Diaspora als Wüstenzeit: Ubersetzungswissenschaftliche Und Theologische Aspekte Des Griechischen Numeribuches 3110425025, 9783110425024

Von den Erkenntnissen der modernen Übersetzungswissenschaft wird in der Septuagintaforschung bisher nur wenig Gebrauch g

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Diaspora als Wüstenzeit: Ubersetzungswissenschaftliche Und Theologische Aspekte Des Griechischen Numeribuches
 3110425025, 9783110425024

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1 Einleitung
1.1 Ausgangslage: Zur Entstehung der Septuaginta
1.2 Kurzer Forschungsüberblick zu Numeri LXX
1.3 Septuagintaforschung und Übersetzungswissenschaft
1.4 Fragestellung und Gliederung der Studie
2 Methodik
2.1 Textgrundlage
2.1.1 Problemstellung
2.1.2 Zur griechischen Textüberlieferung
2.1.3 Die Frage nach der hebräischen Vorlage der Übersetzung
2.1.4 Kreative Prozesse im Frühjudentum
2.1.5 Übersetzungswissenschaftliche Perspektiven
2.1.5.1 Translation als Informationsangebot
2.1.5.2 Skopos und Kohärenz
2.1.5.3 Zusammenfassung
2.1.6 Textkritische Methodik dieser Arbeit
2.1.6.1 Überlieferungssituation des biblischen Buches
2.1.6.2 Vorläufig ermittelte Übersetzungstechnik
2.1.6.3 Externe Bezeugung einer potenziellen hebräischen Vorlage
2.1.6.4 Zusammenfassung
2.2 Auswahl der zu untersuchenden Texte
2.2.1 Gattung, Textsorte, Texttyp
2.2.2 Übersetzungsrelevante Texttypologie
2.2.3 Textauswahl
2.3 Funktionale Translationstheorie
2.3.1 Äquivalenz und Adäquatheit
2.3.2 Retrospektive Anwendung
2.3.3 Funktionale Translation im Überblick
2.4 Theologische Interpretation
2.4.1 Textualität und Theologie
2.4.2 Theologie der Septuaginta und Theologie der Übersetzer
2.5 Aufbau und Darstellung der folgenden Kapitel
3 Numeri 1,20–47: Geordnete Aufzählung
3.1 Übersetzung
3.2 Kommentar
3.2.1 Die Angaben für die einzelnen Stämme (V.20–43)
3.2.2 Die Angabe für ganz Israel (V.44–47)
3.3 Texttyp
3.4 Äquivalenz
3.5 Skopos
4 Numeri 6,22–27: Der segnende Gott
4.1 Übersetzung
4.2 Kommentar
4.2.1 Die Anweisung an die Priester (V.22–24)
4.2.2 Der Segensspruch (V.25–27)
4.3 Texttyp
4.4 Äquivalenz
4.5 Skopos
5 Numeri 10,33–36: Die Bundeslade und die Wolke
5.1 Übersetzung
5.2 Kommentar
5.2.1 Die Bundeslade (V.33–35)
5.2.2 Die Wolke (V.36)
5.3 Texttyp
5.4 Äquivalenz
5.5 Skopos
6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit
6.1 Übersetzung
6.2 Kommentar
6.2.1 Das bösartige Murren (V.1–3)
6.2.2 Die Begierde (V.4–9)
6.2.3 Mose und Gott im Dialog (V.10–23)
6.2.4 Die Zuteilung des Geistes (V.24–30)
6.2.5 Die Wachteln und die Giergräber (V.31–35)
6.3 Texttyp
6.4 Äquivalenz
6.5 Skopos
7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora
7.1 Übersetzung
7.2 Kommentar
7.2.1 Opfervorschriften für das Kulturland (V.1–16)
7.2.2 Die Erstlingsgabe im Kulturland (V.17–21)
7.2.3 Opfer im Fall von Sünde (V.22–31)
7.2.4 Der Fall des Sabbatbrechers (V.32–36)
7.2.5 Gebot über die Quasten an den Kleidern (V.37–41)
7.3 Texttyp
7.4 Äquivalenz
7.5 Skopos
8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht
8.1 Übersetzung
8.2 Kommentar
8.2.1 Der Krieg gegen Arad (V.1–3)
8.2.2 Die Bronzeschlange (V.4–9)
8.2.3 Der Weg ins Gebiet der Amoräer (V.10–20)
8.2.4 Der Krieg gegen die Amoräer und gegen Basan (V.21–35)
8.3 Texttyp
8.4 Äquivalenz
8.5 Skopos
9 Numeri 24,3–9: Der Spruch des Sehers und seine Deutung
9.1 Übersetzung
9.2 Kommentar
9.2.1 Bileams Selbstvorstellung (V.3–4)
9.2.2 Schönheit und Segen Israels (V.5–9)
9.3 Texttyp
9.4 Äquivalenz
9.5 Skopos
10 Numeri 33,1–49: Exakte Ortsangaben
10.1 Übersetzung
10.2 Kommentar
10.2.1 Die Einleitung zum Itinerar (V.1–2)
10.2.2 Das Itinerar (V.3–49)
10.3 Texttyp
10.4 Äquivalenz
10.5 Skopos
11 Ergebnisse und Folgerungen
11.1 Ergebnisse im Rahmen der Skopostheorie
11.1.1 Texttyp
11.1.2 Äquivalenz
11.1.3 Skopos
11.1.4 Zur Anwendung der Skopostheorie in der Septuagintaforschung
11.2 Zur theologischen Tendenz des Übersetzers
11.2.1 Gott und Kult
11.2.2 Mensch und Sünde
11.2.3 Heilige Schrift
11.3 Ausblick
Literaturverzeichnis
Sachregister
Personenregister
Stellenregister
English Summary

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Carsten Ziegert Diaspora als Wüstenzeit

Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft

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Herausgegeben von John Barton, Ronald Hendel, Reinhard G. Kratz und Markus Witte

Band 480

Carsten Ziegert

Diaspora als Wüstenzeit |

Übersetzungswissenschaftliche und theologische Aspekte des griechischen Numeribuches

ISBN 978-3-11-042502-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042126-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042137-8 ISSN 0934-2575 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

|

Für Michaela, Gefährtin in der Wüste

Vorwort Von den Erkenntnissen der modernen Übersetzungswissenschaft wird in der Septuagintaforschung bisher nur wenig Gebrauch gemacht. Um diesem Desiderat zu begegnen, wendet die vorliegende Studie die Skopostheorie (Reiß und Vermehr, 1984), die einen funktionalen Ansatz darstellt, auf das griechische Numeribuch an. Durch eine retrospektive Anwendung der ursprünglich präskriptiv formulierten Theorie lassen sich Rückschlüsse auf den „Sitz im Leben“ der Übersetzung und auf die theologische Tendenz des Übersetzers ziehen. Dass ausgerechnet das vergleichsweise wenig beachtete Numeribuch den Gegenstand der Untersuchung darstellt, ist unter anderem auf den Beruf des Autors zurückzuführen. Wenn man im Tschad an einer Bibelübersetzung für eine Minderheitensprache arbeitet, dann ist es naheliegend, sich mit einem biblischen Buch zu beschäftigen, das die Wüste zum Thema hat. Das Numeribuch, das in einer jüdischen Tradition „In der Wüste“ (‫ )במדבר‬genannt wird, hatte mich schon längere Zeit fasziniert; das gleiche gilt für die Thematik der Bibelübersetzung. Dass aus diesem Interesse ein Promotionsprojekt an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und schließlich ein Buch wurde, ist einer ganzen Reihe von Personen zu verdanken: Prof. Dr. Stefan Schorch hat sich gerne bereit erklärt, das Projekt als Doktorvater zu betreuen, und zwar trotz des erschwerenden Umstands, dass die Kommunikation größtenteils nur aus der Ferne über E-Mail stattfinden konnte. Über die „Fernbetreuung“ hinaus habe ich auch die wenigen Treffen in Halle als sehr angenehm, konstruktiv und ermutigend empfunden. Prof. Dr. Ernst-Joachim Waschke und Prof. Dr. Martin Rösel (Universität Rostock) haben das Zweit- bzw. das externe Gutachten verfasst. Prof. Rösel danke ich insbesondere für die zusätzliche inhaltliche Begleitung, von der ich bereits vor dem offiziellen Beginn des Projekts profitieren konnte. Schon während meines Studiums hat mich Prof. Dr. Heinrich von Siebenthal (Freie Theologische Hochschule Gießen) zur Promotion ermutigt, allerdings brauchte ich einige Jahre, um mich auf diesen Gedanken einzulassen. Den Herausgebern der Reihe BZAW danke ich für die freundliche Aufnahme und den Mitarbeitern des Verlags Walter de Gruyter für die angenehme und professionelle Zusammenarbeit. Diese Studie ist größtenteils im Tschad entstanden, einem Land mit einer für wissenschaftliche Ansprüche nur unzureichenden Infrastruktur. Dass ich sie dennoch erfolgreich zu Ende führen konnte, verdanke ich Freunden, Kollegen und ehemaligen Kommilitonen, die mir bei der Literaturbeschaffung geholfen haben: Dr. Gunnar Begerau, David und Deborah Born, PD Dr. Stefan Fischer, Jörg Hartlieb, Ulrich Hofeditz, Christian Knorr, Micha Köhler, Dres. Adrian und Sabine Pilatz, Andreas Rauhut, Nicole Tamka sowie Harald und Damaris Wetter.

VIII | Vorwort Prof. Dr. Hans Ausloos und Prof. Dr. Bénédicte Lemmelijn haben mir einen gemeinsam verfassten Artikel vor der Veröffentlichung zur Verfügung gestellt, und meine Kollegen Caroline Grant und Robin Holmes (SIL Tschad) haben die englische Zusammenfassung dieser Arbeit gelesen und korrigiert. Meine Eltern haben die Mühe auf sich genommen, mir dringend benötigte Fachbücher auf dem Postweg in den Tschad zu schicken. Leider konnte mein Vater das erfolgreiche Ende des Projekts nicht mehr erleben. Schließlich danke ich meiner Frau, die diese Arbeit durch alle Phasen hindurch begleitet und immer wieder geduldig auf meine (mentale) Anwesenheit verzichtet hat. N’Djaména, Neujahr 2015

Carsten Ziegert

Inhalt Vorwort | VII 1 1.1 1.2 1.3 1.4

Einleitung | 1 Ausgangslage: Zur Entstehung der Septuaginta | 1 Kurzer Forschungsüberblick zu Numeri LXX | 10 Septuagintaforschung und Übersetzungswissenschaft | 14 Fragestellung und Gliederung der Studie | 19

2 Methodik | 21 2.1 Textgrundlage | 21 2.1.1 Problemstellung | 21 2.1.2 Zur griechischen Textüberlieferung | 24 2.1.3 Die Frage nach der hebräischen Vorlage der Übersetzung | 28 2.1.4 Kreative Prozesse im Frühjudentum | 34 2.1.5 Übersetzungswissenschaftliche Perspektiven | 37 2.1.5.1 Translation als Informationsangebot | 38 2.1.5.2 Skopos und Kohärenz | 42 2.1.5.3 Zusammenfassung | 45 2.1.6 Textkritische Methodik dieser Arbeit | 45 2.1.6.1 Überlieferungssituation des biblischen Buches | 47 2.1.6.2 Vorläufig ermittelte Übersetzungstechnik | 49 2.1.6.3 Externe Bezeugung einer potenziellen hebräischen Vorlage | 51 2.1.6.4 Zusammenfassung | 52 2.2 Auswahl der zu untersuchenden Texte | 53 2.2.1 Gattung, Textsorte, Texttyp | 54 2.2.2 Übersetzungsrelevante Texttypologie | 57 2.2.3 Textauswahl | 59 2.3 Funktionale Translationstheorie | 62 2.3.1 Äquivalenz und Adäquatheit | 62 2.3.2 Retrospektive Anwendung | 65 2.3.3 Funktionale Translation im Überblick | 72 2.4 Theologische Interpretation | 73 2.4.1 Textualität und Theologie | 74 2.4.2 Theologie der Septuaginta und Theologie der Übersetzer | 77 2.5 Aufbau und Darstellung der folgenden Kapitel | 81

X | Inhalt 3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3 3.4 3.5

Numeri 1,20–47: Geordnete Aufzählung | 83 Übersetzung | 83 Kommentar | 84 Die Angaben für die einzelnen Stämme (V.20–43) | 84 Die Angabe für ganz Israel (V.44–47) | 94 Texttyp | 98 Äquivalenz | 99 Skopos | 100

4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.4 4.5

Numeri 6,22–27: Der segnende Gott | 102 Übersetzung | 102 Kommentar | 102 Die Anweisung an die Priester (V.22–24) | 102 Der Segensspruch (V.25–27) | 106 Texttyp | 109 Äquivalenz | 110 Skopos | 111

5 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.4 5.5

Numeri 10,33–36: Die Bundeslade und die Wolke | 113 Übersetzung | 113 Kommentar | 113 Die Bundeslade (V.33–35) | 113 Die Wolke (V.36) | 122 Texttyp | 125 Äquivalenz | 126 Skopos | 126

6 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.3 6.4 6.5

Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit | 128 Übersetzung | 128 Kommentar | 130 Das bösartige Murren (V.1–3) | 130 Die Begierde (V.4–9) | 136 Mose und Gott im Dialog (V.10–23) | 143 Die Zuteilung des Geistes (V.24–30) | 158 Die Wachteln und die Giergräber (V.31–35) | 162 Texttyp | 165 Äquivalenz | 166 Skopos | 167

Inhalt

| XI

7 7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5 7.3 7.4 7.5

Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora | 169 Übersetzung | 169 Kommentar | 171 Opfervorschriften für das Kulturland (V.1–16) | 171 Die Erstlingsgabe im Kulturland (V.17–21) | 184 Opfer im Fall von Sünde (V.22–31) | 187 Der Fall des Sabbatbrechers (V.32–36) | 197 Gebot über die Quasten an den Kleidern (V.37–41) | 202 Texttyp | 203 Äquivalenz | 205 Skopos | 207

8 8.1 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.3 8.4 8.5

Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht | 209 Übersetzung | 209 Kommentar | 211 Der Krieg gegen Arad (V.1–3) | 211 Die Bronzeschlange (V.4–9) | 216 Der Weg ins Gebiet der Amoräer (V.10–20) | 222 Der Krieg gegen die Amoräer und gegen Basan (V.21–35) | 229 Texttyp | 240 Äquivalenz | 242 Skopos | 243

9 9.1 9.2 9.2.1 9.2.2 9.3 9.4 9.5

Numeri 24,3–9: Der Spruch des Sehers und seine Deutung | 245 Übersetzung | 245 Kommentar | 246 Bileams Selbstvorstellung (V.3–4) | 246 Schönheit und Segen Israels (V.5–9) | 248 Texttyp | 261 Äquivalenz | 261 Skopos | 262

10 Numeri 33,1–49: Exakte Ortsangaben | 264 10.1 Übersetzung | 264 10.2 Kommentar | 265 10.2.1 Die Einleitung zum Itinerar (V.1–2) | 265 10.2.2 Das Itinerar (V.3–49) | 268 10.3 Texttyp | 279 10.4 Äquivalenz | 280 10.5 Skopos | 282

XII | Inhalt 11 Ergebnisse und Folgerungen | 284 11.1 Ergebnisse im Rahmen der Skopostheorie | 284 11.1.1 Texttyp | 285 11.1.2 Äquivalenz | 287 11.1.3 Skopos | 291 11.1.4 Zur Anwendung der Skopostheorie in der Septuagintaforschung | 297 11.2 Zur theologischen Tendenz des Übersetzers | 302 11.2.1 Gott und Kult | 302 11.2.2 Mensch und Sünde | 305 11.2.3 Heilige Schrift | 306 11.3 Ausblick | 309 Literaturverzeichnis | 311 Sachregister | 326 Personenregister | 331 Stellenregister | 332 English Summary | 336

1 Einleitung 1.1 Ausgangslage: Zur Entstehung der Septuaginta Der Frage nach der Entstehung der Septuaginta kann nur nachgegangen werden, wenn man Erkenntnisse der Übersetzungswissenschaft einbezieht. Denn die als „Septuaginta“ bezeichnete Schriftensammlung besteht zum größten Teil aus Übersetzungen hebräischer (und aramäischer) Texte ins Griechische. Daher ist die Frage nach der Entstehung dieser Sammlung unauflöslich mit der Frage verbunden, wie sich die griechischen Texte als Übersetzungen charakterisieren lassen. Wenn man nach dem „Sitz im Leben“ der einzeln übersetzten und deshalb einzeln zu betrachtenden Septuagintaschriften fragt, dann wird man nur dann auf Ergebnisse hoffen dürfen, wenn man die Texte in ihrer Eigenschaft, Übersetzungstexte zu sein, betrachtet und unter diesem Blickwinkel charakteristische Eigenschaften dieser Texte sammelt und auswertet. Bei der Auswertung solcher Übersetzungseigenschaften konkurrieren in der Forschung verschiedene Ansätze miteinander, deren Extrempositionen zunächst skizziert werden. Strittig ist vor allem die Frage, inwieweit man den Übersetzern der Septuagintaschriften einen theologisch motivierten Gestaltungswillen zugesteht. Haben die Übersetzer ihre hebräische Vorlage lediglich wörtlich-genau abgebildet, ohne eine eigene theologische Intention sprachlich umzusetzen, oder haben sie auch einmal den Wortlaut geändert, ergänzt oder umgestellt, um eine theologische Aussage zu machen, die in der Vorlage nicht oder nicht ganz so deutlich vorkommt? Unter der Voraussetzung der zuerst genannten Alternative vermutete Albert Pietersma den Ursprung der Septuaginta im jüdisch-hellenistischen Bildungswesen.1 Sein Ausgangspunkt ist die Existenz lateinisch-griechischer Übungstexte, die in Schulen verwendet wurden und deren Text interlinear in zwei Spalten dargestellt war.2 Daraus folgt die Vermutung, dass man in jüdischen Schulen der Dia-

1 Grundlegende Darstellung bei Albert Pietersma, „A New Paradigm for Adressing Old Questions: The Relevance of the Interlinear Model for the Study of the Septuagint“, in: Bible and Computer. The Stellenbosch AIBI-6 Conference. Proceedings of the Association Internationale Bible et Informatique «From Alpha to Byte». University of Stellenbosch 17–21 July, 2000, hrsg. von Johann Cook, Leiden und Boston: Brill, 2002, 337–364. 2 Auf die Existenz solcher Texte hat bereits Sebastian P. Brock, „The Phenomenon of the Septuagint“, in: The Witness of Tradition. Papers Read at the Joint Britsh-Dutch Old Testament Conference Held at Woudschoten, 1970, hrsg. von Adam S. van der Woude, OTS 17, Leiden: Brill, 1972, 11–36, hier 29–30, hingewiesen.

2 | 1 Einleitung spora den hebräischen Bibeltext mit Hilfe der griechischen Fassung studiert habe.3 Die Schlussfolgerung in dem von Pietersma entwickelten Modell besagt, dass die Septuaginta-Übersetzungen vorrangig dazu gedient hätten, die Lektüre nicht etwa des griechischen, sondern des hebräischen Textes zu ermöglichen. Der griechische Text habe demnach als Hilfsmittel zum Verständnis des hebräischen Textes gedient4 und sei daher von den ersten Lesern, die meist zweisprachig waren, als „second-order text“ wahrgenommen worden.5 Grundlage für diese Vermutung zum „Sitz im Leben“ der Übersetzungen ist eine Beobachtung an den übersetzten Texten selbst: An vielen Stellen des griechischen Textes lasse sich eine „Dimension der Unverständlichkeit“ feststellen. Der Leser stoße auf hebraisierendes oder sogar unverständliches Griechisch, auf Transkriptionen und auf andere „Verlegenheitsübersetzungen“. Zum Verständnis dieser Stellen sei es für die ersten Leser nötig gewesen, auf den hebräischen Ausgangstext zurückgreifen, der somit zum „de facto-Kontext“ wurde. Pietersma behauptet im Rahmen seiner Argumentation allerdings nicht, dass zweisprachige hebräisch-griechische Texte notwendigerweise existiert hätten, sondern lediglich, dass der griechische Text vom hebräischen Text „sprachlich abhängig“ sei.6 Die Zusammenschau der genannten Beobachtungen, Vermutungen und Schlussfolgerungen bildet das so genannte „Interlinearitäts-Paradigma“, dessen „methodologisches Diktum“ wie folgt lautet: Alle übersetzten Bücher der Septuaginta seien als interlinear übersetzt zu betrachten, es sei denn, die Daten legen etwas anderes nahe.7 Vertreter des Interlinearitäts-Paradigmas, Pietersma eingeschlossen, haben sich in späteren Veröffentlichungen von den zuvor geäußerten Vermutungen zum Ursprung der Septuaginta-Übersetzungen vorsichtig distanziert. Das Modell dient jetzt lediglich als „Metapher“ und als „heuristische Arbeitshilfe“, mit deren Hilfe das Verhältnis zwischen dem griechischen und dem hebräischen Text beschrieben werden kann, und zwar rein deskriptiv.8 Die neuere Variante

3 Pietersma, „A New Paradigm for Adressing Old Questions“, 346, 359. 4 Ebd., 359, bezeichnet die Übersetzung als „crib“. 5 So Cameron Boyd-Taylor, „A Place in the Sun: The Interpretative Significance of LXX-Psalm 18:5c“, in: BIOSCS 31 (1998), 71–105, 73–74. 6 Pietersma, „A New Paradigm for Adressing Old Questions“, 350–351. 7 Ebd., 359. 8 Albert Pietersma, „Beyond Literalism: Interlinearity Revisited“, in: »Translation Is Required.« The Septuagint in Retrospect and Prospect, hrsg. von Robert J.V. Hiebert, SCSS 56, Atlanta: Society of Biblical Literature, 2010, 3–21, 5, 17–18.

1.1 Ausgangslage: Zur Entstehung der Septuaginta

| 3

des Interlinearitäts-Paradigmas hat also nicht den Anspruch, die Ursprünge der Übersetzungen oder ihre Verwendung durch die Rezipienten zu erklären.9 Auch wenn dieses Modell einige sprachliche Phänomene in den Septuagintaschriften angemessen beschreiben kann, bleiben Fragen offen. Denn es gibt in den einzelnen Büchern der Septuaginta genügend Texte, die sich einer Erklärung durch das Interlinearitäts-Paradigma entziehen. Hier sind vor allem die zahlreichen eher sinngetreuen als formgetreuen Wiedergaben in den Übersetzungen zu nennen.10 Darüber hinaus lassen sich spezielle Übersetzungstechniken11 wie Harmonisierungen mit anderen Texten oder intertextuelle12 Anspielungen finden, die offensichtlich theologisch motiviert sind.13 Als weiteres Argument gegen das (ursprüngliche) von Pietersma vorgeschlagene Modell kommt hinzu, dass das dort vorausgesetzte soziale Umfeld besser ins zweite nachchristliche als ins dritte vorchristliche Jahrhundert passt. Denn eine Leserschaft, die den griechischen Text als Hilfsmittel zum Studium des hebräischen Textes verwendet, lässt sich eher mit der Revision14 durch Aquila in Verbindung bringen als mit den ursprüngli-

9 Vgl. Cameron Boyd-Taylor, „Who’s Afraid of Verlegenheitsübersetzungen?“, in: Translating a Translation: The LXX and Its Modern Translations in the Context of Early Judaism, hrsg. von Hans Ausloos u. a., BETL 213, Leuven: Peeters, 2008, 197–210, 205–206. 10 Vgl. Takamitsu Muraoka, „Recent Discussions on the Septuagint Lexicography with Special Reference to the So-called Interlinear Model“, in: Die Septuaginta: Texte, Kontexte, Lebenswelten, hrsg. von Martin Karrer und Wolfgang Kraus, WUNT 219, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008, 221– 235, 222–223. 11 Der Begriff „Übersetzungstechnik“ wird von einigen Septuaginta-Forschern nicht gerne verwendet, weil er mit einer bewusst angewandten Technik oder auch mit einer mechanischen Arbeitsweise konnotiert zu sein scheint. Als Alternative wurde der Begriff „Übersetzungsweise“ vorgeschlagen, um die oft intuitive Arbeitsweise der Septuaginta-Übersetzer zu charakterisieren. Allerdings spricht m. E. nichts dagegen, den Terminus „Übersetzungstechnik“ in einem neutralen Sinne zu verwenden, also ohne eine „Technik“ zu implizieren. Vgl. zur Frage der Terminologie Anneli Aejmelaeus, „Übersetzungstechnik und theologische Interpretation. Zur Methodik der Septuaginta-Forschung“, in: On the Trail of the Septuagint Translators: Collected Essays, 2. Aufl., CBET 50, Leuven, Paris und Dudley: Peeters, 2007, 223–239, 225. 12 Zum Phänomen der Intertextualität (unabhängig von einer Übersetzung) vgl. Stefan Seiler, „Intertextualität“, in: Lesarten der Bibel. Untersuchungen zu einer Theorie der Exegese des Alten Testaments, hrsg. von Helmut Utzschneider und Erhard Blum, Stuttgart: Kohlhammer, 2006, 275–293. 13 Siehe dazu Martin Rösel, „Jakob, Bileam und der Messias. Messianische Erwartungen in Gen 49 und Num 22–24“, in: The Septuagint and Messianism, hrsg. von Michael A. Knibb, BETL 195, Congress Volume Leuven 2004, Leuven: Univ. Press, 2006, 151–175, 153–154. 14 In der Literatur wird terminologisch nicht einheitlich zwischen „Revisionen“ und „Rezensionen“ unterschieden. Hilfreich erscheint das Verständnis von „Revision“ als korrigierende Neuübersetzung, die den Traditionsstrom bereichert, und von „Rezension“ als eher textkritisch motivierte Auswahl aus einer Vielzahl an Texten; in diesem Sinne sprechen Marguerite Harl, Gil-

4 | 1 Einleitung chen ab dem dritten vorchristlichen Jahrhundert angefertigten Übersetzungen.15 Aquilas Übersetzung ist tatsächlich so eng an der hebräischen Vorlage orientiert, dass sie ohne die Vorlage als Bezugstext „undenkbar“ ist.16 Das Interlinearitätsmodell impliziert, dass die Übersetzer der Septuaginta kleine syntaktische Einheiten einzeln und nacheinander möglichst formerhaltend übersetzten. In dieser Hinsicht waren sie weniger Theologen als vielmehr „Techniker“, deren einziges theologisches Anliegen darin bestand, die heiligen Schriften Israels möglichst exakt, zumindest was die Textoberfläche betrifft, zu bewahren.17 Diese Intention kann sich nicht inhaltlich im griechischen Text niedergeschlagen haben. Vielmehr ist die von den Übersetzern vertretene „Theologie der Textbewahrung“ eine Eigenschaft des Übersetzungstextes im Verhältnis zu seiner hebräischen Vorlage. Die griechischsprachigen Rezipienten können zwar die Formtreue als Eigenschaft des Textes wahrgenommen haben, eine direkte theologische Aussage wurde dadurch jedoch nicht vermittelt.

les Dorival und Olivier Munnich, La Bible grecque des septante. Du judaïsme hellénistique au christianisme ancien, 2. Aufl., Initiations au christianisme ancien, Paris: Cerf, 1994, 142, 162, von „jüdischen Revisionen“ und „christlichen Rezensionen“. Klassisch ist die Bezeichnung der jüdischen Revisionen des 2. Jh. n. Chr. als eigene Übersetzungen (in Konkurrenz zur „Old Greek“), so z. B. Sebastian P. Brock, „Bibelübersetzungen I 2. Die Übersetzungen des Alten Testaments ins Griechische“, in: TRE 6, Berlin und New York: de Gruyter, 1980, 163–172; zu den terminologischen Unterschieden vgl. noch Karen H. Jobes und Moisés Silva, Invitation to the Septuagint, Grand Rapids: Baker, 2000, 46–47, sowie Melvin K. H. Peters, „Septuagint“, in: ABD 5, New York: Doubleday, 1992, 1093–1104, 1093–1094. 15 Jennifer M. Dines, The Septuagint, London und New York: T & T Clark, 2004, 53. Für weitere kritische Anfragen an das Interlinearitäts-Paradigma siehe Jan Joosten, „Reflections on the »Interlinear Paradigm« in Septuagintal Studies“, in: Scripture in Transition. Essays on Septuagint, Hebrew Bible, and Dead Sea Scrolls in Honour of Raija Sollamo, hrsg. von Anssi Voitila und Jutta Jokiranta, JSJ.Supp 126, Leiden und Boston: Brill, 2008, 163–178; aus lexikographischer Perspektive vgl. Muraoka, „Recent Discussions on the Septuagint Lexicography“. 16 Guiseppe Veltri, „Der griechische Targum Aquilas. Ein Beitrag zum rabbinischen Übersetzungsverständnis“, in: Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum, hrsg. von Martin Hengel und Anna Maria Schwemer, WUNT 72, Tübingen: Mohr Siebeck, 1994, 92–115, 108; in dieselbe Richtung geht der Vergleich zwischen lateinisch-griechischen Übungstexten und Aquila bei Brock, „The Phenomenon of the Septuagint“, 29–31. 17 Jan Joosten, „Une théologie de la Septante? Réflexions méthodologiques sur la version grecque“, in: RThPh 132 (2000), 31–46, 43–44, nennt dieses Anliegen eine „théologie de la parole“; vgl. auch Martin Rösel, „Schreiber, Übersetzer, Theologen. Die Septuaginta als Dokument der Schrift-, Lese- und Übersetzungskultur des Judentums“, in: Die Septuaginta: Texte, Kontexte, Lebenswelten, hrsg. von Martin Karrer und Wolfgang Kraus, WUNT 219, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008, 83–102, 101, der diesbezüglich von einer „implizite[n] theologische[n] Aussage“ spricht.

1.1 Ausgangslage: Zur Entstehung der Septuaginta

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Doch ist es wirklich so, dass die Übersetzer über die Bewahrung des heiligen Textes hinaus kein eigenes theologisches Anliegen hatten? Diejenigen Phänomene einer Übersetzung, die den Rahmen des Interlinearitäts-Paradigmas sprengen, solche Stellen also, deren griechischer Text vom vorausgesetzten hebräischen Wortlaut stark abweicht, lassen sich auf zweierlei Weise erklären: mit einer alternativen hebräischen Vorlage oder mit eigenen theologischen Akzenten des Übersetzers.18 Die Annahme, dass die Übersetzer ein theologisches Anliegen hatten, das ihr Werk inhaltlich bestimmen durfte, liegt dem von Arie van der Kooij vorgeschlagenen „Schriftgelehrten-Modell“ zugrunde.19 Ausgangspunkt in diesem Modell, das bezüglich der theologischen Intention der Übersetzer eine Maximalposition markiert, ist eine Beobachtung im Buch Ben Sira. Dort wird nicht nur der Autor des Buches als Schriftgelehrter bezeichnet (Sir 38,24–39,11), sondern auch sein Enkel, der Übersetzer (Prol 24–25). Dieses Bild stimme mit den Angaben im Aristeasbrief überein, dass die Übersetzer Männer waren, die die heiligen Schriften kannten, sie erklären und auslegen konnten (§ 32, 305). Insgesamt lasse dies darauf schließen, dass die Septuaginta auf der Grundlage der Interpretationstechniken des Frühjudentums in einem schriftgelehrten Milieu entstand.20 Damit ist Raum für die Möglichkeit, dass die Übersetzer freier mit ihrer Vorlage umgingen als von Pietersma vermutet, bis hin zu „schriftgelehrter Exegese“, was beispielsweise auch Intertextualität beinhalten könne.21 Allerdings löst auch das „Schriftgelehrten-Modell“ nicht alle Fragen. Denn hier lässt sich nur schwer erklären, warum neben den Freiheiten, die sich die Übersetzer an manchen Stellen nahmen, an anderen Stellen der griechische Text extrem hebraisierend wirkt, bis hin zu „ungriechischer“ und schwer verständlicher Ausdrucksweise.22

18 Dass dies keine sich gegenseitig ausschließenden Alternativen sein müssen, zeigt die Analyse bei Martin Rösel, „Salomo und die Sonne. Zur Rekonstruktion des Tempelweihspruchs I Reg 8,12f“, in: ZAW 121 (2009), 402–417, 415–416. Zum methodologischen Verhältnis dieser beiden Erklärungsmuster in der vorliegenden Studie siehe Abschnitt 2.1. 19 Siehe dazu grundlegend Arie van der Kooij, „Perspectives on the Study of the Septuagint: Who are the Translators?“, in: Perspectives in the Study of the Old Testament and Early Judiasm: A Symposium in Honour of Adam S. van der Woude on the Occasion of his 70th Birthday, hrsg. von Florentino García Martínez und Edward Noort, VT.S 73, Leiden und Boston: Brill, 1998, 214–229; Arie van der Kooij, „Zur Frage der Exegese im LXX-Psalter. Ein Beitrag zur Verhältnisbestimmung zwischen Original und Übersetzung“, in: Der Septuaginta-Psalter und seine Tochterübersetzungen. Symposium in Göttingen 1997, hrsg. von Anneli Aejmelaeus und Udo Quast, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000, 366–379. 20 van der Kooij, „Zur Frage der Exegese im LXX-Psalter“, 373–375. 21 Siehe ebd., 378. 22 Pietersma, „A New Paradigm for Adressing Old Questions“, 343–344.

6 | 1 Einleitung Eine relative Mittelposition zwischen dem Interlinearitäts-Paradigma und dem Schriftgelehrten-Modell nimmt Anneli Aejmelaeus ein. Im Gegensatz zu Pietersma geht sie davon aus, dass die Septuaginta eigenständige Texte beinhaltete, die unabhängig vom hebräischen Original gelesen und verstanden werden konnten.23 Dabei rechnet sie durchaus mit Freiheiten, die sich die Übersetzer nahmen, und belegt sie akribisch und umfangreich, vorzugsweise im Bereich der Syntax. Ein Beispiel bietet die Verwendung des participium coniunctum als Wiedergabe eines Hauptsatzes, also der Ersatz einer Parataxe zweier Hauptsätze durch eine Hypotaxe mit Hauptsatz und subordinierter Partizipialkonstruktion.24 Auch dass die Übersetzer manchmal wie Schriftgelehrte gearbeitet hätten, räumt Aejmelaeus ein, zumindest bei ihrer Untersuchung des Deuteronomiums, wo gelegentlich Bezüge auf andere Texte zu finden seien.25 Allerdings wird die formerhaltend-wörtliche Wiedergabe als Standardtechnik betrachtet, als „easy technique“, die regelmäßig angewandt worden sei, sofern aus Sicht der Übersetzer nichts dagegen sprach.26 Unter dem Blickwinkel der linguistischen Pragmatik ist jedoch zu fragen, ob die Vorstellung von solch einer fast schon mechanischen Arbeitsweise plausibel ist. Ist es nicht wahrscheinlicher, dass die Übersetzer auch mit ihrer wörtlichen Arbeitsweise ein kommunikatives Anliegen verfolgten? Gut denkbar ist, dass die formerhaltende Übersetzungstechnik, die oft genug in hebraisierenden und „ungriechischen“ Wiedergaben resultierte, als „Stilmittel der Schlichtheit“ diente und dass diese „Verweigerung der stilistischen Feile als verdecktes Mittel der Rhetorik“ eine religiös motivierte Nähe zum hebräischen Original ausdrücken sollte.27

23 Anneli Aejmelaeus, „Translation Technique and the Intention of the Translator“, in: On the Trail of the Septuagint Translators: Collected Essays, 2. Aufl., CBET 50, Leuven, Paris und Dudley: Peeters, 2007, 59–70, 66. 24 Anneli Aejmelaeus, „Participium coniunctum as a Criterion of Translation Technique“, in: On the Trail of the Septuagint Translators: Collected Essays, 2. Aufl., CBET 50, Leuven, Paris und Dudley: Peeters, 2007, 1–10, 5, weist darauf hin, dass im Pentateuch 60% aller Konstruktionen mit participium coniunctum eine Parataxe wiedergeben. 25 Anneli Aejmelaeus, „Die Septuaginta des Deuteronomiums“, in: On the Trail of the Septuagint Translators: Collected Essays, 2. Aufl., CBET 50, Leuven, Paris und Dudley: Peeters, 2007, 157– 180, 161–162. 26 Aejmelaeus, „Translation Technique and the Intention of the Translator“, 61. Der Begriff der „easy technique“ ist entlehnt von James Barr, The Typology of Literalism in Ancient Biblical Translations, MSU 15, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1979, 26. 27 Knut Usener, „Die Septuaginta im Horizont des Hellenismus. Ihre Entwicklung, ihr Charakter und ihre sprachlich-kulturelle Position“, in: Im Brennpunkt: Die Septuaginta, Bd. 2, hrsg. von Siegfried Kreuzer und Jürgen P. Lesch, BWANT 161, Stuttgart: Kohlhammer, 2004, 78–118, 87–88.

1.1 Ausgangslage: Zur Entstehung der Septuaginta

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Bei Abweichungen auf höherer Ebene wie Zufügungen oder Auslassungen ganzer Sätze oder Absätze geht Aejmelaeus grundsätzlich davon aus, dass eine andere Vorlage Ursache für die Abweichung war, ist aber auch offen für Einzelfallentscheidungen. Allerdings trage derjenige die Beweislast, der mit bewusst vorgenommenen Änderungen rechnet. Denn auch wenn eine alternative Vorlage nicht zu belegen ist, könne man daraus nicht ohne Weiteres auf eine Änderung durch den Übersetzer schließen.28 Nun ist das quantitative Kriterium, durch das Zufügungen und Auslassungen zunächst einmal ausgeschlossen werden sollen, nicht völlig überzeugend. Denn nachweislich konnten im Altertum durchaus Übersetzungen mit quantitativen Unterschieden erstellt werden. Ein Beispiel bietet ein viersprachiger Text, der die Unterwerfung Ägyptens durch die Perser beschreibt und der auf mehreren Stelen festhalten ist. Die ägyptische Fassung ist dabei umfangreicher, während die Versionen in persisch, akkadisch und elamisch kürzer und gleichlautend sind.29 Von ganz ähnlichen Voraussetzungen wie Aejmelaeus geht Robert Hanhart aus. In den Unterschieden zwischen dem Wortlaut des Septuagintatextes und dem der masoretischen Textform sieht er eine Möglichkeit, Informationen über die hebräische Vorlage der Übersetzung zu erhalten, die tatsächlich rekonstruiert werden könne. Nur in den seltensten Fällen sei von einer Interpretation des hebräischen Textes durch den Übersetzer auszugehen.30 Allerdings seien zumindest Ansätze von Aktualisierung in der Übersetzung zu finden. Beispielsweise sei im Königsgesetz des Deuteronomiums ‫ מלך‬mit ἄρχων wiedergegeben worden (Dtn 17,14–15), um den Text für die Leser zur Zeit des Hellenismus zu aktualisieren. Dennoch bleibt die grundsätzliche Bewertung: „The LXX is essentially conservation.“31

28 Anneli Aejmelaeus, „What can we know about the Hebrew Vorlage of the Septuagint?“, in: On the Trail of the Septuagint Translators: Collected Essays, 2. Aufl., CBET 50, Leuven, Paris und Dudley: Peeters, 2007, 71–106, 81, 85. Eine völlig entgegengesetzte Methodik findet sich bei Emanuel Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint in Biblical Research, 2. Aufl., JBS 8, Jerusalem: Simor, 1997, 40, der zunächst von „inner-translational factors“ ausgeht; erst wenn sich eine Abweichung dadurch nicht befriedigend erklären lasse, könne von einer abweichenden Vorlage ausgegangen werden. 29 Rösel, „Schreiber, Übersetzer, Theologen“, 86 mit Hinweis auf TUAT I, 609–613. 30 Robert Hanhart, „The Translation of the Septuagint in Light of Earlier Tradition and Subsequent Influences“, in: Septuagint, Scrolls and Cognate Writings: Papers Presented to the International Symposium on the Septuagint and its Relations to the Dead Sea Scrolls and Other Writings (Manchester, 1990), hrsg. von George J. Brooke und Barnabas Lindars, SCSS 33, Atlanta: Scholars Press, 1992, 339–379, 342: „only in the rarest cases“. 31 Ebd., 343.

8 | 1 Einleitung Bei Unterschieden zwischen dem Wortlaut des hebräischen und dem des griechischen Textes32 von einer alternativen Vorlage auszugehen, hat den unbestrittenen Vorteil, dass dadurch Auffälligkeiten des griechischen Textes, die auf der syntaktisch-lexikalischen Ebene nicht plausibel erklärbar sind, auf die Vorlage zurückgeführt werden können. Ein methodisches Problem tritt jedoch dann auf, wenn in einem solchen Fall die Vorlage nicht durch hebräische Manuskripte belegt werden kann. Sie muss dann nämlich mit Hilfe einer Rückübersetzung rekonstruiert werden,33 und dabei wird vorausgesetzt, dass der Übersetzer wörtlich bzw. formerhaltend vorgegangen ist. Diese Grundannahme ist jedoch keinesfall gesichert; vielmehr sollte erst die Untersuchung der Übersetzung ergeben, ob der Übersetzer wörtlich gearbeitet hat oder nicht.34 Es scheint daher angemessener, für beide Möglichkeiten offen zu sein: dass der Übersetzer eine andere Vorlage als den uns vorliegenden hebräischen Text verwendet hat, aber auch, dass ein auffälliger Unterschied im Wortlaut eine zielgerichtete Übersetzungsleistung darstellt.35 Um zu überzeugenden Ergebnissen zu gelangen, sollte jeder Fall einzeln geprüft werden. Alle bisher genannten Erklärungsmodelle (Pietersma, van der Kooij, Hanhart/Aejmelaeus) haben Stärken und Schwächen. Die Frage, welches dieser Modelle den Charakter der Septuaginta als Übersetzung am besten erklärt, kann nicht ohne Weiteres für „die Septuaginta“ als Ganzes beantwortet werden. Aufgrund der sprachlichen Verschiedenheit der einzelnen Schriften36 sollte man diese Frage für jedes einzelne Buch gesondert stellen.37 Im Rahmen dieser Arbeit soll das griechische Numeribuch als Forschungsgegenstand dienen. Das bietet

32 Die Frage, welche griechischen und hebräischen Texte für einen Textvergleich herangezogen werden sollten, wird ausführlich in den Abschnitten 2.1.2 und 2.1.3 behandelt. 33 Siehe zu diesem Verfahren Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 57–103. 34 Zu diesem methodologischen Dilemma siehe ausführlicher Abschnitt 2.1.1. 35 Vgl. noch die Bemerkung von Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 67: „Too often and without justification scholars assumed that the LXX translation was always literal and stereotyped. When a rendering appeared not to fulfil this characterization, they too quickly turned to reconstructing variant readings on the basis of equivalents listed in the concordances.“ 36 Siehe bereits Henry St. John Thackeray, A Grammar of the Old Testament in Greek According to the Septuagint, Cambridge: University Press, 1909, 13. 37 Vgl. Wolfgang Kraus, „Contemporary Translations of the Septuagint: Problems and Perspectives“, in: Septuagint Research. Issues and Challenges in the Study of the Greek Jewish Scriptures, hrsg. von Wolfgang Kraus und R. Glenn Wooden, SCSS 53, Atlanta: Society of Biblical Literature, 2006, 63–84, 66; ähnlich Anneli Aejmelaeus, „The Significance of Clause Connectors in the Syntactical and Translation-Technical Study of the Septuagint“, in: On the Trail of the Septuagint Translators: Collected Essays, 2. Aufl., CBET 50, Leuven, Paris und Dudley: Peeters, 2007, 43–57, 56.

1.1 Ausgangslage: Zur Entstehung der Septuaginta

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sich aus zwei Gründen an: Zum einen erscheint es aufgrund von frühen Quellen wie dem Aristeasbrief plausibel, dass der Pentateuch vor den übrigen Büchern übersetzt wurde.38 Die Untersuchung der übersetzten Tora oder eines Teils davon führt den Forscher also zu den Anfängen der Bibelübersetzung. Der zweite Grund ist denkbar einfach: Beim griechischen Numeribuch gelten die Charakteristika der Übersetzung als „noch nicht hinreichend erforscht“,39 es ist also ein Erkenntnisfortschritt bezüglich des griechischen Pentateuch als Ganzes zu erwarten. Entsprechend übersichtlich gestaltet sich die im folgenden Abschnitt vorgenommene Auswertung der neueren Literatur. Da eine Untersuchung des bisher wenig beachteten griechischen Numeribuches einen Beitrag zur Erforschung des griechischen Pentateuch leistet, sind möglicherweise auch Erkenntnisse bezüglich der relativen Chronologie der Übersetzungen zu erwarten. Die traditionelle Auffassung setzt voraus, dass die Bücher des Pentateuch in der „kanonischen“ Reihenfolge übersetzt wurden.40 Dieser Auffassung wurde von Cornelis den Hertog widersprochen, der eine Priorität des griechischen Deuteronomiums vor der Übersetzung des Levitikusbuches annimmt.41 Dies versucht er vor allem durch solche Stellen zu belegen, an denen der Levitikus-Übersetzer möglicherweise die Wortwahl des mutmaßlich bereits übersetzten Deuteronomiums aufgreift.42 Bei einer Untersuchung der NumeriÜbersetzung lassen sich eventuell sprachliche oder inhaltliche Bezüge zwischen Numeri und Levitikus LXX einerseits und zwischen Numeri und Deuteronomium LXX andererseits aufdecken, mit deren Hilfe sich Aussagen über potenzielle Abhängigkeiten innerhalb der Bücher des griechischen Pentateuch machen lassen.

38 Emanuel Tov, „Die griechischen Bibelübersetzungen“, in: ANRW II 20.1, Berlin und New York: de Gruyter, 1987, 121–189, 134–135. 39 Martin Rösel und Christine Schlund, „Einleitung zu »Arithmoi. Das vierte Buch Mose«“, in: Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, hrsg. von Martin Karrer und Wolfgang Kraus, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2009, 133. 40 Siehe z. B. Anneli Aejmelaeus, „OTI causale in Septuagintal Greek“, in: On the Trail of the Septuagint Translators: Collected Essays, 2. Aufl., CBET 50, Leuven, Paris und Dudley: Peeters, 2007, 11–29, 19–20. 41 Cornelis G. den Hertog, „Erwägungen zur relativen Chronologie der Bücher Levitikus und Deuteronomium“, in: Im Brennpunkt: Die Septuaginta, Bd. 2, hrsg. von Siegfried Kreuzer und Jürgen P. Lesch, BWANT 161, Stuttgart: Kohlhammer, 2004, 216–228; zur Diskussion vgl. Michael Tilly, Einführung in die Septuaginta, Darmstadt: WBG, 2005, 49–51. 42 den Hertog, „Erwägungen zur relativen Chronologie“, 218–219.

10 | 1 Einleitung

1.2 Kurzer Forschungsüberblick zu Numeri LXX In den letzten 20 Jahren fanden intensive Forschungen am griechischen Numeribuch im Rahmen der Übersetzungprojekte „La Bible d’Alexandrie“43 und „Septuaginta Deutsch“44 statt. Eine weitere umfangreiche Untersuchung entstand im Rahmen der Editionsarbeit des Göttinger Septuaginta-Unternehmens.45 Diese drei großen Kommentarwerke und die in ihrem Kontext entstandenen kleineren Arbeiten zum griechischen Numeribuch werden durch zwei davon unabhängige Artikel ergänzt.46 Die Beiträge werden im Folgenden in chronologischer Reihenfolge dargestellt. Gilles Dorival versucht, die Übersetzung des griechischen Numeribuches in das Spektrum einzuordnen, dessen Eckpunkte die beiden Extreme „wörtlich“ und „frei“ bilden. Vom syntaktischen Standpunkt aus gesehen betrachtet er das Buch als „relativ formerhaltend“, vom lexikalischen Blickwinkel aus dagegen als „relativ frei“.47 In der Übersetzung sei der Sprachgebrauch der griechischen Versionen von Genesis, Exodus und Levitikus aufgegriffen worden.48 Der griechische Text weise zahlreiche auch quantitative Unterschiede zu 𝔐 auf, die gelegentlich auf einer anderen Vorlage basieren, meistens jedoch als Interpretation des Übersetzers („exégèse originale“)49 zu charakterisieren seien. In einigen Fällen sei allerdings nicht feststellbar, welche dieser beiden Möglichkeiten die Ursache für solch eine

43 Gilles Dorival, Les Nombres, La Bible d’Alexandrie 4, Paris: Cerf, 1994. 44 Martin Rösel und Christine Schlund, „Arithmoi. Numeri / Das vierte Buch Mose“, in: Septuaginta Deutsch – Erläuterungen und Kommentare, hrsg. von Martin Karrer und Wolfgang Kraus, Bd. 1: Genesis bis 4. Makkabäer, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2011, 431–522. 45 John W. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, SCSS 46, Atlanta: Society of Biblical Literature, 1998. 46 Anssi Voitila, „The Translator of the Greek Numbers“, in: IX Congress of the International Organization for Septuagint and Cognate Studies, Cambridge 1995, hrsg. von Bernhard A. Taylor, SCSS 45, Atlanta: Society of Biblical Literature, 1997, 109–121; Hans Ausloos, „The Septuagint’s Rendering of Hebrew Toponyms as an Indication of the Translation Technique of the Book of Numbers“, in: Textual Criticism and Dead Sea Scrolls Studies in Honour of Julio Trebolle Barrera. Florilegium Complutense, hrsg. von Andrés Piquer Otero und Pablo A. Torijano Morales, JSJ.Supp 158, Leiden und Boston: Brill, 2012, 35–50. 47 Dorival, Les Nombres, 64–65. 48 Ebd., 158. Hierbei wird eine zeitliche Priorität der genannten Bücher vor Numeri LXX vorausgesetzt. 49 Vgl. Gilles Dorival, „Remarques sur l’originalité du livre grec des Nombres“, in: VIII Congress of the International Organization for Septuagint and Cognate Studies, Cambridge 1992, hrsg. von Leonard Greenspoon und Olivier Munnich, SCSS 41, Atlanta: Society of Biblical Literature, 1995, 89–107.

1.2 Kurzer Forschungsüberblick zu Numeri LXX

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Differenz bilde.50 Manchmal seien die Interpretationen des Übersetzers identisch mit denen der rabbinischen Tradition.51 Durch lexikalische Konnotationen habe der Übersetzer Begriffe der griechischen Kultur aufgenommen. Dazu gehören beispielsweise die Verwendung des Wortes δῆμος (als Übersetzung von ‫משפחה‬, mehrmals in Num 1; 3; 4), das in griechischen Städten wie Athen oder Alexandria eine soziologische Einheit bezeichnete, sowie von γερουσία (für ‫ זקנים‬in Num 22,4.7) zur Bezeichnung eines Ältestenrats.52 In einer weiteren ausführlichen Studie nennt Dorival zahlreiche intertextuelle Bezüge zu den Büchern Genesis, Exodus und Levitikus sowie innerhalb des griechischen Numeribuches.53 Anssi Voitila nimmt als Vertreter der „finnischen Schule“ vor allem syntaktische Fragestellungen in den Blick. Bei der Untersuchung von Verbformen in Narrativtexten stellt er beispielsweise fest, dass weqatal-Formen oft als Futur Indikativ übersetzt worden seien, obwohl der Kontext etwas anderes verlange.54 Aus solchen stereotypen Wiedergaben lasse sich schließen, dass der Übersetzer kurze Textsegmente nacheinander übersetzt habe, ohne den weiteren Kontext zu beachten.55 Auf der anderen Seite findet Voitila aber auch freie und durchaus sinngemäße Wiedergaben wie die Übersetzung der wayyiqtol-Form ‫ ויאמר‬als historisches Präsens λέγει. Ein weiteres Beispiel für freie Wiedergaben sind solche Fälle, in denen der Ausgangstext ein in seinem lexikalischen Gehalt duratives Verb wie ‫ לון‬im wayyiqtol biete, das dann nicht etwa stereotyp als Aorist, sondern seinem lexikalischen Sinn entsprechend als Imperfekt wiedergegeben werde.56 Dennoch bleibt Voitila bei seiner Einschätzung, dass der Übersetzer ohne Beachtung des weiteren Kontextes auf der Grundlage kurzer Textsegmente vorgegangen sei, was zu einer größtenteils formgetreuen („literal“) Übersetzung geführt habe.57 John W. Wevers findet in der Septuagintafassung des Numeribuches zwei gegensätzliche Eigenschaften miteinander verbunden. Einerseits stellt er gravierende Abweichungen von den Regeln der griechischen Grammatik fest, die möglicherweise auf mangelnde sprachliche Kompetenz des Übersetzers schließen lassen. Anderseits findet er auch intelligente Verdeutlichungen sowie Korrekturen

50 Dorival, Les Nombres, 40–42. 51 Ebd., 78. 52 Ebd., 159–162. Zu δῆμος siehe genauer die Ausführungen zu Num 1,20–47 (Seite 86). 53 Gilles Dorival, „Les phénomènes d’intertextualité dans le livre grec des Nombres“, in: ΚΑΤΑ ΤΟΥΣ Ο’. Selon les Septante. Hommage à Marguerite Harl, hrsg. von Gilles Dorival, Paris: Cerf, 1995, 253–285. 54 Voitila, „The Translator of the Greek Numbers“, 112–113. 55 Ebd., 115. 56 Ebd., 118–119. 57 Ebd., 120–121.

12 | 1 Einleitung vermeintlicher Widersprüche des hebräischen Textes.58 Negativ bewertet Wevers eine fehlende Sorgfalt bei der Übersetzung, die zu unbeabsichtigten Auslassungen geführt habe, sowie die stellenweise fehlerhafte griechische Grammatik.59 Positiv dagegen bewertet er, dass formelhafte Wendungen, z. B. in den Kapiteln 1, 2 und 7, unabhängig von der Variation im hebräischen Text konsequent vereinheitlicht worden seien. Entsprechendes gelte für die Glättung von Inkonsistenzen im Ausgangstext, beispielsweise bezüglich des Numerus von Subjekt und Prädikat, sowie für Harmonisierungen mit anderen Texten des Numeribuches.60 Als ausdrücklich „intelligent“ bezeichnet Wevers eine Übersetzungstechnik, die, statt Wort für Wort vorzugehen, sorgfältig und differenziert Tempus und Modus wählt.61 Wevers fasst seine Beobachtungen folgendermaßen zusammen: Die Übersetzung des Numeribuches habe Schwächen, besonders im Bereich der griechischen Grammatik, doch der Übersetzer habe sich bemüht, die Botschaft des Buches in die Lebenswirklichkeit seiner Zeitgenossen zu übertragen, ohne sklavisch Wort für Wort vorzugehen.62 Dennoch gilt für Wevers die als Eingangssatz geäußerte Behauptung: „The Greek translation of Numbers […] is without a doubt by far the weakest volume in the Greek Pentateuch.“63 Martin Rösel weist zunächst darauf hin, dass der Übersetzer des griechischen Numeribuches eine dem protomasoretischen Text sehr nahe stehende Vorlage benutzt habe, die allerdings auch Übereinstimmungen mit dem präsamaritanischen Textzeugen 4QNumb aufweise. Die textliche Nähe zum späteren masoretischen Text lege es nahe, Abweichungen von diesem auf ein interpretatives Interesse des Übersetzers zurückführen.64 Neben dem bereits von Dorival festgestellten Phänomen der Intertextualität nennt Rösel als besonderes Charakteristikum des griechischen Numeribuches Harmonisierungen der Texte innerhalb des Buches wie beispielsweise die Vereinheitlichung des Wortlautes beim Zensusbericht in Num 1.65

58 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, ix. Bereits Zacharias Frankel, Über den Einfluss der palästinischen Exegese auf die alexandrinische Hermeneutik, Leipzig: Barth, 1851, 168, hatte auf diese Inkonsistenz hingewiesen und sie verschiedenen Übersetzern zugeschrieben. 59 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, x–xiii mit Beispielen. 60 Ebd., xv–xviii. 61 Ebd., xxvii. 62 Ebd., xxxiv. 63 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, ix; wahrscheinlich in Anlehnung an Frankel, Über den Einfluss der palästinischen Exegese, 168: „Diese Version gehört zu den verfehltesten der heil. Schrift.“ 64 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 432–433. 65 Ebd., 434–435. Zu den genannten Vereinheitlichungen vgl. in dieser Arbeit Seite 89 zu Num 1,24.

1.2 Kurzer Forschungsüberblick zu Numeri LXX

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Eine eigene Aussageabsicht des Übersetzers lasse sich bei der Aufwertung Moses und Aarons (Num 16,15.18) und bei der Abwertung der Leviten (Num 3,9.10) und Bileams (Num 22–24) feststellen. Durch Aktualisierungen seien die Texte an die Lebenssituation der Leser in Alexandria angepasst worden, beispielsweise durch die Nennung von „Ratsmitgliedern“ (σύγκλητοι βουλῆς) in Num 16,2. Schließlich nennt Rösel theologische Interpretationen, durch die ein gegenüber 𝔐 widerspruchsfreieres Gottesbild vermittelt werde; zudem habe der Übersetzer die Bileam-Orakel messianischer interpretiert, als das im hebräischen Text der Fall sei.66 Als Ort der Übersetzung wird Alexandria angegeben, als spätester Zeitpunkt das Ende des 3. Jh. v. Chr. Bei der Übersetzung sei auf die wahrscheinlich zuvor übersetzten Bücher Genesis, Exodus und Levitikus zurückgegriffen worden.67 Schließlich ist ein Artikel von Hans Ausloos zu nennen, in dem die Arbeitsweise des Numeri-Übersetzers durch die Betrachtung von Ortsätiologien und ihrer Übersetzung untersucht wird. Dies geschieht im Rahmen so genannter „content related criteria“, deren Untersuchung die Arbeitsweise der SeptuagintaÜbersetzer erhellen soll und zu denen Ausloos auch die Wiedergabe von Fachvokabular und von Hapaxlegomena zählt.68 Im griechischen Numeribuch werden die in den Ortsätiologien verwendeten Toponyme in der Regel nicht transkribiert, sondern auf kreative Art und Weise übersetzt, so dass der Sinn des jeweils zugrunde liegenden Wortspiels erhalten bleibe.69 Diese Tatsache zeige, dass sowohl die mehrfach geäußerte Charakterisierung des griechischen Numeribuches als schwächste Übersetzung des Pentateuch70 als auch die Annahme, der Übersetzer habe ohne Beoachtung des Kontextes nur kurze Textsegmente nacheinander wiedergegeben,71 überdacht werden sollte.72

66 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 435–436; vgl. auch Martin Rösel, „Die Septuaginta und der Kult. Interpretationen und Aktualisierungen im Buch Numeri“, in: La double transmission du texte biblique (Hommage à A. Schenker), hrsg. von Yohanan A.P. Goldman und Christoph Uehlinger, OBO 179, Fribourg: Editions Universitaires, 2001, 25–40; zu den Bileam-Texten siehe Rösel, „Jakob, Bileam und der Messias“. 67 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 436. 68 Ausloos, „The Septuagint’s Rendering of Hebrew Toponyms“, 38–39; vgl. auch Hans Ausloos und Bénédicte Lemmelijn, „Content-Related Criteria in Characterising the LXX Translation Technique“, in: Die Septuaginta – Texte, Theologien, Einflüsse, hrsg. von Wolfgang Kraus und Martin Karrer, WUNT 252, Tübingen: Mohr Siebeck, 2010, 357–376. 69 Vgl. z. B. in dieser Arbeit Seite 135 zu Num 11,3 und Seite 164 zu Num 11,34. 70 Z. B. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, ix; Frankel, Über den Einfluss der palästinischen Exegese, 168. 71 Voitila, „The Translator of the Greek Numbers“, 120. 72 Ausloos, „The Septuagint’s Rendering of Hebrew Toponyms“, 49–50.

14 | 1 Einleitung Trotz einer Vielzahl wertvoller Beobachtungen fällt bei den genannten Arbeiten auf, dass von den Erkenntnissen der modernen Übersetzungswissenschaft nur wenig Gebrauch gemacht wird. Kriterien zur Bewertung der Übersetzungsleistung werden in der Regel nicht angegeben. Auch wenn einzelne Phänomene der Übersetzung ausführlich beschrieben werden, sind die Bewertungen meist von recht allgemeiner Art wie beispielsweise die von Wevers vorgenommene Charakterisierung als schwächste Übersetzung des Pentateuch.73 Dieser Mangel an Bewertungen beherrscht nicht nur die Arbeiten zum griechischen Numeribuch, sondern lässt sich, von Ausnahmen abgesehen, im gesamten Bereich der Septuagintaforschung beobachten.74 Was fehlt, ist die konsequente Auswertung sprachlicher Beobachtungen an Septuagintatexten anhand einer modernen übersetzungswissenschaftlichen Theorie. Damit ließen sich Hypothesen über den „Sitz im Leben“ der einzelnen Septuagintaschriften auf eine breitere argumentative Basis stellen.

1.3 Septuagintaforschung und Übersetzungswissenschaft Dass auch die Übersetzungswissenschaft etwas zum Thema „Bibelübersetzung“ beizutragen hat, wurde von Theologen bereits vor 30 Jahren erkannt, als Vetreter beider Fachrichtungen sich zu einem Symposium trafen.75 Inzwischen wird auch in der Septuagintaforschung die Anwendung übersetzungswissenschaftlicher Methoden gelegentlich diskutiert.76 Einen konzisen Überblick über neuere Methoden und ihre potenzielle Anwendbarkeit hat Theo van der Louw beim

73 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, ix. 74 Eine Ausnahme stellen solche Arbeiten dar, die auf dem Ansatz der Descriptive Translation Studies basieren, der meines Wissens jedoch noch nicht auf das Numeribuch angewandt wurde; siehe dazu Abschnitt 1.3 (Seite 17) sowie beispielhaft Cameron Boyd-Taylor, „Toward the Analysis of Translational Norms: A Sighting Shot“, in: BIOSCS 39 (2006), 27–46. 75 Siehe dazu Joachim Gnilka und Hans Peter Rüger, Hrsg., Die Übersetzung der Bibel – Aufgabe der Theologie: Stuttgarter Symposion 1984, Texte und Arbeiten zur Bibel 2, Bielefeld: LutherVerlag, 1985. 76 Beispielsweise wird die Anwendung einer übersetzungswissenschaftlichen Theorie stark befürwortet von Albert Pietersma, „LXX and DTS: A New Archimedean Point for Septuagint Studies?“, in: BIOSCS 39 (2006), 1–11, 4.

1.3 Septuagintaforschung und Übersetzungswissenschaft

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XII Congress of the IOSCS präsentiert,77 der später in seiner Dissertation in leicht erweiterter Form erschien.78 Im Einzelnen nennt er die folgenden Theorien: – Ansätze, die auf die Kommunikation einer „Botschaft“ in der Zielsprache ausgerichtet sind, lassen sich van der Louw zufolge aufgrund ihrer präskriptiven Natur weniger gut in der Septuagintaforschung anwenden.79 Hierzu zählen die vor allem durch Eugene A. Nida propagierte dynamische bzw. funktionale Äquivalenz 80 sowie die von Ernst-August Gutt entwickelte Relevanztheorie.81 – Das gelte in verstärkter Form für ideologisch motivierte Ansätze, die eine bestimmte Übersetzungspraxis auf der Grundlage einer bestimmten theologischen oder politischen Überzeugung propagieren.82 Als Beispiel kann die „Bibel in gerechter Sprache“ dienen, die unter genau diesen Voraussetzungen erstellt wurde.83 – Als wenig anwendbar bezeichnet van der Louw auch die Übersetzungskritik,84 da sie ihrem Wesen nach normativ sei. Der Anspruch, durch Fehleranalyse die Qualität einer Übersetzung zu verbessern, lasse sich nicht auf die Septuagintaforschung übertragen. Eine dezidierte Ausgangstextanalyse, wie in neueren Arbeiten zur Übersetzungskritik vorgeschlagen,85 sei bei der Übersetzung

77 Theo A.W. van der Louw, „Approaches in Translation Studies and Their Use for the Study of the Septuagint“, in: XII Congress of the International Organization for Septuagint and Cognate Studies, Leiden 2004, hrsg. von Melvin K.H. Peters, SCSS 54, Leiden und Boston: Brill, 2006, 17– 28. 78 Theo A.W. van der Louw, Transformations in the Septuagint: Towards an Interaction of Septuagint Studies and Translation Studies, CBET 47, Leuven, Paris und Dudley: Peeters, 2007, 12–23. 79 Ebd., 22–23. 80 Eugene A. Nida, Toward a Science of Translating with Special Reference to Principles and Procedures Involved in Bible Translating, Leiden und Boston: Brill, 1964; Eugene A. Nida und Charles R. Taber, The Theory and Practice of Translation, 1969, ND, Leiden und Boston: Brill, 2003; Jan de Waard und Eugene A. Nida, From one Language to Another: Functional Equivalence in Bible Translation, Nashville: Nelson, 1986. 81 Ernst-August Gutt, Translation and Relevance. Cognition and Context, Oxford: Blackwell, 1991, 190, bezeichnet seine Theorie allerdings als „neither descriptive nor prescriptive in its thrust, but explanatory“. 82 van der Louw, Transformations in the Septuagint, 18. 83 Siehe zu dieser Bewertung beispielsweise Jens Schröter, „Ideologie und Freiheit“, in: Bibel in gerechter Sprache? Kritik eines misslungenen Versuchs, hrsg. von Ingolf U. Dalferth und Jens Schröter, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, 1–30, 7, 29. 84 Siehe z. B. Katharina Reiß, Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik. Kategorien und Kriterien für eine sachgerechte Beurteilung von Übersetzungen, München: Hueber, 1971. 85 Siehe z. B. Christiane Nord, Textanalyse und Übersetzen. Theoretische Grundlagen, Methode und didaktische Anwendung einer übersetzungsrelevanten Textanalyse, 4. Aufl., Tübingen: Groos, 2009.

16 | 1 Einleitung





der Septuagintaschriften wahrscheinlich nicht vorgenommen worden, daher sollten die Übersetzungen auch nicht daran gemessen werden.86 Hier lässt sich jedoch einwenden, dass zumindest die Ausgangstextanalyse als ein Element der Übersetzungskritik in eine deskriptive Bewertung der Übersetzungsleistung eingehen könnte. Dies erscheint vielversprechend, wenn man sich die Frage stellt, wie die Übersetzer ihren hebräischen Text verstanden haben könnten. Es geht hier also nicht darum, ein Buch der Septuaginta als angemessene oder ungenügende Übersetzung zu bewerten und aufgrund der gefundenen „Fehler“ Alternativvorschläge für eine Revision zu machen. Vielmehr könnte durch eine Analyse des hebräischen Textes ermittelt werden, wie der Übersetzer seine Vorlage höchstwahrscheinlich verstand,87 um seine Übersetzungsentscheidungen besser nachvollziehen zu können. In der kognitionspsychologischen Forschung werden systematisch Entscheidungen ausgewertet, die Übersetzer im Verlauf ihrer Arbeit treffen müssen. Diese Auswertungen erfolgen beispielsweise durch „think aloud“-Protokolle. Die kognitionspsychologische Forschung könne möglicherweise genutzt werden, um die Plausibilität von Hypothesen über die Arbeitsweise der Septuaginta-Übersetzer zu testen. Beispielsweise hat Chaim Rabin die These aufgestellt, dass sich die Arbeitsweise der Septuaginta-Übersetzer mit der von Dragomanen vergleichen lasse.88 Bei diesen handelt es sich um professionelle Dolmetscher, also mündlich arbeitende Übersetzer gesprochener Sprache, die in der Antike im Bereich des Handels oder des Justizwesens eingesetzt wurden. In Auseinandersetzung mit Rabins „Dragoman-Hypothese“ stellt van der Louw fest, dass diejenigen Eigenschaften einer Übersetzung, die nach Rabin den Stil eines Dolmetschers im Gegensatz zum (schriftlich arbeitenden) Übersetzer ausmachen, nach der Ergebnissen der kognitionspsychologischen Forschung eher auf einen unerfahrenen im Gegensatz zum erfahrenen Übersetzer schließen lassen.89 Die historische Erforschung von Übersetzungstechniken und -theorien könnte sich ebenfalls in der Septuagintaforschung als fruchtbar erweisen. Für besonders vielversprechend hält van der Louw die Betrachtung des griechisch-

86 van der Louw, Transformations in the Septuagint, 17–18. 87 Zum Verhältnis von hebräischem Bezugstext und Vorlage des Übersetzers siehe ausführlich Abschnitt 2.1. 88 Chaim Rabin, „The Translation Process and the Character of the Septuagint“, in: Textus 6 (1968), 1–26, 21–24. 89 van der Louw, Transformations in the Septuagint, 14–16.

1.3 Septuagintaforschung und Übersetzungswissenschaft





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römischen Kontextes, beispielsweise durch eine Auswertung von Ciceros Ausführungen über seine Tätigkeit als Übersetzer.90 Die linguistisch orientierten Modelle der sechziger und siebziger Jahre91 können nach van der Louw dazu dienen, solche Phänomene einer Übersetzung zu klassifizieren, die gemeinhin als „freie Wiedergaben“ bezeichnet werden. Diese Phänomene deutet er als „Transformationen“, d. h. als Abweichungen von einer potenziellen wörtlichen Wiedergabe des Ausgangstextes. In der Septuagintaforschung könne die Identifikation solcher Transformationen zeigen, dass ungewöhnliche Wiedergaben nicht notwendigerweise mit einer alternativen hebräischen Vorlage oder einer theologischen Interpretation des Übersetzers erklärt werden müssen, sondern auch durch die Strukturen der Zielsprache veranlasst sein können.92 Die Anwendbarkeit dieser Methodik hat van der Louw in seiner Dissertation demonstriert.93 Bei dem vor allem von Gideon Toury propagierten Ansatz der Descriptive Translation Studies (DTS) steht die Untersuchung übersetzter Texte in ihrer Zielkuktur im Vordergrund.94 Dabei beschreibt das Stichwort „Akzeptanz“ die Stellung eines Übersetzungstextes in der Zielsprache und -kultur. Das Stichwort „Adäquatheit“ dagegen trägt der Tatsache Rechnung, dass ein Übersetzungstext immer auf einen Ausgangstext in einer anderen Sprache und Kultur bezogen ist, den er repräsentiert.95 Innerhalb der „Descriptive Translation Studies“ geht man davon aus, dass jeder Übersetzungsprozess von diversen „Normen“ bestimmt ist.96 Als Anwendung auf die Septuagintaforschung schlägt van der Louw vor, Septuagintatexte zunächst im Vergleich mit anderen griechischen Texten der hellenistischen Periode zu untersuchen, um festzustellen, welche Erwartungen in der Zielkultur an einen Text gestellt wurden („Akzeptanz“). Anschließend könne ein kritischer Vergleich der Übersetzung mit dem Ausgangstext hergestellt werden („Adäquatheit“).

90 van der Louw, „Approaches in Translation Studies“, 27–28. 91 Van der Louw nennt diese Modelle nicht explizit, doch zeigt ein Blick auf seine „Transformationen“ den Einfluss der kontrastiven Linguistik und der Stylistique comparée; siehe dazu van der Louw, Transformations in the Septuagint, 59–60; vgl. Radegundis Stolze, Übersetzungstheorien. Eine Einführung, 4. Aufl., Tübingen: Narr, 2005, 69. 92 van der Louw, Transformations in the Septuagint, 16–17, 57–58. 93 Ebd., 93–356. 94 Gideon Toury, Descriptive Translation Studies and Beyond, 2. Aufl., Benjamins Translation Library, Amsterdam: Benjamins, 2012, 17–34. 95 Ebd., 69–70. 96 Siehe ebd., 79–92.

18 | 1 Einleitung





Bei einer solchen Untersuchung sollten die „Normen“ ermittelt werden können, die den Verlauf der Übersetzung bestimmt haben.97 Cameron Boyd-Taylor hat die Konzepte von DTS beispielhaft auf die Perikope Dtn 19,16–21 angewandt. Er stellt fest, dass die Übersetzung, verglichen mit anderen griechischen Texten der entsprechenden Epoche, relativ wenig Partikeln enthalte. Die „Akzeptanz“ des übersetzten Textes stuft er deshalb als gering ein. Die Ursache für diese Art der Übersetzung sei eine enge formale Anlehnung an den hebräischen Wortlaut.98 Als eine die Übersetzung bestimmende Norm stellt Boyd-Taylor „Isomorphie“ fest, also eine zu realisierende Strukturgleichheit zwischen hebräischem und griechischem Text. Daraus folgert er dann, dass die Übersetzung nicht als eigenständiges literarisches Werk intendiert gewesen sei, was allerdings ohne Beleg bleibt.99 Auch die erwähnte Schlussfolgerung einer niedrigen Akzeptanz aufgrund der geringen Anzahl an Partikeln ist nicht zwingend. Denn es ist durchaus möglich, dass im soziokulturellen Umfeld des Übersetzers gerade ein Text mit formalen Anleihen an der hebräischen Sprache und einem Stil, der den Stil der hebräischen heiligen Schriften imitierte, nicht nur akzeptiert, sondern auch erwünscht war.100 Ob DTS für die Septuagintaforschung tatsächlich in größerem Rahmen fruchtbar gemacht werden kann, ist trotz eines zeitweisen „Hype“ im Kontext der IOSCS101 zweifelhaft. Der Forschungszweig der korpusbasierten Ansätze ist von den „Descriptive Translation Studies“ beeinflusst. Durch die Untersuchung größerer Textkorpora werden allgemeingültige Eigenschaften von Übersetzungen („translation universals“) ermittelt. Beispielsweise lässt sich feststellen, dass Übersetzungen dazu tendieren, länger zu sein als das zugrunde liegende Original, oder dass sie oft Strukturen der Ausgangssprache enthalten. Möglicherweise können korpusbasierte Ansätze in der Septuagintaforschung dazu beitragen, echte Übersetzungen von Pseudo-Übersetzungen zu unterscheiden.102 Bei einem funktionalen Ansatz (Skopostheorie) steht der Zweck, der „Skopos“ einer Übersetzung im Vordergrund. Dieser soll alle Entscheidungen im Ver-

97 van der Louw, Transformations in the Septuagint, 20–21. 98 Boyd-Taylor, „Toward the Analysis of Translational Norms“, 38–40. 99 Ebd., 45–46. Hier war sicher eine gewisse Affinität des Interpreten zum „InterlinearitätsParadigma“ ausschlaggebend. 100 Vgl. Usener, „Die Septuaginta im Horizont des Hellenismus“, 87–88. 101 Pietersma, „LXX and DTS“; Gideon Toury, „A Handful of Methodological Issues in DTS: Are They Applicable to the Study of the Septuagint as an Assumed Translation?“, in: BIOSCS 39 (2006), 13–25. 102 van der Louw, Transformations in the Septuagint, 22–23.

1.4 Fragestellung und Gliederung der Studie |

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lauf eines Übersetzungsprozesses bestimmen. Obwohl die Theorie demnach präskriptiv ist, sieht van der Louw Möglichkeiten der Anwendung in der Septuagintaforschung. Beispielsweise könnten der Wechsel zwischen Hebraismen und idiomatischen Wiedergaben, interpretierende Übersetzungen oder auch Zufügungen und Auslassungen auf die intendierte Funktion der Septuagintaschriften zurückzuführen sein. Da jedoch der konkrete Zweck der einzelnen Septuagintaübersetzungen nicht bekannt sei, könne ein angenommener Skopos lediglich als Arbeitshypothese zur Erklärung der sprachlichen Phänomene eines Textes dienen.103 Tatsächlich wird in der vorliegenden Untersuchung von einem funktionalen Verständnis von Übersetzung ausgegangen. Dazu werden die linguistischen Phänomene der zu untersuchenden griechischen Texte im Vergleich zu den zugrunde liegenden hebräischen Texten mit Hilfe des methodischen Inventars der Skopostheorie analysiert. Die Theorie wird also entgegen ihrer ursprünglichen präskriptiven Bestimmung retrospektiv auf eine bestehende Übersetzung angewandt.104 Dies ist bereits exemplarisch geschehen, und zwar für die griechischen Fassungen der Bücher Ruth und Ezechiel,105 jedoch noch nicht für einen Teil des Pentateuch. Für eine genauere Beschreibung der Theorie sei auf die Abschnitte 2.1.5, 2.2.2 und 2.3.1 verwiesen. Die Aufstellung zeigt, dass es genügend bisher ungenutzte Möglichkeiten gibt, übersetzungswissenschaftliche Methoden in der Septuagintaforschung anzuwenden. Die Diskussion über die Anwendung dieser Methoden ist noch recht jung und scheint bisher nicht wirklich voranzukommen. Es ist zu hoffen, dass durch diese Studie eine erweiterte Diskussionsgrundlage geschaffen wird.

1.4 Fragestellung und Gliederung der Studie Nach den bisherigen Vorüberlegungen lässt sich die Fragestellung der vorliegenden Arbeit wie folgt formulieren: Es ist zu ermitteln, welche Eigenheiten das griechische Numeribuches im Vergleich zu seiner mutmaßlichen hebräischen Vorlage

103 Ebd., 19–20. 104 Siehe Abschnitt 2.3.2. 105 Carsten Ziegert, „Das Buch Ruth in der Septuaginta als Modell für eine integrative Übersetzungstechnik“, in: Bib 89 (2008), 221–251; Daniel M. O’Hare, „Have You Seen, Son of Man?“ A Study of the Translation and Vorlage of LXX Ezekiel 40–48, SCSS 57, Atlanta: Society of Biblical Literature, 2010.

20 | 1 Einleitung aufweist. Die Eigenheiten der Übersetzung sollen in eine moderne übersetzungswissenschaftliche Theorie eingeordnet, von dieser her gedeutet und bewertet werden. Erst wenn diese übersetzungskritische Arbeit getan ist, kann nach der Intention des Übersetzers und dem mutmaßlichen „Sitz im Leben“ des griechischen Numeribuches gefragt werden. Aus den zu erwartenden Ergebnissen wie auch aus der zugrunde liegenden Methodik sollten sich über das Numeribuch hinaus Folgerungen für die Septuagintaforschung insgesamt ergeben. Die Methodik dieser Arbeit wird im folgenden Kapitel (2) in den Blick genommen. Dabei ist zunächst (Abschnitt 2.1) die Frage nach der textlichen Grundlage der Untersuchung zu stellen. Auch wenn der Schwerpunkt dieser Arbeit ausdrücklich nicht auf der Textkritik liegt, muss dennoch nach dem Verhältnis des griechischen Textes (bzw. der griechischen Texte) zu den uns heute vorliegenden hebräischen Texten gefragt werden. Eine zweite methodische Frage (2.2), die sich schon durch den Umfang des Numeribuches stellt, ist die nach der Auswahl der zu untersuchenden Texte. Zweckmäßig erscheint eine Textauswahl, die das Buch als Ganzes angemessen repräsentiert. Im Vergleich zu den meisten der im Forschungsüberblick genannten Arbeiten106 ist die Grundlage der vorliegenden Arbeit zwar ein relativ kleines Textkorpus, das aber dafür detailliertere Untersuchungen zulässt. Ein dritter Abschnitt im Rahmen der methodischen Erwägungen (2.3) klärt, wie die gewählte übersetzungswissenschaftliche Theorie konkret zur Untersuchung von Septuagintatexten verwendet werden kann. Anschließend (2.4) soll gefragt werden, ob – und wenn ja, wie – aus den bis dahin ermittelten Charakteristika des griechischen Numeribuches Rückschlüsse auf eine theologische Intention des Übersetzers gezogen werden können. Ein letzter Abschnitt (2.5) erläutert den Aufbau der folgenden Kapitel. Die Kapitel 3 bis 10 bilden den Hauptteil der Arbeit. Hier werden die ausgewählten griechischen Texte des Numeribuches untersucht und aus übersetzungswissenschaftlicher Perspektive ausgewertet. Die Überschriften dieser Kapitel haben lediglich informellen Charakter und erheben nicht den Anspruch, eine exakte Aussage über die Übersetzung des jeweiligen Textes zu machen. Dennoch kommt in manchen Überschriften bereits ansatzweise zur Sprache, was sich im Verlauf dieser Kapitel als Anliegen des Übersetzers herauskristallisieren wird. Das Schlusskapitel (11) fasst die Ergebnisse der vorherigen Kapitel zusammen. Dabei werden Folgerungen für das griechische Numeribuch als Ganzes sowie für die Septuagintaforschung im Allgemeinen gezogen.

106 Siehe Abschnitt 1.2.

2 Methodik Die übersetzungwissenschaftliche Grundlage dieser Arbeit bildet ein funktionaler Ansatz, namentlich die Skopostheorie.1 Solch ein Ansatz baut auf der Annahme auf, dass die intendierte Funktion einer Übersetzung (der „Skopos“) den Übersetzungsprozess maßgeblich bestimmen soll. Die Begründung für die Wahl dieses Instrumentariums wird sich aus der Darstellung in diesem Kapitel ergeben. Es wird deutlich werden, dass zwischen den üblicherweise im Rahmen der Septuagintaforschung zu erwartenden methodischen Themenbereichen und der genannten Übersetzungstheorie Überscheidungen vorliegen. Daher erscheint es vorteilhaft, das übersetzungswissenschaftliche Instrumentarium sukzessive einzuführen. Zunächst werden Erwägungen zur Textgrundlage (Abschnitt 2.1) und zur Auswahl der zu untersuchenden Texte (2.2) angestellt. Darin eingebettet sind bereits erste Darstellungen von Teilbereichen der Skopostheorie: Abschnitt 2.1.5 eröffnet einen übersetzungswissenschaftlichen Blickwinkel auf die Frage nach der Textgrundlage, später stellt Abschnitt 2.2.2 den Begriff der „übersetzungsrelevanten Texttypologie“ in den Kontext der Textauswahl. Die bis dahin noch nicht dargestellte übersetzungswissenschaftliche Terminologie wird in Abschnitt 2.3 präsentiert. Der vorletzte Abschnitt des Kapitels (2.4) fragt nach den methodischen Voraussetzungen, die theologische Intention des Übersetzers, wenn sie denn existierte, zu ermitteln. Schließlich (2.5) wird in Anlehnung an die methodischen Überlegungen beschrieben, welcher Aufbau und welche Art der Darstellung sich für die Kapitel 3 bis 10, in denen die ausgewählten Texte analysiert werden, anbieten.

2.1 Textgrundlage 2.1.1 Problemstellung Eine grundsätzliche Schwierigkeit bei der Untersuchung von Septuagintatexten ergibt sich aus der engen Verzahnung dreier Arbeitsbereiche. Hierbei handelt es sich erstens um die Textkritik der Hebräischen Bibel, zweitens um die Textkritik der Septuaginta und drittens um die Frage nach der Übersetzungstechnik der Septuaginta. Diese drei Bereiche bedingen sich wechselseitig, und die Arbeit in

1 Vgl. Seite 18 im übersetzungswissenschaftlichen Überblick.

22 | 2 Methodik jeweils einem von ihnen setzt Erkenntnisse aus den anderen beiden Gebieten voraus:2 1. Bei der Textkritik der Hebräischen Bibel wird gewöhnlich ein Basistext (meist 𝔐) mit Varianten verglichen. Letztere müssen nicht notwendigerweise durch hebräische Manuskripte belegt sein, sondern können auch in Form einer Übersetzung, beispielsweise ins Griechische, vorliegen. Um nun in griechischer Sprache bezeugte Lesarten tatsächlich als Varianten des hebräischen Basistextes auswerten zu können, muss aus dem griechischen Text durch Rückübersetzung die mutmaßliche hebräische Vorlage der Übersetzung rekonstruiert werden.3 Hier ist allerdings zu beachten, dass die uns vorliegenden griechischen Textzeugen selbst eine komplizierte Textgeschichte aufweisen. Gleichzeitig ist bei der Rückübersetzung ins Hebräische Vorsicht geboten, da dieses Vorgehen ja gerade eine bestimmte Vorstellung von der Übersetzungstechnik der Septuagintaschriften voraussetzt. Um hier methodisch sauber zu arbeiten, ist es nötig, die in dem entsprechenden Buch angewandte Übersetzungstechnik möglichst genau zu kennen.4 2. Versucht man auf der anderen Seite, den ursprünglichen Text einer Septuagintaschrift zu ermitteln, so wird man beim Vergleich verschiedener griechischer Manuskripte eine bestimmte hebräische Vorlage voraussetzen müssen.5 Außerdem sollten auch hier bereits Informationen über die Übersetzungstechnik vorliegen, damit man eine bestimmte griechische Lesart als ursprünglich, also als tatsächliche Übersetzung der hebräischen Vorlage postulieren kann. 3. Wer sich schwerpunktmäßig mit der Übersetzungstechnik der Septuaginta beschäftigt, geht meistens von einem griechischen und einem hebräischen Text aus und vergleicht diese miteinander. Hier ergibt sich natürlicherweise das Problem, welcher griechische Text mit welchem hebräischen Text verglichen werden soll. Im Hintergrund steht die Frage, ob ein zu Rate gezogener hebräischer Text tatsächlich die Vorlage des untersuchten griechischen Textes repräsentiert. Stellt man beim Vergleich der beiden Texte Unterschiede im Wortlaut fest, so gibt es dafür drei mögliche Ursachen: die Arbeitsweise des

2 Vgl. zu diesen Abhängigkeiten Aejmelaeus, „What can we know about the Hebrew Vorlage“, 73–74. 3 Vgl. Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 6–10. 4 Ebd., 18. 5 Dies gilt nach ebd., 13–14, mit Ausnahme von rezensionellen griechischen Lesarten; vgl. genauer Abschnitt 2.1.2.

2.1 Textgrundlage |

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Übersetzers, die Textgeschichte der Septuagintaschrift sowie die Verwendung einer anderen Vorlage durch den Übersetzer.6 Anneli Aejmelaeus schlägt trotz der dargestellten Aporie eine Reihenfolge vor, in der die drei Bereiche vorzugsweise angegangen werden sollten.7 Die Herstellung eines eklektischen Septuagintatextes sei am ehesten als relativ unabhängig von den beiden anderen Aufgabenstellungen zu betrachten. Denn auch wenn der hebräische Text und die mutmaßlich angewandte Übersetzungstechnik dafür zu Rate gezogen werden müssen, bestehe der größte Teil der Arbeit hier aus dem Vergleichen der griechischen Manuskripte und der Sekundärzeugen des griechischen Textes. Mit einem rekonstruierten Septuagintatext als Basis könne in einem zweiten Schritt die Untersuchung der Übersetzungstechnik erfolgen. Für weite Teile des Textkorpus sei die Frage nach der Vorlage unproblematisch, da sie im Wesentlichen 𝔐 entspreche.8 Aufbauend auf der gründlich ermittelten Übersetzungstechnik könne dann in einem dritten Arbeitsschritt der entsprechende Septuagintatext für die Textkritik der Hebräischen Bibel herangezogen werden. Das Verhältnis zwischen Textkritik der Hebräischen Bibel, Textkritik der Septuaginta und Ermittlung der Übersetzungstechnik ist also von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt. Die von Aejmelaeus vorgeschlagene Reihenfolge, in der diese drei Bereiche anzugehen sind, kann nur ein Versuch sein, die Aporie aufzulösen. Emanuel Tov trägt dem Problem Rechnung, indem er lediglich ein „intuitives“ Verständnis der Übersetzungstechnik voraussetzt, um entscheiden zu können, wann von einer anderen hebräischen Vorlage auszugehen ist.9 Entsprechend räumt auch Aejmelaeus ein, dass die Kenntnis der Übersetzungstechnik und die Verfügbarkeit des ursprünglichen Septuagintatextes nur näherungsweise Voraussetzungen für die Textkritik der Hebräischen Bibel sein könnten.10 Die Ausführungen in den folgenden Abschnitten führen die einzelnen Themenbereiche weiter aus, bevor schließlich in Abschnitt 2.1.6 die textkritische Methodik dieser Arbeit zusammenfassend beschrieben wird.

6 Ebd., 9. 7 Siehe Aejmelaeus, „What can we know about the Hebrew Vorlage“, 73–74. 8 Ebd., 73, verwendet die Abkürzung „MT“, scheint aber damit nicht auf den masoretischen, sondern auf den protomasoretischen Text zu verweisen. Denn der masoretische Text enthält zusätzlich zum Konsonantenbestand eine Vokalisierung, Akzentuierung und Abschnittsgliederung, Elemente also, die zur Zeit der Übersetzer nicht in Manuskripten festgehalten wurden. Zum Verhältnis von protomasoretischem und masoretischem Text siehe auch Abschnitt 2.1.3. 9 Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 39. 10 Aejmelaeus, „Die Septuaginta des Deuteronomiums“, 162.

24 | 2 Methodik 2.1.2 Zur griechischen Textüberlieferung Die einzelnen Schriften der Septuaginta sind in einer Vielzahl textlicher Traditionen bezeugt. Diese Tatsache war schon in der Antike bekannt. Hieronymus (347–420 n. Chr.) erwähnte die trifaria varietas, die dreifache Textgestalt des griechischen Alten Testaments: In Ägypten lese man den Text des Bischofs Hesychius, von Konstantinopel bis Antiochien den des Märtyrers Lukian, und in Palästina halte man sich an die Textform des Origenes.11 Doch auch die früheren jüdischen Revisionen, die Origenes (ca. 185–254 n. Chr.) zum Teil in seiner Hexapla dokumentierte,12 werfen die grundsätzliche methodische Frage auf, welchem Traditionsstrom zu folgen ist, wenn man die Charakteristika eines Buches der Septuaginta ermitteln will. Eine weit verbreitete Konvention in der Septuagintaforschung besteht darin, sich auf die „Old Greek“ zu beschränken, die mutmaßlich ursprüngliche Übersetzung des jeweils untersuchten biblischen Buches. Dass diese ursprünglichen Übersetzungen tatsächlich existierten, wurde im 19. Jh. von Paul Anton de Lagarde (1827–1891) postuliert,13 von Paul Kahle (1875–1964) dagegen ab 1915 bestritten. Letzterer vermutete den Ursprung der Septuaginta-Übersetzungen in der Form von „griechischen Targumim“, die erst später in verschiedenen Fassungen standardisiert worden seien.14 Die heutige Forschung tendiert in der Mehrheit zu einer modifizierten Urtext-Theorie Lagarde’scher Prägung,15 eine Tendenz, die auch die Arbeit des Göttinger Septuaginta-Unternehmens bestimmt.16 Die dort erarbeitete eklektische Edition hat den Anspruch, den ursprünglichen Text der al-

11 „Alexandria et Aegyptus in Septuaginta suis Hesychium laudat auctorem, Constantinopolis usque Antiochiam Luciani martyris exemplaria probat, mediae inter has provinciae palestinos codices legunt, ab Origine elaboratos Eusebius et Pamphilius vulgaverunt, totusque orbis hac inter se trifaria varietate conpugnat.“ Incipit Prologus Sancti Hieronymi Presbyteri in Pentateucho, in: Biblia Sacra iuxta Vulgatam Versionem, Editio quinta, hrsg. von Robert Weber und Roger Gryson, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2007; zur Sache siehe Sidney Jellicoe, The Septuagint and Modern Study, Oxford: Clarendon, 1968, 134–171. 12 Vgl. zur Hexapla Natalio Fernández Marcos, The Septuagint in Context: Introduction to the Greek Version of the Bible, Leiden und Boston: Brill, 2000, 204–222. 13 Paul A. de Lagarde, Anmerkung zur griechischen Übersetzung der Proverbien, Leipzig: Brockhaus, 1863, 3. 14 Paul Kahle, Die Kairoer Genisa. Untersuchungen zur Geschichte des hebraïschen Bibltextes und seiner Übersetzungen, Berlin: Akademie-Verlag, 1962, 249, 260–261. 15 Eine wichtige Arbeit, die detailliert rezensionelle Aktivitäten nachweist und damit eher für Lagardes und weniger für Kahles These spricht, ist: Dominique Barthélemy, Les devanciers d’Aquila, VT.S 10, Leiden: Brill, 1963, vgl. dort 266, 272. 16 Vgl. Fernández Marcos, The Septuagint in Context, 64–65.

2.1 Textgrundlage |

25

ten Übersetzungen zu ermitteln und kommt diesem wahrscheinlich sehr nahe.17 Allerdings ist es gut möglich, dass der lukianische Text (oder besser: die antiochenische Textform) der ursprünglichen Septuaginta stellenweise näher steht als der eklektische Text der Göttinger Ausgabe.18 Dessen ungeachtet wird die Textüberlieferung des griechichen Numeribuches gewöhnlich als stabil bezeichnet.19 Damit ist die Grundausrichtung naheliegend, sich bei einer Untersuchung des griechischen Numeribuches auf die alte, ursprüngliche Übersetzung zu beziehen. Dennoch ist die Tradition des griechischen Textes keinesfalls bedeutungslos. Im Rahmen der Lagarde’schen Urtext-Theorie sind alle vom ursprünglichen Text abweichenden Varianten entweder als Textverderbnisse zu charakterisieren, oder aber sie bilden rezensionelle Lesarten.20 Beachtenswert ist die Tatsache, dass die Vielzahl der Varianten die tatsächlich verwendeten Bibeltexte der Synagoge und später der Kirche repräsentieren.21 Daher scheint es angemessen, nicht nur die mutmaßlich ursprüngliche Numeri-Septuaginta auszuwerten, sondern auch die Revisionen bzw. späteren Übersetzungen.22 Den Ausgangspunkt für beides bildet

17 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, xxxv, bezeichnet die Edition als „as close an approximation to the original LXX as possible“. Dagegen hält Eugene C. Ulrich, „The Septuagint Manuscripts from Qumran: A Reappraisal of their Value“, in: Septuagint, Scrolls and Cognate Writings: Papers Presented to the International Symposium on the Septuagint and its Relations to the Dead Sea Scrolls and Other Writings (Manchester, 1990), hrsg. von George J. Brooke und Barnabas Lindars, SCSS 33, Atlanta: Scholars Press, 1992, 49–80, 76, 4QLXXNum für einen besseren Textzeugen des ursprünglichen griechischen Numeribuches. Das Fragment enthält nur einige Verse aus Num 3 und 4, die nicht Teil der vorliegenden Untersuchung sind (siehe Abschnitt 2.2.3), kann also hier vernachlässigt werden. 18 Diese Aussage ergibt sich aus Arbeiten an den Büchern der Königtümer, ist aber wohl nicht auf diese zu beschränken; siehe dazu Siegfried Kreuzer, „Die Bedeutung des Antiochenischen Textes für die älteste Septuaginta (Old Greek) und für das Neue Testament“, in: Von der Septuaginta zum Neuen Testament. Textgeschichtliche Erörterungen, hrsg. von Martin Karrer, Siegfried Kreuzer und Marcus Sigismund, ANTT 43, Berlin und New York: de Gruyter, 2010, 13–38, 30; vgl. Siegfried Kreuzer, „Der Antiochenische Text der Septuaginta. Forschungsgeschichte und eine neue Perspektive“, in: Der Antiochenische Text der Septuaginta in seiner Bezeugung und seiner Bedeutung, hrsg. von Siegfried Kreuzer und Marcus Sigismund, DSI 4, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013, 23–56, insbesondere 53. Ob sich diese Vermutung auch auf den Pentateuch ausweiten lässt, kann derzeit noch nicht gesagt werden. 19 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 33. 20 Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 51. 21 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, xxxvii–xxxviii; vgl. Folkert Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament. Eine Einführung in die Septuaginta, MJSt 9, Münster: Lit, 2001, 114. 22 Das ist auch der Ansatz von Martin Rösel, „Towards a »Theology of the Septuagint«“, in: Septuagint Research. Issues and Challenges in the Study of the Greek Jewish Scriptures, hrsg. von Wolfgang Kraus und R. Glenn Wooden, SCSS 53, Atlanta: Society of Biblical Literature, 2006,

26 | 2 Methodik der eklektische Text der Göttinger Edition. Dieser soll als Referenztext für die griechische Fassung des Numeribuches dienen, anhand dessen die Übersetzung beschrieben und charakterisiert wird. Sollten sich innerhalb der zu untersuchenden Texte23 relevante griechische Alternativlesarten finden lassen, so sind diese ebenfalls auszuwerten.24 Allerdings mahnt die Fülle der griechischen Textüberlieferung zur Bescheidenheit. Im Rahmen dieser Arbeit ist es weder sinnvoll noch machbar, die komplette Textgeschichte des griechischen Numeribuches nachzuvollziehen. Stattdessen sollen lediglich einige theologisch interessante Lesarten aus den textkritischen Apparaten ausgewertet werden, die sich aus der Masse des Handschriftenmaterials abheben. Beispielsweise werden die folgenden Arten von Varianten in der Regel nicht ausgewertet: – Lesarten die nicht in griechischer Sprache belegt sind, werden übergangen. Auch wenn einige Tochterübersetzungen wie die Vetus Latina und die koptischen Übersetzungen vor den großen Unzialmanuskripten des 4. und 5. Jh. erstellt wurden, soll auf eine Auswertung verzichtet werden. Denn erstens liegen diese Lesarten meist in Manuskripten vor, die jünger sind als unsere wichtigsten griechischen Textzeugen, woraus sich eine eigene textkritische Problematik ergibt. Der zweite Grund gegen eine Auswertung liegt in der in Abschnitt 2.1.1 geschilderten Problematik, da für eine Rekonstruktion des ursprünglichen griechischen Textes wiederum zunächst die Übersetzungstechnik der jeweiligen Tochterübersetzung bekannt sein müsste. Eine Ausnahme bildet die Syro-Hexapla, die als eine sehr wörtliche Übersetzung des hexaplarischen Textes gilt.25 – Da 𝔐 als Referenztext für die vorliegende Untersuchung dienen soll,26 können Lesarten, die offensichtlich hexaplarisch sind und den griechischen Text an den Wortlaut des protomasoretischen Textes angleichen, ignoriert werden. Gelegentlich werden solche rezensionellen Varianten in den Fußnoten genannt; dies soll vor allem den Unterschied zwischen dem Wortlaut der mut-

239–252, 252, der vorschlägt, zur Erarbeitung einer Theologie der Septuaginta ebenfalls die Rezensionen auszuwerten. 23 Zur Textauswahl siehe Abschnitt 2.2.3. 24 Ein Beispiel findet sich in Num 15,3; siehe dazu Seite 172. 25 Vgl. Jellicoe, The Septuagint and Modern Study, 124–127. Die Syro-Hexapla wird beispielsweise zur Untersuchung von Num 21,11 herangezogen (siehe Seite 223). 26 Siehe zur Begründung Abschnitt 2.1.3.

2.1 Textgrundlage |







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maßlich ursprünglichen Übersetzung und dem Wortlaut von 𝔐 veranschaulichen.27 Varianten der griechischen Texttradition, die offensichtlich auf eine Vorlage zurückgehen, die anerkanntermaßen eine sekundäre Erweiterung des hier verwendeten hebräischen Referenztextes darstellt, werden nicht betrachtet. Ein Beispiel bilden die umfangreichen Erweiterungen des hebräischen Textes von Num 21,11.13.20.22.23, die in der samaritanischen Tradition und teilweise auch in 4QNumb im Anschluss an Dtn 2 gemacht wurden28 und die in griechischen (bzw. syro-hexaplarischen) Manuskripten ebenfalls begegnen. Ebenfalls nicht berücksichtigt werden Varianten, deren Ursprung man in den Bereichen der Paläographie (z. B. Haplographie), Phonologie (z. B. Itazismus) oder Morphologie (z. B. irreguläre Flexionsendungen) verorten kann.29 Vor allem bei der Namensschreibung treten gehäuft Varianten auf, die natürlich keine inhaltlichen Auswirkungen haben. Schließlich bleiben Varianten unberücksichtigt, die keiner der obigen Kategorien zugeordnet werden können und die inhaltlich keinen Unterschied ergeben. Als Beispiele sind die häufig anzutreffende Lesart ἐν anstelle von εἰς (oder umgekehrt) sowie Unterschiede im Numerus von Substantiven oder Verben zu nennen, die auf einer Formulierung ad sensum beruhen. Auch die Verwendung des Aorist als unmarkierter Aspektvariante30 im Vergleich zum Perfekt oder Imperfekt wird nicht ausgewertet. So bietet in Num 21,34 der mutmaßlich ursprüngliche Septuagintatext die Lesart εἰς τὰς χεῖράς σου παραδέδωκα αὐτόν. Die gut bezeugte Variante παρέδωκα liefert keine zusätzliche Interpretationsmöglichkeit, da der Aorist den unmarkierten Aspekt repräsentiert. Folglich wird nur der inhaltlich interessante resultative As-

27 Damit ist noch nicht ausgesagt, dass 𝔐 die Vorlage der hier betrachteten griechischen Textform repräsentiert; vgl. dazu auch Abschnitt 2.1.3. 28 Vgl. Emanuel Tov, Der Text der Hebräischen Bibel. Handbuch der Textkritik, Stuttgart, Berlin und Köln: Kohlhammer, 1997, 80–81. 29 Vgl. Christian Schäfer, Benutzerhandbuch zur Göttinger Septuaginta, Bd. 1: Die Edition des Pentateuch von John William Wevers, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012, 31–32. Beispielsweise zeigen die ältesten Textzeugen von Numeri LXX die Tendenz, Stämme des Aorist 2 mit Endungen des Aorist 1 zu versehen (siehe John W. Wevers, Text History of the Greek Numbers, MSU 16, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1982, 123), und Lesarten, die von dieser Tendenz abweichen, tragen nichts zur inhaltlichen Auswertung bei. Vgl. aber auch zur möglichen Rezeption einer durch Itazismus entstandenen Lesung die Anmerkung zu Num 15,24 (Seite 191). 30 Vgl. Heinrich von Siebenthal, Griechische Grammatik zum Neuen Testament, Gießen: Brunnen, 2011, § 192g, 194e, 195h.

28 | 2 Methodik pekt der ursprünglichen Lesart παραδέδωκα betrachtet, die Aorist-Variante dagegen wird lediglich in einer Fußnote erwähnt.31 Diese Einschränkungen reduzieren die Anzahl der auszuwertenden Lesarten erheblich. Die verbleibenden Varianten geben möglicherweise Anlass zu alternativen theologischen Interpretationen.

2.1.3 Die Frage nach der hebräischen Vorlage der Übersetzung Was lässt sich über den hebräischen Text sagen, der dem Übersetzer des griechischen Numeribuches als Vorlage diente? Diese Frage ist aufgrund der in Abschnitt 2.1.1 beschriebenen methodischen Aporie nicht ohne Weiteres zu beantworten. Denn um Aussagen über den hebräischen Text machen zu können, ist es nötig, etwas über die Übersetzungstechnik zu wissen, diese soll jedoch in der vorliegenden Studie ermittelt werden. Zu praktischen Zwecken kann die Frage nach der hebräischen Textgrundlage der Übersetzung folgendermaßen umformuliert werden: Angenommen, man hätte einen hebräischen Referenztext zur Verfügung, mit dem man einen griechischen Referenztext32 zwecks Untersuchung der Übersetzung vergleichen könnte. Wie ließe sich feststellen, ob Unterschiede im Wortlaut der beiden Textfassungen auf der Arbeitsweise des Übersetzers beruhen oder auf einer sich vom hebräischen Referenztext unterscheidenden Vorlage? Ich lege mich zunächst zur Vereinfachung der folgenden Diskussion auf einen hebräischen Referenztext für die Untersuchung fest, freilich ohne eine Aussage über die Vorlage des griechischen Numeribuches zu machen. Für Emanuel Tov besteht eine Konvention in der Textkritik darin, die masoretische Textform (𝔐) als Ausgangspunkt zu nehmen und jede Abweichung davon als „Variante“ zu bezeichnen. Diese Konvention wird nicht etwa durch eine Überlegenheit von 𝔐 über andere Texttraditionen begründet, sondern mit dem allgemein anerkannten Status als textus receptus.33 Der masoretische Text ist in mehreren mittelalterlichen Handschriften bezeugt. Als Referenztext für diese Studie lässt sich der auch bei der Herausgabe der Biblica Hebraica Stuttgartensia bzw. Quinta zugrunde gelegte Text des Codex Petropolitanus (B 19A) verwenden. Damit lehne ich mich an den Standard an, der bei der Edition dieser Bibelausgaben gesetzt wurde. Diese Entscheidung für 𝔐 ist zugegebenermaßen willkürlich. Der Codex Petropolitanus

31 Vgl. Seite 239 zu Num 21,34. 32 Ein griechischer Referenztext wurde in Abschnitt 2.1.2 festgelegt. 33 Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 6.

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bietet zwar die älteste vollständige Handschrift der hebräischen Bibel, doch diese Vollständigkeit ist bei einer Untersuchung, die sich auf das Numeribuch beschränkt, nicht notwendig, sofern zumindest dieses vollständig vorliegt. Nichts spräche gegen eine Ausgabe von ⅏ als Referenztext, zumal die folgende Untersuchung ergeben wird, dass die Vorlage des Übersetzers an einigen Stellen eher dem präsamaritanischen als dem protomasoretischen Texttyp entsprach.34 Nach Einschätzung früherer Studien zur Textgrundlage des griechischen Numeribuches steht die Vorlage der Übersetzung dem späteren masoretischen Text nahe, stimmt allerdings in vielen Fällen gegen 𝔐 mit dem Samaritanus überein, freilich ohne dass man für das Buch als Ganzes eine Vorlage vom samaritanischen Texttyp postulieren könnte.35 Damit bildet 𝔐 einen durchaus angemessenen Ausgangspunkt. Eine Entscheidung für ⅏ als Referenztext für diese Studie wäre zwar prinzipiell möglich, doch wäre dann wohl damit zu rechnen, dass die Untersuchung des Öfteren eine Vorlage des protomasoretischen Typs nahelegen würde. Nun ergibt sich bei der Verwendung von 𝔐 als Referenztext das grundsätzliche Problem, dass hebräische Bibeltexte zur Zeit der Septuaginta-Übersetzer lediglich als Konsonantenbestand notiert wurden. Die Vokal- und Akzentzeichen sowie weitere Zeichen zur Textgliederung wurden erst im Mittelalter schriftlich fixiert.36 Die einzigen Hinweise auf die zu lesenden Vokale lagen in protomasoretischen Handschriften in der gelegentlichen Verwendung von scriptura plena vor, folglich ergaben sich aus dem Fehlen von Vokalen Mehrdeutigkeiten. Genau genommen handelt es sich bei diesen Manuskripten daher nicht um „Texte“ im Vollsinn des Wortes, sondern lediglich um „Konsonantengerüste“, die erst durch einen Akt des Lesens zu Texten wurden.37 Die von den Übersetzern verwendeten Manuskripte waren also prinzipiell offen für Interpretation durch Leser, Kopis-

34 Siehe z. B. Seite 214 zu Num 21,3 (LXX: ὑποχείριον αὐτοῦ; ⅏: ‫𝔐 ;בידו‬: –) und Seite 230 zu Num 21,21 (LXX: λόγοις εἰρηνικοῖς; ⅏: ‫𝔐 ;דברי שלום‬: –). 35 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 432–433; Dorival, Les Nombres, 45–46. 36 Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, 17. 37 Stefan Schorch, „Die Rolle des Lesens für die Konstituierung alttestamentlicher Texte“, in: Was ist ein Text? – Ägyptologische, altorientalistische und alttestamentliche Perspektiven, hrsg. von Ludwig Morenz und Stefan Schorch, BZAW 362, Berlin und New York: de Gruyter, 2007, 108–122, 108–109.

30 | 2 Methodik ten und Übersetzer.38 Ein Beispiel dafür bietet Num 11,4.39 Hier enthält der protomasoretische Text die Konsonantenfolge ‫וישבו ויבכו‬, die von den Masoreten alsּ ‫„( ו ַי ָ ּשֻׁבו ּ ו ַי ִ ּבְכ ּו‬und sie weinten wieder“) vokalisiert wurde, also mit ‫ שׁוב‬als zugrunde liegender Wurzel für die erste Verbform. Der Septuaginta-Übersetzer dagegen leitete die Verbform von der Wurzel ‫ ישׁב‬ab, las sie alsּ ‫ ו ַי ֵ ּשְׁבו‬und übersetzte mit καὶ καθίσαντες ἔκλαιον („und sie setzten sich und weinten“). Konsonantenfolgen konnten demnach von den Septuaginta-Übersetzern anders interpretiert und vokalisiert werden als von den Masoreten. Da der Übersetzer des griechischen Numeribuches mit einem unvokalisierten Konsonantengerüst arbeitete, ist es angebracht, auch bei der Wahl eines hebräischen Referenztextes auf eine Vokalisierung zu verzichten.40 Bei der Darstellung von hebräischem Text in den Kapiteln 3 bis 10 dieser Studie wird also in der Regel eine unvokalisierte Fassung von 𝔐 verwendet. Entsprechendes gilt für die Unterscheidung zwischen den Konsonanten ׂ ‫ ש‬und ׁ‫ש‬. Diese wurden zur Zeit der Übersetzungen noch nicht mit zwei verschiedenen Graphemen notiert, was durch entsprechende Verwechslungen in Septuagintatexten nachweisbar ist.41 Auch in der vorliegenden Untersuchung wird daher der hebräische Referenztext ohne Differenzierung zwischen ׂ ‫ ש‬und ׁ‫ ש‬dargestellt. Es versteht sich von selbst, dass Unterschiede zwischen dem hebräischen und dem griechischen Text, die auf solche Phänomene zurückzuführen sind, nicht verwendet werden dürfen, um Rückschlüsse über die Arbeitsweise oder die Intention des Übersetzers zu ziehen. Auch Akzentzeichen, die ja unter anderem die Syntax eines Verses aus der Sicht der Masoreten repräsentieren und damit eine Lesehilfe darstellen,42 waren in den von den Übersetzern verwendeten Manuskripten nicht vorhanden. Tatsächlich kam es auch beim Numeribuch vor, dass der Übersetzer aus dem Konsonantenbestand seiner Vorlage eine andere Satzstruktur gelesen hat als die Ma-

38 Als Ursprung verschiedener Vokalisierungen eines Konsonantengerüsts werden gemeinhin verschiedene Lesetraditionen angenommen; siehe Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 107. Eine neuere Vermutung, die mit „parabiblischen Traditionen“ rechnet, bietet Stefan Schorch, „The Septuagint and the Vocalisation of the Hebrew Text of the Torah“, in: XII Congress of the International Organization for Septuagint and Cognate Studies, Leiden 2004, hrsg. von Melvin K.H. Peters, SCSS 54, Leiden und Boston: Brill, 2006, 41–54. 39 Siehe auch Seite 137. 40 Aufgrund der dadurch hervorgerufenen Mehrdeutigkeiten ist der „Referenztext“ damit ebenfalls kein echter „Text“. Dennoch soll, um die Terminologie nicht unnötig zu überfrachten, diese übliche Bezeichnung grundsätzlich beibehalten werden. 41 Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 111–112. 42 Vgl. Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, 55–56.

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soreten.43 Es ist unmittelbar klar, dass masoretische Akzente nicht Teil des hebräischen Referenztextes sein sollten und daher bei der Gegenüberstellung von hebräischem und griechischem Text nicht abgedruckt werden. Konsequenterweise wäre zu überlegen, ob man auch auf die Darstellung von matres lectionis verzichten sollte. Die Konsonanten ‫י‬, ‫ו‬, ‫ ה‬und ‫ א‬wurden zu verschiedenen Zeiten in verschiedenem Umfang zur Kennzeichnung von Vokalen verwendet. In welchem Umfang dies zur Zeit der Übersetzer der Fall war, lässt sich allerdings nicht mit Sicherheit sagen.44 Entsprechendes gilt für die Finalbuchstaben ‫ך‬, ‫ם‬, ‫ן‬, ‫ ף‬und ‫ץ‬, deren Gebrauch sich erst nach und nach etablierte.45 Gegen den Verzicht auf matres lectionis und Finalbuchstaben spricht zunächst der ganz pragmatische Grund, dass dadurch die Lesbarkeit bei der Textdarstellung unnötig erschwert würde. Entscheidender ist, dass eine Auslassung von matres lectionis zu der Schlussfolgerung verleiten könnte, dass diese in den Vorlagen der Übersetzer überhaupt nicht vorkamen. Dies ist jedoch äußerst unwahrscheinlich, da ihre Verwendung bereits ab dem 9. Jh. v. Chr. inschriftlich belegt ist.46 Der Fall liegt hier also anders als bei der masoretischen Vokalisation. Die beste Lösung ist demnach, den Konsonantenbestand der Biblica Hebraica komplett zu übernehmen. Im Folgenden verwende ich das Siglum 𝔐 als abstrakte Bezeichnung für die protomasoretische Textform in der konkreten Ausprägung durch den Konsonantenbestand des Codex Petropolitanus. Diese Textform stellt in den Kommentarabschnitten dieser Studie den hebräischen Referenztext dar, mit dem der griechische Referenztext verglichen wird. Mit dieser Wahl ist keinesfalls eine wie auch immer geartete Priorität von 𝔐 ausgesagt, noch soll behauptet werden, dass dieser Konsonantenbestand die Vorlage des Numeri-Übersetzers repräsentiert. Nun kann die zu Beginn dieses Abschnitts gestellte Frage noch einmal aufgegriffen werden: Wie lassen sich beim Vergleich eines griechischen Referenztextes (Göttinger LXX) mit einem hebräischen Referenztext (𝔐) Unterschiede im Wortlaut auswerten? In welchen Fällen lassen sich Rückschlüsse auf die Übersetzungstechnik ziehen? Die weiter oben angestellten Überlegungen zur Vokalisierung hebräischer Texte machen bereits deutlich, dass Unterschiede, die auf einer

43 Siehe Seite 182 zu Num 15,14–15. Hier hat der Übersetzer die Konsonantenfolge ‫כן יעשה הקהל‬ ‫ חקה אחת‬in die beiden Sätze ‫ כן יעשה הקהל‬und ‫ חקה אחת‬aufgeteilt, während die Masoreten ein Sôf pasuq hinter ‫ יעשה‬gesetzt und so das schwierige ‫ הקהל חקה אחת‬als Beginn von V.15 produziert haben. 44 Vgl. Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, 181–182, 210–211. 45 Vgl. ebd., 171, 211. 46 Ebd., 182.

32 | 2 Methodik anderen Vokalisierung als der masoretischen beruhen, nicht zur Auswertung der Übersetzungstechnik oder der Intention des Übersetzers herangezogen werden können. In solchen Fällen verwendete der Übersetzer eine dem (protomasoretischen) Referenztext entsprechende Vorlage, interpretierte sie jedoch anders als die Masoreten. Unterschiede im Wortlaut, die sich nicht durch eine alternative Lesung des Konsonantengerüsts erklären lassen, können ihre Ursache in einer vom verwendeten Referenztext unterschiedlichen Vorlage oder in der Arbeit des Übersetzers haben. In beiden Fällen ist es möglich, dass solche Unterschiede dem reinen Prozess der Textüberlieferung zuzuordnen sind, wobei der sekundäre Text unabsichtlich entstand. In Num 15,28 beispielsweise bietet 𝔐 die Lesart ‫וכפר עליו ונסלח‬ ‫לו‬, der griechische Text dagegen ἐξιλάσασθαι περὶ αὐτοῦ.47 Der Ausdruck ‫ונסלח‬ ‫ לו‬hat also im griechischen Text keine Entsprechung. Das kann plausibel auf eine Haplographie zurückgeführt werden, wobei die Ursache für die Haplographie sicher das Homoioteleuton ‫לו‬- bzw. ‫ו‬- war. Dabei wird das Auge des Schreibers oder des Übersetzers von ‫ על)י(ו‬zu ‫ לו‬gesprungen sein. Ob diese Änderung erst durch den Übersetzer oder bereits durch den Schreiber seiner Vorlage (oder einen früheren Tradenten) zustande kam, ist hier unerheblich.48 Entscheidend ist allein, dass der uns vorliegende Unterschied zwischen griechischem und hebräischem Referenztext unabsichtlich entstanden ist. Hierbei spielt auch keine Rolle, welche der beiden Lesarten als ursprünglicher einzustufen ist. In dieselbe Kategorie wie die Haplographie in Num 15,28 fallen z. B. auch Dittographie, Metathese und Buchstabenverwechslungen49 Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des Übersetzers lassen solche griechischen Lesarten nicht zu. Phänomene dieser Art werden bei der Analyse in den Kapiteln 3 bis 10 in der Regel nur kurz abgehandelt. Denn der Schwerpunkt dieser Studie liegt auf der Arbeitsweise und der Intention des Übersetzers, soweit sie sich erschließen lassen, und nicht auf der Textgeschichte. Interessanter sind Unterschiede, die sich nicht als unabsichtlich durch Leseoder Schreibfehler entstandene Varianten charakterisieren lassen. Hierbei kann es sich um Unterschiede in der Bedeutung eines Wortes,50 um Überschüsse im griechischen oder hebräischen Text (Plus bzw. Minus der LXX-Fassung) oder auch

47 Vgl. Seite 194. 48 Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 88–89, unterscheidet terminologisch zwischen „Varianten“, die auf einem real existierenden hebräischen Manuskript basieren, und „PseudoVarianten“, die nur in der Vorstellung des Übersetzers, nämlich bei der Verlesung, existierten. 49 Vgl. die möglichen Phänomene bei Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, 194–214. 50 Es ist darauf hinzuweisen, dass hier ein auffälliger Bedeutungsunterschied vorliegen sollte. Denn es ist ja nie zu erwarten, dass sich das Bedeutungsspektrum eines Wortes in der Zielsprache mit dem entsprechenden Wort in der Ausgangssprache völlig deckt.

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um Unterschiede in der Textanordnung handeln. In solchen Fällen ist jeweils zu fragen, ob der Übersetzer dafür verantwortlich war oder ob bereits seine Vorlage den betreffenden Unterschied zum hebräischen Referenztext aufwies. Sollte eine entsprechende hebräische Vorlage in Form einer Handschrift tatsächlich vorliegen, so ist sehr wahrscheinlich, dass eine solche Vorlage auch vom Übersetzer verwendet wurde. Lesarten der Septuagintafassung, die nicht in hebräischer Sprache belegt sind, lassen sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf den Übersetzer zurückführen. Hier ist allerdings Vorsicht geboten, da solche Textänderungen auch innerhebräisch belegt sind, und zwar als Unterschiede zwischen Lesarten von 𝔐, ⅏ und einigen Bibeltexten aus Qumran.51 Manche Unterschiede zwischen griechischem und hebräischem Wortlaut können als Harmonisierungen charakterisiert werden, d. h. als Änderungen, die den Text an den näheren oder weiteren Kontext oder sogar an Passagen aus anderen biblischen Schriften angleichen.52 Harmonisierende Lesarten sind innerhebräisch belegt, konnten aber durchaus auch im Rahmen einer Übersetzung entstehen; die Entscheidung für eine der beiden möglichen Ursachen ist allerdings oft schwierig.53 Ein konkretes Beispiel für die Frage nach der Vorlage ergibt sich bei der Untersuchung von Num 10,33–36.54 Hier ordnet die Septuagintafassung den Text anders an als 𝔐. Während dort zunächst von der Bundeslade (V.33) und dann von der Wolke (V.34) die Rede ist, bevor die Ladesprüche Moses zitiert werden (V.35–36), fasst die Übersetzung die Thematik der Lade zusammen (V.33.35–36 𝔐) und bietet die Aussage über die Wolke (V.34 𝔐) am Schluss des Abschnitts. Die Frage, ob der Übersetzer diese Textanordnung bereits in seinem hebräischen Ausgangstext vorfand oder ob er den Text bewusst umgestaltet hat, kann vorerst nur als Problemanzeige festgehalten werden. Diese Problemanzeige wird darin deutlich, dass in vergleichbaren Fällen in der Forschung auf verschiedene Weise verfahren wurde und wird. Zum einen wird die Forderung erhoben, dass grundsätzlich von einer Intention des Übersetzers auszugehen sei, wenn keine hebräischen Textzeugen in Form von Manuskripten belegt sind, die als Vorlage des entsprechenden Septuagintatextes in Frage kommen. In diesem Fall dürfe nur dann von einer entsprechenden hebräischen Vorlage ausgegangen werden, wenn sich der griechische Text nicht glaubwürdig als Harmonisierung oder als exegetisch bzw. linguistisch motivierte Umgestaltung

51 Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 155. 52 Vgl. Emanuel Tov, „The Nature and Background of Harmonizations in Biblical Manuscripts“, in: JSOT 31 (1985), 3–29. 53 Ebd., 19–20. 54 Zur Analyse des Textes siehe Kap. 5.

34 | 2 Methodik des ursprünglichen Wortlauts durch den Übersetzer erklären lasse.55 Auf der anderen Seite wurde das Gegenargument geäußert, dass es sich bei der vorgetragenen Forderung um ein argumentum e silentio handele und dass die Beweislast bei demjenigen liege, der die Abweichung dem Übersetzer zuschreibe.56 Bei diesem Gegenargument bleibt jedoch unklar, anhand welcher Kriterien dieser Forderung Genüge getan werden soll, wie also entschieden werden kann, ob eine Abweichung auf einer entsprechenden Vorlage basiert oder ob der Übersetzer dafür verantwortlich ist.57 Festzuhalten ist, dass jeweils Einzelfallentscheidungen getroffen werden sollten, wenn es darum geht, Unterschiede im Wortlaut des hebräischen und griechischen Textes zu erklären. Weder die kategorische Annahme einer vom hebräischen Bezugstext abweichenden Vorlage noch eine konstante Berufung auf die Intention des Übersetzers wird dem komplizierten Befund in den Schriften der Septuaginta gerecht. Der Rückzug auf Einzelfallentscheidungen macht allerdings deutlich, dass es sich bei der behandelten Frage nach wie vor um ein methodisch offenes Problem handelt.

2.1.4 Kreative Prozesse im Frühjudentum Das vorgetragene Problem gewinnt durch die folgenden Beobachtungen eine zusätzliche Perspektive: Seit einigen Jahren wird in der Forschung erwogen, dass manche der in den Manuskripten bezeugten Lesarten nicht durch das Abschreiben fertiger literarischer Kompositionen entstanden seien, vielmehr seien biblische Schriften bereits während ihrer literarischen Entstehung ganz oder teilweise schriftlich fixiert, tradiert und revidiert worden. Ältere Fassungen seien in manchen Fällen in Form der Septuagintaschriften, aber auch in Manuskripten aus Qumran erhalten geblieben.58 Für Eugene Ulrich zeigen die Funde von Qumran, dass zur Zeit des Frühjudentums die Schreiber nicht nur kopiert, sondern auch als „kreative Tradenten“ neues Material in die Schriften eingefügt und dadurch die Texte für ihre Zeitgenossen aktualisiert haben. Der hebräische Text, der in dieser Zeit vorlag, sei damit

55 Martin Rösel, „The Text-Critical Value of the Genesis-Septuagint“, in: BIOSCS 34 (1998), 62– 70, 70; vgl. auch Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 40: „Only after all possible translational explanations have been dismissed should one address the assumption that the translation represents a Hebrew reading different from MT.“ 56 Aejmelaeus, „What can we know about the Hebrew Vorlage“, 85. 57 Vgl. zur Problematik Martin Rösel, Übersetzung als Vollendung der Auslegung: Studien zur Genesis-Septuaginta, BZAW 223, Berlin und New York: de Gruyter, 1994, 13. 58 Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 239–240.

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als „pluriform“ und „organisch“ zu charakterisieren.59 Verschiedene Fassungen eines Textes seien gleichzeitig als „multiple literary editions“60 im Umlauf gewesen. Bezüglich der Septuagintaschriften geht Ulrich davon aus, dass es in der Regel nicht die Übersetzer gewesen seien, die alternative Editionen erstellt haben. Denn die Übersetzer hätten eher wortgetreu gearbeitet, während ihre Vorlagen oftmals bereits Bearbeitungsspuren kreativer Tradenten aufwiesen.61 Dazu lässt sich zunächst Folgendes anmerken: Wenn kreative Tradenten einen hebräischen Text bearbeiteten, dann stellt sich die Frage, was sie dazu bewogen haben mag. Ulrich nennt das Bedürfnis nach Kontextualisierung, nach Aktualisierung der alten Texte an die neue Lebenswelt einer späteren Generation.62 Doch ist es nicht mindestens ebenso wahrscheinlich, dass solche Aktualisierungen im Rahmen von Übersetzungen stattfanden? Denn gerade hier handelt es sich ja um Darstellungen von Texten für Leser, deren Sprache und Kultur nicht der Sprache und Kultur der ursprünglichen Rezipienten entsprach. Gerade hier, in einer veränderten Lebenssituation im Kontext des Hellenismus, war Aktualisierung nötig, und es ist gut vorstellbar, dass die Übersetzer diesem Bedarf Rechnung getragen haben. Hans Debel hat sich dafür ausgesprochen, auch solche griechischen Texte als „variant literary editions“ zu betrachten, deren Wortlaut trotz einer dem protomasoretischen Text entsprechenden Vorlage von diesem abweicht.63 Es geht also um Texte, deren Entstehung auf einen kreativ arbeitenden Übersetzer zurückzuführen ist und nicht auf die mehr oder weniger wörtliche Wiedergabe einer alternativen hebräischen Vorlage. In Fortführung von Ulrichs Modell gibt Debel solchen Texten denselben Stellenwert wie hebräischen Editionen.64 Ob es sich bei einem griechischen Text um die wortgetreue Übersetzung einer hebräischen Edition, die sich vom protomasoretischen Text unterschied, oder um die „kreative“ Übersetzung eines Textes aus der protomasoretischen Tradition handelt: in

59 Eugene C. Ulrich, The Dead Sea Scrolls and the Origins of the Bible, Studies in the Dead Sea Scrolls and Related Literature, Grand Rapids: Eerdmans, 1999, 11, 15. 60 Vgl. Eugene C. Ulrich, „Multiple Literary Editions: Reflections toward a Theory of the History of the Biblical Text“, in: Current Research and Technological Developments on the Dead Sea Scrolls, hrsg. von Donald W. Parry und Stephen D. Ricks, STDJ 20, Conference on the Texts from the Judean Desert, Jerusalem, 30 April, 1995, Leiden und Boston: Brill, 1996, 78–105. 61 Ulrich, The Dead Sea Scrolls and the Origins of the Bible, 42. 62 Ebd., 11. 63 Hans Debel, „Greek »Variant Literary Editions« to the Hebrew Bible?“, in: JSJ 41 (2010), 161– 190, 173–174. 64 Ebd., 175–176.

36 | 2 Methodik beiden Fällen sei die Entstehung des uns vorliegenden griechischen Textes dem dynamisch-kreativen Milieu im Frühjudentum zuzuschreiben.65 Wenn wir unter diesem Blickwinkel noch einmal die Frage nach der hebräischen Vorlage eines zu untersuchenden Septuagintatextes stellen, dann wird deutlich, dass in Ulrichs und Debels Modell diese Frage gar nicht mehr zur Diskussion steht. Es geht nicht mehr darum, welcher Text „ursprünglich“ und welcher „sekundär“ ist, denn bis zur Zeit der jüdischen Aufstände (70–135 n. Chr.) ist alles im Fluss,66 die Grenzen zwischen der Entstehungsgeschichte des Textes (welches Textes?) und seiner Überlieferungsgeschichte sind verwischt. Was nicht thematisiert wird, ist die Frage, wie „kreative“ Varianten eines Textes konkret entstanden. Um nochmals auf das Beispiel von Num 10,33–36 zurückzukommen: Warum wurde in der einen Fassung die Moserede (V.35–36 𝔐) vor der Aussage über die Wolke (V.34 𝔐) wiedergegeben (LXX) und in der anderen Fassung dahinter (𝔐)? Was war die kommunikative Intention der Tradenten, die für den Inhalt der jeweiligen Fassung verantwortlich waren? Diese für das Verständnis der Textentstehung doch grundlegenden Fragen werden in dem Modell der „multiple literary editions“ nicht gestellt. Hier kann allerdings die Übersetzungswissenschaft Erklärungsmuster liefern, wenn man im Rahmen einer Arbeitshypothese von einer konkreten hebräischen Textfassung als potenziellem Ausgangstext und einer konkreten griechischen Fassung als dessen Übersetzung ausgeht. Obwohl in dem Modell von Ulrich und Debel manches ungeklärt bleibt, liefert es doch hilfreiche Impulse für die Untersuchung von Septuagintatexten und die damit verbundene Frage nach der Textgrundlage. Die Erstellung verschiedener Fassungen von Bibeltexten lässt sich in einem kreativen Milieu des Frühjudentums verorten. Dieses Phänomen ist allerdings nicht auf das hebräischsprachige Judentum beschränkt, sondern umfasst auch das Judentum im hellenistischen Kontext, wie die auch dort anzutreffende Gattung der „Rewritten Bible“ zeigt.67 Kreative literarische Prozesse konnten sich demnach ebensogut in einer griechischen Übersetzung wie in einer hebräischen Edition äußern. Damit liegt eine Gemeinsamkeit zwischen dem Modell der „multiple literary editions“ und dem „Schriftgelehrten-Modell“ vor, das die Entstehung von Septuagintatexten erklären will.68 Denn auch dort wird vorausgesetzt, dass biblische Texte bei der Über-

65 Debel, „Greek »Variant Literary Editions«“, 179–180. 66 Ulrich, The Dead Sea Scrolls and the Origins of the Bible, 16, 31; Debel, „Greek »Variant Literary Editions«“, 175–176, 187. 67 Vgl. Tessa Rajak, Translation and Survival. The Greek Bible of the Ancient Jewish Diaspora, Oxford und New York: Oxford University Press, 2009, 223–224. 68 Vgl. Abschnitt 1.1.

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setzung unter Anwendung „schriftgelehrter Exegese“ kreativ modifiziert werden konnten. Im folgenden Abschnitt wird beschrieben, wie solche „kreativen Prozesse“ mit den Mitteln der Übersetzungswissenschaft nachvollzogen werden können. Dazu werden Elemente der Skopostheorie eingeführt, und zwar diejenigen, die für die Frage nach der Textgrundlage relevant sind.

2.1.5 Übersetzungswissenschaftliche Perspektiven Die in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von Katharina Reiß und Hans J. Vermeer entwickelte Skopostheorie69 hat die Forschungslandschaft vor allem im deutschsprachigen Bereich seitdem geprägt. Sie bildet die Basis für neuere Arbeiten mit funktionalem Ansatz und findet auch in der Übersetzerausbildung Verwendung.70 Reiß und Vermeer haben sich das Ziel gesetzt, eine „allgemeine Translationstheorie“ zu entwickeln. Dabei wird „Translation“ als Oberbegriff für „Übersetzen“ und „Dolmetschen“ verwendet, die Theorie soll also beides abdecken.71 Im Rahmen dieser verallgemeinernden Terminologie wird das Produkt einer Translation als „Translat“ bezeichnet. Ein Modell, das lediglich von einer „Transkodierung“ eines Ausgangstextes in einen Zieltext unter Beibehaltung der Textbedeutung ausgeht,72 wird in der Skopostheorie als zu vereinfachend abgelehnt. Kritisiert wird daran, dass in solch einem Modell der kulturelle Aspekt der Translation weitgehend ignoriert werde. Außerdem gehen Reiß und Vermeer davon aus, dass die Textbedeutung bei der Translation nicht notwendigerweise konstant bleiben müsse, da es sonst für einen Text nur eine optimale Translation und nur ein optimales Translat geben könne.73 Ich führe zunächst einige zentrale Begriffe der Skopostheorie ein, die im Kontext dieser Arbeit vor allem für die Frage nach der Textgrundlage von Bedeutung sind (Abschnitte 2.1.5.1 und 2.1.5.2); die übrigen Begrifflichkeiten werden an späterer Stelle (2.2.2 und 2.3.1) vorgestellt.

69 Katharina Reiß und Hans J. Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, Linguistische Arbeiten 147, Tübingen: Niemeyer, 1984. 70 Siehe z. B. Nord, Textanalyse und Übersetzen, 158–193. 71 Reiß und Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 6. Der Unterschied zwischen „Übersetzen“ und „Dolmetschen“ wird nicht durch die Attribute „schriftlich“ und „mündlich“ definiert, vielmehr wird Übersetzen als das Herstellen einer „potentiell vorläufige[n] Fassung“ angesehen, während das Dolmetschen eine „bei der ersten Produktion […] als endgültig anzusehende Textfassung“ liefert, siehe ebd., 12. 72 Siehe z. B. Nida und Taber, The Theory and Practice of Translation, 22–24. 73 Reiß und Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 30–31.

38 | 2 Methodik 2.1.5.1 Translation als Informationsangebot Reiß und Vermeer gehen von einem rezeptionsorientierten Textverständnis aus. Interpretation von Texten geschehe immer in einer bestimmten Situation, daher sei Translation nicht nur an Bedeutung gebunden, sondern auch an „Textsinnin-Situation“.74 Unter dieser allgemeinen Voraussetzung wird Translation als ein Informationsangebot definiert, genauer: als ein Informationsangebot in der Zielsprache und deren Kultur über ein Informationsangebot in der Ausgangssprache und deren Kultur.75 Translation geschieht im Rahmen dieses Modells folgendermaßen: Der Produzent des ursprünglichen Textes macht zunächst ein Informationsangebot in der Ausgangssprache, die in eine bestimmte Kultur eingebettet ist. Die Translation bildet dann das ursprüngliche Informationsangebot in die Zielsprache und ihre Kultur ab und definiert dadurch ein neues Informationsangebot.76 Als Beispiel kann die folgende Überlegung dienen:77 Man kann einen Werbeprospekt einer ausländischen Firma übersetzen, um im eigenen Land damit zu werben, wenn man die Produkte dieser Firma verkaufen möchte. Denkbar ist aber auch, dass der Prospekt übersetzt wird, um Ideen zur Erweiterung des eigenen Produktspektrums zu erhalten. Das Translat wird für die beiden Szenarien verschieden aussehen, es handelt sich um zwei verschiedene Informationsangebote. Auf die Septuaginta angewandt bedeutet dies: Die Übersetzung eines biblischen Textes im Kontext der hellenistischen Kultur kann durchaus ein anderes Informationsangebot beinhalten als der ursprüngliche Text. Ein Beispiel für eine solche Veränderung könnte in der griechischen Fassung des Proverbienbuches vorliegen. Dieses wird inzwischen nicht mehr nur im Blick auf textkritische Fragestellungen untersucht, sondern auch als Zeugnis der Interpretation biblischer Texte im Hellenismus betrachtet.78 Trotz aller Unsicherheiten bei der Bewertung textkritischer Schwierigkeiten und des extrem freien Übersetzungsstils lässt sich wohl festhalten, dass in der Übersetzung ein spezielles Informationsangebot für gebildete, hellenistisch geprägte Leser vorliegt. Im griechischen Proverbienbuch werden, so Ruth Scoralick, frühjüdische Werte wie Barmherzigkeit hervorgehoben, die stilistischen Normen hellenistischer Literatur seien dabei konsequent beachtet worden. Zudem habe sich der Übersetzer bemüht, „den weisen König

74 Reiß und Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 58. 75 Ebd., 76. 76 Ebd., 89. 77 Vgl. ebd., 218. 78 Siehe z. B. Johann Cook, „The Septuagint Proverbs as a Jewish-Hellenistic Document“, in: VIII Congress of the International Organization for Septuagint and Cognate Studies, Cambridge 1992, hrsg. von Leonard Greenspoon und Olivier Munnich, SCSS 41, Atlanta: Society of Biblical Literature, 1995, 349–365.

2.1 Textgrundlage |

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Salomo […] in elegante griechische Gewänder von paideia und sophia zu kleiden“ und seine Weisheit als von Gott gegeben zu postulieren.79 Das Buch hat demnach seine hebräischen Wurzeln nahezu verloren, es erscheint jetzt als hellenistische Schrift für hellenistische Leser. Ein Beispiel für ein Informationsangebot, das im Vergleich zum Ausgangstext durch die Übersetzung erweitert wurde, liegt im griechischen Jonabuch vor. Der hebräische Text kann als „Lehrdichtung“ betrachtet werden, die zeigt, dass Jahwes Liebe und Barmherzigkeit nicht nur Israel gilt.80 Durch die hebräische Fassung werden jüdische Leser aufgefordert, ihre Einstellung Nichtjuden gegenüber zu revidieren.81 Die Septuagintafassung verstärkt diese Aussagen, indem sie die Zuwendung Gottes zu den Heiden an geeigneten Stellen betont.82 So wird im ersten Kapitel das Predigen Jonas „gegen Ninive“ (‫ )וק רא עליה‬zum Predigen „in Ninive“ (καὶ κήρυξον ἐν αὐτῇ) abgemildert (Jon 1,2). Die anschließende Begründung für Jonas Verkündigungsauftrag ist im hebräischen Text die Bosheit der Niniviten (‫)רעתם‬, im griechischen Text dagegen das Klagegeschrei darüber (ἡ κραυγὴ τῆς κακίας αὐτῆς), eine Formulierung, die auf Gen 18,20–21 Bezug nimmt und dadurch die potenzielle Verschonung der Einwohner Sodoms und Gomorrhas anklingen lässt. Und während die Hoffnung des heidnischen Kapitäns im Sturm im hebräischen Text von Jon 1,6 vage ist („vielleicht gedenkt Gott unser“; ‫אולי יתעשת‬ ‫)האלהים לנו‬, spricht der griechische Text in Form eines Finalsatzes von einem „Hindurchretten“ (ὅπως διασώσῃ ὁ θεὸς ἡμᾶς). Das Informationsangebot richtet sich nun an eine andere Zielgruppe, nämlich an Juden in einer heidnischen Umgebung, denen die Botschaft des hebräischen Jonabuches noch direkter gilt und die möglicherweise sogar aufgefordert werden, dem Beispiel des Propheten zu folgen und die Heiden zum Glauben an den Gott Israels zu rufen. Die Auffassung von Translation als Informationsangebot hat das Potenzial, die oft zitierte Dichotomie zwischen „wörtlichem“ und „freiem“ Übersetzen83 auf79 Ruth Scoralick, „Salomos griechische Gewänder. Beobachtungen zur Septuagintafassung des Sprichwörterbuches“, in: Rettendes Wissen. Studien zum Fortgang weisheitlichen Denkens im Frühjudentum und im frühen Christentum, hrsg. von Karl Löning und Martin Fassnacht, AOAT 300, Münster: Ugarit-Verlag, 2002, 43–75, 72. 80 Wilhelm Rudolph, Joel, Amos, Obadja, Jona, KAT XIII.2, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1971, 325 (mit Jon 4,2). 81 Douglas Stuart, Hosea – Jonah, WBC 31, Waco: Word, 1987, 434–435 (mit Jon 4,4.9). 82 Zu den folgenden Beispielen siehe genauer Carsten Ziegert, „Hebräer als Knechte Gottes – ein Übersetzungsfehler in Jona 1,9 LXX ?“, in: Sprache lieben – Gottes Wort verstehen. Beiträge zur biblischen Exegese, Festschrift für Heinrich von Siebenthal, hrsg. von Walter Hilbrands, BWM 17, Gießen: Brunnen, 2011, 147–162, 153–154. 83 Dieser Gegensatz wurde und wird unter anderem mit den folgenden Attributen gekennzeichnet: „verbum de verbo – sensus de sensu“ (Hieronymus), „verfremdend – eindeutschend“ (Schlei-

40 | 2 Methodik zulösen. Denn eine „wörtliche“ Übersetzung kann im Rahmen der Skopostheorie als ein Angebot betrachtet werden, das primär über die Form des Ausgangstextes informiert, eine „freie“ Übersetzung dagegen informiert primär über Textsinn und -wirkung.84 Es kann hier also nicht darum gehen, eine der beiden Übersetzungsarten als die allein angemessene zu bevorzugen. Hinzu kommt, dass es im Rahmen eines funktionalen Ansatzes auch möglich ist, den Lesern alternative Informationsangebote zu unterbreiten wie Mischformen aus den beiden Extremen „wörtlich“ und „frei“. Mit solchen Mischformen wird in der Septuagintaforschung unter dem Einfluss der besagten Dichotomie oft nicht gerechnet. Das zeigt die folgende häufig anzutreffende Argumentation: Die Übersetzung eines bestimmten Buches ist weitgehend wörtlich. Folglich sind Stellen, die eine Abweichung von der wörtlichen Übereinstimmung aufweisen, in einer anderen Vorlage begründet.85 Es ist allerdings fraglich, ob die Übersetzer der Septuagintaschriften tatsächlich auf diese Dichotomie festgelegt waren. Die Dichotomie zwischen „wörtlich“ und „frei“ wird oft auf Cicero und seine Bemerkungen zum Thema Übersetzung zurückgeführt. Dabei handelt es sich vor allem um ein Zitat aus seiner Schrift De optimo genere oratorum, in der er behauptet: „Nec converti ut interpres, sed ut orator […]“, d. h. in gutem Latein unter Bewahrung des Sinns, und nicht „verbum pro verbo“.86 Oft wird von Übersetzungswissenschaftlern behauptet, Cicero habe sich hier von der wörtlich-genauen Wiedergabe distanziert und die sinngemäße Wiedergabe gefordert.87 Doch eine genauere Betrachtung von Ciceros Aussage in ihrem Kontext zeigt, dass dieser die dargestellten Prinzipien lediglich auf seine Übersetzung der griechischen Redner

ermacher), „foreinizing – domesticating“ (Venuti), „formal-equivalent – dynamic-equivalent“ (Nida), vgl. van der Louw, „Approaches in Translation Studies“, 20. 84 Reiß und Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 78. 85 So z. B. für das Buch Haggai Adrian Schenker, „Gibt es eine graeca veritas für die hebräische Bibel? Die »Siebzig« als Textzeugen im Buch Haggai als Testfall“, in: Im Brennpunkt: Die Septuaginta, Bd. 3, hrsg. von Heinz-Josef Fabry und Dieter Böhler, BWANT 174, Stuttgart: Kohlhammer, 2007, 57–77, 57; ähnlich schon 20 Jahre früher mit Bezug auf Textumstellungen Emanuel Tov, „Some Sequence Differences between the MT and LXX and their Ramifications for the Literary Criticism of the Bible“, in: JNSL 13 (1987), 151–160, 151. 86 Cicero, De optimo, 14. Bei dem interpres handelt es sich um einen Dolmetscher, der im juristischen und kommerziellen Kontext tätig war, siehe Brock, „The Phenomenon of the Septuagint“, 19. 87 So z. B. Stolze, Übersetzungstheorien, 18; zur generellen Kritik an dieser Cicero-Interpretation siehe Dieter Woll, „Übersetzungstheorie bei Cicero?“, in: Energeia und Ergon: Sprachliche Variation, Sprachgeschichte, Sprachtypologie. Studia in honorem Eugenio Coserius, hrsg. von Jörn Albrecht, Harald Thun und Jens Lüdtke, Bd. 3. Das sprachtheoretische Denken Eugenio Coserius in der Diskussion, Tübinger Beiträge zur Linguistik 300, Tübingen: Narr, 1988, 341–350.

2.1 Textgrundlage

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Aeschines und Demosthenes anwandte. Dabei kam es ihm vor allem darauf an, zu zeigen, wie man eine kunstvolle Rede in der Zielsprache Latein formuliert.88 Bei der Übersetzung philosophischer Texte verfuhr der Orator eher wörtlich, er hatte also verschiedene Übersetzungsstrategien für verschiedene Textgattungen.89 Das bekannte Cicero-Zitat ist demnach nicht ausreichend, um bereits für die Antike die Existenz einer Dichotomie zwischen wörtlicher und freier Übersetzung zu belegen. Offenbar ging man damals weitaus differenzierter vor. Eine Theorie, die Übersetzung als Informationsangebot betrachtet, ist folglich besser für die Untersuchung antiker Texte geeignet als ein Ansatz, der der genannten Dichotomie Vorschub leistet.90 In der Septuagintaforschung lässt sich zudem beobachten, dass die Dichotomie zwischen „freiem“ und „wörtlichem“ Übersetzen zunehmend durchbrochen wird. So wurde etwa gezeigt, dass Übersetzer ihre Vorlage bezüglich der Wortreihenfolge und der Repräsentation einzelner Morpheme sehr wörtlich wiedergeben konnten, gleichzeitig aber kreativ und damit „frei“ bei der Wiedergabe von Ätiologien, Fachvokabular und Hapaxlegomena waren.91 Dies entspricht der bereits früher von James Barr aufgestellten These, dass „Wörtlichkeit“ auf verschiedenen sprachlichen Ebenen realisiert werden könne.92 Somit könne eine Übersetzung „wörtlich“ in Bezug auf eine oder mehrere dieser Ebenen sein, gleichzeitig aber „frei“ in Bezug auf andere.93 Es folgt also, dass die besagte Dichotomie für die

88 Benjamin G. Wright, „Access to the Source: Cicero, Ben Sira, the Septuagint and their Audiences“, in: JSJ 34 (2003), 1–27, 7–8. 89 van der Louw, „Approaches in Translation Studies“, 28. 90 Hier ist beispielhaft die Theorie Nidas zu nennen, die stark zwischen formaler und dynamischer Äquivalenz unterscheidet, also zwischen der Anlehnung der Übersetzung an die Form des Ausgangstextes einerseits und an die „Botschaft“ andererseits, wobei der zweiten Alternative der Vorzug gegeben wird; siehe z. B. Nida und Taber, The Theory and Practice of Translation, 14. 91 Siehe dazu Hans Ausloos und Bénédicte Lemmelijn, „Faithful Creativity Torn Between Freedom and Literalness in the Septuagint’s Translations“, in: JNSL 40.2 (2014), 53–69; Ausloos und Lemmelijn, „Content-Related Criteria“; speziell zur Wiedergabe von Ätiologien im griechischen Numeribuch vgl. Ausloos, „The Septuagint’s Rendering of Hebrew Toponyms“. 92 Barr, The Typology of Literalism, 20, nennt sechs Ebenen: „1. The division into elements or segments […]. 2. The quantitative addition or subtraction of elements. 3. Consistency or nonconsistency in the rendering […]. 4. Accuracy and level of semantic information […]. 5. Coded »etymological« indication of formal/semantic relationships […]. 6. Level of text and level of analysis.“ Eine ähnliche Kategorisierung nennt Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 20–24: „1. Internal consistency. 2. The representation of the constituents of Hebrew words by individual Greek equivalents. 3. Word order. 4. Quantitative representation. 5. Linguistic adequacy of lexical choices.“ 93 Barr, The Typology of Literalism, 49.

42 | 2 Methodik Untersuchung von Septuagintatexten nicht hilfreich ist, und dass daher ein übersetzungswissenschaftliches Modell zu Rate gezogen werden sollte, das auf anderen Voraussetzungen beruht.

2.1.5.2 Skopos und Kohärenz Der Kernbegriff des Skopos wird mit Hilfe der Handlungstheorie eingeführt. Die Translation eines Textes lässt sich nach Reiß und Vermeer als spezielle Handlung verstehen, die wie jede andere Handlung einem bestimmten Zweck, dem „Skopos“, unterliegt. Eine Translationstheorie könne demnach als „komplexe Handlungstheorie“ aufgefasst werden. Aus diesen Überlegungen ergibt sich die programmatische Aussage: „Die Dominante aller Translation ist deren Zweck.“94 Ebenfalls aus der Handlungstheorie übernehmen Reiß und Vermeer die Prämisse, dass der Handlungsskopos der Handlungsart übergeordnet sei und diese bestimme. Auf den Bereich „Translation“ übertragen bedeute dies, dass das Erreichen eines bestimmten Zwecks wichtiger sei, als dass die Translation in einer bestimmten als angemessen vorausgesetzten Art und Weise (z. B. „wörtlich“ oder „frei“) durchgeführt werde; pointiert ausgedrückt: „Der Zweck heiligt die Mittel.”95 Der Skopos einer Translation ist in dieser Theorie vom Rezipienten abhängig und kann folglich nur durch eine Einschätzung der Zielempfänger in ihrer Kultur definiert werden. Da es sich bei dem Vorgang der Translation um eine andere Produktionshandlung als bei der Herstellung des Ausgangstextes handelt, dürfe die kommunikative Funktion des Translats durchaus eine andere sein als die des Ausgangstextes. Außerdem können für verschiedene Teile des Ausgangstextes durchaus unterschiedliche Skopoi für die Translation definiert sein. Es existiert also im Rahmen dieser Theorie keine Regel, die besagt, dass die kommunikative Funktion des Ausgangstextes im Translat erhalten bleiben müsste.96 Die starke Betonung des Übersetzungszwecks in der Skopostheorie eröffnet neue Deutemöglichkeiten für die Septuagintaforschung. Denn mit diesem Bezugsrahmen wird es denkbar, dass auch auffällige Unterschiede zwischen der griechischen und der hebräischen Fassung eines Textes auf den Übersetzer

94 Reiß und Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 95–96. 95 Reiß und Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 100–101. Diese radikale Zweckorientierung wird – durchaus im Gefolge der funktionalistischen Schule – abgemildert von Nord, Textanalyse und Übersetzen, 30–32, die zusätzlich zur Funktionsgerechtigkeit „Loyalität“ fordert, und zwar dem Autor, den Rezipienten und dem Initiator der Übersetzung gegenüber; siehe auch Christiane Nord, Translating as a Purposeful Activity. Functionalist Approaches Explained, Translation Theories Explored, Manchester: St. Jerome, 1997, 123–128. 96 Reiß und Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 101–103.

2.1 Textgrundlage

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zurückgehen können. Beispielsweise könnte der von 𝔐 abweichenden Textanordnung in der Septuagintafassung von Num 10,33–36 ein spezieller Skopos zugrunde liegen, der von einer 𝔐 entsprechenden Vorlage ausgehend bestimmte Inhalte betont oder anders gewichtet.97 Diese Möglichkeit müsste selbstverständlich anhand einer genauen Analyse des Einzeltextes untersucht werden. Reiß und Vermeer führen im Rahmen ihrer Theorie zwei Kohärenzbegriffe ein: den der intratextuellen und den der intertextuellen Kohärenz. Intratextuelle Kohärenz liegt vor, wenn das Translat „mit der Zielrezipientensituation kohärent interpretierbar“ ist. Anders ausgedrückt: das Translat muss für die Rezipienten in ihrer (durch die Kultur definierten) Situation sinnvoll sein, also verstanden werden.98 Im Gegensatz dazu ist intertextuelle Kohärenz eine Relation zwischen Ausgangstext und Translat. Intertextuelle Kohärenz ist dann erreicht, wenn der Ausgangstext unter dem Primat des Skopos in den Zieltext abgebildet wird, d. h. wenn das, was (idealerweise) vor Beginn der eigentlichen Arbeit als Skopos der Übersetzung festgelegt wurde, tatsächlich umgesetzt wird. Während in früheren übersetzungstheoretischen Ansätzen „Sachrichtigkeit“ der Übersetzung gefordert wurde, erwartet man im Rahmen der Skopostheorie, dass intertextuelle Kohärenz erzielt wird. Die Übersetzung eines Textes ist nur dann erfolgreich, wenn der Skopos tatsächlich umgesetzt wurde. Was eine „korrekte“ Übersetzung ist, wird demnach in der Skopostheorie nicht nur vom Inhalt des Ausgangs- und des Zieltextes abhängig gemacht, sondern es wird maßgeblich vom Zweck der Translation bestimmt. Notwendige Voraussetzung für intertextuelle Kohärenz ist das Erreichen von intratextueller Kohärenz. Es muss also sichergestellt sein, dass das Translat für die Rezipienten in ihrer soziokulturellen Situation verständlich ist, bevor sinnvoll über eine Relation zwischen Ausgangs- und Zieltext, über intertextuelle Kohärenz, gesprochen werden kann.99

97 Interessanterweise erwägt auch Nechama Leiter, „The Translator’s Hand in Transpositions? Notes on the LXX of Genesis 31“, in: Textus 14 (1988), 105–130, 123, die Möglichkeit, dass „editorial changes“ zur Zeit der Septuaginta-Übersetzer durchaus als angemessene Übersetzungstechnik betrachtet wurden, obwohl das für moderne Übersetzungen nicht gelte. Hier sind funktionale Erwägungen, die zur Abfassungszeit des Artikels gerade aktuell wurden, noch nicht berücksichtigt. 98 Reiß und Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 109, 113. 99 Ebd., 114–115. Die Terminologie erinnert an die Begriffe „Akzeptanz“ und „Adäquatheit“ innerhalb der Descriptive Translation Studies (vgl. Abschnitt 1.3, Seite 17). Dort wird unter dem Stichwort „Akzeptanz“ ein Vergleich zwischen einem übersetzten Text und anderen Texten in der Zielsprache vorgenommen. Das entspricht in gewisser Weise der intratextuellen Kohärenz der Skopostheorie, allerdings mit dem Unterschied, dass im Rahmen der DTS lediglich deskriptiv gearbeitet wird, während in der funktionalen Translationstheorie intratextuelle Kohärenz präskriptiv gefordert wird. Analog dazu wird im Rahmen von DTS unter dem Stichwort „Adäquatheit“ ein Vergleich des Translats mit dem Ausgangstext hergestellt, um dadurch Übersetzungsnormen zu

44 | 2 Methodik Wendet man diese Begrifflichkeiten auf die Übersetzung von Num 10,33–36 an, so ergibt sich die Frage, ob in der griechischen Fassung intratextuelle Kohärenz vorliegt. Kohärenz im allgemeinen linguistischen Sinne ist ganz sicher vorhanden, möglicherweise sogar noch eher als in der Fassung von 𝔐.100 Denn diese kehrt nach der Erwähnung von Bundeslade (V.33) und Wolke (V.34) wieder zur Thematik der Bundeslade zurück (V.35–36), während der griechische Text durch die Platzierung der Ladesprüche vor der abschließenden Aussage über die Wolke geschlossener wirkt. Intratextuelle Kohärenz besagt jedoch, dass der Text nicht nur auf der rein inhaltlichen Ebene stimmig und verständlich ist, sondern auch und vor allem in der Kultur und Situation der Rezipienten. Dass gerade diese stringentere Anordnung des Textes die intratextuelle Kohärenz verstärkt hat, ist gut vorstellbar, wenn man eine Entstehung der Übersetzung in Alexandria voraussetzt. Denn im Kontext von Museion und Bibliothek wurde nicht nur Wissen angesammelt, sondern auch geordnet.101 Die kulturellen Rahmenbedingungen im hellenistischen Alexandria lassen es denkbar erscheinen, dass ein Text, der seine Aussagen thematisch geordnet präsentiert, für die Rezipienten eher Sinn ergibt als ein Text, der zwischen verschiedenen Themen öfter wechselt. Eine hebräische Vorlage zu postulieren, die in der Anordnung dem griechischen Text entspricht, ist im Fall von Num 10,33–36 wahrscheinlich nicht nötig. Denn wenn der Skopos der Übersetzung (unter anderem) darin bestand, den Text des Numeribuches für eine vom Hellenismus geprägte Leserschaft eingängiger zu machen, dann sind auch Textumstellungen als Gestaltungsmittel des Übersetzers denkmöglich. Solche Umstellungen könnten der Realisierung sowohl von intra- als auch von intertextueller Kohärenz gedient haben. Das Erreichen von intertextueller Kohärenz, also von „Skopos-gemäßer“ Entsprechung zwischen Ausgangsund Zieltext, kann demnach gerade dann vorliegen, wenn ein hebräischer und ein griechischer Text sich in einem bestimmten Aspekt wie der Anordnung nicht entsprechen.

ermitteln. Dem entspricht die intertextuelle Kohärenz der Skopostheorie, die allerdings ebenfalls vom Übersetzer eingefordert wird. 100 Vgl. die Ausführungen ab Seite 113. 101 Vgl. Siegfried Kreuzer, „Die Septuaginta im Kontext alexandrinischer Kultur und Bildung“, in: Im Brennpunkt: Die Septuaginta, Bd. 3: Studien zur Theologie, Anthropologie, Ekklesiologie, Eschatologie und Liturgie der Griechischen Bibel, hrsg. von Heinz-Josef Fabry und Dieter Böhler, BWANT 174, Stuttgart: Kohlhammer, 2007, 28–56, 32–37.

2.1 Textgrundlage

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2.1.5.3 Zusammenfassung Die Verwendung einer funktionalen Translationstheorie bietet neue Perspektiven für die Untersuchung von Septuagintatexten. Bei Unterschieden im Wortlaut und in der Textanordnung zwischen einem griechischen und einem hebräischen Referenztext kann die Skopostheorie eine ernst zu nehmende Arbeitshypothe liefern. Unter übersetzungswissenschaftlichem Blickwinkel können solche Unterschiede als Ausprägung und Umsetzung eines speziellen Übersetzungszwecks interpretiert werden. Dabei muss die intendierte Funktion des Zieltextes nicht notwendigerweise der des Ausgangstextes entsprochen haben. Das Translat kann durchaus ein anderes „Informationsangebot“ beinhalten als der Ausgangstext. Es ist also denkbar, dass ein auffälliger Unterschied zwischen dem griechischem und dem hebräischen Text auf einer sinnvollen Übersetzungsentscheidung beruht, durch die intertextuelle Kohärenz erreicht wird. Das gilt zumindest dann, wenn sich eine hebräische Vorlage, die dem Wortlaut des griechischen Textes entspricht, nicht in Form eines konkreten Manuskripts belegen lässt. Diese übersetzungswissenschaftlich motivierten Überlegungen sollten allerdings Raum für Einzelfallentscheidungen lassen.

2.1.6 Textkritische Methodik dieser Arbeit Im Licht der bisher angestellten Überlegungen erscheint das im Folgenden beschriebene Vorgehen sinnvoll: Um die Arbeitsweise des Numeri-Übersetzers zu ermitteln, wird anhand einer repräsentativen Textauswahl102 ein griechischer Referenztext mit einem hebräischen Referenztext verglichen. Als Referenztexte dienen die Göttinger Septuaginta-Ausgabe sowie der unvokalisierte Konsonantenbestand des masoretischen Textes, wie er in der Biblia Hebraica Stuttgartensia geboten wird. Beim Textvergleich erscheint es unter praktischen Gesichtspunkten sinnvoll, im Anschluss an James Barr davon auszugehen, dass wörtliches Übersetzen unter Beibehaltung der Wortreihenfolge die gewohnheitsmäßige Arbeitsweise der Übersetzer war, womit noch nicht ausgesagt ist, dass Wörtlichkeit eine intendierte Übersetzungstechnik war.103 Eine solche Art der Übersetzung wird im detaillierten Textvergleich in dieser Arbeit nicht ständig kommentiert, denn sie erscheint unauffällig, Abweichungen von diesem Muster dagegen auffällig und kommentierenswert. Allerdings wird auf Abschnittsebene durchaus notiert wer-

102 Siehe dazu Abschnitt 2.2.3. 103 Barr, The Typology of Literalism, 26, spricht von einer „easy technique“.

46 | 2 Methodik den, ob der betreffende Abschnitt eher wörtlich übersetzt wurde oder ob zahlreiche Abweichungen von der wörtlichen Arbeitsweise zu verzeichnen sind. Bei der detaillierten Untersuchung lassen sich Unterschiede zwischen dem griechischen und dem hebräischen Referenztext folgendermaßen klassifizieren: 1. Griechische Lesarten können auf einer Vokalisierung der hebräischen Vorlage beruhen, die von der masoretischen Vokalisierung eines entsprechenden Konsonantengerüsts verschieden ist. Solche Lesarten werden beiläufig notiert, aber nicht ausgewertet. Denn Rückschlüsse über die Intention des Übersetzers lassen sich dadurch nicht ziehen. Gegebenenfalls ließe sich mutmaßen, was den Übersetzer dazu bewogen haben könnte, den mehrdeutigen Konsonantenbestand anders zu vokalisieren als die Masoreten dies taten,104 aber das ist nicht das primäre Ziel dieser Arbeit. Entsprechendes gilt für Unterschiede in der Textgliederung, die von den Masoreten gelegentlich anders aufgefasst wurde als vom Übersetzer. 2. Lesarten, die sich auf die Überlieferung des hebräischen Textes zurückführen lassen wie z. B. Haplographie, Dittographie, Metathese oder Buchstabenverwechslung, sind in der Regel nicht vom Übersetzer intendiert.105 In solchen Fällen lässt sich die mutmaßliche Vorlage der griechischen Lesart durch Rückübersetzung gewinnen, vorausgesetzt, es lässt sich textkritisch plausibel machen, wie sie aus 𝔐 entstehen konnte bzw. wie die Lesart von 𝔐 aus der rekonstruierten Vorlage entstehen konnte.106 Auch solche Lesarten werden lediglich kurz notiert. 3. Unterschiede zwischen den Lesarten des griechischen und des hebräischen Referenztextes, die sich nicht in die bisher genannten Kategorien einordnen lassen, können ihre Ursache in der Intention des Übersetzers oder aber in einer Vorlage haben, die an der betreffenden Stelle nicht dem hebräischen Referenztext entspricht. Was jeweils der Fall ist, lässt sich oft nicht mit letzter Sicherheit sagen. Die dritte Kategorie ist diejenige, die im Rahmen dieser Studie am interessantesten ist, sie ist allerdings auch mit schwierigen Entscheidungen verbunden. Bei der Frage, ob ein auffälliger Unterschied zwischen dem griechischen und dem

104 Vgl. Schorch, „The Septuagint and the Vocalisation of the Hebrew Text of the Torah“. 105 Eine alternative Interpretation eines gewöhnlich als Verlesung dargestellten Phänomens ist für einen Einzelfall beschrieben bei Ziegert, „Hebräer als Knechte Gottes“. 106 Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 59–60. Hier ist allerdings anzumerken, dass eine Rückübersetzung eine wortgetreu-formerhaltende Übersetzung ins Griechische voraussetzt, eine Annahme, die eigentlich erst noch gezeigt oder widerlegt werden müsste (vgl. hier Abschnitt 2.1.1.

2.1 Textgrundlage

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hebräischen Referenztext seine Ursache in der Intention des Übersetzers oder in einer entsprechenden Vorlage hat, ist die getrennte Betrachtung dreier Parameter hilfreich. Diese werden von verschiedenen Forschern jeweils verschieden stark gewichtet. Es handelt sich um – die Überlieferungssituation des biblischen Buches, – die vorläufig ermittelte Übersetzungstechnik107 sowie – die externe Bezeugung einer potenziellen hebräischen Vorlage der betreffenden griechischen Lesart. Der Wertebereich der ersten beiden Parameter ist jeweils eine Skala mit zwei gegensätzlichen Endpunkten („einheitlich“ vs. „uneinheitlich“ bzw. „wörtlich“ vs. „frei“), der Parameter der externen Bezeugung dagegen hat einen binären Wertebereich („vorhanden“ bzw. „nicht vorhanden“). Es empfiehlt sich, im konkreten Fall diese Parameter einzeln auszuwerten (z. B. mit einer Bewertung wie „eher wörtlich“) und anhand einer Zusammenschau den Einzelfall zu beurteilen. Die folgenden Abschnitte bieten eine genauere Beschreibung der Parameter.

2.1.6.1 Überlieferungssituation des biblischen Buches Die biblischen Bücher sind nicht gleichermaßen einheitlich überliefert. Vor allem beim Vergleich des masoretischen Textes mit der Septuagintafassung zeigen sich in einigen Büchern erhebliche Unterschiede in Umfang und Textanordnung. Beispielsweise bietet die griechische Fassung von Ex 35–40 eine andere Anordnung als 𝔐, wofür verschiedene Ursachen vorgeschlagen wurden. Anneli Aejmelaeus geht von einer hebräischen Vorlage aus, die größtenteils wörtlich übersetzt wurde und die in der Fassung von 𝔐 eine spätere Weiterentwicklung erfuhr.108 Dagegen rechnet Martha Wade mit einer im Wesentlichen 𝔐 entsprechenden Vorlage, die von einem zweiten Übersetzer auf der Grundlage von Ex 25–31 sehr frei wiedergegeben wurde.109 Ein weiteres Beispiel bieten die Bücher der Könige: Adrian Schenker sieht in der Septuagintafassung der Königebücher ihre älteste Textform und

107 Vgl. zur Vorläufigkeit die in Abschnitt 2.1.1 skizzierte Problematik. 108 Anneli Aejmelaeus, „Septuagintal Translation Techniques: A Solution to the Problem of the Tabernacle Account?“, in: On the Trail of the Septuagint Translators: Collected Essays, 2. Aufl., CBET 50, Leuven, Paris und Dudley: Peeters, 2007, 107–121, 118–119. 109 Martha L. Wade, Consistency of Translation Techniques in the Tabernacle Accounts of Exodus in the Old Greek, SCSS 49, Leiden und Boston: Brill, 2003, 243–244.

48 | 2 Methodik im protomasoretischen Text eine literarische Neubearbeitung,110 während Michael Pietsch auch die Möglichkeit einer Priorität von 𝔐 ernsthaft in Erwägung zieht, wobei die Septuaginta bzw. ihre Vorlage harmonisierende Tendenzen zeigen könne.111 Das Jeremiabuch ist in der griechischen Fassung um ein Achtel kürzer und unterscheidet sich auch in der Anordnung von 𝔐, insbesondere in der Stellung der Fremdvölkersprüche (Jer 46–51 𝔐). Meistens wird angenommen, dass der kürzere griechische Text auf einer älteren hebräischen Vorlage beruht und dass die protomasoretische Fassung eine erweiternde Redaktion darstellt.112 Beide Fassungen sind durch hebräische Fragmente aus Qumran belegt, die griechische durch 4QJerb und 4QJerd , die protomasoretische durch 4QJera und 4QJerc .113 Allerdings wurde eingeräumt, dass die Übereinstimmungen zwischen 4QJerb und dem Septuagintatext des Jeremiabuches auch auf vergleichbaren exegetischen Verfahren beruhen könnten, die sich im ersten Fall als alternative Edition, im zweiten Fall als Übersetzung niederschlugen.114 Tatsächlich wurde auch die Hypothese geäußert, dass die Septuagintafassung des Jeremiabuches die kürzende Übersetzung eines protomasoretischen Textes darstelle.115 Weitere Beispiele ließen sich leicht anführen.116 Bei einer uneinheitlichen Überlieferungslage geben quantitative Differenzen zwischen 𝔐 und der Septuagintafassung sowie Unterschiede in der Textanordnung eher dazu Anlass, von einer anderen hebräischen Vorlage der Übersetzung

110 Adrian Schenker, Älteste Textgeschichte der Königsbücher: die hebräische Vorlage der ursprünglichen Septuaginta als älteste Textform der Königsbücher, OBO 199, Fribourg und Göttingen: Academic Press und Vandenhoeck & Ruprecht, 2004, 173–175. 111 Michael Pietsch, „Von Königen und Königtümern. Eine Untersuchung zur Textgeschichte der Königsbücher“, in: ZAW 119 (2007), 39–58, 56–57. 112 Siehe z. B. Helmut Engel, „Erfahrungen mit der LXX-Fassung des Jeremiabuches im Rahmen des Projektes »Septuaginta Deutsch«“, in: Im Brennpunkt: Die Septuaginta, Bd. 3, hrsg. von Heinz-Josef Fabry und Dieter Böhler, BWANT 174, Stuttgart: Kohlhammer, 2007, 80–96. 113 Vgl. Emanuel Tov, „The Nature of the Large-Scale Differences between the LXX and MT S T V, Compared with Similar Evidence in Other Sources“, in: The Earliest Text of the Hebrew Bible: the Relationship between the Masoretic Text and the Hebrew Base of the Septuagint Reconsidered, hrsg. von Adrian Schenker, SCSS 52, Leiden und Boston: Brill, 2003, 121–144, 138. 114 Arie van der Kooij, „Zum Verhältnis von Textkritik und Literarkritik: Überlegungen anhand einiger Beispiele“, in: Congress Volume Cambrige 1995, hrsg. von John A. Emerton, VT.S 66, Leiden und Boston: Brill, 1997, 185–202, 199. 115 Hier sind vor allem die Arbeiten von Georg Fischer zu nennen; siehe z. B. Georg Fischer, „Die Diskussion um den Jeremiatext“, in: Die Septuaginta: Texte, Kontexte, Lebenswelten, hrsg. von Martin Karrer und Wolfgang Kraus, WUNT 219, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008, 612–629. 116 Siehe Tov, „The Nature of the Large-Scale Differences“, 125–131.

2.1 Textgrundlage

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auszugehen.117 Diese Einschätzung wird sich dann auch auf weniger schwer wiegende Unterschiede zwischen dem griechischen und dem hebräischen Text auswirken. Hilfreich für eine Beurteilung solcher Unterschiede ist also die grundsätzliche Frage, wie gut das zu untersuchende biblische Buch überliefert ist. Auch wenn sich die einzelnen Bücher sicher nicht auf einer kontinuierlichen Skala einordnen lassen, so kann man doch grob beurteilen, ob die Überlieferungssituation eher einheitlich oder eher uneinheitlich einzuschätzen ist. Im ersten Fall wird man tendenziell eher geneigt sein, den Übersetzer für Unterschiede im Wortlaut verantwortlich zu machen, im zweiten Fall wird man öfter eine andere Vorlage in Betracht ziehen. Für das Numeribuch lässt sich festhalten, dass der hebräische Text „vergleichsweise gut überliefert“ ist,118 also ohne in größerem Rahmen von 𝔐 bzw. ⅏ abweichende Texttraditionen wie bei den oben beispielhaft genannten Büchern Exodus, Könige oder Jeremia. Man wird also beim Numeribuch grundsätzlich weniger geneigt sein, eine andere Vorlage anzunehmen als bei Büchern mit weniger guter Überlieferungslage.

2.1.6.2 Vorläufig ermittelte Übersetzungstechnik Ein oft zu Rate gezogener Parameter bei der Beurteilung unterschiedlicher Lesarten des griechischen und hebräischen Textes ist die Frage, ob das biblische Buch eher wörtlich oder eher frei übersetzt wurde. Dieser Parameter steht unter dem methodischen Vorbehalt eines Zirkelschlusses, wenn die Aufgabe darin besteht, die Arbeitsweise des Übersetzers zu untersuchen. Dann können nämlich – streng genommen – textkritische Fragestellungen noch nicht mit Hinweis auf die Übersetzungstechnik bearbeitet werden, da diese noch nicht tatsächlich erschlossen ist.119 Es ist daher angebracht, keine absoluten Aussagen über die Übersetzung einfließen zu lassen und stattdessen einschränkend von einer vorläufig ermittelten Übersetzungstechnik zu sprechen, so dass diese Bewertung gegebenenfalls revidiert werden kann. Hier kann es sich um Ergebnisse anderer Forscher

117 Das geht im Extremfall bis zu der Arbeitshypothese von Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 238, der „large-scale differences“ nicht auf Schreiber innerhalb des Transmissionsprozesses, sondern auf die letzten Redaktoren zurückführen will. Dann ist der Übersetzer per definitionem aus der Betrachtung ausgenommen. Tov räumt allerdings ein, dass die Grenzlinie zwischen „large-scale differences“ und anderen Textvarianten sehr schwer zu ziehen ist. 118 Martin Rösel, „Die Textüberlieferung des Buches Numeri am Beispiel der Bileamerzählung“, in: Sôfer Mahîr. Essays in Honour of Adrian Schenker. Offered by Editors of Biblia Hebraica Quinta, hrsg. von Yohanan A.P. Goldman, Arie van der Kooij und Richard D. Weis, VT.S 110, Leiden und Boston: Brill, 2006, 207–226, 225. 119 Vgl. Abschnitt 2.1.1.

50 | 2 Methodik handeln oder um eigene Ergebnisse, die an textkritisch unbedenklichen Stellen gewonnen wurden. Bei einer Übersetzung, die vorrangig als wörtlich eingestuft wird, sind Unterschiede im Wortlaut des griechischen und hebräischen Textes auffälliger als bei einer freien Übersetzung. Im ersten Fall scheint es natürlicher, den Unterschied auf eine andere hebräische Vorlage zurückführen, im zweiten Fall wird man eher die Ursache beim Übersetzer suchen.120 Dies ist zunächst einleuchtend, denn wenn sich die Übersetzung eines Buches im Großen und Ganzen am hebräischen Wortlaut orientiert, dann stellt sich die Frage, warum der Übersetzer an einzelnen Stellen von seinen formerhaltenden Prinzipien abgewichen sein sollte. Allerdings sollte auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass sich die Übersetzungstechnik innerhalb eines Buches ändern kann. So wurde beispielsweise der Abschnitt Jes 36–39 im Gegensatz zum übrigen Jesajabuch recht wörtlich übersetzt.121 Es ist also angebracht, die vorläufig ermittelte Übersetzungstechnik im Kontext der fraglichen Lesart in Betracht zu ziehen. Dass es sich hier nicht um ein absolutes Kriterium handeln kann, wird durch die folgende Überlegung deutlich: Die grundsätzliche Einschätzung, dass es sich bei einem Buch oder Abschnitt um eine freie Übersetzung handelt, basiert auf der Annahme, dass Unterschiede zum hebräischen Referenztext, die zu dieser Einschätzung führten, bereits auf den Übersetzer zurückgehen.122 Natürlich ist es auch dort prinzipiell denkbar, dass der Übersetzer eine andere Vorlage verwendet hat. Der Hinweis auf frühere Forschungsergebnisse kann also nur eine Tendenz angeben, und man sollte, wenn möglich, Ergebnisse mehrerer Forscher in Betracht ziehen. Außerdem lässt sich beobachten, dass sich verschiedene Übersetzungstechniken mischen können, dass also beispielsweise eine vorrangig wörtlich-formerhaltende Übersetzung gezielt um Elemente einer kommunikativen Übersetzung angereichert werden kann.123 Dies steht im Einklang mit der Beobachtung, dass die Übersetzungskriterien „wörtlich“ und „frei“ nicht immer

120 Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 18–19; ähnlich Rösel, Übersetzung als Vollendung der Auslegung, 15; vgl. auch Aejmelaeus, „What can we know about the Hebrew Vorlage“, 82–83. 121 Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 18. 122 So mit Bezug auf das Proverbienbuch Michael V. Fox, „LXX-Proverbs as a Text-Critical Resource“, in: Textus 22 (2005), 95–128, 120: „[…] the assessment of a translation as »free« rests in large measure on the assumption that deviations from the MT are to be ascribed to the translator“ (Hervorhebung dort). 123 Ziegert, „Das Buch Ruth in der Septuaginta“, 247–249.

2.1 Textgrundlage |

51

konsistent angewandt wurden.124 Der Parameter der „Wörtlichkeit“ sollte also nur mit Vorsicht angewandt werden. Die Übersetzungstechnik des griechischen Numeribuches wurde einerseits als „relativ frei“ auf lexikalischer Ebene, andererseits als „relativ formerhaltend“ auf syntaktischer Ebene bezeichnet.125 Das könnte darauf hindeuten, dass Auffälligkeiten in der Wortwahl des griechischen Textes eher auf der Arbeitsweise des Übersetzers basieren als auf einer anderen Vorlage. Syntaktische Auffälligkeiten dagegen könnten eher auf eine entsprechende hebräische Vorlage hinweisen.

2.1.6.3 Externe Bezeugung einer potenziellen hebräischen Vorlage Wenn eine auffällige Lesart des griechischen Textes in einem Manuskript in hebräischer Sprache belegt ist, dann ist die Erklärung naheliegend, dass die Vorlage des Übersetzers diesem hebräischen Textzeugen entsprach. In dem Fall wäre die Auffälligkeit also nicht dem Übersetzer zuzuschreiben. Dagegen weist das Fehlen einer hebräischen Bezeugung der betreffenden Lesart eher in die Richtung, dass die Auffälligkeit ihre Ursache in der Arbeitsweise des Übersetzers hat. Dafür sprechen grundsätzlich die in den Abschnitten 2.1.4 und 2.1.5 dargelegten Überlegungen, die Eingriffe in den Wortlaut eines Textes im Rahmen einer Übersetzung plausibel erscheinen lassen. Auch dieser Parameter liefert kein absolutes Entscheidungskriterium. Denn auch wenn die Lesart nicht in einem hebräischsprachigen Manuskript belegt ist, so ist es natürlich dennoch möglich, dass sie auf einer entsprechenden Vorlage des Übersetzers beruht, selbst wenn diese nicht direkt nachweisbar ist.126 Oft ist es möglich, durch Rückübersetzung des griechischen Textes ins Hebräische die Vorlage zu rekonstruieren. Tatsächlich sind zahlreiche in der Vergangenheit vorgenommene Rekonstruktionen durch die Funde von Qumran als reale hebräische Lesarten bestätigt worden.127 Allerdings muss auch hier wieder zur Vorsicht ge-

124 Barr, The Typology of Literalism, 7; speziell zum Pentateuch vgl. Sebastian P. Brock, „To Revise or not to Revise: Attitudes to Jewish Biblical Translation“, in: Septuagint, Scrolls and Cognate Writings: Papers Presented to the International Symposium on the Septuagint and its Relations to the Dead Sea Scrolls and Other Writings (Manchester, 1990), hrsg. von George J. Brooke und Barnabas Lindars, SCSS 33, Atlanta: Scholars Press, 1992, 301–338, 310–311. 125 Dorival, Les Nombres, 64–65; Voitila, „The Translator of the Greek Numbers“, 120–121; siehe auch Abschnitt 1.2. 126 Eine hebräische Vorlage als erste Möglichkeit anzunehmen, ist die Forderung von Aejmelaeus, „What can we know about the Hebrew Vorlage“, 85. 127 Vgl. Emanuel Tov, „The Contribution of the Qumran Scrolls to the Understanding of the LXX“, in: Septuagint, Scrolls and Cognate Writings: Papers Presented to the International Sympo-

52 | 2 Methodik mahnt werden. Eine Rückübersetzung setzt ja gerade eine wörtliche Art der Übersetzung voraus, eine Annahme, die nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden kann.128 Ist umgekehrt die fragliche Lesart extern belegt, dann ist es prinzipiell auch möglich, dass die Vorlage des Übersetzers dennoch dem hebräischen Referenztext entsprach. Dann wären die beiden sich vom hebräischen Referenztext unterscheidenden Textvarianten unabhängig voneinander entstanden und hätten sich in einem Fall in einem hebräischen, in einem anderen Fall in einem griechischen Text manifestiert. Doch auch diese Annahme lässt sich ohne Zuhilfenahme weiterer Parameter nur schwer plausibel machen.

2.1.6.4 Zusammenfassung Es sollte deutlich geworden sein, dass die genannten drei Parameter keine absoluten Kriterien darstellen, sondern in der Zusammenschau angewandt werden sollten. Ein Beispiel für solch eine Zusammenschau bietet die Problematik in Gen 2,2. In 𝔐 heißt es hier, dass Gott am siebten Tag (‫ )ביום השביעי‬sein Werk vollendete, in der Septuagintafassung dagegen ist es der sechste Tag (ἐν τῇ ἡμέρᾳ τῇ ἕκτῃ). Offensichtlich liegt hier eine theologische Harmonisierung vor, die die Spannung zwischen dem „Vollenden“ und dem „Ruhen“ am siebten Tag beheben sollte. Zunächst ist festzustellen, dass das Buch Genesis recht einheitlich überliefert ist, dass also großflächige Unterschiede des griechischen Textes zu 𝔐 (als Referenztext), die Anlass geben könnten, grundsätzlich von einer anderen Vorlage auszugehen, nicht vorhanden sind. Zweitens ist zu bedenken, dass in den ersten Kapiteln der griechischen Genesis wenig Indizien für derart freie interpretierende Übersetzungen zu finden sind, was dafür spricht, von einer Vorlage mit der Lesart des „sechsten Tages“ auszugehen.129 Drittens wird diese Lesart tatsächlich von ⅏ und von der Peschitta bezeugt, eine entsprechende hebräische Vorlage ist also wahrscheinlich.130

sium on the Septuagint and its Relations to the Dead Sea Scrolls and Other Writings (Manchester, 1990), hrsg. von George J. Brooke und Barnabas Lindars, SCSS 33, Atlanta: Scholars Press, 1992, 11–47, 12–13; Barr, The Typology of Literalism, 12. 128 Vgl. Tilly, Einführung in die Septuaginta, 60. Dass sich die Rekonstruktion der hebräischen Vorlage als schwierig bis unmöglich erweisen kann, zeigt das Beispiel des salomonischen Tempelweihspruchs (1Kön 8,12–13 𝔐); siehe Rösel, „Salomo und die Sonne“, 410. 129 So auch Barr, The Typology of Literalism, 11. 130 Dennoch hält Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 79, es auch für möglich, dass der Wortlaut der Übersetzung unabhängig von einer gleichlautenden Vorlage entstanden ist („independent exegetical traditions“) und bezeichnet den Fall als nicht entscheidbar.

2.2 Auswahl der zu untersuchenden Texte |

53

Die genannte Bewertung des ersten Parameters gilt nicht nur für die Genesis, sondern auch für das Numeribuch, denn größere Unterschiede in Umfang und Anordnung des griechischen Referenztextes im Vergleich zum hebräischen Referenztext lassen sich nicht feststellen. Lediglich in einzelnen Fällen steht eine Texteinheit von ein bis zwei Versen in der Septuagintafassung an einer anderen Stelle als in 𝔐.131 Die Situation ist also eine andere als beispielsweise beim Jeremiabuch oder bei den Büchern der Könige, wo besagte Unterschiede stark auf eine Vorlage hindeuten, die nicht 𝔐 entspricht. Diese grundsätzliche Einschätzung für das Numeribuch ist unabhängig davon, wie man im Einzelfall die Unterschiede in der Textanordnung bewertet. Die anderen beiden Parameter müssen für jeden Einzelfall gesondert ausgewertet werden. Hier ist also jeweils zu fragen, ob die bisher ermittelte Übersetzungstechnik im Kontext der betreffenden Stelle eher als „wörtlich“ oder eher als „frei“ zu bewerten ist. Außerdem ist zu prüfen, ob eine potenzielle hebräische Vorlage, wenn sie sich überhaupt durch Rückübersetzung überzeugend rekonstruieren lässt, extern belegt ist oder nicht. Die einzelnen Bewertungen der drei Parameter sind sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Aber auch das wird nicht in jedem Fall eine eindeutige Lösung garantieren können.132

2.2 Auswahl der zu untersuchenden Texte Eine Besonderheit des Numeribuches ist die Vielfalt der literarischen Formen und Gattungen,133 die in den einzelnen Perikopen auftreten. So findet man beispielsweise Listen (1,5–16), Erzähltexte (11,1–35), Lieder (21,17–18), prophetische Rede (24,15–24), kultisch-poetische Texte (10,35–36) und Texte mit legislativer Funktion (6,1–21). Diese Vielfalt hat zur Verunsicherung der Ausleger beigetragen, insbesondere bei dem Versuch, die Gattung des gesamten Buches zu bestimmen. So schreibt Martin Noth: „Der Inhalt des Buches ist sehr uneinheitlich, und sein Aufbau ist reichlich undurchsichtig. Das Ganze ist ein Stück Erzählung; aber diese Erzählung wird immer wieder unterbrochen

131 Siehe hier Seite 90 zu Num 1,37–38 (𝔐: 24–25), Seite 104 zu Num 6,24 (𝔐: 27) und Seite 113 zu Num 10,34–35 (𝔐: 35–36). 132 Siehe das Beispiel auf Seite 86, das die Frage nach der Vereinheitlichung einer Präposition in Num 1,20 thematisiert. 133 Zur Problematik der Terminologie vgl. Martin Rösel, „Formen / Gattungen. II. Altes Testament“, in: RGG, 4. Aufl., Bd. 3, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, 186–190, 187–188.

54 | 2 Methodik durch die Mitteilung von mehr oder weniger umfangreichen Anordnungen und Aufstellungen“.134

Wenn im Rahmen dieser Untersuchung das Buch als Ganzes angemessen repräsentiert werden soll, dann ist es nötig, eine Auswahl möglichst unterschiedlicher Texte zu treffen, durch die verschiedene Gattungen abgedeckt werden. Dazu erfolgt zunächst eine Untersuchung des Gattungsbegriffs (Abschnitt 2.2.1) und seiner Anwendung in der Übersetzungstheorie (2.2.2), bevor die eigentliche Textauswahl vorgenommen wird (2.2.3).

2.2.1 Gattung, Textsorte, Texttyp Die „klassische“ Einteilung der verschiedenen Literaturarten in Lyrik, Epik und Dramatik stammt aus dem 19. Jahrhundert und erlangte im Lauf des Jahrhunderts kanonischen Status.135 Später hat man versucht, diese Einteilung weiter zu systematisieren und dadurch zu begründen. Beispielsweise lässt sich eine Systematisierung entsprechend der Redeausrichtung vornehmen: Der Epiker spricht zum Leser, im Drama sprechen die Personen miteinander, in der Lyrik liegt ein Selbstgespräch des Dichters vor.136 Eine andere Systematisierung basiert auf den von Karl Bühler definierten Sprachfunktionen Darstellung, Ausdruck und Appell. Dabei dominiert in der Epik die Darstellung, in der Lyrik der Ausdruck und in der Dramatik der Appell, letzteres deshalb, weil das Publikum im Drama direkt angesprochen werde.137 Hermann Gunkel wandte sich gegen die alleinige Anwendung der zu seiner Zeit anerkannten literaturwissenschaftlichen Methoden138 und begründete mit seiner Suche nach dem „Sitz im Leben“ die form- und gattungsgeschichtliche Methodik in der Exegese: Die literarischen Formen seien in Israel nicht „auf dem

134 Martin Noth, Das vierte Buch Mose: Numeri, ATD 7, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1966, 5. 135 Stefan Trappen, „Formen / Gattungen. I. Literaturwissenschaftlich“, in: RGG, 4. Aufl., Bd. 3, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, 185–186, 186. Ansatzweise geht diese Einteilung bereits auf Platon zurück, siehe dazu András Horn, Theorie der literarischen Gattungen: ein Handbuch für Studierende der Literaturwissenschaft, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1998, 12. 136 Horn, Theorie der literarischen Gattungen, 11. 137 Horn, Theorie der literarischen Gattungen, 13–14; vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, 3. Aufl., UTB 1159, Erstauflage 1934, Stuttgart: Lucius & Lucius, 1999, 28. 138 Hermann Gunkel und Joachim Begrich, Einleitung in die Psalmen: die Gattungen der religiösen Lyrik Israels, 4. Aufl., Erstauflage 1933, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1985, 8.

2.2 Auswahl der zu untersuchenden Texte |

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Papier“ entstanden, sondern in konkreten Situationen des Lebens wie beim Singen eines Sieges- oder Leichenliedes zu dem entsprechenden Anlass.139 Die weitere gattungs- bzw. formgeschichtliche Forschung hat zur Benennung zahlreicher Gattungen der alttestamentlichen Literatur geführt, die sich grob in Liedgattungen, Gattungen mit kultischem Sitz im Leben, mitteilende und erzählende Gattungen, rechtliche Gattungen, weisheitliche Gattungen sowie Gattungen prophetischer Rede einteilen lassen.140 Unter dem Blickwinkel der Übersetzungswissenschaft ist die Frage interessant, ob sich innerhalb eines vorgegebenen Textkorpus (wie beispielsweise des Numeribuches) eine Differenzierung der Übersetzungstechnik entsprechend der Gattung feststellen lässt. Beispielsweise ist vermutet worden, dass poetische Texte innerhalb erzählender Bücher den Übersetzern „einen größeren Gestaltungsspielraum“ gaben.141 Diese Vermutung lässt sich durch ein lexikalisches Beispiel aus dem Numeribuch plausibel machen. Dort wird das Substantiv ‫ אהל‬verschieden übersetzt, wobei eine Differenzierung entsprechend der Gattung naheliegt: – In Num 16,26.27 wird σκηνή zur Wiedergabe von ‫ אהל‬verwendet. Hier handelt es sich um einen Narrativtext, und die wörtliche Wiedergabe bietet sich an, weil die im Text genannten Menschen der Wüstengeneration in Zelten wohnten. – In Num 19,14.18 dagegen wird ‫ אהל‬mit οἶκος wiedergegeben. Im Rahmen dieses legislativen Textes findet eine Aktualisierung statt, da die Leser der Numeri-Übersetzung, die diesen Text anwenden sollten, nicht mehr in Zelten, sondern in Häusern wohnten.142 – In Num 24,5 wird ‫ אהל‬ebenfalls mit οἶκος übersetzt, allerdings wird auch σκηνή verwendet, und zwar zur Wiedergabe von ‫ משכן‬in der zweiten Zeile des Parallelismus. Bei diesem poetischen Text war dem Übersetzer die sprachliche Gestaltung offensichtlich wichtiger als die historisch motivierte Frage nach den Behausungen der Israeliten zur Zeit der Wüstenwanderung. Auch eine Aktualisierung in die Lebenswelt der Leser war nicht erwünscht. Entscheidend war lediglich, ein partiell synonymes hebräisches Wortpaar in ein entsprechendes griechisches Wortpaar abzubilden.143

139 Ebd., 10. 140 Rösel, „Formen / Gattungen. II. Altes Testament“, 188–190. 141 Rösel, „Jakob, Bileam und der Messias“, 152. 142 Vgl. Rösel, „Die Septuaginta und der Kult“, 30. 143 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 403; siehe auch hier Seite 248.

56 | 2 Methodik Ein entsprechend der Textgattung differenzierendes Vorgehen der Übersetzer lässt sich auch bei nichtbiblischen Texten beobachten, die in hellenistischer Zeit in Ägypten abgefasst wurden. Beispielsweise konnte man bei Übersetzungen aus dem Demotischen ins Griechische feststellen, dass juristische Texte wörtlich, religiöse Texte etwas freier und literarische Texte sehr frei übersetzt wurden.144 In der Textlinguistik dominiert gegenüber dem eher in der Literaturwissenschaft verwendeten Gattungsbegriff der Begriff der Textsorte. Beide Begriffe dienen dazu, Texte entsprechend ihrer formalen und inhaltlichen Merkmale zu kategorisieren. Das Interesse der Textlinguisten richtet sich allerdings nicht vorrangig auf literarische Texte, sondern auf meist konventionalisierte Gebrauchstexte wie Heiratsanzeige, Testament oder Bedienungsanleitung.145 Auch hier existiert ein „Sitz im Leben“, da die Texte einer Textsorte in einer fest umrissenen Lebenssituation (Hochzeit, Tod und Nachlassregelung, Bedienung eines technischen Gerätes) verortet sind. Bei der Untersuchung von Textsorten steht meist die sprachliche Funktion und damit die Wirkung von Texten im Vordergrund. Teilweise werden „Textsorte“, „Textklasse“ und „Texttyp“ synonym verwendet; eine hierarchische Systematisierung der Begriffe, zu denen sich weitere Begriffe wie „Textsortenklasse“ und „Textsortenvariante“ hinzufügen ließen, gestaltet sich schwierig.146 Im Rahmen einer übersetzungswissenschaftlich motivierten Untersuchung biblischer Texte ist der Textsortenbegriff aufgrund seiner vorrangigen Anwendung auf Gebrauchstexte wahrscheinlich weniger geeignet. In der Übersetzungswissenschaft hat sich der Begriff des Texttyps zur Charakterisierung von Texten etabliert, wobei meist mehrere Textsorten zu einem Texttyp zusammengefasst werden.147 Im Rahmen der vorliegenden Studie ist eine Texttypologie allerdings erst dann interessant, wenn sie „übersetzungsrelevant“ ist, d. h. wenn in einem präskriptiven Übersetzungsmodell der Typ eines Textes die Art und Weise der Übersetzung mitbestimmt. Dies ist der Fall bei der bereits 1971 von Katharina Reiß als Werkzeug der Übersetzungskritik entwickelten

144 Brock, „The Phenomenon of the Septuagint“, 17–19. 145 Christina Gansel und Frank Jürgens, Textlinguistik und Textgrammatik: eine Einführung, 2. Aufl., Studienbücher zur Linguistik 6, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, 65. 146 Gansel und Jürgens, Textlinguistik und Textgrammatik, 65–68; vgl. auch Wolfgang Heinemann, „Textsorte – Textmuster – Texttyp“, in: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, hrsg. von Klaus Brinker, HSK 16.1, Berlin und New York: de Gruyter, 2000, 507–523. 147 Vgl. Nord, Textanalyse und Übersetzen, 21–23.

2.2 Auswahl der zu untersuchenden Texte |

57

Texttypologie, die später in die Skopostheorie integriert wurde.148 Im folgenden Abschnitt (2.2.2) wird diese übersetzungsrelevante Texttypologie dargestellt, anschließend (2.2.3) wird eine Auswahl von zu untersuchenden Texten getroffen, die der Vielfalt des Numeribuches in texttypologischer und damit auch in übersetzungswissenschaftlicher Hinsicht soweit wie möglich gerecht wird.

2.2.2 Übersetzungsrelevante Texttypologie Im Anschluss an Karl Bühler149 betrachtet Katharina Reiß drei Grundfunktionen von Sprache, die bei der Übersetzung mitbedacht werden müssen: Darstellung, Ausdruck und Appell. In einem Text könne eine dieser drei Funktionen die beiden anderen dominieren, wobei auch Mischformen und Überschneidungen zu beobachten seien.150 Den Bühlerschen Grundfunktionen der Sprache entsprechen bei Reiß drei Texttypen, die zunächst als inhaltsbetont, formbetont und appellbetont,151 in späteren Publikationen als informativ, expressiv und operativ bezeichnet wurden.152 Dabei legt der informative Text den Schwerpunkt auf die Vermittlung von Inhalten, der expressive Text auf die sprachliche Form und der operative Text auf den außersprachlichen Effekt, den der Text auf den Hörer oder Leser hat.153 Für die Textfunktion bedeutet das: Der informative Text soll Inhalte vermitteln, der expressive Text macht eine künstlerische Aussage und der operative Text will Verhaltensimpulse auslösen.154 Nun lässt sich die sprachliche Form eines Textes sicher nicht ohne Weiteres von seinem Inhalt trennen. Von daher scheint die von Reiß vorgenommene Einteilung in Texttypen auf den ersten Blick problematisch.155 Weiterhin ist kritisiert worden, dass die Einteilung in drei Texttypen in der Praxis eine zu starke Vereinfachung bedeutet.156 Texte lassen sich offensichtlich nicht ohne Weiteres auf 148 Reiß, Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik; vgl. auch Katharina Reiß, Texttyp und Übersetzungsmethode: Der operative Text, Kronberg: Scriptor, 1976; sowie Reiß und Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 204–214. 149 Bühler, Sprachtheorie, 28. 150 Reiß, Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik, 32. 151 Ebd., 32. 152 Reiß, Texttyp und Übersetzungsmethode, 12–14. 153 Reiß, Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik, 32, 44. 154 Reiß, Texttyp und Übersetzungsmethode, 20. 155 Zur Kritik diesbezüglich vgl. Jörn Albrecht, Literarische Übersetzung: Geschichte – Theorie – Kulturelle Wirkung, Darmstadt: WBG, 1998, 257–258. 156 Henrik Nikula, „Der Einfluss der Textlinguistik auf Kontrastive Linguistik und Übersetzungswissenschaft“, in: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenös-

58 | 2 Methodik eine der drei Eigenschaften „informativ“, „expressiv“ oder „operativ“ festlegen. Beispielsweise könnte man einen Narrativtext zunächst dem informativen Texttyp zuordnen, etwa wenn er Ereignisse aus der Frühzeit Israels für spätere Leser berichtet. Allerdings ist davon auszugehen, dass solch ein Text auch Elemente beinhaltet, die das Verhalten der Leser beeinflussen sollen,157 wodurch dieser Text gleichzeitig dem operativen Typ angehört. Tatsächlich erweckt auch die im Folgenden vorgenommene Anwendung der Texttypologie auf Texte des Numeribuches den Eindruck, dass Mischtypen dominieren.158 Da im Rahmen der Texttypologie ausdrücklich mit Überschneidungen und mit Mischtypen gerechnet wird,159 sollte dies jedoch kein Problem darstellen. Denn der Anspruch kann höchstens darin bestehen, für einen konkreten Text den dominierenden Texttyp zu bestimmen, etwa wenn Elemente aller drei Texttypen vorhanden sind. Denkbar sind auch Mischtypen, bei denen Eigenschaften von zwei Texttypen zu etwa gleichen Teilen dominieren (z. B. „expressiv-operativ“), während der dritte Typ unterrepräsentiert ist. In der Skopostheorie ist wesentlich, dass der Texttyp des Translats dem Texttyp des Ausgangstextes entsprechen kann, aber nicht muss. Wenn der Zieltext dieselbe kommunikative Funktion erfüllen soll wie der Ausgangstext, d. h. wenn Funktionsgleichheit intendiert ist, dann sollte sich auch der Texttyp nicht ändern.160 Ob allerdings tatsächlich Funktionsgleichheit angestrebt wird, ist vom Skopos abhängig.161 Gerade beim Numeribuch mit seiner Vielzahl an Textgattungen bzw. -typen bietet es sich an, die Übersetzung in einem Rahmen zu untersuchen, der die Verschiedenartigkeit von Texten konsequent in den Blick nimmt. Ginge es allein um die Verschiedenartigkeit der betrachteten Texte, dann wäre auch eine rein gattungskritische oder textsortenanalytische Herangehensweise geeignet. Wenn man jedoch Übersetzungstexte betrachtet, dann ist darüber hinaus eine Charakterisierung nicht nur des Ausgangs-, sondern auch des Zieltextes wünschenswert. Im Rahmen der übersetzungsrelevanten Texttypologie lassen sich Texte nicht nur klassifizieren, sondern es lässt sich auch feststellen, ob der Texttyp einer Peri-

sischer Forschung, hrsg. von Klaus Brinker, HSK 16.1, Berlin und New York: de Gruyter, 2000, 843–847, 845. 157 Vgl. Gordon J. Wenham, Story as Torah. Reading Old Testament Narrative Ethically, Grand Rapids: Baker, 2000, 3: „Old Testament narrative books do have a didactic purpose, that is, they are trying to instil both theological truths and ethical ideas into their readers.“ 158 Siehe Abschnitt 2.2.3. 159 Reiß, Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik, 32. 160 Reiß und Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 213–214. 161 Vgl. Abschnitt 2.1.5.2.

2.2 Auswahl der zu untersuchenden Texte |

59

kope bei der Übersetzung verändert wurde. Ziel der Textauswahl ist es also, ein möglichst breites Spektrum unterschiedlicher Texte festzulegen. Daraus sollten sich am Ende der Untersuchung Aussagen ergeben, ob der (dominierende) Texttyp der einzelnen Abschnitte tendenziell eher erhalten bleibt oder eher verändert wird. Im zweiten Fall wäre interessant, ob sich bezüglich der Art der Änderungen eine Regelmäßigkeit feststellen lässt. Noch eine weitere Beobachtung verdient Beachtung: Theo van der Louw sieht eine Entsprechung zwischen den Reiß’schen Texttypen „inhaltsbetont“, „formbetont“ und „appellbetont“ und der antiken Einteilung von Texten in historia, poetica und rhetorica, die schon Cicero bekannt war.162 Ob diese Einteilung den Übersetzern der Septuaginta bekannt war, lässt sich natürlich nicht feststellen. Doch immerhin stammt sie aus demselben Kulturkreis wie die SeptuagintaÜbersetzungen, und ein (bewusst oder unbewusst) darauf aufbauendes Modell wie das von Reiß verdient daher Beachtung.

2.2.3 Textauswahl Für die vorliegende Untersuchung sollen Texte ausgewählt werden, die das Numeribuch im Sinne der übersetzungsrelevanten Texttypologie möglichst gut repräsentieren, d. h. alle drei Texttypen sollten ungefähr zu gleichen Teilen in der Textauswahl vorhanden sein. Wie schon in Abschnitt 2.2.2 dargestellt, ist es oft nicht möglich, einem Text nur einen Texttyp zuzuordnen, da Mischtypen in der Praxis eher die Regel als die Ausnahme darstellen. Die im Folgenden vorgenommene Zuordnung von Texten zu den drei Texttypen wird überblicksartig in Tabelle 2.1 (Seite 62) dargestellt. Begibt man sich im Numeribuch auf die Suche nach vorrangig informativen Texten, so wird man intuitiv an die zahlreich vorkommenden Listen denken. Die Liste mit den Ergebnissen der ersten Volkszählung (Num 1,20–47) ist ein passendes Beispiel. Der Text ist „formelhaft“, das dominierende Element des Textes ist die „statistische Dokumentation“,163 also der Inhalt. Die sprachliche Form ist zwar auffällig, doch ist sie deutlich dem Inhalt untergeordnet. Die formelhafte konventionalisierte Sprache ist geradezu Vehikel für den Inhalt, nämlich die Abfolge der

162 van der Louw, „Approaches in Translation Studies“, 20. 163 Rolf P. Knierim und George W. Coats, Numbers, FOTL 4, Grand Rapids: Eerdmans, 2005, 48.

60 | 2 Methodik Zahlenangaben für die zwölf Stämme.164 Die Charakterisierung als informativer Text ist folglich sinnvoll. Auch Itinerare wie das in Num 33,1–49 lassen sich als vorrangig informative Texte charakterisieren. In einem Itinerar der erweiterten Form werden nicht nur Reisestationen aufgelistet, sondern auch einzelne Begebenheiten an diesen Stationen erwähnt (z. B. Num 33,37–40). Der Schwerpunkt liegt auf der Vermittlung des Inhalts, die Form ist wieder konventionalisiert. Auch narrative Texte lassen sich dem informativen Texttyp zuordnen. Kapitel 11 des Numeribuches informiert zunächst einmal die Leser über Ereignisse und Stationen der Wüstenwanderung. Darüber hinaus liegen Elemente des operativen Typs vor. Denn die Erzählung berichtet ausführlich vom „Murren“ der Israeliten sowie von dessen Folgen. Es wird deutlich, dass die Leser vor ähnlichem Verhalten gewarnt werden, dass also die Einstellungen und die Verhaltensweisen der Leser durch den Text beeinflusst werden sollen.165 Der Texttyp lässt sich somit als informativ-operativ festlegen, die künstlerische Gestaltung des Textes steht dagegen nicht im Vordergrund. Der operative Texttyp liegt bei den legislativen Gattungen vor. Kapitel 15 des Numeribuches bietet eine ganze Reihe unterschiedlicher legislativer Texte. Es handelt sich zunächst um zwei Texte mit Opfervorschriften, die beide im Hinblick auf das Wohnen im von Gott zugesagten Land gegeben und entsprechend eingeleitet werden („Wenn ihr in das Land kommt …“; Num 15,1–16.17–21). Anschließend (V.22–31) werden Opfer für versehentlich begangene Gebotsübertretungen gegeben. Es folgt ein kurzer Narrativtext, der als Präzedenzfall das Holzsammeln eines Israeliten während der Wüstenwanderung beschreibt (V.32–36), wodurch das Gebot über die Zizit (V.37–41) motiviert wird. Aufgrund der Verschiedenartigkeit der legislativen Texte in Numeri 15 bietet es sich an, das Kapitel als Ganzes zu untersuchen. Der Texttyp ist vorrangig operativ. Der expressive Texttyp lässt sich im aaronitischen Segen (Num 6,22–27) finden. In V.24–26 𝔐 lassen sich sprachliche Ähnlichkeiten zu Psalmtexten (z. B. Ps 4,7) ausmachen, der Text ist metrisch in drei Zeilen angelegt.166 Auch die metaphorische Ausdrucksweise („das Angesicht leuchten lassen“, „das Angesicht er-

164 In der Textlinguistik bezeichnet man Konventionen bezüglich der Form einer Gruppe von Texten, meist einer ganzen Textsorte, als „Superstruktur“; siehe dazu Teun A. van Dijk und Walter Kintsch, Strategies of Discourse Comprehension, New York: Academic Press, 1983, 16. 165 Das wird besonders anhand des einleitenden kurzen Abschnitts Num 11,1–3 deutlich, der als Muster für alle weiteren Episoden des „Murrens“ in der Wüste dient; siehe Timothy R. Ashley, The Book of Numbers, NICOT, Grand Rapids: Eerdmans, 1993, 201; vgl. Knierim und Coats, Numbers, 151. 166 Philip J. Budd, Numbers, WBC 5, Waco: Word, 1984, 75.

2.2 Auswahl der zu untersuchenden Texte

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heben auf …“, „den Namen legen auf …“) sprechen für einen expressiven Text. Die rahmenden Verse (V.22–23.27 𝔐) stellen eine Anweisung an die Priester dar und können somit dem operativen Texttyp zugeordnet werden. Insgesamt überwiegt aufgrund der künstlerischen Organisation des Segensspruchs der expressive Typ. Auch in den Ladesprüchen in Num 10,35–36 𝔐 liegt ein Text des expressiven Typs vor. Der Text ist poetisch aufgebaut und kann dem Spektrum der kultischen Gattungen zugeordnet werden.167 Das Thema der Lade wird bereits in V.33 𝔐 eingeführt, es bietet sich daher an, den Abschnitt Num 10,33–36 als Ganzes zu untersuchen. Die eigentlichen Ladesprüche lassen sich als vorrangig expressiv charakterisieren; die ihnen vorgeschaltete Einleitung (V.33–34 𝔐) ist eher dem informativen Texttyp zuzuordnen. Kapitel 21 enthält drei Lieder (V.14–15.17–18.27–30), deren Texttyp als expressiv gelten kann. Dabei sind die ersten beiden Lieder, das Zitat aus dem Buch der Jahwekriege und das Brunnenlied, in ein Itinerar eingebettet (V.10–20), das als vorrangig informativ zu charakterisieren ist. Das dritte Lied, ein Sieges- oder Spottlied,168 ist Teil der Erzählung vom Sieg über den Amoriterkönig Sihon (V.21–32), eines ansonsten narrativen Textes. Auch der Rest des Kapitels, das vollständig untersucht werden soll, besteht aus Narrativtexten (V.1–3.4–9.33–35). Diese enthalten neben Elementen des informativen auch solche des operativen Typs. Beispielsweise will der Abschnitt Num 21,4–9, der von der Unzufriedenheit der Israeliten und der darauf folgenden Schlangenplage berichtet, die Leser nicht nur informieren, sondern auch vor vergleichbarem Verhalten warnen. In Num 21 sind somit alle drei Texttypen repräsentiert. Die Gattung der prophetischen Rede liegt in den Bileamorakeln vor. So ist das dritte Orakel (24,3–9) durch die mehrmalige Bezeichnung als ‫נאם‬, durch die Erwähnung von Vision und Audition (V.3–4) sowie durch den vor Beginn der direkten Rede erwähnten Einfluss des Geistes (V.2) als Prophetenspruch gekennzeichnet. Gleichzeitig kommen poetische Elemente wie Parallelismen gehäuft vor. Das legt eine Zuordnung zum expressiven Texttyp nahe. Allerdings liegt hier ein weiterer Schwerpunkt auf dem Inhalt, also auf der Segenszusage für die Israeliten. Der Abschnitt beinhaltet demnach auch Elemente des informativen Typs. Im Gegensatz zu den Sprüchen der Schriftpropheten, die oft direkt auf das Verhalten der Rezipienten Einfluss nehmen wollen (z. B. Am 2,6–8), ist eine Zuordnung zum operativen Texttyp hier weniger angemessen. Eine Aufstellung der ausgewählten Texte ist in Tabelle 2.1 zu finden. Die nunmehr getroffene Auswahl ermöglicht eine systematische Untersuchung von Tex-

167 Budd, Numbers, 114; Ashley, The Book of Numbers, 198. 168 Budd, Numbers, 245.

62 | 2 Methodik Tab. 2.1. Zu untersuchende Texte mit Gattung und Texttyp Text

Gattung

Texttyp

1,20–47 6,22–27 10,33–36 11,1–35 15,1–41 21,1–35 24,3–9 33,1–49

Liste Kultischer Text (poetisch) Kultischer Text (poetisch) Narrativtext Legislative Texte, narrativer Einschub Liedgattungen, Itinerar, narrativer Kontext Prophetische Rede Itinerar

informativ expressiv, operativ (Rahmen) expressiv, informativ (Einleitung) informativ, operativ operativ informativ, expressiv, operativ expressiv, informativ informativ

ten, die aufgrund ihrer Verschiedenartigkeit sowohl unter Berücksichtigung der herkömmlichen Gattungsforschung als auch im Rahmen einer übersetzungsrelevanten Texttypologie das Numeribuch angemessen repräsentieren. Somit kann bei der Analyse gefragt werden, ob der jeweilige Texttyp bei der Übersetzung erhalten geblieben ist oder nicht, was wiederum Rückschlüsse auf den Skopos der Übersetzung zulässt.169 Die gewählten Texte sind gleichmäßig über das gesamte Buch verteilt, wodurch ebenfalls das Numeribuch als Ganzes repräsentiert wird.

2.3 Funktionale Translationstheorie Im Rahmen der methodischen Erwägungen zu Textgrundlage und Textauswahl wurden bereits einige Elemente der Skopostheorie, die für die jeweilige Thematik relevant sind, dargestellt (Abschnitte 2.1.5 und 2.2.2). Der folgende Abschnitt (2.3.1) widmet sich den bisher noch fehlenden Elementen. Anschließend (2.3.2) wird dargelegt, wie ein eigentlich präskriptives Übersetzungsmodell retrospektiv auf Texte der Septuaginta angewandt werden kann. Schließlich bietet Abschnitt 2.3.3 eine knappe Zusammenfassung der hier vorgenommenen Anwendung der Skopostheorie auf Septuagintatexte.

2.3.1 Äquivalenz und Adäquatheit Der Begriff der Äquivalenz taucht nicht nur in der Skopostheorie, sondern auch in anderen Übersetzungstheorien auf. Ein bekanntes Beispiel ist die von E. A. Nida

169 Siehe zur retrospektiven Ermittlung des Skopos Abschnitt 2.3.2.

2.3 Funktionale Translationstheorie

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eingeführte Unterscheidung zwischen „formal equivalence“ und „dynamic equivalence“. Während formale Äquivalenz eine Anlehnung der Übersetzung an die Form des Ausgangstextes meint, handelt es sich bei dynamischer Äquivalenz um die (anzustrebende) Wiedergabe des Inhalts in einer für die Zielrezipienten natürlichen Form, die bei diesen eine angemessene und der „Botschaft“ entsprechende Reaktion hervorrufen soll.170 Im Rahmen der Skopostheorie wird nun der Äquivalenzbegriff weiter differenziert. Man versteht darunter eine Relation der Gleichartigkeit zwischen Ausgangstext und Translat, und zwar auf verschiedenen sprachlichen Ebenen.171 Durch vorhandene oder nicht vorhandene Äquivalenz auf diesen verschiedenen Ebenen werden vier Übersetzungstypen definiert, für deren Realisierung die angegebenen Arten von Äquivalenz gleichzeitig gefordert werden:172 – Bei einer Interlinearübersetzung soll Wortäquivalenz vorliegen, d. h. jedes einzelne Wort des Ausgangstextes wird, wann immer dies möglich ist, in ein entsprechendes Wort der Zielsprache abgebildet. – Eine wortgetreue Übersetzung soll sich durch die Verwendung von Wort- und Strukturäquivalenz auszeichnen. Hier werden auch die grammatischen Strukturen der Ausgangssprache in entsprechende Konstruktionen der Zielsprache abgebildet und nicht wie bei der Interlinearübersetzung aus der Ausgangssprache übernommen. – Für eine philologische Übersetzung werden nicht nur Wort- und Strukturäquivalenz, sondern auch Stiläquivalenz gefordert. Bei diesem Übersetzungstyp wird auch die Stilebene des Zieltextes so gewählt, dass sie der Stilebene des Ausgangstextes entspricht. Nach Katharina Reiß handelt sich um die Art von Übersetzung, die seit Schleiermacher als „den Leser zum Schriftsteller bewegend“173 charakterisiert wird.174

170 Nida, Toward a Science of Translating, 159. 171 Katharina Reiß, „Adequacy and Equivalence in Translation“, in: BT 34 (1983), 301–308, 301. 172 Ebd., 302. 173 Vgl. Friedrich D.E. Schleiermacher, „Ueber die verschiedenen Arten des Uebersezens“, Vortrag in der Königlichen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1813, in: Das Problem des Übersetzens, hrsg. von Hans-Joachim Störig, Darmstadt: WBG, 1963, 38–69, 47. 174 Die Bezeichnung „philologische Übersetzung“ kann insofern missverständlich sein, als die anderen genannten Übersetzungstypen nicht als „unphilologisch“ gelten können. Es ist wohl der historische Bezug zu Schleiermacher, der die Terminologie geprägt hat. Trotz der potenziellen Missverständlichkeit soll die Bezeichnung im Folgenden beibehalten werden, der Kontext sollte dann deutlich machen, dass es sich um den mit Wort-, Struktur- und Stiläquivalenz assoziierten Übersetzungstyp handelt.

64 | 2 Methodik –

Bei einer kommunikativen Übersetzung schließlich soll Textäquivalenz erreicht werden. Dabei werden auf möglichst allen linguistischen Ebenen, d. h. auf syntaktischer, semantischer und pragmatischer Ebene Äquivalente der Zielsprache verwendet, damit derselbe kommunikative Effekt wie beim Ausgangstext erzielt wird.

Bei allen vier Übersetzungstypen müssen die entsprechenden Äquivalenzebenen selektiert und hierarchisiert werden. Der Übersetzer muss also jeweils entscheiden, welche Arten von Äquivalenz anzustreben sind und welche davon im Konfliktfall eine höhere Priorität haben.175 Ein Beispiel aus dem Korpus der Septuagintaschriften, das natürlicherweise ohne eine detaillierte Analyse oberflächlich bleiben muss, mag diese Begriffe verdeutlichen: Aus einer Untersuchung der Bücher 1Esdr und 2Esdr ergibt sich zunächst die Beobachtung, dass 2Esdr Wort für Wort übersetzt wurde und dass der Übersetzer bemüht war, die hebräische Wortstellung nachzuahmen.176 Damit liegt Wortäquivalenz vor, da hebräische Worte durch griechische ersetzt wurden. Da der griechische Text von 2Esdr syntaktisch korrekt ist, entsprechen auch die grammatischen Strukturen denen der Zielsprache. Da die hebräische Wortstellung nachgeahmt wird, entspricht die Übersetzung allerdings eher hebräischem als griechischem Stil, woraus folgt, dass Stiläquivalenz nicht vorliegt. Im Gegensatz dazu zeichnet sich das Buch 1Esdr nicht nur durch die Übertragung der grammatischen Strukturen in die Zielsprache, sondern auch durch eine typisch griechische sprachliche Eleganz aus, ohne jedoch „Paraphrase“ zu sein.177 Zusätzlich zu Wort- und Strukturäquivalenz liegt hier also Stiläquivalenz vor. Ob auch Textäquivalenz erreicht wurde, ob also auf pragmatischer Ebene derselbe kommunikative Effekt wie beim hebräischen Original erzielt wurde, muss ohne weiterführende Untersuchungen offen bleiben.178 Im Rahmen der Skopostheorie ist nun entscheidend, dass weder Text- noch irgendeine andere Art von Äquivalenz grundsätzlich gefordert wird, sondern Adäquatheit.179 Während Äquivalenz als Relation zwischen Ausgangstext und Trans-

175 Reiß, „Adequacy and Equivalence in Translation“, 306–307. 176 Dieter Böhler, „»Treu und schön« oder nur »treu«? Sprachästhetik in den Esrabüchern“, in: Im Brennpunkt: Die Septuaginta, Bd. 3, hrsg. von Heinz-Josef Fabry und Dieter Böhler, BWANT 174, Stuttgart: Kohlhammer, 2007, 97–105, 103. 177 Ebd., 104. 178 Die Beantwortung dieser Frage ist auch davon abhängig, was unter der etwas unscharfen Formulierung zu verstehen ist, dass es sich bei 1Esdr nicht um eine „Paraphrase“ handelt. Der Begriff ist ja recht schillernd und manchmal sogar negativ besetzt. 179 Reiß und Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 133, 139.

2.3 Funktionale Translationstheorie

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lat definiert ist, bezeichnet Adäquatheit eine Relation zwischen Mittel und Zweck, die angibt, ob das Mittel in Bezug auf den Zweck angemessen eingesetzt wurde.180 Konkret bedeutet das: Eine Übersetzung ist adäquat, wenn die Äquivalenzebenen in konsequenter Abhängigkeit vom Skopos, also vom Übersetzungszweck, gewählt wurden. Wenn beispielsweise der Skopos vorgibt, dass die kommunikative Funktion des Ausgangstextes in den Zieltext abgebildet werden soll, dann ist eine Übersetzung genau dann adäquat, wenn sie Textäquivalenz realisiert.181 Für den Fall, dass tatsächlich Textäquivalenz erreicht werden soll, werden in der Skopostheorie Kriterien vorgegeben, aus denen die Übersetzungsmethode abgeleitet wird. Diese Kriterien sind vom Texttyp abhängig: Beim informativen Texttyp soll vor allem die Invarianz der Information gewahrt bleiben. Der expressive Typ verlangt in der Übersetzung eine künstlerische Organisation und eine formbetonte Sprache, so dass eine ästhetische Wirkung erzielt wird, die mit der des Ausgangstextes vergleichbar ist. Dabei ist die Invarianz der Information nicht vernachlässigbar, der Schwerpunkt liegt hier jedoch auf der sprachlichen Form. Beim operativen Texttyp schließlich wird Textäquivalenz erreicht, wenn bei den Rezipienten des Translats auf pragmatischer Ebene derselbe Effekt erzielt wird wie bei den Rezipienten des Ausgangstextes.182 Zu betonen ist an dieser Stelle noch einmal, dass Textäquivalenz in der Skopostheorie keine conditio sine qua non darstellt. Die angegebenen Kriterien gelten vielmehr nur dann, wenn der Skopos Textäquivalenz fordert, was nicht notwendigerweise der Fall sein muss. Der folgende Abschnitt beschreibt, welche Rolle die beiden Kernbegriffe Äquivalenz und Adäquatheit bei der Anwendung der Skopostheorie in der Septuagintaforschung spielen.

2.3.2 Retrospektive Anwendung Im Rahmen der Skopostheorie bildet der „Primat des Zwecks“ die bestimmende Instanz für die Bewertung einer Übersetzung. Bei einem Übersetzungsprodukt aus einer vergangenen Epoche kann es jedoch sein, dass uns keine Informationen über den Zweck der Übersetzung vorliegen. Das gilt auch für die Septuagintaschriften, da keine Quellen existieren, die den Zweck der Übersetzung der einzelnen Bücher historisch plausibel beschreiben. Die wohl wichtigste Quelle zum

180 Reiß, „Adequacy and Equivalence in Translation“, 301. 181 Reiß und Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 139–140. 182 Reiß und Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 157; vgl. Reiß, Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik, 53.

66 | 2 Methodik Ursprung der Septuaginta, der Aristeasbrief, erwähnt zwar den Wunsch des hellenistischen Herrscher Ptolemaios II, eine griechische Übersetzung des jüdischen Gesetzes in der königlichen Bibliothek zu besitzen. Allerdings wird diese Schrift heute mehrheitlich als das fiktive Werk eines hellenistischen Juden des 2. Jahrhunderts v. Chr. betrachtet, das die Übersetzung der Septuaginta gegen andere zu seiner Zeit kursierende Übersetzungen bzw. Revisionen legitimieren will.183 Die Aussagen des Aristeasbriefes liefern also keinen „Übersetzungszweck“ im Sinne der Skopostheorie. Aufgrund der Quellenarmut und unserer daraus folgenden Unwissenheit bezüglich des jeweiligen Skopos der Septuagintaschriften kann eine übersetzungswissenschaftliche Bewertung von Septuagintatexten im Rahmen der Skopostheorie nur folgendermaßen vorgehen: Es wird postuliert, dass die zu untersuchende Übersetzung adäquat im Sinne der Theorie ist, dass sie also dem vorgegebenen Skopos gerecht wird. Der Skopos selbst kann nur retrospektiv aus sprachlichen Beobachtungen erschlossen werden. Es muss also vorausgesetzt werden, dass die Übersetzer eine konkrete Vorstellung von dem Zweck ihrer Arbeit hatten und diese durch den bewussten Einsatz sprachlicher Mittel erfolgreich umsetzen konnten. Die Bewertung einer Septuaginta-Übersetzung wird folglich keine Aussage darüber machen können, ob der Skopos tatsächlich umgesetzt wurde, dies wird vielmehr vorausgesetzt. Die Bewertung bzw. Charakterisierung der Übersetzung besteht in dem herausgearbeiteten Skopos selbst, da dieser Aussagen über den „Sitz im Leben“ der Übersetzung beinhaltet. Nun kann man fragen, ob sich die Übersetzer vergangener Epochen ihres Tuns wirklich so bewusst waren, wie das hier vorausgesetzt wird. Immerhin haben sie nicht die Schule moderner Übersetzungstheoretiker durchlaufen. Sollte man nicht eher davon ausgehen, dass die Übersetzer der Septuaginta ad hoc vor-

183 Siehe z. B. Tilly, Einführung in die Septuaginta, 29–30. Eine neuere alternative Hypothese rechnet mit polemisierenden Tendenzen gegen den jüdischen Tempel in Leontopolis aus der Perspektive des Jerusalemer Tempels; siehe Martin Rösel, „Der Brief des Aristeas an Philokrates, der Tempel in Leontopolis und die Bedeutung der Religionsgeschichte Israels in hellenistischer Zeit“, in: „Sieben Augen auf einem Stein“ (Sach 3,9). Studien zur Literatur des Zweiten Tempels, Festschrift für Ina Willi-Plein zum 65. Geburtstag, hrsg. von Friedhelm Hartenstein und Michael Pietsch, Neukirchen: Neukirchener, 2007, 327–344, 342–343. Der Quellenwert des Aristeasbriefes wird stärker eingeschätzt von Nina L. Collins, „281 BCE: The Year of the Translation of the Pentateuch into Greek under Ptolemy II“, in: Septuagint, Scrolls and Cognate Writings: Papers Presented to the International Symposium on the Septuagint and its Relations to the Dead Sea Scrolls and Other Writings (Manchester, 1990), hrsg. von George J. Brooke und Barnabas Lindars, SCSS 33, Atlanta: Scholars Press, 1992, 403–503.

2.3 Funktionale Translationstheorie

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gegangen sind?184 Anhand von Quellen lässt sich zeigen, dass Übersetzer bereits in der Antike über die Methodik ihrer Arbeit reflektierten. Hier sind nicht nur die bereits erwähnten Ausführungen Ciceros185 zu nennen, sondern auch der Prolog des Sirachbuches. Der Enkel des Verfassers und Übersetzer des ursprünglich auf Hebräisch abgefassten Buches ins Griechische erwägt im Prolog die Möglichkeit, an manchen Stellen nicht angemessen übersetzt zu haben (18–20). Er reflektiert über die Verschiedenartigkeit des Hebräischen im Vergleich zu anderen Sprachen (21–22)186 und über die Abweichungen der ins Griechische übersetzten Gesetzes-, Propheten- und sonstigen Schriften von ihren jeweiligen Ausgangstexten (23–26). Ein Skopos im Sinne der Theorie wird nicht explizit genannt, doch es wird durchaus angemerkt, dass durch das übersetzte Buch des Ben Sira diejenigen „in der Fremde“ ausgerüstet werden sollen, „gesetzestreu zu leben“ (34–36). Immerhin findet man im Prolog des Sirachbuches Reflexionen über die Leserschaft, den Zweck (in einem allgemeinen Sinne) sowie über die Schwierigkeiten einer Übersetzung aus dem Hebräischen ins Griechische. In der Antike wurde der Übersetzungsprozess nicht erst von dem Römer Cicero reflektiert, sondern schon von dem Enkel des Jesus Ben Sira, einem hellenistischen Juden des 2. Jahrhunderts v. Chr. Es ist also durchaus vernünftig, davon auszugehen, dass die Übersetzer der Septuaginta nicht ad hoc vorgegangen sind, sondern eine Vorstellung von dem auszuführenden Übersetzungsprozess hatten. Unter dieser Voraussetzung ist es ebenfalls sinnvoll, einen in den meisten Fällen erfolgreichen Übersetzungsprozess zu postulieren. Denn die Tatsache, dass das Thema „Übersetzung“ reflektiert wurde, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Übersetzer tatsächlich eine konkrete Zielgruppe in einer bestimmten soziokulturellen Situation im Blick hatten, auf die sie jeweils ihre Übersetzungen abstimmten. Die hier vorgeschlagene retrospektive Ermittlung des Skopos unter der Voraussetzung einer erfolgreichen Übersetzungsarbeit mag auf den ersten Blick positivistisch anmuten. Doch wird diese Vorgehensweise, wenn es nötig ist, auch in der modernen Übersetzungskritik angewandt, die einen wichtigen Teil der Übersetzerausbildung darstellt. Für Christiane Nord ist wesentlich, dass die Be-

184 Für diese Annahme könnte sprechen, dass der Übersetzer des Numeribuches bei seiner Arbeit dazugelernt hat; siehe Seite 187 und Tabelle 7.1 zur Vermeidung des καί apodoticum. 185 Vgl. Abschnitt 2.1.5.1. 186 Zu dieser Interpretation des Ausdrucks οὐ γὰρ ἰσοδυναμεῖ siehe Wright, „Access to the Source“, 17; Stefan Schorch, „The Pre-eminence of the Hebrew Language and the Emerging Concept of the »Ideal Text« in Late Second Temple Judaism“, in: Studies in the Book of Ben Sira. Papers of the Third International Conference on the Deuterocanonical Books, Pápa, Hungary, 2006, hrsg. von Géza G. Xeravits und József Zsengellér, JSJ.Supp 127, Leiden und Boston: Brill, 2008, 43– 54, 49–50.

68 | 2 Methodik urteilung einer Übersetzung anhand eines geeigneten Maßstabs durchgeführt wird. Wünschenswert sei, dass der Übersetzer die von ihm angewandten Prinzipien offenlegt, beispielsweise in einem Vor- oder Nachwort. Ist dies bei einer zu bewertenden Übersetzung nicht der Fall, dann werden in der Übersetzungskritik die Prinzipien des Übersetzers aus dem Vergleich von Ausgangs- und Zieltext rekonstruiert.187 Das in der vorliegenden Studie angewandte Verfahren hat also eine Parallele in der heutigen Ausbildung von Übersetzern. Die Methodik, den Skopos einer Übersetzung retrospektiv aus den Beobachtungen am Text zu erschließen, basiert auf dem logischen Schlussverfahren der Abduktion, das man vor allem mit dem Namen Charles S. Peirce verbindet. Im Gegensatz zur Deduktion bildet die Abduktion ein „unsicheres“ Verfahren, das unter streng logischen Gesichtspunkten lediglich ein Plausibilitätsargument darstellt, in der Wissenschaftstheorie jedoch als wichtiges Werkzeug zur Hypothesenbildung dient.188 Nach Peirce ist die Abduktion „die einzige logische Operation, die eine neue Idee einführt“.189 Das Deduktionsverfahren lässt sich am Beispiel des Schlussverfahrens Modus ponens illustrieren, bei dem aus zwei bekannten Tatsachen eine dritte gefolgert wird: Aus X folgt stets Y. Es gilt X. Folglich gilt auch Y.

Mit dem Abduktionsverfahren dagegen geht man von einer nicht erwarteten Beobachtung aus und versucht, daraus auf die Ursache zu schließen:190 Die überraschende Tatsache Y wird beobachtet. Wenn X wahr wäre, würde Y eine Selbstverständlichkeit sein. Folglich besteht Grund zu vermuten, daß X wahr ist.

Dieser „Rollentausch“ lässt sich wie folgt beschreiben:

187 Nord, Textanalyse und Übersetzen, 185. 188 Vgl. auch die Darstellung bei Wilfried Härle, Dogmatik, 4. Aufl., Berlin und Boston: de Gruyter, 2012, 7–8. 189 Charles S. Peirce, „The Nature of Meaning“, in: The Essential Peirce: Selected Philosophical Writings, hrsg. von The Peirce Edition Project, Bd. 2 (1893-1913), Bloomington: Indiana University Press, 1998, 208–225, 216. 190 Charles S. Peirce, „Abduction and Induction“, in: Philosophical Writings of Peirce, hrsg. von Justus Buchler, Mineola: Dover, 1955, 150–156, 151.

2.3 Funktionale Translationstheorie

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„Während bei der Deduktion die Prämissen gegeben sind und nun die gültigen Konklusionen gesucht werden, ist bei der Abduktion die Konklusion gegeben, und die möglichen Prämissen (Regel und Fall) müssen »retroduktiv« erschlossen werden.“191

Eine retrospektive Ermittlung des Skopos aufgrund der sprachlichen Besonderheiten von Septuagintatexten folgt einem dem Abduktionsverfahren sehr ähnlichen Schema: Man beobachtet zunächst eine spezielle Eigenheit der Übersetzung. Über den Skopos liegen keine Informationen vor, doch wenn man einen speziellen Skopos voraussetzen könnte, so würde dieser die beobachteten Eigenheiten erklären. Folglich lässt sich vermuten, dass dieser Skopos der Übersetzung zugrunde lag. Solch eine Hypothese muss dann durch weitere sprachliche Beobachtungen erhärtet werden. Vielversprechend erscheint dieses Vorgehen insofern, als das Schlussverfahren der Abduktion nicht nur in den Natur-, sondern auch in den Geisteswissenschaften Anwendungen findet. Beispielsweise ist auch das Vorgehen des Historikers, der aus den ihm vorliegenden Quellen eine Interpretation ableitet, mit dem Abduktionsverfahren vergleichbar.192 Das bei der Untersuchung von Septuagintatexten anzuwendende Vorgehen lässt sich anhand der Kernbegriffe der Skopostheorie demnach wie folgt beschreiben:193 Der Skopos des griechischen Numeribuches ist nicht durch Quellen belegt. Aufgrund der oben angestellten Überlegungen zur Methodik und zum Reflexionsvermögen antiker Übersetzer (Cicero, Prolog des Sirachbuches) kann davon ausgegangen werden, dass ein bewusst angestrebter Skopos existierte. Um diesen retrospektiv zu erschließen, muss angenommen werden, dass intertextuelle Kohärenz vorliegt. Intertextuelle Kohärenz, also eine „Skopos-gemäße“ Entsprechung zwischen Ausgangs- und Zieltext, bedingt notwendigerweise, dass auch intratextuelle Kohärenz erreicht wurde, dass also die Übersetzung von denjenigen, für die sie gedacht war, verstanden werden konnte. Gleichwertig mit dem Vorhandensein von intertextueller Kohärenz ist Adäquatheit der Übersetzung, die somit ebenfalls vorausgesetzt wird. Adäquatheit bedeutet, dass verschiedene Arten von Äquivalenz dem Skopos entsprechend gewählt wurden. Die vom Übersetzer gewählten Äquivalenzarten können durch einen Vergleich des griechischen Textes mit dem

191 Uwe Wirth, „Abduktion und ihre Anwendungen“, in: Zeitschrift für Semiotik 17 (1995), 405– 424, 406. Was von Wirth mit dem Adverb „retroduktiv“ bezeichnet wird, nenne ich mit dem Ziel höherer Anschaulichkeit „retrospektiv“, da es im Rahmen der hier beschriebenen Methodik darum geht, den Skopos einer Übersetzung aus der Retrospektive zu erschließen. 192 Ebd., 415. 193 Zu den Kernbegriffen siehe die Abschnitte 2.1.5.2, 2.2.2 und 2.3.1.

70 | 2 Methodik mutmaßlichen hebräischen Ausgangstext ermittelt werden.194 In diesem Zusammenhang ist auch eine Untersuchung des Texttyps angebracht, und zwar sowohl für den hebräischen Ausgangs- als auch für den griechischen Zieltext. Falls Textäquivalenz und damit Konstanz der kommunikativen Funktion erreicht werden sollte, dann muss auch der Texttyp der Übersetzung derselbe sein wie der des Ausgangstextes. Ist andererseits der Texttyp des Translats verschieden von dem des Ausgangstextes, dann ist Textäquivalenz nicht möglich; zu überlegen ist dann, welche Bedingungen des Skopos eine Änderung des Texttyps veranlasst haben könnten. Zur Bestimmung von Äquivalenz und Texttyp muss also zunächst der griechische Referenztext mit dem hebräischen Referenztext verglichen werden. Dabei stellt sich die Frage, welche Eigenschaften des übersetzten Textes für eine Bewertung relevant sind. Theo van der Louw konzentriert sich in seiner ausführlichen Studie auf so genannte „Transformationen“ des hebräischen Textes bei der Übersetzung ins Griechische. Als Transformation bezeichnet er die Vermeidung einer potenziellen wörtlichen Wiedergabe, durch die ein Übersetzungsproblem entstanden wäre.195 Eine Identifizierung solcher linguistischer Transformationen erscheint sinnvoll, um nicht zu voreilig eine theologische Interpretation bei der Übersetzung zu vermuten, während tatsächlich die linguistischen Strukturen der Zielsprache Anlass für eine Transformation sind.196 Daher wird im Verlauf dieser Arbeit immer wieder auf solche Transformationen hingewiesen, dies jedoch ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Allerdings erscheint es angemessen, auch die Nicht-Anwendung von Transformationen, also die wörtliche Wiedergabe, als aufschlussreiches Übersetzungsphänomen zu untersuchen. Ein Beispiel bietet die Wiedergabe von ‫וישטחו‬ ‫ להם שטח‬mit καὶ ἔψυξαν ἑαυτοῖς ψυγμούς in Num 11,32.197 Dabei hat der Übersetzer eine Transformation angewandt, die van der Louw als „reversal of cause and effect“ bezeichnet:198 Während im hebräischen Text die Israeliten die Wach-

194 Zur Frage der Textgrundlage vgl. Abschnitt 2.1, insbesondere Abschnitt 2.1.6 zur konkreten Methodik. 195 van der Louw, Transformations in the Septuagint, 57: „Behind each transformation stands a literal rendering that has been rejected.“ 196 van der Louw, Transformations in the Septuagint, 57–58; vgl. Fernández Marcos, The Septuagint in Context, 28. Linguistische Begründungen und „theologische Interpretation“ bei der Übersetzung müssen jedoch keine absoluten Gegensätze darstellen, da eine „exegetische“ Übersetzungstechnik gelegentlich auch durch eine Untersuchung von Konnotation und Referenz linguistisch analysiert werden kann; siehe dazu Ziegert, „Hebräer als Knechte Gottes“, 161. 197 Vgl. Seite 163. 198 van der Louw, Transformations in the Septuagint, 66.

2.3 Funktionale Translationstheorie

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teln „ausbreiten“ (‫)שטח‬, wird in der Übersetzung der Zweck bzw. die Auswirkung der Tätigkeit angegeben, nämlich das „Trocknen“ (ψύχω). Auf der anderen Seite wurde für den folgenden infinitivus absolutus ‫ שטח‬eine Transformation nicht angewandt, die sich durchaus angeboten hätte, nämlich die der Auslassung („omission“).199 Denn die genaue Bedeutung der hebräischen Konstruktion an dieser Stelle ist nicht ganz klar, es könnte sich um eine Art der Intensivierung („weit ausbreiten“) handeln,200 die allerdings durch den folgenden Ausdruck („um das Lager herum“) fast redundant wird.201 Statt einer Auslassung hat der Übersetzer den infinitivus absolutus durch das Substantiv ψυγμός im Akkusativ wiedergegeben, das von dem bereits verwendeten Verb ψύχω abgeleitet ist. Dadurch hat er die im hebräischen Text vorliegende Paronomasie ins Griechische abgebildet.202 Die Transformation der Auslassung, durch die der Inhalt gut in die Zielsprache übertragen worden wäre, wurde hier nicht angewandt, durch ihren Verzicht hat der Übersetzer den Stil der Ausgangssprache imitiert.203 Diese Beobachtung ist offensichtlich bedeutsam für die Bewertung der Übersetzung. Sie weist darauf hin, dass die Nachahmung des hebräischen Stils für den Übersetzer wahrscheinlich eine höhere Priorität hatte als eine rein sachgemäße Wiedergabe des Inhalts.204 Die retrospektive Anwendung der Skopostheorie lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Sprachliche Besonderheiten der griechischen Texte im Vergleich zum entsprechenden hebräischen Text (wie die genannten Transformationen oder ihr Fehlen) werden zunächst beobachtet und gesammelt. Unter der Voraussetzung, dass Adäquatheit vorliegt, werden der Texttyp des Zieltextes im

199 Ebd., 75–77. 200 Paul Joüon und Takamitsu Muraoka, A Grammar of Biblical Hebrew, SB 14, Rom: Editrice Pontificio Istituto Biblico, 1991, § 123l: „perhaps »they spread them out wide«“. 201 Alle mir zur Verfügung stehenden Kommentare verzichten hier auf eine Wiedergabe des infinitivus absolutus. 202 Diese Art der Paronomasie (mit Dativ und weniger häufig mit Akkusativ) war bereits im klassischen Griechisch etabliert und erfuhr in den Septuagintaschriften durch den Einfluss des Hebräischen eine weite Verbreitung; siehe Frederick C. Conybeare und St. George W.J. Stock, Grammar of Septuagint Greek, Boston: Ginn, 1905, § 56, 61; vgl. Emanuel Tov, „Renderings of Combinations of the Infinitive Absolute and Finite Verbs in the LXX – Their Nature and Distribution“, in: Studien zur Septuaginta – Robert Hanhart zu Ehren, hrsg. von Detlef Fraenkel, Udo Quast und John W. Wevers, MSU 20, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1990, 64–73, 65–66. 203 Vgl. ganz ähnlich (mit Dativ) die Wiedergabe von ‫ ויק ר מק רה‬in Ru 2,3 mit καὶ περιέπεσεν περιπτώματι: Das griechische Verb allein hätte ausgereicht, um den zufälligen Aspekt der Handlung auszudrücken, und alternativ dazu hätte auch τυγχάνω zur Verfügung gestanden. 204 Vgl. Abschnitt 6.4 zur Übersetzung von Num 11 und den dabei realisierten Äquivalenzebenen.

72 | 2 Methodik Vergleich zum Ausgangstext sowie die verwendeten Äquivalenzebenen ermittelt. Mit Hilfe dieser Daten kann der Skopos hypothetisch erschlossen werden. Dies geschieht zunächst für den betrachteten Textabschnitt, zum Schluss werden dann die vermuteten Skopoi der einzelnen Texte zu einem Gesamt-Skopos zusammengefasst.205 Die abschnittsweise Ermittlung des Skopos ist natürlich künstlich, denn der Übersetzer hat sicher nicht für jeden Abschnitt des Numeribuches gesondert über den Übersetzungszweck reflektiert, sondern eher für das Buch als Ganzes. Allerdings ist dieses Vorgehen aus pragmatischen Gründen sinnvoll, da jeweils nur eine beschränkte Menge an Material zu gleicher Zeit betrachtet und ausgewertet werden kann. Es wird sich zeigen, ob die Teil-Skopoi in dieselbe Richtung weisen, oder ob eventuell eine alte These von Zacharias Frankel wiederaufzunehmen ist, nach der beim Numeribuch mehrere Übersetzer am Werk waren.206

2.3.3 Funktionale Translation im Überblick Die Skopostheorie ist als präskriptives Modell zum Übersetzen konzipiert worden. Dass sie als Grundlage für die übersetzungswissenschaftliche Bewertung von Septuagintatexten dienen kann, liegt in den folgenden Eigenschaften begründet: – Die Skopostheorie ist als „allgemeine Translationstheorie“ zu verstehen. Durch die Betrachtung von Übersetzung als Informationsangebot hat sie das Potenzial, die oft bemühte Dichotomie zwischen „wörtlicher“ und „freier“ Übersetzung aufzulösen. Dass eine Auflösung dieser Dichotomie in der Septuagintaforschung nötig ist, zeigt sich in der Beobachtung, dass die Kriterien „wörtlich“ und „frei“ nicht immer konsequent angewandt wurden. – Äquivalenz, also Gleichartigkeit zwischen Ausgangs- und Zieltext, wird in der Skopostheorie auf vier Ebenen definiert. Es handelt sich hier um die Ebenen des Wortes, der Struktur, des Stils und des Textes. Nur im Fall von Textäquivalenz erzielt die Übersetzung denselben kommunikativen Effekt wie der Ausgangstext. Keine dieser vier Arten von Äquivalenz wird zwingend gefordert. – Die in die Skopostheorie integrierte Texttypologie wird einer Vielfalt an möglichen Textsorten bzw. -gattungen gerecht.207 Dahinter steht die Einsicht, dass für verschiedenartige Texte unterschiedliche Übersetzungsprinzipien angewandt werden sollten. Bei Septuagintatexten lässt sich untersuchen, ob der

205 Siehe Abschnitt 11.1.3. 206 Frankel, Über den Einfluss der palästinischen Exegese, 168. 207 Zur Abgrenzung der Begriffe siehe Abschnitt 2.2.1.

2.4 Theologische Interpretation





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Texttyp bei der Übersetzung gleich geblieben ist oder verändert wurde. Eine Einbeziehung des Texttyps ist besonders für das Numeribuch mit seiner Vielzahl unterschiedlicher Gattungen interessant. Die Skopostheorie setzt einen Zweck („Skopos“) voraus, ohne den Übersetzung nicht geschehen kann. Diese Voraussetzung liegt in der Wirklichkeit begründet. Tatsächlich sind Reflexionen antiker Übersetzer über den Zweck ihrer Übersetzungen und über ihre Rezipienten in Quellen belegt (z. B. Cicero, Prolog des Sirachbuches). Zur retrospektiven Bestimmung des Skopos einer Übersetzung muss vorausgesetzt werden, dass Adäquatheit der Übersetzung vorliegt, d. h. dass der Übersetzer tatsächlich entsprechend den Vorgaben des Skopos vorging. Durch die Untersuchung der Parameter Texttyp und Äquivalenz kann der Skopos der Übersetzung hypothetisch erschlossen werden. Dieses retrospektive Vorgehen hat seine wissenschaftstheoretische Grundlage in dem logischen Schlussverfahren der Abduktion.

2.4 Theologische Interpretation Seit einigen Jahren werden in der internationalen Septuagintaforschung nicht nur Probleme der Textgeschichte und der Übersetzungstechnik diskutiert, sondern auch Fragen der Theologie. Dabei kommt zunehmend die Frage in den Blick, ob und unter welchen Voraussetzungen eine „Theologie der Septuaginta“ geschrieben werden kann.208 Im Kontext der vorliegenden Arbeit führt das zu der weiterführenden Fragestellung, ob sich eine „Theologie des griechischen Numeribuches“ erheben lässt und ob diese in eine Theologie der Septuaginta integriert werden könnte.

208 Grundlegende Arbeiten sind: Martin Rösel, „Theo-Logie der griechischen Bibel. Zur Wiedergabe der Gottesaussagen im LXX-Pentateuch“, in: VT 48 (1998), 49–62; Joosten, „Une théologie de la Septante?“; Evangelia G. Dafni, „Theologie der Sprache der Septuaginta“, in: ThZ 58 (2002), 315–328; Rösel, „Towards a »Theology of the Septuagint«“; Anneli Aejmelaeus, „Von Sprache zur Theologie. Methodologische Überlegungen zur Theologie der Septuaginta“, in: On the Trail of the Septuagint Translators: Collected Essays, 2. Aufl., CBET 50, Leuven, Paris und Dudley: Peeters, 2007, 265–293.

74 | 2 Methodik 2.4.1 Textualität und Theologie Bereits das Vorhaben einer Biblischen Theologie im allgemeinen Sinne, also ohne Beschränkung auf die Septuaginta, ist massiv in Frage gestellt worden. Stefan Schorch geht von der Frage nach dem hebräischen Urtext als Grundlage einer (christlichen) Biblischen Theologie aus und weist zunächst darauf hin, dass in frühen hebräischen Manuskripten nur der Konsonantenbestand festgehalten wurde. Da solch ein Konsonantengerüst potenziell mehrdeutig ist, sei die Bezeichnung „Text“ unangemessen. Erst durch den Akt des Lesens werde aus einem Konsonantengerüst ein „Text“ im eigentlichen Sinne.209 In Bezug auf das Lesen eines unvokalisierten Manuskripts seien zwei Fälle zu unterscheiden: Wenn der Text dem Leser nicht vollumfänglich bekannt war, dann musste er die Ambiguität des Konsonantengerüsts auflösen. In diesem Fall sei das Lesen als produktiver Akt zu werten. Wenn andererseits der Leser den Text mehr oder weniger auswendig kannte, dann diente das Konsonantengerüst lediglich als Hilfe für einen reproduktiven Akt des Lesens. Solche Lesungen sind beispielsweise in der masoretischen und in der samaritanischen Tradition fixiert worden.210 Die auf textkritischer Arbeit basierende Suche nach einem „Urtext“ könne somit bestenfalls zur Rekonstruktion eines „Ur-Manuskripts“ ohne Vokale führen. Dieses enthalte folglich ein mehrdeutiges und noch zu interpretierendes Konsonantengerüst, das erst im Rahmen einer „Lesergemeinschaft“ (communio lectorum) zum Text werde. Es könne also keine allgemein gültige biblische Theologie (des Alten Testaments) geben, sondern nur verschiedene Theologien, die von der jeweiligen Leserschaft und deren soziokulturellen Kontexten abhängig seien.211 Auf die Septuaginta zugespitzt, bedeutet das zunächst, dass auch hier Mehrdeutigkeiten vorkommen können, da in den ältesten Manuskripten Unzialen ohne Akzent- und Hauchzeichen verwendet wurden. Beispielsweise kann bei Unzialschrift nicht ohne Weiteres zwischen dem Interrogativpronomen τίς und dem In-

209 Stefan Schorch, „Which Bible, Whose Text? Biblical Theologies in Light of the Textual History of the Hebrew Bible“, in: Beyond Biblical Theologies, hrsg. von Heinrich Assel, Stefan Beyerle und Christfried Böttrich, WUNT 295, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012, 359–374, 361–363; vgl. Schorch, „Die Rolle des Lesens“, 108–109. 210 Schorch, „Which Bible, Whose Text?“, 364–366. Ein formaler Unterschied besteht darin, dass in der masoretischen Tradition die Lesungen durch Vokalisierungs- und Akzentzeichen in den Manuskripten festgehalten wurden, in der samaritanischen Tradition dagegen wurden sie mündlich überliefert; siehe dazu Stefan Schorch, Die Vokale des Gesetzes. Die samaritanische Lesetradition als Textzeugin der Tora, Bd. 1: Das Buch Genesis, BZAW 339, Berlin und New York: de Gruyter, 2004, 28–30. 211 Schorch, „Which Bible, Whose Text?“, 370, 374.

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definitpronomen τις oder zwischen der Präposition ἐν und dem Zahlwort ἕν unterschieden werden. Doch lässt sich mit Sicherheit sagen, dass bei der Lesung eines griechischen Unzialtextes bei Weitem nicht so viele Mehrdeutigkeiten auftreten können wie bei der Lesung eines unvokalisierten hebräischen Textes. Griechischsprachige Lesergemeinschaften mit je eigenen Texten lassen sich im Fall der Septuaginta nicht so sehr aufgrund von potenziellen Mehrdeutigkeiten in den Manuskripten postulieren, sondern eher aufgrund der verschiedenen Texttraditionen. Die Bemerkung des Hieronymus über die trifaria varietas macht deutlich, dass in verschiedenen geographischen Gebieten der Christenheit verschiedene Textformen in Gebrauch waren, die sich inhaltlich voneinander unterschieden.212 Dieser Tatsache lässt sich dadurch methodisch begegnen, dass man nicht nur den eklektischen Septuagintatext zur theologischen Auswertung heranzieht, sondern auch die rezensionellen Lesarten.213 Dabei sollte das Ziel nicht in einer Synthese der verschiedenen theologischen Aussagen bestehen, sondern darin, den verschiedenen Stimmen der griechischen Texttradition Gehör zu verschaffen. Ein weiterer Einwand muss noch angesprochen werden. Stefan Schorch214 nennt das Beispiel der deuteronomischen Zentralisationsforderung (Dtn 12,5 u. ö.), die den Kult auf denjenigen Ort beschränkt, „den Jahwe erwählen wird“ (‫יבחר‬, 𝔐) bzw. „erwählt hat“ (‫בחר‬, ⅏). Die durch die Form ‫ בחר‬nahegelegte Aussage, dass die Erwählung bereits vollzogen sei, wird von Samaritanern im Anschluss an Dtn 27,4–5 (⅏) und Gen 12,6–7 (Erwähnung von Sichem) auf den Berg Garizim bezogen.215 Unter der Voraussetzung, dass die Lesart von ⅏ ursprünglich ist,216 geht Schorch davon aus, dass sowohl Judäer als auch Samaritaner vor der ideologischen Korrektur von ‫ בחר‬zu ‫ יבחר‬dieselbe Textfassung

212 Siehe bereits die Ausführungen in Abschnitt 2.1.2. 213 Vgl. Rösel, „Towards a »Theology of the Septuagint«“, 252. 214 Zum Folgenden siehe Schorch, „Which Bible, Whose Text?“, 371–373. 215 Auch im samaritanischen Hebräisch lassen sich die Konsonantenfolgen für Perfekt- und aktive Partizip-Formen im Qal-Stamm meist nicht unterscheiden; vgl. Zeev Ben-Hayyim, A Grammar of Samaritan Hebrew: Based on the Recitation of the Law in Comparison with the Tiberian and Other Jewish Traditions, Jerusalem und Winona Lake: Magnes Press und Eisenbrauns, 2000, § 2.12.2. Allerdings macht es der Bezug der samaritanischen Tradition auf Gen 12,6–7 (Midrasch „Tibat Marqe“, 3./4. Jh. n. Chr.) wahrscheinlich, dass die Form in Dtn 12,5 schon früh nicht als Partizip, sondern als Perfekt verstanden wurde. 216 Dies in Anlehnung an Adrian Schenker, „Le Seigneur choisira-t-il le lieu de son nom ou l’at-il choisi? L’apport de la Bible greque ancienne à l’histoire du texte samaritain et massorétique“, in: Scripture in Transition. Essays on Septuagint, Hebrew Bible, and Dead Sea Scrolls in Honour of Raija Sollamo, hrsg. von Anssi Voitila und Jutta Jokiranta, JSJ.Supp 126, Leiden und Boston: Brill, 2008, 139–151.

76 | 2 Methodik verwendeten. Die frühe Lesart ‫ בחר‬sei demnach von zwei Lesergemeinschaften unterschiedlich mit Inhalt gefüllt worden. Samaritaner bezogen sie auf den Berg Garizim, Judäer dagegen auf Jerusalem. Letzteres habe sich dann im sogenannten deuteronomistischen Geschichtswerk in der expliziten Nennung Jerusalems niedergeschlagen. Dies bestätige die Behauptung, dass erst durch einen Akt des Lesens aus Manuskripten Texte würden und dass daher eine Theologie immer von der entsprechenden Lesergemeinschaft abhängig sei. Bemerkenswert an diesem Beispiel ist, dass die zwei verschiedenen „Texte“ nicht auf der Ambiguität einer Konsonantenfolge beruhen, sondern auf der Identifikation eines Referenten. Es geht hier also nicht um die Frage nach der Bedeutung eines Wortes, beispielsweise ob die Konsonantenfolge ‫ מטה‬in Gen 47,31 als ‫מטָּה‬ ִ („Bett“, 𝔐) oder als ‫מטֶּה‬ ַ („Stab“, LXX-Vorlage) zu vokalisieren ist, sondern um den Bezug des Ausdrucks „der Ort, den Jahwe erwählt hat“ auf einen tatsächlichen Ort. Im Gegensatz zur Denotation, der rein lexikalischen Bedeutung, bezeichnet der Begriff Referenz in der Linguistik die Relation zwischen einem sprachlien Ausdruck und dem „Gegenstand der außerspralien Realität“, auf den dieser sich bezieht.217 Die Frage ist somit eine außersprachliche, nämlich die nach dem Referenten des Ausdrucks „der Ort, den Jahwe erwählt hat“: Handelt es sich um Jerusalem oder um den Berg Garizim? Folglich geht es hier nicht mehr um den Akt des Lesens im eigentlichen Sinne, der die Bedeutung (mit-) konstituieren kann, sondern um die inhaltliche Auswertung des Gelesenen durch die Lesergemeinschaft, mit anderen Worten: um die Interpretation. Problematisch erscheint mir daher die Schlussfolgerung, die Uneindeutigkeit von Referenz sei ein Hinderungsgrund für die Erarbeitung einer Theologie. Denn bei solch einer Aufgabe müssen sprachliche Ausdrücke nicht notwendigerweise durch ihre (evtl. von der Lesergemeinschaft abhängigen) Referenten aufgelöst werden. Die theologische Auswertung kann durchaus deskriptiv erfolgen, wobei man sich im Fall des deuteronomischen Zentralisationsgebotes auf die Nennung „des Ortes, den Jahwe erwählt hat“,218 beschränken könnte. Außerdem ist es grundsätzlich möglich, sich ausdrücklich auf eine vorher festzulegende Lesergemeinschaft festzulegen, was beispielsweise zu einer „Theologie des Alten Testaments nach dem masoretischen Text“ oder zu einer „Theologie der Septuagintaschriften nach der Rezension des Symmachus“ führen kann.

217 Hadumod Bußmann, Hrsg., Lexikon der Sprachwissenschaft, 3. Aufl., Stuttgart: Kröner, 2002, 554–555. 218 Die Vergangenheitsform wird man verwenden, wenn man mit Schorch, „Which Bible, Whose Text?“, 372, von der Ursprünglichkeit der Verbform ‫ בחר‬ausgeht.

2.4 Theologische Interpretation

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Albert Pietersma hat sich für eine konsequente methodologische Unterscheidung zwischen „Septuagint as produced“ und „Septuagint as received“ ausgesprochen. Dabei geht es um die Frage, ob man Septuagintatexte vornehmlich aus der Sicht der Übersetzer oder aus der Sicht späterer Rezipienten untersucht.219 Das oben dargestellte Modell, das die Rolle des Lesers in den Vordergrund stellt, lässt sich, will man es bei der Untersuchung von Septuagintatexten anwenden, in den Rahmen des Paradigmas „as received“ einordnen. Beide Positionen werden vertreten, wenn es darum geht, die Septuaginta in moderne Sprachen zu übersetzen. Während im Rahmen der stark von Pietersma geprägten „New English Translation of the Septuagint“ der Blick auf den Übersetzer und sein Verständnis der hebräischen Vorlage dominiert, wird im französichen Projekt „La Bible d’Alexandrie“ der griechische Text als selbstständiges Werk aufgefasst, wobei dann sehr stark die Rezeption von Septuagintatexten durch jüdische und christliche antike Schriftsteller in den Blick genommen wird. Im Kontext des Übersetzungsprojekts „Septuaginta Deutsch“ hat sich eine Zwischenposition abgezeichnet, die den Anspruch hat, sowohl die Arbeitsweise der Übersetzer nachzuvollziehen, als auch die griechischen Texte als eigenständige Werke zu würdigen, die eine möglicherweise von der Vorlage abweichende Aussageabsicht haben.220 Diese Position soll auch in der vorliegenden Arbeit vertreten werden. Eine theologische Auswertung von Septuagintatexten kann nicht völlig unabhängig vom hebräischen Ausgangstext erfolgen, daher muss die Position „as produced“ zu ihrem Recht kommen. Auf der anderen Seite ist damit zu rechnen, dass im Sinne der Position „as received“ ein griechischer Text eine eigene theologische Aussageabsicht hat, die spätere Leser prägen konnte. Es wäre jedoch einseitig, mit dem Hinweis, dass durch spätere Lesergemeinschaften verschiedene Rezeptionen stattfinden konnten, auf eine theologische Auswertung ganz zu verzichten.

2.4.2 Theologie der Septuaginta und Theologie der Übersetzer Fragt man nach den methodischen Voraussetzungen für die Erarbeitung einer Theologie der Septuaginta, so stößt man in der Literatur auf die Forderung, nur solche theologischen Aussagen zur Auswertung heranzuziehen, die inhaltlich

219 Siehe z. B. Pietersma, „LXX and DTS“, 3–4. 220 Helmut Utzschneider, „Auf Augenhöhe mit dem Text. Überlegungen zum wissenschaftlichen Standort einer Übersetzung der Septuaginta ins Deutsche“, in: Im Brennpunkt: Die Septuaginta. Hrsg. von Heinz-Josef Fabry und Ulrich Offerhaus, BWANT 153, Stuttgart: Kohlhammer, 2001, 11–50, 14–20.

78 | 2 Methodik von den entsprechenden Aussagen des hebräischen Textes abweichen.221 Beziehe man dagegen sämtliche theologischen Aussagen des griechischen Textes ein, so sei damit zu rechnen, dass im Wesentlichen nur das wiederholt werde, was auch in einer auf dem hebräischen Text basierenden „Theologie des Alten Testaments“ zu lesen sei.222 Dies ist ein Argument, das unter praktischen Gesichtpunkten seine Berechtigung haben mag. Wenn man sich jedoch nur auf die Unterschiede zum hebräischen Text – sei es nun 𝔐 oder ein anderer Referenztext223 – beschränkt, so wird man weder den einzelnen Schriften der Septuaginta noch der Septuaginta als Schriftensammlung gerecht, die zudem auch Werke enthält, die in griechischer Sprache abgefasst wurden. Dem Forschungsgegenstand angemessener ist die Forderung, auch solche Aussagen des griechischen Textes einzubeziehen, die inhaltlich mit den entsprechenden Aussagen des hebräischen Textes übereinstimmen.224 Das kann für das griechische Numeribuch hier nur ansatzweise geleistet werden. Übereinstimmungen mit dem hebräischen Text werden in der Regel nur dann ausgewertet, wenn sie auffällig sind, wenn also beispielsweise eine Übereinstimmung im Wortlaut vorliegt, die „ungriechisch“ wirkt und die sich aus der Nachahmung des hebräischen Stils erklärt. Solche Übereinstimmungen sind vorrangig linguistisch bzw. übersetzungswissenschaftlich auszuwerten. Es ist sofort einsichtig, dass im Rahmen dieser Arbeit nicht alle theologischen Aussagen der hier behandelten griechischen Texte in Betracht gezogen werden können. Realistischer erscheint die Zielsetzung, statt einer „Theologie des griechischen Numeribuches“ eine „Theologie des Numeri-Übersetzers“ zu erarbeiten. Damit könnte man sich möglicherweise darauf beschränken, diejenigen Unterschiede zwischen dem griechischen und dem hebräischen Text auszuwerten, die auf der Arbeitsweise des Übersetzers beruhen. Doch auch diese Zielvorgabe ist problematisch, und zwar in dreierlei Hinsicht: Erstens gehört zur Theologie eines übersetzenden Individuums zweifellos mehr, als in die Übersetzung einfließt. Ein

221 Vgl. Aejmelaeus, „Von Sprache zur Theologie“, 265: „Erst durch das Hinzukommen von interpretativen Elementen, durch Nuancierung oder Verschiebung oder Änderung der einzelnen Aussagen im Vergleich zum Original wird es möglich, dass der Zweck oder der Kontext der Übersetzung verraten wird.“ In diesem Sinne will Dafni, „Theologie der Sprache der Septuaginta“, 327, eine Theologie aus „den Unterschieden zwischen dem Masoretischen Text und der Septuaginta“ erarbeiten. Dabei wird die Frage einer von 𝔐 abweichenden Vorlage zwar kurz angesprochen, doch wird nicht deutlich, ob Unterschiede, die auf einer solchen Vorlage beruhen, für die Ermittlung einer „Theologie“ ausgewertet werden sollen. 222 Joosten, „Une théologie de la Septante?“, 33. 223 Vgl. Abschnitt 2.1.3. 224 Rösel, „Towards a »Theology of the Septuagint«“, 251–252.

2.4 Theologische Interpretation

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Übersetzer hatte sicher auch solche theologischen Überzeugungen, die weder im hebräischen Ausgangstext noch in dessen Übersetzung thematisiert wurden. Zudem erscheint es fraglich, ob sich die Theologie der Übersetzer als Individuen von der Theologie ihrer jeweiligen Gemeinde trennen lässt.225 Eine Beschränkung auf die Theologie eines Individuums wird den historischen Gegebenheiten wahrscheinlich nicht gerecht. Zweitens ist davon auszugehen, dass der Inhalt der Vorlage die Theologie des Übersetzers mitgeprägt hat. Das Manuskript, das der Übersetzer verwendete, enthielt ein Werk von hohem Ansehen und wahrscheinlich von autoritativem Status.226 Daher ist auch bei solchen Unterschieden des griechischen Textes zum hebräischen Referenztext, die nicht auf der Arbeit des Übersetzers, sondern auf einer anderen Vorlage beruhen, davon auszugehen, dass die verwendete Vorlage einen Einfluss auf die Theologie des Übersetzers hatte. Die Forderung, solche Unterschiede nicht zur theologischen Auswertung heranzuziehen, erscheint zunächst einsichtig, da der Übersetzer in diesem Fall lediglich seine Vorlage wortgetreu wiedergegeben hat.227 Auf der anderen Seite hatte allein schon die Wiedergabe eines heiligen Textes, die ja mit dessen Lektüre verbunden war, einen Einfluss auf das theologische Denken des Übersetzers, und zwar unabhängig davon, ob seine Übersetzungstechnik eher „wörtlich“ oder eher „frei“ war. Drittens ist davon auszugehen, dass die Übersetzer den Inhalt ihres jeweiligen Ausgangstextes bewahren wollten. Denn andernfalls hätten sie sich der Herausforderung einer Übersetzung nicht gestellt. Selbst wenn man im Anschluss an den Bericht des Aristeasbriefes damit rechnet, dass die Übersetzung des Pentateuch von den Ptolemäern beauftragt war,228 so ist doch anzunehmen, dass sich die Übersetzer mit dem Inhalt ihrer hebräischen Vorlagentexte identifizierten. Auch unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich also die Folgerung, dass bei der Erhebung einer „Theologie des Übersetzers“ auch die Übereinstimmungen mit dem hebräischen Text in Betracht gezogen werden müssen. Die beste Lösung scheint die zu sein, statt von der „Theologie des griechischen Numeribuches“ oder der „Theologie des Numeri-Übersetzers“ etwas bescheidener von der theologischen Tendenz des Numeri-Übersetzers zu sprechen, und zwar in dem Rahmen, wie sie in der Übersetzung (meist) bei Abweichungen

225 Vgl. Aejmelaeus, „Übersetzungstechnik und theologische Interpretation. Zur Methodik der Septuaginta-Forschung“, 230; siehe auch Rösel, „Schreiber, Übersetzer, Theologen“, 101. 226 Der Aristeasbrief (§ 176) erwähnt ein hochwertiges Manuskript mit goldener Schrift als Vorlage der Pentateuch-Übersetzung. Die Wertschätzung der äußeren Form des Manuskripts lässt auf eine Wertschätzung seines Inhalts schließen. 227 Vgl. Aejmelaeus, „Von Sprache zur Theologie“, 268. 228 So Nina L. Collins, The Library in Alexandria and the Bible in Greek, VT.S 82, Leiden und Boston: Brill, 2000, 115–122.

80 | 2 Methodik von der Vorlage zur Sprache kommt. Das soll allerdings nicht heißen, dass die Erarbeitung einer Theologie des griechischen Numeribuches oder der Septuaginta ein aussichtsloses Unterfangen wäre, im Gegenteil, mit den genannten Einschränkungen kann die vorliegende Arbeit durchaus einen Beitrag dazu leisten. Neben der theologischen Tendenz des Numeri-Übersetzers sollte auch die der späteren Rezensionen betrachtet werden, sofern sich deren textliche Bezeugung auf die hier untersuchten Textabschnitte erstreckt und sofern ihre Aussagen von denen der ursprünglichen Übersetzung abweichen.229 Nach diesen eher grundsätzlichen Ausführungen ist zu fragen, wie die theologische Tendenz des Numeri-Übersetzers bzw. der nachfolgenden Rezensionen konkret ermittelt bzw. dargestellt werden kann. Dazu erscheint ein thematischer Aufbau angemessen. Die Auswahl der theologischen Themen sollte dabei nicht von außen an die Texte herangetragen werden, sondern sich aus den Texten selbst ergeben. Die theologische Auswertung in Abschnitt 11.2 wird also eine thematisch organisierte Darstellung der Tendenz des Numeri-Übersetzers und späterer Rezensenten enthalten. Die Ergebnisse könnten später als Grundlage dafür dienen, theologische Aussagen kumulativ über mehrere biblische Bücher zu erarbeiten und theologische Unterschiede zwischen den Schriften der Septuaginta zu entdecken.230 Beispielsweise ist in früheren Forschungen im griechischen Pentateuch eine transzendentere Vorstellung von Gott entdeckt worden, also eine im Vergleich mit dem hebräischen Text modifizierte „Theo-Logie“.231 Ganz entsprechend könnten theologische Aussagen etwa über das Wesen des Menschen gesammelt werden, woraus sich eine „Anthropo-Logie“ des LXX-Pentateuch ergäbe.232 Entsprechend der obigen Ausführungen ist dabei zu beachten, dass es sich bei den so zusammengetragenen Ergebnissen um theologische Tendenzen verschiedener Übersetzer handeln wird, die zu einem Gesamtbild vereinigt werden.

229 Vgl. Rösel, „Towards a »Theology of the Septuagint«“, 252; siehe auch Abschnitt 2.1.2. 230 Joosten, „Une théologie de la Septante?“, 39; vgl. Dafni, „Theologie der Sprache der Septuaginta“, 325–326. 231 Rösel, „Theo-Logie der griechischen Bibel“, 59. Die Schreibweise mit Bindestrich deutet an, dass hier wohl nicht die in der Systematischen Theologie übliche Kategorisierung angestrebt wird. 232 Ebd., 62.

2.5 Aufbau und Darstellung der folgenden Kapitel

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2.5 Aufbau und Darstellung der folgenden Kapitel Die folgenden Kapitel (3 bis 10) beinhalten eine detaillierte Untersuchung der ausgewählten Texte des Numeribuches.233 Dabei folgt der Aufbau dieser acht Kapitel einem einheitlichen Schema: Zunächst wird jeweils der griechische Text ins Deutsche übersetzt. Diese Übersetzungen sollen dazu dienen, den Charakter des griechischen Textes als Übersetzungstext aus dem Hebräischen deutlich werden zu lassen.234 Gleichzeitig liefern sie einen Vergleichspunkt für die folgenden Ausführungen, die sich auf den griechischen und den hebräischen Wortlaut des jeweiligen Referenztextes beziehen. Daher ist eine wörtliche Übersetzung ins Deutsche angebracht, die den griechischen Text möglichst konkordant wiedergibt, zumindest was die Verben und die Substantive betrifft. Wenn man bedenkt, welchen zeitlichen und personellen Aufwand beispielsweise die Übersetzung der Septuaginta Deutsch beansprucht hat, dann wird deutlich, dass die hier gebotene Übersetzung lediglich den Charakter eines Versuchs haben kann. Ihr Zweck ist in erster Linie der einer Arbeitshilfe zum Nachvollziehen der folgenden Ausführungen. In einem jeweils zweiten Abschnitt werden in der Form eines Kommentars Beobachtungen am griechischen Text im Vergleich zum hebräischen Text gesammelt. Als Referenztexte dienen dabei der eklektische Text der Göttinger Septuaginta-Ausgabe sowie der Konsonantenbestand der Biblia Hebraica Stuttgartensia.235 Auf Satzzeichen wird bei der Wiedergabe des griechischen Textes verzichtet, denn diese beruhen auf der Interpretation des Herausgebers. Für die Kommentierung werden zunächst relativ kleine griechische und hebräische Textsegmente einander gegenübergestellt, die allerdings auch im Kontext des gesamtes Satzes oder sogar größerer Einheiten betrachtet werden. Der detaillierte Vergleich der Texte erlaubt eine erste Interpretation der beobachteten Phänomene. Versangaben im Rahmen der Kommentierung beziehen sich auf die Verszählung der Septuagintafassung, es sei denn, sie sind mit dem Siglum 𝔐 versehen. Die Schreibweise der Orts- und Personennamen bei der Kommentierung wie auch schon bei der Übersetzung ins Deutsche richtet sich in der Regel nach der Schreibweise der Septuaginta Deutsch. Als ständige Begleiter im kritischen Gespräch dienen die im Rahmen der Übersetzungsprojekte „La Bible d’Alexandrie“

233 Zur Textauswahl siehe Abschnitt 2.2.3. 234 Anneli Aejmelaeus, „Translating a Translation. Problems of Modern »Daughter Versions« of the Septuagint“, in: On the Trail of the Septuagint Translators: Collected Essays, 2. Aufl., CBET 50, Leuven, Paris und Dudley: Peeters, 2007, 241–263, 242. 235 Vgl. die Abschnitte 2.1.2 und 2.1.3.

82 | 2 Methodik und „Septuaginta Deutsch“ erarbeiteten Kommentierungen von Gilles Dorival236 und von Martin Rösel und Christine Schlund237 sowie das im Kontext der Göttinger Editionsarbeit stehende Werk von John W. Wevers.238 Diese kommentieren das ganze griechische Numeribuch, daher sind ihre Kommentierungen einzelner Stellen meistens weniger umfangreich als die hier gebotenen Ausführungen. Die kommentierenden Abschnitte sind noch einmal untergliedert. Dabei handelt es sich um intuitive Gliederungen der besprochenen Textabschnitte, die lediglich die Übersichtlichkeit verbessern sollen und die aus exegetischen Gründen durchaus anfechtbar sein können. Zu Beginn dieser Abschnitte werden jeweils einige Besonderheiten des entsprechenden Textabschnitts genannt, wobei die Begründungen der folgenden detaillierten Kommentierung vorbehalten bleiben. In den jeweils auf die Kommentierung folgenden drei Abschnitten werden die Beobachtungen des Kommentarteils unter übersetzungswissenschaftlichem Blickwinkel ausgewertet, und zwar mit dem Ziel einer Synthese für den gesamten Textabschnitt. Dabei werden Schlussfolgerungen über den Texttyp des Zieltextes im Vergleich zum Ausgangstext, über die realisierten Äquivalenzebenen und über den Skopos der Texteinheit239 gezogen.

236 237 238 239

Dorival, Les Nombres. Rösel und Schlund, „Arithmoi“. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers. Vgl. die Abschnitte 2.2.2, 2.3.1 und 2.1.5.2.

3 Numeri 1,20–47: Geordnete Aufzählung 3.1 Übersetzung 20

Und es waren die Söhne Rubens, des Erstgeborenen Israels, nach ihren Verwandtschaften, nach ihren Volksgruppen, nach ihren Vaterhäusern, nach der Zahl ihrer Namen, nach ihrem Kopf, alles Männliche vom Zwanzigjährigen und darüber, jeder, der im Heer auszieht, 21 ihre Musterung aus dem Stamm Ruben: 46.500; 22 hinsichtlich der Söhne Simeons nach ihren Verwandtschaften, nach ihren Volksgruppen, nach ihren Vaterhäusern, nach der Zahl ihrer Namen, nach ihrem Kopf, alles Männliche vom Zwanzigjährigen und darüber, jeder, der im Heer auszieht, 23 ihre Musterung aus dem Stamm Simeon: 59.300; 24 hinsichtlich der Söhne Judas nach ihren Verwandtschaften, nach ihren Volksgruppen, nach ihren Vaterhäusern, nach der Zahl ihrer Namen, nach ihrem Kopf, alles Männliche vom Zwanzigjährigen und darüber, jeder, der im Heer auszieht, 25 ihre Musterung aus dem Stamm Juda: 74.600; 26 hinsichtlich der Söhne Issachars nach ihren Verwandtschaften, nach ihren Volksgruppen, nach ihren Vaterhäusern, nach der Zahl ihrer Namen, nach ihrem Kopf, alles Männliche vom Zwanzigjährigen und darüber, jeder, der im Heer auszieht, 27 ihre Musterung aus dem Stamm Issachar: 54.400; 28 hinsichtlich der Söhne Sebulons nach ihren Verwandtschaften, nach ihren Volksgruppen, nach ihren Vaterhäusern, nach der Zahl ihrer Namen, nach ihrem Kopf, alles Männliche vom Zwanzigjährigen und darüber, jeder, der im Heer auszieht, 29 ihre Musterung aus dem Stamm Sebulon: 57.400; 30 hinsichtlich der Söhne Josephs, der Söhne Ephraims nach ihren Verwandtschaften, nach ihren Volksgruppen, nach ihren Vaterhäusern, nach der Zahl ihrer Namen, nach ihrem Kopf, alles Männliche vom Zwanzigjährigen und darüber, jeder, der im Heer auszieht, 31 ihre Musterung aus dem Stamm Ephraim: 40.500; 32 hinsichtlich der Söhne Manasses nach ihren Verwandtschaften, nach ihren Volksgruppen, nach ihren Vaterhäusern, nach der Zahl ihrer Namen, nach ihrem Kopf, alles Männliche vom Zwanzigjährigen und darüber, jeder, der im Heer auszieht, 33 ihre Musterung aus dem Stamm Manasse: 32.200; 34 hinsichtlich der Söhne Benjamins nach ihren Verwandtschaften, nach ihren Volksgruppen, nach ihren Vaterhäusern, nach der Zahl ihrer Namen, nach ihrem Kopf, alles Männliche vom Zwanzigjährigen und darüber, jeder, der im Heer auszieht, 35 ihre Musterung aus dem Stamm Benjamin: 35.400; 36 hinsichtlich der Söhne Gads nach ihren Verwandtschaften, nach ihren Volksgruppen, nach ihren Vaterhäusern, nach der Zahl ihrer Namen, nach ihrem Kopf, alles Männliche vom Zwanzigjährigen und darüber, jeder, der im Heer auszieht, 37 ihre Musterung aus dem Stamm Gad: 45.650; 38 hinsichtlich der Söhne Dans nach ihren Verwandtschaften, nach ihren Volksgruppen, nach ihren Vaterhäu-

84 | 3 Numeri 1,20–47: Geordnete Aufzählung sern, nach der Zahl ihrer Namen, nach ihrem Kopf, alles Männliche vom Zwanzigjährigen und darüber, jeder, der im Heer auszieht, 39 ihre Musterung aus dem Stamm Dan: 62.700; 40 hinsichtlich der Söhne Aschers nach ihren Verwandtschaften, nach ihren Volksgruppen, nach ihren Vaterhäusern, nach der Zahl ihrer Namen, nach ihrem Kopf, alles Männliche vom Zwanzigjährigen und darüber, jeder, der im Heer auszieht, 41 ihre Musterung aus dem Stamm Ascher: 41.500; 42 hinsichtlich der Söhne Naphtalis nach ihren Verwandtschaften, nach ihren Volksgruppen, nach ihren Vaterhäusern, nach der Zahl ihrer Namen, nach ihrem Kopf, alles Männliche vom Zwanzigjährigen und darüber, jeder, der im Heer auszieht, 43 ihre Musterung aus dem Stamm Naphtali: 53.400. 44

Dies ist die Musterung, die Mose und Aaron und die Anführer Israels musterten, zwölf Männer; ein Mann für einen Stamm gemäß dem Stamm ihrer Vaterhäuser waren sie. 45 Und es war die ganze Musterung der Söhne Israels mit ihrem Heer vom Zwanzigjährigen und darüber, jeder in Israel, der auszieht, sich in Schlachtordnung aufzustellen, 46 603.550. 47 Allerdings wurden die Leviten aus dem Stamm ihrer Familie nicht mit den Israeliten mitgemustert.

3.2 Kommentar 3.2.1 Die Angaben für die einzelnen Stämme (V.20–43) Die Verse 20–21 legen das Muster für die gesamte Liste fest. Die in den Ausführungen zu diesen beiden Versen genannten Charakteristika der Septuagintafassung wiederholen sich größtenteils in den folgenden Versen. Auffälligkeiten, die darüber hinausgehen oder von dem Muster abweichen, werden an der entsprechenden Stelle vermerkt. Die Übersetzung dieses Abschnitts orientiert sich weitgehend an der Form des Ausgangstextes. Unterschiede zwischen dem griechischen und dem hebräischen Referenztext können in diesem Abschnitt verschiedene Ursachen haben. Dabei kann es sich um eine unterschiedliche Vokalisierung des Konsonantenbestands, eine der Septuagintafassung wörtlich entsprechende hebräische Vorlage oder um die Arbeitsweise des Übersetzers handeln. In einigen Fällen lässt sich eine Entscheidung zwischen den beiden zuletzt genannten Alternativen allerdings nicht treffen. Die Wortwahl der Übersetzung lässt gelegentlich auf ein besonderes inhaltliches Anliegen des Übersetzers schließen. Auffällig ist in diesem Abschnitt ein Unterschied in der Versanordnung.1 1 Siehe Seite 90 zu V.36–37.

3.2 Kommentar

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Vers 20 (ebenso 22,24,…,42) οἱ υἱοὶ Ῥουβήν πρωτοτόκου Ἰσραήλ / ‫ בני־ראובן בכר ישראל‬Die Determination der ersten Constructus-Verbindung wird im griechischen Text durch die Verwendung des Artikels ausgedrückt. Dagegen wird πρωτοτόκου Ἰσραήλ wie im Hebräischen ohne Artikel angeschlossen. Dies muss allerdings syntaktisch nicht auffällig sein, da der Ausdruck „der Erstgeborene Israels“ als unverwechselbare Größe gelten kann. Er ist somit durch seinen außersprachlichen Referenten2 bereits determiniert, so dass der Artikel im Griechischen fehlen kann.3 Entsprechendes gilt für die folgenden Satzteile, die jeweils mit der Präposition κατά angeschlossen werden und bei denen aus demselben Grund kein Artikel nötig ist.4 κατὰ συγγενείας αὐτῶν / ‫ תולדתם‬Das hebräische Wort im Nominativ5 hat hier die Bedeutung der Nachkommenschaft und bildet syntaktisch eine Apposition zu ‫בני־ראובן‬. Im hebräischen Text wird also auf das im nächsten Vers genannten Ergebnis der Zählung Bezug genommen („ihre Nachkommenschaft … betrug …“),6 während im griechischen Text durch die Einfügung der Präposition κατά eine Information über die Art und Weise der Zählung („entsprechend ihrer Nachkommenschaft“) gegeben wird. Außer in Num 1 wird ‫ תולדתם‬sonst nur in Ex 6,16.19 mit κατὰ συγγενείας αὐτῶν wiedergegeben,7 ansonsten wird zur Übersetzung von ‫ תולדת‬meist γένεσις verwendet.8 In Ex 6,16.19 bildet die Formulierung κατὰ συγγενείας αὐτῶν eine Inclusio um den Stammbaum Levis. Es ist also gut möglich, dass durch die entsprechende Verwendung in Num 1 an die Stammbaumterminologie im griechischen Exodusbuch angeknüpft wird. Die Wortwahl ist passend, es handelt sich um eine Zählung „nach Familien“ und nicht, wie eine wörtliche Übersetzung durch γένεσις nahelegen würde, um eine „Geschlechterfolge“.

2 Zu Referenz vgl. Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, 554–555. 3 von Siebenthal, Griechische Grammatik, § 133b. 4 Ebd., § 133a. 5 Die Bezeichnungen der Kasus im biblischen Hebräisch stellen, da Kasusendungen fehlen, keine morphologischen Kategorien dar, sondern syntaktische, vgl. Joüon und Muraoka, A Grammar of Biblical Hebrew, Anm. vor § 125. 6 Vgl. z. B. Noth, Das vierte Buch Mose, 16: „20 […] ihre Abkömmlinge […] 21 ihre Gemusterten beliefen sich beim Stamme Ruben auf […]“. 7 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 12. 8 Gen 5,1; 6,9; 10,1.32; 11,10.27; 25,12.19; 36,1.9; 37,2; Ex 28,10; Num 3,1; Ru 4,18; 1Chr 1,29; 5,7; 7,2.4.9; 8,28; 9,9.34; 26,31. Num 3,1 ist eine Ausnahmeerscheinung gegenüber den übrigen 12 Vorkommen im Numeribuch, die sich sämtlich in Num 1 befinden und mit συγγένεια wiedergegeben werden.

86 | 3 Numeri 1,20–47: Geordnete Aufzählung κατὰ δήμους αὐτῶν / ‫ למשפחתם‬Auffällig ist hier die Wortwahl δῆμος, die als Übersetzung von ‫ משפחה‬im Pentateuch nur im Numeribuch auftritt.9 Das Wort bezeichnete in griechischen Städten wie Athen oder Alexandria die soziologische Einheit der „Volksgruppe“ als Untereinheit der φυλή. Die Wortwahl ist ein starkes Indiz dafür, dass die Übersetzung des Numeribuches in Alexandria entstanden ist. Durch die Verwendung dieses Wortes wird der Text also in der Lebenswirklichkeit der griechischsprachigen Leser verortet.10 κατʼ οἴκους πατριῶν αὐτῶν / ‫ לבית אבתם‬Der hebräische Ausdruck bezeichnet trotz des nomen regens im Singular einen Plural („Vaterhäuser“).11 Die Übersetzung passt also die syntaktische Struktur an die Vorgabe der Zielsprache an, um den Sinn des Ausgangstextes zu erhalten. κατὰ ἀριθμὸν ὀνομάτων αὐτῶν / ‫ במספר שמות‬Im hebräischen Text dieser Verse werden die verschiedenen Spezifizierungen in der Regel mit der Präposition ‫ ל‬angeschlossen (‫)למשפחתם לבית אבתם … לגלגלתם‬, lediglich hier erscheint ‫ב‬. Im griechischen Text liegt eine einheitliche Sequenz vor, da jedesmal κατά verwendet wird. In der Hebräischen Bibel wird, abgesehen von den zahlreichen Vorkommen im Numeribuch, ‫ במספר‬sieben Mal verwendet12 und ‫ למספר‬vier Mal,13 wobei ein Bedeutungsunterschied nicht auszumachen ist. Es ist also lediglich die sprachliche Form, die variiert und die im griechischen Text vereinheitlicht ist. Die Frage, ob diese Vereinheitlichung dem Übersetzer zuzuschreiben ist oder einem früheren Tradenten, lässt sich nicht leicht beantworten. Wie in Abschnitt 2.1.6 beschrieben, sollten verschiedene Parameter gegeneinander abgewogen werden. Da ist zum einen die einheitliche Überlieferungssituation des Numeribuches zu nennen,14 die eine andere Vorlage zwar nicht grundsätzlich ausschließt, aber zur Vorsicht mahnt, eine solche zu schnell zu postulieren.15 Zweitens ist die vorläufig ermittelte Übersetzungstechnik zu betrachten, die auf syntaktischer Ebene als „relativ formerhaltend“ gilt.16 Dieses Kriterium17 mahnt also zur Vorsicht, eine Ver-

9 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 440. 10 Rösel, „Die Septuaginta und der Kult“, 31; vgl. Dorival, Les Nombres, 159–161. 11 Wilhelm Gesenius, Emil Kautzsch und Gotthelf Bergsträsser, Hebräische Grammatik, 28. Aufl., 1909, ND, Hildesheim: Olms, 1962, § 124r. 12 Lev 25,15(2).50; Hi 3,6; 1Chr 23,24; 27,24; 2Chr 26,11. 13 Dtn 32,8; Jos 4,5; 2Chr 35,7; Ez 4,5. 14 Rösel, „Die Textüberlieferung des Buches Numeri“, 225. 15 Vgl. Abschnitt 2.1.6.1. 16 Voitila, „The Translator of the Greek Numbers“, 120–121. 17 Vgl. Abschnitt 2.1.6.2.

3.2 Kommentar

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einheitlichung der Präpositionen zu schnell dem Übersetzer zuzuschreiben. Das dritte Kriterium fragt nach der externen Bezeugung für die Septuaginta-Lesart.18 Eine solche liegt in diesem Fall nicht vor, dies spricht eher für eine Vereinheitlichung durch den Übersetzer. Dieser Befund lässt sich nur schwer auswerten, er kann mit dem jetzigen Wissensstand sowohl in Richtung einer Vorlage mit der Präposition ‫ ל‬als auch in Richtung einer vereinheitlichenden Übersetzungstechnik interpretiert werden. Dieselbe Argumentation ließe sich für das Pronomen αὐτῶν, das keine Entsprechung im hebräischen Text hat, wiederholen. Als Ursache kommt eine Angleichung an die Ausdrücke κατὰ συγγενείας αὐτῶν, κατὰ δήμους αὐτῶν, κατʼ οἴκους πατριῶν αὐτῶν und κατὰ κεφαλὴν αὐτῶν im direkten Kontext in Frage, möglich ist aber auch eine hebräische Vorlage mit der entsprechenden Angleichung durch ein Suffix. κατὰ κεφαλὴν αὐτῶν / ‫לגלגלתם‬ Das hebräische Wort kann einerseits „Schä19 del“ bedeuten, andererseits wird es in Formulierungen verwendet, die sich auf die Individuen einer Gruppe von Personen beziehen („pro Kopf“).20 Das griechische κεφαλή trifft den Sinn einer Zählung von einzelnen Menschen. Der Übersetzer hat das Wort als Singular vokalisiert, die Masoreten dagegen als Plural. ἀπὸ εἰκοσαετοῦς καὶ ἐπάνω / ‫מבן עשרים שנה ומעלה‬ Das hebräische Idiom „Sohn von zwanzig Jahren“ wurde im griechischen Text durch ein Adjektiv ersetzt, um den griechischen Text natürlicher klingen zu lassen. πᾶς ὁ ἐκπορευόμενος ἐν τῇ δυνάμει / ‫ כל יצא צבא‬Die hebräische ConstructusVerbindung wurde aufgelöst, statt eines Genitivs-Attributs hat der Übersetzer eine Präpositionalphrase (ἐν τῇ δυνάμει) verwendet. Die Bedeutung, dass die Gezählten „mit dem Heer“ auszogen, wurde mit Hilfe der Präposition ἐν ausgedrückt.21

Vers 21 (ebenso 23,25,…,43) ἡ ἐπίσκεψις αὐτῶν / ‫ פקדיהם‬Die Masoreten haben die Konsonantenfolge ‫ פקדיהם‬als passives Partizip des Verbs ‫ פקד‬vokalisiert, woraus sich die Bedeutung „ihre Gezählten“ ergibt. Die griechische Übersetzung könnte auf eine

18 Vgl. Abschnitt 2.1.6.3. 19 Ri 9,53; 2Kön 9,35; 1Chr 10,10. 20 Ex 16,16; Num 3,47. 21 Vgl. Conybeare und Stock, Grammar of Septuagint Greek, § 91 zu der erhöhten Häufigkeit der Präposition ἐν in den Septuagintaschriften im Vergleich zum klassischen Griechisch.

88 | 3 Numeri 1,20–47: Geordnete Aufzählung Ableitung aus dem Substantiv ‫„( פקדה‬Zählung“) hinweisen. Allerdings lautet die Form mit einem Suffix der dritten Person Plural ‫דתָם‬ ּ ָ ֻ‫פק‬ ְ ּ , hat also einen etwas anderen Konsonantenbestand als die Lesart von 𝔐. Dies lässt sich aber durch eine Verwechslung von ‫ ה‬und ‫ ת‬in der Vorlage oder durch den Übersetzer erklären.22 Das ‫ י‬in der Lesart von 𝔐 wäre dann erst später als mater lectionis in den Konsonantenbestand eingefügt worden.23 Für V.21 sind die Lesarten der jüdischen Revisionen belegt. α’ und σ’ bieten an dieser Stelle ἐπεσκεμμένοι αὐτῶν bzw. οἱ ἐπεσκεμμένοι αὐτῶν, bezeugen also Konsonantenbestand und Vokalisierung von 𝔐. Die Lesart αἱ ἐπισκέψεις αὐτῶν bei θ’ setzt den Konsonantenbestand voraus, der auch dem SeptuagintaÜbersetzer vorlag, dies allerdings mit Vokalisierung als Plural (‫דתָם‬ ֹּ ֻ‫פק‬ ְ ).

Vers 22 (ebenso 24,26,…,42) τοῖς υἱοῖς Συμεών / ‫לבני שמעון‬ Die hebräische Präposition ‫ ל‬wird durch den Dativ wiedergegeben, der sich als dativus respectus interpretieren lässt und der mit „hinsichtlich …“24 ins Deutsche übersetzt werden kann.25 Während im klassischen Griechisch vorzugsweise der accusativus respectus verwendet wird, stellt in der Koine die entsprechende Konstruktion mit Dativ den Normalfall dar,26 die Verwendung hier ist also syntaktisch unauffällig. Dennoch ist offensichtlich, dass der Übersetzer sich an der Form des Ausgangstextes orientiert hat. Während der Nominativ ‫ בני־ראובן‬in V.20 mit οἱ υἱοὶ Ῥουβήν wiedergegeben wird, findet in den folgenden Listeneinträgen in Anlehnung an die Präposition ‫ ל‬der Dativ Verwendung.27 Trotz dieser Formorientierung ist der griechische Text syntaktisch korrekt, sicher nicht schön nach griechischem Stilempfinden, aber doch verständlich. Die Determination der hebräischen Constructus-Verbindung wird im griechischen Text – in Abweichung von der Form des Ausgangstextes – durch den Artikel ausgedrückt.

22 Zur Verwechslung von ‫ ה‬und ‫ ת‬vgl. Alexander A. Fischer, Der Text des Alten Testaments. Neubearbeitung der Einführung in die Biblia Hebraica von Ernst Würthwein, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2009, 206. 23 Eine Entsprechung von ἐπίσκεψις und ‫ פקדים‬erscheint auch in 1,44.45; vgl. dazu Seite 94. 24 Vgl. die Septuaginta Deutsch zur Stelle. 25 von Siebenthal, Griechische Grammatik, § 178a. 26 Ebd., § 173c. 27 In V.42 steht in der Septuagintafassung ein Dativ trotz Nominativ im hebräischen Text, siehe dazu Seite 94.

3.2 Kommentar

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Vers 22 κατὰ ἀριθμὸν ὀνομάτων αὐτῶν / ‫פקדיו במספר שמות‬ Die Auslassung von ‫פקדיו‬, das im hebräischen Text der Liste nur in V.22 vorkommt, ist sicher auf eine entsprechende Vorlage zurückzuführen, da das Wort in mehreren hebräischen Handschriften sowie im Targum Pseudo-Jonathan fehlt.28 Zum Pronomen αὐτῶν, das keine Entsprechung in 𝔐 hat, sei auf die Ausführungen zu V.2029 verwiesen.

Vers 24 (ebenso 26,28,…,42) κατὰ κεφαλὴν αὐτῶν πάντα ἀρσενικά / – Der entsprechende hebräische Ausdruck ‫ לגלגלתם כל־זכר‬kommt nur in V.20 und V.22 vor. In der Septuagintafassung erscheint der Text vereinheitlicht. Die Information, dass die Zählung „nach ihrem Kopf“ stattfand und „alles Männliche“ betraf, wird nun konsequent für jeden der zwölf Stämme verbalisiert. Wie schon bei der Frage nach der Vereinheitlichung der Präpositionen30 stellt sich die Frage, ob der Übersetzer seinen Ausgangstext angepasst hat oder ob die griechische Fassung auf einer gleichlautenden hebräischen Vorlage beruht. Dort war die Auswertung der in Abschnitt 2.1.6 genannten Kriterien ohne Ergebnis geblieben. Hier dagegen lässt der Unterschied zwischen griechischer und hebräischer Lesart auf eine Anpassung durch den Übersetzer schließen. Denn zum einen handelt es sich hier nicht um eine Vereinheitlichung der Syntax wie bei der Angleichung der Präpositionen, sondern um eine inhaltliche Ergänzung. Dabei spielt natürlich der formale Aspekt eine Rolle, da in zehn Versen der Wortlaut an die Formulierung von V.20.22 angepasst wird. Gleichzeitig wird dadurch allerdings eine inhaltliche Aussage über die Art der Zählung (κατὰ κεφαλὴν αὐτῶν) und über die Objekte der Zählung (πάντα ἀρσενικά) gemacht. Das in Abschnitt 2.1.6.2 eingeführte Kriterium der vorläufig ermittelten Übersetzungstechnik liefert für das griechische Numeribuch den Befund, dass der Übersetzer in lexikalischer Hinsicht „relativ frei“ vorgegangen ist.31 Das bedeutet, dass er sich weniger von formalen Aspekten wie bei der konsequenten Anwendung des Konkordanzprinzips leiten ließ, sondern eher von inhaltlichen Aspekten. Dieser inhaltliche Schwerpunkt macht es stärker als bei

28 Gegen Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 439–440, die die Lesart ‫ פקדיו‬in 4QNuma – wohl aufgrund des Alters der Handschrift – als Beleg für eine Harmonisierungstendenz des Übersetzers deuten. 29 Siehe Seite 87. 30 Siehe Seite 86 zu V.20 etc. (κατὰ ἀριθμὸν ὀνομάτων αὐτῶν). 31 Dorival, Les Nombres, 64–65.

90 | 3 Numeri 1,20–47: Geordnete Aufzählung der oben behandelten Wahl der Präposition wahrscheinlich, dass hier eine Ergänzung durch den Übersetzer vorliegt. Dies wird durch die Tatsache gestützt, dass es sich bei den hier behandelten zehn (nahezu gleichlautenden) Versen nicht um einen Einzelfall handelt, sondern dass sich für das gemeinhin als „Harmonisierung“ bezeichnete Phänomen zahlreiche Belege im griechischen Numeribuch finden lassen.32 Hinzu kommt die Tatsache, dass eine externe Bezeugung für die Septuaginta-Lesart nicht vorliegt.33 Insgesamt weist dieser Befund deutlich in die Richtung einer harmonisierenden Ergänzung durch den Übersetzer.

Vers 36–37 (𝔐: 24–25) Die Angaben für den Stamm Gad, die sich in der hebräischen Fassung bereits in V.24–25 befinden, erscheinen im griechischen Text an späterer Stelle. Die beiden Anordnungen der Stämme in den Fassungen von Num 1,20–43 sind in Tabelle 3.1 dargestellt. Die Reihenfolge in 𝔐 orientiert sich offensichtlich an der in Num 2,3–31 beschriebenen Lagerordnung, bei der die Stämme entsprechend den Himmelsrichtungen in vier Gruppen zu je drei Stämmen angeordnet sind. Dabei wird Gad, dem ältesten Sohn von Leas Magd Silpa (Gen 30,9–11), der Platz Levis, des dritten Sohnes Jakobs, zugeordnet. Somit wird Gad in die Gruppe der beiden ältesten Jakobssöhne Ruben und Simeon eingegliedert. Die Liste im hebräischen Text von Num 1,20–43 entspricht nun, von der Reihenfolge der Dreiergruppen abgesehen, der Liste in Num 2,3–31.34 Die Anordnung im griechischen Text wird von Gilles Dorival als intertextuelles Phänomen bezeichnet. Als Bezugstexte nennt er Gen 35,22–26 zur Begründung der Reihenfolge „Leasöhne – Rahelsöhne – Söhne der Mägde“ sowie Gen 49 zur Begründung der Anordnung innerhalb der letztgenannten Gruppe („Gad – Dan – Asser – Naphtali“).35 Hierzu ist zweierlei anzumerken: 1. Die allgemeine Folge „Leasöhne – Rahelsöhne – Söhne der Mägde“ der Aufzählung in Num 1 ist bereits in 𝔐, von der Einfügung von Gad an dritter Stelle abgesehen, angelegt. Die grobe Anordnung des Textes, die von der Zuordnung der Stämme zu den Stammmüttern ausgeht, orientiert sich also bereits

32 Siehe z. B. die Liste bei Dorival, Les Nombres, 42–43, deren Elemente jedoch nicht alle gleich überzeugend sind. 33 Vgl. das Kriterium in Abschnitt 2.1.6.3. 34 Dorival, „Les phénomènes d’intertextualité“, 259; vgl. auch Nicholas P. Lunn, „Numbering Israel: A Rhetorico-Structural Analysis of Numbers 1–4“, in: JSOT 35 (2010), 167–185, 170–171. 35 Dorival, „Les phénomènes d’intertextualité“, 258–259; mit Vorsicht aufgenommen von Rösel, „Die Septuaginta und der Kult“, 30.

3.2 Kommentar | 91 Tab. 3.1. Anordnungen der zwölf Stämme in Num 1,20–43. Dabei entspricht die Anordnung in 𝔐 der Gruppierung nach Lagerplätzen in Num 2,3–31; die Anordnung der LXX dagegen folgt der Zuordnung der Stammväter zu den Frauen Jakobs. LXX Ruben Simeon

𝔐 Ruben Simeon

Süden

Gad

Lea

Rahel

Juda

Juda

Issachar

Issachar

Sebulon

Sebulon

Ephraim

Ephraim

Manasse

Manasse

Benjamin

Benjamin

Osten

Westen

Gad Mägde

2.

Dan

Dan

Asser

Asser

Naphtali

Naphtali

Norden

in der hebräischen Fassung an Gen 35,22–26. Das Fehlen Levis wurde dabei durch die Einfügung Gads ausgeglichen, des ältesten Sohns von Silpa, der Magd der ersten Frau Jakobs. Die Tatsache, dass innerhalb der Lea-Gruppe die Anordnung dem Alter der Jakobssöhne entspricht, zeigt, dass schon in 𝔐 die Liste aus Gen 35 inhärent vorliegt. Die Septuagintafassung stellt also keinen intertextuellen Bezug zu Gen 35 her, sondern bietet lediglich eine Variante des hebräischen Textes, bei der Gad ein Platz bei den Söhnen der Mägde zugewiesen wurde.36 In Gen 49,16–21 werden die Söhne der Mägde in der Reihenfolge „Dan – Gad – Asser – Naphtali“ genannt, hier dagegen als „Gad – Dan – Asser – Naphtali“.

36 Ich kann Dorival, „Les phénomènes d’intertextualité“, 259–260, allerdings folgen, wenn er einen intertextuellen Bezug der parallelen Liste Num 26,5–50 LXX zu Gen 46,8–26 annimmt. Denn in Num 26 LXX werden nach den fünf Leasöhnen zunächst Gad und Asser, die Söhne von Leas Magd Silpa, dann die Rahelsöhne und schließlich Dan und Naphtali, die Söhne von Rahels Magd Bilha, genannt. Damit ist, von dem schon in Num 26 𝔐 vorliegenden Fehlen Levis und der Aufteilung Josephs in zwei Stämme abgesehen, exakt die Folge von Gen 46 erreicht. Ein Bezug von Num 26 zu Gen 46 erscheint auch deshalb naheliegend, weil es sich bei beiden Texten um Stammbäume handelt.

92 | 3 Numeri 1,20–47: Geordnete Aufzählung Diese Sequenz ist, wie Dorival selbst einräumt, in der Bibel singulär.37 Einen intertextuellen Bezug zu Gen 49 zu postulieren, ist zwar aufgrund des dort vorherrschenden Segensmotivs theologisch interessant, scheitert aber an den Texten selbst. Wenn nun in der Septuagintafassung eine über 𝔐 hinausreichende intertextuelle Bezugnahme auf Gen 35 und Gen 49 nicht nachgewiesen werden kann, so ist doch deutlich, dass die Einordnung Gads an die neunte Stelle der Liste eine spezielle Intention verfolgt. Dies gilt zunächst unabhängig von der Frage nach der Ursprünglichkeit. Die Reihenfolge der Stämme orientiert sich in der griechischen Fassung grundsätzlich an dem Schema „Leasöhne – Rahelsöhne – Söhne der Mägde“. Die singuläre Anordnung der dritten Gruppe wird ihren Ursprung in einer Modifikation der in 𝔐 vorliegenden Reihenfolge haben. Dabei wurde Gad in die Gruppe der Mägde einsortiert, und zwar an der ersten Stelle. Das kann damit erklärt werden, dass es sich bei Gad um den erstgeborenen Sohn von Leas Magd Silpa handelt. Da die Leasöhne in der Liste vor den Rahelsöhnen genannt werden, bot es sich an, dem erstgeborenen Sohn von Leas Magd den ersten Platz in der dritten Gruppe zuzuweisen. Diese dritte Gruppe wurde dann nicht mehr verändert, es erfolgte beispielsweise keine Zusammenstellung von Gad und Asser, den beiden Söhnen der Silpa. Somit kann die Annahme, dass die Reihenfolge in 𝔐 ursprünglicher ist, die Anordnung im griechischen Text gut erklären. Beruht nun die Anordnung der Septuagintafassung auf einer entsprechenden hebräischen Vorlage oder auf einer Umstellung durch den Übersetzer? Zur Beantwortung dieser Frage muss die Tatsache in Betracht gezogen werden, dass es sich hier um die Umstellung von zwei aufeinander folgenden Versen handelt. Emanuel Tov erwartet Umstellungen dieser Größenordnung nur von solchen Übersetzern, die sehr frei oder gar paraphrasierend arbeiteten. Da solche Umstellungen sogar in freien Übersetzungen wie dem griechischen Jesaja-, Daniel-, oder Estherbuch nicht vorkommen, seien auch bei weniger freien Übersetzungen etwaige Umstellungen nicht dem Übersetzer, sondern seiner Vorlage zuzuschreiben.38 Dieses Argument ist jedoch nicht überzeugend. Zum einen geht Tov kategorisch davon aus, dass nur „freie Übersetzungen“ Textumstellungen enthalten können. Dagegen spricht die Analyse von James Barr, der das Phänomen der „Wörtlichkeit“ in antiken Bibelübersetzungen weiter differenziert. Dabei nennt er verschiedene Ebenen, bezüglich derer eine Übersetzung wörtlich (oder auch frei) sein kann. Dazu zählen etwa die Beibehaltung der Wortstellung des Originals, das

37 Dorival, „Les phénomènes d’intertextualité“, 258. 38 Tov, „Some Sequence Differences“, 151.

3.2 Kommentar | 93

Ausmaß an konkordanter Wiedergabe oder auch die Frage, ob idiomatische Ausdrücke der Ausgangssprache aufgelöst werden.39 Eine Übersetzung könne nun wörtlich in Bezug auf eine dieser Ebenen sein, gleichzeitig aber in Bezug auf eine andere Ebene frei.40 Es ist also durchaus denkbar, dass ein in mancherlei Hinsicht wörtlich arbeitender Übersetzer frei mit der Reihenfolge der einzelnen Sätze umging. Zweitens ist nicht einsichtig, warum die Tatsache, dass in freien Übersetzungen keine Versumstellungen vorkommen, implizieren soll, dass dies auch bei weniger freien Übersetzungen der Fall sein muss. Eine Textumstellung ist ja nicht durch eine freie Übersetzungstechnik veranlasst, sondern durch den Inhalt des Textes und die beabsichtigte Wirkung auf die Leser und Hörer.41 Ein frei arbeitender Übersetzer ist also nicht gezwungen, die Textreihenfolge zu verändern, wenn der Text selbst ihm keinen Anlass dazu bietet. Wenn nun das griechische Numeribuch als „relativ formerhaltend“ in syntaktischer Hinsicht und als „relativ frei“ in lexikalischer Hinsicht bezeichnet wird,42 dann bestätigt diese Differenzierung zunächst die von Barr geäußerte These der Mehrschichtigkeit von „Wörtlichkeit“. Die „relative Freiheit“ des Übersetzers bei der Verwendung der einzelnen Lexeme deutet darauf hin, dass der inhaltliche Aspekt des Textes für den Übersetzer eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielte. Von daher erscheint es plausibel, dass auch die Reihenfolge einzelner Verse geändert werden konnte, um dadurch eine inhaltliche Aussage zu machen. Ein ähnliches Beispiel bietet die differierende Anordnung der Gebote des Dekalogs. Während 𝔐 sowohl in Ex 20,13–15 als auch in Dtn 5,17–19 die Reihenfolge „töten – ehebrechen – stehlen“ bietet, lautet die Anordnung in der Septuagintafassung „ehebrechen – stehlen – töten“ (Ex 20) bzw. „ehebrechen – töten – stehlen“ (Dtn 5). Es ist vermutet worden, dass die Anordnungen der Septuaginta in der Diasporasituation eine größere Aktualität hatten. Möglicherweise ist das Verbot des Ehebruchs in die Nähe des Elterngebots gerückt worden, da beide zusammen als Teil eines Familienrechts gelesen werden konnten.43 Entsprechend lässt sich auch für die von 𝔐 abweichende Anordnung der Stämme in Num 1 eine mögliche Begründung formulieren. Durch die Positionierung Gads bei den anderen Söhnen der Mägde wird der Text in eine Kontinuität zu den alten Stammeslisten der Genesis gestellt. Denn auch dort werden die Jakobs-

39 Barr, The Typology of Literalism, 20. 40 Ebd., 49–50. 41 Dies sind Teilaspekte des in Abschnitt 2.1.5.2 eingeführten Skoposbegriffs. 42 Voitila, „The Translator of the Greek Numbers“, 120–121; Dorival, Les Nombres, 64–65. 43 Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament, 291–292.

94 | 3 Numeri 1,20–47: Geordnete Aufzählung söhne in Gruppen nach ihren Müttern sortiert genannt. Die im hebräischen Text von Num 1 vorgenommene innovative Positionierung Gads an die dritte Stelle der Liste wurde vom Übersetzer verworfen, offensichtlich hatte er an einem Vorgriff auf die in Num 2 beschriebene Lagerordnung kein Interesse. Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass eine externe Bezeugung für die Textanordnung der Septuagintafassung, die für eine entsprechende hebräische Vorlage sprechen könnte, nicht vorliegt. Hinzu kommt, dass es sich bei der Umstellung einzelner Verse nicht um einen Einzelfall innerhalb des griechischen Numeribuches handelt. Vergleichbare Phänomene, für die ebenfalls keine externe Bezeugung vorliegt und die sich gut durch ein inhaltliches Anliegen des Übersetzers erklären lassen, sind in Num 6,22–27 und in Num 10,33–36 zu finden.44

Vers 42 τοῖς υἱοῖς Νεφθαλί / ‫ בני נפתלי‬Die Lesart ‫ בני‬von 𝔐 stellt eine Ausnahme gegenüber dem sonst ab V.22 vorliegenden ‫ לבני‬dar. Im griechischen Text scheint der Ausdruck an das gängige Muster mit Dativ angepasst worden zu sein. Allerdings liegt die Lesart ‫ לבני‬auch in ⅏ vor. Bisherige Studien zur Übersetzung des griechischen Numeribuches legen zudem nahe, dass der Übersetzer in syntaktischer Hinsicht eher formgetreu gearbeitet hat.45 Daher ist entsprechend der in Abschnitt 2.1.6 genannten Kriterien davon auszugehen, dass die Vorlage des Übersetzers an dieser Stelle der präsamaritanischen Textform entsprach.

3.2.2 Die Angabe für ganz Israel (V.44–47) Dieser Abschnitt bietet einen ähnlichen Befund wie der vorhergehende. Die Übersetzung ist meist an der Form der hebräischen Vorlage orientiert, wobei in einzelnen Fällen inhaltliche Verdeutlichungen auszumachen sind.

Vers 44 αὕτη ἡ ἐπίσκεψις / ‫ אלה הפקדים‬In 𝔐 ist die Konsonantenfolge ‫ פקדים‬als passives Partizip des Verbs ‫ פקד‬vokalisiert worden. Die Wiedergabe als Substantiv im Singular könnte auf eine Vorlage mit der Lesart ‫ פקדה‬hinweisen, allerdings wä-

44 Siehe dazu Seite 104 und Seite 113. 45 Dorival, Les Nombres, 64–65.

3.2 Kommentar | 95

re dann auch in der Vorlage ein Demonstrativpronomen im Singular zu erwarten. Ebenfalls denkbar ist, dass die Vorlage hier 𝔐 entsprach, wobei der Übersetzer vielleicht im Anschluss an die vorhergehenden Verse (21,23,…,43) weiterhin das Substantiv ἐπίσκεψις verwendet hat.46 Eine sichere Entscheidung lässt sich nicht treffen. ἀνὴρ εἷς κατὰ φυλὴν μίαν κατὰ φυλὴν οἴκων πατριᾶς αὐτῶν ἦσαν / ‫איש־אחד‬ ‫ לבית־אבתיו היו‬Der griechische Text enthält einen Überschuss gegenüber 𝔐 und entspricht fast wörtlich ⅏ (‫)אש אחד למטה אחד אש בית אבתם היו‬. Es ist davon auszugehen, dass die Vorlage des Übersetzers an dieser Stelle ⅏ nahestand.

Vers 45 πᾶσα ἡ ἐπίσκεψις υἱῶν Ἰσραήλ / ‫ כל־פקודי בני־ישראל‬Ähnlich wie in V.44 könnte man die Lesart ἐπίσκεψις eventuell auf eine Vorlage mit dem Substantiv ‫ פקדה‬zurückführen, dann wäre allerdings die Constructus-Form ‫ פקודת‬zu erwarten. Auch hier ist denkbar, dass der Übersetzer trotz eines 𝔐 entsprechenden Konsonantenbestands, der eine Vokalisierung als passives Partizip des Verbs ‫ פקד‬im status constructus nahelegt, im Anschluss an die vorhergehenden Verse (21,23,…,43,44) weiterhin das Substantiv ἐπίσκεψις verwendet hat. Die jüdischen Revisionen (α’, σ’ und θ’) bezeugen ähnlich wie in V.2147 statt πᾶσα ἡ ἐπίσκεψις die Lesart πάντες οἱ ἐπεσκεμμένοι. Diese Lesart beruht auf der Vokalisierung, die auch 𝔐 bietet, nämlich als passives Partizip des Verbs ‫פקד‬. σὺν δυνάμει αὐτῶν / ‫ לבית אבתם‬Die Lesart der Septuaginta lässt sich am besten mit einer präsamaritanischen Vorlage erklären, denn ⅏ bietet hier die Lesart ‫לצבאתם‬. Dabei handelt es sich allerdings um eine Pluralform, während der griechische Text einen Singular bietet. Die entsprechende hebräische Singularform wäre ‫לצבאהם‬, diese konnte durch eine Verwechslung von ‫ ת‬und ‫ה‬48 aus der Lesart von ⅏ entstehen (oder umgekehrt). Andererseits ist gut denkbar, dass tatsächlich die Form ‫( לצבאתם‬also die Lesart von ⅏) mit σὺν δυνάμει αὐτῶν übersetzt wurde. Denn auch in V.52 wird ‫ 𝔐( לצבאתם‬und ⅏) mit σὺν δυνάμει αὐτῶν wiedergegeben.49 Genau diese Art der Wiedergabe ist durchgängig in Num 2,9.16.24.31 zu finden, wahrscheinlich um die dort genannten vier Abteilungen von jeweils

46 47 48 49

Zur Verwendung von ἐπίσκεψις dort vgl. Seite 87. Siehe Seite 87. Vgl. Fischer, Der Text des Alten Testaments, 206. Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 16.

96 | 3 Numeri 1,20–47: Geordnete Aufzählung drei „Heeren“ jeweils als Einheit zu bezeichnen.50 Auch in Num 1,45 ist zu vermuten, dass der Übersetzer die Israeliten als Einheit angesehen und dies durch den Singular („ihr Heer“ statt „ihre Heere“) betont hat. Obwohl für jeden Stamm eine Zahl angegeben wird, konstituiert doch die Gesamtheit der wehrfähigen Männer Israels ein einziges Heer, wie es der gesamte Inhalt des Verses mit der abschließenden Summenangabe in V.46 deutlich macht. α’, σ’ und θ’ stimmen hier mit 𝔐 überein, sie bieten die Lesart εἰς (bzw. κατ’) οἶκον πατέρων αὐτῶν. πᾶς ὁ ἐκπορευόμενος παρατάξασθαι / ‫ כל־יצא צבא‬Hier wurde ‫ צבא‬offensichtlich als Infinitiv interpretiert und nicht wie in 𝔐 als Substantiv.51 Die Wiedergabe des Verbs ‫ צבא‬durch eine Form von παρατάσσομαι ist in Num 31,7 belegt. Die Behauptung, die Verwendung des griechischen Verbs lasse auf ein besonderes militärisches Interesse des Übersetzers schließen,52 überzeugt nicht, da bereits das Substantiv ‫ צבא‬militärisch konnotiert ist.

Vers 46 – / ‫ויהיו כל־הפקדים‬ Sowohl im hebräischen als auch im griechischen Text beginnt der Satz bereits in V.45 und endet in V.46 mit einer Zahlenangabe für die Summe der Israeliten. Bei dem Ausdruck ‫ויהיו כל־הפקדים‬, der keine Entsprechung im griechischen Text hat, handelt es sich um eine Wiederaufnahme des erweiterten Ausdrucks ‫ויהיו כל־פקודי בני־ישראל‬, mit dem V.45 beginnt. Im griechischen Text erscheint der Satz demnach geglättet, dort beginnt der Satz in V.45 mit καὶ ἐγένετο πᾶσα ἡ ἐπίσκεψις υἱῶν Ἰσραήλ und wird ohne Wiederholung zu Ende geführt.53 Der quantitative Unterschied zwischen den beiden Lesarten lässt sich weder durch Haplographie noch durch Dittographie befriedigend erklären. Unter der Voraussetzung, dass die von 𝔐 gebotene lectio difficilior ursprünglicher ist, ist zu fragen, ob der Übersetzer eine Auslassung vorgenommen hat oder ob die Worte bereits in seiner Vorlage fehlten. Für eine hebräische Vorlage als Ursache für die griechische Lesart spricht die vorläufige Beobachtung, dass der Übersetzer in syntaktischer Hinsicht eher formerhaltend gearbeitet hat.54 Eine Auslassung von Textelementen mit dem Ziel einer flüssigeren griechischen Syntax ist damit

50 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 441. 51 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 16. 52 Dorival, Les Nombres, 198. 53 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 15–16. 54 Dorival, Les Nombres, 64–65; vgl. das in Abschnitt 2.1.6.2 genannte Kriterium.

3.2 Kommentar | 97

weniger wahrscheinlich. Auf der anderen Seite kann das Fehlen einer externen Bezeugung für die griechische Lesart als Indiz dafür gewertet werden, dass die Ursache nicht bei der Vorlage, sondern beim Übersetzer zu suchen ist.55 Letztlich ist der Fall nicht entscheidbar.

Vers 47 οἱ δὲ Λευῖται / ‫ והלוים‬Durch die Wiedergabe von ‫ ו‬mit δέ scheint der Übersetzer den Abschluss einer Texteinheit markieren zu wollen. In Num 1 wird ein Abschnittswechsel von manchen Auslegern bereits nach V.46 angenommen,56 doch kann mit gutem Grund V.47 als Abschluss der Zählung betrachtet werden, bevor ab V.48 die Tatsache, dass die Leviten nicht gezählt werden, begründet wird.57 Für die inhaltliche Zugehörigkeit von V.47 zum vorliegenden Abschnitt sprechen außerdem sowohl die masoretische als auch die samaritanische Perikopeneinteilung.58 Dort befindet sich am Ende einer jeden Zahlenangabe für die Stämme eine Abschnittsmarkierung, zuletzt also nach V.43, die nächste Markierung erscheint dann erst wieder nach V.47. Es ist gut denkbar, dass dem Übersetzer diese Gliederungstradition bekannt war oder sogar konkret im Manuskript des Ausgangstextes vorlag. Um den Abschnittswechsel sprachlich zu markieren, bot es sich an, den letzten Satz des Abschnitts mit der Partikel δέ anzuschließen.59 α’ und θ’ geben den hebräischen Text formal genauer mit καὶ οἱ Λευῖται wieder und verzichten damit auf die Markierung des Abschnittswechsels. οὐ συνεπεσκέπησαν / ‫ לא התפקדו‬Das seltene60 Verb συνεπισκοπέω, ein Kompositum mit zwei Präfixen, gibt das ebenfalls seltene passive Hitpa‘el von ‫פקד‬61 wieder. Wahrscheinlich wird im griechischen Text durch die spezielle Wortwahl

55 Vgl. für dieses Kriterium Abschnitt 2.1.6.3. 56 Z. B. Dorival, Les Nombres, 199; Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 16. 57 Knierim und Coats, Numbers, 42; vgl. auch Noth, Das vierte Buch Mose, 19. 58 Eine praktische Gegenüberstellung der beiden Texttraditionen (mit ⅏ nach dem Codex Shechem 6 von 1204 n. Chr.) bietet: The Pentateuch. The Samaritan Version and the Masoretic Version, hrsg. von Abraham Tal und Moshe Florentin, Tel Aviv: The Haim Rubin Tel Aviv University Press, 2010. 59 Diese Art der Übersetzung begegnet auch in Ru 1,19a.22b, wo sowohl Waw consecutivum als auch Waw copulativum durch δέ übersetzt wurden, um den Abschluss einer Episode zu markieren; siehe dazu Carsten Ziegert, „δέ statt καί als textpragmatisch motivierte Wiedergabe des Waw consecutivum und copulativum in der Septuagintafassung des Buches Ruth“, in: BZ 53 (2009), 263–273, 270–271. 60 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 16. 61 Joüon und Muraoka, A Grammar of Biblical Hebrew, § 53g.

98 | 3 Numeri 1,20–47: Geordnete Aufzählung („mitmustern“) die Trennung der Leviten von den übrigen Stämmen betont.62 Das zeigt sich auch im Kontrast zu der Lesart der jüdischen Revisionen α’, σ’ und θ’. Diese bieten das einfachere ἐπισκέπτομαι, das normalerweise zur Wiedergabe des Verbs ‫ פקד‬verwendet wird.63 ἐν τοῖς υἱοῖς Ἰσραήλ / ‫בתוכם‬ Der Referent des Suffixes ‫ ָם‬- wird in der Übersetzung explizit genannt. Denn im hebräischen Text bezieht sich das Suffix der dritten Person Plural auf die in V.45 genannten Gemusterten (‫כל־פקודי‬ ‫)בני־ישראל‬. Dieser Ausdruck wurde in V.45 unter Verwendung des allgemeinen Begriffs ἐπίσκεψις übersetzt.64 Daher hätte in V.47 bei einer wörtlichen Wiedergabe mit ἐν αὐτοῖς der Referent nur mit Mühe erkannt werden können, da der Bezug von einem maskulinen Personalpronomen im Plural (αὐτοῖς) zu einem femininen Substantiv im Singular (ἐπίσκεψις) nicht offensichtlich ist. Es ist somit wahrscheinlich, dass der Übersetzer den Referenten explizit gemacht hat.

3.3 Texttyp Der Texttyp des Zieltextes ist wie der des Ausgangstextes informativ. Nach wie vor handelt es sich um eine Liste von Stämmen und Zahlenangaben, wobei der Schwerpunkt auf der Vermittlung des Inhalts liegt. Einige Details in der Übersetzung machen deutlich, dass die Vermittlung von Inhalten für den Übersetzer maßgeblich war. So betont die Wortwahl συγγένεια als Wiedergabe von ‫ תולדת‬in V.20,22,…,42, dass es sich um eine Zählung handelte, die entsprechend den „Familien“ durchgeführt wurde. Dieser inhaltliche Aspekt kommt deutlicher zur Sprache, als das bei einer Verwendung von γένεσις, des Standardäquivalents von ‫תולדת‬, der Fall gewesen wäre. Ganz entsprechend vermittelt die Einfügung von κατὰ κεφαλὴν αὐτῶν πάντα ἀρσενικά in V.24,26,…,42, die sehr wahrscheinlich auf den Übersetzer zurückgeht, Ausführungsdetails des Zensus. Auch die Formulierung σὺν δυνάμει αὐτῶν (V.45), die entgegen der mutmaßlichen Vorlage den Singular verwendet und dadurch die Israeliten als Einheit betrachtet, setzt einen inhaltlichen Aspekt. Offensichtlich hatte der Übersetzer das Anliegen, nicht nur den Zensus als solches zu beschreiben, sondern auch Details wie die Art und Wei-

62 So auch Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 440. 63 Edwin Hatch und Henry A. Redpath, A Concordance to the Septuagint and the Other Greek Versions of the Old Testament (including the Apocryphal Books), Oxford: Clarendon, 1897–1906, s.v. ἐπισκέπτομαι. 64 Zur Frage nach der hebräischen Vorlage vgl. Seite 95.

3.4 Äquivalenz | 99

se der Zählung. All diese Beobachtungen sowie das Fehlen von expressiven und operativen Elementen sprechen dafür, dass der Texttyp nicht verändert wurde, es handelt sich also bei der Übersetzung wie schon beim Ausgangstext um den informativen Typ.

3.4 Äquivalenz Untersucht man der Reihe nach die verschiedenen Äquivalenzebenen, so ist zunächst sofort einsichtig, dass Wortäquivalenz vorliegt. Den hebräischen Wörtern des Ausgangstextes sind jeweils entsprechende („äquivalente“) Wörter der Zielsprache zugeordnet worden.65 Über Wortäquivalenz hinaus liegt Strukturäquivalenz vor. Der Übersetzer hat syntaktisch korrektes Griechisch verwendet, doch dazu musste er von einer rein wörtlichen Art der Wiedergabe abweichen. Beispielsweise hat er bei der Übersetzung von ‫ בני־ראובן‬mit οἱ υἱοὶ Ῥουβήν in V.20 einen Artikel einfügt, der im Ausgangstext bei einer (determinierten) Constructus-Verbindung mit Eigennamen als nomen rectum fehlt (entsprechend mit Dativ in V.22,24,…,42). Entsprechendes gilt für die Einfügung einer Präposition bei der Wiedergabe der Constructus-Verbindung ‫ יצא צבא‬mit ὁ ἐκπορευόμενος ἐν τῇ δυνάμει. Interessant unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Wiedergabe von ‫ לבית אבתם‬durch κατ’ οἴκους πατριῶν αὐτῶν (V.20,22,…,42). Hier hat der Übersetzer als Numerus des Wortes οἶκος den Plural gewählt, um den Sinn des Ausgangstextes korrekt wiederzugeben, die syntaktische Struktur des Zieltextes bildet also eine angemessene Entsprechung zu der im Ausgangstext verwendeten Struktur. Darüber hinaus hat der Übersetzer einige wenige Stiläquivalenzen implementiert. Beispielsweise wurde das hebräische Idiom ‫( בן עשרים שנה ומעלה‬V.20, 22,…,42,45) aufgelöst und mit ἀπὸ εἰκοσαετοῦς καὶ ἐπάνω wiedergegeben. Eine wörtliche Übersetzung der Formulierung „Sohn von zwanzig Jahren“, die im Hebräischen natürlich wirkt, im Griechischen dagegen nicht, ist vermieden worden. Auch die Wiedergabe von ‫ ו‬durch δέ, durch die der Abschluss einer Texteinheit markiert wird (V.47), geht über den Bereich der Wortbedeutungen und der Satzstrukturen hinaus. Die Verwendung der Partikel δέ als Konnektor entspricht griechischem Stilempfinden und stellt eine Äquivalenz zur Verwendung von ‫ ו‬im Hebräischen dar.

65 Ohnehin wäre die einzig denkbare Möglichkeit, bei der Wortäquivalenz nicht vorläge, eine Transkription, im Fall der Septuagintaschriften also eine Wiedergabe des hebräischen Textes mit griechischen Buchstaben wie etwa in der zweiten Spalte der Hexapla.

100 | 3 Numeri 1,20–47: Geordnete Aufzählung Auf der anderen Seite spricht die enge Anlehnung an die Form des Ausgangstextes gegen Stiläquivalenz. Wenn beispielsweise in V.22,24,…,40 ‫ לבני‬durch den dativus respectus τοῖς υἱοῖς wiedergegeben wird, so entspricht das trotz syntaktischer Korrektheit eher hebräischem als griechischem Stilempfinden. Der Übersetzer hat also Stiläquivalenz nur ansatzweise realisiert. Ein einzelnes Element von Textäquivalenz liegt in V.47 vor. Dort ist der Referent des Suffixes der dritten Person Plural durch die Wiedergabe ἐν τοῖς υἱοῖς Ἰσραήλ explizit gemacht worden, um den Lesern das Verständnis zu erleichtern. Hier handelt es sich jedoch um einen Einzelfall, der sich nicht als Beleg für Textäquivalenz in einem umfassenden Sinne auswerten lässt. Somit liegen Wort- und Strukturäquivalenz sowie eine Tendenz zu Stiläquivalenz vor. Der griechische Text ist als wortgetreue Übersetzung zu charakterisieren, geht allerdings über eine solche hinaus, indem er zusätzlich Elemente einer philologischen Übersetzung aufweist.

3.5 Skopos Der Skopos des übersetzten Textes kann nach den obigen Überlegungen wie folgt formuliert werden: Die Leser sollten, wie schon beim Ausgangstext, in erster Linie informiert werden, und zwar über die Zählung der Stämme Israels in der Wüste und über deren Ergebnis. Dabei war es dem Übersetzer wichtig, Details des Berichteten zu verdeutlichen. Vielleicht hatte auch die Betonung, dass es sich bei den israelitischen Stämmen um ein einziges Heer und nicht um mehrere handelte (σὺν δυνάμει αὐτῶν, V.45), den Sinn, die jüdische Gemeinschaft der Diaspora als Einheit zu bezeichnen und damit ihre Identität und ihr Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. Die Neuordnung der Stammesliste knüpft an die alte Tradition aus dem Genesisbuch an. Israels Stämme werden in einer Reihenfolge präsentiert, die im wesentlichen der Reihenfolge in der Genesis entspricht. Somit wird die Zählung in der Vätertradition verortet und nicht zuerst in der Tradition der Wüstenzeit. Die Herkunft der Stämme Israels und damit auch die der jüdisch-hellenistischen Leser wird dadurch auf den Stammvater Jakob zurückgeführt. Gleichzeitig wird der Text für die Situation der griechischsprachigen Leser aktualisiert. In der Übersetzung wird zur Bezeichnung der ‫ משפחות‬der Fachterminus δῆμος verwendet, der in griechischen Städten die soziologische Einheit der „Volksgruppe“ bezeichnete. Der übersetzte Text ist für die neuen Leser in ihrer Lebenswirklichkeit relevant, auch wenn dabei kein Appell ausgesprochen wird. Auch stellt diese Aktualisierung keine Kontextualisierung im engeren Sinne dar, die den Anspruch hat, möglichst viele Elemente der Ausgangskultur in die Ziel-

3.5 Skopos

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kultur zu transportieren. Vielmehr bleibt die Übersetzung, auch wenn sie für ihre wahrscheinlich in Alexandria beheimateten Leser relevant sein soll, ein fremder Text, auf dessen Gedankenwelt sich die Rezipienten einlassen müssen.

4 Numeri 6,22–27: Der segnende Gott 4.1 Übersetzung 22

Und der Herr sprach zu Mose: 23 „Sprich zu Aaron und seinen Söhnen: Folgendermaßen sollt ihr die Söhne Israels segnen, indem ihr zu ihnen sagt 24 (und ihr sollt meinen Namen auf die Söhne Israels legen, und ich selbst, der Herr, werde sie segnen): 25

Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht auf dich scheinen und erbarme sich über dich. 27 Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.“ 26

4.2 Kommentar 4.2.1 Die Anweisung an die Priester (V.22–24) Die Übersetzung dieses Abschnitts orientiert sich meist am Wortlaut und an der Wortreihenfolge der Vorlage. Ein besonderes Problem stellt V.24 dar. Dieser Vers, der V.27 𝔐 entspricht, erscheint im griechischen Text vor der Formulierung des Segensspruchs anstatt dahinter.

Vers 22 καὶ ἐλάλησεν κύριος πρὸς Μωυσῆν λέγων / ‫וידבר יהוה אל־משה לאמר‬ Das Partizip λέγων als Wiedergabe von ‫ לאמר‬findet sich im Pentateuch in der überwiegenden Zahl der Fälle.1 Auch in volkstümlichen Erzähltexten der Koine ist die pleonastische Verwendung von λέγων recht häufig,2 das Phänomen ist also eher unauffällig.

1 Aejmelaeus, „Participium coniunctum“, 3. 2 von Siebenthal, Griechische Grammatik, § 239.

4.2 Kommentar

| 103

Vers 23 λάλησον Ἀαρὼν καὶ τοῖς υἱοῖς αὐτοῦ λέγων / ‫ דבר אל־אהרן ואל־בניו לאמר‬Der fehlende Artikel vor dem Eigennamen Ἀαρὼν erscheint auf den ersten Blick erklärungsbedürftig. Denn erstens kann der Name Aaron als bekannt vorausgesetzt werden und sollte deshalb, wie es im Griechischen meist der Fall ist,3 mit Artikel stehen. Zweitens wäre zu erwarten, dass die Präposition ‫ אל‬bei einer in syntaktischer Hinsicht formerhaltenden Übersetzung, als die das griechische Numeribuch gilt,4 als quantitatives Gegenstück den Artikel evoziert. Das Fehlen des Artikels ist jedoch unauffällig, da im Pentateuch die Verwendung des Artikels in Verbindung mit dem Verb λαλέω ohnehin nicht einheitlich ist. So findet man für den Satz ‫דבר‬ ‫ אל־אהרן‬drei verschiedene Arten der Übersetzung, und zwar λάλησον Ἀαρών (Lev 6,18), λάλησον πρὸς Ἀαρών (Lev 16,2) und λάλησον τῷ Ἀαρών (Num 8,2). Dem fehlenden Artikel kann demnach keine besondere Bedeutung beigemessen werden. Allerdings ist der Artikel τῷ durch die griechische Inschrift auf einer Marmortafel bezeugt, die in einer samaritanischen Synagoge aus dem 4. Jh. n. Chr. in Thessaloniki entdeckt wurde.5 Hier handelt es sich offensichtlich um eine rezensionelle Lesart, die entstand, um für die Präposition ‫ אל‬eine quantitative Entsprechung zu produzieren.6 Dagegen ist der Artikel in dem Ausdruck τοῖς υἱοῖς αὐτοῦ (als Wiedergabe von ‫ )אל־בניו‬nicht als quantitatives Gegenstück der Präposition ‫ אל‬zu betrachten. Er ist vielmehr durch die Determination im Hebräischen motiviert, die dort bei Vorhandensein eines Pronominalsuffixes nicht morphologisch markiert wird. Wenn der Übersetzer den Artikel als direkte Entsprechung zu ‫ אל‬verwendet hätte, dann wäre auch ein Artikel vor dem Eigennamen Ἀαρών zu erwarten gewesen. οὕτως εὐλογήσετε τοὺς υἱοὺς Ἰσραήλ / ‫ כה תברכו את־בני ישראל‬Die hebräische yiqtol-Form ‫ תברכו‬wurde im Griechischen als Indikativ Futur (εὐλογήσετε) wiedergegeben, was dem Standardvorgehen des Übersetzers entspricht.7 Wie im Ausgangstext ist im griechischen Text eine voluntative Bedeutung („ihr sollt segnen“) anzunehmen.8

3 Ebd., § 134a. 4 Dorival, Les Nombres, 64–65. 5 Baruch Lifshitz und Jacob Schiby, „Une synagogue samaritaine à Thessalonique“, in: RB 75 (1968), 368–378; Emanuel Tov, „Une inscription grecque d’origine samaritaine trouvée à Thessalonique“, in: RB 81 (1974), 394–399. 6 Tov, „Une inscription grecque“, 397. 7 Voitila, „The Translator of the Greek Numbers“, 115. 8 von Siebenthal, Griechische Grammatik, § 202b; vgl. Eduard Bornemann und Ernst Risch, Griechische Grammatik, 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Diesterweg, 1978, § 216, Anm. 3.

104 | 4 Numeri 6,22–27: Der segnende Gott λέγοντες αὐτοῖς / ‫ אמור להם‬Im hebräischen Text wäre statt des infinitivus absolutus ‫אמור‬, der in vergleichbaren Kontexten sonst nicht vorkommt, eher der Ausdruck ‫ לאמר‬zu erwarten. Die Bedeutung des infinitivus absolutus ist allerdings derselbe, daher bot sich eine Wiedergabe als voluntativ-imperativisch zu verstehendes Partizip („indem ihr sagt“) an.9

Vers 24 (𝔐: 27) Dieser Vers befindet sich im hebräischen Text hinter dem Segensspruch und bildet damit den Abschluss der Perikope. Im griechischen Text dagegen erscheint er vor dem Segensspruch, ist also Teil der Redeeinleitung. Es ist vermutet worden, dass der griechische Text schon früh in Unordnung geraten sei. Begründet wurde dies mit der Annahme, dass der Ausdruck λέγοντες αὐτοῖς am Ende von V.23 direkt zum Segensspruch überleiten müsse, da sonst der Text inkohärent sei.10 Dagegen lässt sich einwenden, dass der Text auch in der Septuagintafassung einen guten Sinn ergibt: Hier bildet V.24 zwar eine Parenthese und damit eine Unterbrechung zwischen der Redeeinleitung (λέγοντες αὐτοῖς, V.23) und der eigentlichen Rede (V.25–27), anderseits bestehen inhaltliche Berührungspunkte zwischen V.24 und V.23, die durchaus für Kohärenz sorgen.11 Denn die Aufforderung zum Segnen (V.23) wird sofort mit der Segenszusage Gottes (V.24) verbunden. Außerdem sind die beiden Verse durch das Schlüsselwort εὐλογέω und den Ausdruck τοὺς υἱοὺς Ἰσραήλ bzw. ἐπὶ τοὺς υἱοὺς Ἰσραήλ miteinander verknüpft. Die Vermutung, die Anordnung des griechischen Textes sei versehentlich entstanden, ist also nicht überzeugend. Es ist nun zu fragen, ob die Anordnung des griechischen Textes auf der Intention des Übersetzers oder auf der von ihm verwendeten hebräischen Vorlage beruht. Wie schon bei der Anordnung der Stammesliste in Num 112 lässt sich das Kriterium der vorläufig ermittelten Übersetzungstechnik13 anwenden. Das griechische Numeribuch gilt als „relativ frei“ in lexikalischer Hinsicht.14 Der Befund der

9 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 105. Die Inschrift aus der Synagoge in Thessaloniki bietet stattdessen die Lesart εἴπατε, die möglicherweise auf einer Vorlage mit ‫ אמרו‬beruht; siehe Tov, „Une inscription grecque“, 397. 10 Henry Barclay Swete, An Introduction to the Old Testament in Greek, Cambridge: University Press, 1902, 236; Dorival, Les Nombres, 251. 11 Vgl. Michael Fishbane, „Form and Reformulation of the Biblical Priestly Blessing“, in: JAOS 103 (1983), 115–121, 115. 12 Siehe Seite 90 zu Num 1,36–37. 13 Vgl. Abschnitt 2.1.6.2. 14 Dorival, Les Nombres, 64–65.

4.2 Kommentar

| 105

genau spezifizierten Wortwahl lässt darauf schließen, dass der Übersetzer das Anliegen hatte, bestimmte inhaltliche Aspekte des Textes deutlich werden zu lassen. Eine leichte Modifikation der Textanordnung passt genau in dieses Bild.15 Die Anordnung des griechischen Textes ist durchaus kohärent, es werden zunächst die Rahmenbedingungen des Segnens genannt, bevor der eigentliche Segensspruch formuliert wird.16 Hinzu kommt die Tatsache, dass keine unabhängigen hebräischen Textzeugen für die Anordnung des griechischen Textes vorliegen.17 Es ist also plausibel, dass der Übersetzer eine Vorlage des protomasoretischen Typs verwendet und deren Textanordnung absichtsvoll modifiziert hat. καὶ ἐπιθήσουσιν τὸ ὄνομά μου ἐπὶ τοὺς υἱοὺς Ἰσραήλ / ‫ושמו את־שמי על־בני‬ ‫ ישראל‬Die weqatal-Form des Verbs wird als Indikativ Futur mit imperativischvoluntativer Bedeutung wiedergegeben. Dieselbe Zeitform wurde bereits bei der Übersetzung der yiqtol-Form ‫ תברכו‬in V.23 angewandt.18 Beides entspricht dem Standardvorgehen des Numeri-Übersetzers und veranschaulicht die in syntaktischer Hinsicht formerhaltende Art der Übersetzung.19 καὶ ἐγὼ κύριος εὐλογήσω αὐτούς / ‫ ואני אברכם‬Auch hier wird die yiqtol-Form des Verbs ‫ ברך‬als Indikativ Futur übersetzt. In diesem Fall liegt eine futurische Bedeutung vor, durch die Gottes Segenszusage ausgedrückt wird. Dies ist ein weiteres Beispiel für das Standardvorgehen des Übersetzers bezüglich der grammatischen Formen. Das Wort κύριος hat keine Entsprechung im hebräischen Text. Durch die explizite Nennung des Gottesnamens in der griechischen Fassung wird Gott selbst als derjenige genannt, der den Segen bewirkt.20 Schon im hebräischen Text wird durch das emphatische ‫ ואני‬Gott als der Urheber des Segens herausgestellt.21 Die-

15 Die Umstellung eines einzelnen Verses ist deutlich abzugrenzen von der Variation in der Anordnung ganzer Perikopen, wie sie beispielsweise im Jeremiabuch vorkommt. Damit würde die Frage nach der Überlieferungssituation des Buches neu gestellt; vgl. Abschnitt 2.1.6.1. 16 Entsprechend kommentiert Ashley, The Book of Numbers, 150–151, zunächst V.22–23.27 𝔐 und anschließend V.24–26 𝔐. 17 Vgl. das in Abschnitt 2.1.6.3 genannte Kriterium. 18 Siehe Seite 103. 19 Voitila, „The Translator of the Greek Numbers“, 115. 20 Vgl. Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 453–454. Zum Gebrauch von κύριος als Gottesname vgl. Martin Rösel, Adonaj – Warum Gott Herr“ genannt wird, FAT 29, Tübingen: Mohr Siebeck, ” 2000, 5–7. 21 Jacob Milgrom, Numbers, The JPS Torah Commentary, Philadelphia: The Jewish Publication Society, 1990, 53; vgl. auch Fishbane, „Form and Reformulation of the Biblical Priestly Blessing“, 115.

106 | 4 Numeri 6,22–27: Der segnende Gott se Aussage wird im griechischen Text verstärkt. Betont wird dadurch, dass es Gott selbst ist, der wirkt, wenn die Priester das Volk segnen. Wie schon bei der Versumstellung in diesem Abschnitt22 handelt es sich bei der Einfügung des Gottesnamens um eine inhaltliche Pointierung, die gut auf den Übersetzer zurückgeführt werden kann. Bevor der tatsächliche Wortlaut des Segensspruchs formuliert wird, werden die Rahmenbedingungen vorgegeben: Wenn die Priester das Volk segnen, sollen sie die vorgegebene Formulierung verwenden; wenn sie dies tun, wird der Segen wirksam, und zwar durch Gott selbst, dessen Name ausdrücklich genannt wird. Eine externe Bezeugung für die Lesart der Septuagintafassung existiert nicht. Es ist somit wahrscheinlich, dass es tatsächlich der Übersetzer war, der diesen besonderen Akzent gesetzt hat.

4.2.2 Der Segensspruch (V.25–27) Die folgenden drei Verse sind im Ausgangstext poetisch strukturiert, wobei sich die Verslänge von drei über fünf bis zu sieben Wörtern steigert. Das kontinuierliche Wachstum der Verslänge ist als Bild für den Segensstrom interpretiert worden, der vom Priester zur Gemeinde fließt.23 Diese Struktur konnte in der Übersetzung nicht exakt nachgebildet werden. Denn das Griechische benötigt schon deshalb mehr Wörter, weil Objekt- und Pronominalsuffixe sowie die Konjunktion ‫ ו‬auf eigene Wörter abgebildet werden müssen, so dass die drei Verse des griechischen Textes sechs, zehn und elf Wörter enthalten. Auch im griechischen Text wächst die Länge der Verse, doch ist die Gleichmäßigkeit des Wachstums verlorengegangen. Die Übersetzung ist insofern formerhaltend, als die Wortreihenfolge des hebräischen Textes in der Übersetzung exakt beibehalten wurde.

Vers 25 (𝔐: 24) εὐλογήσαι σε κύριος καὶ φυλάξαι σε / ‫יברכך יהוה וישמרך‬ Die Jussiv-Formen der hebräischen Verben sind hier wie in den folgenden beiden Versen als Optative wiedergegeben worden. Der Optativ als Modus des Wunsches wird regulär in den Septuagintaschriften verwendet, wie es schon im klassischen Griechisch der

22 Vgl. Seite 104 zu V.24. 23 Dennis T. Olson, Numbers, Louisville: Westminster John Knox Press, 1996, 41; ähnlich Ashley, The Book of Numbers, 151.

4.2 Kommentar

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Fall war.24 Dagegen bietet die Inschrift in der Synagoge von Thessaloniki statt des Optativs jeweils den Indikativ Futur. Bei diesen Lesarten wird es sich um rezensionelle Angleichungen an die Form des hebräischen Textes handeln.25 Der voluntative Charakter des Segensspruchs wird durch den Indikativ nicht eindeutig ausgedrückt. Die Varianten der Inschrift veranschaulichen somit die inhaltliche Präzision der ursprünglichen Übersetzung.

Vers 26 (𝔐: 25) ἐπιφάναι κύριος τὸ πρόσωπον αὐτοῦ ἐπὶ σὲ καὶ ἐλεήσαι σε / ‫יאר יהוה פניו אליך‬ ‫ויחנך‬ Das hebräische Verb ‫ אור‬im Hif‘il hat die Bedeutung „leuchten las26 sen“. Das griechische Verb ἐπιφαίνω dagegen hat die Bedeutung „zeigen“ bzw. im Passiv „erscheinen“.27 Tatsächlich wird ἐπιφαίνω in den Septuagintaschriften in der Mehrzahl der Fälle zur Wiedergabe des Verbs ‫( אור‬Hif‘il) verwendet,28 wobei allerdings eine Beeinflussung durch Num 6,26 wahrscheinlich ist (z. B. Ps 67,2; 79,4.8.20). Die Bedeutung des „Leuchtens“, die im griechischen Text zu erwarten wäre, liegt eher bei dem Simplex φαίνω vor,29 und tatsächlich wird dieses im Pentateuch zur Wiedergabe des Kausativstammes von ‫ אור‬verwendet, wenn vom Scheinen der Gestirne oder vom Leuchten einer Lampe die Rede ist (Gen 1,15.17; Ex 25,37). Im hebräischen Text von Num 6,26 geht es jedoch nicht um ein Leuchten, sondern um die Veranlassung eines Leuchtens, wobei das Akkusativobjekt ‫( פניו‬metaphorisch) auf den Agens des „Leuchtens“ verweist. Beim Verb ‫ אור‬im Hif‘il-Stamm mit der Bedeutung „leuchten lassen“ liegt also (im Gegensatz zu ‫ אור‬im Hif‘il mit der Bedeutung „leuchten“) nicht nur ein kausativer (grammatischer) Aspekt vor, sondern auch eine kausative (lexikalische) Aktionsart.30 Diese

24 Thackeray, A Grammar of the Old Testament in Greek, 193; Conybeare und Stock, Grammar of Septuagint Greek, § 75. 25 Tov, „Une inscription grecque“, 397. Dabei muss wohl vorausgesetzt werden, dass die hebräischen Kurzformen ‫( יאר‬V.26) und ‫( ישם‬V.27) als ‫ יאיר‬und ‫ ישים‬gelesen wurden oder in dieser Form bereits in der Vorlage vorhanden waren; vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 106. 26 Wilhelm Gesenius, Rudolf Meyer und Herbert Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, 18. Aufl., Berlin, Heidelberg und New York: Springer, 2013, s.v. 27 Henry G. Liddell, Robert Scott und Henry S. Jones, A Greek-English Lexicon, 9. Aufl., Oxford: Clarendon, 1951, s.v. 28 Hatch und Redpath, A Concordance to the Septuagint, s.v. 29 Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v., A.II. 30 Zum grundsätzlichen Unterschied zwischen Aspekt und Aktionsart siehe Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, 59–61; vgl. von Siebenthal, Griechische Grammatik, § 192d, 194m.

108 | 4 Numeri 6,22–27: Der segnende Gott spezielle Bedeutung hat der Übersetzer mit Hilfe des Präfixes ἐπι- von der intransitiven Verwendung des Verbs ‫ אור‬im Kausativstamm („leuchten“) abgegrenzt.31 Der Übersetzer hat das griechische Verb ἐπιφαίνω entgegen seiner regulären Bedeutung verwendet, um die Bedeutung des hebräischen Verbs auszudrücken. Dabei wird er von φαίνω ausgegangen sein, das im Genesis- und im Exodusbuch als Wiedergabe von ‫( אור‬Hif‘il) verwendet wurde. Dieses hat er auf der Textoberfläche durch das Präfix ἐπι- modifiziert und dadurch eine neue Bedeutung des schon vorhandenen Verbs ἐπιφαίνω geprägt. Im Griechischen muss die Determination von πρόσωπον durch den Artikel angezeigt werden,32 während im Hebräischen die Determination von Substantiven mit Pronominalsuffix nicht auf der Textoberfläche markiert wird. Die Wahl der Präposition ἐπί, die sonst eher eine Entsprechung zu ‫ על‬und nicht zu ‫ אל‬darstellt,33 ist wahrscheinlich durch das Kompositum ἐπιφαίνω veranlasst.34 Die Wiedergabe πρός in der Inschrift von Thessaloniki kann als wörtliche Entsprechung von ‫אל‬, der Lesart von 𝔐, gelten, stellt also eine rezensionelle Angleichung dar. Die Wiedergabe von ‫ חנן‬mit ἐλεέω ist in den Schriften der Septuaginta durchgehend zu beobachten (z. B. Gen 43,29; Ex 33,19). Aufgrund der Häufigkeit wird es sich bei ἐλεέω um ein Standardäquivalent für ‫ חנן‬handeln.35

Vers 27 (𝔐: 26) ἐπάραι κύριος τὸ πρόσωπον αὐτοῦ ἐπὶ σὲ καὶ δῴη σοι εἰρήνην / ‫ישא יהוה פניו‬ ‫ אליך וישם לך שלום‬Während in V.24 ‫ שים‬mit ἐπιτίθημι wiedergegeben wurde, hat der Übersetzer hier δίδωμι gewählt. Der Grund dafür wird in der Art des Akkusativobjekts zu finden sein. In V.24 handelte es sich um τὸ ὄνομα, dort wurde

31 Das Präfix ἐπι- findet keine Beachtung bei Emanuel Tov, „The Representation of the Causative Aspects of the Hiph‘il in the LXX: A Study in Translation Technique“, in: Bib 63 (1982), 417–424, was darauf zurückzuführen ist, dass dort nicht zwischen Aspekt und Aktionsart unterschieden wird. 32 Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 148.3. 33 Dorival, Les Nombres, 253. 34 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 106. 35 Eine auf Hatch und Redpath, A Concordance to the Septuagint, s.v. ἐλεέω, s.v. ‫חנן‬, basierende Zählung ergibt, dass bei 60 Vorkommen des hebräischen Wortes 43 Mal das griechische Äquivalent Verwendung findet. Aufgrund der veralteten Textbasis können Statistiken, die auf dieser Konkordanz beruhen, problematisch sein; in diesem Fall ist die Tendenz jedoch deutlich. Vgl. zur Problematik Staffan Olofsson, The LXX Version. A Guide to the Translation Technique of the Septuagint, CB.OTS 30, Uppsala: Alm‑qvist & Wiksell, 1990, 76–77.

4.3 Texttyp

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metaphorisch ausgedrückt, dass die Priester den Namen Gottes auf die Israeliten „legen“. Hier dagegen lautet das Objekt εἰρήνην, daher erschien dem Übersetzer ein Verb aus dem Wortfeld „geben“ passender.36 Der Sinn des Satzes wurde durch die Wahl des griechischen Verbs treffend wiedergegeben. εἰρήνη wird als Standardäquivalent von ‫ שלום‬verwendet.37 Das Bedeutungsspektrum des griechischen Wortes ist nicht so umfassend wie das des hebräischen, es fehlt die Nuance des Wohlergehens und Glücks.38 Ob das Wort εἰρήνη bereits derart als Standardäquivalent etabliert war, dass Bedeutungsnuancen seines Äquivalents ‫ שלום‬für die Leser und Hörer des griechischen Textes präsent waren,39 lässt sich nicht sagen. Wie bereits in V.26 lässt sich die Wiedergabe von ‫ אל‬mit ἐπί mit dem gleichlautenden Präfix des Verbs ἐπαίρω erklären. Auch hier bietet die Inschrift aus Thessaloniki die rezensionelle Lesart πρός. Die grammatisch notwendige Determination von πρόσωπον durch den Artikel, die über den hebräischen Wortlaut hinausgeht, liegt ebenfalls bereits in V.26 vor.

4.3 Texttyp Der hebräische Ausgangstext ist als expressiver Text mit operativem Rahmen zu charakterisieren. In den rahmenden Versen (V.22.23.27 𝔐) werden Anweisungen für die Priester gegeben, die im Kult ausgeführt werden sollen. Der Kern des Abschnitts besteht in der eigentlichen Segensformel, die dem expressiven Texttyp zuzuordnen ist. Die Übersetzung hat etwas von dem expressiven Charakter des Ausgangstextes verloren. Was im Hebräischen ein Hauptmerkmal von poetischen Texten darstellt, nämlich der Parallelismus membrorum,40 ist einerseits auch in der Über-

36 Siehe z. B. Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. δίδωμι, I.2 mit νίκη als Gabe der Götter. 37 Johan Lust, Erik Eynikel und Katrin Hauspie, Greek-English Lexicon of the Septuagint, 2. Aufl., Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2003, s.v. εἰρήνη. 38 Siehe Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. εἰρήνη; Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫שלום‬. 39 So muss es bei 2Kgt 11,7 (καὶ ἐπηρώτησεν Δαυὶδ … εἰς εἰρήνην τοῦ πολέμου) der Fall gewesen sein, damit dem Satz überhaupt ein Sinn abgewonnen werden konnte; vgl. Rajak, Translation and Survival, 128. 40 Vgl. Jan P. Fokkelman, Reading Biblical Poetry. An Introductory Guide, Louisville: Westminster John Knox Press, 2001, 61.

110 | 4 Numeri 6,22–27: Der segnende Gott setzung der Segensformel vorhanden. Andererseits lässt sich der Text aus griechischem Blickwinkel nicht als poetisch im eigentlichen Sinne charakterisieren, da in der Übersetzung kein metrischer Rhythmus41 zu erkennen ist. Dieser Verzicht auf Metrik ist vor allem der grundsätzlich wörtlichen Art der Übersetzung geschuldet. Der Übersetzer hatte nicht den Anspruch, Poesie zu erzeugen, sondern seinen Ausgangstext unter Anlehnung an die Form des Hebräischen wiederzugeben. Andererseits hat der Übersetzer die Metaphorik des Ausgangstextes erhalten, da nach wie vor davon gesprochen wird, dass Gott „sein Angesicht leuchten lassen“ (V.26) und auf die Israeliten „erheben“ (V.27) möge. Wenn man davon ausgeht, dass der Parallelismus, obgleich kein griechisches Stilmittel, von hellenistischen Juden als solcher wahrgenommen und mit hebräischer Poesie in Verbindung gebracht wurde, dann lässt sich die Segensformel auch in der Übersetzung grundsätzlich als expressiver Text charakterisieren. Was jedoch die Wirkung auf die Rezipienten betrifft, so ist einzuräumen, dass die übersetzte Segensformel wohl nicht dasselbe Maß an Expressivität erreichte wie der Ausgangstext. Durch die Umstellung eines Verses, die wahrscheinlich auf den Übersetzer zurückzuführen ist, hat sich der Schwerpunkt des Textes etwas verschoben, und zwar von der Segensformel in Richtung auf die einleitenden Anweisungen (V.22–23) und die Segenszusicherung (V.24). Diese beiden im Ausgangstext noch getrennt dargestellten Elemente werden jetzt zusammen formuliert und sind dadurch inhaltlich stärker miteinander verbunden, als das in der hebräischen Fassung der Fall war. In der Übersetzung werden noch vor der Formulierung des Segensspruchs die Bedingung für den Segen und die damit verbundene Zusage genannt: Die Priester sollen in der angegebenen Art und Weise Gottes Namen auf die Israeliten legen; wenn sie das tun, wird Gott die Israeliten tatsächlich segnen. Diese Aussage wird dadurch verstärkt, dass in V.24 über den Ausgangstext hinaus der Gottesname κύριος genannt wird. Dadurch wird betont, dass Gott selbst es ist, der den Segen spendet, und dass der priesterliche Dienst tatsächlich wirksam ist. In der Übersetzung wird folglich mehr Wert auf die konkrete Umsetzung und auf die Motivation der Rezipienten gelegt, als das im Ausgangstext der Fall war. Der griechische Text zeigt somit eine Tendenz zum operativen Texttyp.

4.4 Äquivalenz Neben Wortäquivalenz liegt in der Übersetzung Strukturäquivalenz vor. Der griechische Text ist syntaktisch korrekt, der Übersetzer hat bezüglich der Grammatik

41 Vgl. Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 316–320.

4.5 Skopos

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griechische Äquivalente für die hebräischen Sprachstrukturen gewählt. Als Beispiel mag die Einfügung des Artikels vor Substantiven dienen, die im Hebräischen aufgrund eines Pronominalsuffixes determiniert sind, ohne dass dies morphologisch markiert wird. So wird der Ausdruck ‫ ואל־בניו‬mit καὶ τοῖς υἱοῖς αὐτοῦ wiedergegeben (V.23) und ganz entsprechend ‫ פניו‬mit τὸ πρόσωπον αὐτοῦ (V.26.27). Auch bei der Wiedergabe des Jussivs durch einen Optativ als Modus des Wunsches hat der Übersetzer eine äquivalente Struktur der Zielsprache gewählt. Stiläquivalenz lässt sich dagegen nicht feststellen. Von speziellen Elementen griechischen Stils als Entsprechungen bestimmter hebräischer Stilmittel wurde kein Gebrauch gemacht. Das wird besonders an der wörtlichen Übersetzung des poetischen Teils (V.25–27) deutlich, bei der auf einen metrischen Rhythmus als mögliche Entsprechung des hebräischen Parallelismus membrorum verzichtet wurde. Das ist allerdings durch die unterschiedlichen Strukturen von Ausgangsund Zielsprache veranlasst. Hätte sich der Übersetzer für einen metrischen Rhythmus entsprechend den stilistischen Eigenschaften griechischer Poesie entschieden, so hätte der Text vermutlich massiv umformuliert werden müssen, was beispielsweise einen Einfluss auf die Wortwahl gehabt hätte. Der Übersetzer hat sich dagegen für eine inhaltlich präzise Wiedergabe entschieden und auf Elemente griechischer Poesie verzichtet. Auch die konsequente Beibehaltung der Wortreihenfolge spricht dafür, dass Stiläquivalenz nicht angestrebt wurde. Es liegt somit lediglich eine wortgetreue Übersetzung vor, die Wort- und Strukturäquivalenz, aber keine Stiläquivalenz aufweist. Die Umstellung der Segenszusicherung vom Ende des Abschnitts an eine Position direkt vor dem Wortlaut der Segensformel (V.24) hat eigene kommunikative Absichten und stellt einen radikalen Bruch mit der grundsätzlich wörtlichen Übersetzungsweise dieses Abschnitts dar.

4.5 Skopos Der Texttyp der Übersetzung weist eine Tendenz in Richtung des operativen Typs auf. Diese Beobachtung lässt die Schlussfolgerung zu, dass der Übersetzer ein Interesse an der praktischen Umsetzung des Textes hatte. In den Synagogengemeinden der alexandrinischen Diaspora42 hatte dieser Text offenbar eine besondere Bedeutung für die kultische Praxis. Im Gegensatz zum Jerusalemer Tempelkult musste der Synagogengottesdienst in der Diaspora ohne Opfer auskommen.

42 Für eine Verortung der Übersetzung in Alexandria spricht die Verwendung des Wortes δῆμος in Num 1,20 u. ö.; vgl. dazu Seite 86.

112 | 4 Numeri 6,22–27: Der segnende Gott Unter dieser Voraussetzung erhielten andere gottesdienstliche Elemente natürlicherweise einen höheren Stellenwert. Zu diesen jetzt stärker im Blickpunkt des Interesses stehenden Elementen des Synagogengottesdienstes wird der Aaronitische Segen zu zählen sein. In der Übersetzung wird stärker als im Ausgangstext betont, dass Gott selbst es ist, der die Israeliten segnet. Die Segenszusicherung erfolgt bereits vor dem Wortlaut der Segensformel und ist stärker mit den einleitenden Anweisungen verbunden. Noch bevor die Segensformel selbst zitiert wird, wird also betont, dass Gott tatsächlich segnet. Damit leitet der übersetzte Text die Rezipienten an, auf die Macht des gesprochenen Segenswortes zu vertrauen und den Segen von Gott selbst zu erwarten.

5 Numeri 10,33–36: Die Bundeslade und die Wolke 5.1 Übersetzung 33

Und sie brachen auf vom Berg des Herrn, einen Weg von drei Tagen, und die Bundeslade des Herrn ging vor ihnen her, einen Weg von drei Tagen, um ihnen einen Ruheplatz zu suchen. 34 Und es geschah, als die Lade aufbrach, sagte Mose: „Erhebe dich, Herr. Deine Feinde sollen zerstreut werden; alle, die dich hassen, sollen fliehen.“ 35

Und beim Anhalten sagte er: „Wende dich, Herr, [zu] den Tausenden, den Zehntausenden in Israel.“

36

Und die Wolke überschattete sie tagsüber, wenn sie aus dem Lager aufbrachen.

5.2 Kommentar 5.2.1 Die Bundeslade (V.33–35) Die Gliederung des Kommentarteils dieses Kapitels in einen Abschnitt über die Bundeslade und einen Abschnitt über die Wolke1 ergibt sich aus der Anordnung des griechischen Textes, die sich von der in 𝔐 überlieferten Versanordnung unterscheidet. In 𝔐 wird nach der Bemerkung über die Führung durch die Bundeslade (V.33) zunächst berichtet, dass die Wolke tagsüber über den Israeliten war (V.34 𝔐), anschließend werden die Ladesprüche zitiert (V.35–36 𝔐). Dagegen werden im griechischen Text die Ladesprüche direkt an V.33 angeschlossen (V.34–35 LXX), bevor die Wolke erwähnt wird (V.36 LXX).

1 Siehe Abschnitt 5.2.2 ab Seite 122.

114 | 5 Numeri 10,33–36: Die Bundeslade und die Wolke Nach Emanuel Tov spricht vieles dafür, dass die Versanordnung des griechischen Textes nicht auf der Arbeit des Übersetzers, sondern bereits auf einer entsprechenden hebräischen Vorlage beruht. Die Ladesprüche seien erst sekundär in den aktuellen Kontext eingefügt worden, und die Tatsache, dass die beiden Verse an zwei verschiedenen Stellen bezeugt sind, deute darauf hin, dass beide Fassungen zu einer Zeit entstanden, in der die Position der Ladesprüche im Kontext noch nicht festgelegt war.2 Als unterstützendes Argument dafür wurde geltend gemacht, dass sich in den hebräischen Manuskripten vor und hinter den beiden Versen jeweils ein sogenanntes Nun inversum befindet. Dieses Zeichen sei aus dem Antisigma der Alexandrinischen Tradition entstanden, das zusammen mit einem Sigma darauf hinwies, dass der so eingeklammerte Text als zweifelhaft betrachtet wurde.3 Das Nun inversum kann allerdings auch anders erklärt werden, und zwar als Abkürzung für ‫„( נקוד‬gepunktet“). Tatsächlich erwähnt der Kommentar Sifre 84 zum Numeribuch, dass vor und hinter den beiden Versen Punkte gesetzt seien.4 Diese Punkte deuten wahrscheinlich an, dass Unsicherheit über die Zugehörigkeit der so markierten Stelle zu ihrem aktuellen Kontext bestand. Auch an anderen Stellen in Talmud und Midrasch wird die Vermutung geäußert, dass die Ladesprüche nicht an die Stelle gehören, an der sie in der masoretischen Tradition stehen. Allerdings variieren die Aussagen in den Quellen, sie weisen den beiden Versen entweder einen alternativen Platz im Numeribuch zu (hinter Num 10,21 oder hinter Num 2,17) oder verorten ihren Ursprung in einem eigenen Buch, dem apokryphen Buch von Eldad und Medad.5 Die folgende Unsicherheit kommt hinzu: Außer vor und nach Num 10,34–35 𝔐 befindet sich ein Nun inversum in den Manuskripten an sieben anderen Stellen, und zwar jeweils vor Ps 107,23–28.40 (Codex Petropolitanus: Ps 107,21–26.40).6 Während das Zeichen vor V.40 noch als Hinweis auf eine Fehlplatzierung, in diesem Fall eine versehentliche Vertauschung mit V.39, interpretiert werden kann, lässt sich diese Deutung bei den anderen sechs Stellen in

2 Tov, „Some Sequence Differences“, 155–156. 3 Ebd., 156. 4 Page H. Kelley, Daniel S. Mynatt und Timothy G. Crawford, Die Masora der Biblia Hebraica Stuttgartensia. Einführung und kommentiertes Glossar, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2003, 41. 5 Saul Lieberman, Hellenism in Jewish Palestine, New York und Jerusalem: JTS, 1962, 38–43; zur Diskussion siehe Sid Z. Leiman, „The Inverted Nuns at Numbers 10:35–36 and the Book of Eldad and Medad“, in: JBL 93 (1974), 348–355; Baruch A. Levine, „More on the Inverted Nuns of Num 10:35–36“, in: JBL 95 (1976), 122–124; Kelley, Mynatt und Crawford, Die Masora der Biblia Hebraica Stuttgartensia, 40–42. 6 Vgl. Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, 43.

5.2 Kommentar |

115

Ps 107 nicht plausibel machen.7 Die generelle Bedeutung des Zeichens ist demnach unsicher, denn von den insgesamt neun Vorkommen des Nun inversum können nur drei im Sinne einer fehlerhaften Textanordnung interpretiert werden. Die Verwendung dieser drei Vorkommen ist zudem uneinheitlich. Man findet sie bei zwei Texten, von denen einer (Num 10,35–36) ähnlich wie durch Sigma und Antisigma eingeklammert ist, der andere (Ps 107,40) dagegen nur zu Beginn markiert wird. Letztlich muss die Bedeutung des Nun inversum unsicher bleiben. Was in unserem Zusammenhang entscheidend ist, ist allein die Tatsache, dass der Abschnitt Num 10,35–36 𝔐 gemäß den Aussagen in Talmud und Midrasch von den Rabbinen durch Punkte markiert war, wobei die genaue Bedeutung dieser Markierung ebenfalls unsicher ist. Da sich die wenigen Aussagen in den Quellen, die Mutmaßungen über eine ursprüngliche Position oder die Herkunft des Abschnitts anstellen, widersprechen, lässt sich lediglich festhalten, dass die Markierung durch Nun bzw. durch Punkte Zweifel über die korrekte Platzierung der beiden Verse ausdrückte. Die Vermutung Tovs, dass aufgrund des sekundären Charakters der Ladesprüche ihre Stellung im Text nicht gesichert war, ist ansprechend, aber spekulativ.8 Die Untersuchung der verschiedenen Textanordnungen in Num 1 und Num 6 haben es plausibel erscheinen lassen, dass die von der Septuagintafassung bezeugten Lesarten auf die Intention des Übersetzers zurückgehen.9 Dies wurde damit begründet, dass erstens aufgrund mancher lexikalischer Freiheiten ein inhaltliches Anliegen des Übersetzers anzunehmen ist, und dass zweitens die entsprechenden Lesarten der Septuagintafassung nicht durch hebräische Manuskripte bezeugt sind.10 Die vorliegende Problematik ist damit vergleichbar: Eine externe Bezeugung, die die Textanordnung der Septuagintafassung repräsentiert, liegt nicht vor. Darüber hinaus wird auch an diesem Abschnitt deutlich, dass der Übersetzer ein inhaltliches Anliegen hatte. Das zeigt vor allem die überraschende Wiedergabe von ‫ נסע‬durch προπορεύομαι in V.33, also im direkten Kontext der Ladesprüche, die wahrscheinlich auf Ex 14 verweist.11 Zu diesem Bild passt die Vermutung, dass die Anordnung des griechischen Textes tatsächlich auf den Übersetzer

7 Vgl. Leslie C. Allen, Psalms 101–150, WBC 21, Waco: Word, 1983, 83. 8 Bezüglich der Entstehung des hebräischen Textes von Num 10,33–36 sind auch Vorstellungen geäußert worden, die der von Tov vorgetragenen Vermutung diametral entgegengesetzt sind; siehe z. B. Baruch A. Levine, Numbers 1–20. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 4A, New York: Doubleday, 1993, 317: „A priestly compiler probably inserted vv 33–34 between Num 10:29–32 and the Song of the Ark (vv 35–36).“ 9 Siehe dazu die Ausführungen ab Seite 90 und ab Seite 104. 10 Vgl. die Abschnitte 2.1.6.2 und 2.1.6.3. 11 Siehe Seite 116.

116 | 5 Numeri 10,33–36: Die Bundeslade und die Wolke zurückgeht. In der Fassung von 𝔐 fügen sich die Ladesprüche nicht reibungslos in den Kontext ein. Man würde sie natürlicherweise direkt hinter V.33 vermuten, also dort, wo sie in der Septuagintafassung eingeordnet sind, da auch V.33 von der Bundeslade berichtet.12 In der griechischen Fassung wurde folglich die Kohärenz des Textes durch den direkten Anschluss der Ladesprüche an V.33 verstärkt. Während im hebräischen Text die inhaltliche Folge „Lade – Wolke – Lade“ vorliegt, ist im griechischen Text alles, was zur Thematik der Lade gehört, zusammengefasst worden. Der durch die Versanordnung des griechischen Textes definierte Abschnitt über die Bundeslade (V.33–35) lässt sich insgesamt folgendermaßen charakterisieren: Die Vorlage des Übersetzers entsprach im Wesentlichen dem in dieser Studie vorausgesetzten Referenztext, also dem Konsonantenbestand von 𝔐, wobei in einigen Fällen eine andere Vokalisierung vorausgesetzt werden muss. Gelegentlich lässt der griechische Text auf eine Vorlage schließen, die nicht 𝔐 entsprach. Die Übersetzung orientiert sich im Großen und Ganzen an der Form des hebräischen Ausgangstextes, in einem Fall begegnet allerdings eine recht ungewöhnliche Wortwahl, die sich als Bezug auf einen Text aus dem Exodusbuch deuten lässt.

Vers 33 καὶ ἡ κιβωτὸς τῆς διαθήκης κυρίου προεπορεύετο προτέρα αὐτῶν / ‫וארון ברית־‬ ‫ יהוה נסע לפניהם‬Die von den Masoreten als Partizip vokalisierte Konsonantenfolge ‫ נסע‬hat der Übersetzer entweder ebenfalls als Partizip oder als qatal interpretiert. Die Wiedergabe mit der Imperfektform προεπορεύετο setzt voraus, dass der Aspekt der hebräischen Verbform als durativ oder iterativ interpretiert wurde.13 Auffällig ist die Wahl des Lexems προπορεύομαι, da es nur an dieser Stelle als Wiedergabe von ‫ נסע‬auftritt.14 Zu Beginn dieses Verses hat der Übersetzer ἐξαίρω verwendet, ebenso in V.34.36 (𝔐: 35.34). Eine Erklärung für die singuläre Wiedergabe in V.33 bietet ein Vergleich mit Ex 14,19. Dort wird beschrieben, wie sich der ἄγγελος τοῦ θεοῦ und der στῦλος τῆς νεφέλης am Schilfmeer zwischen die Israeliten und die Ägypter stellen. Der Aufbruch dieser beiden Manifestationen wird dort im hebräischen Text mit dem Verb ‫ נסע‬beschrieben, in der Übersetzung wird dieses Verb regulär mit dem Lexem ἐξαίρω wiedergegeben. Für die

12 Tov, „Some Sequence Differences“, 155; ähnlich schon Noth, Das vierte Buch Mose, 71. 13 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 157. 14 Hatch und Redpath, A Concordance to the Septuagint, s.v. προπορεύομαι.

5.2 Kommentar |

117

Diskussion der Wiedergabe in Num 10,33 ist nun interessant, dass in Ex 14,19 der ἄγγελος τοῦ θεοῦ durch den Relativsatz ὁ προπορευόμενος τῆς παρεμβολῆς τῶν υἱῶν Ἰσραήλ charakterisiert wird. Auch wenn es dort nicht das Verb ‫ נסע‬ist, das mit προπορεύομαι wiedergegeben wird, sondern ‫)ההלך לפני מחנה ישראל( הלך‬, so ist doch ein Bezug von Num 10,33 auf diesen Text wahrscheinlich. Denn das griechische Verb kommt in Ex 14 und in Num 10 in vergleichbaren Kontexten vor. In beiden Texten sind die Israeliten unterwegs durch die Wüste, wobei ihnen Manifestationen Gottes den Weg weisen, und zwar in Ex 14 der „Engel“15 und die Wolkensäule und in Num 10 die Bundeslade und die Wolke (siehe Tabelle 5.1). Tab. 5.1. Manifestationen Gottes in Ex 14,9 und Num 10,33.36 Ex 14,9 ὁ ἄγγελος τοῦ θεοῦ ὁ στῦλος τῆς νεφέλης

Num 10,33.36 (𝔐: V.33.34)

‫מלאך האלהים‬ ‫עמוד הענן‬

ἡ κιβωτὸς τῆς διαθήκης κυρίου ἡ νεφέλη16

‫ארון ברית־יהוה‬ ‫ענן יהוה‬

Durch die ungewöhnliche Wiedergabe von ‫ נסע‬mit προπορεύομαι beschreibt der Übersetzer des Numeribuches die Tätigkeit der κιβοτός von Num 10,33 als die des ἄγγελος von Ex 14,19. Dass dabei sogar eine Art Gleichsetzung intendiert gewesen sein kann, wird durch die folgende Überlegung deutlich: Im Erzählkontext des Exodusbuches (und des Pentateuch) wird die Bundeslade erstmalig in Ex 25 erwähnt, in Ex 14 ist sie also noch nicht im Blick. Der „Engel Gottes“ dagegen spielt im Numeribuch kaum noch eine Rolle. Er wird lediglich in der Bileamperikope erwähnt (22,22–35) und in der Botschaft Moses an den Edomiterkönig, in der vom Exodus berichtet wird (20,16), keinesfalls aber als aktuell tätiger Führer des Volkes während der Wüstenwanderung.17 Aufgrund dieses gesamtbiblischen Befunds war für den Übersetzer die Frage naheliegend, ob der „Engel“ aufgehört habe, die Israeliten durch die Wüste zu führen. Denn schließlich ist die zweite Mani-

15 Zu den verschiedenen Erklärungsmodellen für den ‫ מלאך‬vgl. Walter Hilbrands, „Das Verhältnis der Engel zu Jahwe im Alten Testament, insbesondere im Buch Exodus“, in: The Interpretation of Exodus. Studies in Honour of Cornelis Houtman, hrsg. von Riemer Roukema u. a., CBET 44, Leuven: Peeters, 2006, 81–96. 16 Das in 𝔐 bezeugte Tetragramm hat keine Entsprechung im griechischen Text; siehe dazu Seite 123. 17 Rolf Rendtorff, Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf, Bd. 2: Thematische Entfaltung, Neu‑kir‑chen-Vluyn: Neukirchener, 2001, 174, beobachtet, dass im Gesamtkontext des Pentateuch Gottes Erscheinen zunächst als „Engel“, mit der Errichtung des Heiligtums dann in Gestalt des ‫ כבוד‬dargestellt wird.

118 | 5 Numeri 10,33–36: Die Bundeslade und die Wolke festation Gottes, die „Wolkensäule“, im Numeribuch noch vorhanden, auch wenn sie dort nur als „Wolke“ bezeichnet wird. Eine mögliche Antwort lag in der Identifikation der Manifestation Gottes in der Bundeslade mit dem Erscheinen Gottes als „Engel“. Wie immer diese Identifikation im Einzelnen gedacht war: Der Übersetzer hat durch seine überraschende Wortwahl eine Brücke zum Exodusbuch geschlagen und den Aufbruch der Israeliten vom Sinai in der Tradition der Rettung am Schilfmeer verortet. Der Gott des Aufbruchs vom Sinai, der Wüstenwanderung und schließlich der Landnahme ist kein anderer als der Gott des Exodus.

Vers 34 (𝔐: 35) καὶ ἐγένετο ἐν τῷ ἐξαίρειν τὴν κιβωτὸν καὶ εἶπεν Μωυσῆς / ‫ויהי בנסע הארן ויאמר‬ ‫ משה‬Die Redeeinleitung des ersten Ladespruchs wird in starker Anlehnung an die Form des hebräischen Textes wiedergegeben. Dabei ist die Wiedergabe von ‫ ויהי‬mit καὶ ἐγένετο in den Septuagintaschriften nicht unüblich, auch der syndetische Anschluss καὶ εἶπεν Μωυσῆς für ‫ ויאמר משה‬passt in dieses Muster.18 Zu dieser Art der formerhaltenden Übersetzung zählt auch die Wiedergabe von ‫בנסע‬, eines Infinitivs mit Präposition, durch die Infinitivkonstruktion ἐν τῷ ἐξαίρειν mit folgendem Akkusativ. Die Konstruktion mit ἐν τῷ ist im Attischen unüblich, in den Schriften der Septuaginta dagegen ist sie durchaus etabliert, dies allerdings durch den Einfluss des Hebräischen.19 ἐξεγέρθητι κύριε διασκορπισθήτωσαν οἱ ἐχθροί σου / ‫קומה יהוה ויפצו איביך‬ Im hebräischen Text lässt sich der mit einer weyiqtol-Form (‫ )ויפצו‬an einen Imperativ (‫ )קומה‬angeschlossene Satz am besten als Finalsatz deuten.20 Um diesen Sinn im Griechischen wiederzugeben, wäre eine Hypotaxe mit der Konjunktion ἵνα geeignet gewesen. Da die Konjunktion ‫ ו‬hier wie auch zu Beginn der nächsten Zeile keine Entsprechung im griechischen Text hat, erscheint die Annahme plausibel, dass sie bereits in der Vorlage des Übersetzers fehlte. Die yiqtol-Form hat der Übersetzer offensichtlich als voluntativ interpretiert und durch einen Imperativ der dritten Person wiedergegeben.

18 Thackeray, A Grammar of the Old Testament in Greek, 50–52. 19 Friedrich Blass, Albert Debrunner und Friedrich Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, 18. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001, § 404. 20 Vgl. Gesenius, Kautzsch und Bergsträsser, Hebräische Grammatik, § 165a mit Ex 9,1 und 1Kön 11,21.

5.2 Kommentar |

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φυγέτωσαν πάντες οἱ μισοῦντές σε / ‫וינסו משנאיך מפניך‬ Wie schon in der letzten Zeile hat die Konjunktion ‫ ו‬keine Entsprechung im griechischen Text, sie fehlte wahrscheinlich schon in der Vorlage. Im Gegensatz dazu hat πάντες keine Entsprechung in 𝔐. Ob der Übersetzer es eingefügt oder ob er in seiner Vorlage die Form ‫ קל‬vorgefunden hat, lässt sich nicht entscheiden. Falls es sich um eine Zufügung des Übersetzers handelt, dann bestand seine Intention darin, die Aussage zu verstärken. Gemäß den Regeln der griechischen Syntax hat der Übersetzer das Suffix von ‫ משנאיך‬nicht etwa wie in der vorherigen Zeile als Pronomen im Genitiv, sondern im Akkusativ (σε) wiedergegeben. Ohne Entsprechung im griechischen Text ist der Ausdruck ‫מפניך‬. Der Hinweis auf Gottes (hier bedrohliches) „Angesicht“ stellt inhaltlich eine Begründung für die Flucht der Feinde dar. Deshalb ist nur schwer vorstellbar, dass der Übersetzer den Ausdruck bewusst ausgelassen hätte.21 Plausibler erscheint die Erklärung, dass ‫ מפניך‬unabsichtlich ausgelassen wurde, und zwar entweder durch den Übersetzer oder durch einen früheren Tradenten. Da in 𝔐 das vorhergehende Wort ‫ משנאיך‬lautet, beruht die Auslassung sehr wahrscheinlich auf dem Homoioteleuton ‫יך‬-.

Vers 35 (𝔐: 36) καὶ ἐν τῇ καταπαύσει εἶπεν / ‫ ובנחה יאמר‬Im Gegensatz zum hebräischen Text, wo ein Verb (‫ )נוח‬verwendet wird, enthält die Übersetzung an der entsprechenden Stelle ein Substantiv (κατάπαυσις). Da ⅏ die Lesart ‫ ובמנוחה‬und damit ebenfalls ein Substantiv (‫ )מנוחה‬bietet, das öfter mit κατάπαυσις wiedergegeben wurde,22 ist damit zu rechnen, dass bereits die Vorlage der Übersetzung die Lesart von ⅏ bot. Dass ‫ מנוחה‬in V.33 und V.35 auf verschiedene Weise, nämlich einmal mit ἀνάπαυσις, einmal mit κατάπαυσις wiedergegeben wurde, zeigt das feine Differenzierungsvermögen des Übersetzers. Das Bedeutungsspektrum der beiden Wörter ist sehr ähnlich, ein Unterschied lässt sich vor allem dadurch bestimmen, dass ἀνάπαυσις eher den Aspekt der Ruhe betont, während κατάπαυσις eher ein Anhal-

21 Eine mögliche Vermeidung des Anthropomorphismus „Gottes Angesicht“ ist nicht wahrscheinlich, da im griechischen Text von Num 6,26.27 das Wort πρόσωπον mit Bezug auf Gott verwendet wird. 22 Z. B. Dtn 12,9; Ri 20,43A ; 3Kgt 8,56; siehe Hatch und Redpath, A Concordance to the Septuagint, s.v. κατάπαυσις.

120 | 5 Numeri 10,33–36: Die Bundeslade und die Wolke ten oder Aufhören beschreibt.23 Diese Unterscheidung entspricht dem jeweiligen Kontext. Denn in V.33 ist vom Suchen (κατασκέψασθαι) eines Ruheplatzes die Rede, während in V.35 nicht die Ruhe oder der Ruheplatz, sondern das Anhalten im Vordergrund steht.24 Unter formalen Gesichtspunkten ist der Aorist εἶπεν eine ungewöhnliche Wiedergabe der yiqtol-Form ‫יאמר‬. Hier wäre im griechischen Text eher ein Imperfekt zu erwarten,25 das den iterativen Aspekt betont hätte. Die Verwendung des Aorist lässt sich damit erklären, dass schon in der Einleitung des ersten Ladespruchs (V.34) καὶ εἶπεν verwendet wurde, um ‫ ויאמר‬wiederzugeben. Wahrscheinlich hat der Übersetzer die Form des Verbs an die in V.34 verwendete Form angepasst.26 ἐπίστρεφε κύριε χιλιάδας μυριάδας ἐν τῷ Ἰσραήλ / ‫שובה יהוה רבבות אלפי‬ ‫ישראל‬ Bei dem Ausdruck ‫ רבבות אלפי ישראל‬handelt es sich wahrscheinlich um einen accusativus loci zur Bezeichnung der Richtung; das Verb ‫ שוב‬ist dann wie sonst auch im Qal intransitiv und hat die Bedeutung „zurückkehren“ bzw. „sich wenden“.27 Auch für das griechische Verb ἐπιστρέφω ist hier wie in den meisten anderen Fällen eine intransitive Bedeutung wahrscheinlich,28 aus der sich die deutsche Übersetzung „Wende dich“ ergibt. Aus diesen Überlegungen folgt, dass es sich bei dem Ausdruck χιλιάδας μυριάδας um einen Akkusativ des Ziels handeln muss. Dieser war allerdings schon im Attischen der Sprache der Dichter vorbehalten, und für die Koine gilt er als ausgestorben.29 Sein Vorkommen an dieser Stelle lässt sich damit erklären, dass in Büchern der Septuaginta gelegentlich lexikalische Anleihen bei den griechischen Dichtern gemacht werden.30 Daher ist es gut möglich, dass auch eine syntaktische Konstruktion der Dichtersprache bei Gelegenheit verwendet wurde. Ein Anlass dafür ergab sich

23 Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. ἀνάπαυσις; s.v. κατάπαυσις. Die Bedeutung der „Ruhe“ ist auch bei κατάπαυσις vorhanden, dies allerdings erst in der Koine (Theophrastus) und dann in der Septuaginta. 24 Das zeigt vor allem der Kontrast zu der parallelen Aussage in V.34, wo das Aufbrechen der Lade beschrieben wird. 25 Voitila, „The Translator of the Greek Numbers“, 115. 26 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 158. 27 Gesenius, Kautzsch und Bergsträsser, Hebräische Grammatik, § 118d, f; anders Levine, Numbers 1–20, 318–319, der von einer transitiv-faktitiven Bedeutung des Verbs ausgeht. 28 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 158; Dorival, Les Nombres, 283–284. 29 Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 173, Anm. 2; von Siebenthal, Griechische Grammatik, § 149b. 30 Knut Usener, „Griechisches im Griechisch der LXX“, in: Et sapienter et eloquenter. Studies on Rhetorical and Stylistic Features of the Septuagint, hrsg. von Eberhard Bons und Thomas J. Kraus, FRLANT 241, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011, 81–98.

5.2 Kommentar |

121

erstens aus der Tatsache, dass es sich hier um einen poetischen Text handelt, und zweitens aus dem Wortlaut des hebräischen Ausgangstextes, der ebenfalls keine Präposition zur Angabe eines Ziels enthält.31 Auffällig ist die Wahl des Präsens für den Imperativ (ἐπίστρεφε). Sie lässt sich dadurch erklären, dass der Übersetzer die Worte des Mose nicht als Bitte für einen Einzelfall verstand, sondern als eine allgemeine Bitte, die Gottes beständige Zuwendung zum Ziel hat.32 Im Gegensatz zu 𝔐 hat der Übersetzer die Konsonantenfolge ‫ רבבות‬nicht als Constructus-, sondern als Absolutus-Form vokalisiert, was daran zu sehen ist, dass er die Substantive χιλιάδας und μυριάδας asyndetisch nebeneinander gestellt hat. Dabei ist die Reihenfolge der beiden Wörter im Vergleich zu 𝔐 vertauscht. Im griechischen Text werden also nicht „Zehntausende von Tausenden“ genannt, sondern nur „Tausende und Zehntausende“. Der in 𝔐 genannte Ausdruck „Zehntausende von Tausenden“ bildet im Fall einer wörtlichen Auslegung einen Widerspruch zu der Zahlenangabe 603.550 in Num 1,46, da das Produkt aus 10.000 und 1.000 (10 Millionen) viel zu groß ist, um dieser Angabe auch nur näherungsweise zu entsprechen. Mit dieser Überlegung ist vermutet worden, dass es sich hier um eine harmonisierende Auslegung durch den Übersetzer handelt, die auch im ähnlich lautenden Targum Neofiti begegnet.33 Der Übersetzer hätte dann eine Hyperbel im hebräischen Text wörtlich verstanden und an eine Zahlenangabe im Kontext angepasst. Dagegen ist jedoch Folgendes einzuwenden: Die Konsonantenfolge ‫ רבבות‬kann als Constructus- oder aber als Absolutus-Form vokalisiert werden, daher ist die Interpretation des Übersetzers in der Mehrdeutigkeit dieser Konsonantenfolge und nicht in einem vermeintlichen Widerspruch begründet. Dabei ist unerheblich, ob dem Übersetzer eine sich von 𝔐 unterscheidende Lesetradition vorlag oder ob er die Zeichenfolge ‫ רבבות אלפי ישראל‬aufgrund einer selbstständigen Interpretation vokalisiert hat.34 Für den Übersetzer repräsentierte ‫ רבבות‬offensichtlich kein von ‫ אלפי ישראל‬abhängiges Substantiv. Man wird daher nicht von einer bewusst vorgenommenen harmonisierenden Wiedergabe durch den Übersetzer sprechen können. Die Umkehrung der Substantive gegenüber 𝔐 ist wahrscheinlich durch ähnliche bekannte Texte beeinflusst, in denen

31 Einige Minuskelhandschriften, vor allem diejenigen der Catenen-Gruppe, fügen vor χιλιάδας μυριάδας die Präposition εἰς ein und glätten damit den Text. 32 Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 218. 33 Vgl. Dorival, Les Nombres, 80. 34 Siehe zu dieser Unterscheidung Schorch, „Which Bible, Whose Text?“, 364; vgl. bereits James Barr, „»Guessing« in the Septuagint“, in: Studien zur Septuaginta – Robert Hanhart zu Ehren, hrsg. von Detlef Fraenkel, Udo Quast und John W. Wevers, MSU 20, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1990, 19–34, 20–21.

122 | 5 Numeri 10,33–36: Die Bundeslade und die Wolke die Zahlwörter für 1.000 und 10.000 in dieser Reihenfolge nebeneinander genannt werden.35 Es war naheliegend, den Text an die bekanntere Formulierung anzupassen. Das kann durchaus bereits auf der Ebene der Vorlage geschehen sein. Die Lesart des Targums macht es wahrscheinlich, dass sowohl die der SeptuagintaLesart zugrunde liegende Vokalisierung als auch die Reihenfolge der Zahlwörter innerhebräisch entstand. Dabei lässt sich weder eine gesicherte Entscheidung bezüglich der Ursprünglichkeit treffen, noch lässt sich eine entsprechende Vokalisierung und Wortumstellung durch den Übersetzer mit Sicherheit ausschließen. Für eine Charakterisierung der Übersetzungstechnik lässt sich diese Lesart also nicht heranziehen. Die Formulierung ἐν τῷ Ἰσραήλ ist auffällig, denn aufgrund des hebräischen Textes würde man eher τοῦ Ἰσραήλ erwarten. Die Lesart mit Präposition und Dativ lässt sich nicht durch die Arbeit des Übersetzers erklären, wahrscheinlicher ist eine Vorlage mit der Lesart ‫בישראל‬.

5.2.2 Die Wolke (V.36) Aus der Anordnung des griechischen Textes, bei der die Wolke erst am Ende des Abschnitts erwähnt wird,36 ergibt sich eine besondere inhaltliche Nuance, die allerdings erst im größeren Kontext deutlich wird. In dem Abschnitt Num 10,11–36, der den Aufbruch vom Sinai behandelt,37 beschreiben die beiden rahmenden Verse, V.11 (καὶ ἐγένετο … ἀνέβη ἡ νεφέλη ἀπὸ τῆς σκηνῆς τοῦ μαρτυρίου) und V.36 (LXX), jeweils die Aktivität der Wolke beim Aufbruch der Israeliten. Dadurch entsteht eine Inclusio, durch die der ganze Abschnitt unter die Thematik der Wolke gestellt wird.38

35 1Sam 18,7 u.ö.; Mi 6,7; Ps 91,7; vgl. auch Gen 24,60 (‫)לאלפי רבבה‬. 36 Siehe dazu die einleitenden Ausführungen zu Abschnitt 5.2.1. 37 Dass Num 10,11–36 als strukturelle Einheit zu betrachten ist, beobachten z. B. Knierim und Coats, Numbers, 135. 38 Hier fügt sich die folgende Beobachtung nahtlos ein: In Num 10,29–32 wird die Einladung an den Midianiter Hobab beschrieben, die Israeliten zu begleiten. Während Hobab in 𝔐 zum „Augenpaar“ ( ‫)עינים‬, also zum Führer der Israeliten in der Wüste werden soll (10,31), wird ihm in der LXX-Fassung die Stellung eines „Ältesten“ (πρεσβύτης) angeboten. Seine Qualifikation als Führer durch die Wüste ist nicht mehr gefragt, denn diese Aufgabe übernimmt jetzt die Wolke. Der Abschnitt 10,11–36 wird somit nicht nur strukturell, sondern auch inhaltlich auf die Wolke und ihre führende Funktion konzentriert.

5.2 Kommentar |

123

Abgeschwächt dagegen wird die Rolle der Bundeslade. Denn die Ladesprüche, die die Funktion der Lade im Krieg betonen,39 stehen in der Übersetzung nicht mehr an prominenter Stelle am Ende des Abschnitts. Diese implizite Abmilderung des kriegerischen Aspekts begegnet auch in der Übersetzung von Ex 15,3, wo aus dem „Kriegsmann Jahwe“ (‫ )יהוה איש מלחמה‬ein Gott wird, „der Kriege zerstört“ (κύριος συντρίβων πολέμους).40 Da bei der Übersetzung von Num 10,33 wahrscheinlich auf Ex 14,19 LXX angespielt wird,41 ist es denkbar, dass für den Übersetzer des Numeribuches auch der Inhalt des griechischen Textes von Ex 15,3 im Hintergrund stand.42 Der kurze Text über die Wolke zeigt Unterschiede zum Wortlaut von 𝔐, die sich teils auf eine innerhebräische Verlesung, teils auf die Arbeit des Übersetzers zurückführen lassen. Davon abgesehen wurde die Form des Ausgangstextes soweit wie möglich erhalten.

Vers 36 (𝔐: 34) καὶ ἡ νεφέλη ἐγένετο σκιάζουσα ἐπʼ αὐτοῖς ἡμέρας / ‫ וענן יהוה עליהם יומם‬Anstelle einer Wiedergabe des Tetragramms bietet der griechische Text die Lesart ἐγένετο σκιάζουσα. Möglicherweise wurde das Tetragramm zu ‫ יהיה‬verlesen43 und mit ἐγένετο übersetzt.44 Die Verlesung erfolgte entweder durch den Übersetzer selbst oder innerhebräisch durch einen früheren Tradenten. Bei dem so entstandenen Ausdruck καὶ ἡ νεφέλη ἐγένετο ἐπʼ αὐτοῖς bzw. ‫ וענן יהיה עליהם‬konnte leicht der Eindruck entstehen, dass ein Prädikat fehlte. Dies ist zwar syntaktisch nicht unbedingt notwendig, da auch ἐπʼ αὐτοῖς bzw. ‫ עליהם‬die Satzaussage darstellen kann, dennoch wurde es wohl als nötig erachtet, das „Sein“ der Wolke über

39 Noth, Das vierte Buch Mose, 71. 40 Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament, 288, spricht in Bezug auf Ex 15,3 von einem „pazifistische[n] Zug der Septuaginta“; dagegen ordnet Fernández Marcos, The Septuagint in Context, 312, diese Wiedergabe eher der Vermeidung von Anthropomorphismen (‫)איש‬ zu, dies wohl im Anschluss an Charles T. Fritsch, The Anti-Anthropomorphisms of the Greek Pentateuch, Princeton: Princeton University Press, 1943, 9. 41 Siehe Seite 116. 42 Hinzu kommt, dass schon der hebräische Text der Ladesprüche an Ex 15,3 (𝔐) erinnern kann; vgl. Noth, Das vierte Buch Mose, 71. 43 Vgl. Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, 203–204 zur Verwechslung von ‫ ו‬und ‫י‬. 44 Auch wenn der Übersetzer gewöhnlich yiqtol-Formen durch einen Indikativ Futur wiedergegeben hat, kommt in Num 9,16 auch eine Wiedergabe von ‫ יהיה‬durch das Imperfekt ἐγίνετο vor; vgl. Anssi Voitila, „What the Translation of Tenses Tells about the Septuagint Translators“, in: SJOT 10 (1996), 183–196, 193. In Num 10,35 wird die yiqtol-Form ‫ יאמר‬durch den Aorist εἶπεν wiedergegeben (vgl. Seite 119).

124 | 5 Numeri 10,33–36: Die Bundeslade und die Wolke den Israeliten näher zu spezifizieren. Nun wird bereits in Num 9,18.22 davon berichtet, dass sich die Wolke über den Israeliten aufhielt. Dazu wird im hebräischen Text das Verb ‫ שכן‬verwendet, im griechischen Text σκιάζω. Vermutlich wurde in den hebräischen oder in den griechischen Text von Num 10,36 eine Partizipialform des entsprechenden hebräischen oder griechischen Verbs eingetragen. Dadurch konnte der Satz mit einem Prädikat versehen und gleichzeitig ein Bezug zu Num 9,15–23 geschaffen werden, zu einem Text also, der Hintergrundinformationen über die Wolke bietet.45 Die mutmaßliche Verlesung des Tetragramms lässt sich selbstverständlich nicht zur Analyse der Übersetzungstechnik auswerten. Doch wie ist die Einfügung des Verbs zu bewerten? War es der Übersetzer, der das griechische Partizip σκιάζουσα in Anlehnung an Num 9,18.22 in den Text eingetragen hat, oder verwendete er eine Vorlage, die bereits die Form ‫ שכן‬bot, die er dann mit σκιάζουσα wiedergab? Die bis hierher erschlossene Art der Übersetzung macht es wahrscheinlich, dass es der Übersetzer war, der das Partizip σκιάζουσα eingefügt hat. Ein Interesse an der Manifestation Gottes in der Wolke, das sich in der Umstellung gerade dieses Verses ans Ende des Abschnitts gezeigt hat, konnte bereits beobachtet werden.46 Durch die Inclusio, die Num 10,11 und Num 10,36 bilden, wird der gesamte Abschnitt auf ihre Aktivität beim Aufbruch der Israeliten bezogen. Der Übersetzer hatte ein inhaltlich-theologisches Interesse, das sich auch bei der Charakterisierung der Wolke als „überschattend“ zeigt. Hinzu kommt, dass eine externe Bezeugung für die Lesart der Septuagintafassung fehlt. Beides spricht dafür, dass die Änderung des Wortlauts (von der Verlesung des Tetragramms abgesehen) auf den Übersetzer zurückzuführen ist. Durch die Änderung des Wortlauts vom „Wohnen“ bzw. „Sich-Niederlassen“ (‫ )שכן‬zum „Überschatten“ (σκιάζω), die übrigens auch in Ex 40,35 im Kontext der Stiftshütte zu finden ist,47 wird die schützende Funktion der Wolke betont.48 ἐν τῷ ἐξαίρειν αὐτούς / ‫ בנסעם‬Die im Griechischen erst durch die Septuagintaschriften etablierte Konstruktion mit ἐν τῷ und folgendem Infinitiv hat der Übersetzer verwendet, um die Form des hebräischen Ausgangstextes abzubilden.49

45 Ähnlich Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 159, der jedoch ohne Begründung eine Eintragung von σκιάζουσα in den griechischen Text voraussetzt. 46 Vgl. die einleitenden Ausführungen zu den Abschnitten 5.2.1 (Seite 113) und 5.2.2 (Seite 122). 47 Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament, 242, spricht von der Neubildung einer „Metapher […] für freundliche Berührungen mit Gott“. 48 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 461. 49 Siehe auch Seite 118 zu V.34; vgl. Blass, Debrunner und Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, § 404.

5.3 Texttyp

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5.3 Texttyp Der Ausgangstext kann als vorrangig expressiver Typ charakterisiert werden, wobei die (narrative) Einleitung eher dem informativen Texttyp zugerechnet werden sollte. Die Ladesprüche, in denen der Abschnitt kulminiert, spielen im Ausgangstext eine prominente Rolle. Demgegenüber nimmt die Eigenschaft der Expressivität in der Übersetzung etwas weniger Raum ein. Die poetisch komponierten Ladesprüche haben ihre hervorgehobene Stellung am Ende des Abschnitts verloren. Ein charakteristisches Kennzeichen hebräischer Posie, der Parallelismus membrorum, wird in der Übersetzung beibehalten (V.34), allerdings wird Poesie im Griechischen eher durch einen metrischen Rhythmus realisiert. Wenn die Übersetzung in dieser Hinsicht weniger expressiv ist als der Ausgangstext, dann liegt die Ursache dafür nicht beim Übersetzer, sondern ist auf die Verschiedenheit von Ausgangs- und Zielsprache zurückzuführen.50 Gleichzeitig ist es dem Übersetzer jedoch gelungen, mit dem Akkusativ des Ziels in V.35 ein Element der Dichtersprache zu implementieren, was einerseits als Zugeständnis an griechisches Stilempfinden gewertet werden kann, was sich andererseits jedoch eher „nebenbei“ aus einer wörtlichen Wiedergabe der Vorlage ergab. Der Übersetzer hat folglich poetische Elemente verwendet, sofern es mit seinem Grundanliegen einer wörtlichen Übersetzung vereinbar war. Durch die wahrscheinlich auf den Übersetzer zurückzuführende Textumstellung wird den Ladesprüchen, also dem poetischen Teil des Abschnitts, weniger Gewicht zugemessen. Stattdessen liegt der inhaltliche Schwerpunkt der Übersetzung auf der Wolke, diese Thematik bildet jetzt den Rahmen für den ganzen Abschnitt über den Aufbruch vom Sinai (Num 10,11–36). Ebenfalls deutlich wird durch die Textumstellung, dass der Übersetzer ein Interesse an Kohärenz hatte. Was inhaltlich zusammengehört, nämlich die Aussagen über die Bundeslade einerseits und die Aussagen über die Wolke andererseits, wird je für sich wiedergegeben. Für den Texttyp der Übersetzung bedeutet das eine leichte Zunahme des informativen Anteils. Der griechische Text ist zwar wie der Ausgangstext expressiv-informativ, allerdings ist der informative Anteil in der Übersetzung etwas verstärkt, der expressive Anteil dagegen etwas abgeschwächt worden.

50 Vgl. die Ausführungen in Abschnitt 4.3 zum Texttyp von Num 6,22–27.

126 | 5 Numeri 10,33–36: Die Bundeslade und die Wolke

5.4 Äquivalenz Die Übersetzung lehnt sich im Großen und Ganzen an die Form des hebräischen Ausgangstextes an. Der griechische Text ist syntaktisch korrekt, die Übersetzung bildet also hebräische Strukturen ins Griechische ab. Damit liegen Wort- und Strukturäquivalenz vor. Auf eine Implementierung von Stiläquivalenz hat der Übersetzer allerdings verzichtet. Das lässt sich anhand der in V.34.36 verwendeten Konstruktion ἐν τῷ mit Infinitiv veranschaulichen, die eine direkte formal-genaue Abbildung der entsprechenden hebräischen Struktur darstellt. Sie ist im klassischen Griechisch unüblich und wurde erst im Lauf der Septuaginta-Übersetzungen zu einer etablierten griechischen Konstruktion. Der Übersetzer hat sich für eine exakte Nachbildung hebräischer Strukturen entschieden, was zu einem „ungriechischen“ Stil und damit zu einem Fehlen von Stiläquivalenz führte. Somit liegt in diesem Abschnitt eine wortgetreue, aber keine philologische Übersetzung vor. Die Änderung der Textanordnung lässt sich zur Bestimmung der Äquivalenz nicht auswerten, denn sie stellt ein lokales Phänomen dar, das weder Stil- noch Textäquivalenz bewirkt. Für die Bestimmung des Skopos ist sie jedoch bedeutsam.

5.5 Skopos Der Übersetzer hatte offenbar das Ziel, theologische Aussagen, die er teilweise implizit in seinem Ausgangstext wahrnahm, für die Rezipienten zu verdeutlichen. So stellt die Wortwahl προπορεύομαι in V.33 einen intertextuellen Bezug zu Ex 14,19 dar, durch den der Aufbruch vom Sinai in der Exodustradition verortet wird. Zudem lässt sich anhand des griechischen Textes eine Antwort auf die Frage finden, ob die Manifestation Gottes als „Engel“, von der das Exodusbuch berichtet, aufgehört habe, die Israeliten durch die Wüste zu führen. Für den Übersetzer erscheint der „Engel“ des Exodusbuches jetzt als Bundeslade, diese ist es, die im Numeribuch zusammen mit der Wolke Aufbruchszeiten und Lagerplätze der Israeliten bestimmt. Das Phänomen ist als Harmonisierung zu bewerten, wobei zuzugeben ist, dass die unerwartete Verwendung des Verbs προπορεύομαι lediglich den Charakter einer Anspielung hat und nicht den einer konkreten Aussage. Allerdings kann der griechische Text als Grundlage für die Toraunterweisung in der Synagoge ge-

5.5 Skopos

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dient haben,51 im Rahmen derer die Frage nach dem „Engel“ des Exodusbuches erörtert werden konnte. Die Aussagen über die Bundeslade sind in der Übersetzung durch eine Textumstellung zusammengefasst worden. Der Übersetzer hat für Kohärenz gesorgt, der Themenwechsel von der Lade zur Wolke und wieder zur Lade war offenbar nicht akzeptabel und wurde „korrigiert“. Auch diese Beobachtung spricht dafür, dass die Übersetzung in einem pädagogischen Rahmen verwendet wurde, der eine geordnete Darstellung verlangte. Möglicherweise ist mit dieser Textumstellung auch das Anliegen verbunden, die kriegerische Bedeutung der Ladesprüche abzumildern, da diese jetzt nicht mehr an prominenter Stelle am Ende der Perikope erscheinen. Das könnte zusammen mit anderen Hinweisen darauf hindeuten, dass die Übersetzung in einer Diasporasituation angefertigt wurde,52 in der die jüdische Gemeinde den Eindruck vermeiden wollte, eine kriegerische Religion auszuüben. Die Thematik der Wolke dient in der Übersetzung als Rahmen für den Abschnitt Num 10,11–36. Durch diese Inclusio wird der Aufbruch vom Sinai stärker an die Tradition der führenden Wolke gebunden, als das im Ausgangstext der Fall war. Auch hier weist die Übersetzung eine Kohärenz auf, die im Ausgangstext nicht vorliegt. Auch die Charakterisierung der Wolke als „überschattend“ und damit als Schutz spendend erzeugt eine über die aktuelle Perikope hinausreichende Kohärenz, da sie aus Num 9,18.22 übernommen wurde. Offensichtlich hatte der Übersetzer ein ausgeprägtes Interesse an Pädagogik. Die kleineren und größeren Eingriffe in den Wortlaut des Ausgangstextes lassen sich als Anpassungen für eine Diasporasituation deuten, in der die Unterweisung im Gesetz einen hohen Stellenwert hatte. Auf der Grundlage des griechischen Textes konnten auch Fragen angesprochen werden, zu deren Beantwortung der hebräische Text nicht ausreichte. Das griechische Numeribuch erfüllte somit eine besondere Funktion, nämlich die einer heiligen Schrift, die Ansatzpunkte für weiterführende Auslegungen bot.

51 Zur Unterweisung in der Synagoge vgl. z. B. Emil Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C.–A.D. 135), hrsg. von Geza Vermes, Fergus Millar und Matthew Black, Bd. 2, Revised Edition, Edinburgh: T & T Clark, 1979, 424–425. 52 Siehe die Abschnitte 3.5 und 4.5.

6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit 6.1 Übersetzung 1

Und das Volk murrte Böses vor dem Herrn, und der Herr hörte es und wurde wütend vor Zorn, und Feuer vom Herrn entbrannte unter ihnen und verzehrte einen beträchtlichen Teil des Lagers. 2 Und das Volk schrie zu Mose, und Mose betete zum Herrn, und das Feuer verlosch. 3 Und man nannte den Namen jenes Ortes „Anzündung“, weil Feuer vom Herrn unter ihnen entbrannt war. 4

Und das Mischvolk, das unter ihnen war, begehrte eine Begierde, und auch die Söhne Israels setzten sich und weinten und sagten: „Wer wird uns Fleisch zu essen geben? 5 Wir erinnern uns an die Fische, die wir in Ägypten umsonst zu essen pflegten, und die Gurken und die Melonen und den Lauch und die Zwiebeln und den Knoblauch. 6 Jetzt aber ist unsere Seele ausgedörrt, nichts außer das Manna sehen unsere Augen.“ 7 Das Manna aber ist wie Koriandersamen, und sein Aussehen ist das Aussehen von Kristall. 8 Und das Volk ging umher, und sie sammelten und mahlten es in der Mühle oder zerstießen [es] im Mörser, und sie kochten es im Tontopf und machten Kuchen daraus, und sein schöner Geschmack war wie der Geschmack von Ölkuchen. 9 Und wenn nachts der Tau auf das Lager fiel, fiel das Manna darauf. 10

Und Mose hörte sie in ihren Volksgruppen weinen, jeden an seinem Eingang. Und der Herr wurde sehr wütend vor Zorn, und es war schlecht vor Mose. 11 Und Mose sagte zum Herrn: „Warum hast du deinen Diener schlecht behandelt, und weshalb habe ich keine Gnade vor dir gefunden, dass du den Aufruhr dieses Volkes auf mich gelegt hast? 12 Habe etwa ich dieses ganze Volk im Mutterleib empfangen, oder habe ich sie geboren, dass du zu mir sagst: Nimm sie an deine Brust wie eine Amme den Säugling trägt – bis in das Land, das du ihren Vätern verheißen hast? 13 Woher soll ich Fleisch nehmen, um es diesem ganzen Volk zu geben? Denn sie weinen vor mir und sagen: Gib uns Fleisch, damit wir essen! 14 Ich allein werde dieses Volk nicht tragen können, denn diese Sache ist mir zu schwer. 15 Wenn du aber so an mir handelst, dann töte mich durch Zerstörung, wenn ich Erbarmen bei dir gefunden habe, damit ich mein Unglück nicht sehe.“ 16 Und der Herr sagte zu Mose: „Versammle mir siebzig Männer von den Ältesten Israels, von denen du selbst weißt, dass sie Älteste des Volkes und ihre Schreiber sind, und führe sie zum Zelt des Zeugnisses, und sie sollen sich dort mit dir aufstellen. 17 Und ich werde herabsteigen und dort mit dir reden, und ich werde von dem Geist, der auf dir ist, nehmen und auf sie legen, und sie werden mit dir zusammen den Aufruhr des Volkes tragen, und du wirst sie nicht alleine tragen. 18 Und zum Volk sollst du sagen: Reinigt euch für morgen, und ihr werdet Fleisch essen, denn ihr habt vor dem Herrn geweint und gesagt: Wer wird

6.1 Übersetzung |

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uns Fleisch zu essen geben? Denn schön ist es für uns in Ägypten. Und der Herr wird euch Fleisch zu essen geben, und ihr werden Fleisch essen. 19 Nicht einen Tag werdet ihr essen, auch nicht zwei, auch nicht fünf Tage, auch nicht zehn Tage, auch nicht zwanzig Tage. 20 Bis zu einem ganzen Monat werdet ihr essen, bis es aus euren Nasenlöchern herauskommt, und es wird für euch zur Übelkeit sein, weil ihr dem Herrn nicht gehorcht habt, der unter euch ist, und vor ihm geweint und gesagt habt: Was haben wir davon, aus Ägypten herausgegangen zu sein?“ 21 Und Mose sagte: „600.000 Mann zu Fuß zählt das Volk, unter denen ich bin, und du hast gesagt: Fleisch werde ich ihnen geben, und sie werden einen ganzen Monat essen. 22 Sollen etwa Schafe und Rinder für sie geschlachtet werden, und es wird für sie reichen? Oder sollen alle Fische des Meeres für sie eingesammelt werden, und es wird für sie reichen?“ 23 Und der Herr sagte zu Mose: „Wird etwa die Hand des Herrn nicht ausreichen? Du wirst schon erkennen, ob mein Wort dich treffen wird oder nicht.“ 24

Und Mose ging heraus und redete zum Volk die Worte des Herrn, und er versammelte siebzig Männer von den Ältesten des Volkes und stellte sie um das Zelt herum auf. 25 Und der Herr stieg in einer Wolke herab und redete zu ihm. Und er nahm von dem Geist, der auf ihm war, und legte ihn auf die siebzig Männer, die Ältesten. Als aber der Geist auf ihnen ruhte, redeten sie prophetisch. Und sie fügten nichts mehr hinzu. 26 Und es waren zwei Männer im Lager zurückgeblieben, der Name des einen war Eldad, und der Name des zweiten war Modad, und der Geist ruhte auf ihnen. Und diese waren unter den Aufgeschriebenen und waren nicht zum Zelt gegangen, und sie redeten im Lager prophetisch. 27 Und der Junge lief und berichtete Mose und sagte: „Eldad und Modad reden im Lager prophetisch.“ 28 Und Josua, der Sohn des Nave, der auserwählte Helfer des Mose, antwortete und sagte: „Herr, Mose, hindere sie.“ 29 Und Mose sagte zu ihm: „Eiferst du etwa für mich? Und möge doch jemand geben, dass das ganze Volk des Herrn zu Propheten wird, wenn der Herr seinen Geist auf sie legt.“ 30 Und Mose ging weg ins Lager, er selbst und die Ältesten Israels. 31

Und ein Wind ging aus vom Herrn und brachte Wachteln vom Meer heran und warf sie auf das Lager, eine Tagereise in die eine Richtung und eine Tagereise in die andere Richtung rings um das Lager, ungefähr zwei Ellen hoch von der Erde. 32 Und das Volk machte sich auf den ganzen Tag und die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag, und sie sammelten die Wachteln, wer wenig [sammelte], sammelte zehn Kor, und sie trockneten sie sich auf Trockenplätzen rings um das Lager. 33 Das Fleisch war noch zwischen ihren Zähnen, ehe es verschwunden war; und der Herr zürnte gegen das Volk, und der Herr schlug das Volk mit einer sehr großen Plage. 34 Und man nannte den Namen jenes Ortes „Giergräber“, denn dort hatten sie das begehrende Volk begraben. 35 Von „Giergräber“ zog das Volk nach Ascheroth, und das Volk war in Ascheroth.

130 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit

6.2 Kommentar 6.2.1 Das bösartige Murren (V.1–3) In diesem kurzen Abschnitt hat der Übersetzer in Details eigene inhaltliche Akzente gesetzt. Auf der anderen Seite werden vor allem in V.2 der Wortlaut und die Wortreihenfolge der hebräischen Vorlage genauestens nachgebildet.

Vers 1 καὶ ἦν ὁ λαὸς γογγύζων πονηρά ἔναντι κυρίου / ‫ויהי העם כמתאננים רע באזני‬ ‫ יהוה‬Das ‫ כ‬im hebräischen Text drückt hier sicher keinen Vergleich aus, stattdessen wird es sich um ein intensivierendes Kaph veritatis handeln.1 Der Sinn des hebräischen Ausdrucks wird sein, dass die Israeliten sich in höchstem Maße beklagten.2 Im griechischen Text entfällt die Präposition und damit die Emphase. Bei einer Wiedergabe des ‫ כ‬mit ὡς beispielsweise3 wäre ein Vergleich hergestellt worden, der im Original nicht vorliegt. Der Sinn des hebräischen Textes wurde demnach besser wiedergegeben, als das bei der Verwendung einer Vergleichspartikel der Fall gewesen wäre. Die intensivierende Nuance ist dabei zwangläufig verlorengegangen. Die Wiedergabe von ‫ מתאננים רע‬mit γογγύζων πονηρά weist eine leichte Bedeutungsverschiebung auf. Dass das Verb γογγύζω mit einem Akkusativobjekts verwendet wird, ist der Form des hebräischen Ausgangstextes geschuldet.4 Vor allem die Wortwahl ist hier bemerkenswert. Das Wort ‫ רע‬hat hier wie in Gen 44,34; 48,16 die Bedeutung „Not, Unglück“,5 somit hat der hebräische Ausdruck den Sinn „sie beklagten sich bitter über Not“. Während jedoch in Gen 44,34; 48,16 κακά zur Wiedergabe von ‫ רע‬gewählt wurde, hat der Übersetzer hier durch die Wortwahl πονηρά eine moralische Komponente hinzugefügt: „sie beklagten sich

1 Gesenius, Kautzsch und Bergsträsser, Hebräische Grammatik, § 118x; Joüon und Muraoka, A Grammar of Biblical Hebrew, § 133g mit Neh 7,2. Weitere Beispiele sind Gen 27,12 (‫)כמתעתע‬ und Hos 5,10 (‫)כמסיגי גבול‬. Dagegen geht Levine, Numbers 1–20, 320, von einer temporalen Bedeutung aus, diese wäre jedoch eher bei einem Infinitiv mit ‫ כ‬und nicht bei einem Partizip zu erwarten. 2 So Ashley, The Book of Numbers, 200. 3 Vgl. die Übersetzung des Kaph veritatis in Gen 27,12 und in Hos 5,10 sowie die hexaplarische Rezension von Num 11,1. 4 γογγύζω hat im Korpus der Septuagintaschriften sonst nur γόγγυσις als Akkusativobjekt, und zwar zur Wiedergabe einer figura etymologica (Num 14,27). 5 Vgl. Budd, Numbers, 120.

6.2 Kommentar |

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bösartigerweise.“6 Diese moralische Wertung liegt im hebräischen Text nur implizit in der Darstellung von Gottes Gerichtshandeln vor. Bezüglich der Wiedergabe von ‫ רע באזני יהוה‬mit πονηρὰ ἔναντι κυρίου ist vermutet worden, dass der Übersetzer den Anthorpomorphismus der „Ohren des Herrn“ vermieden habe.7 Allerdings ist zu bedenken, dass mehr als 20 hebräische Handschriften statt ‫ רע באזני‬die Lesart ‫ רע בעיני‬bieten. Die Übersetzung könnte also in einer entsprechenden hebräischen Vorlage begründet sein. Bei ‫ בעני‬handelt es sich um einen feststehenden präpositionalen Ausdruck mit der Bedeutung „nach der Meinung von“,8 der seine ursprüngliche auf dem Begriff der „Augen“ basierende Bedeutung verloren hat.9 Daher wird dieser Ausdruck im Pentateuch meist nicht literalistisch-etymologisch wiedergegen, sondern z. B. durch ἐναντίον.10 Auch bei der qualifizierenden Formulierung ‫ רע בעיני יהוה‬handelt es sich um eine verbreitete Konstruktion, die 57-mal in der hebräischen Bibel vorkommt11 und die in den allermeisten Fällen mit πονερὸς (τὸ πονηρὸν) ἐναντίον (ἔναντι) κυρίου übersetzt wird.12 Eine Vorlage mit der Lesart ‫ רע בעיני יהוה‬ist also gut denkbar. Auf der anderen Seite kommt der Ausdruck ‫ באזני יהוה‬auch in Num 11,18 vor. Dort sind keine anders lautenden hebräischen Lesarten bezeugt, und der Übersetzer hat den Ausdruck „Ohren des Herrn“ vermieden und stattdessen mit (ἐκλαύσατε) ἔναντι κυρίου übersetzt.13 Es ist also ebenfalls gut möglich, dass der Übersetzer auch in Num 11,1, von einer Vorlage mit der Lesart ‫באזני‬ ‫ יהוה‬ausgehend, eine wörtliche Wiedergabe vermieden hat. Dies wäre schon deshalb bemerkenswert, weil die Übersetzer anderer Septuagintaschriften weniger

6 Vgl. Dorival, Les Nombres, 284: „le peuple grondait malignement“. 7 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 461. 8 Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫עין‬. 9 Entsprechendes gilt für die Ausdrücke ‫ לפני‬und ‫ ;לפי‬siehe Gesenius, Kautzsch und Bergsträsser, Hebräische Grammatik, § 101b; vgl. auch Fritsch, The Anti-Anthropomorphisms, 12. 10 Fritsch, The Anti-Anthropomorphisms, 15–16. 11 Z. B. Gen 38,7; Num 32,13; 1Sam 15,19. Einige dieser Vorkommen stehen ebenfalls in Verbindung mit ‫כ‬, gefolgt von einem Partizip (z. B. Gen 19,14; 27,12; 2Sam 4,10). 12 Ausnahmen sind 2Kgt 12,9 (τὸ πονηρὸν ἐν ὀφθαλμοῖς αὐτοῦ), 4Kgt 3,2; 13,2.11; 15,9.18.24.28; 17,2.17; 21,2.6.16.20; 23,32.37; 24,9 (τὸ πονηρὸν ἐν ὀφθαλμοῖς κυρίου) sowie Jer 39,30 (τὸ πονηρὸν κατʼ ὀφθαλμούς μου; 𝔐: 32,30). Legt man allerdings für die Bücher der Königtümer den wohl älteren antiochenischen Text zugrunde, so bleiben neben der Jeremiastelle nur 4Kgt 15,18; 21,16 als Belege für den Anthropomorphismus in der Übersetzung. 13 Vgl. Seite 154. Allerdings wird in Num 14,28 im Kontext einer Gottesrede ‫ באזני‬mit εἰς τὰ ὦτά μου wiedergegeben, wobei es sich um den einzigen weiteren Beleg von ‫ אזן‬im hebräischen Text des Numeribuches handelt.

132 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit Vorbehalte hatten, bezüglich Gottes von den „Ohren“ zu sprechen.14 Eine hundertprozentig sichere Entscheidung lässt sich in diesem Fall freilich nicht treffen. καὶ ἐθυμώθη ὀργῇ / ‫ ויחר אפו‬Die Wiedergabe mit passivem Aorist und Dativ ist im Pentateuch üblich.15 Dabei hat das Pronominalsuffix von ‫ אפו‬keine formale Entsprechung.16 Die hebräische Metapher der „brennenden Nase“ wurde wie auch sonst in den Schriften der Septuaginta aufgelöst.17 Die Metapher war höchstwahrscheinlich bereits zur Zeit der Übersetzung konventionalisiert,18 es gab somit keinen Grund für eine wörtliche Übersetzung als „Nase“. πῦρ παρὰ κυρίου / ‫ אש יהוה‬Die Präposition παρά hat keine Entsprechung im hebräischen Text, stattdessen fand dort eine Constructus-Verbindung Verwendung. Vorgeschlagen wurde, dass der Übersetzer die direkte Verbindung zwischen dem Feuer und Gott abmildern wollte.19 Aus grammatisch-pragmatischer Sicht wird der genitivus auctoris,20 der im hebräischen Text implizit vorliegt, durch die Präposition παρά zur Kennzeichnung der Herkunft explizit gemacht.21 Die Einfügung einer Präposition zur Wiedergabe einer hebräischen Constructus-Verbindung ist in der Septuaginta nicht ungewöhnlich.22 Eine theologische Deutung der Präposition als ein Element, das die Verbindung zwischen Gott und dem Feuer abmildert, ist also unwahrscheinlich, es handelt sich eher um ein stilistisches Mittel, das

14 Siehe z. B. zu den Psalmen Arthur Soffer, „The Treatment of Anthropomorphisms and Anthropopathisms in the Septuagint of Psalms“, in: HUCA 28 (1957), 85–107, 94–95. 15 Vgl. z. B. Gen 39,19; Ex 4,14; 32,10. 16 Das wird in der hexaplarischen Rezension in Anlehnung an 𝔐 durch Zufüngung von αὐτοῦ korrigiert. 17 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 160. 18 Soffer, „The Treatment of Anthropomorphisms and Anthropopathisms in the Septuagint of Psalms“, 101. 19 So Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 461. Fritsch, The Anti-Anthropomorphisms, 54–55, führt diesen Gedanken ins Extreme, indem er behauptet, der Zweck des „Anti-Anthropomorphismus“ im griechischen Text sei es, „to represent a more spiritual conception of God“. 20 Vgl. Joüon und Muraoka, A Grammar of Biblical Hebrew, § 129d. 21 Entsprechendes gilt für die Formulierung τὴν ῥάβδον τὴν παρὰ τοῦ θεοῦ als Wiedergabe von ‫ את־מטה האלהים‬in Ex 4,20. Die Übersetzung als „Stab Gottes“ erschien hier unpassend, da Gott nicht der Besitzer des Stabes ist, sondern Mose. Gott ist hier vielmehr der auctor, der die mit dem Stab Moses assoziierten Wunder bewirkt. 22 Siehe zum Deuteronomium Thorne Wittstruck, „The So-Called Anti-Anthropomorphisms in the Greek Text of Deuteronomy“, in: CBQ 38 (1976), 29–34, 33–34.

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Gott als Ursache des Feuers hervorhebt.23 Tatsächlich wird die Formulierung πῦρ παρὰ κυρίου regelmäßig zur Bezeichnung von Gottes Gerichtsfeuer verwendet, wobei die griechische Präposition auch ‫ מאת‬und ‫ מלפני‬wiedergeben kann.24 Aufschlussreich ist besonders die Verwendung in Gen 19,24 und Lev 10,2 LXX, wo es um das Gericht über Sodom und Gomorrha und über die Söhne Aarons geht. Für die Leser des griechischen Textes von Num 11,1 entsteht durch den Ausdruck πῦρ παρὰ κυρίου eine Verbindung zu diesen beiden Texten.25 Denn während im hebräischen Pentateuch verschiedene Formulierungen verwendet werden (‫אש יהוה‬, ‫ אש מאת יהוה‬und ‫)אש מלפני יהוה‬, erscheint in den griechischen Übersetzungen die vereinheitlichte Formulierung πῦρ παρὰ κυρίου. Dieser Ausdruck ist also mit dem Gericht über Sodom und Gomorrha und über die Söhne Aarons konnotiert. Für die Leser entsteht somit eine implizite Bewertung: Das „Murren“ der Israeliten ist ethisch genauso zu beurteilen wie die Anmaßung der Priestersöhne und sogar wie die Sünden der Sodomiter. μέρος τι τῆς παρεμβολῆς / ‫ בקצה המחנה‬Die Wiedergabe „ein gewisser Teil des Lagers“ verallgemeinert den Ausdruck „am Rand des Lagers“ des Ausgangstextes, die geographische Komponente „Rand“ ist in der Übersetzung verlorengegangen.26 Der Übersetzer ist offensichtlich einer etablierten Standardwiedergabe (μέρος für ‫ )קצה‬treu geblieben,27 dazu musste er jedoch auf die Bedeutungskomponente „Rand“ verzichten. Die zusätzliche Verwendung des Indefinitpronomens τι ist auffällig.28 Die Wiedergabe von ‫ קצה‬durch μέρος τι ist im Korpus der Septuaginta sonst nur noch an drei Stellen belegt, die sich alle im Numeribuch befinden und bei denen jeweils eine bestimmte Bedeutungsnuance vorliegt: Num 22,41; 23,13; 33,6. Das Indefinitpronomen drückt nicht nur Unbestimmtheit aus, sondern es kann

23 Das wird für einige sogenannte „Anti-Anthropomorphismen“ gelten; vgl. Harry M. Orlinsky, „The Treatment of Anthropomorphisms and Anthropopathisms in the Septuagint of Isaiah“, in: HUCA 27 (1956), 193–200, 194–195. 24 Gen 19,24; Num 16,35 (‫ ;)אש מאת יהוה‬Lev 10,2 (‫)אש מלפני יהוה‬. 25 Solch ein intertextueller Bezug wird noch wahrscheinlicher, wenn man die ergänzende Wiedergabe von ‫ את־האש‬durch τὸ πῦρ τὸ ἀλλότριον τοῦτο in Num 16,37 (BHS: 17,2) in Betracht zieht, durch die auch die Auflehnung des Kore / Korach und seiner Anhänger mit der Anmaßung der Priestersöhne in Verbindung gebracht wird; vgl. dazu Dorival, „Les phénomènes d’intertextualité“, 271. 26 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 160. 27 Vgl. Hatch und Redpath, A Concordance to the Septuagint, s.v. μέρος; siehe auch Lust, Eynikel und Hauspie, Greek-English Lexicon of the Septuagint, s.v., allerdings mit Hinweis auf das bedeutungsgleiche ‫קצת‬. 28 Es fehlt in drei Minuskelhandschriften und in der Syro-Hexapla.

134 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit auch zur Steigerung oder Verschärfung einer Aussage verwendet werden.29 Im hebräischen Text von Num 33,630 wird der Ort Etam als „am Rand der Wüste“ liegend (‫ )אשר בקצה המדבר‬charakterisiert, im griechischen Text wird daraus ὅ ἐστιν μέρος τι τῆς ἐρήμου. Eine indefinite Bedeutung („ein gewisser Teil“) anzunehmen, ergibt in diesem Zusammenhang keinen Sinn. Eine Erklärung für die Verwendung von τι liefert der direkte Kontext, und zwar Num 33,8. Dort wird ausgesagt, dass die Israeliten später „mitten durch das Meer in die Wüste“ gezogen sind. Die Rezipienten könnten einen Widerspruch darin gesehen haben, dass die Israeliten in V.8 nach dem Durchzug durch das Schilfmeer in die Wüste zogen, obgleich doch schon in V.6 beschrieben wird, dass ein Ort am Rand der Wüste erreicht wurde. Diese potenzielle Unsicherheit wird bereits in V.6 durch die verstärkende Bedeutung von τι vorsorglich aufgefangen: Der genannte Ort Etam31 ist „tatsächlich ein Teil der Wüste“ bzw. ein Ort, „der schon in der Wüste liegt“, so dass nach dem Durchzug durch das Schilfmeer in V.8 die Wüste erneut betreten werden kann. Ähnlich verstärkend lässt sich die Verwendung von τι in Num 22,41 interpretieren. Vor seinem ersten Orakel wird der Seher Bileam von Balak an einen Ort geführt, von dem aus er „den [äußeren] Rand des Volkes“ (‫ )קצה העם‬sehen kann. Das griechische μέρος τι τοῦ λαοῦ an dieser Stelle kann einerseits unbestimmt „einen gewissen Teil“, andererseits verstärkend „einen beträchtlichen Teil des Volkes“ bezeichnen. Die zweite Interpretation deckt sich mit dem Inhalt des direkt darauf folgenden Spruchs des Sehers, in dem ausdrücklich von der großen Menge der Israeliten gesprochen wird (Num 23,10). Offensichtlich hat diese Aussage den Übersetzer beeinflusst, schon den einleitenden Text in dieselbe Richtung zu deuten und von dieser Deutung her zu übersetzen. In Num 23,13 schließlich will Balak Bileam an einen Ort bringen, von dem aus er das Volk nicht sehen kann,32 „sondern nur einen gewissen Teil davon“ (ἀλλʼ ἢ μέρος τι αὐτοῦ für ‫)אפס קצהו‬. Auch hier ist eine verstärkende Aussage gegeben, die diesmal nicht eine große, sondern eine geringe Menge ausdrücken will: „sondern gerade eben nur einen Teil des Volkes“. Aufgrund dieses dreifachen Befundes bietet es sich für Num 11,1 ebenfalls an, für das auffällige Indefinitpronomen eine verstärkende Funktion anzunehmen,

29 Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 159; vgl. von Siebenthal, Griechische Grammatik, § 144a. 30 Vgl. dazu Seite 271. 31 Im griechischen Text heißt der Ort Βουθάν; vgl. dazu Seite 270. 32 Der griechische Text bietet hier ein verdeutlichendes οὐκ, vgl. Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 487.

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die „einen beträchtlichen Teil des Lagers“ im Blick hat. Wenn am Anfang von V.1 durch die Verwendung von πονηρά die Bewertung des „Murrens“ verstärkt und durch πῦρ παρὰ κυρίου mit Sodom und Gomorrha in Verbindung gebracht wurde, dann ist es nur folgerichtig, dass der Übersetzer das Indefinitpronomen τι in Richtung einer Verstärkung des Resultats, nämlich des Gerichts, aufgefasst hat.

Vers 3 καὶ ἐκλήθη τὸ ὄνομα τοῦ τόπου ἐκείνου Ἐμπυρισμός / ‫ויק רא שם־המקום ההוא‬ ‫ תבערה‬Während 𝔐 für das Verb eine Vokalisierung als Qal bietet, scheint der griechische Text eine Vokalisierung als Nif‘al vorauszusetzen, da das Verb als Passiv wiedergegeben wurde. Allerdings ist trotz der Wiedergabe als Passiv auch eine Lesung als Qal denkbar. Denn die Form ‫ ו ַי ִ ּקְ ָרא‬kann einerseits Mose als Referenten haben („er nannte“),33 andererseits kann sie auch unpersönlich gebraucht sein („man nannte“).34 Während an anderen Stellen das Qal von ‫ ק רא‬eindeutig verwendet wird, da das im Kontext zuletzt genannte Subjekt als Referent nicht in Frage kommt,35 liegt hier eine Ambiguität vor, die in der Übersetzung durch Interpretation als unpersönliche Form und Wiedergabe durch ein Verb im Passiv aufgelöst wurde. Dass solch eine Wiedergabe nicht unüblich war, belegt Gen 11,9, wo die eindeutig unpersönlich gebrauchte Qal-Form ‫ ק רא‬ebenfalls durch die Passivform ἐκλήθη wiedergegeben wurde. Unabhängig davon, wie der Übersetzer seine Vorlage vokalisiert hat, wird im griechischen Text von Num 11,3 ausgesagt, dass es nicht Mose war, der dem Ort seinen Namen gab, sondern die Allgemeinheit. Der hebräische Ortsname „Brand, Brandstätte“ ist aus dem Verb ‫ ברע‬abgeleitet, und zwar mit dem für Verbalsubstantive üblichen Präfix ‫ ת‬sowie einer femininen Endung.36 In der Übersetzung wird ein im Griechischen etabliertes Substantiv verwendet, das wie das hebräische Äquivalent aus einem Verb, nämlich aus ἐμπυρίζω („anzünden“), abgeleitet ist.37 Die Ortsbezeichnung wurde also nicht transkribiert, stattdessen hat der Übersetzer die Ätiologie des Ausgangstextes auf kreative Art und Weise in die Zielsprache übernommen.38 Durch die Wortwahl ἐμπυρισμός entsteht ein intertextueller Bezug zu Lev 10,6. Denn dort wird das-

33 So Horst Seebass, Numeri 10,11–22,1, BKAT IV/2, Neukirchen: Neukirchener, 2003, 20; Ashley, The Book of Numbers, 200. 34 So Milgrom, Numbers, 83; Levine, Numbers 1–20, 320; Budd, Numbers, 117. 35 Z. B. Gen 11,9; 19,22; 25,26.30; 27,36; 29,34; 38,29.30; 50,11; Num 21,3. 36 Ashley, The Book of Numbers, 203; Joüon und Muraoka, A Grammar of Biblical Hebrew, § 88Lo. 37 Zur Wortbildung vgl. von Siebenthal, Griechische Grammatik, § 362b. 38 Vgl. Ausloos, „The Septuagint’s Rendering of Hebrew Toponyms“, 41–42.

136 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit selbe Wort verwendet, um das Verbrennen der Priestersöhne vor dem Altar zu beschreiben. Wie schon durch den Ausdruck πῦρ παρὰ κυρίου in V.139 wird das „Murren“ der Israeliten mit dem Fehlverhalten der Priestersöhne verglichen. Das Gericht Gottes wird in beiden griechischen Texten mit denselben Begriffen beschrieben. ὅτι ἐξεκαύθη ἐν αὐτοῖς πῦρ παρὰ κυρίου / ‫כי־בערה בם אש יהוה‬ Wie schon in V.1 ist das Verb ‫ בער‬mit ἐκκαίω wiedergegeben worden. Da in V.3 ‫ תבערה‬mit Ἐμπυρισμός übersetzt wurde, ist die Paronomasie, die im Ausgangstext durch die Verwendung von ‫ בער‬und ‫ תבערה‬gebildet wurde, in der Übersetzung verlorengegangen. Stattdessen ist im griechischen Text eine neue Paronomasie entstanden, und zwar durch den Gleichklang von Ἐμπυρισμός und πῦρ. Zu dem Ausdruck πῦρ παρὰ κυρίου sei auf die Ausführungen zu Vers 1 verwiesen.40 Zusammen mit der Wortwahl ἐμπυρισμός in V.3a wird ein intertextueller Bezug zu Lev 10,1–7 geschaffen. Dadurch hat der Übersetzer die moralische Bewertung des „Murrens“, die im Ausgangstext implizit durch die Erwähnung von Gottes Gericht vorliegt, verstärkt. In der Übersetzung wird durch den Hinweis auf Lev 10 ausgedrückt, dass die Verfehlung der Israeliten unter moralischem Blickwinkel mit der Verfehlung der Priestersöhne vergleichbar ist.

6.2.2 Die Begierde (V.4–9) In diesem Abschnitt hat der Übersetzer trotz grundsätzlicher Anlehnung an die Form des hebräischen Textes gelegentlich griechische Stilelemente wie beispielsweise Hypotaxen bevorzugt. Zeit- bzw. Aspektformen sind dem Kontext entsprechend gewählt. Durch eine pointierte Wortwahl hat der Übersetzer den Text entsprechend seiner Interpretation stellenweise verdeutlicht. Einige wenige Unterschiede zwischen dem Wortlaut des griechischen und des hebräischen Referenztextes lassen sich am besten mit einem Unterschied in der Vokalisierung oder einer entsprechenden Vorlage erklären.

Vers 4 καὶ ὁ ἐπίμικτος ὁ ἐν αὐτοῖς / ‫והאספסף אשר בק רבו‬ Das hebräische Wort ‫ אספסף‬ist ein Hapaxlegomenon, dessen Bedeutung gewöhnlich mit „zusammen39 Siehe Seite 132. Der Ausdruck erscheint auch in der zweiten Hälfte von V.3. 40 Siehe Seite 132.

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gelaufenes Volk“ (abgeleitet von ‫ )אסף‬angegeben wird. Das griechische ἐπίμικτος dient auch zur Wiedergabe von ‫ ערב‬in Ex 12,38 und Neh 13,3 („Mischvolk“) sowie in Ez 30,5 („Völkergemisch“). Die Verwendung an der vorliegenden Stelle rekurriert wahrscheinlich auf den griechischen Text von Ex 12,38. Denn in Ex 12,37 werden „600.000 Mann Fußvolk“ erwähnt, ein Ausdruck, der auch in Num 11,21 vorkommt und der inhaltlich der Angabe in Num 1 entspricht. Der Übersetzer identifiziert also diejenigen, die hier ihrer Unzufriedenheit Ausdruck geben, mit dem „Mischvolk“ aus Ex 12,38, das sich beim Auszug aus Ägypten den Israeliten angeschlossen hatte.41 ἐπεθύμησαν ἐπιθυμίαν / ‫ התאוו תאוה‬Die hebräische figura etymologica wurde in der Übersetzung nachgebildet. Während jedoch das Substantiv ‫ תאוה‬vor allem die neutrale Bedeutung „Wunsch“ hat,42 die im Hebräischen durch die Hitpa‘el-Form des Verbs und vor allem durch den Kontext eine negative Konnotation erhält, schwingt im Griechischen die negative und vor allem sexuelle Konnotation bereits im Substantiv ἐπιθυμία mit.43 καὶ καθίσαντες ἔκλαιον καὶ οἱ υἱοὶ Ἰσραήλ / ‫ וישבו ויבכו גם בני ישראל‬Während die masoretische Tradition die Konsonantenfolge ‫ וישבו‬von ‫ שׁוב‬abgeleitet und als ּ ‫ ו ַי ָ ּשֻׁבו‬vokalisiert hat, setzt die Wortwahl καθίζω des griechischen Textes das Verb ‫ ישׁב‬und die Vokalisierung ּ ‫ ו ַי ֵ ּשְׁבו‬voraus.44 Bemerkenswert an der Übersetzung ist die Hypotaxe, da sie eine Ausnahme von der in diesem Kapitel meist parataktischen Wiedergabe von wayyiqtol-Folgen darstellt. Eine parataktische Wiedergabe an dieser Stelle (καὶ ἐκάθισαν καὶ ἔκλαιον) hätte vielleicht zu einer für griechisches Stilempfinden unakzeptablen Häufung der Partikel καί geführt, da auch das direkt auf die beiden Verben folgende ‫ גם‬mit καί übersetzt wurde. τίς ἡμᾶς ψωμιεῖ κρέα / ‫ מי יאכלנו בשר‬Der hebräische Ausdruck drückt eher einen Wunsch als eine Frage aus („Ach, hätten wir doch Fleisch!“).45 Die Wiedergabe als Frage gehört zu den bekannten Hebraismen der Septuaginta.46

41 Vgl. Dorival, Les Nombres, 287. 42 Z. B. Spr 10,24; 11,23. 43 Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. ἐπιθυμία; vgl. Sus 1,8.11.14.20.56 (θ’); 4Makk 1,3; Spr 6,25 (als Wiedergabe von ‫)חמד‬. Hinzu kommt die Verwendung des Verbs ἐπιθυμέω im Dekalog (Ex 20,17: οὐκ ἐπιθυμήσεις τὴν γυναῖκα τοῦ πλησίον σου). 44 Die Vokalisierung von 𝔐 ergibt einen Sinn, wenn man einen adverbialen Gebrauch von ‫ שׁוב‬in der Bedeutung „wiederholt tun“ voraussetzt; das Weinen wäre dann vielleicht eine wiederholte Instanz des „Murrens“ von V.1, siehe Milgrom, Numbers, 83; Ashley, The Book of Numbers, 208. 45 Gesenius, Kautzsch und Bergsträsser, Hebräische Grammatik, § 151a. 46 Vgl. Swete, An Introduction to the Old Testament in Greek, 308 zu Num 11,29.

138 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit Vers 5 ἐμνήσθημεν τοὺς ἰχθύας / ‫ זכרנו את־הדגה‬Der griechische Aorist, im Indikativ ein Vergangenheitstempus, gibt die hebräische qatal-Form wieder. Diese hat hier allerdings eine präsentische Bedeutung und bezeichnet einen Zustand.47 Dem Übersetzer lag offensichtlich daran, die Form des Ausgangstextes exakt wiederzugeben. Der Aspekt des griechischen Verbs kann hier als ingressiver Aorist interpretiert werden, der den Fokus auf den Beginn eines Ereignisses legt und den man mit „uns kam die Erinnerung“ wiedergeben könnte.48 οὓς ἠσθίομεν / ‫ אשר־נאכל‬Das griechische Imperfekt dient zur Wiedergabe der hebräischen yiqtol-Form, die hier eine regelmäßig wiederholte Handlung ausdrückt („wir pflegten zu essen“).49 Die Übersetzung als Imperfekt bildet eine Ausnahme zur oft üblichen stereotypen Wiedergabe des yiqtol als Futur.50 Der Sinn des Ausgangstextes wird dadurch gut wiedergegeben.

Vers 6 νυνὶ δέ / ‫ ועתה‬Statt νυνὶ δέ könnte man καὶ νυνί als streng formerhaltende Wiedergabe von ‫ ועתה‬erwarten. Denn die Partikel καί konnte durchaus adversativ verwendet werden, im klassischen Griechisch zunächst vereinzelt, in der Koine und speziell in der hellenistischen Volksliteratur dann ganz regulär.51 Eine stereotype Wiedergabe des adversativen ‫ ו‬durch καί ist auch das Standardverfahren im griechischen Pentateuch.52 Die hier vorliegende Übersetzung mit δέ scheint besonders den starken Kontrast zwischen dem positiv dargestellten Ergehen in Ägypten und der negativ empfundenen Gegenwart hervorzuheben.53

47 Gesenius, Kautzsch und Bergsträsser, Hebräische Grammatik, § 106g; vgl. Joüon und Muraoka, A Grammar of Biblical Hebrew, § 112d. 48 Vgl. Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 211. 49 Gesenius, Kautzsch und Bergsträsser, Hebräische Grammatik, § 107e. 50 Vgl. Voitila, „The Translator of the Greek Numbers“, 115. 51 Jerker Blomqvist, Das sogenannte KAI adversativum. Zur Semantik einer griechischen Partikel, Studia Graeca Upsaliensia 13, Uppsala: Alm‑qvist & Wiksell, 1979, 45–46; Marius Reiser, Syntax und Stil des Markusevangeliums im Licht der hellenistischen Volksliteratur, WUNT 2/11, Tübingen: Mohr Siebeck, 1984, 101. 52 Anneli Aejmelaeus, Parataxis in the Septuagint. A Study of the Renderings of the Hebrew Coordinate Clauses in the Greek Pentateuch, Annales Academiae Scientiarum Fennicae, Dissertationes Humanarum Litterarum 31, Helsinki: Suomalainen Tiedeakatemia, 1982, 14. 53 Ähnlich Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 163; vgl. auch Ziegert, „δέ statt καί als textpragmatisch motivierte Wiedergabe“, 267–268.

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ἡ ψυχὴ ἡμῶν κατάξηρος / ‫ נפשנו יבשה‬Der Übersetzer hat zur Wiedergabe von ‫ נפש‬das Standardäquivalent ψυχή gewählt. Das ist zunächst aufgrund der ähnlichen Etymologie nachvollziehbar, denn ‫ נפש‬kann auf das assyrische napâšu („blasen“) zurückgeführt werden und ψυχή entsprechend auf das Verb ψύχω, das eine ganz ähnliche Bedeutung hat.54 Ein Problem ergibt sich aus der Tatsache, dass im hebräischen Text bei der Verwendung von ‫ נפש‬sehr wahrscheinlich an das Vertrocknen der „Kehle“ gedacht ist.55 Da „Kehle“ im Bedeutungsspektrum von ψυχή fehlt,56 stellt sich die Frage, wie das Wort ψυχή an dieser Stelle zu interpretieren ist, was also der Übersetzer und seine Leser unter der hier beschriebenen „vertrockneten Seele“ verstanden. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die durch Plato und Aristoteles geprägten philosophischen Kategorien des griechischen Seelenbegriffs hier anwendbar sind. Stattdessen ist auf die Vorstellung aus der homerischen Zeit hinzuweisen, die ψυχή vor allem als Lebenskraft definierte. Da sich die Lektüre der Werke Homers in hellenistischer Zeit großer Beliebtheit erfreute, ist davon auszugehen, dass dem Übersetzer nicht nur die Vorstellung Platons, sondern auch die alte homerische bekannt war.57 Die Bedeutung von ψυχή als „Seele / Lebenskraft“ im vorliegenden Kontext, also in Verbindung mit dem Attribut „vertrocknet“, impliziert eine metaphorische Ausdrucksweise, die eine hoffnungslose Situation ausdrückt.58 Der konkrete Ausdruck der „vertrockneten Kehle“ im Ausgangstext hat in der Übersetzung eine Verschiebung ins Metaphorische, nicht aber ins Metaphysische erfahren. Das Kompositum κατάξηρος, das in den Septuagintaschriften nur hier vorkommt,59 hat gegenüber dem Simplex ξηρός eine verstärkte Bedeutung. Letzteres wird ebenfalls zur Wiedergabe von ‫ יבש‬verwendet, beispielsweise in Texten, in denen der Zustand vertrockneter Bäume oder Knochen beschrieben wird.60 In

54 Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫;נפש‬ Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. ψυχή; vgl. Martin Rösel, „Die Geburt der Seele in der Übersetzung. Von der hebräischen näfäsch über die psyche der LXX zur deutschen Seele“, in: Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie, hrsg. von Andreas Wagner, FRLANT 232, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009, 151–170, 160. 55 Rösel, „Die Geburt der Seele in der Übersetzung“, 164; Noth, Das vierte Buch Mose, 73; Seebass, Numeri 10,11–22,1, 28; Levine, Numbers 1–20, 322. 56 Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. ψυχή. 57 Rösel, „Die Geburt der Seele in der Übersetzung“, 160–162. 58 Vgl. auch die Wiedergaben „dürstende Seele“ (Spr 25,25) bzw. die „Seele hat ins Leere gehofft“ (Jes 29,8) im Zusammenhang mit ψυχή in der Septuaginta Deutsch. 59 Hatch und Redpath, A Concordance to the Septuagint, s.v. κατάξηρος. 60 Siehe Jes 56,3; Hes 17,24; 21,3; 37,2.4.

140 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit Num 11,6 hat der Übersetzer die Aussage durch die Verwendung des Kompositums ausdrücklich verstärkt („ausgedörrt“). οὐδὲν πλὴν εἰς τὸ μάννα οἱ ὀφθαλμοὶ ἡμῶν / ‫ אין כל בלתי אל־המן עינינו‬In 𝔐 wird ‫ אין כל‬als Nominalsatz aufgefasst und mittels eines Atnach vom folgenden Nominalsatz abgetrennt. In der Übersetzung findet sich als Entsprechung dieser beiden Wörter nur ein Wort, und zwar οὐδέν. Die Ursache dafür dürfte in einer Haplographie aufgrund des Homoioarktons ‫ כל‬bzw. ‫ בל‬liegen, wobei vorausgesetzt ist, dass die Buchstaben ‫ כ‬und ‫ ב‬in der assyrischen Quadratschrift leicht verwechselt werden konnten.61 μάννα ist eine standardisierte Transkription von ‫מן‬,62 wobei das entsprechende aramäische Wort im Status determinativus die Grundlage bildet. Es ist zu vermuten, dass das aramäische Wort dem Übersetzer und seinen Lesern aus außerbiblischen Traditionen in aramäischer Sprache bekannt war.63 Die etymologische Anspielung auf ‫„( מן‬was“) ist durch die Transkription verlorengegangen.

Vers 7 τὸ δὲ μάννα ὡσεὶ σπέρμα κορίου ἐστίν / ‫ והמן כזרע־גד הוא‬Wie zu Beginn von V.664 wurde ‫ ו‬mit δέ wiedergegeben und nicht mit dem zu erwartenden Standardäquivalent καί. Die Konjunktion ‫ ו‬dient hier offensichtlich zur Einleitung einer Umstandsangabe, die das Manna näher beschreibt.65 Die Wahl der Partikel δέ trägt dieser Tatsache Rechnung, indem sie das Ende der direkten Rede und den Beginn eines Kommentars durch den Erzähler markiert.66 Die Kopula ἐστίν dient zur Wiedergabe des Pronomens ‫הוא‬. Die griechische Syntax erlaubt zwar Nominalsätze ohne Kopula,67 doch wird der Übersetzer das Ziel gehabt haben, jedem Element des Ausgangstextes eine Entsprechung im Zieltext zuzuordnen. καὶ τὸ εἶδος αὐτοῦ εἶδος κρυστάλλου / ‫ ועינו כעין הבדלח‬Die Vergleichspartikel ‫ כ‬hat keine Entsprechung im griechischen Text. Damit gibt die Übersetzung

61 Siehe Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, 205. 62 Thackeray, A Grammar of the Old Testament in Greek, 32. 63 Schorch, „The Septuagint and the Vocalisation of the Hebrew Text of the Torah“, 53. 64 Siehe Seite 138. 65 Vgl. Joüon und Muraoka, A Grammar of Biblical Hebrew, § 170c (mit Gen 24,62). 66 Vgl. Eduard Schwyzer, Griechische Grammatik, 5. Aufl., Bd. 2: Syntax und syntaktische Stilistik, Erstauflage 1950, München: Beck, 1988, 562. 67 Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 255.

6.2 Kommentar

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den Sinn des Ausgangstextes gut wieder, denn das Aussehen des Manna ist nicht „wie“ das Aussehen von Kristall, sondern das Aussehen der beiden Stoffe ist dasselbe. Das hebräische ‫ בדלח‬wird mit κρύσταλλος, also mit „(Eis-) Kristall“ übersetzt. Das einzige weitere Vorkommen des hebräischen Wortes ist in Gen 2,12 zu finden, wo es mit ἄνθραξ wiedergegeben wurde. Wahrscheinlich war dem NumeriÜbersetzer die Bedeutung des Wortes ‫ בדלח‬unbekannt. Die Übersetzung als eiskristallartige Substanz stellt einen Versuch dar, der wohl von der Beschreibung des Manna in Ex 16,14 inspiriert ist.68

Vers 8 Die Verse 7–9 bilden einen Einschub, in dem der Zustand des Manna und seine Verwendung in der Vergangenheit beschrieben werden. Im Rahmen dieses Einschubs werden im hebräischen Text von V.8 für die Aufzählung regelmäßig wiederholter Handlungen und Zustände Verbformen im qatal (‫ שטו‬usw.) verwendet.69 Der Übersetzer hat den iterativen Aspekt jeweils treffend durch das Imperfekt (διεπορεύετο usw.) ausgedrückt.70 καὶ διεπορεύετο ὁ λαὸς καὶ συνέλεγον καὶ ἤληθον αὐτό / ‫שטו העם ולקטו וטחנו‬ Im hebräischen Text wird das Verb ‫ שטו‬asyndetisch angeschlossen, dagegen hat der Übersetzer zu Beginn die Konjunktion καί eingefügt, möglicherweise, um nach dem vorangehenden Nominalsatz (καὶ τὸ εἶδος αὐτοῦ εἶδος κρυστάλλου) eine eindeutige Satztrennung zu markieren. 𝔐 bezeugt drei Verben im Plural, es liegt also zusammen mit dem Subjekt im Singular (‫ )העם‬eine constructio ad sensum vor. In der Übersetzung dagegen steht das erste Verb im Singular (διεπορεύετο ὁ λαός), die constructio ad sensum ‫שטו‬ ‫ העם‬ist im griechischen Text also zugunsten einer Kongruenz von Subjekt und Verb aufgelöst. Die folgenden beiden Verben wurden formal-äquivalent im Plural wiedergegeben. Die Ursache für diese vermeintlich unterschiedliche Behandlung der Verben muss allerdings nicht beim Übersetzer liegen. Möglich ist, dass dem Übersetzer ein Text vorlag, dessen Orthographie auf das finale ‫ ו‬des ersten Verbs

68 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 163. Dagegen wird für die jüdischen Revisionen (οἱ λ’) die Lesart βδελλίου bezeugt, die eine Transkription des hebräischen Wortes darstellt und somit auf jegliche (unsichere) Interpretation verzichtet. 69 Vgl. Gesenius, Kautzsch und Bergsträsser, Hebräische Grammatik, § 106d. 70 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 164. Siehe auch Seite 138 zu V.5.

142 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit (‫ )שוט‬verzichtete.71 Dann hätte der Übersetzer die Verbform nicht wie die Masoreten als Plural, sondern in Kongruenz zu der Form ‫ העם‬als Singular interpretiert. καὶ ἤληθον αὐτὸ ἐν τῷ μύλῳ ἢ ἔτριβον ἐν τῇ θυείᾳ / ‫וטחנו ברחים או דכו‬ ‫במדכה‬ Das Pronomen αὐτό hat keine Entsprechung im hebräischen Text. Es ist anzunehmen, dass der Übersetzer es eingefügt hat, damit der Satz ein Objekt enthält und somit verständlicher wird.72 Im zweiten Satz wurde auf diese Ergänzung verzichtet. Als Grund für diese vermeintliche Inkonsistenz kann die disjunktive Konjunktion ἤ vermutet werden. Denn diese bindet die beiden durch alternative Tätigkeiten definierten Sätze (Mahlen in der Mühle vs. Zerstoßen im Mörser) logisch stärker aneinander als an den folgenden mit καί angeschlossenen Satz, der den nächsten Schritt in der Verarbeitungskette (Kochen im Tontopf) angibt. Wahrscheinlich wurde die Einfügung nur eines Objekts für die beiden Alternativen als ausreichend empfunden. Für diese Annahme spricht auch die Tatsache, dass im folgenden Satz (καὶ ἥψουν αὐτὸ ἐν τῇ χύτρᾳ / ‫ ובשלו בפרור‬das Pronomen αὐτό) wiederum ergänzt wurde. καὶ ἦν ἡ ἡδονὴ αὐτοῦ ὡσεὶ γεῦμα ἐγκρὶς ἐξ ἐλαίου / ‫והיה טעמו כטעם לשד‬ ‫ השמן‬Das Wort ‫„( טעם‬Geschmack“) wird in diesem Vers mit zwei verschiedenen griechischen Wörtern übersetzt, zunächst mit ἡδονή, dann mit γεῦμα. Dies bildet einen Kontrast zu der Übersetzung von V.7, wo das Aussehen des Manna ebenfalls durch einen Vergleich beschrieben wird (καὶ τὸ εἶδος αὐτοῦ εἶδος κρυστάλλου). Während in V.7 im Rahmen dieses Vergleichs zweimal das Wort εἶδος (als Wiedergabe von ‫ )עין‬verwendet wird, hat der Übersetzer in V.8 zwischen der ἡδονή des Manna und dem γεῦμα von Ölkuchen differenziert. Tatsächlich kann ἡδονή nicht nur „Vergnügen, Lust“, sondern auch „Geschmack“ bedeuten,73 es ist jedoch nicht anzunehmen, dass der Übersetzer das Wort lediglich als Synonym von γεῦμα verwendet hat. Stattdessen wird eine begriffliche Steigerung intendiert gewesen sein, die sich aus der Bedeutungskomponente des „Angenehmen“ ergibt. Durch die Verwendung von ἡδονή wird ausgesagt, dass das Manna in höchstem Maße wohlschmeckend war, so dass die Israeliten tatsächlich keinen Grund hatten, sich darüber zu beklagen. Diese Steigerung der Aussage wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass das Wort ἡδονή aufgrund seiner Konnotation

71 Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, 181–182. Ein entsprechendes Beispiel liegt in der Lesart von V.35 in 4QNumb vor, siehe Seite 164. 72 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 164. 73 Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v.

6.2 Kommentar

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der „Lust“ sonst nur mit äußerster Zurückhaltung verwendet wurde.74 Wie schon durch die spezielle Wortwahl πονηρά in V.175 hat der Übersetzer eine moralische Bewertung des „Murrens“ ausgedrückt.

Vers 9 καὶ ὅταν κατέβη ἡ δρόσος / ‫ וברדת הטל‬Die hebräische Infinitiv-Konstruktion mit der Präposition ‫ ב‬ist hier als Nebensatz übersetzt worden. Der Übersetzer hat an dieser Stelle die in den Septuagintaschriften etablierte Konstruktion aus ἐν τῷ mit folgendem Infinitiv76 vermieden, die beispielsweise in Num 10,34 verwendet wird.77 κατέβαινεν τὸ μαννα / ‫ ירד המן‬Wie schon in V.5 78 hat der Übersetzer die yiqtol-Form nicht stereotyp durch ein Futur wiedergegeben, sondern dem iterativen Sinn entsprechend durch ein Imperfekt.

6.2.3 Mose und Gott im Dialog (V.10–23) Der Übersetzer hat in diesem Abschnitt nicht konsequent wörtlich gearbeitet. Relativ häufig wurden parataktische Konstruktionen durch Hypotaxen ersetzt, Hebraismen wurden des öfteren vermieden. Eine spezielle Wortwahl schafft an einigen Stellen Bezüge zu Texten des Exodusbuches.

Vers 10 καὶ ἤκουσεν Μωυσῆς κλαιόντων αὐτῶν / ‫ וישמע משה את־העם בכה‬Das hebräische Partizip ‫ בכה‬hat der Übersetzer ebenfalls mit einem Partizip wiedergegeben. Als Entsprechung zu ‫ את־העם‬bietet der griechische Text allerdings kein Substantiv, sondern das Pronomen αὐτῶν. Zwei mögliche Erklärungen bieten sich an: Zum einen ist es denkbar, dass die Vorlage des Übersetzers statt ‫ את־העם‬die Lesart ‫ אתם‬bot. Die nota accusativi mit Suffix der dritten Person Plural wäre dann als

74 Vgl. Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament, 274, der darauf hinweist, dass das Wort in den übersetzten LXX-Schriften außer in Num 11,8 nur noch in Spr 17,1 vorkommt. 75 Vgl. Seite 130. 76 Vgl. Blass, Debrunner und Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, § 404. 77 Siehe zu Num 10,34 Seite 118. 78 Siehe Seite 138.

144 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit Personalpronomen der dritten Person Plural übersetzt worden. Diese Lesart ist zwar nicht extern belegt, allerdings konnte eine entsprechende Verlesung auch direkt auf den Übersetzer zurückgehen.79 Allerdings lässt sich die Auslassung weder durch ein Homoioteleuton noch durch ein Homoioarkton plausibel machen. Es ist zuzugeben, dass für die Auslassung zweier Buchstaben ein Manuskript von extrem schlechter Qualität oder eine grobe Nachlässigkeit des entsprechenden Tradenten vorausgesetzt werden muss. Eine alternative Erklärung für die Verwendung des Pronomens αὐτῶν könnte in der Textstruktur liegen. Die Verse 7–9 bilden einen Einschub, der die Beschaffenheit des Manna sowie seine Verarbeitung durch die Israeliten erläutert. Zur Wiederaufnahme des Erzählfadens dient im hebräischen Text von V.10 die Zeitform des wayyiqtol (‫)וישמע‬, die an ‫ ויאמרו‬in V.4b und die daran anschließende direkte Rede (V.4b–6) anknüpft. Im griechischen Text hätte diese Wiederaufnahme der Handlung beispielsweise durch die Verwendung der Partikel δέ anstelle von καί markiert werden können,80 was jedoch nicht geschehen ist. Nun hätte sich durch die Wiedergabe von ‫ את־העם‬mit τοῦ λαοῦ (oder τὸν λαόν) das Missverständnis ergeben können, dass V.10 als Fortsetzung des Einschubs (V.7–9) verstanden wurde, da dort ὁ λαός als Subjekt vorkommt (V.8). Möglicherweise wollte der Übersetzer dieses Missverständnis vermeiden und hat deshalb in kongruenter Anknüpfung an die Formulierung in V.4 (ἔκλαιον καὶ οἱ υἱοὶ Ἰσραήλ) einen Ausdruck im Plural (κλαιόντων αὐτῶν) gewählt. Diese Erklärung überzeugt eher als die einer Verlesung, auch wenn letztere nicht unmöglich ist. Die Vermutung einer Wiederaufnahme des Erzählfadens könnte dafür sprechen, dass der Übersetzer nicht nur in lexikalischer, sondern auch in grammatischer Hinsicht bereit war, seine Vorlage „relativ frei“ wiederzugeben.81 κατὰ δήμους αὐτῶν / ‫ למשפחתיו‬Die Wiedergabe von ‫ משפחה‬mit δῆμος, die im griechischen Numeribuch regelmäßig vorkommt, stellt eine Aktualisierung des Textes an die Lebenswirklichkeit der Leser dar, die sehr wahrscheinlich in Alexandria beheimatet waren.82

79 Vgl. Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 88–89. 80 Ziegert, „δέ statt καί als textpragmatisch motivierte Wiedergabe“, 271. 81 Zur Einschätzung der Numeri-Übersetzung als „relativ frei“ auf lexikalischer Ebene und als „relativ formerhaltend“ auf syntaktischer Ebene vgl. Dorival, Les Nombres, 64–65; Voitila, „The Translator of the Greek Numbers“, 120–121; siehe auch hier Abschnitt 2.1.6.2. 82 Siehe Seite 86 zu Num 1,20.

6.2 Kommentar

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ἕκαστον ἐπὶ τῆς θύρας αὐτοῦ / ‫איש לפתח אהלו‬ Mit der Wiedergabe von ‫ איש‬durch ἕκαστος hat der Übersetzer den üblichen Hebraismus mit ἀνήρ oder ἄνθρωπος83 vermieden. Das Wort ‫ אהל‬hat keine Entsprechung im griechischen Text. Während im hebräischen Text vom „Eingang des Zeltes“ die Rede ist, nennt die Übersetzung lediglich die „Tür“, wobei allerdings das Pronominalsuffix von ‫ אהלו‬als Personalpronomen (αὐτοῦ) wiedergegeben wurde. Das erinnert an den Befund, dass mehrmals im griechischen Numeribuch ‫ אהל‬mit οἰκία oder οἶκος wiedergegeben wird (Num 19,14.18), offensichtlich um die Texte an die sesshafte Lebensweise der Leser anzupassen.84 Es ist also möglich, dass der Übersetzer auch hier auf eine Wiedergabe des „Zeltes“ verzichtet hat, weil man zu seiner Zeit nicht in Zelten, sondern in Häusern lebte. Auf der anderen Seite kann sich das Wort θύρα auf Eingänge aller Art beziehen, seine Bedeutung ist also nicht auf Hauseingänge beschränkt.85 Der Übersetzer hat sich an dieser Stelle (im Gegensatz zu Num 19,14.18) nicht festgelegt, sondern die Interpretation, ob es sich um Haus- oder Zelteingänge handelt, seinen Lesern überlassen. Bedeutsam erscheint jedenfalls, dass im griechischen Text nicht explizit von Zelteingängen die Rede ist. καὶ ἐθυμώθη ὀργῇ κύριος / ‫ ויחר־אף יהוה‬Wie schon in V.1 hat der Übersetzer die (konventionalisierte) Metapher der „brennenden Nase“ aufgelöst.86 καὶ ἔναντι Μωυσῆ ἦν πονηρόν / ‫ ובעיני משה רע‬Der Übersetzer hat den gängigen Hebraismus ἐν ὀφθαλμοῖς vermieden.87 Die Kopula ἦν hat keine formale Entsprechung im Ausgangstext. Nominalsätze ohne Kopula sind im klassischen Griechisch nicht unüblich, doch beschränkt sich ihr Gebrauch hauptsächlich auf lebhafte Äußerungen der Alltagssprache, unpersönliche Ausdrücke und knappe Sentenzen, wobei die Vermeidung der Kopula im Imperfekt selten ist.88 Es kann also angenommen werden, dass der Übersetzer die Kopula ἦν aufgrund seines Stilempfindens eingefügt hat.

83 Thackeray, A Grammar of the Old Testament in Greek, 45. 84 Rösel, „Die Septuaginta und der Kult“, 30. Vgl. dagegen die Wiedergabe von ‫ פתח אהלו‬und ‫ פתח האהל‬mit παρὰ τὰς θύρας τῆς σκηνῆς αὐτοῦ bzw. ἐπὶ τῆς θύρας τῆς σκηνῆς in Ex 33,8.10. 85 Ein Beispiel wäre der Eingang in eine Grotte; siehe Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. θύρα, II; vgl. Dorival, Les Nombres, 289. 86 Siehe Seite 132. 87 Vgl. Fritsch, The Anti-Anthropomorphisms, 15–16; Thackeray, A Grammar of the Old Testament in Greek, 43. Zu ‫ בעיני‬als feststehendem präpositionalen Ausdruck vgl. Gesenius, Kautzsch und Bergsträsser, Hebräische Grammatik, s.v. ‫עין‬. 88 Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 255.

146 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit Vers 11 Der Vers als Ganzes enthält Anklänge an Ex 5,22, wo ebenfalls eine Klage des Mose im Anschluss an die Beschwerde des Volkes ihm gegenüber berichtet wird (Ex 5,15–23). Der Wortlaut von Num 11,11 im Vergleich mit Ex 5,22 ist in Tabelle 6.1 synoptisch dargestellt. Neben Entsprechungen von Inhalt und Wortschatz fällt Tab. 6.1. Synoptischer Vergleich von Num 11,11 mit Ex 5,22 Num 11,11

Ex 5,22

ἵνα τί

διὰ τί

ἐκάκωσας

ἐκάκωσας

τὸν θεράποντά σου

τὸν λαὸν τοῦτον

καὶ

καὶ

διὰ τί

ἵνα τί

οὐχ εὕρηκα χάριν

ἀπέσταλκάς

ἐναντίον σου

με

auf, dass in beiden Versen das Fragewort ‫ למה‬einmal mit ἵνα τί und einmal mit διὰ τί wiedergegeben wurde. Es ist anzunehmen, dass der Übersetzer des Numeribuches die inhaltlichen Gemeinsamkeiten mit der Exodus-Passage, die er wohl im Gedächtnis hatte, bemerkte und die sprachlichen Anklänge bei der Übersetzung realisierte.89 Durch den intertextuellen Bezug wird ausgedrückt, dass die Situation in Num 11 mit der des Exodusbuches vergleichbar ist. Dort war weder die Klage des Volkes noch die des Mose berechtigt, dasselbe gilt hier für die „Begierde“ der Israeliten und die Klage des Mose. Wie dort Gott sein Volk aus Ägypten befreit hat, so wird er auch hier das Unmögliche geschehen lassen (vgl. Num 11,23) und den Israeliten Fleisch zu essen geben. ἵνα τί ἐκάκωσας τὸν θεράποντά σου / ‫למה הרעת לעבדך‬ Als Wiedergabe des Verbs ‫ רעע‬im Hif‘il werden im Korpus der Septuagintaschriften zu gleichen Teilen πονηρεύομαι und κακόω verwendet. Da in V.10 ‫ רע‬mit πονηρόν übersetzt wurde, könnte man in V.11 eher πονηρεύομαι erwarten.90 Die Verwendung des Verbs κακόω lässt sich am Besten dadurch erklären, dass der Übersetzer einen Bezug zu Ex 5,22 schaffen wollte.

89 Vgl. auch Milgrom, Numbers, 85, der schon im hebräischen Text von Num 11,11 Anklänge an Ex 5,22 findet. 90 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 165.

6.2 Kommentar

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καὶ διὰ τί οὐχ εὕρηκα χάριν ἐναντίον σου / ‫ ולמה לא־מצתי חן בעיניך‬Ähnlich wie in V.1091 wird der Hebraismus ἐν ὀφθαλμοῖς vermieden, stattdessen wird ἐναντίον σου verwendet. ἐπιθεῖναι τὴν ὁρμὴν τοῦ λαοῦ τούτου ἐπ᾽ ἐμέ / ‫לשום את־משא כל־העם הזה עלי‬ Das metaphorisch gebrauchte ‫„( משא‬Last“ im Sinne einer „Belastung“ für Mose) wurde mit ὁρμή („Ansturm“) wiedergegeben. In diesem Kontext erinnert das griechische Wort an Ex 32,22.92 Dort rechtfertigt Aaron gegenüber Mose die Herstellung des „goldenen Kalbs“ mit den Worten: σὺ γὰρ οἶδας τὸ ὅρμημα τοῦ λαοῦ τούτου (als Übersetzung von ‫)ידעת את־העם כי ברע הוא‬.93 In beiden Fällen wird der Charakter des Volkes als aufrührerisch und als bedrängend für die Führungsperson bezeichnet. Der Übersetzer des Numeribuches hat sicher an die Episode mit dem „goldenen Kalb“ angeknüpft, um die „Begierde“ der Israeliten als ebenso verwerflich zu qualifizieren. Diese implizite Bewertung ist in den jüdischen Revisionen nicht mehr vorhanden. Während σ’ das Wort ‫ משא‬wörtlich-korrekt mit βάρος übersetzt hat, findet sich bei α’ allerdings eine besondere Nuance. Der für seine etymologisierenden Wiedergaben bekannte Übersetzer94 verwendete das von αἴρω abgeleitete Substantiv ἄρμα. Das bot sich schon deshalb an, weil das Verb αἴρω in den Septuagintaschriften besonders häufig zur Wiedergabe von ‫ נשא‬verwendet wurde.95 Besonders interessant ist jedoch, dass ἄρμα mit Nahrungsaufnahme konnotiert ist, wörtlich also „das, was man [in sich] aufnimmt“ bezeichnet.96 Die „Last“, die Mose tragen muss, besteht für Aquila gerade in dem, was das Volk als Nahrung in sich aufzunehmen hofft, nämlich in den aus Ägypten bekannten und jetzt schmerzlich vermissten Speisen. Bei der Wiedergabe von ‫ כל־העם הזה‬durch τοῦ λαοῦ τούτου bleibt ‫ כל‬ohne Entsprechung. Dies ist möglicherweise ebenfalls auf den Einfluss von Ex 5,22

91 Siehe Seite 145. 92 Vgl. Dorival, Les Nombres, 67. 93 ὅρμημα und ὅρμη sind (partielle) Synonyme; siehe Liddell, Scott und Jones, A GreekEnglish Lexicon, s.v. ὅρμημα, I.2. 94 Vgl. Kyösti Hyvärinen, Die Übersetzung von Aquila, CB.OTS 10, Uppsala: Almqvist & Wiksell, 1977, 40–41. 95 Hatch und Redpath, A Concordance to the Septuagint, s.v. αἴρω. 96 Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. ἄρμα.

148 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit zurückzuführen, da dort die Formulierung διὰ τί ἐκάκωσας τὸν λαὸν τοῦτον ebenfalls ohne das Adjektiv πᾶς verwendet wird.97 Entsprechendes gilt für V.14.98

Vers 12 λάβε αὐτοὺς εἰς τὸν κόλπον σου ὡσεὶ ἄραι τιθηνὸς τὸν θηλάζοντα / ‫שאהו בחיקך‬ ‫ כאשר ישא האמן את־הינק‬Das Verb ‫ נשא‬wird hier zunächst mit λαμβάνω wiedergegeben, dann mit αἴρω. Die Wortwahl erfolgte entsprechend dem Subjekt: Mose soll das Volk „(auf-) nehmen“, wie die Amme den Säugling „trägt“. Dies ist ein Beispiel für die in lexikalischer Hinsicht nicht stereotype Arbeitsweise des Übersetzers.99 Eine vergleichbare Differenzierung bei der Übersetzung des Verbs ‫ נשא‬ist in V.17 zu finden.100

Vers 13 δὸς ἡμῖν κρέα ἵνα φάγωμεν / ‫ תנה־לנו בשר ונאכלה‬Der final-konsekutive Sinn des zweiten Satzes („damit wir essen“) wird im Hebräischen durch den Anschluss eines Kohortativs an einen Imperativ ausgedrückt.101 Der Übersetzer hat diese Satzverbindung durch eine Hypotaxe mit der Konjunktion ἵνα wiedergegeben.

Vers 14 οὐ δυνήσομαι ἐγὼ μόνος φέρειν τὸν λαὸν τοῦτον / ‫לא־אוכל אנכי לבדי לשאת‬ ‫ את־כל־העם הזה‬Bei der Wiedergabe von ‫ לא־אוכל אנכי‬mit οὐ δυνήσομαι ἐγώ wird das hebräische yiqtol stereotyp auf das griechische Futur abgebildet.102 Während der hebräische Satz schlicht und einfach „ich kann nicht“ bedeutet, spricht der griechische Text von einem zukünftigen Zustand.103 Dabei können die Leser allgemein an den Weg ins verheißene Land, möglicherweise aber auch schon an die Verlängerung der Wüstenwanderung um 40 Jahre gedacht haben. Diese zeich-

97 Die hexaplarische Revision bietet die Lesart παντὸς τοῦ λαοῦ τούτου, hat also den Text an 𝔐 angepasst. 98 Siehe unten zu V.14; dort wird auch die Frage behandelt, warum in V.12.13 (im Gegensatz zu V.11.14) ‫ כל‬mit einer Form von πᾶς übersetzt wird. 99 Vgl. Dorival, Les Nombres, 64–65. 100 Siehe Seite 153. 101 Gesenius, Kautzsch und Bergsträsser, Hebräische Grammatik, § 165aβ. 102 Vgl. Voitila, „The Translator of the Greek Numbers“, 115. 103 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 167.

6.2 Kommentar

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net sich aufgrund des Verhaltens der Israeliten bereits ab, zumal dieses Verhalten regelmäßig durch den Übersetzer als fehlerhaft qualifiziert wird.104 Bei τὸν λαὸν τοῦτον bleibt ganz analog zu V.11 ‫ כל‬ohne Entsprechung. Eine Erklärung könnte darin liegen, dass V.11 und V.14 von Ex 5,22 beeinflusst sind.105 Auf der anderen Seite wird in V.12.13 ‫ כל‬jeweils durch eine Form von πᾶς wiedergegeben. Der Unterschied kann darin begründet sein, dass es sowohl in V.11 als auch in V.14 darum geht, dass Mose das Volk bzw. seinen „Aufruhr“ tragen muss. In V.12 dagegen wird Mose (hypothetisch) als Mutter beschrieben, die das Volk in ihrem Leib getragen hat, und in V.13 wird gefragt, woher Mose Fleisch nehmen soll, um es dem Volk zu geben. Der Inhalt von V.14 ist mit dem von V.11 vergleichbar, und wenn V.11 durch den Wortlaut von Ex 5,22 beeinflusst ist, dann ist es denkbar, dass sich dies auf V.14 übertragen hat. Das muss nicht bedeuten, dass der Übersetzer hier bewusst eine Angleichung an Ex 5,22 vorgenommen hätte. Das geschah eher bei der Übersetzung von V.11, bei V.14 dagegen ist zu vermuten, dass der Wortlaut von V.11 beeinflusst ist. ὅτι βαρύτερόν μοί ἐστιν τὸ ῥῆμα τοῦτο / ‫ כי כבד ממני‬Die hebräische Konstruktion mit ‫ מן‬hat die Bedeutung „zu schwer für mich“.106 Die griechische Entsprechung mit dem Komparativ βαρύτερόν μοί ist eine angemessene Wiedergabe.107 Die griechische Wortfolge ἐστιν τὸ ῥῆμα τοῦτο hat keine Entsprechung in 𝔐. Eine mögliche Ursache könnte in einer Vorlage mit dem Wortlaut ‫הדבר הזה‬, aber auch in einer Ergänzung durch den Übersetzer liegen. Inhaltlich wird es sich um eine Anspielung auf Ex 18,18 (βαρύ σοι τὸ ῥῆμα τοῦτο, οὐ δυνήσῃ ποιεῖν μόνος; 𝔐: ‫ )כי־כבד ממך הדבר‬handeln. Denn dort geht es ebenfalls darum, dass eine Sache für Mose „zu schwer“ ist, nämlich das Schlichten von Streitfällen.108 Ein intertextueller Bezug zu Ex 18,13–27, dem Bericht über die Berufung von Anführern zur Unterstützung des Mose, kann bereits im hebräischen Text von Num 11,11–17 beobachtet werden, da in beiden Texten das Problem und seine Lösung sehr ähnlich sind.109 Das könnte dafür sprechen, dass ein Tradent der Vorlage diese Beziehung zwischen den beiden Texten durch eine Ergänzung des Wortlauts noch deutlicher machen wollte. Allerdings ist eine entsprechende Lesart nicht in hebräischen Manuskripten belegt. Außerdem konnte bei der Untersuchung von Num 11 bereits mehrfach beobachtet werden, dass der Übersetzer inhaltliche Nuancen durch Be-

104 105 106 107 108 109

Siehe z. B. Seite 130 zu V.1, Seite 142 zu V.8 und Seite 147 zu V.11. Siehe Seite 147 zu V.11. Joüon und Muraoka, A Grammar of Biblical Hebrew, § 141i. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 167. Vgl. Dorival, Les Nombres, 67. Seebass, Numeri 10,11–22,1, 42–43.

150 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit züge zu anderen Texten ausgedrückt hat.110 Es ist also wahrscheinlich, dass es auch hier der Übersetzer war, der den schon im Ausgangstext vorliegenden Bezug zu Ex 18 verstärkt hat. Dadurch wird eine Kontinuität zwischen den Personengruppen ausgedrückt, die in den beiden Texten als Helfer des Mose eingesetzt werden. Die in Num 11,16 genannten πρεσβύτεροι und γραμματεῖς sind nach Meinung des Übersetzers mit derselben Kompetenz zur Schlichtung von Streitfällen ausgestattet wie die Helfer des Mose in Ex 18.

Vers 15 εἰ δὲ οὕτως σὺ ποιεῖς μοι / ‫ ואם־ככה את־עשה לי‬Mit εἰ δέ wird ‫ ואם‬wiedergegeben, wobei die Partikel δέ kontrastiv verwendet wird.111 Schon im hebräischen Text handelt es sich um ein adversativ gebrauchtes ‫ו‬, das die in V.11–14 geäußerte Klage des Mose mit der potenziellen Fortsetzung des unerwünschten Zustands („doch wenn du tatsächlich so an mir handelst …“) kontrastiert. Eine Übersetzung des ‫ ו‬mit δέ statt stereotyp mit καί gibt den Sinn gut wieder und ist in diesem Kapitel bereits beobachtet worden.112 ἀπόκτεινόν με ἀναιρέσει / ‫הרגני נא הרג‬ Im hebräischen Text liegt eine figura etymologica mit infinitivus absolutus vor. Die Wiedergabe einer solchen Konstruktion durch ein finites Verb mit Substantiv im Dativ ist in den Schriften der Septuaginta nicht unüblich und wurde schon im klassischen Griechisch gelegentlich praktiziert.113 Es ist zwar nicht gelungen, die figura etymologica durch zwei Wörter mit gleichem Stamm abzubilden, doch der verstärkende Sinn des hebräischen Textes wurde gut wiedergegeben („durch Zerstörung“), wobei auch die Paronomasie zumindest im a-Anlaut erhalten geblieben ist. εἰ εὕρηκα ἔλεος παρὰ σοί / ‫ אם־מצאתי חן בעיניך‬Die Wahl von ἔλεος ist ungewöhnlich, da ansonsten zur Wiedergabe von ‫ חן‬meist χάρις verwendet wird. Außer an dieser Stelle wird ‫ חן‬sonst nur noch einmal mit ἔλεος übersetzt, und zwar in Gen 19,19.114 Hier wie dort passt diese spezielle Wortwahl vorzüglich in den Kon-

110 Zu nennen sind die Anklänge von Ex 5,22 in V.11 (siehe Seite 146) und von Lev 10,1–7 in V.3 (siehe Seite 135). 111 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 168. 112 Siehe Seite 138 zu V.6. 113 Conybeare und Stock, Grammar of Septuagint Greek, § 61; Tov, „Renderings of Combinations of the Infinitive Absolute and Finite Verbs“, 65. 114 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 168, gibt zusätzlich Ri 1,24 an, hier handelt es sich jedoch um die Wiedergabe von ‫חסד‬.

6.2 Kommentar |

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text: In Gen 19,19 bezieht sich Lot auf die bereits erfolgte Rettung aus Sodom, er hat „Barmherzigkeit“ erlangt. In Num 11,15 bittet Moses nicht nur um „Gunst“ wie in V.11, wo ‫ חן‬mit χάρις wiedergegeben wurde, sondern konkreter um „Erbarmen“, da die Führung des Volkes derart schwer auf ihm lastet.115 Wie schon in V.10 und V.11 wurde der Hebraismus ἐν ὀφθαλμοῖς vermieden,116 diesmal allerdings nicht mit Hilfe der Präposition ἐνώπιον, sondern mit παρά. ἵνα μὴ ἴδω μου τὴν κάκωσιν / ‫ ואל־אראה ברעתי‬Während im hebräischen Text der Finalsatz lediglich mit ‫ ו‬angeschlossen wird,117 hat der Übersetzer wie schon in V.13118 durch die Verwendung der Konjunktion ἵνα die Beziehung zwischen den beiden Sätzen explizit gemacht.119

Vers 16 ἑβδομήκοντα ἄνδρας ἀπὸ τῶν πρεσβυτέρων Ἰσραήλ / ‫שבעים איש מזקני ישראל‬ Die Präposition ἀπό ist eine wörtliche Entsprechung zu ‫מן‬. Diese Art der Wiedergabe ist im Koine-Griechischen als Ersatz des genitivus partitivus nicht unüblich.120 Der Komparativ πρεσβύτερος zur Wiedergabe von ‫ זקן‬in der Bedeutung „Ältester“121 ist im griechischen Pentateuch etabliert und daher unauffällig.122

115 Diese differenzierte Wortwahl wird von der hexaplarischen Rezension durch die Verwendung von χάρις nivelliert. 116 Siehe Seite 145 zu V.10 und Seite 147 zu V.11. 117 Vgl. Gesenius, Kautzsch und Bergsträsser, Hebräische Grammatik, § 165a. 118 Vgl. Seite 148. 119 Die Masora magna zu 𝔐 notiert ein tiqqûn sôfərîm für Num 11,15. Die von 𝔐 gebotene Lesart ‫„( ברעתי‬mein Unheil“, genitivus obiectivus mit Referenz auf Mose) wird in der rabbinischen Literatur als euphemistische Änderung der ursprünglichen Lesart ‫„( ברעתך‬dein Unheil“, genitivus subiectivus mit Referenz auf Gott) verstanden. Sollte dies die tatsächliche Textgeschichte widerspiegeln (siehe kritisch dazu Milgrom, Numbers, 86; Seebass, Numeri 10,11–22,1, 30), so müsste die Änderung vor der Übersetzung ins Griechische erfolgt sein, da in der griechischen Texttradition die angeblich ursprüngliche Lesart nicht belegt ist; vgl. Fritsch, The AntiAnthropomorphisms, 7. Zu den tiqqûnê sôfərîm im Allgemeinen vgl. Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, 52–54. 120 von Siebenthal, Griechische Grammatik, § 184e. Allerdings zeigt der Satz καὶ οὗτοι ἦσαν τῶν καταγεγραμμένων in Num 11,26, der eine hebräische Konstruktion mit ‫ ב‬wiedergibt (‫והמה‬ ‫)בכתבים‬, dass auch der reguläre genitivus partitivus vom Übersetzer verwendet wurde. 121 Vgl. Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫זקן‬. 122 Siehe z. B. Ex 24,1; vgl. Lust, Eynikel und Hauspie, Greek-English Lexicon of the Septuagint, s.v. πρεσβύτερος.

152 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit οὓς αὐτὸς σὺ οἶδας / ‫ אשר ידעת‬Durch die Einfügung αὐτὸς σύ wird das Subjekt betont. Damit deutet der griechische Text an, dass die Auswahl der Autoritätspersonen von der Autorität des Mose abhängig ist.123 ὅτι οὗτοί εἰσιν πρεσβύτεροι τοῦ λαοῦ καὶ γραμματεῖς αὐτῶν / ‫כי־הם זקני העם‬ ‫ ושטריו‬Die Kopula εἰσίν wurde eingefügt, um einen Nominalsatz zu vermeiden. Der Gebrauch von Nominalsätzen ist im klassischen Griechisch durchaus möglich, findet sich jedoch eher in prägnanten Formulierungen wie Sentenzen oder in lebhaften alltagssprachlichen Äußerungen.124 Im vorliegenden Fall entspricht die Verwendung einer Kopula dem Stil des klassischen Griechisch. Die Wiedergabe von ‫ שטר‬mit γραμματεύς begegnet bereits in Ex 5,6.19. Die Bezeichnung der Autoritätsträger als πρεσβύτεροι und γραμματεῖς spiegelt möglicherweise die Organisation der Diasporagemeinde wider.125 Die hier genannten Personen sind bereits in V.14 durch einen intertextuellen Bezug auf Ex 18,18 besonders ausgezeichnet worden, nämlich als Menschen, die über eine besondere juristische Kompetenz verfügen.126 καὶ ἄξεις αὐτοὺς πρὸς τὴν σκηνὴν τοῦ μαρτυρίου / ‫ולקחת אתם אל־אהל מועד‬ Die weqatal-Form ‫ ולקחת‬wurde stereotyp als Futur wiedergegeben.127 Dieses trägt hier entsprechend dem hebräischen Text eine imperativische Bedeutung.128 Entsprechendes gilt für den folgenden Satz (καὶ στήσονται ἐκεῖ μετὰ σοῦ).

Vers 17 καὶ ἀφελῶ ἀπὸ τοῦ πνεύματος / ‫ ואצלתי מן־הרוח‬Während die von 𝔐 gebotene Verbform ‫ ואצלתי‬auf der seltenen Wurzel ‫„( אצל‬zurück- / aufbehalten“)129 basiert, liegt der Lesart von ⅏ (‫ )והצלתי‬das geläufigere Verb ‫ נצל‬im Hif‘il („entreißen“) zugrunde. Letzteres entspricht in der Wortbedeutung eher dem griechischen ἀφαιρέω („wegnehmen“), daher ist es wahrscheinlich, dass die Vorlage des Übersetzers an dieser Stelle dem präsamaritanischen Texttyp entsprach. Anderer-

123 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 462. 124 Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 255; vgl. auch Seite 145 zu V.10. 125 So Rösel, „Die Septuaginta und der Kult“, 31. 126 Siehe zu V.14 Seite 149. 127 Vgl. Voitila, „The Translator of the Greek Numbers“, 115. 128 von Siebenthal, Griechische Grammatik, § 202b.f; vgl. Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 216. 129 Dies mit Gen 27,36; siehe Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫ אצל‬II.

6.2 Kommentar |

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seits könnte auch das schwierige ‫ אצל‬unter Berücksichtigung des Kontextes mit ἀφαιρέω übersetzt worden sein. Dafür könnte auch die Tatsache sprechen, dass ‫ אצל‬in Koh 2,10 mit ὑφαιρέω wiedergegeben wurde.130 Die Frage nach der vom Übersetzer vorausgesetzten Vorlage ist hier also nicht mit Sicherheit entscheidbar. Die wörtliche Wiedergabe von ‫ מן‬durch ἀπό ist wie in V.16131 partitiv und im Rahmen des Koine-Griechischen unauffällig. καὶ συναντιλήμψονται μετὰ σοῦ τὴν ὁρμὴν τοῦ λαοῦ / ‫ ונשאו אתך במשא העם‬Das Verb συναντιλήμψομαι („tragen helfen“) als Entsprechung für ‫ נשא‬ist bemerkenswert, da dasselbe hebräische Verb im nächsten Satz mit φέρω wiedergegeben wird. Die Übersetzung durch das seltene Kompositum ist an dieser Stelle dem Kontext angemessen, da es die Hilfe beschreibt, die Mose erhalten soll.132 Gleichzeitig bildet die Wortwahl einen intertextuellen Bezug zu Ex 18,22, wo ebenfalls bezüglich der Helfer des Mose der Satz ‫ ונשאו אתך‬mit καὶ συναντιλήμψονταί σοι übersetzt wird. Dieser Bezug auf Ex 18,22 ergänzt die Anspielung auf Ex 18,18 in V.14.133 Das Substantiv ὁρμή („Ansturm, Aufruhr“) als Wiedergabe von ‫ משא‬beschreibt wie schon in V.11 den Charakter des Volkes, wodurch ein Bezug zu Ex 32,22 hergestellt wird.134 καὶ οὐκ οἴσεις αὐτοὺς σὺ μόνος / ‫ולא־תשא אתה לבדך‬ Das Pronomen αὐτούς hat keine Entsprechung im hebräischen Text. Es bezieht sich sicher auf das Volk und wurde der Verständlichkeit halber eingefügt, damit der Satz ein Objekt enthält.135

130 Dieses unterstützende Argument, das lediglich den Sinn hat, eine potenzielle Wiedergabe plausibel zu machen, gilt unbeschadet der Tatsache, dass die „Septuagintafassung“ des Koheletbuches von einigen Forschern als ein Werk Aquilas betrachtet wird; siehe dazu Barthélemy, Les devanciers d’Aquila, 21–30; vgl. kritisch Hyvärinen, Die Übersetzung von Aquila, 88–99; zur Diskussion siehe Franz Josef Backhaus, „Ekklesiastes“, in: Septuaginta Deutsch – Erläuterungen und Kommentare, hrsg. von Martin Karrer und Wolfgang Kraus, Bd. 2: Psalmen bis Daniel, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2011, 2001–2028, 2004. 131 Siehe Seite 151. 132 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 170. Auch in V.12 wird ‫ נשא‬mit zwei verschiedenen griechischen Verben wiedergegeben, siehe Seite 148. 133 Dorival, Les Nombres, 67; zu V.14 siehe Seite 149. 134 Siehe Seite 147 zu V.11. 135 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 170.

154 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit Vers 18 ὅτι ἐκλαύσατε ἔναντι κυρίου / ‫ כי בכיתם באזני יהוה‬Der Ausdruck ‫באזני‬ ‫ יהוה‬wird mit ἔναντι κυρίου wiedergegeben. Offensichtlich hatte der Übersetzer Vorbehalte, den Anthropomorphismus der „Ohren des Herrn“ zu übernehmen. Dies ist nicht durchgängig in den Septuagintaschriften der Fall, wie das Beispiel der Psalmen zeigt, wo sich zahlreiche Belege finden lassen, in denen Gott gebeten wird, sein „Ohr“ zu „neigen“.136 Im griechischen Numeribuch wird der Ausdruck ‫ באזני יהוה‬in Num 11,1 ebenfalls vermieden,137 in Num 14,28 wird allerdings die Formulierung λελαλήκατε εἰς τὰ ὦτά μου im Rahmen einer Gottesrede verwendet. Da ‫ אזן‬nur an diesen drei Stellen im Numeribuch vorkommt, sollte man die Vermeidung des anthropomorphen Ausdrucks hier nicht überbewerten. τίς ἡμᾶς ψωμιεῖ κρέα / ‫ מי יאכלנו בשר‬Wie schon in V.4138 wird eine Frage, die im Hebräischen einen Wunsch ausdrückt, wörtlich ins Griechische übertragen. ὅτι καλὸν ἡμῖν ἐστιν ἐν Αἰγύπτῳ / ‫ כי־טוב לנו במצרים‬Durch die Wiedergabe von ‫ טוב‬mit καλός hat der Übersetzer die Aussage des Textes verstärkt.139 Das ergibt sich zunächst aus der Wortbedeutung, denn das Adjektiv καλός enthält im Vergleich mit ἀγαθός zusätzlich die Konnotation des Schönen und Ästhetischen.140 Nun ist zwar einzuräumen, dass ‫ טוב‬im Numeribuch öfter mit καλός übersetzt wird als mit ἀγαθός,141 und auch im griechischen Genesisbuch ist καλός das Standardäquivalent von ‫טוב‬.142 Man könnte also die Verwendung von καλός als eher unauffällig bewerten. Auf der anderen Seite zeigt sich die Bedeutung der Wortwahl an dieser Stelle im Vergleich mit der Wortwahl in Num 14,7. Dort wird beschrieben, wie Josua und Kaleb nach der Erkundung des Landes Kanaan versuchen, die zur Landnahme unwilligen Israeliten zu beschwichtigen. Dabei charakterisieren sie das Land Kanaan im hebräischen Text mit den Worten ‫טובה הארץ‬ ‫מאד מאד‬, was in der Übersetzung mit ἀγαθή ἐστιν σφόδρα σφόδρα wiedergegeben wird. Das von Gott verheißene Land wird eher nüchtern als „gut“ bezeichnet, das Land der Sklaverei nach Meinung der Israeliten dagegen als „schön“. Die Aus-

136 Soffer, „The Treatment of Anthropomorphisms and Anthropopathisms in the Septuagint of Psalms“, 94–95. 137 Siehe Seite 130 zu V.1 sowie zu einer textlichen Unsicherheit bezüglich dieser Aussage. 138 Siehe Seite 137. 139 So auch Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 171. 140 Siehe Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. ἀγαθός, s.v. καλός. 141 Hatch und Redpath, A Concordance to the Septuagint, s.v. ἀγαθός (2 Vorkommen), s.v. καλός (6 Vorkommen). 142 Rösel, Übersetzung als Vollendung der Auslegung, 35.

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sage des hebräischen Textes von Num 11,18, nämlich die irrationale Überhöhung der Lebensumstände in Ägypten durch die Israeliten, wird somit in der Übersetzung verstärkt. Dadurch wird das „Murren“ der Israeliten wie schon in V.1143 moralisch abqualifiziert. Die Kopula ἐστίν wurde vom Übersetzer eingefügt, um einen Nominalsatz zu vermeiden.144 καὶ δώσει κύριος ὑμῖν κρέα φαγεῖν καὶ φάγεσθε κρέα / ‫ונתן יהוה לכם בשר‬ ‫ואכלתם‬ Der Infinitiv φαγεῖν und das zweite Vorkommen von κρέα haben keine Entsprechung im hebräischen Text. Möglicherweise hat der Übersetzer den Satz entsprechend ergänzt.145 Die Ergänzung von κρέα am Satzende hätte dann den Zweck gehabt, dem Prädikat φάγεσθε ein Objekt zuzuordnen. Allerdings lässt sich kein Grund für die Ergänzung des Infinitivs plausibel machen. Alternativ dazu ist eine ausführlichere Vorlage denkbar, etwa mit der Lesart ‫ונתן יהוה לכם‬ ‫בשר לאכל ובשר תאכלו‬, aus der durch Haplographie (Parablepsis vom ersten zum zweiten ‫ )בשר‬nahezu (yiqtol statt weqatal) die Lesart von 𝔐 entstanden sein könnte. Keiner der beiden Erklärungsversuche ist befriedigend.

Vers 19 οὐχ ἡμέραν μίαν φάγεσθε οὐδὲ δύο οὐδὲ πέντε ἡμέρας / ‫לא יום אחד תאכלון ולא‬ ‫ יומים ולא חמשה ימים‬Der hebräische Dual ‫ יומים‬wurde nicht als griechischer Dual146 wiedergegeben, stattdessen wurden „zwei Tage“ und „fünf Tage“ zusammenfassend mit zwei Zahlwörtern, aber nur einem Substantiv übersetzt. Dadurch wurde eine der vielen Wiederholungen von ἡμέρα in diesem Vers vermieden.

Vers 20 ἕως μηνὸς ἡμερῶν φάγεσθε / ‫ עד חדש ימים‬Der Hebraismus ἕως μηνὸς ἡμερῶν ist eine wörtliche Übersetzung von ‫ עד חדש ימים‬und hat die Bedeutung „ein ganzer Monat“.147 Das Verb φάγεσθε wurde vom Übersetzer eingefügt, um einen verblosen Satz zu vermeiden und so die Verständlichkeit zu erhöhen.

143 Siehe Seite 130; vgl. auch Seite 142 zu V.8 (ἡδονή). 144 Vgl. Seite 145 zu V.10 und Seite 152 zu V.16. 145 So Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 171. 146 Der griechische Dual ist in der Koine ausgestorben; siehe Blass, Debrunner und Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, § 2. 147 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 172.

156 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit καὶ ἔσται ὑμῖν εἰς χολέραν / ‫ והיה לכם לזרא‬Das seltene Wort ‫„( זרא‬Ekel“) wurde mit χολέρα wiedergegeben. Das griechische Wort beschreibt im Allgemeinen verschiedene Krankheitsbilder, die allerdings nicht der heute bekannten Cholera entsprechen. Da in rabbinischen Quellen zu Num 20,11 über verschiedene Krankheiten spekuliert wird, könnte auch hier im griechischen Text ein spezifisches Krankheitsbild gemeint sein.148 Wahrscheinlicher ist jedoch die Bedeutung „Übelkeit“, die das Wort auch in Sir 37,30 hat.149 ἵνα τί ἡμῖν ἐξελθεῖν ἐξ Αἰγύπτου / ‫למה זה יצאנו ממצרים‬ Das Pronomen ἡμῖν hat keine Entsprechung im hebräischen Text. Es stellt einen dativus commodi dar, der angibt, zu wessen Vor- oder Nachteil etwas geschieht.150 Damit hat der griechische Satz den Sinn: „Was haben wir davon …?“151 Das Ausgangstextsegment ‫„( למה זה‬warum bloß“) wurde dadurch konkret und natürlich wiedergegeben.

Vers 21 ἐν οἷς εἰμι ἐν αὐτοῖς / ‫אשר אנכי בק רבו‬ Die Verwendung des pleonastischen Demonstrativpronomens stellt einen üblichen Hebraismus dar152 und wird durch den Wunsch motiviert gewesen sein, jedes Element des Ausgangstextes auf ein Element des Zieltextes abzubilden. Der Plural des Pronomens ist eine Wiedergabe ad sensum, der Referent des Pronomens ist ὁ λαός. καὶ φάγονται μῆνα ἡμερῶν / ‫ ואכלו חדש ימים‬Die Formulierung μῆνα ἡμερῶν ist ganz ähnlich wie in V.20153 ein Hebraismus, der aus der wörtlichen Wiedergabe von ‫ חדש ימים‬resultiert.

Vers 22 καὶ ἀρκέσει αὐτοῖς / ‫ ומצא להם‬Durch die zweimalige Wiedergabe von ‫ מצא‬mit ἀρκέω (statt wörtlich mit εὑρίσκω) wird der Sinn des Ausgangstextes, nämlich die Frage, ob die potenzielle Nahrung für die Menge der Israeliten ausreichen wird, gut wiedergegeben.

148 Leo Prijs, Jüdische Tradition in der Septuaginta, Leiden: Brill, 1948, 21. 149 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 172. 150 Vgl. Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 188. 151 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 173. 152 Vgl. Thackeray, A Grammar of the Old Testament in Greek, 46. 153 Siehe Seite 155.

6.2 Kommentar |

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ἢ πᾶν τὸ ὄψος τῆς θαλάσσης συναχθήσεται αὐτοῖς / ‫אם את־כל־דגי הים יאסף‬ ‫להם‬ Durch die Wiedergabe von ‫ אם‬mit ἤ zu Beginn der zweiten Vershälfte wird eine zweite Fragepartikel vermieden, so dass sich das μή vom Beginn des Verses mit seiner zweifelnden Bedeutung („Sollen etwa …?“) auf beide Fragen erstreckt.154 Statt τὸ ὄψος wird in der Regel das synonyme τὸ ὄψον verwendet, dieses bezeichnet ganz allgemein gekochte Nahrung und erst in einem speziellen Sinn Fisch.155 Im Gegensatz zu V.5, wo im hebräischen Text das Kollektivum ‫ דגה‬vorkommt, bezeichnet der Ausdruck ‫ את־כל־דגי הים‬in V.22 eine zählbare Menge einzelner Fische („alle“). Diese Nuance geht in der Übersetzung durch die Verwendung des Singulars und des Artikels (πᾶν τὸ ὄψος) verloren, die Bedeutung ist hier eher die eines Kollektivums („die ganze Fischmenge“).156 Das verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass das Wort in den Papyri die Bedeutung eines Kollektivums hat.157 Wahrscheinlich musste der Übersetzer auf die Nuance einer zählbaren Menge von Fischen verzichten, weil er bewusst das Wort ὄψος gewählt hat, das jedoch nur noch als Kollektivum Verwendung fand. Durch diese Wortwahl konnte der Übersetzer eine terminologische Unterscheidung treffen und die hier erwähnte Fischnahrung von der in V.5 genannten abgrenzen. Bereits im hebräischen Text von V.5 lässt die Erwähnung von „Fisch“ an Flussfische als Nahrung der niederen Stände in Ägypten denken,158 während in V.22 ausdrücklich Meeresfische ( ‫ )דגי הים‬genannt werden. Diesen Unterschied hat der Übersetzer terminologisch abgebildet, indem er in V.5 ἰχθύς und in V.22 ὄψος verwendet hat. Der Preis für die terminologische Differenzierung bestand darin, dass die Zählbarkeit nicht mehr ausgedrückt werden konnte.

Vers 23 μὴ χεὶρ κυρίου οὐκ ἐξαρκέσει / ‫ היד יהוה תקצר‬Der anthropomorphe Ausdruck „Hand des Herrn“ bleibt in der Übersetzung erhalten. Die zweite Hälfte der Metapher dagegen hat der Übersetzer aufgelöst, indem er ‫ תקצר‬mit οὐκ ἐξαρκέσει wiedergegeben hat. Es wird also in der Übersetzung nicht gefragt, ob die Hand

154 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 173, spricht von einer „excellent translation“. 155 Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. ὄψος, s.v. ὄψον. 156 Vgl. Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 153; siehe auch Walter Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hrsg. von Kurt und Barbara Aland, 6. Aufl., Berlin und New York: de Gruyter, 1988, s.v. πᾶς, cα. 157 Dorival, Les Nombres, 293. 158 Seebass, Numeri 10,11–22,1, 46.

158 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit Jahwes „etwa zu kurz ist“, sondern ob die Hand des Herrn „etwa nicht ausreicht“. Offensichtlich erschien es dem Übersetzer durchaus angemessen, Gottes Macht metaphorisch als seine „Hand“ auszudrücken, nicht aber, die konkrete Wirksamkeit mit einer „Länge“ zu vergleichen. In der Übersetzung hält sich der Anthropomorphismus also in Grenzen. Gleichzeitig wird durch das Kompositum ἐξαρκέω an das in V.22 verwendete Simplex ἀρκέω erinnert. Dort ging es um die Frage, ob die von Gott versprochene Nahrung tatsächlich „genügen“ wird.159 Somit bezieht sich die Antwort Gottes in V.23 in der Übersetzung noch direkter auf die zweifelnden Fragen des Mose als im Ausgangstext.160 Die Kohärenz des Textes wird folglich verstärkt. ἤδη γνώσει / ‫עתה תראה‬ Die Übersetzung von ‫ תראה‬mit γνώσει ist auffällig, da das hebräische Verb in den allermeisten Fällen mit εἴδω oder ὁράω wiedergegeben wird.161 Das in der Übersetzung erwähnte „Erkennen“ beschreibt eine Folge des „Sehens“. Denn für Mose wird das Sehen, also das Miterleben des angekündigten Wunders, einen Erkenntnisgewinn implizieren. Der Übersetzer hat die im Ausgangstext genannte Ursache durch deren Wirkung ersetzt162 und damit die Aussage verdeutlicht.

6.2.4 Die Zuteilung des Geistes (V.24–30) In diesem Abschnitt begegnen sowohl hebraistische Wiedergaben als auch solche, die eher dem griechischen Stilempfinden entsprechen. Einige Stellen könnten auf eine präsamaritanische Vorlage hinweisen. In einem Fall lässt sich eine Harmonisierung mit einem anderen Text des Numeribuches vermuten.

Vers 25 καὶ παρείλατο ἀπὸ τοῦ πνεύματος / ‫ ויאצל מן־הרוח‬Zur Frage nach der Vorlage des Übersetzers (𝔐: ‫אצל‬, ⅏: ‫ נצל‬Hif‘il) sei auf die Anmerkungen zu V.17 verwie-

159 Siehe Seite 156 zu V.22. 160 Dorival, Les Nombres, 293, nennt die Wiedergabe „une réponse plus directe“. 161 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 174. 162 van der Louw, Transformations in the Septuagint, 66, bezeichnet diese Übersetzungstechnik als „reversal of cause and effect“.

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sen.163 Ein Bedeutungsunterschied zwischen dem in V.17 verwendeten ἀφαιρέω und dem hier gebotenen παραιρέω besteht nicht.164 καὶ οὐκέτι προσέθεντο / ‫ולא יספו‬ Der Übersetzer hat die Verbform ‫ יספו‬wie die Masoreten auf der Grundlage der Wurzel ‫„( יסף‬hinzufügen“) vokalisiert (ּ ‫)ולא י ָסְפו‬. Dagegen setzen die Targumim das Verb ‫„( סוף‬aufhören“) voraus und vermitteln damit die gegenteilige Bedeutung.165

Vers 26 καὶ ὄνομα τῷ δευτέρῳ Μωδάδ / ‫ ושם השני מידד‬Der griechische Text folgt bezüglich der Namensgebung der von ⅏ bezeugten Lesart ‫מודד‬. καὶ οὗτοι ἦσαν τῶν καταγεγραμμένων / ‫והמה בכתבים‬ Das Verb καταγράφω hat oft die Bedeutung der Eintragung in ein Register.166 Vielleicht lässt sich aus der Verwendung gerade dieses Verbs anstelle des Simplex γράφω schließen, dass der Übersetzer an eine Eintragung von Amtsträgern in Listen gedacht hat. Es ist denkbar, dass es sich um eine Aktualisierung des Textes an die Lebenswelt des Übersetzers und seiner Leser handelt, in der solche Listen möglicherweise existierten. καὶ οὐκ ἦλθον πρὸς τὴν σκηνήν / ‫ולא יצאו האהלה‬ Der Übersetzer hat darauf verzichtet, den Gegensatz dieser Aussage zum vorhergehenden Satz durch die Konjunktion δέ zu markieren („sie waren unter den Eingetragenen, doch gingen sie nicht …“). Stattdessen wird wie bei den übrigen Vorkommen in diesem Vers ‫ ו‬stereotyp mit καί übersetzt. Bei einer Wiedergabe mit δέ hätte auch der folgende Satz („und sie prophezeiten im Lager“) als Gegensatz zu der Aussage „sie waren unter den Eingetragenen“ aufgefasst werden können.

163 Seite 152. 164 Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. ἀφαιρέω, s.v. παραιρέω. Für die Verbform sind die Lesarten der drei jüdischen Revisionen α’, σ’ und θ’ überliefert. Während sich α’ und σ’ mit Formen von ἀποσπάω und ἐπισπάω (”wegziehen, abziehen“) semantisch noch im Rahmen der Septuagintafassung bewegen, sind für θ’ die Lesarten ἀποσκιάζω und ἐπισκιάζω bezeugt. Beide haben die Bedeutung „überschatten“ und lassen sich am besten aus einer Verwechslung des von 𝔐 bezeugten Verbs ‫ אצל‬mit ‫ צלל‬sowie mit der Erwähnung der Wolke im vorherigen Satz erklären. Allerdings ergibt der Ausdruck „überschatten vom Geist [her]“ (ἀπὸ τοῦ πνεύματος) im Kontext keinen Sinn. Zu den genannten Lesarten vgl. noch Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 175. 165 Vgl. Seebass, Numeri 10,11–22,1, 31. 166 Dorival, Les Nombres, 89; vgl. Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v.

160 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit Die Wahl des Verbs ἔρχομαι als Wiedergabe von ‫ יצא‬stellt eine generalisierende Übersetzung dar, da „gehen“ ein Hyperonym zu „hinausgehen“ ist.167 Während der hebräische Text wohl voraussetzt, dass sich das Zelt außerhalb des Lagers befand (vgl. Ex 33,7) und deshalb das Verb ‫ יצא‬verwendet, lässt die Übersetzung die Frage nach der Örtlichkeit offen.168 Es ist gut denkbar, dass der Übersetzer den Geistempfang nicht an ein Zelt außerhalb des Lagers gebunden wissen wollte, sondern an das nach Num 2,2 in der Mitte des Lagers zu lokalisierende „Zelt des Zeugnisses“. In diesem Fall wäre Num 11,26 mit Num 2,2 harmonisiert worden.

Vers 27 καὶ προσδραμὼν ὁ νεανίσκος ἀπήγγειλεν Μωυσῇ / ‫וירץ הנער ויגד למשה‬ Mit der hypotaktischen Übersetzung καὶ προσδραμών als Wiedergabe von ‫ וירץ‬hat sich der Übersetzer um griechischen Stil bemüht und eine lange Folge parataktisch angeschlossener Sätze unterbrochen. καὶ εἶπεν λέγων / ‫ויאמר‬ Die pleonastische Verwendung von λέγων ohne Entsprechung im hebräischen Text ist auffällig, sie beruht wahrscheinlich auf einer entsprechenden hebräischen Vorlage.169 Dagegen könnte zwar sprechen, dass die Wortfolge ‫ ויאמר לאמר‬im Text von 𝔐 sonst nicht vorkommt. Allerdings zeigt die Formulierung ‫ ויאמרו לאמר‬in Ex 15,1, dass eine finite Form von ‫ אמר‬durchaus mit ‫ לאמר‬kombinert werden konnte. Zudem lässt sich kein Grund anführen, warum der Übersetzer das pleonastische Partizip λέγων eingefügt haben sollte.

Vers 28 καὶ ἀποκριθεὶς ᾿Ιησοῦς ὁ τοῦ Ναυή / ‫ ויען יהושע בן־נון‬Die hypotaktische Wiedergabe καὶ ἀποκριθείς in Verbindung mit dem folgenden finiten Verb εἶπεν ist die übliche Übersetzung der parataktischen Folge ‫ויען … ויאמר‬.170 ὁ παρεστηκὼς Μωυσῇ ὁ ἐκλεκτὸς / ‫ משרת משה מבחריו‬Das Partizip παρεστηκώς meint hier sicher nicht den „bei Mose Stehenden“, vielmehr hat das Verb παρίστημι hier wie schon im klassischen Griechisch die Bedeutung „helfen, bei-

167 Vgl. van der Louw, Transformations in the Septuagint, 67–68; zu Hyperonymie siehe Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, 286. 168 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 176. 169 Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 84–85; vgl. auch Aejmelaeus, „What can we know about the Hebrew Vorlage“, 97. 170 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 177.

6.2 Kommentar

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stehen“.171 Die Verwendung zur Wiedergabe von ‫„( משרת‬Helfer“), die bereits in Ex 24,13 begegnet, ist also durchaus angemessen. Während in 𝔐 Josua als Helfer Moses „von seiner Jugend an“ (‫ )מבחריו‬bezeichnet wird, nennt ihn der griechische Text „den auserwählten (Helfer)“. Das hebräische ‫„( בחורים‬Jugendzeit“) ist sehr selten und sonst nur in Koh 11,9; 12,1 belegt.172 Einige Manuskripte des präsamaritanischen Texttyps bieten die Lesart ‫[„( מבחיריו‬einer] von seinen Auserwählten“). Es ist möglich, dass der Übersetzer, von solch einer Vorlage ausgehend, das partitive ‫מן‬, den Plural und das Pronominalsuffix ignoriert und die bereits durch ὁ παρεστηκώς ausgedrückte besondere Stellung Josuas durch die Apposition ὁ ἐκλεκτός hervorgehoben hat. Dies wäre allerdings auch mit einer Vorlage vom protomasoretischen Typ möglich gewesen. κύριε Μωυσῆ / ‫אדני משה‬ Der Vokativ κύριε gibt ‫„ אדני‬mein Herr“ ohne Possessivpronomen wieder und überträgt damit die Bedeutung angemessen in die Zielsprache.173

Vers 29 μὴ ζηλοῖς σύ μοι / ‫המקנא אתה לי‬ Die Wiedergabe des hebräischen Partizips durch eine Präsensform ist in den Septuagintaschriften unauffällig.174 καὶ τίς δῴη πάντα τὸν λαὸν κυρίου προφήτας / ‫ ומי יתן כל־עם יהוה נבאים‬Bei dem Ausdruck ‫ מי יתן‬handelt es sich um eine Wunschformel.175 Die wörtliche Wiedergabe zählt zu den bekannten Hebraismen,176 sie ist in ähnlicher Form bereits in V.4 und V.18 begegnet.177

171 Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. παρίστημι, B.I.2; vgl. auch die Übersetzung „beistehen“ in der Septuaginta Deutsch in Ex 24,13 und Dtn 1,38. An letztgenannter Stelle gibt das Wort ‫ עמד ל‬wieder, hier könnte man also über die Bedeutung des „bei Mose Stehenden“ nachdenken. 172 Der Konsonantenbestand von 𝔐 lässt sich allerdings auch als „einer von seinen [Moses] Jünglingen“, also von ‫ בחור‬abgeleitet, vokalisieren. 173 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 178. 174 Ebd., 178. 175 Vgl. Gesenius, Kautzsch und Bergsträsser, Hebräische Grammatik, § 151b. 176 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 178; vgl. Swete, An Introduction to the Old Testament in Greek, 308. 177 Siehe Seite 137 zu V.4 und Seite 154 zu V.18.

162 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit 6.2.5 Die Wachteln und die Giergräber (V.31–35) Der Übersetzer hat sich bemüht, den Sinn des Textes verständlich wiederzugeben. Hebraistische Wiedergaben begegnen nur selten. Unterschiede zum Wortlaut von 𝔐 lassen an einigen wenigen Stellen eine entsprechende Vorlage vermuten.

Vers 31 καὶ ἐξεπέρασεν ὀρτυγομήτραν / ‫ ויגז שלוים‬Die Verbform ‫ ויגז‬wurde in 𝔐 als Qal vokalisiert,178 der Übersetzung liegt dagegen eine Lesung als Hif‘il zugrunde, wie der Akkusativ ὀρτυγομήτραν zeigt. Es ließe sich einwenden, dass das griechische Verb ἐκπεράω in den Schriften der Septuaginta nur hier belegt ist und an allen anderen Stellen in der griechischen Literatur eine intransitive Bedeutung („herausgehen“) hat.179 Aus der Verwendung des Akkusativobjekts ὀρτυγομήτραν lässt sich jedoch schließen, dass der Übersetzer das Verb transitiv verwendet hat. Die Singularform des Akkusativobjekts ist sicher als Kollektivum zu verstehen. Wahrscheinlich entsprach die Vorlage des Übersetzers dem präsamaritanischen Typ und enthielt die Lesart ‫שלוי‬.180 Codex F (5. Jh.) sowie einige Minuskelhandschriften bieten statt ὀρτυγομήτραν den Nominativ ὀρτυγομήτρα. Diese Lesart setzt also die reguläre intransitive Bedeutung des Verbs ἐκπεράω voraus, wodurch sich die Bedeutung geringfügig ändert: Es wird nun nicht mehr explizit ausgesagt, dass es der Wind ist, der die Wachteln181 heranträgt, sondern der Wind geht von Gott aus (καὶ πνεῦμα ἐξῆλθεν παρὰ κυρίου), und die Vögel kommen zum Lager der Israeliten. Diese Bedeutungsänderung könnte eine dezidiert christliche Interpretation begünstigen, die im πνεῦμα den Heiligen Geist sieht, durch dessen Wirken sich die Vögel selbstständig in Bewegung setzen.182 Die Möglichkeit dieser Interpretation wird jedoch durch den nächsten Satz (καὶ ἐπέβαλεν ἐπὶ τὴν παρεμβολήν) etwas relativiert, da

178 Das Verb ‫ גוז‬ist sehr selten, der einzige weitere Beleg ist eine Qal-Form in Ps 90,10. 179 Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. ἐκπεράω, I. 180 Diese wird gegenüber der von 𝔐 bezeugten Pluralform ‫ שלוים‬ursprünglich sein. Das finale ‫ מ‬dieser Lesart ist wahrscheinlich durch Dittographie (es folgt ‫ )מן־הים‬entstanden; vgl. Seebass, Numeri 10,11–22,1, 31. 181 Die Wortbedeutung von ὀρτυγομήτρα im Vergleich zu ὄρτυξ („Wachtel“) ist nicht ganz sicher; vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 179. 182 Vgl. die Lesarten πνεῦμα κυρίου (statt πνεῦμα) in der Minuskel 392 (10. Jh.) sowie καὶ πνεῦμα ἐξῆλθεν κυρίου (statt παρὰ κυρίου) in der Minuskel 767 (13.-14. Jh.). Diese beiden Handschriften bieten allerdings nicht den Nominativ ὀρτυγομήτρα.

6.2 Kommentar

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es sich hier eher anbietet, das πνεῦμα als Wind zu deuten, der die Wachteln auf das Lager wirft. ὡσεὶ δίπηχυ ἀπὸ τῆς γῆς / ‫ וכאמתים על־פני הארץ‬Das einleitende ‫ ו‬hat keine Entsprechung im griechischen Text. Im hebräischen Text wird dadurch eine weitere Beschreibung an die vorhergehenden (‫כדרך יום כה וכדרך יום כה סביבות‬ ‫ )המחנה‬angeschlossen. Wahrscheinlich ist aus stilistischen Gründen in der Übersetzung auf die Partikel καί verzichtet worden. Denn die Angabe der Höhe stellt keine vom Vorhergehenden unabhängige Eigenschaft dar, sondern bezieht sich auf das zuvor Gesagte: Die Vögel lagen rings um das Lager in allen Richtungen, und zwar überall in der genannten Höhe.

Vers 32 καὶ ἀναστὰς ὁ λαός … καὶ συνήγαγον / ‫ויקם העם … ויאספו‬ Die erste wayyiqtol-Form wurde hypotaktisch übersetzt, doch der Hauptsatz enthält ein pleonastisches καί als Entsprechung zu ‫ו‬.183 Möglicherweise war der Übersetzer einerseits um griechischen Stil bemüht, andererseits aber auch zurückhaltend, einzelne Elemente des Ausgangstextes – in diesem Fall ‫ – ו‬nicht zu übersetzen. Umso bemerkenswerter ist der inhaltlich zu begründende Verzicht auf ein καί im direkt vorangehenden Satz (V.31). ὁ τὸ ὀλίγον συνήγαγεν δέκα κόρους / ‫הממעיט אסף עשרה חמרים‬ Die Wiedergabe des Partizips ‫„( הממעיט‬wer wenig sammelte“) durch ὁ τὸ ὀλίγον verzichtet auf ein Verb und ist somit elliptisch. Dem Übersetzer war es offensichtlich wichtig, durch die Wortwahl die hebräische Wurzel ‫ מעט‬abzubilden. Das Ergebnis ist in syntaktischer Hinsicht hebraistisch. καὶ ἔψυξαν ἑαυτοῖς ψυγμούς / ‫ וישטחו להם שטח‬Während im hebräischen Text vom „Ausbreiten“ (‫ )שטח‬der Vögel gesprochen wird, hat der Übersetzer das Verb „trocknen“ (ψύχω) bevorzugt.184 Dadurch hat er zweifellos den Sinn der im Ausgangstext beschriebenen Tätigkeit erklärt.185 Unter übersetzungstechnischem Blickwinkel lässt sich festhalten, dass das Mittel durch den Zweck ersetzt wurde.186 Die im hebräischen Text durch ein finites Verb und einen infinitivus

183 Vgl. Swete, An Introduction to the Old Testament in Greek, 308. 184 Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. ψύχω III. 185 Vgl. Ashley, The Book of Numbers, 218. 186 van der Louw, Transformations in the Septuagint, 66, spricht von „reversal of cause and effect“; vgl. zur Stelle auch Dorival, Les Nombres, 150–151.

164 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit absolutus konstruierte figura etymologica wurde im Griechischen durch ein aus dem Verb abgeleitetes Substantiv (ψυγμός) nachgeahmt.187

Vers 33 καὶ κύριος ἐθυμώθη / ‫ ואף יהוה חרה‬Wie schon in V.1 und V.10 hat der Übersetzer die konventionalisiere Metapher der brennenden Nase nicht wörtlich, sondern entsprechend ihrem Sinn wiedergegeben.188

Vers 34 καὶ ἐκλήθη τὸ ὄνομα τοῦ τόπου ἐκείνου / ‫ ויק רא את־שם־המקום ההוא‬Ähnlich wie in V.3189 wurde die semantisch mehrdeutige Verbform ‫„( ויק רא‬er nannte“ vs. „man nannte“) korrekt disambiguiert. Sie bezieht sich offensichtlich nicht auf den zuletzt (V.33) genannten Agens ‫יהוה‬, sondern hat eine unpersönliche Bedeutung, die auf die Allgemeinheit als „Namensgeber“ hinweist. Die im griechischen Text verwendete Passivkonstruktion ist eine angemessene Wiedergabe. Μνήματα τῆς ἐπιθυμίας / ‫ קברות התאוה‬Der Ortsname wurde analog zu V.3190 nicht transkribiert, stattdessen wurde die Ätiologie kreativ und entsprechend ihrer Bedeutung im hebräischen Text in die Zielsprache übertragen.191 Die Wortwahl ἐπιθυμία betont wie in V.4192 die negative Einstellung der Israeliten.

Vers 35 ἐξῆρεν ὁ λαὸς / ‫ נסעו העם‬Im griechischen Text liegt zwischen Subjekt und Prädikat Kongruenz im Numerus vor, während 𝔐 eine constructio ad sensum bietet.

187 ⅏ bietet die Lesart ‫„( וישחטו להם שחוט‬und sie schlachteten sich eine Schlachtung“), deren Verhältnis zur Lesart von 𝔐 durch Metathese von ‫ ח‬und ‫ ט‬charakterisiert ist. Dass darauf die von Codex Vaticanus sowie der Minuskel 509 gebotene Verbform ἔσφαξαν beruhen könnte (so Prijs, Jüdische Tradition, 39), ist zweifelhaft, da in beiden Fällen kein von σφάζω abgeleitetes Substantiv wie z. B. σφαγή oder σφαγιασμός bezeugt wird, sondern die Lesarten ψυγμούς (B) bzw. ψῦχους (509); vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 180. 188 Siehe Seite 132 zu V.1 und Seite 145 zu V.10. 189 Siehe Seite 135. Im Gegensatz zu V.3 kommt hier eine Lesung der Konsonantenfolge als Nif‘al nicht in Betracht, da die nota accusativi dem entgegensteht. 190 Siehe Seite 135. 191 Vgl. Ausloos, „The Septuagint’s Rendering of Hebrew Toponyms“, 42–44. 192 Vgl. Seite 137.

6.3 Texttyp

| 165

Es ist möglich, dass der Übersetzer den Numerus des Verbs an den des Substantivs angepasst hat. Andererseits ist denkbar, dass dem Übersetzer eine Lesart ohne finales ‫ ו‬vorlag (‫)נסע‬, wie sie von 4QNumb bezeugt wird.193 εἰς Ἁσηρώθ / ‫ חצרות‬Im Gegensatz zu den „Giergräbern“ (V.34) wurde der Ortsname ‫ חצרות‬nicht übersetzt, sondern transkribiert. Der Übersetzer hat erkannt, dass es sich hier um einen Eigennamen handelt, dessen etymologische Bedeutung („Höfe“ als Plural von ‫ )חצר‬keine Ätiologie darstellt und somit keinen Beitrag zum Verständnis des Textes liefert.194

6.3 Texttyp Beim Texttyp des Ausgangstextes handelt es sich um einen Mischtyp, der sowohl informative als auch operative Elemente enthält. Der Schwerpunkt liegt dabei sowohl auf der Vermittlung des Inhalts als auch auf der Motivation der Leser, deren Verhalten der hebräische Text beeinflussen will. Diesem Schwerpunkt ist die sprachliche Form deutlich untergeordnet. Dasselbe gilt grundsätzlich auch für die Übersetzung ins Griechische. Allerdings lässt sich hier eine Verstärkung des operativen Anteils feststellen. Denn der griechische Text verstärkt die moralische Bewertung der Israeliten, die im Ausgangstext nur implizit durch die Erwähnung von Gottes Gericht vorliegt. In der Septuagintafassung beklagen sich die Israeliten nicht über ihr „Unglück“, sondern sie „beklagen sich bösartigerweise“ (γογγύζων πονηρά, V.1). In Ägypten war es ihrer Meinung nach nicht nur „gut“ (ἀγαθός), sondern sogar „schön“ (καλός, V.18). Obwohl das Manna einen äußerst angenehmen Geschmack (ἡδονή, V.8) hat, lehnen sie es ab. Hinzu kommt die Wortwahl des fragwürdigen Vergnügens (ἐπιθυμία, V.4.34). Durch diese moralische Bewertung der Israeliten werden die Leser des griechischen Textes vor ähnlichem Verhalten innerhalb ihrer eigenen Lebensbezüge gewarnt. Ähnlich wie die Nuancierungen in der Wortwahl wirken die intertextuellen Bezüge. Die Anspielungen auf die Anmaßung der Priestersöhne und deren Bestrafung (Lev 10,2.6) sowie auf das Gericht über Sodom und Gomorrha (Gen 19,24), die durch die Formulierung πῦρ παρὰ κυρίου und die Wortwahl ἐμπυρισμός realisiert

193 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 181–182. Ein ähnlicher Fall liegt in V.8 vor, vgl. dazu Seite 141. 194 Ein Gegenbeispiel ist in Dtn 1,1 zu finden, wo außer ‫ חצרות‬noch andere Ortsnamen etymologisierend übersetzt werden.

166 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit werden (V.1.3), sind ebenfalls als deutliche Warnung zu verstehen. Entsprechendes gilt für die Tatsache, dass das Verhalten des Volkes im Anschluss an Ex 32,22 als „Aufruhr“ (ὁρμή, V.11.17) charakterisiert wird. Schließlich drückt die an Ex 5,22 anknüpfende Frage in V.11 aus, dass hier wie dort die Klage des Mose unberechtigt ist. All diese Bezüge zu anderen Pentateuchtexten195 sollen bei den Lesern einen Effekt auslösen. Die griechischsprachigen Leser sollen noch stärker als die Leser des hebräischen Textes davor gewarnt werden, sich die Einstellung und das Verhalten der Israeliten während der Wüstenwanderung zu eigen zu machen. Der Texttyp der Septuagintafassung von Num 11 kann somit als informativ-operativ mit einer Verstärkung des operativen Anteils bestimmt werden.

6.4 Äquivalenz Es ist leicht zu sehen, dass nicht nur Wort-, sondern auch Strukturäquivalenz vorliegen. Der griechische Text ist syntaktisch korrekt, es wurden also die Strukturen der Ausgangssprache durch die passenden Äquivalente der Zielsprache ersetzt. Über Strukturäquivalenz hinaus lassen sich Elemente von Stiläquivalenz nachweisen. So wurden yiqtol- bzw. qatal-Formen dem Kontext entsprechend als Imperfektformen wiedergegeben, um regelmäßig wiederholte Handlungen oder Zustände auszudrücken (V.5.8.9). Die Konjunktion ‫ ו‬wurde nicht durchgehend stereotyp mit καί übersetzt, sondern auch mit δέ, wenn der Kontext es erforderte (V.6.7.15), sogar Nebensatzkonstruktionen mit ἵνα als Wiedergabe von ‫ ו‬sind zu finden (V.13.15). Bei der Wiedergabe einer Konstruktion mit der Präposition ‫ ב‬und folgendem Infinitiv hat der Übersetzer die im klassischen Griechisch ungebräuchliche Konstruktion aus ἐν τῷ und einem Infinitiv, die sich grundsätzlich in den Septuagintaschriften einer großen Beliebtheit erfreut, vermieden (V.9). Parataktische Satzverbindungen wurden hypotaktisch wiedergegeben, wenn es stilistisch notwendig schien, beispielsweise um eine Häufung der Partikel καί zu vermeiden (V.4). Die Übersetzung von figurae etymologicae mit paronomastischem infinitivus absolutus erfolgte zwar als wörtliche Abbildung, doch handelt es sich hier, vor allem bei der Wiedergabe mit Dativ (V.15), um eine Konstruktion, die schon im klassischen Griechisch vorkommt. Konventionalisierte Metaphern

195 Der Befund legt nahe, dass wahrscheinlich tatsächlich die griechischen Fassungen der Bücher Genesis, Exodus und Levitikus dem Übersetzer des Numeribuches vorlagen, wie z. B. von Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 436, angenommen; vgl. auch Abschnitt 11.3.

6.5 Skopos

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(V.1.10.11.15.18.33) hat der Übersetzer aufgelöst und dadurch Hebraismen, die in anderen Septuagintatexten vorkommen, vermieden. Andererseits hat sich der Übersetzer bezüglich der sprachlichen Form häufig an den hebräischen Ausgangstext angelehnt und dadurch typische Hebraismen produziert: Wunschformeln, die im Hebräischen als Frage ausgedrückt werden, sind auch in der Übersetzung als Fragen formuliert (V.4.18.29); pleonastisches Demonstrativpronomen (V.21) und pleonastisches καί (V.32) kommen durchaus vor. Parataktische Satzverbindungen des Ausgangstextes hat der Übersetzer in der Regel ebenfalls parataktisch wiedergegeben. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass der übersetzte Text von griechischsprachigen Lesern nicht genauso leicht rezipiert werden konnte wie der Ausgangstext von den ursprünglichen Adressaten. Es handelt sich grundsätzlich um eine wortgetreue Übersetzung, die Wort- und Strukturäquivalenz realisiert. Darüber hinaus zeigt sich eine deutlich wahrnehmbare Neigung des Übersetzers zu Stiläquivalenz, die er allerdings nicht konsequent umgesetzt hat.

6.5 Skopos Der Zweck des übersetzten Textes besteht neben der Wiedergabe einer Episode aus der Zeit der Wüstenwanderung darin, die Leser zu einer angemessenen Einstellung und einem angemessenen Verhalten anzuleiten. Stärker als im Ausgangstext werden die Rezipienten mit dem schlechten Beispiel der Israeliten konfrontiert. Die Haltung und das Verhalten der Wüstengeneration werden in der Übersetzung deutlich kritischer bewertet als im Ausgangstext, wodurch die Leser vor ähnlichem Fehlverhalten in ihrer eigenen Situation gewarnt werden sollen. Für den Übersetzer stand außer Frage, dass der Text für die neuen Leser aktuell und relevant war. Einen Bezug zur Zielkultur, also zur Lebenswelt der Rezipienten, hat er wie schon in Num 1 durch die Wiedergabe von ‫ משפחה‬mit δῆμος hergestellt (V.10). Auch die Vermeidung des Ausdrucks „Zelte“ (V.10) erfüllt diesen Zweck. Die Leser der Übersetzung wohnten nicht in Zelten, sondern in Häusern und waren in „Volksgruppen“ organisiert. Aufgrund dieser speziellen Wortwahl konnten sich die Rezipienten eher mit den Angehörigen der Wüstengeneration identifizieren. Die Leser lebten zwar in einer anderen Situation, doch war der Text auch in ihrer Lebenswirklichkeit relevant. Bei der Zielgruppe der Übersetzung wird es sich um eine Diasporagemeinde handeln. Dafür sprechen die Verwendung der Ausdrücke πρεσβύτεροι und γραμματεῖς (V.16) sowie eventuell die Erwähnung einer Einschreibung in ein Register (καταγράφω, V.26). Durch den schon im Ausgangstext vorhandenen, aber in der Übersetzung verstärkten intertextuellen Bezug zu Ex 18,18.22 werden die im

168 | 6 Numeri 11,1–35: Warnung vor Unzufriedenheit Text genannten Amtsträger in der Tradition der Helfer des Mose verortet (V.14.17). Da diese zur Schlichtung von Streitfällen berufen waren, ist anzunehmen, dass der Übersetzer den in Num 11 erwähnten „Ältesten“ und „Schriftgelehrten“ eine juristische Autorität zusprechen wollte. Wahrscheinlich erstreckt sich diese juristische Autorität nach Meinung des Übersetzers auf die in der Lebenswelt der Rezipienten wirkenden πρεσβύτεροι und γραμματεῖς. Diese Vermutung könnte auf die Institution des Politeuma hinweisen, die den in Ägypten lebenden Juden eigene Verwaltungsstrukturen und eine relativ autonome Rechtsprechung ermöglichte. Ob es jüdische Politeumata in Ägypten bereits im 3. Jh. v. Chr. gab, ist zwar nicht sicher,196 allerdings ist speziell für das jüdische Politeuma von Herakleopolis im 2. Jh. v. Chr. die Eigenständigkeit in Bezug auf Verwaltungsaufgaben und Rechtsprechung durch Urkunden belegt.197 Vielleicht fällt die Abfassung der Numeri-Übersetzung in die Zeit der offiziellen Anerkennung des Politeuma von Alexandria. Die Verstärkung des Bezugs zu Ex 18 in der Übersetzung von Num 11 hätte dann den Sinn, die neu eingesetzten Amtsträger in ihrer Position zu stärken. Der übersetzte Text will nicht nur über Vergangenes informieren, sondern auch das Verhalten der Leser beeinflussen. Die praktische Relevanz des Textes für die griechischsprachigen Leser wird durch intertextuelle Bezüge und Aktualisierungen sowie durch Ansätze von Stiläquivalenz deutlich gemacht. Letztere bilden allerdings kein durchgehendes Merkmal der Übersetzung, sie treten vielmehr mit derselben Regelmäßigkeit auf wie hebräische Stilmerkmale. Der griechische Text muss demnach für seine Leser stellenweise fremd gewirkt haben. Trotz seiner Aktualität und Relevanz handelt es sich um einen Text aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit. Aber vielleicht erfüllte die Übersetzung gerade durch diese Fremdheit ihren Zweck, indem sie ihre Autorität aus der Vergangenheit bezog und auf den in Vergangenheit und Gegenwart wirkenden Gott hinwies.

196 Vgl. Harl, Dorival und Munnich, La Bible grecque des septante, 35, 67. Im Aristeasbrief (§ 310) wird das Politeuma von Alexandria erwähnt (entsprechend bei Jos., Ant., 12, 108). 197 Zur Publikation der Papyri siehe James M.S. Cowey und Klaus Maresch, Urkunden des Politeuma der Juden von Herakleopolis (144/3–133/2 v. Chr.) (P. Polit. Iud.), Papyri aus den Sammlungen von Heidelberg, Köln, München und Wien, Papyrologica Colonensia 29, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2001.

7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora 7.1 Übersetzung 1

Und der Herr sprach zu Mose folgendermaßen: 2 „Sprich mit den Söhnen Israels, und du sollst zu ihnen sagen: Wenn ihr in das Land eurer Ansiedelung, das ich euch gebe, hineingeht, 3 dann sollst du dem Herrn ein Opfer bereiten, ein Ganzbrandopfer oder ein [Schlacht-] Opfer, um ein Gelübde zu erfüllen oder freiwillig oder bei euren Festen, um dem Herrn einen Duft von Wohlgeruch zu bereiten, entweder von den Rindern oder von den Schafen. 4 Und wer dem Herrn seine Gabe darbringt, soll als [Speis-] Opfer vom Feinmehl ein Zehntel Oiphi darbringen, mit Öl angerichtet, mit einem Viertel Hin. 5 Und Wein zum Trankopfer, ein Viertel Hin, sollt ihr auf das Ganzbrandopfer oder auf das [Schlacht-] Opfer tun, auf das einzelne Lamm sollst du so viel tun, als Opfer, als Duft von Wohlgeruch für den Herrn. 6 Und für den Widder, wenn ihr ihn als Ganzbrandopfer oder als [Schlacht-] Opfer zubereitet, sollst du ein [Speis-] Opfer von Feinmehl zubereiten, zwei Zehntel, mit Öl angerichtet, ein Drittel Hin. 7 Und Wein zum Trankopfer, ein Drittel Hin, sollt ihr darbringen, zum Duft von Wohlgeruch für den Herrn. 8 Wenn ihr aber von den Rindern [eines] bereitet, zum Ganzbrandopfer oder zum [Schlacht-] Opfer, um ein Gelübde zu erfüllen, oder zum Rettungsopfer für den Herrn, 9 dann soll er zu dem Kalb ein [Speis-] Opfer von Feinmehl darbringen, drei Zehntel, mit Öl angerichtet, ein halbes Hin. 10 Und Wein zum Trankopfer, ein halbes Hin, als Opfer, als Duft von Wohlgeruch für den Herrn. 11 So sollst du verfahren mit jedem Kalb oder mit jedem Widder oder mit jedem Lamm von den Schafen oder von den Ziegen. 12 Entsprechend der Anzahl derer, die ihr bereitet, so sollt ihr [es] bereiten für jedes einzelne entsprechend ihrer Anzahl. 13 Jeder Einheimische soll dieses so tun, um Opfer zum Duft von Wohlgeruch für den Herrn darzubringen. 14 Wenn aber bei euch ein Fremder in eurem Land sich [euch] anschließt, oder wer immer bei euch ist in euren Generationen, der soll ein Opfer als Duft von Wohlgeruch für den Herrn bringen. Auf welche Weise ihr selbst es tut, so soll es die Gemeinde für den Herrn tun. 15 Ein einziges Gesetz soll für euch und für die Fremden, die bei euch wohnen, gelten, ein ewiges Gesetz [bis] in eure Generationen. So wie ihr soll auch der Fremde vor dem Herrn sein. 16 Ein einziges Gesetz und ein einziges Gebot sollen für euch und für den Fremden, der bei euch wohnt, gelten.“ 17

Und der Herr sprach zu Mose folgendermaßen: 18 „Sprich mit den Söhnen Israels und du sollst zu ihnen sagen: Wenn ihr in das Land hineingeht, in das ich euch dort hineinführe, 19 dann soll es [so] sein: Wenn ihr von den Broten des Landes esst, dann sollt ihr eine Abhebung abheben als Aussonderung für den Herrn. 20 Als Erstlingsga-

170 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora be von eurem Teig sollt ihr ein Brot als Abhebung aussondern, wie eine Abhebung vom Dreschplatz, so sollt ihr es abheben, 21 als Erstlingsgabe von eurem Teig, und ihr sollt [sie] dem Herrn als Abhebung geben [bis] in eure Generationen. 22

Wenn ihr euch aber völlig versündigt und nicht alle diese Gebote einhaltet, [über] die der Herr zu Mose gesprochen hat, 23 wie der Herr euch durch die Hand des Mose geboten hat, von dem Tag an, an dem der Herr euch geboten hat und darüber hinaus [bis] in eure Generationen, 24 dann soll [es so] sein: Wenn es ungesehen von der Gemeinde versehentlich geschehen ist, dann soll die ganze Gemeinde ein makelloses Kalb von den Rindern als Ganzbrandopfer zum Duft von Wohlgeruch für den Herrn zubereiten, und dessen [Schlacht-] Opfer und sein Trankopfer gemäß der Anweisung und einen jungen Bock von den Ziegen für die Sünde. 25 Und der Priester soll der ganzen Gemeinde der Söhne Israels Sühne verschaffen, und es wird ihnen vergeben werden. Denn es ist eine versehentliche [Sünde], und sie haben selbst ihre Gabe gebracht, ein Opfer für den Herrn, wegen ihrer Sünde vor dem Herrn, wegen ihrer versehentlichen [Sünden]. 26 Und es wird der ganzen Gemeinde der Söhne Israels vergeben werden und dem Fremden, der unter euch wohnt, denn [es war] für das ganze Volk eine versehentliche [Sünde]. 27 Wenn aber ein einzelner Mensch versehentlich gesündigt hat, dann soll er eine einjährige Ziege für die Sünde herbeibringen, 28 und der Priester soll dem Menschen, der unabsichtlich gehandelt und versehentlich vor dem Herrn gesündigt hat, Sühne verschaffen, um ihm Sühne zu verschaffen. 29 Für den Bewohner des Landes unter den Söhnen Israels und für den Fremden, der unter ihnen wohnt, für sie soll ein einziges Gesetz gelten, für jeden, der versehentlich [Sünde] tut. 30 Und ein Mensch, der mit der Hand der Überheblichkeit [Sünde] tut, von den Einheimischen oder von den Fremden, der erzürnt Gott, dieser Mensch soll aus seinem Volk ausgerottet werden. 31 Denn das Wort des Herrn hat er verworfen, und seine Gebote hat er gebrochen, durch Auslöschung soll dieser Mensch ausgelöscht werden, seine Sünde [ist] in ihm.“ 32

Und die Söhne Israels waren in der Wüste und bemerkten einen Mann, der am Sabbattag Hölzer sammelte. 33 Und die, die ihn bemerkt hatten, während er Hölzer sammelte, führten ihn zu Mose und Aaron und zur ganzen Gemeinde der Söhne Israels. 34 Und sie nahmen ihn in Gewahrsam, denn sie hatten nicht entschieden, was sie mit ihm tun würden. 35 Und der Herr sprach zu Mose folgendermaßen: „Der Mensch soll gewiss getötet werden, steinigt ihn mit Steinen, die ganze Gemeinde.“ 36 Und die ganze Gemeinde führte ihn aus dem Lager heraus, und die ganze Gemeinde steinigte ihn mit Steinen außerhalb des Lagers, wie der Herr Mose geboten hatte. 37

Und der Herr sagte zu Mose folgendermaßen: 38 „Sprich mit den Söhnen Israels und sage zu ihnen: Und sie sollen sich Quasten an die Säume ihrer Gewänder machen [bis] in ihre Generationen. Und ihr sollt an den Quasten der Säume einen hya-

7.2 Kommentar |

171

zinthblauen Faden anbringen. 39 Und es soll für euch gelten bezüglich der Quasten, und ihr sollt sie ansehen und euch an alle Gebote des Herrn erinnern, und ihr sollt sie tun, und ihr sollt euch nicht abwendig machen lassen hinter euren Gedanken her und hinter euren Augen her, mit denen ihr Unzucht praktiziert, 40 damit ihr euch an alle meine Gebote erinnert und sie tut, und ihr werdet heilig für euren Gott sein. 41 Ich bin der Herr, euer Gott, der euch aus dem Land Ägypten herausgeführt hat, um euer Gott zu sein, ich, der Herr, euer Gott.“

7.2 Kommentar 7.2.1 Opfervorschriften für das Kulturland (V.1–16) Die Übersetzung der Opfervorschriften ist größtenteils an der Form des hebräischen Ausgangstextes orientiert. An einigen Stellen wird die Vorlage des Übersetzers nicht der protomasoretischen Textform entsprochen haben, insbesondere beim Numerus der Verben. Auch Lesungen des Konsonantenbestands, die nicht der Vokalisierung von 𝔐 entsprechen, kommen vor. Gelegentlich ist der Übersetzer von der Form seines Ausgangstextes leicht abgewichen, um einen verständlicheren Text zu produzieren. Darüber hinaus lassen sich Ergänzungen des Wortlauts finden, die der Vereinheitlichung dienen. In Einzelfällen kann eine spezielle Wortwahl auf eine theologische Interpretation durch den Übersetzer zurückgeführt werden.

Vers 2 λάλησον τοῖς υἱοῖς Ισραηλ καὶ ἐρεῖς πρὸς αὐτούς / ‫דבר אל־בני ישראל ואמרת‬ ‫אלהם‬ Der Imperativ wurde als Imperativ und die weqatal-Form als Indikativ Futur wiedergegeben. Dies entspricht dem üblichen Vorgehen des Übersetzers, der sich bezüglich der Syntax vorrangig an der Form des Ausgangstextes orientiert hat.1 ὅταν εἰσήλθητε εἰς τὴν γῆν τῆς κατοικήσεως ὑμῶν / ‫כי תבאו אל־ארץ מושבתיכם‬ Während im Ausgangstext von den „Wohnorten“2 der Israeliten im Plural gesprochen wird, wird im griechischen Text das vom Verb κατοικέω abgeleitete Verbalabstraktum κατοίκησις im Singular verwendet. Verbalabstrakta bezeichnen ge-

1 Vgl. Voitila, „The Translator of the Greek Numbers“, 115. 2 Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫מושב‬.

172 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora wöhnlich eine Handlung,3 dementsprechend umfasst das Bedeutungsspektrum des abgeleiteten Substantivs nicht nur die Tätigkeit des „Wohnens“, sondern auch die des „Sich-Ansiedelns“.4 Letzteres kann auch im hebräischen Text gemeint sein, da die genannten „Wohnorte“ für die Adressaten der Rede noch nicht existieren, sondern erst durch die Landnahme in Besitz genommen werden müssen.5 Bei der Übersetzung bot sich entgegen der Form des Ausgangstextes die Verwendung im Singular an, da der Übersetzer nicht mehrere Wohnorte, sondern einen einzelnen Akt der Ansiedelung, nämlich die Landnahme, im Blick hatte.

Vers 3 καὶ ποιήσεις κάρπωμα κυρίῳ / ‫ ועשיתם אשה ליהוה‬Die Verwendung der Singularform ποιήσεις ist auffällig, da erstens im vorangehenden Satz (V.2) der Plural verwendet wird (ὅταν εἰσήλθητε), und da zweitens der hebräische Bezugstext die Pluralform ‫ ועשיתם‬bietet. Es ist nicht einsichtig, warum der Übersetzer den Numerus des Verbs geändert haben sollte. Grundlage der griechischen Singularform könnte eine entsprechende hebräische Vorlage sein, allerdings erklärt diese den Numeruswechsel genauso wenig wie ihre Übersetzung ins Griechische. Lässt man die in der Göttinger Edition gewählte Lesart ποιήσεις als ursprünglich gelten, dann ist die Schlussfolgerung zwingend, dass der Übersetzer V.3 als Apodosis zur Protasis in V.2 aufgefasst hat („wenn ihr … hineingeht, dann sollst du … bereiten“). Denn Tempus und Modus wechseln von Konjunktiv Aorist in V.2 (ὅταν εἰσέλθητε) zu Indikativ Futur in V.3 (καὶ ποιήσεις).6 Dabei ist das an der hebräischen Syntax orientierte καί apodoticum in den Septuagintaschriften nicht ungewöhnlich.7 Der hebräische Text ist zwar syntaktisch mehrdeutig, wird aber gewöhnlich so aufgefasst, dass V.4–5 die Apodosis zu V.2b–3 bildet („wenn ihr in das Land … hineingeht und … bereitet, dann soll der Darbringende … darbringen“).8 Die in der Göttinger Edition als ursprünglich vorausgesetzte Singularform ποιήσεις wird vor allem durch die Unzialen B und V sowie einige Minuskelhandschriften gestützt. Eine noch breitere Bezeugung im Handschriftenbefund hat

3 Vgl. von Siebenthal, Griechische Grammatik, § 362b. 4 Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. κατοίκησις. 5 Vgl. Levine, Numbers 1–20, 388–389, der entsprechend der Form ‫( מגורים‬Gen 28,4) von einem „qualitativen“ Plural zur Bezeichnung einer Handlung ausgeht. 6 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 236. 7 Aejmelaeus, „The Significance of Clause Connectors“, 50–51. 8 Z. B. Noth, Das vierte Buch Mose, 99; Milgrom, Numbers, 118; Levine, Numbers 1–20, 386; Ashley, The Book of Numbers, 274.

7.2 Kommentar |

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die Konjunktivform ποιήσητε, und zwar durch die Unzialen A und M sowie eine beeindruckende Anzahl an Minuskelhandschriften, vor allem aus der Catenengruppe. In diesem Fall wird V.3 tatsächlich noch als Teil der Protasis aufgefasst, die Apodosis beginnt dann erst in V.4.9 Hierbei kann es sich um eine rezensionelle Angleichung an das gängige Verständnis des protomasoretischen Textes handeln,10 allerdings lässt sich die Ursprünglichkeit der Lesart ποιήσητε nicht völlig ausschließen. Der Fall ist letztendlich nicht entscheidbar, er dokumentiert beispielhaft, wie eng die Erforschung der Übersetzungtechnik mit der Textgeschichte sowohl des griechischen wie auch des hebräischen Bibeltextes verwoben ist. Unter theologischem Blickwinkel ist festzuhalten, dass durch die beiden unterschiedlichen Lesarten, die den Text verschieden strukturieren, zwei unterschiedliche Aussagen vermittelt werden: In den vermutlich rezensionellen griechischen Handschriften wird den Israeliten freigestellt, ein Opfer darzubringen (V.2–3: „wenn ihr in das Land hineingeht … und Jahwe ein Opfer darbringt“). Für den Fall, dass sie es tun, werden bestimmte Anforderungen an die Beschaffenheit des Opfers gestellt (Apodosis ab V.4). Im mutmaßlich ursprünglichen Septuagintatext dagegen ist die Darbringung von Opfern obligatorisch („wenn ihr in das Land hineingeht …, dann sollst du dem Herrn ein Opfer bereiten“). Mit κάρπωμα wird im gesamten griechischen Numeribuch, beginnend mit diesem Vorkommen, ‫ אשה‬wiedergegeben,11 ebenso die meisten Vorkommen von ‫ אשה‬in den Büchern Exodus und Levitikus.12 Die traditionelle, von ‫ אש‬ableitete Übersetzung „Feueropfer“ des hebräischen Wortes ist umstritten; daher bietet es sich an, von der allgemeinen Bedeutung „Opfer“ auszugehen.13 Das hier als Wiedergabe verwendete griechische Wort κάρπωμα hat die Bedeutung „Frucht“ bzw. (metaphorisch) „Gewinn“ und ist erst in den Septuagintaschriften mit der Bedeutung „Opfer“ belegt.14 Wie im hebräischen Ausgangstext handelt es sich demnach um einen allgemeinen Begriff, der erst im weiteren Verlauf des Textes durch die Nennung verschiedener Opferarten weiter spezifiziert wird.15 Aufgrund seiner

9 Ganz entsprechend auch die Übersetzung von Dorival, Les Nombres, 332, jedoch ohne Hinweis auf die textkritische Problematik. 10 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 236. 11 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 468. 12 Suzanne Daniel, Recherches sur le vocabulaire du culte dans la septante, ÉeC 61, Paris: Klincksieck, 1966, 155–157. 13 Seebass, Numeri 10,11–22,1, 138; vgl. auch Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫אשה‬. 14 Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v.; vgl. Lust, Eynikel und Hauspie, Greek-English Lexicon of the Septuagint, s.v. 15 Vgl. Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 468.

174 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora Grundbedeutung trägt das griechische Wort, auch wenn es im Sinne von „Opfer“ verwendet wird, eine agrarische Konnotation. Durch diese Wortwahl werden die Opfer, zumindest konnotativ, mit dem Anteil eines Feldertrags verglichen, der Gott übereignet wird. Wahrscheinlich wurde der Übersetzer durch den direkten Kontext, der von der Gabe des Kulturlandes spricht (V.2: „Wenn ihr in das Land …, das ich euch gebe, hineingeht“), zu der Wiedergabe mit κάρπωμα veranlasst. Hinzu kommt möglicherweise eine Beeinflussung durch frühere Übersetzungen; dies würde voraussetzen, dass Exodus und Levitikus vor dem Numeribuch übersetzt wurden. Gut denkbar ist ebenfalls, dass durch die tempellose Diasporasituation der Bedarf nach einem allgemeineren Wort geweckt wurde, das die Möglichkeit eröffnete, das Konzept des „Opfers“ auch in einem allgemeineren Sinne zu interpretieren. Es ist nicht ganz sicher, inwieweit Juden aus der Diaspora tatsächlich den Weg nach Jerusalem auf sich nahmen, um die in der Tora gebotenen Opfer darzubringen, doch ist anzunehmen, dass abgemilderte Auslegungen im Umlauf waren, die alternative Maßnahmen zuließen.16 Von daher ist vorstellbar, dass das als κάρπωμα bezeichnete Opfer beispielsweise durch eine finanzielle Zuwendung an den Jerusalemer Tempel oder auch an die örtliche Diasporagemeinde realisiert werden konnte. ὁλοκαύτωμα ἢ θυσίαν / ‫ עלה או־זבח‬ὁλοκαύτωμα ist aus dem Verb ὁλοκαυτέω abgeleitet. Durch die Bildung aus ὅλος und dem zugrunde liegenden Verb καίω liefert das Wort eine passende Beschreibung dessen, was mit ‫ עלה‬gemeint ist, nämlich ein Opfer, das als Ganzes verbrannt wird.17 Der Übersetzer hat wahrscheinlich auf eine im Pentateuch etablierte Wortwahl (z. B. Ex 10,25) zurückgegriffen. θυσία wird in diesem Text als Wiedergabe sowohl von ‫ זבח‬als auch von ‫( מנחה‬so in V.4) verwendet.18 Im ersten Fall bezeichnet es ein tierisches Opfer, im zweiten Fall ein pflanzliches.19 Dass hier ein Tieropfer gemeint ist, macht der Kontext klar, da nur wenig später, und zwar am Ende von V.3, erwähnt wird, dass das Opfer von den Rindern oder von den Schafen stammen soll. μεγαλῦναι εὐχήν / ‫לפלא־נדר‬ Die ungewöhnliche Wiedergabe „ein Gelübde groß machen“ hat wohl die Bedeutung „ein Gelübde erfüllen“. Ähnlich wurde

16 Shemuel Safrai und Menahem Stern, Hrsg., The Jewish People in the First Century. Historical Geography, Political History, Social, Cultural and Religious Life and Institutions, Bd. 1, CRINT I.1, Assen: Van Gorcum, 1974, 187–188. 17 Daniel, Recherches sur le vocabulaire du culte, 240, 249. 18 Zur Wiedergabe in V.4 vgl. Seite 175. 19 Dorival, Les Nombres, 48. Das Wort ‫ מנחה‬an sich sagt noch nichts über die Beschaffenheit des Opfers aus, siehe Levine, Numbers 1–20, 391 (mit Gen 4,3–5).

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bereits in Num 6,2 μεγάλως εὔχομαι εὐχήν verwendet, um das Hif‘il der Wurzel ‫ פלא‬wiederzugeben. Das Verb ‫ פלא‬kann im Nif‘al und im Hif‘il auch die Bedeutung „wunderbar sein“ bzw. „wunderbar machen“ haben.20 Es liegt also schon im Ausgangstext die Konnotation des „Wunderbaren“ bzw. „Außergewöhnlichen“ vor, woraus sich die ungewöhnliche Übersetzung ins Griechische erklärt.21 ὀσμὴν εὐωδίας / ‫ריח ניחח‬ Der griechische Ausdruck ist ein Standardäquivalent für das hebräische ‫ריח ניחח‬, das wohl auf der wahrscheinlich erstmaligen Verwendung in Gen 8,21 basiert.22

Vers 4 καὶ προσοίσει ὁ προσφέρων τὸ δῶρον αὐτοῦ / ‫והק ריב המק ריב ק רבנו‬ Im hebräischen Text begegnen drei Ableitungen der Wurzel ‫ק רב‬. Bei den ersten beiden handelt es sich um ein finites Verb und ein Partizip im Hif‘il, diese werden jeweils durch eine Form des Verbs προσφέρω wiedergegeben. Im Unterschied dazu hat der Übersetzer zur Wiedergabe des Substantivs ‫ ק רבן‬nicht etwa προσφορά, sondern δῶρον verwendet.23 Tatsächlich begegnet προσφορά in den späteren Übersetzungen einige wenige Male, δῶρον dagegen scheint bereits im Pentateuch als Äquivalent von ‫ ק רבן‬etabliert zu sein.24 Im griechischen Levitikusbuch wird δῶρον gehäuft verwendet,25 ebenso in den vorhergehenden Kapiteln des Numeribuches.26 Dem Übersetzer war es offensichtlich wichtiger, ein Standardäquivalent zu verwenden, als die Etymologie und die damit verbundene Alliteration konsequent abzubilden. θυσίαν σεμιδάλεως δέκατον τοῦ οἰφί / ‫ מנחה סלת עשרון‬Während das Wort θυσία in V.3 zur Wiedergabe von ‫ זבח‬verwendet wird,27 dient es hier zur Übersetzung von ‫מנחה‬, das in diesem Kontext ein pflanzliches Opfer bezeichnet. Was gemeint ist, wird im griechischen Text durch das Genitivattribut σεμιδάλεως deut-

20 Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. 21 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 452; vgl. auch die Wiedergabe von ‫ פלא יועץ‬in Jes 9,5 mit μεγάλης βουλῆς. Die Randlesarten zweier Minuskeln bieten in Num 15,3 das Verb θαυμαστόω, das diese Konnotation noch stärker aufnimmt. 22 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 237. 23 Dorival, Les Nombres, 332, kritisiert die uneinheitliche Wiedergabe: „La LXX ne rend pas fidèlement le TM“. 24 Vgl. Daniel, Recherches sur le vocabulaire du culte, 120. 25 Z. B. Lev 1,2.3.10.14. 26 Num 5,15; 6,14.21; 9,7.13 sowie vor allem in Kapitel 7. 27 Vgl. Seite 174.

176 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora lich gemacht, so dass ein Missverständnis ausgeschlossen ist. Das Wort θυσία hat hier also die ganz allgemeine Bedeutung „Opfer“, was der Verwendung im klassischen Griechisch seit Homer entspricht. Hier wie dort bezeichnet θυσία als Derivat des Verbs θύω alles, was geopfert werden kann, ausgenommen das vollständig verbrannte Opfer.28 Der Ausdruck τοῦ οἰφί hat keine Entsprechung im vorliegenden hebräischen Text, gibt aber offensichtlich das wieder, was dort gemeint ist, nämlich die Maßeinheit des Epha.29 Das Wort ‫ עשרון‬hat die denotative Bedeutung „Zehntel“ und verweist in der aktuellen Verwendung stets auf ein „Zehntel eines Epha“,30 wobei die Angabe von ‫ איפה‬an der Textoberfläche stets entfällt.31 In den Übersetzungen ist auch die Angabe οἰφί in der Regel nicht vorhanden, den Übersetzern hat also die einfache Wiedergabe δέκατον ausgereicht. Die Maßangaben im Kultkalender Num 28–29 können das beispielhaft verdeutlichen: Dort wird im hebräischen Text zunächst (Num 28,5) das Wort ‫ עשירי‬verwendet, das ebenfalls die Bedeutung „Zehntel“ hat, hier steht nun allerdings der exakte Ausdruck ‫עשירית‬ ‫האיפה‬. Bei den folgenden dreizehn Vorkommen genügt dann die abgekürzte Angabe ‫עשרון‬. Entsprechend findet im griechischen Text von Num 28 zunächst der Ausdruck δέκατον τοῦ οἰφί Verwendung, anschließend reicht die Angabe δέκατον aus. In Num 15 dagegen wird im hebräischen Text ausschließlich die abkürzende Formulierung ‫ עשרון‬verwendet (V.4.6.9). Es ist denkbar, dass der Übersetzer das erste Vorkommen erklärend mit δέκατον τοῦ οἰφί wiedergegeben hat und die folgenden Vorkommen, nachdem die Bedeutung einmal geklärt war, wörtlich mit δέκατον. Auf der anderen Seite ist ebenfalls gut vorstellbar, dass in Num 15,4 statt ‫ עשרון‬bereits in der Vorlage ‫ עשירית האיפה‬oder auch ‫ עשרון האיפה‬stand. Die Lesart der Vorlage wäre dann aus derselben Motivation entstanden, die soeben für die Übersetzung postuliert wurde, nämlich um den für die Leser vielleicht ungenauen Begriff ‫ עשרון‬zu verdeutlichen.

Vers 5 καὶ οἶνον εἰς σπονδὴν τὸ τέταρτον τοῦ ἳν ποιήσετε / ‫ויין לנסך רביעית ההין‬ ‫ תעשה‬Die Verwendung der Pluralform ποιήσετε im griechischen Text ist als übersetzerische Entscheidung nicht nachvollziehbar. Weder der griechische Text noch 𝔐 sind in diesem Abschnitt konsistent bezüglich des Numerus der Verb-

28 Daniel, Recherches sur le vocabulaire du culte, 210. 29 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 238. 30 Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫עשרון‬. 31 Ex 29,40; Lev 14,10.21; 23,13.17; 24,5; Num 15,6.9; 28,9.12.13.20.21.28.29; 29,3.4.9.10.14.15.

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formen.32 Die Behauptung, die Übersetzung zeige eine Tendenz zur Vereinheitlichung der Verbformen zur zweiten Person Plural,33 ist zwar im Blick auf V.5.7.8 ansprechend, doch wird dadurch nicht erklärt, warum sowohl in V.5 als auch in V.6 eine Singularform (ποιήσεις) direkt im Anschluss an eine Pluralform (ποιήσετε bzw. ποιῆτε) verwendet wird. Eine sich vom protomasoretischen Text unterscheidende Vorlage ist eine wahrscheinlichere Ursache als eine inkonsistente Vereinheitlichung durch den Übersetzer. τῷ ἀμνῷ τῷ ἑνὶ ποιήσεις τοσοῦτο κάρπωμα ὀσμὴν εὐωδίας κυρίῳ / ‫לכבש האחד‬ Die Worte ποιήσεις τοσοῦτο κάρπωμα ὀσμὴν εὐωδίας κυρίῳ am Versende haben keine Entsprechung im vorliegenden hebräischen Text. Die Formulierung κάρπωμα ὀσμὴν εὐωδίας κυρίῳ (oder ähnlich) ist in V.3.13.14 mit allgemeinem Bezug auf Opfer zu finden, außerdem in V.7 (ohne κάρπωμα) und in V.10 bei der Beschreibung von Trankopfern. Es stellt sich die Frage, ob es sich hier um eine Ergänzung des Übersetzers handelt oder ob eine entsprechende hebräische Vorlage die Ursache für den Überschuss des griechischen Textes darstellt. Eine ganz ähnliche Problematik liegt bei den Vereinheitlichungen in Num 1 vor.34 Dort ging es ebenfalls um die Frage, wie ein solcher Überschuss des griechischen Textes zu bewerten ist. Hier wie dort lässt sich der Überschuss mit guten Gründen auf den Übersetzer zurückführen: Erstens ist die Lesart des griechischen Textes nicht durch hebräische Handschriften bezeugt, und zweitens ist der Übersetzer in inhaltlich-lexikalischer Hinsicht relativ frei mit seinem Ausgangstext umgegangen.35 Es handelt sich zwar bei der Textergänzung einerseits um eine formelhafte Wendung, andererseits wird damit eine Information gegeben, die das genannte Opfer eines Lammes inhaltlich genauer als „duftendes Opfer von Wohlgeruch für den Herrn“ charakterisiert. Die Vereinheitlichungen in Num 1 bieten ein verstärkendes Argument dafür, auch hier den Übersetzer als Urheber des Ausdrucks κάρπωμα ὀσμὴν εὐωδίας κυρίῳ anzusehen. Der Übersetzer hat eine seiner Meinung nach fehlende Information, die an anderen Stellen des Abschnitts bereits im Ausgangstext vorliegt, konsequent ergänzt.36 Die Formulierung ποιήσεις τοσοῦτο hat der Übersetzer wahrscheinlich vorgeschaltet, um einen verblosen Satz zu vermeiden und um die Aussage leichter verständlich zu machen. Eine mögliche hebräische Vorlage lässt sich nur schwer

32 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 238–239. 33 Budd, Numbers, 167. 34 Siehe Seite 89 zu Num 1,24. 35 Vgl. noch zur Methodik die Abschnitte 2.1.6.3 und 2.1.6.2, auf die bereits mehrfach verwiesen wurde. 36 Vgl. auch Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 239.

178 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora rekonstruieren, da das in der Septuaginta seltene Pronomen τοσοῦτος keine regelmäßige hebräische Entsprechung hat.37 Als versuchsweise Rückübersetzung könnte man ‫ כן תעשה‬vorschlagen,38 doch wäre dies eher vor dem Ausdruck ‫לכבש‬ ‫ האחד‬zu erwarten als dahinter, wie es der griechische Text nahelegt. Wenn schon der Versuch einer Rückübersetzung nicht überzeugend gelingt, dann erscheint es methodisch sicherer, den Überschuss des griechischen Textes auf den Übersetzer zurückzuführen.

Vers 6 καὶ τῷ κριῷ / ‫או לאיל‬ Im hebräischen Text kennzeichnet die Konjunktion ‫ או‬die Anweisung über die Darbringung eines Widders als Alternative zu der in V.5 beschriebenen Darbringung eines Lammes (‫)כבש‬. Aufgrund der Ergänzung ποιήσεις τοσοῦτο κάρπωμα ὀσμὴν εὐωδίας κυρίῳ am Ende von V.5 konnte V.6 im griechischen Text nicht mehr mit einer disjunktiven Konjunktion angeschlossen werden, stattdessen bot sich καί an.39 ὅταν ποιῆτε αὐτὸν εἰς ὁλοκαύτωμα ἢ εἰς θυσίαν / – Mit derselben Begründung wie für V.540 ist anzunehmen, dass der Übersetzer eine Ergänzung vorgenommen hat, um den gesamten Text zu vereinheitlichen. Denn in der allgemeinen Anweisung in V.3 befindet sich bereits die Formulierung ὁλοκαύτωμα ἢ θυσίαν, ähnlich dann in V.5 bei der Anweisung für das Opfer eines Lammes (ἐπὶ τῆς ὁλοκαυτώσεως ἢ ἐπὶ τῆς θυσίας) sowie in V.8, wo das Opfer eines Rindes beschrieben wird (ποιῆτε εἰς ὁλοκαύτωμα ἢ εἰς θυσίαν μεγαλῦναι εὐχήν). Bei der Erwähnung des in V.6 genannten Widder-Opfers fehlt die Formulierung in den uns bekannten hebräischen Textzeugen, es ist anzunehmen, dass der Übersetzer sie ergänzt hat. Wie in V.3 und V.8 bezeichnet θυσία hier ein tierisches Opfer, das Wort entspricht dem hebräischen ‫„( זבח‬Schlachtopfer“).41 ποιήσεις θυσίαν σεμιδάλεως / ‫תעשה מנחה סלת‬ Wie schon in V.4 dient θυσία als Wiedergabe von ‫ מנחה‬und zur Bezeichnung eines vegetarischen („Speis-“) Opfers.42 Da dasselbe griechische Wort direkt vorher zur Bezeichnung eines tie-

37 Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 59, rechnet nur für Inhaltswörter (wie Substantive, Verben und Adjektive), nicht aber für Funktionswörter mit überzeugenden Rückübersetzungen. 38 Vgl. die Wiedergabe τοσούτῳ πλείους ἐγίνοντο für ‫ כן ירבה‬in Ex 1,12. 39 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 239. 40 Siehe Seite 177. 41 Vgl. zu V.3 Seite 174. 42 Vgl. Seite 175.

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rischen Opfers verwendet wurde, ist der Text im Hinblick auf die Terminologie uneinheitlich und für Leser ohne entsprechende Vorbildung missverständlich. Wahrscheinlich hat der Übersetzer bei seinen Lesern eine gewisse Kenntnis der Opferterminologie vorausgesetzt.43

Vers 7 καὶ οἶνον εἰς σπονδὴν τὸ τρίτον τοῦ ἳν προσοίσετε / ‫ויין לנסך שלשית ההין‬ ‫ תק ריב‬Wie in V.544 ist für das griechische Verb die Verwendung des Plurals nicht nachvollziehbar. Da weder der griechische noch der vorliegende hebräische Text in sich konsistent bezüglich des Numerus sind, bietet es sich auch hier an, von einer Vorlage mit der Verbform im Plural auszugehen.

Vers 8 ἐὰν δὲ ἀπὸ τῶν βοῶν ποιῆτε / ‫ וכי־תעשה בן־בק ר‬Durch die Konjunktion δέ als Wiedergabe des adversativen ‫ ו‬wird der Wechsel von den Anweisungen für das Widder-Opfer (V.6–7) zu den Anweisungen für das Opfer eines Rindes markiert. Die Verwendung von ἀπό ist sicher partitiv45 und in der Koine als Ersatz für den genitivus partitivus üblich.46 Allerdings konnten die Buchstaben ‫ ב‬und ‫ מ‬in der assyrischen Quadratschrift leicht verwechselt werden,47 so dass man auch eine Vorlage mit der Lesart ‫מן־בק ר‬48 (statt ‫ )בן־בק ר‬oder eine entsprechende Verlesung durch den Übersetzer als Ursache für die Präposition ἀπό annehmen kann. Für diese Überlegung spricht auch, dass in V.9 ‫ על־בן־הבק ר‬mit ἐπὶ τοῦ μόσχου wiedergegeben wird. Denn wenn dort der Ausdruck ‫ בן־הבק ר‬als Hinweis auf ein Jungtier verstanden wurde, dann ist zu fragen, warum der Übersetzer in V.8 denselben Ausdruck (allerdings ohne Artikel) durch das allgemeine Wort βοῦς wiedergegeben hat. Es ist folglich anzunehmen, dass der Übersetzer eine Vorlage mit

43 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 468. Das gilt auch dann, wenn der vorausgehende Nebensatz, der das Wort θυσία enthält und der keine Entsprechung in den uns zur Verfügung stehenden hebräischen Texten hat, entgegen der oben vorgetragenen Annahme nicht auf einer Ergänzung des Übersetzers beruht, sondern auf einer alternativen Vorlage. 44 Siehe Seite 176. 45 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 240. 46 von Siebenthal, Griechische Grammatik, § 184e. 47 Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, 204–205. 48 Dass sich das ‫ נ‬nicht ausnahmslos an den folgenden Konsonanten assimiliert, bemerkt Joüon und Muraoka, A Grammar of Biblical Hebrew, § 103d. Als Beleg möge Ex 18,14 (‫מן־בֹּקֶ ר‬ ִ ) dienen.

180 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora der Lesart ‫ מן־בק ר‬verwendet und stereotyp mit ἀπὸ τῶν βοῶν wiedergegeben hat. Wie in V.5 und V.749 ist die Pluralform des Verbs wahrscheinlich auf eine entsprechende Vorlage zurückzuführen. ἢ εἰς σωτήριον κυρίῳ / ‫ או־שלמים ליהוה‬Die Form σωτήριον ist Standardäquivalent für das im Opferkontext nur als Pluralform vorkommende ‫שלמים‬.50

Vers 9 καὶ προσοίσει ἐπὶ τοῦ μόσχου θυσίαν σεμιδάλεως / ‫והק ריב על־בן־הבק ר סלת‬ Wie schon in V.351 wird die Apodosis in Anlehnung an den hebräischen Ausgangstext mit der Konjunktion καί eingeleitet.

Vers 10 καὶ οἶνον εἰς σπονδήν / ‫ויין תק ריב לנסך‬ Das Fehlen des Verbs wird in einer entsprechenden Vorlage begründet sein; auch das Targum Pseudo-Jonathan bietet diese Lesart.52

Vers 11 οὕτως ποιήσεις τῷ μόσχῳ τῷ ἑνί / ‫ ככה יעשה לשור האחד‬Die in 𝔐 als Nif‘al vokalisierte Konsonantenfolge ‫ יעשה‬kann auch als Qal gelesen werden, dies allerdings als dritte Person Singular. Diese Annahme erklärt also nicht die Verwendung der zweiten Person im griechischen Text, die wohl eher auf die Form ‫ תעשה‬in der Vorlage zurückzuführen ist. Die Wiedergabe von ‫ שור‬mit μόσχος wird eine Angleichung an die Wortwahl von V.9 darstellen. Da dort ein Jungtier genannt wird, ist die Wiederholung dieser Bezeichnung in der zusammenfassenden Aussage von V.11 folgerichtig. Der Übersetzer hat die Aussagen von V.9 und V.11 miteinander harmonisiert, um ei-

49 Siehe Seite 176 und Seite 179. 50 Daniel, Recherches sur le vocabulaire du culte, 275; Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 240. 51 Zur Frage, ob die Apodosis in V.3 oder in V.4 beginnt, vgl. die textkritische Diskussion auf Seite 172. 52 Dorival, Les Nombres, 333.

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nen widersprüchlich anmutenden Wechsel von der Nennung eines Jungtiers zu der allgemeinen Bezeichnung „Rind“53 zu vermeiden. ἢ τῷ ἀμνῷ τῷ ἑνί / ‫או־לשה‬ Das Attribut τῷ ἑνί hat keine Entsprechung im hebräischen Text. Möglicherweise ist es vom Übersetzer eingefügt worden, um den Text an die vorher verwendeten Ausdrücke τῷ μόσχῳ τῷ ἑνί und τῷ κριῷ τῷ ἑνί anzupassen,54 denkbar ist allerdings auch, dass bereits die Vorlage die Lesart ‫ או־לשה האחד‬bot. Zur Arbeitsweise des Übersetzers gehören, wie bereits festgestellt wurde, lexikalische Freiheiten und Ergänzungen zum Zweck der inhaltlichen Präzisierung. Das hier in Bezug auf das Opfer eines Lamms ergänzte Zahlwort ist keinesfalls nur eine formalistische Angleichung an die entsprechenden Angaben für das Opfer eines Rindes oder eines Widders. Vielmehr ist das Zahlwort inhaltlich grundlegend, da es distributiv verwendet wird, es impliziert nämlich bezüglich der in V.4–10 beschriebenen Speis- und Trankopfer die Bedeutung „für jedes Rind, für jeden Widder und für jedes Lamm“.55 Da inhaltliche Präzisierungen durch den Übersetzer bereits mehrfach beobachtet werden konnten, ist auch hier anzunehmen, dass die Ergänzung auf der Arbeit des Übersetzers basiert.

Vers 14 ἐὰν δὲ προσήλυτος ἐν ὑμῖν προσγένηται ἐν τῇ γῇ ὑμῶν / ‫ וכי־יגור אתכם גר‬Die Konjunktion δέ als Wiedergabe von ‫ ו‬markiert den Wechsel von der Thematik des „Einheimischen“ zu der des „Fremden“. Die figura etymologica, die im hebräischen Text durch Kombination des Substantivs ‫ גר‬mit dem Verb ‫ גור‬erzielt wird, ist in der Übersetzung nicht nachgebildet worden. Dafür hätte sich die Verwendung von προσέρχομαι anstelle von προσγίνομαι angeboten. Die Wiedergabe des Verbs ‫ גור‬ist im griechischen Pentateuch nicht einheitlich und kann sogar von einem Satz zum nächsten wechseln, wie das Beispiel Lev 19,33–34 (προσέρχομαι – προσπορεύομαι) zeigt. In Num 9,14 wurde tatsächlich προσέρχομαι verwendet, in Num 15,14 dagegen hatte die Nachbildung der figura etymologica für den Übersetzer keine Priorität. Der Ausdruck ἐν τῇ γῇ ὑμῶν hat keine Entsprechung im hebräischen Text. Dasselbe trifft auf Num 9,14 zu. Für beide Fälle ist vorgeschlagen worden, dass der

53 Das Wort ‫ שור‬bezeichnet trotz der oft genannten Übersetzung „Stier“ ein männliches oder ein weibliches Tier; siehe Milgrom, Numbers, 120; vgl. Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. 54 So Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 241. 55 Levine, Numbers 1–20, 392.

182 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora Übersetzer den Text mit Lev 19,33 harmonisiert habe.56 Plausibler als die Vermutung, dass es das Anliegen des Übersetzers war, den Wortlaut dieser Texte miteinander zu harmonisieren, ist die folgende Überlegung: Sowohl hier als auch in Num 9,14 wird eine Formulierung verwendet, die den Text für die Lebenswelt der griechischsprachigen Leser aktualisiert. Nach Auffassung des Übersetzers gelten die Anweisungen nicht nur für die Israeliten der Wüstengeneration, sondern auch für die griechischsprachigen Leser „in ihrem Land“.57 ἢ ὃς ἂν γένηται ἐν ὑμῖν ἐν ταῖς γενεαῖς ὑμῶν / ‫ או אשר־בתוככם לדרתיכם‬Durch die Ergänzung von γένηται hat der Übersetzer den hebräischen Nominalsatz als Verbalsatz wiedergegeben. Dadurch wurde den regulären Strukturen der Zielsprache Rechnung getragen.58 καὶ ποιήσει κάρπωμα / ‫ ועשה אשה‬Wie schon in V.3 und in V.959 hat der Übersetzer die Apodosis durch die Konjunktion καί eingeleitet und dadurch einen gängigen Hebraismus produziert. ὃν τρόπον ποιεῖτε ὑμεῖς οὕτως ποιήσει ἡ συναγωγὴ κυρίῳ / ‫כאשר תעשו כן‬ ‫ יעשה‬Der Übersetzer hat wahrscheinlich die Syntax seines (protomasoretischen) Ausgangstextes missverstanden und das Verb ‫ יעשה‬am Ende von V.14 nicht auf den „Fremdling“, sondern auf das potenzielle Subjekt ‫ הקהל‬am Anfang von V.15 bezogen. Damit ist inhaltlich der in 𝔐 vermittelte Kontrast zwischen den angesprochenen Personen („ihr“) und dem „Fremdling“ verlorengegangen.60 Da die Lesart der Septuaginta der Verseinteilung von ⅏ entspricht, kann auch mit einer entsprechenden Lesetradition im Umfeld des Übersetzers gerechnet werden. Die Ergänzung κυρίῳ im griechischen Text hat der Übersetzer entweder zur Verdeutlichung vorgenommen oder sie war bereits in seiner Vorlage vorhanden, die in diesem Fall sowohl über 𝔐 als auch über ⅏ hinausging.

56 Dorival, Les Nombres, 274, 333, versieht seinen Vorschlag jeweils mit einem Fragezeichen. 57 Vgl. Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 459, zu Num 9,14. 58 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 243: „Strictly speaking, the verb is added to conform to normal Greek discourse.“ 59 Siehe Seite 172 und Seite 180. 60 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 243.

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Vers 15 νόμος εἷς ἔσται / ‫ הקהל חקה אחת‬Der Übersetzer hat ‫ הקהל‬als Teil des vorherigen Satzes angesehen, während in 𝔐 die beiden Sätze durch ein Sôf pasuq vor ‫ הקהל‬voneinander getrennt wurden. Entgegen der sonst im griechischen Numeribuch üblichen Wiedergabe von ‫ חקה‬mit νόμιμος wurde das Wort hier durch νόμος wiedergegeben. Damit wird einerseits der Text an V.16 angeglichen, denn dort wird ebenfalls νόμος verwendet, dies allerdings als Übersetzung von ‫תורה‬. Andererseits wird eine besondere inhaltliche Betonung vorgenommen, die bereits in einem anderen legislativen Text begegnet, nämlich in Num 9,3.12.14. Dort wird im Kontext der Passavorschriften ebenfalls ‫ חקה‬mit νόμος wiedergegeben, wobei betont wird, dass auch der „Fremdling“ das Passa halten darf. Dies gilt nun auch für die in Num 15 beschriebenen Opfer: Der Proselyt steht genauso wie der Israelit unter der Tora, der Bundesordnung Israels.61 Die Kopula ἔσται wurde wahrscheinlich eingefügt, um einen Nominalsatz zu vermeiden. ὑμῖν καὶ τοῖς προσηλύτοις τοῖς προσκειμένοις ἐν ὑμῖν / ‫ לכם ולגר הגר‬Wie schon in V.1462 wurde die figura etymologica ‫ גר הגר‬nicht formerhaltend wiedergegeben. Als Entsprechung des hebräischen Verbs dient diesmal πρόσκειμαι. Das Substantiv ‫ גר‬wurde wohl als Kollektivum verstanden und daher als Plural wiedergegeben.63 ἐν ὑμῖν ist ohne Entsprechung im hebräischen Text. Es kann sich um eine Angleichung an das Ende von V.16 handeln, wo der hebräische Text ‫ולגר הגר‬ ‫ אתכם‬bietet.64 Solch eine formale Angleichung an den direkten Kontext kann bereits in der Vorlage erfolgt sein, allerdings fehlt dafür ein Handschriftenbeleg.

61 Vgl. Martin Rösel, „Nomothesie. Zum Gesetzesverständnis der Septuaginta“, in: Im Brennpunkt: Die Septuaginta, Bd. 3, hrsg. von Heinz-Josef Fabry und Dieter Böhler, BWANT 174, Stuttgart: Kohlhammer, 2007, 132–150, 137. 62 Siehe Seite 181. 63 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 244. In der zweiten Vershälfte (ὡς ὑμεῖς, καὶ ὁ προσήλυτος ἔσται ἔναντι κυρίου) wurde dagegen der Singular benutzt, möglicherweise, um an die Erwähnung des einzelnen potenziellen „Fremden“ in V.14 anzuschließen. 64 Dorival, Les Nombres, 334.

184 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora 7.2.2 Die Erstlingsgabe im Kulturland (V.17–21) Der Abschnitt über die Erstlingsgabe wurde in enger Anlehnung an die Form des hebräischen Textes übersetzt. Nur wenige leichte stilistische Verbesserungen sind auszumachen. In einem Fall lässt sich eine theologische Interpretation des Übersetzers vermuten, die er durch die Ergänzung eines Wortes ausgedrückt hat.

Vers 18 ἐν τῷ εἰσπορεύεσθαι ὑμᾶς / ‫ בבאכם‬Die Wiedergabe eines hebräischen Infinitivs mit Präposition und Pronominalsuffix durch einen Infinitv mit ἐν τῷ, gefolgt von einem Akkusativ, ist im klassischen Griechisch unüblich, in den Schriften der Septuaginta jedoch etabliert.65 Diese Art der Übersetzung orientiert sich an der Form der hebräischen Vorlage. εἰς ἣν ἐγὼ εἰσάγω ὑμᾶς ἐκεῖ / ‫אשר אני מביא אתכם שמה‬ Auch hier wird die grundsätzliche Formorientierung des Übersetzers deutlich. Die formal-genaue Wiedergabe eines Nominalsatzes mit Personalpronomen und Partizip (‫)אני מביא‬ durch ein griechisches Pronomen und ein finites Verb (ἐγὼ εἰσάγω) ist im Rahmen der Septuagintaschriften regelmäßig zu finden.66 Auch die pleonastische Wiedergabe von ‫ שמה‬mit ἐκεῖ am Ende des mit εἰς ἕν eingeleiteten Relativsatzes ist hebraisierend.67 Hier zeigt sich die Tendenz, möglichst jedem Element des Ausgangstextes eine Entsprechung im Zieltext zuzuordnen.

Vers 19 καὶ ἔσται ὅταν ἔσθητε ὑμεῖς ἀπὸ τῶν ἄρτων τῆς γῆς / ‫והיה באכלכם מלחם‬ ‫הארץ‬ Die wörtliche Wiedergabe von ‫ והיה‬mit καὶ ἔσται vor einer Protasis ist ein Hebraismus, der im griechischen Numeribuch noch fünf weitere Male vorkommt.68 Noch in V.18 hatte der Übersetzer die hebräische Infinitivkonstruktion ‫בבאכם‬ wörtlich durch einen Infinitiv mit Akkusativobjekt (ἐν τῷ εἰσπορεύεσθαι ὑμᾶς) wiedergegeben. Hier dagegen wurde die Infinitivkonstruktion ‫ באכלכם‬nicht etwa mit ἐν τῷ ἐσθίειν ὑμᾶς übersetzt, sondern mit Hilfe eines Nebensatzes (ὅταν 65 Blass, Debrunner und Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, § 404. 66 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 245. 67 Vgl. Thackeray, A Grammar of the Old Testament in Greek, 46. 68 Num 9,20.21; 10,32; 15,24; 21,8; vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 248. Speziell zu Num 15,24 siehe auch Seite 187 und Tabelle 7.1.

7.2 Kommentar

| 185

ἔσθητε ὑμεῖς). Dabei ist die explizite Angabe des Subjekts durch das Pronomen ὑμεῖς auffällig, das keinen anderen Zweck erfüllt, als das Pronominalsuffix ‫כם‬abzubilden.69 Diese Art der Übersetzung stellt eine Art „Kompromisslösung“ zwischen der hebraisierenden Wiedergabe mit Infinitiv und der regulären griechischen Hypotaxe ohne pleonastisches Personalpronomen dar. Der Übersetzer stand offensichtlich zwischen den Extrempositionen einer wörtlichen und einer freien Übersetzung, er schätzte den griechischen Stil, fühlte sich aber gleichzeitig der Form des Hebräischen verpflichtet.70 Die Verwendung des Plurals von ἄρτος als Wiedergabe des als Kollektivum verwendeten ‫ לחם‬ist in den Schriften der Septuaginta nicht ungewöhnlich (z. B. Gen 14,18). ἀφελεῖτε ἀφαίρεμα ἀφόρισμα / ‫ תרימו תרומה‬Die Kombination aus dem Verb ‫ רום‬und dem daraus abgeleiteten Substantiv ‫ תרומה‬bildet eine Alliteration. Bei der Übersetzung ins Griechische wurde das Substantiv mit ἀφαίρεμα wiedergegeben, was im Pentateuch üblich ist.71 Die Verbform im yiqtol wurde, dem Standardvorgehen des Übersetzers entsprechend,72 als Futur wiedergegeben. Durch die Verwendung der Futurform ἀφελεῖτε, deren Stamm sich vom Präsensstamm des Verbs unterscheidet, wurde die ausgeprägte Alliteration des hebräischen Textes abgemildert, sie ist in der Übersetzung nur noch durch das Präfix ἀφ- realisiert. Der Übersetzer hätte statt des Futurs den Imperativ Präsens ἀφαιρεῖτε verwenden können, um die volle Wirkung der Alliteration zu erhalten, doch lag ihm offensichtlich mehr an einer isomorphen Abbildung der grammatischen als der lautlichen Formen. Das als Apposition aufzufassende zweite Substantiv ἀφόρισμα hat keine Entsprechung in 𝔐. Das Wort wird gewöhnlich zur Wiedergabe von ‫ תנופה‬verwendet, und da in Ex 29,27 und Lev 10,14.15 ‫ תנופה‬und ‫ תרומה‬mit den Standardäquivalenten ἀφόρισμα und ἀφαίρεμα übersetzt werden, hat man in Num 15,19 einen Bezug des Übersetzers auf diese Stellen sehen wollen.73 Allerdings wird bei dieser Erklärung nicht deutlich, worin genau die Beziehung zwischen den in Num 15,19 genannten Broten und den in Ex 29 und Lev 10 genannten Tieropfern bestehen soll. Als alternative Erklärung ließe sich die Lesart ‫ תרימו תרומה תנופה‬in der Vorlage des Übersetzers annehmen. Dann wäre in 𝔐 das Wort ‫ תנופה‬durch Haplographie

69 Ebd., 245. 70 Dass diese Inkonsequenz in einen Lernprozess münden kann, zeigt der schrittweise Verzicht auf die Verwendung eines καί apodoticum in Num 15,22–31; siehe dazu Seite 187 und Tabelle 7.1. 71 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 468. 72 Voitila, „The Translator of the Greek Numbers“, 115. 73 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 468; vgl. Dorival, Les Nombres, 62.

186 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora ausgefallen. Eine dritte Alternative, die noch überzeugender ist, ergibt sich bei der Betrachtung von V.20. Denn dort wird überraschenderweise ‫ תרימו תרומה‬mit ἀφαίρεμα ἀφοριεῖτε übersetzt, das nächste Vorkommen von ‫ תרימו‬dann wieder mit ἀφελεῖτε. Es ist zu vermuten, dass der Übersetzer den Gedanken der „Aussonderung“ verbalisieren wollte, und zwar sowohl in V.20 (durch das Verb ἀφορίζω) als auch in V.19 (durch das Substantiv ἀφόρισμα). Diese Annahme erscheint im Licht von Num 18,24 plausibel, wo ἀφορίσωσιν κυρίῳ ἀφαίρεμα als Wiedergabe von ‫ ירימו ליהוה תרומה‬dient. Lexikalische Exaktheit und das Festhalten an Standardäquivalenten hatten für den Übersetzer keine Priorität. Wichtiger war der theologische Gedanke, dass der Anteil der Nahrung nicht nur „abgehoben“, sondern für Gott „ausgesondert“ werden sollte. Da die Erstlingsfrüchte auch aus der Diaspora zum Jerusalemer Tempel gesandt wurden,74 ist denkbar, dass der Übersetzer dieses Verhalten durch den Gedanken der „Aussonderung“ motivieren und bestätigen wollte.

Vers 20 ἀπαρχὴν φυράματος ὑμῶν ἄρτον ἀφαίρεμα ἀφοριεῖτε αὐτό / ‫ראשית ערסתכם חלה‬ ‫ תרימו תרומה‬Die Bedeutung von ‫עריסה‬, das außer an dieser Stelle nur noch in Ez 44,30 und Neh 10,38 vorkommt, ist unsicher. Die traditionell angenommene Wortbedeutung ist „Schrotmehl“, der alternative Vorschlag „Teig“ wurde aus der griechischen Übersetzung φύραμα an der hier untersuchten Stelle erhoben. Eine weitere Alternative, die aus der Übersetzung der Targumim und der Peschitta abgeleitet ist, rechnet mit der Bedeutung „Backtrog“.75 In diesem Fall hätte der Übersetzer die Metonymie des Ausgangstextes, in dem durch die Nennung des „Backtrogs“ auf dessen Inhalt verwiesen wird,76 aufgelöst. Mit ‫ חלה‬ist wahrscheinlich ein rundes Brot gemeint.77 Die Übersetzung mit ἄρτος stellt eine Generalisierung dar,78 die allerdings auch darauf beruhen kann, dass dem Übersetzer die genaue Bedeutung des hebräischen Wortes unbekannt war.

74 Safrai und Stern, The Jewish People in the First Century, 201. 75 Seebass, Numeri 10,11–22,1, 133; vgl. Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫עריסה‬. 76 Vgl. zu dieser Art von Metonymie Walter Bühlmann und Karl Scherer, Sprachliche Stilfiguren der Bibel. Von Assonanz bis Zahlenspruch. Ein Nachschlagewerk, 2. Aufl., Gießen: Brunnen, 1994, 74. 77 Levine, Numbers 1–20, 394 mit der Verbalwurzel ‫חול‬. 78 Vgl. zu dieser Übersetzungstechnik van der Louw, Transformations in the Septuagint, 67–68.

7.2 Kommentar

| 187

Zur Wortwahl von ἀφαίρεμα und ἀφορίζω sei auf die Ausführungen zu V.19 verwiesen.79 Das Pronomen αὐτό verweist auf ἀφαίρεμα und hat keine Entsprechung im hebräischen Text. Es kann als Verstärkung der Aussage dienen,80 möglicherweise zur Identifikation der hier genannten „Abhebung“ mit der von V.19. ὡς ἀφαίρεμα ἀπὸ ἅλωνος / ‫כתרומת גרן‬ Die Constructus-Verbindung wurde aufgelöst, durch die Präposition ἀπό wurde die semantische Relation der Substantive „Abhebung“ und „Dreschplatz“ als eine Angabe der Herkunft eindeutig gemacht.

Vers 21 ἀπαρχὴν φυράματος ὑμῶν / ‫ מראשית ערסתיכם‬Das partitive ‫ מן‬hat keinen Eingang in die Übersetzung gefunden. Wahrscheinlich hat der Übersetzer die hebräische Wortfolge ‫ מראשית ערסתיכם‬als Fortsetzung der Aussage von V.20 verstanden hat, und zwar im Sinne einer Apposition. Daraus ergeben sich die Verwendung des Akkusativs, der Wegfall der partitiven Relation und folglich die Identität des Wortlauts ἀπαρχὴν φυράματος ὑμῶν zum Beginn von V.20.81 καὶ δώσετε κυρίῳ ἀφαίρεμα / ‫ תתנו ליהוה תרומה‬Die Partikel καί hat keine Entsprechung im hebräischen Text. Da die vorangehenden Worte von V.21 als Fortsetzung von V.20 verstanden wurden, musste der Übersetzer eine Konjunktion einfügen, um den Beginn des neuen Satzes zu markieren.

7.2.3 Opfer im Fall von Sünde (V.22–31) Bei aller formalen Genauigkeit der Übersetzung finden sich in diesem Abschnitt leichte Zugeständnisse an griechisches Sprachempfinden. Anstelle einer konsequent stereotypen Wiedergabe hat der Übersetzer gelegentlich mit Synonymen gearbeitet und dadurch Abwechslung erzeugt. Hebraismen werden einerseits verwendet, andererseits aber auch vermieden. Einige theologisch motivierte Interpretationen lassen sich feststellen. In Einzelfällen muss eine von 𝔐 abweichende Vorlage angenommen werden.

79 Siehe Seite 185. 80 Dorival, Les Nombres, 335, übersetzt: „[…] vous mettrez à part un pain en prélèvement même“. 81 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 246.

188 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora Eine interessante Eigenschaft dieses Abschnitts lässt darauf schließen, dass der Übersetzer im Verlauf seiner Arbeit dazugelernt hat. Dabei handelt es sich um den Verzicht auf die Konjunktion καί zur Einleitung einer Apodosis. Ganz in Übereinstimmung mit der Formulierung kasuistischer Rechtssätze wird im Ausgangstext der „Fall“ mit ‫ כי‬eingeleitet (V.22). Darauf folgen die „Unterfälle“, die zwischen Sünden der Gemeinde und des Einzelnen unterscheiden und die mit ‫( אם‬V.24) bzw. ‫( ואם‬V.27) eingeleitet werden.82 Der Übersetzer hat diese Unterscheidung berücksichtigt und ‫ כי‬mit ὅταν, ‫ אם‬dagegen mit ἐάν wiedergegeben.83 Bei der Übersetzung der jeweiligen Apodosis hat der Übersetzer im Verlauf des Textabschnitts seine Arbeitsweise geändert: Während er in V.24 zweimal (Fall und erster Unterfall) vom Hebraismus des καί apodoticum Gebrauch gemacht hat, hat er in V.27 (zweiter Unterfall) darauf verzichtet, obwohl der hebräische Text die Konjunktion ‫ ו‬bietet. Dasselbe gilt für den „Sonderfall“ der Sünde eines Einzelnen „mit erhobener Hand“ (V.30).84 Die Übersetzungsweise ist in Tabelle 7.1 schematisch dargestellt. Der Wechsel zur Vermeidung der Konjunktion fand unvorherTab. 7.1. Verwendung des καί apodoticum in Num 15,22–31 Protasis Fall

Apodosis

22

‫וכי‬

ὅταν δέ …

24

‫והיה‬

καὶ ἔσται

1. Unterfall

24

‫אם‬

ἐάν …

24

‫ועשו‬

καὶ ποιήσει

2. Unterfall

27

‫ואם‬

ἐὰν δέ …

27

‫והק ריבה‬

Sonderfall

30

‫והנפש אשר‬

καὶ ψυχὴ ἥτις …

30

‫ונכרתה‬

προσάξει ἐξολεθρευθήσεται

sehbar nach dem ersten Unterfall statt. Dieser Wechsel ist ein signifikanter Befund, da eine Verwendung des καί apodoticum fehlerhaftes Griechisch produziert; ein Verzicht auf die Konjunktion korrigiert gewissermaßen den Fehler.85 Man hat den Eindruck, dass der Übersetzer sich hauptsächlich intuitiv vom direkten, aber

82 Milgrom, Numbers, 123–124; vgl. auch Gerhard Liedke, Gestalt und Bezeichnung alttestamentlicher Rechtssätze. Eine formgeschichtlich-terminologische Studie, WMANT 39, NeukirchenVluyn: Neukirchener, 1971, 31–34. 83 Vgl. John Zhu-En Wee, „Hebrew Syntax in the Organization of Laws and its Adaptation in the Septuagint“, in: Bib 85 (2004), 523–544, 539. 84 Da die Protasis durch ‫ ו‬und nicht durch ‫ כי‬oder ‫ אם‬eingeleitet wird, handelt es sich nicht um einen eigenen Fall, sondern um eine Art Fortsetzung des zweiten Unterfalls; vgl. Milgrom, Numbers, 125. 85 Vgl. Aejmelaeus, „The Significance of Clause Connectors“, 49.

7.2 Kommentar

| 189

nicht vom weiteren Kontext leiten ließ.86 Im Verlauf des Abschnitts lernte er dazu und modifizierte seine Übersetzungsweise, und zwar unabhängig von der Struktur des Textes. Durch diese wahrscheinlich unbewusst stattfindende Änderung der Strategie wurde die Dominanz des hebraisierenden Stils etwas reduziert.87

Vers 22 ὅταν δὲ διαμάρτητε / ‫ וכי תשגו‬Die Wiedergabe des Waw copulativum durch δέ anstelle von καί markiert nach dem Abschnitt über die Erstlingsgabe (V.17–21) den Themenwechsel. Das hebräische Verb ‫ שגה‬hat die Bedeutung „(umher-) irren“, und zwar sowohl im buchstäblichen als auch (metaphorisch) im moralischen Sinne. Ganz ähnlich bezeichnen das in V.28 als Partizip verwendete ‫„ שגג‬unabsichtlich sündigen“ und das Substantiv ‫( שגגה‬V.24.25.26.27.28.29) ein „Versehen“ bzw. eine „unabsichtlich begangene Sünde“.88 In der Übersetzung wird das Substantiv ‫ שגגה‬durch das Adjektiv ἀκούσιος bzw. das hiervon abgeleitete Adverb ἀκουσίως wiedergegeben, für das Verb ‫ שגג‬dient ἀκουσιάζομαι als Entsprechung. Es überrascht, dass zur Wiedergabe von ‫ שגה‬das Verb διαρματάνω verwendet wurde, das keinen Bezug zur Unabsichtlichkeit des Vergehens hat. Gegenüber dem Simplex ἁμαρτάνω, das gewöhnlich ‫ חטא‬wiedergibt,89 hat das Kompositum die intensivierte Bedeutung „völlig fehlgehen“.90 Die Bedeutungsnuance des Unabsichtlichen scheint also auf den ersten Blick verlorengegangen zu sein. Sie wird im Ausgangstext allerdings nicht nur durch das hebräische Verb vermittelt, sondern auch durch den Kontext, und zwar durch die Beschreibung der „Unterfälle“, bei der die Voraussetzung der Unabsichtlichkeit wiederholt wird (V.24.27). Der direkt auf das Verb διαρματάνω folgende Satz καὶ μὴ ποιήσητε πάσας τὰς ἐντολὰς ταύτας macht deutlich, dass nicht daran gedacht ist, Verbote zu übertreten, sondern von

86 Vgl. Voitila, „The Translator of the Greek Numbers“, 120–121. 87 Aejmelaeus, „The Significance of Clause Connectors“, 50–51, stellt fest, dass ein καί apodoticum im griechischen Numeribuch in weniger als 40% der Fälle vermieden wird. Die Quoten von 80% für Exodus und 55% für Genesis werden als signifikant für die Bewertung der Übersetzungsleistung angesehen; niedrigere Quoten dagegen werden dahingehend interpretiert, dass Wiedergabe und Vermeidung zufällig erfolgten. Das trifft möglicherweise auf das Numeribuch als Ganzes zu; auf der anderen Seite spricht eine Betrachtung des speziellen Abschnitts Num 15,22–31 dafür, von einem lokalen Lerneffekt seitens des Übersetzers auszugehen. 88 Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫שגג‬, ‫שגגה‬, ‫שגה‬. 89 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 247. 90 Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. ἁμαρτάνω, διαρματάνω.

190 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora Gott Gebotenes nicht zu tun. Der Übersetzer hat wahrscheinlich das Anliegen gehabt, „Unterlassungssünden“, also das Nicht-Einhalten göttlicher Gebote, tatsächlich als Vergehen im Sinne von „Sünden“ zu kennzeichnen und nicht von vornherein als „Versehen“.91

Vers 23 καθὰ συνέταξεν κύριος πρὸς ὑμᾶς / ‫ את כל־אשר צוה יהוה אליכם‬Es wäre zu erwarten gewesen, dass der Übersetzer den Ausdruck ‫ את כל־אשר‬nicht durch καθά, sondern durch ὅσα (Num 22,2) oder πάντα ὅσα (Ex 35,10) wiedergegeben hätte. Vermutungsweise ist eine Angleichung an Num 8,3.22; 9,5 als Erklärung genannt worden.92 Mindestens ebenso gut denkbar, obgleich auch nicht völlig befriedigend, ist die Vermutung, dass die Vorlage des Übersetzers die Lesart ‫ כאשר‬bot, das normalerweise mit καθά wiedergegeben wurde.93 Ausgehend von der Lesart ‫כל־אשר‬, bei der gegenüber 𝔐 lediglich die nota accusativi fehlt, war nur noch ein relativ kleiner Fehler in der Texttransmission nötig, um zu ‫ כאשר‬zu gelangen. ἐν χειρὶ Μωυσῆ / ‫ ביד־משה‬Der Ausdruck „in der Hand von …“ ist ein gängiger Hebraismus in den Schriften der Septuaginta, der auch hier verwendet wurde.94 ἧς συνέταξεν κύριος πρὸς ὑμᾶς / ‫אשר צוה יהוה‬ Der Ausdruck πρὸς ὑμᾶς hat keine Entsprechung im vorliegenden hebräischen Text. Möglicherweise hat der Übersetzer den Text an den Wortlaut zu Beginn von V.23 (καθὰ συνέταξεν κύριος πρὸς ὑμᾶς) angeglichen.95 In diesem Fall wäre der Wunsch nach formaler Vollständigkeit bestimmend gewesen. Doch kann auch ein zusätzliches ‫ אליכם‬in der Vorlage die Ursache für das Plus der Septuagintafassung sein.

Vers 24 καὶ ἔσται ἐὰν ἐξ ὀφθαλμῶν τῆς συναγωγῆς γενηθῇ ἀκουσίως / ‫והיה אם מעיני‬ ‫העדה נעשתה לשגגה‬ Mit ‫ והיה‬wird die Apodosis zur Protasis in V.22–23 eingeleitet und sofort mittels ‫ אם‬in einem Unterfall fortgeführt.96 Der Übersetzer hat ein καί apodoticum verwendet und somit wörtlich übersetzt.

91 92 93 94 95 96

Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 247. Dorival, Les Nombres, 336. Vgl. ebd., 336. Vgl Thackeray, A Grammar of the Old Testament in Greek, 44. So Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 248. Milgrom, Numbers, 123.

7.2 Kommentar |

191

Der Ausdruck ἐξ ὀφθαλμῶν entspricht wörtlich-genau dem hebräischen ‫ מעיני‬und hat wie dieses die Bedeutung „ohne Wissen von …“.97 Zur Wiedergabe des Verbs ‫ עשה‬hat der Übersetzer nicht wie in der direkt sich anschließenden Apodosis das Standardäquivalent ποιέω gewählt, sondern γίνομαι. Damit liegt eine nicht-wörtliche Übersetzung vor, die eine zweimalige Verwendung desselben Verbs direkt hintereinander vermeidet.98 καὶ ποιήσει πᾶσα ἡ συναγωγή / ‫ ועשו כל־העדה‬Wie schon zu Beginn dieses Verses hat der Übersetzer von dem häufig anzutreffenden καί apodoticum Gebrauch gemacht, um die Konjunktion ‫ו‬, die die Apodosis einleitet, wiederzugeben. Während im hebräischen Text der Plural des Verbs ad sensum vorliegt, wurde in der Übersetzung durch die Verwendung des Singulars grammatische Kongruenz zum Substantiv πᾶσα ἡ συναγωγή hergestellt.99 μόσχον ἕνα ἐκ βοῶν ἄμωμον / ‫פר בן־בק ר אחד‬ Das Attribut ἄμωμον hat keine Entsprechung im hebräischen Text. Die Charakterisierung eines Opfertiers als „fehlerlos“ begegnet in zahlreichen anderen Texten mit Opfervorschriften.100 Hebräische Handschriften, die diese Ergänzung bezeugen, etwa durch die Lesart ‫תמים‬, liegen nicht vor. Aufgrund der bisher ermittelten Übersetzungstechnik des griechischen Numeribuches ist es wahrscheinlich, dass es auch hier der Übersetzer war, der die Einfügung vorgenommenen hat. Die Information, dass es sich um ein fehlerloses Opfertier handeln musste, lag für den Übersetzer offenbar im wei-

97 Vgl. Gesenius, Kautzsch und Bergsträsser, Hebräische Grammatik, § 119w; siehe auch Num 5,13; Lev 4,13. 98 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 248. 99 Die Codices B (ursprüngliche Lesart der Handschrift), F, K, M sowie eine ganze Reihe von Minuskelhandschriften bieten statt ποιήσει die Konjunktivform ποιήσῃ. Entsprechend der in Abschnitt 2.1.2 beschriebenen Methodik sollen Varianten, deren Entstehung auf phonologischen Phänomenen basiert, von der Auswertung ausgenommen werden. Das ist zwar hier der Fall, da das Suffix -ῃ offensichtlich aufgrund von Itazismus aus -ει entstanden ist. Dennoch kann (aus rein rezeptionsorientierter Perspektive) eine Implikation dieser Lesart genannt werden: Die Variante setzt voraus, dass die beschriebene Darbringung des Opfers noch zur Protasis gehört und dass somit die Apodosis erst in V.25 beginnt: „dann soll der Priester … Sühne verschaffen“. Während also der ursprüngliche Septuagintatext in der Protasis (V.24a) das Geschehen einer unbeabsichtigten Sünde problematisiert und in der Apodosis (V.24b.25) die Lösung dafür bietet (Opfer der Gemeinde und Sühne durch den Priester), setzt die alternative Textfassung in der Protasis (V.24) wie selbstverständlich voraus, dass auf die Sünde das Opfer folgt, und beschränkt in der Apodosis (V.25) die Lösung des Problems auf die priesterliche Handlung. Ob sich hier eine beginnende Sakramentalisierung der Buße im spätantiken Christentum spiegelt, kann lediglich vorsichtig vermutet werden. 100 Siehe z. B. Ex 29,1; Lev 4,28; 5,25.

192 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora teren Kontext vor, der durch die gesamte Tora definiert sein konnte.101 In der Übersetzung wurde somit eine implizite Information für die Leser explizit gemacht.102

Vers 25 καὶ αὐτοὶ ἤνεγκαν τὸ δῶρον αὐτῶν / ‫והם הביאו את־ק רבנם‬ Das Personalpronomen αὐτοί, das als wörtliche Wiedergabe von ‫ הם‬dient, legt eine ungewollte Betonung auf des Subjekt des Satzes. Die aus der Sicht des klassischen Griechisch übermäßige Verwendung von Pronomina der dritten Person ist in der Sprache der Septuaginta allerdings unauffällig.103 κάρπωμα κυρίῳ περὶ τῆς ἁμαρτίας αὐτῶν ἔναντι κυρίου / ‫אשה ליהוה וחטאתם‬ ‫ לפני יהוה‬Das Wort ‫ חטאת‬ist mehrdeutig, es wird sowohl zur Bezeichnung einer Sünde als auch eines Sündopfers verwendet. Im vorliegenden Kontext grenzt die Konjunktion ‫ ו‬das „Opfer für Jahwe“ und das „Sündopfer vor Jahwe“ voneinander ab. Die Ausdrücke beziehen sich auf die beiden in V.24 genannten Opfertiere, nämlich auf das Rind und auf den Ziegenbock. Im griechischen Pentateuch ist der Ausdruck περὶ τῆς ἁμαρτίας ebenfalls mehrdeutig, er kann entweder wörtlich „wegen der Sünde“ oder aber (elliptisch) „Opfer für die Sünde“, also „Sündopfer“ bedeuten.104 Da die Konjunktion ‫ ו‬keine Entsprechung im griechischen Text hat, bietet sich als Bedeutung für περὶ τῆς ἁμαρτίας eher die erste Möglichkeit an. Für die Auslassung der Konjunktion in der Übersetzung kommen zwei Ursachen in Frage: Erstens könnte der Übersetzer mit einer Vorlage gearbeitet haben, die die Lesart ‫ לחטאתם‬statt ‫ וחטאתם‬bot, was dann zu der Wiedergabe περὶ τῆς ἁμαρτίας geführt hätte.105 Zweitens ist möglich, dass der Übersetzer das ‫ ו‬als Waw explicativum106 verstanden und somit das mit ‫ חטאת‬bezeichnete Opfer als Erklärung für das allgemeine ‫„( אשה‬ein Opfer für Jahwe, d. h. ihr Sündopfer“) aufgefasst hat. Entsprechend wäre im griechischen Text das mit περὶ τῆς ἁμαρτίας bezeichnete Sündopfer eine Spezifizierung des κάρπωμα-Opfers, da es sich bei letzterem um einen Oberbegriff für die verschiedenen Opferarten handelt.107 Für die

101 Vgl. Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 26. 102 Entsprechendes geschieht in Num 28,27 bei der Wiedergabe von ‫ שבעה כבשים בני שנה‬mit ἑπτὰ ἀμνοὺς ἐνιαυσίους ἀμώμους. 103 Conybeare und Stock, Grammar of Septuagint Greek, § 13. 104 Letzteres ist die Übersetzung der Septuaginta Deutsch zur Stelle. 105 Dorival, Les Nombres, 336. 106 Vgl. Gesenius, Kautzsch und Bergsträsser, Hebräische Grammatik, § 154a, N1b. 107 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 249; Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 469; zu κάρπωμα als Oberbegriff vgl. auch die Ausführungen zu V.3 (Seite 172).

7.2 Kommentar |

193

Rezepienten wird es dann allerdings nicht einfach gewesen sein, den Ausdruck περὶ τῆς ἁμαρτίας als Apposition des Akkusativobjekts κάρπωμα κυρίῳ aufzufassen. Es ist eher damit zu rechnen, dass die ersten Leser von der Bedeutung „wegen der Sünde“ ausgingen. Unabhängig davon ist aus den zwei Opfern im Ausgangstext ein einzelnes Opfer in der Übersetzung geworden.

Vers 26 καὶ τῷ προσηλύτῳ τῷ προσκειμένῳ πρὸς ὑμᾶς / ‫ ולגר הגר בתוכם‬Während sich im hebräischen Text der Fremde „unter ihnen“ (den Israeliten) aufhält, wohnt er im griechischen Text „unter euch“. Es ist gut möglich, dass die Vorlage des Übersetzers eine Lesart mit der zweiten Person bot, also ‫בתוככם‬.108 Denkbar ist, dass der Schreiber der Vorlage (oder auch der Übersetzer) noch von dem Ausdruck ἐν ὑμῖν, der in V.14–16 in Bezug auf den Fremden verwendet wird, beeinflusst war.

Vers 27 ἐὰν δὲ ψυχὴ μία ἁμάρτῃ ἀκουσίως / ‫ ואם־נפש אחת תחטא בשגגה‬Wie schon zu Beginn von V.22109 wird ein neuer Abschnitt durch die Konjunktion δέ als Wiedergabe von ‫ ו‬markiert. Hier handelt es sich um den zweiten Unterfall unter dem übergeordneten in V.22–23 beschriebenen Fall.110 Das Vorgehen bei einer einzelnen Person, die sündigt, wird folglich durch δέ vom Vorgehen bei einer Sünde der Gemeinde (V.24) abgegrenzt. προσάξει αἶγα μίαν ἐνιαυσίαν / ‫והק ריבה עז בת־שנתה‬ Im Gegensatz zu der zweimaligen Verwendung eines καί apodoticum in V.24 entfällt dieses hier. Die Konjunktion ‫ ו‬bleibt ohne Entsprechung im Zieltext, und der griechische Stil wird flüssiger.111 Das Zahlwort μίαν ist ohne Entsprechung im hebräischen Text. Ob ein Bezug zu der am Versanfang genannten „einen Person“ hergestellt werden soll, die gesündigt hat und die dafür nun „eine Ziege“ opfern soll, kann nur vorsichtig vermutet werden. Die Ergänzung kann im Rahmen der Übersetzung oder bereits innerhebräisch vorgenommen worden sein.

108 So auch Dorival, Les Nombres, 337. 109 Vgl. Seite 189. 110 Milgrom, Numbers, 124. 111 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 250; vgl. auch die Ausführungen zu Beginn dieses Abschnitts (Seite 187) sowie Tabelle 7.1.

194 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora Der Ausdruck „Tochter ihres Jahres“ wurde nicht wörtlich-hebraisierend wiedergegeben, stattdessen hat der Übersetzer das Adjektiv ἐνιαύσιος verwendet.

Vers 28 ἐξιλάσασθαι περὶ αὐτοῦ / ‫ וכפר עליו ונסלח לו‬Dass der Ausdruck ‫ ונסלח לו‬im griechischen Text keine Entsprechung hat, kann auf eine Haplographie zurückgeführt werden. Das Auge des Übersetzers oder eines früheren Schreibers wird von ‫ על)י(ו‬zu ‫ לו‬gesprungen sein.112

Vers 29 τῷ ἐγχωρίῳ ἐν υἱοῖς Ἰσραὴλ καὶ τῷ προσηλύτῳ / ‫ האזרח בבני ישראל ולגר‬Die Ausdrucksweise im hebräischen Text ist inkonsistent, da beim Substantiv ‫ גר‬die Präposition ‫ ל‬verwendet wird, bei ‫ אזרח‬dagegen nicht. In der Übersetzung oder bereits in der Vorlage wurde eine Vereinheitlichung des Ausdrucks vorgenommen, was sich in der zweimaligen Verwendung des Dativs niederschlägt. νόμος εἷς ἔσται αὐτοῖς / ‫תורה אחת יהיה לכם‬ Die Verwendung der dritten Person (αὐτοῖς) anstelle der zweiten Person (‫ )לכם‬kann mit einer bewussten oder unbewussten Angleichung an die direkt vorangehende Nominalphrase (τῷ προσηλύτῳ τῷ προσκειμένῳ ἐν αὐτοῖς bzw. ‫ )לגר הגר בתוכם‬erklärt werden. Diese Angleichung kann in der Übersetzung oder bereits innerhebräisch erfolgt sein. ὃς ἂν ποιήσῃ ἀκουσίως / ‫ לעשה בשגגה‬Das mit der Präposition ‫ ל‬verknüpfte Partizip ist als Relativsatz im prospektiven Konjunktiv wiedergegeben worden. Vermieden wurde dadurch das Partizip τῷ ποιοῦντι im Dativ, das an den Ausdruck τῷ ἐγχωρίῳ … καὶ τῷ προσηλύτῳ angeknüpft hätte. Durch den dazwischen stehenden Hauptsatz νόμος εἷς ἔσται αὐτοῖς hätte sich dann ein stilistisch unschöner und der Verständlichkeit abträglicher Effekt ergeben.

Vers 30 καὶ ψυχή ἥτις ποιήσει ἐν χειρὶ ὑπερηφανίας / ‫ והנפש אשר־תעסה ביד רמה‬Während im hebräischen Text ‫ נפש‬determiniert ist, hat der Übersetzer auf den Artikel verzichtet. Inhaltlich handelt es sich in V.30–31 um eine noch nicht genannte,

112 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 250.

7.2 Kommentar |

195

unbestimmte Person, die im griechischen Text auch grammatisch indeterminiert bleibt. Die „erhobene Hand“ des Ausgangstextes wurde als „Hand der Überheblichkeit“ übersetzt. Während in Num 33,3 der Ausdruck ‫ביד רמה‬, der den Auszug der Israeliten aus Ägypten beschreibt, wörtlich mit ἐν χειρὶ ὑψηλῇ wiedergegeben wird, hat der Übersetzer hier die bildhafte Formulierung dem Kontext entsprechend interpretiert und somit für die Leser erklärt, freilich ohne auf den „physiognomischen Ausdruck“113 der „Hand“ zu verzichten. Der Stil der Ausgangssprache klingt dadurch in der Übersetzung noch an. ἀπὸ τῶν αὐτοχθόνων ἢ ἀπὸ τῶν προσηλύτων / ‫מן־האזרח ומן־הגר‬ Während in V.29 ‫ אזרח‬durch ἐγχώριος wiedergegeben wurde, hat der Übersetzer hier αὐτόχθων verwendet.114 Der Übersetzer ist also nicht stereotyp verfahren, sondern hat mit Synonymen gearbeitet. Eine Regelmäßigkeit, die angibt, zu welcher Gelegenheit welches Synonym verwendet wird, lässt sich nicht erschließen; wichtiger ist unter stilistischem Blickwinkel, dass Abwechslung entsteht. Die hebräischen Substantive werden an dieser Stelle als Kollektiva verwendet, der Übersetzer hat sie sinngemäß in den Plural gesetzt.115 τὸν θεὸν οὗτος παροξύνει / ‫ את־יהוה הוא מגדף‬Der hebräische Nominalsatz mit Pronomen und Partizip wurde mit Hilfe eines finiten Verbs im Präsens ins Griechische übertragen, wobei das Pronomen erhalten blieb. Dieses Art der Übersetzung ist in den Septuagintaschriften üblich.116 Auffällig ist, dass das Tetragramm hier nicht, wie sonst im griechischen Pentateuch allgemein üblich, durch κύριος wiedergegeben wird, sondern durch θεός. Mit dieser Ausnahmeerscheinung ist der Übersetzer einem Muster gefolgt, dass sich öfter beobachten lässt: Wenn von den strafenden Aspekten des Gottes Israels die Rede ist, wird an einigen Stellen ebenfalls θεός anstelle von κύριος verwendet, auch wenn im hebräischen Text das Tetragramm steht (z. B. Gen 13,13; Num 16,5.11).117 Dass es auch hier um den strafenden Aspekt Gottes geht, wird durch die Gerichtsandrohung im folgenden Satz deutlich.

113 Vgl. Thackeray, A Grammar of the Old Testament in Greek, 42. 114 Dieser Wechsel begegnet umgekehrt in Ex 12,48–49; vgl. Dorival, Les Nombres, 338. 115 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 251. 116 Ebd., 245. 117 Martin Rösel, „The Reading and Translation of the Divine Name in the Masoretic Tradition and the Greek Pentateuch“, in: JSOT 31 (2007), 411–428, 420̣–421.

196 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora ἐξολεθρευθήσεται ἡ ψυχὴ ἐκείνη / ‫ונכרתה הנפש ההוא‬ Das ‫ ו‬des Ausgangstextes, das die Apodosis zur Protasis am Verbsbeginn einleitet,118 hat keine Entsprechung im griechischen Text. Wie schon in V.27 wurde auf ein καί apodoticum und damit auf einen Hebraismus verzichtet, ganz im Gegensatz zur zweimaligen Verwendung des καί apodoticum in V.24. Erklären lässt sich dieser Befund damit, dass der Übersetzer bei der Arbeit an der Perikope dazugelernt hat und sich im Verlauf des Textes wohl intuitiv gegen den Hebraismus und für einen besseren griechischen Stil entschieden hat.119

Vers 31 καὶ τὰς ἐντολὰς αὐτοῦ διεσκέδασεν / ‫ואת־מצותו הפר‬ Der Übersetzer hat die Konsonantenfolge ‫ מצות‬als Pluralform gelesen oder eine Vorlage verwendet, die die Lesart von ⅏ (‫ )מצותיו‬enthielt. ἐκτρίψει ἐκτριβήσεται / ‫ הכרת תכרת‬Die hebräische figura etymologica, die aus einem infinitivus constructus und einem finitivem Verb gebildet ist, wurde in der Übersetzung durch ein Substantiv im Dativ, das aus dem Verb abgeleitet ist, nachgebildet. Diese Art der Konstruktion war schon im klassischen Griechisch üblich, allerdings nicht mit derselben Häufigkeit wie in den Schriften der Septuaginta.120 Sie entspricht damit sowohl griechischem als auch hebräischem Stil. Die Wortwahl stimmt nicht mit der von V.30 überein, wo ebenfalls das Verb ‫( כרת‬Nif‘al) vorkommt, dort wird es mit ἐξολεθρεύω übersetzt. In V.31 musste der Übersetzer auf ein anderes Verb zurückgreifen, da kein von ἐξολεθρεύω abgeleitetes Substantiv zur Verfügung stand, um die figura etymologica in die Zielsprache zu übertragen.121

118 Der letzte Satz (‫ )את־יהוה הוא מגדף‬bildete einen bewertenden Einschub; vgl. Seebass, Numeri 10,11–22,1, 146. 119 Vgl. Tabelle 7.1 und die Ausführungen auf Seite 187. 120 Conybeare und Stock, Grammar of Septuagint Greek, § 61; Tov, „Renderings of Combinations of the Infinitive Absolute and Finite Verbs“, 65. 121 Die Derivate ἐξολέθρευμα und ἐξολέθρευσις sind erst in 1Kgt 15,21 bzw. Ri 1,17B belegt. Es wird sich dabei um Neologismen handeln; vgl. Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. ἐξολέθρευμα, ἐξολέθρευσις.

7.2 Kommentar |

197

7.2.4 Der Fall des Sabbatbrechers (V.32–36) Die Verse 32–36 bilden einen narrativen Einschub innerhalb von Num 15. Sie schildern einen Präzedenzfall der Gesetzgebung sowie das Einholen einer göttlichen Anweisung und deren Ausführung. In der Übersetzung liegen leichte stilistische Verbesserungen eines meist wörtlich wiedergegebenen Textes vor. Einige Unterschiede zwischen dem griechischen und dem hebräischen Referenztext lassen sich mit einer alternativen Lesung des Konsonantenbestands oder auch mit den Eigenschaften der Vorlage erklären.

Vers 32 τῇ ἡμέρᾳ τῶν σαββάτων / ‫ביום השבת‬ Die Pluralform τῶν σαββάτων erklärt sich durch die Transkription σάββατα des entsprechenden aramäischen Wortes im Status determinativus, die als Neutrum Plural aufgefasst wurde. Die Singularform des griechischen Wortes kommt im Pentateuch nicht vor.122

Vers 33 πρὸς Μωυσῆν καὶ Ἀαρών / ‫אל־משה ואל־אהרן‬ Die Präposition πρός wurde vor Ἀαρών vermieden, nicht dagegen vor dem folgenden Element der Aufzählung (πρὸς πᾶσαν συναγωγήν). Der Übersetzer hat wohl aus stilistischen Gründen auf die dreimalige Verwendung der Präposition verzichtet.123 καὶ πρὸς πᾶσαν συναγωγὴν υἱῶν Ἰσραήλ / ‫ואל כל־העדה‬ Die Spezifizierung υἱῶν Ἰσραήλ hat keine Entsprechung in 𝔐. Die Lesart wird auch vom Targum Neofiti bezeugt, eine entsprechende Vorlage kann auch Grundlage der Übersetzung ins Griechische sein.

Vers 34 οὐ γὰρ συνέκριναν / ‫כי לא פרש‬ Im griechischen Numeribuch wird in nur in 40% der Fälle, in denen im hebräischen Text eine indirekte Kausalität vorliegt, diese mit γάρ ausgedrückt. Ein ὅτι causale wäre zu stark gewesen, und seine Ver-

122 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 252. Das bezieht sich nur auf die als ursprünglich charakterisierten Lesarten; tatsächlich bieten einige Manuskripte in Num 15,32 die Lesart τοῦ σαββάτου. 123 Ebd., 253.

198 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora wendung in solchen Fällen ist als Hebraismus zu bewerten.124 Hier liegt einer der Fälle vor, in denen der Hebraismus vermieden wurde. Das hebräische Verb ‫ פרש‬ist in 𝔐 als Pu‘al vokalisiert worden. In Lev 24,12 wird es auch als Qal verwendet, es hat dort dieselbe Bedeutung, die Thematik ist dieselbe und der Wortlaut des Satzes fast identisch. Für die vorliegenden Stelle ist anzunehmen, dass der Übersetzer die Konsonantenfolge als Qal gelesen und die Bedeutung als aktivisch und unpersönlich („man hatte noch nicht entschieden“) aufgefasst hat. Der unpersönliche Aspekt wurde in der Übersetzung durch den Plural ausgedrückt. τί ποιήσωσιν αὐτόν / ‫ מה־יעשה לו‬Ganz ähnlich wie im vorangehenden Hauptsatz kann die in 𝔐 als Nif‘al vokalisierte Konsonantenfolge als Qal mit einer unpersönlichen Bedeutung interpretiert werden, woraus sich die aktivische Übersetzung sowie der unpersönliche Plural ergeben haben.

Vers 35 καὶ ἐλάλησεν κύριος πρὸς Μωυσῆν λέγων / ‫ ויאמר יהוה אל־משה‬Das pleonastische Partizip λέγων hat keine Entsprechung in 𝔐. Es ist wahrscheinlich auf eine Vorlage mit der Lesart ‫ לאמר‬zurückzuführen.125 θανάτῳ θανατούσθω ὁ ἄνθρωπος / ‫מות יומת האיש‬ Die Konstruktion mit paronomastischem infinitivus absolutus wurde mit Hilfe eines Substantivs im Dativ nachgebildet. Die griechische Konstruktion war bereits im Attischen in Gebrauch, allerdings nicht derart häufig wie in den Septuagintaschriften.126 λιθοβολήσατε αὐτὸν λίθοις / ‫רגום אתו באבנים‬ Dem infinitivus absolutus ‫ רגום‬entspricht im griechischen Text ein Imperativ. Es ist denkbar, dass der Übersetzer den Imperativ aus inhaltlichen Gründen verwendet hat; da allerdings ⅏ die Lesart ‫ רגמו‬bietet, kann auch eine entsprechende Vorlage die Ursache dafür sein.

124 Aejmelaeus, „OTI causale“, 18–20. Zum Vergleich die Quoten für die anderen Bücher des Pentateuch: Genesis 78%, Exodus 96%, Levitikus 45%, Deuteronomium 32%. 125 Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 84–85; Aejmelaeus, „Participium coniunctum“, 3. 126 Conybeare und Stock, Grammar of Septuagint Greek, § 61; Tov, „Renderings of Combinations of the Infinitive Absolute and Finite Verbs“, 65.

7.2 Kommentar |

199

Vers 35–36 Die letzten beiden Verse dieses Abschnitts enthalten quantitative Unterschiede zwischen dem Septuagintatext und 𝔐. Die chiastische Struktur des hebräischen Textes127 ist in der Übersetzung nicht erhalten geblieben. Die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen sind in Tabelle 7.2 dargestellt. Sieht man von der Tab. 7.2. Unterschiede zwischen 𝔐 und LXX in Num 15,35–36 35

A

‫ויאמר יהוה אל־משה‬

B

‫מות יומת האיש‬

C

‫רגום אתו באבנים‬

D

‫כל־העדה‬

καὶ ἐλάλησεν κύριος πρὸς Μωυσῆν λέγων

36

E

‫מחוץ למחנה‬

F

‫ויציאו אתו‬

D’

‫כל־העדה‬

E’

‫אל־מחוץ למחנה‬

C’

‫וירגמו אתו‬

Θανάτῳ θανατούσθω ὁ ἄνθρωπος λιθοβολήσατε αὐτὸν λίθοις πᾶσα ἡ συναγωγή καὶ ἐξήγαγον αὐτὸν πᾶσα ἡ συναγωγὴ ἔξω τῆς παρεμβολῆς καὶ ἐλιθοβόλησαν αὐτὸν πᾶσα ἡ συναγωγὴ

(C’)

‫באבנים‬

B’

‫וימת‬

A’

‫כאשר צוה יהוה את־משה‬

λίθοις ἔξω τῆς παρεμβολῆς καθὰ συνέταξεν κύριος τῷ Μωυσῇ

Lesart λέγων ab, die ohne Entsprechung in 𝔐 ist (V.35, A), so bleiben vier quantitative Differenzen, die für den Vergleich der beiden Textfassungen grundlegend sind: – Am Ende von V.35 (E) hat ‫ מחוץ למחנה‬keine Entsprechung im griechischen Text. – In V.36 (C’) bietet der griechische Text das zusätzliche Element πᾶσα ἡ συναγωγή. – Das Element ‫( וימת‬V.36, B’) ist in der Septuagintafassung nicht repräsentiert. – Am Ende von V.36 (zwischen B’ und A’) bietet der Septuagintatext das zusätzliche Element ἔξω τῆς παρεμβολῆς, das dem ausgelassenen Element ‫מחוץ‬ ‫( למחנה‬E) entspricht.

127 Vgl. Seebass, Numeri 10,11–22,1, 154–155.

200 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora Liest man den griechischen Text als Ganzes, so fällt ein inhaltlicher Unterschied zu der hebräischen Fassung auf: Während es im hebräischen Text Gott ist, der den Ort der Steinigung (‫ )מחוץ למחנה‬anordnet (V.35, E), scheint diese Festlegung in der griechischen Fassung auf die Israeliten zurückzugehen. Denn die Ortsangabe ἔξω τῆς παρεμβολῆς findet sich statt in der Gottesrede von V.35 am Ende von V.36, wo die Ausführung durch die Israeliten beschrieben wird.128 Hierzu passt die Beobachtung, dass der Ausdruck πᾶσα ἡ συναγωγή in V.36 zweimal genannt wird, einmal in Entsprechung zum hebräischen Text als Subjekt des Verbs ἐξάγω (D’) und einmal als Subjekt des Verbs λιθοβολέω (C’). Die letzte Differenz, die Auslassung von ‫( וימת‬B’) im griechischen Text, könnte darauf hindeuten, dass die Verbindung des Sterbens mit der Anordnung Gottes (A’) als anstößig empfunden wurde.129 Der griechische Text erscheint also gegenüber 𝔐 entschärft. Dass der Sabbatbrecher aus dem Lager ausgestoßen wird, geschieht nicht mehr aufgrund einer Anweisung Gottes, und auch der Tod des Mannes wird nicht mehr direkt mit einer Anweisung Gottes in Verbindung gebracht. Es ist nun zu fragen, ob die griechische Textform ihren Ursprung in der Intention des Übersetzers hat oder in einer entsprechenden Vorlage. Zunächst ist festzustellen, dass der Wortlaut der griechischen Fassung nicht durch hebräische Textzeugen belegt ist. Auch die Tatsache, dass an anderen Stellen der Übersetzung inhaltlich differenzierte Nuancen vermittelt werden, könnte dafür sprechen, dass der Übersetzer den Text umgestaltet hat. Dies ist gerade eine im Verlauf dieser Studie öfter beobachtete Eigenschaft des griechischen Numeribuches. Vielleicht sah sich der Übersetzer durch die multikulturelle Diasporasituation zu einer gemäßigteren Nuancierung von Gottes Gerichtshandeln veranlasst. Solch eine Intention wäre vergleichbar mit der vermuteten Umstellung der Ladesprüche in Num 10,33–36, die den kriegerischen Sprüchen die prominente Stellung am Ende des Abschnitts nimmt.130 Allerdings ist die oben vorgetragene Interpretation des griechischen Textes nicht konsistent. Einerseits wird die Verantwortung für den Ausschluss des Sabbatbrechers aus dem Lager von Gott auf die Israeliten verlagert. Auf der anderen Seite erscheint die Formulierung „außerhalb des Lagers“ am Ende von V.36 direkt vor dem Hinweis auf die Anordnung Gottes (καθὰ συνέταξεν κύριος τῷ Μωυσῇ). Ebenso ist auch der vermutete Verzicht auf die Wiedergabe von ‫( וימת‬V.36, B’) nicht ausreichend, um die Verbindung zwischen Gott und dem Tod des Mannes aufzulösen, da der Befehl zur Steinigung immerhin direkt zuvor im Rahmen ei-

128 Dorival, Les Nombres, 79. 129 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 469. 130 Siehe Abschnitt 5.2.1 zu Num 10,33–36.

7.2 Kommentar

| 201

ner Gottesrede gegeben wird. Die Vermutung einer relativierenden Textgestaltung durch den Übersetzer ist somit nicht völlig überzeugend. Eine Alternative ist die Annahme einer hebräischen Vorlage, die den Wortlaut des griechischen Textes repräsentiert. Zur Erklärung der Unterschiede zwischen dem hebräischen und dem griechischen Text kann eine entsprechende Vorlage allerdings nur zu einem geringen Teil überzeugend postuliert werden: – Zumindest die Auslassung von ‫( מחוץ למחנה‬V.35, E) lässt sich durch eine Haplographie aufgrund von Homoioteleuton erklären, da sowohl das vorangehende ‫ עדה‬als auch ‫ מחנה‬mit ‫ ה‬enden.131 – Der Überschuss πᾶσα ἡ συναγωγή (V.36, C’) lässt sich dagegen nicht so leicht deuten. Denkbar wäre, dass die Vorlage ‫ וירגמו את)ו( כל־העדה באבנים‬lautete, wobei der Konsonant ‫ ו‬erst als spätere mater lectionis eingefügt wurde. In der Textgeschichte von 𝔐 könnte ‫ כל־העדה‬durch Haplographie ausgefallen sein, wenn das Auge eines Schreibers versehentlich vom ‫ ת‬von (‫ את)ו‬zum ‫ ה‬von ‫ עדה‬sprang.132 Dann wäre die Vorlage der Septuagintafassung ursprünglicher als die Fassung von 𝔐. Dass der von 𝔐 gebotene chiastisch konstruierte Text zufällig durch einen Lesefehler entstanden ist, ist jedoch kaum vorstellbar. Wahrscheinlicher wäre die Annahme, dass der komplette von der griechischen Fassung bezeugte Text von V.35–36 ursprünglich ist und dass die sekundäre und künstlerisch organisierte Fassung von 𝔐 durch das bewusst vorgenommene Hinzufügen und Weglassen von ursprünglichen Textelementen entstand. Doch auch diese Rekonstruktion ist kaum plausibel zu machen. – Entsprechendes gilt für den Überschuss ἔξω τῆς παρεμβολῆς am Ende von V.36. – Dass das Element ‫( וימת‬V.36, B’) im griechischen Text keine Entsprechung hat, lässt sich textkritisch nicht erklären, weder auf der Ebene des hebräischen, noch auf der des griechischen Textes, etwa unter der Voraussetzung, dass die (in der hexaplarischen Rezension bezeugte) Lesart ἀπέθανεν ursprünglich ist. Die vorgetragenen Ausführungen können somit nur den Anspruch einer Problemanzeige haben. Das genaue Verhältnis zwischen der griechischen und der hebräischen Textform von V.35–36 muss daher offen bleiben. Aufgrund dieser Unsicher-

131 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 254. 132 Zur Verwechslung von ‫ ה‬und ‫ ת‬vgl. Fischer, Der Text des Alten Testaments, 206. Die vorgetragene Deutung impliziert, dass das ‫ ה‬in ‫ עדה‬bereits als mater lectionis vorlag.

202 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora heit können die Unterschiede zwischen den beiden Textfassungen zur Charakterisierung der Übersetzungstechnik nicht verwendet werden.

7.2.5 Gebot über die Quasten an den Kleidern (V.37–41) Der kurze Abschnitt über die Zizit fällt durch seine konsequent wörtlichen Entsprechungen auf. Variationen in der Übersetzung sind selten und haben keinen Einfluss auf den Textsinn. Einige Unterschiede zum Wortlaut von 𝔐 lassen sich am besten mit einer entsprechenden Vorlage erklären.

Vers 38 καὶ ποιησάτωσαν ἑαυτοῖς κράσπεδα / ‫ ועשו להם ציצת‬Das Substantiv ‫ ציצת‬liegt in 𝔐 im Singular vor, in der Übersetzung dagegen wird ein Plural verwendet. Da ⅏ ebenfalls eine Pluralform bezeugt, ist eine entsprechende Vorlage wahrscheinlich. Allerdings bieten sowohl ⅏ als auch 𝔐 eine Singularform in der zweiten Vershälfte, der griechische Text dagegen einen Plural. Es kann also gut sein, dass die Singularform vom Übersetzer als Kollektivum verstanden und daher als Plural wiedergegeben wurde.133 καὶ ἐπιθήσετε ἐπὶ τὰ κράσπεδα τῶν πτερυγίων / ‫ ונתנו על־ציצת הכנף‬Während der hebräische Text für das Verb wie im vorhergehenden Satz die dritte Person Plural verwendet, bietet der griechische Text die zweite Person Plural. Hierbei kann es sich um eine Angleichung an die folgenden Verben handeln, die ebenfalls in der zweiten Person vorliegen. Wie schon in V.11 und V.26 lässt sich eine entsprechende hebräische Vorlage vermuten.134 Der Pluralform πτερυγίων entspricht im hebräischen Text eine Form im Singular. Die Verwendung einer Pluralform wird schon durch den Plural κράσπεδα nahegelegt, beide entsprechenden hebräischen Singularformen sind wahrscheinlich als Kollektiva aufgefasst worden.

133 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 255–256. 134 Siehe Seite 180 und Seite 193 zu V.11 und V.26.

7.3 Texttyp

| 203

Vers 39 καὶ ἔσται ὑμῖν ἐν τοῖς κρασπέδοις / ‫ והיה לכם לציצת‬Dieser Vers ist ein Musterbeispiel für eine literalistische Übersetzung. Die Struktur mit ‫והיה‬, deren Referent schwer zu bestimmen ist,135 wird Wort für Wort wiedergegeben. ἐν οἷς ὑμεῖς ἐκπορνεύετε ὀπίσω αὐτῶν / ‫ אשר־אתם זנים אחריהם‬Die pleonastische Verwendung des Pronomens αὐτῶν (hier zusammen mit der Präposition ὀπίσω) stellt einen häufig vorkommenden Hebraismus dar.136

Vers 41 εἶναι ὑμῶν θεός / ‫ להיות לכם לאלהים‬Für das Personalpronomen hat der Übersetzer nicht entsprechend der Präposition ‫ ל‬den Dativ, sondern den Genitiv gewählt („euer Gott“), dies entspricht durchaus dem Sinn des hebräischen Textes. Bei dieser minimalen Änderung der Form ist allerdings die Wortstellung exakt beibehalten worden.137

7.3 Texttyp Was ist von einer Übersetzung zu erwarten, deren operativer Ausgangstext vor allem Opfervorschriften beinhaltet und die wahrscheinlich in Alexandria in einer tempellosen Diasporasituation angefertigt wurde?138 Durch das Gebot der Kultzentralisation war die Darbringung von Opfern, von denen der Text ausführlich spricht, auf den Jerusalemer Tempel beschränkt. Ein großer Teil der in Num 15 genannten Vorschriften ist also in der Diaspora obsolet geworden. Ist deshalb damit zu rechnen, dass der Texttyp der Übersetzung, die jetzt lediglich Vergangenes schildert, eher informativ ist? Für eine Charakterisierung der Übersetzung als vorrangig informativer Text spricht zunächt die Neigung des Übersetzers, Textelemente wie κάρπωμα ὀσμὴν εὐωδίας κυρίῳ (V.5) oder auch ὅταν ποιῆτε αὐτὸν εἰς ὁλοκαύτωμα ἢ εἰς θυσίαν (V.6), die seiner Ansicht nach fehlen, zu ergänzen und so den Text nicht nur zu vereinheitlichen, sondern auch inhaltlich zu präzisieren. Vor allem aber ist es die

135 Vgl. Levine, Numbers 1–20, 401; Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 256. 136 Vgl. Thackeray, A Grammar of the Old Testament in Greek, 46. 137 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 257. 138 Hinweise auf eine Diasporasituation in Alexandria ergeben sich aus dem vermuteten Skopos von Num 11; siehe dazu Seite 167.

204 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora Situation der Rezipienten, die den Zieltext im Vergleich zum Ausgangstext eher als informativ erscheinen lässt. Setzt man eine Skopos-gemäße Übersetzungsleistung voraus,139 dann ist davon auszugehen, dass intra- und intertextuelle Kohärenz vorliegen.140 Intratextuelle Kohärenz bedeutet, dass die Übersetzung „mit der Zielrezipientensituation kohärent interpretierbar“ ist, das heißt, dass sie in der Kultur und Lebenssituation der Zieltextempfänger sinnvoll ist und verstanden werden kann.141 Nun ergibt ein Text über Opfervorschriften in einer Situation, in der aufgrund des fehlenden Tempels nicht geopfert wird, nur dann einen Sinn, wenn er nicht als Appell wahrgenommen wird, sondern vorrangig als Information. Das bedeutet, dass auch die Einfügung präzisierender Textelemente nicht den Zweck hat, die Opferpraxis zu regeln, sondern über eine geregelte Opferpraxis zu informieren. Auf der anderen Seite enthält die Übersetzung nach wie vor operative Elemente. Wenn in V.22 das versehentliche Nicht-Einhalten der Gebote als tatsächliche Sünde charakterisiert wird, dann will diese Pointierung die Leser nicht nur informieren, sondern eine Änderung der Einstellung und des Verhaltens bewirken. Ebenso beinhaltet die Interpretation der „erhobenen Hand“ als „Hand der Überheblichkeit“ in V.30 eine Wertung, durch die die Rezipienten positiv beeinflusst werden sollen. Und noch eine weitere Art operativer Textelemente lässt sich angeben: Durch die agrarische Konnotation des Wortes κάρπωμα als Wiedergabe von ‫( אשה‬V.3) wurde das Konzept „Opfer“ verallgemeinert. Die Gebote, Opfer zu bringen, konnten nun auch übertragen verstanden werden, vielleicht in dem Sinne, Abgaben an die Diasporagemeinde oder an den Tempel in Jerusalem zu entrichten. Hier können neben der Tempelsteuer, die auch aus der Diaspora entrichtet wurde,142 freiwillige Abgaben im Blick gewesen sein. Ob neben der Tempelsteuer weitere regelmäßige Abgaben aus der Diaspora nach Jerusalem geschickt wurden, ist in der Forschung umstritten,143 sicher ist zumindest, dass durch die drei jährlichen Pilgerfeste die Verbindung zwischen Diaspora und Mutterland aufrecht erhalten wurde.144 Die Vermutung ist also durchaus schlüssig, dass die Anweisungen des griechischen Textes in der Diaspora tatsächlich in Form von Abgaben an die Jerusalmer Gemeinde umgesetzt wurden. Auch wenn bei einem solchen Text-

139 Siehe dazu Abschnitt 2.3.2. 140 Vgl. Abschnitt 2.1.5.2. 141 Reiß und Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 109, 113. 142 Rajak, Translation and Survival, 110, notiert, dass unter römischer Herrschaft die Tempelsteuer mit Erlaubnis der Machthaber nach Jerusalem transportiert wurde. 143 Vgl. Doron Mendels und Arye Edrei, Zweierlei Diaspora. Zur Spaltung der antiken jüdischen Welt, Toldot 8, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010, 27–29. 144 Rajak, Translation and Survival, 108.

7.4 Äquivalenz

| 205

verständnis nicht jede Detailanweisung, beispielsweise bezüglich der begleitenden Speis- und Trankopfer, umgesetzt werden konnte, enthält der Zieltext Handlungsanweisungen für die Rezipienten. Setzt man also eine tempellose Diasporasituation voraus, so hat der Text natürlicherweise etwas von seiner Eigenschaft, operativer Text zu sein, verloren. Das ist freilich nicht durch die Übersetzung begründet, sondern durch die neue Rezipientensituation. Die so entstandene Tendenz zum informativen Texttyp hat der Übersetzer durch diverse Vereinheitlichungen des Textes, der nun historisch geworden ist, verstärkt. Unter diesem Blickwinkel ist es bezeichnend, dass zusätzlich weitere operative Komponenten in den Text Eingang gefunden haben. Der Übersetzer wollte seine Leser auch durch einen Text über teilweise obsolet gewordene Opfervorschriften in ihrem Verhalten prägen. Somit ist der übersetzte Text als vorrangig informativ mit operativem Anteil zu charakterisieren, wobei einschränkend anzumerken ist, dass der Wechsel zum informativen Texttyp nur teilweise auf den Übersetzer zurückgeht.

7.4 Äquivalenz Der Text wurde in enger Anlehnung an die Form der hebräischen Vorlage übersetzt. Besonders der letzte Abschnitt (V.37–41) fällt durch seine extrem wörtlichen Übereinstimmungen und die Beibehaltung der Wortstellung auf.145 Da die Wortstellung im Griechischen sehr flexibel ist, erscheint es jedoch nicht angebracht, von einer Interlinearübersetzung zu sprechen. Die griechische Syntax wird in den allermeisten Fällen nicht verletzt. Die einzige Ausnahme ist die Verwendung des καί apodoticum, die aber nicht nur im griechischen Numeribuch, sondern ganz allgemein im Pentateuch regelmäßig, wenn auch nicht immer, begegnet.146 Dies stellt die einzige Regelverletzung dar, daher ist es angemessen, nicht nur von Wort-, sondern auch von Strukturäquivalenz auszugehen, zumal über Wortund Strukturäquivalenz hinausgehend eine deutliche Neigung zu Stiläquivalenz vorliegt. Besonders in der zweiten Hälfte des Kapitels (ausgenommen V.37–41) war der Übersetzer sichtlich bemüht, den hebräischen Stil nicht zu dominant werden zu lassen. Beispielsweise wurde der Hebraismus „Tochter ihres Jahres“ zugunsten des Adjektivs ἐνιαύσιος vermieden (V.27). Auf der anderen Seite kommen

145 Vgl. die Bemerkung von Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 519, zu Num 35,17.18: „Sollte vielleicht gerade bei den Rechtssätzen »kein Jota« verloren gehen?“ 146 Vgl. Aejmelaeus, „The Significance of Clause Connectors“, 49–51.

206 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora „physiognomische Hebraismen“ wie ἐν χειρὶ Μωυσῆ (V.23) oder ἐξ ὀφθαλμῶν τῆς συναγωγῆς (V.24) vor, allerdings ist zu vermuten, dass diese zum Zeitpunkt der Übersetzung bereits derart etabliert waren, dass sie nicht mehr als störend empfunden wurden. Für Stiläquivalenz spricht auch, dass der Übersetzer bei wiederholtem Vorkommen desselben hebräischen Wortes nicht etwa konsequent auf ein Standardäquivalent zurückgegriffen, sondern durch die Verwendung von Synonymen für Abwechslung gesorgt hat (V.24; V.29–30). In einigen Fällen (V.8.14.22.27) wurde ‫ ו‬nicht mit καί, sondern mit δέ wiedergegeben, um einen Themenwechsel zu markieren. Für den Fall, dass eine subordinierende Konjunktion (wie in Num 15 öfter ἐάν) hinzukommt, ist die Wiedergabe von ‫ ו‬mit δέ im Pentateuch, vom Levitikusbuch abgesehen, der Normalfall.147 Diese Art der Übersetzung ist demnach nicht spezifisch für den hier behandelten Abschnitt, sie ist sogar eher unauffällig und sollte daher nicht überbewertet werden. Weitere Indikatoren für Stiläquivalenz sind die Verwendung der Konjunktion γάρ anstelle von ὅτι causale (V.34), die Wiedergabe eines Nominalsatzes durch einen Verbalsatz (z. B. V.14) sowie die Übersetzung einer Constructus-Verbindung mittels einer Präposition statt mit einer Genitiv-Verbindung (ἀφαίρεμα ἀπὸ ἅλωνος; V.20). Besonders eindrücklich ist die Beobachtung, dass der Übersetzer bezüglich der Verwendung des καί apodoticum dazugelernt hat. Während dieser Hebraismus in der ersten Hälfte des Kapitels noch wie selbstverständlich verwendet wird, kommt es im Verlauf von V.22–31 zu einem Wechsel. Dieser Wechsel erfolgte spontan, unabhängig von Inhalt und Struktur des gerade bearbeiteten Abschnitts. Man hat den Eindruck, dass der Übersetzer den hebraisierenden Stil vermeiden wollte, sich aber nur schwer dazu durchringen konnte. Ab V.27 hat er es dann tatsächlich geschafft, auf das καί apodoticum zu verzichten. Da dies insgesamt nur in 36% aller Fälle im Numeribuch geschehen ist,148 kann man annehmen, dass der Übersetzer in Num 15,27 keine radikale Kehrtwende vollzogen hat. Eher ist denkbar, dass ein ähnlicher Wechsel der Vorgehensweise auch in vergleichbaren legislativen Abschnitten zu finden ist. Interessant in dieser Hinsicht ist auch die Wiedergabe eines hebräischen Infinitivs mit Präposition und Pronominalsuffix (‫ ;באכלכם‬V.19) durch einen Nebensatz mit expliziter Angabe des Subjekts durch ein Personalpronomen (ὅταν ἔσθητε ὑμεῖς). Obwohl der Übersetzer die in den Septuagintaschriften etablierte149 wörtliche Konstruktion mit ἐν τῷ, Infinitiv und Akkusativ kannte und an-

147 Aejmelaeus, Parataxis in the Septuagint, 149–152. 148 Ebd., 140. 149 Vgl. Blass, Debrunner und Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, § 404.

7.5 Skopos

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wandte (ἐν τῷ εἰσπορεύεσθαι ὑμᾶς; V.18), hat er gelegentlich den hypotaktischen Stil der griechischen Sprache bevorzugt. Dieses Anliegen hat er jedoch nicht konsequent umgesetzt, da er das Personalpronomen ὑμεῖς als quantitative Entsprechung des hebräischen Pronominalsuffixes verwendet hat. Trotz einer Anlehnung an den griechischen Stil war der Übersetzer nach wie vor der Form des Hebräischen verpflichtet. Diese Beobachtungen machen deutlich, dass Stiläquivalenz für diesen Abschnitt nur unter Vorbehalt festgestellt werden kann. Bestätigt wird dies durch das Vorkommen weiterer Hebraismen wie der Wiedergabe von ‫ והיה‬durch καὶ ἔσται (z. B. V.19) oder der pleonastischen Verwendung eines Pronomens am Ende eines Relativsatzes (V.39). Der Übersetzer fühlte sich stellenweise zum Stil des Griechischen hingezogen, konnte (oder wollte) sich allerdings nicht vollständig vom hebräischen Stil lösen. Es handelt sich daher bei diesem Abschnitt um eine wortgetreue Übersetzung, die Wort- und Strukturäquivalenz implementiert, Stiläquivalenz dagegen nur ansatzweise verwirklicht.

7.5 Skopos Der Übersetzer stand vor der schwierigen Aufgabe, einen operativen Text für eine Zielkultur zu übersetzen, in der die Vorschriften des Textes zum großen Teil nicht erfüllt werden konnten und damit obsolet geworden waren. Dennoch sollten die Leser präzise über den Inhalt der Opfervorschriften informiert werden. Das zeigt sich außer an den in Abschnitt 7.3 genannten präzisierenden Einfügungen auch daran, dass Implizites im Anschluss an andere Opfervorschriften aus dem Exodus- und dem Levitikusbuch explizit gemacht wurde (ἄμωμον; V.24). Gleichzeitig sorgt die operative Komponente des übersetzten Textes für einen Bezug zur Lebenspraxis in der Diaspora. Konkret wird der Text durch die Einfügung von ἐν τῇ γῇ ὑμῶν (V.14; ebenso bereits in Num 9,14) kontextualisiert. Die Anweisungen sind nicht nur für die ursprünglichen Rezipienten des hebräischen Textes verbindlich, sondern auch für die neuen Leser „in ihrem Land“, auch wenn es sich nicht um das Land Israel, sondern um die Diaspora handelt. Dort gilt, dass Erstlingsgaben nicht nur „abgehoben“, sondern „ausgesondert“ werden sollen (V.19.20). Vielleicht zeigt sich darin eine Aufforderung des Übersetzers, die vorgeschriebenen Abgaben an die Gemeinde und auch an den Jerusalemer Tempel nicht zuerst als Abgaben an die Gemeinschaft, sondern vielmehr an Gott selbst anzusehen. Unabhängig von der konkreten Interpretation des griechischen Textes in der Diaspora gelten die Opfervorschriften auch für Nichtjuden, die sich der Kultgemeinde anschließen wollen. Das wird vor allem daran deutlich, dass im Kontext der Vorschriften für die „Fremden“ das Wort ‫ חקה‬mit νόμος wiederge-

208 | 7 Numeri 15,1–41: Gesetze für die Diaspora geben wird (V.15). Durch diese begriffliche Konzentration wird betont, dass sich auch Nichtjuden der Tora unterstellen können und sollen. Auch weitere theologische Interpretationen wollen die Leser zum rechten Denken und Tun anleiten. So ist das Nicht-Einhalten von Geboten tatsächlich „Sünde“, nicht nur ein Versehen (V.22), und eine vorsätzlich begangene Sünde wird als „Überheblichkeit“ charakterisiert (V.30). Diesem Anliegen des Übersetzers lässt sich auch die sehr wörtliche Wiedergabe des Abschnitts über die Zizit (V.37–41) zuordnen. Da es inhaltlich um das Halten „aller Gebote“ (V.39) geht, spiegelt die formale Genauigkeit der Übersetzung vielleicht die Exaktheit der Toraobservanz wider, die der Übersetzer für das Diasporajudentum voraussetzte. Durch die veränderte Rezipientensituation ist aus einem operativen hebräischen Text ein vorrangig informativer griechischer Text geworden, auch wenn der Übersetzer neue operative Elemente eingeführt hat. Solch ein Text ist natürlicherweise offen für Interpretationen. Der griechische Text lädt dazu ein, neue Anwendungsmöglichkeiten für die Umsetzung der göttlichen Gebote zu finden. Wie das neue Konzept des „Opfers“, das durch das agrarisch konnotierte Wort κάρπωμα beschrieben wird, inhaltlich gefüllt wurde, lässt sich in der Rückschau nur vermuten. In der aktuellen Verwendung waren Leser gezwungen, den Text zu interpretieren, wollten sie seinem Anspruch als weiterhin maßgebliche heilige Schrift gerecht werden. Als „Sitz im Leben“ der Übersetzung wird man eine Lehr- und Lernsituation vermuten können, in der die übersetzten heiligen Schriften in der Synagoge gemeinsam studiert wurden. Hier war der Ort, konkrete Kontextualisierungen der Opfervorschriften für die Diasporasituation zu suchen und zu finden.

8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht 8.1 Übersetzung 1

Und Chananis, der König von Arad, der zur Wüste hin wohnte, hörte [es]. Israel war nämlich den Weg nach Atharim gekommen. Und er führte Krieg gegen Israel, und sie führten [einige] von ihnen in Gefangenschaft. 2 Und Israel gelobte dem Herrn ein Gelübde und sagte: „Wenn du mir dieses Volk in die Hand gibst, werde ich es mit seinen Städten weihen.“ 3 Und der Herr erhörte die Stimme Israels und gab den Chananis in seine Hand, und er weihte ihn mit seinen Städten, und sie nannten den Namen jenes Ortes „Weihegabe“. 4

Und indem sie vom Berg Hor in Richtung auf das Rote Meer wegzogen, umrundeten sie das Land Edom. Und das Volk wurde auf dem Weg mutlos. 5 Und das Volk redete gegen Gott und gegen Mose folgendermaßen: „Warum hast du uns aus Ägypten herausgeführt, um uns in der Wüste zu töten? Denn es gibt kein Brot und auch kein Wasser. Unsere Seele aber ist ärgerlich geworden bei diesem armseligen Brot.“ 6 Und der Herr sandte die todbringenden Schlangen unter das Volk, und sie bissen das Volk, und es starb viel Volk von den Söhnen Israels. 7 Und nachdem das Volk zu Mose getreten war, sagten sie: „Wir haben gesündigt, denn wir haben gegen den Herrn und gegen dich geredet. Bete also zum Herrn, und er möge die Schlange von uns wegnehmen.“ Und Mose betete für das Volk zum Herrn. 8 Und der Herr sagte zu Mose: „Mache dir eine Schlange, und setze sie auf ein [Feld-] Zeichen, und es soll sein: Wenn eine Schlange einen Menschen beißt, wird jeder Gebissene am Leben bleiben, wenn er sie ansieht.“ 9 Und Mose machte eine bronzene Schlange und setzte sie auf ein [Feld-] Zeichen, und es geschah: Immer wenn eine Schlange einen Menschen biss, und er blickte auf die bronzene Schlange, dann blieb er am Leben. 10

Und die Söhne Israels zogen weg, und sie lagerten in Oboth. 11 Und nachdem sie von Oboth aufgebrochen waren, lagerten sie in Achelgai, auf der anderen Seite, in der Wüste, die sich gegenüber Moab befindet, Richtung Sonnenaufgang. 12 Von dort zogen sie weg und lagerten in der Zaret-Schlucht. 13 Und nachdem sie von dort weggezogen waren, lagerten sie auf der anderen Seite des Arnon in der Wüste, ausgehend vom Gebiet der Amoräer. Der Arnon ist nämlich die Grenze Moabs, zwischen Moab und dem Amoräer. 14 Deshalb heißt es in einem Buch: „Der Krieg des Herrn setzte Zoob in Brand und die Bachtäler des Arnon. 15 Und die Bachtäler legte er fest zum Wohnen für Er, und es liegt im Gebiet von Moab.“

210 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht 16

Und von dort: der Brunnen. Das ist der Brunnen, von dem der Herr zu Mose gesagt hat: „Versammle das Volk, und ich will ihnen Wasser zu trinken geben.“ 17 Damals sang Israel dieses Lied an dem Brunnen: „Beginnt [ein Lied] für ihn. 18 Brunnen, Fürsten haben ihn gegraben, Könige der Völker haben ihn ausgehauen während ihrer Königsherrschaft, während sie herrschten.“ Und vom Brunnen [zogen sie] nach Manthanain, 19 und von Manthanain nach Naaliel, und von Naaliel nach Bamoth, 20 und von Bamoth zum Waldtal, das in der Ebene Moab liegt – vom Gipfel des Herausgehauenen –, die gegenüber der Wüste herausschaut. 21

Und Mose sandte Älteste zu Seon, dem König der Amoräer, mit friedlichen Worten wie folgt: 22 „Wir wollen durch dein Land hindurchziehen, auf dem Weg wollen wir gehen, wir wollen nicht abbiegen, weder auf das Feld, noch in den Weinberg, wir wollen nicht aus deinem Brunnen Wasser trinken. Auf dem Königsweg wollen wir gehen, bis wir dein Gebiet durchzogen haben.“ 23 Und Seon erlaubte Israel nicht, durch sein Gebiet hindurchzuziehen. Und Seon versammelte sein ganzes Volk und zog in die Wüste, um Israel gerüstet entgegenzutreten, und kam nach Jassa und trat Israel gerüstet entgegen. 24 Und Israel schlug ihn mit Abschlachten durch das Schwert, und sie erlangten die Herrschaft über sein Gebiet vom Arnon bis zum Jabbok, bis zu den Söhnen Amman, denn Jazer ist die Grenze der Söhne Amman. 25 Und Israel nahm all diese Städte ein, und Israel siedelte sich in allen Städten der Amoräer an, in Hesbon und in all den ihm nahestehenden [Städten]. 26 Hesbon ist nämlich die Stadt Seons, des Königs der Amoräer, und dieser hatte zuvor gegen den König von Moab Krieg geführt und sein ganzes Land eingenommen, von Aroër bis zum Arnon. 27 Deshalb werden die Rätseldichter sagen: „Kommt nach Hesbon, damit die Stadt Seons gebaut und bereitet wird. 28 Denn Feuer ging aus von Hesbon, eine Flamme aus der Stadt Seons, und sie verschlang bis Moab und verschluckte die Säulen des Arnon. 29 Wehe dir, Moab, du wurdest vernichtet, Volk des Chamos. Ihre Söhne wurden ausgeliefert, um gerettet zu werden,

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und ihre Töchter [wurden] Gefangene für Seon, den König der Amoräer, 30 und ihre Nachkommenschaft wird vernichtet, [von] Hesbon bis Daibon, und die Frauen haben noch Feuer über Moab angezündet.“ 31

Israel aber siedelte sich in allen Städten der Amoräer an. 32 Und Mose sandte hin, um Jazer auszukundschaften, und sie nahmen es ein mit seinen Dörfern und vertrieben den Amoräer, der dort war. 33 Und nachdem sie umgekehrt waren, zogen sie den Weg nach Basan hinauf. Und Og, der König von Basan, zog aus zur Begegnung mit ihnen, und sein ganzes Volk [kam] zum Krieg nach Edrain. 34 Und der Herr sagte zu Mose: „Fürchte dich nicht vor ihm, denn in deine Hände habe ich ihn übergeben und sein ganzes Volk und sein ganzes Land, und du sollst mit ihm tun, was du mit Seon, dem König der Amoräer getan hast, der in Hesbon wohnte.“ 35 Und er schlug ihn und seine Söhne und sein ganzes Volk, bis kein lebendes Wesen von ihm übrig war, und sie nahmen ihr Land als Erbbesitz.

8.2 Kommentar 8.2.1 Der Krieg gegen Arad (V.1–3) Die Übersetzung dieses Abschnitts ist grundsätzlich wortgetreu, weicht aber vereinzelt von der Form des Ausgangstextes ab. Es finden sich sinngemäße Wiedergaben, allerdings werden Hebraismen nicht konsequent vermieden. Der Übersetzer war in seiner Interpretation des Textes sehr wahrscheinlich von Traditionen des Frühjudentums beeinflusst, die auch in den Targumim begegnen.

Vers 1 καὶ ἤκουσεν ὁ Χανανίς / ‫ וישמע הכנעני‬Während im hebräischen Text der König von Arad als „Kanaanäer“ bezeichnet wird, hat der Übersetzer das Wort ‫ כנעני‬als Eigennamen transkribiert. Dies ist bezeichnend, da die Transkription des hebräischen Wortes gewöhnlich Χαναναῖος lautet, was eine ethnische Bezeichnung impliziert.1 Die Ursache für die Wiedergabe an dieser Stelle ist möglicherweise in der geographischen Lage von Arad zu finden, das nach der Angabe im folgenden Relativsatz nicht im „Land Kanaan“, sondern „zur Wüste hin“ lag. Für den Über-

1 Z. B. Num 14,25.43.45. Diese Lesart ist auch in Num 21,1 für die jüdischen Revisionen (οἱ λ’), Codex A sowie einige Minuskelhandschriften bezeugt.

212 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht setzer konnte somit kein Kanaanäerkönig gemeint sein, demnach musste es sich um einen Eigennamen handeln. Möglicherweise liegt der Übersetzung auch die Auslegung im Targum Pseudo-Jonathan zugrunde, wo der König von Arad nicht als Kanaanäer, sondern als Amalekiter bezeichnet wird.2 ὁ κατοικῶν κατὰ τὴν ἔρημον / ‫ ישב הנגב‬Nach dem hebräischen Text wohnte der König „in der Wüste“, in der Übersetzung dagegen „zur Wüste hin“. Der Übersetzer hat hier den Sinn der Aussage präzisiert: Da es in der Wüste keine Städte gibt, diese aber in V.2–3 erwähnt werden, muss es sich hier um den Rand der Wüste handeln.3 ἦλθεν γὰρ Ἰσραηλ ὁδὸν Ἀθαρίμ / ‫ כי בא ישראל דרך האתרים‬Die hebräische Konjunktion ‫ כי‬dient hier dazu, einen Objektsatz einzuleiten und dadurch mitzuteilen, was es war, das der König von Arad hörte (‫)וישמע הכנעני‬, nämlich dass Israel auf dem Weg von Atharim herankam. Die griechische Konjunktion γάρ dagegen drückt (schwache) Kausalität aus. Die im griechischen Numeribuch recht seltene Wiedergabe von ‫ כי‬mit γάρ ist in diesem Fall als Übersetzungsfehler zu bewerten, da der Objektsatz nicht als solcher wiedergegeben wurde und das Verb ἤκουσεν des vorangehenden Hauptsatzes dadurch ohne Objekt bleibt.4 Es ist durchaus möglich, dass der Übersetzer die fehlende Information, also das, was der König von Arad hörte, in den direkt vorangehenden Versen (Num 20,27–29) gefunden hat, die vom Tod Aarons handeln. Der König von Arad hörte davon und nahm das als Anlass, gegen Israel Krieg zu führen. Diese Auslegung begegnet in den Targumim Pseudo-Jonathan und Neofiti und kann auch dem Übersetzer bekannt gewesen sein.5 Da die Information, was Chananis hörte, nach Ansicht des Übersetzers bereits in den vorhergehenden Versen genannt war, konnte die Konjunktion ‫ כי‬nicht mit ὅτι als Einleitung eines Objektsatzes wiedergegeben werden. Eine Alternative dazu ergab sich für den Übersetzer aus einem kausalen Verständnis von ‫כי‬. Hier wird nun einer der Fälle vorliegen, in denen ein ὅτι causale als zu stark empfunden und deshalb auf das schwächere γάρ zurückge-

2 Dorival, Les Nombres, 102–103. Beide Erklärungen werden dadurch etwas relativiert, dass in Num 33,40 von dem König von Arad (ebenfalls Χανανίς genannt) sowohl im hebräischen als auch im griechischen Text behauptet wird, er habe im „Land Kanaan“ gewohnt. Wenn allerdings Num 21 vor Num 33 übersetzt wurde (wovon auszugehen ist), dann ließ sich die Transkription in Num 21,1 nach der expliziten Erwähnung des „Landes Kanaan“ in Num 33,40 nur noch schwer ändern. Vgl. auch Seite 277 zu Num 33,40. 3 Ebd., 396. 4 Aejmelaeus, „Translation Technique and the Intention of the Translator“, 68. 5 Vgl. Dorival, Les Nombres, 396.

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griffen wurde:6 Der König von Arad hörte, dass Aaron gestorben war; mittelbare Ursache für das Bekanntwerden dieser Nachricht war in der Interpretation des Übersetzers die Tatsache, dass Israel den Weg nach Atharim gekommen war.7 καὶ κατεπρονόμευσαν ἐξ αὐτῶν αἰχμαλωσίαν / ‫וישב ממנו שבי‬ Sowohl für das Verb als auch für das Pronomen hat der Übersetzer den Plural gewählt. Die Abweichung von der Form des hebräischen Ausgangstextes stellt in diesem Kontext eine sinngemäße Wiedergabe dar.8

Vers 2 ἐάν μοι παραδῷς τὸν λαὸν τοῦτον ὑποχείριον / ‫אם־נתן תתן את־העם הזה בידי‬ Der infinitivus absolutus ‫ נתן‬des Ausgangstextes hat keine formale Entsprechung in der Übersetzung. Ob eine entsprechende hebräische Vorlage die Ursache war,9 oder ob die intensivierende Nuance des infinitivus absolutus durch das Kompositum παραδίδωμι anstelle des sonst als Äquivalent von ‫ נתן‬üblichen Simplex δίδωμι ausgedrückt wurde,10 lässt sich nicht entscheiden.11 Der Ausdruck ‫ בידי‬wurde recht frei mit μοι … ὑποχείριον wiedergegeben. Der Hebraismus εἰς χείρα μου wurde vermieden, dennoch scheint die Etymologie der „Hand“ durch. ἀναθεματιῶ αὐτὸν καὶ τὰς πόλεις αὐτοῦ / ‫ והחרמתי את־עריהם‬Der Übersetzer hat auf ein καί apodoticum verzichtet und dadurch einen Hebraismus vermieden. Das Substantiv ‫ חרם‬wird gewöhnlich mit ἀνάθεμα übersetzt, gelegentlich wird auch eine Konstruktion mit dem davon abgeleiteten Verb ἀναθεματίζω verwendet.12 Die Wiedergabe des hebräischen Verbs mit ἀναθεματίζω ist somit nicht

6 Im Numeribuch wird schwache Kausalität nur in 40% der Fälle korrekt mit γάρ wiedergegeben, ansonsten mit ὅτι; siehe Aejmelaeus, „OTI causale“, 19–20. 7 Die meisten griechischen Textzeugen bieten statt ἦλθεν γάρ die korrigierende Lesart ὅτι ἦλθεν, die offensichtlich auf einem anderen Textverständnis beruht. 8 Vgl. Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 478. 9 So Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 338. Hier wäre an Haplographie aufgrund des Homoioteleutons ‫תן‬- zu denken, die auch erst bei der Übersetzung erfolgt sein kann. 10 So Dorival, Les Nombres, 397. 11 Die jüdischen Revisionen geben die Konstruktion unterschiedlich wieder: Bei α’ entspricht dem infinitivus absolutus ein Partizip, und er verwendet das Simplex (διδοὺς δῷς), θ’ verwendet das Kompositum, aber auch ein Substantiv im Dativ (παραδόσει παραδῷς), und für σ’ genügt das Simplex, ohne dass der infinitivus absolutus eine Entsprechung hat (δῷς). 12 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 301 zu Num 18,14.

214 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht überraschend, auch wenn andere Äquivalente existieren.13 Die Leser werden aus dem Kontext erschlossen haben, dass die als „Weihen“ bezeichnete Handlung hier entsprechend der Bedeutung des hebräischen Verbs ‫ חרם‬eine militärische Aktion beinhaltet.14 Im hebräischen Text bezieht sich das von den Israeliten geäußerte Versprechen auf „ihre Städte“, in der Septuagintafassung dagegen auf „es (das Volk) und seine Städte“ oder wegen der Ambiguität von αὐτόν auf „ihn (den König) und seine Städte“. Der Wortlaut des griechischen Textes ist als Angleichung an V.3 erklärt worden, da dort ebenfalls αὐτὸν καὶ τὰς πόλεις αὐτοῦ als Objekt des Verbs ἀναθεματίζω vorkommt.15 Solch eine Angleichung erklärt allerdings noch nicht den Unterschied zwischen dem griechischen und dem hebräischen Text von V.3. Dort bezieht sich die Umsetzung des Versprechens im hebräischen Text auf „sie und ihre Städte“, in der Septuagintafassung dagegen auf „ihn und seine Städte“, wobei αὐτόν hier sicher auf den direkt davor genannten Chananis referiert. Eine Erklärung, die dem Befund sowohl in V.2 als auch in V.3 Rechnung trägt, wäre die Annahme, dass das Pronomen αὐτόν jeweils auf den Übersetzer zurückgeht und dass es sich an beiden Stellen auf Chananis bezieht. Dann hätte der Übersetzer durch eine leichte inhaltliche Pointierung an beiden Stellen die Initiative für die militärische Aktion sowie die Verantwortung für ihren Ausgang ausdrücklich dem König von Arad zugeschrieben.16

Vers 3 καὶ εἰσήκουσεν κύριος τῆς φωνῆς Ἰσραήλ / ‫ וישמע יהוה בקול ישראל‬Den Ausdruck ‫ שמע בקול‬im Sinne von „hören auf jemanden; jemanden erhören“ hat der Übersetzer mit εἰσακουω τῆς φωνῆς wiedergegeben.17 Der Aspekt des „Erhörens“ wurde dabei durch das Präfix εἰσ- sinngemäß ausgedrückt, der Hebraismus der „Stimme“ ist erhalten geblieben. καὶ παρέδωκεν τὸν Χανανὶν ὑποχείριον αὐτοῦ / ‫ ויתן את־הכנעני‬Der Ausdruck ὑποχείριον αὐτοῦ, der keine Entsprechung in 𝔐 hat, wird auf der Lesart von ⅏

13 Z. B. ὀλεθρεύω (Ex 22,19), ἐξολεθρεύω (Dtn 2,34) oder ἀφανίζω (Dtn 7,2). 14 Zur Problematik der Standardäquivalente vgl. Harl, Dorival und Munnich, La Bible grecque des septante, 248–250. 15 So Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 478. 16 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 338–340. 17 Exakt diese Art der Übersetzung begegnet z. B. in Dtn 15,5; 28,1.2.15.45.62 (dort jeweils „gehorchen“); Ri 13,9B ; 20,13A .

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(‫ )בידו‬in der Vorlage des Übersetzers beruhen. Die Wiedergabe durch das Adjektiv ὑποχείριος entspricht der in V.2.18 καὶ ἀνεθεμάτισεν αὐτὸν καὶ τὰς πόλεις αὐτοῦ / ‫ויחרם אתהם ואת־עריהם‬ Zur Wortwahl ἀναθεματίζω sowie zu den Pronomina αὐτόν und αὐτοῦ, die im Numerus nicht mit dem hebräischen Text übereinstimmen, sei auf die Ausführungen zu V.2 verwiesen.19 καὶ ἐπεκάλεσαν τὸ ὄνομα τοῦ τόπου ἐκείνου Ἀνάθεμα / ‫ויק רא שם־המקום חרמה‬ Die hebräische Verbform ‫ ויק רא‬kann sich auf ein unpersönliches Subjekt beziehen („man nannte“), möglich ist auch eine Vokalisierung als Nif‘al, aus der sich eine Passivkonstruktion („der Name … wurde genannt“) ergibt. Der Übersetzer hat den Satz im Sinne einer dieser beiden Möglichkeiten verstanden und das unpersönliche Subjekt durch die Verwendung der dritten Person Plural ausgedrückt.20 Ob durch das Demonstrativpronomen ἐκείνου der Ort genauer referenziert werden sollte, oder ob die Vorlage des Übersetzers den häufig vorkommenden Ausdruck ‫ המקום ההוא‬bot,21 lässt sich nicht entscheiden. In Num 14,45 hatte der Übersetzer den Ortsnamen ‫ חרמה‬mit Ἑρμά transkribiert.22 Hier dagegen hat er Wert darauf gelegt, die Ätiologie zu erhalten. Dafür musste der Ortsname entsprechend dem zuvor verwendeten Verb ἀναθεματίζω mit Ἀνάθεμα übersetzt werden. Ob im Ausgangstext eine Identifikation der beiden in Num 14,45 und Num 21,3 mit „Horma“ bezeichneten Orte intendiert war, ist umstritten.23 Daher muss auch unsicher bleiben, ob der Übersetzer den Ortsnamen an den beiden Stellen bewusst auf verschiedene Weise übersetzt hat, um eine Identifikation dadurch auszuschließen, oder ob er die verschiedenen Ortsbezeichnungen lediglich billigend in Kauf genommen hat, da ihm die Ätiologie in Num 21,3 wichtiger war als die Geographie.24

18 Siehe Seite 213. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 339, schlägt nachträglich vor, den kritischen Text von αὐτοῦ zu αὐτῷ zu ändern. Der Dativ entspräche dann dem Dativ μοι in V.2. 19 Siehe Seite 213. 20 Vgl. auch die entsprechenden Wiedergaben in Num 11,3.34; siehe dazu Seite 135 und Seite 164. 21 Siehe z. B. Gen 22,14; 28,19; 32,3; Num 11,3.34. 22 Dieselbe Transkription erscheint in Dtn 1,44 mit demselben Ort als Referenten und Verweis auf das in Num 14,45 Berichtete. 23 Zur Diskussion siehe Seebass, Numeri 10,11–22,1, 306–307. 24 Eine Identifikation der in Num 14,45 und Num 21,3 genannten Orte lässt sich eventuell bei den jüdischen Revisionen beobachten. In Num 21,1 ist für α’ und σ’ die Lesart ὁδὸν τῶν κατασκόπων bezeugt, die offensichtlich die hebräische Lesart ‫ דרך התרים‬voraussetzt (ebenso die Targumim). Da das Verb ‫ תור‬in Num 13,2 zur Bezeichnung der „Kundschafter“ verwendet wird, könnte sich

216 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht 8.2.2 Die Bronzeschlange (V.4–9) Im Großen und Ganzen wurde der Abschnitt in Anlehnung an die Form des Ausgangstextes übersetzt. Das zeigt sich besonders an der langen parataktischen Satzfolge, die den Text durchzieht. Allerdings ist der Übersetzer gelegentlich von der Parataxe abgewichen, und zwar durch Partizipialkonstruktionen zu Beginn von V.4 und V.7. Auch die direkten Reden in V.5 und V.7 wurde durch die Verwendung der Konjunktionen δέ und οὖν etwas lebendiger gestaltet.

Vers 4 In der ersten Vershälfte wird im hebräischen Text zunächst der Hauptsatz mit ‫ ויסעו‬eingeleitet, darauf folgt eine Infinitivkonstruktion (‫ )לסבב‬als Finalsatz („sie brachen auf …, um zu umgehen“). Im griechischen Text ist die Reihenfolge umgekehrt: Auf ein wohl temporal zu interpretierendes Partizip (ἀπάραντες) folgt das Verb περιεκύκλωσαν des Hauptsatzes („nachdem sie weggezogen waren …, umrundeten sie“). Vermieden wird dadurch die hebraisierende Wiedergabe einer Infinitivkonstruktion durch einen griechischen Infinitiv mit Präposition (z. B. τῷ περικυκλώσαι). ὁδὸν ἐπὶ θάλασσαν ἐρυθράν / ‫ דרך ים ־סוף‬Die Bezeichnung „Schilfmeer“ im hebräischen Text wird durchgängig als „Rotes Meer“ wiedergegeben, dies bereits im griechischen Exodusbuch. Dabei handelt es sich um die übliche griechische Bezeichnung für den Golf von Suez, den die Übersetzer offensichtlich mit dem im hebräischen Text genannten Gewässer identifiziert haben.25 καὶ ὠλιγοψύχησεν ὁ λαός / ‫ ותקצר נפש־העם‬Die hebräische Metapher der „kurzen Seele“ hat der Übersetzer prägnant mit dem schon im klassischen Griechisch verwendeten Verb ὀλιγοψυχέω wiedergegeben. Da das griechische Verb die Bedeutung „entmutigt sein“ hat, der hebräische Ausdruck dagegen meist mit „ungeduldig sein“ wiedergegeben wird, hat man mit einer Bedeutungsverschiebung in der Übersetzung gerechnet.26 Allerdings ist die hebräische Metapher (mit ‫ נפש‬so-

in der Lesart der Revisionen eine Identifikation der beiden mit „Horma“ bezeichneten Orte widerspiegeln, der „Weg der Kundschafter“ wäre dann der in Num 13 bereits vorausgesetzte; vgl. Seebass, Numeri 10,11–22,1, 306. 25 Vgl. Dorival, Les Nombres, 324. 26 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 341.

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wie mit ‫ )רוח‬sonst nur noch wenige Male belegt.27 In einigen Fällen lässt der Kontext es mindestens genauso gut zu, die Metapher als „Entmutigung“ und nicht als „Ungeduld“ zu interpretieren.28 Eine mögliche Bedeutungsänderung in Num 21,4 sollte demnach nicht überbewertet werden.

Vers 5 καὶ κατελάλει ὁ λαός / ‫ וידבר העם‬Das neutrale Verb ‫ דבר‬wurde dem Kontext entsprechend mit καταλαλέω wiedergegeben, wodurch die feindliche Nuance gut ausgedrückt wird. Dieses unzufriedene Reden des Volkes hat der Übersetzer als ein Ereignis von längerer Dauer interpretiert und zur Wiedergabe der wayyiqtolForm eine Imperfekt-Form verwendet.29 πρὸς τὸν θεὸν καὶ κατὰ Μωυσῆ λέγοντες / ‫באלהים ובמשה‬ Im hebräischen Text werden die Adressaten des unzufriedenen Redens jeweils mit der Präposition ‫ ב‬angeschlossen. Die Übersetzung verwendet bei Mose erwartungsgemäß (und passend zum Verb) κατά, bei Gott dagegen πρός.30 Eine mögliche Erklärung könnte darin liegen, dass der Übersetzer zwischen Gott und Mose differenzieren wollte, und zwar in dem Sinne, dass die Auflehnung gegen Gott weniger stark ausfiel.31 Dieselbe Unterscheidung findet sich auch in den Targumim, die nicht nur verschiedene Präpositionen, sondern auch verschiedene Verben verwenden. Ob dadurch allerdings eine Charakterisierung dieser Übersetzung als „Targumismus“ gerechtfertigt ist,32 erscheint fraglich. Denn in V.7 wird im hebräischen Text in derselben Konstruktion ebenfalls zweimal ‫ ב‬verwendet, und die Septuagintafassung übersetzt konsistent mit κατά, während die Targumim auch hier differenzieren. Es ist also nicht einsichtig, warum im griechischen Text diese Unterscheidung in V.5 getroffen wird, in V.7 dagegen nicht. Alternativ dazu in V.5 eine von 𝔐 abweichende Vorlage mit einer der Lesarten ‫על־אלהים‬, ‫ לאלהים‬oder ‫ אל־אלהים‬zu pos-

27 Ri 10,16; 16,16; Mi 2,7; Sach 11,8; Hi 21,4. Vergleichbar sind auch Konstruktionen mit Substantiv oder Adjektiv wie ‫קצַר־רוח‬ ְ (Spr 14,29; ὀλιγόψυχος) oder ‫קצֶר רוח‬ ֹ (Ex 6,9; ὀλιγοψυχία). 28 Ri 16,16; Hi 21,4 sowie Ex 6,9. 29 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 341. 30 Im Koine-Griechischen kann πρός auch zur Angabe eines feindlichen Verhältnisses verwendet werden; siehe Blass, Debrunner und Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, § 239.5. 31 So Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 479; vgl. bereits Fritsch, The Anti-Anthropomorphisms, 48. 32 So Dorival, Les Nombres, 73–74.

218 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht tulieren,33 ist ebenso unbefriedigend. Denn erstens wird keine dieser Lesarten in Handschriften bezeugt und zweitens könnte nicht plausibel gemacht werden, wie die Lesart von 𝔐 aus einer der rekonstruierten Lesarten entstehen konnte (bzw. umgekehrt).34 Der Fall ist letztendlich nicht entscheidbar, und ein interpretatives Interesse des Übersetzers sollte nur mit größter Zurückhaltung angenommen werden. Das pleonastische Partizip λέγοντες hat keine Entsprechung in 𝔐. Wahrscheinlich lag der Übersetzung eine Vorlage mit der Lesart ‫ לאמר‬zugrunde.35 ἵνα τί ἐξήγαγες ἡμᾶς / ‫ למה העליתנו‬In der Vokalisierung von 𝔐 wird ein Subjekt der zweiten Person Plural vorausgesetzt, der griechische Text dagegen verwendet die zweite Person Singular, die der Übersetzer aus dem Konsonantenbestand von 𝔐 gelesen haben kann. Gleichzeitig stimmt die Wortbedeutung des griechischen Textes („herausführen“) eher mit der Lesart von ⅏ (‫ )הוצאתנו‬überein als mit der von 𝔐 („heraufbringen“). Man könnte also mit einer Vorlage rechnen, die die Lesart von ⅏ enthielt.36 Auf der anderen Seite wird auch das Verb ‫ עלה‬im Hif‘il an einigen Stellen mit ἐξάγω wiedergegeben,37 so dass auch eine Vorlage mit der Lesart von 𝔐 möglich ist. ἀποκτεῖναι ἡμᾶς / ‫ למות‬Dem intransitiven „sterben“ des hebräischen Textes steht ein transitiv-faktitives „töten“ in der Übersetzung gegenüber, wobei zusätzlich auch das Objekt ἡμᾶς genannt wird. Dasselbe ist in Num 20,4 der Fall, wo die Klage der Israeliten über Wassermangel berichtet wird. In beiden Fällen wird es sich um einen intertextuellen Bezug zu Num 16,13 handeln.38 Dort wird die Anklage Datans und Abirams gegen Mose beschrieben. Sowohl im griechischen als auch im hebräischen Text (‫מות‬, Hif‘il) unterstellen sie ihm, er wolle die Israeliten töten. Für den Übersetzer ist die in Num 21,5 thematisierte Unzufriedenheit der Israeliten mit der Revolte von Datan und Abiram vergleichbar. ὅτι οὐκ ἔστιν ἄρτος οὐδὲ ὕδωρ / ‫ כי אין לחם ואין מים‬Da es sich hier um einen Umstandssatz handelt, der die zuvor geäußerte Anklage zwar motiviert, aber

33 Bei den letzten beiden Rekonstruktionen hätte der Übersetzer πρός in der Bedeutung „zu“ verwendet. 34 Vgl. Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 59–60. 35 Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 84–85; Aejmelaeus, „Participium coniunctum“, 3. 36 So auch Dorival, Les Nombres, 399. 37 Z. B. Ex 32,1.7.23; 33,1. 38 Dorival, Les Nombres, 69.

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nicht streng kausal mit ihr verknüpft ist, wäre eine Wiedergabe von ‫ כי‬mit γάρ statt mit ὅτι passender gewesen. Die Verwendung des ὅτι causale in solchen Fällen ist in Septuagintatexten allerdings nicht ungewöhnlich.39 ἡ δὲ ψυχὴ ἡμῶν προσώχθισεν / ‫ונפשנו קצה‬ Das Verb ‫ קוץ‬hat die Bedeutung „Ekel, Widerwillen empfinden“. Das griechische Verb προσοχθίζω ist im klassischen Griechisch nicht belegt, es handelt sich wohl um eine Ableitung von ὀχθέω („missmutig sein“),40 die auch in Gen 27,46 zur Wiedergabe von ‫ קוץ‬verwendet wird. Der Übersetzer hat sich möglicherweise an der Vorgabe des Genesisbuches orientiert.41 Die Verwendung von δέ statt καί zur Wiedergabe der Konjunktion ‫ ו‬entspricht griechischem Stilempfinden. ἐν τῷ ἄρτῳ τῷ διακένῳ τούτῳ / ‫ בלחם הקלקל‬Die Bedeutung des Hapaxlegomenons ‫ קלקל‬ist wohl „gering“, es wird von dem Adjektiv ‫ קל‬oder von dem Verb ‫„( קלל‬leicht sein“) abgeleitet sein.42 Der Übersetzer hat es mit διάκενος („leer, hohl“) wiedergegeben, dabei könnte das Präfix δια- die Gemination der Konsonantenfolge ‫ קל‬abbilden. Das Pronomen τούτῳ hat keine Entsprechung in 𝔐 und ist wohl zur Verdeutlichung und Verstärkung eingefügt worden.43

Vers 6 Im hebräischen Text werden drei Sätze jeweils mit einem Verb im wayyiqtol aneinandergereiht, in der Übersetzung beginnen die Sätze jeweils mit καί und einem Verb im Vergangenheitstempus. Diese strenge Abbildung der Form wird erst zu Beginn von V.7 aufgegeben, wo der Übersetzer eine Partizipialkonstruktion verwendet.

39 Vgl. Aejmelaeus, „OTI causale“, 14–15. 40 Dorival, Les Nombres, 400; vgl. Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. ὀχθέω, προσοχθίζω. 41 Dagegen hat Aquila später das stärkere σικχαίνω („hassen“) bevorzugt. 42 Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫קלקל‬. Für eine Bedeutung im Wortfeld von „leicht“ könnte auch die rezensionelle Randlesart κούφῳ sprechen. Zur Diskussion der Wortbedeutung vgl. noch Shawn Z. Aster, „»Bread of the Dungheap«: Light on Num. 21:5 from the Tell Fekherye Inscription“, in: VT 61 (2011), 341–358. 43 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 342.

220 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht τοὺς ὄφεις τοὺς θανατοῦντας / ‫ את הנחשים השרפים‬Das Attribut ‫ השרפים‬kann als determiniertes Substantiv aufgefasst werden. Dann wäre ‫ שרף‬ein Synonym oder ein Hyponym von ‫נחש‬. Im Fall eines Hyponyms wäre die genaue Bedeutung des Wortes, also die genaue Charakterisierung, um was für eine Art von Schlange es sich handelt, unbekannt.44 Der Übersetzer hat das Wort möglicherweise von dem transitiven Verb ‫„( שרף‬verbrennen“) abgeleitet und den „brennenden“ Biss der Schlangen aufgrund des Kontextes als tödlich interpretiert. In V.8 dagegen hat er das Wort als Synonym von ‫ נחש‬verstanden und wie dieses mit ὄφις wiedergegeben.45 Der Grund für diese Inkonsistenz wird darin liegen, dass das Wort in V.6 zusammen mit ‫ נחש‬verwendet wird und folglich anders als dieses übersetzt werden sollte. καὶ ἔδακνον τὸν λαόν / ‫וינשכו את־העם‬ Der Übersetzer hat den durativen Aspekt des „Beißens“ mehrerer Menschen über einen gewissen Zeitraum durch das Imperfekt ausgedrückt. καὶ ἀπέθανεν λαὸς πολὺς τῶν υἱῶν Ἰσραήλ / ‫ וימת עם־רב מישראל‬Die Wortfolge τῶν υἱῶν hat keine direkte Entsprechung im hebräischen Text. Möglicherweise wollte der Übersetzer dadurch den partitiven Charakter der Präposition ‫ מן‬wiedergeben.46 Denkbar ist auch, dass der Text an die häufig vorkommende Formulierung „Söhne Israels“, die z. B. auch in V.10 vorliegt, angeglichen wurde,47 was allerdings schon auf der Ebene der Vorlage geschehen sein kann.

Vers 7 καὶ παραγενόμενος ὁ λαὸς πρὸς Μωυσῆν ἔλεγον ὅτι / ‫ויבא העם אל־משה ויאמרו‬ Eine lange Folge von Parataxen, die den Abschnitt von V.5 bis V.9 durchzieht, wird jetzt durch ein Partizip unterbrochen. Das geschieht an einer passenden Stelle, denn das „Kommen“ des Volkes zu Mose ist dem „Reden“ im Hauptsatz inhaltlich untergeordnet.

44 In diesem Sinne übersetzen die folgenden Kommentatoren das Wort als „Saraph-Schlange“ o.ä.: Ludwig Schmidt, Das vierte Buch Mose: Numeri. Kapitel 10,11–36,13, ATD 7,2, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004, 102; Seebass, Numeri 10,11–22,1, 312; Baruch A. Levine, Numbers 21–36. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 4B, New York: Doubleday, 2000, 81; Milgrom, Numbers, 174. 45 Vgl. Seite 221. 46 So Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 342. Als alternative Lösung hätte auch die Präposition ἀπό zur Verfügung gestanden; siehe z. B. Ri 21,6B : ἐξεκόπη σήμερον φυλὴ μία ἀπὸ Ἰσραήλ; ähnlich Ri 17,6B . 47 Dorival, Les Nombres, 400.

8.2 Kommentar |

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Die Verwendung des Imperfekts (ἔλεγον) im Hauptsatz ist Kennzeichen eines lebendigen Erzählstils.48 Auf dieses Anliegen wird auch die Einfügung des ὅτι recitativum zurückzuführen sein, das ohne Entsprechung im hebräischen Text ist. ἡμαρτήκαμεν ὅτι κατελαλήσαμεν / ‫ חטאנו כי־דברנו‬Das Perfekt des ersten der beiden griechischen Verben wurde gewählt, um einen resultativen Aspekt auszudrücken.49 Die Wiedergabe von ‫ דבר‬mit καταλαλέω begegnet bereits in V.5.50 Das „Reden“ der Israeliten gegen Gott und Mose ist keine Ursache für das „Sündigen“; vielmehr wird das „Reden“ als „Sündigen“ qualifiziert. Die Wiedergabe von ‫ כי‬durch ein ὅτι causale ist folglich zu stark, stattdessen wäre γάρ angemessen gewesen.51 εὖξαι οὖν πρὸς κύριον / ‫התפלל אל־יהוה‬ Die Partikel οὖν hat keine Entsprechung im hebräischen Text und schließt den Imperativ passend an das vorher Gesagte an. καὶ ἀφελέτω ἀφ’ ἡμῶν τὸν ὄφιν / ‫ ויסר מעלינו את־הנחש‬Im Anschluss an die Form des hebräischen Textes hat der Übersetzer den kollektiven Singular von ὄφις verwendet. καὶ ηὔξατο Μωυσῆς πρὸς κύριον περὶ τοῦ λαοῦ / ‫ויתפלל משה בעד העם‬ Für πρὸς κύριον liegt keine Entsprechung in 𝔐 vor, es wird als Angleichung an die Aufforderung εὖξαι οὖν πρὸς κύριον eingefügt worden sein, möglicherweise bereits in der Vorlage.

Vers 8 ποίησον σεαυτῷ ὄφιν / ‫ עשה לך שרף‬Im Gegensatz zu V.652 hat der Übersetzer das Wort ‫ שרף‬hier als Synonym von ‫ נחש‬verstanden und es wie dieses mit ὄφις wiedergegeben. καὶ ἔσται ἐὰν δάκῃ ὄφις ἄνθρωπον / ‫והיה‬ und hebraisierend wiedergegeben.

Mit καὶ ἔσται wird ‫ והיה‬formerhaltend

48 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 343. 49 Rezensionelle Lesarten haben die Verbform zu ἡμάρτομεν (bzw. ἡμαρτήσαμεν) „korrigiert“, da der Aorist die reguläre Entsprechung zur hebräischen Affirmativkonjunktion darstellt. 50 Siehe Seite 217. 51 Vgl. Seite 218 zu V.5. 52 Siehe Seite 220.

222 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht Der mit ἐάν eingeleitete Konditionalsatz hat keine Entsprechung im hebräischen Text. Er kann inhaltlich aus V.9 entnommen und vom Übersetzer zur Verdeutlichung hinzugefügt worden sein. Der Satz findet sich allerdings auch im Targum Onkelos sowie als Randglosse in den Targumim Neofiti und PseudoJonathan. Ob der Übersetzer die Aussage verdeutlichen wollte oder ob bereits eine hebräische Vorlage existierte, die diesen Satz enthielt, lässt sich nicht entscheiden.53 πᾶς ὁ δεδηγμένος ἰδὼν αὐτὸν ζήσεται / ‫כל־הנשוך וראה אתו וחי‬ Das Partizip ἰδών dient als Entsprechung der weqatal-Form ‫וראה‬. Der Übersetzer hat sich für eine hypotaktische Wiedergabe entschieden und dabei auf eine wörtliche Entsprechung der Konjunktion ‫ ו‬verzichtet. Auch ein καί apodoticum vor dem finiten Verb ζήσεται hat der Übersetzer hier vermieden.54

8.2.3 Der Weg ins Gebiet der Amoräer (V.10–20) In V.10–13 hat der Übersetzer die parataktische Struktur des Ausgangstextes teilweise in eine hypotaktische Struktur umgewandelt. Dabei hat er die Angabe des neuen Lagerplatzes durchgängig mit einem finiten Verb formuliert, die vorangehende Notiz über den Aufbruch dagegen abwechselnd durch ein finites Verb und durch ein Partizip (siehe Tabelle 8.1). Vor einem finiten Verb zur Angabe eines Tab. 8.1. Hypotaxe und Parataxe in Num 21,10–13 V.10

καὶ ἀπῆραν …

… ‫ויסעו‬

καὶ παρενέβαλον …

… ‫ויחנו‬

παρενέβαλον …

… ‫ויחנו‬

V.11

καὶ ἐξάραντες …

… ‫ויסעו‬

V.12

ἐκεῖθεν ἀπῆραν

‫משם נסעו‬

καὶ παρενέβαλον …

… ‫ויחנו‬

V.13

καὶ ἐκεῖθεν ἀπάραντες

‫משם נסעו‬

παρενέβαλον …

… ‫ויחנו‬

neuen Lagerplatzes steht die Konjunktion καί nur dann, wenn kein Partizip, sondern ein finites Verb vorangeht und daher eine Asyndese vermieden werden sollte

53 Vgl. Dorival, Les Nombres, 401. 54 Bei der Ausführungsbeschreibung in V.9 wird ein καί apodoticum allerdings verwendet (καὶ ἔζη).

8.2 Kommentar |

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(V.10.12).55 Durch den hypotaktischen Stil hat der Übersetzer etwas Abwechslung in die Aufzählung der Reisestationen gebracht. Insgesamt lag dem Übersetzer ein schwieriger hebräischer Text vor, bei dem sowohl die Itinerarnotizen mit ihren unbekannten Ortsnamen als auch die poetischen Stücke Herausforderungen darstellten. Zur Erschließung und Wiedergabe des Textsinns musste des Öfteren der Kontext herangezogen werden. Mehrdeutige Konsonantenfolgen wurden gelegentlich anders als von den Masoreten interpretiert. Der Übersetzer hat sich bemüht, den Text für seine Leser verständlich und historisch plausibel zu machen.

Vers 11 καὶ ἐξάραντες ἐξ Ὠβώθ / ‫ ויסעו מאבת‬Während in V.10.12.13 das Verb ἀπαιρέω zur Wiedergabe von ‫ נסע‬verwendet wird, hat der Übersetzer hier ἐξαίρω bevorzugt, möglicherweise aufgrund der folgenden Präposition ἐκ bzw. ἐξ. Die durch das Partizip realisierte Hypotaxe legt den Schwerpunkt der Aussage auf den nächsten Lagerplatz. Dagegen ist Ὠβώθ, der Ort des Aufbruchs, inhaltlich untergeordnet, er wurde bereits im letzten Satz (V.10) erwähnt. παρενέβαλον ἐν Ἀχελγαὶ ἐκ τοῦ πέραν / ‫ ויחנו בעיי העברים‬Der Übersetzer hat ‫ העברים‬nicht als Teil eines Ortsnamens verstanden, stattdessen hat er die Konsonantenfolge von dem Wort ‫עבֶר‬ ֵ abgeleitet. Die Ortsbezeichnung Ἀχελγαί lässt sich aus 𝔐 nur schwer erklären, allenfalls kann γαί eine Transkription von ‫ עי‬sein. Möglicherweise lässt sich die hebräische Vorlage aufgrund der Lesart der SyroHexapla zu ‫ בנחל עיי העברים‬konstruieren, damit wäre also ein „Bachtal“ genannt. Der ursprüngliche griechische Text war dann vielleicht ἐν Ναχελγαὶ ἐκ τοῦ πέραν, wobei ein ν durch Haplographie ausgefallen sein kann.56 ἥ ἐστιν κατὰ πρόσωπον Μωάβ / ‫אשר על־פני מואב‬ Durch die Einfügung der Kopula ἐστίν hat der Übersetzer einen Nominalsatz vermieden. Der Ausdruck ‫ על־פני‬hat die Bedeutung „gegenüber“, die wörtliche Wiedergabe mit κατὰ πρόσωπον ist also hebraisierend.57

55 Eine Randlesart (οἱ λ’) bezeugt auch in V.12 die Hypotaxe καὶ ἐκεῖθεν ἀπάραντες παρενέβαλον. 56 Dies nach Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 345. 57 Lust, Eynikel und Hauspie, Greek-English Lexicon of the Septuagint, s.v. πρόσωπον.

224 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht Vers 13 παρενέβαλον εἰς τὸ πέραν Ἀρνὼν ἐν τῇ ἐρήμῳ / ‫ויחנו מעבר ארנון אשר במדבר‬ Die Relativpartikel ‫ אשר‬hat keine Entsprechung im griechischen Text. Der Übersetzer hat sie wohl nicht auf den Ort Arnon, sondern auf den gesamten Ausdruck ‫ מעבר ארנון‬bezogen58 und deshalb unübersetzt gelassen. ἔστιν γὰρ Ἀρνὼν ὅρια Μωάβ / ‫ כי ארנון גבול מואב‬Dieser Satz bietet Hintergrundinformationen zum vorhergehenden Satz, die Verbindung ist nur lose und nicht streng kausal. Die Wiedergabe von ‫ כי‬mit γάρ statt des sonst gerne verwendeten ὅτι59 ist daher eine gute Lösung. Die Kopula ἐστίν, die keine Entsprechung im hebräischen Text hat, dient zur Vermeidung eines Nominalsatzes.

Vers 14 διὰ τοῦτο λέγεται ἐν βιβλίῳ πόλεμος κυρίου / ‫על־כן יאמר בספר מלחמת יהוה‬ Um den auffälligen Nominativ πόλεμος zu erklären, wurde vermutet, dass der Übersetzer ‫( מלחמת יהוה‬oder eine Lesart mit ‫ )מלחמה‬als Titel des genannten Buches verstanden und mit πόλεμος κυρίου wiedergegeben hat. In diesem Fall hätte der folgende Satz (τὴν Ζωὸβ ἐφλόγισεν) kein explizites Subjekt, implizites Subjekt wäre dann κύριος.60 Ebenfalls möglich ist, dass πόλεμος κυρίου das Subjekt des folgenden Satzes bildet,61 dann muss allerdings die Angabe „in einem Buch“ rätselhaft bleiben. Auch diese Lösung setzt eine Lesung von ‫ מלחמת‬als Singular voraus. Wie der Übersetzer seine Vorlage verstand, lässt sich kaum mit Sicherheit sagen. τὴν Ζωὸβ ἐφλόγισεν / ‫ את־והב בסופה‬Anstelle der Lesart ‫ את־והב‬von 𝔐 liegt der Übersetzung τὴν Ζωόβ die Lesart ‫ את־זהב‬zugrunde.62 Der feminine Artikel macht deutlich, dass der Übersetzer den Ortsnamen als Bezeichnung eines Landes (γῆς) verstanden hat.63

58 Vgl. die Übersetzung bei Milgrom, Numbers, 176: „beyond the Arnon, that is, in the wilderness“. 59 Vgl. Aejmelaeus, „OTI causale“, 15. 60 So Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 346. 61 So auch in der Übersetzung von Dorival, Les Nombres, 403: „La guerre de Seigneur a enflammé …“. 62 Zur Verwechslung von ‫ ו‬und ‫ ז‬vgl. Friedrich Delitzsch, Die Lese- und Schreibfehler im Alten Testament nebst den dem Schrifttexte einverleibten Randnoten klassifiziert, Berlin und Leipzig: de Gruyter, 1920, 112–113 (§ 112a,b). 63 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 346–347.

8.2 Kommentar |

225

Die genaue Ableitung des griechischen Verbs aus der Form ‫ בסופה‬muss unsicher bleiben. Vorgeschlagen wurde eine Assoziation mit den aramäischen Verben ‫„( ספף‬verbrennen“)64 und ‫„( ספסף‬versengen“).65

Vers 15 καὶ τοὺς χειμάρρους κατέστησεν κατοικίσαι Ἤρ / ‫ואשד הנחלים אשר נטה לשבת‬ ‫ער‬ Das seltene Wort ‫„( אשד‬Hang“) hat der Übersetzer möglicherweise nicht verstanden66 und deshalb ignoriert. Ebenfalls denkbar ist eine Vorlage, die anstelle von ‫ אשד‬die Relativpartikel ‫ אשר‬enthielt, eine Lesart, die auch von ⅏ bezeugt wird. In diesem Fall hätte der Übersetzer die Partikel aus Unkenntnis der intendierten Satzstruktur ignoriert. Schließlich ist auch möglich, dass das Wort bereits in der Vorlage fehlte.67 Das Verb ‫ נטה‬kann auch im Qal transitiv verwendet werden.68 So hat es der Übersetzer offensichtlich verstanden und dabei Gott als implizites Subjekt vorausgesetzt. Das metaphorische „Ausstrecken der Bachtäler“ hat er mit Hilfe des Verbs καθίστημι wiedergegeben. Um einen unabhängigen Satz zu bilden, musste die Relativpartikel ‫ אשר‬ignoriert werden. καὶ πρόσκειται τοῖς ὁρίοις Μωάβ / ‫ונשען לגבול מואב‬ Das metaphorisch verwendete Verb ‫ שען‬im Nif‘al („sich anlehnen“) wurde verallgemeinernd, aber durchaus passend mit πρόσκειμαι übersetzt.

Vers 16 καὶ ἐκεῖθεν τὸ φρέαρ / ‫ומשם בארה‬ Der Übersetzer hat ‫ באר‬nicht transkribiert, sondern als „Brunnen“ wiedergegeben.69 Das bot sich schon deshalb an,

64 Ebd., 347. 65 Seebass, Numeri 10,11–22,1, 331. 66 Es kommt sonst nur in Dtn 3,17; 4,49; Jos 10,40; 12,3.8; 13,20 vor und wird dort immer transkribiert. 67 Vgl. Dorival, Les Nombres, 403: „La LXX lisait un texte différent du TM, qu’il est difficile, sinon impossible, de reconstituer.“ Zum Versuch einer Rekonstruktion des ursprünglichen hebräischen Textes siehe Duane L. Christensen, „Num 21:14–15 and the Book of the Wars of Yahweh“, in: CBQ 36 (1974), 359–360. 68 Vgl. z. B. Ex 7,19: ‫ונטה־ידך‬. 69 Die meisten Ausleger fassen ‫ באר‬als Ortsnamen auf, z. B. Milgrom, Numbers, 177; Levine, Numbers 21–36, 95; anders Seebass, Numeri 10,11–22,1, 332, mit Hinweis auf die Näherbestimmung in V.16b.

226 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht weil gleich im Anschluss das „Brunnenlied“ zitiert wird. Durch eine Transkription hätten Leser ohne Hebräischkenntnisse die Verbindung zwischen dem genannten Ort und dem Lied nicht verstanden. Das ‫ ה‬locale des hebräischen Textes hat keine Entsprechung in der Übersetzung, etwa in Form einer Präposition wie πρός oder εἰς. Es wurde sicher nicht bewusst vom Übersetzer ausgelassen, sein Fehlen lässt sich eher auf der Ebene der Vorlage erklären. Denn das folgende Wort (‫ )הוא‬beginnt mit dem Buchstaben ‫ה‬, es kann also ein ‫ ה‬in der Vorlage durch Haplographie ausgefallen oder in 𝔐 durch Dittographie eingefügt worden sein. Obwohl der Richtungsaspekt an der Textoberfläche fehlt, wird im griechischen Text deutlich, dass es sich um ein Reiseziel handelt, da in V.18 von genau diesem Ort aufgebrochen wird.70 τοῦτό ἐστιν τὸ φρέαρ / ‫ הוא הבאר‬Der Übersetzer hat die Kopula ἐστίν eingefügt und dadurch einen Nominalsatz vermieden. συνάγαγε τὸν λαὸν καὶ δώσω αὐτοῖς ὕδωρ πιεῖν / ‫אסף את־העם ואתנה להם‬ ‫מים‬ Die Konjunktion ‫ ו‬wurde wörtlich wiedergegeben, obwohl hier ein Finaloder Konsekutivsatz vorliegt, der besser mit ἵνα oder ὥστε eingeleitet worden wäre.71 Der Infinitiv πιεῖν hat keine Entsprechung im hebräischen Text. Er drückt explizit aus, was im hebräischen Text als implizite Information vorliegt, ist allerdings zum Verständnis des griechischen Textes nicht nötig. Die Einfügung kann vom Übersetzer vorgenommen worden sein, aber genauso gut ist es möglich, dass seine Vorlage bereits die Lesart ‫ לשתות‬enthielt.

Vers 17 τότε ᾖσεν Ἰσραὴλ τὸ ᾆσμα τοῦτο ἐπὶ τοῦ φρέατος / ‫אז ישיר ישראל את־השירה‬ ‫הזאת עלי באר‬ Während die Konsonantenfolge ‫ עלי‬in 𝔐 als Imperativ des Verbs ‫ עלה‬punktiert wurde,72 hat der Übersetzer sie als Variante der Präposition ‫ על‬aufgefasst.73 In diesem Kontext kann sie sowohl „auf (örtlich)“ als auch „über (bzgl. eines Redegegenstandes)“ bedeuten.74 Im zweiten Fall würde man in der

70 Dorival, Les Nombres, 403. 71 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 348. 72 Entsprechend steht in 𝔐 ein Atnach bei ‫הזאת‬. 73 Die Präposition ‫ עלי‬kommt in poetischen Texten vor, siehe Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫על‬, B. 74 Ebd., s.v., 1a, 2e.

8.2 Kommentar |

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Übersetzung eher περί erwarten,75 daher ist die Präposition ἐπί hier sicher örtlich („an dem Brunnen“) zu interpretieren.76 ἐξάρχετε αὐτῷ / ‫ ענו־לה‬Das Verb ‫ ענה‬hat die Bedeutung „ein Lied beginnen, anstimmen“, es wird auch in Ex 15,21 mit ἐξάρχω wiedergegeben. Diese Wiedergabe ist passend und entspricht schon der Verwendung des Verbs ἐξάρχω im klassischen Griechisch.77

Vers 18 ἐξελατόμησαν αὐτὸ βασιλεῖς ἐθνῶν / ‫ כרוה נדיבי העם‬Die Änderung von den „Edlen des Volkes“ zu den „Königen der Völker“ wird darauf zurückzuführen sein, dass der Übersetzer ein Missverständnis vermeiden wollte. Im hebräischen Text ist der Referent von ‫ העם‬nicht eindeutig zu bestimmen, es kann sich um Israel oder um die nördlich des Arnon beheimateten Amoräer (V.13) handeln. Die in Septuaginatexten übliche Wiedergabe von ‫ עם‬mit λαός hätte die Leser dazu verleiten können, den Brunnen als ein Werk der Israeliten anzusehen, zumal diese bereits in V.16 mit ὁ λαός bezeichnet wurden. Die Wortwahl ἔθνος sowie der Plural machen diese Interpretation unmöglich. Im Kontext der Erzählung halten sich die Israeliten im Gebiet fremder Völker auf, folglich wird diesen auch der Brunnenbau zugeschrieben. Da die Israeliten zur Zeit der Wüstenwanderung keinen König hatten, weist die Übersetzung „Könige“ in dieselbe Richtung.78 Der Übersetzer hat den Text historisierend verdeutlicht. ἐν τῇ βασιλείᾳ αὐτῶν ἐν τῷ κυριεῦσαι αὐτῶν / ‫ במחקק במשענתם‬Das Po‘el-Partizip ‫ מחקק‬hat hier wie in Gen 49,10 die Bedeutung „Herrscherstab“ bzw. „Szepter“.79 Der Übersetzer hat den hebräischen Text nicht etwa dahingehend interpretiert, dass der Brunnen mit dem Szepter gegraben wurde, sondern das Wort wurde metonymisch verstanden. Das durch die Metonymie des „Szepters“ Bezeichnete, nämlich die „Königsherrschaft“, erscheint in der Übersetzung explizit. Ganz in diesem Sinne wurde auch die Präposition ‫ ב‬nicht instrumental, sondern temporal interpretiert („während ihrer Königsherrschaft“).80

75 So wird z. B. in Num 8,22 ‫ כאשר צוה יהוה את־משה על־הלוים‬mit καθὼς συνέταξεν κύριος τῷ Μωυσῇ περὶ τῶν Λευιτῶν wiedergegeben. 76 So auch Dorival, Les Nombres, 403; gegen Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 348. 77 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 479; Dorival, Les Nombres, 404. 78 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 349. 79 Seebass, Numeri 10,11–22,1, 329; Milgrom, Numbers, 178. 80 Vgl. Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 479.

228 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht Entsprechendes gilt für die parallele Zeile ἐν τῷ κυριεῦσαι αὐτῶν, in der ebenfalls die metonymische Umschreibung des Herrschens durch „Stäbe“ (‫)משענת‬ aufgelöst wird.81 καὶ ἀπὸ φρέατος εἰς Μανθαναίν / ‫ וממדבר מתנה‬Während im hebräischen Text die „Wüste“ den Ausgangspunkt für den nächsten Reiseabschnitt darstellt, wird in der Septuagintafassung der „Brunnen“ genannt. Tatsächlich war die zuletzt erwähnte Lagerstation τὸ φρέαρ (V.16), ohne dass dieser Station explizit eine Lage in der Wüste zugeschrieben wurde. Es war vielmehr der vor dem Brunnen genannte Lagerplatz, der „in der Wüste“ verortet wurde (V.13). Die Lesart τὸ φρέαρ könnte als Harmonisierung mit V.16 angesehen werden, wenn man voraussetzt, dass der Brunnen nicht in der Wüste lag.82 Geht man dagegen davon aus, dass auch der Brunnen noch in der Wüste oder an deren Rand zu finden war, dann handelt es sich um eine Präzisierung, die explizit auf den zuletzt genannten Lagerplatz „am Brunnen“ Bezug nimmt. In beiden Fällen ist der griechische Text kohärenter bezüglich der beschriebenen Geographie. Da die Lesart des griechischen Textes in hebräischen Manuskripten nicht belegt ist und da inhaltliche Verdeutlichungen die Arbeitsweise des Numeri-Übersetzers ausmachen, ist damit zu rechnen, dass auch hier die Änderung von der „Wüste“ zum „Brunnen“ nicht auf einer entsprechenden Vorlage, sondern auf der Arbeitsweise des Übersetzers beruht.83

Vers 20 ἥ ἐστιν ἐν τῷ πεδίῳ Μωάβ / ‫ אשר בשדי מואב‬Wie schon an anderen Stellen in diesem Abschnitt hat der Übersetzer eine Kopula eingefügt, um einen Nominalsatz zu vermeiden. ἀπὸ κορυφῆς τοῦ λελαξευμένου / ‫ראש הפסגה‬ Der Übersetzer hatte offenbar Schwierigkeiten, den Sinn des hebräischen Textes zu erschließen. Die Konsonantenfolge ‫ פסגה‬wurde nicht als Eigenname interpretiert, sondern von dem Verb ‫ פסג‬abgeleitet, das im Mittelhebräischen und im jüdischen Aramäisch „teilen, hindurchbrechen“ bedeutet.84 Daraus ergab sich die Wiedergabe mit Hilfe des

81 Die jüdischen Revisionen erhalten die Metonymie durch die wörtlichen Übersetzungen ἐν τῇ βακτηρίᾳ αὐτῶν (α’) und ἐν ταῖς ῥάβδοις αὐτῶν (θ’). 82 So Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 349; Dorival, Les Nombres, 145. 83 Vgl. die methodischen Anmerkungen in Abschnitt 2.1.6. 84 Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫פסג‬.

8.2 Kommentar |

229

Verbs λαξεύω.85 Die Erwähnung eines „Gipfels“ (‫ ראש‬/ κορυφή) legt das Verständnis des „Herausgehauenen“ als „Felssturz“ nahe.86 Die Präposition ἀπό könnte auf Dittographie des vorangehenden ‫ ב‬von ‫ מואב‬in Kombination mit Verwechslung zu ‫ מ‬beruhen, so dass die Vorlage vielleicht die Lesart ‫ מראש‬bot.87 Mindestens ebenso wahrscheinlich ist allerdings, dass der Übersetzer die Präposition eingefügt hat, um dem schwierigen hebräischen Text einen Sinn abzugewinnen und den „Gipfel des Herausgehauenen“ versuchsweise mit den anderen Textelementen inhaltlich zu verbinden. τὸ βλέπον κατὰ πρόσωπον τῆς ἐρήμου / ‫ ונשקפה על־פני הישימן‬Statt der Lesart ‫ ונשקפה‬lag dem Übersetzer wahrscheinlich die Variante ‫ הנשקף‬vor, die auch von ⅏ bezeugt wird. Das Attribut τὸ βλέπον im Neutrum bezieht sich wohl nicht auf das direkt vorangehende τοῦ λελαξευμένου, da hier ein Genitiv zu erwarten wäre. Ein Bezug auf das weiter entfernt stehende τῷ πεδίῳ Μωάβ ist trotz des eigentlich zu erwartenden Dativs wahrscheinlicher.88 Aus dieser Annahme ergibt sich die hier gebotene deutsche Übersetzung des griechischen Textes.

8.2.4 Der Krieg gegen die Amoräer und gegen Basan (V.21–35) Die Übersetzung bietet größtenteils eine wörtliche Wiedergabe des hebräischen Textes, wobei sich der Übersetzer allerdings bemüht hat, verständlich zu kommunizieren. Dazu hat er Metaphern aufgelöst (V.24.25) und Implizites explizit gemacht (V.23.27.32), gelegentlich schimmert ein Stück griechischen Stils durch. Eine theologische Aussageabsicht des Übersetzers lässt sich in V.29 vermuten. Angleichungen an den parallelen Text aus Dtn 2 sind wohl eher auf eine Vorlage mit präsamaritanischen Lesarten zurückzuführen als auf die Intention des Übersetzers. Denkbar ist aber auch, dass verschiedene Traditionen im Umlauf waren, die den Text von Num 21 unabhängig voneinander „vervollständigten“.89 Da 85 Ganz entsprechend erklärt sich die Wiedergabe von ‫ פסגה‬durch das Adjektiv λαξευτός in Dtn 4,49. 86 Seebass, Numeri 10,11–22,1, 333. 87 Ebd., 333. 88 Ähnlich Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 479–480. 89 Vgl. als Beispiel für eine mögliche Angleichung der LXX-Fassung von Numeri (oder ihrer Vorlage) an den Text des Deuteronomiums Hans Ausloos, „LXX Num 14:23. Once More a »Deuteronomist« at Work?“, in: X Congress of the International Organization for Septuagint and Cognate Studies, Oslo 1998, hrsg. von Bernhard A. Taylor, SCSS 51, Atlanta: Society of Biblical Literature, 2001, 415–427.

230 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht sich diese Ergänzungen nicht plausibel auf den Übersetzer zurückführen lassen, sollten die Bezüge auf Dtn 2 zur Bewertung der Übersetzung nicht herangezogen werden.

Vers 21 καὶ ἀπέστειλεν Μωυσῆς πρέσβεις / ‫ וישלח ישראל מלאכים‬Während im hebräischen Text Israel als Gesamtheit genannt wird, ist es in der Übersetzung Mose, der die Boten aussendet. Das entspricht dem Inhalt von Dtn 2,26, wo Mose in der Rückschau berichtet, er habe die Boten ausgesandt. Auch in der zweiten Vershälfte (s. u.) bietet der griechische Text über 𝔐 hinaus eine Information, die auf Dtn 2,26 basiert. Da dort der Wortlaut der Übersetzung ebenfalls von ⅏ bezeugt wird, bietet es sich in beiden Fällen an, von einer entsprechenden hebräischen Vorlage auszugehen, in der der Text nach Dtn 2 ergänzt wurde. Das Wort ‫ מלאך‬wird im griechischen Numeribuch, wenn es sich um menschliche Boten handelt, entweder mit ἄγγελος (Num 20,14; 24,12) oder mit πρέσβυς (Num 21,21; 22,5) wiedergegeben. Eine Regelmäßigkeit lässt sich dabei nicht feststellen. Wahrscheinlich hat der Übersetzer beide Worte als (partiell) synonym betrachtet, da πρέσβυς nicht nur „Ältester“, sondern auch „Gesandter“ bedeuten kann.90 πρὸς Σηὼν βασιλέα Αμορραίων λόγοις εἰρηνικοῖς λέγων / ‫אל־סיחן מלך־האמרי‬ ‫ לאמר‬Der Ausdruck λόγοις εἰρηνικοῖς hat keine Entsprechung in 𝔐, wohl aber in ⅏. Die präsamaritanische Textform ergänzt den Text offenbar nach Dtn 2,26;91 es ist anzunehmen, dass der Übersetzer eine entsprechende Vorlage verwendete.

Vers 22 παρελευσόμεθα διὰ τῆς γῆς σου / ‫ אעברה בארצך‬Im griechischen Text steht das Verb im Plural, im hebräischen Text (𝔐 und ⅏) dagegen im Singular. Der Plural entspricht dem Numerus in den folgenden Sätzen; auch in der ganz ähnlichen Re-

90 Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. πρέσβυς; vgl. auch das Bedeutungsspektrum der sinnverwandten Wörter πρεσβεία, πρεσβευτής, πρεσβεύω. Die Polysemie lässt sich wohl darauf zurückführen, dass in der Antike bevorzugt „Älteste“, also Männer mit einer besonderen sozialen Stellung, als Gesandte eingesetzt wurden. Daher ist der von Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 351, vorgeschlagenen Charakterisierung von πρέσβυς als „a higher grade of messenger“ im Vergleich zu ἄγγελος bzgl. der reinen Wortsemantik zuzustimmen; eine Intention des Übersetzers lässt sich daraus jedoch nicht ableiten. 91 Vgl. Dorival, Les Nombres, 407.

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de in Num 20,17 wird der Plural verwendet, sowohl im griechischen als auch im hebräischen Text. Möglicherweise hat der Übersetzer den Numerus an die folgenden Verbformen in diesem Vers angeglichen,92 allerdings lässt sich eine Vorlage mit der Verbform im Plural nicht ausschließen. τῇ ὁδῷ πορευσόμεθα / – Der Ausdruck im griechischen Text ist ohne Entsprechung in 𝔐. Darüber hinausgehend bietet ⅏ die Lesart ‫בדרך המלך אלך לא אסור‬ ‫ימין ושמאול‬, die den Text an Dtn 2,27 angleicht. Möglicherweise waren mehrere „harmonisierende“ Traditionen im Umlauf. Ob der Übersetzer den Text selbstständig an Dtn 2,27 angepasst hat oder ob bereits seine Vorlage diese Angleichung vorgenommen hatte, lässt sich nicht entscheiden. οὐκ ἐκκλινοῦμεν οὔτε εἰς ἀγρὸν οὔτε εἰς ἀμπελῶνα / ‫ לא נטה בשדה ובכרם‬Der Übersetzer hat eine allzu wörtliche Wiedergabe vermieden, die Konstruktion mit οὔτε … οὔτε lässt ein wenig griechischen Stil anklingen. οὐ πιόμεθα ὕδωρ ἐκ φρέατός σου / ‫ לא נשתה מי באר‬Die hebräische Constructus-Verbindung ‫ מי באר‬wurde mit Hilfe der Präposition ἐκ wiedergegeben, der Sinn der Übersetzung entspricht ganz dem des Ausgangstextes. Das Pronomen σοῦ kann als Ergänzung des Übersetzers betrachtet werden, durch die eine in dem knappen Ausdruck ‫ מי באר‬implizit enthaltene Information explizit gemacht wird. ὁδῷ βασιλικῇ πορευσόμεθα / ‫ בדרך המלך נלך‬Die Wiedergabe der ConstructusVerbindung mit Hilfe des Adjektivs βασιλικός ist elegant und trifft den Sinn besser als die wörtliche Übersetzung ὁδῷ τοῦ βασιλέως.

Vers 23 καὶ οὐκ ἔδωκεν Σηὼν τῷ Ισραηλ παρελθεῖν / ‫ ולא־נתן סיחן את־ישראל עבר‬Die Verwendung von δίδωμι mit folgendem Infintiv in der Bedeutung „erlauben“ ist nicht etwa ein Hebraismus, sondern entspricht klassischem Griechisch.93 καὶ ἐξῆλθεν παρατάξασθαι τῷ Ἰσραήλ / ‫ ויצא לק ראת ישראל‬Der erstarrte Infinitiv ‫„( לק ראת‬entgegen“) wird häufig mit εἰς συνάντησιν wiedergegeben.94 Hier

92 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 480. 93 Thackeray, A Grammar of the Old Testament in Greek, 39. 94 Z. B. Ex 4,27; 18,7.

232 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht dagegen hat der Übersetzer durch ein Verb mit militärischer Konnotation explizit ausgedrückt, zu welchem Zweck Seon den Israeliten entgegenging.95

Vers 24 καὶ ἐπάταξεν αὐτὸν Ἰσραὴλ φόνῳ μαχαίρας / ‫ ויכהו ישראל לפי־חרב‬Die Metapher vom „Mund des Schwertes“ wird gewöhnlich als „Schärfe des Schwertes“96 aufgelöst als oder „Schwertklinge“97 übersetzt. Die Formulierung „schlagen mit dem Mund des Schwertes“ bezeichnet hier wie an anderen Stellen98 offensichtlich einen vollständigen militärischen Sieg.99 Eine wörtliche Wiedergabe mit στόμα wie in Gen 34,26 hätte auf einen im klassischen Griechisch etablierten idiomatischen Ausdruck zurückgegriffen.100 Der Übersetzer des Numeribuches dagegen hat die Metapher vollständig aufgelöst und mit der Wortwahl φόνος eine bis zum Äußersten gehende realistische Wirkung erzielt. καὶ κατεκυρίευσαν τῆς γῆς αὐτοῦ / ‫ויירש את־ארצו‬ Der Plural des Verbs κατακυριεύω ist auf eine entsprechende Vorlage zurückzuführen, denn auch ⅏ bietet hier eine Lesart mit Pluralform. ὅτι Ἰαζὴρ ὅρια υἱῶν Ἀμμάν ἐστιν / ‫ כי עז גבול בני עמון‬Als Entsprechung des Adjektivs ‫„( עז‬stark“) bietet der griechische Text die Ortsbezeichnung Ἰαζήρ. Die Ursache wird in einer Vorlage mit der Lesart ‫ יעזר‬liegen.101 Aufgrund dieser Lesart gleicht der Satz inhaltlich und strukturell dem Ende von V.13 (‫)כי ארנון גבול מואב‬. Im griechischen Text von V.13 wird dieser Satz mit der Konjunktion γάρ an das Vorhergehende angeschlossen. Das entspricht der Tatsache, dass der Satz eine Hintergrundinformation beinhaltet und somit nur

95 Auch in Num 21,33 hat der Übersetzer εἰς συνάντησιν verwendet, dort wird der militärische Zusammenhang explizit durch die Formulierung εἰς πόλεμον (‫ )למלחמה‬ausgedrückt; vgl. Seite 238. 96 Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫פי‬. 97 Levine, Numbers 21–36, 100. 98 Z. B. Gen 34,26; Dtn 13,16; 20,13. 99 Levine, Numbers 21–36, 101. 100 Peter Prestel und Stefan Schorch, „Genesis / Das erste Buch Mose“, in: Septuaginta Deutsch – Erläuterungen und Kommentare, hrsg. von Martin Karrer und Wolfgang Kraus, Bd. 1: Genesis bis 4. Makkabäer, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2011, 145–257, 221; vgl. Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. στόμα, III.1. 101 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 353; zur textkritischen Diskussion vgl. Seebass, Numeri 10,11–22,1, 347.

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schwache Kausalität ausdrückt.102 Hier dagegen hat der Übersetzer in einem ganz ähnlichen Zusammenhang die Konjunktion ὅτι verwendet. Eine Erklärung dafür könnte darin liegen, dass die Ortsbezeichnung Jazer vorher nicht erwähnt wurde, der Bezug des Satzes zu seinem Kontext ist also unklar. Möglicherweise hat der Übersetzer aufgrund dieser inhaltlichen Unklarheit auf seine „easy technique“103 zurückgegriffen, nämlich auf die stereotype Wiedergabe von ‫ כי‬mit ὅτι. Um einen Nominalsatz zu vermeiden, hat der Übersetzer die Kopula ἐστίν eingefügt.

Vers 25 ἐν Ἑσεβὼν καὶ ἐν πάσαις ταῖς συγκυρούσαις αὐτῇ / ‫ בחשבון ובכל־בנתיה‬Mit den im hebräischen Text genannten „Töchtern“ sind hier und in ähnlichen Zusammenhängen die Dörfer und kleineren Städte in der Umgebung einer größeren Stadt gemeint.104 In der Übersetzung wurde diese konventionalisierte Metapher aufgelöst. Das Partizip von συγκυρέω findet sich auch in ägyptischen Papyri zur Kennzeichnung der von einer größeren Stadt abhängigen Kleinstädte,105 der Übersetzer hat demnach gut verständliches Koine-Griechisch verwendet.106

Vers 26 ἔστιν γὰρ Ἑσεβὼν πόλις Σηὼν τοῦ βασιλέως τῶν Ἀμορραίων / ‫כי חשבון עיר סיחן‬ ‫ מלך האמרי הוא‬Die Kausalrelation mit dem vorhergehenden Satz ist nur lose, die Konjunktion γάρ drückt das im Gegensatz zu dem häufiger verwendeten ὅτι passend aus.107 Die Kopula ἐστίν am Anfang des griechischen Satzes dient als Entsprechung des Pronomens ‫ הוא‬am Ende des hebräischen Satzes.108 καὶ ἔλαβεν πᾶσαν τὴν γῆν αὐτοῦ ἀπὸ Ἀροὴρ ἕως Ἀρνών / ‫ויקח את־כל־ארצו מידו‬ ‫ עד־ארנון‬Im hebräischen Text nahm Seon das Gebiet „aus seiner (des moabiti-

102 Vgl. Seite 224. 103 Vgl. Barr, The Typology of Literalism, 26. 104 Levine, Numbers 21–36, 101. 105 Dorival, Les Nombres, 408. 106 Die jüdischen Revisionen haben dies in Anlehnung an 𝔐 zu ταῖς θυγατράσιν αὐτῆς korrigiert (belegt u.a. als Randlesart für οἱ γ’). 107 Vgl. Aejmelaeus, „OTI causale“, 15; siehe auch Seite 224 zu V.13. 108 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 354.

234 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht schen Königs) Hand“, in der Septuagintafassung dagegen „von Aroër an“.109 Es ist vorgeschlagen worden, dass der Übersetzer den Text an Dtn 2,36 angeglichen habe, wo ebenfalls der Arnon zusammen mit der Stadt Aroër genannt wird.110 Dort wird allerdings kein Gebiet vorausgesetzt, das von Aroër bis zum Arnon reicht, sondern Aroër wird als am Ufer des Arnon liegend beschrieben. Die Vermutung einer Textangleichung ist somit nicht völlig überzeugend. Alternativ dazu lässt sich eine versehentliche Textänderung von ‫ מידו עד‬zu ‫ מערוער עד‬oder umgekehrt vermuten. Solch eine Verschreibung könnte sich aufgrund von Homoioarkton, Homoioteleuton und der graphischen Ähnlichkeit der Buchstaben ‫ ד‬und ‫ ר‬ergeben haben. Doch auch diese Rekonstruktion ist nicht ohne Weiteres einsichtig.

Vers 27 διὰ τοῦτο ἐροῦσιν οἱ αἰνιγματισταί / ‫ על־כן יאמרו המשלים‬Die wayyiqtol-Form des hebräischen Verbs ist als Futur wiedergegeben worden. Das entspricht zwar dem Standardvorgehen in den Schriften der Septuaginta, doch wäre in diesem Fall eine Präsensform deutlicher gewesen. Denn das in V.27–30 zitierte Gedicht wurde zur Zeit der Komposition des Ausgangstextes offensichtlich schon benutzt, seine Verwendung lag also sicher nicht in der Zukunft.111 ἔλθετε εἰς Ἑσεβὼν ἵνα οἰκοδομηθῇ καὶ κατασκευασθῇ πόλις Σηών / ‫באו חשבון‬ ‫ תבנה ותכנן עיר סיחון‬Während im hebräischen Text die Verbform ‫ תבנה‬asyndetisch an den Imperativ ‫ באו‬angeschlossen wird, hat der Übersetzer mittels der Konjunktion ἵνα explizit gemacht, dass das „Kommen“ den Zweck hat, die Stadt aufzubauen.

Vers 28 ὅτι πῦρ ἐξῆλθεν ἐξ Ἑσεβών / ‫ כי־אש יצאה מחשבון‬Wie bereits in V.5, V.7 und V.24112 ist das verwendete ὅτι causale zum Ausdruck der hier vorliegenden indirekten Kausalität zu stark. Statt der passenderen Konjunktion γάρ hat der Übersetzer von seiner Standardtechnik Gebrauch gemacht, ‫ כי‬durch ὅτι wiederzugeben.113

109 Für die jüdischen Revisionen (οἱ γ’) ist die Korrektur ἐκ χειρὸς αὐτοῦ belegt. 110 Dorival, Les Nombres, 146; Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 354; Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 480. 111 Vgl. Voitila, „What the Translation of Tenses Tells about the Septuagint Translators“, 192. 112 Siehe dazu die Seiten 218, 221 und 232. 113 Aejmelaeus, „OTI causale“, 14–15.

8.2 Kommentar |

235

καὶ κατέφαγεν ἕως Μωάβ / ‫אכלה ער מואב‬ Während 𝔐 mit ‫ ער‬eine Ortsbezeichnung bietet, durch die „Moab“ näher spezifiziert wird, setzt der griechische Text eine Vorlage mit der Lesart ‫ עד‬voraus, die auch von ⅏ bezeugt wird. Hier und zu Beginn der folgenden Zeile (καὶ κατέπιεν στήλας Ἀρνών) bietet der griechische Text die Konjunktion καί, die jeweils ohne Entsprechung im hebräischen Text ist. Ob der Übersetzer sie jeweils eingefügt hat, um eine Asyndese zu vermeiden, oder ob bereits die Vorlage die Konjunktion ‫ ו‬enthielt, lässt sich nicht feststellen. καὶ κατέπιεν στήλας Ἀρνών / ‫בעלי במות ארנן‬ Die Lesart ‫ בעלי במות‬von 𝔐 kann sich auf das Personal von Höhenheiligtümern beziehen.114 Demgegenüber bietet der griechische Text eine Form des Verbs καταπίνω, die sehr wahrscheinlich auf einer Vorlage mit der Lesart ‫ בלעה‬beruht.115 Eine der beiden Lesarten wird aus der anderen durch Metathese entstanden sein, die verschiedenen matres lectionis (‫ י‬bzw. ‫ )ה‬wurden später angefügt. Im Gegensatz zur Transkription von ‫ במות‬in V.19.20 wurde das Wort hier nicht als Ortsname verstanden, sondern mit einer Kultstätte assoziiert116 und daher mit dem Substantiv στήλη wiedergegeben.

Vers 29 ἀπεδόθησαν οἱ υἱοὶ αὐτῶν διασῴζεσθαι / ‫ נתן בניו פליטם‬Im hebräischen Text bezieht sich das Verb ‫ נתן‬höchstwahrscheinlich auf den zuvor genannten moabitischen Landesgott Kemosch (‫)אבדת עם־כמוש‬, der sein eigenes Volk der Vernichtung preisgegeben hat.117 Durch die griechische Passivkonstruktion hat der Übersetzer diese Deutung zwar nicht unmöglich, aber weniger plausibel gemacht. Das geschah möglicherweise in dem Bemühen, dem heidnischen Nationalgott eine solche Macht und damit göttliche Qualitäten abzusprechen.118 Der Plural αὐτῶν wurde hier und im folgenden Satz (καὶ αἱ θυγατέρες αὐτῶν αἰχμάλωτοι) dem Sinn entsprechend gewählt, da das Pronomen auf das Kollektivum λαός referiert (ἀπώλου λαὸς Χαμώς).119

114 Seebass, Numeri 10,11–22,1, 348. 115 Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 142. 116 Dies geschah vielleicht in Anlehnung an Lev 26,30; vgl. Dorival, Les Nombres, 69–70. 117 Zur Diskussion siehe Ashley, The Book of Numbers, 426. 118 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 356. Milgrom, Numbers, 182, erwähnt die Parallele Jer 48,46 mit der Passivkonstruktion ‫ אוי־לך מואב אבד עם־כמוש כי־לֻקְּחו ּ בניך‬und vermutet dort dieselbe Intention. 119 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 356.

236 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht In 𝔐 wurde ‫ פליטם‬als Plural des seltenen Substantivs ‫פלֵיט‬ ָ („Flüchtling“) vokalisiert. Der Übersetzer dagegen hat es als eine Form des Verbs ‫ פלט‬gelesen, das meistens die Bedeutung „retten“ hat.120 Zusammen mit dem folgenden Satz, der eindeutig von „Gefangenen“ spricht, impliziert diese Interpretation, die auch in den Targumim vorkommt, dass das Leben der Moabiter durch die Gefangenschaft gerettet wurde.121

Vers 30 Der von 𝔐 bezeugte hebräische Text dieses Verses wirft einige Fragen auf und ist sicher verderbt.122 Der Übersetzer hat versucht, dem Text seiner Vorlage, die wohl größtenteils 𝔐 entsprach,123 einen Sinn abzugewinnen. Zur Interpretation des hebräischen Textes hat er den näheren Kontext zu Rate gezogen. Dass die Übersetzung nur ein Versuch sein kann, ist offensichtlich. καὶ τὸ σπέρμα αὐτῶν ἀπολεῖται Ἑσεβὼν ἕως Δαιβών / ‫ונירם אבד חשבון עד־דיבון‬ Statt einer Form des Verbs ‫„( ירה‬schießen“) bietet der griechische Text τὸ σπέρμα αὐτῶν. Es ist vermutet worden, dass diese Wiedergabe auf einer Lesart mit dem seltenen Substantiv ‫„( נין‬Nachkommenschaft“) mit Pronominalsuffix der dritten Person Plural basiert.124 Da man für diese Rekonstruktion eine Verlesung von ‫ ר‬zu ‫ נ‬oder umgekehrt voraussetzen muss, ist eine andere Erklärung mindestens ebenso wahrscheinlich: Statt ‫ ו ַנ ִ ּיָרם‬kann der Übersetzer die Konsonantenfolge als ‫„( ו ְנ ִיָרם‬und ihre Leuchte“) gelesen und diesen Ausdruck als „ihre Nachkommenschaft“ verstanden haben, so wie sich auch in 1Kön 11,36 für ‫ ניר‬die übertragene Bedeutung „Nachkommenschaft“ anbietet.125 καὶ αἱ γυναῖκες ἔτι προσεξέκαυσαν πῦρ ἐπὶ Μωάβ / ‫ונשים עד־נפח אשר עד־מידבא‬ Auch in der zweiten Hälfte von V.30 hat der Übersetzer einige Konsonantenfol-

120 Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫;פלט‬ vgl. Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 480. Die vom Übersetzer erschlossene Form war möglicherweise ein passives Partizip, das sonst für dieses Verb allerdings nicht belegt ist. 121 Dorival, Les Nombres, 134. 122 Vgl. Seebass, Numeri 10,11–22,1, 348. 123 So auch Robert Althann, „Numbers 21,30b in the Light of the Ancient Versions and Ugaritic“, in: Bib 66 (1985), 568–571, 569. 124 So Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 356. 125 Dorival, Les Nombres, 410; in 1Kön 11,36 wird ‫ ניר‬allerdings nicht mit σπέρμα wiedergegeben.

8.2 Kommentar |

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gen anders gelesen als die Masoreten.126 Die Form ‫ נשים‬wurde nicht als Form des Verbs ‫ שמם‬im Hif‘il („verwüsten“), dem ein Objekt fehlt, gedeutet, sondern als Plural von ‫אשה‬. Trotz des fehlenden Artikels wurde die Form mit αἱ γυναῖκες übersetzt. Die Konsonantenfolge ‫ עד‬wurde nicht als Präposition ‫עד‬ ַ („bis“) vokalisiert, sondern als ‫עד‬ ֹ („noch“). Damit entfiel die Notwendigkeit, ‫ נפח‬als Eigennamen eines Ortes zu interpretieren, stattdessen bot sich das Verb ‫ נפח‬in der Bedeutung „(Feuer) anfachen“ an.127 Zu der Bedeutung dieses Verbs passt die Lesart ‫„( אש‬Feuer“), die auch von ⅏ bezeugt wird, während 𝔐 die Relativpartikel ‫ אשר‬bietet.128 Schließlich wurde ‫ מידבא‬dem Kontext entsprechend zu ‫ מואב‬verlesen, und die Präposition ‫על‬, die in ⅏ und in einigen protomasoretischen Handschriften anstelle von ‫ עד‬belegt ist, wurde mit ἐπί wiedergegeben.

Vers 31 κατῴκησεν δὲ Ἰσραὴλ ἐν πάσαις ταῖς πόλεσιν τῶν Ἀμορραίων / ‫וישב ישראל בארץ‬ ‫ האמרי‬Der Verwendung der postpositiven Konjunktion δέ zur Wiedergabe von ‫ ו‬lag wohl die Intention zugrunde, das Ende des Spruchs anzuzeigen. Die Wortfolge ἐν πάσαις ταῖς πόλεσιν τῶν Ἀμορραίων entspricht der Lesart ‫ בארץ האמרי‬in 𝔐. Dagegen bietet ⅏ statt ‫ בארץ‬die Lesart ‫בערי‬, wodurch sich zumindest die Übersetzung ἐν … ταῖς πόλεσιν erklären lässt. Die komplette Formulierung καὶ κατῴκησεν Ἰσραὴλ ἐν πάσαις ταῖς πόλεσιν τῶν Ἀμορραίων findet sich bereits in V.25. Daher ist es denkbar, dass der Übersetzer diesen Wortlaut aus V.25 übernommen hat, um direkt nach dem Spruch über Moab (V.27–30), der den Narrativtext unterbrochen hat, daran anzuknüpfen.129 Ob die Vorlage des Übersetzers hier 𝔐 oder ⅏ entsprach, lässt sich also nicht entscheiden. Im ersten Fall wäre die übersetzerische Intention höher einzustufen, im zweiten Fall hätte der Übersetzer lediglich πάσαις eingefügt, um die Formulierung aus V.25 zu wiederholen. Allerdings ist es auch möglich, dass die Einfügung von ‫ כל‬bereits innerhebräisch stattfand, um den Text an V.25 anzugleichen, und dass somit bereits die Vorlage über ⅏ hinausgehend die Lesart ‫ בכל ערי האמרי‬bot.

126 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 356–357. 127 Allerdings besteht bei der so rekonstruierten Lesung keine Kongruenz zwischen dem Subjekt ‫„( נשים‬Frauen“) und dem Verb. 128 In 𝔐 befindet sich eine Markierung über dem ‫ר‬, sie gehört zu den zehn puncta extraordinaria im Pentateuch, die Zweifel der Schreiber an der Korrektheit des so markierten Buchstabens oder Wortes ausdrücken; vgl. Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, 44–45. 129 So Dorival, Les Nombres, 412.

238 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht Vers 32 καὶ κατελάβοντο αὐτὴν καὶ τὰς κώμας αὐτῆς / ‫וילכדו בנתיה‬ Das Pronomen αὐτήν, das keine Entsprechung in 𝔐 hat, referiert auf die zuvor genannte Stadt Jazer. Durch die Einfügung wird eine Information, die im Text implizit vorliegt, explizit gemacht. Da der Übersetzer schon an anderen Stellen in diesem Abschnitt implizite Informationen explizit ausgedrückt hat,130 ist auch hier anzunehmen, dass die Einfügung von αὐτὴν καὶ auf der Arbeitsweise des Übersetzer beruht. Während in V.25 die Metapher der „Töchter“ einer Stadt durch ein Partizip von συγκυρέω aufgelöst wurde,131 hat der Übersetzer hier das Substantiv κώμη gewählt. Offensichtlich sah der Übersetzer keine Notwendigkeit, den Ausdruck stereotyp zu übersetzen. καὶ ἐξέβαλον τὸν Ἀμορραῖον τὸν ὄντα ἐκεῖ / ‫ ויירש את־האמרי אשר־שם‬Im griechischen Text steht das Verb ἐξέβαλον im Plural, während 𝔐 das Verb im Singular bietet.132 Da ⅏ und das Targum Pseudo-Jonathan eine Lesart mit dem Verb im Plural bezeugen, ist anzunehmen, dass eine solche Lesart auch dem Übersetzer vorlag. Bei der Übersetzung von ‫ אשר־שם‬wurde ein verbloser Relativsatz vermieden, stattdessen wurde das Partizip ὄντα verwendet.

Vers 33 καὶ ἐπιστρέψαντες ἀνέβησαν ὁδὸν τὴν εἰς Βασάν / ‫ויפנו ויעלו דרך הבשן‬ Die in V.32 begonnende Parataxe mehrerer Sätze hat der Übersetzer hier durch das Partizip ἐπιστρέψαντες unterbrochen, ein offensichtliches Zugeständnis an griechisches Stilempfinden. καὶ ἐξῆλθεν Ὢγ βασιλεὺς τῆς Βασὰν εἰς συνάντησιν αὐτοῖς / ‫ויצא עוג מלך־הבשן‬ ‫ לק ראתם‬Der erstarrte Infinitiv ‫„( לק ראת‬entgegen“) wird wörtlich mit εἰς συνάντησιν wiedergegeben. In V.23 wurde stattdessen das militärisch konnotierte Verb παρατάξομαι verwendet.133 Hier dagegen wird der militärische Zweck des „Entgegen-Kommens“ durch die kurz darauf folgende Formulierung εἰς πόλεμον (als Wiedergabe von ‫ )למלחמה‬ausgedrückt, so dass der Sinn der Aussage auch bei einer wörtlichen Übersetzung deutlich wurde.

130 Siehe Seite 231 zur Verwendung eines Verbs mit militärischer Konnotation in V.23 und Seite 234 zur Einfügung einer finalen Konjunktion in V.27. 131 Vgl. Seite 233. 132 Zu ‫ ויירש‬notiert 𝔐 das Qere ‫ויורש‬, also ein Hif‘il. 133 Siehe Seite 231.

8.2 Kommentar |

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καὶ πᾶς ὁ λαὸς αὐτοῦ / ‫הוא וכל־עמו‬ Ein betontes Personalpronomen (αὐτός) als Wiedergabe von ‫ הוא‬wäre hier überflüssig und wurde deshalb vermieden.

Vers 34 ὅτι εἰς τὰς χεῖράς σου παραδέδωκα αὐτὸν / ‫כי בידך נתתי אתו‬ Ähnlich wie in V.5.7.24.28134 ist die Konjunktion ὅτι zu stark zum Ausdruck indirekter Kausalität, γάρ wäre passender gewesen.135 Der Plural in der Formulierung εἰς τὰς χεῖράς σου als Wiedergabe von ‫ בידך‬ist in den Schriften der Septuaginta nicht ungewöhnlich.136 Im Gegensatz zu V.2.3, wo der Ausdruck ‫ ביד‬mit Pronominalsuffix mit Hilfe des Adjektivs ὑποχείριος wiedergegeben wurde,137 ist der Übersetzer hier streng wörtlich vorgegangen. Die qatal-Form ‫ נתתי‬bezeichnet hier eine Handlung, die in der Zukunft liegt und die als zweifellos bevorstehend und damit als so gut wie vollzogen angesehen wird.138 Ganz in diesem Sinne wird das Verb παραδίδωμι in der Übersetzung nicht im Aorist verwendet, wie sonst zur Wiedergabe von Verbformen im qatal üblich, sondern im Perfekt.139 Dabei deutet der resultative Aspekt an, dass die Übergabe des Landes Ogs an die Israeliten so gut wie abgeschlossen ist.140 καὶ πάντα τὸν λαὸν αὐτοῦ καὶ πᾶσαν τὴν γῆν αὐτοῦ / ‫ואת־כל־עמו ואת־ארצו‬ Das Attribut πᾶσαν hat keine Entsprechung in 𝔐, möglicherweise wurde es im Anschluss an das vorangehende πάντα (τὸν λαὸν αὐτοῦ) eingefügt.141 Denkbar ist allerdings auch eine Vorlage mit der Lesart ‫ואת כל־ארצו‬. ὃς κατῴκει ἐν Ἑσεβών / ‫אשר יושב בחשבון‬ Den durativen Aspekt des „Wohnens“, der im hebräischen Text durch das Partizip ausgedrückt wird, hat der Übersetzer passend durch das Imperfekt realisiert.

134 Siehe dazu die Seiten 218, 221, 232 und 234. 135 Aejmelaeus, „OTI causale“, 14–15. 136 Für den Pentateuch siehe Gen 27,17; 39,8; Ex 5,21; 21,13; Dtn 2,24.30; 3,2.3; 24,1.3; vgl. noch Gen 40,11 (als Wiedergabe von ‫ )על־כף‬sowie Ps 30,6 LXX (εἰς χεῖράς σου). 137 Siehe Seite 213 und Seite 214. 138 Gesenius, Kautzsch und Bergsträsser, Hebräische Grammatik, § 106m, nennen ausdrücklich „Zusicherungen von Seiten Gottes“. 139 Die Lesart παρέδωκα wird von einigen teils hexaplarischen Manuskripten bezeugt. 140 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 358. 141 Ebd., 358–359.

240 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht Vers 35 καὶ ἐπάταξεν αὐτόν / ‫ויכו אתו‬ Da die Zusicherung Gottes in V.34 an Mose ergeht, hat der Übersetzer oder auch ein früherer Tradent das Verb im Singular verwendet, um auch hier Mose als handelnde Person zu bezeichnen.142 καὶ ἐκληρονόμησαν τὴν γῆν αὐτῶν / ‫ ויירשו את־ארצו‬Während im hebräischen Text das Pronominalsuffix auf den König Og verweist, wird in der Übersetzung beim Pronomen der Plural verwendet. Vielleicht wollte der Übersetzer das Land nicht als das Land des Königs, sondern der Einwohner von Basan kennzeichnen,143 wobei der Grund allerdings offen bleiben muss. Alternativ dazu ist auch eine entsprechende Vorlage als Ursache für den Plural im griechischen Text denkbar.

8.3 Texttyp Der vorliegende Text enthält drei poetische Abschnitte: das Zitat aus dem „Buch der Jahwekriege“ (V.14b–15), das „Brunnenlied“ (V.17b–18a) und das „HeschbonLied“ (V.27b–30). Die ersten beiden sind in ein Itinerar eingebettet (V.10–20), der dritte in einen Narrativtext (V.21–35). Weitere narrative Abschnitte liegen in V.1–3 und in V.4–9 vor. Im Ausgangstext sind die die poetischen Texte dem expressiven und die Itinerarnotizen dem informativen Typ zuzuordnen. Die narrativen Abschnitte, sollen die Leser nicht nur informieren, sondern auch in ihrem Verhalten beeinflussen, es handelt sich daher sowohl um informative als auch um operative Texte. In der Übersetzung zeigen die poetischen Abschnitte eine gewisse Neigung zum informativen Texttyp. Das Zitat aus dem „Buch der Jahwekriege“ (V.14b–15) kann dafür allerdings nicht als Beleg herangezogen werden. Denn der hebräische Text ist schwer zu deuten und hat dem Übersetzer offensichtlich Schwierigkeiten bereitet; eine sich von 𝔐 unterscheidende, aber nicht sicher rekonstruierbare Vorlage muss stellenweise in Betracht gezogen werden. Unterschiede zwischen dem Wortlaut des griechischen Textes und dem Wortlaut von 𝔐 leisten in diesem kurzen Abschnitt daher keinen Beitrag zur Charakterisierung der Übersetzung.

142 Gegen Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 359, der mit V.31 von Israel als Referent ausgeht. 143 Ebd., 359.

8.3 Texttyp

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Beim „Brunnenlied“ (V.17b–18a) dagegen wird deutlich, dass dem Übersetzer an historischer Plausibilität gelegen war. In V.18 sind es nicht wie im hebräischen Text die „Edlen des Volkes“, die den Brunnen gegraben haben, sondern die „Könige der Völker“. Das potenzielle Missverständnis, dass es sich um Israeliten handeln könnte, die im Gebiet fremder Völker einen Brunnen gegraben hätten, wurde dadurch vermieden. Außerdem wurde die Metonymie vom „Herrscherstab“ und vom „Szepter“ aufgelöst, die Übersetzung spricht statt von den Herrschaftsinsignien konkreter von der Tätigkeit des Herrschens. Der Text wurde historisierend verdeutlicht, hat dadurch allerdings ein poetisches Element verloren. Zu diesem Befund passt auch die Tatsache, dass die geographischen Angaben in V.18 vom Übersetzer „korrigiert“ wurden („Brunnen“ statt „Wüste“), um die Kohärenz zu verbessern. Auch das „Heschbon-Lied“ (V.27b–30) weist textliche Schwierigkeiten auf, mehr noch als das Zitat aus dem „Buch der Jahwekriege“. An einer Stelle (V.27b) lässt sich allerdings beobachten, dass der Übersetzer den Text verdeutlicht hat. Die Aussage, dass die Stadt aufgebaut werden soll, wird nicht wie im hebräischen Text asyndetisch an den Imperativ „Kommt nach Hesbon“ angeschlossen, stattdessen wird durch Verwendung der Konjunktion ἵνα deutlich gemacht, dass der Zweck des „Kommens“ im Aufbauen der Stadt besteht. Dem Übersetzer war es offenbar wichtig, auch die poetischen Teile des Textes inhaltlich klar verständlich wiederzugeben. Ohnehin weisen die Lieder in der Übersetzung keine speziellen Eigenschaften griechischer Poesie auf. Es lässt sich somit eine Tendenz vom expressiven zum informativen Texttyp feststellen. Die Übersetzung von Num 11 bot ein Beispiel für eine ausdrückliche Tendenz zum operativen Texttyp, bei dem das Verhalten der Leser beeinflusst werden soll.144 Etwas Vergleichbares lässt sich in Num 21 nicht feststellen. Das einzige Indiz in dieser Hinsicht ist die Verwendung des Verbs „töten“ in der Anklage der Israeliten gegen Mose, während der hebräische Text vom „Sterben“ spricht (V.5). Wahrscheinlich soll die Klage der Israeliten durch den intertextuellen Bezug zu Num 16,13 mit der Revolte von Datan und Abiram verglichen werden. Das in Num 21,5 geschilderte Verhalten der Israeliten wird also moralisch bewertet, und die Leser werden vor ähnlichem Verhalten gewarnt. Dies ist jedoch ein Einzelfall in diesem Abschnitt.

144 Siehe Abschnitt 6.3.

242 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht

8.4 Äquivalenz Neben Wortäquivalenz hat der Übersetzer zunächst einmal Strukturäquivalenz hergestellt. Die Übersetzung verwendet korrektes Griechisch, den Strukturen der Zielsprache wurde somit Rechnung getragen. Die einzige Ausnahme stellt die Verwendung eines καί apodoticum in V.9 dar, das allerdings im griechischen Pentateuch regelmäßig begegnet.145 Darüber hinaus lassen sich einige Eigenschaften von Stiläquivalenz feststellen. Parataxen werden recht oft durch Partizipien unterbrochen (V.4.7.10–13.33). Gelegentlich hat der Übersetzer zur Wiedergabe von ‫ ו‬eine der Konjunktionen δέ und οῦν verwendet, letztere findet sich auch einmal ohne formale Entsprechung im Ausgangstext (V.7). Verblose Sätze wurden vermieden (V.11.13.16.20.24); diese sind zwar im Griechischen unter besonderen Bedingungen möglich, doch wäre eine Häufung wie im Ausgangstext in der Zielsprache unnatürlich gewesen.146 Einige Metaphern wurden entsprechend dem griechischen Stilempfinden übersetzt. So wurde ‫ קצר נפש‬durch das entsprechende griechische Verb ὀλιγοψυχέω wiedergegeben (V.4), und die konventionalisierte Metapher von den „Töchtern“ einer Stadt wurde durch das Partizip des Verbs συγκυρέω, eine gängige Konstruktion im Koine-Griechischen (V.25), bzw. durch das Substantiv κώμη (V.32) aufgelöst. Allerdings sind auch hebraistische Wiedergaben vorhanden, die sich nur schwer mit Stiläquivalenz vereinbaren lassen. Grundsätzlich entspricht die Wortstellung meist der des Ausgangstextes, und satzeinleitende wayyiqtol-Formen resultieren fast immer in einer Wiedergabe mit καί, gefolgt von einem Verb im Vergangenheitstempus. Auffällig sind auch die wörtliche Wiedergabe von ‫ על־פני‬mit κατὰ πρόσωπον (V.11.20), die stereotype Übersetzung von ‫ והיה‬mit καὶ ἔσται (V.8) sowie die hebraisierende Formulierung, dass Gott auf die „Stimme“ der Israeliten hört (V.3). Hinzu kommt die häufige unangemessene Wiedergabe von ‫ כי‬durch ὅτι in Kontexten, in denen γάρ korrekt im Sinne des klassischen Griechisch gewesen wäre. Dies ist innerhalb des Kapitels fünfmal geschehen (V.5.7.24.28.34), nur zweimal wurde γάρ verwendet. Da keine vollständige Stiläquivalenz erreicht wurde, kann auch keine Textäquivalenz vorliegen.147 Die Tatsache, dass der Übersetzer im letzten Abschnitt (V.21–35) häufig implizite Informationen des Ausgangstextes explizit gemacht hat (V.22.23.27.32), zeigt allerdings eine Tendenz in diese Richtung.

145 Vgl. Aejmelaeus, „The Significance of Clause Connectors“, 49–51. 146 Vgl. Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 255. 147 Vgl. Abschnitt 2.3.1.

8.5 Skopos

| 243

Der Übersetzer hat sich eng an die Form seiner Vorlage angelehnt. Dennoch hat er immer wieder den Versuch unternommen, sich von formalen Maßstäben zu lösen und sich stattdessen von griechischem Stilempfinden bestimmen zu lassen. Dies ist jedoch nicht durchgängig gelungen, da der Einfluss des Hebräischen offensichtlich zu dominant war. Es ist durchaus denkbar, dass manche dieser hebraisierenden Wiedergaben sogar die ausdrückliche Wertschätzung des Übersetzers und seiner Leser fanden. Insgesamt weist die Übersetzung Wort- und Strukturäquivalenz sowie partielle Stiläquivalenz auf.

8.5 Skopos Die Analyse dieses Abschnitts lässt darauf schließen, dass die Übersetzung inhaltlich präzise sein sollte. Dem Übersetzer war es wichtig, Sachverhalte aus der Vergangenheit Israels historisch und geographisch exakt darzustellen und einen kohärenten Text zu produzieren. Dieses Anliegen zeigt sich auch in den poetischen Abschnitten, in denen der Text im Interesse der historischen Genauigkeit verdeutlicht wurde. Präzision der Darstellung hatte für den Übersetzer unbedingte Priorität vor der künstlerischen Gestaltung, so dass auch diejenigen Abschnitte, deren Texttyp im Ausgangstext expressiv war, in der Übersetzung eine Tendenz zum informativen Texttyp aufweisen. Der Übersetzer hat sich bemüht, einen verständlichen Text zu produzieren, ging dabei allerdings nicht so weit, in vollem Umfang Stiläquivalenz zu implementieren. Dafür war seine Bindung an die Form des hebräischen Ausgangstextes zu eng. Von den Rezipienten wurde die Übersetzung sicher nicht als ein ausdrücklich „griechischer“ Text wahrgenommen, sondern eher als hebräischer Text in griechischem Gewand. Da Stiläquivalenz lediglich ansatzweise implementiert wurde, sind noch zahlreiche Hebraismen vorhanden, die den Text archaisch wirken lassen. Passend zum Inhalt, der von der Geschichte des Volkes Israel erzählt, erinnert die übersetzte heilige Schrift durch ihre sprachliche Form an die Herkunft des Volkes Israel, die den jüdisch-hellenistischen Rezipienten bewusst gemacht werden soll. Ein spezielles theologisches Interesse begegnet in der Bewertung des heidnischen Gottes Kemosch / Chamos (V.29). Durch sprachliche Mittel hat der Übersetzer den Lesern die Deutung erschwert, dass es der moabitische Landesgott war, der sein Volk in die Gefangenschaft hat führen lassen. Solch eine Macht wurde ihm vom Übersetzer verwehrt. Dieses theologische Interesse entspricht einer Tendenz im Septuaginta-Psalter, die sich in den Aussagen über die Götter der Völker

244 | 8 Numeri 21,1–35: Historischer Reisebericht zeigt. Diesen wird eine Stellung deutlich unter dem Gott Israels zugewiesen, sofern ihre göttlichen Qualitäten nicht ohnehin negiert werden.148 Die so beschriebene theologische Tendenz könnte zusammen mit dem oben genannten „historisierenden“ Interesse auf den Unterricht als „Sitz im Leben“ des griechischen Numeribuches hinweisen. In den Synagogen der Diasporagemeinde erschien es vermutlich angebracht, die einzelnen Begebenheiten der Wüstenwanderung historisch und theologisch präzise darzustellen. Gleichzeitig sollte die Übersetzung als heilige Schrift Israels wahrgenommen werden und nicht als ein Dokument griechischer Herkunft. Für dieses Anliegen wird das Bedürfnis nach Abgrenzung von der hellenistischen Leitkultur bestimmend gewesen sein. Paradoxerweise wurde dieses Bedürfnis auf der anderen Seite durch den Wunsch kompensiert, Teil der Leitkultur zu sein, ein Wunsch, der sich sprachlich an den am Text beobachteten Zugeständnissen an griechisches Stilempfinden zeigt.149 Der in den Synagogen stattfindende Unterricht in den heiligen Schriften musste beidem gerecht werden, der Wertschätzung der jüdischen Identität einerseits und der Offenheit für die Kultur des Hellenismus andererseits. Vielleicht lässt sich mit aller gebotenen Vorsicht sogar ein Lernumfeld für Proselyten vermuten, die mit Hilfe der übersetzen Texte einen fundierten Einblick in die Geschichte der Juden bekommen sollten. Das erscheint schon deshalb plausibel, da andere Werke der jüdisch-hellenistischen Literatur durchaus als Mittel der jüdischen Missionstätigkeit in der Diaspora eingesetzt wurden.150 Eine Verwendung des griechischen Pentateuch zu diesem Zweck erscheint zumindest denkmöglich, wenn nicht gar wahrscheinlich.

148 Eberhard Bons, „Die Rede von Gott in den Psalmen LXX“, in: Im Brennpunkt: Die Septuaginta, Bd. 3, hrsg. von Heinz-Josef Fabry und Dieter Böhler, BWANT 174, Stuttgart: Kohlhammer, 2007, 182–202, 188–189. 149 Vgl. Rajak, Translation and Survival, 126: „Septuagint language […] represents a resolution of two powerful drives, the pull of acculturation and the anxiety of cultural annihilation.“ 150 Robert Goldenberg, „Proselyten/Proselytentaufe“, in: TRE 27, Berlin und New York: de Gruyter, 1997, 521–525, 522. Dass eine mehr oder weniger systematische Gewinnung von Proselyten in der frühen nachbiblischen Zeit angestrebt wurde, ergibt sich schon aus dem Wachstum der hellenistischen Diaspora, das wohl nicht durch natürliche Vermehrung erklärbar ist; siehe ebd., 521.

9 Numeri 24,3–9: Der Spruch des Sehers und seine Deutung 9.1 Übersetzung 3

Und als er seinen Spruch aufgenommen hatte, sagte er: „Es spricht Balaam, der Sohn Beors, es spricht der Mensch, der wahrhaft sieht, 4 es spricht, der Gottesworte hört, der eine Gottesschau sieht, wobei im Schlaf seine Augen aufgedeckt [sind]. 5

Wie schön sind deine Häuser, Jakob, deine Zelte, Israel; 6 wie Täler, die Schatten spenden, und wie Paradiesgärten an Flüssen und wie Zelte, die der Herr aufgestellt hat, wie Zedern an Wassern. 7 Es wird ein Mensch aus seiner Nachkommenschaft herauskommen, und er wird über viele Völker herrschen, und seine Königsherrschaft wird erhöht werden über Gog, und seine Königsherrschaft wird wachsen. 8 Gott hat ihn aus Ägypten geführt, eine Herrlichkeit wie die eines Einhorns [ist] ihm [gegeben]. Er wird Völker seiner Feinde verzehren, und ihr Mark wird er aussaugen, und mit seinen Pfeilen wird er den Feind erschießen. 9 Er ließ sich nieder und ruhte wie ein Löwe und wie ein Löwenjunges. Wer wird ihn zum Aufstehen veranlassen? Die dich segnen, sind gesegnet, und die dich verfluchen, sind verflucht.“

246 | 9 Numeri 24,3–9: Der Spruch des Sehers und seine Deutung

9.2 Kommentar 9.2.1 Bileams Selbstvorstellung (V.3–4) Dieser kurze Abschnitt, der das dritte Bileamorakel einleitet, wurde größtenteils wörtlich übersetzt. Von Elementen griechischen Stils wurde nur selten Gebrauch gemacht, allerdings finden sich einige teils interpretierende Verdeutlichungen.

Vers 3 καὶ ἀναλαβὼν τὴν παραβολὴν αὐτοῦ εἶπεν / ‫ וישא משלו ויאמר‬Während im Ausgangstext zwei Sätze parataktisch miteinander verbunden werden, hat der Übersetzer eine Hypotaxe mit Partizip bevorzugt. Die idiomatische Formulierung „Aufnehmen des Spruchs“ wurde dagegen wörtlich wiedergegeben. φησὶν Βαλαὰμ υἱὸς Βεώρ / ‫נאם בלעם בנו בער‬ Das passive Partizip ‫נאם‬, das gewöhnlich im Rahmen einer Constructus-Verbindung verwendet wird, hat der Übersetzer hier sinngemäß als aktives finites Verb wiedergegeben.1 φησὶν ὁ ἄνθρωπος ὁ ἀληθινῶς ὁρῶν / ‫ ונאם הגבר שתם העין‬Die Bedeutung von ‫שׁתם‬, das nur hier und in V.15 in derselben Formulierung vorkommt, ist unsicher. Auf der Grundlage des rabbinischen Hebräisch hat man die Bedeutung „geöffnet“ abgeleitet.2 Mit dieser Bedeutung hätte der Übersetzer das „geöffnete Auge“ als Metapher für ein Sehen der verborgenen Realität aufgefasst und durch die Wiedergabe „der wahrhaftig sieht“ die Metapher aufgelöst. Möglich ist auch eine Lesung als ‫ש ׂתם‬, aber auch dies ist ein Hapaxlegomenon (Thr 3,8). Seine Bedeutung „schließen“ könnte auf ein Sehen der wahren Dinge im Traum hindeuten, was dann zu derselben griechischen Wiedergabe führte.3 Schließlich ist denkbar, dass der Übersetzer die Konsonantenfolge ‫שתמהעין‬4 als ‫מה עין‬ ָּ ַּ‫ שֶׁת‬gelesen hat, also als

1 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 402. 2 Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫ ;שׁתם‬zur Diskussion vgl. Milgrom, Numbers, 203. Die Möglichkeit, dass hebräische Wörter, die erst im rabbinischen Hebräisch belegt sind, zur Zeit der Übersetzer bereits in Gebrauch gewesen sein können, diskutiert Jan Joosten, „Biblical Hebrew as Mirrored in the Septuagint. The Question of Influence from Spoken Hebrew“, in: Collected Studies on the Septuagint. From Language to Interpretation and Beyond, FAT 83, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012, 67–80. 3 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 403. 4 Auch wenn umstritten ist, ob scriptura continua in biblischen Manuskripten verwendet wurde, gilt doch als sicher, dass die Wortgrenzen nicht immer deutlich waren. Auch Finalbuchstaben wurden nicht konsequent benutzt; siehe dazu Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, 170–171.

9.2 Kommentar

| 247

‫ תמם‬mit vorangehender Relativpartikel ֶׁ‫„( ש‬dessen Auge vollkommen ist“).5 Auch hiermit lässt sich die sinngemäße Wiedergabe „der wahrhaftig sieht“ erklären.

Vers 4 ὅστις ὅρασιν θεοῦ εἶδεν / ‫ אשר מחזה שדי יחזה‬Der Gottesname ‫ שדי‬wurde wie ‫ אל‬im vorhergehenden Satz mit θεός wiedergegeben, während außerhalb des Pentateuch ὁ ἱκανός (Rut) bzw. παντοκράτωρ (Ijob) verwendet wird.6 Wahrscheinlich hat sich der Übersetzer an die Genesis-Septuaginta angelehnt, denn dort wird ‫ אל שדי‬immer mit ὁ θεός in Verbindung mit einem Possessivpronomen (μου oder σου) übersetzt.7 Dass hier das Possessivpronomen fehlt, erscheint konsequent, denn einerseits bietet der hebräische Text ‫ שדי‬ohne ‫אל‬, andererseits war der Übersetzer zurückhaltend, den Gott Israels als Bileams Gott zu bezeichnen, wie die Wiedergabe von ‫ את־פי יהוה אלהי‬mit τὸ ῥῆμα κυρίου τοῦ θεοῦ in Num 22,18 zeigt.8 Auch die Bezeichnung κύριος, die in den Septuagintaschriften meist zur Wiedergabe des Tetragramms dient, wurde in der Bileamperikope Num 22–24 in Verbindung mit dem heidnischen Seher fast durchgängig vermieden, zur Übersetzung des Tetragramms wurde stattdessen fast immer auf θεός zurückgegriffen.9 So wird θεός an dieser Stelle sowohl vom Vorbild der Genesis als auch von der theologischen Überzeugung des Übersetzers geprägt sein. Die Verbform εἶδεν als Wiedergabe von ‫ יחזה‬kann als gnomischer Aorist aufgefasst werden,10 der seinen Platz in Sprichwörtern und Sentenzen zur Beschreibung von allgemein Gültigem hat.11 ἐν ὕπνῳ ἀποκεκαλυμμένοι οἱ ὀφθαλμοὶ αὐτοῦ / ‫ נפל וגלוי עינים‬Das „Fallen“ hat der Übersetzer offensichtlich als „in den Schlaf fallen“ verstanden, eine ganz entsprechende Interpretation begegnet im Targum Onkelos (‫)שכיב‬. Im Kontext geht es um das Empfangen göttlicher Offenbarungen, was in biblischen Texten

5 Ashley, The Book of Numbers, 483; vgl. William F. Albright, „The Oracles of Balaam“, in: JBL 63 (1944), 207–233, 216. 6 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 490. 7 Prestel und Schorch, „Genesis / Das erste Buch Mose“, 186. 8 Vgl. Rösel, „Jakob, Bileam und der Messias“, 163. 9 John W. Wevers, „The Bileam Narrative According to the Septuagint“, in: Lectures et Relectures de la Bible. Festschrift P.-M. Bogaert, hrsg. von Jean-Marie Auwers und André Wénin, BEThL 144, Leuven: Peeters, 1999, 133–144, 140. 10 So Dorival, Les Nombres, 445. 11 Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 212.

248 | 9 Numeri 24,3–9: Der Spruch des Sehers und seine Deutung unter anderem im Schlaf stattfindet.12 Die Übersetzung mit ἐν ὕπνῳ ist durchaus sinngemäß und zugleich verdeutlichend. Die Wiedergabe von ‫ וגלוי עינים‬mit ἀποκεκαλυμμένοι οἱ ὀφθαλμοὶ αὐτοῦ gibt den Sinn des hebräischen Textes exakt wieder. Die Konjunktion ‫ ו‬hat keine Entsprechung im griechischen Text, da der Übersetzer eine Hypotaxe kostruiert hat. Das Pronomen αὐτοῦ dient sicher der Verdeutlichung. Für die jüdischen Revisionen (οἱ λ’) ist statt ἀποκεκαλυμμένοι die Lesart ἐμπεφραγμένοι („versperrt“) bezeugt. Hinzu kommen die durch Rückübersetzung aus der Syro-Hexapla gewonnenen Varianten ἐμπεφραγμένων ὀφθαλμῶν αὐτοῦ (σ’) und ἐμπεφραγμένου ὀφθαλμοῦ αὐτοῦ (α’, θ’). Da das Empfangen von Visionen im griechischen Text mit „Schlaf“ assoziiert ist, ergab sich für die späteren Übersetzer aus der Erwähnung der „offenen Augen“ ein Widerspruch. Ihre Beschreibung der Augen als „versperrt“ bildet demnach eine inhaltliche „Korrektur“.

9.2.2 Schönheit und Segen Israels (V.5–9) Im Hauptteil des Spruchs ist der Übersetzer gelegentlich von einer wörtlichen Übersetzung abgewichen und hat einzelne Formulierungen verdeutlichend wiedergegeben. Im Gegensatz dazu lassen sich die großen Unterschiede, die der griechische Text von V.7 im Vergleich zu 𝔐 bietet, eher durch textliche Phänomene auf der Ebene der Vorlage erklären als durch eine bewusst vorgenommene messianische Neuinterpretation des Übersetzers.

Vers 5 ὡς καλοί σου οἱ οἶκοι Ιακώβ αἱ σκηναί σου Ἰσραήλ / ‫מה־טבו אהליך יעקב משכנתיך‬ ‫ ישראל‬Die Übersetzung von ‫ אהל‬mit οἶκος (bzw. οἰκία) statt mit σκηνή begegnet vier Mal in Num 19,14.18, was als Anpassung des Textes an die sesshafte Lebensweise der Leser verstanden werden kann.13 Hier dagegen sollte der Wiedergabe von ‫ אהל‬mit οἶκος nicht allzu viel Bedeutung beigemessen werden, da im zweiten Stichos des Parallelismus ‫ משכן‬mit σκηνή übersetzt wird. Der poetische Ausdruck des Parallelismus, der zwei verschiedene Wohnräume nennt (οἶκος und σκηνή für

12 Siehe z. B. Num 12,6 mit der Übersetzung ἐν ὕπνῳ für ‫ ;בחלום‬vgl. auch Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 490. 13 Rösel, „Die Septuaginta und der Kult“, 30.

9.2 Kommentar

| 249

‫ אהל‬und ‫)משכן‬, war dem Übersetzer an dieser Stelle wichtiger als die sachliche Unterscheidung zwischen den Arten des Wohnraums.14 Bei der Wiedergabe von ‫ אהליך‬mit σου οἱ οἶκοι hat der Übersetzer das Pronomen vorgezogen und damit die Reihenfolge der Morpheme des hebräischen Textes zugunsten des griechischen Stilempfindens verändert.15 Im zweiten Stichos wurde allerdings die Morphemfolge des Ausgangstextes beibehalten.

Vers 6 Während im vorliegenden hebräischen Text die vier Vergleiche asyndetisch aneinandergereiht werden, bietet die Übersetzung vor dem zweiten und dem dritten Glied die Konjunktion καί (siehe Tabelle 9.1). Als Erklärung könnte man eine DitTab. 9.1. Polysyndese und Asyndese in Num 24,6

καὶ καὶ

ὡσεὶ νάπαι σκιάζουσαι ὡσεὶ παράδεισοι ἐπὶ ποταμῶν ὡσεὶ σκηναὶ ἃς ἔπηξεν κύριος ὡσεὶ κέδροι παρ’ ὕδατα

‫כנחלים נטיו‬ ‫כגנת עלי נהר‬ ‫כאהלים נטע יהוה‬ ‫כארזים עלי־מים‬

tographie des ‫ ו‬von ‫( נטיו‬Zeile 1 und 2 in Tabelle 9.1) vermuten, was jedoch nur das erste Vorkommen der Konjunktion καί erklärt. Eine alternative Erklärung, die mit einer stilistischen Motivation des Übersetzers rechnet, basiert auf der Beobachtung, dass die rhetorische Figur des Polysyndetons den „Eindruck von Größe und Fülle“ vermittelt, während die des Asyndetons eher lebendig wirkt.16 Möglich ist, dass der Übersetzer solch einen majestätischen Effekt bei der Beschreibung der „Wohnorte Israels“ erzielen wollte. Bei dieser Erklärung ist allerdings etwas unbefriedigend, dass der Übersetzer die Asyndese zwischen den letzten beiden Zeilen beibehalten hat. Vielleicht war der durch die zweimalige Einfügung von καί erzielte Effekt bereits ausreichend. Zumindest passt diese Assoziation der Fülle auch zu der Wiedergabe von ‫ גן‬mit παράδεισος in der zweiten Zeile (s. u.). ὡσεὶ νάπαι σκιάζουσαι / ‫ כנחלים נטיו‬Im hebräischen Text werden die Wohnorte der Israeliten mit in der Landschaft ausgestreckten Bachtälern verglichen, im

14 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 403. 15 Die (wahrscheinlich rezensionelle) Umstellung von σου hinter οἱ οἶκοι wird von den meisten Manuskripten bezeugt; vgl. ebd., 403. 16 Blass, Debrunner und Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, § 460.3.

250 | 9 Numeri 24,3–9: Der Spruch des Sehers und seine Deutung griechischen Text dagegen mit Tälern, die Schatten spenden. Es ist vorgeschlagen worden, dass das Bild des „Schattens“ implizit bereits im Ausgangstext zu finden sei, da die „Bachtäler“, bei denen es sich um Wadis handelt, unterhalb der Geländeoberkante und daher im Schatten liegen.17 Eine alternative Erklärung erscheint plausibler: In Num 9,18.22 wird das Verb ‫ שכן‬mit σκιάζω übersetzt, wahrscheinlich um die schützende Funktion der dort genannten Wolke zu betonen.18 Da es gerade die in Num 24,5 genannten ‫ משכנות‬der Israeliten sind, die in V.6 durch einen vierfachen Vergleich beschrieben werden, hat der Übersetzer sicher auch hier die Wurzel ‫ שכן‬mit dem Bild des schützenden Schattens verbunden.19 καὶ ὡσεὶ παράδεισοι ἐπὶ ποταμῶν / ‫ כגנת עלי נהר‬Das Substantiv ‫ גן‬wird in den Septuagintaschriften gewöhnlich mit κῆπoς wiedergegeben.20 Das zuerst bei Xenophon belegte Wort παράδεισος ist ein Lehnwort aus dem Persischen und bezog sich zunächst auf die Gartenanlagen orientalischer Herrscher,21 in der Genesis-Übersetzung (Gen 2,8) dient das Wort zur Bezeichnung des Gartens Eden. In Num 24,6 wird durch die Verwendung des sonst zur Wiedergabe von ‫ גן‬eher unüblichen Wortes ein Bezug zur Schöpfung hergestellt. Die Gärten, mit denen Israels Wohnorte verglichen werden, zeichnen sich für den Übersetzer durch dieselbe Üppigkeit und Schönheit aus wie der von Gott selbst am Anfang der Schöpfung angelegte Garten. Durch die Verwendung des Plurals ποταμῶν als Entsprechung von ‫ נהר‬wird der Eindruck der Fülle in der Übersetzung noch verstärkt. καὶ ὡσεὶ σκηναὶ ἃς ἔπηξεν κύριος / ‫כאהלים נטע יהוה‬ Die Konsonantenfolge ‫ אהלים‬wurde von den Masoreten als ‫לים‬ ִ ָ‫אה‬ ֲ (vielleicht „Aloeholz“) gelesen, vom Übersetzer dagegen als ‫לים‬ ִ ָ‫אה‬ ֹ („Zelte“). Die unterschiedliche Vokalisierung wurde sicher durch die Vorlage erleichtert. Während 𝔐 das Verb ‫„( נטע‬pflanzen“) bietet, wird im griechischen Text πήγνυμι („aufstellen“) verwendet. Diese Wiedergabe basiert aller Wahrscheinlichkeit nach auf einer Vorlage mit der Lesart ‫נטה‬, die sich auch in ⅏ und 4QNumb findet. Entsprechend der Bedeutung des Verbs ergab sich eine angemessene Vokalisierung der Konsonantenfolge ‫אהלים‬, und zwar als „Zelte“, wenn das Verb die Bedeutung „aufstellen“ hatte, und als „Aloeholz“, wenn das Verb die Tätigkeit des „Pflanzens“ bezeichnete.

17 So Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 404. 18 Vgl. ebd., 142. 19 Ähnlich Dorival, Les Nombres, 139. 20 Z. B. Dtn 11,10; 3Kgt 20,2 (1Kön 21,2); 4Kgt 21,18; Jes 58,11. 21 Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v.

9.2 Kommentar |

251

Vers 7 Gerade bei diesem Vers ist umstritten, ob der Übersetzer eine eigene messianische Interpretation formuliert hat. Während einige Forscher dies bejahen, führen andere die Unterschiede zwischen dem griechischen Text und 𝔐 auf eine entsprechend rekonstruierte Vorlage zurück.22 Die Untersuchung wird zeigen, dass beide Ansätze ihre Vor- und Nachteile haben und die teilweise tiefgreifenden inhaltlichen Unterschiede zwischen den beiden Textfassungen nicht vollumfänglich erklären können. Es muss offensichtlich mit beidem gerechnet werden, nämlich mit einer Vorlage, die nicht 𝔐 entsprach, und mit einer theologischen Vorprägung des Übersetzers, die für messianische Aussagen empfänglich war. Der Übersetzer hat seine Vorlage wohl im Sinne eschatologischer und messianischer Aussagen verstanden, hat aber wahrscheinlich keinen eigene und neue Interpretation in den Text hineingetragen.e ἐξελεύσεται ἄνθρωπος ἐκ τοῦ σπέρματος αὐτοῦ / ‫ יזל־מים מדליו‬Während im hebräischen Text „Wasser aus seinen (Israels) Schöpfeimern fließt“, wird im griechischen Text ein „Mensch“ genannt, der „aus seiner (Israels) Nachkommenschaft herausgeht“. Arie van der Kooij betrachtet unter der Voraussetzung, dass es sich bei den Übersetzern der Septuaginta um „Schriftgelehrte“ handele, den griechischen Satz als freie Wiedergabe.23 Dabei rechnet er damit, dass der Übersetzer nicht Wort für Wort vorgegangen sei, sondern auf der Ebene des Satzes oder Teilsatzes („clause-level“) gearbeitet habe. Das „Wasser“ ( ‫ )מים‬des Ausgangstextes habe er als Metapher für „Nachkommenschaft“ verstanden.24 Diese „Nachkommenschaft“ habe er personalisiert als „Mensch“ (ἄνθρωπος) wiedergegeben, was der Wiedergabe von ‫ שבט‬mit ἄνθρωπος im vierten Bileamorakel (Num 24,17) entspreche. Auch die „Eimer“ (‫ )דלי‬des hebräischen Textes, die Gefäße für das „Wasser“ darstellen, habe der Übersetzer (wohl metaphorisch und metonymisch) als „Nachkommenschaft“ interpretiert und daher mit σπέρμα übersetzt. Aufgrund der personalisierten Wiedergabe ἄνθρωπος habe der Übersetzer auch die Metapher des „Fließens“ (‫ )נזל‬auflösen müssen und daher das weniger spezielle Verb ἐξέρχομαι verwendet. Bei dieser Erklärung der Unterschiede zwischen dem Wortlaut des griechischen und des hebräischen Textes muss gefragt werden, ob solch eine Fülle an interpretativen Wiedergaben innerhalb eines Verses wahrscheinlich ist. Eine gene-

22 Zur Diskussion siehe Rösel, „Jakob, Bileam und der Messias“, 168–171. 23 Zum Folgenden siehe van der Kooij, „Perspectives on the Study of the Septuagint“, 224–225. 24 Zur Begründung verweist ebd., 225, auf eine entsprechende Wiedergabe im Targum zu Jes 48,1 sowie bei Hieronymus.

252 | 9 Numeri 24,3–9: Der Spruch des Sehers und seine Deutung relle Charakterisierung der Übersetzer als „Schriftgelehrte“ erscheint zwar durchaus sinnvoll. Eine solche Einschätzung erscheint bereits aufgrund von Aussagen im Buch Ben Sira und im Aristeasbrief angemessen.25 Speziell für das griechische Numeribuch legen auch die Eigenschaften der Übersetzung diese Charakterisierung nahe. Trotz einer in großen Teilen wörtlichen Übersetzungstechnik können an zahlreichen Stellen Aktualisierungen und intertextuelle Verknüpfungen beobachtet werden.26 Auch die gelegentliche Auflösung von Metaphern und Metonymien gehört zur selbstverständlichen Arbeitsweise des Numeri-Übersetzers.27 In Bezug auf Num 24,7 erscheinen jedoch die Häufigkeit und das Ausmaß der vorausgesetzten interpretierenden Wiedergaben zweifelhaft. Die im hebräischen Text dieses Verses verwendeten Stilfiguren unterscheiden sich ja gerade dadurch von den in anderen Texten verwendeten, dass ihre Bedeutung nicht sofort deutlich ist.28 Es ist daher zu fragen, wie weit sich der Übersetzer des Numeribuches von der Bedeutung nicht nur der einzelnen Wörter, sondern auch ganzer Propositionen29 seiner Vorlage entfernt hat. Immerhin besteht ein beträchtlicher inhaltlicher Unterschied zwischen dem Fließen von Wasser aus Eimern und dem Kommen eines Menschen, wenn man nicht gerade die oben vorgetragenen Metaphern und Metonymien voraussetzt. Solange solche Interpretationen nicht durch externe Belege, etwa in den Targumim, abgesichert sind, sollte zumindest teilweise mit textkritischen Argumenten gearbeitet werden.30 Aus diesem Grund ist die Vermutung von Johan Lust instruktiv, dass der Übersetzer statt ‫„( נזל‬fließen“) das aramäische Verb ‫„( אזל‬gehen, kommen“) gelesen

25 van der Kooij, „Perspectives on the Study of the Septuagint“, 226; vgl. auch van der Kooij, „Zur Frage der Exegese im LXX-Psalter“, 373–375. Siehe auch die Ausführungen zum „Schriftgelehrten-Modell“ in Abschnitt 1.1. 26 Siehe neben den Beispielen in den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit auch Rösel, „Die Septuaginta und der Kult“. 27 Siehe z. B. zur Auflösung einer Metapher Num 11,23 (Seite 157), zu Metonymie Num 21,18 (Seite 227). 28 Deshalb geht van der Kooij, „Perspectives on the Study of the Septuagint“, 227, davon aus, dass die von den Übersetzern gebotenen Interpretationen die ihres speziellen Milieus waren. 29 Unter einer Proposition versteht man in der Textlinguistik die (übersprachliche) Darstellung eines Sachverhalts in einer Prädikat-Argumentstruktur wie z. B. „fließt[Wasser, aus seinen Eimern]“; siehe Gansel und Jürgens, Textlinguistik und Textgrammatik, 166–167. 30 Doch auch im Fall einer solchen Absicherung bleibt der methodische Vorbehalt, dass der Beleg einer bestimmten Interpretation im Targum noch nicht hinreichend für die Annahme ist, dass diese Interpretation bereits dem entsprechenden Septuaginta-Übersetzer bekannt war; vgl. Rösel, „Jakob, Bileam und der Messias“, 152.

9.2 Kommentar |

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habe.31 Diese Erklärung bietet sich aufgrund der Tatsache an, dass auch andere Wiedergaben in den Septuagintaschriften auf aramäischen Wortbedeutungen beruhen, dass also von linguistischer Interferenz zwischen Hebräisch und Aramäisch im Umfeld der Übersetzer ausgegangen werden kann.32 Man könnte also mit einer Verlesung von ‫ יזל‬zu ‫ יאזל‬durch den Übersetzer rechnen. Diese wurde vielleicht dadurch verursacht, dass dass hebräische Verb ‫ נזל‬im Umfeld des Übersetzers weniger häufig Verwendung fand als das aramäische Verb ‫אזל‬.33 Das führte dann zu der Futurform ἐξελεύσεται in der Übersetzung. Als Erklärung für die Wiedergabe ἐκ τοῦ σπέρματος αὐτοῦ lässt sich Folgendes vermuten: Statt ‫ מדליו‬hat der Übersetzer (oder ein früherer Tradent)34 vielleicht ‫ מילדיו‬oder ‫ מדליותיו‬gelesen. Sowohl die auf ‫ ילד‬als auch die auf dem seltenen ‫„( דלית‬Zweig“) basierende Form kann mit ἐκ τοῦ σπέρματος αὐτοῦ übersetzt worden sein. Das vorangehende Wort ‫ מים‬wurde möglicherweise aufgrund des Homoioarktons ‫ מ‬übersehen.35 Auch diese Rekonstruktion muss hypothetisch bleiben, ein externer Beleg in hebräischen Manuskripten fehlt. Hinzufügen ließe sich noch die Vermutung, dass ‫ מים מדליו‬zu ‫„( ממולדתו‬aus seinen Nachkommen“) verlesen werden konnte, doch auch dies ist nicht ganz befriedigend, da man außer mit Metathese und Auslassung von ‫ י‬mit der Einfügung eines ‫ ת‬rechnen muss.

31 Johan Lust, „The Greek Version of Balaam’s Third and Fourth Oracles. The ἀνθρωπος in Num 24:7 and 17. Messianism and Lexicography“, in: VIII Congress of the International Organization for Septuagint and Cognate Studies, Cambridge 1992, hrsg. von Leonard Greenspoon und Olivier Munnich, SCSS 41, Atlanta: Society of Biblical Literature, 1995, 233–257, 236; vgl. hierzu und zum Folgenden auch Johan Lust, „Septuagint and Messianism, with a Special Emphasis on the Pentateuch“, in: Theologische Probleme der Septuaginta und der hellenistischen Hermeneutik, hrsg. von Henning Graf von Reventlow, VWGT 11, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1997, 26–45, 42–44. 32 Jan Joosten, „On Aramaizing Renderings in the Septuagint“, in: Collected Studies on the Septuagint. From Language to Interpretation and Beyond, FAT 83, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012, 53– 66. 33 Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫נזל‬, notiert nur 16 Vorkommen des Verbs in der Hebräischen Bibel. 34 Aus textkritischer Sicht macht es keinen Unterschied, ob der Übersetzer eine bestimmte Lesart in seiner Vorlage vorfand oder ob er die entsprechende hebräische Lesart selbst produzierte und auf Griechisch niederschrieb; in diesem Fall existierte die hebräische Lesart nicht materialiter, sondern nur in Form ihrer griechischen Übersetzung. Vgl. Tov, The Text-Critical Use of the Septuagint, 88–89. 35 Lust, „The Greek Version of Balaam’s Third and Fourth Oracles“, 236.

254 | 9 Numeri 24,3–9: Der Spruch des Sehers und seine Deutung Schließlich ist die überraschende Lesart ἄνθρωπος zu erklären. Die Vermutung, dass ‫ מים‬zu ‫ אדם‬verlesen wurde,36 ist nicht überzeugend. Auch die Lesart gabrā der Peschitta, aufgrund derer auf eine entsprechende hebräische Vorlage (‫ )גבר‬geschlossen werden könnte, führt nicht weiter, da Übereinstimmungen von Peschitta und Septuaginta gegen 𝔐 eher auf Angleichungen des syrischen Textes an den griechischen beruhen als auf einer gemeinsamen hebräischen Vorlage.37 Wenn man unter der Prämisse, dass die Unterschiede zwischen dem griechischen Text und 𝔐 textkritisch erklärbar sind, die bisher vorgetragenen Rekonstruktionen akzeptiert, dann lässt sich der „Mensch“ in der Septuagintafassung darauf zurückführen, dass der Übersetzer eine implizite Information explizit machen wollte. Eine wörtliche Wiedergabe der rekonstruierten Vorlage konnte nur zu dem Satz ἐξελεύσεται ἐκ τοῦ σπέρματος αὐτοῦ führen, bei dem kein explizites Subjekt genannt wird. In V.6 ging es um die Schönheit der Wohnorte Israels, daher wird sich das Pronomen αὐτοῦ auf Israel beziehen, der „Kommende“ ist folglich jemand, der aus Israels Nachkommenschaft hervorkommt. Der Inhalt des griechischen Satz kann also mit den Worten „Jemand wird aus seiner (Israels) Nachkommenschaft hervorkommen“ umschrieben werden.38 Gut denkbar ist, dass der Übersetzern den Rezipienten eine Lesehilfe geben wollte und daher das Subjekt durch die Einfügung des Wortes ἄνθρωπος explizit gemacht hat.39 Es ist zuzugeben, dass all diese Rekonstruktionen nicht extern belegt sind, auch die Häufigkeit textlich zu begründender Phänomene innerhalb nur eines Verses sollte nachdenklich stimmen. Hinzu kommt, dass bei solch einer Analyse auf Wortebene zwangsläufig ausgeblendet wird, wie der Übersetzer ganze Sätze und Verse verstanden haben könnte.40 Auch erscheint eine vorrangig textkritische Erklärung nicht ganz konsistent mit der im Rahmen der methodischen Überlegungen geäußerten Forderung,41 dass Unterschiede zwischen dem Wortlaut des

36 So William Horbury, „Monarchy and Messianism in the Greek Pentateuch“, in: The Septuagint and Messianism, hrsg. von Michael A. Knibb, BETL 195, Congress Volume Leuven 2004, Leuven: Univ. Press, 2006, 79–128, 121. 37 Tilly, Einführung in die Septuaginta, 99. 38 Eine Proposition im Sinne der Textlinguistik (vgl. wiederum Gansel und Jürgens, Textlinguistik und Textgrammatik, 166–167), die der Tatsache Rechnung trägt, dass der Agens unbekannt ist, wäre: „kommt-hervor[x, aus Israels Nachkommenschaft]“. 39 Ganz ähnlich, aber weniger ausführlich Lust, „The Greek Version of Balaam’s Third and Fourth Oracles“, 236. Als Beispiele einer Einfügung von ἄνθρωπος in genau diesem Sinne nennt Lust, „Septuagint and Messianism“, 43, Jer 17,9 und Jes 19,20; hier überzeugt jedoch nur der zweite Beleg, da der hebräische Text von Jer 17,9 das Wort ‫ אנש‬enthält. 40 Vgl. Rösel, „Jakob, Bileam und der Messias“, 171. 41 Siehe Abschnitt 2.1.6.3.

9.2 Kommentar |

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griechischen und des hebräischen Textes ohne externe Bezeugung eher auf die Arbeitsweise des Übersetzers als Ursache hinweisen sollten. Doch dies ist kein absolutes Kriterium, vielmehr sollte es zusammen mit dem Kriterium der bisher ermittelten Übersetzungstechnik42 angewandt werden. Hier ist jedoch festzustellen, dass die oben vorgetragene Erklärungsvariante als stark interpretierende Übersetzung43 den Rahmen dessen sprengt, was bisher als die Arbeitsweise des Übersetzers ermittelt wurde. Festzuhalten bleibt, dass nicht nur die vorgetragene textkritische Rekonstruktion, sondern auch die Deutung als interpretierende Wiedergabe mit einer gewissen Unsicherheit behaftet ist. Diese Unsicherheit lässt es geraten erscheinen, den griechischen Text der hier besprochenen Zeile nicht heranzuziehen, um die Arbeitsweise des Numeri-Übersetzers zu ermitteln. Dennoch ist damit nicht ausgeschlossen, dass der Übersetzer selbst den Text messianisch verstand. Denn auch wenn bestimmte Eigenheiten der Übersetzung durch Verlesungen der hebräischen Vorlage entstanden sein sollten, so kann dennoch eine messianische Interpretation des griechischen Textes vor dem Hintergrund anderer messianischer Texte im Sinne des Übersetzers gewesen sein.44 καὶ κυριεύσει ἐθνῶν πολλῶν / ‫וזרעו במים רבים‬ Legt man die masoretische Vokalisierung zugrunde, dann ist ‫ זרעו‬als ‫„( ז ֶַרע‬Same“) mit Pronominalsuffix zu lesen. In diesem Fall könnte das hebräische Wort seine Entsprechung in der Wortfolge ἐκ τοῦ σπέρματος αὐτοῦ der vorigen Zeile gefunden haben.45 Die Verbform κυριεύσει müsste dann dem Kontext entsprechend hinzugefügt worden sein.46 Der Ausdruck ἐκ τοῦ σπέρματος αὐτοῦ im letzten Stichos hat jedoch im Rahmen der vorgetragenen Analyse bereits eine Entsprechung im hebräischen Text, und zwar ‫מדליו‬, das entweder metaphorisch-metonymisch als „Nachkommenschaft“ interpretiert wurde oder aber durch eine Verlesung zu der griechischen Wortfolge führte.47 Daher erscheint die Annahme plausibler, dass καὶ κυριεύσει als Wiedergabe von ‫ וזרעו‬dient. In diesem Fall hätte der Übersetzer die Konsonantenfolge

42 Abschnitt 2.1.6.2. 43 Siehe Seite 251. 44 Vgl. Heinz-Josef Fabry, „Messianism in the Septuagint“, in: Septuagint Research. Issues and Challenges in the Study of the Greek Jewish Scriptures, hrsg. von Wolfgang Kraus und R. Glenn Wooden, SCSS 53, Atlanta: Society of Biblical Literature, 2006, 193–205, 203: „Bigger complexes of ideas may stimulate this tendency, but in most cases it is unsure readings that had to be smoothed out. Even as repaired misreadings they are testimonies to messianic beliefs. They are evidence of particular concepts of the Messiah held by the translators.“ 45 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 406. 46 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 491. 47 Siehe ab Seite 251.

256 | 9 Numeri 24,3–9: Der Spruch des Sehers und seine Deutung ‫ וזרעו‬nicht von ‫„( ז ֶַרע‬Same“) abgeleitet, sondern als ‫„( ז ְרוַֺע‬Arm“).48 Die Metonymie des „Arms“ als Symbol der Herrschaft wurde aufgelöst und durch das Verb κυριεύω wiedergegeben. Für diese Deutung spricht auch das Vorhandensein der Konjunktion καί, die als Entsprechung des ‫ ו‬vor ‫ זרעו‬dient. Während der hebräische Text von „viel Wasser“ spricht, geht es in der Übersetzung um ein Herrschen über „viele Völker“. Auch hier sind verschiedene Erklärungen möglich. Denkbar ist eine Verlesung von ‫ במים‬zu ‫בעמים‬,49 die vielleicht unter dem Eindruck der vorangehenden Verbform κυριεύσει stattfand. Möglich ist aber auch eine interpretierende Wiedergabe, bei der im Anschluss an Jes 17,12–13 „viele Wasser“ mit „vielen Völkern“ gleichgesetzt wurden.50 Auch die Targumim Onkelos und Pseudo-Jonathan bieten die Lesart ‫בעממין‬, damit lassen sich sowohl eine vergleichbare Art der Auslegung als auch eine Vorlage mit der Lesart ‫ בעמים‬plausibel machen. καὶ ὑψωθήσεται ἢ Γὼγ βασιλεία αὐτοῦ / ‫וירם מאגג מלכו‬ In 𝔐 wird ein Vergleich mit dem Amalekiterkönig Agag (1Sam 15,8) angestellt, der griechische Text dagegen bietet die Lesart „Gog“ und nennt damit den eschatologischen Feind Israels aus Ez 38–39. Diese Lesart begegnet auch in ⅏, wird also nicht auf einer Interpretation des Übersetzers, sondern auf einer entsprechenden Vorlage beruhen.51 Es ist als sicher anzunehmen, dass gerade diese Projektion des Textes in die Endzeit ein messianisches Verständnis gefördert hat. Ein weiterer Unterschied liegt in der Wortfolge „sein Königreich“, während 𝔐 die Lesart „sein König“ bietet. John W. Wevers sieht die Ursache dafür in der Beobachtung, dass zur Bezeichnung israelitischer Könige im griechischen Numeribuch wie im Deuteronomium nicht βασιλεύς, sondern stets ἄρχων verwendet werde. Daraus ergebe sich die Vermutung, dass auch hier das Wort βασιλεύς vermieden werden sollte.52 Dann stellt sich jedoch die Frage, warum nicht auch in Num 24,7

48 Lust, „Septuagint and Messianism“, 43. Dies setzt Defektivschreibung von ‫ ז ְרוַֺע‬voraus (vgl. Jer 48,25 𝔐). 49 So Lust, „The Greek Version of Balaam’s Third and Fourth Oracles“, 236–237. 50 van der Kooij, „Perspectives on the Study of the Septuagint“, 224. 51 Die jüdischen Revisionen bieten nach ihrer Bezeugung in der Syro-Hexapla entweder Agag (α’, σ’) oder Gog (θ’). Bei Theodoret ist eine weitere Variante bezeugt und σ’ zugeschrieben: καὶ ὑψωθήσεται ὑπὲρ Ὤγ. Durch diesen Vergleich mit dem in Num 21,33–35 genannten König von Basan wird der Text im Kontext von Wüstenwanderung und Landnahme verortet. 52 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 405. Es gibt sonst nur noch eine Stelle im griechischen Numeribuch, an der die Übersetzung von ‫ מלך‬mit βασιλεύς vermieden wird, und zwar Num 23,21 (ἔνδοξα ἀρχόντων; 𝔐: ‫)תרועת מלך‬, also im zweiten Bileamorakel. Allerdings handelt es sich dort eher um eine Referenz auf das Königtum Jahwes und nicht auf eine israelitische Monarchie; vgl. Noth, Das vierte Buch Mose, 163; Budd, Numbers, 267.

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das Wort ἄρχων Verwendung fand.53 Eine andere Lösung scheint daher angemessener. Denkbar wäre eine Angleichung des Wortlauts an den folgenden Stichos, in dem ebenfalls von einem „Königreich“ (ἡ βασιλεία αὐτοῦ / ‫ )מלכתו‬die Rede ist. Diese Angleichung könnte bereits auf der Ebene der hebräischen Vorlage erfolgt sein,54 wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie auf den Übersetzer zurückzuführen ist. Denn zu Beginn von V.7 wird im griechischen Text ein „Mensch“ genannt, der „herrschen wird“. Das Pronomen in dem Ausdruck βασιλεὺς αὐτοῦ hätte auf den ἄνθρωπος verwiesen, daher wäre diese Wiedergabe inhaltlich unklar gewesen. Eine „Korrektur“ zu ἡ βασιλεία αὐτοῦ konnte das Problem lösen.55

Vers 8 ὁ θεὸς ὡδήγησεν αὐτὸν ἐξ Αἰγύπτου / ‫ אל מוציאו ממצרים‬Die Wiedergabe einer Form von ‫ יצא‬mit einer Form von ὁδηγέω ist auffällig, da letzteres das Standardäquivalent von ‫ נחה‬ist.56 Da auch ⅏ die Lesart ‫ נחהו‬statt ‫ מוציאו‬bietet, ist damit zu rechnen, dass der Übersetzer eine entsprechende Vorlage verwendete. Als verstärkendes Argument kommt hinzu, dass in Num 23,22 der fast identische hebräische Text ‫ אל מוציאם ממצרים‬mit ὁ θεὸς ὁ ἐξαγαγὼν αὐτοὺς ἐξ Αἰγύπτου übersetzt wurde, dass der Übersetzer dort also das Verb ‫ יצא‬mit dem geläufigeren ἐξάγω57 wiedergegeben hat. ὡς δόξα μονοκέρωτος αὐτῷ / ‫ כתועפת ראם לו‬Auch diese Zeile begegnet wörtlich sowohl im hebräischen als auch im griechischen Text des zweiten Bileamorakels (Num 23,22). Auffällig ist an diesen beiden Stellen zunächst die Wiedergabe von ‫ תועפת‬mit δόξα. In der hebräischen Bibel ist ‫ תועפות‬nur vier Mal belegt, und zwar im Plural. Die Beutung des Wortes ist unklar, die Verwendung in Ps 95,4 ( ‫ )תועפות הרים‬könnte auf „Gipfel (der Berge)“ hinweisen.58 Möglicherweise lässt sich daraus auf eine allgemeine Bedeutung als „Erhebung“ schließen, die in dem hier vorliegenden Kontext konkret „Hörner (des Wildstiers)“ bedeutet. Aufgrund der wenigen Vorkommen ist es gut möglich, dass der Übersetzer „raten“ musste.59

53 So auch Horbury, „Monarchy and Messianism“, 122. 54 So Dorival, Les Nombres, 446. 55 Die Syro-Hexapla (sowie Theodoret für σ’) bezeugt die an 𝔐 angeglichene Lesart βασιλεὺς αὐτοῦ der späteren jüdischen Übersetzer. 56 Lust, Eynikel und Hauspie, Greek-English Lexicon of the Septuagint, s.v. ὁδηγέω. 57 Vgl. Hatch und Redpath, A Concordance to the Septuagint, s.v. ἐξάγω. 58 Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫תועפות‬. 59 Vgl. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 396.

258 | 9 Numeri 24,3–9: Der Spruch des Sehers und seine Deutung Das hier sowie in Num 23,22 verwendete δόξα legt ein metaphorisches Verständnis des hebräischen Wortes nahe. Dem „Wildstier“ des hebräischen Textes entspricht das „Einhorn“ in der Übersetzung. Das seltsam anmutende μονόκερως ist ein Standardäquivalent für ‫ראם‬,60 das sicher bei der Übersetzung des Numeribuches geprägt wurde.61 Warum der Übersetzer hier und zuvor in Num 23,22 das „Einhorn“ als Äquivalent des „Wildstiers“ gewählt hat, erscheint in der Tat rätselhaft. Man hat an natürliche Vorbilder wie das Nashorn, aber auch an eine Beeinflussung durch Dan 8,5–8 gedacht.62 Denkbar ist durchaus, dass die Ursache in der hellenistischen Mythologie zu finden ist und dass das Einhorn dem Übersetzer als Ersatz für den in orientalischen mythologischen Texten ebenfalls prominenten Wildstier diente.63 Allerdings ist es fraglich, ob daraus eine messianische Interpretation für die Verwendung des Wortes μονόκερως abgeleitet werden kann.64 ἔδεται ἔθνη ἐχθρῶν αὐτοῦ / ‫ יאכל גוים צריו‬Während ‫ צריו‬in 𝔐 eine Apposition zu ‫ גוים‬darstellt („Völker, seine Feinde“), bietet der griechische Text eine Genitivkonstruktion („Völker seiner Feinde“). Die Vorlage könnte bereits eine Lesart mit der Constructus-Verbindung ‫ גויי צריו‬enthalten haben,65 denkbar ist allerdings auch, dass der Übersetzer die leichtere Lesart konstruiert hat. καὶ τὰ πάχη αὐτῶν ἐκμυελιεῖ / ‫ ועצמתיהם יגרם‬Der hebräische Text spricht vom „Zermalmen ihrer (der Feinde) Knochen“, die griechische Übersetzung dagegen vom „Aussaugen ihrer Dicke“. Bei dem Verb ἐκμυελίζω, das außer an dieser Stelle

60 Lust, Eynikel und Hauspie, Greek-English Lexicon of the Septuagint, s.v. μονόκερως. 61 Dies gilt unter der Voraussetzung, dass der Pentateuch vor den anderen in der Septuaginta zusammengefassten Schriften übersetzt wurde, was aufgrund der Angaben im Aristeasbrief naheliegend ist. Alle weiteren Wiedergaben von ‫ ראם‬mit μονόκερως finden sich im Deuteronomium (33,17), im Buch Ijob (39,9) und in den Psalmen (21,22; 28,6; 91,11 LXX). In Dtn 33,17 wird von den Hörnern (Plural) eines „Einhorns“ gesprochen (κέρατα μονοκέρωτος τὰ κέρατα αὐτοῦ); das dadurch entstandene Oxymoron ist sicher unfreiwillig. Es ist anzunehmen, dass der Übersetzer des Deuteronomiums das Wort verwendet hat, weil es bereits durch die Übersetzung des Numeribuches als Entsprechung für ‫ ראם‬etabliert war. Dieser Gedankengang legt eine zeitliche Priorität der Numeriübersetzung vor der des Deuteronomiums nahe; vgl. zur Auswertung Abschnitt 11.3. 62 Hans-Peter Müller, „‫ ְראֵם‬re ’em“, in: ThWAT 7, Stuttgart, Berlin und Köln: Kohlhammer, 1993, 267–271, 270–271. Der ῥινόκερως erscheint in einer mittelalterlichen Marginalie zu Num 24,8 in Codex F, ebenso in den für α’ bezeugten Lesarten von Ijob 39,9 und Ps 28,6 (LXX). 63 Joachim Schaper, „The Unicorn in the Messianic Imagery of the Greek Bible“, in: JTS 45 (1994), 117–136, 125, 132. 64 Schaper, „The Unicorn“, 136, postuliert „messianic overtones“; vgl. ebenfalls kritisch hierzu Rösel, „Jakob, Bileam und der Messias“, 167. 65 So Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 407.

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in der griechischen Literatur nicht belegt ist, handelt es sich um ein Derivat des Substantivs μυελός, das die Bedeutung „Mark“ oder auch „Fett“ hat.66 Das Substantiv πάχος hat die Bedeutung „Dicke“, beispielsweise in Bezug auf Flüssigkeiten, oder auch „Stärke“ in Bezug auf den Körper.67 Die Kombination der beiden Wörter lässt darauf schließen, dass hier an das Aussaugen des Knochenmarks gedacht ist. Einen Hinweis auf Gen 45,18 in der Formulierung zu sehen,68 erscheint problematisch. Denn dort lädt Joseph seine Brüder ein, sich in Ägypten anzusiedeln und das „Fett“ (μυελός) des Landes zu essen, hier dagegen wird im direkten Kontext gerade das Gegenteil, nämlich der Auszug aus Ägypten, erwähnt (V.8a). Angemessener ist die Deutung, dass das im Ausgangstext erwähnte Zerbrechen der Knochen zu dem Zweck geschieht, das Mark zu verzehren, wie in der Übersetzung anschaulich beschrieben.69 Der Übersetzer hat demnach das im Ausgangstext genannte Mittel durch dessen Zweck ersetzt.70 Die Aussage wird dadurch verdeutlicht, und die Kohärenz mit dem vorangehenden Stichos wird erhöht, da dort bereits vom „Verzehren“ der Feinde gesprochen wird. καὶ ταῖς βολίσιν αὐτοῦ κατατοξεύσει ἐχθρόν / ‫וחציו ימחץ‬ Der knappe Satzbau des hebräischen Textes, der lediglich von einem „Zerschmettern mit seinen Pfeilen“ spricht,71 wurde in der Übersetzung durch die Zufügung des AkkusativObjekts ἐχθρόν erweitert. Da dessen hebräisches Äquivalent möglicherweise in 4QNumb zu rekonstruieren ist,72 kann diese Ergänzung nicht mit Sicherheit dem Übersetzer zugeschrieben werden.

Vers 9 κατακλιθεὶς ἀνεπαύσατο ὡς λέων καὶ ὡς σκύμνος / ‫כרע שכב כארי וכלביא‬ Während im hebräischen Text die beiden Verbformen ‫ כרע‬und ‫ שכב‬asyndetisch nebeneinandergestellt sind, bietet die Übersetzung eine Hypotaxe. Dies ist eine elegante Lösung, durch die sowohl eine Asyndese zweier finiter Verbformen als auch eine Konjunktion ohne Entsprechung im Ausgangstext vermieden wurde.

66 Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. ἐκμυελίζω, μυελός. 67 Ebd., s.v. πάχος. 68 So Dorival, Les Nombres, 70. 69 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 407. 70 van der Louw, Transformations in the Septuagint, 66, nennt diese Art der Übersetzung „reversal of cause and effect“. 71 Dies ist die anzunehmende Bedeutung von ‫ ;וחציו ימחץ‬siehe Ashley, The Book of Numbers, 494; vgl. Joüon und Muraoka, A Grammar of Biblical Hebrew, § 125q. 72 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 491.

260 | 9 Numeri 24,3–9: Der Spruch des Sehers und seine Deutung Allerdings ist es auch möglich, dass der Übersetzer die Form ‫ כרע‬nicht wie in 𝔐 als qatal-Form, sondern als Partizip vokalisiert hat. Auffällig ist die Übersetzung von ‫„( לביא‬Löwin“)73 mit σκύμνος („Löwenjunges“). Eine Erklärung, die aufgrund dieser Wortwahl hier wie bereits in Num 23,24 einen intertextuellen Bezug zu Gen 49,9 sieht und von daher mit einer messianischen Interpretation durch den Übersetzer rechnet,74 ist denkbar. Auf der anderen Seite lässt sich die Wiedergabe von ‫ לביא‬mit σκύμνος mindestens ebenso plausibel mit der Unsicherheit bezüglich der genauen Bedeutung des hebräischen Wortes erklären.75 In diesem Fall hätte sich der Übersetzer des Numeribuches lediglich an die Vorgabe der Genesis angelehnt und das in Gen 49,9 geprägte Äquivalent übernommen.76 Das schließt nicht aus, dass der Übersetzer den Vers oder sogar das gesamte Bileamorakel messianisch verstanden hat, dies lässt sich jedoch durch die Wortwahl und einen möglichen Bezug zu Gen 49,9 nicht überzeugend begründen. οἱ εὐλογοῦντές σε εὐλόγηνται / ‫מברכיך ברוך‬ Im hebräischen Text liegt eine knappe Segensformel vor, deren Subjekt und Prädikat in Bezug auf den Numerus nicht kongruent sind.77 In der Übersetzung wird grammatische Kongruenz hergestellt, indem nicht nur das Subjekt, sondern auch das Prädikat im Plural ausgedrückt wird. Der Übersetzer hat damit den Regeln der griechischen Sprache Rechnung getragen.78 Entsprechendes gilt für die parallele folgende Zeile (καὶ οἱ καταρώμενοί σε κεκατήρανται).

73 Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. 74 Rösel, „Jakob, Bileam und der Messias“, 167–168. 75 Brent A. Strawn, What is Stronger Than a Lion? Leonine Image and Metaphor in the Hebrew Bible and the Ancient Near East, OBO 212, Fribourg und Göttingen: Academic Press und Vandenhoeck & Ruprecht, 2005, 311–316, weist darauf hin, dass das (maskuline) Substantiv ‫ לביא‬sowohl weibliche als auch männliche Tiere bezeichnen kann; die genaue Wortbedeutung, vor allem in Abgrenzung zu ‫ אריה‬bzw. ‫„( ארי‬Löwe“) ist demnach nicht gesichert. 76 Das ist ähnlich plausibel wie die Prägung der Wiedergabe μονόκερως für ‫ ראם‬in Num 23,22; 24,8 und deren Verwendung in Dtn 33,17; siehe Seite 257 zu Num 24,8. 77 Zum distributiven Singular des Prädikats vgl. Gesenius, Kautzsch und Bergsträsser, Hebräische Grammatik, § 145l. 78 Vgl. Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 257.

9.3 Texttyp

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9.3 Texttyp Der Ausgangstext mit seinen gehäuft vorkommenden zwei- und dreigliedrigen Parallelismen lässt sich zweifellos dem expressiven Texttyp zuordnen. Daran hat sich in der Übersetzung prinzipiell nichts geändert. Zwar ist der Parallelismus membrorum zunächst ein Stilmittel der semitischen Poesie und nicht der griechischen, bei der eher das Metrum maßgeblich ist,79 doch wirkt die bildhafte Sprache des griechischen Textes auch in der Zielsprache poetisch. Keinesfalls hat sich der Übersetzer bemüht, den Text in Richtung des informativen oder des operativen Typs zu modifizieren. Aufgrund des fehlenden Metrums wirkte der übersetzte Text auf griechischsprachige Leser bzw. Hörer wahrscheinlich weniger poetisch, als das für die Wirkung des Ausgangstextes auf hebräischsprachige Rezipienten der Fall war. Die Übersetzung hat somit etwas von der Expressivität des Ausgangstexes verloren. Dies ist allerdings nicht dem Übersetzer anzulasten, sondern liegt in der Verschiedenheit von Ausgangs- und Zielsprache begründet. Dass der Übersetzer keinen Anlass sah, vom expressiven Texttyp abzuweichen, wird durch das Polysyndeton in V.6 bestätigt, das keine Entsprechung in 𝔐 hat. Falls die zweimalige zusätzliche Syndese nicht in der Vorlage begründet liegt, dann hatte der Übersetzer den Anspruch, auch im Zieltext den Eindruck von Größe und Erhabenheit zu vermitteln. Die Änderung des Wortlauts in V.8, die das „Zermalmen der Knochen“ durch das „Aussaugen des Marks“ ersetzt, zeigt ebenfalls, dass der Übersetzer den Text durchaus bewusst gestaltet hat. Das Bild wurde nicht etwa aufgelöst, sondern geringfügig modifiziert, um es plastischer zu machen. Somit hat der Übersetzer nicht etwa auf Stilfiguren verzichtet, er war vielmehr daran interessiert, die Poetik des Ausgangstextes zu erhalten.

9.4 Äquivalenz Der Übersetzer hat korrekte griechische Strukturen verwendet, somit liegt neben Wortäquivalenz Strukturäquivalenz vor. Letzteres zeigt sich beispielsweise darin, dass in V.9 bezüglich des Numerus von Subjekt und Prädikat Kongruenz hergestellt wurde, während im Ausgangstext keine Kongruenz vorliegt. Ansätze von Stiläquivalenz lassen sich nur in einem sehr geringen Ausmaß feststellen. Die Hypotaxen in V.3 und V.9 könnten den Eindruck erwecken, dass der Übersetzer eher griechischen als hebräischen Stil implementieren wollte. Allerdings ist die Hypotaxe in V.3a (καὶ ἀναλαβὼν τὴν παραβολὴν αὐτοῦ εἶπεν) nicht

79 Vgl. ebd., § 316–320.

262 | 9 Numeri 24,3–9: Der Spruch des Sehers und seine Deutung Teil des Bileamspruchs, sondern der Redeeinleitung und sollte daher von der Auswertung ausgenommen werden.80 Die Hypotaxe in V.9 (κατακλιθεὶς ἀνεπαύσατο) kann auf einer Lesung von ‫ כרע‬als Partizip beruhen und sollte daher ebenfalls nicht zur Begründung von Stiläquivalenz herangezogen werden. Die einzigen Elemente von Stiläquivalenz, die sich in diesem kurzen Text nachweisen lassen, sind die Umstellung der Morphemreihenfolge in der Formulierung σου οἱ οἶκοι als Wiedergabe von ‫( אהליך‬V.5) sowie die Wortwahl μονόκερως als Entsprechung von ‫( ראם‬V.8), durch die vermutlich ein orientalisches mythologisches Motiv durch ein entsprechendes hellenistisches Motiv ersetzt wurde. Der griechische Text zeigt somit eine leichte Tendenz zu Stiläquivalenz, bleibt jedoch grundsätzlich im Rahmen einer wortgetreuen Übersetzung, für die Wort- und Strukturäquivalenz konstituierend sind.

9.5 Skopos Der Übersetzer stand vor der Aufgabe, einen schwierigen, stellenweise sogar unklaren Text ins Griechische zu übersetzen. Dabei hat er sich bemüht, den Text verständlich wiederzugeben und gleichzeitig den Inhalt zu verdeutlichen. Ein Beispiel bietet die Konsonantenfolge ‫ שתם העין‬in V.3, die auf verschiedene Weise gelesen werden kann („mit geöffnetem Auge“, „mit geschlossenem Auge“, aber auch „dessen Auge vollkommen ist“) und die der Übersetzer als „der wahrhaftig sieht“ wiedergegeben hat. Darin zeigt sich die Grundüberzeugung, dass ein wahrhaftiges Sehen der Realität nur im Rahmen der Prophetie stattfinden kann. Auch die Wiedergabe des knappen und daher missverständlichen ‫ נפל‬mit ἐν ὕπνῳ in V.4 zeigt, dass der Übersetzer einen potenziell unklaren Text im Interesse der Leser verdeutlicht hat. Die Wiedergabe von V.8 zeigt mehrere verdeutlichende Eingriffe in den Wortlaut, von denen besonders die Änderung vom „Zermalmen der Knochen“ zum „Aussaugen des Knochenmarks“ auffällt. Dadurch hat der Übersetzer den Text klarer, ja sogar drastischer wiedergegeben; gleichzeitig wurde die Kohärenz erhöht, da bereits die vorangehende Zeile vom „Verzehren“ der Feinde spricht. Offensichtlich hatte der Übersetzer das Ziel, den Text einerseits grundsätzlich wörtlich, andererseits klar und verständlich wiederzugeben. Die gravierenden Unterschiede zwischen dem griechischen und dem hebräischen Wortlaut von V.7 sind zwar vorrangig auf der Ebene der Vorlage zu erklären, doch zeigt sich auch hier das Ringen des Übersetzers um Verständlichkeit. Der

80 Streng genommen gelten auch die obigen Aussagen über den Texttyp (sowohl des Ausgangstextes als auch der Übersetzung) nur für den poetischen Abschnitt ab V.3b.

9.5 Skopos

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Übersetzer hat den schwierigen Konsonantenbestand seiner Vorlage nach bestem Wissen gedeutet, um einen verständlichen griechischen Text zu produzieren. Dies geschah sicher unter einem messianischen Blickwinkel, da der Übersetzer seine Vorlage unter der Voraussetzung des messianischen Gedankenguts las, das in seinem soziokulturellen Kontext aktuell war. Messianische Neuinterpretationen des Übersetzers lassen sich allerdings nicht überzeugend nachweisen. Der Ersatz des orientalischen „Wildstiers“ durch das hellenistische „Einhorn“ in V.8 veranschaulicht das Anliegen des Übersetzers, den Text für die Lebenswelt der Rezipienten zu aktualisieren. Auch in der hellenistisch geprägten Diasporasituation ist der Spruch des nicht-israelitischen Sehers relevant. Daneben zeigt sich die Relevanz des übersetzten Textes in einigen theologischen Pointierungen. So wird bei der Übersetzung des Gottesepithetons ‫ שדי‬in V.4 die nach dem Vorbild der Genesis zu erwartenden Wiedergabe als „sein (Bileams) Gott“ vermieden. Dies entspricht der in der gesamten Bileamperikope Num 22–24 zu beobachtenden Zurückhaltung des Übersetzers, das Tetragramm mit κύριος wiederzugeben und so den Gott Israels mit dem Gott Bileams zu identifizieren. Auch die Verwendung des in Gen 2 geprägten Wortes παράδεισος in V.6 macht eine (implizite) theologische Aussage. Durch den Schöpfungsbezug wird ausgedrückt, dass die in Bileams Spruch genannten Wohnorte der Israeliten gleichfalls von Gott geschaffen sind und sich wie der Garten Eden durch eine außergewöhnlich Schönheit und Üppigkeit auszeichnen. Vielleicht zeigt sich hier sogar eine Auslegung, die mit einer eschatologischen Neuschöpfung rechnet. Hinter all diesen inhaltlichen Pointierungen und Präzisierungen lässt sich ein soziokultureller Kontext vermuten, in dem biblische Texte studiert wurden. Die speziellen expliziten und impliziten Aussagen des griechischen Text antworten auf weiterführende Fragen, die sich aus der Lektüre ergaben. Dazu können beispielsweise die Fragen gezählt haben, wie sich Prophetie beschreiben lässt oder ob der Nicht-Israelit Bileam ein wahrer Prophet war, aber auch die, wann und wie sich die mit den Worten „Wie schön sind deine Häuser, Jakob“ (V.5) beginnende Prophezeiung realisiert. Es ist gut möglich, dass solche Fragen im Kontext eines Lehrgesprächs in der Synagoge anhand des griechischen Textes diskutiert wurden.

10 Numeri 33,1–49: Exakte Ortsangaben 10.1 Übersetzung 1

Und dies [waren die] Lagerplätze der Söhne Israels, als sie aus dem Land Ägypten mit ihrem Heer in der Hand Moses und Aarons auszogen. 2 Und Mose schrieb ihre Aufbruchsorte und ihre Lagerplätze auf nach dem Wort des Herrn, und dies [waren die] Lagerplätze ihrer Reise: 3

Sie brachen im ersten Monat aus Ramesse auf, am fünfzehnten Tag des ersten Monats. Am Tag nach dem Passa zogen die Söhne Israels mit erhobener Hand vor allen Ägyptern aus. 4 Und die Ägypter begruben alle, die von ihnen gestorben waren, die der Herr geschlagen hatte, jeden Erstgeborenen im Land Ägypten. Und an ihren Göttern hatte der Herr das Strafgericht gehalten. 5 Und nachdem die Söhne Israels aus Ramesse aufgebrochen waren, lagerten sie in Sokchot. 6 Und sie brachen aus Sokchot auf und lagerten in Buthan, das schon in der Wüste liegt. 7 Und sie brachen aus Buthan auf und lagerten beim „Mund Eiroth“, das gegenüber Beelsepphon [liegt], und sie lagerten gegenüber Magdolu. 8 Und sie brachen aus Eiroth auf und zogen mitten durch das Meer in die Wüste, und sie zogen einen Weg von drei Tagen durch die Wüste, sie selbst, und lagerten an den „Bitteren“. 9 Und sie brachen von den „Bitteren“ auf und kamen nach Ailim. Und in Ailim [gab es] zwölf Wasserquellen und siebzig Dattelpalmstämme, und sie lagerten dort beim Wasser. 10 Und sie brachen aus Ailim auf und lagerten am Roten Meer. 11 Und sie brachen vom Roten Meer auf und lagerten in der Wüste Sin. 12 Und sie brachen von der Wüste Sin auf und lagerten in Raphaka. 13 Und sie brachen aus Raphaka auf und lagerten in Ailus. 14 Und sie brachen aus Ailus auf und lagerten in Raphidin, und dort war kein Wasser für das Volk zum Trinken. 15 Und sie brachen aus Raphidin auf und lagerten in der Wüste Sinai. 16 Und sie brachen aus der Wüste Sinai auf und lagerten bei den „Giergräbern“. 17 Und sie brachen von den „Giergräbern“ auf und lagerten in Ascheroth. 18 Und sie brachen aus Ascheroth auf und lagerten in Rathama. 19 Und sie brachen aus Rathama auf und lagerten in Remmon Phares. 20 Und sie brachen aus Remmon Phares auf und lagerten in Lebona. 21 Und sie brachen aus Lebona auf und lagerten in Dessa. 22 Und sie brachen aus Dessa auf und lagerten in Makelath. 23 Und sie brachen aus Makelath auf und lagerten in Saphar. 24 Und sie brachen aus Saphar auf und lagerten in Charadath. 25 Und sie brachen aus Charadath auf und lagerten in Makeloth. 26 Und sie brachen aus Makeloth auf und lagerten in Kataath. 27 Und sie brachen aus Kataath auf und lagerten in Tarath. 28 Und sie brachen aus Tarath auf und lagerten in Matekka. 29 Und sie brachen aus Matekka auf und lagerten in Aselmona. 30 Und sie brachen aus Aselmona auf und lagerten in Masuruth. 31 Und sie brachen aus Ma-

10.2 Kommentar

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suruth auf und lagerten in Banaiakan. 32 Und sie brachen aus Banaiakan auf und lagerten am Berg Gadgad. 33 Und sie brachen vom Berg Gadgad auf und lagerten in Etebatha. 34 Und sie brachen aus Etebatha auf und lagerten in Ebrona. 35 Und sie brachen aus Ebrona auf und lagerten in Gesion Gaber. 36 Und sie brachen aus Gesion Gaber auf und lagerten in der Wüste Sin. Und sie brachen aus der Wüste Sin auf und lagerten in der Wüste Pharan, diese ist Kades. 37 Und sie brachen von Kades auf und lagerten am Berg Hor, nahe am Land Edom. 38 Und Aaron, der Priester, stieg hinauf aufgrund einer Anordnung des Herrn und starb dort im vierzigsten Jahr des Auszugs der Söhne Israels aus dem Land Ägypten, im fünften Monat, am ersten [Tag] des Monats. 39 Und Aaron war hundertdreiundzwanzig Jahre alt, als er auf dem Berg Hor starb. 40 Und als Chananis, der König von Arad [es] hörte – und dieser wohnte im Land Kanaan, als die Israeliten hineinzogen –, 41 und sie brachen vom Berg Hor auf und lagerten in Selmona. 42 Und sie brachen aus Selmona auf und lagerten in Phino. 43 Und sie brachen aus Phino auf und lagerten in Oboth. 44 Und sie brachen aus Oboth auf und lagerten in Gai auf der anderen Seite, an den Grenzen von Moab. 45 Und sie brachen aus Gai auf und lagerten in Daibon Gad. 46 Und sie brachen aus Daibon Gad auf und lagerten in Gelmon Deblathaim. 47 Und sie brachen aus Gelmon Deblathaim auf und lagerten auf dem Gebirge Abarim gegenüber Nabau. 48 Und sie brachen vom Gebirge Abarim auf und lagerten westlich von Moab am Jordan gegenüber von Jericho. 49 Und sie lagerten am Jordan zwischen Aisimoth bis Belsattim, gegen Westen von Moab.

10.2 Kommentar 10.2.1 Die Einleitung zum Itinerar (V.1–2) Der Wortlaut des griechischen Text dieses kurzen Abschnitts weist in Details einige Unterschiede zum hebräischen Text auf. Von diesen lassen sich einige auf den Übersetzer zurückführen, der den Text dadurch sprachlich glätten wollte. Ansonsten wird der Wortlaut des hebräischen Textes streng wörtlich wiedergegeben.

Vers 1 καὶ οὗτοι σταθμοὶ τῶν υἱῶν Ἰσραήλ / ‫ אלה מסעי בני־ישראל‬Die Konjunktion καί stellt einen Überschuss gegenüber 𝔐 dar, der ebenfalls in der Peschitta vorliegt. Da Übereinstimmungen von Septuaginta und Peschitta gegen 𝔐 wohl eher auf Angleichungen des syrischen Textes an den griechischen Wortlaut als auf einer

266 | 10 Numeri 33,1–49: Exakte Ortsangaben gemeinsamen hebräischen Vorlage basieren,1 ist diese Tatsache allein noch kein Argument für die Lesart ‫ ואלה‬in der Vorlage des Übersetzers. Ebenso gut möglich ist, dass der Übersetzer seinen Text an V.2b (καὶ οὗτοι für ‫ )ואלה‬angepasst hat. Auch wenn aufgrund des Themenwechsels von Num 32 zu Num 33 die Verwendung der Konjunktion unangemessen erscheint,2 ist die Formulierung ‫ ואלה‬doch eine Standardeinleitung für Aufzählungen,3 die sowohl der Übersetzer als auch der Tradent seiner Vorlage nachgebildet haben könnte. Letztlich ist der Fall nicht entscheidbar. Das Substantiv ‫ מסע‬als Derivat des Verbs ‫ נסע‬kann nicht nur das Aufbrechen von einem Lagerplatz bezeichnen, sondern auch das Lager selbst bzw. die Reisestation.4 Der Übersetzer hat den Sinn des Wortes in diesem Kontext richtig erkannt und passend mit σταθμός wiedergegeben. ὡς ἐξῆλθον ἐκ γῆς Αἰγύπτου σὺν δυνάμει αὐτῶν / ‫אשר יצאו מארץ מצרים‬ ‫ לצבאתם‬Die Partikel ‫ אשר‬wurde vom Übersetzer nicht als Einleitung eines Relativsatzes, sondern als temporale Konjunktion verstanden.5 Aus diesem Verständnis ist die Wiedergabe mit ὡς zu erklären, die auch in Gen 40,13 begegnet. Während der hebräische Text die Pluralform ‫ לצבאתם‬bietet, wird in der Übersetzung der Singular (σὺν δυνάμει αὐτῶν) verwendet. Denkbar ist, dass die Singularform auf der Lesart ‫לצבאהם‬, also auf einer Verwechslung von ‫ ת‬und ‫ה‬,6 beruht. Auf der anderen Seite wurde bereits in Num 1,45 die Formulierung σὺν δυνάμει αὐτῶν verwendet, obwohl die mutmaßliche Vorlage dort die Lesart ‫ )⅏( לצבאתם‬bietet. Anzunehmen ist, dass hier wie dort der Übersetzer die Israeliten als Einheit gesehen und dies durch den Singular ausgedrückt hat.7 Hinzu kommt die Tatsache, dass auch im griechischen Text von Num 2,9.16.24.31 in Bezug auf die vier „Lager“ der Israeliten, die aus je drei Stämmen bestehen, jeweils von einem „Heer“ gesprochen wird, obwohl im hebräischen Text der Plural verwendet wird.8

1 Tilly, Einführung in die Septuaginta, 99. 2 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 550. 3 Gen 36,17.24.31; Ex 6,16.17; Dtn 27,13. 4 Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫ ;מסע‬vgl. auch Ashley, The Book of Numbers, 626. 5 Vgl. Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. 6 Vgl. Fischer, Der Text des Alten Testaments, 206. 7 Siehe Seite 95 zu Num 1,45. 8 Vgl. Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 441.

10.2 Kommentar

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ἐν χειρὶ Μωυσῆ καὶ Ἀαρών / ‫ ביד־משה ואהרן‬Die wörtliche Wiedergabe des „physiognomischen Ausdrucks“ der „Hand“ stellt einen häufig anzutreffenden Hebraismus dar.9

Vers 2 τὰς ἀπάρσεις αὐτῶν καὶ τοὺς σταθμοὺς αὐτῶν / ‫את־מוצאיהם למסעיהם‬ Das 10 Substantiv ‫ מוצא‬bezeichnet einen Ort des Aufbruchs. Die Entsprechung ἄπαρσις im griechischen Text macht von einem selten bezeugten Wort mit derselben Bedeutung Gebrauch.11 Es ist von dem Verb ἀπαίρω abgeleitet, das ab V.3 als Äquivalent von ‫ נסע‬das Aufbrechen von einem Lagerplatz bezeichnet. Während der hebräische Text die „Aufbruchsorte entsprechend (‫ )ל‬ihrer Lagerplätze“ nennt, verwendet die Übersetzung die Konjunktion καί, bezeichnet also mit den „Aufbruchsorten“ und den „Lagerplätzen“ zwei verschiedene Dinge. Die entsprechende Lesart der Peschitta wird eher auf einer Angleichung des syrischen Textes an die Septuaginta beruhen12 und bietet damit noch kein Argument für die Lesart ‫ ו‬statt ‫ ל‬in der Vorlage. Es ist gut möglich, dass der Übersetzer den Text inhaltlich vereinfacht und an das ab V.3 verwendete Muster aus den Verben ἀπαίρω („aufbrechen“) und παρεμβάλλω („lagern“) angepasst hat.13 διὰ ῥήματος κυρίου / ‫ על־פי יהוה‬Im Gegensatz zu V.1, wo der Ausdruck „Hand Moses und Aarons“ wörtlich wiedergegeben wurde, wird hier der Anthropomorphismus des „Mundes“ in Bezug auf Gott vermieden. Allerdings ist zu bezweifeln, dass dies theologische Gründe hat. Denn in Num 12,8 hat der Übersetzer die Aussage, dass Gott „von Mund zu Mund“ (‫ )פי אל־פי‬mit Mose rede, wörtlich mit Hilfe des Ausdrucks στόμα κατὰ στόμα wiedergegeben.14 Es ist also zu vermuten, dass die auf einen Anthropomorphismus verzichtende Wiedergabe nicht den Sinn hat, menschliche Vorstellungen von Gott zu unterbinden. Die Motivation lag vielmehr

9 Vgl. Thackeray, A Grammar of the Old Testament in Greek, 42. 10 Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫מוצא‬. 11 Lust, Eynikel und Hauspie, Greek-English Lexicon of the Septuagint, s.v. ἄπαρσις, markieren das Wort als möglichen Neologismus. Für die jüdischen Revisionen ist an dieser Stelle die Lesart (τὰς) ἐξόδους bezeugt, die auf einem zur Wiedergabe von ‫ מוצא‬üblicheren Wort basiert. 12 Vgl. Tilly, Einführung in die Septuaginta, 99; siehe auch Seite 265 zu V.1. 13 So auch Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 550. 14 Man könnte auch in dem regelmäßigen auftretenten Ausdruck διὰ φωνῆς κυρίου als Wiedergabe von ‫( על־פי יהוה‬z. B. Num 3,16; 4,37; 9,20) einen Anthropomorphismus sehen, allerdings kann φωνή auch die (auf Metonymie beruhende) Bedeutung „Ausspruch“ haben, die in diesen Fällen wohl vorliegt; vgl. Liddell, Scott und Jones, A Greek-English Lexicon, s.v. φωνή, III.

268 | 10 Numeri 33,1–49: Exakte Ortsangaben darin, den Sinn des biblischen Textes verständlich wiederzugeben. In dem vorliegenden Kontext geht es um das „Wort des Herrn“ im Sinne einer Anweisung,15 wohingegen die wörtliche Wiedergabe „Mund des Herrn“ eher unnatürlich gewirkt hätte. καὶ οὗτοι σταθμοὶ τῆς πορείας αὐτῶν / ‫ואלה מסעיהם למוצאיהם‬ Eine exakte Wiedergabe der Formulierung „ihre Lagerplätze entsprechend ihrer Aufbruchsorte“ hat der Übersetzer vermieden, stattdessen nennt der griechische Text die „Lagerplätze ihrer Reise“. Das Substantiv ‫ מוצא‬wurde nicht wie am Anfang des Verses mit ἄπαρσις übersetzt, sondern mit πορεία. Diese Neuformulierung macht den Text leichter verständlich und vermeidet die chiastische, aber tautologische16 Sequenz der hebräischen Fassung (‫ את־מוצאיהם למסעיהם‬// ‫)מסעיהם למוצאיהם‬, bei der erst die Aufbruchsorte durch die Lagerplätze und dann umgekehrt die Lagerplätze durch die Aufbruchsorte näher bestimmt werden.

10.2.2 Das Itinerar (V.3–49) Ein großer Teil der Differenzen zwischen dem griechischen und dem uns vorliegenden hebräischen Text der Aufbruchs- und Lagernotizen kann auf unterschiedliche Details in der Vorlage zurückgeführt werden. Das gilt in besonderer Weise für die Wiedergabe der Ortsnamen. Unabhängig davon lässt sich zeigen, dass der Übersetzer den Ausgangstext meist sorgfältig wiedergegeben hat. Auch das Bemühen, einen verständlichen Zieltext zu produzieren, ist deutlich zu sehen.

Vers 3 ἀπῆραν ἐκ Ῥαμεσσή / ‫ ויסעו מרעמסס‬Während sonst in diesem Kapitel die Verbform ‫ ויסעו‬stereotyp mit καὶ ἀπῆραν übersetzt wird (z. B. V.6), hat der Übersetzer hier auf die Konjunktion καί verzichtet. Im Gegensatz zu V.1, wo der Übersetzer keine Schwierigkeiten hatte, die Einleitung des Itinerars syndetisch zu beginnen,17 schien es hier unangebracht, die Liste der Orte mit der Konjunktion καί einzu-

15 Vgl. die Wiedergabe von ‫ על־פי יהוה‬mit διὰ προστάγματος κυρίου in Num 9,18.20.23 und auch in Num 33,38 (vgl. Seite 276). 16 Vgl. Horst Seebass, Numeri 22,2–36,13, BKAT IV/3, Neukirchen: Neukirchener, 2007, 378. 17 Siehe Seite 265. Diese Einschätzung gilt unabhängig von der Art der Vorlage.

10.2 Kommentar

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leiten. Die Auslassung ist wohl auf den Übersezer zurückzuführen und dient der Verständlichkeit.18 τῷ μηνὶ τῷ πρώτῳ / ‫בחדש הראשון‬ Auf eine wörtliche Entsprechung für die Präposition ‫ ב‬hat der Übersetzer verzichtet. Der im griechischen Text vorliegende dativus temporalis bezeichnet ohne Verwendung der Präposition ἐν einen Zeitpunkt, was der Intention des Ausgangstextes entspricht, während in Verbindung mit einer Präposition ein Zeitraum bezeichnet worden wäre.19 Entsprechendes gilt für die folgenden Ausdrücke τῇ πεντεκαιδεκάτῃ ἡμέρα (für ‫ )בחמשה עשר יום‬und τῇ ἐπαύριον τοῦ πάσχα (für ‫)ממחרת הפסח‬. ἐναντίον πάντων τῶν Αἰγυπτίων / ‫לעיני כל־מצרים‬ Die Konsonantenfolge ‫ מצרים‬wurde hier und in V.4 als Ethnonym gelesen ( ‫מצְִרים‬ ִ ), während die Vokalisierung von 𝔐 eine geographische Bezeichnung voraussetzt ( ‫מצְַרי ִם‬ ִ ).

Vers 4 καὶ οἱ Αἰγύπτιοι ἔθαπτον / ‫ ומצרים מקברים‬Wie schon in V.3 wurde die Konsonantenfolge ‫ מצרים‬als Personenbezeichnung vokalisiert, was aufgrund der Pluralform des folgenden Partizips naheliegend war.20 Das Partizip ‫ מקברים‬wurde als Imperfekt wiedergegeben, um den durativen Aspekt des „Begrabens“ auszudrücken, in dessen Zeitspanne der Auszug der Israeliten fiel. ἐξ αὑτῶν τοὺς τεθνηκότας πάντας οὓς ἐπάταξεν κύριος / ‫את אשר הכה יהוה‬ ‫בהם‬ Der Übersetzer konnte die mit ‫ את אשר‬eingeleitete Relativstruktur nicht wörtlich nachbilden und hat deshalb den Hauptsatz um das Objekt τοὺς τεθνηκότας πάντας ergänzt.21 Dabei dient ἐξ αὑτῶν als Wiedergabe von ‫בהם‬. Dieser Ausdruck, der eine Näherbestimmung des ergänzten Objekts τοὺς τεθνηκότας πάντας bildet, wurde in der Übersetzung vorgezogen. πᾶν πρωτότοκον ἐν γῇ Αἰγύπτῳ / ‫ כל־בכור‬Die Wortfolge ἐν γῇ Αἰγύπτῳ hat keine Entsprechung im hebräischen Text. Wahrscheinlich wurde die Apposition πᾶν

18 Diese natürliche Wiedergabe wurde von den jüdischen Revisionen (bezeugt für οἱ λ’ in einer Randlesart von Handschrift 344) sowie in rezensionellen Manuskripten durch die Einfügung von καί in Anlehnung an 𝔐 „korrigiert“. 19 Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 193. 20 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 514. 21 Wohl mit derselben Intention hat die Vulgata die Apposition ‫ כל־בכור‬als Akkusativobjekt vorgezogen: primogenitos quos percusserat Dominus.

270 | 10 Numeri 33,1–49: Exakte Ortsangaben πρωτότοκον vom Übersetzer näher spezifiziert, um anzudeuten, dass die Erstgeborenen der Israeliten verschont blieben. καὶ ἐν τοῖς θεοῖς αὐτῶν ἐποίησεν τὴν ἐκδίκησιν κύριος / ‫ובאלהיהם עשה יהוה‬ ‫שפטים‬ Die Pluralform ‫ שפטים‬wird in den Septuagintaschriften meist als Singular ἐκδίκησις wiedergegeben,22 die Wiedergabe hier ist also unauffällig.

Vers 5 καὶ ἀπάραντες οἱ υἱοὶ Ἰσραὴλ ἐκ Ῥαμεσσή / ‫ ויסעו בני־ישראל מרעמסס‬Im Gegensatz zu der sonst in diesem Kapitel üblichen parataktischen Wiedergabe von ‫ ויסעו‬mit καὶ ἀπῆραν (z. B. V.6) hat der Übersetzer hier ein Partizip gewählt. Konsequenterweise wird der Hauptsatz (παρενέβαλον εἰς Σοκχώθ als Entsprechung zu ‫ )ויחנו בסכת‬ohne Verwendung einer Konjunktion angeschlossen. Möglich ist, dass der Übersetzer an Ex 12,37 angeknüpft hat, wo ebenfalls der Weg von Ramesse nach Sokchot erwähnt wird. Denn auch dort wird dieselbe hebräische Formulierung hypotaktisch wiedergegeben, allerdings mit postpositivem δέ statt mit καί. Eine wahrscheinlichere Ursache für die Hypotaxe findet sich allerdings in der Tatsache, dass der Aufbruch von Ramesse bereits in V.3 erwähnt wurde. Darauf wird durch das temporal zu interpretierende Partizip verwiesen.23 Gleichzeitig wird durch die alternative Form der Aufbruchsnotiz an der Textoberfläche deutlich gemacht, dass es sich nicht um eine zusätzliche Reisestation handelt, die hier beschrieben wird.

Vers 6 καὶ παρενέβαλον εἰς Βουθάν / ‫ ויחנו באתם‬Während in 𝔐 das ‫ ב‬als Präposition vokalisiert wurde, erscheint der Buchstabe im griechischen Text als Teil der Ortsbezeichnung. Möglich ist, dass die Ortsangabe Βουθάν auf einer Vorlage mit der durch Dittographie entstandenen Lesart ‫ בבאתם‬basiert. Dies erscheint plausibel, weil die Präposition ‫ ב‬in diesem Kapitel sonst durchgängig als Präposition erkannt und als solche wiedergegeben wurde.24 Andererseits ist es auch gut denkbar, dass ohne Vorliegen eines zweifachen ‫ ב‬der Buchstabe als Teil der Ortsbezeichnung aufgefasst wurde, denn auch in V.8 wurde die Konsonantenfolge

22 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 552; siehe z. B. Ex 7,4; 12,12. 23 Vgl. Seebass, Numeri 22,2–36,13, 366. 24 Dorival, Les Nombres, 545. Eine Ausnahme, die auf Konsonantenverwechslung beruht, liegt in V.26 vor (siehe Seite 275).

10.2 Kommentar |

271

‫ אתם‬vom Übersetzer nicht als Eigenname identifiziert.25 Unabhängig davon, wie die Ortsbezeichnung Βουθάν entstanden ist, kann man davon ausgehen, dass sie in dieser Form auch in V.7 übernommen wurde (ἐκ Βουθάν / ‫)מאתם‬. ὅ ἐστιν μέρος τι τῆς ἐρήμου / ‫ אשר בקצה המדבר‬Das Indefinitpronomen τι hat keine Entsprechung im Wortlaut des hebräischen Textes. Die Charakterisierung des Ortes Buthan als „ein gewisser Teil der Wüste“ wirkt zudem befremdlich. Der Gebrauch des Pronomens an dieser Stelle lässt sich allerdings erklären, wenn man voraussetzt, dass es nicht nur Unbestimmtheit ausdrücken kann, sondern auch die Funktion hat, eine Aussage zu verstärken.26 Unter dieser Voraussetzung ergibt sich die Aussage, dass Buthan „tatsächlich ein Teil der Wüste“ ist. Diese auf den ersten Blick überraschende Aussage erscheint tatsächlich angemessen, wenn man den Kontext betrachtet. Denn in V.8 wird geschildert, dass die Israeliten „mitten durch das Meer in die Wüste“ zogen, was nahelegt, dass die Wüste erst dort begann. Zusammen mit der Erwähnung der Wüste in V.6 könnte sich ein Widerspruch oder zumindest eine Verständnisschwierigkeit ergeben. Der Übersetzer hat Wert darauf gelegt, dass bereits der in V.6 genannte Ort Buthan eindeutig als in der Wüste liegend bezeichnet wird, deshalb hat er die Aussage verstärkt. Diese Rekonstruktion erscheint vor allem deshalb schlüssig, da die Wiedergabe von ‫ קצה‬durch μέρος τι insgesamt viermal im Numeribuch vorkommt (Num 11,1; 22,41; 23,13; 33,6), wobei jeweils die verstärkende Funktion des Pronomens eine gute Erklärung liefert.27

Vers 7 καὶ παρενέβαλον ἐπὶ στόμα Ἑϊρώθ / ‫ וישב על־פי החירת‬Die Verbform παρενέβαλον bildet hier auffälligerweise die Entsprechung von ‫וישב‬, sonst entspricht sie in diesem Itinerar der Form ‫ויחנו‬. Es ist denkbar, dass der Übersetzer das Verb an die im Kontext übliche Formulierung angepasst hat, um den Text zu vereinheitlichen. Allerdings findet sich die Lesart des griechischen Textes auch im Targum Neofiti, so dass die Vereinheitlichung auch auf einer entsprechenden hebräischen Vorlage beruhen kann. Dass die Verbform ‫ וישב‬auch innerhebräisch Anlass zu Änderungen bot, belegen die in ⅏ und im Targum Pseudo-Jonathan verwendeten Pluralformen ‫ וישבו‬und ‫ותבו‬.

25 Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 514–515; vgl. auch Seite 272 zu V.8. 26 Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 159; vgl. von Siebenthal, Griechische Grammatik, § 144a. 27 Siehe dazu Seite 133.

272 | 10 Numeri 33,1–49: Exakte Ortsangaben Die Ortsangabe ‫ פי החירת‬wurde teils übersetzt (στόμα für ‫)פה‬, teils transkribiert. Offensichtlich fasste der Übersetzer den Ortsnamen als ‫ החירת‬auf, denn ganz ähnlich wurde auch in V.8 ‫ מפני החירת‬mit ἀπέναντι Ἑϊρώθ wiedergegeben.28

Vers 8 καὶ ἐπορεύθησαν ὁδὸν τριῶν ἡμερῶν διὰ τῆς ἐρήμου αὐτοί / ‫וילכו דרך שלשת‬ ‫ ימים במדבר אתם‬Das Personalpronomen αὐτοί lässt sich erklären, wenn man davon ausgeht, dass der Übersetzer ‫ אתם‬als ‫אתָם‬ ֹ (Akkusativmarker)29 oder ‫אתָּם‬ ִ (Präposition) vokalisiert hat. Weder das Akkusativobjekt noch die Bedeutung „mit ihnen“ ergab für den Übersetzer einen befriedigenden Sinn. Der Akkusativmarker ‫ את‬mit einem Suffix der dritten Person konnte allerdings durch Einfluss des nachbiblischen Hebräisch als Demonstrativpronomen im Nominativ verstanden werden. Das zeigt sich außer an dieser Stelle auch an Num 6,13; dort begegnet die Wiedergabe αὐτός für ‫( אתו‬bzw. ‫)אותו‬.30 Hinzu kommt, dass bei der entsprechenden Beschreibung der Etappe in Ex 15,22 die Wüste Σοῦρ (‫ )שור‬heißt, so dass ‫ אתם‬als Eigenname für den Übersetzer vielleicht nicht akzeptabel war.31 Die kontextuelle Schwierigkeit wird die Lesung der Konsonantenfolge als Demonstrativpronomen im Nominativ begünstigt haben. καὶ παρενέβαλον ἐν Πικρίαις / ‫ ויחנו במרה‬Der Ortsname wurde nicht transkribiert, sondern übersetzt, und zwar entsprechend der Ätiologie in Ex 15,23. Dort wird der Ort Μερρά erwähnt, dem man wegen des nicht trinkbaren Wassers den Namen Πικρία gibt. Der Übersetzer hat diese Stelle offensichtlich bei den Lesern als bekannt vorausgesetzt und mit seiner Wiedergabe auf die Namensgebung im Exodusbuch angespielt. Allerdings findet sich die Pluralform von Num 33,8 nicht in Ex 15,23. Sie lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass im Griechischen Ortsbezeichnungen größerer Städte wie Athen oder Theben im Plural verwendet

28 In V.8 bieten sowohl ⅏ als auch ein Sebir zu 𝔐 die Lesart ‫מפי החירת‬, die auch in V.7 vorkommt; die Vorlage der LXX-Fassung entsprach in V.8 wahrscheinlich 𝔐. 29 So Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 553. 30 Joosten, „Biblical Hebrew as Mirrored in the Septuagint“, 76–78, weist darauf hin, dass die entsprechenden Demonstrativpronomina zwar für die Zeit vor der Niederschrift der Mischna nicht belegt sind, dennoch könne man aber mit ihrer Präsenz im gesprochenen Hebräisch zur Zeit der Übersetzer rechnen. Zu Num 6,13 vgl. noch Prijs, Jüdische Tradition, 57. 31 Vgl. Dorival, Les Nombres, 147.

10.2 Kommentar |

273

werden.32 Ob der genannte Ort für den Übersetzer in diese Kategorie fiel, lässt sich allerdings anzweifeln.33

Vers 9 καὶ ἑβδομήκοντα στελέχη φοινίκων / ‫ ושבעים תמרים‬Die Wiedergabe von ‫ תמרים‬mit στελέχη φοινίκων begegnet auch in Ex 15,27; wahrscheinlich hat sich der Übersetzer daran angelehnt. καὶ παρενέβαλον ἐκεῖ παρὰ τὸ ὕδωρ / ‫ ויחנו־שם‬Im hebräischen Text hat παρὰ τὸ ὕδωρ keine Entsprechung. Da auch das Targum Pseudo-Jonathan die Ergänzung des „Wassers“ (‫ )על מיא‬bietet, könnte man den Überschuss des griechischen Textes mit einer entsprechenden Vorlage erklären. Auf der anderen Seite kommt der Ausdruck ‫( על־המים‬bzw. παρὰ τὰ ὕδατα) auch bei der Beschreibung dieser Reiseetappe in Ex 15,27 vor, es ist also ebenfalls denkbar, dass der Übersetzer den Text an Ex 15,27 angepasst hat.34 Die zweite Erklärung erscheint plausibler, da der Übersetzer wahrscheinlich schon bei der Wiedergabe des vorangehenden Satzes auf den (griechischen) Text von Ex 15,27 zurückgegriffen hat. Zudem setzt die Wiedergabe von V.8 die Kenntnis von Ex 15,22.23 voraus.35 Der Unterschied im Numerus zwischen der Formulierung παρὰ τὸ ὕδωρ (Num 33,9) und παρὰ τὰ ὕδατα (Ex 15,27) macht deutlich, dass die Ergänzung hier aus dem Gedächtnis vorgenommen wurde.

Vers 10 καὶ παρενέβαλον ἐπὶ θάλασσαν ἐρυθράν / ‫ויחנו על־ים ־סוף‬ Der Name „Rotes Meer“ für das im hebräischen Text als „Schilfmeer“ bezeichnete Gewässer ist die übliche griechische Bezeichnung für den Golf von Suez.36

Vers 12 καὶ παρενέβαλον εἰς Ῥαφακά / ‫ ויחנו בדפקה‬Die unterschiedlichen Ortsnamen im griechischen und hebräischen Text lassen sich auf die häufig bezeugte

32 33 34 35 36

Ebd., 546. Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 554. Vgl. Budd, Numbers, 349. Vgl. Seite 272. Vgl. Dorival, Les Nombres, 324 sowie hier Seite 216 zu Num 21,4.

274 | 10 Numeri 33,1–49: Exakte Ortsangaben Verwechslung von ‫ ד‬und ‫ ר‬zurückführen, die im Rahmen der Übersetzung oder bereits in einem früheren Stadium der Texttransmission stattgefunden haben kann.37

Vers 20 καὶ παρενέβαλον ἐν Λεβωνά / ‫ ויחנו בלבנה‬Der Ortsname im griechischen Text kann auf der Lesart ‫ לבונה‬beruhen, die in ⅏ bezeugt ist.38 Möglich ist allerdings auch eine Vorlage, die 𝔐 entsprach, wobei die Lesung des Übersetzers den Vokal Ḥôlem bei defektiver Konsonantenschreibung voraussetzt.

Vers 21 καὶ παρενέβαλον εἰς Δεσσά / ‫ ויחנו ברסה‬Wie schon in V.12 beruhen die unterschiedlichen Ortsbezeichnungen auf einer Verwechslung der Buchstaben ‫ ר‬und ‫ד‬.

Vers 22 καὶ παρενέβαλον εἰς Μακελάθ / ‫ויחנו בקהלתה‬ Die Differenz im Ortsnamen, dessen griechische und hebräische Varianten nur hier und in V.23 vorkommen, kann lediglich vermutungsweise erklärt werden. Möglicherweise bot die Vorlage des Übersetzers eine mit ‫ מ‬beginnende Lesart, die von V.25 (‫ )מקהלת‬beeinflusst gewesen sein kann.39

Vers 23 καὶ παρενέβαλον εἰς Σάφαρ / ‫ויחנו בהר־שפר‬ Aus unbekannten Gründen hat der Übersetzer auf die Wiedergabe von ‫ הר‬verzichtet, falls das Wort nicht schon (ebenfalls aus nicht nachvollziehbaren Gründen) in der Vorlage fehlte. Entsprechendes gilt für V.24.

37 Vgl. Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, 203. 38 So Dorival, Les Nombres, 549. 39 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 557.

10.2 Kommentar |

275

Vers 26 καὶ παρενέβαλον εἰς Κατάαθ / ‫ ויחנו בתחת‬Der Unterschied in den Ortsnamen kann auf einer Vorlage mit ‫ ק‬als erstem Konsonanten beruhen, wobei das letzte α den Buchstaben ‫ ח‬repräsentiert.40 Die Ortsangabe Κατάαθ findet sich auch im folgenden Vers.

Vers 27 καὶ παρενέβαλον εἰς Τάραθ / ‫ויחנו בתרח‬ Der Buchstabe θ am Ende des griechischen Ortsnamens ist aus einer Verwechslung der Konsonanten ‫ ח‬und ‫ ת‬zu erklären.41

Vers 29 καὶ παρενέβαλον εἰς Ἁσελμωνά / ‫ ויחנו בחשמנה‬Die unterschiedlichen Ortsnamen im griechischen und hebräischen Text beruhen auf einer nicht mit Sicherheit zu bestimmenden Verlesung, die vielleicht ein ‫ ל‬in der Vorlage voraussetzt.42

Vers 32 καὶ παρενέβαλον εἰς τὸ ὄρος Γαδγάδ / ‫ויחנו בחר הגדגד‬ Eine Vorlage mit der Lesart ‫ הר‬statt mit ‫)𝔐( חר‬, die von einigen hebräischen Handschriften bezeugt wird, erklärt die Wiedergabe mit τὸ ὄρος.

Vers 36 καὶ ἀπῆραν ἐκ τῆς ἐρήμου Σὶν καὶ παρενέβαλον εἰς τὴν ἔρημον Φαράν αὕτη ἐστὶν Καδής / ‫ הוא קדש‬Der griechische Text bietet eine zusätzliche Lagerstation. Während der Text aller hebräischen Textzeugen eine geographische Verbindung der Wüste Zin mit Kadesch erwähnt („… und lagerten in der Wüste Zin, das ist Kadesch“), lässt die Septuagintafassung die Israeliten zunächst von der Wüste Sin in die Wüste Pharan wandern, die ihrerseits nun mit Kadesch verbunden wird („… in der Wüste Pharan, diese ist Kades“). Dieser Befund entspricht dem Inhalt

40 Ebd., 558. Dagegen ist eine Lesart mit initialem ‫כ‬, das aus einer Verwechslung mit ‫ ב‬entstanden sein könnte, weniger wahrscheinlich, da ‫ כ‬in der Regel mit χ transkribiert wurde. 41 Vgl. Fischer, Der Text des Alten Testaments, 206. 42 Zur Diskussion siehe Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 559.

276 | 10 Numeri 33,1–49: Exakte Ortsangaben von Num 13,27,43 wo ebenfalls Kades in der Wüste Pharan verortet wird. Es ist anzunehmen, dass der Übersetzer den Text von Num 33,36 mit den geographischen Voraussetzungen von Num 13,27 harmonisiert hat. Die Annahme einer Harmonisierung durch den Übersetzer erscheint auch dadurch plausibel, dass bereits vorher in diesem Kapitel der Wortlaut an andere Texte, die die Wüstenwanderung beschreiben, angeglichen wurde.44

Vers 38 καὶ ἀνέβη Ἀαρὼν ὁ ἱερεύς / ‫ויעל אהרן הכהן אל־הר ההר‬ Die Ortsangabe ‫ אל־הר ההר‬hat keine Entsprechung im griechischen Text. Möglich ist, dass der Übersetzer die Angabe aufgrund der Bedeutung des Verbs ‫ עלה‬und der Erwähnung des Berges Hor in V.37 und V.39 als redundant empfunden und daher unübersetzt gelassen hat.45 Andererseits kann die Ursache auch in der Vorlage liegen. Vorstellbar ist, dass die Konsonanten ‫ א‬und ‫ ע‬und damit die Präpositionen ‫ אל‬und ‫ על‬verwechselt wurden46 und dass die Wortfolge ‫אל־הר ההר‬, auf die ‫ על־פי יהוה‬folgt, aufgrund von Homoioarkton ausfiel.47 διὰ προστάγματος κυρίου / ‫ על־פי יהוה‬Bereits in V.2 wurde ‫ פי יהוה‬nicht wörtlich übersetzt, sondern mit ῥήμα κυρίου wiedergegeben. Auch hier hat der Übersetzer den Anthropomorphismus vermieden und den „Mund“ durch das Gemeinte, nämlich die „Anweisung“ ersetzt. Dies geschah sicher nicht aufgrund theologischer Vorbehalte, denn auch in Num 12,8 konnte der Ausdruck ‫ פי אל־פי‬mit στόμα κατὰ στόμα übersetzt werden.48

43 In der BHS und in der LXX-Ausgabe von Rahlfs ist dies Num 13,26. 44 Ähnlich auch Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 515. Konkrete Beispiele bilden die Angleichungen des Textes an den Wortlaut von Ex 15 in V.8.9 (siehe Seite 272). 45 Davon scheint Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 562, auszugehen. 46 Delitzsch, Die Lese- und Schreibfehler im Alten Testament, 123 (Fußnote 1), weist darauf hin, dass ‫ א‬und ‫( ע‬und andere Buchstabenkombinationen) nicht nur durch Hörfehler verwechelt werden konnten, sondern auch dadurch, dass Schreiber das Gelesene leise vor sich hin sprachen. 47 Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, 196, setzt für Homoiteleuton und Homoioarkton eine „Wiederholung eines oder mehrerer identischer oder ähnlicher Wörter“ voraus (Hervorhebung durch C.Z.); in diesem Fall wären das ‫ אל‬und ‫על‬. 48 Vgl. auch Seite 267 zu V.2.

10.2 Kommentar |

277

Vers 39 καὶ Ἀαρὼν ἦν τριῶν καὶ εἴκοσι καὶ ἑκατὸν ἐτῶν / ‫ואהרן בן־שלש ועשרים ומאת‬ ‫שנה‬ Der Übersetzer hat den Hebraismus „Sohn von … Jahren“ vermieden. In der Übersetzung erscheint stattdessen der schon im klassischen Griechisch prädikativ verwendete genitivus qualitatis.49 ὅτε ἀπέθνῃσκεν ἐν Ὣρ τῷ ὄρει / ‫ במתו בהר ההר‬Der Übersetzer hat die hebräische Konstruktion ‫במתו‬50 nicht etwa durch die in den Septuagintaschriften häufig vorkommende Konstruktion aus ἐν τῷ und folgendem Infinitiv nachgebildet, sondern hat, wie es dem klassischen Griechisch entspricht, eine Hypotaxe verwendet.51

Vers 40 καὶ ἀκούσας ὁ Χανανίς βασιλεὺς Ἀράδ / ‫ וישמע הכנעני מלך ערד‬Die Wiedergabe der wayyiqtol-Form ‫ וישמע‬durch ein Partizip ist nicht nur auffällig, sondern hat auch einen unvollständigen Satzbau zur Folge, da kein Hauptsatz folgt, dem die Partizipialkonstruktion untergeordnet sein könnte.52 Es ist denkbar, dass in der Vorlage das ‫ י‬ausgefallen ist und dass der Übersetzer die Konsonantenfolge ‫ שמע‬als Partizip interpretiert und als solches übersetzt hat, ohne den direkt folgenden Kontext zu beachten. Die ethnische Bezeichnung ‫ כנעני‬hat der Übersetzer nicht mit Χαναναῖος wiedergegeben, wie das in Num 14,25.43.45 der Fall ist, sondern wohl in Anlehnung an Num 21,153 als Eigennamen transkribiert. καὶ οὗτος κατῴκει ἐν γῇ Χανάαν / ‫ והוא־ישב בנגב בארץ כנען‬Das Partizip ‫ ישב‬hat der Übersetzer als Imperfekt wiedergegeben und dadurch den durativen Aspekt des „Wohnens“ ausgedrückt.

49 Vgl. Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 176c; Blass, Debrunner und Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, § 165. 50 Die Vokalisierung ֺ‫מתו‬ ֹ in 𝔐 lässt eine Interpretation als suffigiertes Substantiv ‫מו ֶת‬ ָ oder als infinitivus absolutus des Verbs ‫מות‬, jeweils mit Pronominalsuffix, zu. Die Konsonantenfolge von 𝔐 konnte allerdings auch als infinitivus constructus mit Pronominalsuffix (ֺ‫מתו‬ ֻ ) gelesen werden. 51 Nach Blass, Debrunner und Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, § 404, ist die Konstruktion aus ἐν τῷ und Infinitiv charakteristisch für die Septuagintaschriften, während im Attischen eine Partizipialkonstruktion oder ein Nebensatz verwendet wird. 52 Dies wird nach Bezeugung der Syro-Hexapla von α’ und θ’ durch ein finites Verb anstelle eines Partizips korrigiert. Der Codex Venetus dagegen fügt hinter βασιλεὺς Ἀράδ einen Hauptsatz ein, um das Problem zu beheben: ἀπήντησεν τοῖς υἱοῖς Ἰσραὴλ καὶ ἐπολέμησεν μετ’ αὐτῶν. 53 Vgl. Seite 211.

278 | 10 Numeri 33,1–49: Exakte Ortsangaben Der Ausdruck ‫ בנגב‬hat keine Entsprechung im griechischen Text, während der parallele Ausdruck ‫ ישב הנגב‬in Num 21,1 mit ὁ κατοικῶν κατὰ τὴν ἔρημον übersetzt wurde. Ursache für die Auslassung könnte das Homoioteleuton ‫ ב‬am Ende von ‫ ישב‬und von ‫ בנגב‬oder auch das Homoioarkton ‫ ב‬am Anfang von ‫ בנגב‬und von ‫ בארץ‬sein. ὅτε εἰσεπορεύοντο οἱ υἱοὶ Ἰσραήλ / ‫בבא בני ישראל‬ Ähnlich wie in V.3954 hat der Übersetzer eine Nachbildung der hebräischen Infinitivkonstruktion mit Hilfe von ἐν τῷ zugunsten einer Hypotaxe vermieden.

Vers 42 καὶ παρενέβαλον εἰς Φινώ / ‫ויחנו בפונן‬ Der Unterschied im ersten Vokal des Ortsnamens kann auf einer ⅏ entsprechenden Vorlage mit der Lesart ‫ בפינן‬beruhen oder auf einer Vorlage mit Defektivschreibung und der Lesung eines Ḥîreq.

Vers 44 καὶ παρενέβαλον ἐν Γαὶ ἐν τῷ πέραν / ‫ויחנו בעיי העברים‬ Der Übersetzer hat die Konsonantenfolge ‫ העברים‬von ‫עבֶר‬ ֵ abgeleitet, also nicht als zweiten Teil des Ortsnamens aufgefasst, und daher mit ἐν τῷ πέραν übersetzt.55

Vers 47 καὶ παρενέβαλον ἐπὶ τὰ ὄρη τὰ Ἀβαρίμ / ‫ ויחנו בהרי העברים‬Im Gegensatz zu V.44 hat der Übersetzer an dieser Stelle ‫ העברים‬nicht übersetzt, sondern transkribiert.56 Bei einer Übersetzung von ‫ העברים‬mit ἐν τῷ πέραν wie in V.44 hätte bei der Lagernotiz ein Ortsname gefehlt, τὰ ὄρη allein wäre zu unspezifisch gewesen.57

54 Siehe Seite 277. 55 Vgl. auch Seite 223 zu Num 21,11. 56 Dies gilt nicht für σ’ nach der Bezeugung durch die Syro-Hexapla. 57 In Num 27,12 wird zwar ‫ אל־הר העברים‬mit εἰς τὸ ὄρος τὸ ἐν τῷ πέραν übersetzt; da jedoch Num 33,47 Teil eines Itinerars ist, darf die Ortsbezeichnung an dieser Stelle nicht fehlen.

10.3 Texttyp

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279

Vers 48 καὶ παρενέβαλον ἐπὶ δυσμῶν Μωάβ / ‫ ויחנו בערבת מואב‬Wie schon in Num 22,1 wurde ‫ בערבת‬nicht von ‫„( ערבה‬Steppe“) abgeleitet, sondern offensichtlich von ‫„( ערב‬Abend“) und dadurch mit dem Sonnenuntergang (‫ )מערב‬und folglich mit der Himmelsrichtung „Westen“58 in Verbindung gebracht.59 ἐπὶ τοῦ Ἰορδάνου κατὰ Ἰεριχώ / ‫ על ירדן ירחו‬Die Ortsangabe „Jericho“ im Anschluss an die Angabe „am Jordan“ wird im gesamten griechischen Numeribuch durch die Präposition κατά präzisiert.60 Dadurch wird die im Ausgangstext implizit vorhandene Information, dass die Israeliten auf der Jericho „gegenüber“ liegenden Seite lagerten, dass also der Jordan noch nicht überschritten war, explizit gemacht.61

Vers 49 ἀνὰ μέσον Αἱσιμὼθ ἕως Βελσαττίμ / ‫מבית הישמת עד אבל השטים‬ Die Unterschiede zwischen dem griechischen Text und 𝔐 sind sicher in der hebräischen Vorlage begründet. Die Wiedergabe ἀνὰ μέσον wird in der Lesart ‫ בין‬anstelle von ‫ בית‬begründet sein. Statt ‫ אבל‬lautete die Vorlage wahrscheinlich ‫ בל‬oder ‫בעל‬. Schließlich fehlte in der Vorlage der Artikel vor ‫שטים‬, was auch in ⅏ der Fall ist.62

10.3 Texttyp Der Ausgangstext des Itinerars ist zweifellos dem informativen Texttyp zuzuordnen, er dient vorrangig der Vermittlung von Informationen. In der Aufzählung der Reisestationen, die nur gelegentlich durch kurze Schilderungen der an den Lagerplätzen stattgefundenen Begebenheiten unterbrochen wird, sind kaum Eigenschaften eines operativen oder expressiven Textes vorhanden. Da die Übersetzung ebenfalls ein Itinerar darstellt, ist zu erwarten, dass es sich auch hier um einen informativen Text handelt. Dabei fällt auf, dass das Charakteristikum, informativer Text zu sein, über den Ausgangstext hinaus betont wurde. Der Übersetzer hat sich bemüht, die im Text gebotenen Informationen

58 Gesenius, Meyer und Donner, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch, s.v. ‫מערב‬. 59 Vgl. Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 481. 60 Ebd., 481. 61 Vgl. ebd., 516. 62 Wevers, Notes on the Greek Text of Numbers, 565–566.

280 | 10 Numeri 33,1–49: Exakte Ortsangaben möglichst verständlich wiederzugeben und den Inhalt für die Leser transparent zu machen. Dieses Anliegen wird zunächst in den sprachlichen Vereinfachungen sichtbar, durch die der Text geglättet und damit deutlicher wird. So wird in der Einleitung des Itinerars (V.2) die im Ausgangstext verwendete erklärungsbedürftige Formulierung „ihre Aufbruchsorte entsprechend ihrer Lagerplätze“ durch den Ausdruck „ihre Aufbruchsorte und ihre Lagerplätze“ ersetzt. Entsprechend wird am Ende desselben Verses die spiegelbildliche hebräische Formulierung „ihre Lagerplätze entsprechend ihrer Aufbruchsorte“ durch den Ausdruck „Lagerplätze ihrer Reise“ ersetzt. Die ausnahmsweise Verwendung einer Hypotaxe in V.5 macht deutlich, dass durch die erwähnte Aufbruchsnotiz keine neue Etappe beschrieben wird, sondern die bereits in V.3 genannte. Hinzu kommen einige inhaltliche Verdeutlichungen, die dem Leser ein angemessenes Verständnis des Textes erleichtern sollen. So wird in V.4 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass vor dem Exodus nur die ägyptische Erstgeburt starb, während die israelitische verschont blieb. In V.8.9 steht die Auszugserzählung aus Ex 15 im Hintergrund; der Übersetzer hat sich im Wortlaut daran angelehnt und wohl auch eine entsprechende Textergänzung („am Wasser“) vorgenommen. Potenzielle Widersprüche zu anderen Texten, die das Verständnis des übersetzten Abschnitts erschweren könnten, sollten vermieden werden. Deshalb wird in V.36 eine zusätzliche Lagerstation eingeführt, um das Itinerar mit der in Num 13,27 vorausgesetzten Geographie zu harmonisieren. Der Übersetzer hatte offensichtlich das Anliegen, Verständnisschwierigkeiten zu vermeiden und die im Text gebotenen Informationen deutlich zu formulieren.

10.4 Äquivalenz Der Übersetzer hat den Text größtenteils wörtlich wiedergegeben und dabei Wortund Strukturäquivalenz erzeugt. Die griechische Syntax ist, von einer Ausnahme abgesehen, korrekt. Bei der Ausnahme handelt es sich um den unvollständigen Satz in V.40, der mit einer Partizipialkonstruktion beginnt, auf die kein Hauptsatz folgt. Diese fehlerhafte Struktur ist jedoch nicht auf das Anliegen des Übersetzers, Interlinearität zu erreichen, zurückzuführen, sondern wahrscheinlich auf eine Verlesung der Vorlage sowie die Nichtbeachtung des Kontextes. Dabei ist vorauszusetzen, dass die Form des Ausgangstextes genau abgebildet werden sollte. Das Ergebnis ist allerdings ein Einzelfall, der die ebenfalls vorhandenen Abweichungen von Wortlaut und Wortreihenfolge der Vorlage nicht kompensiert. Konkret zeigt sich Strukturäquivalenz beispielsweise in der Verwendung eines dativus temporalis zur Bezeichnung eines Zeitpunkts (V.3), bei der auf die Wiedergabe der

10.4 Äquivalenz

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Präposition ‫ ב‬durch ἐν verzichtet wurde, weil dadurch statt eines Zeitpunkts ein Zeitraum bezeichnet worden wäre. Über Strukturäquivalenz hinaus lassen sich einige Elemente von Stiläquivalenz feststellen. Beispielsweise wird der Ausdruck „Mund Jahwes“ in V.2.38 durch „Wort des Herrn“ bzw. „Befehl des Herrn“ wiedergegeben, da der anthropomorphe Ausdruck in der Zielsprache offensichtlich unnatürlich wirkte oder sogar unverständlich war. Einen Kontrast dazu bildet die wörtliche Wiedergabe des Ausdrucks „Hand Moses und Aarons“ in V.1. Die Ursache für die unterschiedliche Art der Wiedergabe wird nicht darin liegen, dass ein Anthropomorphismus mit Bezug auf Mose und Aaron akzeptabel war, mit Bezug auf Gott jedoch nicht. Denn in Num 11,23 wird fast ebenso unbefangen von der „Hand des Herrn“ gesprochen.63 Auch die Tatsache, dass in Num 12,8 Gott zu Mose „Mund zu Mund“ (στόμα κατὰ στόμα) spricht, zeigt, dass der Übersetzer grundsätzlich keine Vorbehalte hatte, vom „Mund Gottes“ zu sprechen. Stattdessen ist anzunehmen, dass die Verständlichkeit des Textes für den Übersetzer im Vordergrund stand. Wenn es inhaltlich um eine Anweisung Gottes ging, dann schien es dem Übersetzer angemessen, dies auch sprachlich klar auszudrücken. Weitere vermiedene Hebraismen sind der Ausdruck „Sohn von … Jahren“ (V.39) sowie Infinitivkonstruktionen mit der Präposition ἐν, hier werden stattdessen Nebensätze verwendet (V.39.40). In V.5 wird eine wayyiqtol-Form nicht wie sonst in diesem Abschnitt parataktisch, sondern durch ein Partizip wiedergegeben. Dies geschieht wahrscheinlich, um die Aussage als Wiederholung von V.3 markieren, wo die Lagerstation bereits genannt wurde. Gemessen an der Menge der parataktischen Wiedergaben bei den Aufbruchs- und Lagernotizen stellt das vereinzelte Partizip eine Ausnahmeerscheinung dar, denn grundsätzlich wird an einer wortgetreuen Wiedergabe, die die parataktischen Strukturen des Ausgangstextes nachbildet, festgehalten. Es lässt sich somit lediglich eine Tendenz In Richtung Stiläquivalenz postulieren. In V.48 wird durch die Einfügung der Präposition κατά in dem Ausdruck ἐπὶ τοῦ Ἰορδάνου κατὰ Ἰεριχώ eine im Ausgangstext implizit vorliegende Information explizit gemacht, ein Vorgehen, das bei größerer Häufigkeit in Richtung Textäquivalenz weisen könnte. Doch einerseits ist dies ein Einzelfall in diesem Abschnitt, zum anderen ist die Formulierung mit κατά eine Standardwiedergabe für ‫על ירדן‬ ‫ ירחו‬im gesamten Numeribuch, so dass dieses Phänomen hier nicht ins Gewicht fällt. Da auch Stiläquivalenz nicht vollständig, sondern lediglich tendenziell vorliegt, lässt sich auch keine Textäquivalenz postulieren.

63 Ein Unterschied liegt darin, dass die Metapher der „Länge“ der Hand zugunsten eines Ausdrucks mit dem Verb „genügen“ aufgelöst wird; vgl. Seite 157 zu Num 11,23.

282 | 10 Numeri 33,1–49: Exakte Ortsangaben Die Übersetzung weist demnach Wort- und Strukturäquivalenz auf und ist somit als wortgetreu einzustufen. Die angezeigten Elemente von Stiläquivalenz sind, gemessen an der Häufigkeit hebraistischer Wiedergaben, gering und rechtfertigen es noch nicht, von einer philologischen Übersetzung im Sinne der Skopostheorie zu sprechen. Allerdings lässt sich eine Tendenz in diese Richtung deutlich wahrnehmen.

10.5 Skopos Die Liste der Lagerstationen zwischen Ägypten und Moab wurde größtenteils in enger Anlehnung an den Wortlaut des Ausgangstextes übersetzt. Allerdings hatte der Übersetzer nicht nur das Ziel, die in der Vorlage enthaltenen Information wortgetreu wiederzugeben, es war ihm ebenso ein Anliegen, verständlich zu kommunizieren. Um dieses Ziel zu erreichen, hat er den Text gelegentlich sprachlich geglättet, allerdings ohne von dem Grundanliegen einer wörtlichen Übersetzung abzuweichen. Hinzu kommen einige inhaltliche Klarstellungen, die Missverständnisse vermeiden sollen. So wird in V.4 betont, dass es sich um die ägyptische Erstgeburt handelt, die starb, und nicht um die israelitische. Vor allem in V.8 und V.9 wird deutlich, dass dem Übersetzer und sicher auch seinen Lesern der Auszugsbericht des Exodusbuches bekannt war. Einige Formulierungen aus Ex 15 wurden übernommen, teilweise über die hebräische Vorlage von Num 33 hinaus. Da diese Formulierungen nicht wörtlich mit denen des griechischen Exodusbuches übereinstimmen, ist anzunehmen, dass der Übersetzer sie aus dem Gedächtnis zitiert hat. In diese Kategorie der inhaltlichen Verdeutlichungen fällt auch die Harmonisierung von V.36 mit der in Num 13,27 vorausgesetzten Geographie. All diese Eigenschaften der Übersetzung machen deutlich, dass dem Übersetzer nicht nur an formaler, sondern auch an inhaltlicher Genauigkeit gelegen war. Die Eigenschaft des Ausgangstextes, informativer Text zu sein, wurde in der Übersetzung verstärkt. Die Leser sollten die Informationen bekommen, die sie brauchten, um den Abschnitt in seinem gesamtbiblischen Kontext zu verstehen, ohne dass Missverständnisse das Verständnis behindern konnten. Zu nennen ist an dieser Stelle auch das Bemühen des Übersetzers, den Ausdruck „Mund des Herrn“ zu vermeiden (V.2.38). Die Ausführungen in Abschnitt 10.4 haben deutlich gemacht, dass es sich dabei weniger um ein theologisches als vielmehr um ein sprachlich-kulturelles Anliegen handelt. Der hebraisierende Ausdruck war in den hier vorliegenden Kontexten offensichtlich nicht akzeptabel, da er in der Zielkultur unverständlich war oder zumindest unnatürlich wirkte.

10.5 Skopos

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Der Übersetzer hatte das Ziel, den Inhalt seiner Vorlage möglichst genau wiederzugeben. Dabei kommt das Anliegen der Genauigkeit einerseits in der größtenteils wörtlichen Wiedergabe, andererseits in den gelegentlichen Anpassungen des Wortlauts zur Geltung, was auch Ergänzungen nach den Vorgaben des Exodusbuches beinhaltet. Der Übersetzer hatte offensichtlich ein pädagogisches Interesse, er wollte den Inhalt des Numeribuches verständlich und korrekt darstellen. Die anhand von Num 15, Num 21 und Num 24,3–9 angestellten Überlegungen weisen recht deutlich auf das Lehrgespräch in der Diasporasynagoge als „Sitz im Leben“ der Übersetzung hin.64 Die Analyse von Num 33,1–49 geht in dieselbe Richtung, wobei einzuräumen ist, dass die Hinweise nicht so deutlich sind wie bei den anderen genannten Texten. Dennoch sind die Teilergebnisse miteinander kompatibel, und die im Rahmen des vorliegenden Kapitels angestellte Beobachtung, dass dem Übersetzer an Exaktheit und Deutlichkeit gelegen war, kann die Vermutung des Lehrgesprächs zumindest stützen.

64 Vgl. die Abschnitte 7.5, 8.5 und 9.5.

11 Ergebnisse und Folgerungen In diesem abschließenden Kapitel werden zunächst solche Ergebnisse dargestellt, die unmittelbar aus der Anwendung der Skopostheorie resultieren. Dazu werden die Teilergebnisse für die betrachteten Textabschnitte zusammengefasst, um zu einer übersetzungswissenschaftlich fundierten Gesamtaussage über das griechische Numeribuch zu kommen (Abschnitt 11.1). Als Korollar aus diesen Ergebnissen wird die grundsätzliche Frage nach der Anwendbarkeit der Skopostheorie in der Septuagintaforschung thematisiert (11.1.4). Anschließend werden Folgerungen zur theologischen Tendenz des Übersetzers gezogen (11.2), bevor ein Ausblick (11.3) das Kapitel und damit die Studie abschließt.

11.1 Ergebnisse im Rahmen der Skopostheorie In der Skopostheorie sind die Begriffe „Texttyp“, „Äquivalenz“ und „Skopos“ zentral. Dabei ist eine wichtige Unterscheidung zu treffen, die methodische Folgen für die Auswertung hat: Die Begriffe „Äquivalenz“ und „Skopos“ beschreiben Eigenschaften einer Übersetzung, und zwar als Übersetzungshandlung. Mit anderen Worten: Es geht um eine Relation zwischen Ausgangs- und Zieltext. Im Gegensatz dazu charakterisiert der Begriff „Texttyp“ den Ausgangs- und den Zieltext an sich, und zwar unabhängig voneinander. Da die untersuchten Einzeltexte eine repräsentative Auswahl innerhalb des Numeribuches darstellen,1 können die in den Kapiteln 3 bis 10 ermittelten Skopoi zu einem Gesamt-Skopos zusammengefasst werden, durch dessen Formulierung der Zweck der Übersetzung deutlich wird. Entsprechendes gilt für die bei der Übersetzung implementierten Äquivalenzebenen. Diese wurden für die Einzeltexte bestimmt und werden nun zu einer Aussage über die im gesamten Numeribuch vorliegenden Arten von Äquivalenz zusammengefasst. Diese Gesamtaussagen bezüglich Skopos und Äquivalenz können nur dann sinnvoll sein, wenn die Ergebnisse für die Einzeltexte nicht zu sehr voneinander abweichen. Denn wenn beispielsweise für einen der betrachteten Texte eine Interlinearübersetzung und für einen anderen eine kommunikative Übersetzung vorliegt, dann lassen sich diese Teilergebnisse nicht überzeugend zu einem Gesamtbild verbinden. Die Abschnitte 11.1.2 und 11.1.3 zeigen jedoch, dass sie Einzelergebnisse konsistent sind.

1 Vgl. Abschnitt 2.2.3.

11.1 Ergebnisse im Rahmen der Skopostheorie

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Bei der Auswertung des Texttyps muss dagegen anders verfahren werden, da dieser Begriff, wie oben dargelegt, nicht die Übersetzungshandlung, sondern den Ausgangs- bzw. den Zieltext charakterisiert. Um die Übersetzung zu beschreiben, muss die Veränderung des Texttyps beim Vergleich von Ausgangs- und Zieltext betrachtet werden. Hier kann nun schwerlich der Anspruch erhoben werden, für den kompletten Ausgangs- und den kompletten Zieltext, also für jeweils das gesamte hebräische und griechische Numeribuch, den Texttyp zu bestimmen. Denn dafür müsste tatsächlich jeder einzelne Text des Buches untersucht werden, und zwar sowohl auf der Ebene des Ausgangs- als auch auf der des Zieltextes. Sowohl für den hebräischen als auch für den griechischen Text müsste man die Aussagen über den Texttyp der Einzelabschnitte zu einer Charakterisierung des gesamten Textes zusammenfassen, um anschließend den Texttyp des hebräischen Numeribuches mit dem des griechischen vergleichen zu können. Der Texttyps des hebräischen und des griechischen Numeribuches als Ganzes wäre in jedem Fall ein Mischtyp, da die Einzeltexte sehr unterschiedlich sind und da bereits einigen dieser Texte kein eindeutiger Texttyp zugeordnet werden konnte. Um eine aussagekräftige Einschätzung zu erhalten, bietet es sich daher an, die Einzeltexte direkt in den Blick zu nehmen. Bei deren Untersuchung wurde bereits eine vergleichende Auswertung vorgenommen, und zwar wurde der Texttyp eines jeden griechischen Abschnitts mit dem Texttyp des entsprechenden hebräischen Abschnitts verglichen. Die beobachtete Änderung des Texttyps ließ Rückschlüsse auf die Intention des Übersetzers und damit auf den Skopos zu, bezogen auf den Einzeltext. In Abschnitt 11.1.1 werden nun diese Texttyp-Änderungen der Einzeltexte zueinander in Beziehung gesetzt, was auf der Ebene des Gesamttextes einen Beitrag zum Gesamtbild leisten wird.

11.1.1 Texttyp Die Änderung des Texttyps in den untersuchten Abschnitten ist in Tabelle 11.1 dargestellt. In der Gesamtschau wird eine Tendenz deutlich, die bei der Übersetzung offensichtlich mitbestimmend war. Diese Tendenz besteht darin, dass sowohl informative als auch operative Elemente der Einzeltexte verstärkt wurden. Dies ist im Folgenden zu belegen. Dass die Informationsvermittlung einen Schwerpunkt der Übersetzung darstellt, wird durch die folgenden Beobachtungen an den Einzeltexten, die hier nur knapp wiederholt werden sollen, deutlich:2

2 Vgl. die Abschnitte 5.3, 8.3 und 10.3.

286 | 11 Ergebnisse und Folgerungen Tab. 11.1. Veränderung des Texttyps. Der bei Ausgangs- bzw. Zieltext ggf. zuerst genannte Texttyp ist der prominentere, die Zeichen + und - markieren Verstärkung bzw. Abschwächung. Text

Texttyp Ausgangstext

Texttyp Zieltext

1,20–47 6,22–27 10,33–36 11,1–35 15,1–41 21,1–35 24,3–9 33,1–49

informativ expressiv, operativ (Rahmen) expressiv, informativ (Einleitung) informativ, operativ operativ informativ, expressiv, operativ expressiv, informativ informativ

informativ expressiv (-), operativ (+) expressiv (-), informativ (+) informativ, operativ (+) informativ (situativer Kontext), operativ informativ (+), expressiv (-), operativ expressiv (-), informativ informativ (+)







In Num 10,33–36 hat der Übersetzer durch eine Textumstellung die Kohärenz des vorrangig expressiven Textes verstärkt. Der inhaltliche Schwerpunkt des Textes liegt jetzt auf der Wolke, die Bundeslade dagegen hat einen weniger hohen Stellenwert als im Ausgangstext. Diejenigen Abschnitte von Num 21,1–35, die dem expressiven Texttyp zuzurechnen sind, enthalten in der Übersetzung eine zusätzliche informative Komponente. Durch die Wortwahl und durch die Auflösung von Metonymie hat der Übersetzer mögliche Missverständnisse vermieden, der Text sollte historisch plausibel werden. Schließlich wurde der Text von Num 33,1–49 sprachlich und inhaltlich verdeutlicht, letzteres vor allem durch intertextuelle Bezüge zu Ex 15 und Num 13.

Darüber hinaus hat sich der Übersetzer durch die folgenden Veränderungen in Richtung auf den operativen Texttyp bemüht, Einfluss auf Verhalten und Einstellung der Rezipienten zu nehmen:3 – In Num 6,22–27 hat der schon im Ausgangstext vorliegende operative Texttyp eine Verstärkung erfahren. Dies geschah zum einen durch die wahrscheinlich vom Übersetzer vorgenommene Textumstellung, die den Schwerpunkt des Textes auf die Anweisungen an die Priester und auf die Segenszusicherung setzt. Andererseits werden die Leser auch durch die explizite Aussage motiviert, dass es Gott selbst ist, der den Segen bewirkt. – In Num 11,1–35 wird die moralische Bewertung der Israeliten durch eine dezidierte Wortwahl explizit gemacht. Intertextuelle Bezüge zu anderen Pentateuchtexten (Gen 19; Ex 32; Lev 10) dienen als Warnungen an die Leser.

3 Vgl. die Abschnitte 4.3, 6.3 und 7.3.

11.1 Ergebnisse im Rahmen der Skopostheorie



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Der Abschnitt Num 15,1–41 hat durch eine veränderte Rezipientensituation einerseits etwas von seiner Eigenschaft, operativer Text zu sein, verloren. Die Opfervorschriften, die in der Diaspora nicht umgesetzt werden konnten, dienen in der Übersetzung vorrangig der Information über Vergangenes. Doch obwohl der Text jetzt eher informativ als operativ ist, lassen sich andererseits Elemente des operativen Texttyps finden, die auf den Übersetzer zurückgehen und die bei den Lesern eine Änderung des Verhaltens und der Einstellung bewirken sollen. Hierzu zählen die Aussage, dass auch versehentliche Übertretungen der Gebote als „Sünde“ zu charakterisieren sind, sowie die Bewertung von vorsätzlicher Sünde als „Überheblichkeit“.

Der expressive Texttyp hat in der Übersetzung eine Abschwächung erfahren.4 Das liegt vor allem daran, dass Poesie im Griechischen anders funktioniert als im Hebräischen. In der Übersetzung wurde kein griechisches Metrum implementiert, dazu hätte sich der Übersetzer wesentlich mehr vom Wortlaut und der Wortreihenfolge des Ausgangstextes entfernen müssen. Mit dem Metrum fehlt ein maßgebliches Charakteristikum griechischer Poesie.5 Grundsätzlich bleiben die Texte jedoch poetisch, da sprachliche Bilder auch in der Übersetzung Verwendung fanden. Der Verlust an Expressivität hat seine Ursache nicht unmittelbar in der Intention des Übersetzers, sondern zum einen in der Verschiedenheit von Ausgangsund Zielsprache, zum anderen in der grundsätzlichen Zurückhaltung des Übersetzers, von Wortlaut und -reihenfolge des Ausgangstextes stark abzuweichen. Die Tendenz des Übersetzers, informative und operative Textelemente zu verstärken, lässt auf zwei Anliegen schließen: Zum einen wollte der Übersetzer deutlich kommunizieren, potenzielle Missverständnisse vermeiden und die Ereignisse aus der Frühzeit Israels im Einklang mit den anderen heiligen Schriften darstellen. Zum anderen sollten die Leser vor den Fehlern der Wüstengenaration gewarnt und zu einem Tora-gemäßen Leben motiviert werden.

11.1.2 Äquivalenz Die in den untersuchten Abschnitten implementierten Äquivalenzebenen sind in Tabelle 11.2 dargestellt. Zunächst ist festzustellen, dass die Ergebnisse eine bemerkenswerte Konsistenz aufweisen. In allen untersuchten Texten wurden Wortund Strukturäquivalenz realisiert. Damit geht die Gesamtheit der Texte über ei-

4 Vgl. die Abschnitte 4.3, 5.3, 8.3 und 9.3. 5 Vgl. Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 316–320.

288 | 11 Ergebnisse und Folgerungen ne Interlinearübersetzung hinaus und bietet eine wortgetreue Übersetzung. Bei sechs der acht untersuchten Abschnitte sind zusätzlich Elemente von Stiläquivalenz feststellbar. Diese Elemente treten allerdings nur sporadisch auf. Keinesfalls lässt sich für diese Texte Stiläquivalenz in vollem Umfang postulieren. Die Übersetzung bleibt jeweils im Rahmen einer wortgetreuen Übersetzung, für die Wort- und Strukturäquivalenz konstituierend sind. Eine philologische Übersetzung liegt folglich nicht vor, es ist aber eine deutliche Tendenz in diese Richtung erkennbar. Tab. 11.2. Äquivalenzebenen und Art der Übersetzung Text 1,20–47 6,22–27 10,33–36 11,1–35 15,1–41 21,1–35 24,3–9 33,1–49

Wort× × × × × × × ×

Äquivalenz Struktur- Stil× × × × × × × ×

Text-

(×)

(×) (×) (×) (×) (×)

Übersetzung wortgetreu (philologisch) wortgetreu wortgetreu wortgetreu (philologisch) wortgetreu (philologisch) wortgetreu (philologisch) wortgetreu (philologisch) wortgetreu (philologisch)

Die beiden Texte, bei denen keine Stiläquivalenz feststellbar ist (Num 6,22–27 und Num 10,33–36), haben zwei Eigenschaften gemeinsam: Erstens handelt es sich um kurze Texte mit einer Länge von vier bis sieben Versen, und zweitens weisen die Abschnitte im Ausgangstext vorrangig Merkmale des expressiven Texttyps auf. Es stellt sich die Frage, ob der expressive Texttyp die Ursache für das Fehlen von Stiläquivalenz sein könnte. Dies ist jedoch zu bezweifeln. Denn auch in dem kurzen Abschnitt Num 24,3–9, der ebenfalls dem expressiven Texttyp zuzurechnen ist, sind ansatzweise Elemente von Stiläquivalenz zu finden. Es ist also davon auszugehen, dass sich eine Tendenz zu Stiläquivalenz eher in längeren als in kürzeren Abschnitten feststellen lässt. Kurze Abschnitte, in denen diese Tendenz nicht zu finden sind, sollten daher einen geringeren Einfluss auf die Gesamtbewertung haben. Denn auch bei den längeren untersuchten Abschnitten sind die dokumentierten Elemente von Stiläquivalenz nicht durchgängig feststellbar, es handelt sich vielmehr um ein lokales Phänomen, das in einem längeren Text stellenweise auftreten kann, dann aber wieder über einen Teilabschnitt hinweg fehlt.6

6 Vgl. die Abschnitte 3.4, 6.4, 7.4, 8.4 und 10.4.

11.1 Ergebnisse im Rahmen der Skopostheorie

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Es ist somit zu vermuten, dass auch in anderen längeren Abschnitten des griechischen Numeribuches eine Tendenz zu Stiläquivalenz feststellbar ist. Unter der Voraussetzung, dass die Auswahl der untersuchten Texte repräsentativ für das Numeribuch als Ganzes ist,7 lassen sich die Ergebnisse für die einzelnen Abschnitte zu einem Gesamtergebnis zusammenfassen: Beim griechischen Numeribuch liegen sehr wahrscheinlich durchgängig Wort- und Strukturäquivalenz vor, die lokal um Elemente von Stiläquivalenz ergänzt wurden. Damit handelt es sich um eine wortgetreue Übersetzung mit einer Tendenz zur philologischen Übersetzung. In dieser Art der Übersetzung zeigen sich zwei Prioritäten des Übersetzers: Einerseits fühlte er sich an den Wortlaut seiner hebräischen Vorlage gebunden, und zwar so stark, dass der hebraisierende Stil den griechischen Text dominierte. Andererseits war der Übersetzer der hellenistischen Kultur und somit auch einem griechischem Stilempfinden verpflichtet, was sich in der gelegentlichen Vermeidung hebraistischer Wiedergaben zugunsten von dezidiert griechischen Stilelementen niederschlug. Der Einschätzung, dass das Nebeneinander von „wörtlichen“ und „freien“ Wiedergaben auf Spontaneität und Intuition basiert,8 ist einerseits zuzustimmen. Offensichtlich war der Übersetzer des Numeribuches zwischen diesen beiden Polen hin- und hergerissen, beides stellte für ihn eine Priorität dar. Andererseits bedeutet das nicht, dass der Übersetzer planlos vorging, wie die im folgenden Abschnitt dargelegten Überlegungen zum Skopos zeigen werden.9 Aus dem bisher Gesagten ergibt sich eine wichtige Folgerung in Bezug auf das in der Einleitung dieser Studie genannte „Paradigma der Interlinearität“:10 Das griechische Numeribuch ist nicht als eine interlineare Übersetzung zu charakterisieren. Denn in allen untersuchten Texten wurde zusätzlich zu Wortäquivalenz auch Strukturäquivalenz implementiert, und es ist, wie oben begründet, anzunehmen, dass Strukturäquivalenz eine Eigenschaft der Übersetzung als Ganzes darstellt. Das Griechisch der Übersetzung ist, soweit es die hier betrachteten Texte betrifft, korrekt, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen. Bei diesen Ausnahmen handelt es sich um das regelmäßig verwendete καί apodoticum, das allerdings bei immerhin 36% der Konditionalperioden im Numeribuch vermieden wird,11 sowie um die unvollständige Satzkonstruktion in Num 33,40, die jedoch

7 Siehe Abschnitt 2.2.3. 8 Aejmelaeus, „Translation Technique and the Intention of the Translator“, 60. 9 Siehe Abschnitt 11.1.3. 10 Vgl. Abschnitt 1.1 sowie Pietersma, „A New Paradigm for Adressing Old Questions“. 11 Aejmelaeus, Parataxis in the Septuagint, 140.

290 | 11 Ergebnisse und Folgerungen höchstwahrscheinlich auf einer Verlesung der Vorlage unter Nichtbeachtung des Kontextes beruht und nicht auf der Intention, Interlinearität zu erzeugen.12 Diese Ausnahmeerscheinungen konstituieren selbstverständlich noch keine Interlinearübersetzung. Im Rahmen des „Interlinearitäts-Paradigmas“ wird für die Übersetzungen der Septuaginta eine „Dimension der Unverständlichkeit“ postuliert. An vielen Stellen des griechischen Textes sei es für die ersten Leser nötig gewesen, auf den hebräischen Ausgangstext zurückzugreifen.13 Zuzugeben ist, dass der hebräische Ausgangstext den Stil der Übersetzung unübersehbar geprägt hat. Hebraisierende Wiedergaben sind sowohl im Bereich der Wortwahl als auch der Wortstellung die Regel. Daraus folgt allerdings noch nicht, dass die Übersetzung zwangsläufig unverständlich und ohne den hebräischen Ausgangstext unbrauchbar sein musste. Denn die Wortstellung eines griechischen Satzes ist flexibel, da die Flexionsendungen bereits den strukturellen Zusammenhang der einzelnen Satzglieder untereinander festlegen.14 Trotz syntaktischer Korrektheit konnte die Übersetzung nach griechischem Stilempfinden unnatürlich, ja sogar fremd wirken, und von dieser Annahme ist sogar auszugehen. Doch auch diese Eigenschaft impliziert noch nicht, dass der griechische Text ohne den hebräischen Prätext nicht verwendet werden konnte, es spricht sogar einiges dafür, dass gerade dieser hebraisierende Stil für den Übersetzer und auch für die Leser einen hohen Stellenwert hatte. Dieser Stil konnte den jüdisch-hellenistischen Lesern vermitteln, dass es sich bei der Übersetzung um ein altehrwürdiges religiöses Dokument handelte, das zwar äußerlich in griechicher Sprache vorlag, von seinem Gehalt und von seinem Ursprung her jedoch durch und durch jüdisch war. Die syntaktischen und lexikalischen Hebraismen grenzten den Text von zeitgenössischen griechischen Texten ab. Man kann durchaus behaupten, dass der Übersetzer eine Art „Kirchensprache“ geschaffen hat, die von Angehörigen der eigenen sozialen Gruppe wertgeschätzt wurde.15 Statt einer „Dimension der Unverständlichkeit“ kann für das griechische Numeribuch vielmehr eine „Dimension der Fremdheit“ vorausgesetzt

12 Siehe Seite 277 zu Num 33,40. 13 Pietersma, „A New Paradigm for Adressing Old Questions“, 350–351. 14 Bornemann und Risch, Griechische Grammatik, § 144. 15 Jan Joosten, „Rhetorical Ornamentation in the Septuagint. The Case of Grammatical Variation“, in: Et sapienter et eloquenter. Studies on Rhetorical and Stylistic Features of the Septuagint, hrsg. von Eberhard Bons und Thomas J. Kraus, FRLANT 241, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011, 11–22, 14. Usener, „Die Septuaginta im Horizont des Hellenismus“, 87, weist darauf hin, dass auch ein „niedriges Sprach-Niveau bewusst gewählt und bewusst stilisiert sein kann.“

11.1 Ergebnisse im Rahmen der Skopostheorie

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werden, die bei den Rezipienten positiv konnotiert war.16 Die typisch verfremdende Sprache nicht nur des Numeribuches, sondern auch der meisten anderen Übersetzungen biblischer Schriften wurde stilbildend für neuere Literatur, die später in die als „Septuaginta“ bezeichnete Sammlung integriert wurde.17 Schließlich zeigt auch die über Strukturäquivalenz hinausgehende Tendenz zu Stiläquivalenz, dass eine Charakterisierung als „Interlinearübersetzung“ unangemessen ist. Der Übersetzer hat nicht nur Hebraismen verwendet, sondern er hat auch potenzielle Hebraismen vermieden. Gelegentlich wird das zweifellos vorhandene griechische Stilempfinden des Übersetzers deutlich. Dieser mutmaßliche Widerspruch zwischen der Verwendung von Hebraismen und ihrer Vermeidung, zwischen einer wortgetreuen Übersetzung und dem, was als erfolgloser Versuch angesehen werden könnte, Stiläquivalenz zu implementieren, illustriert eine Beobachtung, die bezüglich der Septuagintaschriften im allgemeinen geäußert wurde: In der Sprache der übersetzten Bücher zeige sich die Affinität des hellenistischen Diasporajudentums zu zwei völlig entgegengesetzten Welten. Einerseits habe man die eigene jüdische Kultur bewahren wollen, andererseits habe man die fremde hellenistische Leitkultur als anziehend empfunden und sich zu ihr hingezogen gefühlt.18 Die Analyse des griechischen Numeribuches mit dem methodischen Instrumentarium der Skopostheorie bestätigt diese Einschätzung.

11.1.3 Skopos Die Skopoi der untersuchten Texte werden überblicksartig in Tabelle 11.3 präsentiert.19 Sie werden nun zu einem Skopos für die Übersetzung als Ganzes zusammengefasst. Dabei ist zu bedenken, dass der Gesamtskopos retrospektiv aus den Daten erhoben wird, wie das bereits für die Skopoi der Einzeltexte geschah.20 Wei16 „Foreignizing“ als Übersetzungstechnik (im Gegensatz zu „Domesticating“) wird für heutige Übersetzungen gefordert von Lawrence Venuti, The Translator’s Invisibility: A History of Translation, 2. Aufl., London und New York: Routledge, 2008, 83–124; diese Forderung wird auf heutige Bibelübersetzungen ausgeweitet von Andy Cheung, „Foreignising Bible Translation. Retaining Foreing Origins when Rendering Scripture“, in: TynB 63 (2012), 257–273. 17 Rajak, Translation and Survival, 12, 153. Jan Joosten, „The Original Language and Historical Milieu of the Book of Judith“, in: Collected Studies on the Septuagint. From Language to Interpretation and Beyond, FAT 83, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012, 195–209, nimmt auch für das Juditbuch, bei dem mehrheitlich mit einer hebräischen Vorlage gerechnet wird, eine Komposition in griechischer Sprache an, die den etablierten Septuagintastil imitiert. 18 Rajak, Translation and Survival, 126. 19 Siehe dazu die Abschnitte 3.5, 4.5, 5.5, 6.5, 7.5, 8.5, 9.5 und 10.5. 20 Vgl. dazu Abschnitt 2.3.2.

292 | 11 Ergebnisse und Folgerungen ter ist davon auszugehen, dass der Übersetzer sicher nicht bei der Bearbeitung eines jeden Abschnitts über einen neuen Skopos reflektiert hat. Vielmehr muss ein Skopos für die gesamte Übersetzung des Numeribuches vorausgesetzt werden.21 Aus pragmatischen Gründen kann dieser Skopos im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur anhand einer Auswahl von Einzeltexten erhoben werden, wobei allerdings vorausgesetzt wird, dass diese Texte das Buch als Ganzes angemessen repräsentieren.22 Das bedeutet, dass die Einzel-Skopoi jeweils nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit, in diesem Fall des Gesamt-Skopos, darstellen. Der Skopos der Übersetzung als Ganzes ergibt sich also aus einer Gesamtschau der Einzel-Skopoi, die umso überzeugender sein wird, je konsistenter die Skopoi der Einzeltexte untereinander sind. Tab. 11.3. Skopoi der untersuchten Abschnitte Text

Skopos

1,20–47 6,22–27

Aktualisierende Information über den Zensus Aufforderung zur Umsetzung der Aaronitischen Segensformel in die kultische Praxis und zum Vertrauen auf Gottes Wirken Kohärente und verdeutlichende Darstellung des Aufbruchs vom Sinai Warnende Information über die Episoden des „Murrens“ in der Wüste Aktualisierende Information über die Opfervorschriften mit dem Schwerpunkt auf Toraobservanz Historisch exakte und verdeutlichende Darstellung der Wüstenwanderung Formal-genaue und dennoch verständliche Wiedergabe des Bileamspruchs Historisch exakte und verständliche Information über die Lagerstationen

10,33–36 11,1–35 15,1–41 21,1–35 24,3–9 33,1–49

Bei der Betrachtung der einzelnen Skopoi in Tabelle 11.3 fällt zunächst auf, dass der Übersetzer offensichtlich ein Interesse daran hatte, einerseits exakt zu kommunizieren, andererseits den Text verständlich wiederzugeben und in die Lebenswelt der Leser hinein zu aktualisieren. Man kann durchaus von einem historisierenden Interesse sprechen, das sich vor allem darin zeigt, dass die Ereignisse der Wüstenzeit so dargestellt werden, wie sie nach Meinung des Übersetzers stattgefunden haben. Um diesem Verständnis gerecht zu werden, hat sich der Übersetzer bemüht, potenzielle Missverständnisse und Widerspüche zu anderen Texten zu vermeiden, und zwar vor allem durch sinngemäße oder erläuternde Ergänzungen sowie durch harmonisierende Änderungen des Wortlauts. Die intertextuellen

21 Vgl. Abschnitt 2.1.5.2. 22 Vgl. Abschnitt 2.2.

11.1 Ergebnisse im Rahmen der Skopostheorie

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Bezüge, vor allem zum Exodusbuch, liefern dazu den theologischen Denkrahmen. Auf der anderen Seite hat der Übersetzer den Text für die Lebenswirklichkeit der Leser aktualisiert, und zwar durch die Verwendung fachspezifischer Ausdrücke, vor allem aber durch spezielle Akzentuierungen, die den Zweck haben, das Verhalten der Leser zu beeinflussen. Der Text des griechichen Numeribuches spricht in die Lebenssituation der Rezipienten hinein, leitet sie zu Tora-gemäßem Verhalten an und warnt sie davor, die Fehler der Wüstengeneration zu wiederholen. Die Skopoi der untersuchten Texte sind untereinander konsistent und lassen sich zu einem kohärenten Ganzen zusammenfassen. Folglich ist die im 19. Jahrhundert von Zacharias Frankel geäußerte These, das griechische Numeribuch sei von mehreren Übersetzern abgefasst worden,23 unter dem Blickwinkel der modernen Übersetzungswissenschaft sehr unwahrscheinlich. Der Skopos der Übersetzung liegt somit in einem Spannungsfeld zwischen Historisierung und Aktualisierung, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Ideal und Wirklichkeit. Das zeigte sich bereits ansatzweise in den Überlegungen zum Texttyp der einzelnen Abschnitte.24 Die Tatsache, dass sowohl informative als auch operative Elemente der Ausgangstexte in der Übersetzung verstärkt wurden, dass also sowohl die Inhaltsvermittlung als auch die Einflussnahme auf das Verhalten der Rezipienten im Vordergrund stehen, entspricht dem Interesse des Übersetzers sowohl an Historisierung als auch an Aktualisierung. Auch in den Äquivalenzebenen, die der Übersetzer implementiert hat,25 zeigen sich die beiden Pole, zwischen denen sich der Skopos bewegt. Der Übersetzer war einerseits an den Wortlaut des Ausgangstextes gebunden, andererseits war er nicht frei von griechischem Stilempfinden. Der hebraisierende Stil spiegelt das Anliegen der Historisierung wider. Das griechische Numeribuch blieb für seine Leser ein fremder Text aus einer anderen Kultur. Der Übersetzer hatte nicht den Anspruch, Fremdheit zu vermeiden, im Gegenteil, es ist anzunehmen, dass die Fremdheit der Übersetzung gewollt war.26 Da das Numeribuch Begebenheiten einer früheren Epoche schildert, war eine archaisierende Sprache für die Übersetzung durchaus angemessen. Es war nicht nötig, die Leser durch einen dezidiert griechischen Stil für das Buch und seinen Inhalt

23 Frankel, Über den Einfluss der palästinischen Exegese, 168. 24 Vgl. Abschnitt 11.1.1. 25 Vgl. Abschnitt 11.1.2. 26 Gegen die Annahme, eine literalistische Übersetzung beruhe auf der Nichtbeachtung des Kontextes, betont bereits Barr, The Typology of Literalism, 22–23, dass schon für die korrekte Kasusverwendung der Kontext beachtet werden müsse, es sei vielmehr die freie Wahl des Übersetzers, die zu literalistischen Wiedergaben führe.

294 | 11 Ergebnisse und Folgerungen zu gewinnen, wie das etwa bei den Antiquitates Judaicae des Josephus zu beobachten ist,27 vielmehr konnte der Übersetzer eine gewisse Wertschätzung des Numeribuches wie auch der anderen Schriften des Pentateuch voraussetzen. Andererseits zeigt sich in der Tendenz zu Stiläquivalenz das Anliegen der Aktualisierung. Obwohl es sich um einen alten Text handelte, war die Übersetzung für die Rezipienten aktuell und in ihrer Lebenssituation relevant. Das Ziel des Übersetzers bestand nicht etwa darin, eine Abgrenzung der jüdischen Leser von der hellenistischen Kultur zu propagieren. Es ging vielmehr darum, als Juden in der hellenistischen Kultur zu leben, und zwar mit Bindung an die Tora. Der Lebenskontext der Rezipienten hatte zur Folge, dass der Übersetzer sich gewisse Freiheiten nahm, die bei einer rein wortgetreuen Übersetzung nicht möglich gewesen wären. Diese Freiheiten in der sprachlichen Gestaltung verdeutlichten nicht nur den Informationsgehalt des Textes, sondern verstärkten auch seinen ethischen Anspruch. Die Leser sollten den alten Text als heilige Schrift für ihre Zeit und für ihre Lebenswelt wahrnehmen, wobei dem ethischem Anspruch dieser heiligen Schrift zu folgen war.28 Der Text des griechischen Numeribuches gibt deutliche Hinweise darauf, dass die Übersetzung in der Diaspora erstellt wurde. Die Wiedergabe von ‫ משפחה‬durch den Fachterminus δῆμος lässt auf eine Entstehung in Alexandria schließen, da dort die soziologische Einheit der φυλή existierte, die jeweils in δῆμοι als Untereinheiten untergliedert war.29 In dieselbe Richtung weist auch die Verwendung von geprägtem Fachvokabular zur Bezeichnung israelitischer Amtsträger, nämlich von πρεσβύτερος und γραμματεύς.30 Der griechische Text von Num 11 scheint geradezu die Verwaltungsstrukturen eines jüdischen Politeuma in einer hellenistischen Metropole widerzuspiegeln.31 Bereits für das 3. Jh. v. Chr. ist die Existenz von Synagogengebäuden in Alexandria belegt.32 Diese Gebäude wurden zwar προσευχή genannt, doch bezeichnet dieses Wort höchstwahrscheinlich keine von der συναγωγή abzugrenzende „Gebetsstätte“.33 Der Hauptzweck dieser Gebäude war in hellenistischer Zeit nicht die

27 Vgl. z. B. Conybeare und Stock, Grammar of Septuagint Greek, 21. 28 Zur Frage, wie sich die Einschätzung des Textes als heilige Schrift zu den Änderungen am Wortlaut verhält, siehe Abschnitt 11.2.3. 29 Vgl. Seite 86 zu Num 1,20. 30 Vgl. Seite 152 zu Num 11,16. 31 Siehe Abschnitt 6.5 zum Skopos von Num 11. 32 Carsten Claußen, Versammlung, Gemeinde, Synagoge. Das hellenistisch-jüdische Umfeld der frühchristlichen Gemeinden, StUNT 27, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002, 90–93. 33 Claußen, Versammlung, Gemeinde, Synagoge, 114–120; ebenso Rajak, Translation and Survival, 98; siehe auch Schürer, The History of the Jewish People 2, 444–445.

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Anbetung Gottes, sondern die Unterweisung im Gesetz,34 die Funktion einer Gebetsstätte übernahmen die Synagogengebäude erst nach der Zerstörung des zweiten Tempels.35 In diesen Rahmen fügen sich die bisherigen Überlegungen zum Skopos des griechischen Numeribuches nahtlos ein. Die Kombination aus historisierendem Interesse und Aktualisierung für die Alltagswirklichkeit lässt es naheliegend erscheinen, als „Sitz im Leben“ der Übersetzung den religiösen Unterricht anzunehmen. Die Gesetzesunterweisung in den Synagogen wird gerade in einer bildungspolitisch herausragenden Weltstadt wie Alexandria36 einen hohen Stellenwert gehabt haben. Fragen, die sich aus dem Studium der heiligen Schriften ergaben, mussten sich glaubwürdig beantworten lassen. Angesichts der zeitgenössischen Religionen und Philosphien war die jüdische Gemeinde herausgefordert, die eigene Religion als mindestens ebenbürtig, wenn nicht sogar als überlegen darzustellen.37 Das griechische Numeribuch erfüllte diese Funktion vor allem durch drei Eigenschaften: Erstens hat der Übersetzer durch harmonisierende Einfügungen, Umstellungen und Zusätze dafür gesorgt, dass der Text eine gegenüber dem hebräischen Ausgangstext verstärkte Kohärenz aufwies. Ein jüdischer Text durfte in einem soziokulturellen Kontext, in dem Bildung eine Voraussetzung für Glaubwürdigkeit war, keine Widersprüche aufweisen. Zweitens wurde in der griechischen Fassung die ethische Komponente des Ausgangstextes verstärkt, unter anderem dadurch, dass die moralische Bewertung der Wüstengeneration deutlicher ausfiel. In einem multikulturellen und multireligiösen Kontext war die Frage, wie ein guter Lebenswandel zu führen sei, von hohem Interesse.38 Von daher ist es nicht verwunderlich, dass der Übersetzer zu ethischen Themen deutlich Stellung bezog. Drittens wirkte das griechische Numeribuch identitätsstiftend und identitätswahrend, indem es durch seine archaisierende Sprache jüdische Religion als Fremdkörper im hellenistischen Umfeld darstellte. Im Lehrgespräch in den Synagogen von Alexandria werden Fragen der jüdischen Identität und der zu praktizierenden Ethik verhandelt worden sein, was durchaus die Belehrung von Proselyten einschließen konnte. Mit Hilfe des grie-

34 Schürer, The History of the Jewish People 2, 424–425. 35 Mendels und Edrei, Zweierlei Diaspora, 52–53. 36 Vgl. hierzu Siegfried Kreuzer, „Entstehung und Publikation der Septuaginta im Horizont frühptolemäischer Bildungs- und Kulturpolitik“, in: Im Brennpunkt: Die Septuaginta, Bd. 2, hrsg. von Siegfried Kreuzer und Jürgen P. Lesch, BWANT 161, Stuttgart: Kohlhammer, 2004, 61–75. 37 Dieses Anliegen zeigt sich auch in der ausführlichen Darstellung des Symposions im Aristeasbrief (§ 184–300), bei dem die jüdischen Übersetzer dem hellenistischen Herrscher ihre Weisheit und Bildung präsentieren. 38 Vgl. wieder das im Aristeasbrief geschilderte Symposion und die dort verhandelten Fragen; siehe z. B. § 203–220.

296 | 11 Ergebnisse und Folgerungen chischen Numeribuches wurden Antworten auf die Herausforderungen des Hellenismus gesucht. Die Wüstengeneration kann dabei als positives wie auch als negatives Vorbild gedient haben. Über die synagogale Verwendung hinaus ist denkbar, dass die Übersetzung auch bei der religiösen Unterweisung im Rahmen der Familie Verwendung fand.39 Im Rahmen des bereits mehrfach erwähnten „Interlinearitäts-Paradigmas“ wurde vermutet, dass die Septuaginta-Übersetzungen in den hellenistisch-jüdischen Schulen als Hilfswerkzeug zum Studium des hebräischen Textes dienten.40 Die hier dargestellten Überlegungen lassen es plausibler erscheinen, dass die griechischen Texte ohne Rückgriff auf den jeweiligen hebräischen Ausgangstext studiert wurden. Für das Numeribuch ergibt sich diese Folgerung vor allem aus dem historisierenden und aktualisierenden Anliegen der Übersetzung. Hinzu kommt die Tatsache, dass eine Charakterisierung des griechischen Numeribuches als Interlinearübersetzung aus übersetzungswissenschaftlicher Sicht unzutreffend ist.41 Allerdings ist dem „Paradigma der Interlinearität“ zugute zu halten, dass es den Blick auf das Bildungswesen als möglichen „Sitz im Leben“ der Übersetzungen lenkt.42 Auch im Rahmen des „Schriftgelehrten-Modells“43 werden die SeptuagintaÜbersetzungen im religiösen Bildungswesen verortet. Hier wird vermutet, die Übersetzer seien Schriftgelehrte gewesen, die die Texte aufgrund ihres näheren und weiteren Kontextes interpretierten und ins Griechische übertrugen.44 Die vorliegende Studie führt zu ähnlichen Ergebnissen, diese enthalten allerdings einen stärkeren Bezug zur Lebenswelt der Rezipienten als das „SchriftgelehrtenModell“. Dass bei der Übersetzung des Numeribuches eine gelehrte Interpretation des Textes im Vordergrund stand, kann als sicher gelten. Diese Interpretation diente jedoch nicht nur dazu, Licht ins Dunkel intellektuell-theologischer Probleme zu bringen,45 sondern es sollte vor allem die Umsetzung der Texte in die Lebenswelt der Leser ermöglicht und gefördert werden.

39 Eine Verwendung der Tora zur Unterweisung der Familie wird schon im Pentateuch selbst gefordert (z. B. Dtn 6,6–9.20–25; 31,10–13); siehe dazu Kreuzer, „Entstehung und Publikation der Septuaginta“, 67. 40 Pietersma, „A New Paradigm for Adressing Old Questions“, 359; vgl. auch hier Abschnitt 1.1. 41 Siehe Abschnitt 11.1.2. 42 Vgl. Rajak, Translation and Survival, 143–145. 43 Siehe die Ausführungen in Abschnitt 1.1. 44 van der Kooij, „Zur Frage der Exegese im LXX-Psalter“, 375, nennt sogar den Begriff „Schule“, setzt ihn aber in Anführungszeichen, da er auf das „schriftgelehrte Milieu“ referiert. 45 Ein Beispiel wäre die Frage, warum die im Exodusbuch prominente Manifestation Gottes als „Engel“ im Numeribuch nicht mehr auftritt; siehe Seite 116 zu Num 10,33 sowie Abschnitt 5.5.

11.1 Ergebnisse im Rahmen der Skopostheorie

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11.1.4 Zur Anwendung der Skopostheorie in der Septuagintaforschung In diesem Abschnitt soll festgehalten werden, inwieweit sich die Skopostheorie zur Untersuchung von Septuagintatexten anwenden lässt. Zunächst ist festzustellen, dass bei der Analyse des Numeribuches tatsächlich ein Skopos herausgearbeitet werden konnte. Aufgrund von externen Quellen (z. B. Cicero, Prolog des Sirachbuches) ist davon auszugehen, dass antiken Übersetzungen ein Zweck zugrunde lag. Dieser Zweck lässt sich retrospektiv aus den Eigenschaften von Ausgangs- und Zieltext erschließen, die wissenschaftstheoretische Grundlage für dieses Vorgehen ist das vor allem durch die Arbeiten von Charles S. Peirce bekannt gewordene Abduktionsverfahren.46 Im Rahmen dieser Arbeit wurden acht Texte unterschiedlicher Gattung und Länge auf einen möglichen Skopos hin untersucht. Die Ergebnisse für die Einzeltexte sind untereinander konsistent und lassen sich plausibel zu einem Skopos zusammenfassen, der Aufschluss über den anzunehmenden „Sitz im Leben“ der Übersetzung gibt. Die Betrachtung des Texttyps ermöglicht eine Differenzierung nach Eigenschaften, die den Texten inhärent sind. Dabei scheint die Beschränkung auf drei Typen zunächst ein Nachteil gegenüber der üblichen Gattungsforschung zu sein. Denn die meisten der betrachteten Abschnitte weisen im Ausgangstext die Eigenschaften mehrerer Texttypen auf, und tatsächlich ist die hier verwendete Texttypologie als zu vereinfachend kritisiert worden.47 Die Stärke dieses Ansatzes zeigt sich allerdings dann, wenn man den Texttyp des Ausgangstextes mit dem der Übersetzung vergleicht. Während davon auszugehen ist, dass sich in der Regel die Gattung eines Textes durch die Übersetzung nicht ändert, lassen sich durch eine vergleichende Betrachtung des Texttyps von Ausgangs- und Zieltext spezielle Eigenheiten der Übersetzung herausarbeiten, die Rückschlüsse auf den Skopos zulassen. Das gilt auch dann, wenn der Texttyp eines Abschnitts nicht eindeutig festgelegt werden kann. Entscheidend ist die Veränderung des Texttyps bei der Übersetzung, was bei einem Mischtyp die Möglichkeit beinhaltet, dass einzelne Komponenten hinzukommen oder wegfallen. Vorsicht ist allerdings geboten, wenn eine Veränderung des Texttyps in der Übersetzung nicht unmittelbar auf den Übersetzer zurückzuführen ist. Wenn etwa bei poetischen Texten die poetischen Mittel der Zielsprache nicht angewandt wurden, dann ist beim Texttyp der Übersetzung mit einer Abschwächung der expressiven Komponente zu rechnen. Bei der Wiedergabe von Num 6,22–27 und von Num 10,33–36 etwa hat der Übersetzer keinen

46 Vgl. Abschnitt 2.3.2. 47 Nikula, „Der Einfluss der Textlinguistik auf Kontrastive Linguistik und Übersetzungswissenschaft“, 845.

298 | 11 Ergebnisse und Folgerungen metrischen Rythmus implementiert, stattdessen wurde der Parallelismus membrorum des Ausgangstextes nachgeahmt. Folglich ist der Texttyp der Übersetzung weniger expressiv als der des Ausgangstextes. Dies ist allerdings nicht direkt auf den Übersetzer zurückzuführen, sondern nur indirekt. Die Ursache für den Verlust von „Expressivität“ liegt in dem Grundanliegen einer wörtlichen Übersetzung in Kombination mit der Verschiedenheit von Ausgangs- und Zielsprache.48 Damit vergleichbar ist die Abschwächung der operativen Komponente im Texttyp von Num 15,1–41. Hier ist die veränderte Rezipientensituation die Ursache, da ein Text über Opfervorschriften in einer tempellosen Diasporasituation nicht unmittelbar angewandt werden konnte.49 Dennoch ist der Vergleich des Texttyps von Ausgangs- und Zieltext in den meisten Fällen ein angemessenes Mittel, um Rückschlüsse auf den Skopos zu ziehen. Ein weiteres Charakteristikum der Skopostheorie ist die Präzisierung des Äquivalenzbegriffs, die für eine terminologische Klärung sorgt. Durch die Definition von vier Äquivalenzebenen, die ihrerseits vier Übersetzungstypen konstituieren, wird die oft vorausgesetzte Dichotomie zwischen „wörtlichem“ und „freiem“ Übersetzen aufgelöst. Für das griechische Numeribuch führt das zu der Einschätzung, dass Wort- und Strukturäquivalenz realisiert wurden und dass die Übersetzung darüber hinaus eine Tendenz zu Stiläquivalenz enthält. Das wiederum impliziert, dass es sich um eine wortgetreue Übersetzung mit einer Tendenz zur philologischen Übersetzung handelt.50 Die in der Forschungsliteratur geäußerte Einschätzung, die Übersetzung sei „relativ formerhaltend“ in syntaktischer Hinsicht und „relativ frei“ in lexikalischer Hinsicht,51 die auf einem dichotomischen Modell beruht und die schon durch ihre unscharfe Formulierung veranschaulicht, dass ein solches Modell unzureichend ist, konnte somit präzisiert werden. Bereits 1979 hatte James Barr vorgeschlagen, den Begriff „literalness“ weiter zu fassen, als das bis dahin üblich war. Die Eigenschaft der „Wörtlichkeit“ einer Übersetzung werde auf verschiedenen sprachlichen Ebenen realisiert.52 Somit könne eine Übersetzung gleichzeitig wörtlich und frei sein, wenn „literalness“ auf

48 Vgl. Abschnitt 4.3. 49 Siehe Abschnitt 7.3. 50 Zur Terminologie vgl. Abschnitt 2.3.1. 51 Voitila, „The Translator of the Greek Numbers“, 120–121; Dorival, Les Nombres, 64–65. 52 Barr, The Typology of Literalism, 20, nennt sechs Ebenen: „1. The division into elements or segments […]. 2. The quantitative addition or subtraction of elements. 3. Consistency or nonconsistency in the rendering […]. 4. Accuracy and level of semantic information […]. 5. Coded »etymological« indication of formal/semantic relationships […]. 6. Level of text and level of analysis.“ Vgl. auch Abschnitt 2.1.5.1 in dieser Arbeit.

11.1 Ergebnisse im Rahmen der Skopostheorie

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einigen dieser Ebenen vorhanden sei, auf anderen dagegen nicht.53 Dieses Modell enthält wichtige Beobachtungen, doch ist anzumerken, dass „Wörtlichkeit“ hier kein graduelles Konzept darstellt. Es ist in diesem Rahmen also nicht möglich, eine Übersetzung im Vergleich zu einer anderen als „wörtlicher“ oder „freier“ zu bezeichnen. Solch eine vergleichende Bewertung ist dagegen in der Skopostheorie möglich. Die vier dort definierten Übersetzungstypen bauen aufeinander auf, wobei der jeweils nächste weniger „wörtliche“ Übersetzungstyp durch die Realisierung einer weiteren Äquivalenzebene erreicht wird. Allerdings ist fraglich, ob diese abgestufte Einteilung in vier Typen der komplexen Realität tatsächlich gerecht wird. Schließlich handelt es sich bei der Skopostheorie um ein präskriptives Modell, das hier entgegen seiner ursprünglichen Bestimmung zur Beschreibung antiker Übersetzungen verwendet wird. Eine mögliche Schwäche des verwendeten Äquivalenzbegriffs zeigt sich daran, dass die Übersetzung des Numeribuches keinem der vier Übersetzungstypen entspricht. Sie liegt vielmehr zwischen einer wortgetreuen und einer philologischen Übersetzung, da Wort- und Strukturäquivalenz vorhanden sind, Stiläquivalenz jedoch nur ansatzweise. Die vier Übersetzungstypen sind folglich eher als diskrete Punkte eines Kontinuums zu betrachten, wobei in der Realität der Septuagintaschriften Zwischenstufen zu erwarten sind. Nachdem nun die zentralen Begriffe der Skopostheorie bezüglich ihrer Verwendbarkeit in der Septuagintaforschung ausgewertet sind, ist umgekehrt zu fragen, wie Aktualisierungen, Harmonisierungen und intertextuelle Bezüge im Rahmen der Skopostheorie beschrieben werden können. Unter Aktualisierung versteht man Bemühungen der Übersetzer, Details eines Textes für die Rezipienten zu modernisieren oder mit Elementen ihrer Lebenswelt zu identifizieren.54 Es erscheint plausibel, dass solche Nuancierungen einen Einfluss auf den Texttyp der Übersetzung haben können. Denn durch eine Aktualisierung wird der Text im Lebensumfeld der Leser verortet, sie werden sich direkter mit den Protagonisten identifizieren können und den Inhalt des Textes eher auf sich wirken lassen. Das könnte sich derart auf den Texttyp der Übersetzung auswirken, dass seine operative Komponente verstärkt wirkt, was aber nicht zwingend geschehen muss. Im Rahmen der vier Äquivalenzebenen dagegen lassen sich Aktualisierungen wahrscheinlich nicht methodisch fassen. Man könnte zwar versuchen, Übersetzungsphänomene, die Einfluss auf das Verhalten und die Einstellungen

53 Ebd., 49. 54 Siehe z. B. Martin Rösel, „Die graphe gewinnt Kontur. Die Stellung der Septuaginta in der Theologiegeschichte des Alten Testaments“, in: ThLZ 135 (2010), 639–652, 649. Ein Beispiel ist die Wiedergabe von ‫ משפחה‬mit φυλή in Num 1,20; vgl. Seite 86.

300 | 11 Ergebnisse und Folgerungen der Rezipienten nehmen, in Richtung Textäquivalenz zu deuten. Textäquivalenz wird jedoch nur dann erreicht, wenn die Übersetzung denselben kommunikativen Effekt bei den Lesern erzielt wie der Ausgangstext bei den ursprünglichen Rezipienten. Daher ist das Phänomen der Aktualisierung in diesem Rahmen nur schwer greifbar. Anders sieht es dagegen beim Skopos aus, da die mögliche Veränderung des Texttyps, auch wenn sie nur aus der Verstärkung des operativen Anteils besteht, Rückschlüsse auf den Skopos zulässt. Mit dem Begriff Harmonisierung bezeichnet man solche Änderungen, die einen Text an den Wortlaut oder den Inhalt einer anderen Textstelle angleichen. Dabei kann es sich um Harmonisierungen innerhalb des Kontextes, innerhalb des Buches oder über Buchgrenzen hinweg handeln.55 Auch hier ist zu vermuten, dass sich die Harmonisierung eines zu übersetzenden Textes mit einem anderen Text auf den Texttyp auswirken wird. Während es bei dem Phänomen der Aktualisierung die operative Komponente des Texttyps ist, die möglicherweise eine Verstärkung erfahren wird, handelt es sich hier um den informativen Anteil. Harmonisierungen können auf verschiedenen sprachlichen Ebenen stattfinden.56 Einerseits war es möglich, dass lediglich der Wortlaut oder die Syntax an die Formulierung eines anderen Textes angeglichen wurde, ohne dass sich ein inhaltlicher Unterschied ergab. Auf der anderen Seite wurden Texte miteinander harmonisiert, um einen realen oder vermeintlichen Widerspruch zwischen den Texten aufzulösen.57 Je eher eine Harmonisierung den Zweck hat, einen theologischen Widerspruch zu beseitigen, desto plausibler erscheint es, dass dadurch die informative Komponente des Texttyps in der Übersetzung eine Verstärkung im Vergleich zum Ausgangstext erfährt. Der Übersetzer hatte in diesem Fall das Anliegen, den Text inhaltlich präzise wiederzugeben, ohne dass das Verständnis der Leser durch potenzielle Missverständnisse gefährdet war. Ganz entsprechend zum Phänomen der Aktualisierung lassen sich auch Harmonisierungen eher auf der Ebene des Texttyps und des Skopos erfassen und weniger durch die Betrachtung der Äquivalenzebenen. Intertextuelle Bezüge, die im Numeribuch ebenfalls zu finden sind, lassen sich bei der Betrachtung des Texttyps und der Äquivalenzebenen in der Regel nicht auswerten. Intertextualität ist ein komplexes Phänomen, das vor allem mit

55 Tov, „The Nature and Background of Harmonizations“, 4–6. Das Phänomen tritt bereits innerhebräisch auf, ist also unabhängig von der Problematik einer Übersetzung. 56 Ebd., 6–10, bietet eine mögliche Kategorisierung. 57 Ein Beispiel ist die Einfügung einer zusätzlichen Lagerstation im griechischen Text von Num 33,36 (siehe Seite 275). Auch die Lesart „am sechsten Tag“ in Gen 2,2 (⅏, LXX) ist hier zu nennen.

11.1 Ergebnisse im Rahmen der Skopostheorie

| 301

literaturwissenschaftlichen Methoden untersucht wird.58 Bei der Untersuchung von Septuagintatexten wird es zwar festgestellt,59 bisher aber noch nicht systematisch ausgewertet. Die vielfältigen theologischen Bezüge, die durch intertextuelle Anspielungen eines Septuagintatextes auf andere Texte realisiert werden,60 lassen sich wahrscheinlich nur direkt in die Ermittlung des Skopos integrieren, ohne dass ein Einfluss auf die Äquivalenzebenen oder auf die Veränderung des Texttyps wahrnehmbar wäre. Schließlich ist das Phänomen der Umstellung ganzer Sätze zu nennen, das im griechischen Numeribuch an drei Stellen beobachtet werden konnte.61 Ähnlich wie bei Aktualisierungen und Harmonisierungen ist ein Einfluss auf den Texttyp der Übersetzung zu erwarten, beispielsweise durch die Verstärkung von Kohärenz, nicht jedoch auf die Äquivalenzebenen. Wie bei Intertextualität werden durch solche Umstellungen textliche Bezüge hergestellt, die über den Inhalt des Ausgangstextes hinausreichen können. Sofern es tatsächlich der Übersetzer war, der die Umstellung vorgenommen hat, ist mit einer speziellen Aussageabsicht zu rechnen, die sich in der Ermittlung des Skopos niederschlagen wird. Es sollte deutlich geworden sein, dass sich manche der Phänomene, die bei der Untersuchung von Septuagintatexten beobachtet werden, nicht durch eine Untersuchung des Texttyps und der Äquivalenzebenen beschreiben lassen, sondern unter dem Begriff des Skopos subsumiert werden müssen. Hierzu gehören auch bestimmte theologische Nuancierungen, die möglicherweise nur lokal in einer speziellen Wortwahl in Erscheinung treten, die aber in ihrer Gesamtheitheit eine theologische Tendenz des Übersetzers beschreiben. Im folgenden Abschnitt (11.2) werden solche impliziten theologischen Aussagen des griechischen Numeribuches, die bereits im Rahmen der Einzeluntersuchungen im Blick waren, in Form einer Synthese zusammengestellt. Auch wenn sich manche Nuancen der Übersetzung einer Auswertung auf der Grundlage von Texttyp und Äquivalenz entziehen, so ist doch festzuhalten, dass die Skopostheorie ein angemessenes Werkzeug zur Untersuchung von Septuagintatexten darstellt, von dessen konsequenter Anwendung plausible Ergebnisse zu erwarten sind. Es ist zu hoffen, dass in der Septuagintaforschung zukünftig verstärkt von dieser Theorie Gebrauch gemacht wird. Ein lohnendes Unternehmen wäre eine parallele Untersuchung einer Septuaginta-Übersetzung mit Hilfe des

58 Eine kompakte Einführung bietet Seiler, „Intertextualität“. 59 Z. B. Dorival, „Les phénomènes d’intertextualité“. 60 Vgl. Seiler, „Intertextualität“, 288–291. 61 Es wurde plausibel gemacht, dass diese Umstellungen auf die Intention des Übersetzers zurückgehen; siehe Seite 90 zu Num 1,36–37, Seite 104 zu Num 6,24 sowie Seite 113 zu Num 10,33–36.

302 | 11 Ergebnisse und Folgerungen Äquivalenzbegriffs der Skopostheorie und der von James Barr definierten Ebenen von „literalness“.62 Arbeiten zum Pentateuch, die die einzelnen Bücher unter dem Blickwinkel der modernen Übersetzungswissenschaft untersuchen, waren bisher nicht vorhanden. Die vorliegende Studie schließt nicht etwa diese Lücke, sondern versteht sich als Ausgangspunkt für weiterführende Forschungen.

11.2 Zur theologischen Tendenz des Übersetzers Nachdem die Septuagintafassung des Numeribuches unter übersetzungswissenschaftlichem Blickwinkel untersucht und der Skopos der Übersetzung herausgearbeitet wurde, soll im Folgenden die Frage nach der theologischen Tendenz des Übersetzers gestellt werden. Dabei ergeben sich die im Folgenden betrachteten Themen aus den in Kapitel 3 bis 10 untersuchten Texten. Die im Verlauf dieses Abschnitts zusammengetragenen theologischen Aussagen verstehen sich als Beitrag zu einer „Theologie der Septuaginta“, wobei die in Abschnitt 2.4 genannten methodischen Voraussetzungen und Einschränkungen zu bedenken sind. Die Revisionen bieten kaum eigene theologische Akzente. Soweit für die betrachteten Texte überhaupt rezensionelle Lesarten vorliegen, ist insgesamt eine starke Abhängigkeit vom protomasoretischen Text feststellbar. Diese zeigt sich vor allem im Verzicht auf die theologischen Akzente der (mutmaßlich) ursprünglichen Septuaginta. Dennoch sind einige theologisch interessante Lesarten vorhanden, auf die an gegebener Stelle verwiesen wird.63

11.2.1 Gott und Kult Gott erscheint im griechischen Numeribuch tendenziell stärker als Beschützer und Helfer seines Volkes Israel. Das zeigt sich beispielsweise darin, dass die Wolke, die die Israeliten auf ihrem Zug durch die Wüste schützend begleitet, gegenüber der Bundeslade hervorgehoben wird (Num 10,33–36).64 Da die Bundeslade thematisch zurückgestellt wird, erscheint der Gott Israels weniger kriegerisch als im hebräischen Text. Gleichzeitig wird die Präsenz der Wolke als „überschat62 Vgl. Barr, The Typology of Literalism, 20. 63 Auf der anderen Seite lässt sich nicht jede originelle Lesart theologisch auswerten. So betont die Wortwahl der Lesart von α’ in Num 11,11, dass es die von den Israeliten begehrte Nahrung ist, die Mose zur „Last“ wird (vgl. Seite 147); dies ist jedoch eher als Wortspiel denn als theologische Aussage zu deuten. 64 Vgl. Seite 122.

11.2 Zur theologischen Tendenz des Übersetzers

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tend“ (σκιάζω) charakterisiert, diese Formulierung hat wie schon in Ex 40,35 die Beschreibung der Wolke als über den Israeliten „wohnend“ (‫ )שכן‬ersetzt. Der Aspekt des schützenden Schattens wird bei der Beschreibung des Eschatons im dritten Bileamorakel aufgenommen, wo die zukünftigen „Wohnorte“ Israels, die dem Paradiesgarten der Schöpfung gleichen, mit Schatten spendenden Tälern verglichen werden (Num 24,6).65 Zu Num 11,31 existiert eine interessante Lesart (5. Jh.), durch die Gottes souveränes Wirken stärker herausgestellt wird. Im Gegensatz zur ursprünglichen Übersetzung wird dort nicht ausgesagt, dass der von Gott ausgehende Wind die Wachteln zum Lager der Israeliten trägt, sondern der Wind (πνεῦμα) geht von Gott aus, und die Vögel bewegen sich (selbstständig) zum Lager. Man könnte hier im Kontext einer christlichen Interpretation an den Heiligen Geist denken, durch dessen Wirken das Wunder geschieht, das ja als ganz außergewöhnlich beschrieben wird (Num 11,21–23).66 Die Numeri-Septuaginta betont die Aussage, dass Gott sein Volk segnet. Wenn die Priester die Segensworte sprechen, dann ist es Gott selbst, der dadurch wirkt (Num 6,23–24).67 Gott begegnet den Menschen im Kult, daraus ergibt sich eine Wertschätzung des Kultpersonals.68 So wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Leviten nicht mit den übrigen Stämmen zusammen gemustert wurden (Num 1,47),69 ihre gesonderte Zählung in Num 3–4 ergibt sich aus ihrer besonderen Stellung.70 Der Opferbegriff ist im griechischen Numeribuch verallgemeinert, die Wortwahl κάρπωμα (Num 15,3), die auch im Exodus- und im Levitikusbuch auftritt, hat eine agrarische Konnotation. Sie impliziert, dass Gott auch in einer tempellosen Diasporasituation angemessen verehrt werden kann.71 Im ursprünglichen Septuagintatext wird die Wichtigkeit des Opfers unterstrichen, die Darbringung der in Num 15,1–16 beschriebenen Opfer ist dort obligatorisch.72 Dagegen stellt

65 Vgl. Seite 249. 66 Vgl. Seite 162 zu Num 11,31. 67 Vgl. Seite 104 zu Num 6,24. 68 Aus rezeptionsorientierter Perspektive ist auf eine durch Itazismus entstandene Lesart von Num 15,24 in christlichen Handschriften hinzuweisen, die möglicherweise die Sühnung von Sünde eher durch die priesterliche Handlung als durch die Opferdarbringung der Gemeinde begründet; siehe dazu die Fußnote auf Seite 191. 69 Vgl. Seite 97. 70 Eine besondere Wertschätzung von Priestern und Leviten stellt aufgrund anderer Stellen auch Rösel, „Die Septuaginta und der Kult“, 31–33, fest. 71 Vgl. Seite 172. 72 Zur Frage der Satzstruktur siehe Seite 172.

304 | 11 Ergebnisse und Folgerungen es der Text einiger griechischer Manuskripte den Israeliten grundsätzlich frei, die beschriebenen Opfer darzubringen, doch für den Fall, dass sie es tun, werden die begleitenden Speis- und Trankopfer verbindlich vorgeschrieben. Zu der Ernsthaftigkeit, mit der im ursprünglichen Septuagintatext das Opfer gefordert wird, passt die terminologische Akzentuierung, dass das Erstlingsopfer für Gott nicht nur „abgehoben“ (ἀφαιρέω), sondern „ausgesondert“ (ἀφορίζω) wird (Num 15,19.20).73 Auch wenn nicht klar ist, wie sich der Übersetzer diese „Aussonderung“ konkret vorstellte, so wird doch eine besondere Wertschätzung des Kultes auch im tempellosen Kontext deutlich. Einige implizite Aussagen über Gott sind noch zu nennen: Zunächst ist festzustellen, dass die Abwertung des moabitischen Gottes Kemosch in Num 21,29 dem jüdischen Monotheismus zur Zeit des Hellenismus entspricht. Im griechischen Text ist die Deutung, dass der moabitische Landesgott sein Volk in die Gefangenschaft führt, gegenüber dem hebräischen Text deutlich erschwert. Offenbar wollte der Übersetzer ihm diese Macht nicht zugestehen.74 Weiter wird im griechischen Numeribuch Wert darauf gelegt, dass der Gott Israels nicht Bileams Gott ist (Num 24,4). Die Bezeichnung als „sein Gott“ wird dem heidnischen Seher verwehrt.75 An anderen Stellen des Buches wird die Benennung κύριος, die die regelmäßige Wiedergabe des Tetragramms darstellt, im Zusammenhang mit Bileam vermieden.76 Eine Vermeidung des Tetragramms erfolgt auch dann, wenn Gott als strafend und den Menschen abgewandt beschrieben wird wie in Num 15,30.77 Die Behauptung, die Septuaginta zeige „eine deutlich transzendentere Vorstellung von Gott als die hebräische Bibel“,78 kann für das griechische Numeribuch nur teilweise bestätigt werden. Denn die zahlreichen Anthropomorphismen und Anthropopathismen, die sich anführen ließen, um diese These zu untermauern,79 sind höchstwahrscheinlich nicht theologisch, sondern sprachlich moti-

73 Vgl. Seite 185. 74 Vgl. Seite 235. Diese Tendenz der Abwertung fremder Gottheiten findet sich auch im griechischen Psalter; siehe dazu Bons, „Die Rede von Gott in den Psalmen LXX“, 188–189. 75 Vgl. Seite 247. 76 Rösel, „Die Septuaginta und der Kult“, 38–39. Auf der anderen Seite wird Bileam als jemand beschrieben, der „wahrhaft sieht“; vgl. Seite 246. Zur Änderung des Bildes von Bileam in der Rezeption vgl. Martin Rösel, „Wie einer vom Propheten zum Verführer wird. Tradition und Rezeption der Bileamgestalt“, in: Bib 80 (1999), 506–524. 77 Vgl. Seite 195. Letzteres ist eine generelle Tendenz in den Pentateuch-Übersetzungen; siehe Rösel, „Theo-Logie der griechischen Bibel“, 60. 78 Ebd., 59. 79 Z. B. Dorival, Les Nombres, 156–157.

11.2 Zur theologischen Tendenz des Übersetzers

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viert.80 Darüber hinaus erfolgte die Vermeidung von Anthropomorphismen nicht konsequent. Der Übersetzer hat sich beispielsweise nicht gescheut, im Zusammenhang mit Gott ‫ פנה‬mit πρόσωπον wiederzugeben (Num 6,26.27).81 Auf der anderen Seite lassen sich Stellen wie Num 23,19 anführen, hier etwa wird der Satz ‫ לא איש אל‬mit οὐχ ὡς ἄνθρωπος ὁ θεός übersetzt, wodurch die Unvergleichbarkeit Gottes betont wird.82 Die Frage der Anthropomorphismen im griechischen Numeribuch muss vorerst offen bleiben, doch kann festgehalten werden, dass ein transzendenteres oder gar „spiritualisiertes“ Gottesbild83 sicher nicht der theologischen Tendenz des Übersetzers entsprach.

11.2.2 Mensch und Sünde Das Bild vom Menschen, das sich in der Übersetzung zeigt, bezieht sich auf das Volk Israel und kann als ambivalent bezeichnet werden. Einerseits wird Israel als Gottesvolk wertgeschätzt, andererseits wird das Fehlverhalten der Israeliten betont. Die Wertschätzung zeigt sich darin, dass das Volk Israel als Einheit dargestellt wird. Die Aufteilung in verschiedene Stämme ist zwar vom hebräischen Text her vorgegeben (Num 1; 26), dennoch wird in der Übersetzung der Aspekt der Einheit betont (Num 1,45.52; 2,9.16.24.31; 33,1).84 Das Konzept von Israel als Volk, dessen Einheit aus der Berufung durch Gott resultiert, wird in der Diaspora identitätsstiftend gewesen sein. In dieses Gottesvolk können auch Proselyten eingeschlossen sein, wenn sie sich dem νόμος unterstellen (Num 9,3.12.14; 15,15).85 Geleitet wird das Volk Israel von Menschen, die im Anschluss an Ex 18,13–27 mit einer besonderen juristischen Kompetenz ausgestattet sind und die ihre Autorität auf die Autorität des Mose zurückführen können (Num 11,14.16.17).86 Auf der anderen Seite wird auch das Gottesvolk eindeutig als „böse“ charakterisiert (Num 11,1–3.11.17). Die Unzufriedenheit der Wüstengeneration wird mit der Sünde der Städte Sodom und Gomorrha (Gen 19,24), mit der Überheblichkeit der Söhne Aarons (Lev 10,1–7) und mit der Herstellung des „goldenen Kalbs“

80 Siehe z. B. Seite 132 zu Num 11,1. 81 Vgl. auch Num 16,46; 17,9 sowie die Wiedergaben von ‫ פה‬mit στόμα (12,8), ‫ קול‬mit φωνή (7,89; 14,22), ‫ עין‬mit ὀφθαλμός (14,14), ‫ אזן‬mit οὖς (14,28) und ‫ יד‬mit χείρ (11,23; 14,30). 82 Rösel, „Die Septuaginta und der Kult“, 37. 83 So Fritsch, The Anti-Anthropomorphisms, 9. 84 Vgl. Seite 95 zu Num 1,45 und Seite 266 zu Num 33,1. 85 Vgl. Seite 183 zu Num 15,15 sowie Rösel, „Nomothesie“, 137. 86 Vgl. die Ausführungen auf Seite 149, 152 und 153; zur Wertschätzung des Mose in der NumeriSeptuaginta siehe auch Rösel, „Die Septuaginta und der Kult“, 34–35.

306 | 11 Ergebnisse und Folgerungen (Ex 32,22) verglichen.87 Die negative Bewertung dieser Unzufriedenheit hat der Übersetzer verstärkt. Die „Begierde“ wird durch die Wortwahl als verwerflich markiert (Num 11,4), dagegen wird der „angenehme Geschmack“ des von den Israeliten abgelehnten Manna betont (Num 11,8).88 In Ägypten war es nach Ansicht der Israeliten nicht nur „gut“, sondern „schön“ (Num 11,18).89 Sie unterstellen Mose, er wolle sie in der Wüste töten (Num 16,3; 20,4; 21,5).90 Selbst die Klage des Mose über sein Volk ist unangemessen, wie der Übersetzer durch einen intertextuellen Bezug zu Ex 5,15–23 klarstellt (Num 11,11).91 Bei solch einem Befund ist es nicht verwunderlich, dass für den Übersetzer das Gericht der 40 Jahre währenden Wüstenwanderung schon im Blick ist, bevor es explizit im Text erwähnt wird (Num 11,14).92 Überhaupt wird in der Übersetzung Wert darauf gelegt, dass nicht nur das Übertreten von Verboten, sondern auch das Nicht-Einhalten von Geboten als „Sünde“ zu charakterisieren ist (Num 15,22).93 Eine willentliche Gebotsübertretung wird als „Überheblichkeit“ qualifiziert (Num 15,30).94 Ausgedrückt wird dadurch die absolute Autorität des νόμος, dessen Befolgung gerade in der Diaspora als Identitätsmerkmal gelten kann.

11.2.3 Heilige Schrift Als Abschluss der theologischen Auswertung soll nach dem Schriftverständnis des Übersetzers gefragt werden. Lässt die Übersetzung des Numeribuches Rückschlüsse darüber zu, wie der Übersetzer das Konzept „Heilige Schrift“ verstand? Hier ist zunächst auf die zahlreichen harmonisierenden Wiedergaben hinzuweisen. Einige Beispiele mögen genügen: Die Zensusliste in Num 1,20–43 wird nach dem Vorbild der Stammeslisten im Genesisbuch umsortiert.95 Durch eine spezielle Wortwahl in Num 10,33 wird zumindest angedeutet, dass die im Exodusbuch erwähnte Manifestation Gottes als ἄγγελος im Numeribuch in Form der

87 Vgl. Abschnitt 6.2.1 zu Num 11,1–3 sowie Seite 147 zu Num 11,11. 88 Vgl. Seite 137 zu Num 11,4 und Seite 142 zu Num 11,8. 89 Vgl. Seite 154. 90 Vgl. Seite 218 zu Num 21,5. 91 Vgl. Seite 146. 92 Vgl. Seite 148. 93 Vgl. Seite 189. 94 Vgl. Seite 194. 95 Vgl. Seite 90 zu Num 1,36–37.

11.2 Zur theologischen Tendenz des Übersetzers

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Bundeslade in Erscheinung tritt.96 Dadurch sollte offensichtlich ausgedrückt werden, dass zwischen den ersten Büchern des Pentateuch und dem Numeribuch eine Kontinuität besteht. Die im Genesis- und im Exodusbuch begonnenen Themen werden also kohärent weitergeführt. In diesem Sinne sind auch die harmonisierenden Ergänzungen in Num 33 zu verstehen. Im Einklang mit der Darstellung des Exodusbuches wird in Num 33,4 betont, dass nur die Erstgeborenen der Ägypter starben, während die Israeliten verschont blieben, und in Num 33,9 wird ergänzt, dass die Israeliten in Elim „am Wasser“ lagerten.97 Darüber hinaus finden sich geographische und sachliche Klarstellungen. So wird das Itinerar von Num 33 an die in Num 12,27 vorausgesetzte Geographie angeglichen (Num 33,36), und es wird deutlich gemacht, dass es die Amoräer waren, die den im Itinerar von Num 21 genannten Brunnen gegraben hatten (Num 21,18).98 Schließlich ist noch eine inhaltliche Korrektur der jüdischen Revisionen zu erwähnen, die einen Widerspruch zwischen einer prophetischen Schau „im Schlaf“ und „aufgedeckten Augen“ wahrnahm und stattdessen die Formulierung der „versperrten Augen“ verwendete (Num 24,4).99 Es erscheint offensichtlich, dass diese harmonisierenden Wiedergaben ein theologisches Ziel verfolgten. Dem Übersetzer lag daran, Spannungen des zu übersetzenden Textes mit anderen Texten aufzulösen. Die dahinter stehende theologische Aussage war, dass die Schrift eine Einheit bildete und daher widerspruchsfrei sein musste.100 Es stellt sich die Frage, wie solche weitreichenden Eingriffe in den Wortlaut theologisch gerechtfertigt werden konnten. Schließlich handelt es sich beim Numeribuch um einen Text, der wie die anderen Schriften des Pentateuch als heilig angesehen wurde. Zu bedenken ist auch, dass der Wortlaut des Textes nicht nur durch die hier beschriebenen Harmonisierungen verändert wurde, sondern auch durch Aktualisierungen und durch intertextuelle Bezüge, bei denen das Anliegen der Harmonisierung nicht im Vordergrund stand. Letztlich muss generell bei einem heiligen Text gefragt werden, wie „frei“ eine Übersetzung sein darf, und bekanntlich verfolgten spätere Revisionen gerade das Anliegen, den griechischen Text an den Wortlaut des damaligen hebräischen Standardtextes anzugleichen. Offensichtlich waren die genannten Phänomene für die ersten Übersetzer der Septuagintaschriften akzeptabel. Ein als heilig bezeichneter Text, der widerspruchsfrei und kohärent war, hatte mehr Überzeugungskraft als ein Text, der Spannun-

96 Vgl. Seite 116. 97 Vgl. Seite 269 zu Num 33,4 und Seite 273 zu Num 33,9. 98 Vgl. Seite 275 zu Num 33,36 und Seite 227 zu Num 21,18. 99 Vgl. Seite 247. 100 Vgl. Joosten, „Une théologie de la Septante?“, 44–46.

308 | 11 Ergebnisse und Folgerungen gen zu anderen autoritativen Texten enthielt.101 Im Fall des Numeribuches ist ferner zu bedenken, dass es sich bei den Eingriffen des Übersetzers um Details handelte, die den grundsätzlichen theologischen Inhalt des Buches nicht veränderten. Es ist davon auszugehen, dass der Übersetzer nicht das Anliegen hatte, eigene theologische Ansichten in den Text einzutragen. Stattdessen ist anzunehmen, dass er den Inhalt des hebräischen Textes, so wie er ihn verstand, ins Griechische übertragen wollte.102 Dabei war er nicht nur dem heiligen Text, sondern auch den Lesern verpflichtet, und zwar in dem Sinne, dass er ihr Verständnis des Textes fördern und sie zu einem Leben entsprechend seinen inhaltlichen Vorgaben anleiten wollte. Die Charakterisierung eines Textes als „heilig“ durch eine Rezipientengemeinschaft musste sich also bei der Übersetzung nicht notwendigerweise in einer Bewahrung des ursprünglichen Wortlauts niederschlagen. Schließlich ist die komplementäre Eigenschaft der Übersetzung zu betrachten, nämlich die „Wörtlichkeit“. Es stellt sich die Frage, ob die weitgehend wörtliche Übersetzung in einem theologischen Anliegen begründet sein könnte. So wurde etwa behauptet, die wortgenaue Wiedergabe konstituiere eine „Theologie des Wortes“, da die inspirierten Schriften so treu wie möglich ins Griechische übersetzt werden sollten.103 Dass eine sehr wörtliche Art der Übersetzung auf Ehrfurcht vor dem Wortlaut der inspirierten Schrift beruhen kann, ist durchaus eine naheliegende und ansprechende Vermutung. Für das Numeribuch ist allerdings Folgendes einzuwenden: Die übersetzungswissenschaftliche Untersuchung hat gezeigt, dass es sich zwar um eine grundsätzlich wortgetreue Übersetzung handelt, dass aber gleichzeitig eine Tendenz zu Stiläquivalenz vorliegt. Bei aller formaler Genauigkeit fühlte sich der Übersetzer auch griechischem Stilempfinden verpflichtet.104 Die Eigenschaft der „Wörtlichkeit“ lässt sich daher nicht mit der Autorität des zu übersetzenden Textes begründen. Vielmehr bietet sich eine andere theologische Auswertung an, die auf dem übersetzungswissenschaftlichen Begriff der „Fremdheit“ eines Textes beruht.105 Auf die Rezipienten des griechischen Numeribuches mussten die Hebraismen, die im Rahmen der wörtlichen Wiedergabe entstanden waren, unnatürlich, ja, fremd wirken. Beim Lesen und Hören wurde deutlich, dass es sich um einen Text aus einer anderen Zeit und einer an-

101 Vgl. Rösel, „Die graphe gewinnt Kontur“, 649. 102 Joosten, „Une théologie de la Septante?“, 41–42; vgl. auch die Diskussion in Abschnitt 2.4.2. 103 Joosten, „Une théologie de la Septante?“, 43–44; vgl. auch als exemplarischen Beleg Jan Joosten, „Exegesis in the Septuagint Version of Hosea“, in: Collected Studies on the Septuagint. From Language to Interpretation and Beyond, FAT 83, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012, 123–145. 104 Siehe Abschnitt 11.1.2. 105 Der Begriff wurde im Anschluss an Schleiermacher in die moderne Übersetzungswissenschaft eingeführt von Venuti, The Translator’s Invisibility, 15.

11.3 Ausblick

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deren Kultur handelte. Das griechische Numeribuch war kein hellenistisches, sondern ein dezidiert jüdisches Werk, das inmitten der Fülle hellenistischer Literatur einen Fremdkörper darstellte. Diese Fremdheit ließ sich in der Diasporagemeinde identitätsstiftend kultivieren.106 Die Leser wurden daran erinnert, dass sie in ihrer hellenistischen Umgebung Fremde waren, ähnlich wie die im Numeribuch beschriebenen Israeliten in der Wüste. Wie jene waren sie aufgerufen, in ihrer Situation im Vertrauen auf Gott als sein Volk zu leben.

11.3 Ausblick Die vorliegende Studie hat anhand des griechischen Numeribuches gezeigt, dass es möglich und sinnvoll ist, eine moderne übersetzungswissenschaftliche Theorie auf ein Buch der Septuaginta anzuwenden. Die Skopostheorie hat in ihrer retrospektiven Anwendung plausible Ergebnisse geliefert, aus denen sich Rückschlüsse auf den „Sitz im Leben“ der Übersetzung ziehen lassen. Eine Anwendung der Skopostheorie auf weitere Septuagintaschriften, vorzugsweise solche des Pentateuch, ist daher wünschenswert. Dabei bietet es sich an, die Theorie zu ergänzen, insbesondere in Bezug auf den Äquivalenzbegriff, so dass auch solche Aspekte von „Wörtlichkeit“ ausgewertet werden können, die in der ursprünglichen Theorie nicht erfasst sind.107 Über die übersetzungswissenschaftliche Auswertung hinaus wurde auch eine theologische Tendenz des Numeri-Übersetzers ermittelt. Die Ergebnisse wurden zwar nicht direkt mit Hilfe der Skopostheorie ermittelt, doch bildete die übersetzungswissenschaftliche Analyse die Grundlage für die theologische Auswertung. Dabei wurden auch alternative Lesarten der griechischen Textüberlieferung ausgewertet, diese ergaben jedoch aufgrund der geringen Datenmenge nur wenig aufschlussreiche Resultate. Die Ergebnisse dieser Arbeit machen es wahrscheinlich, dass die Pentateuchübersetzungen in der „kanonischen“ Reihenfolge entstanden.108 Denn die hier dargestellten intertextuellen Bezüge machen eine zeitliche Priorität der Übersetzungen von Genesis, Exodus und Levitikus vor der des Numeribuches wahrscheinlich. Allerdings besteht ein methodisches Desiderat der Forschung darin, bei einem mutmaßlichen Vorliegen von Intertextualität festzustellen, welches

106 Vgl. Abschnitt 11.1.3. 107 Siehe Abschnitt 11.1.4. 108 Das setzen auch Rösel und Schlund, „Arithmoi“, 436, voraus.

310 | 11 Ergebnisse und Folgerungen der Prätext und welches der Folgetext ist.109 Zu fragen ist also jeweils, ob nicht vielleicht eine andere Leserichtung vorausgesetzt werden muss. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die Verwendung des Äquivalents μονόκερως als Wiedergabe von ‫ ראם‬in Num 23,22; 24,8 sowie in Dtn 33,17 darauf schließen lässt, dass das Numeribuch wohl vor dem Deuteronomium übersetzt wurde.110 Dies ist zugegebenermaßen eine Einzelbeobachtung, die durch weitere ähnliche Belege ergänzt werden sollte.111 Dennoch zeichnet sich eine Priorität der Übersetzungen von Genesis, Exodus und Levitikus vor der Numeri-Übersetzung und gleichzeitig eine Priorität des griechichen Numeribuches vor der Übersetzung des Deuteronomiums ab, was der neueren These, die Übersetzung von Levitikus setze die des Deuteronomiums voraus,112 entgegensteht. Mit dem genannten methodischen Vorbehalt bleibt am Schluss dieser Arbeit der Hinweis, dass die relative Chronologie der Pentateuchübersetzungen nach wie vor einer gründlichen Erforschung bedarf.

109 Seiler, „Intertextualität“, 278. 110 Siehe Seite 257 zu Num 24,8. 111 Zur grundsätzlichen Problematik siehe Rösel, „Die graphe gewinnt Kontur“, 643. 112 den Hertog, „Erwägungen zur relativen Chronologie“.

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Sachregister Abduktion 68–69, 73, 297 Adäquatheit 17, 64–66, 69, 71, 73 Äquivalenz 62–65, 69, 70, 72, 73, 82, 99– 100, 110–111, 126, 166–167, 205–207, 242–243, 261–262, 280–282, 284, 287–291, 293, 298–302, 309 – dynamische 15, 41, 63 – formale 41, 63 – funktionale siehe dynamische – Stil- 63, 64, 99, 100, 111, 126, 166–168, 205–207, 242, 243, 261, 262, 281, 282, 288, 289, 291, 294, 298, 299, 308 – Struktur- 63, 64, 72, 99, 110, 126, 166, 167, 205, 207, 242, 243, 261, 262, 280, 282, 287–289, 291, 298, 299 – Text- 64, 65, 70, 72, 100, 126, 242, 281, 300 – Wort- 63, 64, 72, 99, 110, 126, 166, 167, 205, 207, 242, 243, 261, 262, 280, 282, 287–289, 298, 299 Ätiologie 13, 41, 135, 164, 165, 215, 272 Aktionsart 107 Aktualisierung 7, 13, 34, 35, 55, 100, 144, 159, 168, 182, 252, 263, 292–296, 299–301, 307 Akzente, masoretische 23, 29–31 Akzeptanz 17, 18 Alexandria 11, 13, 44, 86, 101, 111, 144, 203, 294, 295 Alliteration 175, 185 Ambiguität 29, 30, 46, 74–76, 121, 135, 164, 172, 223 Anthropomorphismus 131–132, 154, 157, 158, 267, 276, 281, 304, 305 Apodosis 172, 173, 180, 182, 188, 190, 191, 196 Aquila 3, 147 Aristeasbrief 5, 9, 66, 79, 252

Aristoteles 139 Aspekt – durativer 11, 116, 220, 239, 269, 277 – ingressiver 138 – iterativer 116, 120, 141, 143 – kausativer 107 – resultativer 28, 221, 239 Ausgangskultur 38 Ausgangssprache 18, 38, 63 Ausgangstext 17, 42, 43, 45, 58, 63, 65, 68, 72, 284, 290, 296 Bedeutungsspektrum 109, 119, 139, 172 Ben Sira – Buch 5, 252 – Prolog 67, 69, 73, 297 – Übersetzer 67 Biblische Theologie 74, 76, 78 Buchstabenverwechslung 32, 46, 88, 95, 140, 179, 201, 224, 229, 234, 266, 274–276 Catenengruppe 173 Chiasmus 199, 201, 268 Cicero 17, 40, 41, 59, 67, 69, 73, 297 Codex Petropolitanus 28, 31 content related criteria 13 Daniel, Buch 92 Descriptive Translation Studies 14, 17–18 Determination 85, 88, 103, 108, 109, 111, 194, 195 Deuteronomium, Buch 6, 9, 310 Diaspora 2, 93, 100, 111, 127, 152, 167, 174, 200, 203, 204, 207, 208, 244, 263, 283, 287, 291, 294, 298, 303, 305, 306, 309 Dichotomie 39–41, 72, 298 Dittographie 32, 46, 96, 229, 249, 270 Dolmetscher 16

Sachregister | Dragoman-Hypothese 16 easy technique siehe Übersetzung, Standardtechnik Eldad und Medad, Buch 114 Ellipse 163 Esdras, Bücher 64 Esther, Buch 92 Etymologie 131, 139, 140, 147, 165, 175, 213 Exodus, Buch 10, 11, 13, 117, 118, 173, 174, 283, 293, 296, 303, 306, 307, 309, 310 Ezechiel, Buch 19 Fachvokabular 13, 41, 100, 294 figura etymologica 137, 150, 164, 166, 181, 183, 196 Finalbuchstaben, hebräische 31 Finnische Schule 11 Funktionale Übersetzungstheorie siehe Skopostheorie Gattung 41, 53, 55, 56, 58, 62, 72, 297 Genesis, Buch 10, 11, 13, 52, 53, 100, 306, 307, 309, 310 Gottesbild 13, 80, 302–305 Handlungstheorie 42 Hapaxlegomenon 13, 41, 136, 219, 246 Haplographie 27, 32, 46, 96, 140, 155, 194, 201, 223, 226 Harmonisierung 3, 12, 33, 48, 52, 90, 121, 126, 158, 160, 180, 182, 228, 231, 276, 280, 292, 295, 299–301, 306, 307 Hebraismus 2, 5, 6, 19, 137, 143, 145, 151, 155, 156, 158, 161–163, 167, 182, 184, 185, 187, 188, 190, 194, 196, 198, 203, 205–207, 211, 213, 221, 223, 231, 242, 243, 267, 277, 281, 282, 289–291, 293, 308 Heilige Schrift 4, 5, 18, 79, 127, 208, 243, 244, 294, 295, 306–309 Hellenismus 1, 7, 17, 35, 36, 38, 44, 56, 66, 67, 100, 110, 139, 243, 244, 258, 262, 263, 289–291, 294–296, 304, 309

327

Hesychius 24 Hexapla 24 Hieronymus 24, 75 Historisierung 227, 241, 244, 292, 293, 295, 296 Homer 139 Homoioarkton 140, 144, 234, 253, 276, 278 Homoioteleuton 32, 119, 144, 201, 234, 278 Hyperbel 121 Hyperonymie 160 Hyponymie 220 Hypotaxe 6, 118, 136, 137, 143, 148, 160, 163, 166, 185, 207, 222, 223, 246, 248, 259, 261, 262, 270, 277, 278, 280 Identität, jüdische 100, 244, 295, 305, 306, 309 Inclusio 85, 122, 124, 127 Informationsangebot 38–41, 45, 72 Interferenz 253 Interlinearitäts-Paradigma 1–6, 18, 289– 291, 296 Interlinearübersetzung siehe Übersetzung, InterlinearInterpretation, theologische 13, 17, 70, 171, 184, 187, 208, 248, 296 Intertextualität 3, 11, 12, 90, 92, 126, 135, 146, 149, 150, 153, 165, 167, 168, 218, 241, 252, 260, 286, 292, 299–301, 306, 307, 309 Isomorphie 18, 185 Itazismus 27 Jeremia, Buch 48, 53 Jesaja, Buch 50, 92 Jesus Sirach siehe Ben Sira Jona, Buch 39 Josephus 294 καί apodoticum 172, 188, 191, 193, 196, 205, 206, 222, 242, 289

328 | Sachregister Könige, Bücher 47, 53 Kognitionspsychologie 16 Kohärenz 43, 44, 104, 105, 116, 125, 127, 158, 228, 241, 243, 259, 262, 286, 295, 301, 307 – intertextuelle 43–45, 69, 204 – intratextuelle 43–44, 69, 204 Konnotation 11, 137, 142, 147, 174, 175, 204, 208, 232, 238, 303 Konsonantenbestand 23, 29–32, 45, 46, 74, 81, 84, 88, 95, 116, 197 Konsonantengerüst siehe Konsonantenbestand Kontext 11, 33, 50, 53 Kontextualisierung 35, 100, 207, 208 Korpusbasierte Ansätze 18 Kultur 17, 35, 38, 43, 44, 289, 291, 293, 294, 309 lectio difficilior 96 Lesart – externe Bezeugung 47, 51–52, 87, 90, 94, 97, 105, 106, 115, 124, 144, 177, 183, 200, 255 – hexaplarische 26 – rezensionelle 107, 109, 302 Lesung 74–76, 121, 197 Levitikus, Buch 9–11, 13, 173–175, 303, 309, 310 Lexik 8, 10, 51, 55, 76, 89, 93, 104, 115, 298 Lukian 24 Masoretischer Text 7, 10, 12, 22, 23, 28, 45, 47 mater lectionis 31, 88, 201, 235 Mehrdeutigkeit siehe Ambiguität Messianismus 13, 248, 251, 255, 256, 258, 260, 263 Metapher 60, 109, 110, 139, 147, 157, 158, 189, 216, 225, 229, 232, 238, 242, 246, 251, 252, 255 – konventionalisierte 132, 145, 164, 166, 233, 242

Metathese 32, 46, 253 Metonymie 227, 228, 241, 251, 252, 255, 256, 286 Metrum 60, 110, 111, 125, 261, 287, 298 Midrasch 114, 115 multiple literary editions 35, 36 Normen 17, 18, 38 Nun inversum 114, 115 Origenes 24 ὅτι causale 197, 206, 212, 219, 221 ὅτι recitativum 221 Parablepsis 155 Parallelismus membrorum 55, 61, 109– 111, 125, 248, 261, 298 Parataxe 6, 137, 143, 160, 166, 167, 216, 220, 222, 238, 242, 246, 270, 281 Paronomasie 71, 136, 150, 166, 198 Peschitta 52, 186, 254, 265, 267 Plato 139 Pleonasmus 102, 156, 160, 163, 167, 184, 185, 198, 203, 207, 218 Poesie 55, 61, 106, 109–111, 121, 125, 223, 240, 241, 243, 248, 261, 287, 297 Politeuma 168, 294 Präsamaritanischer Text 12, 29, 94, 95, 152, 158, 161, 162 Pragmatik, linguistische 6, 64, 65 Proselyt 183, 244, 295 Protasis 172, 173, 184, 190, 196 Protomasoretischer Text 12, 23, 26, 29, 31, 32, 35, 48, 105, 161, 171, 182, 302 Proverbien, Buch 38 Pseudo-Übersetzung 18 puncta extraordinaria 237 qatal 116, 138, 141, 166, 239, 260 Qumranschriften 33, 34, 51 – 4QNumb 12, 27, 165, 250 – 4QLXXNum 25 – 4QJera 48

Sachregister | – 4QJerb 48 – 4QJerc 48 – 4QJerd 48 Referenz 76, 85, 98, 100, 135, 156, 203, 227, 238 Referenztext 26–34, 45–47, 50, 52, 53, 70, 78, 81 Relevanztheorie 15 Revision siehe Rezension Rewritten Bible 36 Rezension 3, 22, 24, 25, 75, 76, 80, 103, 248, 302, 307 Rezipient 3, 4, 35, 42–44, 61, 63, 65, 73, 77, 308 Rückübersetzung siehe Vorlage, Rekonstruktion Ruth, Buch 19 Samaritanischer Text 27 Schriftgelehrte 5, 6, 251, 252, 296 Schriftgelehrten-Modell 5–6, 36, 296 Semantik 64 Septuaginta – A New English Translation of the Septuagint 77 – antiochenischer Text 25 – Chronologie, relative 9, 13, 309, 310 – Entstehung 1–9, 24–25 – Göttinger Edition 10, 24–26, 31, 45, 81, 82 – hesychianischer Text 24 – hexaplarischer Text 24, 26 – La Bible d’Alexandrie 10, 77, 81 – lukianischer Text siehe Septuaginta, antiochenischer Text – Septuaginta Deutsch 10, 77, 81, 82 – Theologie 1, 4, 5, 20, 73–80, 243, 302– 309 – Tochterübersetzungen 26 – Urtext-Theorie 24, 25 Sitz im Leben 1, 2, 14, 20, 54, 56, 66, 208, 244, 283, 295–297, 309

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Skopos 18, 19, 21, 42–45, 58, 62, 65–73, 82, 100–101, 111–112, 126–127, 167– 168, 204, 207–208, 243–244, 262– 263, 282–285, 291–298, 300, 301 Skopostheorie 18–19, 21, 37–45, 57–59, 62–73, 284–302, 309 Sprachstrukturen 17, 18, 63, 64, 70, 99, 111, 125 Standardäquivalent 98, 108, 109, 133, 139, 140, 154, 175, 185, 186, 191, 206, 257, 258 Stil 6, 18, 38, 63, 64, 78, 88, 110, 111, 125, 132, 136, 137, 145, 158, 160, 163, 166, 168, 184, 185, 187, 189, 193–197, 205–207, 219, 229, 231, 238, 242– 244, 246, 249, 261, 289–291, 293, 308 Synagoge 111, 126, 208, 244, 263, 283, 294–296 Synonymie 55, 142, 157, 187, 195, 206, 220, 221, 230 Syntax 6, 8, 10, 11, 30, 51, 64, 86, 93, 94, 96, 103, 105, 298 Syro-Hexapla 26, 27, 223, 248 Talmud 114, 115 Targum 159, 186, 211, 236, 252 – griechisches 24 – Neofiti 121, 122, 197, 212, 222, 271 – Onkelos 222, 247, 256 – Pseudo-Jonathan 89, 180, 212, 222, 238, 256, 271, 273 Targumismus 217 Tempel 111, 174, 186, 203–205, 207, 295, 298, 303, 304 Tetragramm 123, 124, 195, 247, 263, 304 Textfunktion siehe auch Textwirkung, 21, 42, 45, 56–58, 70 Textkritik 20, 21, 38, 45–53, 74, 252 – Alexandrinische Tradition 114 – Hebräische Bibel 22–23 – Septuaginta 22–28 – Überlieferungssituation 47–49, 86

330 | Sachregister Textsorte 56, 72 Texttyp 21, 56–59, 62, 65, 70–73, 82, 109– 110, 125, 165–166, 203–205, 240– 241, 261, 279–280, 284–287, 293, 297–301 – expressiver 57, 60–61, 65, 109, 110, 125, 240, 241, 243, 261, 279, 286–288, 298 – informativer 57, 59–61, 65, 98–99, 125, 165, 166, 203–205, 208, 240, 241, 243, 261, 279, 282, 285–287, 293, 300 – operativer 57, 60–61, 65, 109–111, 165, 166, 203–205, 207, 208, 240, 241, 261, 279, 285–287, 293, 298–300 Textumstellung 44, 53, 92, 93, 124, 125, 127 Textwirkung siehe auch Textfunktion, 56, 57, 64, 65, 72, 261, 300 think aloud-Protokoll 16 Toponym 13 Transformation 17, 70–71 Transkription 2, 13, 135, 140, 164, 165, 197, 211, 215, 223, 225, 226, 235, 272, 277, 278 Translat 43, 58, 63 Translation 37–39 translation universals 18 trifaria varietas 24, 75 Übersetzung – Bewertung 7, 14, 16 – formerhaltende 3, 4, 6, 8, 10, 11, 50, 51, 86, 93, 94, 96, 103, 105, 118, 298 – freie 5, 10, 11, 17, 38–41, 49–51, 53, 72, 79, 89, 92, 93, 104, 115, 289, 298, 307 – Interlinear- 63, 205, 288–291, 296 – interpretierende 7, 10–12, 19, 52 – kommunikative 50, 64 – konkordante 81, 89, 93 – philologische 63, 126, 282, 288, 289, 298, 299 – sinnerhaltende 3, 11, 40

– Standardtechnik 6, 233 – stereotype 11, 138, 143, 148, 152, 159, 166, 180, 187, 195, 238, 242, 268 – vereinheitlichende 12, 87, 89 – wörtliche 6, 8, 10, 35, 39–41, 45, 49, 50, 52, 53, 70, 72, 79, 92, 99, 252, 289, 298–299, 308–309 – wortgetreue 63, 111, 126, 167, 207, 262, 288, 289, 291, 294, 298, 299, 308 Übersetzungskritik 15–16, 56, 67, 68 Übersetzungsprozess 17–19 Übersetzungstechnik 3, 21–23, 28, 31, 47, 49–51, 86, 89, 104 Übersetzungswissenschaft 1, 14–19, 36, 37, 309 Übersetzungszweck siehe Skopos Verlegenheitsübersetzung 2 Vokalisierung 23, 29–31, 46, 74, 76, 84, 87, 94, 95, 116, 121, 135–137, 159, 171, 180, 198, 215, 237, 250, 269, 270 Vorlage 1, 4, 5, 7, 8, 10, 12, 17, 19, 22, 23, 27–36, 41, 44–48, 50, 51, 53, 77, 79, 80, 84, 86, 88, 89, 92, 94, 96–98, 104, 114, 116, 118, 124, 131, 136, 149, 177 – Rekonstruktion 7, 8, 22, 46, 51, 53, 177 wayyiqtol 11, 137, 144, 163, 217, 219, 234, 242, 277, 281 weqatal 11, 105, 152, 171, 222 weyiqtol 118 Wissenschaftstheorie 68, 73, 297 Xenophon 250 yiqtol 103, 105, 118, 120, 138, 143, 166, 185 Zielkultur 17, 38, 42 Zielsprache 17, 38, 63, 64, 70 Zieltext 43, 45, 58, 63, 68, 72, 284

Personenregister Es werden nur solche Personen angeführt, die ab dem 18. Jahrhundert geboren wurden. Aejmelaeus, Anneli 6–8, 23, 47 Ausloos, Hans 13 Barr, James 41, 45, 92, 93, 298, 302 Boyd-Taylor, Cameron 18 Bühler, Karl 54, 57 Debel, Hans 35, 36 Dorival, Gilles 10–12, 82, 90

Rösel, Martin 12, 13, 82 Schenker, Adrian 47 Schleiermacher, Friedrich D. E. 63 Schlund, Christine 82 Schorch, Stefan 74, 75 Scoralick, Ruth 38 Toury, Gideon 17 Tov, Emanuel 23, 28, 92, 114, 115 Ulrich, Eugene 34–36

Frankel, Zacharias 72, 293

Vermeer, Hans J. 37, 38, 42, 43 Voitila, Anssi 11

Gunkel, Hermann 54 Gutt, Ernst-August 15

Wade, Martha 47 Wevers, John W. 11, 14, 82, 256

Hanhart, Robert 7, 8 den Hertog, Cornelis 9 Kahle, Paul 24 van der Kooij, Arie 5, 8, 251 de Lagarde, Paul Anton 24, 25 van der Louw, Theo 14–17, 19, 59, 70 Lust, Johan 252 Nida, Eugene A. 15, 41, 62 Nord, Christiane 67 Noth, Martin 53 Peirce, Charles S. 68, 297 Pietersma, Albert 1–3, 5, 6, 8, 77 Pietsch, Michael 48 Rabin, Chaim 16 Reiß, Katharina 37, 38, 42, 43, 56, 57, 59, 63

Stellenregister Bei Bibelstellen beziehen sich die Versangaben auf die Zählung der Septuagintafassung, es sei denn, sie sind mit dem Siglum 𝔐 versehen. Genesis 2,2 52 2,8 250 2,12 141 8,21 175 11,9 135 12,6–7 75 13,13 195 18,20–21 39 19 286 19,19 150 19,24 133, 165, 305 27,46 219 30,9–11 90 34,26 232 35,22–26 90, 91 40,13 266 44,34 130 45,18 259 47,31 76 48,16 130 49 90 49,9 260 49,10 227 49,16–21 91 Exodus 5,15–23 306 5,22 146, 147, 149, 166 6,16 85 6,19 85 10,25 174 12,37 137, 270 12,38 137

14,19 115–117, 123, 126 15 280, 282, 286 15,1 160 15,3 123 15,21 227 15,22 272 15,23 272 15,27 273 16,14 141 18,13–27 149, 305 18,18 149, 152, 153, 167 18,22 153, 167 20,13–15 93 24,13 161 25 117 25–31 47 29,27 185 32 286 32,22 147, 153, 166, 306 33,7 160 35–40 47 35,10 190 40,35 124, 303 Levitikus 10 286 10,1–7 136, 305 10,2 133, 165 10,6 135, 165 10,14 185 10,15 185 19,33 182 19,33–34 181 24,12 198 Numeri 1 11, 12 1,5–16 53 1,20–43 84–94, 306

Stellenregister | 1,20–47 59, 83–101 1,44–47 94–98 1,45 266, 305 1,46 121 1,47 303 1,52 305 2 12 2,2 160 2,3–31 90 2,9 266, 305 2,16 266, 305 2,17 114 2,24 266, 305 2,31 266, 305 3 11, 25 3,9 13 3–4 303 3,10 13 4 11, 25 6,1–21 53 6,2 175 6,13 272 6,22–23 61 6,22–24 102–106 6,22–27 60, 102–112, 286, 288, 297 6,23–24 303 6,24–26 𝔐 60 6,25–27 106–109 6,26 305 6,27 305 6,27 𝔐 61 7 12 8,3 190 8,22 190 9,3 183, 305 9,5 190 9,12 183, 305 9,14 181–183, 207, 305 9,15–23 124 9,18 124, 127, 250 9,22 124, 127, 250 10,11 124 10,11–36 122, 125, 127

333

10,21 114 10,33 306 10,33–34 𝔐 61 10,33–35 113–122 10,33–36 33, 36, 43, 44, 61, 113–127, 286, 288, 297, 302 10,35–36 𝔐 53, 61 10,36 122–125 11 294 11,1 271 11,1–3 130–136, 305 11,1–35 53, 60, 128–168, 286 11,3 13 11,4 30, 306 11,4–9 136–143 11,8 306 11,10–23 143–158 11,11 305, 306 11,11–17 149 11,14 305, 306 11,16 305 11,17 305 11,18 131, 306 11,21 137 11,21–23 303 11,23 281 11,24–30 158–161 11,31 303 11,31–35 162–165 11,32 70 11,34 13 12,8 267, 276, 281 12,27 307 13 286 13,27 276, 280, 282 14,7 154 14,25 277 14,28 154 14,43 277 14,45 215, 277 15,1–16 60, 171–183, 303 15,1–41 60, 169–208, 287, 298 15,3 303

334 | Stellenregister 15,15 305 15,17–21 60, 184–187 15,19 304 15,20 304 15,22 306 15,22–31 60, 187–196 15,28 32 15,30 304, 306 15,32–36 60, 197–202 15,37–41 60, 202–203 16,2 13 16,3 306 16,5 195 16,11 195 16,13 218, 241 16,15 13 16,18 13 16,26 55 16,27 55 18,24 186 19,14 55, 145, 248 19,18 55, 145, 248 20,4 218, 306 20,11 156 20,14 230 20,16 117 20,17 231 21 307 21,1 277, 278 21,1–3 61, 211–216 21,1–35 61, 209–244, 286 21,4–9 61, 216–222 21,5 306 21,10–20 61, 222–229 21,11 27 21,13 27 21,14–15 61 21,17–18 53, 61 21,18 307 21,20 27 21,21 230 21,21–32 61 21,21–35 229–240

21,22 27 21,23 27 21,27–30 61 21,29 304 21,33–35 61 21,34 27 22,1 279 22,2 190 22,4 11 22,5 230 22,7 11 22–24 13, 247, 263 22,18 247 22,22–35 117 22,41 134, 271 23,10 134 23,13 134, 271 23,19 305 23,22 257, 258, 310 23,24 260 24,3–4 246–248 24,3–9 61, 245–263, 288 24,4 304, 307 24,5 55 24,5–9 248–260 24,6 303 24,8 310 24,12 230 24,15–24 53 24,17 251 28 176 28,5 176 28–29 176 31,7 96 32 266 33 307 33,1 305 33,1–2 265–268 33,1–49 60, 264–283, 286 33,3 195 33,3–49 268–279 33,4 307 33,6 134

Stellenregister | 335 33,8 134 33,9 307 33,36 307 33,37–40 60 33,40 289

Prol 24–25 5 Prol 34–36 67 37,30 156 38,24–39,11 5

Deuteronomium 2 27, 229, 230 2,26 230 2,27 231 2,36 234 5,17–19 93 12,5 75 17,14–15 7 19,16–21 18 27,4–5 75 33,17 310

36–39 50

1 Samuel 15,8 𝔐 256 1 Könige 11,36 𝔐 236 Nehemia 10,38 186 13,3 137 Psalmen 4,7 60 95,4 𝔐 257 107,21–26 𝔐 114 107,23–28 𝔐 114 107,40 𝔐 114 Kohelet 2,10 153 11,9 161 12,1 161 Jesus Sirach

Prol 18–20 67 Prol 21–22 67 Prol 23–26 67

Jesaja

Jeremia 46–51 𝔐 48 Threni 3,8 246 Ezechiel 30,5 137 38–39 256 44,30 186 Daniel 8,5–8 258 Amos 2,6–8 61 Jona 1,2 39 1,6 39 Aristeasbrief § 32 5 § 305 5 Cicero, De optimo 14 40

English Summary Dwelling in the Desert as a Model of Diaspora – Translational and Theological Aspects of the Greek Book of Numbers For investigating the origins of the Septuagint translations a modern translation-theoretical approach is needed (1.1, 1.3). Most of the books belonging to the collection usually referred to as the Septuagint are translations. Nevertheless, the application of translation-theoretical approaches in Septuagint research is still amazingly rare. Researchers who evaluate the performance of the Septuagint translators mostly restrict themselves to general remarks about whether the translation is more “literal” or more “free”. The Greek book of Numbers is a suitable object of research (1.2). Within the last 20 years, only a few systematic studies concerning the Septuagint version of Numbers have appeared, mainly in the context of the translation projects “La Bible d’Alexandrie” and “Septuaginta Deutsch” as well as the editorial work of the “Göttinger Septuaginta-Unternehmen”. Each provides some valuable insights but none of them applies the findings of modern translation theory. Skopos theory (Reiss and Vermeer, 1984) is an appropriate translation-theoretical tool for evaluating Septuagint translations (1.3, 1.4). Being a functional theory, it concentrates on the purpose of a translation which is called its “skopos”. Translators are encouraged to define the “skopos” of their translation before they start translating. If the “skopos” of a Septuagint translation can be determined, information about its Sitz im Leben can also be deduced. The assessment of the original biblical text in Hebrew, the assessment of the original Greek translation (“Old Greek”), and the evaluation of the translation technique are interdependent (2.1.1). First, for assessing the original Hebrew text of a biblical book, the Septuagint version is needed as a textual witness which is useful only if its translation technique is known. Second, for assessing the text of the “Old Greek”, its Vorlage and its translation technique have to be known. Third, for evaluating the translation technique of a Greek version, its text as well as the text of its Hebrew Vorlage have to be established. For practical reasons of this study, the presumptive original Septuagint text and the consonantal framework of the Massoretic text (𝔐) are used as refer-

English Summary

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337

ence texts (2.1.2, 2.1.3). In addition, recensional Greek variants are also evaluated as they represent the actually used Scriptures of the Synagogue and the Church. Differences between the Greek and the Hebrew reference texts which are based on different readings of the consonantal framework are not to be taken into account for evaluating the translation technique; neither are variants that came about unintentionally through scribal errors. The evaluation of differences in the wording of the reference texts should take into account three factors, namely, the general transmission quality of the biblical book as a whole, the translation technique evaluated so far, and the external testimony of the Greek variant in question (2.1.3, 2.1.6). If the textual transmission of the book is heterogenous, differences are probably not due to the translator. The translation technique evaluated so far can give clues as to whether such differences are due to the translator or to a Hebrew Vorlage not corresponding to the reference text. If the Greek variant is attested by a Hebrew manuscript, the variant is most likely due to a literal translation of the Hebrew reading. All phenomena are evaluated on a case-by-case basis. Skopos theory is useful for describing translational phenomena that may be due to creative literary processes in Second Temple Judaism (2.1.4, 2.1.5). It considers translation as an “offer of information”. Thus the function of a translation can vary according to its purpose (“skopos”). The character of a translation is not restricted to be either “literal” or “free”. Moreover, this dichotomy becomes inappropriate for evaluating translations from antiquity as translators were not restricted to it. Skopos theory provides a text typology for translation purposes which is used to make a suitable choice of texts representing the Book of Numbers as a whole (2.2). Unlike the framework of form criticism with its relatively high number of literary genres the text typology used here includes only three text types. These are called “informative”, “expressive”, and “operational” with the option of texts belonging to more than one type. For analyzing the Greek translation of Numbers, eight texts were chosen which cover all three text types and a variety of literary genres assuming that this corpus represents the book as a whole: Num 1:20–47, 6:22–27, 10:33–36, 11:1–35, 15:1–41, 21:1–35, 24:3–9, 33:1–49. Septuagint translations have turned out to be beyond the scope of dichotomic distinctions like the one between “formal equivalence” and “dynamic equivalence” (2.3.1). This is consistent with the fact that skopos theory redefines the concept of “equivalence”. It provides a framework of four layers of equivalence (word, structure, style, text) leading to four translation types (interlinear,

338 | English Summary literal, philological, communicative). Within skopos theory no specific kind of equivalence is required for translating a text. Instead, “adequacy” is required, that is, the compliance of the translation with the purpose agreed upon beforehand. Although skopos theory is a prescriptive model aiming at giving advice to present-day translators, it can be applied retrospectively to ancient Bible translations (2.3.2). Given that ancient translators did their best to fulfill the specific purpose underlying their respective translation work, it can be presupposed that the requirement of “adequacy” is met. The skopos can then be inferred from translational phenomena. This procedure follows the logical method called “abduction” which is well established in philosophy of science (C.S. Peirce). The results of the present study can make a contribution to a “Theology of the Septuagint”, however, not in the strict sense of a theology of the translator but rather of a theological Tendenz (2.4). A “theology of the Greek book of Numbers” as well as a “theology of the translator of Numbers” should also include statements that are already present in the Hebrew text as the translator obviously approved them and as his theology was shaped by them. For practical reasons, however, a restriction on theological statements which are unique to the Greek text seems appropriate. Although this approach does not fully embrace the Greek translation as a coherent whole, it seems best only to evaluate theological peculiarities of the Greek text. What is investigated then can be called the theological Tendenz of the translator of Numbers. The translation of Num 1:20–47 aims at giving detailed information about the census in the wilderness and its results, contextualizing the text for a Greek-speaking readership in Alexandria (3). The census is linked to the fathers’ tradition of Genesis. Special wording communicates that the text is relevant to an Alexandrian audience. On the other hand, the use of hebraisms makes the Greek text appear foreign to its readers, indicating that its origin is the ancient Israelite context and not hellenism. The Greek text of Num 6:22–27 suggests that the translator was interested in the application of this passage in everyday life (4). The Aaronic Blessing supposedly played an important role in a diaspora context in which cultic life had to be performed without a temple. The translation underscores the fact that it is God himself who blesses his people if the priests use the blessing formula. The translation of Num 10:33–36 suggests that the text was used as a basis for religious education in the synagogue (5). It shows a higher grade of co-

English Summary

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herence than its Hebrew parent text, stressing the function of the cloud that overshadowed the Israelites on their journey as against the function of the Ark of the Covenant with its connotation of war. A reference to Ex 14 could be used for equating the “angel” in the book of Exodus with the Ark in the book of Numbers. Theological speculations of this kind could have been part of Alexandrian synagogue teaching. The Greek text of Num 11:1–35 urges its readers to not follow the example of the desert generation (6). The negative moral assessment of the parent text is strengthened in the translation, mainly through intertextual links to the books of Genesis, Exodus, and Leviticus. Apart from continuous adherence to the style of the Hebrew language, the translation shows a tendency towards Greek style in some places. Although the instructions of Num 15:1–41 could not be followed literally in a diaspora situation without a temple, the translation aims at explaining and contexualizing the prescriptions concerning sacrifices (7). The Greek text is open to interpretation as to how to apply its instructions in the new target context. This points to a setting of religious education which provided opportunities for addressing questions of this kind. The translation of Num 21:1–35 shows a historicizing tendency (8). The translator made a point of clarifying details and avoiding prospective misunderstandings. Again, the style is hebraicizing. However, a slight tendency towards Greek style is apparent. This reflects an appreciation of Jewish identity and at the same time a pull towards the dominant mainstream culture of hellenism. The Greek text of Num 24:3–9 aims at explaining and contextualizing a difficult Hebrew parent text (9). The translator denies that Israel’s God is the God of the pagan prophet Balaam. The task of contextualization is seen by the fact that an image from oriental mythology is mapped into an image of hellenistic mythology. It can not, however, convincingly be shown that the translator included new messianic interpretations, especially of v.7. The Greek text of Num 33:1–49 shows some clarifications and harmonizations while being a literal translation on the whole (10). The translator valued accuracy, not only on the formal level but also on the content level. This is why he harmonized the text with the geographical information given in the book of Exodus, thus avoiding possible misunderstandings and contradictions.

340 | English Summary The purpose (“skopos”) of the Greek translation of Numbers was most probably to provide the audience with an exact account of the desert wandering while at the same time contextualizing it for the new situation of the Alexandrian diaspora (11.1.1, 11.1.2, 11.1.3). The findings point to religious education in the synagogue as a supposable Sitz im Leben. For the passages under investigation, the analysis of the text type shows a tendency towards an enhancement of both informative and operative elements. Equivalence on the levels of the words and of grammatical structure has been implemented, with an additonal tendency towards stylistic equivalence. Hence, the Greek book of Numbers is a literal translation with a tendency towards a philological translation. The tension between hebraic renderings and attempts at Greek style mirrors the tension between Jewish identity and assimilation to the dominant culture of hellenism experienced by the diaspora synagogue. Skopos theory proves to be an appropriate tool for evaluating Septuagint translations (11.1.4). The findings presented in this study show an amazing consistency as regards the text type, the levels of equivalence, and, above all, the presumed “skopos” of the passages investigated. Some phenomena, however, like harmonizations or intertextual links, are difficult to evaluate within this theory unless they are subsumed under the notion of “skopos”. Therefore skopos theory might be expanded by other concepts, such as the distinction of different levels of literalism suggested by James Barr (1979). As for the translator’s theological Tendenz, God is portrayed as the protector of his people blessing them in cultic processes; Israel is valued as the people of God who are in danger of sin; and Scripture is seen as a self-consistent unity (11.2). Apart from this, two observations should be mentioned. First, the claim that the Greek translation shows a more transcendental conception of God than the Hebrew parent text cannot be fully confirmed. Second, a high esteem of Scripture does not imply that the wording was not to be changed, rather, it implies that the “holiness” of a text was claimed with regard to content and not to form.