher stets legal verhalten hat. Die Ausdehnung des Freiheitsentzuges über dasjenige Maß hinaus, das im Strafausspruch enthalten ist, läßt sich daher strafrechtlich nicht rechtfertigen. Möglich bleibt allein eine Überwachung in den Grenzen der allgemein der Polizei zustehenden Befugnisse zur Gefahrenabwehr. Damit stößt auch die Freiheitsstrafe an eine Grenze. Die mangelnde Mitarbeit beschwört die Gefahr habitueller Haltlosigkeit in den Gefangenen herauf, einer Disposition, der nach der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft eine feste Verwirklichung des Rechts im alltäglichen Leben nicht mit Sicherheit zugetraut werden kann. Gehört es aber zum Dasein der Freiheit in der Gesellschaft hinzu, daß auch die Rechtsgüter des Einzelnen gesichert sind, so haben Menschen mit haltlosem Charakter in ihr keinen rechten Platz mehr. Wie schon bei der Bewährungshilfe erörtert, wird es daher auch hier zu einer Interaktionsverweigerung kommen. Dann perpetuiert sich aber auch hier das asymmetrische Verhältnis zum Häftling. Aber auch kooperationsbereite Sträflinge befinden sich in demselben Zwiespalt. Sie stehen vor dem Dilemma, daß ihnen alle Bemühungen im Vollzuge, ihre gefährdete Konstitution zu stabilisieren, in der Gesellschaft wenig nutzen. Mangels gesellschaftlicher Sichtbarkeit der Bemühungen setzt sich das allgemeine Mißtrauen ihnen gegenüber fort. Der einzelne Bürger wird aus legitimen Eigeninteresse den Kontakt zu ihnen meiden. Wenn aber die Vergeblichkeit der Arbeit an sich selbst dem Häftling vor Augen stehen, mindert sich naturgemäß sein Interesse, sich an Vollzugsprogrammen zu beteiligen, die zu einer Besserung der subjektiven sittlichen Konstitution beitragen sollen. Dieses strukturelle Problem kann den Täter zum einen in die Resignation treiben. Diese hat aber zum Resultat, daß der Sträfling die Isolierung von der Gesellschaft nun aus eigenem Antrieb aufrecht erhält. Dann produziert der Vollzug unter derartigen gesellschaftlichen Bedingungen Menschen, deren Charakter zur Haltlosigkeit tendieren und deren äußere Bindungen sich in diesem zweiseitigen Prozeß auflösen. Zum anderen kann dieses Dilemma aber auch zu weit einschneidenderen Reaktionen des Sträflings führen. Weil die offene Rebellion wegen der sicheren Verwahrung kaum Aussicht auf Erfolg besitzt, liegt die Gegenbewegung der inneren Emigration bis hin zu neurotischer Persönlichkeitsveränderung nahe, s. o. 2. Kapitel A. III. 92 Auch dadurch wird das Bemühen erschwert, nach Haftentlassung erneut gesellschaftliche Kontakte zu knüpfen. 92 Darin gründet das Phänomen der Prisonierung, vgl. dazu Sieverts, Art. Haftpsychologie, in: Sieverts / Schneider, HW. d. Krim. EB, S. 447 ff., 450.

21 Klesczewski

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2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft

Weil und soweit der Strafvollzug für den Gefangenen sinnlos geworden ist, die sichere Verwahrung nur noch den Interessen der Allgemeinheit dient, kann im Gefangenen schließlich auch der Entschluß reifen, sich nach der Entlassung für die erlittene Einbuße an seinem Recht der Besonderheit, namentlich des Ausschlusses aus der gesellschaftlichen Interaktion, durch weitere Delinquenz schadlos zu halten: Auch hier liegt also die Tendenz nahe, daß der Sträfling sich durch Angriffe auf das Vermögen Dritter eine eigenständige Sphäre bzw. Anerkennung in kriminellen Kreisen sichern will. Dann ist aber auch unter sittlichen Bedingungen eine Lage erreicht, in der auch die härteste legitimerweise zu verhängende Strafe den Rückfall nicht vermeiden kann. Sicherlich berechtigt die erneute Straffälligkeit wegen der mit ihr eintretenden Vertiefung des Hanges, noch längere Freiheitsstrafen auszusprechen. Das grundlegende Problem läßt sich damit aber nicht lösen, weil und soweit die Wurzel des Übels, die Installation eines asymmetrischen Verhältnisses zum Täter, nicht behoben wird. Wird der Rückfall namentlich ehemaliger Häftlinge zu einer gesellschaftlichen Massenerscheinung, dann verkehrt sich der Versuch die Strafidee zu verwirklichen in eine schlechte Realität: Nach der objektiven Seite führt die Strafe nicht nur zu einer weiteren Lockerung des allgemeinen Vertrauens in die Rechtsgeltung, sondern auch zu einer fortschreitenden Minderung des Rechtsgüterschutzes. Nach der subjektiven Seite bedeutet Rückfall ohnehin eine Vertiefung der Unrechtsmaxime in der Haltung des Täters. M. a. W. verflüchtigt sich die Strafe zu einer abstrakten Vergeltung, ohne daß die besondere Seite der Strafe der Strafidee, Restitution des Rechts sowohl im Bewußtsein der Allgemeinheit wie des Täters zu sein, noch anwesend ist. Dies muß eine Gegenbewegung hervorrufen, die den wuchernden Sinnverlust der tatschuldorientierten Strafe entweder dadurch zu begegnen trachtet, daß sie ihre Aufgabe neu definiert, oder darin gipfelt, Strafe durch polizeilich-präventive Maßnahmen zu ersetzen. Weil der Rückfall, um Massenerscheinung zu werden, einen Zustand der bürgerlichen Gesellschaft voraussetzt, in der wegen krisenhafter Entwicklung die Integrationskraft ihrer ständischen Gliederung in Auflösung begriffen ist, soll dieses Phänomen in diesem Rahmen dargestellt werden. Vorher soll jedoch auf die Art und Weise eingegangen werden, wie die bürgerliche Gesellschaft auf die Gewalt des natürlichen Willens reagiert.

4. Zusammenfassung Obwohl sich am Grundprinzip der Strafe, der Vergeltung, auch unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft nichts ändert, tritt doch ein Wandel in ihrer Existenzweise ein. Sie reagiert jetzt allein noch auf die Verletzung des institutionalisierten Allgemeinwillens, indem sie die Gefahr für die unmittelbar eingeübte Rechtsgeltung aufhebt.

11. Reaktion auf die Gewalt des natürlichen Willens

323

Nach der objektiven Seite der Strafe bedeutet dies die Vertiefung des Geltungsgrundes in der moralischen Reflexion aller Bürger. Institutionell wird dieser Prozeß durch die Öffentlichkeit des Strafverfahrens ebenso begleitet, wie durch eine Strafvollstreckung, deren Zweck auch die Sicherheit der Rechtsgüter des Einzelnen sein muß, um diesen an der Festigkeit der Geltung der Gesetze teilhaben zu lassen. Nach der subjektiven Seite der Strafe wird die Vertiefung der Anerkennung des gebrochenen Gesetzes in den Augen des Verurteilten angestrebt. Durch prozessuale Rechte soll der Angeklagte am Verfahren des Richtens teilhaben. Auch die Vollstreckung des Urteils hat eine Form anzunehmen, in welcher der Straffällige an der Wiederherstellung des Rechts mit seinem subjektiven Willen mitwirken kann. Dennoch ist das Moment der Fremdsetzung der Strafe auch in der bürgerlichen Gesellschaft institutionell unauffhebbar stets anwesend, soweit es zu einer vollen Durchführung des Strafverfahrens kommt. Hieraus erwächst ein asymmetrisches Verhältnis der Allgemeinheit zum Verbrecher schon mit dem Richtspruch und auch in der Vollstreckung. Es gipfelt darin, daß es dem Delinquenten von den anderen Bürgern aus legitimen Eigenschutz ganz oder zum Teil verwehrt wird, an der haltungsbildenden Interaktion des gesellschaftlichen Arbeits- und Lebenszusammenhanges teilzuhaben. Das Recht an die Besonderheit des Straffälligen wird so nicht geachtet. Neben innerer Emigration bleibt dem Täter im Extremfall zur Kompensation lediglich der Rückfall. 11. Reaktion auf die Gewalt des natürlichen Willens

Die Gewalttätigkeit des natürlichen Willens wurde oben bereits aus dem Kreis verbrecherischen Verhaltens herausgenommen, weil und soweit sie nicht über eine vom subjektiven Willen des Betreffenden gesetzten Selbstwiderspruch vermittelt ist. Aus diesem Grunde wäre hier Strafe, die sich an einen Vernünftigen richtet, eine unberechtigte und unangemessene Reaktion. Folglich fällt es auch nicht in die Zuständigkeit der Strafgerichte, gegen derartiges Verhalten vorzugehen. Im folgenden soll kursorisch dargestellt werden, wer für die Aufhebung des Unrechts in diesen Fällen zuständig ist und welche Voraussetzungen und Grenzen diese Befugnisse haben.

1. Die Doppelschichtigkeit des Unrechts Unrecht eines Unfreien verletzt zuerst einzelne Rechtsgüter, indem es deren materielles Substrat vernichtet oder beeinträchtigt. Zur Behebung dieses Schadens ist, wie beim Verbrechen auch, vor den Zivilgerichten der Wertersatz einzuklagen'. , Rph. § 98, S. 186. 21*

324

2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft

Über die Verletzung der natürlichen Basis des einzelnen Rechtsgutes vermittelt sich aber ein Zweites: Wegen der spezifischen Disposition des natürlichen Willens drückt sich in seinem zerstörerischen Tun nicht allein die Vernichtung eines Wertes aus, sondern er ist darin als Quelle einer beständigen Bedrohung des Bestandes einzelner Rechtsgüter in Erscheinung getreten. Zwar beruht diese Gefährdung anders als bei einem habituell Bösen nicht darauf, daß mit der Verletzung des Substrates eines subjektiven Rechts dessen Anspruch aufVernünftigkeit ebenfalls negiert ist; dennoch stellt die Unberechenbarkeit des natürlichen Willens die Sicherheit des Rechtsgüterschutzes durch allgemein eingeübte Gewohnheiten ebenfalls in Frage. Auch hier tritt also das Problem auf, daß die Festigkeit, die eine bei den Gliedern der bürgerlichen Gesellschaft sonst anwesende rechtschaffene Haltung vermittelt, durch die reine Tatsache der Abweichung erschüttert wird. Mithin kann es hier, zumal bei unveräußerlichen und unersetzbaren Rechtsgütern, bezüglich ihres Schutzes zu einer ähnlichen Verunsicherung der Allgemeinheit kommen wie bei sich häufenden Verbrechen. Ging es dort darum, daß mittelbar über die beständige Verneinung von Rechtsgesetzen auch der sonst fraglos vorausgesetzte Rechtsgüterschutz gefährdet war, so liegt hier zwar kein Bruch des Gesetzes durch den Unfreien vor. Dennoch stellt sich auch hier die Frage, wie die eigenen Güter vor ihm gesichert werden können, wenn man eine Gewohnheit bei ihm nicht voraussetzen kann, die das gewährleistet. Fiele der Rechtsgüterschutz gegenüber Unfreien aus, so würde dies mittelbar dazu führen, daß die Geltung des Gesetzes als eingeübte Handlungsweise im Bewußtsein der Bürger nicht mehr vorhanden ist, s. o. 2. Kapitel C. 11 2. b) aa). Mithin wünscht der einzelne Bürger zu Recht, daß neben dem Selbsthilferecht 2 die Sicherung vor den Gefahren des natürlichen Willens ebenfalls zu einer institutionell wahrgenommenen Pflicht werde. Aufhebung des Unrechts des natürlichen Willen bedeutet also auch hier, der öffentlichen Aufgabe nachzukommen, den einzelnen Bürger vor derartigen Gewalttätigkeiten zu sichern 3• Noch ungeachtet der Frage, wer für diesen Zweck als zuständige Instanz festgelegt wird, bedarf es der Klärung, wie diese Sicherungsmaßnahmen ausgestaltet sein sollen. Es ist daran zu erinnern, daß ein wesentlicher Grund der Verfestigung einer gewalttätigen Neigung im natürlichen Willen der Ausschluß von der habitualisierenden Kraft des gesellschaftlichen Arbeits- und Lebenszusammenhang ist, s. o. 1. Kapitel D. III. 3. Würde man also auch hier die Sicherung absolut setzen, so würde sich die schädliche Disposition genauso perpetuieren. Mithin ist auch jetzt - allein zum Zwecke der Sicherung - nach Formen der Überwachung zu suchen, die, soweit es geht, den Rechtsgüterschutz dadurch bewirken, daß sie im Betreffenden die habituelle Fähigkeit wecken, sich den Gewohnheiten der bürgerlichen Gesellschaften gemäß zu bewegen 4 , Grund und 2

3 4

Rph. § 93 f., S. 179 ff. Rph. § 93 Anm., S. 180. Vgl. Rph. § 93 Anm., S. 180.

11. Reaktion auf die Gewalt des natürlichen Willens

325

Ausmaß der gewalttätigen Neigung können verschiedene Fonnen annehmen, s. o. 1. Kapitel D. III. 2. Daraus ergibt sich die Möglichkeit einer gestuften Kontrolle des natürlichen Willens, was auch zu einer differenzierten Zuständigkeitsverteilung zwingt.

2. Einzelne Maßnahmen gegen Unfreie Je nach der Art der Gewalttätigkeit und ihrer Quelle sind unterschiedliche Maßnahmen gegen den Unfreien denkbar. Die Intensität des Eingriffes wird dabei davon mitbestimmt, wer zu seiner Vornahme zuständig ist, weil und soweit der Unfreie durch sie in verschieden starker Weise aus seinen bestehenden sozialen Verhältnissen herausgelöst werden kann. a) Die primäre Zuständigkeit der Familie Weil die gewalttätige Neigung in engem Zusammenhang mit fehlender und nicht richtiger Erziehung steht (s. o. 1. Kapitel D. III. 2.), die Aufhebung solcher Zustände eine pädagogische Aufgabe ist, so sind die Eltern als in erster Linie Erziehungsberechtigte befugt und verpflichtet, den natürlichen Willen aus seiner Rohheit zu befreien. Allerdings zeigen sich hier sogleich Grenzen: Die Rolle der Familie als Erziehungsinstanz wird von Hegel radikal beschränkt, indem er die Kinder mit der Volljährigkeit aus diesem Verband entläßt 5 • Ist die der Natürlichkeit verhaftete Person schon erwachsen, so bedarf es eines besonderen Legitimationsgrundes, daß die Eltern weiterhin über sie verfügen dürfen, s. sogleich unter b). Viel fundamentaler stellt aber das Faktum des Verzogenseins selbst die Erziehungsbefugnis der Eltern in Frage. Denn ein Gutteil der Defizite, mit denen der Betreffende zu kämpfen hat, beruhen ja gerade auf dem Versagen der Eltern. Danach sind die Fälle, in denen der Vernunftmangel des Kindes auf organische Ursachen zurückgeht, noch am einfachsten zu lösen. Denn hier äußert sich ja nur die Ohnmacht der Eltern (und aller), nicht aber ihre Verfehlung, s. o. 1. Kapitel D. III. 2. Folglich kann es hier beim Erziehungsprimat der Eltern bleiben, aus dem sich aber die Pflicht ableitet, medizinische Hilfe nach Möglichkeit zu Rate zu ziehen. Weit schwieriger sind schon die Fälle zu behandeln, bei denen die Defizite eine Folge von Vernachlässigung sind. Denn entweder besteht hier gar keine Familie, oder sie ist derart desolat strukturiert, daß von ihr eine Aufhebung der kindlichen Mangellage nicht zu erwarten ist, s. o. 1. Kapitel D. III. 1. und 2. Ähnliches gilt in den Fällen der Übererziehung. Hier ist zwar eine Familie vorhanden. Sie ist aber so aufgebaut, daß aus ihr Kinder hervorgegangen sind, die wegen der übennäßigen Bevonnundung zur Delinquenz hinneigen, s. o. 1. Kapitel D. III. 2. Gäbe man diesen Eltern nun die Überwachung ihres unfreien 5

Rph. § 177, S. 330, Enzykl. § 522, S. 320 f.

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2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft

Kindes weiterhin in die Hand, so besteht die Gefahr, daß sie auch hier ihr Überordnungverhältnis zur Perpetuierung ausnutzen. Es muß daher eine andere Lösung angestrebt werden, die Gewalt des natürlichen Willens aufzuheben. b) Die Vormundschaft Hegel kennt für die Fälle, in denen jemand zur Sicherung der eigenen Subsistenz oder der seiner Angehörigen nicht fähig ist, ein Institut, das die Aufgabe der Familie dann übernimmt, wenn die Familie nicht mehr zuständig ist: die Vormundschaft 6. Wie die Vormundschaft im einzelnen ausgestaltet sein muß, läßt sich der TextsteIle nicht genau entnehmen. Insoweit darf man keine vorschnellen Analogien zu namensgleichen Regelungen des positiven Rechts ziehen. Dennoch läßt sich über sie aus dem Gesamtzusammenhang folgendes sagen: Auf die Vormundschaft geht Hegel in Verbindung mit wohlfahrtsstaatlichen Befugnissen ein. Grundansatz ist dabei der Aufweis des partiellen Funktionsverlustes der Familie unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft? Weder obliegt ihr jetzt die rechtliche Pflicht, ein Leben lang für das leibliche Wohl des Einzelnen zu sorgen, noch läßt die wachsende Komplexität des gesellschaftlichen Lebens ihren Erziehungsvorrang in allen Dingen bestehen. An ihre Stelle müssen gesellschaftliche Institutionen treten, welche diese Aufgaben übernehmen können. Die Pflichten des Vormundes beschränken sich deshalb ebenfalls nicht nur auf den Schutz vor der materiellen Verelendung, sondern dienen vornehmlich dem Zweck, das Mündel nicht auf den Stand des "Pöbels" herabsinken zu lassen 8. Neben der Verschwendungssucht soll also hauptsächlich auch dem geistigem Verfall und den daraus für andere entstehenden Gefahren vorgebeugt werden. Kurz, der Vormund ist nun zur Ausübung von pädagogischem Zwang in seiner Einheit von Sicherung und Besserung zuständig: "Die Vormundschaft ist ein Surrogat der Familienverhältnisse. Die Vormundschaft ist eine Polizei, sie ist die Polizei der Familie."9 Ähnlich wie bei der Bewährungshilfe sollten diejenigen Personen zum Vormund ernannt werden, denen der Betroffene möglichst viel Vertrauen entgegenbringen kann, also Personen aus seinem unmittelbaren familiären oder gesellschaftlichen Umfeld. Bei intakter Familie sind also die Eltern vorrangig einzusetzen. Der Vorteil der Vormundschaft besteht darin, daß das Mündel trotz Überwachung weitesgehend in den gesellschaftlichen Bezügen verbleiben kann. So bleibt eine Teilhabe an den hier wirkenden gewohnheitsbildenden Kräften möglich. 6 Rph. § 240, S. 387. ? Rph. § 238 f., S. 386 f., Dazu Blasehe, in: Riedel, (1975), S. 320 ff. Vgl. w. M. Köhler, GA 1988, S. 460 ff. ffi. w. N., Weber, Theorie der Familie, (1986), S. 79 ff. S Rph. § 240, S. 387. 9 So pointiert Gans, Philos. Schriften, (1971), S. 104.

11. Reaktion auf die Gewalt des natürlichen Willens

327

Allerdings ist das Gelingen dieses Unterfangens von der Kooperation anderer Bürger abhängig. Soweit Dritte es als zu riskant empfinden, sich mit dem Mündel auseinanderzusetzen, werden sie auch hier den Kontakt mit ihm meiden. Auch hier lauert also das Dilemma, daß das Mündel seine Bemühungen Dritten gegenüber nicht demonstrieren kann. Aber auch im Innenverhältnis kann sich die Vormundschaft in eine problembelastete Beziehung verwandeln. Soweit das Mündel so disponiert ist, daß es einen unbändigen Wunsch nach personaler Nähe und Sorge entwickelt hat (s. o. 1. Kapitel D. III. 2.), kann das Scheitern vornehmlich dadurch abgewendet werden, daß sich der Vormund diesen Wünschen völlig aufopfert 10. Eine derartige Einstellung ist aber unaufhebbar an die subjektive Konstitution des Einzelnen geknüpft und läßt sich institutionell nicht befehlen. Umgekehrt kann einern Mündel, dessen Unfreiheit sich auf Übererziehung gründet (s. o. 1. Kapitel D. III. 2.), gerade die an ihre Stelle getretene Überwachung durch einen Vormund ein Dorn im Auge sein. Beidesmale steht das Mündel vor dem Problem, wie es dem Ungenügen der Vormundschaft, seinen spezifischen Bedürfnissen gerecht zu werden, entgehen kann. Weil die Vormundschaft in diesen Fällen diejenigen äußeren Bedingungen perpetuiert, die schon einmal zu Delinquenz geführt haben, liegt dieser Ausweg auch jetzt nahe. Dabei differenziert die zu erwartende Delinquenz sich je nach Art des Defizites aus. Der Vernachlässigte wird zum Ausgleich für den Verlust an personaler Nähe sich die Mittel beschaffen wollen, welche die Flucht in eine Phantasiewelt erleichtern. Hier liegen demnach Delikte, die im Zusammenhang mit Rauschmitteln stehen, nahe. Auch gehört hierher, personale Nähe durch Zwang herstellen zu wollen, s. o. 1. Kapitel D. III. 2. Anders liegt es beim Verzogenen. Ihm wird es vornehmlich darum gehen, den Beschränkungen zu entfliehen, welche die Vormundschaft mit sich bringt. Er agiert daher ähnlich wie ein Klient der Bewährungshilfe, s. o. 2. Kapitel C. I. 3. b) aa). Auch die Vormundschaft ist demnach in ihrer Leistungsfähigkeit beschränkt. Als Alternative bleibt jetzt lediglich die Verwahrung des Unfreien übrig. c) Die Unterbringung in einer Anstalt Obwohl sich eben herausgestellt hat, daß der Vormundschaft lediglich ein begrenztes Wirkungsfeld zukommt, ist damit die Unterbringung als ihre Alternative nicht schon per se gerechtfertigt. Schließlich führt sie mehr oder minder zum völligen Ausschluß der Unfreien aus der gesamtgesellschaftlichen Interaktion. Es wäre ja denkbar, die Schäden, die sie ja ohne Schuld verursachen, zugunsten der Teilhabe an sittlichen Verhältnissen hinzunehmen.

10

Vgl. Rph. § 242, S. 388 f.

328

2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft

Bei Angriffe gegen ersetzbare Sachwerte müßte (wie bei der Bagatellkriminalität auch, s. o. 2. Kapitel C. I. 2. a) der zivile Schadensersatz im Zusammenhang mit den allgemeinen polizeilichen Befugnissen der Gefahrenabwehr ausreichen, um das Recht der Besonderheit der potentiellen Opfer zu sichern. Um des allgemeinen Freiheitsgewinns, den die Teilhabe am sittlichen Zusammenhängen für die Unfreien eröffnet, ist auch daran zu denken, die dadurch entstehenden Risiken (wie etwa beim Straßenverkehr) zu versichern. Darin kommt allerdings ein korporativer Gedanke zum Ausdruck, s. u. Schlußkapitel. Sind dagegen unveräußerliche Rechtsgüter von einem irreparablen Schaden bedroht, so würde das Risiko, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden, einseitig auf die potentiellen Opfer verteilt. Hier legitimiert sich die staatlich organisierte Unterbringung der Unfreien aus der polizeilichen Befugnis zur Gefahrenabwehr gegen den Störer ll . Das bloße Verwahren wird aber auch hier kaum geeignet sein, die Gefahren schädlicher Neigungen wahrhaft aufzuheben. Mithin muß daneben die erzieherische Aufgabe treten, den Unfreien zu befähigen, ein selbständiges Glied bürgerlichen Gesellschaft zu werden 12. Allerdings steht dieser Zweck der Unterbringung in einer Anstalt ebenfalls in der Spannung zwischen notwendiger Angleichung des Innenverhältnisses an das Leben in normalen gesellschaftlichen Bezügen und dem unauffhebbar sich geltend machenden Überwachungsinteresse. Hinzu kommt auch hier, daß sich der Mangel an Öffentlichkeit der Bemühungen der Verwahrten, eine feste Haltung zu erwerben, durch die Unterbringung noch mehr vergrößert. Zugleich steigt natürlich die Abneigung Dritter, die Untergebrachten wieder an der gesellschaftlichen Interaktion teilnehmen zu lassen. Kurz, das asymmetrische Verhältnis verewigt sich auch hier.

3. Zwischenergebnis Aufgrund des substantiellen Unterschiedes zum Verbrechen eines Vernünftigen nimmt die Reaktion gegen die Gewalt des natürlichen Willens, eine von der Strafe verschiedene Form an. Pädagogischer Zwang dient nur dem Rechtsgüterschutz und der Erziehung des Unfreien. Art und Intensität seiner Anwendung ebenso wie die Zuständigkeit für seine Ausführung variieren je nach der Schwere der Rechtsgutsgefahr und den spezifischen Ursachen der subjektiven Deformation des natürlichen Willens. Soweit die Familie des Betroffenen nicht mehr dazu geeignet ist, pädagogischen Zwang auszuüben, tritt an ihre Stelle Vormundschaft und Unterbringung. Stets muß der erzieherische Zwang die Aufhebung des mit der Unvernünftigkeit gesetzten asymmetrischen Verhältnisses zum Unfreien bezwecken. Er hat dabei jedoch mit einer konstitutionellen Schwäche zu kämpfen, die teils auf der Disposi11 s. dazu Rph. §§ 231-233, S. 382 f. Nachschr. Wannenmann, in: Ilting, S. 138, wo "Blödsinnige" der staatlichen Sorge unterstellt werden. Ausf. zur derzeitigen Praxis, Vo1ckart, Maßregelvollzug, 1986, S. 29 ff., 132 ff. 12 Vgl. Rph. § 239, S. 386 f.

11. Reaktion auf die Gewalt des natürlichen Willens

329

tion des Unfreien, teils auf das Sicherungsinteresse der Allgemeinheit zurückgeht. Während jener den pädagogischen Zwang als für ihn unpassend empfindet, verweigert diese dem Unfreien die Möglichkeit, in der Interaktion eine sittlichfreie Haltung zu erwerben.

4. Reaktion auf Gewalttätigkeit aus verschuldeter Unfreiheit Wo ein Zustand der Gewalttätigkeit seinerseits durch (habituelles) Verschulden vermittelt ist, dort behält sie den Charakter eines Verbrechens, s. o. 1. Kapitel C. 11. 2. b) bb). Mithin bleibt hier Strafe als angemessene Sanktion möglich. Fraglich ist allerdings, inwiefern sich Strafe sinnvoll an eine Person richten kann, die von ihren praktischen Fähigkeiten aktuell sich in einem Status der Unvernünftigkeit befindet. Die Problematik der hier abzuhandelnden Tätergruppe besteht gerade darin, daß ihre Kriminalität bei ihnen nicht nur zu einer Gefährdung ihrer subjektiven sittlichen Konstitution geführt, sondern sogar die selbstbewußte Teilhabe an der Vernunft aufgehoben hat. Ergebnis des Handeins ist daher hier, daß die Betreffenden dem von Anfang an Unvernünftigen näher stehen als einem Freien. Auf der anderen Seite gebietet es die in ihrem Tun noch selbstgesetzte Unrechtsmaxime, sie nach dem Vergeltungsprinzip zu strafen, damit aber sie einem Vernünftigen gleichzustellen. Zur Lösung dieses Problems muß man sich vergegenwärtigen, daß in diesen Personen heide Rechtsgründe eines Zwangseingriffs vorhanden sind: Sowohl nach dem Strafrecht als auch nach der polizeilichen Befugnis wäre hier nach den oben entwickelten Kriterien ein Zugriff gestattet. Allerdings erwächst aus dieser Einsicht die zweite Frage, ob es jetzt zu einer kumulativen Verhängung beider Sanktionen kommen dürfe, oder eine Verrechnung der Eingriffe möglich ist. Ersteres wäre im Vergleich zu anderen Tätern manifest ungerecht, während letzteres an der Unmöglichkeit zu scheitern droht, Strafe und pädagogischen Zwang wegen ihres wesensverschiedenen Charakters auf einen Nenner zu bringen. Es lohnt sich jedoch der Hinweis auf die Teilidentität, die zwischen den beiden Unrechtsarten, hier Verbrechen, dort Gewalt des Unfreien, bestehen: In beiden Unrechtsarten findet sich der individuelle Wille im Widerspruch zu seiner substantiellen Grundlage, der Freiheit. Beidesmale führt die immanente Aufhebungstendenz dieses Widerspruches zu einer Integration in eine höhere Verwirklichung der Vernunft. Eine Gleichsetzung dieser beiden Unrechtsarten und damit eine Verrechnung der ihnen entsprechenden Sanktionen ist daher durch diesen Abstraktionsschritt möglich. Sie gründet schließlich auch im subjektiven Willen des Täters, weil gerade sein konkreter Lebensweg es ist, der Verbrechen eines Freien und die eigene, gefahrgeneigte Unfreiheit zusammengeschweißt hat. Die Kompensation kann hier sinnvoll nur so geschehen, daß der (zeitliche) Umfang der Unterbringung (bzw. einer anderen pädagogischen Maßnahme) min-

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2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft

dernd auf die Strafvollstreckung angerechnet wird. Denn der erzieherische Eingriff muß hier deshalb zuerst erfolgen, weil und soweit die Strafe einen aktuell Vernünftigen zu ihrer Vollstreckung voraussetzt. Aus diesem Zusammenhang begründen sich strafvertretende Maßregeln, deren Vollstreckung nach dem Prinzip des Vikariierens auf die noch zum Vollzug ausstehenden Strafen angerechnet werden 13. Auf jeden Fall ist ein Vorwegvollzug der Strafe ausgeschlossen 14. Zu beachten bleibt hier jedoch folgender Zusammenhang: Während das Vergeltungsprinzip mit der Ahndung bloß des zu verantwortenden Unrechts der Strafe ihr Maß gibt, orientiert sich das zu Sicherung und Erziehung erforderliche Quantum an Einbußen im Prinzip danach, was für eine Maßnahme in welcher Intensität am erfolgversprechendsten eingesetzt werden kann, s. o. 2. Kapitel A. 11. 4. Dies kann dazu führen, daß der Umfang des pädagogischen Zwanges den der Strafe übersteigt. Allerdings ergibt sich nach dem oben Vorgetragenen insoweit eine gewisse Konvergenz bezüglich der verschieden intensiven Eingriffsarten, wie bei leichterem Unrecht eine ambulante Sanktion möglich ist, nur schwerstes Unrecht daher die Freiheitsentziehung erfordert. Schließlich bleibt im fortschreitenden Vollzuge der Maßregel zu bedenken, daß mit dem Verbrauch der Strafe durch vollständige Kompensation diese als Rechtsgrund der Freiheitsentziehung wegfällt.

5. Zusammenfassung Gewalttätigkeit des natürlichen Willens erfordert als vom Verbrechen zu unterscheidende Unrechtsart eine andere Form der Aufhebung. Sie ist zum einen im zvilrechtlichen Schadensersatz, zum anderen, dort wo die Familie überfordert ist, in polizeilich erzieherischem Zwang zu suchen. Wegen des Grundprinzips der bürgerlichen Gesellschaft, eine Ordnung selbstsüchtiger Personen zu sein, ist der pädagogische Zweck nur bedingt erreichbar, weil und soweit die Bürger aufgrund ihres Sicherheitsbedüfnisses dem Betreffenden diejenige Interaktion verweigern, in der er eine sitttlich-freie Haltung aufbauen könnte. Auch dort, wo der Zustand der gewalttätigen Unfreiheit selbstverschuldet ist, ist vorrangig mit erzieherischen Mitteln dem Übel zu begegnen. Die vormals aktuell vorhandene Vernünftigkeit des Betreffenden wird dadurch geachtet, daß die Anwendung pädagogischen Zwanges als Strafverbüßung angerechnet wird.

13 So § 67 Abs. 1 und 4 StGB. Dazu einleitend Jakobs, AT, 1983, 1/53 ff., insbes. 58 ID. w. N.; Jescheck, AT, 1988, S. 725 ff., 737 f. ID. W. N. Die 1986 neu eingeführte Beschränkung der Anrechnung auf 2/3 der Strafe ist jedoch willkürlich und dient nur dazu, Behandlungsdruck zu erzeugen. Kritisch auch Volckart, Maßregelvollzug, 1986, S. 17 f. 14 Die Befugnisse aus § 67 Abs. 2, 3 StGB sind daher nicht zu halten, so auch Jescheck, AT, 1988, S. 738 Fn. 67 ID. w. N.

III. Verbrechensreaktion in der Krise

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III. Verbrechensreaktion unter den Bedingungen der Krise

Anders als in der ständisch integrierten Gemeinschaft, in der die Stabilität der objektiven sittlichen Konstitution der Gesellschaft durch die im unmittelbaren Rechtsgehorsam verfestigte jeweilige subjektive sittliche Konstitution ihrer Glieder verbürgt ist, kennzeichnet den jetzt zu betrachtenden sozialen Zustand eine breite Bevölkerungskreise erfassende Lockerung ihrer rechtschaffenen Gewohnheit, s. 0.1. Kapitel D. IV. Die ökonomische Dynamik des Systems der Bedürfnisse ist es selbst, die eine ganze Klasse von Bürgern aus der ständischen Organisation ausschließt. Ihnen fehlt daher der Arbeits- und Lebenszusammenhang, der über die Habitualisierung von Anerkennungsleistungen die äußerlichen Faktoren setzt, die eine unreflektierte Bildung einer rechtschaffenen Haltung begünstigen. Wird eine gelockerte subjektive sittliche Konstitution jedoch zu einer Massenerscheinung, so schwächt dieses Phänomen zugleich auch die objektive sittliche Konstitution. M. a. W. nähert sich die vormals feste Geltung des Gesetzes im allgemeinen Bewußtsein (wieder) einem labilen Verhältnis, wie es für die intersubjektiven Beziehungen, die in Moralität und abstraktem Recht geschildert werden, kennzeichnend ist. Für die Organe des Verstandesstaates ergibt sich hieraus die Aufgabe, die in Auflösung begriffenen gesellschaftlichen Stabilisatoren durch andere institutionelle Mechanismen zu ersetzen. Es wird jetzt zu einem staatlichen Dauerauftrag, was in der Strafrechtspflege bisher punktuell am Einzelfall notwendig geworden war: die Untermauerung der Gesetzesgeltung durch sichernde Maßnahmen. Dieses Organisationsprinzip eines Notstaates führt Hegel im Abschnitt über die Polizei durch, s. o. 1. Kapitel D. IV. 2. Er schildert mithin nicht (nur) eine Teilfunktion in der Gesamtorganisation des Staates, sondern er greift m. E. darüberhinaus ein bestimmtes Verständnis von Staatlichkeit überhaupt auf, um es (absolut gesetzt) in allen seinen Konsequenzen zu entfalten: "Dies ist der Standpunkt des Sollens, welcher der Organisation des Notstaats angehört. Der Fichtesehe Staat nimmt Polizei als die Hauptsache an, und sucht diese besonders weit auszuspinnen; aber sein Staat ist der Notstaat." 1 Historisches Beispiel einer solchen Staatsauffassung ist zum einen der rationalistisch durchgeplante Staat des (aufgeklärten) Absolutismus und zum anderen derjenige der Französischen Revolution. Die gute Policey, die er anstrebt, umfaßt alle Lebensbereiche 2 • Man darf daher den Abschnitt nicht mit einer Darstellung der Aufgaben und Handlungsweise nur der Ordnungsbehörden gleichsetzen. Vielmehr sind jetzt alle staatlichen Organe einschließlich der Strafrechtspflege dem Prinzip untergeordnet zu denken, zur Sicherung des allgemeinen Wohles beizutragen. Zwar werden 1 So dezidiert in der Nachsehr Wannenmann, in: Ilting, S. 139. Hegel bezieht sich hier auf Fichtes Schrift, Der geschlossene Handelsstaat, 1800, in: Werke 3, S. 389 ff. Ähnlich auch die Kritik Erdmanns an Fichte, in: Vorlesungen über den Staat, 1851, S. 30. 2 Ausführlich H. Maier, Staats- und Verwaltungslehre, 1980, S. 92 ff.

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2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft

die Strafgerichte neben anderen Institutionen tätig, wie sie mit Bildungseinrichtungen, Armenfürsorge, Innen- und Wirtschafts verwaltung aufgezählt werden 3. Als Teilbereich des Notstaates stehen sie aber dennoch unter dem Postulat, das Recht der Besonderheit in seiner ganzen Breite als öffentliche Aufgabe zu verfolgen, wie es sich ja bereits als notwendiges Moment der Wiederherstellung des Rechts ergeben hat, s. o. 2. Kapitel C. I. Solchermaßen in die Pflicht genommen, tragen die Gerichte in ihrem Zuständigkeitsbereich dazu bei, das Wohl aller ebenfalls institutionell abzusichern. Es fragt sich nun, was an die Stelle der gesellschaftlichen Außenstabilisatoren einer rechtschaffenen Lebensführung treten kann. Die naheliegende Antwort einer staatlicherseits forcierten Reintegration der Armen, Arbeiter und Außenseiter hat sich ja bereits oben als innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft undurchführbar erwiesen, s. o. 1. Kapitel D. IV. 2. Somit bleibt zunächst kein anderes Instrumentarium übrig, als der aufgrund der gelockerten sittlichen Konstitution der einzelnen und der Allgemeinheit wahrscheinlicher gewordenen Kriminalität durch polizeiliche Kontrollen vorzubeugen 4. Die Präsenz der Polizei bzw. anderer staatlicher Einrichtungen, ferner deren Auftrag, mehr oder minder beständig mit einem Einschreiten zu drohen, kann nun allein noch ein Mittel abgeben, die Sicherheit eines nicht mehr unmittelbar wirkenden Rechtsgehorsams zu garantieren. Hier bricht aber in gleicher Weise ein Dilemma der bürgerlichen Gesellschaft auf: Um ihres fundamentalen Ordnungsprinzipes willen, dem Prinzip der selbständigen Entfaltung der Besonderheit, kann und darf die polizeiliche Sicherung nicht unbeschränkt erfolgen, ohne den Einzelnen in seiner legitimen Eigeninitiative völlig zu ersticken. Der Kampf gegen das Verbrechen verharrt so für Hegel auf dem Standpunkt des Sollens, wenn der Not- und Verstandesstaat meint, jegliches Böse verhindern zu können 5 • Als abstraktes Postulat drängt er mithin dahin, alles und jedes zu verbieten. Deshalb kommt es nach der einen Seite auf den jeweiligen historisch-sozialen Stand an gelebtem Guten an, wie streng die polizeiliche Aufsicht werden kann 6. Trotzdem folgt aus obigem Prinzip ebenfalls, daß es eine sichere Grenze des Einschreitens geben müsse, " ... denn sonst kann die Tätigkeit der Polizei ins Unendliche sich in den Gebrauch des Privateigentums einmischen." 7 Ist aber eine völlige Kontrolle nicht gestattet, so muß die Polizei Freiräume zulassen, wodurch der Zufälligkeit, ob Verbrechen entstehen, nicht entgegengewirkt werden kann. Dann aber kann die staatliche Überwachung der Bürger nicht mehr vollständig als Ersatz für einen gesellschaftlichen Stabilisator rechtschaffe3

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Rph. §§ 232 ff., S. 383 ff. s. Nachsehr. Wannenmann, in: Ilting, S. 140. So Nachsehr. Wannenmann, in: Ilting, S. 139. Rph. §§ 234 Zus., 236 Zus., S. 383 f., 385. Nachschr. Wannenmann, in: Ilting, S. 140.

III. Verbrechensreaktion in der Krise

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nen Lebenswandels fungieren. So ist das Problem des Verfalls fester sittlicher Konstitutionen institutionell nicht in den Griff zu bekommen. Es fällt mithin zum einen in die jeweilige moralische Kompetenz des Einzelnen, wie wirksam er sich vor den Verführungen ungeahndeter Kriminalität immunisieren kann. Zum anderen ist er nun weiterhin der entsittlichenden Dynamik der krisenhaften Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft ausgesetzt, s. o. 1. Kapitel D. IV. 1. Dies zeitigt auch Folgen für die Rolle, welche die Strafe unter derartigen gesellschaftlichen Bedingungen annimmt.

1. Der Wandel der Verbrechensreaktion Aufgrund der unaufhaltsamen Auflösung sittlicher Bindungen in weiten Kreisen der Bevölkerung steigert sich auch die Empfindlicheit der Allgemeinheit bezüglich der Verbrechen, s. o. I. Kapitel D. IV. 4. Dies wirkt sich nach zwei Richtungen aus: Zum einen schärft die allgemeine Labilität der Gesetzesgeltung i. V. m. gestiegener Unsicherheit für den Bestand einzelner Rechtsgüter das Unrecht bei jedem Delinquenten unabhängig davon, ob er sittlich weiterhin sozialisiert lebt oder nicht. Zum zweiten tritt nun aber in den Graden des sich verwirklichenden Handlungsunwertes eine augenfällige Differenzierung der Beschuldigten danach ein, ob sie aus desorganisierten Verhältnissen stammen oder nicht: Denn bei ersteren ist der Geltungsschein der Unrechtsmaxime aufgrund ihrer gelockerten oder gar fehlenden sittlichen Konstitution ungemein höher als bei letzteren. Dementsprechend müssen zwei verschiedene Entwicklungslinien bei der Frage unterschieden werden, warum unter krisenhaften Bedingungen Art und Umfang der Verbrechensreaktion steigt. Wo - wie im Notstaat - Haltungsbildung nur durch staatliche Überwachung hinreichend gesichert werden kann, dort müssen die Sanktionen der Strafrechtspflege sich schließlich noch in präventive Motivierungsinstrumente verkehren. Dies ist jetzt in Bezug auf die beiden Seite der Strafe zu entfalten. a) Veränderungen der objektiven Seite der Strafe Wie oben ausgeführt, besteht die objektive Seite der Strafe in der Restitution der Gesetze im allgemeinen Rechtsbewußtsein. In der ständisch integrierten Gesellschaft konnte dabei an eine in allen Bürgern weiterwirkende Haltung zur Rechtschaffenheit angeknüpft werden, was zu einer allgemeinen Milderung der Strafe führte, s. o. 2. Kapitel C. I. 3. Mit der um sich greifenden Auflockerung einer solchen Haltung schwindet ein solcher Bezugspunkt jedoch, der die vormals mögliche Milderung der Strafen erlaubte. Schon wegen der jetzt größeren Gefährlichkeit des Verbrechens folgt gemäß dem Vergeltungsprinzip notwendig eine Schärfung der Strafen im allgemeinen 8.

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Aber noch ein zweiter Aspekt ist geeignet, die Strafe. zu schärfen. Denn nach der Seite der Besonderheit der Strafidee (s. o. 2. Kapitel C. I. 1. und 2.) bedarf es zur Restitution des Rechts der Wiederherstellung seiner Geltung im reflektierenden subjektiven Willen aller Bürger. Die Strafrechtspflege muß hierfür einen der Gesellschaft angemessenen institutionellen Rahmen bieten. Dieser zeichnet sich durch zwei Elemente aus: Während die Öffentlichkeit der Rechtspflege die Teilhabe an der Affirmation der Vernünftigkeit des Gesetzes erlaubte, vermittelte das Sicherungsmoment der Strafe diese Bestärkung des Rechts in die Rechtsgütersphäre des Einzelnen, s. o. 2. Kapitel C. I. 2. b). Unter den Bedingungen der Krise wird aber der Rechtsgüterschutz zu einem drängenderen Problem, s. o. 1. Kapitel D. IV. 4. a). Dadurch müssen sich auch die Prioritäten im institutionellen Rahmen der Unrechtsnegation ändern. Als ersten Ausweg könnte man an die moralische Selbstbeherrschung jedes Einzelnen appellieren, am Fortbestand des Rechts nicht deshalb zu verzweifeln, weil der Rechtsgüterschutz öffentlich nicht mehr garantiert werde. Dies ist aber aus mehreren Gründen keine akzeptable Lösung: Zum einen nimmt die existentielle Bedeutung eines sicheren Vermögensbestandes für den Einzelnen in der Krise erheblich zu, 1. Kapitel D IV. 4. a). Seine Gefährdung dem Bürger zuzumuten und weiterhin auf seine unerschütterliche Gesetzestreue zu bauen, heißt jedem eine ins Heroische gesteigerte moralische Festigkeit zu unterstellen, die weder verallgemeinerungsfähig ist, noch dem Selbstverständnis der auf sich bezogenen konkreten Personen der bürgerlichen Gesellschaft entspricht 9. Ein solches staatliches Verhalten ist ebenso unrealistisch wie es sich einer institutionellen Antwort auf diese Frage entzieht. Wie diese Antwort unter den Bedingungen der sich an der polizeilichen Sicherungsmaxime ausrichtenden Organe des Notstaates ausfällt, läßt sich sinnvoll erst explizieren, wenn man ihren Status zu den Privatpersonen mit derjenigen Einstellung vergleicht, die das Opfer als moralisches Wesen zum Verbrecher einnimmt, s. o. 2. Kapitel B. 11. Dort transzendierte das Bestreben des Opfers, dem Täter wieder zur Einsicht in das Gute zu verhelfen, die Vergeltung als Maßprinzip, weil und soweit der Widerstand des Täters, autonom die böse Tat zu überwinden, nur mit äußerlichem Zwang zu brechen war. Die Berechtigung hierzu entnahm das Opfer seinem Selbstverständnis als moralischem Wesen, dem es wesentlich darum geht, daß das Recht nicht nur an sich, sondern auch im besonderen Willen gelten müsse. In dieser Einstellung unterscheidet sich das Opfer vom Täter, der auf seiner Ausführlich M. Köhler, Strafbegründung und Strafzumessung, 1983, S. 51 ff. Darauf weisen Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, S. 306, und Ottmann, Individuum und Gemeinschaft, 1977, S. 306 f., unter Verweis auf Rph. § 150, S. 298 ff. hin. Hinterfragt wird dieses Verständnis von Sitte bei Hegel erst im äußeren Staatsrecht, was hier nicht weiter zu verfolgen ist, s. Rph. § 324, S. 491 ff. 8

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Unrechtsmaxime insoweit verharrt, als er seine subjektive Einzelheit verabsolutiert. Kurz, die Transzendierung der Vergeltung als Maßprinzip fußt hier auf einem bestimmt gearteten asymmetrischen Verhältnis zwischen zwei moralischen Wesen, wobei eines von ihnen sich dadurch auszeichnet, daß es Einsicht in die Notwendigkeit besitzt, die Grundnorm des Guten zu restituieren. Ein ähnliches Verhältnis herrscht nun aber zwischen dem sozial desorganisierten Teil der Bevölkerung und anderen Gliedern der bürgerlichen Gesellschaft, namentlich auch denen des allgemeinen Standes. Es entsteht jetzt auf der objektiven Seite der Strafe das Problem, wie vermittels der Strafe in der Öffentlichkeit die Geltung der Gesetze wiederhergestellt werden kann, wenn sich weite Kreise durch eine gelockerte sittliche Konstitution auszeichnen. Wie dieselbe (allerdings durch die Straftat) geschwächte rechtschaffene Haltung beim Verbrecher es diesem bereits erschwerte, das Recht in seiner Richtigkeit vor seinem subjektiven Willen zu affirmieren, so gilt dies auch hier. Anders als in der ständisch integrierten Gesellschaft wird dies in der Krise aber zum Massenphänomen. Folglich ist hier nur im ständisch weiterhin integrierten Teil der Bevölkerung ein geistiger Mechanismus am Werk, der die Vertiefung der Gesetzesgeltung in moralischer Reflexion einen inneren Halt verleiht. Bei sozial desintegrierten Personen fehlt dieser Stabilisator, so daß nur außergewöhnliche moralische Anstrengung diesen Mangel kompensieren und damit die Teilhabe am Prozeß der Unrechts aufhebung sichern kann. Damit ist aber auch die Wiederherstellung des Rechtsbewußtseins im sittlich sozialisierten Kreis der Bevölkerung in Frage gestellt: Wenn man nicht mehr davon ausgehen kann, daß in jedem Mitbürger eine fortbestehende Haltung zur Rechtschaffenheit die Vernichtung des Geltungsscheins der Unrechtsmaxime flankiert, dann setzen sich die Defizite in der Teilhabe an einer gesicherten allgemeinen Rechtsüberzeugung auch hier fort. Die schlechte Verfassung sozial desorganisierter Personen läßt sie auf ihrem gegenüber den anderen niederen Bewußtseinsstand verharren, ähnlich wie den Delinquenten im moralischen Verhältnis zum Opfer, der sich dort dem Prozeß der Unrechtsaufhebung versagt. Neben der gesteigerten Delinquenzbelastung, die das Unrecht einzelner Taten erhöht und nach dem Vergeltungsprinzip die Strafe schärft, tritt nun ein weiterer Tatbestand, der die objektive Seite der Strafe modifiziert: Die objektive Seite der Strafe muß nun institutionelle Bedingungen schaffen, die anstelle der in weiten Teieln verloren gegangenen rechtschaffenen Haltung den Prozeß der Unrechtsaufhebung stabilisieren helfen. Weil eine Reintegration der desorganisierten Personen in gelungene familiäre und gesellschaftliche Bezüge ebensowenig dem Notstaate möglich ist wie die totale Überwachung der gesamten Bevölkerung, drängt die polizeiliche Maxime dahin, nun die Strafe zu einem Instrument der Disziplinierung umzugestalten: Furcht vor Strafe stellt jetzt das Surrogat dar für die verloren gegangenen sittlichen Bindungen, um zumindest äußere Konformität erreichen zu können. Aufgrund der Krise wird also die Vergeltung in der objektiven Seite der Strafe durch den Abschreckungsgedanken überformt.

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Abschreckung ist also dort das Komplementärphänomen zum moralischen Besserungszwang, wo sich die Strafe in einer krisenhaften Gesellschaftswirklichkeit als Verbrechensnegation behaupten soll. Endzweck der Strafe bleibt zwar weiterhin, der sich habitualisierenden Reflexion auf die Vernünftigkeit der Gesetze einen institutionellen Rahmen zu bieten. Erstes Mittel dazu ist aber jetzt, Furcht vor Strafe hervorzurufen, um dem Einzelnen einen guten Grund zu mindestens äußerem Rechtsgehorsarn zu bieten. Desorganisierte Personen so von Verbrechen abzuhalten, stellt so die notwendige Bedingung dar, in den ständisch integrierten Mitbürgern das Normvertrauen zu festigen, weil diese sich nun äußerer Konformität sicher sein können. Zweites Mittel ist der Verurteilte, an dem diese Strafe vollzogen wird. Hier ist also der historisch-gesellschaftliche Ort zu sehen, in denen eine rein generalpräventive Straftheorie wirkmächtig wird. Ihr Ziel ist zwar weiterhin, das Rechtsbewußtsein zu stärken. Hierin liegt eine Teilidentität zu einer absoluten Strafbegründung, die sich konkret auf die Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft bezieht, s. o. 2. Kapitel C. I. 1. und 2. b). Als Mittel dieser positiven Generalprävention kann aber nurmehr noch die Abschreckung eingesetzt werden. Sie wird danach letztlich Art und Ausmaß einer solcherart begründeten Strafe bestimmen müssen, also durch negative Generalprävention ausgefüllt werden. Wie noch näher zu zeigen ist, wird sie deshalb inhaltlich unbestimmbar IO • Ungeachtet der sogleich noch zu problematisierenden Begründung einer solchen Strafauffassung ist im hier ausgeführten systematischen Zusammenhang folgendes hervorzuheben: Mit der Anerkennung der Abschreckung als Strafzweck kommt es auch im Verhältnis zur Allgemeinheit der rechtstreuen Bürgern zu einer Verkehrung der Strafidee, die hier nun institutionelle Dimensionen annimmt: Auf der objektiven Seite der Strafe wird die Abschreckung als Maßprinzip verabsolutiert. Das Vergeltungsprinzip sinkt dagegen in seiner Bedeutung darauf herab, zum einen eine strafwürdige Tat als Anlaß der Bestrafung zu fordern 11 und zum anderen das Mindestmaß dessen zu bestimmen, was zur Restitution des Rechts erforderlich ist. Denn das Vergeltungsprinzip markiert ja den Geltungsschaden, der objektiv im Verbrechen verwirklicht ist, der also das stets aufzuhebende Unrecht darstellt. Ansonsten überformt den Vorgang der Strafzumessung die Frage, wie groß die Einbuße sein muß, damit in der Allgemeinheit der Eindruck entsteht, kein verständiges Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft werde das Risiko der Bestrafung eingehen. Indizien dafür bilden die Motive, welche (gewöhnlicherweise) mit dem abzuurteilenden Delikt verfolgt werden. Immer dann, wenn der Wert IO Zu generalpräventiven Strafbegründungen vgl. Jakobs, AT, 1983, l/l ff., 27 ff. m. w. N. Der Versuch Seelmanns, Hegels Straftheorie an die Theorie positiver Generalprävention anzunähern, ist hier ebenfalls zu nennen, in: JuS 1979, S. 691. 11 Die Folgen des Abschreckungsgedankens für die Einschränkung prozessualer Rechte, wie das Verbot von Verdachtsstrafen (s. o. 2. Kapitel C. I. 2. a), sollen nicht weiter verfolgt werden.

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dessen, was mit der Tat erreicht werden sollte, die Einbuße übersteigt, welche schon vom Vergeltungsprinzip gefordert wird, ist die Strafe zu schärfen. Man sieht leicht, wie die Machtfülle der Gerichte so sich ins Uferlose erweitert. Hegel macht dies selbst deutlich: " ... es ist daher keine Grenze an sich vorhanden, was schädlich oder nicht schädlich, auch in Rücksicht auf Verbrechen ... sei ••• " 12 Ein solches Denken liefert sich gänzlich an die jeweiligen historischen Zustände aus, an den "Geist der Verfassung" bzw. die "Gefahr der Zeit" 13. All' dies sind Konsequenzen aus der notwendig gewordenen Funktionalisierung der Strafrechtspflege für die polizeilichen Aufgaben des Notstaates. Je mehr familiäre und gesellschaftliche Subsysteme nicht mehr in der Lage sind, im alltäglichen Leben Rechtschaffenheit als feste allgemeine Handlungsweise zu garantieren, desto eher und umfangreicher muß auf derartige Instrumente zurückgegriffen werden. Ähnlich wie in der Moralität resultiert die Verkehrung der Strafidee aus einer, jetzt allerdings kollektiv wirksamen Verstellung des konkret Richtigen: Die Strafrechtspflege hat sich zur Aufgabe gemacht, die Geltung des Rechts im allgemeinen Bewußtsein wiederherzustellen. Aufgrund der mit der Krise einhergehenden Verschlechterung der sittlichen Konstitution vieler Bürger herrscht unter ihnen jedoch eine Trägheit in Bezug auf die Affirmation der Vernünftigkeit der Gesetze. Damit fällt eine Bedingung der Restitution des Rechts im Bewußtsein auch derjenigen Bürger, die weiterhin ständisch integriert sind. An ihre Stelle muß jetzt die Tätigkeit der Strafrechtspflege treten, das Verhalten desorganisierter Personen durch Furcht vor Strafe zu stabilisieren. Denn andere Mittel, den Rechtsgehorsam unter desorganisierten Kreisen zu erreichen, stehen der Strafrechtspflege hier nicht zur Verfügung. Um also den integrierten Bürgern die Teilhabe am Prozeß der öffentlichen Unrechtsnegation zu gewährleisten, ist die Abschreckung der desorganisierten Kreise erforderlich. Damit wird aber hier die Vertiefung des Rechtsgehorsam nicht durch die Wahrnehmung der öffentlichen Aufgabe flankiert, den Schutz der Rechtsgüter des Einzelnen sicherzustellen; vielmehr soll Konformität dadurch erzwungen werden, daß durch Strafe Furcht vor dem Verlust von Rechtsgütern erzeugt wird. Das Gesetz wird nicht als Freiheitsgarantie, sondern als drohende Unfreiheit affirmiert. Die durch die Abschreckungsstrafe erzeugte Verhaltenskonformität ist kein Dasein der Freiheit mehr. Wie das Opfer in der Moralität mit der Besserung letztlich den subjektiven Willen des Verbrechers mißachtet, so wird durch die Abschreckung schließlich die Sicherheit der Rechtsgüter desorganisierter Personen (das Recht ihrer Besonderheit) zum Mittel herabgewürdigt, Bedingung für die Rechtsrestitution in den ständisch integrierten Kreisen zu sein. 12 Rph. § 234, S. 383. Die immanente Maßlosigkeit der negativen Generalprävention arbeitet E. A. Wolff sehr schön heraus, in: ZStW 97, 1983, S. 797 ff. Ebda., S. 803 f. beweist er, wie positive Generalprävention in ihrer Mittelwahl letztlich dem selben Problem gegenübersteht. 13 Rph.§ 234 Zus., 383.

22 Klesczewski

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Die bisherigen Ausführungen beanspruchen einen ähnlichen Status, wie diejenigen zu den Präventionstheorien in der Moralität, s. o. 2. Kapitel B. 11. Hegel hat sich bekanntlich von der Feuerbachschen Theorie des psychologischen Zwanges deutlich abgegrenzt 14: Wer sich befugt ansehe, Verbrechens mittels Strafdrohungen zu verhüten, der setze den Menschen als Unfreien voraus. Denn er glaube, diesen in seinem Tun an ein auf materielle Güter fixiertes Kosten / Nutzen-Kalkül binden zu können 15. Nur dann erhalte die Rede von der Strafe als stärkerer Triebfeder einen Sinn. In Wahrheit hänge die Freiheit des Menschen in ihrem Grundsatze nicht an solcherart Glückseligkeit, könne sich vielmehr von ihr losreißen. Wo sie sich äußerlich darauf eingeschränkt finde, dort rebelliere sie eher gegen diese Begrenzungen. Auch hier müssen diese Ausführungen in ihrer Doppelfunktion gesehen werden: Zm einen kritisieren sie infolge der Ablehnung einer utilitaristischen Straftheorie den falschen Ausgangspunkt. Zum anderen weisen sie darauf hin, daß zur Wirklichkeit der Strafidee gehört, sich gegen derart prinzipienleere Strafpraxis realitätsmächtig durchzusetzen. Ein polizeistaatliches Strafverständnis ist aber die Stelle, wo eine solche Vorstellung handlungsrnächtig wird. Als geschichtlichgesellschaftliches Phänomen ist sie demnach ebenfalls ernstzunehmen, auch wenn eine immanente Dialektik sein Ungenügen aufzuweisen vermag, s. u. Schlußkapitel. Darzustellen bleibt allein, warum innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft an einem bestimmten Punkte der Abschreckungsgedanke im Bewußtsein aller Bürger eine wirkmächtige Realität werden kann. Prima facie scheint der Umstand, daß auch das System der Bedürfnisse ein Dasein der Freiheit ist, dagegen zu sprechen, daß seine Glieder sich in dieser Weise unfrei behandeln lassen. Der eine oder andere mag sich ja auch dagegen empören. Gemäß dem Grundprinzip der bürgerlichen Gesellschaft, eine Ordnung selbstsüchtiger Zweckverfolgung zu sein, steht jedoch in der überwiegenden Mehrheit die Orientierung an einem sicheren Bestand von Glücksgütern als Manifestation ihres Freiraumes weit im Vordergrund, s. o. 1. Kapitel D. IV. 4. a). Ihre Vernunft ist mithin gerade noch befangen im Streben nach materiellem Nutzen. Daraus folgt, daß zum einen der Rechtsgüterschutz vorrangiges Interesse der Bürger zumindest dort wird, wo die Verhältnisse einen stabilen, haltungsmäßig verfestigten Konsens gegenseitiger Anerkennung auflösen. Zum anderen kann hier, wo die Vernunft sich bloß an Gütern orientiert, die Furcht vor ihrem Entzug etc. in derartig disponierten Menschen ein Motiv erzeugen, sich äußerlich rechtskonform zu verhalten. Auf einem anderen Blatt steht, inwiefern sich diese Bürger in der Innerlichkeit gegen solche Zwänge moralisch entrüsten. Derartige Reflexionen stellen innerhalb des Systems der Bedürfnisse deshalb kaum einen handlungsleitenden Beweggrund dar, weil und soweit die allgemein eingeübte Verhaltensweise mit ihrem als 14

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Rph. § 99 Zus., S. 190. So auch E. A. Wolff, ZStW 97, 1985, S. 799.

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vernünftig vorausgesetzten Kalkül seine Verwirklichung behindern. Sicherlich offenbart sich hierin eine unzureichende Aktualisierung derjenigen Freiheitspotenzen, die jedem Menschen innewohnen. Allein ist die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft auf diesen Bereich beschränkt. Erst im substantiellen Staat kommt der Bürger bei Hegel zum vollen Bewußtsein der Freiheit, s. o. l. Kapitel D. I. Festzuhalten bleibt, daß neben der Strafschärfung, die auf einer gesteigerten allgemeinen Delinquenzbelastung als unrechtserhöhendem Moment gründet, ein zweiter Aspekt Strafe schärfen kann: Aufgrund der in weiten Kreisen gelockerten sittlichen Konstitution ist die allgemeine Teilhabe am Prozeß der Unrechtsaufhebung gefahrdet. Um dennoch in der gesamten Öffentlichkeit einen stabilen Rechtsgehorsam herbeizuzwingen, sieht sich die Strafrechtspflege genötigt, mit abschreckenden Strafen das schuldangemessene Strafquantum zu überspringen. b) Veränderungen der subjektiven Seite der Strafe Ähnlich wie bei der objektiven Seite der Strafe differenziert sich auch die Veränderung in der subjektive Seite in zwei Aspekten aus: Zum einen kommt es gemäß eines gesteigerten Handlungsunwertes spiegelbildlich zu einer Schärfung der Strafe; zum anderen steigert hier die Verabsolutierung des Besserungsprinzips die Strafe über das schuldangmessene Quantum hinaus. Zunächst führt der gesteigerte Handlungsunwert einer Straftat gemäß dem Vergeltungsprinzip zu einer Strafschärfung. Bei einem Täter, dessen subjektive sittliche Konstitution gelockert oder gar aufgehoben ist, bemißt sich der Geltungsschein einer selbstgesetzten Unrechtsmaxime ungleich höher als bei jemandem, der in sittlich geordneten Verhältnissen lebt. Insoweit steigert sich zwar nicht notwendig die Schuldintensität eines derartigen Verbrechens. Wer jedoch im Wissen um das Fehlen innerer oder äußerer Stabilisatoren für eine rechtschaffene Haltung ein Verbrechen begeht, der weiß damit auch um die ungleich größere Bedeutung, welche die Unrechtsmaxime für seine späteren Lebensentscheidungen annimmt. Ein solcher Täter kann schon nach dem Vergeltungsprinzip nicht an der Milderung der Strafen teilhaben, die aufgrund einer fortbestehenden subjektiven sittlichen Konstitution möglich ist, s. o. l. Kapitel D. IV. 4. b). Im Verhältnis zu integrierten Delinquenten muß er also eine härtere Strafe erhalten. Wie bereits in der Verbrechenslehre ausgeführt, geschieht dem Betroffenen kein Unrecht, weil sich ihre gesamten Rechtsbeziehungen auf abstrakte Verhältnisse reduziert haben. In diesen ist eben darum lediglich das abstrakte Vergeltungsprinzip anwendbar, das auf mildernde Unterscheidungen, wie sie bei ständisch integrierten Personen möglich sind, keine Rücksicht nehmen kann. Dennoch liegt hier eine eklatante Ungleichbehandlung unterhalb dieser Ebene vor, wenn man diese Strafen zu denen in Beziehung setzt, die gegenüber sittlich sozialisierten Bürgern verhängt werden. Dabei beruht die Differnzierung allein auf dem Faktum, daß der Geltungsschein der selbstgesetzten Unrechtsmaxime bei Tätern, 22*

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deren sittliche Konstitution sich aufgelöst hat, ungleich höher ist, als bei Personen, deren rechtschaffene Haltung innerlich und äußerlich stabilisiert wird. Halten diese Zumessungserwägungen sich noch strikt daran, was das Vergeltungsprinzip vorgibt, so macht sich unter den Bedingungen der Krise bald ein zweiter Gesichtspunkt geltend. Unabhängig davon, was in der Unrechtsmaxime als manifest aufhebungsnotwendig gesetzt ist, wird nun die Strafe in Verkehrung ihrer Idee (s. o. 2. Kapitel B. 11. 2.) wieder auch danach bestimmt, was zur Erzwingung des Rechtsgehorsams des Delinquenten erforderlich ist. Dabei schält sich eine Tendenz heraus, die Grenzen des Schuldprinzips zu überschreiten. Dies geschieht erst so, daß Stra/arten gewählt werden, die den Zwang anders als den Rechtszwang auch auf moralische und pragmatische Pressionen ausweiten. Der nächste Schritt liegt dann darin, das Schuldprinzip als Zumessungskriterium abzuschaffen. Die Verabsolutierung des Besserungsdenkens gipfelt schließlich in der Verneinung des Schuldprinzips als Stra/tatvoraussetzung. Leitender Gesichtspunkt ist stets die durch die polizeiliche Maxime geforderte, dem Schuldgedanken entgegengesetzte Vorstellung, daß nach der subjektiven Seite der strafrechtlichen Sanktion eine Restitution des Rechts auch im Bewußtsein des Täters notwendig ist. Die fehlende Bereitschaft des Täters hierzu erzeugt danach solange ein Recht zu besserndem Zwang, wie im Delinquenten sich noch keine hinreichend wirksame und gefestigte rechtschaffene Haltung ausgebildet hat. Liegt es zwar in der Intention der Strafrechtspflege, den Täter zu einer sittlichen Person zu bilden, so steht aber hinter der fortschreitenden Verabsolutierung des Besserungsdenkens zugleich auch eine fortschreitende Mißachtung des subjektiven Willens des Täters, soweit seine individuelle Zustimmung zu einzelnen Behandlungsmaßnahmen als unmaßgeblich erklärt wird. Die Verabsolutierung gipfelt schließlich darin, daß ein bestimmt gearteter verbrecherischer Wille nicht mehr als Äußerung eines Vernünftigen verstanden wird, sondern als pathologische Erscheinung (s. o. 1. Kapitel D. IV. 5.), der ja per se kein etwa zu achtender subjektiver Wille zugrunde liegt. Mag ein solches Verhalten auch noch so sehr vom Wohlwollen des jeweils Handelnden getragen sein, stets geht mit ihm die Anmaßung einher, alleiniges Subjekt der Unrechtsaufhebung sein zu wollen. Das asymmetrische Verhältnis zum Täter, das eigentlich aufgehoben werden soll, wird so perpetuiert. Das Grundübel, mit dem die Strafrechtspflege konfrontiert wird und welches sie zur Verabsolutierung des Besserungsdenkens treibt, besteht im folgenden: Es ist nicht allein der Umstand, daß die schlechte sittliche Konstitution vieler Verbrecher den Handlungsunwert ihrer Straftaten erhöht; darüberhinaus gefährdet diese auch von sich aus eine autonome Teilhabe am Prozeß der Unrechtsaufhebung. Dies gilt sowohl für ihre innere wie ihre äußere Seite, welche letztere ebenso von Verarmung oder Unselbständigkeit gekennzeichnet ist wie von dem Verlust familiärer Bindungen. Beide Faktoren je für sich und in ihrem Wechselspiel begünstigen eine Lage, in der eine freiwillige Annahme der Lasten, die zur

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Aufhebung des verschuldeten Unrechts angemessen sind, mehr und mehr unmöglich gemacht wird. Sie fördern zugleich in den Organen der Strafrechtspflege die Einstellung, einzig noch taugliche Instanz zu sein, die Restitution des Rechts auch auf der subjektiven Seite der Strafe umzusetzen. Dann aber ist in institutioneller Dimension die Situation erreicht, in der es zur Verkehrung der Strafidee kommt. Der geschilderte Prozeß der Auflösung des Schuldprinzips ergreift nun jede der oben aufgeführten Strafarten. Damit geht ihre innere Einheit verloren. Mithin werden auch die Kriterien unbrauchbar, nach denen sie als gestufte Verbrechensreaktionen einzusetzen sind. Diese Entwicklung ist nun im einzelnen darzulegen. c) Die Auflösung eines am Schuldausgleich orientierten Strafsystems Die Veränderungen sowohl auf der objektiven Seite wie auf der subjektiven Seite der Strafe haben nun auch Auswirkungen auf die Ausgestaltung der einzelnen Strafarten. Das zeitigt unterschiedliche Folgen: Denn nach der objektiven Seite tritt - wie gezeigt - bei jedem Straftäter unabhängig von seiner sozialen Herkunft eine doppelt motivierte Schärfung der Strafe ein: Zum einen führt die gesteigerte Delinquenzbelastung über das Vergeltungsprinzip zu einer höheren Strafe. Zum anderen wirkt der Abschreckungsgedanke strafsteigernd. Anders liegt es bei der subjektiven Seite der Strafe: Hier trifft die Strafschärfung stets nur denjenigen Täter, der sozial desorganisiert lebt. Dies gilt sowohl für die Ahndung des höheren Handlungsunwertes der Tat über das Vergeltungsprinzip als auch für die Modifikationen, die durch das Besserungsdenken eintreten. Letzteres soll hier im Vordergrund stehen, um die Tendenz immer stärkerer Ungleichbehandlung integrierter und desorganisierter Tätergruppen zu demonstrieren. Wie später (s. u. unter 4.) dann zu zeigen ist, hat dies auch Folgen für die objektive Seite der Strafe. Verarmung und materielle Verelendung weiter Kreise führen für sich schon dazu, daß bei letzteren bestimmte Formen der Wiederherstellung des Rechts mehr oder minder unmöglich werden: Zunächst setzt das Angebot freiwilliger Wiedergutmachung im vorprozessualen Vergleichsverfahren die finanzielle Leistungsfähigkeit des Beschuldigten voraus, die hier fehlt. Aber auch das Anerbieten, den Schaden mit eigenen Händen zu beheben, kann hier als Surrogat nur dort eingesetzt werden, wo der Täter zur Reparatur fähig ist. Wegen der hochspezialisierten Arbeitsteilung wird dies aber selten der Fall sein. Sonstige Arbeitsleistungen bleiben aus schon oben genannten Gründen problematisch: Das Opfer wird sie häufig nicht brauchen können. Für Dritte, die sie gegen Geld, das dann dem Opfer zustünde, empfangen könnten, haben sie aufgrund des Überangebotes an Arbeitskräften nur geringen Wert. Bei geringem Einkommen scheidet daher die freiwillige Wiedergutmachung trotz Reue des Beschuldigten aus.

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Mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit macht auch die Verhängung von Geldstrafe zum Problem: Insofern das Einkommen des Verurteilten das pfändungsfreie Minimum nicht übersteigt, greift diese Sanktion ins Leere. Liegt aber strafwürdiges Unrecht vor, so verlangt das Vergeltungsprinzip unerbittlich, daß eine Sanktion erfolgen müsse. Ein Absehen von Strafe aus Billigkeitsgründen ist nicht nur deshalb nicht möglich, weil die Restitution des Rechts im allgemeinen Rechtsbewußtsein (und dem des Täters) in Frage gestellt wäre. Vielmehr würde es auch eine Privilegierung des Täters gegenüber Vermögenden bedeuten, die schon nach den Kriterien des abstrakten Rechts als Ungleichbehandlung anzusehen wäre. Ebenso wie im vorprozessualen Vergleichsverfahren könnte die Verpflichtung zu einer Dienstleistung eine denkbare Alternative darstellen. Surrogat der Geldeinbuße wäre der mit der Arbeit erwirtschaftete Gegenwert. Allerdings führt die Verurteilung zu Arbeitsleistungen nun zu einer Ungleichbehandlung gegenüberdem solventen Geldstrafenschuldner. Denn weil die Arbeitsstrafe die spezifische Dienstleistung nunmehr unter Zwang abfordert, greift sie über die Entäußerung wertschaffender Arbeit hinaus auch auf den subjektiven Willen des Täters über, s. o. 2. Kapitel C. I. 3. b) bb): Die individuell nie gleichstarke, subjektive Anwesenheit wird ebenfalls Gegenstand der Strafe. Dies führt entweder dazu, daß über das geschuldete Strafmaß hinaus nun noch auf andere Rechtsgüter des Delinquenten zugegriffen wird; oder es kommt zur Unbestimmbarkeit der Sanktion. Denn es ist prinzipiell nicht möglich, diesen zusätzlichen Beitrag des Verurteilten durch anteilige Kürzung des zu erbringenden Geldwertes in Rechung zu stellen. Die subjektiv notwendige Anstrengung bei einzelnen Arbeiten ist individuell nicht annähernd gleichsetzbar, mithin auch nicht in Geldwert auszudrücken. Schließlich ist aber auch die Wertschöpfungskraft der erzwungenen Arbeit als solche in der ökonomischen Krise in Frage gestellt: Auch hier schlägt das Überangebot der Arbeitskräfte durch, s. o. I. Kapitel D. IV. 3. Deutlich wird dies in der Praxis darin, daß für die Betroffenen Arbeiten gesucht werden, wo kein Überangebot besteht und zu denen jedermann ohne weiteres fähig ist. Dies läuft aber auf Tätigkeiten hinaus, die sozial wenig geachtet sind und deren geringe materielle Wertigkeit sogleich ins Auge springt 16. Wenn aber die Funktion der Arbeitsstrafe, Surrogat der Geldstrafe zu sein, damit leergelaufen ist, so schiebt sich unweigerlich ein anderer Zweck in den Vordergrund: Sinn der Arbeitsstrafe kann es jetzt nur noch sein, seine sittliche, pragmatische Haltung zu bessern, s. o. 2. Kapitel C. I. 3. b) bb). Auch hier zeigt sich deutlich, wie sich unter der Hand Strafe in ein Instrument der Besserung verwandelt, das nach ganz anderen Maximen angewandt werden muß. Zugleich tritt hier dasselbe Phänomen auf wie bei der Verkehrung der Strafidee in der Moralität: Das Besserungsdenken transzendiert das Schuldprinzip. 16

Nachweise und Kritik bei M. Köhler, GA 1987, S. 145 ff.

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Wo man auf Bewährungsstrafe als Ersatz für die Geldstrafe zurückgreifen will, ist man mit ähnlichen Problemen konfrontiert: Zunächst ist in Frage zu stellen, ob man Bewährung überhaupt als Surrogat der Geldstrafe verhängen kann. Denn letztere dient strafbegrifflich ja hauptsächlich dazu, wo erforderlich, neben der Bewährung die negative Seite der Strafe zu intensivieren, s. o. 2. Kapitel C. I. 3. b) bb). Deshalb kann man die Geldstrafe nicht ohne Verstoß gegen das Vergeltungsprinzip durch die Bewährungsstrafe ersetzen. Die Anwendung der Bewährungsstrafe wird aber noch aus einem anderem Grund problematisch. Während bei ständisch integrierten Personen die Verhängung der Bewährungsstrafe im Prinzip auch in der Krise der Gesellschaft noch möglich bleibt, führt die gelockerte subjektive sittliche Konstitution bei desorganisierten Delinquenten dazu, daß der Handlungsunwert der Tat höher zu veranschlagen ist. Gemäß dem Vergeltungsprinzip könnte daher die Bewährungsstrafe bereits eine zu milde Reaktion geworden sein. Aber dies muß nicht stets der Fall sein. Vielmehr kommt es darauf an, wie stark die rechtschaffene Gewohnheit des Beschuldigten bereits durch seine soziale Lage in Mitleidenschaft gezogen und deshalb der Geltungsschein der Unrechtsmaxime erhöht ist. Anders als bei dem scharfen Schnitt der Vermögenslosigkeit sind hier die Übergänge fließend. Zwischen demjenigen Strafnmigen, der aus sittlich stabilen Bezügen stammt, und demjenigen, der zum "Pöbel" herabgesunken ist, lassen sich vielfaltige Stufen der Verarmung und geistigen Verelendung ausmachen, s. o. 1. Kapitel D. IV. Doch läßt sich auch hier ein relativer Fixpunkt angeben: Je weiter der Betreffende von der Eingliederung in die ständische Organisation entfernt ist, desto weniger hat er an deren Wohltaten teil. Namentlich partizipiert er nicht mehr an dem intersubjektiven Mechanismus wechselseitiger, habitualisierter Anerkennung. Stattdessen sind diejenigen Bürger, die aus der ständischen Integration herausgefallen sind, auf sich selbst gestellt, wenn sie eine derartige rechtschaffene Haltung ausbilden wollen. Dies gilt umso mehr, je stärker ihre familiären und gesellschaftlichen Bindungen um sie herum verfallen. So mag ein Arbeiter noch eher in der Lage dazu sein, weil er immerhin noch, wenn auch gemindert, am Arbeits- und Lebensprozeß teilhat, während verarmte Arbeitslose auch auf diese Stützen noch verzichten müssen. Tendenziell erhöht sich daher der Geltungsschein der Unrechtsmaxime und damit der Handlungsunwert der Straftat mit der fortschreitenden Distanzierung aus den Bindungen einer ständisch integrierten Gesellschaft. Wenn dennoch Bewährung gewährt wird, so folgt aber schon aus dem eben Dargelegten, daß diese Strafe intensiver ausfällt, soweit der Verurteilte aus desolaten sozialen Verhältnissen entstammt. Beruhte die Verhängung von Weisungen, namentlich der Bewährungshilfe, darauf, daß der Delinquent sich durch eigene Akte von seinen inneren und äußeren Bindungen gelöst hat, so reicht nun das Handeln in dem Wissen aus, wegen der eigenen sozialen Lage für den Geltungs-

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schein der eigenen Unrechtsmaxime besonders anfallig zu sein, um den Handlungsunwert zu steigern. Schon aus dem Vergeltungsprinzip heraus sind daher hier eher Weisungen angezeigt. Mithin tritt auch hier unterhalb der abstrakt rechtlichen Gleichbehandlung eine Diskriminierung ein, die allein darauf zurückzuführen ist, daß ein Teil der Delinquenten nicht mehr die sozialen Voraussetzungen erfüllt, die auf der subjektiven Seite der Strafe die Strafmilderung erlaubte. Genau wie bei den anderen, bereits geschilderten Sanktionen setzt sich aber auch hier ein zweiter Aspekt strafschärfend durch: Der Sinn der Bewährungsstrafe, die Wiederherstellung des Rechts dadurch zu erreichen, daß man den Delinquenten weiterhin der habitualisierenden Kraft des Arbeits- und Lebenszusammenhanges aussetzt, wird zunehmend dann in Frage gestellt, wo ein Teil der Bevölkerung gar nicht mehr an den Wohltaten sittlich stabiler Strukturen partizipiert. Entstammt ein Straftäter depravierten Verhältnissen, kann er sich in ihnen nur schwerlich als rechtstreuer Bürger bewähren. Denn die Außenstabilisatoren seiner inneren Einstellung zum Recht bestehen hier gerade nicht mehr. In ständisch strukturierte Lebensbereiche kann er aber aus mehreren Gründen nicht mehr zurückversetzt werden: Zum einen ist er ihnen fremd, zum anderen werden ihn die anderen dort nicht als ebenbürtig akzeptieren. Ihr Interesse wird gerade in der Krise dahin gehen, für das eigene Vermögen und die eigene Person riskante intersubjektive Kontakte wie denen zu Straffälligen nach Möglichkeit zu meiden. So stellt sich auch die Frage, wie staatlicherseits Ersatz für diejenigen gesellschaftlichen Außenstabilisatoren geschaffen werden kann, die durch die Krise verfallen sind. Weisungen allein werden dabei häufig nicht ausreichen. Sie führen zwar dazu, daß der Straftäter gemahnt wird, die Kontakte zu meiden, die in ihm die Neigung zu einer kriminellen Lebensweise nähren können. Da sie aber, wie gezeigt, dem Verurteilten kein alternatives Handlungsfeld in gelungenen Bezügen eröffnen können, werfen sie den Straffälligen auf seine moralische Kompetenz zurück, ohne sein Bemühen durch neue Bindungen fördern zu können. Indem Weisungen die besonderen moralischen Anstrengungen sanktionieren, gleichzeitig aber die allgemeine Ablehnung des Täters durch sozial Integrierte voraussetzen, setzen sie den Straffalligen aber zugleich in einen Status der Isolierung. So kommen sie aber einer in der Unrechtsmaxime angelegten Tendenz zur Vereinzelung noch entgegen. Will man diese Konsequenz vermeiden, wird die Bewährungshilfe unabhängig von der Höhe des verwirklichten Unrechts zur so gut wie unausweichlichen Ergänzung der Bewährungsstrafe dort, wo der Beschuldigte nicht aus sittlich stabilen Bezügen kommt. Diese Hilfe, schlechten sozialen Verhältnissen zu entfliehen, verkehrt aber unter der Hand ihren Sinn: Weil sie nun den einzigen Boden bietet, in dem der Verbrecher sein Bemühen nach Festigung der eigenen sittlichen Konstitution stabilisieren kann, perpetuiert sie sich solange als einziges sittliches Verhältnis zum Täter, bis diesem von sich aus der Aufbau anderer

III. Verbrechensreaktion in der Krise

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gelungener familiärer oder sozialer Bezüge gelingen sollte. Damit kann die Bewährungs strafe zeitlich nicht mehr bestimmt verhängt werden. Auch inhaltlich gestaltet sich das Verhältnis der Bewährungshilfe zu ihrem Klienten um. Dies beruht vornehmlich auf den beschränkten Mitteln, die der Bewährungshilfe in der Krise noch zur Verfügung stehen: Genau wie im Allgemeinen (s. o. 1. Kapitel D. IV. 2.) ist es auch hier nicht mehr möglich, künstlich Arbeit und damit Bezüge zu schaffen, in denen sich der Klient unter Einfluß rechtschaffener Gewohnheiten Dritter bewähren kann. Mithin bedarf es auch hier zur Erzeugung äußerer Verhaltenskonformität anderer Instrumente. Folglich muß wie im Allgemeinen auf verstärkte Überwachung des Klienten und, wo dies nicht möglich ist, auf abschreckende Drohungen mit Strafverschärfung bei Abweichung zurückgegriffen werden. Damit avanciert die Bewährung jedoch vollends zu einem polizeilichen Sonderregime. Wie im Großen so wird auch die Bewährungshilfe mit diesem Paradigmenwechsel von den historisch-empirisch gegebenen sozialen Umständen abhängig; die "Gefahr der Zeit" diktiert auch hier das Handeln. Dem Bewährungshelfer sind zur Bewältigung seiner Aufgabe also möglichst unbestimmt-umfassende Eingriffsbefugnisse einzuräumen, um den Klienten vor der Begehung weiterer Straftaten abhalten zu können. Das Mißbräuchliche dieser Vorgehensweise ergibt sich aus demselben Prinzip, aus dem auch die Allgemeinabschreckung zur Verkehrung der Strafidee führte. Überall dort, wo Weisungen über das Tatschuldangemessene hinaus erlassen werden, um den äußeren Rechtsgehorsam möglichst vollständig sicherzustellen, dort stehen sie außer Verhältnis zu dem begangenen Unrecht. Stattdessen dient die Koppelung besonderer Pflichten mit intensiveren Strafdrohungen allein dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit. Auch hier sprengt also reine Spezialprävention das Schuldprinzip. Damit deutet sich bereits an, wo die Totalisierung dieses Prinzips enden muß: in der hypertrophen Verhängung von Gefängnisstrafen. Aber auch hier müssen wieder zwei Bedingungen unterschieden werden, die zum Ansteigen der Freiheitsstrafe führen. Zum einen kann der wegen der aus der schlechten sozialen Lage herrührenden Labilität des Verbrechers gesteigerte Handlungsunwert des Verbrechens für sich allein schon den Sprung in die Freiheitsstrafe rechtfertigen. Dann setzt sich dieselbe Ungleichbehandlung fort, die auch bei den anderen Strafarten schon aufgewiesen worden ist. Zum anderen wirkt hier ebenfalls die Besserungsprogrammatik des polizeilichen Sicherungsdenkens weiter. Genau wie bei der Bewährungsstrafe drängt es auch an dieser Stelle dahin, die Freiheitsbeschränkung zeitlich unbestimmt zu verhängen. Da mit der Verwahrung jedoch die Möglichkeiten, in sozialen Kontakten wechselseitige Anerkennung zu habitualisieren, fast gänzlich verschwinden, wird im Täter noch intensiver die Tendenz begünstigt, sich selbst zu isolieren. Ein Verwahrvollzug perpetuiert also die Bedingungen seiner Notwendigkeit von selbst. Die zeitlich unbestimmte

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Freiheitsstrafe läuft hier in letzter Konsequenz auf lebenslange Strafe hinaus 17. Eine Ausnahme bildet nur der Fall, in dem sich der Sträfling trotz aller widrigen Umstände zu einer erfolgreichen Kooperation bereitgefunden hat. Gemäß dem Besserungsprinzip darf sich Strafe jedoch nicht allein auf Verwahrung beschränken. Vielmehr setzt sich auch hier die Tendenz durch, mittels Zwang den Insassen zu einem eigenen Beitrag für die eigene Wiedereingliederung zu motivieren. Dies führt meist zur Auferlegung einer Arbeitspflicht l8 • Aber auch andere Maßnahmen gehören hierher: Zwang am Gottesdienst teilzunehmen 19, Entzug von Vergünstigungen, auf die der Häftling einen Anspruch hat, um ihn zu bestimmten Ausbildungen gefügig zu machen etc. Läßt sich seine Renitenz auch damit nicht überwinden, kann das Instrument der Zwangstherapie angewandt werden 20. Letztere setzt allerdings begrifflich voraus, daß man den Straffälligen in einem Punkt quasi als Unmündigen behandeln kann: Seine Zustimmung zur medizinischen, psychatrischen oder psychologischen Behandlung muß als nicht mehr rechtlich notwendig angesehen werden. Hier zeigt sich, welchem latenten Zweck die oben beschriebene Pathologisierung bestimmter Verbrechensgruppen dient: Sie ennöglicht den entgegenstehenden Willen im Vollzug als unbeachtlich zu erklären und damit die Entscheidungsbefugnis des Gefangenen, wie er wieder zu einem rechtstreuen Bürger erzogen werden könne, gänzlich auf die Vollzugsbehörden überzuwälzen. Wenn hier und im folgenden von Pathologisierung gesprochen wird, so ist darunter eine nicht notwendig ausdrücklich oder gar bewußt eingeschlagene Richtung in der Legitimation und Durchführung von Sanktionen zu verstehen. Vielmehr wird darunter die sich aus sachlich-systematischer Analyse der verfolgten Handlungszwecke bzw. ihrer Begründung ergebende allgemeine Tendenz angesprochen, die in der Straftat noch zum Ausdruck kommende Vernünftigkeit des Straffalligen systematisch zu verneinen und ihn zu einem Unmündigen zu machen. Verallgemeinert man diesen Ansatz der Pathologisierung, so drängt er auf einer ersten Stufe dahin, mit Maßnahmen auf eigentlich habituell-verschuldet begangene Straftaten zu reagieren, die sonst nur gegen die Delinquenz Unfreier zur Verfügung stehen, s. o. 1. Kapitel D. IV. 4. Dies erlaubt zugleich eine Quantifizierung des jetzt angewandten pädagogisch-therapeutischen Zwanges nach den Erfolgsaussichten der jeweiligen Maßnahme, ohne dabei von Schuldrnaßüberlegungen gehindert zu sein. Auf einer zweiten Stufe treibt die Pathologisierung dahin, überhaupt auf die Voraussetzung von Schuld als Grund der Bestrafung zu verzichten. Damit wird Strafe als Reaktion auf begangene Verbrechen 17 So die Forderung F. v. Liszt, Zweckgedanke, 1882, in: Strafrechtliche Aufsätze, Bd. I, S. 333, 392. 18 So aber § 41 Abs. 1 StVollzG, s. o. 2. Kapitel C 1. 3. b) dd). 19 Vgl. historisch Eb. Schmidt, Geschichte, 1965, § 179, S. 189. 20 Ausführlich Foucault, Überwachen und Strafen, 1976, S. 379 ff. Vgl. w. Kerner, Art. Krankheit, in: Kaiser et. al. KKW, 1985, S. 191 ff.

III. Verbrechensreaktion in der Krise

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abgelöst von polizeilich motivierten Maßregeln, die lediglich auf die vom Täter ausgehende Gefahr abstellen. Dabei lassen sich mehrere Schritte in der Geschichte der Strafrechtspflege bzw. der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion ausmachen, die der Entwicklungsgang bedarf, um nach der ersten die zweite Stufe zu erreichen: Zunächst kann Strafe in eine Sicherungsstrafe umgedeutet werden: "Wer das Leben eines Gewohnheitsverbrechers geführt hat, der hat unbemessene Freiheitsstrafe verdient." 21 Sehr vorsichtig wird noch von der Voraussetzung ausgegangen, der Verbrecher müsse sich zu dauerhaft krimineller Betätigung entschlossen und diesen Willen in mehreren Delikten verwirklicht haben 22. Die deshalb geschuldete unbemessene Strafe, die wohl mit Arbeitszwang verbunden werden soll 23 , wird in ihrer Unbestimmtheit dann aber mit der maßlosen Unterstellung begründet, der Täter habe sich mit seinem Wiederholungswillen nicht nur gegen bestimmte Rechtsgüter und spezifische Normen gerichtet, sondern sich gegen die gesamte Rechtsordnung aufgelehnt 24. Dies geht entweder am Tatschuldprinzip vorbei, oder es wird zur Begründung auf rein präventive Überlegungen abgestellt 25 . Schon einen Schritt weiter geht ein Ansatz, der aufgrund eines Freiheitsverwirkungsprozesses nun ausdrücklich Maßregeln im Sinne von Sicherung bzw. im Sinne von pädagogisch-therapeutischem Zwang zuläßt 26: "Alle äußere oder soziale Freiheit rechtfertigt sich letztlich aus dem Besitz der inneren oder sittlich gebundenen Freiheit. Wer dieser inneren, von sittlicher Selbstbestimmung gelenkten Freiheit überhaupt nicht fähig (wie Geisteskranke) oder infolge von schlechten Anlagen, Lastern und Gewohnheiten nicht mehr hinreichend mächtig ist, kann die volle soziale Freiheit nicht beanspruchen." 27 Tragend wird hier ein Konzept von Persönlichkeits schuld, bei dem der Vorwurf schlechter Haltungsbildung auf eine Vielzahl von Faktoren gegründet wird 28: Zum Teil wird auf das "So-Sein" eines üblen Charakters, zum Teil und höherstufiger auf eine fehlerhafte Lebensführung die Verantwortlichkeit des Täters bezogen. Dabei wird aber auch im letzteren Fall als ausreichend angesehen, daß der Hang Folge schuldhafter Einzelhandlungen ist, ohne daß bei seiner Bildung über den sich über diese Einzelakte vermittelnden Prozeß der Gewohnheitsbildung selbst reflektiert werden muß29. 21 Hellm. Mayer, AT, 1953, S. 40,379 ff. Bedenken aber dann in Stb, 1967, S. 185. 22 Hellm. Mayer, AT, 1953, S. 63.; s. o. zur Lebensentscheidungsschulddoktrin, I. Kapitel C. 11. 2. b) bb) ccc). 23 Hellm. Mayer, Stb, 1967, S. 184. 24 Hellm. Mayer, AT, 1953, S. 40 u. Ö. 25 So zurecht Jakobs, AT, 1983, 1/54. 26 Welzel, Lb, 1969, S. 244 ff., 263 ff. Nachw. anderer Autoren bei Jakobs AT, 1983 1/54 Fn. 83. 27 Welzel, Lb, 1969, S. 245. 28 s. dazu Welzel, ZStW 60, 1941, S. 457 ff., ders. Lb, 1969, S. 149 f. 29 s. dazu Welzel, ZStW 60, 1941, S. 457 ff., ders. Lb, 1969, S. 149 f. Zur Kritik s. o. 1. Kapitel C. 11. 2. b) bb) ccc).

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2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft

Weil so der Anteil der Beteiligung gerade des subjektiven Willens des Täters nicht bestimmt wird, muß die Höhe der zu verhängenden Sanktion nun ebenfalls im Unbestimmten verbleiben. Bezeichnend ist, daß eine ausführliche Erörterung von Maßregelbemessungskriterien fehlt, lediglich pauschal auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verwiesen wird 30. Arbeitszwang wird ebenfalls unkritisch als eine Möglichkeit der Vollzugsgestaltung aufgeführt 31. Der weitere Schritt hin zur Pathologisierung liegt einmal darin, daß auf der Rechtsfolgenseite offen auf die zweite Spur der Sicherung bzw. des pädagogisch-therapeutischen Zwanges gewechselt wird, während auf der Tatbestandsseite der Inhalt des Verschuldens - nunmehr in direkter Parallele zur selbstverschuldeten Krankheit (s. o. 2. Kapitel C. 11. 4.) - als eine Bewegung von der Vernünftigkeit in die Unvernunft geschildert wird. Beidesmale kann der offene oder versteckte Besserungs- bzw. Sicherungszwang nur dadurch mit dem Schuldprinzip in Einklang gebracht werden, daß seine inhaltlichen und formalen Gehalte reduziert werden. Macht man es aber einmal möglich, an einem Punkt bei der Zurechnung von der Vermittlung der Handlung über den subjektiven Willens abzusehen, so setzt sich der damit erreichte normative Schuldbegriff, der bloß auf einen Mangel (an Wissen oder Haltung) abstellt, in jeglicher Zurechnung durch. Ist aber der erste Schritt getan, das Verstellen der Unrechtseinsicht nicht mehr als Grund der Imputation zu fordern, so folgt konsequent der nächste Schritt: Die konkret wirksam gewordene, selbstgesetzte Unrechtsmaxime dient auch nicht mehr als Maßkriterium. Die Realisierung der ehrenwerten Absicht, die mit diesen beiden Begründungsversuchen mehr oder minder verwirklicht werden soll, erweist sich aber als Danaergeschenk: Indem versucht wird, durch Verkürzung von Zurechnungsvoraussetzungen am Schuldgrundsatz festzuhalten, setzt man diejenigen Delinquenten, die aus sozial desorganisierten Verhältnissen stammen, abstrakt mit anderen gleich. So übertragen sich aber die beim Hangtäter vorgenommenen Reduktionen des Schuldbegriffes auf alle anderen Täter. Auch hier verflachen die Zurechnungsvoraussetzungen zu einer normativen Zuschreibung von Schuld als einem bloßen Wissensmangel, bei dem nicht mehr gefragt wird, worauf er beruht. In letzter Konsequenz läuft dies auf ein Täterstrafrecht hinaus, bei dem Schuld im SoSein des Angeklagten, in seinem augenblicklichen mangelhaften Zustand zur Zeit der Tat gesehen wird 32 • Ein derartiges Konzept ist allerdings folgenreich für die gesamtgesellschaftliche Interaktion. Wo Strafe faktisch für jeden irgendwo einmal auftretenden Welzel, Lb, 1969, S. 263,267 f. zur damaligen Rechtslage. Ebda., S. 268. 32 s. schon oben. Die Kritik folgt hier M. Köhler, Bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 375 ff., 376, 378 Fn. 12 u. ö. m. w. N. Hinzugefügt werden soll hier im folgenden lediglich der Aufweis, daß derartige Konzepte unzureichende Antworten auf Probleme sind, die der Strafrechtspflege in der Krise entstehen. 30 31

III. Verbrechensreaktion in der Krise

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Schaden verhängt werden kann, zu dem eine Person eine Bedingung gesetzt hat, wird jegliche Lebensplanung paralysiert. Denn der Einzelne ist dann nicht mehr in der Lage, den Nutzen des eigenen Handeins noch zu erkennen. In einer Gesellschaft, in der sich das Bewußtsein der Freiheit ihrer Glieder vornehmlich auf das Mehren eigener Rechtsgüter beschränkt (s.o. 1. Kapitel D. I. und 11.), lähmt dies den gemeinschaftlichen Arbeits- und Lebenszusammenhang völlig. Auch hier würde die Strafrechtspflege als Teil staatlichen Handeins in den Gegensatz zum Grundprinzip der bürgerlichen Gesellschaft ebenso treten, wie sie ihre eigenen Kapazitäten vollends überfordern müßte, weil sie nun für jegliche Schadensbereinigung zuständig wäre. Die unvermittelte Bindung der Verbrechensreaktion auf habituelle Delinquenz sozial desorganisierter Personen an reduzierte Schuldüberlegungen kann diese Problematik nur um den Preis lösen, daß sie alle Bürger in den Strudel des Verfalls reißt. Diese Zwischenschritte auf dem Weg zu einem rein gefährlichkeitsorientierten Maßregelsystem können also mit ihrem innerlich morschem Festhalten am Schuldprinzip der fortschreitenden Verabsolutierung des Sicherungs- und Besserungsdenkens kaum noch Widerstand leisten. Unter der Hand setzt sich die vollständige Abkehr vom Vergeltungsprinzip sowohl dem Maße als auch dem Grunde nach durch. Statt mit Strafe die Selbstaufhebungstendenz der Unrechtsmaxime zu verwirklichen, somit den Verbrecher in seiner SubjektsteIlung zu erhalten, usurpiert die Strafrechtspflege fortschreitend die Rolle, einzige Bewegerin im Prozeß der Unrechtsnegation zu sein. Es scheint sich damit ein Weg abzuzeichnen, in dem sich die Strafrechtspflege in eine umfassende polizeiliche Zwangsfürsorge auflöst, wodurch sich das Strafrecht in ein einspuriges Maßnahmerecht verwandeln müßte. Die nachstehende Erörterung will dagegen aufzeigen, daß auch ein solches Konzept unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft unzureichend ist. Stattdessen tendiert die Strafrechtspflege in der Krise dazu, ein zweispuriges Rechtsfolgensystem herauszubilden, indem für sittlich sozialisierte Personen das Schuldstrafrecht erhalten bleibt, während die Delinquenz anderer mit Gefährlichkeitsmaßregeln bekämpft wird. d) Die Notwendigkeit der Zweispurigkeit von Strafe und Maßregel Zu klären ist jetzt, warum sich die Anordnung von Maßregeln auf einen Teilbereich von Verbrechen beschränkt. Denkbar wäre ja auch, daß die Pathologisierung auf jeden Straftäter ausgedehnt wird. Dem entspräche ein einspuriguniversales Maßregelrecht, das stets nur an die von einer Person ausgehenden Gefahren anknüpft und damit das Schuldprinzip gänzlich verabschiedet 33 • Polizeiliches Präventionsdenken wäre so auf die Spitze getrieben, indem sich nun die 33

Konsequent folgt dieser inneren Logik Gramatica, Defense Sociale, 2. Teil, 1965,

S. 213 u.

Ö.

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2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft

Strafrechtspflege völlig in die vorbeugend sichernde und fürsorgende Tätigkeit eines Wohlfahrtsstaates auflösen würde. Ein derartiges Rechtsfolgensystem setzt allerdings voraus, daß alle Kriminellen kraft ihrer Vergehen sich in ihrer inneren oder äußeren sittlichen Konstitution mit der Verfassung Unfreier gleichsetzen lassen. Jedes Verbrechen müßte demnach Auswirkungen auf seinen Urheber haben, die ihn in seiner sozialen Lage und seiner inneren Einstellung zu allgemein eingeübten Verhaltensweisen einem Unfreien ähnlich erscheinen lassen. Dies muß bei allen Delinquenten der Fall sein, unabhängig davon, ob sie aus depravierten Zuständen kommen oder nicht. Nun tritt zwar jeder Verbrecher als ein Mensch in Erscheinung, der seine Willkürlichkeit gegen andere verabsolutiert, solange er auf der Richtigkeit seiner Unrechtsmaxime beharrt. Allerdings nimmt dieses Phänomen unterschiedliche Gestalt und Intensität an, je nachdem wie tief mit der Straftat die inneren und äußeren sozialen Bindungen des Verbrechers verneint worden sind. Dabei kommt es ganz wesentlich· auch auf den Umstand an, wie stark sich die Sozialisation des Verbrechers auf die Ausbildung einer festen Haltung ausgewirkt hat. Diese ist aber bei einer Person, die in stabilen sittlichen Bezügen lebt, ungleich stärker verwurzelt als bei jemandem, dem diese Vergünstigung vorenthalten worden ist und bei dem die desolate soziale Lage zur Auflockerung seiner Gewohnheit zur Rechtschaffenheit geführt hat. Bei ersterem wirkt daher trotz seines Vergehens stets noch der geistige Mechanismus der rechtschaffenen Lebensweise weiter, wie auch äußerlich nicht alle Stabilisatoren seiner selbst eingestürzt sind. Nimmt man die Straffalligen aber nur nach ihrer äußeren Erscheinung als gesellschaftliche Wesen, so scheiden sie sich in zwei Gruppen: auf der einen Seite die ständisch integrierten, auf der anderen Seite die nicht ständisch integrierten Delinquenten. Würde man nun erstere mit letzteren ohne weiteres identifizieren, weil sie Kriminelle sind, sie mithin in derselben Weise pathologisieren, dann liefe das letztlich darauf hinaus, auch die Reste ihrer sittlichen Konstitution in pathologische Erscheinungen umzudeuten. Hier unterscheiden sie sich aber deutlich von depravierten Straftätern und stehen vielmehr rechtstreuen Bürgern nahe. Die Pathologisierung von ständisch sozialisierten Straffälligen liefe demnach auf die Pathologisierung aller Bürger hinaus. Als letzte noch frei handelnde Instanz bleiben die Organe der Strafrechtspflege übrig. Folge einer solchen Verabsolutierung der staatlichen Tätigkeit wäre aber die Verneinung jeglicher selbständiger Lebensplanung jedes einzelnen Bürgers. Eine solche Entwicklung widerspräche aber nicht nur dem Grundprinzip der bürgerlichen Gesellschaft, die ja Ordnung für die Eigendynamik der Besonderheit sein will, sondern auch die Fähigkeiten der staatlichen Organe. Ebensowenig wie die materielle und geistige Not mit ihrer Folge einer sich steigernden Delinquenzbelastung durch rein staatliche Maßnahmen bekämpft werden können, ebensowenig wäre der Anspruch durchzuführen, alle Staatsbürger in ihrer Lebensplanung wie Kranke zu bevormunden. Um des gemeinen Wohles willen wird nämlich ihr Anspruch auf selbstbestimmte Lebensplanung verneint und stattdessen von öffent-

1II. Verbrechensreaktion in der Krise

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lichen Stellen wahrgenommen. Weil aber die individuelle Glückseligkeitsperspektive nur beschränkt intersubjektiv verallgemeinerbar ist, folgt daraus die Unbestimmbarkeit, Unbegrenzbarkeit und Willkürlichkeit der Reglementierungsbefugnisse des Notstaates 34 • Indem das Handlungsprinzip einer solchen Institution jedoch systematisch die Bedingungen ihrer Einrichtung, nämlich das Prinzip der selbständigen Besonderheit zur öffentlichen Aufgabe zu machen, vernichtet, hebt es sich selbst über kurz oder lang auf. Eine solche Verabsolutierung polizeilichen Denkens im Strafrecht kann demnach allenfalls eine Episode in der Kriminalgeschichte darstellen, in welcher sich die Verirrungen autoritären Machtstaatsdenkens auswirken. Strafrechtsgeschichtlich entspricht dem der Gesetzentwurf Ferris im faschistischen Italien 35 und dem Strafgesetzbuch der UdSSR von 1926 36 • Aus diesem Grund muß ein Konzept, das unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft von einiger Dauer sein will, die Pathologisierung von Verbrechen auf diejenigen Täter begrenzen, die vom Arbeits- und Lebenszusammenhang in seiner ständischen Struktur ausgeschlossen sind oder deren subjektive sittliche Konstitution aus anderen Gründen in ähnlicher Weise verfallen ist. Ein derartiges, zweispuriges Sanktionensystem wird nämlich zwei Anforderungen gerecht: Zum einen gewährleistet es mit dem Festhalten am Schuldprinzip für diejenigen, die trotz ihres Vergehens noch weiterhin innerlich und äußerlich sittlichen Bindungen verhaftet sind, einen individuellen Verantwortungshereich. Zum anderen werden die sittlich sozialisierten Bürger auch nicht mehr in ihren Rechtsgütern und damit mittelbar in ihrer Normhaltung beeinträchtigt, weil durch die rein präventiven Maßregeln die Gefahren habituell verfestigter Kriminalität sozial desorganisierter Personen möglichst umfassend gebannt werden können. Diese heiden Leistungen des zweispurigen Sanktionensystems zusammengenommen erhalten insoweit für diejenigen Bürger, die sich noch im ständisch strukurierten Arbeits- und Lebenszusammenhang gehalten haben, das Prinzip der selbständigen Besonderheit nach seinen zwei Seiten: Achtung eigener Verantwortlichkeit und Sicherung der besonderen Eigensphäre. Zum anderen erlaubt es dieses zweispurige Sanktionensystem gegen diejenigen Täter, deren habituelle 34

s. o. 1. Kapitel D IV. 1 und 3. Es ist das berühmte Kantische Argument aus KpV

§ 8 Anm. II, A 66 f., WW VII, S. 151. Allgemein dazu E. A. Wolff, ZStW 97, 1985, S. 786 ff. Historisch weitsichtig Hellm. Mayer, AT, 1953, S. 37. Speziell zu den Maßre-

geln vgl. M. Köhler, Begriff der Strafe, 1986, S. 81 f. insbes. Fn. 133. 35 Dazu Lenz, Strafgesetzbuch ohne Schuld und Strafe, 1922, S. 8 ff., 11 ff., 14 ff., 31 ff., 36 f. Im NS-Staat wurde dagegen neben der zweiten Spur der Maßregeln mit dem § 20a StGB a. F. der oben beschriebene Weg zur Nivellierung des Schuldprinzips in Richtung auf ein Täterstrafrecht beschritten. 36 Vgl. Maurach, Grundlagen, 1933. Allerdings darf hier der stark sozialfürsorgerische Aspekt dieser Reformanstrengung, der freilich aufgrund der politischen Umstände kaum die Praxis bestimmte, nicht vergessen werden, dazu Radbruch, Rechtsphilosophie, 1956, S. 268 f.

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2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft

Verbrechen in ihrer desolaten subjektiven Konstitution gründen, mit Sicherungsmaßnahmen bzw. pädagogisch-therapeutischem Zwang vorzugehen, wie er sonst nur Unfreie trifft. Kurz, indem schon der Sache nach die Schuldfähigkeit (nicht erst der Grad der Unrechtseinsicht) an einen bestimmten Stand der Teilhabe an bereits realisierter Vernunftwirklichkeit (sittlicher Institutionen und ihnen entsprechende bzw. sie hervorbringende Haltungen) geknüpft wird, teilt sich die Gesellschaft nicht nur materiell und geistig in Vermögende und Verelendete, sondern auch die jeweiligen Straftaten und -täter werden unterschiedlich definiert und verschieden hart geahndet. In der Literatur wird das zweispurige Rechtsfolgensystem im Strafrecht, das mit Wandlungen seit 1933 geltendes Recht ist 37, selten in dieser Perspektive gesehen 38. Vielmehr überwiegt die Auffassung, es sei Ausdruck eines gesetzgeberischen Kompromisses zwischen zwei kriminalpolitischen Schulen 39. In der Redeweise, die rein präventiven Maßregeln würden eine an das Schuldprinzip gekoppelte Strafe möglich machen 40, scheint aber dieser Funktionszusammenhang dennoch durch. Auch dieses Sanktionensystem ist in modifizierter Weise den oben geführten Angriffen ausgesetzt. Bevor auf diese immanente Widersprüchlichkeit eingegangen werden soll, bedarf es aber noch eines Hinweises auf die Aufgabe, die die Sicherungs- bzw. Besserungsideologie im Strafrecht allgemein ausfüllt.

2. Die Funktionalisierung des Sanktionensystems Wie eben bereits angeklungen ist, spielt der Spurwechsel bei habitueller Delinquenz auf Sicherungszwang bzw. pädagogisch-therapeutische Maßnahmen eine bestimmte Rolle in der Tätigkeit der Strafrechtspflege: Sie sichert den sittlich sozialisierten Bürgern auch unter den Bedingungen der Krise ihr Recht auf die eigene Besonderheit nach zwei Seiten ab: Achtung der eigenen Verantwortlichkeit und Schutz vor Gefahren für die eigenen Rechtsgüter durch Gewohnheitskriminalität Dritter. An den Maßregeln zeigte sich daher folgendes deutlich: Wo präventive Überlegungen mit Strafmaßbestimmungen, die sich aus dem Vergeltungsprinzip ergeben, koexistieren, wie es bereits bei der subjektiven Seite der Strafe als allgemeines Phänomen entwickelt wurde, dort dient dies namentlich dem Zweck, dem sittlich sozialisierten Bevölkerungsteil die Garantien eines freiheitlichen Strafrechts so weit als möglich zu erhalten.

37 Vgl. jetzt §§ 38 ff., 61 ff. StGB. Zur historischen Entwicklung kurz Jakobs AT, 1983, 1/53 Fn. 76; Jescheck, AT, 1988, S. 73 ff. 38 Vgl. a. Jakobs AT, 1983, 1/53 ff. 39 Jescheck, AT, 1988, S. 75 f. Dazu auch Eb. Schmidt, Geschichte, 1965, § 318, S. 379 ff. 40 Vgl. nur Jescheck, AT, 1988, S. 75.

III. Verbrechensreaktion in der Krise

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Diese Aufgabe wird aber nicht nur von den Maßregeln ausgeübt. Vielmehr durchzieht der Zweck, für den integrierten Teil der Bürger nach Möglichkeit ein rechtstaatliches und mildes Strafrecht zu bewahren, jetzt das gesamte Sanktionensystem. So fallt dem Freiheitsentzug (zusätzlich) die Aufgabe zu, die Bewährung als Strafe weiterhin zu ermöglichen. Denn nur dadurch, daß diejenigen Delinquenten, die aus desorganisierten Verhältnissen stammen, vom Arbeits- und Lebenszusammenhang femgehalten werden, kann dieser sich als der Ort stabiler sittlicher Gewohnheiten erhalten, in dem die sittlich integrierten Straftäter sich bewähren können. Zum zweiten kann der Freiheitsentzug nun als Druckmittel eingesetzt werden, um die Erfüllung anderernicht -freiheitsentziehender Strafen zu effektuieren. Indem man mit dem Ausschluß aus sittlichen Bezügen droht, kann durch Abschreckung konformes Verhalten erzwungen werden. Ähnliches läßt sich zur Arbeitsstrafe sagen: Indem sie (zumindest äußerlichformal) als Surrogat für eine uneinbringliche Geldstrafe verhängt wird, kann die Geldstrafe als Sanktion erhalten bleiben, obwohl weite Kreise der Bevölkerung vermögenslos sind. So bleibt für Vermögende eine Strafart erhalten, die sie nicht aus ihren bisherigen Lebensbezügen reißt. Zusammengefaßt kann gesagt werden, daß die Sicherungs- und Besserungsmaxime in dieser selektiven Anwendung den (latenten) Zweck erfüllt, für den sittlich sozialisierten Teil der Bevölkerung die Vorteile der ständischen Integration zu erhalten. Die Kehrseite der Medaille ist aber, daß alle diejenigen, die aus dieser ständischen Struktur herausfallen, nun nicht mehr nur in Bezug auf die Wohltaten der materiellen Produktion etc. Verzicht leisten müssen, sondern zudem noch zur Erhaltung des rechtstaatlich-institutionellen Rahmens, von deren Leistungen sie ausgeschlossen sind und dessen Bestand durch ihre Armut gefährdet ist, in Dienst genommen werden. Es nimmt also eine gesellschaftliche Realität an, was Kant allgemein als die freiheitsnegierende Folge des Glückseligkeitsdenkens gebrandtmarkt hat: Der gemeine Nutz einiger wird als Recht gegen andere gekehrt, deren Existenz in Dienst zu nehmen 41 • Auch auf der Ebene der Strafrechtspflege treibt die innere Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft also dahin, daß sie in zwei Klassen zerrissen wird, deren eine zwar den Wohlstand produziert, der hier gewissermaßen in der Stabilität der Gesetze in den sittlich noch stabilen Bezügen liegt, welche Klasse aber an dieser Leistung nicht mehr partizipiert.

3. Zwischenergebnis Folge der materiellen und geistigen Verelendung eines Teils der Bevölkerung ist im Strafrecht eine notwendige Ungleichbehandlung dieses Teils gegenüber dem anderen, vermögenden Teil, welche unterhalb des abstrakten Gleichmaßes 41 So in MdS, RL § 49 Allg. Anm. EI, A 196 f., B 226 f., WW VIII,S. 453. Vgl. w. Reflexionen Nr. 6586, in: AA XIX, S. 97.

23 Klesczewski

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2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft

der Vergeltung erfolgt. Stets beruht diese Diskriminierung darauf, daß dem sozial desintegrierten Teil der Bevölkerung eine bestimmte äußere Sphäre fehlt, in der Strafe eingreifen kann und darf. Dennoch fordert aber das Vergeltungsprinzip, daß eine Rechtseinbuße den Täter treffe. An diesem Punkt schlägt die Wiedervergeltung unter den Bedingungen der Krise quasi von selbst in ein an polizeilichfürsorgerisches Kriterien ausgerichtetes Zweckstrafrecht um: Auf jeder Stufe einer bestimmten Sanktionsform bedarf es der Suche nach Surrogaten für die ansonsten funktionslos gewordenen Strafen: So wird die Geldbuße durch Arbeitszwang substituiert, die Bewährung durch die Einsperrung ersetzt und die Chance, sich eigenständig um Wiedereingliederung zu bemühen, durch die Zwangstherapie unmöglich gemacht. Die unterschiedliche Ahndung von Unrecht gipfelt schließlich in einer differentiellen Betrachtung seines Wesens: Einmal ist es ein Verbrechen ausgeübt von einem Freien, andermal gilt es als die Abweichung eines Unfreien, der sicher zu verwahren oder dem mit pädagogisch-therapeutischem Zwang zu helfen ist. Konsequenz dieser völligen Umgestaltung eines rein tatschuldorientierten Strafensystems ist seine durchgängige Funktionalisierung zu ein und demselben Zweck: Die Reste an guten sittlichen Institutionen und dementsprechenden Haltungen in einem Teil der Bevölkerung sollen mit allen Mitteln gegen diejenigen Gefahren der Krise erhalten werden, die aus der überbordenden Kriminalität herrühren: Was das Strafrecht betrifft, müssen zur Erfüllung dieses Zieles namentlich diejenigen Delinquenten unabhängig von ihrer Schuld herhalten, die in sozial depravierten Zuständen leben.

4. Die Aufhebung der institutionellen Verkehrung der Strafidee Die Widerlegung einer Theorie und Praxis des Strafrechts, die von einem zweispurigen Rechtsfolgensystem ausgeht, muß in ähnlicher Weise erfolgen, wie die Kritik des Besserungsdenkens des Opfers in der Moralität, s. o. 2. Kapitel B. 11. 3. Die zur Totalität gesteigerte Handlungsrnacht der Strafrechtspflege muß sich als etwas einseitiges erweisen, das seine Negativität an sich selbst trägt. In der Moralität bestand diese Negativität darin, daß die vom Besserungszwang indizierte Rückfälligkeit des Täters nunmehr die eigene Existenz des Opfers bedrohte. Diese individuelle Ebene ist im vorliegenden Zusammenhang um eine institutionelle Seite zu ergänzen: Es muß deutlich werden, wie eine systemisch von der Strafrechtspflege produzierte Rückfallkriminalität nicht nur die Rechtsgüter vieler Mitbürger in Mitleidenschaft zieht, sondern zugleich auch die wesentliche Aufgabe der Strafrechtspflege vereitelt, die in der Widerherstellung der Geltung der Gesetze zu sehen ist. Notwendig dazu ist der Aufweis, wie jede einzelne Sanktion ihren Zweck nicht mehr erfüllen kann, bis das gesamte präventiv durchstrukturierte Rechtsfolgensystem funktionslos geworden ist. An diesem Punkt würde das Steigen der Rezidivistenzahlen nicht mehr nur ein spezialpräven-

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tives Problem darstellen; vielmehr wäre damit zugleich auch der generalpräventive Zweck zweifelhaft geworden. Zunächst ist daher auf den Zusammenhang hinzuweisen, der unter den Bedingungen der Krise notwendig zwischen einem Teil der Rüchfalldelinquenz und der verhängten Sanktion besteht, um so daraus die Folgerungen für das gesamte Rechtsfolgensystem zu ziehen. a) Der allgemeine kategoriale Rahmen des Rückfallzirkels Den Ausgangspunkt der kommenden Analyse soll ein Rückblick auf den Stand der Freiheitsverwirklichung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft bilden: Das sittlich konkrete Rechtsverhältnis bestand hier darin, daß sowohl gemäß den Kategorien des abstrakten Rechts Person und Eigentum des Einzelnen institutionell anerkannt und gesichert sind, als auch das in der Moralität begründete Recht des besonderen Willens auf die Entafltung seiner selbst, namentlich die Befriedigung seines Wohles. Durch die krisenhafte Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft läuft jedoch für weite Kreise der Bevölkerung diese letztere institutionelle Garantie leer, während die Anerkennung als Personen erhalten bleibt. Der Versuch der Wohlfahrtsverwaltung, diesen Mangel der Teilhabe am allgemeinen Wohl zu beheben, mußte notwendig fehlschlagen, weil er unausweichlich nur über die Aufopferung des anderen Grundprinzips zu realisieren ist: Weil der gesellschaftliche Reichtum in eine Vielzahl privater Vermögen zerteilt ist, sind Armut und Verelendung nur durch den Eingriff in das Privateigentum zu beheben. Innerhalb des Bezugsrahmens der bürgerlichen Gesellschaft ist mithin das Unrecht, das den Armen geschieht, nur vermittels eines anderen Rechtsbruchs gegenüber den Begüterten aufzuheben. M. a. W., die bürgerliche Gesellschaft ist als solche unfähig, dieses Problem zu lösen. Mithin bleibt es bei der zunehmenden Verelendung weitester Kreise der Bevölkerung. Das Unrecht, das diesen geschieht, hat nun näher folgende Gestalt: Im sittlich konkreten Rechtsverhältnis macht die Garantie der Personalität die allgemeine Seite der Freiheitsgewährung aus, während die Sicherstellung des Wohles dem Recht der Besonderheit Anerkennung verschafft. Ist nun der Verarmte zwar in seiner Personenwürde respektiert, nicht aber in seinem moralischen Anspruch auf die Realisierung seines Wohles, so reduziert sich sein Dasein der Freiheit auf die abstrakten Garantien des formellen Rechts. In Analogie zum unbefangenen Unrecht ist ihm lediglich die besondere Seite seiner Existenz als Bürger vorenthalten, nicht aber die allgemeine Seite, Person zu sein: ein schlichtweg negatives Urteil. Dabei bezieht sich dieses Urteil freilich auf den Gesamtrahmen des sittlich konkreten Rechtsverhältnisses, nicht auf den Teilbereich des abstrakten Rechts, wie es beim bürgerlichen Rechtsstreit der Fall ist. Diese Sphäre des umfassenden sittlichen Verhältnisses ist vielmehr als Ganze weiterhin garantiert. Aus diesem 23*

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2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft

Grund kann man auch lediglich von einer Analogie zum unbefangenen Unrecht sprechen. Es geht also nicht darum, daß den Verarmten ihr vertraglich versprochenes Eigentum von einem anderen Bürger vorenthalten werden wird. Wo dies geschähe, hätten erstere sehrwohl weiterhin das Recht, Zivilklage zu erheben. Vielmehr geht es aus der Perspektive des umfassenden sittlichen Rechtsverhältnisses darum, daß es als Totalität eben auch die besondere Sphäre des Wohles neben der des abstrakten Rechts gewährleisten soll. Auf dieser Ebene stellt mithin die Verneinung der besonderen Seite eines Bürgers ebenfalls ein negatives Urteil dar. Dieses Unrecht ist nun innerhalb der institutionalisierten Rechtsordnung der bürgerlichen Gesellschaft nicht aufhebbar, eben weil dies nur auf Kosten der Verneinung von Privateigentum Dritter, also deren allgemeiner Freiheitsverbürgung, möglich wäre, mithin einem positiv unendlichen Urteil. Folglich können die verelendeten Kreise die Durchsetzung ihres Rechts auf das Wohl auch nicht gerichtlich einklagen. Im sittlich konkreten Rechtsverhältnis ist ihnen aber auch die Selbsthilfe grundsätzlich untersagt 42 , von Fällen akuter, nicht anders abwendbarer Lebensgefahr einmal abgesehen 43 • Es stellt sich nun die Frage, wie diesem Unrecht dennoch abgeholfen werden kann. Zum einen sieht Hegel hier ein Betätigungsfeld für moralisch-altruistisch motivierte Armenhilfe 44 • Diese gewährt aber keinen Rechtsanspruch, wie es institutionell versprochen ist. Zum zweiten streben die Glieder der bürgerlichen Gesellschaft aus sich heraus dahin, sich wechselseitig gegen die Unbillen abzusichern, indem sie Korporationen gründen 45. Diese transzendieren dann aber die bürgerliche Gesellschaft als solche, gehören demnach ihrem Handlungsprinzip nach nicht mehr völlig zur bürgerlichen Gesellschaft als solcher 46 • Solange diese Korporierung jedoch noch nicht hinreichend aus den besonderen Sphären heraus erfolgt ist, verharrt die bürgerliche Gesellschaft in dem oben beschriebenen Dilemma. Entgegen dem Grundsatz der Sittlichkeit, nach dem eine konkret vermittelte Identität von Rechtsgewährung und Pflichtenlast zu bestehen hat, wird den Armen also zwar das Recht, ihre Besonderheit zu entfalten, versagt, ohne aber denjenigen Pflichten enthoben zu sein, die kraft des konkreten Rechtsverhältnisses bestimmte abstrakt-rechtliche Befugnisse (wie die Selbsthilfe) einschränken bzw. aufheben. Der Umfang an Freiheitsgarantie reduziert sich bei ihnen daher nicht nur auf das abstrakt-rechtliche Niveau; aufgrund der versagten Durchsetzung des Wohles im institutionellen Rahmen befindet sich der Arme bezüglich der Herstellung des ganzen sittlichen Rechtsverhältnisses zudem noch in einem ähnlichen vorge42 43 44 45 46

Rph. § 221, S. 375. Anders noch Rph. § 94, S. 180. Vgl. Rph. § 127, S. 239 ff. Rph. § 242, S. 388. Rph. § 249, §§ 250 ff., S. 393, 393 ff. Rph. § 256, S. 397 f.

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sellschaftlich-provisorischen Status. Auf dieser höheren, sittlichen Ebene wiederholt sich danach also der Zustand, wie er in vergleichbarer Weise bereits im abstrakten Recht beschrieben worden war. Der Unterschied besteht hier allerdings darin, daß es jetzt nicht um das Erstreiten eines besonderen abstrakten Rechts an einer Sache geht, sondern ein Recht des subjektiven Willens eingefordert wird, das dort noch gar nicht als Recht thematisch sein kann. Aufgrunddessen läßt sich die Selbsthilfebefugnis des formellen Rechts auch nicht unmittelbar auf die jetztige Situation übertragen, weil es nun um die Enteignung Dritter geht, mithin um einen Eingriff in deren Privateigentum zum Wohle der allseitigen Realisierung des institutionellen Programms. Wie der dritte Abschnitt des Sittlichkeitsteils in der Rph. zeigt, kommt eine solche Regulationskompetenz allein dem substantiellen Staate ZU 47 • Er allein kann also das Dilemma der bürgerlichen Gesellschaft in einer allgemeinverträglichen Weise lösen. Betrachtet man aber die bürgerliche Gesellschaft noch isoliert als Notstaat, so fehlt eben gerade der institutionelle Rahmen, den Armen die Teilhabe am allgemeinen Wohl zu sichern. In dieser Situation relativer Konstitutionslosigkeit fällt es demnach wieder in die Selbsthilfe der Verelendeten, die Partizipation am gesellschaftlichen Reichtum zu erzwingen, ähnlich wie dem Gläubiger im abstrakten Recht, der dem Schuldner die Leistung abnötigt. Nur geht es jetzt nicht mehr darum, den Schutz des Eigentums durchzusetzen. Vielmehr muß die Zwangsbefugnis nun darauf aus sein, durch partielle Negation des Privateigentums Dritter das Wohl der Armen herzustellen 48 • Beurteilt man dieses Tun allein aus der Perspektive des abstrakten Rechts, so ist es nach diesen Maßstäben verboten. Gleiches gilt aber, wenn man das Verhalten des Betreffenden mit der Meßlatte des in der bürgerlichen Gesellschaft geltenden Rechts bewertet 49 • Dies liegt an dem vorstaatlich-provisorischen Zustand, in den die Verarmung den Menschen setzt. Zur Herstellung eines sittlich konkreten Rechtsverhältnisses muß es demnach eine Zwangsbefugnis geben, die solange in private Hände fällt, wie der institutionell-staatliche oder korporative Rahmen dazu noch fehlt. Ein zeitlich befristeter Streik oder Boykott eignet sich z. B. dazu. Denn mit diesen Kampfmitteln wird gerade auf die wechselseitige Verschlingung aller Privatinteressen miteinander hingewiesen. Allerdings erhält die Selbsthilfe genauso wie der Erfüllungszwang im abstrakten Recht einen unfreiheitlichen Akzent, soweit sie nicht mit dem Angebot verbunden ist, einen regulativen institutionellen Rahmen zur Lösung der Problematik gemeinsam zu schaffen. Denn dann enthält sie ein einseitiges Sichüberheben des Zwingenden gegenüber dem Gezwungenen. Auch aus der Perspektive einer (antizipierten) substantiellen Staatlichkeit ist danach die eigenmächtig betriebene Enteignung zum Wohle eines, vieler oder gar aller Armen ebenfalls Unrecht. Es liegt hier ein ähnliches Phänomen wie im abstrakten Recht Vgl. namentlich Rph. § 260 f., S. 406 ff.; s. u. Schlußkapitel. Vgl. die anonyme Nachsehr, in: Henrich, 1983, S. 196 f. und dessen Kommentar ebda., S. 20. 49 Rph. § 221, S. 375. 47 48

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vor, wo der Erfüllungszwang ebenfalls in die Freiheitsvemeinung umschlug. Solange allerdings eine substantielle Garantie des sittlichen Rechtsverhältnisses noch nicht besteht, solange ist die enteignende Selbsthilfe zur Herstellung eines sittlich-konkreten Rechtsverhältnisses in dem oben abgesteckten Rahmen ebenso zulässig wie die Ausübung der Zwangsbefugnis im abstrakten Recht. Das Rechtsbewußtsein der Verelendeten reflektiert nun diesen Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft in sich. Sie fühlen sich einerseits als Glieder dieser Gemeinschaft mit den Ansprüchen und Pflichten auf sittlich konkrete Berechtigung und Teilhabe; andrerseits erkennen sie ihre Lage als bloß abstrakt-rechtliche Verhältnisse, ohne daß die Seite des Wohles anerkannt ist. Sie müssen dies gemäß den allgemein gültigen sittlichen Maßstäben für sich auch als Unrecht benennen 50. Gleichzeitig wissen sie auch, daß nach diesen Maßstäben eine Enteignung anderer Bürger zum eigenen Wohl ebenso verboten ist, wie auch das abstrakte Recht keine Befugnis einräumt, sich aus diesem Grund fremdes Eigentum anzueignen. Soweit sie dennoch ohne Einbezug der Selbstbestimmung der Wohlhabenden in einen (zu schaffenden) institutionellen Rahmen eine Umverteilung betreiben, erheben sie schließlich die eigene Partikularität zum Prinzipe. Dies gilt besonders dann, wenn es ihnen nur um das eigene individuelle Wohl zu tun ist. Dies gilt schließlich erst recht dort, wo der Eingriff in die fremde Rechtssphäre so ausfällt, daß er das Opfer seinerseits geistiger oder materieller Not aussetzt. Denn dann ist der Wille gänzlich auf die Perpetuierung derjenigen schlechten Realität nur unter umgekehrten Vorzeichen ausgerichtet, die er selbst als Unrecht zuvor erkannt hatte. Auch hier erweist sich das böse Handeln also als ein unzureichender Zwischenschritt zu einer umfassend allgemeinen Verwirklichung der Grundnorm des Guten. Anzumerken ist allerdings, daß dieses Verhalten durch das Unrecht mitbedingt ist, das den Armen in der bürgerlichen Gesellschaft widerfährt. Die Anomietheorie hat gerade dieses Wechselverhältnis zwischen partiell defizienter Sozialstruktur und dem Bewußtsein der Benachteiligten zum Angelpunkt einer Erklärung der Unrechts genese gemacht. Sie weist auf eine inverse Beziehung zwischen dem Auftreten von Kriminalität und der sozialen Plazierung hin. Dabei wird jedoch dieser statistische Befund gerade nicht aus einem triebhaften Streben nach dem eigenen Wohl erklärt. Vielmehr wird die Reflexion der Betroffenen auf ihren gesellschaftlichen Zustand der Normlosigkeit (Anomie) als Ursprung von Verbrechen angesehen. Anomie sei, kurz gesagt, der Widerspruch einer Gesellschaft mit sich, die zum einen Wohlstand für alle zu einem der höchsten kulturellen Werte erhebe, zum anderen aber den Zugang zu den legitimen Möglichkeiten der Realisierung dieser Ziele nach sozialen Leistungskriterien 50 Rph. § 244 Zus, S. 389 f., Anonyme Nachsehr, in: Henrich, S. 195 f. Ders., ebda., S. 20. Insbes. die Subkulturtheorie in der Kriminalsoziologie hat hierauf aufmerksam gemacht, s. die bahnbrechenden Bücher von Cohen, Delinquent Boys, 1955, S. 49 ff. und Whyte, Street Corner Society, 1967, S. 94 ff., 255 ff. Im Hinblick auf seine Prämissen besonders interessant Matza, Delinquency and Drift, 1964, S. 1 ff., 33 ff., 181 ff.

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ungleich verteile. Wo Unterschichtsangehörigen so gut wie alle legalen Chancen genommen worden seien, an den kulturellen Werten teilzuhaben, dort sei Delinquenz eine realistische Form, den Umständen angepaßt diesen Zielen dennoch nachzugehen 51. Aus der oben beschriebenen geistigen Situation heraus entspringt jetzt die Kriminalität als ein Versuch, den Widerspruch für sich individuell zu lösen. Es geht also auch hier um die Einlösung des Rechts der Besonderheit ähnlich wie im abstrakten Recht auch. Allerdings besteht hier folgender wesentlicher Unterschied: Im dortigen Bezugssystem des formellen Rechts galt die Befriedigung des Wohles noch nicht als ein Recht, während hier das sittlich konkrete Rechtsverhältnis ein solches Recht gerade anerkennt! Aus diesem Grund differieren auch die Rollen, die Verbrecher und Opfer spielen. Im abstrakten Recht wurde der die Vertragserfüllung erzwingende Gläubiger deshalb Opfer einer Straftat, weil sein Verhalten den Schuldner in dessen Personenehre traf. Hier geht es jetzt nicht um eine Reaktion auf die Vertragserfüllung. Stattdessen ist der verfaßte Allgemeinwille, der in der bürgerlichen Gesellschaft ja der eigentlich Verletzte ist, seinerseits eine geforderte Leistung schuldig geblieben, indem er den Teilhabeanspruch betreffs des allgemeinen Wohles nicht eingelöst hat. Der Verbrecher, der aus desorganisierten Verhältnissen kommt, befindet sich daher in der Rolle desjenigen, der zum Erfüllungszwang im abstrakten Recht genötigt ist! Genau wie dieser mit dem Gewaltakt die gesamte Sphäre des formellen Rechts in Frage gestellt hat, ebenso verneint auch jener die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft im Ganzen. Wie die Zwangsbefugnis aufgrund des Fehlens eines Richters in zügellose Selbsthilfe ausartete, so führt der Mangel an einer Institution, die das Grundübel der bürgerlichen Gesellschaft aufheben könnte, ebenfalls zur Ausübung der Selbsthilfe. Obwohl der Rahmen des abstrakten Rechts zum Zwange berechtigte, verkehrt er sich zu Unrecht, weil der Gläubiger sich mit dem Gewaltakt über den Schuldner erheben muß. Mit der Einschränkung bzw. Aufhebung des Privateigentums eines konkreten Tatopfers überhebt sich der Verbrecher ebenso, indem er eine Befugnis wahrnimmt, die nur der substantielle Staat einnehmen darf 52 • Der depravierte Verbrecher nimmt daher in der bürgerlichen Gesellschaft eine Rolle ein, die mit derjenigen des Gläubigers vergleichbar ist, der im abstrakten Recht die Leistung erzwingt. Wie dieser sein subjektives Recht an einer versprochenen Sache geltend macht, so jener sein subjektives Recht auf Partizipation am allgemeinen Wohl. 51 Dazu Merton, in: Sack / König, 1968, S. 283 ff. Enger auf die Probleme der arbeitsteiligen Gesellschaft bezogen formulierte Durkheim sein Anomiemodell, in: Regeln, 1965, S. 156 ff. Vgl. w. Parsons, in: Sack / König, 1968, S. 10 ff. Hervorragende theoriegeschichtliche Einordnung bei Sack, in: Kaiser et. al., KKW, 1985, Art. Kriminalitätstheorien, soziologische, S. 238 ff. Dort auch zur Fortentwicklung dieses Ansatzes in der Theorie differentieller Kontakte bei Sutherland u. a., die oben (1. Kapitel C. lI. 2. b) bb) ddd) ja einbezogen wurde. Zum ganzen neuerdings Marra, ZfRsoz 1989, S. 67 ff. 52 Rph. § 261, S. 407 f.

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2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft

Aus diesem Grund erhält auch die Bestrafung, die notwendig auf diese, jetzt als Verbrechen verbotene Selbsthilfe folgen muß, einen anderen Charakter: Wie der Täter weiß, ist sein Erfüllungszwang sowohl nach positivem Recht als auch nach den Kategorien des abstrakten Rechts untersagt; gleichzeitig sieht er sich jedoch durch das Unrecht, nicht am gesellschaftlichen Reichtum partizipieren zu dürfen, in die Lage gedrängt, nicht anders zu seinem Recht kommen zu können. Damit befindet er sich in der Rolle des Gläubigers im abstrakten Recht, der aufgrund seines Erfüllungszwanges zum Verbrechensopfer wird, s. o. 1. Kapitel B. I. 5.: Die Strafe als negativ-unendliches Urteil verliert ihm gegenüber die Legitimation Verbrechensnegation zu sein, weil der Täter sein Verhalten bereits als zweiten Zwang verstehen kann. Damit erscheint die Strafe ihm gegenüber vom institutionalisierten Allgemeinwillen ausgesprochen ihrerseits als ein Verbrechen, genau wie der Gläubiger im abstrakten Recht die Reaktion des Schuldners auf den Erfüllungszwang als ein Verbrechen ansehen muß. Allerdings unterscheiden sich die Sachlagen auch in zwei Punkten: Aufgrund des Verbotes der Selbsthilfe gilt das Tun des Verarmten nicht als Erfüllungszwang sondern als strafwürdiges Unrecht, während die Strafe in den Augen der Rechtspflege natürlich keine Kriminalität darstellt, vielmehr gerechtfertigt ist. Dennoch ändert dies nichts an der Einschätzung des Täters, der aus desolaten sozialen Verhältnissen kommt, weil und soweit er sein Tun eben als Unrechtsreaktion verstehen kann. Er kennt zwar den Gesetzesbefehl, gegen den er aufbegehrt, und hat in diesem Sinne auch zureichendes Unrechtsbewußtsein, s. o. 1. Kapitel C. 11. 2. a) bb) und D. 11. 3. b). Dennoch steht ihm ein guter Grund zur Seite, die Geltung des Gesetzes für sich zu verneinen, indem er auf das Unrecht verweisen kann, dem er ausgesetzt ist. Für den Zusammenhang zwischen Strafe und Rückfall ist nun folgendes zu beachten: Im Bewußtsein des Täters, der aus depravierten Zuständen stammt, ist Strafe nicht mehr als Wiederherstellung des Rechts zu verstehen; vielmehr gilt sie ihm als Vertiefung des Geltungsverlustes des Rechts, als Intensivierung des ohnehin schon bestehenden Unrechts: Nunmehr ist dieser Täter nicht allein in seiner besonderen Willensseite verletzt, sondern zugleich auch noch in seiner allgemeinen. Damit ist eine Situation erreicht, die derjenigen der Blutrache gleicht, s. o. 2. Kapitel A. 11. Der Täter sieht sich genötigt, zur Restitution seiner Personenhaftigkeit nun seinerseits zu verletzen. Dabei stehen ihm zwei Grundformen der Restitution zur Verfügung: Zum einen muß er Genugtuung für die Verletzung seines besonderen Willens verlangen, zum anderen die Verletzung seines allgemeinen Willens rächen. Letzteres wird selten so geschehen, daß der Täter sich erfolgreich gegen die Organe der Strafrechtspflege wendet, weil und soweit deren Übermacht ihn daran regelmäßig hindern wird. Ganz ausgeschlossen ist ein solches Vorgehen jedoch nicht. Eine andere Möglichkeit der Rache liegt jedoch darin, stellvertretend diejenigen Mit-

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bürger, die am gesellschaftlichen Reichtum partizipieren, deren sittlich konkretes Recht also erfüllt ist, zu verletzen, um sie so auf dieselbe Stufe zu stellen, die der Täter einnehmen muß. Ein nicht geringer Teil der Sachbeschädigungs- und der Gewaltkriminalität läßt sich auf diesem Hintergrund verstehen 53. Viel wichtiger ist allerdings der Bereich der Kriminalität, in dem es dem Betreffenden um eine Kompensation für die Verletzung des besonderen Willens geht: Weil die Strafe zumindest auch die Mangellage perpetuiert, die bereits zur ersten Straftat geführt hat, erneuert sich der Grund zu delinquieren: Zum einen wird dies dazu führen, weitere Vermögensdelikte zu begehen. Darüberhinaus ist aberodie Eingliederung in eine kriminelle Bande bzw. in ein entsprechend tolerantes Milieu dazu geeignet, den mit der Strafe eingetretenen Ehrverlust ebenfalls auszugleichen 54. Weil der Betreffende sich in gleicher Weise motiviert wie beim Ausgangsdelikt auch, so kann man hier vom Rüclifall sprechen. Schon das Faktum der Strafe selbst ohne Blick auf deren Höhe setzt also Bedingungen, durch die der Straffällige aus Vernunftgründen zu weiteren Verbrechen getrieben werden kann. Bezieht man aber noch die Art und Weise konkret ungleicher Strafzumessung gegenüber den Delinquenten, die aus schlechten sozialen Verhältnissen kommen, mit ein, so verschärft sich deren Situation noch: Strafausschließende Kraft hat eine Verletzung des Wohles nur bei Lebensgefahr o. ä., s. o. 1. Kapitel B. 11. 1. Wo in einer notlagenähnlichen Situation gehandelt wurde, ist darin ein Aspekt zu sehen, der die Strafe mildem könnte. Dieser Umstand wird dann aber sogleich durch einen anderen Gesichtspunkt aufgewogen: Bei einem Verbrecher aus desolaten sozialen Verhältnissen ist der Geltungsschein der Umechtsmaxime um ein Vielfaches höher als bei einem Straftäter, bei dem innere und äußere sittliche Bindungen die Macht der Umechtsmaxime relativieren, s. o. 1. Kapitel D. IV. 4. b). Dies muß schon nach dem Vergeltungsprinzip zu einer Strafschärfung führen. Auch auf der Ebene der Strafmaßbestimmungen setzt sich demnach die oben beschriebene Benachteiligung durch: Personen aus der Unterschicht wird zwar im sittlich konkreten Rechtsverhältnis das garantierte Recht der Besonderheit vorenthalten; die Pflichten aus diesem Verhältnis werden aber nicht entsprechend suspendiert. Zu diesem Recht der Besonderheit zählt aber auch die Teilhabe an der gewohnheitsbildenden Macht der Interaktion im Arbeits- und Lebensprozeß der bürgerlichen Gesellschaft, s. o. 1. Kapitel D. 11. 1. Hiervon sind jedoch die Verarmten und Verelendeten ausgeschlossen, s. o. 1. Kapitel D. IV. 1. Das daraus sich ableitende Recht, an der allgemeinen Milderung der Strafen teilhaben zu können (s. o. 2. Kapitel C. I. 3. a), kann ihnen demgemäß ebenfalls nicht einge53 Vgl. Kürzinger, Art. Eigentums- und Vermögenskriminalität, in: Kaiser et. al., KKW, 1985, S. 85 ff., 88 und Art. Gewaltkriminalität, in: Kaiser et. al., KKW, 1985, S. 145 ff., 150 f. m. w. N. 54 s. dazu die in Fn. 50 genannten Arbeiten zur Subkulturtheorie.

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2. Kap. C. Verbrechensreaktion der bürgerlichen Gesellschaft

räumt werden. Folglich schlägt auch hier die ursprüngliche Ungleichbehandlung durch, die jetzt als Strafschärfung in Erscheinung tritt. Mithin perpetuieren sich auf demselben Niveau die Bedingungen des Rückfalls. Über dieses gegenseitige Hochschaukeln von Verbrechen, Rückfall und Strafe vermittelt sich noch ein zweites: Ab einem gewissen Punkt legitimiert die desolate soziale Lage mit ihren Auswirkungen auf die subjektive sittliche Konstitution des Täters nach polizeilichem Sicherungs denken Maßnahmen, die Art und Umfang des schuldangemessenen Strafens sprengen. In letzter Konsequenz mündet dies sogar in der Pathologisierung des Verbrechers, auf den statt mit Strafe mit sicherndem bzw. pädagogisch-therapeutischen Zwang reagiert wird. Nun wird dem Verurteilten nicht mehr nur zeitweise, sondern gewissermaßen unbegrenzt die Personailität aberkannt. Darüberhinaus dient die Pathologisierung latent einem weiteren Zweck: Die Handlungen des Betreffenden gelten öffentlich nicht mehr als Verbrechen; es entsteht der Schein, sein Verhalten tangiere die gewohnheitlich verfestigte Normgeltung nicht mehr (direkt), s. o. 2. Kapitel C. 11. 1. Damit ist anscheinend die Möglichkeit eröffnet, per definitionem den Täter zum pathologischen Fall zu erklären und damit die Gründe seiner Delinquenz nicht mehr beim verfaßten Allgemeinwillen in der Totalität seiner gesellschaftlichen Interaktionen zu suchen, sondern in einer krankhaften Veränderung der Täterpsyche. Die Fehlentwicklung der Strafrechtspflege als Teil derjenigen Instanz, die die Bedingungen von Straftaten und Rückfall perpetuieren, schafft damit zugleich die Voraussetzungen, die ihre Beteiligung an diesem Porzeß verschleiern. Damit scheint es möglich zu sein, trotz starker Delinquenzbelastung einschließlich hoher Rezidivistenzahlen den Eindruck zu vermitteln, daß die Geltung des Gesetzes sowohl subjektiv wie objektiv deswegen nicht beeinträchtigt zu sein scheint, weil und soweit es sich um eine naturgegebene Gewalttätigkeit handelt und nicht um einen geistigen Sachverhalt. b) Der Funktionsverlust der Strafrechtspflege Bisher ist der Rückfall lediglich als ein individuelles Problem eines Täters betrachtet worden. Dem bewegenden Prinzip des aufgezeigten Rückfallkreislaufes kommt allerdings Allgemeinbedeutung zu: Grundsätzlich lebt jeder Bürger, der aus der ständischen Integration herausfällt, in dem oben beschriebenen Dilemma. Daraus folgt nicht zwangsweise die Delinquenz aller dieser davon betroffenen Personen. Schließlich geht es hier nicht um naturgesetzliche Mechanismen. Wo aber die materielle oder geistige Verelendung zur Massenerscheinung wird, dort tritt im selben Umfang eben aus Vernunftgründen Problemlösungsbedarf auf. Dies braucht nicht bei jedem zur Kriminalität zu führen. Vielmehr gibt es auch andere beobachtbare Wege, von denen ja der Rückzug in die Innerlichkeit bis hin zur neurotischen Persönlichkeitsentwicklung bereits hervorgehoben worden

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sind. Wo letzteres in signifikanter Weise eine Antwort auf die erlittenen Strafen wird, kann sich in fataler Weise der (fehlerhafte) Eindruck bestätigen, daß die habituelle Delinquenz pathologischer Natur sei. Manche Straff